Archiv der Kategorie: Filmkritik

Die Getriebenen

(D 2020, Regie: Stephan Wagner)

Alle sind Opfer
von Marit Hofmann

Niemand mag sie. Keiner will sie haben. Spitzenpolitiker haben in Deutschland einfach keine Lobby. „Die Getriebenen“, frei nach einem Sachbuch von „Welt“-Mann Robin Alexander, will das nun ändern und blickt …

Niemand mag sie. Keiner will sie haben. Spitzenpolitiker haben in Deutschland einfach keine Lobby. „Die Getriebenen“, frei nach einem Sachbuch von „Welt“-Mann Robin Alexander, will das nun ändern und blickt im Spätsommer 2015, der sich, wie man dieser Tage allerorten hört, nicht wiederholen dürfe, „in die Hinterzimmer der Mächtigen, die vor allem eins sind: Getriebene, die zwischen politischer Verantwortung und dem atemlosen Tempo der sich überschlagenden Ereignisse in einer Ausnahmesituation Entscheidungen treffen“ (Das Erste). Nicht die Vertriebenen, sondern die Mittäter sind hier die Leidtragenden. Denn wer, wenn nicht Drehbuchautor Florian Oeller, weiß, „was das alles mit den Menschen macht, die politische Verantwortung tragen“.

So gilt sein Mitgefühl nicht verzweifelt Asylsuchenden, die hier nur als anonyme Masse auftauchen, sondern dem nachts im Büro vereinsamenden Peter Altmaier, dem sich schwer vergrippt zum Dienst für Deutschland schleppenden Thomas de Maizière und all ihren Kollegen, die das Bild des ertrunkenen Kleinkinds Alan Kurdi um Imagepunkte bringt. Imogen Kogges Respekt ist bei ihren angestrengten Versuchen, so wie Angela Merkel auszusehen, „gewachsen vor denen …, die tagtäglich … um ernsthafte Entscheidungen ringen, sich kompromissbereit zeigen müssen und doch ihren Idealismus behalten“.

Die prominenten Rollen hat man nach vermeintlicher Ähnlichkeit besetzt beziehungsweise gewaltsam darauf getrimmt, was, etwa wenn Altmaier (Tristan Seith) vor Wut zu platzen droht, zu unfreiwilligen „Spitting Image“-Momenten führt. Nur Horst Seehofer fällt heraus, den Josef Bierbichler als Grübelgreis auf dem Abstellgleis veredelt.

Das nicht zuletzt „würdigende Porträt der Kanzlerin“ (RBB-Filmchefin Martina Zöllner) zeigt, was man sich nicht auszumalen wagte: Angela mit Mitarbeiterin auf dem Damenklo oder mit dem Gatten auf dem Sofa, der ihr ins Gewissen redet. Merke: Hinter jeder starken Frau steht ein Mann, der die Strippen zieht.

Die TV-Biedermänner wollen ihrem Primetime-Event durch Split Screens und eingeblendete Handychats krampfhaft etwas von den hippen US-Serien verpassen und verblüffen durch lebensechte Sprüche (Sigmar Gabriel: „Wahltag ist Zahltag“) und frische Dialoge: „Was wollen Sie, Alexis? Es geht darum, ob das Europa, das wir kennen, noch weiter besteht.“

Thrillermusikakkorde, die nichtexistierende Spannung vorgaukeln, künden vom dräuenden Unheil in Gestalt der „wilden Horden“ und Viktor Orbáns („eine Schande für Europa“), der sie einfach in Züge gen Germania setzt und so die Deutschen austrickst.

Regisseur Stephan Wagner sonnt sich in öffentlich-rechtslastiger Objektivität. Der Spielfilm ermögliche es, „abseits der täglichen Scheibchen der Ereignisse, die es in die Nachrichten schaffen und gern auch interessengebeugt“ – linksversifft? – „vermittelt werden, den großen Handlungsbogen der Entstehung dieser bisher größten europäischen Prüfung des 21. Jahrhunderts nachzuvollziehen, mit allen Emotionen, die ihn spannend machen“.

Programmdirektor Volker Herres schließlich hat die Prüfung bestanden und sichert sich nicht nur emotional nach ganz rechts ab: „Durch gezielte Indiskretion oder einfach nur durch Pannen können sich Nachrichten verbreiten, die syrische Bürger glauben lassen, Deutschland stünde ihnen offen.“ Ja, haben die denn nicht alle Latten am Grenzzaun? Nichts läge den Deutschen ferner. „Wie man sich auch immer dabei positioniert“ – ob als Nazi oder Programmdirektor –, „eins steht fest: Politik geht uns alle an, und wir Zivilbürger müssen engagiert mitreden, um selbst nicht am Ende die Getriebenen zu sein.“ Es reicht offenbar nicht, Politiker zu „Getriebenen“ zu verklären, auch „wir Zivilbürger“ sind potentielle Opfer. So ein Film über 2015 darf sich nicht wiederholen.

Ab 8. April in der ARD-Mediathek; am 15. April um 20.15 Uhr im Ersten

Diese Kritik erschien zuvor in: KONKRET 04/2020

Der kleine Maulwurf

(CSHH 1957, Regie: Zdenek Miler)

Scheinbar entrückt
von Jonas Engelmann

Im Jahr 1968 hat der kleine Maulwurf symbolisch die tschechoslowakische Kultur zu Grabe getragen. In der Episode „Der Maulwurf und das Radio“ findet der Protagonist der erfolgreichsten Animationsserie des Landes …

Im Jahr 1968 hat der kleine Maulwurf symbolisch die tschechoslowakische Kultur zu Grabe getragen. In der Episode „Der Maulwurf und das Radio“ findet der Protagonist der erfolgreichsten Animationsserie des Landes im Wald ein Radio, das ihm zwar Jazz, Fußball und die Nachrichten überträgt, ihn jedoch gleichzeitig seiner Freunde beraubt, die genervt vom Lärm den Wald verlassen. Nachdem das Radio seinen Geist aufgegeben hat, schaufelt der kleine Maulwurf – „Krtek“, wie er im Original heißt – dem Gerät ein Grab. Kurz darauf kehren seine Freunde zurück und bringen wieder die eigene Kultur des Waldes zurück: Die Vögel singen, die Frösche quaken. Ein seltsames Bild in einem Animationsfilm für Kinder, als auf die politische und kulturelle Öffnung des Landes mit der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 tatsächlich der Rückzug auf eigene Kultur einsetzte und Einflüsse, die jenseits des sozialistischen Realismus sowjetischer Prägung lagen, durch Zensur und gestrichene Fördergelder zurückgedrängt wurden.

© Universum Film

Wie genau sich der kleine Maulwurf und sein Schöpfer Zdeněk Miler zu diesen politischen Entwicklungen verhielten, bleibt in der Schwebe, „Der Maulwurf und das Radio“ zeichnet sowohl das Radio als auch dessen Verlust als positiv. Für den Waldbewohner jedenfalls begann kurz darauf eine Karriere, die den Eisernen Vorhang überwinden konnte und bis heute andauert, auch wenn ein Funktionär der Filmindustrie den Maulwurf am liebsten aus dem Programm verbannt hätte, weil er gerade persönlichen Ärger mit den Tieren in seinem Garten hatte.

„Über den Millionär, der die Sonne raubte“ hieß 1948 eine der ersten Produktionen des jungen Animationsfilmers Zdeněk Miler, damals noch mit einem erwachsenen Publikum vor Augen. Die gestohlene Sonne bewahrt der egoistische Millionär in seinem Haus auf, beim Happy End steht sie wieder als Allgemeingut am Himmel. Während „Über den Millionär, der die Sonne raubte“ Egoismus und soziale Ungerechtigkeit anprangerte, geriet „Der Mohnkuchen“ von 1953 zu einem Lehrfilm, der den gesamten Entstehungsprozess vom Mähen des Getreides bis zum Backen eines Kuchens abbildet und aufzeigt, dass unzählige Menschen an der Produktion beteiligt sind. Die Filme stachen aus den Auftragsproduktionen der verstaatlichten tschechoslowakischen Filmindustrie heraus, sie wurden, nach einer Auszeichnung auf dem Filmfestival in Venedig, als osteuropäische Version von Disney gehandelt.

Dennoch war, als Zdeněk Miler aufgrund des Erfolgs seiner bisherigen Arbeiten 1954 den staatlichen Auftrag erhielt, einen Animationsfilm für Kinder über die Herstellung von Kleidung zu produzieren, kaum abzusehen, was sich aus seiner eher zufälligen Entscheidung, einen kleinen Maulwurf zum Protagonisten zu wählen, entwickeln würde. „Wie der kleine Maulwurf zu seiner Hose kam“ wurde 1957 bei den Filmfestspielen in Venedig mit einem Silbernen Löwen ausgezeichnet und legte den Grundstein für über 60 Episoden über „Krtek“, den kleinen Maulwurf, die nun in einer DVD-Box als Gesamtausgabe erschienen sind.

Der 1921 geborene Miler hatte von 1936 bis 1942 Graphik und Fotografie in Prag studiert und nach der Befreiung von der deutschen Besatzung als Zeichner, Regisseur und Autor in einer Zeichentrickfirma zu arbeiten begonnen. Die verstaatlichte Filmindustrie in der Tschechoslowakei orientierte sich spätestens ab 1948, als die „Komunistická strana Československa“ (KSČ) an die Macht kam, an der kulturpolitischen Agenda der Sowjetunion und die damit verbundenen Vorstellungen von Kunst. Da kamen die Lehrfilme für Kinder des KSČ-Mitglieds Zdeněk Miler gerade recht. Technisch war die Tschechoslowakei auf dem aktuellsten Stand, der Krieg hatte nicht allzu viel an Filminfrastruktur zerstört, außerdem bestand eine lange Tradition, auf die sich die Animationsfilmindustrie beziehen konnte, Puppentheater, Märchenverfilmungen, aber auch die Avantgarden der Zwischenkriegsjahre – Elemente der tschechoslowakischen Variante des Surrealismus finden sich auch immer wieder in den Filmen um den kleinen Maulwurf.

© Universum Film

1954, als Miler mit dem ersten Maulwurf-Film beauftragt war, herrschte im Land politisch ein angespanntes Klima: Während nach dem Tod Stalins 1953 in vielen Ländern des Warschauer Pakts eine Phase der Liberalisierung begonnen hatte, dauerte es in der Tschechoslowakei noch ein ganzes Jahrzehnt, bis eine politische und kulturelle Öffnung einsetzte. Diese wirkte sich dann auch unmittelbar auf Filme für Kinder aus: Während sie bis in die frühen Sechziger vor allem als Teil des Erziehungssystems gesehen wurden, als pädagogischer Auftrag für die nachwachsende Generation, drangen danach Alltagsprobleme und realistischer Auseinandersetzungen mit Kinderwelten in den Vordergrund. Auch in den Maulwurf-Filmen spiegelt sich diese Entwicklung: Waren die frühen Werke wie „Der Maulwurf und sein rotes Auto“ oder „Der Maulwurf und die Rakete“ vor allem auf den Nutzen von Technologie und eine Hoffnung auf die Zukunft konzentriert, stellen spätere Filme stärker die zwischenmenschlichen Beziehungen in den Mittelpunkt, Ängste und Unsicherheiten und das Verhältnis des Einzelnen zu seiner Umwelt.

Während nach dem August 1968 durch Zensur und Berufsverbote viele Regisseure der Tschechoslowakischen neuen Welle – jener Filmbewegung, die wie keine andere für einen kulturellen Aufbruch gestanden hatte – wie Miloš Forman oder Vojtěch Jasný ins Ausland gingen, hatten die Filmemacher im Bereich des Kinderfilm weniger mit Repressionen zu kämpfen. Allerdings haben sich auch im Bereich Kinderfilm die Produktionen nach der sogenannten Normalisierung seltener mit gesellschaftspolitischen Themen auseinandergesetzt. Der Maulwurf bildete dabei eine Ausnahme, die Filme um ihn und seine Freunde die Maus, den Frosch und andere Waldbewohner wurden zunehmend politischer.

Dies hatte auch mit der Rolle des WDR als wichtigem Co-Produzenten der Serie zu tun. Ab den frühen Siebzigern stieg der Sender aus vor allem zwei Gründen in die Produktion ein: Die Filme aus der Tschechoslowakei füllten einerseits in der BRD eine Lücke, da es dort keine Tradition an eigens für Kinder produzierten Programmen gab, und andererseits waren Serien aus dem Osten günstiger als ihre US-amerikanischen Pendants. Über den WDR wurde die Serie auch in der westlichen Welt zu einem Erfolg, über den sich bis heute Merchandise und Lizenzen verkaufen.

© Universum Film

Über den Umweg des WDR drangen ab den späten Siebzigern auch linke gesellschaftliche Debatten des Westens in die Serie ein und erfüllten zunehmend einen pädagogischen Bildungsauftrag, der sich eigentlich mit den Idealen des sozialistischen Realismus hätte beißen müssen, allein der ökonomische Erfolg der Serie, der auch der staatlichen tschechoslowakischen Filmindustrie zugute kam, garantierte dem Maulwurf Freiheiten, die andere Produktionen nicht hatten. „Der Maulwurf kommt in die Stadt“ oder „Der Maulwurf im Traum“ etwa, beides Produktionen aus den frühen Achtzigern, konfrontieren den Maulwurf beispielsweise mit den negativen Auswirkungen der Zivilisation. In ersterem wird der Wald gerodet, und in der Stadt, die an seiner Stelle erbaut wird, haben die Tiere keinen Platz mehr; in zweiterem wird die Abhängigkeit der Menschen von ihren technischen Errungenschaften kritisch hinterfragt.

Als Zdeněk Miler 2011 starb, war der Maulwurf in über 80 Ländern weltweit zu sehen, eine Plüschversion hatte mit der „Endeavour“ das Weltall besucht, und die begleitenden Bücher zur Fernsehserie sind bis heute Millionenseller. Die DVD-Box mit allen Episoden in chronologischer Reihenfolge zeigt eine eigenwillige Kindersicht auf die Welt. Trotz der ausgestellten Naivität des Maulwurfs und seiner Lebenswelt, die scheinbar entrückt von politischen Erschütterungen existiert, hat die Serie doch die Beben in sich aufgenommen, die in den Produktionsjahren von 1957 bis 2002 das Weltgeschehen bestimmt haben.

Dieser Text erschien zuerst am 26.03.2020 in: Neues Deutschland

Wagenknecht

(D 2020, Regie: Sandra Kaudelka)

Ein Mensch wie du und ich
von Thomas Blum

Die „Menschen in diesem unserem Lande“ (Helmut Kohl), sie verlangen erfahrungsgemäß nicht viel, politisch gesehen. Sie wünschen sich, das weiß man, als Vollstrecker ihrer politischen Ansichten einen Durchgreifer, Problemlöser, Macher, …

Die „Menschen in diesem unserem Lande“ (Helmut Kohl), sie verlangen erfahrungsgemäß nicht viel, politisch gesehen. Sie wünschen sich, das weiß man, als Vollstrecker ihrer politischen Ansichten einen Durchgreifer, Problemlöser, Macher, Ärmelhochkrempler. Und was der Vorstellungen dieser Art mehr sind, die man ihnen über Jahrzehnte hinweg per Glotze und „Bild“-Zeitung eingedengelt hat. Allerdings soll unter der harten Schale der Ordnung, Sicherheit und „Gerechtigkeit“ schaffenden und unerbittlich das Böse bekämpfenden Erlöserfigur auch das Menschliche bzw. Menschelnde durchschimmern: Er oder sie soll zugleich Trost spenden, einen an die Hand nehmen, freundlicher Onkel oder mitfühlende Tante sein. Jemand, zu dem man bewundernd aufschauen kann und der gleichzeitig „ein Mensch wie du und ich“ ist (oder diesen Eindruck wenigstens erfolgreich vermittelt) und nicht nur Charaktermaske des Waren und Arschgeigen produzierenden Systems.

Doch es ist auch nicht auszuschließen, dass man hierzulande Politiker, die sich auf diese Weise inszenieren, d. h. als Mischwesen aus unnachgiebigem Durchgreifer und fürsorglichem Kümmerer – und das tun nicht wenige -, auch ganz ohne das Zutun bzw. die Dauerpropaganda der einschlägigen Medien wählen würde. Macht kommt von oben, so lautet das ungeschriebene Gesetz, das die meisten Insassen dieses Landes verinnerlicht haben. Auch deshalb sind diejenigen, die sich in Wahlen von uns wählen lassen wollen, so sehr daran interessiert, Bilder von sich zu erzeugen, die uns entweder anrühren oder in Ehrfurcht erstarren lassen sollen. Oder bestenfalls beides.

Mit Bildern, mit Images gewinnt man die Menschen, mit der Inszenierung von Emotionen, nicht mit Argumenten, das weiß man, auch bei der Linkspartei, die ihren Kampf für soziale Gerechtigkeit bevorzugt mit nicht nur typografisch den Schlagzeilen der „Bild“-Zeitung nachempfundenen Wahlplakaten („Millionäre zur Kasse“ usw.) führt und mit eindimensionalen Slogans, die die sogenannte Volksseele ansprechen sollen.

Das weiß auch die ehemalige Bundestagsfraktionsvorsitzende der Partei, Sahra Wagenknecht, die in Teilen der Bevölkerung lange als eine Art Lichtgestalt galt, weil sie als der fest in den TV-Krawall-Talkshows installierte Dauergast, der sie lange Zeit bereitwillig war, geschickt und mit großem Talent die Rolle spielte, die ihr zugedacht war und in der sie sich allem Anschein nach auch selbst gerne sieht: die der „neuen Rosa Luxemburg“, der Rächerin der Enterbten, der „Stimme des Volkes“, der Verteidigerin von denen da unten gegen die da oben.

© Salzberger

Den Machern des Dokumentarfilms „Wagenknech“«, der erst vor Kurzem auf der Berlinale seine Premiere hatte, gelingt es, diesem Image nicht ganz auf den Leim zu gehen und am Mythos von der Lichtgestalt Wagenknecht zumindest zu kratzen. Die eine Zeit lang überaus populäre Politikerin wurde von ihnen über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg mit der Kamera begleitet: Wir sehen „Sahra“ auf Foto- und Presseterminen, in Pausen auf ihrem Smartphone herumtippend, bei Interviews mit fürchterlichen Journalisten in ihrem Büro im Bundestag (Erste Frage: „Verrühren oder stampfen? Wie machen Sie denn Ihre Kartoffelsuppe?“), als Wahlkämpferin, auf auf Marktplätzen provisorisch errichteten Wahlkampfbühnen die Empörte gebend, beim Bad in der Menge, im vom Chauffeur gelenkten Dienstwagen beim Telefonat mit ihrem Ehemann: „Wie war’s bei dir in Wuppertal?“ Pause. „In Bielefeld bei mir lief’s ganz gut.“

Wir sehen ihr zu beim professionellen Aufsagen der handelsüblichen Politsprechblasen auf Pressekonferenzen („Wir müssen uns auf Inhalte konzentrieren und nicht auf personelle Fragen“). Wir betrachten die Führungsriege der Partei bei dem obligatorischen Ritual, dem alljährlich brav absolvierten Gang zu den Gräbern von Luxemburg und Liebknecht, bei dem die Politiker zu erkennen geben, dass sie wissen, dass es ein Ritual ist. Wir sehen Sahra Wagenknechts Erstarrung auf der Party am Abend der Bundestagswahl, als sie auf dem großen Bildschirm die unerwartet schlechte Prognose des Wahlergebnisses ihrer Partei zur Kenntnis nehmen muss, die weniger Stimmen bekam als die Rechtsextremisten.

Wenigstens sind hier nicht jene aus den genormten Fernsehdokus gewohnten stereotypen Bilder zu sehen, aus denen das unangenehm Berührende, das Schiefgelaufene, das Unpassende, das den äußeren Schein Störende wegretuschiert wurde.

Klar wird rasch: Politik ist heute ein Geschäft, in dem es zum Zweck des Gewinns von Macht um Inszenierung geht, um Theater, um Zirkus, um die Verführung der Öffentlichkeit, um die Erzeugung von Schein. Wagenknecht ist gut darin. Ein Mitarbeiter von ihr sagt in einer Szene, dass sie ein „Popstar“ sei, dass ihre Popularität seit 2013 kontinuierlich gewachsen sei und dass heute mehr Männer als früher anriefen, die sagen: „Sahra, ich möchte ein Kind von dir.“ Bei Wahlkampfauftritten von ihr schwenkt die Kamera über die Gesichter der versammelten Zuhörer: Man blickt in glänzende Augen. „Sahra, wir lieben dich“, sagt eine euphorisierte Frau.

Mit am schönsten ist wohl jene Szene des Films, in der die Fraktionsvorsitzende gemeinsam mit zwei ihrer Kollegen oder Mitarbeiter auf einer Wiese in der Nähe des Reichstags steht. Ein Reklamefuzzi und Fotograf ist auch da. Fotos für den bevorstehenden Wahlkampf sollen entstehen. Für diese soll die in ihrer Bundestagsabgeordnetenarbeitskleidung – hochhackige Schuhe und Kostüm – zum Fototermin erschienene Wagenknecht auf einer ausgebreiteten Picknickdecke posieren. Alles ist vorbereitet, damit es nachher so schön hochglanzplastikperfekt aussieht, wie man es aus der beliebten Heile-Welt-Frühstücksmargarinewerbung kennt: Decke, Körbchen, Picknickgeschirr, fein säuberlich angeordnete Häppchen. Kurze Zeit sieht man die Politikerin zögern. Einerseits hegt sie, wie es scheint, den leisen Verdacht, dass diese Art der Inszenierung ihrer Person als glücklich im Sonnenschein picknickende Frohnatur recht artifiziell und unwirklich wirkt. Andererseits scheint sie auch eine Ahnung davon zu haben, was beim gemeinen Volk gut ankommt: die kämpferische Supertopcheckerpolitikerin als heitere Muttifigur auf der Blumenwiese. Man glaubt Wagenknecht, die sich, was die mediale Inszenierung ihrer Person angeht, in der Vergangenheit nicht gerade zögerlich zeigte, in diesem Moment anzusehen, wie sie im Kopf abwägt: Bringt mir das was oder nicht? Bevor sie schließlich entscheidet, gemeinsam mit ihren Beratern über das Fotomotiv nochmal nachzudenken.

Mit dem andauernden, bei öffentlichen Auftritten nur schwer zu verbergenden, nicht ausgetragenen Bitchfight zwischen den beiden Parteivorsitzenden einerseits und der Fraktionsvorsitzenden Wagenknecht andererseits beschäftigt sich die zweite Hälfte des Films: Wir sehen Bilder vom Parteitag, wo die eine demonstrativ nicht applaudiert, als die andere die flüchtlingsfeindlichen Einwürfe des Ehemanns der einen kritisiert. Wir sehen vielsagende Blicke. Wir sehen die nur mühsam unterdrückte Feindseligkeit, die zwischen den Beteiligten herrscht. Wir sehen, wie die eine dem anderen das Wort abschneidet und ihm das Rederecht entzieht. Wir sehen zu, wie etwas nicht thematisiert werden soll, das sich unterschwellig seinen Weg sucht. Und wir sehen, wie es zugekleistert wird durch das gemeinschaftliche rituelle Absingen der Parteihymne, der „Internationalen“. Manch ein Psychotherapeut hätte an diesen Bildern gewiss seine Freude.

Wie sagt Sahra Wagenknecht am Anfang des Films zu einem sie interviewenden Journalisten so schön? „Ich bin doch kein unerträglicher Mensch. Ich finde mich eigentlich ganz nett.“

Diese Kritik erschien zuerst am 17.03.2020 in: Neues Deutschland

Midway

(USA/CHN 2020, Regie: Roland Emmerich)

Roland, mach mal Krieg! - Warum Emmerich?
von Katrin Hildebrand

Es gibt den letzten Dreck. Und es gibt den letzten Dreck. Der eine Dreck aktiviert Teile des Hirnstammes oder der Amygdala und endet nicht selten mit dem Kopf über der …

Es gibt den letzten Dreck. Und es gibt den letzten Dreck. Der eine Dreck aktiviert Teile des Hirnstammes oder der Amygdala und endet nicht selten mit dem Kopf über der Kloschüssel oder der Faust im Gesicht des Urhebers. Der andere ist nicht so einfach zu fassen. Es ist ein Dreck, in dem der Mensch gerne die Hände versenkt, mit dem er sich einsudelt und in dem er sich mit schamrotem Kopf herumwälzt und dabei kichert.

Kichern und einsudeln lässt es sich bei Roland Emmerichs neuestem brachialen Wurf, dem Kriegsactionfilm „Midway“, zuhauf. Dass unsa Schchwaaabe in Hollywood das grobe Handwerk des Kinogewerbes versteht, hat er bewiesen: Er kann vom Alltagsdreck ablenken. Die Betonung liegt allerdings auf „grob“: Hauptsache, es kracht und flutscht wie Sex mit einem Gleitgel aus dem Online-Erotikhandel. Schon aus einer Tradition heraus – und um Kröten zu verdienen – muss der Mainstream bedient werden.

Doch die Deutschen mögen ihn nicht mehr so gerne: Nur eine Woche lang hielt sich „Midway“ in den Kino-Top-Ten. In den Staaten kam die cineastisch aufgemotzte Rekonstruktion einer Pazifik-Kriegschlacht zwischen den USA und Japan anno 1942 deutlich besser an. Kein Wunder. Sie haben Schlacht und Krieg schließlich gewonnen. So mag die Unlust des BRD-Publikums auch daran liegen, dass sie Emmerich längst als einen Überläufer betrachten. In „Midway“ lässt der keine beliebten deutschen Gemütszustände aufkommen. Alles geht ratzfatz, kämpfen, fliegen, verhandeln, explodieren, salutieren, sterben. Da bleibt kein Augenblick für Depression, Hass und Seelenqual, da bleibt nicht mal Zeit für Charakterstudien der Protagonisten (Protagonistinnen gibt es keine, nur Ehefrauen) so wie beim „Joker“, in dessen Leid man(n) sich suhlen und winden kann, weil man(n) die eigene Zurichtung nicht spürt.

Die Visagen in „Midway“ sind trotz bekannter Nasen wie Woody Harrelson und Dennis Quaid austauschbar. Das liegt nicht an den Darstellern, sondern an der knappen Zeit, in die eine gigantische Ereigniskette gepresst ist. Da die Optik ohnehin aus denselben digitalen Quellen schöpft, hätte Emmerich zum Thema – zumindest aus künstlerischer Sicht – lieber ein Videospiel entwickeln sollen, das mehr Platz zum Verständnis der Abläufe bietet. In seiner stumpfen Atemlosigkeit wirkt der Film oft wie ein schlechter Witz. So wie die Tatsache, dass der – historisch verbürgte – Kriegsheld Dick Best hieß. Umgedreht Best Dick – bester Schwanz.

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 01/2020

Varda par Agnès

(FR 2019, Regie: Agnès Varda)

Vom Glück und der Vergänglichkeit
von Wolfgang Nierlin

Der ausführliche Vorspann mit seinen wechselnden farbigen Hintergründen und den darüber gelegten Filmbildern wirkt wie ein vorweggenommener Abspann. Noch ist der Regie-Stuhl von Agnès Varda unbesetzt. Doch schon einen Schnitt …

Der ausführliche Vorspann mit seinen wechselnden farbigen Hintergründen und den darüber gelegten Filmbildern wirkt wie ein vorweggenommener Abspann. Noch ist der Regie-Stuhl von Agnès Varda unbesetzt. Doch schon einen Schnitt später sitzt die hochbetagte Grande Dame der Nouvelle Vague auf der Bühne eines großen Opernhauses, um dieses, wie sie sagt, „in ein Kino zu verwandeln“ und dem aufmerksamen Publikum aus ihrem Leben und von ihrer Arbeit zu erzählen. Beides ist in ihrem Werk natürlich untrennbar miteinander verbunden, weshalb Vardas kurzweiliger, von zahlreichen Filmausschnitten begleiteter Streifzug durchs eigene Œuvre ebenso subjektiv wie assoziativ gestaltet ist. Ihre als „Plauderei“ apostrophierten Erinnerungen sind zugleich ein aufschlussreicher Werkstattbericht, der die Motive der Filme mit Vardas ästhetischen Strategien verknüpft.

„Drei Wörter“ hätten ihre künstlerische Arbeit stets geleitet, sagt die französische, 1928 in Brüssel geborene Filmemacherin gleich zu Beginn ihres letzten Films „Varda par Agnès“, der zu ihrem Abschied und Vermächtnis geworden ist. „Inspiration“, „Kreation“ und „Teilen“ lauten diese wesentlichen Schlüsselbegriffe, in denen nicht nur Agnès Vardas besondere, fiktive und dokumentarische Elemente vereinende „Filmhandschrift“ zum Ausdruck kommt, sondern auch ihr vorrangiges Interesse an „echten Menschen“. Gleich ihr erster Langfilm „La Pointe Courte“, den die gelernte Fotografin bereits 1954 in dem gleichnamigen Fischerdorf bei Sète und mit den dortigen Bewohnern realisieren konnte, macht das anschaulich; genauso wie die vielen dokumentarischen Straßenszenen aus „Cléo de 5 à 7“ („Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7“) von 1961, der in Paris entstand und der den objektiven, stark verdichteten äußeren Zeitrahmen mit dem subjektiven Zeiterleben einer jungen, unter Todesangst leidenden Frau verbindet.

Die Vergänglichkeit und das Glück gehören zu den Leitmotiven in Vardas Werk. Ihr aus wechselnden Vorträgen montiertes Selbstportrait berichtet davon, „was zur Arbeit geführt hat“ und macht einen ungemein kreativen Kosmos sicht- und spürbar. Die konzentriert und sehr klar wirkende 90-Jährige spricht über „Strände als Orte der Inspiration“ und als „geistige Landschaften“, über Feminismus und „Körperpolitik“ sowie über ihre Arbeit als Fotografin und „Visual Artist“ beziehungsweise Installationskünstlerin. Sie erzählt von ihrem Mann, dem Filmemacher Jacques Demy, dessen Sterben sie filmisch begleitete; sie berichtet von ihrer Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Jane Birkin und trifft sich mit Sandrine Bonnaire, die in Vardas preisgekröntem Film „Sans toit ni loi“ („Vogelfrei“) von 1985 die junge, einsame Landstreicherin Mona verkörperte.

Doch trotz aller Hoffnungslosigkeit findet die vielseitige Künstlerin mit ihrer universellen Sprache immer wieder zu den Farben des Trostes und des Glücks. Ihr gleichnamiger Film „Le bonheur“ von 1964 handelt auf impressionistische Weise und begleitet von Musik Mozarts fast nur davon. „Öffnete man mich, fände man Strände“, sagt Agnès Varda einmal augenzwinkernd. Die letzte Einstellung zeigt die im vergangenen Jahr verstorbene Filmkünstlerin in einem Sandsturm am Strand, während ihre Stimme aus dem Off mitteilt: „Ich verschwinde in der Unschärfe. Ich verlasse Sie.“

Terminator: Dark Fate

(USA 2019, Regie: Tim Miller)

Das Denken beenden
von Jürgen Kiontke

Viel Gutes gibt es sicher nicht über den neuen Terminator-Film zu sagen. Der aktuellste Rente-Mit-70-Actionfilm (in tragenden Rollen: Arnold Schwarzenegger und Linda Hamilton) ist recht dürftig inszeniert, hat interessante Anschluss- …

Viel Gutes gibt es sicher nicht über den neuen Terminator-Film zu sagen. Der aktuellste Rente-Mit-70-Actionfilm (in tragenden Rollen: Arnold Schwarzenegger und Linda Hamilton) ist recht dürftig inszeniert, hat interessante Anschluss- und sonstige Fehler, null Überraschungen und spannend ist er auch nicht. „Terminator: Dark Fate“ ist so eine Art Ehemaligentreffen von Schauspieler*innen und Produzenten*innen. Cameron, Schwarzenegger und Hamilton erinnern sich gemeinsam an die Jahre, in denen Techno noch die ganz große Nummer war. Und die Hauptfigur, die mexikanische Autoschrauberin Dani (Natalia Reyes), stapft nur tapfer durch die übriggebliebenen Kulissen früherer Terminator-Filme.

Das Drehbuch schafft keine intelligente Synthese aus Jetztzeit und Zukunft, versucht sich ungelenk an Feminismus, Migration und Alter unter den zu naheliegenden Zeichen der Trump-Ära. Nichtsdestotrotz muss der Inhalt der Terminator-Mythologie immer wieder aufs Neue erzählt werden. Die Zukunft, das kann man aus den mittlerweile sechs Teilen entnehmen, ist kein lebenswerter Zeitraum. Sie bleibt auf bizarre Weise paradox einfallslos. „Zukunft“ scheint nichts zu sein, was besonders formen- und farbenfroh sein wird. In einer der helleren Szene dieser Dark-Metal-Phantasie bringt dies Heldin Dani zum Ausdruck: Warum sie sich denn überhaupt anstrengen solle mit dem Leben. Die Familie schon umgebracht, der Job in der Autoindustrie garantiert nicht der Bringer. Den neuen Revolutionsführer auf die Welt bringen? Igitt. Bitte verhindert die Zukunft – aber komplett.

Es ist wie mit vielen der zeitgenössischen Science-Fiction-Filme: Sie zeigen nichts auf, sie beenden das Denken. Ja, es kommt immer nur der nächste Maschinenmensch, der einem auf die Nerven geht. Aber Moment: Das beschreibt doch gar nicht die Zukunft, sondern unsere Gegenwart! Auch wir sind in der Zeitschleife gefangen, in so einer Art Futur Präsens: Wie sich der „Terminator“-Stoff nie wirklich weiterentwickelt, so auch der ganze Rest nicht. Die Maschinenmenschen sind untot, sie kommen immer wieder, das Publikum auch! Terminator: Dark Furz – wird dir gefallen, wenn du „The Walking Dead“ gern gesehen hast.

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 10/2019.

Weißer weißer Tag

(IS/DK/SE 2019, Regie: Hlynur Pálmason)

Schreie im Dunkeln
von Wolfgang Nierlin

Der Film beginnt mit einem Zitat aus unbekannter Quelle: „An Tagen, an denen alles weiß ist, so dass Himmel und Erde miteinander verschmelzen, können die Toten mit den Lebenden reden.“ …

Der Film beginnt mit einem Zitat aus unbekannter Quelle: „An Tagen, an denen alles weiß ist, so dass Himmel und Erde miteinander verschmelzen, können die Toten mit den Lebenden reden.“ Dann fährt ein Auto, aus subjektiver Perspektive aufgenommen, durch dichten Nebel, bis es in einer Kurve die Leitplanke durchbricht und jenseits des Hangs aus dem Sichtfeld verschwindet. Im Undeutlichen berühren sich Leben und Tod, An- und Abwesenheit, Diesseits und Jenseits. Die vergehende Zeit, die ein Übergang oder eine Brücke sein könnte und die vielleicht Wunden heilt, zeigt sich kurz darauf in einer Montage wechselnder Jahreszeiten und Lichtstimmungen. Die Einstellung der Kamera bleibt dabei stets gleich in ihrem Blick auf ein Anwesen mit Haus und Pferden. Dann wird das Bild dunkel und die Stimme eines Mädchens bittet einen Großvater, das Licht einzuschalten.

Es wird hell, etwas beginnt und löst sich im Moment einer kurzen Heiterkeit im surrealen Bild eines Pferdes, das sich ins Wohnzimmer verirrt hat. Der trauernde Ingimundor (Ingvar Sigurðsson), der bei einem Autounfall seine Frau verloren hat, renoviert ein Haus und kümmert sich nebenbei liebevoll um seine 8-jährige Enkelin Salka (Ída Mekkín Hlynsdóttir). Ein ziemlich fordernder, konfrontativer Therapeut fragt den Traumatisierten, als würde dieser neben sich stehen: „Wissen Sie, wer Sie sind?“ „Ein Mann, Vater, Großvater, Polizist, Witwer“, sagt Ingimundor. Dieser ist so sehr in der Trauer gefangen, dass er den Zugang zu sich versperrt hat. Die Arbeit am Haus und die quirlige Salka lenken ihn zwar ab. Doch der ehemalige Polizist kann nicht loslassen. Als er unter den hinterlassenen Sachen seiner Frau Spuren findet, die darauf hindeuten, dass diese ein außereheliches Liebesverhältnis hatte, wird aus Ingimundors Verdacht eine Obsession mit schwerwiegenden Folgen.

Der isländische Regisseur Hlynur Pálmason inszeniert in seinem Film „Weißer weißer Tag“ Räume als Seelenlandschaften. Distanz, Trennung und Isolation werden von seinen ausgefeilten Bildkompositionen evoziert. An anderer Stelle vergegenwärtigt eine Montage von Gegenständen die Erinnerung an den tragischen Unfall. Geschichten über Vergänglichkeit und Bilder des Todes ziehen sich durch den Film, während die Ahnung der Untreue Ingimundors Gedanken infiltriert und eine bedingungslose Suche nach der Wahrheit in Gang setzt.

Der eindrucksvolle, nachdenklich stimmende Film gewinnt seinen Rhythmus aus der einsamen Trauer seines Helden, dessen blindwütige Verzweiflung sich schließlich im Dunkel eines (auch symbolischen) Tunnels als befreiender Schrei entlädt. In teils rätselhaften Bildern wiederum spiegelt Pálmason auf poetische Weise jenes Unbekannte, das den zunehmend gewalttätig agierenden Wahrheitssucher nicht ruhen lässt. Einmal stößt Ingimundor – man erinnert sich dabei an den Unfall vom Anfang – einen schweren Stein einen Hang hinunter. Wir folgen seinem langen Weg, der wie eine unumstößlich Abfolge von Ursache und Wirkung erscheint und der schließlich unter Wasser endet – an einem Ort, an dem das Wissen ins Vergessen mündet.

Der schwarze Diamant

(USA 2019, Regie: Benny Safdie, Josh Safdie)

Viel Schlamassel um bupkis
von Thomas Hemsley

Von Anfang an wird das Publikum kopfüber in verschiedene (physikalische wie soziale) Mikrokosmen gestürzt (schwarzer Opal, diamond district-Milieu…), von denen einige überlappen oder zumindest Anknüpfungspunkte haben (erstaunlich viele zwischen afroamerikanischer …

Von Anfang an wird das Publikum kopfüber in verschiedene (physikalische wie soziale) Mikrokosmen gestürzt (schwarzer Opal, diamond district-Milieu…), von denen einige überlappen oder zumindest Anknüpfungspunkte haben (erstaunlich viele zwischen afroamerikanischer und jüdisch-amerikanischer Kultur), manchmal nur auf visueller Ebene (wenn die Innenansicht des Diamanten in die Innenansicht eines Gedärms übergeht), bis wir am Ende dann mit dem Blick in den Kosmos was genau gesagt bekommen?

Die totale unmittelbare Immersion will sich allerdings nicht einstellen, dafür ist die Hauptfigur zu unsympathisch, auch zu eigen, als dass sich dieser Howard Ratner wirklich als Identifikationsfigur anböte. Dabei ist er weniger ein – dem Titel zufolge – Rohdiamant, als vielmehr eines der Lichtreflexe, das zwischen den Brechungen im Edelstein, im Leben und vor allem in seiner Persönlichkeit hin- und heroszilliert. Irrlichternd, getrieben, fiebrig – diese Adjektive beschreiben auch die Performance Adam Sandlers, der hier mitnichten seine beste Rolle, seine beste Leistung oder gar seinen besten Film abliefert, aber zumindest seine Persona am weitesten ins Zwielicht, in Abgründe, in eben diese Brechungen hineintreibt – so dumm oder nervig oder auch mal nihilistisch („Funny People“) seine Charaktere bisher waren, hatten sie dann doch genug Herz, um aus ihm einen everymentsh zu machen. Vollkommen herzlos ist er natürlich auch hier nicht – so scheint er seine Kinder ja doch zu lieben –, zumal er eher von Selbsthass getrieben wird als alles andere – aber für die richtige Dosis Mentshlekhkeyt fehlt dann doch etwas.

Die entsprechenden Parallelrollen sind (für viele vielleicht seltsamerweise) in „Click“ und „The Week of“ zu finden, wobei gerade letzterer den Stress, die Eskalationskomik, die teilnehmend-beobachtende Kameraführung und den dazugehörigen Schnitt viel besser im Griff hat. Aber die Probleme von „Uncut Gems“ liegen weder in der Performance noch der Inszenierung, sondern im Drehbuch.

Da ist zu viel in medias res und zu wenig Kontext – tatsächlich ist da einfach zu viel. Howard passiert so viel, und er reagiert jedes Mal schlecht, dass das Ganze irgendwann überkonstruiert wirkt. Die Familienszenen hätten mehr ausgebaut werden können, sodass die Dynamik zwischen seiner Frau und ihm etwas mehr emotionale Wucht bekommt. Und irgendwie wird nie so ganz klar, ob er denn wenigstens wirklich was von seinem Beruf versteht, das soll einfach nur so als gegeben hingenommen werden – aufgrund seines augenscheinlichen materiellen Wohlstands –, hätte aber vielleicht auch mal etwas mehr gebraucht als sein Verkaufsgespräch für den schwarzen Opal.

© Netflix

Das große Vorbild Martin Scorsese (auch Produzent) schaffte es in seinen besten Sequenzen auch in einen Mikrokosmos hineinzustürzen und das Ganze sowohl quasi zu dokumentieren als auch in einen audiovisuellen Rausch zu verwandeln. Die Safdies schaffen leider nur den Rausch.

Dabei hat der Film viele richtige Voraussetzungen für die potentielle Quasi-Dokumentation. Die physische Realität im Bild ist fast greifbar: Location/Produktionsdesign und Kostüme/Maske sind vom Feinsten. Und wenn man sich die credits auf der IMDB anschaut, sieht man da Namen, die schon vorher mit den Safdies gearbeitet haben, Locationscouts, die ausgewiesene New-York-Kenner zu sein scheinen (mit „Criminal Intent“ im Portfolio) und das Gebiss, die Frisur, die Kleidung, der Schmuck, die Brillen, die Adam Sandlers Look ausmachen und ihn schon vom Äußeren charakterisieren, sind wohl in engster Zusammenarbeit zwischen den Regie-Brüdern, Sandler und einer langjährigen Mitarbeiterin seinerseits entstanden. Als Adam Sandlers Make-up-Künstlerin und Hairstylistin ist Ana Pala-Williams angegeben, die wiederum schon an „Airheads“ und „Bulletproof“ mitgewirkt hat, insgesamt eher unwichtige frühe Filme in Sandlers Werk, aber abgesehen von „Billy Madison“ hat sie anscheinend an allen seinen Filmen mitgewirkt. Und wenn man sich näher mit Sandler beschäftigt, dann fällt einem auf, wie wichtig eben seine Frisur und andere Äußerlichkeiten für seine Rollen sind: Er verwandelt sich zwar nie mehr oder weniger vollständig wie Eddie Murphy, aber diese relativ kleinen Änderungen bestätigen ja nur, dass er immer neue Facetten einer Persona spielt. Dieses Mal einen Spielsüchtigen, der sich immer weiter bis in die Ausweglosigkeit in der Unterwelt verstrickt und verheddert.

Die eingangs erwähnten kosmischen Verweise zeigen, dass den Safdies aber mehr vorschwebt als das Portrait eines Suchtmenschen, dessen innere Getriebenheit in der äußeren Form des Films ihren Ausdruck findet und somit versucht, dieses Erleben auf den Zuschauer zu übertragen. Das handwerkliche Können haben sie. Und Sandler hat wirklich alles gegeben, wofür er auch zu Recht gefeiert wurde. Allein es fehlt der Kakophonie und –skopie die eindeutig angestrebte Substanz.

Jeanne d’Arc

(FR 2019, Regie: Bruno Dumont)

Jetzt sing doch mal, Jeanne
von Ulrich Kriest

Die Geschichte wurde wohl bereits an die 30 Mal verfilmt, etwa von George Méliès (1900), Cecil B. DeMille (1916), Carl Theodor Dreyer (1928), Victor Fleming (1948), Robert Bresson (1961) oder …

Die Geschichte wurde wohl bereits an die 30 Mal verfilmt, etwa von George Méliès (1900), Cecil B. DeMille (1916), Carl Theodor Dreyer (1928), Victor Fleming (1948), Robert Bresson (1961) oder Luc Besson (1999). Wir schreiben das Jahr 1430, und in Frankreich ist „Brexit“ angezeigt. Die Engländer sollen raus, wollen aber nicht. Die Heerführerin Jeanne D’Arc hört Stimmen und will nachhelfen. Doch verlässt sie erst das Kriegsglück und dann ihre Gefolgschaft. Schließlich wird ihr wegen Ketzerei der Prozess gemacht, Ausgang bekannt. Man darf trotzdem gespannt sein, was Bruno Dumont draus macht. Früher („Humanität“; „29 Palms“; „Flandern“) war er für die Leberhaken im Kino zuständig, aber seit „Kindkind“ und „Die feine Gesellschaft“ begeistert er durch ein surreales Körperkino voller Überraschungen.

„Jeanne D’Arc“ beginnt, als wollte eine Laienspielgruppe mit begrenztem Enthusiasmus, eingeschränktem Budget, aber mit Unterstützung des örtlichen Reitvereins den Stoff in der Normandie zum Voltigieren bringen. Wie bei Kleist gibt es den Krieg und Paris nur als Teichoskopie. Eine umwerfende antiklerikale bis anarchistische Mischung aus Brechtschem Theater, Monty Python und Huillet/Straub. Würden- und Kostümträger, die sich Dünen rauf- und runterquälen, erscheinen zunächst lächerlich. Wenn es im Prozess um spitzfindige theologische Dispute geht, zeigen sich die bigott-mörderischen Impulse hinter dem Hässlichen. Dazu verlässt der Film die Natur und wendet sich in eine Kathedrale, eine Architektur, die den Menschen klein macht.

Dass das in den Bann schlägt, ist Lise Leplat Prudhomme zu verdanken. Sonst übernahmen die Rolle der jung Hingerichteten Darstellerinnen in ihren Dreißigern, aber Dumonts Protagonistin ist gerade mal zehn. Sie verkörpert ihre Mission mit einer unheimlichen Hingabe und liefert sich großartige Rededuelle. Mit der Wucht ihrer Individualität und ihres Gottvertrauens weist sie die weltliche wie klerikale Macht rhetorisch in die Schranken. Als wären all die ästhetischen Lösungen, die der französische Regisseur für den Stoff gefunden hat, noch nicht radikal und gegenwartsbezogen genug, gestattet er zudem kurze Blicke ins Innere der mysteriösen und zutiefst einsamen Figur mittels der Chansons, für die er den Sänger Christophe gewinnen konnte.

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 1/2020

Die Wütenden

(FR 2019, Regie: Ladj Ly)

Keine Ohnmacht
von Katrin Hildebrand

„Dass der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem dass er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen …

„Dass der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem dass er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben“, schrieb Immanuel Kant in seinem berühmtesten Essay. Was das mit dem optisch hinreißenden französischen Spielfilm „Les Misérables“ zu tun hat? Indirekt jede Menge. Denn das Drama, das sich im Titel auf Victor Hugo bezieht, handelt von Ermächtigung, Macht, Ohnmacht, Unterdrückung und allem, was dazugehört: Randale und Polizeigewalt, Gangstern und Irren, Verzweifelten und Rebellen. Frauen sind kaum welche darunter, und auch das ist schon bei Kant impliziert: Die Weiber sind nicht nur einfach, sondern gleich mehrfach unterdrückt – von Gott und Staat wie jeder andere und von der Familie, sprich: dem Patriarchat, doppelt so schlimm wie jeder andere.

Insofern ist es zwar konsequent, dass in Ladj Lys Werk kaum Frauen auftauchen, doch irgendwie schade. Denn das Kino schafft Bilder und auch Vorbilder. Je mehr selbstermächtigte Weiber über die Leinwand springen, desto eher springt der Funke über. Wütend sind hier jedoch fast ausschließlich Schwanzträger: die ausgegrenzten, ärmlichen Bewohner eines Pariser Vororts, viele von ihnen rassistisch diskriminiert von der Mehrheitsgesellschaft und der Polizei. Ihre Form der Ermächtigung ist besonders hilflos und hart.

Präziser arbeiten da schon der Gangster Le Maire, die Muslim-Brüder und eine Zirkusgruppe, der eins dieser hilflosen Kids einen jungen Löwen klaut. Es kommt zum Krieg in der Vorstadt – und mittendrin agiert ein recht divers besetztes Polizeitrio. Sie stehen für Staatsmacht, aber auch für den Umstand, dass niemand, wirklich niemand der Gesellschaft entrinnen kann.

Trotz aller Hektik und eines bis ins Detail ausgearbeiteten Plots steht „Die Wütenden“ wie kaum ein Film für die alles umfassende Ohnmacht. Zum Zuschauen ideal. Denn während die Regie sonst oft das Moment des Nicht-Agieren-Könnens in bleierne Bilder kleidet, reiht sich hier Szene an Szene, Aktion an Aktion, Ausbruch an Ausbruch – und das in flirrend atmosphärischen Bildern –, sodass zumindest der Mensch im Kinosessel den Saal nicht als depressiver Ohnmächtiger verlässt, sondern als wissender. Und das ist schon eine ganze Menge.

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 01/2020

Jojo Rabbit

(USA/DE 2019, Regie: Taika Waititi)

Komm, gib mir deine Hand
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Film zur rechten Zeit. Die Nazis von damals und der Zweite Weltkrieg, gesehen mit den Augen eines Zehnjährigen, Erfahrungen sammelnd im Deutschen Jungvolk, der Kindersektion der Hitlerjugend. Wir sehen …

Ein Film zur rechten Zeit. Die Nazis von damals und der Zweite Weltkrieg, gesehen mit den Augen eines Zehnjährigen, Erfahrungen sammelnd im Deutschen Jungvolk, der Kindersektion der Hitlerjugend. Wir sehen die Welt, den ganzen Film hindurch, mit Kinderaugen. Das ist grotesk, abgründig komisch, so ähnlich wie die Erlebnisse des Käptn Blaubär, falls Sie das Buch gelesen haben. Jojo ist auf sich gestellt. Er braucht dringend jemanden, an den er glauben kann. In der Hitlerjugend bietet sich als Lichtgestalt Adolf Hitler an. Sieh da, da tritt er schon auf, irgendwie seltsam: eine Karikatur, eine Comicfigur? Leibhaftig eher nicht. Aber Jojo, der das für die Kampfausbildung benötigte Rabbit nicht abmurksen wollte, wird gemobbt. Er braucht Hilfe.

Hallo?! Wo bleibt das Feindbild? Wo bleibt die politische Bildung? Wir haben ganz was anderes. Wir haben eine comichaft gespielte Satire, die aber nach dem ersten Drittel des Films für Jojo reichlich ernsthafte Aufgaben bereithält – Coming of Age. Mamma (Scarlet Johanssson) versteckt eine jüdische 15jährige in der Wohnung? Jojo will sich von seinem Hitler da nicht mehr helfen lassen.

Kommen wir jetzt endlich zum gängigen Feindbild? Mitnichten. Hitler, gespielt vom Regisseur Taika Waititi himself (Vater Jude, Mutter Maori), bleibt uns erhalten und mit ihm die Nazis, allesamt nicht okay, aber irgendwie doch. Beim Einmarsch der US-Truppen 1945 rettet der fieseste Nazi-Jugendführer unserem unifomierten Jojo das Leben, indem er ihn vor den US-Soldaten als Judenschwein beschimpft. Auch diesmal eine typische Balance. Die Amis erschießen die Gefangenen – mit Ausnahme von Jojo. So ging das also?

„Jojo Rabbit“ ist eine US-Produktion, gedreht, fern von Hollywood, in und um Prag. Er verlässt den Zuschauer in einer Kipplage. Es rumort weiter in ihm. Leute, sucht euer Gleichgewicht selbst! Werdet aktiv! Wenn niemand euch explizit sagt, was ihr vom Film zu lernen habt, um es in der nächsten Stunde aufzusagen, haltet euch an das, was ihr seht – und hört. Die Beatles: „Komm, gib mir deine Hand.“ Oder haltet euch an David Bowie und Brian Eno: an deren „Heroes“, sprich „Helden“! Dann seid ihr die, die das letzte Wort haben!

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 1/2020

La Gomera

(RO/FR/DE 2019, Regie: Corneliu Porumboiu)

Spleenig, vielsinnig, cinephil
von Drehli Robnik

Film Noir, das ist nicht nur, wenn’s düster, depressiv und dirty wird, sondern das ist vielmehr – zunächst und auch sinniger, witziger –, wenn der Taten- und Wissensdrang des westlichen …

Film Noir, das ist nicht nur, wenn’s düster, depressiv und dirty wird, sondern das ist vielmehr – zunächst und auch sinniger, witziger –, wenn der Taten- und Wissensdrang des westlichen Modell-Individuums (also meistens Detektiv, Cop oder Krimineller) sich heillos verstrickt: nämlich in die Welt, materiell wie sie ist. In dem rumänischen Krimi „La Gomera“ heißt das: Der Held, Cristi, ein Bukarester Polizist am Karriereende mit Glatzenbeginn und Bauchansatz, ist als Doppelagent für oder doch als Dreifachagent gegen die Mafia tätig, oft auch untätig. Auf alle Geschnisse reagiert er leicht überfordert bis angezipft, daher mitunter langsam oder gar nicht.

Aus einem Plan wird Verzettelung, und die wird Plot. Das ist die Welt – und des ist wöd, wie die Wienerin sagt –, zumal laut der abstrusen, aber stoisch durchgezogenen Storyprämisse: Cop Cristi (Vlad Ivanov) soll einen Gangster aus der Haft befreien, wird aber ständig überwacht (Minicams an jeder Tür und Wand, auch hinter einem Muttergottesbild); also muss er als Geheimcode die – tatsächlich existierende – Silbenpfeifsprache der Ureinwohner von La Gomera lernen; zu diesem Zweck muss er auf die titelgebende Kanareninsel und dort, wen wundert’s, erst einmal Atemtechnik üben, ergo der Lunge zuliebe viel im Meer schwimmen. Alles klar? Das ist Noir. Alles ein bisschen wie bei den Coen Brothers, aber ruppiger, weniger oberschlau, und – es nervt nicht.

In den Nebelwaldhügeln der Insel wie auch in Bukarests altsozialistischem Häusermeer wird gepfiffen, in Übersetzungsketten englisch, spanisch, rumänisch. Eine Matratze voller Geld wird als ganze geraubt. Ein Shootout wird auf einem Filmstudio-Set am Stadtrand abgewickelt. Zum Geheimmeeting in der Kinemathek ertönen Wildwestpfeifsignale aus John Fords Klassiker „The Searchers“, und im konspirativ genutzten Hotel läuft ständig dieser picksüße Jacques Offenbach-Walzer auf Schallplatte. Der Grund dafür ist Spleen und sonst rein nix; vermutlich heißt das Musikstück deshalb „Die Rheinnixen“.

Dreivierteltakt und Marschmusik aus dem von Tatendrang erfüllten späten 19. Jahrhundert umspielen dann das Finale, das unter den Laserlichttürmen einer touristischen Freizeitpark-Show in Singapur stattfindet. Zum Abspann wird’s recht wienerisch, samt Donauwalzer und Radetzkymarsch, es weht ein weit hergeholter, ferner Flair von K.u.K. (Nein, nicht der von Kurz u. Kogler, der weht ja im heutigen Wien und ist kein Flair, sondern kontinuierliche Rechtsdrift, dasselbe in Grün.) Diese Untermalungen sowie ein unversehens auf dem Krankenhauszimmerfernseher laufender rumänischer Resistance-Krimi aus den Seventies und der Auftritt von Julieta Szönyi, einer dortzulande aus dem Historien-Melodramen-Kino und -TV jener Jahre bekannten Schauspielerin (in ihrer ersten Filmrolle seit drei Jahrzehnten) – das ist hier Teil einer gustierenden Lust an Geschichtsbruchstücken: Fabulieren im Mystery, Schnabulieren in History, wie das Regisseur Corneliu Porumboiu schon 2006 mit seiner eskalierenden Politiknostalgie-Satire „12:08 jenseits von Bukarest“ inszeniert hat. (Wer sich den Spaß macht, Szönyis Filmografie auf der Internet Movie Database zu checken, stößt dort auf einen Titel von vor vierzig Jahren, der genauso lautet wie der von Porumboius vorigem Film und ein wenig so wie der von seinem aktuellem Film, gepfiffen in der lokalen Silbensprache, nämlich „Comoara“, zu deutsch: „Der (Gold-)Schatz“. Kein schlechtes Stichwort für den närrischen Noir „La Gomera“.)

© Alamode

Schön spleenig sind schließlich die Parallelen zwischen den drei Frauen, die dem Polizisten sagen, was er tun soll: Da ist seine trocken-resche Vorgesetzte (Rodica Lazar), die an allen Spuren dranbleibt und notfalls das Schießen selbst übernimmt, wenn nix weitergeht. Und da sind vor allem die beiden schwarzhaarigen Diven Szönyi und Catrinel Marlon als Cristis g’schaftige Mutter respektive Mafiakontaktfrau namens Gilda – ja, genau so wie Hollywoods Ur-Femme Fatale (im gleichnamigen Film mit Rita Hayworth von 1946). Beim Erstkontakt mit Cristi gebietet Gilda gleich einmal Sex, nämlich als Tarnung des Treffens unter dem Kamerawanzen-Auge der Überwachung, also kommt der etwas verdutzte Polizist, ohne dass er das angestrebt hätte, unter dem nackt auf ihm stöhnenden Körper der Femme Fatale zu liegen – ein grandioser Moment von Zum-Genießen-gezwungen-Werden. Und auch seine resolute Mutter zwingt den zwischen Gesetz und Gangs machinierenden Cop zu seinem Glück: Einen hohen Geldbetrag aus mafiöser Quelle, den Cristi im Geräteschuppen von Mutterns altem Garten verstecken wollte, hat sie zufällig gefunden und gleich der Kirche gespendet – der Priester solle als Gegenleistung für ihren Sohn beten, damit er doch noch normal werde. Die Mutter ist nämlich überzeugt, dass Cristi endlich eine Freundin braucht und überhaupt seine verdeckte Homosexualität eingestehen soll. Ob Film- oder Familiengeschichte: Die Alten spielen sich groß auf.

Das erste Wort, das unser Held, der Alles-Erdulder mit dem passenden Vornamen, im Mafia-Pfeifkurs auf La Gomera lernt, lautet „Ma-ma“. Als wär’s Cristi Geburt: Komm zur Welt, Baby (oder zumindest zur Sprache), alles Walzer, alles Noir! Wie die alte Gilda schon sang: Put the blame on Mum Fatale.

Spuren. Die Opfer des NSU

(D 2019, Regie: Aysun Bademsoy)

Zur rechten Zeit
von Marit Hofmann

Sommer, Sonne, Vogelgezwitscher, ein Blumenstand. Nur der Autoverkehr stört das vermeintliche Idyll. Der Verkäufer stellt einen Strauß vor einen Baum im angrenzenden Wald. Die Kamera schwenkt nach oben. Am Baumstamm …

Sommer, Sonne, Vogelgezwitscher, ein Blumenstand. Nur der Autoverkehr stört das vermeintliche Idyll. Der Verkäufer stellt einen Strauß vor einen Baum im angrenzenden Wald. Die Kamera schwenkt nach oben. Am Baumstamm ein Bild von Enver Şimşek. Der Nürnberger Blumenverkäufer Ali Toy ist ein Überlebender; am Tag des ersten NSU-Mordes fuhr er in den Urlaub, sein Chef sprang für ihn ein und starb. Toy hat für Şimşek einen Gedenkhain aus Obstbäumen gepflanzt, den er stolz präsentiert. Bei der Arbeit hat er „immer Angst“. „Wenn sie uns hier nicht wollen, sollen sie uns zurückschicken in die Türkei, aber nicht im Sarg.“

Deutschland, das sind Autofahrten durch öde Landschaften von einem Tatort zum anderen, die Regisseurin Aysun Bademsoy liefert Fakten aus dem Off dazu. Nächste Station: der NSU-Prozess in München – mit den teils bekannten starken Auftritten der fassungslosen Angehörigen nach der Urteilsverkündung: Angela Merkel habe ihr Versprechen, die Morde vollständig aufzuklären, nicht gehalten. Die Ermittler hätten die Opfer „ein zweites Mal umgebracht“, indem sie ihre „Ehre kaputtgemacht“, die Familien kriminalisiert, „Speichel aus unseren Mündern genommen“ haben. Nazis applaudierten den Helfern des NSU zu ihren milden Strafen. Halit Yozgats Eltern sind so wütend, dass sie mit niemandem mehr reden wollen, auch nicht mit Bademsoy, deren Vater oder Bruder es ebenso hätte treffen können und die der Prozess politisiert hat: „Mein Misstrauen in den deutschen Staat … hat sich damit ziemlich verstärkt.“ Sie will „Anteil nehmen an dem Unrecht, das den Angehörigen widerfahren ist“, doch ihr Vertrauen zu gewinnen war „sehr, sehr schwierig“. Nicht nur das Polizeiaufgebot, auch die Pressemeute, durch die sich die Hinterbliebenen vor dem Gericht winden müssen und die ihnen bei Gedenkveranstaltungen frontal gegenübersteht, erscheint in diesem Film feindlich.

„Spuren“ kommt, da just Verbindungen des NSU und des Verfassungsschutzes zum Mord an Walter Lübcke offenbar wurden, zur rechten Zeit. Die sichtbar gezeichneten Mitglieder dreier Familien geben den Opfern an deren Lieblingsplätzen und den Tatorten in Nürnberg, Hamburg und Dortmund in teils sehr privaten Anekdoten ein Gesicht. Schließlich flüchtet der Film in die Türkei, wo Şimşeks Witwe und Tochter heute leben, weil sie Deutschland nicht mehr ertrugen. Am Ende: das Gebimmel der Schafe, das Enver Şimşek so gerne hörte.

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 2/2020

13 Frights: Night of the Living Dead

(USA 1968, Regie: George A. Romero)

Off Hollywood
von Thomas Hemsley

Einer Epidemie gleich hat sich das Zombie-/Apokalypse-Meme in den letzten 50 Jahren in anderen Ländern und allen Medien (auch Comics, Computerspiele, Literatur) verbreitet. Und hat dabei eine Menge Leute mit …

Einer Epidemie gleich hat sich das Zombie-/Apokalypse-Meme in den letzten 50 Jahren in anderen Ländern und allen Medien (auch Comics, Computerspiele, Literatur) verbreitet. Und hat dabei eine Menge Leute mit einem unglaublich kreativen Virus infiziert, sodass Zombiefilme im Amateurfilmbereich höchst beliebt sind. Das hat auch vielen reichhaltigen Karrieren einen Anfangsschub gegeben oder sie zumindest auf ein neues Level katapultiert: Lucio Fulci, Edgar Wright, Simon Pegg, Zack Snyder, John Hyams – um nur einige zu nennen.

Aber neben diesem Meme hat der Film insgesamt das Kino auf vielfältige Weise beeinflusst: Nach Hershell Gordon Lewis‘ „Blood Feast“ waren Romeros ersten zwei Zombiefilme (dieser und „Dawn of the Dead“) maßgebliche Einflüsse auf die Subgenres/Themenbereiche body horror, Splatter/Gore; den Scifi-Filmen der 50er ähnlich (offensichtlichstes Beispiel: „Body Snatchers“) wurde das Horrorgenre (vor allem in den 70ern) in eine mehr soziologische, auch gesellschaftskritisch-satirische, gar politische Richtung gelenkt; nicht nur deswegen war „Night of the Living Dead“ ein selten als solcher gewürdigter Anstoß für New Hollywood (leider werden die Horrormeister der 70er selten in diesem Zusammenhang genannt) und den Independentfilm.

Aber ein Potenzial steckt als Keim in den Produktionsbedingungen und wurde noch nicht ausreichend ausgeschöpft: eine wirtschaftlich funktionierende, regionale Filmkultur bzw. viele regionale Kulturen. Obwohl George Romero aus der Bronx kam, hatte er die Ressourcen, Talente, die Möglichkeiten Pittsburghs genutzt, die Kontakte und die Finanzierungsmöglichkeiten – ganz zu schweigen vom handwerklichen Können -, die er sich als Industrie-/Werbefilmer erworben hat, ausgeschöpft, um im größeren Raum Pittsburgh nicht nur diesen kleinen Film zu drehen. Er blieb der Gegend als Filmemacher über die Jahre weitgehend treu. Dies wird von „der Stadt“ (im Verwaltungs- wie Gemeinschaftssinne) entsprechend gewürdigt und gefeiert.

US-Kinokulturen nicht nur geographisch fernab Hollywoods (auch als Symbol für Mainstreamkino) gibt es zwar (Austin, Atlanta), aber noch nicht genug, und noch nicht autark genug – sowohl kommerziell als auch „das Talent“ betreffend sind auch Texas und Georgia immer noch überwiegend abhängig von Hollywood. Es bleibt zu hoffen, dass sich Globalisierung und Regionalisierung einander eher befruchten, als gegenseitig auszuschließen.

Intrige

(FR/IT 2019, Regie: Roman Polanski)

Unter unelastischen Männern
von Thomas Blum

Wir befinden uns im Jahr 1895. Und wir sehen: Männer. Militärs in Uniformen und Gehröcken, mit Zigarre und Cognacglas, mit gestärktem Hemdkragen, am Schreibtisch sitzend, strammstehend, mit schneidender Stimme redend, …

Wir befinden uns im Jahr 1895. Und wir sehen: Männer. Militärs in Uniformen und Gehröcken, mit Zigarre und Cognacglas, mit gestärktem Hemdkragen, am Schreibtisch sitzend, strammstehend, mit schneidender Stimme redend, Befehle erteilend, Urteile fällend. Sie tragen allesamt ebenso alberne wie nach Spielzeugland aussehende Uniformjacken mit allerlei possierlichen Kordeln und Tressen und Rangabzeichen. Das Frankreich an der Wende zum 20. Jahrhundert scheint eine ebenso stumpfsinnige wie ganz nach den Prinzipien der Hierarchie strukturierte patriarchale Soldatengesellschaft zu sein. Selbstverständlich viel militärisches Brimborium auch. Dem vorgeschriebenen Ritual, sei dieses auch noch so leer oder redundant, muss Genüge getan werden. Die steifen, extrem unelastisch wirkenden Männer, allesamt chauvinistische und sich der jeweils übergeordneten Autorität bereitwillig andienende Apparatschiks, staksen in diesem Film fortwährend durch muffige Bureaus und Salons, die vollgestellt sind mit schweren Sekretären und Teppichen und in denen Gemälde und Drucke an den Wänden hängen. Räume, in die nie genug Tageslicht dringt und in denen das Fenster oft klemmt.

Die Männer spielen Machtspiele und üben Macht aus. Es geht ums Festhalten an dieser Macht – und um Einfluss, Wohlstand, Ehre, die Nation und deren Platz an der Sonne. Und um die Juden, denen man nicht trauen kann, weil sie Juden sind.

Am Anfang des neuen Films von Roman Polanski, dem Historiendrama „Intrige“, das vergangene Woche für 12 Césars nominiert wurde, sehen wir einen tristen, regennassen Appellplatz und in dessen Mitte einen öffentlich zur Schau gestellten Offizier, Alfred Dreyfus. Ihm werden die militärischen Ehrenabzeichen abgenommen und mit grober Geste die goldfarbenen Tressen von der Uniformjacke gerissen. „Man degradiert einen Unschuldigen“, ruft er noch. Doch keiner der Umstehenden will davon etwas wissen. Alle sollen sehen, dass dieser Offizier, sagen wir besser: dieser Jude, degradiert und entehrt wird. Um das Geschehen herum ist das Militär versammelt, darunter zahlreiche Offiziere. „Na, wie sieht er aus?“, fragt einer von ihnen, der den Vorgang nicht genau erkennen kann, seinen Nebenmann. Woraufhin dieser feixend antwortet: „Wie ein jüdischer Schneider, der den Preis der Goldtressen abschätzt.“ Schnitt auf einen anderen Offizier in der Zuschauermenge, der die öffentliche Degradierung des verurteilten und in die Verbannung zu schickenden Dreyfus so kommentiert: „So wird endlich die Pestilenz aus einem gesunden Volkskörper getrieben.“

Im Mittelpunkt von Polanskis Film steht der Antisemitismus. Die historische Vorlage bildet einer der größten Justizskandale des 19. Jahrhunderts, die sogenannte Dreyfus-Affäre, die den omnipräsenten Judenhass jener Zeit veranschaulicht. Um einen der ihren zu schützen, der fürs Deutsche Kaiserreich spioniert, manipuliert und fälscht eine bis in die höchste Befehlsebene des französischen Militärs reichende Gruppe von Verschwörern Schriftstücke und andere Beweise. Statt des tatsächlichen Spions wird schließlich der völlig unbeteiligte Hauptmann Alfred Dreyfus wegen Landesverrats vom Militärgericht verurteilt, dem man, weil er Jude ist, seine Unschuld nicht glaubt.

© Weltkino

Dass tatsächlich ein Unschuldiger verurteilt und verbannt wurde, stellt schließlich erst der überraschend und unverhofft zum neuen Leiter des Auslandsgeheimdienstes berufene Oberstleutnant Marie-Georges Picquart fest, nachdem er – als er die weitgehend achtlose, schlampige und von Günstlingswirtschaft und Willkür (der vor ihm Verantwortlichen) geprägte Arbeitsweise der Behörde bemerkt – umfangreichere eigene Recherchen angestrengt hat.

Polanski zeigt in dem Film, mit welcher Selbstverständlichkeit der Antisemitismus zeittypisches Phänomen war und mit welcher Selbstverständlichkeit er zur ganz normalen geistigen Ausstattung einer Bevölkerung gehörte, in diesem Fall der französischen: Das Ressentiment gegen die Juden ist so normal und alltäglich wie das Atmen, der Durst oder die zwischenmenschlichen Umgangsformen. Selbst der dem Zuschauer vom Regisseur als eine Art Filmheld angebotene Oberstleutnant Picquart ist da keine Ausnahme. „Falls Sie wissen wollen, ob ich Juden mag: Nein“, sagt er in einem kurzen Gespräch mit dem angeklagten Offizier Dreyfus, „aber wenn Sie mich fragen, ob ich Sie deswegen diskriminiere: Niemals!“

Und als eben genau dieser Picquart später alles daran setzt, das Versagen und die Korrumpierbarkeit der Justiz und die Fälschungen und Lügen des Militärs ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, und sich für eine Rehabilitierung des zu Unrecht verurteilten Dreyfus engagiert, erheben Justiz und Militär den folgenden Vorwurf gegen den Gerechtigkeit anstrebenden Oberstleutnant, der wiederholt auf der Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahrensweisen beharrt: „Sie werden von einem jüdischen Syndikat bezahlt.“

Natürlich, wie könnte es auch anders sein!

© Weltkino

Ein zentraler Konflikt ist in „Intrige“ auch der zwischen dem Militär alten Schlages, dem der Befehl von oben als das unumstößliche, nicht infrage zu stellende archaische Gesetz gilt, und dem sogenannten Staatsbürger in Uniform, der ebenso ein „Patriot“ wie ein freier und bestenfalls selbstständig denkender, nach moralischen Prinzipien urteilender Mensch sein soll. „Wenn ich einen erschießen soll, dann tue ich es. Und wenn sich später herausstellt, das war falsch, ist es hinterher nicht meine Schuld“, sagt der eher grobschlächtige Auslandsgeheimdienstchef Henry, der den Typus des blinden Befehlsempfängers repräsentiert, woraufhin ihm der smarte Picquart, der die Gegenfigur zu ihm bildet, antwortet: „So ist vielleicht Ihre Armee, aber nicht meine.“

Die Umgebung, die Polanski uns zeigt, ist dabei eine der permanenten Korruption, des fortwährenden Einander-Hintergehens, der Erpressung und Heuchelei bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der bürgerlich-militärischen Fassade um jeden Preis: Spitzelei und Überwachung gehören zum Alltag. Briefe werden in den mit Aktenordnern und Sekretären vollgestellten Räumen des Auslandsgeheimdiensts heimlich geöffnet und wieder verschlossen; von Ausspionierten zerrissene und in den Abfall geworfene schriftliche Mitteilungen und Dokumente werden fein säuberlich an den Schreibtischen der Geheimdienstarbeitsdrohnen wieder zusammengefügt; Personen, die man loszuwerden wünscht, werden erpresst oder sonst wie zum Schweigen gebracht. Keine Ahnung, warum man da beim Zuschauen auch an unsere Gegenwart denkt, an den Verfassungsschützer Maaßen etwa und den NSU-„Skandal“.

Polanskis nach außen so poliert und adrett aussehende Militär- und Geheimdienstwelt des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in der angeblich die Vorschrift und die Ordnung regieren, ist ein undurchsichtiges, durch und durch mafiöses System.

Diese Kritik erschien zuerst am 07.02.2020 in: Neues Deutschland

Aretha Franklin: Amazing Grace

(USA 2018, Regie: Allan Elliott, Sydney Pollack)

Wie die Entstehung eines Albums
von Jonas Engelmann

„Der nächste Song bedarf keiner Einleitung“, sagt Reverend James Cleveland im Januar 1972 in der New Temple Missionary Baptist Church in Los ­Angeles dem Publikum, bevor er die ersten Töne …

„Der nächste Song bedarf keiner Einleitung“, sagt Reverend James Cleveland im Januar 1972 in der New Temple Missionary Baptist Church in Los ­Angeles dem Publikum, bevor er die ersten Töne von „Amazing Grace“ auf dem Piano anstimmt. „Letztens, während der Proben, hat Aretha ihn gesungen. Als sie zu der Stelle kam, an der es ›durch viele Gefahren‹ heißt, sah ich, wie ihr die Tränen in den Augen standen. Denn vor 20 Jahren hätten wir doch nie gedacht, dass Gott große Dinge für uns tun würde.“ Und auch bei der Live-Premiere vor Publikum bestimmt die Macht der Musik die Emotionen: Mitten im Song bricht zuerst der Pianist Cleveland in Tränen aus und muss sein Spiel unterbrechen, kurz darauf ist es die Sängerin Aretha Franklin selbst, die sich sichtbar aufgewühlt auf einer Kirchenbank niederlässt. Beide fangen sich nach kurzem Innehalten wieder und beenden den elfminütigen Song schließlich weinend und schwitzend Hand in Hand.

Auf dem gleichnamigen Album, das aus diesen Aufnahmen an zwei Abenden in Los Angeles entstand, ist die emotionale Herausforderung für die Beteiligten zwar zu erahnen, nicht aber in der Intensität, die der Dokumentarfilm „Amazing Grace“ einfängt, der kürzlich mit einigen Jahrzehnten Verspätung fertiggestellt wurde. Warner Brothers hatte den damaligen Regiestar Sydney Pollack beauftragt, die Aufzeichnung des ersten Gospel-Albums von Aretha Franklin zu dokumentieren, die 1972 dank Hits wie „Respect“ oder „(You Make Me Feel Like) A Natural Woman“ schon als „Queen of Soul“ galt. Pollack war 1970 mit seinem Tanzdrama „They Shoot Horses, Don’t They“ für den Regie-Oscar nominiert worden und sollte mit seinem Namen für den geplanten ersten Kinomusikfilm über eine afroamerikanische Künstlerin Aufmerksamkeit generieren.

© Weltkino

Leider war Pollack offenbar zu sehr in anderen Projekten eingespannt, oder es fehlte ihm schlicht an Motivation, der Film scheiterte jedenfalls an einem Anfängerfehler: Pollack hatte es versäumt, Klappen einzu­setzen, sodass die Synchronisation von Ton und Bild später nicht möglich war, was bei einem Musikfilm umso dramatischer ist. „Ich hatte keine Erfahrung mit Dokumentarfilmen, aber ich war aufgeregt, Ihre Aufnahmen zu begleiten“, schrieb er 1998 in einem Brief an Franklin. ­Obwohl mit Alexander Hamilton der Dirigent des Southern California Community Choir, des Gospelchors, der Franklin bei den Aufnahmen ­begleitet hatte, hinzugezogen wurde, um durch das Lesen der Lippen die Bilder in Einklang mit den Tonaufnahmen zu bringen, musste das ­Unternehmen nach kurzer Zeit abgebrochen werden und das Filmmaterial landete im Archiv von Warner.

Der erwähnte Brief von Pollack an Franklin war der Versuch, das Material viele Jahre später doch noch zu einem Film zusammenzufügen: „Dafür hatte ich einen jungen Mann, der versuchte, die Spuren zu synchronisieren, was ein enormer Job war, da alle fünf Kameras wahllos filmten. Es gibt wunderbare Aufnahmen von Ihnen, dem Chor, Ihrem Vater und dem Publikum. Manche von den Songs selbst, manche dazwischen.“ Der erwähnte junge Mann ist der Produzent Alan Elliott, der irgendwann in die Rolle des Co-Regisseurs von „Amazing Grace“ wechselte und in einem zehnjährigen Arbeitsprozess mithilfe digitaler Technik die Synchronisation von Ton und Bild ­bewerkstelligt hat.

Glücklicherweise hat sich Elliott dafür entscheiden, den Film als historisches Dokument zu inszenieren und nicht durch talking heads, die sich an die Aufnahmen oder die 2018 verstorbene Sängerin erinnern, ins standardisierte Dokumentarfilmformat zu überführen. Das Ergebnis hat eher den Charakter eines Making-of als eines durchkonzipierten Films, was den Prozess der Entstehung eines Albums – des meistverkauften Gospel-Live-Albums alles Zeiten – in interessanter Weise spiegelt. Man sieht in „Amazing Grace“ das Filmteam und Kabel, Mikros und Pannen, von Schweiß glänzende Gesichter, Bilder von körniger Qualität, ungewöhnliche Kamerafahrten und Perspektiven; den Kameraleuten war offenbar der Auftrag gegeben worden, einfach draufzuhalten. So erinnert das Ergebnis an Filme des Cinéma vérité, das insbesondere den französischen Dokumentarfilm der Sechziger prägte und versuchte, die Wirklichkeit ohne die vermittelnde Funktion eines Drehbuchs einzufangen.

Und so sieht man die damals 29jährige Aretha Franklin mal cool und professionell, mal überwältigt von ihren Emotionen, eine Reise in ihre eigene Vergangenheit antreten. Gospel war für sie die musikalische Heimat, von der aus sie ihre Karriere gestartet hatte, ihr erstes Album war 1956 ein Gospelalbum gewesen, inspiriert von ihrem Vater Clarence LaVaughn Franklin, einem Baptistenprediger und Bürgerrechtler, dessen Gospel-Messen auch auf Platte ­erschienen sind. Clarence LaVaughn Franklin war auch bei den Aufnahmen in Los Angeles anwesend und hielt eine Rede über das Glück, Aretha zur Tochter zu haben.

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1969 war mit „Oh Happy Day“ von Edwin Hawkins ein erster Gospel-Song in die Charts eingestiegen und hatte sich vor allem in Europa zu ­einem Tophit entwickelt; und so hatte Franklin gemeinsam mit ihrem Produzenten Jerry Wexler das Plattenlabel Atlantic Records von einem Live-Gospelalbum überzeugen können, das von ihrer Soul-Rhythmusgruppe mit Pop­elementen angereichert werden sollte. Zwei Wochen, bevor ihr Album „Young, Gifted and Black“ erschien, für das sie einen Grammy erhielt, wurde „Amazing Grace“ am 13. und 14. Januar 1972 in Los Angeles gemeinsam mit dem Southern California Community Choir unter Leitung von Alexander Hamilton aufgenommen. Die Mitglieder des Chors sind im Film immer wieder überwältigt von Franklins ­Gesang und den Arrangements von James Cleveland, noch einem adeligen Afroamerikaner, trug er doch den inoffiziellen Titel „King of Gospel music“.

Dennoch klingt „Amazing Grace“ wegen der Pop-Rhythmusgruppe nicht wie ein klassisches Gospelalbum, es blickt nicht nur zurück in die Geschichte der Unterdrückung der Schwarzen, sondern auch optimistisch und selbstbewusst nach vorne. Für diesen Optimismus braucht Franklin nicht viele Worte; im Film spricht sie kaum, sondern ist vor ­allem mit ihrem Gesang präsent, weswegen Bassist Chuck Rainey sagte: „Der Film ist über James Cleveland, ihren Vater, Clara Ward (zeitgenössischer Gospel-Star; Anm. d. Red.). Es war, als sei sie eine Tapete.“ Von der Präsenz des Gesangs jedoch lassen sich die Chormitglieder und das Publikum in Ekst­ase versetzen, selbst Mick Jagger und Charlie Watts, die im Publikum sitzen, scheinen vom ­Heiligen Geist ergriffen zu werden und tragen ein seliges Lächeln im Gesicht.

Die New Temple Missionary Baptist Church liegt im südlichen Los Angeles, im damals zu 99 Prozent von Schwarzen bewohnten Stadtteil Watts, wo 1965 bei Unruhen nach einer rassistischen Polizeikontrolle 34 Menschen starben und 600 Häuser beschädigt wurden. Bereits die Wahl des Orts war also eine politische Botschaft der Sängerin, die ihre ­Bekanntheit immer wieder im Sinne der schwarzen Bürgerrechtsbewegung einsetzte; schon ihr Vater war ein enger Freund des 1968 ermordeten Matin Luther King gewesen. Gospel, die wohl bekannteste religiöse Begleitmusik afroamerikanischer Geschichte, war immer auch eine stolze und befreiende Musik für schwarze Menschen. Der Song „Amazing Grace“ etwa, geschrieben vom Sklavenhalter John Newton im späten 18. Jahrhundert, um Gott zu huldigen, wurde in der Mitte des 20. Jahrhunderts vom schwarzen Gospel zu einer Hymne der Bürgerrechtsbewegung umgedeutet; die Sängerin ­Mahalia Jackson sang den Song etwa auf Protestmärschen, um ihnen „magischen Schutz“ zu geben. Und auch Franklin betont in ihrer Ver­sion die gewonnenen Kämpfe wie auch den Weg, der bis zum Ende der Diskriminierung noch vor den schwarzen Menschen liege.

Gospel war zu dieser Zeit zwar einerseits ­bereits kommerziell erfolgreich, andererseits aber immer noch Ausdruck afroamerikanischer Kultur: Spirituelle Lieder zu singen, galt als Aufbegehren gegen die Unterdrückung und Ruf nach der Freiheit, die den Sklaven genommen worden war. Doch war diese Widerstandstradition nicht rein historisch: William Herbert Brewster, Komponist des von Franklin eingesungenen Songs „Old Landmark“, hatte klargestellt, dass seine Gospel-Songs Metaphern für den Kampf der Bürgerrechtsbewegung beinhalten. Und auch in Marvin Gayes Song „Wholy Holy“ betont Franklin die Zeile „People we’ve got to come together“ und damit den Aspekt der Einigkeit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, fünf Jahre nach der Ermordung von Martin Luther King. Und die Vorstellung von Einigkeit reichte für Franklin über die afroamerikanische Bürgerrechts­bewegung hinaus. „It’s not cool to be Jewish, or Negro, or Italian. It’s just cool to be alive, to be around“, sagte Franklin einmal. Damit verwies sie auf den gemeinsamen Kampf marginalisierter Gruppen in den USA, die zwar unterschiedliche Formen von Diskriminierung betrafen, aber auch gemeinsame Erfahrungen teilten. Und so ist der Film „Amazing Grace“ auch ein historisches Dokument ­einer Einheit zwischen Juden und Schwarzen, die sich im Pop ganz selbstverständlich zeigte. Mit Blick auf ihren jüdischen Produzenten ­Jerry Wexler bemerkte Franklin einmal: „You don’t have to be black to have soul.“

Diese Kritik erschien zuerst in: Jungle World 48/2019

Birds of Prey

(USA 2019, Regie: Cathy Yan)

Erst Explosion, dann Emanzipation
von Thomas Blum

„Wir müssen die ganze Stadt ausmisten“, sagt die resolute Polizistin am Ende des Films. „Kein Stein darf auf dem anderen bleiben.“ Woraufhin aus der in einem Texmex-Restaurant versammelten und entspannt …

„Wir müssen die ganze Stadt ausmisten“, sagt die resolute Polizistin am Ende des Films. „Kein Stein darf auf dem anderen bleiben.“ Woraufhin aus der in einem Texmex-Restaurant versammelten und entspannt an Margaritas nippenden Frauenrunde, zu der sie gehört, der Kommentar kommt: „Muss sie denn immer reden wie ein Bulle aus einem schlechten 80er-Jahre-Film?“

Ein gelungener Dialog. Und einer, der schön veranschaulicht, dass ein Film aus dem Comic-Superhelden-und-Bösewichte-Universum nicht zwingend eine sich schwer ernst nehmende Veranstaltung sein muss.

War von den beiden an den Kinokassen konkurrierenden Superheldenfilmproduktionsfirmen Marvel und DC bisher eine Sache klar, dann war es diese: Marvel (Spider-Man, Captain America, Iron Man) ist für die sich ironisch-postmodern und verspielt gebenden Comicverfilmungen zuständig, DC (Batman, Superman, Wonder Woman) für die eher konservativen, schwerfälligen, zum Unterkomplexen neigenden Mainstreamproduktionen. So kam etwa der DC-Film „Wonder Woman“ (2017) als eine fürchterlich öde und gänzlich humorfreie Mischung aus Wagner-Pathos, Kitsch und CGI-Effekt-Overkill daher, und seine Titelheldin – in eine Art unfreiwillig komisch wirkendes Superheldinnenfaschingskostüm gewandet – war noch eine von vielen fälschlicherweise als „feministisch“ missinterpretierte Empfindsamkeitstante, die nicht allein – und das ist ja wie immer bereits nervtötend genug – nach gängigen Schönheitsidealen modelliert war, sondern der man zur Sicherheit auch einen tatkräftig auftretenden und unentwegt mansplainenden Macker an die Seite gestellt hatte, der stets, wenn Wonder Woman den Mund aufmachte, auch was zu sagen hatte.

Im neuesten Film aus dem DC-Universum hingegen, „Birds of Prey: The Emancipation of Harley Quinn“, ist die weibliche Heldin, Harley Quinn, die frischgebackene Ex-Freundin des Bösewichts Joker, von ganz anderem Kaliber: Bereits ihr Äußeres verweist auf gelebte Dissidenz und bewusst gewählte Distanz zum bürgerlichen Dasein. Ihre Haartracht und ihr Kleidungsstil – ein schillerndes Patchwork aus Harlekin, Pippi Langstrumpf, Tank Girl, Madonna (in ihrer „Desperately Seeking Susan“-Phase), der 70er-Jahre-Vivienne-Westwood und der 80er-Jahre-Nina-Hagen – repräsentieren die Unabhängigkeit ihres Geschmacks ebenso wie ihre eigene. Auch ihr Verhältnis zu Männern ist nicht in erster Linie ein respektvolles, was unter anderem auch daran liegen mag, dass, als Harley noch ein Kind war, bereits ihr Vater versuchte, sie gegen einen Sechserpack Bier einzutauschen. Aber möglicherweise auch daran, dass viele Männer sich grundsätzlich dadurch auszeichnen, dass sie – wenigstens so lange, bis sie erfolgreich den Gegenbeweis antreten – Arschlöcher sind.

Hier, in dieser Actionfilmparodie, haben jedenfalls Frauen das Sagen, und genau genommen haben sie nicht nur das Sagen, sondern sie prügeln, schlagen und schießen auch aufeinander sowie auf (vorzugsweise ungehobelte und dumme) Männer ein. Es mag, wie immer eigentlich bei Produktionen dieser Sorte, kein allzu ausgefeiltes Drehbuch vorliegen, dennoch hat diese turbulente und in bonbonbunten Knallfarben gehaltene Verfolgungsjagd- und Klopperei-Nummernrevue, die vielfach Erzählweisen und Ästhetik des Comics zitiert, einen überraschend hohen Unterhaltungswert.

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Doch fangen wir am Anfang an: Harley Quinn hat sich wie gesagt frisch getrennt von ihrem vormaligen Schwarm, dem Joker, dem Superschurken von Gotham City, von dem ja bekannt ist, dass er nicht nur ein gestörtes Verhältnis zu Frauen, sondern, na ja, sagen wir: zur Welt hat. Um also erfolgreich ihre alte Identität als „Jokers Freundin“ abzulegen und ihre gelungene Transformation in eine eigenständige Persönlichkeit zu demonstrieren (Emanzipation), fährt sie zunächst einmal mit einem gestohlenen Tankwagen in eine Chemiefabrik. Das macht ordentlich Zunder, hat kathartische Wirkung (Euphorie) und sieht obendrein auch noch gut aus (Explosion). Ein gelungener Neuanfang. Harley geht fortan angstfrei und hochgradig unbekümmert durchs Dasein und pflegt in den allermeisten Dingen eine ausgesprochen hedonistische Herangehensweise. Ein mit flüssiger Butter getränktes Eier-Schinken-Sandwich zieht sie jederzeit einer Diät vor. Von Männergehabe lässt sie sich wenig beeindrucken und demonstriert Gelassenheit: Den Superschurken Roman Sionis, zu dessen Hobbys das Foltern gehört, nennt sie „Romyboy“. Und wenn sie, was sie in Konfliktsituationen gerne tut, mit ihrer Lieblingsgerätschaft, dem Baseballschläger, hantiert, zeigt sie sich als Virtuosin, und ihre eindrucksvolle Performance gerät zum wunderbar geschmeidig ablaufenden Kampfballett. Glamour darf dabei keineswegs ausbleiben: Als Harley einmal, eine Riesenwumme im Anschlag, das Polizeirevier entert, um eine wegen Taschendiebs eingesperrte Teenagerin aus ihrer Zelle zu holen, feuert sie nicht nur Plastikgeschosse ab, sondern mit diesen auch stets ordentlich Glitter sowie neonfarbene Rauchschwaden. Es soll ja schließlich gut aussehen.

Auch die anderen den Film bevölkernden weiblichen Figuren sind entsprechend weit entfernt vom Klischee des Hausmütterchens oder dem Stereotyp des naiven, ehrfurchtsvoll zum Mann aufschauenden Häschens: Die Rächerin („Huntress“) mit der Armbrust richtet im Alleingang, einen nach dem anderen, jene Mafiosi hin, die einst ihre gesamte Familie getötet haben. Die Nachtclubsängerin entpuppt sich rasch als erfahrene Martial-Arts-Kämpferin („Black Canary“). Die resolute Polizistin trägt nicht nur mit großer Selbstverständlichkeit ein T-Shirt mit der schönen Aufschrift „I shaved my balls for this?“ (Dafür hab’ ich mir meine Eier rasiert?), sondern wechselt dieses Kleidungsstück auch dann nicht aus, als ihr männlicher Vorgesetzter sie darauf hinweist, dass sie künftig in angemessenerer Kleidung zum Dienst zu erscheinen habe („Wir haben hier einen Dresscode“). Und die jugendliche Taschendiebin lässt selbst dann noch munter Gegenstände mitgehen, als sie gekidnappt wurde bzw. auf der Flucht und in permanenter Lebensgefahr ist.

© Warner Bros.

Nachdem die Protagonistinnen zunächst allesamt auf eigene Faust für ihre Interessen gekämpft haben, sehen sie sich am Ende dazu genötigt, sich, als eine Art Solidargemeinschaft der emanzipierten Frauen, gegen den ebenso gewissenlosen wie misogynen Gangsterboss Roman Sionis („Black Mask“) zu verbünden, der einen wichtigen Diamanten an sich bringen will, mit dessen Hilfe er künftig die vollständige Macht über Gotham City innehätte. Sie sehen schon: Die Handlung ist recht überschaubar, aber: Wer braucht schon Handlung? Handlung wird überbewertet. Wichtig ist etwas ganz anderes: schnelle Schnitte, Rasanz, ein Minimum an Selbstironie und ein gewisses Kulturgeschichtsbewusstsein, dem anzumerken ist, dass Images und Vorbilder aus der Populärkultur hier nicht willkürlich und wahllos zitiert werden. (Wenn sich etwa Harley und die jugendliche Taschendiebin, die zeitweise ihr Schützling ist, in Harleys Unterschlupf, der aussieht wie das heruntergekommene Jugendzimmer eines Teenies aus den 80ern, gemeinsam Tex-Avery-Cartoons im Fernsehen ansehen.)

Nicht zu vergessen natürlich die lehrreichen Dialoge. Der Teenagerin gibt Harley Quinn etwa einen Rat dazu, wie man die Aufmerksamkeit junger Männer auf sich lenkt: „Spreng was in die Luft. Oder erschieß jemanden. Nichts verschafft dir die Aufmerksamkeit eines Typen so sehr wie Gewalt.“ Und spricht beiläufig auch über ihren Ex-Freund Joker. Woraufhin die Jugendliche kommentiert: „Klingt, als sei er ein Schwachkopf“ („Sounds like a dick“).

Ach ja, eines vielleicht noch: Wer das letzte noch ungelüftete Geheimnis über Batman erfahren möchte, sollte im Kino sitzen bleiben, bis der Abspann zu Ende ist.

Dieser Text erschien zuerst am 07.02.2020 in: Neues Deutschland

Alles eine Frage der Zeit

(GB 2008, Regie: Richard Curtis)

Hier und jetzt ist es halt doch am Schönsten
von Anton Borlinghaus

Richard Curtis, etabliert und verehrt als Experte für die britische Wohlfühlkomödie, hat mit „About Time“ Großes vor. Es geht um Liebe, Familie und darum, wie wir mit der Zeit umgehen …

Richard Curtis, etabliert und verehrt als Experte für die britische Wohlfühlkomödie, hat mit „About Time“ Großes vor. Es geht um Liebe, Familie und darum, wie wir mit der Zeit umgehen sollten, die wir haben. So türmen sich durch die Zeitreise als fantastisches Zusatzelement in dieser romantischen Komödie die großen philosophischen Fragen auf und lassen einen tragischen Kampf mit dem ewigen Konjunktiv erwarten.

Zu seinem 21. Geburtstag berichtet ihm sein Vater (Bill Nighy), Tim (Domhnall Gleeson) könne, wie alle Männer in seiner Familie, in der Zeit zurückreisen, solange es die eigenen Erlebnisse und Erinnerungen betrifft. Darüber, dass Tim die Sache dann nicht mit dem angebrachten britischen Understatement angeht, muss man sich keine Sorgen machen – ganz nach dem Vorbild des Vaters, der die Fähigkeit ernsthaft dazu genutzt hat, Bücher zu lesen. Tim versucht zunächst, kleine Ungeschicklichkeiten im Umgang mit dem anderen Geschlecht zu korrigieren, und schließlich seine Traumfrau Mary (Rachel McAdams) erneut kennenzulernen, weil er das erste Treffen durch eine andere kleine Korrektur versehentlich ungeschehen gemacht hat.

Es ist ein sympathischer und leichtfüßiger Umgang mit dem schwierigen Thema Zeitreise, den man hier geboten bekommt. Alle Beteiligten sind so nett in diesem Film, ein bisschen schräg, doch gerade deshalb liebenswert – aber nie so sehr, dass es womöglich unangenehm werden könnte. Man kennt die bescheidene, unsichere und trotzdem coole Art von Richard Curtis‘ Hauptfiguren, diese ekelhaft selbstironische Souveränität. Es ist schwer zu fassen, was einen daran stört, was man ihnen vorwerfen soll, dass sie so warmherzig sind, dass sie einfach wissen, was richtig und was falsch ist, es einem aber nicht auf die Nase binden und trotzdem an sich selbst zweifeln.

Ein im Kern gefestigter Charakter wie Tim erliegt jedenfalls keinerlei Versuchung, nicht mal Charlotte (Margot Robbie), dem viel zu gut aussehenden Jugendschwarm, womit er Mary guten Gewissens heiraten kann. Aber egal, was passiert, das Gefühl bleibt, dass Bescheidenheit die schlimmste Form von Eitelkeit ist und dass damit nur bestehende Machtstrukturen gefestigt werden. Interessanterweise hindert diese Haltung den Film aber nicht daran, noch ein bisschen ins Epische auszuarten, ein bisschen die großen Fragen des Lebens anzusprechen und durch die oberflächliche Art der Auseinandersetzung im Keim zu ersticken. Die Zeitreise funktioniert am besten als komisches Element und wird auch gerne dafür eingesetzt, spätestens bis die romantische Komödie dann in eine Art Familiendrama überblendet.

Jetzt muss das kaputte Leben der engelhaften unreifen Schwester in Ordnung gebracht werden, was daran scheitert, dass Tims Sohn zurück in der Gegenwart nicht mehr derselbe ist, ein kleines Detail, das sein Vater ihm bis dahin verschwiegen hat. Zuletzt bemüht Tim die Fähigkeit schließlich dazu, jeden normalen Tag noch ein zweites Mal zu erleben und diesmal in seiner ganzen Schönheit wahrzunehmen – für das Publikum erkennbar, weil diesmal mit sentimentalem Gesäusel und Klavier unterlegt.

„About Time“ ist für manche eine versteckte Perle des zutiefst menschlichen und tiefsinnigen Kinos und strotzt nur so vor Wahrhaftigkeit, was vielleicht daran liegt, dass viele sich in diesem Status Quo, den der Film propagiert, ganz wohl fühlen und bei der versöhnlichen Botschaft, dass in einem durchschnittlichen Leben in der gehobenen Mittelklasse die große Schönheit liegt, erleichtert aufatmen. Aber auch wenn es anders wäre, könnte Tim uns davon nichts erzählen, weil er den Ausbruch nie gewagt hat, etwas frech aber sonst artig durch die Zeit reist und es schließlich wegen yolo sogar ganz bleiben lässt.

Was man Filmen dieser Art bei allem Verständnis für ihr Anbiedern beim Publikum und für ihre Angst vor allzu schweren Fragen am Ende vorwerfen muss, ist die Tatsache, dass sie so tun, als wäre es anders, als würden sie mehr wollen, dass sie einen einlullen mit ihrer Pseudo-Tragik und damit ein männlich dominiertes Rollenbild und eine problematische Biederkeit zu überspielen versuchen, dass sie sich anmaßen, uns weise Ratschläge über das Leben mitzugeben, ohne selbst wirklich gelebt zu haben.

Sorry We Missed You

(GB/FR/BL 2019, Regie: Ken Loach)

Keine Sozialarbeiter
von Jürgen Kiontke

Ricky hat die super Idee. Der Gelegenheitsarbeiter, der mit Frau und Kindern von kleinen Handwerkerjobs lebt, will ins Paketzustellergewerbe wechseln. Endlich selbständig! Der neue Boss, den es gar nicht richtig …

Ricky hat die super Idee. Der Gelegenheitsarbeiter, der mit Frau und Kindern von kleinen Handwerkerjobs lebt, will ins Paketzustellergewerbe wechseln. Endlich selbständig! Der neue Boss, den es gar nicht richtig gibt, weil Ricky Franchise-Nehmer wird, verspricht enorme Gewinnmargen. Ricky träumt vom eigenen Haus und Wohlstand. Dass er nicht das hellste Licht unter der Sonne ist, stellt er dann zu Hause unter Beweis. Den Transporter muss er von der Privatpost mieten, Geld für die Kaution braucht er auch. Seine Frau Abby, freiberufliche Altenpflegerin, soll dafür ihr Auto verkaufen. Restvernünftige Gegenreden lässt Ricky nicht gelten, ab jetzt muss Abby mit dem Bus zu den alten Leuten fahren. Er selbst schiebt 14 Stunden täglich Amazon-Prime-Dienst. Das Elend kommt mit Ansage: Bei jeder Verzögerung muss Ricky Vertragsstrafen zahlen. So rutscht die kleine gestresste englische Familie immer weiter hinein ins Elend.

Ken Loachs neuer Film „Sorry We Missed You“ nimmt sich die Gig- und Plattform-Ökonomie vor und trägt sie ins populäre Kino. Der Titel – diesen Satz hinterlassen die Paketausfahrer, wenn der Adressat nicht zu Hause ist – steht für den Stress, den die prekären Jobber täglich haben. Kaum ein Regisseur widmet sich so konsequent den miesen Ausformungen der Arbeitswelt und macht sie dann fürs große Kino rezipierbar. Dafür Chapeau. Der 83jährige, sonst mit BDS-Propaganda beschäftigt, beschreibt hier ein Prekariat, zu dem nicht mal mehr der Sozialarbeiter kommt, weil die Selbstausbeutung das ganze Leben ausfüllt. Da schaut nur noch der Filmkritiker zu.

Mit dem statischen Aufbau kann man aber auch seine Probleme bekommen: Die Figuren kommen recht holzschnittartig rüber, sie dienen oft nur als Aufsager einer vorher festgeschriebenen Katastrophe – Eigendynamik Fehlanzeige. Was diesen Laienspielaufführungen mal guttäte, wären Schauspieler aus einer anderen Liga, auch wenn Katie Proctor als Nesthäkchen Liza eine tolle Performance abliefert. Aber nicht auszudenken, würde Michael Fassbender den Lieferanten machen. Und sogar Platz für Selbstironie hätte es gegeben: Ricky-Darsteller Kris Hitchen war vor vielen Jahren beim Vorsprechen für einen Loach-Film – und wurde abgelehnt. Da wollte einer Karriere im linken Kino machen und durfte nicht. Hier wäre ein Cameo-Auftritt für Loach dringewesen.

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 02/2020

Little Joe – Glück ist ein Geschäft

(AUS 2019, Regie: Jessica Hausner)

Blumiges Glück einer dunklen Identität
von Wolfgang Nierlin

Langsam bewegt sich die Kamera in der Vogelperspektive über die Pflanzen eines wissenschaftlichen Labors. Auf der ausgedehnten, hellen Fläche eines Gewächshauses sind die Züchtungen hinter Glas und unter optimalen Wärmebedingungen …

Langsam bewegt sich die Kamera in der Vogelperspektive über die Pflanzen eines wissenschaftlichen Labors. Auf der ausgedehnten, hellen Fläche eines Gewächshauses sind die Züchtungen hinter Glas und unter optimalen Wärmebedingungen versammelt. „Little Joe“ heißt die seltsam langstielige Pflanze mit dem roten Blütenschopf, die durch genetische Manipulation entstanden ist und die von ihren Schöpfern als „blumige Innovation“ bezeichnet wird. Sie soll als eine Art Antidepressivum ihre zukünftigen Besitzer glücklich machen und ihr „Wohlbefinden optimieren“, indem sie über das limbische System Gefühle beeinflusst. Doch noch befindet sich „Little Joe“ im Test- und Entwicklungsstadium. Merkwürdig erscheint zunächst nur, dass eine im selben Raum benachbarte Pflanze namens „Flash 2“ abstirbt und der Hund einer Mitarbeiterin, der unfreiwillig eine Nacht bei den Pflanzen verbringt, verhaltensauffällig wird. Seine Besitzerin erkennt ihn deshalb kaum wieder: „Das ist nicht mehr mein Hund.“

Jessica Hausner inszeniert in ihrem neuen Film „Little Joe“ das titelgebende Gewächs von Anfang an als mysteriöses Objekt mit einem geheimen, noch unerforschten Eigenleben und erzeugt dadurch ein Klima der Ungewissheit und des Misstrauens. Als die Forscherin und alleinerziehende Mutter Alice (Emily Beecham) eine ihrer Schöpfungen als Geschenk für ihren pubertierenden Sohn Joe (Kit Connor) mit nach Hause nimmt, ändert sich in der Folge dessen Verhalten. Doch ist nicht klar, ob die ehrgeizige Wissenschaftlerin, zwiegespalten zwischen Erfolgsdruck und aufkeimenden Sicherheitsbedenken, darüber Gewissheit haben kann. Ist ihre Sicht auf den sich scheinbar verändernden Jungen vielleicht nur eine Projektion ihrer Trennungs- und Verlustangst? Und leidet die vielbeschäftigte Claire möglicherweise unter einem schlechten Gewissen, weil sie ihrer „doppelten Mutterrolle“ für die beiden Joes nicht gerecht werden kann? Wie ein Kind brauche auch „Little Joe“ Liebe und Zuwendung, heißt es einmal.

Auf subtile Weise verbindet Jessica Hausner ihren sehr kalkulierten Psychothriller mit Elementen des Pflanzenhorrors. Eine sehr artifizielle Bildsprache, die mit ihrem Blick auf sterile Flächen und abgeschlossene Räume das Geheimnisvolle akzentuiert, sowie irritierende Störgeräusche und Sounds verstärken kunstvoll diesen Genre-Bezug. Daneben führen eine prägnante Farbigkeit und Flötenmusik (von Teiji Ito) ins zeitlos Märchenhafte. Dass sich ein Geschöpf seinem Schöpfer entzieht und dabei zum unkalkulierbaren Risiko wird, gehört zum motivischen Kanon von „Mad Scientist“-Filmen und ihren mythologischen Vorläufern. Unter den Bedingungen der genetischen Forschung erhält diese Gefahr jedoch eine aktuelle Brisanz. Schließlich ist in Jessica Hausners beunruhigendem Gedankenexperiment das Überleben von „Little Joe“ an den Menschen als „Wirt“ gekoppelt. Ihre filmische Parabel geht von hier aus aber noch einen Schritt weiter, indem sie unsere unbekannten, uns selbst nicht bewussten Seiten der Identität befragt: Wie können wir wissen, wer wir wirklich sind?

Swans – Where Does a Body End

(CA 2019, Regie: Marco Porsia)

Die ganze Geschichte der Musik
von Thomas Blum

Einer der Sätze, der in diesem Dokumentarfilm so oder ähnlich wiederholt fällt, lautet: „Mit Worten kann ich das nicht beschreiben.“ Ein anderer Satz, der immer wieder von verschiedenen Personen ausgesprochen …

Einer der Sätze, der in diesem Dokumentarfilm so oder ähnlich wiederholt fällt, lautet: „Mit Worten kann ich das nicht beschreiben.“ Ein anderer Satz, der immer wieder von verschiedenen Personen ausgesprochen wird, geht so: „Es gibt nichts damit Vergleichbares.“ Die Rede ist von den Swans und der eigenwilligen Musik dieser Gruppe, die in gewisser Weise noch immer existiert, die es aber, in unterschiedlichen Besetzungen, schon zweimal gab: einmal von 1982 bis 1997, als randständige Experimentalkrachrocker damals von vielen ignoriert und schließlich aus Überdruss und wegen musikalischer Stagnation aufgelöst, und – wiedergegründet und fortan mit Kritikerlob überschüttet – ein zweites Mal von 2010 bis 2017.

Der bereits seit vergangener Woche in den deutschen Kinos zu sehende Film „Swans – Where Does a Body End?“ dokumentiert das mittlerweile Jahrzehnte umspannende Werk und Treiben dieser überaus einflussreichen, radikalen, vom Multiinstrumentalisten und Performancekünstler Michael Gira in New York gegründeten Band, die tatsächlich ihresgleichen nicht hat: Das fängt an bei dem brachialen, an elementarste Instinkte des Menschen rührenden Sound und hört auf bei dem Gebaren, das Gira stets auf der Konzertbühne entfaltet und das an eine Mischung aus Trance, Exorzismus und Ekstase denken lässt. Die Begriffe, die im Zusammenhang mit der Gruppe und ihrer einzigartigen Geschichte immer wieder fallen, lauten: Leidenschaft, Kompromisslosigkeit, Aufrichtigkeit, Klarheit, Reinheit.

Die Swans begannen einst wie viele Post-Punk- und Industrial-Bands der frühen 80er Jahre, die aus London oder New York kamen: Man lärmte in heruntergekommenen, vermüllten Häuserblocks und Mietskasernenruinen, in denen man, oft wenig mehr als eine schmutzige Matratze besitzend, wohnte, thematisierte die Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz und die Verkommenheit und Kaputtheit der Gesellschaft, in der man zu leben gezwungen war, ernährte sich im Wesentlichen von diversen Drogen und war auch darüber hinaus nicht gerade an der Verbreitung und Kultivierung einer positiven Einstellung zum Leben interessiert. Seine Musik entwarf man nicht in erster Linie um eines möglichen kommerziellen Erfolgs willen, sondern um vermeintliche oder tatsächliche Grenzen zu überschreiten, um Klangforschung zu betreiben, um das Unbekannte oder die Freiheit zu finden, oder um die Nichtigkeit und Leere zu bekämpfen, die einen umgab. Und entsprechend klang sie auch, diese ebenso archaische wie schroffe, minimalistische und düstere Musik: kreischende Gitarren, stark verlangsamte, bollernde Drums, dazu bellte und grollte Gira seine nicht gerade lebensbejahenden Texte, alles extrem laut dargeboten. Kurz: Es klang nach einem sehr langsam ablaufenden, schweren Auffahrunfall. Und nach dem Gegenteil bzw. der Negation dessen, was man bis dahin als Popmusik kannte.

In seiner Jugend im Los Angeles der 70er Jahre, so berichtet Gira im Film, habe er einmal ein Konzert des Experimental-Elektropunk-Duos Suicide besucht, bei dem er mit angesehen habe, wie die beiden Künstler, die nicht auf einer Bühne performten, sondern auf gleicher Höhe einem anscheinend musikalisch eher bornierten und unverständigen Publikum gegenüberstanden, von diesem bespuckt wurden. Und als der Suicide-Sänger Alan Vega darauf nicht reagierte wie erwartet, sondern stattdessen den Speichel genüsslich auf seinem Gesicht verteilte und zerrieb, meint Gira, habe er etwas Wesentliches verstanden.

Vielleicht tauchen deshalb bis heute immer wieder dieselben Begrifflichkeiten auf, wenn es darum geht, das Besondere, das die Swans mit ihrer Musik kreiert haben, in Worte zu kleiden: Ritual, Hingabe, Selbstauflösung, Rausch, Euphorie, Durchbruch, Transgression, Erlösung.

Die erste kleine, selbst organisierte Tour durch ein paar Städte an der US-amerikanischen Ostküste, im Jahr 1982, absolvierte man gemeinsam mit der befreundeten Noise-Rockgruppe Sonic Youth: „Wir spielten praktisch vor niemandem“, sagt der heute 65-jährige Gira. „Hinterher konnte man, wenn man Glück hatte, das verfahrene Benzin bezahlen oder sich einen Donut leisten.“

© Salzgeber

Die Swans, schreibt Ian Canadine in dem Lexikon „Rock Rough Guide“, seien „nie ein ›hörerfreundliches‹ Wagnis“ gewesen, sie „konnten leicht als beklemmend negativ eingestuft werden (…) und ihre Experimente zerstörten die Form bis auf ihre bloßen Grundfesten“.

Tatsächlich haben Swans-Konzerte weniger mit herkömmlicher Rockmusik gemein, die früh als nur oberflächlich modernisierte Variante biederer Unterhaltungsmusik erkannt wurde, als mit einer „spirituellen Zeremonie“, wie Gira sagt. Eine Zeremonie, bei der Bühne und Zuschauerraum temporär zum „heiligen Ort“ werden und die Beteiligten, die sich auf die Musik einlassen, von dieser gewissermaßen durchdrungen und körperlich erfasst werden. Man müsse sich dem Sound „ergeben“, man dürfe nicht gegen ihn ankämpfen, sagt der „Lärm-Alchemist“ („Süddeutsche Zeitung“) und „enigmatische Schmerzensmann“ („Spiegel“) Gira. Nur dann sei es möglich, sich „für einen kurzen Moment der Ekstase von der Musik auslöschen zu lassen“. Manchmal, so Gira, sei bei ihren Konzerten der ohrenbetäubende Sound auf der Bühne so überwältigend gewesen, dass er den Eindruck gehabt habe, es werde ihm die Seele, das Gehirn und das Körperinnere herausgerissen. Ein Konzert der Swans kann wie ein Kampf sein, auch der Begriff „Bußritual“ fällt.

Nun könnte man an dieser Stelle zwar zu Recht fragen: Geht’s vielleicht auch eine Nummer kleiner? Die Antwort aber lautet: Nein. Daniel Miller, Gründer des Plattenlabels Mute und zentrale Figur der britischen Post-Punk- und New-Wave-Ära, schildert den Eindruck, den die Musik der Swans auf ihn machte, wie folgt: „Es ist, als sehe ich in diesem Moment die ganze Geschichte der Musik vor mir.“ Und der „Spiegel“ schreibt: „Tatsächlich gibt es bis heute keine brutalere und zugleich erlösendere Konzerterfahrung als das, was Michael Gira mit seinen wechselnden Bandbesetzungen von der Bühne herab anbietet.“

Im Film sehen wir viele historische Aufnahmen: zahlreiche Konzertausschnitte von früher und aus jüngerer Zeit ebenso wie private Filmaufnahmen und Fotos, kombiniert mit Interviewpassagen, in denen ehemalige Mitglieder der Band, Zeitzeugen wie der zuverlässig blasierte Blixa Bargeld oder der Sonic-Youth-Gitarrist Thurston Moore sowie Gira selbst sich zur Geschichte der Swans äußern. Immer wieder blicken wir auf den obsessiven Künstler Gira: auf der Konzertbühne im knirschenden Mahlstrom des Sounds stehend, sich bis zur totalen Erschöpfung verausgabend, den Körper hin- und herwerfend, schreiend, sich selbst ohrfeigend, mit den Armen rudernd, „nach dem Göttlichen greifend“, den „reinen Sound“ suchend und das Geschehen als eine Art Gottesdienst leitend und dirigierend.

Heute ist er, der ein „Überlebender“ seiner Zeit ist, wie es im Film heißt, halb taub. In seinem Gehör erklingt seit Langem schon ein nicht mehr wegzubekommendes Dauergeräusch. Vielleicht handelt es sich dabei ja um die Stimme Gottes. Sie müsste nur lauter sprechen zu ihm.

Dieser Text erschien zuerst am 18.01.2020 in: Neues Deutschland

The Boss of it All

(DK/SW/IS/IT/FT/NR/FI/DT 2006, Regie: Lars von Trier)

Brecht im Büro
von Ulrich Kriest

Ein überraschender Schachzug: Während man weiterhin auf den Abschlussfilm seiner USA-Trilogie („Dogville“, „Manderlay“) wartet, überrascht Lars von Trier mit einer kleinen Büro-Komödie, die gleichwohl ein paar tiefere Einsichten in Mechanismen …

Ein überraschender Schachzug: Während man weiterhin auf den Abschlussfilm seiner USA-Trilogie („Dogville“, „Manderlay“) wartet, überrascht Lars von Trier mit einer kleinen Büro-Komödie, die gleichwohl ein paar tiefere Einsichten in Mechanismen des globalisierten Kapitalismus transportiert – und das rein zufällig mitten in der von apokalyptischen Szenarien umspielten Finanzkrise. Ausgangspunkt ist die Sehnsucht nach Liebe und Respekt auch im Berufsalltag. Ort der Handlung: eine IT-Firma, an deren Gründung einige der Mitarbeiter mit Kapitaleinlagen beteiligt sind. Das ist nicht unwichtig für das Betriebsklima, aber natürlich müssen trotzdem mitunter unangenehme Entscheidungen getroffen werden.

Deshalb braucht es einen, der als Chef fungiert. In diesem Fall ist es Ravn, dem aber die emotionalen Konsequenzen seiner Führungsrolle nicht behagen, weshalb er sich einen tollen Plan ausheckte: Er erfand einen Vorgesetzten, der in den USA residiert und per E-Mail alle schmerz-konfliktträchtigen Entscheidungen trifft, ansonsten aber nicht in Erscheinung tritt. Als bloßer Handlanger des ominösen „Boss of it all“ konnte Ravn der Sympathie seiner Angestellten sicher sein. Doch als er jetzt „seine“ Firma verkaufen will, verlangt der ruppige isländische Interessent – latent gewaltbereit verkörpert vom Regisseur Fridrik Thor Fridriksson – die persönliche Anwesenheit des mysteriösen Bosses. Ravn engagiert in seiner Not den erfolglosen, aber überheblichen Schauspieler Christoffer. Leider bleibt kaum Zeit, ihn seriös auf seine Rolle vorzubereiten; es muss improvisiert werden.

© FilmConfect

Damit steht das Gerüst des Films – und das Spiel kann beginnen! Keine leichte Aufgabe für Christoffer, der, während er sich durch die Firma laviert, merkt, dass er sich in einem Minenfeld offener Rechnungen, alter Verletzungen und Beleidigungen bewegt. Ravn, der die körperliche Nähe seiner Angestellten sucht, hat andererseits die Macht seiner objektiven Funktion resolut zu nutzen gewusst, was Christoffer jetzt eine Tracht Prügel und reichlich aufgestaute Aversionen einträgt. Mehrfach stellt er Ravn zur Rede, verlangt ein informatives Update, entwickelt dann jedoch spielerisch eine gewisse Handlungsautonomie und interpretiert seine Rolle mit einem Eigensinn, der Ravns Plänen entschieden zuwiderläuft. Immer dann, wenn die dramatischen Konstellationen ausgereizt scheinen, taucht als deus ex machina der böse Isländer auf, dem es nicht nur um eine Firmenübernahme geht, sondern vielmehr um Rache für Jahrhunderte der Unterdrückung und Ausbeutung: skandinavische Folklore, die an diesem völlig unpassenden Ort ökonomischer Rationalität einen Schuss Anarchie injiziert! Unter Zeitdruck spitzen sich die Dinge zu, doch verschiedene Anläufe, den Schwarzen Peter an die richtige Person weiterzugeben, zerschellen an Ravns Raffinement.

Für die Schlusspointe hat sich Lars von Trier eine selbstreferentielle Volte vorbehalten, die den Film als Versuchsanordnung plötzlich leer laufen lässt und komplett in die Esoterik des Theatralischen überführt. Mag sein, dass die Darsteller sich einen Spaß daraus gemacht haben, hier auch über die Produktionsfirma „Zentropa“ mit ihren beiden Bossen Trier und Peter Aalbæk Jensen zu spotten. Wichtiger scheint, dass von Trier es wieder einmal geschafft hat, ein formales Verfahren zuzulassen, das die teilweise aberwitzig freien Improvisationen der Darsteller vorzüglich unterstützt. Dieses Verfahren trägt den Namen „Automavision“ und mischt optimierte Kameraeinstellungen, Blickachsen, Brennweiten nach dem Zufallsprinzip. Das Resultat sind fehlerhafte Einstellungen, Bildausschnitte, die an der Handlung vorbeizielen, Stimmen ohne Träger, abrupte Sprünge. Der Zuschauer, ohnehin damit beschäftigt, dem mit Brechtschen Verfremdungseffekten aufgeladenen Spiel der Darsteller zu folgen, ist permanent gefordert, sich in dem unübersichtlichen Bürokomplex zu orientieren, in dem der Film meistens spielt. Wenn von Trier sich am Schluss auch noch bei denjenigen entschuldigt, die mehr erwartet haben oder auch weniger, zieht er sich wieder einmal als unberechenbarer Zauberkünstler und Schaumschläger blendend aus der Affäre.

Dieser Text erschien zuerst in: Filmdienst

Playtime

(FR/IT 1967, Regie: Jacques Tati)

Formung, Wendung, Verwendung, Verwandlung
von Drehli Robnik

Es ist Nacht, und so leuchten die Fensterzeilen eines nachkriegsmodernistischen Hochhauses im Hintergrund wie geometrische Muster. Gedämpft ist eine Orgelmelodie zu hören. Sie wird schlagartig lauter, als wir uns mit …

Es ist Nacht, und so leuchten die Fensterzeilen eines nachkriegsmodernistischen Hochhauses im Hintergrund wie geometrische Muster. Gedämpft ist eine Orgelmelodie zu hören. Sie wird schlagartig lauter, als wir uns mit der nächsten Einstellung in dem Zimmer befinden, in dem sie erklingt, offenbar aus dem Radio. Das Panoramafenster des Zimmers ist vom Ausblick auf ein weiteres Hochhaus erfüllt: wieder Lichtzeilenmuster in Nachtschwarz. Drinnen, vor dem Fenster, steht auf einem Glastisch dasselbe in klein: ein kleiner Kasten mit Lichtzeilenmuster, vielleicht ein Modell eines Hochhauses, wie es für Architekturpräsentationen benutzt wird. Eine junge Frau kommt ins Bild, betrachtet das Modell kurz und geht ins Zimmer ab, wobei sie sich im Fenster spiegelt. Aus dem Radio tönt eine Stimme, Französisch mit US-Akzent: „Mesdames! Utilisez Quick Cleaneur, parce que Quick Cleaneur is the be…“ Abrupt endet die Werbebotschaft, auf dem letzten Wort ein Umschnitt: Wir schauen nun von außen in den grau und asketisch möblierten Zimmerkasten, sehen die Frau, wie sie auf die Oberseite des Hochhausmodells drückt. Das lässt die Werbung verstummen und das kleine Hochhaus zum Radio werden, das wie ein Modell aussieht.

Die Szene stammt aus „Playtime“ von und mit Jacques Tati, nach mehrjähriger Drehzeit 1967 ins Kino gebracht (und gefloppt). Die Hochhausfassade ist, wie all die anderen in einem Maßstab von 1:1 bis 1:10 errichteten modernistischen Stahl-Beton-Glasbauten im Film, Teil einer zu ihrer Bestandszeit Tativille genannten Kulissenstadt nahe Paris. Tativille spiegelt Paris, in mehrfachem Sinn. „Playtime“ hat keine Handlung. Als Komödie über das moderne urbane Massenleben, die tendenziell aus diesem Leben, seinen Führungen und Bahnungen besteht, ist der Film eben das, was der verdichtete Titel sagt: ein Spiel mit der Zeit, Zeit zum Spielen – Zeit im Bild als Zeit im Spiel als Zeit im Spiegel.

Es geht um Touristinnen und Touristen, die in Paris umgehen. Die Frau in besagtem (Hotel-)Zimmer ist eine von ihnen. Zwei Tage Blitzbesuch in einem Paris, das gespiegelt wird: Alle Wände und Türen von Tativille sind Fenster, stahl- und betongerahmtes Glas. Als Leitmotiv wird in diesem Film ab und zu, stets nur als Spiegelbild, in diesem wie ein Banken- oder Industrieviertel anmutenden Paris ein Pariser Gebäudemarker sichtbar – etwa, gleich nach dem Ausschalten des Radios, der Arc de Triomphe in der Glastür des Hotels.

© Arthaus

Das Spiegelbild ist mehr als nur ähnliches Abbild, es lässt mehr erkennen als den Umstand, dass dies Paris ist, obwohl es der Flughafen Wien-Schwechat oder Brasilia sein könnte. Das Spiegelbild lässt eine Modularität erkennen, die dem modernen Leben eignet: Ob Hochhaus oder Radio – beide sind Kästen mit Lichtzeilen, die sich ähneln. Wenn Omi und Opi von der Postmoderne erzählen, während sie ihr Weißbrot im Kaffee aufweichen, dann erwähnen sie, dass damals die Großstädte von oben betrachtet wie das Innere von Computern oder Fernsehern aussahen (oder wie die Kistenkolonie am Ende von „Citizen Kane“, doch das ist eine andere Szene).

Aber da ist nicht nur Modularität beziehungsweise Modellhaftigkeit im Spiel der Zeit, nicht nur ein Schema, aus dem Häuser und Radios in jeweiliger Größe herausgestanzt scheinen (wie Werbebotschaften, quick und clean). Sondern es geht um Modulation, um einen flexiblen Prozess; Bildwerdung ist darin Formung, Wendung, Verwendung, Verwandlung. Das Hausmodell verwandelt sich in ein Radio, dient zum Wohnen, insofern es Sound (leider auch Werbung) in die Zimmer trägt. Sound ist bei Tati immer Modulation, ist Kurve und Welle, monotones Wiederkehren von Tönen; er ist dumpfes Murmeln, wenn es um Töne aus Menschenkörpern geht, ist markantes Signal, wenn er aus den Dingen kommt. Sprache und Soundscape schmiegen sich einander an.

Und Tativille spiegelt Paris nicht nur, sondern moduliert es, lässt am Paris von 1967 eine bauliche Modernisierung hervortreten, die zeitgleich den ollen Godard empört und viel später die umgehende Banlieu-Jugend heftig beschäftigt hat (dazwischen liegt der Bau von La Défense, deren Anblick une offense ist).

Modulation heißt schließlich, dass „Playtime“ sich der worktime anschmiegt und vice versa. Noch bevor der Postfordismus die kapitalisierte Welt richtig erfasste, fand er bei Tati prägnante Bild-Formen, die erkenntnisfähig, einsichtig (und mehrschichtig) sind. Die Touristin macht sich im Zimmer für den Pariser Abendausgang fertig. In der Lobby kreuzt ihre Reisegruppe den Weg einer anderen Gruppe, die eben vom Busausflug zurückkommt: Die einen fahren die Rolltreppe hinunter zum Bus, murmeln vergnügt, die Damen tragen stolzen Blumenschmuck an ihren Hüten; die anderen schleppen sich hinauf zu den Zimmern, murmeln erschöpft („I’m going straight to bed!“, lautet einer der wenigen verständlichen Sätze des Films), die Blumen hängen welk von ihren Hüten. Es sieht aus wie Schichtwechsel in der Fabrik. Freizeit ist Arbeit, Pause ist Produktionsstandort, Amüsement ist Verlängerung der Arbeitszeit, Spaßhaben oberste Bürgerpflicht und „Playtime“ ein Pflichtfilm (also, falls wir mal Zeit haben sollten).

Dieser Text erschien zuerst in: Spex

The Week Of

(USA 2018, Regie: Robert Smigel)

Macher tov
von Thomas Hemsley

Es gibt Filme, die funktionieren wie eine Pro-/Contra-Liste, deren Contra-Seite besonders voll geschrieben ist, während auf der Pro-Seite zwei, drei Punkte stehen, von denen man nur hoffen kann, dass sie …

Es gibt Filme, die funktionieren wie eine Pro-/Contra-Liste, deren Contra-Seite besonders voll geschrieben ist, während auf der Pro-Seite zwei, drei Punkte stehen, von denen man nur hoffen kann, dass sie besonders bedeutungsvoll sind. Robert Smigels Neflix-Farce „The Week Of“ dekliniert erst mal alle Probleme und Hindernisse, die in der Woche vor einer Hochzeit passieren können, minutiös durch.

Der Film ist zum Bersten voll mit Leben, mit Menschen, kleinen Kabbeleien, großen und kleinen Problemen, Ereignissen, running gags und dem ganzen großen Etcetera. Neben wirklich allen Aspekten einer Hochzeit (ja, es gibt einen Junggesellen- und –gesellinnenabschied) gibt es noch ein Baseballspiel des jüngsten Sohnes, das zu einem großen kommunalen Event wird, eine Beerdigung und noch mehr.

Die Probleme mit dem Hotel, z. B., eskalieren fast so schön wie die Hotelsequenz in Jaques Tatis „Playtime“; in einem dem Leben sehr genau abgeguckten Running Gag streitet sich das Ehepaar Lustig so lautstark in einem anderen Raum (außerhalb des Bildes), dass trotzdem jeder mithören kann, was aber niemand tut, wodurch kleine schöne Impressionen entstehen vom Leben, das weitergeht während eines so heftigen wie alltäglichen Streits. Und Onkel Seymour, der keine Beine hat, ist eine Art MacGuffin für verschiedene Running Gags, bei denen aber nie über ihn gelacht wird.

Bei all dem Chaos verliert der Regiedebütant Smigel aber nie die inszenatorische Kontrolle. Und obwohl er mit Kameramann Federico Cesca (nach eigenem Bekunden) eine an John Cassavetes orientierte Handkameraoptik erarbeitet hat, wirkt der Film nie hektisch und verwackelt. Der Stress, den vor allem Sandlers Ken Lustig hat, überträgt sich nur über dessen tatsächlich sehr subtiles Spiel – wie es sich gehört: ohne dass er viel übertreiben müsste, kann man den verletzten Vaterstolz immer, wenn Chris Rock ihm anbietet, einige der Kosten zu übernehmen, in seinem Gesicht und seiner Stimme lesen und hören. Dieser Kenneth Lustig ist ein im jiddischen Sinne macher, einer, der alles schon regeln wird, der für seine Tochter der große Zampano sein will und ihr eine tolle Hochzeit bescheren will, der aber als Kleinunternehmer einfach nicht genug Geld hat, und zu stolz ist, beim reichen Vater des Bräutigams um Hilfe zu bitten. Dieser Stolz kommt ihm die ganze Zeit in die Quere, sodass der macher eben die meiste Zeit wie ein nebbish wirkt, der eben gar nichts gedeichselt kriegt. Wenn dies ein Film der Coen-Brüder wäre, würde alles komplett zu einem Fiasko werden, aber Sandler ist eben ein mentsh, und seine Charaktere dementsprechend auch.

Aber so sehr das ein „typischer“ Sandler-Film ist, sind der Ton, der Humor, die Inszenierung doch anders als bei seinen üblichen Regisseuren Coraci, Dugan und Brill, die alle zwar tolle Sandler-Filme geschaffen, aber auch einige der schwächeren Tendenzen verantwortet haben und letzten Endes nicht so wirklich unterscheidbar sind.

Es bleibt zu hoffen, dass dies vielleicht der Beginn einer neuen Phase für Sandler ist. Auf jeden Fall sollte er noch weiter mit Smigel als Co-Autor und Regisseur arbeiten. Zum Sandler-Universum gehört er schon von Anfang an, hat er doch bereits an dessen erstem Comedy-Album mitgewirkt, auch ist er Co-Autor von „You don´t mess with the Zohan“ und „Hotel Transylvania“, zwei seiner besseren Filme.

Überhaupt ist er eine viel einflussreichere und interessantere Figur in der amerikanischen Humorkultur, als es sein Bekanntheitsstatus und die Tatsache, dass er hier zum ersten Mal bei einem Film Regie führt, vermuten ließen. Er war schon maßgeblich als Autor und Performer bei SNL tätig, hat für alle Inkarnationen von Conan O´Briens Shows kreativ die Strippen gezogen, ist als Triumph the Insult Comic Dog geläufig, hat für die kurzlebige aber wichtige „The Dana Carvey Show“ gearbeitet und vieles mehr. Vielleicht zeichnet sich auch der Beginn einer neuen Phase für Smigel ab – ob mit oder ohne Sandler. Es ist zwar schwierig, so etwas nach einem Debüt zu sagen, aber die Eskalationsdramaturgie der Hotelszenen gemischt mit stillen, genau beobachteten Impressionen von mentshlekh-allzumenschlichem (sic) Verhalten durch eine dezidiert jüdische Brille (von Spinoza gemacht?), also auch mit einer gehörigen Portion schmaltz bei aller Absurdität, das ist schon eigen. Vor und hinter der Kamera und im Film alles gut gemacht, es gilt also: macher tov.

Mein Ende. Dein Anfang.

(D 2019, Regie: Mariko Minoguchi)

Schicksal und Vergebung
von Wolfgang Nierlin

Ein junger Physik-Dozent spricht in seiner Antrittsvorlesung über „Zeitsymmetrik“. Im Kontinuum der Zeit seien Vergangenheit und Gegenwart untrennbar miteinander verwoben und von gleicher Gültigkeit. Alles hänge zusammen und tausche sich …

Ein junger Physik-Dozent spricht in seiner Antrittsvorlesung über „Zeitsymmetrik“. Im Kontinuum der Zeit seien Vergangenheit und Gegenwart untrennbar miteinander verwoben und von gleicher Gültigkeit. Alles hänge zusammen und tausche sich aus. Das aktuelle Erleben sei ein Déjà-vu des Früheren, der vermeintliche Zufall nur der Ausdruck unausweichlicher Notwendigkeit. „Alles, was du gemacht hast, hat dich genau hierher geführt“, sagt Aron (Julius Feldmeier) zu seiner Freundin Nora (Saskia Rosendahl). Nach dieser Theorie haben sich die beiden glücklich Verliebten also nur scheinbar zufällig kennengelernt. Und weil der Name des einen, wie ein Palindrom rückwärts gelesen, den Namen des jeweils anderen ergibt, erscheint die Notwendigkeit ihres Zusammenseins geradezu vorherbestimmt. Trotzdem sind die beiden aufgrund ihrer Sozialisation unterschiedlich glücklich im Leben.

Jenseits ihrer Namen und den Implikationen ihrer Begegnung hat der Titel von Mariko Minoguchis Debütfilm „Mein Ende. Dein Anfang.“ aber noch eine andere Bedeutung: Als Aron als zufälliges Opfer eines Banküberfalls erschossen wird, beginnt für Nora etwas Neues, das die Ahnung des Früheren in sich trägt. Traumatisiert und im Zustand der Trauer begegnet sie dem jungen Familienvater Natan (Edin Hasanović), der sich gerade, arbeitslos geworden, in einer höchst prekären Phase seines Lebens um seine schwerkranke kleine Tochter Ava kümmern muss. Von Anfang an mischen sich in Noras Begegnungen mit Natan (auch dieser Name ist ein Palindrom) Erinnerungssplitter aus ihrer früheren Beziehung zu Aron. Ihre Liebesgeschichte wird gewissermaßen von ihrem Ende her erzählt und grundiert zugleich auf noch unbestimmte Weise Noras beginnende, letztlich schicksalhafte Beziehung zu Natan.

Gemäß der angedeuteten Zeit-Theorie etabliert Mariko Minoguchi für ihren bedeutungsschweren Film eine nicht-lineare Erzählstruktur, in der sich mittels abrupter Szenenwechsel Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Trauma fortwährend durchdringen. In Zeitschleifen und perspektivisch variierten Wiederholungen entstehen so allmählich Zusammenhänge, die ziemlich unglaublich und arg konstruiert sind, aber zum Kern des durch viele gedehnte Momente etwas langatmig geratenen Dramas führen. Motivisch verwandt mit den Filmen des spanischen Regisseurs Julio Medem, geht es dabei nicht nur um Zufall und Notwendigkeit, sondern vor allem um Liebe und Vergebung. So erwächst am Ende aus den zeitlichen Überlagerungen verhängnisvoller Begegnungen schließlich neues Leben.

Ghostland

(CAN/FR 2018, Regie: Pascal Laugier)

Wir kommen hier jetzt nicht raus
von Drehli Robnik

Vor dem Vorspann eine Widmung an H. P. Lovecraft. Die ist, wird dann klar, Teil des Films, in dem der Weird-Horror-Autor auch selbst kurz auftritt. Widmung wird Welt beziehungsweise Teil …

Vor dem Vorspann eine Widmung an H. P. Lovecraft. Die ist, wird dann klar, Teil des Films, in dem der Weird-Horror-Autor auch selbst kurz auftritt. Widmung wird Welt beziehungsweise Teil davon. Umgekehrt ist es mit Teilen einer vertrauten Genrewelt, die „Ghostland“ bevölkern, als wäre der kanadische Film mit dem Dutzendtitel ein Stück Direct-to-Ramsch-Horror: Autofahrt ins Öde, ominöse Tankstelle, Einzug ins einsame Haus, darin alte Puppen, tiefe Keller, unsichere Türen. Diese Welt ist gewidmet – gerahmt, adressiert; ebenso der springfreudige Plot, von Spuk und home invasion zu Survival-Horror mit Psycho-Familie – oder sind es zwei? Definitiv sind der Schwestern zwei, aber ihr Verhältnis ist instabil: Neid, Streit, gegenseitige Hilfe – und Wahnsinnszuschreibung.

Regie führt Pascal Laugier, bewährt im Ausmalen von Situationen „konzentrierter Unterbringung“. Dieses Wort des FPÖ-Innenministers in Sachen Refugee-Quartiere geht derzeit in die alpenrepublikanische Politfolklore ein. Ösistan ist gar nicht weit von „Ghostland“. Denn aus all den Filmen, die seit 2006 Natascha-Kampusch- oder Fritzl-Family-Szenarien variieren – Dauereinsperrung, Versorgung, die Misshandlung ist –, ragen die von Laugier heraus: „Martyrs“ (2008) als niederschmetterndes French-Extreme-Drama über Ökonomien der Traumatisierung, „The Tall Man“ (2012) als Thriller über Klassenaufstiegsfantasien.

Lebenserhaltung im Schmerz: Das hallt in „Ghostland“ nach. Auch ein Hang zu erbarmungswürdigen Leidensikonen, halb spekulativ, halb genuin traurig. Und starker Schnitt, der noch im Gewaltstakkato etwas Verborgenes anklingen lässt. Und ein Hakenschlagen, das vieles revidiert und doch bekräftigt: Du steckst da noch drin. So wie „Ghostland“ ein Feststecken in den Nullerjahren ausagiert. Als warte der Film im Kinodunkel darauf, dass die Zyklen der Retrokultur bei ihm ankommen.

Diese Kritik erschien zuerst in: Spex

13 Frights: Suspense

(USA 1913, Regie: Lois Weber, Phillips Smalley)

Absolute Pionierin
von Thomas Hemsley

Vereinfacht gesagt geht es beim (filmischen) Suspense um das Fiebern mit einem Protagonisten aufgrund eines Wissensvorsprungs des Zuschauers über eine Bedrohung – salopp formuliert: das, was uns dazu verleitet, dem …

Vereinfacht gesagt geht es beim (filmischen) Suspense um das Fiebern mit einem Protagonisten aufgrund eines Wissensvorsprungs des Zuschauers über eine Bedrohung – salopp formuliert: das, was uns dazu verleitet, dem Helden/der Heldin zuzurufen: „Dreh dich doch um!“ Es ist der wohl wichtigste Baustein des Spannungskinos. Die besten Regisseure spielen immer wieder in teilweise ausgedehnten Suspensesequenzen mit der Erwartungshaltung des Publikums, dass man das Gefühl haben kann, es sind regelrechte filmische Versuchsanordnungen.

Ein Beispiel aus Hitchcocks umfangreichem Suspense-Labor wäre in „The Birds“ die Szene, in der Tippi Hedrens Charakter vor dem Spielplatz neben dem vollen Schulgebäude wartet, während sich auf dem Klettergerüst hinter ihr langsam die Vögel zum Angriff versammeln. In „Sisters“ lotet de Palma die in „Suspense“ schon vorgeführten Möglichkeiten der Splitscreentechnik für den Aufbau und die Steigerung des Suspense-/Spannungsbogens voll aus. In „Halloween“ lässt sich John Carpenter im Grunde genommen den ganzen Film über Zeit, Suspense aufzubauen und gönnt sich und dem Publikum noch kleinere entsprechende Szenen zwischendurch, z. B. eine unglaublich gespenstische, in der sich die Maske aus der Dunkelheit heraus hinter Jamie Lee Curtis langsam zu materialisieren scheint. In Wes Cravens „Scream“ gibt es dann eine Art multimediale Moebiusschleife des Metasuspense, als der ultimative Filmenthusiast „Halloween“ anschaut und der Heldin immer wieder zuruft, dass sie doch aufpassen solle, während sich der „Scream“-Killer hinter ihm bereitmacht, ihn zu töten, was alles wiederum vom Fernsehteam via versteckter Kamera entsprechend lauthals rezipiert wird – da der Kamerafeed aber zeitverzögert läuft, hört der Killer das Team und unterbricht sein Tun (der Filmnerd ist vorerst gerettet) und geht zu ihnen raus, was sie aber zu spät sehen… eine der delirierendsten Szenen der sogenannten Postmoderne.

Lois Weber hat (noch zusammen mit ihrem Ehemann) im Jahre 1914, also 13 Jahre vor Hitchcocks „The Lodger“, mit dem knapp zehnminütigen „Suspense“ ein Stück reines, aufs Essenziellste verdichtetes Kino geschaffen, dass selbst die hier genannten Regisseure sich noch einige Stückchen von ihr abschneiden hätten können. Eine Formalistin/Stilistin erster Güte, hat sie als Autorin, Produzentin, Schauspielerin und Regisseurin ein Werk geschaffen von teilweise auch großer sozialer Relevanz, das aber dennoch immer im Schatten von D. W. Griffith – und anderer Stummfilmpioniere – stand.

So beruhte „Suspense“ auf einem Stoff, den auch andere (Griffith, Edwin S. Porter etc.) variiert haben, nämlich dem Theaterstück „Au telephone“ von Andre de Lorde. Leider bleiben sind uns viele Varianten nicht erhalten geblieben, aber Beschreibungen und das, was noch existiert, deuten darauf hin, wie sehr Lois Weber dem Stoff ihren unmissverständlichen, auch fotografisch und schnitttechnisch experimentierfreudigen Stempel aufgedrückt hat.

Auch spätere Werke wie „Hypocrites“ – erster Film, der komplette weibliche Nacktheit darstellt, dabei aber auf thematischer Ebene gekonnt den male gaze aushebelt – zeigen, dass sie eine – wie sie selbst es formulierte – absolute Filmemacherin war.

Aquarela

(GB/D/DEN/USA 2018, Regie: Victor Kossakovsky)

Eisige Schönheit wortloser Bilder
von Wolfgang Nierlin

In der Vogelperspektive schwebt die Kamera über gewaltige, sich schier im Unendlichen verlierende Eismassen. Riesige Eisskulpturen mit bizarren Formen ziehen vorbei. Auf ihren blendenden Oberflächen haben sich abstrakte Strukturen gebildet. …

In der Vogelperspektive schwebt die Kamera über gewaltige, sich schier im Unendlichen verlierende Eismassen. Riesige Eisskulpturen mit bizarren Formen ziehen vorbei. Auf ihren blendenden Oberflächen haben sich abstrakte Strukturen gebildet. Schmelzendes Eis bewegt sich wie ein unmerklich fließender Teppich auf dem Meer. Dann wieder brechen ganze Eisberge mit einem gewaltigen Knarren und Krachen weg, tauchen unter und wieder auf, treiben im lauten Tosen des Wassers weiter. Dabei mischt sich harte, irritierende Metal-Musik in die reichhaltige Geräuschkulisse, um die eisige Schönheit der wortlosen Bilder zu stören und in einen spannungsvollen Kontrast zu überführen. Die Erhabenheit der Natur mit ihrer unwirklich erscheinenden, aber sehr gegenwärtigen Kraft ist nicht ohne Schrecken und Gewalt zu haben. Davon handelt Victor Kossakovskys höchst sinnlicher und bildgewaltiger Film „Aquarela“ auf sehr eigensinnige Weise.

Sein Konzentrat kommt mitten aus dem Wasser und will dieses rätselhafte Element in seiner stetigen Veränderung erfahrbar machen, um darin die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen zu spiegeln. Kossakovsky folgt dem Weg des Wassers und beobachtet in langen, konzentrierten Einstellungen seine Veränderungszustände. Auf dem sibirischen Baikalsee, wo das Tauwetter offensichtlich früher als sonst eingesetzt hat, erkundet er die fragile Grenze zwischen Eis und Wasser, Mensch und Natur. Autos und Menschen brechen ein. Dramatische, nüchtern registrierte Rettungsszenen spielen sich ab. In der Ferne, an Land, brennt ein Haus. Das enigmatische Bild erinnert an den Schluss von Andrei Tarkovskys letztem Film „Opfer“. Später begleiten wir ein Segelboot bei seiner Fahrt aufs offene, sturmgepeitschte Meer. Faszinierende Wellenberge wechseln sich ab mit der pulsierenden, nur von einem Gurgeln oder Blubbern unterbrochenen Stille unter Wasser.

Kossakovskys auch in seiner Gliederung ungewöhnlicher Film, der mit 96 Bildern pro Sekunde aufgenommen ist, nähert sich gerade in der überhöhten Echtheit und zugespitzten Erfahrbarkeit seiner Bilder immer wieder der Abstraktion. Dann wirkt das bläulich-dunkle „Innenleben“ der Wassermassen wie reine Malerei aus Licht und Schatten. Doch das Artifizielle ist nur ein genauer, insistierender Blick auf die Realität.

Die Verheerungen eines Hurrikan markieren schließlich den gewaltsamen Übertritt des Wassers auf das Land. Vom Sturmwind abgeknickte Palmen und Verkehrsschilder, verlassene Straßen in einer geisterhaften Stadt und ein überschwemmter Friedhof evozieren das Ende der Zivilisation. Doch dann zeigt sich im lichtbeschienenen Wassernebel der Sintflut schüchtern ein Regenbogen. Kurz darauf stürzt der Salto Ángel in Venezuela, der höchste freifallende Wasserfall der Welt, an einer mächtigen, steilen Felswand herunter, um sich schließlich in einen kleinen, sich durch die Landschaft schlängelnden Fluss zu ergießen. Die majestätische Natur wir in diesem großartigen Bild zur Vision und Suche nach Transzendenz. Victor Kossakovsky hat „Aquarela“ vielleicht auch deshalb seinem seelenverwandten Landsmann und Kollegen Alexander Sokurov gewidmet.

Parasite

(KOR 2019, Regie: Bong Joon-ho)

Versuch einer Einnistung
von Philipp Schwarz

Eine große menschliche Geschäftigkeit prägt Bong Joon-hos „Parasite“: Ständig sind die Figuren des Films in Bewegung, ständig planen sie etwas und in manchen ekstatischen Momenten – dargestellt in überhöht feierlichen …

Eine große menschliche Geschäftigkeit prägt Bong Joon-hos „Parasite“: Ständig sind die Figuren des Films in Bewegung, ständig planen sie etwas und in manchen ekstatischen Momenten – dargestellt in überhöht feierlichen Montagesquenzen – finden sich mehrere von ihnen zusammen, um in virtuos ineinandergreifenden Handlungsschritten ein gemeinsames Ziel zu erreichen oder einen gemeinsamen Gegner auszuschalten. Streckenweise hat es somit den Anschein, als sei Bongs Film eine Feier des menschlichen Einfallsreichtums und der menschlichen Durchsetzungskraft – als schöpfe der Film seine Energie ganz aus dem nie endenden Überlebenswillen des Individuums.

Doch das Gegenteil ist der Fall: Der Film lässt seine Figuren die ganze Zeit wild durch die Welt schießen, nur um uns wieder und wieder vor Augen zu führen, dass all diese vordergründige Dynamik außer Stande ist, irgendeine kausale Kraft zu entfalten – sie bewirkt nichts, schon gar keine grundlegende Veränderung in den Lebensbedingungen der Figuren. All die verschiedenen menschlichen Pläne und Handlungen sind in „Parasite“ ein reines Oberflächenphänomen, von dem die eigentlich entscheidenden gesellschaftlichen Kräfte und Zusammenhänge vollkommen unberührt bleiben: Die arme Familie um den ehemaligen Chauffeur Ki-taek nistet sich Schritt für Schritt in dem Haushalt eines wohlhabenden Ehepaars ein, sie ergattert sich durch List und Dreistigkeit ein paar Krümel vom schönen Leben – und festigt dadurch doch stets nur jene soziale Kluft, die der wahre Grund für ihr Unglück ist. Der reiche Geschäftsmann Mr. Park wird immer wieder von einem intensiven Ekel vor allerlei Körpersäften gepackt – und doch wird bald klar, dass sich dieser Ekel ausschließlich gegen Angehörige der niederen Stände richtet, dass er keine individuelle Eigenart, sondern ein gesellschaftliches Phänomen ist. Und selbst das naive, oft sympathische Wesen der unfreiwilligen Wirtsfamilie ist vor allem eines: ein Standesprivileg – das Nett-Sein ist in „Parasite“ nichts als das Emblem einer Lebensweise, die von der völligen Abwesenheit jedes äußeren Widerstandes geprägt ist.

Das System der sozialen Ungleichheit tritt somit in Bongs Film nicht als ein Zwang in Erscheinung, der von außen auf an sich eigenständige Individuen einwirkt – auf Individuen mit einem von diesem System unabhängigen Innenleben (wie es etwa in Ken Loachs „Sorry We Missed You“ der Fall ist). Die Ungleichheit hat hier längst auch das Innere der Menschen befallen, sie bestimmt deren grundlegendste Eigenschaften, ja, deren gesamtes Wesen – auch und gerade dann, wenn sie selbst meinen, vollkommen autonom zu handeln. Bei allen unerwarteten Wendungen der Handlung, bei allem Abwechslungsreichtum in der Inszenierung, im Schauspiel und im Rhythmus, nimmt „Parasite“ doch immer wieder dieselbe Dynamik in den Blick: wie die einzelnen Menschen, wie die Individualität des Menschen an sich, von dem gesellschaftlichen System aus wirtschaftlichen Abhängigkeiten und sozialen Abstufungen vollkommen ausgelöscht werden. Dass die Betroffenen das meistens selbst nicht wissen, dass, auch wenn sie es wissen, dieses Wissen es ihnen nicht ermöglicht, sich irgendwie anders zu verhalten – das macht die beißende Komik von Bongs Film aus.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Parasite“.

Star Wars: Der Aufstieg Skywalkers

(USA 2019, Regie: J.J. Abrams)

Im Lederwams gegen das Böse
von Thomas Blum

Nicht nur Lebkuchenduft in den Supermärkten und wachsende Spannungen in der Familie deuten darauf hin, dass es auf Weihnachten zugeht. Zuverlässig kommt auch kurz vor dem Fest der neue „Star …

Nicht nur Lebkuchenduft in den Supermärkten und wachsende Spannungen in der Familie deuten darauf hin, dass es auf Weihnachten zugeht. Zuverlässig kommt auch kurz vor dem Fest der neue „Star Wars“-Film in die Kinos. Und wie immer hat man an alles gedacht: die volle Ladung Pyrotechnik, nicht enden wollende Raumschiffverfolgungsjagden, die standardisierte donnernde Fanfarenmusik. Alles da, wie immer.

Die altbewährte Space Opera geht mit ihrem neuesten Teil, dem neunten, „Star Wars: Der Aufstieg Skywalkers“, ins Finale, und alle sind sie natürlich wieder mit von der Partie (schnarch): der grunzende Zottelbär, der schlechte Witze machende goldglänzende Blechroboter, die niedlich fiependen Blechdosenroboter in Mülleimer-Optik und die Mittelalterkostüme und alberne Umhänge tragenden menschlichen Lichtschwertfuchtler. Überhaupt, das Lichtschwert: eine Art brummende Neonröhre mit Metallgriff, mit der gefochten wird. Wessen Idee das auch immer gewesen sein mag.

Das Beste an der US-amerikanischen Science-Fiction-Fantasy-Märchenfilmserie ist: Man muss nicht alle Teile der „größten Saga der Populärkultur“ („Tagesspiegel“) gesehen haben, um eine grobe Ahnung von der, na ja, Handlung zu bekommen. Man kann praktisch immer einsteigen, bei jedem beliebigen der insgesamt neun Filme.

© The Walt Disney Company Germany GmbH

Es ist so: Die Guten, tendenziell pathetischen Käse quatschende Hippiefiguren, die meist weiße oder braune Leibchen und Lederwämser tragen, wehren sich gegen die Bösen, die angestrengt niederträchtig gucken und mit schwarzen langen Mänteln und Naziuniformen bekleidet sind. Dunkle Seite gegen helle Seite, „Jedi-Orden“ gegen „Sith-Imperium“.

Wie immer geht es um die Familie, die Tradition, irgendeinen altehrwürdigen Mythos und offene Abstammungsfragen (Wer ist mit wem wie verwandt? Wer sind wessen Eltern?), aber auch darum, dem familiär vorbestimmten Schicksal zu entkommen und unabhängig von diesem einem eigenen, selbst gewählten individuellen Lebensentwurf zu folgen. Und es geht um die Solidarität der vielen (eine Art diverse, multikulturelle, liberale Rebellencommunity) gegen das bitterböse Imperium, eine Art galaxisumspannendes Schweinesystem, das wiederum nicht nur aus den erwähnten schwarzuniformierten Superfieslingen besteht, sondern auch aus Heerscharen von gesichtslosen Soldaten in weißen Plastikrüstungen („Stormtroopers“). Wozu allerdings die weißen Plastikrüstungen dienen (sieht man einmal von ihrer formschönen 70er-Jahre-Pop-Art-Optik ab), ist nicht ganz ersichtlich: Werden die Soldaten, die in aller Regel entindividualisierte stumpfe Befehlsempfänger sind, von einem oder mehreren Schüssen getroffen, die die sinnlose Plastikrüstung durchschlagen, fallen sie prompt um wie Spielzeugsoldaten und sind anscheinend mausetot. Wobei niemals auch nur ein Tropfen Kunstblut zu sehen ist – schließlich haben wir es hier mit einem Machwerk des Disney-Konzerns zu tun, der heute die Rechte an „Star Wars“ besitzt und dessen Hauptgeschäftsfeld die Produktion und der Vertrieb reaktionärer Heile-Welt-Propaganda ist. Die Leinwand muss sauber bleiben, soll heißen: Es wird fortwährend allerlei digitaler Budenzauber und Feuerwerk veranstaltet, Raumschiffe explodieren mit großem Tamtam, volles Programm Computerspieloptik, doch Leid und Schmerz und Tod werden ausgeblendet.

© The Walt Disney Company Germany GmbH

Unterlegt ist das Bummbumm mit dem immer gleichen tosenden Wagnerianischen Kitschfanfarengewummer und -gewimmer von John Williams, das jedem Menschen mit intaktem Gehör innerhalb kurzer Zeit gewaltig auf die Nerven geht, zumal es während 144 Minuten kaum eine Szene gibt, in der es nicht penetrant erklingt.

Die Handlung selbst ist in weiten Teilen eine vollkommen geistbefreite reine Nummernrevue (Helden diskutieren hektisch in ihrem Raumschiff, weil sie von den Bösen angegriffen werden; es folgt Action mit Knallerei; Helden schlagen überraschend zurück und versuchen eine Gefangenenbefreiung; es folgt Action mit Feuerwerk; Großaufnahme von jemandem, der/die weint/lacht vor lauter Rührung/Erleichterung oder von zwei Leuten, die sich herzlich umarmen; es folgt Action mit Lichtschwertertheater; einer der Bösen wird zum Guten bekehrt; es folgt Action mit irgendwas (gähn); einer, den man für einen der Bösen gehalten hat, entpuppt sich als Guter; es folgt Action mit Funkenflug; Endkampf Gut gegen Böse („Now we take the War to them!“); es folgt Action mit Explosionen; Großaufnahme von jemandem, der auf expressiv-feierliche Weise stirbt oder bloß vermutlich stirbt und hinterher überraschend wieder zum Leben erwacht usw.), und alles ist so vorhersehbar wie der Geschmack eines Supermarktschokoriegels. Ähnlich fade der Wechsel der landschaftlichen Szenerien: steinige Wüstengegend, steinige dunkle Höhlengänge, steinige Felseninsel, großer Altmetalltrümmerhaufen (der kaputte, ins Meer gefallene Todesstern).

Natürlich müssen auch die ausgemusterten Alten, Harrison Ford (Han Solo), Mark Hamill (Luke Skywalker) und Carrie Fisher (Leia Organa), kurze Gastauftritte haben, um das Bedürfnis der Kundschaft nach Nostalgie zu bedienen und ihr gleichzeitig so etwas wie eine tatsächliche Chronologie und Kontinuität der Filmhandlung vorzugaukeln. Selbst der Umstand, dass Fisher vor drei Jahren verstorben ist, hindert sie nicht daran, an dem Film mitzuwirken. Man hat einfach ein paar von einem früheren Star-Wars-Dreh übrig gebliebene Filmschnipsel mit ihr eingebaut.

Sieht man einmal davon ab, dass die Geschlechterrollen und in der Folge insbesondere die Frauenfiguren in den letzten Jahren geringfügig modernisiert wurden, kennt man das alles schon auswendig, aber das scheint mir der ebenso perfide wie banale Trick der Produzenten: Weil alle es schon zur Genüge kennen und daran gewöhnt sind, wird es immer auf dieselbe altbekannte Weise inszeniert. So wird garantiert niemand enttäuscht. Und am Ende zählt ja nur, dass der Prequel-, Sequel-, Spin-Off- und Serien-Heckmeck sowie der Marketing-, Merchandise- und Fanartikelverkaufs-Zirkus niemals zu Ende geht.

Dieser Text erschien zuerst am 19.12.2019 in: Neues Deutschland

Palo Alto

(USA 2013, Regie: Gia Coppola)

Stilvolle Identitätskrisen
von Anton Borlinghaus

Coming-of-Age in der amerikanischen Kleinstadt. Falls man diesem Stoff jemals überdrüssig werden sollte, ist man damit hoffentlich allein, genauso wie die Teenies in Palo Alto auf ihrem Pfad des Erwachsenwerdens. …

Coming-of-Age in der amerikanischen Kleinstadt. Falls man diesem Stoff jemals überdrüssig werden sollte, ist man damit hoffentlich allein, genauso wie die Teenies in Palo Alto auf ihrem Pfad des Erwachsenwerdens. Von den Erwachsenen können sie dabei keine Hilfe erwarten, die ja selbst keine Ahnung davon haben, denen der verzweifelte Versuch, wieder naiv und unschuldig zu sein, aber deutlich weniger gut steht.

Gia Coppola bedient sich für ihren Debütfilm „Palo Alto“ beim gleichnamigen Erzählband von James Franco, der im Film seine Rolle als verführerischer Sportlehrer auf gewohnt charmant-schleimige Weise ausfüllt. Von Anfang an ist klar, worum es geht: um das gute alte jugendliche Kleinstadtleben, wunderschön in Szene gesetzt vom spätherbstlichen Licht Südkaliforniens.

Man begleitet die üblichen Charaktere, wie sie mit ihren Unsicherheiten und ihrer neu entdeckten Einsamkeit kämpfen, vordergründig April (Emma Roberts) und Teddy (Jack Kilmer), die eindeutig etwas füreinander übrig haben, von verschiedenen Faktoren aber erst mal daran gehindert werden, das dem anderen klar zu übermitteln. Emily (Zoe Levin) ist einer dieser Faktoren, in deren nymphomanische Fänge man leicht geraten kann, im Vollrausch auf der Hausparty sowieso. Ein anderer ist Teddys bester Freund Fred (Nat Wolff), der die expressive Variante zur Bewältigung seiner jugendlichen Daseinskrise gewählt hat. Und was April insbesondere davon abhält, sich mit Teddy zu beschäftigen, sind die Annäherungsversuche ihres lässigen Fußballtrainers Mr. B (James Franco), die sie durchaus nicht kalt lassen.

Diese Figuren sind zwar typische Vertreter ihres Genres, werden aber jede für sich ernst genommen und nicht nur auf ihre Rolle im Teenie-Kosmos beschränkt. So schwelgend wie der Film inszeniert ist, hat man es leicht, die Melancholie des Aufwachsens in Palo Alto nachzuempfinden, Aprils Sehnsucht nach etwas Unbestimmtem, das irgendwo anders sein muss, oder Teddys Scheitern am System, das ihm bei seiner Suche nach einem Weg aus der bekifften Gleichgültigkeit keine große Hilfe ist.

Außer April, die sich meistens zu gut dafür ist, sind Teenies natürlich Arschlöcher. Emily versucht, ihre Ohnmacht und Einsamkeit mit sexuellen Gefälligkeiten zu ersticken, wofür sie außer emotionaler Abweisung nichts zurückbekommt, schon gar nicht von Fred, dem sein Umfeld mindestens so sehr auf den Sack geht wie andersherum. Für ihn geht es nur gegen den Strom, wie am Ende des Films deutlich zu sehen sein wird.

Prägend ist die Beziehung zwischen Teddy und Fred, die sich gegenseitig brauchen aber auch ausnutzen, den jeweils anderen an seiner Selbstfindung hindern. Als Zuschauer steht man dabei wohl eher auf Teddys Seite, auf der des fehlgeleiteten sensiblen Jungen, der unter dem aufbrausenden Einfluss seines durchgeknallten Freundes leidet. Aber letztlich ist Freds ausdrucksstarker Umgang mit seinen Problemen vielleicht die ehrlichere Variante von beiden und wird von Teddy als Weckruf aus seiner Lethargie auch dankbar angenommen. Wie bei jeder derartigen Beziehung stellt sich die Frage: leidet der Passive unter dem Aktiven oder ist es nicht umgekehrt genauso.

„Palo Alto“ ist schließlich ein leiser Film, der nicht urteilt, schlussfolgert oder versucht, seine kleine Welt zu verlassen, nichts Neues, sondern eine Hommage an das jugendliche Dasein in der Kleinstadt. Die Entwicklung der Geschichte oder der Charaktere liegt dabei nicht im Fokus, sondern der atmosphärische Sog, die poetischen Bilder, der weiche traurig-schöne Filter, der über allem liegt. Dass hier auch unbequeme Inhalte im Dienste der Ästhetik stehen und ohne Stellungnahme so stehen gelassen werden, kann man natürlich als mutlos oder gar verharmlosend empfinden. Aber trotz den ästhetizistischen Tendenzen fühlt es sich gleichzeitig immer authentisch an, wozu die Schauspieler eine Menge beitragen und vor allem die glaubhaft unbedarften Dialoge. Irgendwo tief drinnen gibt es womöglich so etwas wie Werte und Überzeugungen, aber man ist noch lange nicht so weit, sie artikulieren zu können.

Auch mit zunehmendem Alter nehmen die Identitäts- und Beziehungskrisen kein Ende, die Eltern sind mindestens genauso high und der Fußballcoach kann mit Frauen in seinem Alter nur wenig anfangen. Ursprünglich und ungetrübt präsentieren sich diese Kämpfe aber vor allem in der Jugend, weshalb der Stoff wohl immer kraftvoll bleiben wird, und erst recht, wenn er mit „Palo Alto“ in einem so schönen Gewand auftritt. Vielleicht ist die Sehnsucht nach unschuldigen Filmen ja aber ab einem gewissen Alter ähnlich unangemessen wie die von Mr. B nach seinen Schülerinnen.

Marvin

(FR 2017, Regie: Anne Fontaine)

Weiche Männer, verhärtete Klischees
von Christian Kaiser

Anne Fontaine, einst Schauspielerin – etwa im Soft-Erotik-Klassiker „Zärtliche Cousinen“ (1980) – hat ihre Schauspielkarriere um 2000 endgültig an den Nagel gehängt und sich auf ihre 1993 begonnene Regie-Karriere konzentriert, …

Anne Fontaine, einst Schauspielerin – etwa im Soft-Erotik-Klassiker „Zärtliche Cousinen“ (1980) – hat ihre Schauspielkarriere um 2000 endgültig an den Nagel gehängt und sich auf ihre 1993 begonnene Regie-Karriere konzentriert, was im 21. Jahrhundert zunehmend mehr Frauen tun. Es folgten Filme über Frauenfiguren, etwa „Nathalie…“ (F/E 2003) und „Coco Chanel“ (F 2009). Mit „Marvin“ kehrt sie zurück zur Figur des schwulen Mannes, der sie sich schon im Rahmen der Kurzfilm-Sammlung „Die Liebe neu erfinden“ (F 1996) angenähert hatte.

Dass es eine Ähnlichkeit zwischen der Frauen- und der Schwulenbewegung gab, stellte die australische Feministin Germaine Greer schon in den frühen 70er-Jahren fest: Passiv Penetrierte erscheinen minderwertiger als aktiv Penetrierende – unabhängig vom Geschlecht (wobei die Rollen bei heterosexuellen Paaren diesbezüglich meist doch recht klar verteilt sind). „Marvin“ schenkt dieser profunden Erkenntnis, die auch heute zu wenig beachtet wird, einige Aufmerksamkeit. Denn Marvin ist nicht einfach bloß schwul, sondern übernimmt auch noch die vermeintlich weibliche Rolle.

Schon als Schulkind wird er als Mädchen verspottet, malen ihm die Schul-Rowdys die Lippen rot an, zwingen ihn, über ihre Brust zu lecken oder ihnen einen zu blasen. Nicht die bloße Homoerotik, sondern diese passive, etwas devote Rolle sorgt für Marvins vermeintliche Minderwertigkeit. Und gleichwohl ihm diese Übergriffe zu schaffen machen, kann er eine Begierde für diese Jungen nicht unterdrücken. Auch in seiner ärmlichen, bildungsfernen Familie ist er ein Fremder: Vater und älterer Bruder halten Homosexualität für eine Geisteskrankheit. Dass Fontaine den Vater, einen eher einfältigen Handwerker, trotz seiner Homophobie und seiner rassistischen Vorurteile nicht zum Monstrum stilisiert, ist einer der Vorzüge von „Marvin“: Der Vater pflegt erlernte Vorurteile und eine abwertende Sprache, ist aber zugleich – als Sohn eines gewalttätigen Vaters – in seinen Handlungen friedfertig und trotz seines massigen, haarigen Körpers nahezu sanftmütig und verletzlich. Andererseits greift der Film durchaus auf klischeehafte Feindbilder zurück. Und die Mutter, die ihrem Sohn unbekümmert davon berichtet, wie sie ihn seinerzeit auf der Toilette geradezu ausgeschissen habe, schrammt arg an der Grenze zur White-Trash-Karikatur.

Wohin sich die Handlung entwickelt, ist erst spät erkennbar. Lange Zeit laufen zwei Zeitebenen parallel. Erst nach der Halbzeit wird klar, wie die schon zu Schulzeiten einsetzende Begeisterung Marvins für das Theater beide Stränge verbindet. Ist der Kindheitsteil dem Leiden und der Verwirrung verbunden, widmet sich der Jugendteil der Selbstfindung und der Verarbeitung. Eine schwule Theatergröße öffnet Marvin über ihre Kunst die Augen – und regt den Jungen dazu an selbst künstlerisch seine Identität zu finden und zu festigen. Dass er sich allerdings einem deutlich älteren Liebhaber mit Kontakten zu Schauspiel-Ikonen wie Isabelle Huppert hingibt, sich – so der Vorwurf – hochzuschlafen gedenkt, sorgt ebenso für Zündstoff im Freundeskreis wie die Arbeit an einem autobiografischen Stück für Wut bei seiner Mutter.

Gegen Ende verzahnen sich Vergangenheit und Gegenwart immer stimmiger und es wird deutlich, dass die Figuren ein Produkt ihrer Erziehung sind – welche der Originaltitel ebenso ins Zentrum rückt wie der englische Titel („Reinventing Marvin“) die Neuerfindung der Hauptfigur, die sich irgendwann Martin nennt. „Marvin ou la belle éducation“ – Die „éducation“ meint auch „Bildung“. Und „Marvin“ verdeutlicht, was man hierzulande leicht vergisst, wenn man an „Bildung“ denkt: dass nämlich darin etwas Bildendes, etwas Formendes steckt. Und hier beginnt „Marvin“ sich etwas angreifbar zu machen. Denn er vertraut zu sehr darauf, dass Homophobie und Diskriminierung bloß Ergebnisse mangelhafter Bildung und eines begrenzten Horizonts sind. Diese Haltung hat auch einen großen Anteil an der fragwürdigen Zeichnung von Marvins Unterschichtsfamilie, die bisweilen zum Klischee gerät – woran auch eine eventuelle homoerotische Neigung der Homophoben nichts ändert, weil die ja selbst wieder ein Klischee ist.

So ist „Marvin“ trotz all seiner Konflikte – in denen der titelgebende Protagonist fast nur unschuldiges Opfer, kaum jemals schuldiger Täter ist – doch weniger interessant als das andere große Coming-Out-Drama seines Jahrgangs. Luca Guadagninos „Call Me by Your Name“ (BR/F/I/USA 2017) ist der ergiebigere Film, weil er zeigt, wie groß die Irritation auch ohne explizit diskriminierendes Umfeld sein kann. Dennoch ist „Marvin“ ein lohnenswerter Film. Weil zum einen Isabelle Huppert als Isabelle Huppert eine ihrer spannendsten Rollen erhalten hat – und weil Fontaine und ihr Co-Autor Pierre Trividic einen starken Jungstar gefunden haben: den Briten Finnegan Oldfield, der zuletzt in Katell Quillévérés „Die Lebenden reparieren“ (B/F 2016) und Bertrand Bonellos „Nocturama“ (B/D/F 2016) größere Bekanntheit erlangen konnte.

Dieser Text ist zuerst erschienen im „Stadtkind hannovermagazin“, 07/2018.

13 Frights: THE BIRDS

(USA 1963, Regie: Alfred Hitchcock)

Nicht mal Geier
von Thomas Hemsley

Strukturell ist Hitchcocks Daphne-du-Maurier-Verfilmung „The Birds“ ein Katastrophenfilm. Es ereignet sich eine Naturkatastrophe der etwas anderen Natur, da es in anderen Filmen dieser Art keine Lebewesen sind, die den Menschen …

Strukturell ist Hitchcocks Daphne-du-Maurier-Verfilmung „The Birds“ ein Katastrophenfilm. Es ereignet sich eine Naturkatastrophe der etwas anderen Natur, da es in anderen Filmen dieser Art keine Lebewesen sind, die den Menschen bedrohen. Wie im Katastrophenfilm werden verschiedene Menschen in verschiedenen Lebenslagen eingeführt, und es gibt schon erste unheilverkündende Zeichen, manchmal sogar „Mini-Katastrophen“ (in einem Erdbebenfilm Vorbeben). Hier hingegen sind die unheilverkündenden Zeichen nicht als solche zu erkennen, da sie in der Omnipräsenz von Vögeln bestehen. Letztlich wird im weiteren Verlauf das Figurenpersonal und der Handlungsort fokussiert, in diesem Fall auf ein Belagerungsszenario hin.

Tonal ist der Film ein Apokalypsenfilm. Bedauerlicherweise konnte Hitchcock nicht seine Schlussbildidee einer von Vögeln aller Art übersäten Golden Gate Bridge umsetzen, aber es wird doch mehrfach angedeutet, dass diese Vogelplage nicht nur die Bodega Bay heimsucht, zumal das tatsächliche Schlussbild auch sehr stark ist. Somit ist der Film den Zombieapokalypsen näher als Globalkatastrophenfilmen wie Roland Emmerichs „The Day After Tomorrow“ und „2012“. Wäre es zu abwegig zu glauben, dass die Zombies auf der Brooklyn Bridge in „Zombi 2“ eine Hommage von Lucio Fulci an Hitchcock sein könnten?

Nominell ist er als Tierhorrorfilm mit einem Monsterfilm bzw. Creature Feature à la „Tarantula“ verwandt, und diese Verwandtschaft ist bei den ganzen Filmen über Haie (so viele Haie), Piranhas, Alligatoren, Anacondas etc. auch durchaus leicht erkennbar. Aber von mutierten Spinnen und aus der Zeit gefallenen Bestien bzw. fabelwesenartigen Kreaturen zu als harmlos wahrgenommenen Möwen, Tauben und Spatzen (noch nicht mal Geier oder Kondore) ist schon ein konzeptueller Quantensprung, den Hitchcock via du Maurier gemacht hat – leider ist ihm auf dem neuen Pfad kaum jemand gefolgt.

© Universal

Formal handelt es sich auch um einen Spukfilm, einen Haunted-House-Film. Und wie Robert Wise „The Haunting“, der nur wenige Monate nach „The Birds“ in die Kinos kam, dies für die Zukunft klarmachen sollte, ist die Tongestaltung so bedeutsam, dass man bei diesen Filmen von Klangfilmen sprechen muss. Gruselige Musik, knarzende Türgeräusche und explosionsartiger Donner reichen nicht mehr aus. Musik und Geräuschkulisse verschmelzen immer mehr, wobei „The Birds“ durch den Verzicht auf einen herkömmlichen Score ganz klar auf der Geräuschkulissenseite des Spektrums angesiedelt ist. Eine Veröffentlichung der Tonspur (weitgehend ohne Dialoge) als Soundtrack-Album könnte vielleicht einige Ohren für die Musikalität des Unterfangens öffnen. Oskar Sala war schließlich Komponist und Pionier der elektronischen Musik; zur Vogelklangerzeugung wurde eine Vorstufe des Synthesizers, das Trautonium verwendet. Und wenn zum Finale das Haus regelrecht heimgesucht wird vom intensiver werdenden Vogelgeflatter und –gekreische, dann ist das wie das Crescendo eines Requiems auf die Menschheit.

Halloween Haunt

(USA 2019, Regie: Scott Beck, Bryan Woods)

Modifizierte Körper und derangierte Geister
von Christian Kaiser

Im Original schlicht (wenngleich doppeldeutig das Heimsuchen und den Treffpunkt bezeichnend) „Haunt“ betitelt, wurde die jüngste Regiearbeit von Bryan Woods und Scott Beck hierzulande in „Halloween Haunt“ umbenannt. Überdeutlich wird …

Im Original schlicht (wenngleich doppeldeutig das Heimsuchen und den Treffpunkt bezeichnend) „Haunt“ betitelt, wurde die jüngste Regiearbeit von Bryan Woods und Scott Beck hierzulande in „Halloween Haunt“ umbenannt. Überdeutlich wird diese vergleichsweise große Produktion, die den beiden Filmemachern und Genre-Enthusiasten erst nach dem Erfolg ihres Drehbuches für „A Quiet Place“ (USA 2018; R: John Krasinski) ermöglicht worden war, als Halloween-Kost empfohlen – durchaus passend zum Zeitraum der Handlung: Die Mittzwanzigerin Harper hat sich gerade ihr Veilchen überschminkt, das sie ihrem Noch-Freund verdankt, dem sie auf Anraten der Freundinnen endgültig den Laufpass geben soll, ehe man zur gemeinsamen Halloween-Feier aufbricht. Mit Bailey, Angela und Mallory trifft sie auf der eher lahmen Feier dann den sympathischen Nathan und dessen Kumpan Evan. Auf der Suche nach der perfekten Halloween-Attraktion verschlägt es die sechs jungen Leute in ein abgelegenes Haunted House, in welchem die maskierten Leiter der vermeintlichen Halloween-Attraktion ihren Opfern das Fürchten lehren wollen. Alsbald stellt sich heraus, dass man nicht bloß – aller Mobiltelefone entledigt – durch eine beunruhigende begehbare Geisterbahn wandelt, sondern in ernster Gefahr schwebt…

Der deutsche Titel rückt den Film unmissverständlich in die kleine Sparte des Halloween-Horrorfilms, wobei sich insbesondere „The Houses October Built“ (USA 2014; R: Bobby Roe) samt Sequel als ähnlich gelagert erweisen: beides ebenfalls grimmige Horror-Reißer, in denen den ProtagonistInnen der Besuch einer Halloween-Attraktion zum Verhängnis wird. Doch der Ursprung dieser Idee reicht viel weiter zurück: Es handelt sich um Tobe Hoopers „Das Kabinett des Schreckens“ (USA 1981), der die Entwicklung des modernen Slashers über „Psycho“ (USA 1960; R: Alfred Hitchcock) und „Halloween“ (USA 1978; R: John Carpenter) gegen den klassischen Horrorfilm à la Universal ausspielt – und bereits die Frage nach dem eigentümlichen Reiz der Angstlust aufwarf, von welcher der Horrorfilm insgesamt so sehr zehrt.

Diese Angstlust zelebriert „Halloween Haunt“ gerade in seiner ersten Hälfte mit Bravour: Auch ohne Kenntnis der Trailer oder der Altersfreigabe raunt einem der Film beständig zu, dass der Besuch im Haunted House ein unheilvoller sein wird. Jedes Durchqueren einer Schwelle, jeder Griff durch schmale Öffnungen, jedes Eindringen in klaustrophobisch enge Tunnel: Alles erzeugt eine fast permanente Anspannung. Und inmitten von Beklommenheit und Unwohlsein kann man nebenbei reflektieren, dass sich die Hauptfiguren in eine wesentlich radikalere Situation des Ausgeliefertseins begeben, um den Kick wohligen Schauderns zu genießen, ehe aus dem vermeintlichen Spiel tödlicher Ernst wird. Hier wird das Publikum auf seine im besten Sinne perverse Veranlagung verwiesen, die mit dem – je nach individueller Ausrichtung – masochistischen, sadomasochistischen oder sadistischen Genuss einhergeht, wobei der Film anhand der sich ausliefernden Hauptfiguren vor allem die masochistischen bis sadomasochistischen Impulse herausstellt, die interessanterweise gerade auch dort greifen, wo die Hauptfiguren ihrerseits nachgestellten (oder vielmehr: nicht nachgestellten) Folterszenarien beiwohnen.

Dieser unter anderem von „Hostel“-Regisseur Eli Roth produzierte Terrorfilm weist also den Vorwurf des Sadismus weit von sich, der in der Debatte zum sogenannten torture porn immer wieder aufkommt. Und noch in einer anderen Hinsicht erweist sich „Halloween Haunt“ als auf den ersten Blick recht progressiv: Es ist das final girl, das hier nicht als abstinente Babysitterin agiert oder explizit als Jungfrau ausgewiesen wird; Harper ist eine junge Frau, die zumindest eine erste Beziehung gerade hinter sich gebracht hat und an einer weiteren bereits Interesse bekundet. Als Tochter eines Mutter und Kind drangsalierenden Vaters ist sie allerdings zuletzt an einen ebenfalls gewalttätigen Typen geraten: Harper ist (noch) keine emanzipierte Frau und hat sich unbewusst, aber keinesfalls zufällig ein Outfit gewählt, das sie als Rotkäppchen ausweist – wobei sicherlich mit „Trick ‚r Treat – Die Nacht der Schrecken“ (USA 2007; R: Michael Dougherty) ein weiterer Halloweenfilm der jüngsten Zeit Pate gestanden hat.

Harpers Gewalterfahrungen seit frühester Kindheit werden insbesondere im Escape Room des Haunted House getriggert, derweil sie zu ultimativer Gegenwehr genötigt über sich hinauswächst, sich ihrem Trauma stellt und die Opferrolle gegen die Rolle einer Kontrahentin eintauscht. Mit ihrer Selbstermächtigung geht zugleich der Untergang ihres aggressiven Ex-Lovers einher, was den Emanzipationsgedanken der Films noch unterstreicht. Im Gegensatz zur durchweg beklemmenden Atmosphäre wirkt diese gut gemeinte Konstruktion weiblicher Selbstermächtigung allerdings arg aufgesetzt und plump küchenpsychologisch. Gleiches gilt für das recht beiläufige Spiel mit der Frage nach der Identität der Täter*innen.

Diese erweisen sich auch als ganz und gar nicht progressiver Einfall. Ähnlich wie in Tobe Hoopers „Kabinett des Schreckens“ stecken hinter den Halloween-Masken der Täter bloß noch entsetzlichere Antlitze – denn die Täter entstammen der Körpermodifikationsszene; ein Mord erst verschafft ihnen ausreichend Ruhm untereinander, um ein neues Gesicht zu erhalten. So hat sich der Sadist hinter der Clownsmaske zum Horrorclown tätowiert, derweil der Kumpan hinter der Teufelsmaske schwarze Kontaktlinsen und allerlei Dornenmasken trägt. Das sieht zumindest auf den ersten Blick nach einer Verunglimpfung einer randständigen Szene, eines Milieus gesellschaftlicher Außenseiter aus, zumal Körpermodifikation bereits in Filmen wie „Red Dragon“ (USA 2002; R: Brett Ratner), „The Cell“ (USA 2000; R: Tarsem Singh), „Dee Snider’s Strangeland“ (USA 1998; R: John Pieplow) oder „Blutmond“ (USA 1986; R: Michael Mann) mit ungesunden Geisteszuständen in einen Zusammenhang gebracht worden ist.

Allerdings kann dieser letztgenannte Aspekt auch positiver betrachten werden. Körpermodifikation würde dann nicht einfach als fremdartig oder entmenschlicht wahrgenommen werden (wie es mitunter auch intendiert ist) und infolgedessen als das Fremde behandelt werden, welches gerade in weniger progressiven Horrorfilmen seit jeher Quell des Bösen ist. Sie könnte stattdessen als Form besonders intensiver Körperwahrnehmung verstanden werden, die der Physis in einer zunehmend virtuell werdenden Welt zu ihrem Recht verhilft: neue Körperformen, aber auch der Schmerz wären Versicherungen des Leibes und die arglosen Haunted-House-Opfer die Bauernopfer eines künstlerischen Projekts. Dieses Projekt selbst wäre freilich eindeutig zu verurteilen, aber zugleich würde damit der Terrorfilm, der Körperhorror und der vermeintliche torture porn als Kunstform ausgewiesen werden, welche radikale Körpererfahrungen generiert und wie die Körpermodifikation selbst ein größeres Bewusstsein für Leiblichkeit ermöglicht. Nach dieser Lesart wären die vermeintliche Verunglimpfung der Körpermodifikation und die nach wie vor streitbare Identifizierung des Fremden mit dem Gefährlichen/Bösen bloß eine bewusst polarisierende Entscheidung.

Indem der Film seine Figuren sadistische Spielchen erleiden lässt, wie sich sich von „Saw“ (USA 2003; R: James Wan) bis „Escape Room“ (USA 2019; R: Adam Robitel) ziehen, indem er sadistische Täterfiguren selbst Hand anlegen und einige Figuren um des Quälens willen quälen lässt, verortet sich der in seinen Gewaltakten reichlich grafische Horrorfilm in dem als torture porn gelabelten Feld. Doch indem er zum einen die Inszenierung von Gewalt innerhalb der Filmhandlung als Faszinosum für die Hauptfiguren erscheinen lässt und indem er zum anderen die durchaus nicht ganz schmerzfreie Körperkunst der Körpermodifikation ins Spiel bringt, reflektiert er sich selbst und diese ganze Sparte des Horror-/Terrorfilms.

Somit nutzen Beck und Woods die selbstreflexiven Ansätze von Hoopers „Das Kabinett des Schreckens“, um den besonders körperbetonten, harten Horror-/Terrorfilm der jüngsten Zeit zu verhandeln, welcher nicht bloß gegen den vorschnellen Vorwurf des Sadismus in Schutz genommen wird, sondern als Medium ausgewiesen wird, das eine (Rück)besinnung auf die Physis ermöglicht, deren (im besten Sinne) perverse, sadomasochistische Modifikation das Gespür für die eigene Identität ebenso schärfen kann wie es die Angstlust in psychischen Gefilden zu tun in der Lage ist.

Dass „Halloween Haunt“ die Angstlust und den Körperhorror – in Stigleggers Band „Terrorkino“ (2010, Bertz + Fischer) als essentielle Bestandteile der Terrorfilms thematisiert – nicht bloß ziemlich passabel zelebriert, sondern beides auch reflektiert und vor dem Hintergrund der Inszeniertheit behandelt, zählt zur großen Stärke des Films. Dagegen erscheint die übermäßig moralisierende (und zugleich in ihrer unnachgiebigen Rachsucht wenig moralisch erscheinende) Emanzipationsgeschichte des final girls wenig originell, modisch und standardisiert zugleich. Und da die Furcht vor dem Fremden trotz alternativer Auslegungsmöglichkeit und trotz einer milderen Verortung des Furchteinflößenden auch in eigenen Familien- und Beziehungsgefügen letztlich eben doch auch sehr willfährig befeuert wird, bleibt insgesamt ein durchaus etwas getrübter, wenngleich tendenziell starker Gesamteindruck übrig.

Holiday- Sonne, Schmerz und Sinnlichkeit

(DEN/NL/SWE 2018, Regie: Isabella Eklöf)

System der Gewalt
von Wolfgang Nierlin

Allein und verloren wirkt die junge Frau bei ihrer Ankunft in der großen, leeren Flughafenhalle von Bodrum. Kurz darauf, während ihrer Busfahrt zu ihrem Feriendomizil, blickt sie uns für einen …

Allein und verloren wirkt die junge Frau bei ihrer Ankunft in der großen, leeren Flughafenhalle von Bodrum. Kurz darauf, während ihrer Busfahrt zu ihrem Feriendomizil, blickt sie uns für einen Moment an. Als stille Beobachter sind wir zugleich Zeugen und Komplizen ihrer scheuen Hilflosigkeit. Sascha (Victoria Carmen Sonne) ist jung und hübsch, naiv und unsicher, abhängig und unterwürfig. Gleich der erste Schlag in ihr Gesicht definiert das Verhältnis von männlicher Dominanz und weiblicher Unterwerfung in einem Klima von Angst und Gewalt, das Isabella Eklöfs beunruhigenden Debütfilm „Holiday – Sonne, Schmerz und Sinnlichkeit“ grundiert. Denn Sascha ist die Freundin eines ebenso smarten wie brutalen Drogenbosses, der mit seinem masochistischen Clan in einer Luxusvilla an der türkischen Riviera residiert und dem süßen Nichtstun unter südlicher Sonne frönt.

Insofern beschreibt „Holiday“ einen Stillstand, der angefüllt ist mit Vergnügungssucht und sexuellem Begehren, während die kriminellen Machenschaften im Hintergrund nur angedeutet werden und vage bleiben. Im Austausch von Macht und Geld ist Sascha das willige Sexobjekt, das sich auf seiner Suche nach Spaß und einem „unkomplizierten“ Leben von dem nihilistischen Gewaltmenschen Michael (Lai Yde) widerspruchslos sexuell ausbeuten lässt. „Es ist schön, hier zu sein“, sagt Sascha, die zwischen Lust und Verfügbarkeit gefangen ist. Und Michael, der davon überzeugt ist, dass nur „Ärger die Welt in Schwung hält“, gibt ihr einmal unmissverständlich zu verstehen: „Alles geht mit der Zeit vorbei. Dann sind wir einfach tot. Merk‘ dir das.“ In der von Narzissmus, Konsumdenken und Macht-Beziehungen beseelten Leere, die der Film beschreibt, bedankt sich das Opfer der Züchtigung bei seinen Peinigern mit Geschenken.

Schonungslos und sehr kalkuliert inszeniert Isabella Eklöf die Helligkeit und Transparenz von Räumen, die die Figuren weniger befreien als vielmehr in ihrer selbstbezogenen Gefangenschaft ausstellen. Alles ist weiß und doch nicht unschuldig. Alles scheint sichtbar und bleibt doch weitgehend verborgen. Eklöf dosiert mit einem elliptischen Stil die Gewalt und schwelenden Abgründe und irritiert die Erwartungen der Zuschauer immer wieder in entscheidenden Momenten mit einer rauen, expliziten Direktheit. Dabei korrespondiert die Statik ihres visuellen Konzepts mit dem Stillstand der Handlung.

Kühl und distanziert ist die Beobachterposition der schwedischen Regisseurin. Als Sascha den holländischen Aussteiger Tomas (Thijs Römer) kennenlernt, der seinen seelenlosen Verkaufsjob gegen ein Boot mit Namen „Felicia“ getauscht hat, scheint plötzlich der Ausbruch in ein anderes Leben möglich. Doch dann bestätigt Sascha unter dem Druck angestauter Aggressionen eher unfreiwillig und zufällig die heillos schädliche Ordnung und integriert sich damit in das System der Gewalt.

Booksmart

(USA 2019, Regie: Olivia Wilde)

Die total beknackte, turbogeile, megafeministische Supersause
von Drehli Robnik

Endlich wieder ein Hollywood-Ulk mit aufgedrehten Frauen, der nicht das Talent von Melissa McCarthy vergeudet. Die kommt hier ja eigentlich auch gar nicht vor. Dafür alles andere, das gut und …

Endlich wieder ein Hollywood-Ulk mit aufgedrehten Frauen, der nicht das Talent von Melissa McCarthy vergeudet. Die kommt hier ja eigentlich auch gar nicht vor. Dafür alles andere, das gut und lustig ist.

„Booksmart“ ist wie ein Teenie-Übergangsritus-Film eben sein muss: In der Nacht vor dem Schulabschluss wollen zwei bestbefreundete Streberinnen binnen Stunden all den Spaß mit all den anderen, die sie in intellektuellem Hochmut verachtet haben, geballt nachholen. Und, nein, diese anderen sind keine Trumpjungwähler, deren Priviligienpanik gestreichelt werden müsste, sondern ein High-School-Chaosbiotop aller Gender, Ethnien und Liebesorientierungen.

Die flotte Regie von Olivia Wilde (ansonsten als Schauspielerin tätig) steht dazu, dass aus der Plotformel resultierende Potenziale gemolken gehören. Und zwar mit Gusto. Also gibt’s mehr von allem: Stationenlauf zu HipHop durch die Nacht, erst zur Yacht mit Drogenbuffet, dann Murder-Mystery-Kostümsoirée, nach der Pizza-Pause weiter zur Pool-Party. Eine Sequenz mit Klamottenanprobe ist Pflicht, eine animierte Barbiepuppen-Rauschvision der Heldinnen – mitreißend wisecracking: Kaitlyn Dever, Beanie Feldstein – ist Kür. Ein taxlernder Schuldirektor und eine Lehrerin auf Aufriss (Jason Sudeikis, Jessica Williams), omnipräsente Käuze und Running Gags (Onanie mit dem Plüschpanda) halten die Moral hoch. Mehr Actionzeitlupen? Noch mehr Flirt- und Sexpannen? Yes!!!

Der Vergleich mit „Superbad“, der Feldsteins Bruder Jonah Hill 2007 zum Star machte, liegt nah und trägt weit, und anders als die Bros von damals können die BFF Homoerotik ausleben (wenn auch nicht miteinander), und sie müssen nicht zwecks Normalpaarbildung aufeinander verzichten. Und als Bonus: Sie müssen nicht, wie das sonst in Außenseiter-Integrations-Komödien oft passiert, einer als lebensfern denunzierten Haltung abschwören, sondern dürfen dürfen trotz aller gezogenen Lebenslehren Feministinnen wie du und ich bleiben und auch ein bissl kapriziös – bevor es im Abspann noch mehr Kondom-Wasserbomben-ins-Gesicht-Zeitlupen setzt. So, genug gelesen: Anschauen, kichern und (wie es die Wiener Donnerstagsdemo so schön sagte) fix zam bleiben!

Bamboo Stories

(DE/BG 2019, Regie: Shaheen Dill-Riaz)

Ausgesaugt
von Jürgen Kiontke

Normalität zu zeigen ist ein Problem im Kino, das doch das Besondere liebt. Die Normalität von Arbeit in ihrer Besonderheit zu zeigen, ist die brillante Kunst des Ausnahme-Dokumentarfilmers Shaheen Dill-Riaz. …

Normalität zu zeigen ist ein Problem im Kino, das doch das Besondere liebt. Die Normalität von Arbeit in ihrer Besonderheit zu zeigen, ist die brillante Kunst des Ausnahme-Dokumentarfilmers Shaheen Dill-Riaz. Seine Alltagshelden zerlegen Ozeanriesen oder pauken den Koran auswendig. Sie haben selten Erfolg. Oft sind sie in einem Gewerbe zugange, das es nicht mehr lange geben wird oder hoffnungslos ist. Dill-Riaz gibt ihnen ein Bild, nein: tolle Bilder.

In seinem neuen Film porträtiert er Bambusarbeiter in Bangladesh. Sie bringen die Stämme zum Fluss, binden sie zu Flößen zusammen und leben auf und mit ihnen die 300 Kilometer bis zum Markt. Im Wald und auf dem Wasser existieren sie nicht auf Stundenrechnung. Es dauert, bis man irgendwo ankommt, und bis dahin wird man von Blutegeln und Mücken angefressen.

Viel Zeit, das Leben in die Kamera zu erzählen. Abgehauen auf die Flöße sind die Bambusschneider vor Ehe, Schule, dem Leben. Es hat sie eingeholt: Jetzt, wo die zwangs-angeheirateten Familien zu Hause warten, hassen sie es, dorthin zurückzukehren. Und die Frauen hassen zurück. Beschweren sich über die Verlierer, die sie geheiratet haben.

Oder das Unglück passiert: wie bei der Frau des Vorarbeiters, die bei der Küchenarbeit verbrannte. Weil sie ihre brennende Kleidung ausziehen wollte, hat sie – die Tradition gebot es – die Tür abgeschlossen, niemand konnte zu Hilfe kommen. Ihr Witwer rennt zur Arbeit vor sich selber weg, hier erzählt er, warum. Eine lebhafte Übersetzung tut in diesem Film ihr übriges: „Ach, du Scheiße!“; „Ich zieh dir die Ohren lang!“ Der letzte Satz geht an den Elefanten, der dort badet, wo die Flöße lang sollen.

Am Fluss warten Piraten und Schutzgelderpressung. Obendrein ist nicht viel Geld im Geschäft. „Ich will angemessen bezahlt werden. Immerhin saugen die Viecher unser ganzes Blut“, sagt der Bambusarbeiter. Sucht euch aus, wer gemeint ist, Mücke oder Chef.

Dieses Parabeluniversum zeige eine Welt, die nach sehr alten Regeln funktioniere, sagt Dill-Riaz. Vor allem die Natur sei in ihr mächtig. „Man muss mit ihr zusammenarbeiten.“

Weitere Erkenntnisse? „Wir könnten uns alle viel mehr handwerklich betätigen. Dann müssten wir auch nicht so oft ins Fitnessstudio rennen.“

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 11/2019

Dolemite is my name

(USA 2019, Regie: Craig Brewer)

Once upon a time … Hollywood adjacent
von Thomas Hemsley

Wenn Eddie Murphy wie angekündigt im Dezember bei „Saturday Night Live“ auftreten wird, wird das ein Comeback sondergleichen, da Eddie Murphys Wichtigkeit für SNL und afroamerikanische TV-Sketch-Comedy allgemein nicht hoch …

Wenn Eddie Murphy wie angekündigt im Dezember bei „Saturday Night Live“ auftreten wird, wird das ein Comeback sondergleichen, da Eddie Murphys Wichtigkeit für SNL und afroamerikanische TV-Sketch-Comedy allgemein nicht hoch genug einzuschätzen ist. Wenn er dann auch noch nächstes Jahr wieder Standup-Comedy machen wird, dann ist das für Fans wahrscheinlich von noch höherer Bedeutung. Wie sein offenkundiges Herzensprojekt über Untergrundlegende Rudy Ray Moore wahrgenommen wird – eben als großes Comeback –, hat mehr mit einer kritischen Rezeption zu tun, die beschränkt und verlogen ist.

Wenn sie schreiben, dass es seine beste Leistung seit fast 30 Jahren sei, dann muss man aber auch einfach feststellen, dass er als ernsthafter Schauspieler zu seiner Hochzeit in den 1980ern gar nicht wahrgenommen wurde. Außerdem tut sich die Kritik schon immer mit Komödien, vor allem mit der hohen Kunst des lowbrow humour schwer. Und Stimmperformances werden selbst im Zeitalter von CGI-Charakteren und Pixar immer noch nicht so richtig gewürdigt. Kinderfilme sind eben genau das: Filme, die man als Erwachsener höchstens zwangsläufig als Elternteil angucken muss. Nur so ist es zu erklären, dass Mehrfachperformances (seine Spezialität) wie die Familienmitglieder der Klumps in zwei äußerst erfolgreichen Filmen, oder seine fein zisellierte Zweifachperformance in „Bowfinger“, oder seine vokale Charakterisierung des Esels im lukrativen „Shrek“-Franchise, die ihn zum gar nicht mal so heimlichen Star dieser Reihe machte – dass nun das alles einfach mal abgewertet wird, indem man jetzt von einem großen Comeback des Stars und Schauspielers Eddie Murphy schwadroniert. Wie gesagt: Seine Rückkehr auf so vielen Plattformen ist durchaus bemerkenswert, aber als Filmschauspieler und Zuschauermagnet war er nie wirklich weg.

Das Einzige, was diese Rolle und Performance von seinen anderen unterscheidet, ist, dass es sich um eine historisch reale Figur handelt (wobei er ja eigentlich gerade als Celebrity-Parodist zu den Besten gehört).

Rudy Ray Moore war gleichzeitig ein Träumer und ein Macher. Er war so sehr davon überzeugt, dass er ein Star sein müsste, dass er relevant sei, dass er sich einfach dazu machte. Eine klassische amerikanische Geschichte von einem Selfmademan, vom Aufstieg von ganz weit unten bis relativ weit oben. Und seine wichtigsten „Talente“ waren dabei ein unglaubliches Selbstbewusstsein, eine geradezu übermenschliche Beharrlichkeit, ein Gespür für „etwas“ (schwierig zu definierendes) und eine allergische Unfähigkeit mit dem „Nein“ umzugehen, das er von Kindheit an immer wieder von allen denkbaren Seiten zu hören kriegte.

© Netflix

In einer von vielen Schlüsselszenen sitzt er mit seinen Freunden im Kino und schaut sich Billy Wilders „The Front Page“ an. Seine Freunde können es nicht fassen, dass das hauptsächlich weiße Publikum sich köstlichst amüsiert, er hingegen ist schon einen Schritt weiter: Er sieht buchstäblich das Licht (des Projektors), wie er seinen bisherigen Erfolg mit seiner „neuen Art“ von Comedy noch weiter ausbauen kann: mit einem Film.

Eddie Murphy bewies den richtigen Riecher, als er sich vor knapp 16 Jahren mit seinem Herzensprojekt an das Drehbuchgespann Larry Karaszewski und Scott Alexander wandte, denn nicht nur waren sie die Autoren des von ihm sehr geschätzten Films „Ed Wood“, sie waren seit ihren gemeinsamen Studententagen auch begeisterte Dolemite-Anhänger. Und obwohl ihnen der Ruf anhängt, allenfalls Biopic-Autoren mit einem Faible für skurrile Randgestalten amerikanischer Popkultur zu sein, sind sie doch weitaus mehr, nämlich regelrechte Kulturhistoriker der Randbereiche Hollywoods und der Unterhaltungsindustrie.

So lernt man in diesem Film etwas über die vergangene Tradition der „Party Records“ (versaute Comedy-Alben), deren Meister Redd Foxx war, die aber auch ein Karrieresprungbrett für hauptsächlich afroamerikanische Standup-Comedians waren, wie z. B. Richard Pryor. Außerdemwird noch der Chitlin Circuit, der afromamerikanische Kleinkunstuntergrund (segregierte Clubs, manchmal auch Scheunen) vor allem im Süden, beleuchtet. Vor allem aber zeigt der Film quasi das Fundament afroamerikanischer Folklore, das Bindeglied z. B. zwischen Muhammed Alis öffentlichem Auftreten, Rudy Ray Moores in der Figur Dolemite gebündeltem Comedy-Stil und heutigem Battle-Rap – the dozens: diese verbale/mentale Wettstreitkultur des kreativen, häufig poetischen (nicht nur der Reimkunst wegen), meist witzigen, maßlos übertreibenden Angebens (Braggadocio, boasting) und das Runterputzen (putdown) des Gegners: „Dolemite is my name, and fucking motherfuckers up is my game.“

Diesem inhaltlichen Blick für historische Details entspricht auch die äußere Form: die Locations (teilweise dieselben, an denen der Film im Film entstanden ist), das Produktionsdesign, die Musik (nicht nur Rudy Ray Moores‘), aber vor allem das Kostümdesign.

Ruth Carter, die nach vielen Jahrzehnten der Arbeit für unter anderem Spike Lee, John Singleton, Robert Townsend und eben auch Eddie Murphy – dabei häufig an afroamerikanischen period pieces wie „Malcolm X“, das Tina-Turner-Biopic „What’s love got to do with it“, Spielbergs „Amistad“, „Selma“ – nun endlich einen wohlverdienten Oscar für „Black Panther“ bekommen hat, beweist einmal mehr, dass sie eine regelrechte afromamerikanische Edith Head ist, indem sie Eddie Murphy und Da`Vine Joy Randolph, Wesley Snipes und das restliche Ensemble im besten Sinne des Wortes gepimpt hat.

Trotz seines Hangs zur Mehrfachperformance, des an arrogante Cockiness grenzenden Selbstbewusstseins und der blitzschnellen Wort-und Denkgewandtheit seiner besten Charaktere (darin ähneln z. B. Billy Ray Valentine und Axel Foley auch Rudy Ray Moore) war er doch stets eher Co-Schauspieler denn alles überstahlender Star. Im Kern sind seine Figuren Underdogs und Außenseiter, die einander verbunden sind. Ein Reggie Hammond braucht eben auch einen Jack Cates, ein Foley braucht Taggert und Rosewood. Und Moore brauchte schon vor dem gemeinsamen Filmemachen seine Entourage.

Diese wird wiederum von einem der besten Ensembles der letzten Jahre gespielt. Der Film wimmelt nur so von Besetzungscoups (Snoop Doggy Dog, T.I., Bob Odenkirk und Chris Rock, um nur ein paar Kurzauftritte zu nennen). Hier sollen nur zwei hervorgehoben werden: Für Wesley Snipes, der hier mal wieder seine komödiantischen Fähigkeiten unter Beweis stellen darf, dürfte diese Rolle und Leistung tatsächlich ein Comeback sein. Wie er den eitlen Pfau von Schauspieler und Regisseur D`Urville Martin gibt, ist eine wahre Freude. Und Da`Vine Joy Randolph ist eine Entdeckung als Rudy Ray Moores Protege und Herz des Films.

Der Film ist vor allem inspirierend. Die Begeisterung, die die Figuren bei ihren Dreharbeiten an den Tag legen, die sie an vulgärem Humor und Gossensprache und afroamerikanischer Folklore haben, überträgt sich auf die Macher und springt wie ein Funken vom Film auf den Zuschauer über.

Ebendiese Vulgarität bewahrt den Film vor allzu viel Sentimentalität, und es ist wohl auch dem Lebenstrotz, dem unbedingten Willen Rudy Ray Moores kein Niemand zu sein, zu verdanken, dass dieses Biopic keine wirklichen Tiefen zulässt, dies ist keine Nummernrevue des Aufstiegs und Falls. Das ist ihm hoch anzurechnen, erlaubt aber auch wenig menschliche Substanz. Das, was er an Substanz hat, entsteht vor allem im Zusammenspiel der Schauspieler, das eine große Loyalität Moores zu seinen Leuten, einen generosity of spirit so groß wie sein Mundwerk vermuten lässt.

Heimat ist ein Raum aus Zeit

(D/AT 2019, Regie: Thomas Heise)

Zweifel und Verzweifeln
von Ulrich Kriest

Nach gut zweidreiviertel Stunden im Kino: „Lieber Heiner, wir sollten uns mal treffen …“ Ein Gesprächswunsch, geäußert in einem Brief der Romanistin, Übersetzerin und Walter-Benjamin-Herausgeberin Rosemarie Heise, Ehefrau des Philosophen …

Nach gut zweidreiviertel Stunden im Kino: „Lieber Heiner, wir sollten uns mal treffen …“ Ein Gesprächswunsch, geäußert in einem Brief der Romanistin, Übersetzerin und Walter-Benjamin-Herausgeberin Rosemarie Heise, Ehefrau des Philosophen Wolfgang Heise, Mutter des Filmemachers. Was folgt, sind O-Töne eines Gesprächs zwischen Wolfgang Heise und Heiner Müller über Bertolt Brecht, das „Wissen der Macht und die Machtlosigkeit des Wissens“ und die „Tragödie des Sozialismus“, das 1986 stattfand und, allerdings in stark bearbeiteter Form, 1988 publiziert wurde. Man staunt nicht schlecht, auf welchem Niveau und mit welcher Verbindlichkeit hier über Ästhetik und Politik diskutiert wird.

Der Film beginnt indes 1912, als Großvater Wilhelm Heise einen pointierten Antikriegs-Schulaufsatz verfasst, dem erst kurz vor Schluss eine patriotische Wende gelingt. Nach dem Krieg wird Heise Kommunist und heiratet Mitte der zwanziger Jahre eine Jüdin aus Wien. Regisseur Thomas Heise selbst liest die Texte aus dem umfänglichen Archiv seiner Familie, das es erlaubt, Material des sehr Privaten entlang der Schrecken und Hoffnungen des 20. Jahrhunderts auszubreiten und Resonanzen zu produzieren. Dabei illustriert die Montage nicht die Texte, sondern schafft durch Bilder von „Nichtorten“ (Marc Augé) wie S-Bahn-Stationen, Fabriken, Steinhaufen, Natur zusätzlich Raum für Reflexion auf Gehörtes. Konsequent verzichtet Heise auf Off-Kommentar, Zeitzeugen und Wochenschau-Material.

Eine beklemmende Montage gilt der Auslöschung der jüdischen Gemeinde in Wien. Während ein Briefwechsel zwischen dem Wiener und dem Berliner Teil der Heise-Familie anschaulich macht, womit „im Osten“ nicht gerechnet wurde, läuft auf der Bildebene endlose Minuten lang die Liste mit den Namen und Adressen der Deportierten, auf der schließlich auch die Wiener Verfasser der Briefe stehen. Ein sehr langer Text, gewichtig am Schluss platziert, stammt von Heiner Müller, entstanden 1992: „Auf der Tagesordnung steht der Krieg um Schwimmwesten und Plätze in den Rettungsbooten, von denen niemand weiß, wo sie noch landen können, außer an kannibalischen Küsten.“

Der Film handelt vom allmählichen Verschwinden einer Utopie, einer geistesgeschichtlichen Tradition, von mangelnder Zeit und fehlendem Raum, von Zweifeln und vom Verzweifeln.

Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 10/2019

Hier gibt es eine weitere Kritik.

Van Gogh – An der Schwelle zur Ewigkeit

(CH/IR/GB/FR/USA 2018, Regie: Julian Schnabel)

Sehnsucht nach Transzendenz
von Wolfgang Nierlin

In Maurice Pialats Meisterwerk „Van Gogh“ aus dem Jahre 1991, das sich auf die letzten Lebensmonate des Malers in Auvers-sur Oise konzentriert, ist der Mensch als Künstler ein radikaler, vor …

In Maurice Pialats Meisterwerk „Van Gogh“ aus dem Jahre 1991, das sich auf die letzten Lebensmonate des Malers in Auvers-sur Oise konzentriert, ist der Mensch als Künstler ein radikaler, vor allem aber einsamer Außenseiter, der sich jeglicher Vereinnahmung entzieht und geradezu schroff auf seine Mitmenschen reagiert. Seine Zurückweisungen halten auf Distanz, seine Unzugänglichkeit schmerzt und seine aggressive Unversöhnlichkeit ist weniger Ausdruck der Verweigerung als vielmehr einer Unerreichbarkeit. Pialats von Gogh (Jacques Dutronc) ist heillos in sich gefangen. Seine fremdartige Unangepasstheit entzieht sich dem Verständnis. Ihm ist nicht zu helfen, weil er sich nicht helfen lassen will oder kann. Krank, schmächtig, ausgemergelt und vom Absinth gezeichnet, hat er immer wieder Momente oder Phasen, in denen er durch gesellschaftliche Übertretungen und Tabubrüche das Leben genießt. Wenn er über seine Arbeit spricht, sagt er: „Die Malerei ist meine Art, zu sticken.“ Er versuche, auf seine Weise zu malen, mehr nicht.

Julian Schnabels Film „Van Gogh – An der Schwelle zur Ewigkeit“ (At eternity’s gate) konzentriert sich dagegen ganz auf dieses Tun, seine Bedingungen und sein Wesen. Die Natur als Ausdruck der göttlichen Schöpfung sowie die intensive Naturerfahrung als Merkmal einer außerordentlichen Sensibilität und Auffassungsgabe legen nahe, dass van Goghs Malen ein göttliches Geschenk ist und der Mensch, der hier gestaltet, ein Genie. „Wenn ich einer Landschaft gegenübersitze, dann sehe ich nichts anderes als die Ewigkeit“, formuliert van Gogh (Willem Dafoe) in Schnabels Film sein transzendentes Erleben, das an der Schwelle zur Sinnestäuschung und Verrücktheit angesiedelt ist. In der Sichtweise des Maler-Regisseurs denkt das zeitlebens unverstandene Genie zugleich über seinen möglichen posthumen Ruhm nach: „Vielleicht bin ich ein Maler für Menschen, die noch nicht geboren sind.“ Folgerichtig sagt wiederum Julian Schnabel: „Die Kunst kann den Tod überwinden.“

Sein eigenwillig, sehr subjektiv gestalteter Film, der sich auf van Goghs ebenso produktive wie problematische Zeit in Arles konzentriert, kreist um diese ewigen Fragen der Kunst und die Praxis des Malens. In der Auseinandersetzung mit seinem Künstlerfreund Paul Gauguin (Oscar Isaac) verteidigt van Gogh seine spontane, schnelle Malweise „in einem Schwung“, mit der er pastos seine leuchtenden Farben aufeinanderschichtet. Schnabels intuitive, fragmentarische Inszenierung, von seinem Bildgestalter Benoît Delhomme mit der Handkamera in einen nervösen, fiebrigen Stil übersetzt, überlässt sich auch in ihrer Perspektive ganz dieser Subjektivität. Und er steigert dieses unruhige, innere Erleben des Malers, das sich auf dem schmalen Grat zwischen Wahn und Wirklichkeit bewegt, noch durch Unschärfen, Über- und Doppelbelichtungen sowie akustische Wiederholungsschleifen. Umso intensiver wirkt deshalb die Ruhe, die aus den mittels Schwarzblende gesetzten Zäsuren aufsteigt und die sich mit Tatiana Lisovskayas klanglich reduziertem, sparsam instrumentiertem Score verbindet. Bis schließlich mitten im Abspann plötzlich für einen langen, bewegenden Moment zu Briefzeilen Gauguins die Leinwand in einem leuchtenden Gelb erstrahlt.

Nevrland

(AT 2019, Regie: Gregor Schmidinger)

Verstörender Seelentrip
von Wolfgang Nierlin

Ein junger Mann mit nacktem Oberkörper läuft durch einen Wald, bis er plötzlich einen Felsvorsprung erreicht und springt. Weil dieser Sprung in Zeitlupe aufgenommen ist, wirkt das, als falle der …

Ein junger Mann mit nacktem Oberkörper läuft durch einen Wald, bis er plötzlich einen Felsvorsprung erreicht und springt. Weil dieser Sprung in Zeitlupe aufgenommen ist, wirkt das, als falle der Läufer ins Leere. Dann taucht er ein in die Tiefe des Wassers, vielleicht in die Tiefe seiner selbst. Denn auf seiner Brust wird ein großes, rotes Feuermal sichtbar; wie man später erfährt, hat er dieses von seiner Mutter geerbt, die das Kind und die Familie früh verlassen hat. Jetzt ist der stille, introvertierte Junge 17 Jahre alt und hat seine Reifeprüfung abgelegt. Jakob (Simon Frühwirth) lebt zusammen mit seinem schweigsamen Vater (Josef Hader) und seinem kranken Opa (Wolfgang Hübsch) in einer grauen, tristen Wohnung von Wien. Im merkwürdigen Beziehungsdreieck dieser mehr oder weniger gleichgültig nebeneinanderher lebenden Männer, vertritt der sensible Junge die Mutter und kümmert sich um den Großvater. Nachts klickt sich der einsame Jakob dann im Internet durch die Pornoseiten der schwulen Community.

Von Anfang an konzentriert sich Gregor Schmidinger in seinem Langfilmdebüt „Nevrland“ sehr intim auf seinen jugendlichen Helden. Dabei folgt er der feinen symbolischen Spur einer Geschichte, deren äußere Koordinaten immer unsicherer werden, sich schließlich aufzulösen scheinen. Als Jakob, der später Kosmologie studieren möchte, seinen Ferienjob in einem Schlachthaus aufnimmt, wird er von augenblickshaften Flashs und Visionen heimgesucht. Jakob fällt, verliert das Bewusstsein. Einmal beschreibt er diesen Zustand als „ein schwarzes Loch in meiner Brust.“

In der Folge leidet Jakob immer häufiger unter Panikattacken, deren Ursache eine Angststörung ist. Gleichzeitig lernt er in einem Internet-Chat den 26-jährigen Künstler Kristjan (Paul Forman) kennen. Doch ob es sich dabei um Traum oder Wirklichkeit handelt, wird schon bald fraglich. Denn Schmidinger verwischt konsequent die Grenze zwischen innerer und äußerer Realität. Bald scheint es, als ob sich Jakob auf einem verstörenden Seelentrip ins dunkle, von Lichtblitzen durchzuckte Innere einer in sich verschlungenen Endlosschleife befände. Gregor Schmidinger übersetzt diese alptraumhafte Reise in die Innenwelt seines Protagonisten wiederum in die zirkuläre Struktur seines Films.

Im Gespräch über die Unsterblichkeit der Seele in der Kunst sagt Kristjan einmal zu Jakob, man müsse Kunst nicht unbedingt verstehen, sondern erleben. Diesem Credo folgt auch Schmidinger in „Nevrland“. Um den beängstigenden Psycho-Horror und das extreme Chaos im Kopf seines Helden erfahrbar zu machen, zwingt er die Zuschauer in eine visuell-akustische Reizüberflutung und unterzieht sie damit einem regelrechten Angriff auf die Sinne. „Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können“, zitiert der junge österreichische Regisseur eingangs aus Friedrich Nietzsches „Zarathustra“. In der Konfrontation mit den Traumata seiner Kindheit führt schließlich auch Jakobs Kreisbewegung im unsicheren Schwebezustand der Jugend ins Helle, Offene.

Bait

(GB 2019, Regie: Mark Jenkin)

Die Snobs sind los
von Marit Hofmann

Der bullige Typ ist so was von geladen. Man sieht es sofort in der Nahaufnahme: die Augen zu Schlitzen verengt. Das Häuschen der Familie mussten die Brüder Martin und Steven …

Der bullige Typ ist so was von geladen. Man sieht es sofort in der Nahaufnahme: die Augen zu Schlitzen verengt. Das Häuschen der Familie mussten die Brüder Martin und Steven als Feriendomizil an snobby Städter verkaufen, die vom Fischerdorf Besitz ergreifen und ihnen das Leben schwermachen; das Boot hat Steven zum Auflugsschiff für Touristenhorden umfunktioniert, und Martin verdient als Fischer ohne Boot „not ’nough“. Auf zum Klassenkampf mit (zunächst in der Tasche) geballten Fäusten!

Auch die Form von Mark Jenkins erstem Langfilm ist rebellisch und traditionsreich zugleich, ein avantgardistisches Kitchen-Sink-Drama (nicht nur wegen der ärmlichen Küchenanrichte als Motiv), das wenig Heutiges an sich zu haben scheint – doch das Radio kündet vom Brexit. Gegen die als Modernisierung verkaufte wachsende Ungerechtigkeit setzt der in Cornwall aufgewachsene und lebende Regisseur grobkörnige Schwarzweißaufnahmen im altmodischen 16-Milimeter-Format, als Stummfilm gedreht und nachsynchronisiert, sowie eine atemberaubend rasante Schnitttechnik.

Hin und her geht es zwischen Fischfang und Tourismus. Bilder der arbeitenden Hand und der Fischereiutensilien, Taue und Netze (die in den Ferienhäusern als maritime Dekoartikel dienen), kontrastiert er mit Bildern der einfallenden sonnenbebrillten Sommergäste, für die die Kühlschränke gefüllt werden.

Wenn die beiden Welten aufeinanderprallen, wird auch die Montage aggressiv, die Handlungen (ein Hummeressen, ein kochendes Liebespaar und ein Showdown im Pub) verschränken sich. Die Parteien, Gesichter im Gegenschnitt, liefern sich Wortduelle, die die Alteingesessenen gewinnen. „Sie haben uns geweckt!“, beschwert sich ein Hipster bei den Motor anwerfenden Fischern. Antwort: „Verschieben Sie die Gezeiten für uns?“ Eine Kellnerin witzelt: „Da vorne redet einer so hochgestochen, dass ich dachte, er spricht Deutsch.“

Doch auf den Höhepunkten der Konfrontation in diesem überraschend fesselnden Kunstwerk verstummt der Ton. Ken Loach wirkt pathetisch und plapperhaft dagegen.

Plötzlich zerbrechendes Glas, ein Bewusstloser. Vorausdeutungen, die erst am Ende, wenn die Bilder im Zusammenhang erscheinen, zu verstehen sind. Nicht nur das Deko-Bullauge im cosy cottage überlebt den Film nicht.

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 11/2019

Parasite

(KOR 2019, Regie: Bong Joon-ho)

Wenn die Vielen in Villen grillen
von Drehli Robnik

Nach Filmen mit gigantisch-fantastischen Sujets wie „The Host“, „Snowpiercer“ und „Okja“ bespielt der Südkoreaner Bong Joon-ho mit „Parasite“ (für den er dieses Jahr die Goldene Palme in Cannes gewann) intime …

Nach Filmen mit gigantisch-fantastischen Sujets wie „The Host“, „Snowpiercer“ und „Okja“ bespielt der Südkoreaner Bong Joon-ho mit „Parasite“ (für den er dieses Jahr die Goldene Palme in Cannes gewann) intime Alltagssettings. Es geht um zwei Familien, jeweils mit Sohn und Tochter, in Seoul: eine mit vollgeräumter Kellerwohnung und Gelegenheitsjobs – eine mit modernistischer Designervilla und parkgroßem Garten hinter Security-Anlagen. Es wird hier noch krass. Und das schleichend.

Intimität heißt in „Parasite“ latente Kollision; sie erfolgt durch eine Home Invasion der trickreichen Art: Die arme Familie verpflanzt ihren Alltag in den der reichen, die nach und nach einen neuen Englisch-Hauslehrer für die Tochter bekommt, dann eine in malerischen Schizophreniesymptomen versierte Kunsttherapeutin für den nervösen Sohn, sowie einen
Chauffeur (Bongs Stammdarsteller Song Kang-ho) und eine Haushälterin, beide lebensklug, für den Unternehmer-Vater, der will, dass daheim Stabilität und Ruhe herrschen, und für die überforderte Mutter, die will, dass traditionell Koreanisches auf den Tisch kommt und selbst aber nicht kochen kann.

Alle vier neu im Haus Angestellten tun so, als kennen sie einander nicht – obwohl sie doch seltsamer Weise nach derselben Billigseife riechen. Als die Herrschaft verreist und das Kellerquartett in der Villa ein Gelage feiert, eskaliert die Grenzüberschreitung (die hier auf verschiedenen Ebenen ein Leitmotiv ist). Das geschieht anders als zunächst erwartet, denn – ach, lassen wir der Thrillersatire den Stolz auf ihre Twists. Nur so viel sei angedeutet: Hierarchiegeladene Räume öffnen sich in verblüffender Staffelung und Belegung – wie das auch in Bongs klaustrophober SciFi-Sozioallegorie „Snowpiercer“ geschah –, und Söhnchens „Indianer“-Zelt ist nicht das einzige archaische Lager, das sich im Verlauf des Plots dem Modernismus der Villa aufpfropft. Die spielerische WalkieTalkie-Kommunikation zwischen Vater und Filius findet ihr Echo in brachialen Licht-Morsesignalen zwischen Konfliktparteien und Generationen. Seht die Signale!

© Koch Films

Ineinander verschachtelte Prozeduren des Sich-Versteckens führen zu reizenden Suspensekonstellationen (etwa wenn die einen sich unter der Couch verstecken, auf der die anderen spontan ein bissl Handjob-Sex haben, dies aber vor ihrem Nachwuchs verstecken); die Spannung löst sich in Ausbrüchen von Slapstickgewalt und Starkregen mit Überflutung; am Ende wird ein Gartenfest in aller gebotenen Ausführlichkeit in den Exzess überführt (ein Szenenpendant zur Monster-Eruption im Naherholungsgebiet am Beginn von „The Host“). Irgendwann hat jemand einen Würstlspieß im Rücken, und ein anderer kann nicht zu lachen aufhören. (Nein, nicht so wie der Typ in dem überschätzten Film.)

Wer hier nun wessen Parasit ist – und wer wessen soziales Wirtstier host – das ist reversibel. Das Relais dieser Beziehungen und ihrer Umkehrungen ist hier die Familie als kategorische Lebensform. Die Familie ist gedoppelt – im Arm-Reich-Kontrast (Massenquartier versus gleichgroßer Kleiderschrank, und: der einen Kanalüberflutungskatastrophe ist der anderen herrlich klare Luft nach dem Wolkenbruch) und im Dienstverhältnis als Direktkontakt. Einst war der Fabriksbesitz der Herrschenden denen, die darin schufteten, ausgesetzt; heute bedürfen die Reichen, weil sie in ihrem Lifestyle so sehr um Perfektionierung besorgt sind, der Service-Skills von diversen Besitzlosen. So wird ihre Abschottung anfällig. Zwar blendet Bongs Fokus auf Facetten von Kognitariat (also Wissens-Proletariat) und „Herr-Knecht-Verhältnis“ kollektivere Zusammenhänge der Ausbeutung, Politik und Alltagsorganisierung aus; aber die Symptomatik des Ungleichheitsirrsinns ist hier schön hysterisch grell ausgeprägt, es kommt also was aufs Tapet, und „gut gemacht“ ist es auch – und, was wichtiger ist, amüsant. „Parasite“ handelt von und ist Klasse.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Parasite“.

Skin

(USA 2019, Regie: Guy Nattiv)

Nazi-Wieder-Mensch-Werdung
von Jürgen Kiontke

Bryon Widner ist ein besonders schönes Exemplar eines modernen SA-Schlägers: Nicht nur, dass er jedem ungefragt in die Fresse haut, er hat sich seine Meinung auch gleich massenweise in die …

Bryon Widner ist ein besonders schönes Exemplar eines modernen SA-Schlägers: Nicht nur, dass er jedem ungefragt in die Fresse haut, er hat sich seine Meinung auch gleich massenweise in die eigene tätowieren lassen. Aber jetzt hat er sich in Julie verliebt, und die steht der rechtsextremen Szene kritisch gegenüber, nachdem sie die verlassen hat: Sie hat schließlich schon drei Kinder und der Nazi-Kram ist nicht gerade karrierefördernd. Und ihr zuliebe will Bryon nun auch aussteigen.

Die Familie ist alles andere als happy über die Entwicklung ihres Sprösslings. Familie Widner liebt Waffen und Adolf Hitler und schüchtert die ganze Stadt ein. Bald geht sie auch auf Bryon los, und zwar aus gutem Grund: Er könnte mit seinem Insiderwissen den Aktivitäten des Klans gefährlich werden. Und tatsächlich arbeitet er mit Menschenrechtsaktivisten und der Polizei zusammen. Die schlägt eine radikale Maßnahme vor: optische Detox, der Tattoo-Nightmare muss runter. Das geht, aber nur mit Laser und ist sehr schmerzhaft.

Die Wieder-Mensch-Werdung tut sehr weh und ist real: Der echte Bryon Widner entkam der Szene, heute hilft er anderen. Der Spielfilm-Newcomer Guy Nattiv hat den Fall des Bryon Widner in „Skin“ als rasanten Action-Thriller verfilmt. Die Schauspieler geben ihr Allerbestes, irre und nah dran. Vor allem die Figur der Julie macht – wie der ganze Film abseits aller gängigen Schönheitsideale – richtig was her: Streckenweise denkt man, hier kloppen sich die Orks aus „Herr der Ringe“.

Widners Ent-Zeichnung zog sich über ein Jahr hin, in wiederkehrenden Szenen sehen wir ihn im OP. Eine Erzählung wie ein umgedrehter Kafka: Dessen Verurteilter in der Erzählung „In der Strafkolonie“ wird getötet, indem ihm eine Hinrichtungsmaschine das Urteil in den Körper einschreibt. Und hier? Bryon findet zum Leben, indem ihm die Zeichen wieder aus dem Körper extrahiert werden. Sehr philosophisch das.

Wo der Film auf leicht wackligen Füßen steht: Der Nazismus tritt in einer für das US-Kino affinen typischen Weise hier als Familienfilm auf. Mit Folgen: Zwar scheuen die buckligen Verwandten nicht davor zurück, auch ihren missratenen Sprössling töten zu wollen. Aber dann entscheidet sie sich für etwas, was im amerikanischen Familienkino richtig weh tut: Sie killen den Hund.

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 10/2019

Heimat ist ein Raum aus Zeit

(D/AT 2019, Regie: Thomas Heise)

Der lange Schatten der Geschichte
von Wolfgang Nierlin

Wie lässt sich im Fluss der Zeit und der stetigen Veränderung Geschichte bewahren? Wie lässt sich das Vergangene für die Gegenwart vermitteln und fruchtbar machen? Und wie lässt sich aus …

Wie lässt sich im Fluss der Zeit und der stetigen Veränderung Geschichte bewahren? Wie lässt sich das Vergangene für die Gegenwart vermitteln und fruchtbar machen? Und wie lässt sich aus der notwendigen historischen Distanz gegen alles Vergessen Zeugnis ablegen? Der Filmemacher Thomas Heise beantwortet diese Fragen im Bewusstsein des Nicht-Abschließbaren, Vorläufigen, das allem Fragmentarischen innewohnt. Im dichten dokumentarischen Gewebe seines tief beeindruckenden Films „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ verschränkt er deshalb sehr persönliche Zeugnisse aus seiner Familiengeschichte mit den politischen Zeitläuften des 20. Jahrhunderts. Eingeteilt in fünf Kapitel verknüpft Heise in der subjektiven Montage seines Filmes schriftliche Zeugnisse von Familienmitgliedern mit aktuellen Aufnahmen historischer und privater Schauplätze. Indem er die Dokumente sprechen lässt, sucht sich das Material in der Montage seinen eigenen Weg zum Zuschauer.

Die Traumata und politischen Verwerfungen der beiden Weltkriege bilden das Hauptmotiv von Heises Reflexion über Zeit und Geschichte. Eingeführt wird es durch einen „häuslichen Aufsatz“, den sein Großvater Wilhelm Heise im Jahre 1912 als Schüler geschrieben hat. Darin beschreibt er ausführlich die schrecklichen Wirkungen und die tierische Natur des Krieges, spricht von „Schlächterei“ und „Verheerungen auf geistigem Gebiet“. Trotzdem lässt er am Ende des Aufsatzes den Krieg als letztes Mittel zur Verteidigung des Vaterlandes gelten. Später, in der Weimarer Republik, wird Wilhelm Heise Lehrer und Kommunist. Er heiratet die aus einer jüdischen Familie in Wien stammende Bildhauerin Edith Hirschhorn. Sie bekommen zwei Kinder, Hans und Wolfgang, und erleiden unter den Nazis schließlich Berufsverbot und Lagerhaft.

Thomas Heise, der alle Textzeugnisse selbst aus dem Off liest, lässt manche Enden offen und knüpft stattdessen neue Erzählstränge. Dabei wechselt er immer wieder die Innenperspektive der Zeitzeugen, die er auf der Bildebene mit privaten Erinnerungsstücken und Dokumenten oder subjektiven Filmaufnahmen gegenwärtiger Orte assoziiert, unter denen verwilderte Landschaften, verfallene Ruinen und vor allem immer wieder Rangierbahnhöfe eine besondere Rolle spielen. Einmal blickt die Kamera minutenlang durch die hintere, von Regen beschlagene Scheibe einer Straßenbahn, die durch Wiener Stadtbezirke fährt, während in den vorgelesenen Briefen zarte Familienbande geknüpft werden. Später tauchen die Wiener Straßennamen zusammen mit den Namen jüdischer Familien auf den langen Deportationslisten auf, die Heise wie ein schier endloses Rollband zeigt, während die Briefe von Ediths Familienangehörigen Auskunft geben von der täglichen Not und Diskriminierung unter den Nazis und der Angst vor der drohenden Deportation.

Unter den grauen Regenschleiern und Schneeverwehungen hindurch folgt Thomas Heise den Spuren seiner Familie durch die politisch angespannte, unsichere Nachkriegszeit bis hinein in die deutsch-deutsche Teilung, die der spätere, 1955 geborene Filmemacher und Theaterregisseur im Osten als Sohn des Philosophieprofessors Wolfgang Heise und seiner Frau Rosemarie, einer Romanistin, erlebt. Die Repressionen und Schatten der Vergangenheit kehren hier unter dem Deckmantel ideologischen Fortschritts und sozialistischer Utopie zurück. Zu spüren bekommt das vor allem der Hochschullehrer Heise, zu dessen Studenten Wolf Biermann zählt und der im Kontakt mit führenden Intellektuellen, wie zum Beispiel Heiner Müller und Christa Wolf, ein kritisches Verhältnis zum Staat als Instrument der Herrschaft unterhält. „Anständig bleiben“, lautet seine Minimalforderung, die auch heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat.

Thomas Heise folgt den Widersprüchen in den Verschlingungen der Geschichte schließlich bis zum Rechtsradikalismus der Gegenwart, um ernüchtert einen scheinbar paradoxen Satz zu formulieren, der kein Resümee sein will, aber eine beunruhigende Erfahrung vermittelt: „Die Narbe schreit nach Wunden.“

Hier gibt es eine weitere Kritik.

Deutschstunde

(D 2019, Regie: Christian Schwochow)

Ich hab nichts gemacht
von Marit Hofmann

Ganz schlechtes Timing für die Filmemacher. Während der Dreharbeiten im Frühjahr erfuhr durch die Berliner Ausstellung „Emil Nolde. Eine deutsche Legende“ eine breite Öffentlichkeit, was längst wusste, wer wollte: dass …

Ganz schlechtes Timing für die Filmemacher. Während der Dreharbeiten im Frühjahr erfuhr durch die Berliner Ausstellung „Emil Nolde. Eine deutsche Legende“ eine breite Öffentlichkeit, was längst wusste, wer wollte: dass der Deutschen Lieblingsmaler Antisemit und Nationalsozialist war, nicht die verfolgte Unschuld, die „Malverbot“ bekommen hatte – eine Legende, der der Deutschen Lieblingsschriftsteller Siegfried Lenz mit seinem Bestseller „Deutschstunde“ zum Welterfolg verholfen hatte. Christian Schwochow und die Skriptwriterin, seine Mutter Heide, betonen im Presseheft jedoch, sie hätten sich in ihrer Neuverfilmung des Romans ohnehin von Nolde „distanziert“.

Das sieht nicht etwa so aus, dass sie Lenzens an Nolde angelehnte Figur des Künstlers, den sein Freund, der Dorfpolizist, und dessen Sohn bespitzeln, zumindest widersprüchlicher zeichnen. Abgesehen von kunstgewerblichen Gemäldevarianten, die auch aus Rechtegründen weniger noldig aussehen sollten, heißt der Maler nicht nur wie im Buch Max Ludwig Nansen (Hans Emil Hansen ist Noldes bürgerlicher Name), sondern erscheint auch hier als grundguter Märtyrer. Der Film wiederholt also Noldes Reinwaschung und Entnazifizierung – mit dem Clou, dass die Macher behaupten, er sei gar nicht gemeint: „Selbst wenn Nolde kein Faschist, Antisemit, Nationalsozialist gewesen wäre“, erklärt der Regisseur, „hätte er mich für diese Geschichte gar nicht interessiert. Schließlich hätte die Fokussierung auf einen realen Künstler und dessen Biografie sich nicht mit dem Anliegen des Films vereinbaren lassen, das Modellhafte und Archetypische der Geschichte zu betonen.“

Die Realität, dass doch mehr Deutsche Nazis waren, als Legendenerzähler Lenz behauptet, passt tatsächlich so gar nicht zum Anliegen des Films, der über zwei Stunden zäh durchs friesische Watt watet. Naturgewalten wie Sturm und Gischt künden symbolisch vom Unheil, das über die Deutschen kommt, denn wie im Roman gilt das Motto: Don’t mention the Shoah! Es gibt keine Juden und im ganzen Dorf keine Nazis außer Vati (und auch der folgt zunächst eher widerwillig den Anordnungen „aus der Hauptstadt“). Die Dorfgemeinschaft hält zu Nicht-Nazi Nansen, und Mutti hängt so an seinen „entarteten“ Bildern, dass die Kinder sie verstecken. Die passiven Frauenfiguren tragen Leidensmienen (da wird selbst „Tiger Girl“ Maria Dragus zum braven Nicht-BdM-Mädchen), und ein Deserteur gibt ein erbärmlich feiges Bild ab.

Diese „universelle Parabel“ beschreibe, schwallt Schwochow, „wie das Gift des Faschismus und der Ausgrenzung wie eine immer schlimmer werdende Krankheit um sich greifen und Menschen und Beziehungen zerstören kann“. Mutter Schwochow sieht „die einzelnen Figuren in solche Extremsituationen geraten, in denen es schier unmöglich ist, das Richtige zu tun“. Jemanden nicht zu denunzieren, scheint heute noch ein Ding der Unmöglichkeit.

Der bräsige Nicht-Nolde Tobias Moretti schließlich schwärmt davon, wie Lenz „ein paar Figuren mitten in die erniedrigendste Situation unserer Geschichte stellt … Die historische Katastrophe wird sichtbar und auch fühlbar in der Zerrüttung und dem Zugrunderichten alles Menschlichen. Dieser ganze Film ist eine unerwartete Liebeserklärung an Deutschland, in seiner ganzen zerrissenen Geschichte und Kultur.“

Muss man mehr sagen? Außer, dass der Film wie ehedem der Roman auf dem Lehrplan deutscher Schulen stehen wird? „Filmpädagogisches Begleitmaterial“ hält der Verleih bereit.

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 10/2019

Midsommar

(USA 2019, Regie: Ari Aster)

Morden von Nerds im Norden, Leiden im Herz bei Heiden
von Drehli Robnik

„Ich weiß schon längst, was kommt!“ Wer das sagt, hat a) viel Lob verdient, aber nicht allzuviel Sinn für Film, b) vielleicht vorlaute Blogs und Kritiken zu Ari Asters seit …

„Ich weiß schon längst, was kommt!“ Wer das sagt, hat a) viel Lob verdient, aber nicht allzuviel Sinn für Film, b) vielleicht vorlaute Blogs und Kritiken zu Ari Asters seit Juli gehypeten Folk-Horrorfilm „Midsommar“ gelesen, c) das Ende von Asters vorigem Sozialhorrorfilm „Hereditary – Das Vermächtnis“ noch im Kopf. In „Hereditary“ eruptierten groteske Rituale von Götzenverehrung kurz, aber mit perfider Konsequenz aus den Windungen bürgerlicher Neurotik heraus (um das gestelzt, aber spoileristisch minimalinvasiv auszudrücken). Etwas Ähnliches verläuft nun in „Midsommar“ als schleichender Prozess unter Schwedens Endlossonne. Was hier kommt, das kommt unvermeidlich.

Nämlich: Eine von einem extremen Familientrauma geplagte amerikanische Studentin (heftig: Florence Pugh) schließt sich der Doktoranden-Nerd-Partie ihres Kaum-noch-Boyfriends an, der nur noch aus Verpflichtungsgefühl bei ihr ist – auf eine Reise ins Herkunftsdorf eines der Stoner-Bro’s, die diesen Trip zunächst als reines Männerprojekt geplant haben. In der grasgrünen schwedischen Provinz tragen alle weiße Roben mit Blümchenapplikationen, grinsen und singen. Naturkult regiert und eskaliert nach strengen mythischen Regeln. Manche Szene ist der Hammer; der kommt auch zum Einsatz. Ein Springritual gibt dem Wort Steinbruch neue Bedeutung. Das Ende brennt. Das ist „Wicker Man“ unter Wikingern – mit einem Holocaust-Subtext (vom „Vergasen“ über eine von der SS als „Fallschirmspringen“ titulierte Ermordungspraxis im KZ Mauthausen bis zum Zusammenhaltspathos einer nordischen Sonnenanbeter-Sekte, das tödlich wird).

Das Bild wabert, die Atmo brodelt, der Score kreischt, immer mehr. Das saugt dich ein. Ebenso die Community, die lange Zeit gerade so selbstreflexiv und alltagsnormalitätsbewusst kommuniziert, dass sich die Plot-Fiktion, jemand würde da nicht sofort das Weite suchen, aufrecht erhalten lässt.

© Weltkino

Letztlich geht es aber gar nicht so sehr darum, uns oder die Filmfiguren irgendwie oberclever an der Nase herumzuführen und uns am Ende eine große Überraschung zu kredenzen. Dass es gewalttätig zugehen wird, ist immer schon klar. Und zwar nicht wegen der Zeichnungen, die vom Vorspann an groß im Bild prangen und einzelne blutige Plotdetails vorwegnehmen, und die in manchen wohlmeinenden Rezensionen groß als Easter Eggs apostrophiert werden. (Dann ist aber der grafisch stilisierte Schuss in eine mit Blut vollaufende Ziel-Optik am Beginn jedes James-Bond-Films auch ein Easter Egg, das die Oberschlauen dahingehend entziffern können, dass im nun kommenden Film vermutlich auf Menschen geschossen werden wird.)

Die Abruptheit, mit der sich am Ende von „Hereditary“ die Nackerbatzi versammelten, war clever nicht im Sinn von Mausefallen-Plotmechanik, sondern gerade in ihrer Abruptheit (ein wenig wie die Spießer*innen-Versammlung am tollen Ende von „Rosemary’s Baby“), die umso mehr festhält, dass es so und nur so kommen muss, ohne dass das im Plot raffiniert eingefädelt worden wäre. Und ebenso funktioniert „Midsommar“ nicht so, dass sich da etwas subtil ominös ankündigen würde – so eine Art von Film sieht anders aus, und es kann super aussehen –, als vielmehr so, dass etwas in aller Eindeutigkeit seinen Lauf nimmt. Ein Unheil, sicher. Das Irritierende daran ist, wie sehr es zum Teil als Heil(ung) fungiert.

Im Vordergrund steht jedenfalls nicht, dass wir schwedische Runen entziffern, sondern dass wir mit Kiffern durch Ruinen schwelgen – durch eine sorgfältig, in gemessenem Tempo gestaltete Textur aus Stückwerken von Middle-Class-Leben und dessen (hallo Doppelsinn!) Verarbeitung im Horrormetier. Sprich: Da ist allerlei am Start, das wir aus Slasher- und Survival Horror-Filmen kennen, vom Erlebnistrip in ein Idyll ganz ohne Netz über übliche Cliquen-Typen (der Schwache, der Streber, der Dillo) bis zu „Wo ist eigentlich Josh?“-Momenten, in denen es schon, immer schon, zu spät ist. Und erst das initiale Trauma! Eine spätestens seit „The Descent“ im Genre kultivierte Erzählfigur, der zufolge die tiefe Verwundung, die ein*e Protagonist*in zu Anfang erleidet, durch die Schreckenserfahrung, von der der Film handelt, gleichsam geheilt, zumindest psychisch durchgearbeitet wird.

© Weltkino

Bei so etwas setzt Ari Asters Sinn für Schmerz und Therapiekultur erst einmal an, und was dann kommt, geht über alle Hipness, die Sektenhorrorfilme derzeit offenbar genießen, ebenso hinaus wie über das Thema einer Beziehungs-Trennungs-Geschichte, als die Aster seinen Film „Midsommar“ kokett bezeichnet hat. Wie in „Hereditary“ sind die Beziehungen, um die es sich dreht, gesellschaftliche und keine von studentischen Pärchen oder kunstsinnig gebildeten Familien. Es geht darum, wie das aussehen kann, wenn das Bürgertum nicht mehr atomisiert, sondern traditional gewachsene Gemeinschaft sein will. Scheusslich sieht das aus. Geborgenheitssehnsucht geht über Leichen – und zwar erstaunlich geradlinig und unbeirrbar, wenn sie sich einmal organisiert hat, um freche Führer oder Netzwerke oder beides. Komm, pack an, wir werden pagan!

(Siehe das Abwerfen dessen, was am Christentum humanitärer, erbarmensethischer Ballast ist, durch „konservative“ Parteien in Europa. Und: Dass „Midsommar“ immer einen Tick zu lang und herzeigefreudig an seinen Ausstattungen hängt, zumal an seinen kultischen Arrangements und Skulpturen, das wirkt nicht nur wie eine Überkompensation für die Kürze am herzeigefreudigen Ende von „Hereditary“, sondern hat auch Teil an dem aufkommenden Eindruck, dass du all die dionysisch brauchtumspassionierte Schönheit, die sich dir da anbiedert, irgendwann nicht mehr sehen kannst. Gut so.)

Der King of Pain des denkenden Horrorkinos zeigt hier, wie ein Lifestyle aus Empfindungskultivierung und Leidenschaftstechnik sein High und sein Heil im heidnischen Modellheim sucht: Erst regiert die Mikrophysik des Schuldgefühls, am Ende die Geborgenheit in Blond, gemeinsam weinend mit Flechtzopffrisur straight outta BdM. Das ist bei allen Blumenkränzen so unverblümt, entgrenzt und arg wie in echt: Auch Religion ist nur eine panvitalistische Genussregion, und unsere Werte sind die Härte. The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore.

Avengers: Endgame

(USA 2019, Regie: Anthony Russo, Joe Russo)

Ein lästiger kleiner Planet
von Thomas Blum

Wenn der Zustand der Welt schon täglich erbärmlicher wird, dann muss sie wenigstens im Kino um so heftiger gerettet werden. Wie zum Beispiel in dem Film „Avengers: Endgame“. Dafür ist …

Wenn der Zustand der Welt schon täglich erbärmlicher wird, dann muss sie wenigstens im Kino um so heftiger gerettet werden. Wie zum Beispiel in dem Film „Avengers: Endgame“. Dafür ist das große Popcornkino schließlich da: um uns das angenehme Gefühl zu geben, dass noch nicht alles verloren ist, um uns Mut zu machen.

Im vorigen Film der „Avengers“-Reihe („Avengers: Infinity War“) haben der schwer unsympathische Superbösewicht Thanos und seine Heerscharen der Finsternis erfolgreich dafür gesorgt, dass die Hälfte der Menschheit pulverisiert wurde: Zack! Seither ist das Dasein unserer überlebenden „Marvel“-Superhelden nicht mehr so prickelnd: Nicht wenige haben ihre engsten Angehörigen verloren, sind niedergeschlagen und haben außerdem jetzt viel Tagesfreizeit, die sie mit Unerquicklichem verbringen müssen wie z. B. Geschirrspülen.

Doch dann kommt die rettende Idee: Einfach per Zeitreise an den entscheidenden Stellen die Vergangenheit aufsuchen – möglichst unter Umgehung der bei Zeitreisen anfallenden Paradoxien -, und dem Superschurken die die Welt im Innersten zusammenhaltenden und in mildem Lavalampenlicht erstrahlenden Infinity-Steine, die er zur Weltzerstörung braucht, rechtzeitig abluchsen. Fertig!

Doch Vorsicht! Dem popkulturell und im „Marvel“-Kosmos Ungeschulten dürfte „Avengers: Endgame“ einigermaßen unübersichtlich vorkommen: Superheldinnen und -helden tauchen plötzlich auf und verschwinden wieder, weil sie gerade irgendwoanders im Weltall eine untergehende Zivilisation retten müssen, oder sie tauchen erst gegen Ende auf, weil sie bis dahin in unterschiedlichen Zeitlinien verschwunden waren. Aber das stört nicht, denn wesentlich ist ja etwas ganz Anderes: dass die Kostüme und Helme schick aussehen und eine gute Passform haben und dass der eine oder andere Witz funktioniert (Thor hat sich einen Pizza- und Bierbauch angefuttert, haha!)

„Avengers: Endgame“ soll der abschließende Film sein, der also, der die über 20 „Marvel“-Filme, die ihm vorausgingen, zu einem Ende führt, das, so ist stark zu vermuten, gleichzeitig ein neuer Anfang sein soll: Neue Prequels, Sequels, Spin-Offs und Filmserien werden wohl kommen, irgendwelche Next-Generation-Superheldinnen und -helden, so steht zu vermuten, denn das „Marvel“-Universum ist logischerweise wie das reale unendlich, und es ist ein gutes Geschäft. Neue Erzählbögen werden gespannt werden, und möglicherweise werden künftig sogar die eher langweiligen Helden des „DC“-Comic-Imperiums (Superman, gähn) mit den originelleren des „Marvel“-Universums in noch knallbunteren, lauteren und noch standardisierter daherkommenden Zackbummfilmen auftreten, denn es gelten die beiden unumstößlichen Gesetze „Mehr ist mehr“ und „Viel hilft viel“. Und alles wird auf die Weise fabriziert sein, die man von dem Comic-Unternehmen gewohnt ist, man kennt das alles ja schon aus den Filmen der vergangenen zehn Jahre: viel Lautstärke, viel Fanfarenklänge, viel Funkensprühen und der übliche Kitschgeigenscore bei herzergreifenden Szenen des Abschieds und Wiedersehens.

Und den selbstironischen Humor bitte immer in kleinen Dosen. Weltrettung geht schließlich vor. Oder besser gesagt: die Rettung dieses „unnachgiebigen, lästigen kleinen Planeten“, wie der Superschurke Thanos die Erde nennt.

Dieser Text erschien zuerst am 26.04.2019 in: Neues Deutschland

Inglourious Basterds

(USA/D 2009, Regie: Quentin Tarantino)

Cpt. Heimatlos
von Thomas Hemsley

„Inglourious Basterds“ handelt nicht wie immer wieder kolportiert vom Holocaust, sondern von der Diaspora. Nicht nur der jüdischen, sondern als eine Art globaler „Gemütszustand“. Entwurzelung, Heimatlosigkeit, Nomadendasein, Entfremdung, Deplatziertfühlen, Heimweh, …

„Inglourious Basterds“ handelt nicht wie immer wieder kolportiert vom Holocaust, sondern von der Diaspora. Nicht nur der jüdischen, sondern als eine Art globaler „Gemütszustand“. Entwurzelung, Heimatlosigkeit, Nomadendasein, Entfremdung, Deplatziertfühlen, Heimweh, Verlust der Kontrolle über den eigenen Lebensraum aber auch Erschließung neuen Lebensraums: Aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlicher Intensität betrafen diese Zustände massenhaft europäische Juden, Roma und Sinti, andere Europäer – auch Deutsche – , Japaner (in ihrem eigenen Land und die, die vorher in Amerika versuchten, eine neue Heimat aufzubauen) und amerikanische Soldaten (die wiederum eh schon verschiedenster Herkunft sind).
Unter der Oberfläche der Rachefantasie und der Versatzstücke aus men-on-a-mission-Filmen (wie der Namensonkel „Ingloroius Bastards“ und „The Dirty Dozen“) brodelt ein vielleicht intuitives Wissen und auch teilweise ein Unbehagen über diese Aspekte des WWII und der Globalisierung schlechthin.

1. Leben und Werk
Eine der faulsten Kritiken an Quentin Tarantino ist, dass er ein reiner Filmnerd (oder wenigstens Popkulturnerd) ist, dessen Filme sich fast ausschließlich aufs Kino beziehen, ohne Relevanz für die reale Welt, weil ja keine reale Welterfahrung gemacht und dann verarbeitet wird. Ebendiese reale Welterfahrung sieht folgendermaßen aus: Gebürtig in Knoxville, Tennessee geboren, hat er seine Kindheit und Jugend teilweise in Knoxville, teilweise in Los Angeles verbracht. Man muss gar nicht die Scheidung, den Cherokee-Anteil oder irgendwelche Küchenpsychologie bemühen, um festzustellen, dass er sich vielleicht ein bisschen mit heimatlicher/häuslicher Instabilität und Fremdheit auskennt. Zumal in seinem Werk genug Spuren zu entdecken sind, ohne dass diese Themen jemals im Vordergrund stünden.

Es gibt in seinen Filmen immer wieder Leute, die eine Zeit lang weg waren, die sich nicht ganz zuhause fühlen, die Fremdkörper sind: In „Reservoir Dogs“ kommt Mr. Blonde gerade frisch aus dem Gefängnis, ganz zu schweigen vom ultimativen Fremdkörper, dem Undercovercop; in „Pulp Fiction“ kommt Vincent Vega bekanntermaßen gerade aus einem mehrjährigen Amsterdam/Europa-Aufenthalt zurück, dann gibt es noch einige Europäer und mit Butch auch ein paar Anspielungen auf Knoxville, Tennessee, wo sich Tarantino vielleicht doch etwas heimisch fühlte, so sehr scheint es immer wieder Bezugspunkt zu sein. In „Jackie Brown“ kommt Louis gerade aus dem Gefängnis und die Hauptfigur ist eine Flugbegleiterin, also eine Figur in ständigem Transit. In „Kill Bill“ ist bezeichnenderweise die Chefin der japanischen Yakuza zum Teil chinesisch, die Heldin war jahrelang im Koma, und Bills großer Monolog handelt (unterschwellig) davon, wie fremd Superman auf der Erde ist, wie sehr seine eigentliche Identität die eines Aliens ist. In „Death Proof“ gibt es in beiden Teilen des Films eine Frau, die von außerhalb kommt, in der zweiten Geschichte, die in Tennessee stattfindet, ist die „Fremde“ z. B. aus Australien. Auch in seinen anderen Filmen bzw. Drehbüchern sind diese roten Fäden zu entdecken und die genannten Filme ließen sich diesbezüglich noch weiter aufdröseln – allerdings ohne dass es jemals thematisch, subtextuell wirklich von Bedeutung wäre. Bis jetzt in IB.

© Universal Pictures

2. Kontrolle des Raums
Landa benötigt in der inzwischen zurecht legendären Anfangsszene keine Landkarte, aber er übernimmt sichtlich die Kontrolle nicht nur des Wohnraums der Familie Padite, sondern scheint die ganze Gegend mit ihren verschiedenen Kuhbauernfamilien – von denen einige jüdischer Herkunft waren – zu beherrschen. Und auch wenn er zur Auslöschung der versteckten jüdischen Familie keine Karte benötigt, so lässt er sich doch zeigen, wo unter dem Holzboden sie sich aufhält. Das wird dann parallelisiert in der ersten Szene, in der wir die Basterds im Einsatz sehen, als Aldo einen Nazi „bittet“, ihm auf seiner Landkarte zu zeigen, wo sich ein Nazi-Hinterhalt versteckt hält.

© Universal Pictures

2.1. Exkurs: Der Bärenjude aus Boston mit dem Baseballschläger
Im Drehbuch gibt es eine kleine „Origin“-Geschichte des Bärenjuden, der aus Boston kommt. Seine Herkunft wurde im Film in seinen kleinen Monolog „verwoben“, denn er redet über Baseball, was zu dem Zeitpunkt der Nationalsport der USA war, somit popkulturelles Gesprächsthema Nummer 1 (quasi das 40er-Jahre-Äquivalent zu Popsongs), aber vor allem auch ein Sport für Lokalpatriotismus, gerade für Bostoner, er spricht also über Boston-spezifischen Baseball. Ob Tarantino dabei bedacht hat, dass es beim Baseball um Heimat (Homerun) und Kontrolle des Raums geht, das Spiel also auch subtextuelle Resonanzen hat, ist unklar, aber auch nicht wirklich wichtig. Passenderweise ist es auch ein Sport, der für jüdische Amerikaner eine sehr große Rolle spielt.

Nicht nur, dass die Darstellung Hitlers komplett parodistisch angelegt ist, er wird bei seinem ersten Auftritt komplett der Lächerlichkeit preisgegeben, indem er sich in einem Raum befindet, an dessen Wänden riesige Karten hängen (und gerade ein riesiges „Königsporträt“ von ihm gemalt wird), die seine Eroberungen/Besetzungen aufzeigen, was aber räumlich so inszeniert ist, dass er unglaublich klein und erdrückt aussieht, ein bisschen wie die kleinen Männer der Coen-Brüder bzw natürlich auch Chaplins „Kleinkriegen“ des größenwahnsinnigen Eroberers in „The Great Dictator“.

© Universal Pictures

Ein anderer Raum mit Karte ist der englische Planungsraum, in dem Lt. Hickox – im Zivilleben ein Filmkritiker mit Schwerpunkt auf deutschem Kino – zu einem Whiskey aus dem Globus-Getränkebehälter über Operation Kino und das Treffen mit der deutschen Filmdiva und britischen Agentin Bridget von Hammersmark in dem französischen Dorf Nadine informiert wird – mit für diese Art von Filmszene obligatorischem Zoom auf ebendieses Dorf auf der riesigen Landkarte. Da dieses Treffen, an dem auch die Basterds beteiligt sein sollen, in einer Kellerkneipe stattfinden wird, ist Aldo aufgrund der strategisch misslichen Lage wenig begeistert. Man kann den Raum schlecht kontrollieren, um das zu thematisieren braucht man keine Landkarte, genauso wie man kein Stonewall Jackson sein muss, um das zu wissen. Entsprechend aus der Kontrolle gerät auch die Situation in der Taverne (siehe Punkt 3).

Im Zusammenhang mit dem Kino als Nazi-Aufführungsort – als eine weitere räumliche Eroberung und Belagerung – geht es auch viel darum, dass Hans Landa als Sicherheitschef die Kontrolle übernehmen muss, das Kino kennen muss, und dabei dann auch Shosannas Büro „besetzt“; wie gut, dass ihn die für Shosannas Plan entscheidenden Räume nicht interessieren – oder ignoriert er sie bewusst?

In gewisser Weise handelt auch der Propagandafilm von räumlicher Kontrolle, denn wäre der Scharfschütze nicht in dem Turm, von dem aus er im wahrsten Sinne des Wortes den Überblick behält, sprich auch die Oberhand über die Feinde, dann hätte er nicht als feindmassenmordender Held überlebt.

3. Die Taverne
In dem französischen Dorf Nadine in einer Taverne im Keller namens La Louisiane wird der Subtext des Films zum Text. Tarantino führt gleichsam das Publikum zusammen mit einigen der Helden in einen Raum bestehend aus einem Geflecht aus Bedeutung und Referenzen, die aber nicht leere Information sind, sondern wiederum das Bedeutungsgeflecht „texturieren“. So erinnert die Szene etwas an die Jack-Rabbit-Slim’s-Szene in „Pulp Fiction“. Die Referenzen sind auch hier popkultureller Natur, aber eben spezifisch deutsch und zeitgemäß.

© Universal Pictures

Man könnte die bei den „Wer bin ich“-Spielen frei flottierenden Referenzen sicherlich gewinnbringend recherchieren (z. B. Genghis Khan, der Eroberer, oder Mata Hari, die Doppelagentin), aber die zwei Hauptspiele quillen schon über vor subtextuellen Resonanzen: Der Frankfurter Soldat Wilhelm, der gerade Vater geworden ist, also naturgemäß heimweh hat, ist der fiktive Apachen-Häuptling Winnetou. Nicht nur die Apachen-Anspielungen im Rest des Films sind hierbei relevant, sondern auch, dass die Ureinwohner Amerikas natürlich eine den Juden ähnliche Nomadenkultur sind, die außerdem so einiges an Genozid, Ghettoisierung (Reservate) und Vertreibung, also Diaspora verursacht durch Europäer und dann Neu-Amerikaner erleiden mussten. Innerhalb des Spiels entfacht sich außerdem eine für diese Interpretation sehr interessante Diskussion, ob die Herkunft der Fiktion oder die (deutsche) Herkunft des Autors (Karl May) entscheidend ist. Wem das dann zu „geschrieben“ wirkt, sollte sich an eigene Diskussionen über die Auslegung von Spielregeln erinnern. Was natürlich sehr trefflich „geschrieben“ ist, ist, dass die entscheidende Begründung für den Vorzug der fiktiven Herkunft gegenüber der auktorialen von niemand geringerem als der Schauspielerin/Doppelagentin Bridget von Hammersmark gegeben wird, die sich hier also quasi gegen die eigentliche Herkunft positioniert.

Wenn dann der Gestapo-Offizier – der eine Art absolutes Gehör für deutsche Dialekte und Akzente hat, das ihm erlaubt, relativ präzise Herkunftszuordnungen zu machen, der aber an dem britischen Agenten scheitert, der eben nicht mit britischem Akzent deutsch spricht, den er dann als (seiner Verkleidung entsprechend) Hauptsturmbannführer (engl. „Captain“) Heimatlos bezeichnet – in dem Identitätsspiel „King Kong“ ist, dann würde das wahrscheinlich genug mit den Themen des Films resonnieren – er betont das aber noch, indem er auf eine Art die Fragen stellt, dass eine Interpretation des Films zugrunde zu liegen scheint, die die Versklavung und Verschleppung von Afrikanern thematisiert, was wiederum mit einigen rassistischen Bermerkungen der Nazis, mit dem afrikanischstämmigen Marcel, mit Tarantinos Faible für afroamerikanische Geschichte und Kultur und natürlich der Parallelisierung mit den Juden in Einklang zu bringen ist.

© Universal Pictures

Abgesehen von den popkulturellen Referenzen könnte man auch darüber nachdenken, dass der Barkeeper ein Deutsch-Franzose zu sein scheint, seine Kellnerin die einzige Französin in der Taverne ist, die noch dazu sprachlich vollkommen überfordert ist (sie kann kein Deutsch wie ihr Chef) und dem Massaker (fast schon der Krieg in metonymischer Form) ziemlich brutal zum Opfer fällt. Und die einzige Überlebende ist sicherlich nicht nur aus dramaturgischen Gründen die Mata Hari dieses Films und die treibende Kraft hinter der Operation Kino – Bridget von Hammersmark.

4. Utopie Kino
Das Kino ist hier nicht nur ein Ort, an dem dem Eskapismus gefrönt wird, sondern im wahrsten und tiefsten Sinne des Wortes ein Zufluchtsort, nicht nur für die flüchtige Jüdin Shosanna, sondern sicherlich auch für ihren Freund und Projektionisten Marcel, ein gebürtiger Franzose afrikanischer Abstammung (der Schauspieler ist in Burkina Faso geboren). Es ist also schon eine Art utopischer Raum für ganz konkret politische Flüchtlinge, aber eben im Allgemeinen (außerhalb des Films) für Menschen, die dem Alltag entfliehen wollen – aus welchen Gründen auch immer. Und am Ende ist es ein Ort, der dazu genutzt wird – von zwei unabhängigen Parteien –, die Nazis zu vernichten und somit ihr dystopisches drittes Reich zu beenden.

Interessanterweise entspricht dieses spezifische Kino der eigentlichen Bedeutung des Wortes „Utopie“: Es ist ein Nicht-Ort, es ist wie so viele fiktive Orte in Filmen ein Amalgam aus gefundener Location (für Außenaufnahmen) und gebauten Kulissen. Bemerkenswert ist das vor allem auch, weil wir so viele einzelne Raumaspekte dieses Kinos zu sehen bekommen, nicht nur den Kinosaal und den Eingangsbereich, sondern auch u. a. den Projektionsraum und diesen kleinen Raum hinter der Leinwand – der Ursprung des Bildes und hinter dem Bild sozusagen. Hinter dem Bild dieses Filmes steckt die Essenz des Kinos. Der Geist des Kinos ist weiblich, jüdisch, so erhaben wie flüchtig, lässt die Luft vor Emotion (wie Wut) und feuriger Leidenschaft vibrieren und lacht Tod und Teufel ins hässliche Gesicht.

© Universal Pictures

5. Nachspiel
Dass es dem Film gar nicht so sehr um die Rache an den Nazis geht, merkt man auch daran, dass das Kino für eine durchaus längere Szene verlassen wird, in der der eigentliche Bösewicht des Films mit den Amerikanern den Ausgang des Krieges – das Gelingen zumindest des explosiven Plots „Operation Kino“ – und sein Leben im amerikanischen Exil verhandeln will. Und nach dem furiosen Finale kehren wir wieder zu diesem Erzählstrang zurück. Was die Nazis und vor allem auch Hitler im Kino „erleben“, ist gar nicht so exzessiv brutal, wie Tarantino könnte: Vergleichsweise dann doch wenig Zeitlupe und Squibs, und das Brennen hätte auch qualvoller sein können. Die Öffnung der Bundeslade in „Raiders of the Lost Ark“, die Roger Ebert als jüdische Rachefantasie interpretiert, ist eigentlich brutaler, phantasmagorischer und nachhaltiger in der Wirkung.

Dem Film geht es also gar nicht um den spezifischen historischen Nationalsozialismus, der eben mit Hitler und seinen Schergen tatsächlich zu Ende ist, auch nicht um den spezifischen historischen Faschismus, der mit Mussolini zu Ende ging. Es geht ihm auch nicht um den menschenverachtenden Totalitarismus, der hinter dem Stalinismus z. B. steckt, sondern um den modernen Smiley-Faschismus, der lacht und rumblödelt, der intelligent und charmant ist, der sich weltgewandt und kosmopolitisch/globalistisch (antisemitisch konnotierte Begriffe) gibt, der sich hinter dem ordnungsbewussten, banalen Saubermann wie Eichmann oder eben dem möglichen neuen Bewohner der amerikanischen Insel Nantucket verbirgt: dieser eiskalte, berechnende, antisemitische und auch auf andere Menschen verächtlich herabblickende, wenn es sein muss nicht nur gewaltbereite, sondern geradezu sadistisch brutale Opportunist, der mit Hans Landa seine ewig gültige fiktive Verkörperung erhalten hat. Und um die „Diaspora“ einzelner Gruppen aber auch einzelner Menschen als unveränderlicher Zustand. Die Juden haben über Jahrtausende gegen extremste Widerstände doch gezeigt, wie das nicht unbedingt ein negativer Zustand ist. Tarantino hat als wirklich international tätiger Regisseur (IB ist eben auch ein sehr europäischer, gar deutscher Film) gezeigt, dass das Leben eines Kosmopoliten nicht den „Bösen“ überlassen werden muss bzw. von ihnen als schlecht definiert wird.

Es gibt genredefinierende, stilprägende, technisch epochemachende Filme. Es gibt Filme, die ihrer Zeit mal mehr, mal weniger weit voraus sind. Aber es gibt auch Filme, die wirken wie aus einer anderen Zeit gefallen und treffen erst mal unbemerkt den Puls der Zeit, allerdings nicht nur eines kurzen Zeitraums (in dem sie trendy und zeitgeisty sind), sondern eines längeren unbestimmten Zeitraums. Solch ein Film ist „Inglourious Basterds“ für das 21. Jahrhundert, das Jahrhundert der endgültigen Globalisierung, weiterer Genozide, Vertreibung und Flucht ganzer Völker, offen erstarkendem Antisemitismus, offen erstarkendem Nationalismus: ein – vielleicht der – Jahrhundertfilm.

Hier gibt es einen weiteren Text zu „Inglourious Basterds“, hier 27 Tarantino-Momente.

Mein Leben mit Amanda

(FR 2018, Regie: Mikhaël Hers)

Anhaltender Schmerz
von Wolfgang Nierlin

Zwei Mal kommt der 24-jährige David zu spät. Es ist Sommer in Paris und das Leben fühlt sich leicht und unbeschwert an. Wind bewegt die Blätter in den Wipfeln der …

Zwei Mal kommt der 24-jährige David zu spät. Es ist Sommer in Paris und das Leben fühlt sich leicht und unbeschwert an. Wind bewegt die Blätter in den Wipfeln der Bäume, auf die ein helles, warmes Licht fällt. Wenn David nicht für die Stadtgärtnerei jobbt, empfängt er für eine Zimmervermittlung am Bahnhof Touristen, um sie zu ihren Quartieren zu bringen. Und weil seine Kunden nicht immer pünktlich sein können, schafft es David nicht rechtzeitig, seine kleine Nichte Amanda (Isaure Multrier) von der Schule abzuholen. Prompt wird er von seiner Schwester Sandrine (Ophélia Kolb) dafür gescholten. Die Englischlehrerin ist alleinerziehend und erklärt in einer der darauffolgenden Szenen ihrer neugierigen 7-jährigen Tochter die Redewendung „Elvis has left the building!“, deren Gehalt bald noch eine Rolle spielen wird. Dann tanzen die beiden ausgelassen zu „Don’t be cruel“. Derweil verliebt sich David in die junge Klavierlehrerin Léna (Stacy Martin), die gerade aus der Provinz nach Paris gezogen ist.

Sehr behutsam und wirklichkeitsnah beschreibt Mikhaël Hers in seinem berührenden Film „Mein Leben mit Amanda“ (Amanda) den Alltag und die Beziehungen seiner Figuren: eine wohltuende Normalität, der man sich als Zuschauer gerne überlässt und die immer weitergehen könnte. Doch wie schon in seinem vorhergehenden Film „Dieses Sommergefühl“ (FR/DE 2016) thematisiert Mikhaël Hers auch in seinem neuen Werk die Zerbrechlichkeit des Lebens und den damit verbundenen Prozess der Trauer. Als sich David eines Abends für ein Picknick mit Freunden in einem Park verspätet, begegnet er bei seiner Ankunft dem nackten Grauen: Terroristen haben die Gruppe überfallen und neben anderen Sandrine getötet. Léna überlebt mit einer schweren Armverletzung. Schon die merkwürdige Ruhe während Davids Fahrradfahrt zum späteren Schauplatz des Verbrechens kündigt das Unheil an. Und am Tag nach dem Attentat liegt eine unheimliche Stille über der Stadt, bevor das Leben weitergeht.

Der Schock und die Sprachlosigkeit bestimmen in der ersten Zeit nach dem schrecklichen Ereignis die schmerzlichen Gefühle der Überlebenden, die vielleicht nur der Zufall gerettet hat und die deshalb unterbewusst ein Schuldgefühl gegenüber den Opfern in sich tragen. Von einem Tag auf den anderen ist alles anders. „Wir haben beide niemanden“, sagt David, der ohne Mutter aufgewachsen ist, zu Amanda, die gerade ihre geliebte Mutter verloren hat. Im Zentrum einschneidender Veränderungen, die vom Gefühl plötzlichen Alleinseins und einer immer wieder überwältigenden Trauer verschärft werden, muss David lernen, als Ersatzvater Verantwortung zu übernehmen und für sich und Amanda einen neuen Weg zu finden. Dabei stützen sich die beiden gegenseitig.

Mikhaël Hers konzentriert sich in seinem einfühlsam erzählten Film über Verlust und Trauer auf die persönlichen Wirkungen des Attentats und blendet öffentliche Reaktionen weitgehend aus. Trotzdem vermittelt er auf subtile Weise auch ein verändertes gesellschaftliches Klima. Durch Ellipsen verdichtet er den anhaltenden Schmerz seiner Figuren, die sich langsam aufeinander zu bewegen und sich dabei auch einer verdrängten Vergangenheit annähern. Entgegen aller Angst ist „das Spiel“ (des Lebens) – in Anlehnung an die eingangs zitierte Redewendung – nicht vorbei. Noch lassen sich die Wunden der traumatisierten Protagonisten und ihren beschädigten Familien heilen. Dafür braucht es Liebe, Vertrauen und Zusammenhalt. Vorsichtig, aber bestimmt öffnet sich Hers‘ Film dieser Perspektive.

Vox Lux

(USA 2018, Regie: Brady Corbet)

Suche nach Erlösung
von Wolfgang Nierlin

Als ein “Portrait des 20. Jahrhunderts” und als “historisches Melodram” hat der Schauspieler und Regisseur Brady Corbet seinen zweiten Langfilm “Vox Lux” bezeichnet. Eingeteilt in zwei Akte unterschiedlicher Länge und …

Als ein “Portrait des 20. Jahrhunderts” und als “historisches Melodram” hat der Schauspieler und Regisseur Brady Corbet seinen zweiten Langfilm “Vox Lux” bezeichnet. Eingeteilt in zwei Akte unterschiedlicher Länge und Handlungsdichte, die von einer verstörenden Exposition und einem fulminanten Finale gerahmt werden, umfasst die erzählte Zeit knapp zwanzig Jahre. Dabei liegt die Konzentration auf der Jahrtausendwende sowie in der Gegenwart des Jahres 2017. Zwischen diesen Eckdaten vermittelt ein Off-Erzähler (Willem Dafoe), der sich zugleich als geschichtlicher Chronist und als Biograph der Popsängerin Celeste (Natalie Portman) verstehen lässt. Öffentliches und Privates, Politik und Individuum sind in seiner und damit Corbets Erzählung so eng miteinander verbunden, dass, so die These, dieser Austausch symptomatisch ist für die ganze Epoche beziehungsweise unsere heutige Zeit.

In „Vox Lux“ geht es deshalb vor allem um den Zusammenhang zwischen Popkultur und Gewalt, Konsum und Terror, was entfernt an Bertrand Bonellos thematisch verwandten Film „Nocturama“ erinnert. Als Überlebende eines Schul-Massakers im Jahre 1999 wird die 14-jährige Celeste (zunächst gespielt von Raffey Cassidy) mit einem Lied, das sie zusammen mit ihrer Schwester Eleanor (Stacy Martin) während eines Gedenkgottesdienstes singt, entdeckt und in der Folge als Superstar aufgebaut und vermarktet. Von der „Ära einer neuen Stimme“ ist die Rede. Dabei zeigt sich das Mädchen im öffentlichen Umgang mit seinem persönlichen Trauma sehr professionell und kooperativ. Celeste arbeitet ehrgeizig und präzise an ihrer Karriere und lässt sich dafür – und teils gegen den Willen ihres Managers (Jude Law) – bereitwillig vermarkten. „Hey, turn the light on, ‚cause I got no one to show me the way“, heißt es in dem Song, der die Wunden einer Erlösung suchenden Nation heilen soll. Doch dann kommt es zu den Terroranschlägen auf das World Trade Center.

In den Jahren, von denen Brady Corbet in seinem heterogen gestalteten Film nicht explizit erzählt, ist Celeste zu einer gefeierten Pop-Ikone geworden, die Erfolg und Ruhm offensichtlich mit privaten Krisen und Abstürzen bezahlt hat. In Gesprächen mit ihrer erwachsenen Tochter (wieder Raffey Cassidy), mit der Presse und ihrem Manager entsteht das Portrait einer gestressten, alkoholkranken Sängerin, die sich als Gefangene ihrer Popularität empfindet und sich deshalb zu verlieren droht. Zwischen der Sucht nach Ruhm und missionarischem Eifer, der Bearbeitung eines Traumas und der Suche nach Erlösung bleibt ihr Schicksal als Spiegel der Gesellschaft in Brady Corbets filmischer Verknüpfung allerdings etwas spekulativ. Celestes „Pakt mit dem Teufel“ als materialistischer Austausch zwischen Gefühlen und Geld, die narzisstische Selbsterlösung der gekränkten Seele in der medialen Verwertungsmaschinerie sowie die im terroristischen Akt vollzogene Aneignung von Macht- und kapitalistischen Symbolen des Erfolgs sind jedoch wichtige Bestandteile einer inhärenten Zeitdiagnose.

Und der Zukunft zugewandt

(D 2018, Regie: Bernd Böhlich)

Ramtatata! Rumtumtumtum! Dideldideldadeldidel!
von Katrin Hildebrand

Oh, diese tiefe Leidensmiene. Die beherrscht Alexandra Maria Lara alias Antonia bestens – und muss sie immer wieder abrufen. Zu Beginn, in Lumpen gehüllt, im grauen sowjetischen Arbeitslager. Später in …

Oh, diese tiefe Leidensmiene. Die beherrscht Alexandra Maria Lara alias Antonia bestens – und muss sie immer wieder abrufen. Zu Beginn, in Lumpen gehüllt, im grauen sowjetischen Arbeitslager. Später in der weiß-bräunlichen, tiptop aufgeräumten DDR-Bude. Ja, selbst noch, als sie mit ihrem neuen Schwarm, dem Arzt Konrad (Robert Stadlober bewahrt trotz aller Seifigkeit ein Lausbubengesicht), in der Sonne Schlitten fährt, zucken ihre Mundwinkel melancholisch. Es ist aber auch ein schweres Schicksal, das den Deutschen widerfahren ist. Die einen hat der Nationalsozialismus in den Untergang gerissen. Die anderen mussten sich in der DDR Stalin unterwerfen.

Nun kann man diesem neuesten Geschichtsfilmerguss immerhin zugute halten, dass er die DDR nicht nur als Horrorstaat schildert und dem Begriff Kommunismus nicht alles unterordnet, was eine rote Fahne schwenken kann. Regisseur Bernd Böhlich ist selbst in der DDR aufgewachsen und arbeitete für das deutsche demokratische Fernsehen. Er weiß wohl zwischen Lenin, Trotzki und Stalin zu unterscheiden. Seine DDR ist denn auch differenzierter gezeichnet als beim hochgepamperten Westschnösel Henckel vom Donnerbalken, der Hitler und Honecker vermutlich nur an der Frisur auseinanderhalten kann.

„Und der Zukunft zugewandt“ bemüht sich wenigstens um Ausgeglichenheit. Hauptfigur Antonia ist eine gute Kommunistin und landete deswegen im Gulag. Nach ihrer Freilassung wird sie liebevoll in der DDR aufgenommen, muss aber über das erlittene Unrecht schweigen – zum Wohle des Sozialismus. Die Debatte über Transparenz, Selbstkritik und das Ertragen von Kontroversen im Kampf um eine bessere Welt ist gar nicht mal so dumm. Dumm nur, dass Böhlichs Drehbuch und vor allem die Inszenierung alles opernhaft aufblasen. Ramtatata – die Leidensmiene der Schmerzensmutter! Rumtumtumtum – ein heroischer Streit zwischen Sozialist, Obersozialist und Nicht-mehr-Sozialist! Dideldideldadeldidel – viel Sentimentales in der Arztpraxis wegen Antonias krankem Kind!

Und dann kommt er doch noch, der Vergleich zwischen Auschwitz und dem Gulag, zwischen Nationalsozialismus und Sowjetunion. Immerhin bricht ein DDR-Funktionär noch eine Lanze für die Singularität des Holocaust – bevor der Film weiter vor sich hin schwulstet.

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 09/2019

Crawl

(USA 2019, Regie: Alexandre Aja)

Schni-schna-schnappi
von Christian Kaiser

Mit „High Tension“ (F 2003) etablierte Alexandre Aja den Terrorfilm als populäres Genre in Frankreich und avancierte sogleich zu einem der international beachtetsten Vertreter des Genres, der künftig in den …

Mit „High Tension“ (F 2003) etablierte Alexandre Aja den Terrorfilm als populäres Genre in Frankreich und avancierte sogleich zu einem der international beachtetsten Vertreter des Genres, der künftig in den USA arbeiten sollte. Basierte sein Remake „The Hills Have Eyes“ (USA 2006) noch auf Wes Cravens gleichnamigen Urgestein des Terrorfilms, so kam „Mirrors“ (D, RO, USA 2008) bloß als etwas härteres Remake eines südkoreanischen Horrorthrillers daher. Sein Tierhorrorfilm „Piranhas 3D“ (USA 2010) suhlte sich dann zwar geradezu in blutrünstigen Bildern, war aber ähnlich wie Joe Dantes Original „Piranhas“ (USA 1978) ein satirischer Vertreter des Subgenres. Stichelte Dante noch mit bierernster Miene, absurden Einsprengseln und subversiven Spitzen gegen das Militär – das in seinem Film vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges menschenfressende, salzwasserresistente Piranhas herangezüchtet hatte –, so zog Aja über eine hedonistische Spring-Break-Kultur her. Zwar war er darum bemüht, das Wüten prähistorischer Piranhas unter freizügig feiernden Jugendlichen nicht rein reaktionär als quasi göttliche Strafe zu inszenieren; mit einem teils drastisch in Szene gesetzten Egoismus, den er einem großen Teil der Feiernden attestiert und sie damit zur Zielscheibe seines Spottes macht, ist das jedoch nur teilweise gelungen. „Piranhas 3D“ war jedenfalls der schwarzhumorig abgemilderte Abschied vom harten Horrorfilm: in Ajas folgenden Langfilmen der 10er-Jahre dominierten dann genau diese gedämpfteren und teils humorvollen Züge.

Nun kehrt Aja am Ende der Dekade wieder ganz unironisch mit einem Tierhorrorfilm zur harten Kost zurück – wenn man einmal von einem frühen Gag und vom „See You Later, Alligator“ während der End-Credits absieht. Die Bedrohung geht diesmal von Krokodilen aus, die schon von „Blutrausch“ (USA 1977, Regie: Tobe Hooper) über „Der Horror-Alligator“ (USA 1980, Regie: Lewis Teague) bis „Killer Crocodile 2“ (I, USA 1990, Regie: Giannetto De Rossi) sowie später von „Lake Placid“ (USA 1999, Regie: Steve Miner) bis „Rogue – im falschen Revier“ (AUS 2007, Regie: Greg McLean) ihr Unwesen im Genre trieben.

„Crawl“ bemüht sich dabei um einen relativ originellen Zugang, indem er Vater, Tochter und Hund während eines Hurrikans im überschwemmten Krisengebiet gleich an eine Vielzahl aggressiver Alligatoren geraten lässt. Und er hält sich zugleich an alle Standards des Tierhorrorfilms. Das beginnt schon beim doppelten Rahmen der Geschichte, der einmal die kleinen, individuellen, persönlichen Dramen der Protagonisten und einmal das große kollektive Drama einer Gesellschaft betrifft. Den kleinen Rahmen bilden meist die Beziehungskrisen, familiären Konflikte und Selbstzweifel der Hauptfiguren. Den großen Rahmen bildet eine unerwartete Bedrohlichkeit der Natur, an der Kommerz, Umweltverschmutzung oder eine bloße Überheblichkeit des Menschen, der sich ganz selbstverständlich für den Mittelpunkt und den Beherrscher der Welt hält, empfindlich in ihre Grenzen gewiesen werden.

In „Crawl“ bildet der tobende Hurrikan Wendy den großen Rahmen der Geschichte. In einer Zeit, in der vermehrt über mögliche Zusammenhänge zwischen immer intensiveren Hurrikans und einem Klimawandel spekuliert wird, in der mit „Beasts of the Southern Wild“ (USA 2012, Regie: Benh Zeitlin), „Hours“ (USA 2013, Regie: Eric Heisserer) oder den „Sharknado“-Filmen (2013-2018) zahlreiche Filme zur Thematik entstehen und in der generell apokalyptische Katastrophenfilme und Dystopien von „2012“ (USA 2009, Regie: Roland Emmerich) über „Snowpiercer“ (KOR, CZ 2013; Regie: Bong Joon-ho) oder „Interstellar“ (CDN, GB, IS, USA 2014, Regie: Christopher Nolan) bis „Geostorm“ (USA 2017, Regie: Dean Devlin, Danny Cannon) boomen und eine neue Ausrichtung aufweisen, ist „Crawl“ somit dicht am Puls der Zeit. Der Film thematisiert zwar nicht den Klimawandel, vor welchem die intensiveren Hurrikans der letzten Jahre mitunter diskutiert werden, greift aber die Warnungen, nicht mit Waffen auf Hurrikans zu schießen, auf und verortet sich somit ganz deutlich in einer Gegenwart, in der Wetter und Menschen gleichermaßen aus der Balance geraten zu sein scheinen.

Auch Haley, die Hauptfigur, ist ein bisschen aus dem Gleichgewicht geraten und ignoriert recht dreist alle Warnungen und Vorgaben der Behörden, um in ihren frisch evakuierten Heimatort vorzudringen, in welchem sich ihr Vater trotz des anrückenden Stufe-5-Hurrikans und trotz steigender Wassermassen aufzuhalten scheint. Womit man beim kleineren Rahmen dieser Tierhorror-Geschichte wäre: Haley wird als ambitionierte Wettschwimmerin eingeführt, die bei einem Wettbewerb zu Beginn des Films knapp am ersten Platz vorbeischrammt. Bald erfährt man, dass ihr Vater sie von Kindheit an getrimmt hat – so sehr, dass seine Ehe daran Schaden nahm, was wiederum die Vater-Tochter-Beziehung stark beschädigte.

Alles läuft nun so, wie man es erwarten darf: Von der Schwester informiert macht sich Haley auf, im evakuierten Krisengebiet nach ihrem Vater zu suchen. Diesen findet sie bald schwer verwundet im Keller des einstigen Familienanwesens wieder – wo sich auch bereits zwei Alligatoren aufhalten und recht schnell die Kellertreppe blockieren. Das Wasser steigt, der Keller wird geflutet, die Zeit wird immer knapper, derweil draußen einige Plünderer weiteren Alligatoren zum Opfer fallen. Es tauchen die obligatorischen Polizisten auf, die dann doch keine Hilfe bieten können; Tochter und Vater müssen zusammenarbeiten und dabei wieder Frieden schließen, derweil sich Haley ihrem Daddy endlich als leistungsstarke Schwimmerin präsentieren kann. Die Kamera achtet indes stets darauf, nur soviel Raum zu zeigen, dass jederzeit die Möglichkeit besteht, dass ein Alligator kurzerhand ins Bildfeld stoßen und Körperteile an- oder abbeißen kann – was natürlich stets dann geschieht, wenn die Suspense-Szenen vorbei und nur scheinbar entspannte Phasen frei für Schockmomente sind. Und freilich wird ausgerechnet der ebenfalls anwesende Familienhund, obgleich er Sugar heißt, Starkregen, Überschwemmung und Alligatorattacken am glücklichsten überstehen.

Im Großen und Ganzen ist „Crawl“ durch und durch konventionell, wenngleich eine Vielzahl aggressiver Alligatoren innerhalb des gefluteten Eigenheims schon einen gewissen Kuriositätenwert besitzt: Doch Aja schafft es trotz altbekannter Standardsituationen und klischierter Versatzstücke, einen fesselnden Spannungsbogen aufzubauen und kaum Zeit zum Durchatmen zu lassen. Dass das kleine Familiendrama und die größere Katastrophe der Bedrohung durch einen Hurrikan keinen nennenswerten Mehrwert mit sich und allenfalls einen Zeitgeist zum Ausdruck bringen, fällt bei der nervenaufreibenden Tour de Force nicht weiter ins Gewicht: Auf dem Sektor des Alligator-Tierhorrorfilms kann sich „Crawl“ dann auch an vorderer, wenn nicht gar vorderster Stelle einfügen.

Messer im Herz

(FR 2018, Regie: Yann Gonzalez)

Schmerzliche Amour fou
von Wolfgang Nierlin

Die Editorin Loïs (Kate Moran) arbeitet nachts am Schnitt eines auf 16mm gedrehten Schwulenpornos. Darin beobachtet im Bildhintergrund ein Voyeur heimlich das Liebesspiel schöner Jünglinge. Während Loïs die Szene montiert, …

Die Editorin Loïs (Kate Moran) arbeitet nachts am Schnitt eines auf 16mm gedrehten Schwulenpornos. Darin beobachtet im Bildhintergrund ein Voyeur heimlich das Liebesspiel schöner Jünglinge. Während Loïs die Szene montiert, mischen sich Tanzende einer in neonblaues Licht getauchten Discothek in die Abfolge der Schnitte. Als sich einer von ihnen aus der Gruppe löst, um in einer Mischung aus Anziehung und Gefahr einer dunklen, maskierten Gestalt zu folgen, geschieht kurz darauf ein brutaler Lustmord. Die Wirklichkeit der filmischen Erzählung und als Film im Film erkennbare Fiktionen zweiten Grades durchdringen sich in Yann Gonzalez‘ vielgelobtem Film „Messer im Herz“ von Anfang an. Dieses Spiel mit unterschiedlichen Realitätsebenen setzt sich fort in den diversen Szenen von Dreharbeiten, in den Projektionen der gedrehten Filme sowie in merkwürdig überbelichteten, schwarzweiß gehaltenen Flashs, die sich als Traum- oder Erinnerungsbilder verstehen lassen.

Bereits in der schillernden, zwischen Lust und Schmerz, Sex und Tod changierenden Exposition seines tabulosen Films erweist sich Yann Gonzalez als cinephiler Eklektiker, der lustvoll die Stile und Genres mixt. Dabei bedient er sich nicht nur bei den Meistern des italienischen Giallo und des Psychothrillers, sondern huldigt auch dem Melodrama und der Subversion eines abseitigen Undergroundkinos. Dario Argento, Brian De Palma, Werner Schroeter und Jean Rollin gehören folgerichtig zu den filmischen Vorbildern im ebenso frivolen wie romantischen, verrückten wie poetischen Kosmos des gefeierten Regisseurs, der seine überschwängliche, exzessive „Ode an alles Weibliche“ bewusst artifiziell gestaltet hat. Die Parallelmontage, die Vermischung der Realitätsebenen und die dadurch vermittelten wechselseitigen Spiegelungen gehören zu den bevorzugten Stilmitteln, mit denen Gonzalez seine Hommage an das (analoge) Kino (der siebziger Jahre) und ans Filmemachen zelebriert.

Im Zentrum seines leidenschaftlichen Filmamalgams steht deshalb die selbstquälerische Amour fou einer Regisseurin namens Anne Parèze (Vanessa Paradis), die billige Schwulenpornos dreht und den Trennungsschmerz von ihrer Schnittmeisterin Loïs mit Alkohol bekämpft. Anne hat Angst und fühlt sich verloren, doch für Loïs gibt es trotz aller Liebe keinen Weg zurück. Als mehrere Darsteller ihres Casts grausam ermordet werden, ändert sie den Titel ihres gerade entstehenden Films „Anale Wut“ um in den kriminalistischeren „Der schwule Mörder“, in dem sie selbst eine maskierte Mörderin spielt. „Je mehr ich dich töte, desto mehr liebe ich dich“, heißt es in einem Chanson, das einer bluttriefenden Erotik-Live-Show zweier Lesbierinnen unterlegt ist. Annes ambivalente Gefühle spiegeln sich darin.

Als die polizeiliche Ermittlungsarbeit stockt, begibt sich Anne schließlich selbst auf die Suche nach dem Serienkiller. Intuitiv und traumverloren taucht sie dabei ein in eine mythische, geheimnisvolle Vergangenheit und in die tragische Geschichte eines jungen Mannes, der sich als eine Art Untoter für erlittenes Unrecht an der Gegenwart rächt. Der verfolgte, ausgestoßene Außenseiter findet in dieser schauerlichen Figur zu seinem Recht. In paradox erscheinenden Wendungen formuliert Yann Gonzalez an dieser Stelle nicht zuletzt ein Plädoyer für das Anderssein in der (sexuellen) Abweichung von der Norm.

Synonymes

(FR/DE/IL 2019, Regie: Nadav Lapid)

Es passiert, was passiert
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein hautnaher Film. Ein Film zum Hingucken. Das ist bitteschön schon was Besonderes, wo wir sonst mit fertigen Meinungen versorgt werden, die „wichtig“ sein wollen. „Synonymes“ muss man miterleben, es …

Ein hautnaher Film. Ein Film zum Hingucken. Das ist bitteschön schon was Besonderes, wo wir sonst mit fertigen Meinungen versorgt werden, die „wichtig“ sein wollen. „Synonymes“ muss man miterleben, es geht nicht anders, und das bei einem hochgradig politischen Thema: Kann ein Jude in Haifa das Leben aushalten? Will er nicht lieber die weite Welt in Paris erleben? Pariser werden?

Regisseur Nadav Lapid, 43, geboren in Haifa, lässt uns teilnehmen an den Unternehmungen seines Helden. Das geht unter die Haut, buchstäblich. Der Integrationswillige findet in Paris einen Platz zum Duschen, aber sein Zeug ist anschließend weg. Nackt und bloß in der Stadt seiner Sehnsucht. Er liefert sich aus; schließlich auch dem Integrationsabenteuer, seit 2002 ein Muss für Einbürgerungsaspiranten. Der Integrationskurs wird zum dramaturgischen Höhe- und Wendepunkt. „In Frankreich gibt es Meinungsfreiheit für alle. Ist das richtig oder falsch?“ Die Schüler stehen auf. „Richtig“, antworten sie im Chor. Brav. Aber später kippt die Lehre. Jetzt ist es der gelehrige Schüler, der „die große Nation“ rettet, „die gerade untergeht“.

Wieder zurück nach Haifa? In die Heimat? Der Film bricht ab. Er hat sein Ziel erreicht. Er hat mich gepackt. Er läuft in mir weiter, auch wenn die Vorstellung längst beendet ist. Gepackt waren auch die Jurys der Berlinale und in Cannes, die „Synonymes“ mit Preisen bedachten. Ein pralles Stück Leben. Zu viel für manche. Antisemitisch diese israelisch-französisch-deutsche Produktion? Ja, es wird gelästert. Zweimal im Jahr werden französische Nazis in Paris provoziert. Kippa auf und rein in die Metro.

Doch in Sekundenbruchteilen sehen wir, wie der Held durch den ewigen Regen hetzt, wie eine rasche Folge üblicher Stadtansichten vorbeirauscht (Pont Neuf, Seine, Eiffelturm) – das Synonym für haltlos, kein Ort zum Bleiben. Ganz anders die Bilder aus Israel, die langen Einstellungen auf dem Berg, die Trockenheit, die Langeweile. Der Held, Soldat, vertreibt sich die Zeit, mit dem Maschinengewehr im Takt eines coolen Songs schießend. Braucht es da noch einen Kommentar?

Lapid, der längst wieder in Tel Aviv lebt, hat mit dem Film sein Leben erzählt. Also keine Meinung verkündet, sondern berichtet. Passiert ist, was passiert ist.

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 09/2019

Pulp Fiction

(USA 1994, Regie: Quentin Tarantino)

„…sweet-talkin to me…“
von Thomas Hemsley

Der Drehbuch-Oscar für „Pulp Fiction“ ist wohlverdient. Nicht nur, dass das Drehbuch schon als es noch unverfilmt in Hollywood kursierte für Furore sorgte, es gehört fundamental zu Quentin Tarantinos eigener …

Der Drehbuch-Oscar für „Pulp Fiction“ ist wohlverdient. Nicht nur, dass das Drehbuch schon als es noch unverfilmt in Hollywood kursierte für Furore sorgte, es gehört fundamental zu Quentin Tarantinos eigener Stilisierung als Filmemacher-Rockstar, dass er erst mal ein Autor ist. Und vieles, das den Film so eindrucksvoll macht, sind „literarische“ Qualitäten: Tarantinos spielerischer und dennoch unglaublich souveräner Umgang mit narrativer Struktur, seine oft jedoch nur oberflächlich imitierten Dialoge, die Charakterzeichnung, die seine Drehbücher denn auch so beliebt bei Schauspielern machen. Schon allein die Namen sind preisverdächtig: der sich reimende (phonetisch) Marsellus Wallace, der auch vom Namen her europäisch wirkende Winston Wolfe, der All-American Boxerproll aus Knoxville, Tennessee Butch Coolidge, die rassige Schönheit (schon vom Namen her) Esmeralda Villa Lobos und natürlich ein Name wie ihn nur Götter und Filmikonen haben können: Vincent Vega!

Erstaunlicherweise wurde der Film in den 25 Jahren, seitdem er einschlug wie ein Meteor, bei aller Bewunderung und Liebe ziemlich oberflächlich „gelesen“, auch und gerade von den vermeintlich von ihm Beeinflussten. Wie organisch und sinnhaft und nicht „schockierend“ die nonlineare Erzählweise ist, z. B., oder dass die „postmoderne“ Referenzialität nicht so sehr ironisierend ist, oder dass die Dialoge eben nicht nur trivialphilosophische Digressionen sind, geht eher unter im Diskurs um den Film und seine Wirkung.

Die wahrscheinlich am besten geschriebene Szene in seinen Regiewerken ist der Fußmassagen-Dialog, der gerne auf ebendiese trivialphilosophischen Aspekte reduziert wird, im besten Fall wird er wenigstens als geschickter Expositionsdialog für die „Mia & Vincent“-Story gelesen. Dass da aber noch viel mehr „exponiert“ wird, wird meist übersehen – sonst hätte die Szene einen höheren Status.

© Studiocanal

Schon bei der kurzen „Diskussion“ über die angemessene Bewaffnung wird ein Chaoselement eingeführt, die Ungewissheit über die Anzahl der „Opfer“ wird quasi den ganzen Film über mehrfach bestätigt. Jede Storyline geht ihren Gang – bis etwas Unvorhergesehenes sie aus der Bahn wirft. Allein unseren beiden Protagonisten in dieser Szene sollte ein Morgen bevorstehen, an dem ihnen drei bzw vier (die bevorstehende Ankunft von Bonnie stört die eh schon verzwickte Marvin-Situation) solcher Störungen passieren. Und der Witz an dieser Situation ist, dass sie ja mit drei, vier Leuten sicher rechnen, also ein fünfter unvorhergesehen wäre, sie dann aber drei vorfinden und der vierte die große Überraschung ist.

So ganz nebenbei wird jetzt erst verdeutlicht, dass die beiden Profikriminelle sind, die auf dem Weg zur Arbeit sind, somit wird erst die folgende „banale“ Unterhaltung zwischen zwei Kollegen/Freunden stilisiert zu etwas, das man sonst nicht in Filmen zu hören kriegt. Das Gespräch um Amsterdam etc. war noch „banales“ Geplänkel zwischen (auch im Drehbuch) noch nicht weiter definierten Figuren: Im Drehbuch wird spezifiziert, dass sie schwarz und weiß sind, was sie anhaben, das Auto, aber eben nicht, dass sie zwei Killer auf dem Weg zu einem Auftrag sind.

Nachdem wir also jetzt eingetreten sind in die Unterwelt, wird sie durch die folgende Anekdote gefüllt mit Charakteren und Beziehungsdynamiken. Neben den zwei kurz skizzierten Protagonisten, die auch im weiteren Verlauf noch auftreten werden, gibt es sogar eine recht detaillierte Figur (auch wieder so ein toller Name und Spitzname: Antwan „Tony Rocky Horror“ Rockamora), die im Film nicht auftritt. Dadurch tut sich eine Art mikrokosmisches Narrativ auf, das aufgrund seiner Offenheit immer weiter bevölkert und mit Geschichten gefüllt werden kann. Dass die Luft dieses Films gefüllt ist mit Ungewissheit, Unvorhergesehenem und vor allem: Möglichkeiten, ist sicher einer der Gründe für den anhaltenden Erfolg, nicht seine vermeintliche oberflächliche „Coolness“.

Lädt man diese Anekdote mit zu viel Bedeutung auf, wenn man behauptet, sie enthält den ganzen Film in a nutshell? Vielleicht wenn das, was man da vermeintlich hineinliest, nicht im ganzen Film immer wieder Resonanz finden würde… Zum Beispiel führt die Geschichte die Ehe zwischen Marsellus und Mia ein, und vor allem eine Bedrohung von außen. Obwohl es ja um „coole“ Gangster geht, gibt es ziemlich viele Ehepaare, deren häuslicher Frieden erschüttert wird. Die Bonnie-Situation handelt davon. Und die Szene mit der Adrenalinspritze wird dadurch so schreiend komisch, weil Lance und Jody sich so schön streiten wie ein altes Ehepaar und sie in einem klassischen amerikanischen Vorort zu leben scheinen. Die Szene mutet an wie eine Familiensitcom über einen Drogendealer und seine Frau, deren traute Zweisamkeit immer wieder durch seine Kunden gestört wird.

© Studiocanal

Und wenn es nicht um Ehe geht dann um young lovers on the run, einem Pulp/B-Movie-Motiv, dem sich QT auch in seinen Drehbüchern zu „True Romance“ und „Natural Born Killers“ widmet. Und wenn die zwei sich Liebenden in „Jackie Brown“ nicht schon älter wären, wären sie Paradekandidaten für diese Art von Film: Das Traurige ist ja, dass sie aufgrund ihres Alters eben nicht on the run sein können/wollen, und sich deshalb auch nicht lieben können.

Und Vincent mag sich noch so sehr dagegen sträuben: Er hat ein Date mit Mia. Ein first date. Vielleicht tatsächlich eine der längsten Szenen, die sich einem ersten Date widmet. Damit stecken in dieser Szene die Keime für eine alternative Geschichte, die auch von der lovers on the run-Sorte wäre. Das macht die Tanzszene ja (auch) so ikonisch, so romantisch, so erotisch, so transzendent, so sublim: Sie vibriert förmlich vor der Möglichkeit, das zu werden, was in Chuck Berrys Song besungen wird. QT nutzt seine Songs häufig sehr textbezogen und ist dabei sehr literal, zumindest was einzelne Textfragmente betrifft. It wasn´t but certainly could have been a teenage wedding. Im Drehbuch ist die Tanzszene übrigens noch kein Wettbewerb, und der Song steht noch nicht fest, aber wie sie beschrieben wird, ist doch sehr bezeichnend:

Vincent smiles and begins taking off his boots. Mia
triumphantly casts hers off. He takes her hand, escorting her
to the dance floor. The two face each other for that brief
moment before you begin to dance, than they both break into a devilish twist. Mia’s version of the twist is that of a sexy
cat. Vincent is pure Mr. Cool as he gets into a hip-
swivelling rhythm that would make Mr. Checker proud.
The OTHER DANCERS on the floor are trying to do the same
thing, but Vincent and Mia seem to be strangely shaking their
asses in sync. The two definitely share a rhythm and share
smiles as they SING ALONG with the last verse of the Golden
Oldie.

Aber zurück zur Geschichte: Auch die Beziehungen zwischen Marsellus – dem heimlichen Zentrum aller Handlungsfäden – und seinen vielen Untergebenen verhandeln, wie in der kurzen Anekdote, Fragen der Loyalität und des Verrats und seiner gewalttätigen Reaktion auf Verrat. Es ist dieser Aspekt, der wie ein Damoklesschwert über Vincent hängt während des ganzen Dates. Und auch über Mia, die Vincent am Ende ihrer ereignisreichen Zeit zusammen vergeblich davon überzeugen will, dass sie so viel Ärger kriegen würde wie er, wenn Marsellus von der Überdosis erfährt. Loyalität, Verrat, Ehe, Liebe… und Fußmassagen. Letzteres ist dann der Aspekt der Anekdote um den es Vincent und Jules hauptsächlich geht; und obwohl das der Teil ist, an den sich alle erinnern, aber eben nicht in seiner vollen Bedeutung für den Rest des Films.

© Studiocanal

Eben nicht nur coole Abschweifung und etwas, worüber man Killer in Filmen nicht reden hört, sondern auch eine sehr geschickte Art die beiden zu charakterisieren: Jules zeigt sich mit seiner kitzelfreien Technik und seiner Bereitschaft, seiner Oma die Füße zu massieren (aber keine Männer), als Pragmatiker – was sich auch im weiteren Verlauf immer wieder bestätigt, denn selbst sein Zugang zu spirituellen Fragen scheint eher rational und pragmatisch zu sein als irgendwie vergeistigt und verklärt: Er hätte erschossen werden müssen, wurde es aber nicht ergo Wunder ergo muss er sein Leben ändern, aber auch nicht für einen großen neuen Lebensentwurf, sondern er lässt es auf sich zukommen, was passiert nach der Lebensänderung. Außerdem erwähnt er so nebenher, dass seine Freundin Vegetarierin ist, was ihn auch mehr oder weniger zu einen macht, obwohl er doch bei einem leckeren Burger nicht nein sagen kann. Außerdem isst er kein Schweinefleisch, nicht aus religiösen oder ethischen Gründen, sondern einfach weil Schweine „filthy“ im Gegensatz zu „dirty“ sind.

Vincent hingegen ist ein Romantiker, ein häufig sehr trotziger und skeptischer zwar, aber ein Romantiker, nichtsdestotrotz: Er ist total fasziniert von den feinen Unterschieden zwischen den USA und Europa, er nimmt das Zerkratzen seines Autos etwas zu ernst, er ist ein Elvis-Mann, er spritzt sich Heroin, die wohl romantisierteste Droge (nicht zuletzt in ebendiesem Film, zumindest wenn er sie nimmt), er liest auf dem Klo Modesty Blaise, er tanzt wie ein Gott, er bläst Mia von ihr ungesehen zum Abschied einen Kuss zu, und er versucht seinen pragmatischen Freund und Kollegen von der Sinnlichkeit von Fußmassagen zu überzeugen.

Vincent Vega ist der Avatar Quentin Tarantinos: Er fährt sein Auto, QT kam für die Dreharbeiten aus Europa (wo er das Buch schrieb) nach L.A. zurück, sie sind beide Elvis-Männer und für Vegas Ansichten zum Thema Fußmassage hatte QT bestimmt keine Schwierigkeiten, sich in den Charakter hineinzuversetzen. Und nicht nur, dass Vega Tarantino am nächsten zu sein scheint, so sehen wir quasi den ganzen Film wie aus seiner Perspektive (nicht im narratologischen Sinne), der ganze Film ist von dem Blick eines Romantikers beseelt.

© Studiocanal

Interessanterweise scheint die Parallelfigur zu Vega/Tarantino in der Gold-Watch-Storyline, in der Vega von Butch getötet wird, eben nicht Butch, sondern dessen französische Freundin Fabienne, die von Maria de Medeiros gespielt wird, die wiederum Anais Nin in „Henry & June“ spielte (June wird von Uma Thurman gespielt) – was deswegen interessant ist, weil QT wohl während seiner Schreibperiode nicht nur pulp fiction las, sondern auch Anais Nin. Kann es sein, dass Anais Nin eine versteckte Inspirationsquelle ist?

Auf jeden Fall ist der Film schon allein stilistisch sinnlicher, als man annehmen sollte. So spielen denn auch Sinnesfreuden nicht nur in dem Fußmassagen-Dialog eine entscheidende Rolle, sondern sind noch öfter Gesprächsthema, nicht nur das, sie werden auch zur Schau gestellt. Der Film ist wie ein Katalog bwz. eine Anthologie, um nicht zu sagen ein Mixtape, der irdischen Freuden. Und wie Hieronymus Boschs Triptychon „Der Garten der Lüste“ zeigt der Film eben auch irdischen Schmerz bzw. stellt auch die Hölle dar.

Es sterben in dem Film acht Menschen, wobei: einer existiert und stirbt nur in Gesprächen (Butchs Boxkampfgegner), und der Tod Zeds findet auch erst nach dem Film statt, aber angeschossen und angedroht wird alles in der insgesamt brutalsten Sequenz des Films (das Höllengemälde sozusagen), in der Marsellus angefahren wird, eine Passantin anschießt (vielleicht das neunte Opfer), verprügelt und vergewaltigt wird. Dann muss man natürlich die erzählte Gewalt gegen Tony Rocky Horror erwähnen (die ihn immerhin sprachbehindert gemacht hat), die grotesken Konsequenzen von Marvins kurzem, sehr plötzlichem Tod und die doch recht unangenehmen Apekte der Geschichte um die goldene Uhr. Dann gibt es noch die zwar glimpflich ausgehende, aber doch recht brutale Erfahrung der Überdosis.

Demgegenüber stehen aber:

– die auffällige Anzahl von Paaren in verschiedenen Stadien ihrer Beziehung – vom ersten Date bis zum domestic bliss, dem ehelichen, häuslichen Frieden.

– auf einem Soundtrack berühmt für den ultracoolen Surfrock sind auffallend viele „romantische“ Songs, deren Texte auch teilweise passgenau sind: Als Vincent Mia zu ihrem Date abholt, legt sie einen Song auf, in dem es darum geht, dass ein junges Mädchen von – ausgerechnet – einem Predigersohn erreicht, verstanden aber auch verführt („…sweet-talkin to me…“) wird. Dann der Twist zu einem Song über eine junge Ehe. Dann tanzt Mia alleine kurz vor der Überdosis zu einem Song über die Frauwerdung eines Mädchens. Und Vincent ist ein Elvis-Mann, was die Möglichkeit eines versteckten romantischen Soundtracks eröffnet („Devil in Disguise“ statt „Son of a preacher man“).

– diese tiefe, auch sinnliche Liebe zur gesprochenen Sprache, in allen Formen: einander im Gespräch kennen lernen, wichtige und unwichtige Themen diskutieren, auch streiten, auch bedrohen und Macht demonstrieren; der Rhythmus, die Melodie, der Flow und die Poesie des zwar stilisierten dennoch alltäglichen Sprachgebrauchs, die (auch spezifisch filmische) Sinnlichkeit des Dialogs.

– es wird in einem Diner Kaffee getrunken und über eine gemeinsame, glückliche Zukunkt gesprochen, und die beiden so offensichtlich Verliebten nennen einander Pumpkin & Honeybunny; die berühmte und viel zitierte Unterhaltung über Marihuana (Drogen jeglicher Art sind bis zur Überdosis positiv konnotiert), Royal mit Käse und diese Neugier eines Reisenden auf die feinen Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern; das Gespräch über die Sinnlichkeit von Fußmassagen, die mit Oralsex (Cunnilingus) verglichen werden, der im weiteren Verlauf auch noch wichtig sein wird; das Reden über und diesmal Essen eines Burger (und das genüßliche Runterspülen mit Sprite); das mysteriöse aber schöne goldene Leuchten aus dem Koffer; eine über 20minütige Sequenz, die in aller Ausführlichkeit im Grunde genommen ein first date ist, auch wenn Vincent die ganze Zeit darauf besteht, dass es kein Date ist: das Eindecken und die Einstimmung mit Heroin, dabei wird ein Gespräch über das wahre Piercen und die Vorzüge des Zungenpiercings beim Fellatio (wieder Oralsex) gehört, das Abholen, Musik wird für Stimmung aufgelegt, zur Einstimmung gekokst und Whiskey getrunken (an dem Vincent erst mal riecht), dann die popkulturelle Romantik die Ikone John Travolta im Jack Rabbit Slim’s durch eine „Wachsfigurenkabinett mit Puls“ schlendern zu sehen mit all den alten Star(lookalike)s, den Postern, der Musik, den Cadillacs… dann lernt man sich kennen, teilt selbstgedrehte Zigaretten und Milchshake miteinander, trinkt Vanille-Coke, isst ein Douglas-Sirk-Steak (Sirk ist nicht gerade für Gangsterfilme oder Exploitation bekannt) und Durward-Kirby-Burger (Kirby war eine TV-Persönlichkeit, die aber nicht für harte Krimis oder Western oder so bekannt ist), schweigt gemeinsam, kokst und dann „the moment you’ve all been waiting for“ (in einem brutalen, schwarzhumorigen Genrepastiche): ein Tanz, dann wird beim Eintreten ins Zuhause getangot, dann Trinken, Rauchen, Musik und alleine tanzen (sie), während er auf dem Klo eine moralische Krise durcharbeitet, weil es doch offensichtlich heftigst knistert zwischen den beiden… nach durchstandener Überdosis erzählt sie ihm noch einen Witz über Tomatenketchup, den sie ihm vorher nicht erzählen wollte, und als sie dann wieder ins Haus geht, der Kuss, den nur der Filmzuschauer sieht…; im weiteren Verlauf des Films wird bei aller Gewalt immer noch geflirtet, gegessen, getrunken, über Essen und Trinken gesprochen, über Eichenmobiliar geschwärmt, über Sinnlichkeit gesprochen, geküsst, Cunnilingus gemacht (mit Konzentration der Kamera auf das beglückte Gesicht der Frau) und Reziprozität versprochen, ausgiebig Zähne geputzt und geduscht, und einander Kosenamen gegeben und geneckt und gekabbelt.

In „Reservoir Dogs“ ist ein Undercover-Cop, der den harten Gangster spielen muss, der zentrale Sympathieträger. In „Kill Bill“ interpretiert Bill Superman-Comics derart, dass die doppelte Identität als Clark Kent die eigentliche Verkleidung ist, Supermans Kommentar auf die Menschheit. Vielleicht ist der Satz, den Jules zum Abschluss des Fußmassagendialogs spricht, ein Schlüsselsatz: „Let´s get into character.“ All dieser Gangsterchic, die Coolness, die Gewalt, der schwarze Humor, die Anleihen bei den härteren Stoffen der Pulpkultur sind nur Verkleidung, das äußere Erscheinungsbild – im (großen, wild pochenden) Herzen ist „Pulp Fiction“ eine romantic comedy. Eigentlich geht es um Liebe, Sinnlichkeit, Freundschaft, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und die großen und kleinen Freuden und Gelüste des Alltags, im speziellen die verschiedenen (nicht nur sexuellen oder romantischen) Formen der oral pleasure (im weitesten Sinne: also reden, essen, trinken, rauchen, küssen und natürlich Oralverkehr). Romance novels sind ja auch ein wichtiger Bestandteil der Pulpliteratur. Und lovers on the run/lam ein beliebtes Subgenre des Crimemovies – eines, das Tarantinos Filmographie bis „Jackie Brown“ entscheidend prägt (siehe auch „True Romance“ und „Natural Born Killers“). Der Sprung von PF zu JB ist gar nicht so groß, da ist die Kluft zwischen RD und PF größer (ganz zu schweigen von der Kluft zwischen RD und dem restlichen 90er-Jahre-Werk).

Komödien können noch so brutal und düster und konfliktreich sein, am Ende muss sich alles in Wohlgefallen auflösen, die Shakespeare-Titel „All’s well that ends well“ und „Much ado about nothing“ sind Programm. So ist das ja auch mit den einzelnen Geschichten, die in PF erzählt werden. Und damit das Herz des Films – Vincent Vega – nicht tragisch endet, wird die Struktur dahingehend geändert, dass der Film an den Anfang zurückkehrt und ein inzwischen veränderter Jules ein Blutbad im Diner verhindert und nicht nur sein Leben potentiell ändert. In den letzten paar Minuten des Films wird eine Ehe gerettet, es bildet sich ein neues Pärchen (Wolf und die Tochter des Schrottplatzbesitzers), ein kleinkriminelles Pärchen wird gerettet und geht festumschlungen in eine ungewisse aber hoffnungsvolle Zukunft – und der Zucker obendrauf: Vincent Vega lebt noch mal und kann mit seinem Freund Jules in einen besseren Morgen gehen.

Hier gibt es eine weitere Kritik zum Film.

Endzeit

(D 2018, Regie: Carolina Hellsgård)

Waldwanderung mit Schmetterlingen
von Thomas Blum

Man ist ja einigermaßen misstrauisch, wenn ein Zombiefilm aus deutscher Produktion angekündigt wird. Der klassische Postapokalypse-Film führt uns eine vom Menschen zugrunde gerichtete, zerfallende oder sonst wie aus dem Ruder …

Man ist ja einigermaßen misstrauisch, wenn ein Zombiefilm aus deutscher Produktion angekündigt wird. Der klassische Postapokalypse-Film führt uns eine vom Menschen zugrunde gerichtete, zerfallende oder sonst wie aus dem Ruder laufende Welt vor Augen, in der das, was wir die Zivilisation zu nennen belieben, endgültig suspendiert ist.

Doch wirft das Genre, indem es eine finstere Zukunft imaginiert, nicht nur einen kritischen Blick auf die kapitalistische Gegenwart. Es geht, die technisch-handwerkliche Seite des Filmemachens betreffend, in nicht wenigen Produktionen, die mit den Mitteln des Thrillers arbeiten, auch um hochgetaktete Schnittgeschwindigkeit, sicheres Timing, Rasanz, Beweglichkeit und Originalität der Kameraführung, um ein liebevolles Design des Szenenbildes, um Formbewusstsein und Atmosphäre, um Dinge also, um die man sich im deutschen Kino wenig schert oder die man nie gelernt hat. Einfach ein paar Leute sprechen und fuchteln lassen, dann mit der Kamera aus einiger Entfernung so draufhalten, dass Oberkörper und Köpfe einigermaßen zu sehen sind, zack – fertig ist der Lack. In den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten jedenfalls hat man im Filmland Deutschland mit dieser reduzierten Ästhetik überwiegend erbärmliche „Komödien“ (Hauptdarsteller hat einen lustigen Hut auf, spricht mit verstellter Stimme, macht Grimassen) und vermeintlich tiefschürfende, kiloschwer mit Bedeutung aufgeladene „Autorenfilme“ hergestellt und so auf sich aufmerksam gemacht. Man ist international berüchtigt und genießt zu Recht einen bestimmten Ruf („Lass mal lieber die Finger davon, ist eine deutsche Produktion“). Deutsche Filme, das weiß man, sind etwas für Liebhaber, so wie etwa auch die schottische Küche.

Ein ausgerechnet in Thüringen angesiedelter Postapokalypse-Film wirkt da einerseits wie eine vertrauensbildende Maßnahme (haha, geiler Trash), weckt andererseits beim Zuschauer aber auch den leisen Verdacht, es mit einem auf moralische Erbauung und Belehrung setzenden Endzeitfilm für evangelische Religionslehrerinnen zu tun zu bekommen. „Endzeit“ erzählt von einer Handvoll Überlebender, die in den letzten beiden von Menschen bewohnten Städten, Weimar und Jena, ihr Dasein fristen. „Eine Seuche hat die Erde heimgesucht.“ Soll heißen: Zombies haben die Erde überrannt, fast die gesamte Weltbevölkerung ist ausgelöscht worden.

© Farbfilm Verleih

Die übrig gebliebene Bevölkerung hat das Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar mit Sonnenkollektoren versehen, mit denen man ein wenig Energie produziert, und baut an sogenannten Schutzzäunen, die eventuelle Zombieattacken aufhalten sollen. Das Umland von Weimar sieht aus wie gewohnt: öde. Hin und wieder scheinen sich ein paar Zombies hierher zu verirren, aber zu sehen ist recht wenig von ihnen, was auch am schmalen Budget des Films liegen mag.

Zwei Frauen – die eine verkörpert den Typus der toughen, robusten Soldatin, die andere ist gerade aus der Psychiatrie entkommen (was für ein hanebüchener Unfug: als gäbe es nach der Zombie-Apokalypse noch so etwas wie eine Psychiatrie!) – wollen Weimar verlassen. Sie begegnen sich in einem Waggon des auf der Strecke liegen gebliebenen fahrerlosen Versorgungszugs, der Weimar mit Jena verbindet. In dem drolligerweise militärisch völlig ungesicherten, unbewachten Zugwaggon liegen passenderweise ein paar Säcke und ein paar Decken und Polster herum, und auf der Zugtoilette haben sich nicht etwa Zombies, sondern Schmetterlinge niedergelassen.

Spätestens da wird man als Zuschauer stutzig: Es geht hier womöglich gar nicht ums Ende der Welt, sondern um deren Rettung durch die Bekämpfung des Schädlings Mensch. Soll heißen: Die Natur („Mutter Erde“) übernimmt den Laden wieder, wenn die Menschen hoffentlich irgendwann einmal endgültig verschwunden sind. Solch menschenfeindliche Wunschfantasien werden in Deutschland, wo „Natur“ traditionell nicht als zerstörerischer Gegensatz zur Zivilisation gedacht wird, sondern als romantisches Postkartenidyll, gern zur „Philosophie“ aufgeblasen. Da keimt ein Verdacht: Wir haben es hier gar nicht mit einer klassischen Dystopie zu tun, sondern mit einer Art verfilmtem Rudolf-Steiner-Märchen bzw. mit einem „Öko-Märchen mit Botschaft“ („Stern“). Doch wollen wir kein vorschnelles Urteil abgeben, warten wir’s ab.

In der Folge begeben sich unsere beiden weiblichen Buddies als eine Art unfreiwillig zusammengeschweißtes Duo auf eine Wanderung durch thüringische Landschaften, weitgehend entvölkertes Gebiet. Es folgt eine Art zähes Stationendrama, in dessen Verlauf, wenn auch die Orte wechseln, nicht allzu viel geschieht: Wald und Wiesen werden durchwandert. Einmal steht eine Giraffe aus dem „Erfurter Zoo“, wie eine der beiden Protagonistinnen weiß, mitten in der Landschaft herum.

Zwischendurch beobachtet man zwar ein paar Zombies beim Ausweiden einer Militärpatrouille, doch die Untoten scheinen wundersamerweise keine Gefahr für die beiden Frauen darzustellen, die die in deutschen Filmen üblichen esprit- und humorfreien Quatschdialoge von sich geben: „Ich wollte immer Fotografin werden. Meine Schwester ist noch da draußen.“ – „Hast du sie geliebt?“ – „Meistens habe ich sie gehasst.“ Gähn. Später kommen noch Dialoge hinzu, die teils nach Esoterikmesse, teils nach grünem Sponti-Gelaber aus den 80ern klingen: „Glaubst du, wir werden geprüft?“ – „Ich glaube, die Erde ist eine kluge alte Frau und die Menschen haben lange keine Miete bezahlt, und das da draußen ist die Räumungsklage.“ Selbst der nicht immer treffsicher urteilenden Zeitschrift „epd film“ muss an dieser Stelle etwas aufgefallen sein: „Mitunter trägt der Film, auch in den Dialogen, etwas zu dick auf.“ Doch rasch weiter im Stationendrama: Unsere zwei Heldinnen durchstreifen eine Art verwunschenes Burggemäuer, wo sie auf Gurken stoßen, aber auch auf Zombies, die es zu erlegen gilt.

© Farbfilm Verleih

Kurz darauf treffen sie auf eine Frau, der Unkraut aus dem Kopf wächst, die Öko-Landwirtschaft betreibt und sich selbst die „Gärtnerin“ nennt, allem Anschein nach eine Art Vorreiterin einer mutierten und neuen, im Entstehen begriffenen Spezies Mensch. Sie gibt allerlei esoterisches Geschwätz und dunkelromantisch-reaktionäre Kalendersprüche von sich, die allesamt klingen, als hätten Botho Strauß, der Dalai Lama und Juli Zeh gemeinsam Tagebuch geschrieben: „Es gilt, die Chance zu nutzen, die uns der Untergang bietet. Alles ändert sich, im Chaos liegt Frieden. Es wird etwas Neues entstehen. Die Gier der Menschen war nie unter Kontrolle. Sie hätten das Paradies haben können.“ Spätestens jetzt weiß man: Der Film ist nicht mehr zu retten.

Bei der „Frankfurter Allgemeinen“ hingegen scheint man relativ begeistert darüber, dass man in Deutschland sogar in der Lage ist, auch aus einem Thema wie der Apokalypse noch bildungshubernden Landschaftskitsch herauszupressen bzw. herauszuheideggern: Wie die Kamera „die thüringische Landschaft einfängt, ist nicht nur eine Augenweide, sondern zudem ein Grundkurs in romantischem Sehen – ›romantisch‹ verstanden im geistesgeschichtlichen Sinn des Wortes, das ja nicht zuletzt in Jena seinen deutschen Ursprung hat“.

Auch ein letzter Blick ins Presseheft bestätigt schließlich das schon beim Betrachten des Films empfundene Gefühl, dass es extrem katrin-göring-eckardt-haft und zugleich irgendwie diffus ernst-jünger-artig zugeht: „Auf ihrem Weg finden die jungen Frauen keine finstere Endzeit-Welt, sondern eine berauschend schöne Natur vor, die sich alles zurückerobert hat, was sie einst Zivilisation nannten.“ Bei dem Film, so heißt es weiter, handele es sich um eine „mystisch-märchenhafte Dystopie“. Man könnte ihn aber auch als reaktionären Naturglorifizierungskäse bezeichnen.

Wie sagt eine der beiden Protagonistinnen am Ende des Films so schön? „Weißt du, was das Gute an unserer Apokalypse ist? Man kann wieder alle Sterne sehen.“

Dieser Text erschien zuerst am 21.08.2019 in: Neues Deutschland

Ich war zuhause, aber…

(DE/SRB 2019, Regie: Angela Schanelec)

Spuren des Abwesenden
von Wolfgang Nierlin

In einer hellen, felsigen Graslandschaft jagt ein Hund ein Kaninchen. Dieses hält inne, lauert, atmet schwer. In einem Stall, der vielleicht nur ein verwahrloster Raum ist, zerfleischt das stärkere das …

In einer hellen, felsigen Graslandschaft jagt ein Hund ein Kaninchen. Dieses hält inne, lauert, atmet schwer. In einem Stall, der vielleicht nur ein verwahrloster Raum ist, zerfleischt das stärkere das schwächere Tier. Ein Esel schaut zu, teilnahmslos, blickt uns für einen Augenblick an, erinnert uns an denjenigen, von ausweglosem Leid geprüften in Robert Bressons „Zum Beispiel Balthasar“ (FR/SWE 1966).

Zum Beispiel das Gegeneinander in der Wildnis des Lebens: Im Dämmerlicht, kurz vor dem Ende der Dunkelheit, kehrt ein Junge zurück, schweigsam und verdreckt. Er meldet sich in seiner Schule, wird von seiner Mutter abgeholt, die sich ihm zu Füßen wirft, schwer atmend. Ein sakrales Bild: Die Anbetung des geretteten Kindes, der Trost darüber, vielleicht Erleichterung. Doch der Junge, der Phillip (Jakob Lassalle) heißt, ist am Fuß verletzt. Die müden, ratlosen Lehrer wissen nicht, was zu tun ist mit der (schulischen) Zukunft des Jungen. „Ein Unglück jagt das andere“, wird bei einer Theaterprobe von Schülerinnen und Schülern aus Shakespeares „Hamlet“ zitiert.

In Angela Schanelecs existentiellem Film über das Leben als Krise und fortwährenden Kampf gibt es keine Lösungen für die Konflikte und Probleme, sondern allenfalls eine Besänftigung, die aus der Natur kommt oder sich mit ihr verbindet. „Jedes Urteil ist undenkbar und falsch“, sagt Astrid (Maren Eggert) zu den Lehrern ihres Sohnes über das, was sich dem Verstehen entzieht. Die alte, in die Aporie führende ontologische Frage nach dem Verhältnis von Sein und Werden steht hinter diesem Satz. Astrid, die an der Uni arbeitet, ist eine Mutter in Sorge. Der Filmtitel „Ich war zuhause, aber…“, inspiriert von einem Titel („Ich wurde geboren, aber…“) des japanischen Meisterregisseurs Yasujiro Ozu, formuliert bereits die Einschränkung, den Widerspruch und das Innehalten. Astrid, die allein zwei Kinder erzieht, hat vor wenigen Jahren ihren Mann verloren, der Theaterregisseur war – was sich auch als ein autobiographischer Hinweis Schanelecs verstehen lässt. Jetzt legt sie sich eines Abends auf dessen Grab.

Die Trauer ist noch nicht zu Ende, aber David Bowies „Let’s dance“ in der reduzierten Version von M. Ward, die plötzlich über dem Friedhof erklingt und zu einem vielleicht heilsamen Tanz vor Phillips Krankenbett führt, setzt einen Kontrapunkt. Ungewissheit, Schmerz, Einsamkeit bleiben trotzdem davon unberührt. „Ein Kerker sei mein Ankerplatz auf Erden“, heißt es im „Hamlet“.

Weil sich die Wahrheit des Leidens mit der Lüge des Schauspiels nicht darstellen lässt, verzichten Schanelecs Figuren auf alles Mimetische, das Illusion erzeugen oder zur Identifikation verleiten könnte. Damit korrespondiert wiederum das Absehen von äußerer Dramatik und einer geschlossenen Handlung. Stattdessen inszeniert Angela Schanelec sehr sinnlich, frei und immer überraschend Fragmente in der Zeit, blickt lange auf Details wie Füße und Hände, sinnt ihnen nach, gestaltet sie zu Denkbildern oder taucht sie in die Aura flüchtiger Meditationen.

An anderer Stelle sucht sie im Nachhall der Bilder, beispielsweise von Räumen, Spuren des Abwesenden. Die Wahrheit erscheine nur dort, wo man die Beherrschung verliere, also im richtigen Leben, sagt Astrid einmal. Angela Schanelecs Film handelt deshalb auch von der Differenz zwischen Kunst und Leben.

Hier gibt es einen weiteren Text zum Film.

Ich war zuhause, aber…

(DE/SRB 2019, Regie: Angela Schanelec)

Eine Wundertüte
von Ulrich Kriest

Die Filme von Angela Schanelec sind ein zuverlässsiger Lackmustest. Für Leute, die ins Kino gehen, weil es „Traumpalast“ heißt. Die in Filme eintauchen wollen. Die eine einfache Geschichte gerne linear, …

Die Filme von Angela Schanelec sind ein zuverlässsiger Lackmustest. Für Leute, die ins Kino gehen, weil es „Traumpalast“ heißt. Die in Filme eintauchen wollen. Die eine einfache Geschichte gerne linear, doppelt und dreifach erzählt bekommen wollen. Für die Kunst an der Kasse gewogen wird. Die den Begriff Filmkunst pejorativ meinen. Um es mit der Regisseurin Jutta Brückner zu sagen: „Die unheimliche Unmündigkeit des Zuschauers bildet sich ab im flachen Terrain des psychologischen Erzählkinos mit seinem Verismus.“

Nun hat Angela Schanelec, die in Gesprächen über ihre Filme eher „vielleicht“ sagt und zu denen zählt, die nicht „liefern“, einen neuen Film gedreht, der auf der Berlinale 2019 mit dem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnet und sogleich kontrovers diskutiert wurde. Oder umgekehrt.

Ein 13jähriger, eine Woche verschwunden, kehrt nach Hause zurück, verdreckt und verletzt. Ein Bruch, der gegen die Rückkehr der Normalität arbeitet. Eine Mutter, die nach dem Tod des Partners versucht, die Dinge am Laufen zu halten. Die selbst berufstätig ist, Verlustängste hat. Der Lehrkörper an der Schule des Jungen, der über eine Haltung gegenüber dem Schwänzer diskutiert. Daneben: ein Fahrradkauf, ein Museumsbesuch, eine Debatte über Kunst und Lüge, ein Kinderwunsch.

Anders als frühere Filme Schanelecs ist „Ich war zuhause, aber…“ kein Ausflug nach Schwermut Forest, sondern von unerhörter Leichtigkeit. Weil hier so erzählt wird, wie erzählt wird. Die Abkehr von konventionellen Szenenauflösungen und Erzählverfahren ist derart entschieden, dass ein ganz wunderbarer Witz entsteht. Jede Szene ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Referenzen an das Kino von Robert Bresson und Yasujirō Ozu. Maren Eggert, die die Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs spielt, entwirft sich in jeder Szene neu. Dazu Musik: eine selbstvergessene Version von „Moon River“ und eine Familienchoreografie zu einer Version von David Bowies „Let’s Dance“. Man kommt aus dem Schwärmen gar nicht mehr raus beim Sehen dieser Wundertüte, die so eigentümlich unterhält wie sonst nur Godards „Nouvelle Vague“ und Huillet/Straubs „Klassenverhältnisse“.

Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 08/2019

Hier gibt es eine weitere Kritik zum Film.

Acid

(RU 2018, Regie: Alexander Gorchilin)

Willenlose Destruktivität
von Wolfgang Nierlin

Diese Jugend kennt sich selbst nicht. Wenn Wanja, gefangen zwischen Wahn und Delirium, zu Beginn des Films frontal in die Kamera schaut, während Lichtblitze sein Gesicht fragmentieren, gilt sein fragender, …

Diese Jugend kennt sich selbst nicht. Wenn Wanja, gefangen zwischen Wahn und Delirium, zu Beginn des Films frontal in die Kamera schaut, während Lichtblitze sein Gesicht fragmentieren, gilt sein fragender, desillusionierter Blick auch uns, den Eltern, der Familie, der Gesellschaft. Kurz darauf steigt der unberechenbare junge Mann über das Geländer des Balkons und sein Kumpel Petja sagt gelangweilt und gleichgültig zu ihm: „Wenn du springen willst, spring.“ Einen Augenblick später ist Wanja tot. „Es war die Angst“, versucht Petja später den Selbstmord seines Freundes zu erklären. Doch Lebensüberdruss, Langeweile und Perspektivlosigkeit sind in Alexander Gorchilins Spielfilmdebüt „Acid“ (Kislota) nur Symptome einer tiefer liegenden Unsicherheit. Die driftenden, bindungslosen Jugendlichen erreichen sich selbst nicht, obwohl ihnen alle Möglichkeiten in der postkommunistischen russischen Gesellschaft offen zu stehen scheinen.

„Ich bin willenlos“, sagt wiederum Sascha, der in einem gutsituierten Wohlstandsmilieu bei seiner Großmutter lebt. Gemeinsam mit Petja nimmt er an Wanjas Beerdigung teil. Dann schneidet Gorchilin vom fahlen Licht des Friedhofs zu den Stroboskopblitzen einer Disco, wo die monotonen, dumpfen Techno-Beats als destruktive Begleitmusik zu den Schwundstufen der Lebendigkeit fungieren. „Why does my heart feel so bad? Why does my soul feel so bad?, singt Moby an anderer Stelle. Während einer Polizeirazzia in der Disco – ein Reflex auf die tradierten Schikanen des Staatsapparates – lernen die beiden Freunde den privilegierten Künstler Wasilisk kennen. Dieser ist ein Chamäleon, das sich ganz auf die marktkonformen Regeln der neuen Zeit eingestellt hat. Mit der titelgebenden Säure deformiert er die staatstragenden, im Stil des sozialistischen Realismus gestalteten Skulpturen seines Vaters. Wasilisk will provozieren, um zu verkaufen. Als Verfechter des Scheins rät er den beiden Jüngeren: „Sei interessant!“

Man könnte sagen, Sascha und Petja sind interessant, weil sie sich selbst verstümmeln. Sascha, der sich als Musiker versucht, hat sich aus einem nicht genannten Grund beschneiden lassen und will die Beziehung zu seiner Freundin Vika lösen. Dann lässt er sich mit der erst 15-jährigen Balletttänzerin Karina ein und gerät darüber in heftigen Streit mit dem Vater des Mädchens. Petja hingegen verletzt sich mit erwähnter Chlorsäure und zeigt sich als Mörder Wanjas bei der Polizei an. Bei aller Unberechenbarkeit und Destruktivität, die Alexander Gorchilin seinen Protagonisten angedeihen lässt, scheint ihr Empfinden von Schuld und Ungerechtigkeit noch intakt zu sein. Das Problem ihrer Generation sei, dass sie kein Problem habe, sagt Petja einmal sinngemäß. Und er fragt: „Was können wir der Welt geben?“ Trotz Gorchilins nihilistischem Blick auf die Jugend und Gesellschaft seines Landes, ist sein beeindruckender Film „Acid“ weder unversöhnlich noch hoffnungslos.

Fast & Furious: Hobbs & Shaw

(USA 2019, Regie: David Leitch)

Nicht ohne meinen Faustkeil
von Thomas Blum

Sie mögen es, wenn in einem zu etwa 70 Prozent aus sinnfreien Explosionen bestehenden, rasant geschnittenen Spielfilm zwei Muskelmänner, die zusammengenommen ungefähr das Schauspieltalent eines Besenstiels haben, fortwährend in Motorrad- …

Sie mögen es, wenn in einem zu etwa 70 Prozent aus sinnfreien Explosionen bestehenden, rasant geschnittenen Spielfilm zwei Muskelmänner, die zusammengenommen ungefähr das Schauspieltalent eines Besenstiels haben, fortwährend in Motorrad- und Autoverfolgungsjagden verwickelt werden und mit grimmem Blick automatische Schnellfeuergewehre abfeuern? Wenn die Welt mittels ein paar dummer Stammtischsprüche und gezielter Fausthiebe gerettet wird? Wenn die Darsteller sich nahezu ununterbrochen zünftige Kloppereien liefern und dabei wahlweise Kampfsportkunststückchen aufführen oder wiederholt durch effektvoll zersplitternde Fensterscheiben krachen? Wenn Panzerfahrzeuge mit lautstarkem Wumms durch Wände fahren, als seien diese aus Pappmaché, und unablässig Tak-tak-tak-Maschinengewehrfeuer dazu ertönt? Wenn Männer schreiend mit Keulen oder anderen Schlaggerätschaften aufeinander losgehen, von Hochhäusern oder aus Helikoptern fallen? Wenn Frauen nahezu ausschließlich als mit Dessous bekleidete Waffenfetischistinnen vorkommen? Und wenn ein Bösewicht extrem einfältige Bösewichtsätze sagt? Sehr gut. Dann dürfte dieser Film, der „mit seinen ausgeklügelten Stunts und gut gelaunten Stars zu den Action-Highlights des Kino-Sommers gehört“ („Bild“), genau das Richtige für Sie sein.

Damit es kein reiner Geräusch-Actionfilm ist, sagen die beiden Muskelberge, die hölzern durch den Film turnen, auch schwer testosteronhaltige Dialoge auf, die von den Schimpansen, die mutmaßlich das Drehbuch geschrieben haben, möglicherweise für ein Feuerwerk der Komik gehalten werden, tatsächlich aber nur brummdummes Mackergequatsche sind: „Wenn ich deine Fresse sehe, ist es, als würde Gott mir mit voller Wucht ins Gesicht kotzen.“ Und: „Ich schieb dir meinen Schuh so tief in den Arsch, dass du eine Woche lang Schnürsenkel spuckst.“ Allerdings ist zu vermuten, dass die deutschsprachige Fassung des Films, von der hier die Rede ist, ihren ganz und gar witzfreien enervierenden Dieter-Bohlen-Stil erst durch eine unterirdisch schlechte Synchronisation erhalten hat. Im US-amerikanischen Original mag der eine oder andere Oneliner einigermaßen originell sein, ich habe es nicht überprüft.

© Universal Pictures

In Österreich nennt man ein solches überwiegend aus tausendfach so oder ähnlich bereits gesehenen Actionsequenzen bestehendes Machwerk einen „Tschinbum-Film“, was ein überaus treffender, weil auch lautmalerischer Begriff dafür zu sein scheint. Solche Filme sind in unserer Gegenwart immer noch oder wieder sehr populär, wohl auch deshalb, weil sie den derzeitigen Stand der sozialen und intellektuellen Entwicklung der Menschheit sehr gut auf den Punkt bringen. Man könnte in diesem Zusammenhang auch vom Phänomen der sogenannten galoppierenden Rückverdummung sprechen: Eine intakte leistungsfähige Kulturindustrie gestaltet ihre Produkte passgenau zum aktuellen Grad der Verblödung der Gesellschaft. Oder anders gesagt, in den Worten der „Berliner Morgenpost“: „Der Schauwert ist enorm.“ Wer denken will, ist also im falschen Film.

Worum es überhaupt geht? Ein niederträchtiger Technikkonzern mit einer eigenen Söldnerarmee (viel Statistenmaterial zum Niederballern), der obendrein die Medien kontrolliert, will in den Besitz eines Virus kommen, mit dem er die halbe Welt („die Schwachen“) auszurotten gedenkt. Seine Ideologie ist eine Art transhumanistischer Technikfaschismus: Eine Elite soll in die Lage versetzt werden, ihre Körper durch implantierte Technik zu „optimieren“, der überflüssige Teil der Menschheit soll ausgerottet werden. Unsere zwei männlichen Helden (und die Schwester des einen von den beiden, in deren Körper das von den Bösewichtern benötigte Virus steckt), also die oben genannten Testosteronbolzen, verhindern dies im Alleingang, indem sie sich brüllend durch den Film prügeln und schießen, um schließlich zunächst in der geheim gehaltenen und von einer Privatarmee gesicherten ukrainischen Konzernzentrale die logischerweise total wichtige „C-17-Virus-Extraktionsmaschine“ zu erbeuten und hernach auf der Insel Samoa mit der Hilfe eines mit Faustkeilen und Motorradketten bewaffneten samoanischen Familienclans aus Autoschraubern (nein, fragen Sie nicht!) die Söldnerarmee in die Flucht zu schlagen.

Die Automobilkundenfachzeitschrift „Focus“ ist allerdings schwer enttäuscht von „Fast & Furious: Hobbs & Shaw“: „Dem Spin-off fehlen Autorennen, Verfolgungsjagden und getunte Karosserien. Das Auto steht nicht mehr im Mittelpunkt.“

Dieser Text erschien zuerst am 01.08.2019 in: Neues Deutschland

Der unverhoffte Charme des Geldes

(CAN 2018, Regie: Denys Arcand)

Ein Buddy-Buddy-Buddy-Buddy-Buddy-Film
von Katrin Hildebrand

Der Kapitalismus ist doof. Das hat sich mittlerweile herumgesprochen, und das – leider – nicht nur in reflektierten Kreisen. Die Wald- und Wiesenkritik begnügt sich mit Hass aufs abstrakte Kapital …

Der Kapitalismus ist doof. Das hat sich mittlerweile herumgesprochen, und das – leider – nicht nur in reflektierten Kreisen. Die Wald- und Wiesenkritik begnügt sich mit Hass aufs abstrakte Kapital und feiert gleichzeitig den spießigen Familienunternehmer wie einen kleinen Herzog, der dem Kaiser die Heeresfolge verweigert hat.

In eine ähnliche Richtung tendiert der Originaltitel von Denys Arcands Film „La Chute de l’empire américain“ (die englische Variante ist eine direkte Übersetzung): der Untergang des amerikanischen Reichs. Er klingt so giftig antiamerikanisch, als glaubte man, – im schlimmsten Fall – die „jüdischen Plutokraten der Wall Street“ (der Dauerbrenner unter Antisemiten) oder – im lustigsten Fall – irgendwelche Hillbillies aus Alabama oder gar Frankophone (Das hätten die doch nie geschafft!) hätten Geld, Warentausch, Eigentum und Ausbeutung erfunden. Dagegen wirkt die deutsche Übertragung „Der unverhoffte Charme des Geldes“ geradezu elegant. Und sie trifft viel eher den Punkt. Doch wollte Arcand mit seinem Titel wohl bloß an seine Gesellschaftskomödie „Le Déclin de l’empire américain“ von 1982 und den Nominalstil im Titel seiner anderen Filme anknüpfen.

Darüber, welchem Genre das Werk zuzuordnen ist, sind die Experten uneins. Von Thriller über Krimi bis zur Komödie reichen die Vorschläge. Die Wahrheit ist: Es handelt sich um den seltenen Typus des Buddy-Buddy-Buddy-Buddy-Buddy-Films. Im Unterschied zur Buddy-Komödie bilden hier nicht nur zwei einander völlig entgegengesetzte Persönlichkeiten eine Schicksals- und schließlich Herzensgemeinschaft, sondern eine ganze Horde. Während der intellektuelle Mainstream das Buddy-Genre gerne als harmlos-dümmliche Unterhaltungsmasche abtut, wissen Kenner, dass der Inkompatibilität der Figuren durch den Zwang zur Kooperation ein humanistisches Moment, ja, noch viel mehr als das, innewohnt. In Buddy-Filmen geht es um Versöhnung, um Freundschaft. Die konträren Partner zwingen einander ihr Dasein unerbittlich auf. Gerade in diesem besonderen Objektbezug – der andere Mensch, das absolute Gegenteil von einem selbst, wird als solcher erkannt und durch den Zwang zum gemeinsamen Handeln zum Gefährten – steckt die Möglichkeit einer anderen materiellen gesellschaftlichen Grundlage.

Auch bei Arcand sind die Figuren inkompatibel. Zwar stoßen sie nicht durch Zwang aufeinander, sondern durch Zufall. Zueinander passen sie dennoch nicht. Alles beginnt, als der knuffige Supernerd und Philosphieabsolvent Pierre-Paul zufällig an einen Riesenbatzen Bargeld kommt. Die Kohle haben eigentlich zwei Gangster erbeutet – bei einem Coup, der selbst in der Verbrecherwelt als hinterfotzig gilt und mit einer Schwarzgeldwäscherei zu tun hat, in der tatsächlich Wäsche gewaschen wird. Natürlich ist das zwar gesellschaftskritische, aber verkopfte und im menschlichen Umgang ungeübte Bürgersöhnchen von so viel geklautem Schwarzgeld überfordert. Also wendet sich Pierre-Paul an einen frisch entlassenen Ganoven und Weißwasch-Spezialisten. Mit ins Team kommen peu à peu einer der beiden Gangster, ein stinkreicher Finanzberater, Pierre-Pauls Exfreundin und eine Prostituierte. Ihre Schicksalsgemeinschaft wird schließlich tatsächlich zu einem Club mit Herz. Gemeinsam kümmern sie sich um die Obdachlosen Montréals.

© MFA

„Der unverhoffte Charme des Geldes“ mag die erste halbe Stunde über etwas trantütig wirken. In seiner Gänze ist er es nicht. Er braucht nur länger als die klassisch auf Tempo und Timing getrimmte US-Komödie. Arcand lässt sich Zeit. Viele seiner Themen schleichen sich geradezu unbemerkt in den Plot hinein. Das verlangt Geduld, macht aber, sobald der Groschen gefallen ist, Spaß.

Da wäre zum einen Pierre-Pauls philosophisches Geschwafel. Anfangs wirkt es wie Beiwerk – schließlich baut mittlerweile nicht nur jeder Autorenfilmer und American-Independent-Regisseur, sondern selbst der deutsche Mainstream ein paar Tagebuch-Sinnsprüche in sein Figuren-Blabla ein. Doch die Philosophenzitate ergeben irgendwann einen Sinn, denn durch das Schwarzgeld können die Buddys der blöden Materie, die sich stets der utopistischen Theorie entziehen will, ein Schnippchen schlagen. Noch viel wichtiger sind die Obdachlosen. Zunächst tauchen sie nur ganz versteckt auf, wie im echten Alltag. Sie stehen auf der Straße herum. Sitzen irgendwo, während das echte Leben der echten Bürger seinen echt verblendeten Lauf nimmt. Pierre-Paul immerhin – das fällt auf – steckt ihnen ab und an Geld zu. Im Fokus aber steht zunächst der bürgerliche Alltag. Kaffeehausbesuch, Beziehungsdrama, irgendwelches Geschwätz, das erst mal so beiläufig, lifestyleaffin und unsinnig daherkommt wie die Diskussion über Burger zu Beginn von „Pulp Fiction“. Doch ebenso wie Pierre-Pauls philosophische Zitate einen Bezug zum Thema Reichtum, Armut und Gerechtigkeit entwickeln, gewinnen die Obdachlosen an Bedeutung. Sie selbst, ihre bloße Existenz sowie deren Verweis auf Ausbeutung, Klassenverhältnisse, Rassismus (viele von ihnen sind Inuit) und viele weitere materielle Abgründe sind der eigentliche Grund des Films.

So bekommt das Spiel mit dem Gegensatzpaar Gangster und Bürger dort, wo es um die Existenz geht, seinen Reiz. Während der Bürger die sozialen Verhältnisse perpetuiert, indem er das Bestehende affirmiert, nutzt der Gangster die Lücken im System und saugt dort seine Pfründe ab. Bei seinem Tun allerdings ähnelt er niemandem so sehr wie den großen Anführern des Bürgertums, den Unternehmern. Wenn nun der Gangster mit seinem unorthodoxen Denken und der intellektuelle Bürger mit seiner Moral zusammenarbeiten, kann daraus – zumindest in der Utopie und in Pierre-Pauls Philosophie – etwas Neues entstehen. Vielleicht sogar die Rettung der Menschheit vor dem Kapitalismus. Marx und Engels waren schließlich auch nur Bürgerbuddys.

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 08/2019

Rebellinnen

(FR 2019, Regie: Allan Mauduit)

Hier sind alle unten
von Jürgen Kiontke

Sandra, Nadine und Marylin eint ein Schicksal: Sie arbeiten in einer nordfranzösischen Fischfabrik. Erst die Arbeit und dann auch kein Vergnügen. Nur Sandra hat schon einmal ein anderes Leben kennengelernt: …

Sandra, Nadine und Marylin eint ein Schicksal: Sie arbeiten in einer nordfranzösischen Fischfabrik. Erst die Arbeit und dann auch kein Vergnügen. Nur Sandra hat schon einmal ein anderes Leben kennengelernt: Als Schulschönheit zur Miss Krabbe oder so gewählt, modelte sie auf den Laufstegen der Welt, lebte jahrelang in Saus und Braus. Jetzt ist sie aus einer unglücklichen Beziehung nach Hause zu ihrer Mutter geflüchtet. Das Leben muss weitergehen.

Ist das Geld echt komplett alle? Nee jetzt, oder? Ob solcher Dreh nun Sinn macht oder nicht, ist wie so vieles in „Rebellinnen“ recht egal. Logische Brüche machen diese rasante Erzählung nicht weniger turbulent. Im Gegenteil: Anschlussfehler und unmögliche Zwischenfälle scheinen hier eher Programm zu sein. Der Film ist viel zu beschäftigt damit, proletarische Situationskomik zu exerzieren, als dass er sich von so was aufhalten ließe.

Beiläufig erzählt er vom Leiden in der an Arbeitsmöglichkeiten stark limitierten französischen Provinz, wo es immer nur einen großen Arbeitgeber gibt, der die Bedingungen diktiert. Das hört nicht auf mit den Übergriffigkeiten eines unsympathischen Vorarbeiters, dessen Vergewaltigungsversuch bei Sandra auf recht rüde Art endet.

Wir sagen nicht, ob dieses Körperteil wieder anwächst. Wir sagen nicht, was auf den Konservendosen steht, in denen es landet. Aber die drei Freundinnen entdecken schnell das Geheimnis des Fließband-Kapos: eine Tasche voller Geld, das aus dem Kokainschmuggel stammt. Der Mann war Drogenkurier, und seine Auftraggeber hätten gern den Schotter zurück. Und dann gibt es ja noch die Polizei, die ihrerseits mit einem Bein im Knast steht.

Um den Fischkonserven dieser Welt endlich zu entkommen, setzt das tolle Trio auf viel große Fresse, Baseballschläger und Schrotflinte. Ihnen dabei zuzuschauen ist ein Vergnügen. „Rebellinnen“ ist der Mini-Cabrio unter den diesjährigen Sommerkomödien: Klassenkampf pur, aber ganz intern, hier sind alle unten – die reichen Leute kommen gar nicht vor.

Aber, Publikum, das gern solche Filme anschaut: Ist das nicht die passende Form? Leute mit Geld begegnen dir im Alltag ja eher selten.

Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 08/2019

Leid und Herrlichkeit

(ESP 2019, Regie: Pedro Almodóvar)

Pisse und Jasmin
von Thomas Blum

Mit den bonbonbunten, melodramatischen Filmen des spanischen Regisseurs Pedro Almodóvar, denen gern und wiederholt vorgeworfen wird, sie seien kitschig, larmoyant, sentimental oder maniriert, ist es ein bisschen wie mit dem …

Mit den bonbonbunten, melodramatischen Filmen des spanischen Regisseurs Pedro Almodóvar, denen gern und wiederholt vorgeworfen wird, sie seien kitschig, larmoyant, sentimental oder maniriert, ist es ein bisschen wie mit dem fragwürdigen britischen Brotaufstrich „Marmite“: Die einen können nicht genug davon bekommen, während die anderen schon beim Erklingen des Namens des Filmemachers angewidert die Nase zu rümpfen beginnen.

In Almodóvars neuestem Werk, „Leid und Herrlichkeit“, in dem der Regisseur erkennbar Autobiografisches verarbeitet, sehen wir zuerst Bilder von psychedelischen Farben, die ineinanderlaufen. Was kein schlecht gewählter Beginn ist für einen Film, in dem Erinnerung, Traumbilder, drogeninduzierte Halluzination und 60er- und 70er-Jahre-Nostalgie eine nicht unwichtige Rolle spielen.

Hernach wird uns ein regloser Mann unter Wasser gezeigt, in einem Hallenschwimmbad. Die Kamera fährt einer große Operationsnarbe entlang. Es handelt sich um den einst gefeierten und nun ausgebrannten und gealterten Filmregisseur Salvador Mallo (Antonio Banderas), der sich in einer Schaffenskrise befindet und unter Asthma, Schmerzattacken und Depressionen leidet. Der Glanz früherer Tage ist verschwunden. Geblieben ist ihm eine Art Midlife-Crisis und eine luxuriös ausgestattete Großstadtwohnung. Mit Alberto (Asier Etxeandia), seinem Freund und früheren Hauptdarsteller seiner Filme, mit dem er einst zerstritten war, lebt er melancholisch in den Tag hinein. Gemeinsam nehmen sie Drogen, Salvador entdeckt die schmerzlindernde Wirkung des Rauchens von Heroin, die ihn abgleiten lässt in das Reich der Flashbacks und des Traums.

In elegant mit der Gegenwartshandlung verknüpften Rückblenden erinnert sich der Regisseur an seine Kindheit und Jugend in einem Dorf in der spanischen Provinz der 60er Jahre, an seine Mutter (Penélope Cruz), mit der ihn eine innige Zuneigung verband, und das Erwachen des eigenen sexuellen Begehrens.

© Studiocanal

Wie schon in früheren Arbeiten des Filmemachers wird auch hier in den knallbunten Dekors geschwelgt, und auch die Kostüme sehen aus, als habe man sie nach der Opulenz ihrer Farben und der Exzentrik ihrer Muster ausgesucht: Lustvoll fährt die Kamera an Designermöbeln, Lampen, Vorhängen, Filmpostern, modernen Pop-Art-Gemälden, Obstschalen, Teppichen, Fototapeten und exklusiven Espressomaschinen entlang (angeblich handelt es sich dabei um Almodóvars eigene, private Möbel und Kunstgegenstände). Salvadors Lederjacke ist grün, sein Pullover knallrot. Und auch die anderen tragen stets blumengemusterte Kleider oder grellbunte Hemden.

So blicken wir oft auf akribisch arrangierte Tableaus und Bildhintergründe, die nicht etwa einer Ästhetikmarotte Almodovars geschuldet sind, sondern darauf verweisen, dass es ohne Formwillen keine Kunst gibt und ohne Kunst kein Leben, das diese Bezeichnung verdient.

Almodóvar, „der wie kein anderer dem Bild seines Landes seit den Achtzigern eine breite Spur des Schrillen, Queeren, bunt Begehrenden eingezogen hat“ (FAZ) und dessen Werke auch immer als Hommage ans ebenso farbenprächtige wie gefühlsintensive Technicolor-Kino der 50er und 60er Jahre erkennbar sind, hat einen Film über das unaufhaltsame Vergehen der Zeit und die Unausweichlichkeit des Alterns und des Todes gedreht, aber auch einen über Schmerz und Sucht (auch die Sucht nach dem Kino als Sehnsuchtsort und Ort der Erinnerung). Und natürlich einen über die Liebe, das Begehren und die Unauslöschlichkeit der Erinnerung an die Kindheit auf dem Dorf, in dem die Filme noch nicht in riesigen klimatisierten Multiplexkinos gezeigt, sondern abends unter freiem Himmel auf eine Hauswand projiziert wurden. „Im Kino meiner Kindheit riecht es immer nach Pisse und nach Jasmin und nach Sommerwind“, lautet ein zentraler Satz, der aus einem autobiografischen Prosatext der Hauptfigur Salvador stammt. Die Träume der Kindheit, die Eingang in die Kunst finden, auch ins Kino, sie bleiben uns.

Diese Kritik erschien zuerst am 26.07.2019 in: Neues Deutschland

First Reformed

(USA 2017, Regie: Paul Schrader)

Suche nach Erlösung
von Wolfgang Nierlin

“Wenn man über sich selbst schreibt, gibt es keine Gnade”, notiert Ernst Toller (Ethan Hawke) in sein eben begonnenes Tagebuch. Zwar empfindet der Pfarrer mit dem Namen eines deutschen Schriftstellers …

“Wenn man über sich selbst schreibt, gibt es keine Gnade”, notiert Ernst Toller (Ethan Hawke) in sein eben begonnenes Tagebuch. Zwar empfindet der Pfarrer mit dem Namen eines deutschen Schriftstellers seine nächtlichen, von zu viel Alkohol befeuerten Selbstgespräche als „eine Form des Gebets“. Doch zugleich weiß er, dass seine einsame Kommunikation ohne Gegenüber nur ein unzureichender Ersatz für eine Zwiesprache mit Gott ist. „Könnte ich nur beten“, hadert er über sein Tun, von dem er andererseits abhängig ist, weil sich in ihm die Gedanken ordnen und die Gefühle eine Resonanz finden.

Zwölf Monate lang will der einsame Held in Paul Schraders neuem Film „First Reformed“ sein Schreib-Experiment betreiben, um danach die Aufzeichnungen zu vernichten. Was Toller in dunkeln Stunden als „selbstsüchtiges“ Tun beurteilt, ist ihm doch praktische Lebenshilfe. Schon in seinen Drehbüchern zu Martin Scorseses Film „Taxi Driver“ sowie zu dem von ihm selbst inszenierten „Light Sleeper“ hat Paul Schrader die existentielle Verlorenheit seiner Helden im Medium des Tagebuchs dargestellt.

Toller ist ein Pfarrer in der Krise. Er wirkt einsam, verschlossen und ernüchtert. Als Reverend einer kleinen, reformierten Gemeinde im Bundesstaat New York betreut er einige wenige Gläubige. Vor allem aber verwaltet er die Tradition der 250 Jahre alten Kirche des Örtchens Snowbridge, deren von einem ortsansässigen Unternehmer gesponserte Neuweihe in ein paar Wochen bevorsteht. Zu Beginn des Films nähert sich die Kamera in einem frontalen Travelling und aus leichter Untersicht dem von niederländischen Einwanderern erbauten Gotteshaus, dessen helles Holz im Dämmerlicht schimmert. In den streng komponierten, statischen Bildern, die von einem fast quadratischen Format eingeschlossen werden, akzentuiert der calvinistisch erzogene Paul Schrader vor allem das Karge und Farblose, die Leere und den Stillstand. Diese Reduktion setzt sich fort in der spärlichen Einrichtung des Pfarrhauses, wodurch einzelne Gegenstände eine auratische Erscheinung gewinnen; und nicht zuletzt in der Konzentration auf wenig Figuren, die in tragische Beziehungen zueinander treten.

Als der 46-jährige ehemalige Militärpfarrer von der jungen Mary (Amanda Seyfried) kontaktiert wird, die ihn um ein Gespräch mit ihrem depressiven Mann bittet, erfüllt er zwar zögerlich doch routiniert seine seelsorgerliche Pflicht. Michael (Philip Ettinger) ist ein eben aus dem Gefängnis entlassener, radikaler Umweltaktivist, der am Zustand der Welt verzweifelt und dessen Sinnkrise sich zuspitzt, seit er weiß, dass seine Frau schwanger ist. Kann man in diese dem Untergang geweihte, zunehmend unbewohnbarer werdende Welt noch ein Kind setzen, fragt Michael in seiner Verantwortung für das Leben. Die Erfahrung der „Dunkelheit“, von Søren Kirkegaard als „Krankheit zum Tode“ beschrieben, sei Teil der menschlichen Existenz, erwidert Toller. Es gelte den Widerspruch zwischen Verzweiflung und Hoffnung mutig auszuhalten. Toller gehört selbst zu den Leidgeprüften: Sein Sohn ist im Irak-Krieg gefallen, seine Ehe daraufhin gescheitert. Jetzt zwingen ihn anhaltende Magenschmerzen, sich eingehenden medizinischen Untersuchungen zu unterziehen.

Trotzdem findet in Schraders „Film über das Seelenleben“ dieses nicht ohne Hoffnung begonnene Gespräch keine Fortsetzung. Michael tötet sich. Daraufhin macht Reverend Toller, der sich um die schwangere Witwe und Teile des Nachlasses kümmert, die Leiden des Selbstmörders immer mehr zu seiner eigenen, selbstzerstörerischen Mission. In christlicher Verblendung sucht er im Selbstopfer nach Erlösung. „Wenn Christen pathologisch werden, dann fangen sie an, das Leiden Jesu mit ihrem eigenen zu verwechseln“, hat Paul Schrader in einem Interview dazu gesagt. Der Mensch sei aber nicht zum Leiden in der Welt, mahnt ein Vorgesetzter Pfarrer den verirrten Kollegen, der Erlösung nicht mehr als Gottesgeschenk, sondern als Mission einer gequälten Seele versteht. Konsequent, schnörkellos und spannend spitzt Paul Schrader das individuelle Drama in seiner existentiellen Dimension zu, bis der verzweifelte Held schließlich unerwartet und sehr menschlich zwar nicht geheilt, aber von seinem Selbsterlösungszwang entbunden wird.

In Deutschland derzeit ausschließlich auf VoD erhätlich.

The Dead Don’t Die

(USA/SWE 2019, Regie: Jim Jarmusch)

Bill of the Dead
von Christian Kaiser

Fracking an den Polen hat die Erde in ein Ungleichgewicht gestürzt; Tageszeiten spielen verrückt, Haustiere ebenso – und bald entsteigen die Toten ihren Gräbern, fressen die Lebenden und machen ansonsten, …

Fracking an den Polen hat die Erde in ein Ungleichgewicht gestürzt; Tageszeiten spielen verrückt, Haustiere ebenso – und bald entsteigen die Toten ihren Gräbern, fressen die Lebenden und machen ansonsten, was sie schon zu Lebzeiten am liebsten gemacht haben. Drei Polizisten und allerlei Nebenfiguren versuchen im kleinen Städtchen Centerville, der Lage Herr zu werden – eine Minimal-Handlung mit allerlei Wiedererkennungswert. Wie in „Leichenhaus der lebenden Toten“ (ES, IT 1974), Jorge Graus fortschritts- und faschismuskritischen Zombieklassiker mit Öko-Aufhänger, erschafft sich der Mensch seine Zombie-Apokalypse selbst. Selena Gomez fährt in einer stilechten Nacht-der-lebenden-Toten-Karosserie durch die Gegend. Chloë Sevigny hingegen erleidet den Barbara-Tod aus Romeros Horrorklassiker von 1968, wobei ihr allerdings nicht der untote Bruder, sondern die untote Großmutter zum Verhängnis wird. Romeros satirischer „Zombie“ (USA 1978) ist wiederum mit dem Konsum-Instinkt der Untoten omnipräsent. Und ein Comic- und Film-Nerd verweist recht direkt auf die hirnfressenden Untoten aus Dan O’Bannons „Return of the Living Dead“ (USA 1985), derweil die Unglaubwürdigkeit des Wörtchens „Zombie“ an „Shaun of the Dead“ (F, GB 2004) erinnert. Solcherlei Verweise könnte man endlos anführen und etliche werden im Abspann von „Jim Jarmuschs „The Dead Don’t Die“ explizit aufgedeckt.

Lohnenswert ist aber vor allem ein Blick auf die Selbstzitate, denn „The Dead Don’t Die“ ist natürlich zuallererst ein Jarmusch-Film, der mit gewohnt lakonischem Humor auf allerlei Unheil und Unbill blickt und dem Zombiefilm trotz derber Fressorgien viel vom subgenretypischen Schrecken nimmt. Der Figurenname von Adam Driver, der einen der drei Polizisten mimt, verweist direkt auf den letzten Jarmusch-Film „Paterson“ (USA 2016), in dem der Schauspieler bereits in der Hauptrolle agierte. Und gegen Ende bringt ein metaleptischer Bruch den renommierten Filmemacher selbst als solchen in seine Schöpfung. Zwischendurch ist mit vielen typische Gesichtern geradezu eine Jarmusch-Family am Werk, wenngleich der Film immer wieder die Darsteller*innen hinter den Figuren bloßlegt: Tilda Swinton tritt etwa als schottische Zelda Winston auf, Iggy Pop – einst im „Coffee and Cigarettes“-Projekt involviert – kehrt als Coffee-Junkie-Zombie zurück, Adam Driver wird mit seiner jüngsten Star-Wars-Vergangenheit konfrontiert und Bill Murray bekommt wie in „Broken Flowers“ (USA 2005) einen sanft ironischen Namen verpasst (was daran erinnert, das ausgefallen-hintergründige Figurennamen immer schon zu Jarmusch gehörten, hier aber ganz neue Ausmaße erreichen). Noch nie hat ein Jarmusch-Film so exzessiv darauf bestanden, dass er ein Jarmusch-Film (und überhaupt erst einmal: ein Film) ist.

So aufdringlich wie diese mäßig ergiebige Selbstreflexion kommt auch die Moral des Films daher, die im Grunde auf weniger diskrete Weise an die letzten Filme des Regisseurs anknüpft. Jarmuschs Zombiefilm steht seinem Vampirfilm „Only Lovers Left Alive“ (USA 2014) somit weniger nahe als es der zwischendurch entstandene „Paterson“ getan hatte. Dort sorgten die „spukhafte Fernwirkung“, der kosmische Gong oder die Seelenverwandtschaft einerseits, die Poesie oder die konsequenten Wiederholungen von Elementen andererseits für einen latent mystischen Boden, auf welchem dann Moral, Humanismus und eine Ode an die Kultur(en) an sich entfaltet wurden. Kultur erscheint dort als Weltliteratur oder Weltmusik, welche Grenzen überwindet und die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen trotz aller oberflächlichen Unterschiede offenbart.

Diese schon zuvor bei Jarmusch spürbare Haltung geistert auch durch seinen Zombiefilm. Hier jedoch wird sie entfaltet, indem ein von solcherlei Ansichten gänzlich befreites Agieren der Lächerlichkeit preisgegeben wird: Während der Einsiedler in den Wäldern von Centerville und die (farbigen sowie Geschlechterrollen ignorierenden) inhaftierten Kinder als gesellschaftliche Außenseiter positiv besetzt sind, sind die Make-America-White-Again-Kappenträger, die (alten, weißen, männlichen) Wärter, die Fracking-Befürworter lächerliche Narren, die das ausgebrochene Chaos entweder gar nicht zur Kenntnis nehmen oder es sogar mitverschuldet haben. Hier sind die mit Smartphones umherwankenden und nach Kaffee und Chardonnay gierenden Zombies nicht bloß Ausdruck einer Stumpfheit des Menschen, der sich in Konsum und Mode versenkt, sondern das Ergebnis einer Gesellschaft, die – wie es gegen Ende heißt – ihre Seele verkauft hat und nun die Rechnung präsentiert bekommt. Jarmusch verknüpft somit Romeros Ansatz der menschenähnlichen Zombies und zombieähnlichen Menschen mit Jorge Graus Ansatz der durch menschliche Gewinnsucht und Kurzsichtigkeit ausgelösten Zombie-Katastrophe und zielt dabei auf jene Haltung, die man zumeist als Populismus fasst.

Nicht die bewundernde Beschwörung einer grundsätzlichen Gleichheit Aller wird hier angestrebt, sondern das Bashing einer Gesellschaft in der Ära Trump. Damit gibt Jarmusch aber zugleich den edelmütigen Tenor seines Schaffens weitgehend auf, um sich auf kleine Attacken zu konzentrieren, welche auf konkrete Dummheiten der letzten Jahre abzielen: auf die von der Fracking-Methode bis zum menschenverursachten Klimawandel reichenden Umweltsünden, auf die Sexismen und auf die Rassismen, welche in der aktuellen Dekade unter diversen Hashtags thematisiert worden sind. Diesen Umstand, diese zugunsten einer umfassenden Attacke nur noch reduziert durchklingende Grundhaltung der Gleichheit Aller, kann Jarmusch auch dadurch nicht ausgleichen, dass er die vitale Splatterästhetik schnell und hektisch spritzenden, sicht- und fassbare Flecken verursachenden Blutes gegen elegisch wabernde Nebelschwaden staubigen Blutes tauscht, welches aus den Wunden der Untoten strömt und sich dann gewissermaßen in der Luft auflöst. Solch eine Vernachlässigung des Hektischen, Konkreten und direkt Sicht- und Fassbaren zugunsten des Elegischen und der fließenden, aufgelösten Grenzen hätte auch diesem Jarmusch-Werk in größerem Umfang besser zu Gesicht gestanden. Hier gibt es kaum noch ein umfassendes, harmonisches Feeling, sondern einen Flickenteppich der kuriosen Ideen und bösen Spitzen. Das ist zwar kurzweilig, bleibt aber hinter den Qualitäten vieler anderer Jarmusch-Filme zurück.

Birds of Passage – Das grüne Gold der Wayuu

(COL/DEN/MEX 2018, Regie: Cristina Gallego, Ciro Guerra)

Das Gesetz der Rache
von Wolfgang Nierlin

„Der Stamm ist die Familie, der Stamm ist die Familie…“, murmelt die junge Zaida (Natalia Reyes) beschwörend wie in einer endlosen Litanei. Nach einem „Jahr der Abgeschiedenheit“ soll sie als …

„Der Stamm ist die Familie, der Stamm ist die Familie…“, murmelt die junge Zaida (Natalia Reyes) beschwörend wie in einer endlosen Litanei. Nach einem „Jahr der Abgeschiedenheit“ soll sie als Frau in den Familienclan initiiert werden. Dieser stehe bei den Wayuu über allem, gibt ihr die Mutter (Carmiña Martínez), die zugleich das strenge Oberhaupt der Familie bildet, mit auf den Weg. Ansehen, Ehre und nicht zuletzt der Friede seien in ihr beschlossen. In der kargen Einöde der nordkolumbianischen Provinz Guajiara markiert dieser von alters her tradierte Zusammenhalt alles. Eng verknüpft ist dieses Bewusstsein mit einem magischen Denken, das die Zeichen der Natur deutet und die Träume als Ausdruck der Seele versteht. Nach einem wilden Initiationstanz mit leuchtend rotem Umhang, bei dem der mutige Rapayet (José Acosta), um die schöne Braut wirbt, träumt Zaida von einem „Weg ohne Rückkehr“.

In fünf Kapiteln einer schicksalhaften Tragödie erzählen Ciro Guerra („Der Schamane und die Schlange; CO/VE/AR 2015) und Cristina Gallego ihren zwischen mythischem Western und ethnographischem Mafia-Thriller changierenden Film „Birds of passage – Das grüne Gold der Wayuu“. Von realen Ereignissen inspiriert, verknüpfen die beiden kolumbianischen Filmemacher darin die Vorgeschichte der Drogenkartelle mit dem blutigen Konflikt zweier verfeindeter Clans. Im Zeitraum zwischen 1968 und 1980, der durch scharf markierte Ellipsen gegliedert ist, erodiert mit unglaublicher Wucht und Brutalität das tradierte Familiengefüge mit seinen Normen und Bräuchen. Deren Unhintergehbarkeit wurzelt dabei vor allem im Gesetz der Rache mit seiner zerstörerischen Zahn-um-Zahn-Logik. Mit epischer Geste, einem reduzierten, aufs sinnbildlich Wesentliche verdichteten Setting sowie in prägnanten, nie ausmalenden Bildern verfolgen Guerra und Gallego diesen Kampf bis zum bitteren Ende.

Ihr spannender Film zeigt unmissverständlich, wie das Virus des Geldes, verbunden mit der Gier nach Macht und Wohlstand, in die Ordnung der Familie eindringt, sie unterhöhlt und auslöscht. Um das hohe Brautgeld für Zaida aufzutreiben, steigt Rapayet zusammen mit seinem großspurigen Freund Moisés (Jhon Narváez) in das Drogengeschäft ein. Für junge, hedonistische US-Amerikaner des sogenannten Friedenscorps organisieren sie bei entfernten Verwandten in den Bergen eine erste Lieferung Marihuana. Der (auch symbolische) Weg führt dabei aus der trockenen Steppe ins sattgrüne, feuchte Gebirge bis zur Palmen-Kulisse mit Sandstrand vor offenem Meer.

Nach diesem euphorischen Beginn wechseln im Lauf der Zeit auch bald die Transportmittel: Von Eseln wird die illegale Drogenfracht auf Pick-ups verladen, um schließlich im Bauch von Kleinflugzeugen zu verschwinden. Mit der Professionalisierung kommt die Korruption; und die Gier nach Geld bringt schließlich Entzweiung und erbitterte Feindschaft. Als die gegenseitige Auslöschung vor keinem Wert mehr Halt macht und es nichts mehr zu retten gibt, sagt der als Einziger besonnene Rapayet schließlich: „Wie es scheint, haben wir die Seele verloren. Niemand beschützt uns mehr.“

Geheimnis eines Lebens

(GB 2018, Regie: Trevor Nunn)

Böse Menschen, die Krieg machen
von Thomas Blum

Eine alte Dame bei der Gartenarbeit, vor einem schmucken britischen Vorstadthäuschen. Nichts könnte harmloser sein, denkt man. Doch Vorsicht und genau aufgepasst, Freunde der Freiheit! Die Frau, Joan Stanley, war, …

Eine alte Dame bei der Gartenarbeit, vor einem schmucken britischen Vorstadthäuschen. Nichts könnte harmloser sein, denkt man. Doch Vorsicht und genau aufgepasst, Freunde der Freiheit! Die Frau, Joan Stanley, war, bevor sie das possierliche britische Muttchen gab, jahrzehntelang eine Spionin für den Russen bzw. die Kommunisten. Gleich am Anfang dieses Films wird sie deshalb auch von der Polizei verhaftet. Hochverrat! Frau Stanley, die „Rote Joan“, wie sie früher genannt wurde, soll während des Zweiten Weltkrieges und danach für den KGB gespitzelt und Geheimnisse aus Atomforschung und Wissenschaft an Stalins Schergen verraten haben. Nicht einmal ihr erwachsener Sohn, ein blasierter Rechtsanwalt, weiß davon! Kann das möglich sein? Eine Kommunistenhexe, die jahrzehntelang unentdeckt (also von sozialdemokratischen Ministern protegiert) ihre Rosen im Vorgarten stutzen kann, ohne dass der britische Geheimdienst aktiv wird und die Alte in den Knast befördert?

Dann kommt die erste von vielen langatmigen Rückblenden, die der Zuschauer durchstehen muss: Die junge Joan im Jahr 1938, als Studentin an der Universität von Cambridge. Dort lernt sie den feschen, rhetorisch begabten Linksradikalen Leo und dessen ebenso exaltierte wie emanzipierte Schwester Sonya kennen (beide entstammen einer jüdischen Flüchtlingsfamilie), zwei richtige Pfundstypen, die mehrere Sprachen sprechen und sich mordsmäßig mit Weltpolitik auskennen. Der eine ein süßer Lockenkopf mit Grips in der Birne und die andere eine schnafte, eigenwillige Superbraut mit Zigarette zwischen den Fingern und auch mit eigenem Kopf! Gemeinsam geht man bald – logo! – zu sozialistischen Filmabenden und will den Genossen Stalin bei dessen Bemühungen, internationale Gerechtigkeit herzustellen, unterstützen. Tolle junge Leute! Respekt! Leo nennt Joan bald seine „kleine Genossin“ („my little comrade“), denn so haben junge Leute damals geredet, klar, muss man wissen.

© Entertainment One

Doch stopp! Bevor wir hier zu früh zu viel verraten, – zack – erst einmal zurück in die Gegenwart: Die harmlose britische Hausfrau vom Anfang, die gealterte Joan von heute, die, eine elektronische Fußfessel tragend, den Polizisten, von denen sie gerade vernommen wird, einen Tee serviert und auch selbst einen trinkt (aus einer Che-Guevara-Tasse, hihi), beteuert ihre Unschuld: Was, bitteschön? Einem kommunistischen Spionagering soll sie früher jahrzehntelang angehört haben? Nein, nie habe sie jemals etwas Böses im Sinn gehabt, immer nur Gutes!

Worauf die nächste langatmige Rückblende folgt: Die junge Joan, so erfahren wir, sie war verliebt in den feschen Leo, der aufrüttelnde Reden gegen den Faschismus halten konnte und tolle Locken hatte! Doch Leo will nichts von ihr wissen, sondern sie immer nur zum Spionieren bewegen, weswegen Joan eine Affäre mit ihrem Chef beginnt, einem beständig mansplainenden Lackaffen und Rüstungswissenschaftler.

Es folgen viele ermüdende Groschenheftdialoge: „Ich habe dich vom ersten Moment an geliebt“ – „Blablabla“. „Das Letzte, was ich zu ihm sagte, war, dass ich ihn nicht lieben würde, und dann fand ich ihn tot“ – „Schluchz“. „Ich liebe dich noch immer. Sag mir, dass du dasselbe empfindest“ – „Blablabla“. „Ich liebe dich, ich kann nicht leben ohne dich“ – „Seufz“.

Doch irgendwann ist Joan doch bereit, im Interesse der Atomkriegsverhinderung, versteht sich, Geheimnisse aus der Atombombenforschung an den Russen zu verraten bzw. als Kundschafterin für den Frieden tätig zu werden. Erstens deshalb, weil Leo ihr erklärt hat, warum das eine rundum gute Mission ist („Die Bombe muss geteilt werden“). Und zweitens, weil Joan im Kino weinen musste, als sie die Filme über die Atombombenabwürfe der USA auf Hiroshima und Nagasaki gesehen hat.

Die Rote Joan hat also praktisch aus Liebe zur Welt und den Menschen für den Russen spioniert: Nur wenn atomares Gleichgewicht herrscht, also der Russe auch im Besitz der Bombe ist, kann der Frieden bewahrt werden, so lautete ihr Credo. „Ich wollte die Welt vor der Zerstörung retten! Es ging mir nicht um Faschismus oder Kommunismus!“ Na, dann. Faschismus? Kommunismus? Alles nur komplizierte, von Männern erdachte Fremdwörter! Unsere Joan handelt, damit böse Menschen keinen Krieg machen!

Dieser enorm schlechte, kitschige Film von ausgesuchter Langeweile, der in jeder Hinsicht kreuzbrav und bieder erzählt ist, in gut abgehangenen Schnitt-Gegenschnitt-Fernsehfilmästhetik-Blabla-Szenen und mit wie historische Schaufensterpuppen gekleideten Schauspielerinnen und Schauspielern, und der den Zuschauer obendrein unentwegt mit nerviger Schmonzettenmusik volldudelt, hat, wie oben angedeutet, jede Menge Dialoge zum Davonlaufen. Er ist ungefähr so unterhaltsam, originell, überraschend und fortschrittlich wie ein Stück Graubrot. Vor einem Kinobesuch sei hiermit dringend gewarnt.

Diese Kritik erschien zuerst am 03.07.2019 in: Neues Deutschland

Das melancholische Mädchen

(D/FR/DK 2019, Regie: Susanne Heinrich)

Zahnlos-melancholischer Süße-Mädchen-Feminismus
von Katrin Hildebrand

Die Idee ist wirklich gut. Man schicke eine ungewöhnliche Frau durch die Großstadt, konfrontiere sie mit verschiedenen Männern und ganz gewöhnlichen Frauen. Daraus könnten sich – mit feinem Gespür für …

Die Idee ist wirklich gut. Man schicke eine ungewöhnliche Frau durch die Großstadt, konfrontiere sie mit verschiedenen Männern und ganz gewöhnlichen Frauen. Daraus könnten sich – mit feinem Gespür für Absurditäten und gesellschaftliche Abgründe – wunderbare Szenen, ja, ein ganz wunderbarer Film ergeben: bissig, fies, satirisch, gemein, übergriffig, widerwärtig und entlarvend. In „Das melancholische Mädchen“ gibt es genau eine Episode, auf die das zutrifft. Die Protagonistin, leider wirklich mehr ein Mädchen als eine Frau, gerät auf ihrer Reise durch die Stadt – offiziell ist sie auf der Suche nach einem Schlafplatz – an eine durch und durch normale und ebenso durch und durch gestörte Müttergruppe. Was diese Damen treiben und daherschwätzen, erinnert an eine Sekte. Genauso real wie die Vereinigungen religiöser Spinner ist dieser Typus der perversen, im Kern autoaggressiven, sich bis zum Exzess demütigenden Weiber. Perfekt dazu passt die Farbgebung des Films: viele Pastelltöne, alles irgendwie widerwärtig hell, watteweich, die sozialen Klüfte verhüllend, den heimlichen Hass süßlich bedeckend.

Leider hält Regisseurin Susanne Heinrich die Brachialgewalt, die da kurz mit Karacho die Ideologie zerschmettert, nicht durch. Freilich haben viele der folgenden Episoden ihre Momente, ihre Pointen und ihre kritischen Ansätze. Doch auf den Punkt kommt der zahnlos-melancholische Süße-Mädchen-Feminismus nicht mehr. Es fehlt an Brisanz und an einem durchdachten Drehbuch, einer echten Geschichte. Stattdessen reiht sich Moment an Moment, Gleiches an Ähnliches, ein nett gemeinter Slogan an den anderen. Doch ein Slogan ist noch keine Theorie, eine Aneinanderreihung von Immergleichem keine Avantgarde. Die Schauspieler agieren in Theatermanier und sprechen ihre Dialoge bewusst artifiziell, natürlich, um das Absurde zu betonen, sich nicht mit den sozialen Realitäten zu identifizieren. Im Bühnendrama ließe sich das eine halbe Stunde lang ertragen. Im Film nicht länger als 15 Minuten, da das Künstliche irgendwann nicht mehr aufrüttelt, sondern Selbstzweck wird. Da weicht die anfängliche Neugier schnell dem genervten Blick auf die Uhr und dem Drang, die Leinwand mit einem „Willst du mich verarschen oder einfach nur nerven?“ anzubrüllen.

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 06/2019

Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Das melancholische Mädchen“.

Im Vorhof der Geschichte – Celebrating Marx

(D 2019, Regie: Mikko Linnemann)

I am aus Trier
von Thomas Blum

Wir blicken auf das Berliner Marx-Engels-Denkmal, zwei Männer in erstarrten Posen. Und wir hören Vogelgezwitscher. Wie feiert man heute den 200. Geburtstag eines Revolutionärs und international bedeutenden Philosophen, wie Karl …

Wir blicken auf das Berliner Marx-Engels-Denkmal, zwei Männer in erstarrten Posen. Und wir hören Vogelgezwitscher.

Wie feiert man heute den 200. Geburtstag eines Revolutionärs und international bedeutenden Philosophen, wie Karl Marx einer war? Man kann es auf unterschiedliche Art tun. Beispielsweise als Touristenspektakel und inszeniertes Kostümfest, historisierend und entpolitisierend, mit Sonntagsreden von Bürgermeistern, herausgeputzten Marktplätzen und „Kostümführungen“ durch Marx’ frisch verputztes Geburtshaus, also mit Karl Marx, dem lustigen Mann mit dem Bart, als drolliger Stadtmarketingfigur. In Trier, der Geburtsstadt des Philosophen, ist Karl Marx heute vielleicht so etwas wie ein wirtschaftlicher „Standortfaktor“: die Porta Nigra, der Dom, der Moselwein, Karl Marx. Man inszeniert dort beispielsweise auch schamlos so etwas unfassbar Fürchterliches wie eine „Karl-Marx-Revue“, eine üble Mischung aus Laien-Musical und Faschingsblödsinn zum Mitklatschen, die wie zum Hohn auch noch den Titel „I am aus Trier“ trägt und die historische Figur Marx als eine Art possierlichen Vader Abraham des Klassenkampfs verhöhnt (Textprobe: „Kein Buch für auf die Schnelle / 1000 Seiten dick“).

Der Kapitalismus, den man heute nicht mehr so nennen soll, sondern lieber „soziale Marktwirtschaft“, hat sichtlich seinen Weg gefunden, mit Marx’ Vermächtnis umzugehen: die Relevanz oder besser gleich die Existenz des von ihm verfassten Werks zu ignorieren und stattdessen Marx als eine Art Stadtmaskottchen zu betrachten.

„What you feel?“, fragt ein ausländischer TV-Reporter mit Mikrofon den beflissenen Trierer CDU-Baudezernenten, der dem Abladen einer großen Kiste beiwohnt, in der sich eine 5,5 Meter hohe Marx-Statue befindet. Ein Geschenk aus der chinesischen Partnerstadt von Trier. „What you feel?“ – „I’m happy, I’m still happy“, antwortet der CDU-Mann, der in seinem Leben vermutlich nicht eine einzige Zeile von Karl Marx zur Kenntnis genommen hat. „Now the sculpture is here, a great moment!“ Gedenken als Bespaßung der ortsansässigen Bevölkerung, als Medienzirkus und Laienspieltheater.

© Gegenfeuer Produktionen

Als der Lkw, der die Kiste mit der Skulptur vom Frankfurter Flughafen bis nach Trier transportiert hat, das Kasernengelände, auf dem er entladen wurde, wieder verlässt, sehen wir, am unteren rechten Bildrand des Films, den auf eine Mauer gesprühten Schriftzug „Macht kaputt, was euch kaputtmacht“.

Man muss ihn als kleinen, halb versteckten Hinweis des Regisseurs nehmen, dass Gedenken sich nicht zwingend in leeren Ritualen erschöpfen muss, sondern auch, vielleicht sogar bestenfalls, eine Bewahrung und Aktualisierung der Gedanken jener Person nach sich ziehen kann, welcher gedacht wird.

Es gibt also noch mindestens eine andere Art als die bisher beschriebene, das Marx-Jubiläum zu begehen: etwa mit einem „Marx-Kongress“ in der Universität, auf dem wir den linken Politikwissenschaftler Lars Rensmann sprechen sehen. Er redet gerade von Adornos Kritik an Marx, von einer regressiven Linken, die „Identitätskult“ betreibe, und von dem, was Adorno an Marx nicht kritisiert, sondern befürwortet: die universelle Emanzipation der Menschen, die Kritik der politischen Ökonomie. Rensmanns Vortrag, in dem er auch die „fundamental entsolidarisierte Gesellschaft“ benennt, die der Neoliberalismus der vergangenen Jahrzehnte hervorgebracht habe, wirkt wie eine Gegenwelt zu jenem aufgeräumten, von jedem Marxschen Gedanken gereinigten Puppenstubentrier, das in dem Revolutionär nichts anderes erkennen will als einen weißbärtigen Onkel aus der Stadtgeschichte, mit dem man gut Reklame machen kann.

Mikko Linnemann, der Regisseur, konfrontiert in seinem Dokumentarfilm „Im Vorhof der Geschichte – Celebrating Marx“ den Zuschauer mit beiden Arten, Marx zu gedenken: der volkstümlich-kommerziellen Art, bei der Kaffeetassen mit Marx-Konterfei feilgeboten werden und bei der uns von kostümierten Touristenführerinnen Marx’ Leben als Klatschgeschichte und Groschenroman präsentiert wird („Den Bakunin, den mochte er gar nicht!“), sowie der Art, bei der Marx’ philosophisches Werk auf seine Relevanz für unsere Gegenwart abgeklopft wird.

Und manchmal gelingen ihm so in seinem Film Szenenfolgen, in denen die ganze Geschichte des Kommunismus steckt, etwa diese hier: Die Kamera zeigt uns zuerst das Chemnitzer Karl-Marx-Monument in Großaufnahme. Und danach zeigt sie uns die Fassade des „Modehauses Marx“.

Diese Kritik erschien zuerst am 23.05.2019 in: Neues Deutschland

Nuestro tiempo

(MEX/FR/D/DEN/SWE 2018, Regie: Carlos Reygadas)

Die Unvollkommenheit der Liebe
von Wolfgang Nierlin

Ein Panorama unbekümmerter Lebendigkeit eröffnet den Film: In einem flachen, lehmigen Stausee bewerfen sich Kinder mit Schlamm. Über Minuten hinweg und aus leichter Untersicht beobachtet und registriert eine agile Handkamera, …

Ein Panorama unbekümmerter Lebendigkeit eröffnet den Film: In einem flachen, lehmigen Stausee bewerfen sich Kinder mit Schlamm. Über Minuten hinweg und aus leichter Untersicht beobachtet und registriert eine agile Handkamera, geführt von Diego García, dieses Spielen und Toben von Jungen und Mädchen. Die Freiheit des Spiels korrespondiert dabei mit der Weite der Landschaft und dem endlos erscheinenden Himmel über der fernen Bergkette. Zugleich fokussiert das Cinemascope-Bild die Nähe zu den Elementen, den Körpern, der Haut. Eine Gruppe von Jugendlichen, träge unter einem Sonnensegel lagernd, verströmt diesbezüglich Erotik, Lust und Begehren. Sehr viel später blicken wir wiederum minutenlang auf das nächtliche Mexiko-Stadt, gleiten im Vogelflug über ein Meer von Lichtern und ein schier endloses Geflecht von Straßen. Gerade im Kontrast von Natur und Zivilisation verschmelzen Körper und Strukturen zu einer Einheit.

Das indirekte, abschweifende Erzählen mit seiner Suggestion der Gleichzeitigkeit gehört zu den wesentlichen Merkmalen von Carlos Reygadas‘ filmkünstlerischer Arbeit. In seinem neuen Werk „Nuestro tiempo“, das von einer Ehekrise handelt, gibt es immer wieder überraschende narrative Bewegungen und Verknüpfungen, Offenes und scheinbar Unverbundenes. In dieser ästhetischen Praxis steht alles Gezeigte für sich selbst und verweist zugleich auf anderes. Reygadas inszeniert sowohl Kunstwerke, Architektur und Musik als auch Landschaften, Wohnräume und natürliche Lichtstimmungen. Und er integriert in diese mit dokumentarischer Genauigkeit erfasste Vielstimmigkeit des Alltäglichen auch die Perspektiven verschiedener Off-Erzähler.

Besonders eindrucksvoll veranschaulicht wird dieses Erzählverfahren in einer Szene, in der die verheiratete Ester (Natalia López), Mutter dreier Kinder, auf dem Heimweg zu ihrem Ehemann Juan (Carlos Reygadas) von einer leidenschaftlichen Begegnung mit ihrem Liebhaber Phil (Phil Burgers) träumt. Während Regen auf die Windschutzscheibe prasselt und Genesis‘ Song „The carpet crawlers“ erklingt, schleicht sich die Kamera ins Getriebe des Wagens, zeigt seine innere Mechanik; bis Esters erotische Phantasie schließlich unterbrochen wird von Juan, der im Regen durch die Abenddämmerung reitet und eine kurze Zeit seine Frau begleitet.

Carlos Reygadas erzählt das Dramatische dieser Ehekrise, in der irgendwann alles auf dem Spiel steht, nicht dramatisch, sondern als Widerhall in den Menschen und Dingen. Ester geht fremd, zunehmend verfolgt vom Misstrauen und der Eifersucht Juans, der auf einer weitläufigen Farm Rinder und Kampfstiere züchtet, deren tödliche Kämpfe immer wieder als Spiegel fungieren. Zugleich ist Juan ein anerkannter Dichter, der Toleranz und Freiheit zu leben versucht und der deshalb Ehe und Untreue als getrennt voneinander betrachtet, bis schließlich seine Einsicht in die Unvollkommenheit der Liebe unausweichlich wird. Denn Ester, die etwas Neues, bislang Unterdrücktes erfährt, befindet sich längst in einem Prozess der Verwandlung. Trotzdem behauptet sich in „Nuestro tiempo“ ein Bild familiärer Geborgenheit gegen die Vorstellung einsamen Leidens.

The Silence

(USA/D 2018, Regie: John R. Leonetti)

Schnatter! Krächz! Schnarch!
von Thomas Blum

Je mehr es kriselt in der gesellschaftlichen Realität, desto mehr boomt das Horrorfilmgenre. Die Kunst, sie bildet immer auch Ängste ab, die uns umtreiben: die Angst vor einer Invasion, vor …

Je mehr es kriselt in der gesellschaftlichen Realität, desto mehr boomt das Horrorfilmgenre. Die Kunst, sie bildet immer auch Ängste ab, die uns umtreiben: die Angst vor einer Invasion, vor dem Zusammenbruch einer halbwegs funktionierenden Gesellschaftsordnung, vor dem Weltende. Die Angst vor dem, was auf uns zukommt, was uns bevorsteht, muss sublimiert werden. Der Apokalypse-Thriller „The Silence“ deutet bereits in seinem Vorspann an, wohin die Reise geht. In diesem nämlich werden Bilder von Krieg und fortschreitender Umweltzerstörung mit solchen vermengt, in denen Tiere sich jenen Raum zurückerobern, den der Mensch zerstört hat: Die Zivilisation bzw. das, was der Mensch so nennt, kommt an ihr Ende. Bald übernimmt wieder die Barbarei, so lautet die Botschaft.

Die Geschichte geht so: Einer Unzahl ebenso unansehnlicher wie mordlustiger gnomartiger Flugtiere ist es gelungen, aus einer bislang unzugänglichen urzeitlichen Höhle zu entkommen, weil brummdumme Forscher ein Loch hineingeschlagen haben, um zu gucken, was drin ist in der Höhle. Die Folgen sind nicht schön: Die so gut wie blinden, dafür aber ein extrem feines Gehör besitzenden Kreaturen, die aussehen wie eine Kreuzung aus Gremlin, mutierter Fledermaus und Franz-Josef Strauß, fallen scharenweise über die menschliche Zivilisation her und machen fortan anderthalb Stunden lang sowohl fiese Krächz-, Schnatter-, Schnorchel- und Schnarchlaute als auch ungustiöse Zerfleischungsgeräusche beim gemeinschaftlichen Zerhacken der menschlichen Körper. Mittendrin im Ausnahmezustand ist unsere wohlhabende bürgerliche All-American Family aus New Jersey, die fassungslos vor der heimischen Glotze hockt und üble Nachrichtenbilder sehen muss, während am nächtlichen Himmel die Helikopter der US-Armee kreisen. Achtung, Achtung, eine wichtige Durchsage: Bitte alle im Haus bleiben und keine Geräusche machen! Tja, leichter gesagt als getan.

Unsere Familie begibt sich (mit gehörloser Tochter, versteht sich) entgegen der staatlichen Anordnungen auf die Flucht, weg aus New Jersey, raus aufs Land, irgendwo in die Einöde, wo es, so ist anzunehmen, stiller ist, wo die Zahl der potenziellen Lärmquellen geringer ist. Papa, Mama, Schwiegermama, Kinder und der Familienhund können sich sogar in Gehörlosensprache verständigen, was ihnen einen eminenten Vorteil verschafft in einer Welt, in der auf jedes unbedachte Hüsteln eine Attacke der Flugmonster erfolgen kann, die zwangsläufig in einem Gemetzel endet. Also aufgepasst: Wer im stillen Wald zur falschen Zeit einen Asthmaanfall bekommt oder einen possierlichen, aber stupiden Hund, der sich das Bellen nicht verkneifen kann, dabeihat, hat keine allzu hohe Überlebenschance. Die widerlichen Flugviecher haben ja stets gespitzte Ohren.

Eine besondere Rolle ist im Film daher auch dem Mobiltelefon zugedacht, das einst den Siegeszug des technischen Fortschritts und der grenzenlosen Kommunikation symbolisierte. Hier wird es in einer denkwürdigen Szene zum Sinnbild für den Rückfall in die Barbarei und den Terror der permanenten Erreichbarkeit: Einem Kind hat man einen Gürtel nach Art eines Selbstmordattentäters um den Leib gebunden, nur dass an der Stelle, wo sich für gewöhnlich der Sprengstoff befindet, eine Handvoll Handys angebracht ist. Was passiert, wenn sie klingeln, ist nicht allzu schwer zu erraten.

© Constantin

„The Silence“ ist aus mindestens zwei anderen Filmen zusammengeklaut, das merkt man rasch: aus Alfred Hitchcocks „Die Vögel“ (1963) und dem Horrorthriller „A Quiet Place“ (2018). Vom einen hat er den Einfall übernommen, dass unberechenbares Getier aus heiterem Himmel den Menschen angreift, vom anderen die gute Idee, dass jedes unfreiwillig vom Menschen erzeugte Geräusch zu seinem sofortigen Tod führen kann. In einem Filmgenre, das zur Schockerzeugung traditionell mit der Tonspur arbeitet, ist gerade letztere Idee kaum zu unterschätzen: Da jeder Laut Lebensgefahr bedeutet, dient jedes noch so zarte Geräusch uneingeschränkt dem Thrill.

Zweimal zitiert der Film sogar offen Hitchcocks Klassiker: Ganz am Anfang sehen wir jenes klassisch gewordene Filmbild, das eine Menge Vögel eng gedrängt auf einer Stromleitung zeigt, ein Bild, das später, als das Geschehen im Film fortgeschritten ist und unsere geräuschempfindlichen Urzeitviecher bereits die Kontrolle über weite Landstriche übernommen haben, wieder aufgegriffen wird: Jetzt sitzen da – die Kamera fährt zurück und gibt den Blick auf den grauen, wolkigen Himmel und die weite Landschaft frei – friedlich nebeneinander Unmengen der krächzenden Fluggnome auf den Stromtrassen.

Ganz nett ist das. Warum allerdings zwischendurch überflüssigerweise ein öder Teenagerliebe-Kurzplot in die Filmhandlung eingebaut wurde, erschließt sich dem denkenden Zuschauer ebenso wenig wie der Umstand, dass die kleinen Flugmonster manch lautes Geräusch hören und manches nicht (passt vermutlich nicht ins Drehbuch).

Bedauerlich ist, dass viele der jüngeren Hollywood-Horrorproduktionen, und da macht diese hier keine Ausnahme, sich nicht nur konventionellster Genremittel und Erzähltechniken bedienen, sondern auch dem handelsüblichen reaktionären Schluss zustreben, der in aller Regel jede noch so kleine Hoffnung des Zuschauers auf Originalität, auf Ambivalenz oder darauf, dass ein einziges mal wenigstens das Märchen und der Kitsch nicht triumphieren, zunichte macht: Die tapfere Familie, die gute, alte Keimzelle der Nation, rottet sich mit anderen ihrer Art zusammen und gründet im – ebenso geräuscharm wie archaisch, mit Pfeil und Bogen geführten – Krieg gegen die Spezies der ekligen Flugparasiten eine neue Gemeinschaft, um die – sieht man von den allgegenwärtigen vereinzelten Krächzlauten ab – in Stille versunkene Welt wieder zu übernehmen. Vermutlich ja, so steht zu befürchten, um sie wieder so lärmig zu machen wie zuvor.

Diese Kritik erschien zuerst am 15.05.2019 in: Neues Deutschland

Long Shot

(USA 2019, Regie: Jonathan Levine)

Hinter jeder starken Frau wichst ein lockerer Mann
von Drehli Robnik

Ein knuffiger kritischer Journalist, eben auf Druck eines rechten Moguls von seiner Zeitung entlassen, trifft durch Zufall bei einer Retro-Soul-Party seine einstige Babysitterin wieder: Er schwärmte damals als Knabe mit …

Ein knuffiger kritischer Journalist, eben auf Druck eines rechten Moguls von seiner Zeitung entlassen, trifft durch Zufall bei einer Retro-Soul-Party seine einstige Babysitterin wieder: Er schwärmte damals als Knabe mit unfreiwilliger Erektion für sie; sie schwärmte damals als High School Girl für Müllrecycling – und ist nun die multitaskende US-Außenministerin mit optimiertem Image und einer irgendwie öko Agenda – und der Aussicht, bald auch als US-Präsidentin zu kandidieren. Die beiden werden ein Paar.

„Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich“? Ja, eh. So lautet der long title von „Long Shot“. Er macht so richtig Lust auf die Synchronfassung und ist das Gewagteste an dieser Romantic Comedy, die uns erzählt, wie wichtig es ist, sich nicht zu stressen bei dem Versuch, es allen rechtmachen zu wollen, und die sich dabei stresst, es allen rechtzumachen.

Viele Hollywood-Filme sind typisch Hollywood auf eine Art, bei der das nicht weiter stört, sodass anderes zur Geltung kommen kann (und manches davon ist gut); „Long Shot“ hingegen ist typisch und meint es auch so. Das macht viel Druck und erzeugt dabei ein bisschen Charme. Wie denn aber auch nicht bei dieser Besetzung? Charlize Theron, seit 2011 die Dior-Goldmarie, mehrfach Comedy-bewährt, zuletzt aber beeindruckend als Action-Ikone („Platinum Blonde“); ihr gegenüber Seth Rogen, ewiger Stonerbubenbär mit Lachen im unteren Bassbereich, hier in einem Upgrade seiner frühen Erfolgskomödie „Knocked Up“. Sie beide hätten sich mehr Kontur und Pfiff verdient; so wie auch die MeToo-Bewegung, die hier ihre Spuren hinterlässt und höflich grüßt.

© Studiocanal

Konsens regiert. Er ist gegen Nazis, sie ist für Bäume. Unsympathische Männer mögen wir alle nicht. Easy Targets werden verspottet (etwa Bob Odenkirk als narzisstischer US-Präsident mit TV-Serien-Vergangenheit). Zum Glück bleibt alles strikt ausgewogen: Sein Buddy (O´Shea Jackson), eines der nicht-weißen Helferleins in der knuffigen „Rassen“-Hierarchie dieses Films, outet sich aus dem Nichts als begeisterter Republikaner und bigotter Christ. Ja, eh, wir sollten alle, und überhaupt mehr gemeinsam, und dass es bitte nicht zu linksliberal wird. Die Ministerin ist offenbar parteilos. Zu Beginn des Films wird ihre Figur als konsensbemüht eingeführt, er hingegen als unverblümt und kompromisslos (und irgendwie öko). Weil Regisseur Jonathan Levine mit politischen Positionierungen als Material hier aber deutlich weniger anfangen kann oder will als in seiner ganz netten Zombie-Männlichkeits-Satire „Warm Bodies“, bleibt das nicht so; vielmehr wird die Unterscheidung der Haltungen und Strategien in eine Unterscheidung der Lifestyles und Selbstpflege-Techniken. Demzufolge gilt sie dann alsbald als verkrampft, er als gut drauf; sie konsumiert nicht richtig, er bringt’s ihr bei. Er lehrt sie, sie selbst zu sein: Vergiss das Diktat der Ratings, die immer was von dir wollen. Sondern merk dir: Du musst einfach immer locker sein. Schau mehr „Game of Thrones“, nimm ein bisschen Ecstasy, trage Basecaps, hab auch mal Sex, fluche.

Und so reconnectet die Ministerin mit ihrem inneren Girl und bricht mit hantigen Beraterinnen, die für eine als bitchy gezeichnete Welt von miteinander redenden Frauen stehen, sodass er die Definitionshoheit behält. Er wichst am Laptop, sie liebt ihn dafür. Stand by your man, wenn er einen Ständer hat. Merke: Umwerfend aussehende intellektuelle Karrierefrauen finden übergewichtige arbeitslose Buben einfach süß, weil… ja, wie denn nicht? In früheren RomComs mussten die Typen sich noch bemühen, was gleichschauen und Geld haben.

Das melancholische Mädchen

(D/FR/DK 2019, Regie: Susanne Heinrich)

Aus dem Kriegsgebiet weiblicher Selbstverwirklichung
von Wolfgang Nierlin

„Wie bin ich das geworden, was ich nie werden wollte?“, fragt die unglückliche Protagonistin (Marie Rathscheck) im Prolog zu Susanne Heinrichs ungewöhnlichem Episodenfilm „Das melancholische Mädchen“. Ihr krisenhaftes Unbehagen an …

„Wie bin ich das geworden, was ich nie werden wollte?“, fragt die unglückliche Protagonistin (Marie Rathscheck) im Prolog zu Susanne Heinrichs ungewöhnlichem Episodenfilm „Das melancholische Mädchen“. Ihr krisenhaftes Unbehagen an sich selbst und an der Gesellschaft artikuliert zunächst einen noch unverstandenen Zustand weiblicher Identität, auch wenn die Frage ein Wissen über das Wünschenswerte impliziert. Bevor sich das titelgebende melancholische Mädchen auf die Suche nach Antworten begibt und dabei sehr diskursiv Theorie und Praxis verbindet, macht es aber erst einmal seinen Standpunkt als filmische Anti-Heldin klar: Sie eigene sich weder als klassische Identifikationsfigur für den Zuschauer, noch folge ihre Analyse struktureller gesellschaftlicher Verhältnisse einem dramatischen Plot. Während sie das sagt, steht sie, nur in einen Pelzmantel gehüllt, vor einer bunten Tapete mit Meer und Palmen und raucht gleichgültig eine Zigarette.

Die artifiziellen Settings mit ihren flachen, pop-farbenen Hintergründen, die statischen Kamera-Einstellungen, das ausdruckslose Spiel und das mechanische, betont emotionslose Sprechen sind ästhetisches Programm. Susanne Heinrich, die zuvor als Schriftstellerin reüssierte, bezieht sich mit ihrem ebenso kalkulierten wie originellen Film, der mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet wurde, auf den Brechtschen Verfremdungseffekt. Animationen, einige Tanz- und Musicaleinlagen sowie ein zeitloser Bigband-Sound ergänzen und konterkarieren in einigen Teilen diese Distanzierungsverfahren, mit denen die Regisseurin Sehgewohnheiten dekonstruierten möchte. Als „Ästhetik der Glätte“ hat Susanne Heinrich ihre künstlichen Arrangements bezeichnet, in denen feministische Diskurssplitter, funkeln oder aufblitzen, eins stoischer Humor nistet, aber manchmal trotz schräger, aufschlussreicher Einfälle eben auch die Langeweile.

Die ausdrucks- und ziellose Titelheldin selbst verkörpert diesen Überdruss und Ennui am Ende (weiblicher) Utopien, den sie in vierzehn Episoden archetypisch durchdekliniert. Als wohnungslose Schriftstellerin befindet sie sich in einer Schreibkrise. Als zynische Verweigerin, die ihre erlebten Enttäuschungen durchschaut, glaubt sie weder an romantische Liebe noch an ein rosarotes Mutterglück, weder an Beziehungen noch an Sex. In „post-erotischen Zeiten“ empfindet sie ihren Körper als „ein Kriegsgebiet“, „zur Benutzung freigegeben“. Der leerlaufende Narzissmus ist zur Selbstimitation in einem unechten Leben geworden und die „strukturelle Depression“ befördert nur noch das Glück der anderen. Selbst in der Kunst und ihrem „Versprechen auf Freiheit“ sieht die desillusionierte Anti-Heldin nur noch eine „Diktatur der Selbstverwirklichung“. Susanne Heinrichs abschließende „Hymne auf die Gesellschaft“, von Störgeräuschen, visuellen Aufsplitterungen und Verdoppelungen unterwandert, lässt sich deshalb wohl am ehesten als Austreibung verstehen, die vielleicht einen Aufbruch in etwas Neues möglich macht.

Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Das melancholische Mädchen“.

Push – Für das Grundrecht auf Wohnen

(SWE 2019, Regie: Fredrik Gertten)

Drei Zimmer, Küche, Alpaka
von Ricardo Brunn

Sommer 2017. In meinem 350-Euro-Anzug stehe ich auf einer Hochzeit, bei der die meisten Anwesenden noch nicht einmal Schuhe für 350 Euro kaufen würden. Ich wünschte, ich würde mich für …

Sommer 2017. In meinem 350-Euro-Anzug stehe ich auf einer Hochzeit, bei der die meisten Anwesenden noch nicht einmal Schuhe für 350 Euro kaufen würden. Ich wünschte, ich würde mich für Golf interessieren und schaue verlegen nach Wolken am Himmel. Meine meteorologischen Kenntnisse lassen es nicht zu, aus Wolkenformen Rückschlüsse auf die Regenwahrscheinlichkeit zu ziehen, nur eines weiß ich genau: Blauer Himmel bedeutet, dass das Regenrisiko gegen null tendiert. Die Perfektion an diesem Ort macht mich ganz unruhig. Griesgrämig streichle ich ein Alpaka. Der Bräutigam hat keine Kosten und Mühen gescheut und zwei von diesen niedlichen Tieren – eins schwarz, eins weiß – zum Knuddeln organisiert. Desinteressiert grasen sie auf der Wiese in der Mitte des sanierten Dreiseitenhofparadieses, auf dem die auf drei Tage angelegte Hochzeit eines Immobilienmaklers und einer Zahnärztin stattfindet. Engelsgleiche Kinder scharen sich um die Tiere und um mich. Es wird gerangelt und schließlich gebe ich dem Druck der Kleinen nach und schließe mich den Erwachsenen beim Scharen um das auserlesene Mittags-Buffet an.

Während ich mich an meinem mit glänzender Seide bezogenen Stehtisch darüber wundere, dass die Dörfer aussterben und die gutbetuchten Städter im selben Atemzug einen romantischen Hang für Hochzeiten auf dem Land entwickelt haben, gesellt sich ein Gruppe zu mir. Wir kommen ins Gespräch. Ein Mann um die 30, die Haare straff nach hinten gegelt, ist Anlageberater bei einer Schweizer Bank. Er erzählt mir, dass er Kunden mit einem Vermögen von 10+ betreut. Mein erstaunter Blick verleitet ihn zu einer Erklärung: „10+, also 10 Millionen Euro aufwärts“. Viele seiner Kunden stammten aus der Türkei und seien verunsichert, ob der politischen Situation im Land. Er rate ihnen deshalb seit geraumer Zeit, Wohnungen in Berlin zu kaufen – dort sei es noch günstig. Eine bessere Anlage für Geld gäbe es derzeit seiner Meinung nach nicht. Ein guter Zeitpunkt das Weite zu suchen, denke ich. Ich proste dem Mann freundlich zu und steuere angetrunken in Richtung Alpakas. Ich bin jetzt verdammt noch einmal dran mit Streicheln.

Auf dem Weg über den saftigsten Rasen der Welt denke ich an mein Wohnviertel und an meine Nachbarn im Haus. Sie leben in London, haben vor einigen Jahren die etwa 100 qm große Wohnung gegenüber meiner gekauft, kommen aber nur an Silvester nach Berlin, weil die Stadt zur Jahreswende so aufregend ist. Ansonsten steht die Bude leer. Die Wohnung unter mir ist ebenfalls fast das gesamte Jahr über leer. Die Besitzer kommen nur in den Sommerferien mit den Kindern aus Süddeutschland nach Berlin, weil die Stadt im Sommer so lebendig ist. Im Hinterhaus wurden in den letzten Jahren einige Wohnungen verkauft, eine davon zu einem Airbnb-Apartment umfunktioniert. Jeden Monat laufen mir im Hausflur Menschen über den Weg, die ich nicht kenne und auch nicht kennenlernen werde. Die Sozialstruktur meines Kiezes hat sich in den letzten 10 Jahren zunehmend homogenisiert. Familien mit dem nötigen Kleingeld kaufen hier schon einmal zwei benachbarte Wohnungen, machen einen Durchbruch und leben dann auf 120 bis 140 Quadratmetern. Am anderen Ende der Skala teilen Familien, die sich keine größere Wohnung leisten können, mit Rigipswänden Zimmer und machen aus 75 Quadratmetern 75 Quadratmeter. Wohnen heißt heute für jene, denen das Geld fehlt, in die Enge getrieben oder verdrängt zu werden.

Der Deutsche Mieterbund geht davon aus, dass pro Jahr circa 80.000 Mietverhältnisse unter Berufung auf Eigenbedarf des Vermieters gekündigt werden. Zwangsräumungen gehören mittlerweile zum Alltag. Zudem ist in den letzten 30 Jahren die Anzahl der Sozialwohnungen deutschlandweit um mehr als eine Million zurückgegangen, etwa 100.000 davon hat allein Berlin zwischen 2001 und 2010 verloren. Im Gegenzug sind die Kaltmieten in der Hauptstadt in den letzten 10 Jahren um etwa 50 % gestiegen. Neben einer Politik, die die Privatisierung kommunaler und öffentlicher Wohnungsbestände vorangetrieben und die Finanzialisierung im Bereich Wohnen nie behindert hat, tragen auch die Prekarisierung des Arbeitsmarktes und die Hartz-IV-Reformen eine Mitschuld an der Misere. Die Konstruktion des Mietspiegels und der Mietpreisbremse zeigen zudem, dass bezahlbarer Wohnraum für alle Schichten der Gesellschaft eine Utopie und die Wohnraumversorgung marktförmig organisiert ist. Ersterer orientiert sich laut §558 BGB nämlich an den Mietpreisen der jeweils neu vermieteten Wohnungen der letzten vier Jahre. Er steigt also schneller als eine Saturn-5-Rakete in den Himmel und legitimiert weitere Preissteigerungen damit noch. Die Mietpreisbremse wiederum greift im Falle von Neubauten oder der Neuvermietung nach einer Modernisierung überhaupt nicht. Darüber hinaus, so hat das gemeinnützige Recherchezentrum „Correctiv“ kürzlich herausgefunden, shoppen Firmengeflechte mit Sitz in Steueroasen fleißig auf dem Berliner und Hamburger Wohnungsmarkt.

Die sich anschließende Frage, für wen die Städte eigentlich sind und wem sie gehören, wenn die Ungleichheit steigt, ein großer Teil der Bevölkerung es sich kaum noch leisten kann, in der Stadt zu leben und auf der anderen Seite Wohnungen einfach ungenutzt bleiben, steht auch im Zentrum von Frederik Gerttens Dokumentarfilm „Push“. Gemeinsam mit der UN-Sonderberichterstatterin für das Menschenrecht auf Wohnen, Leilani Farha, macht sich der Regisseur auf die Suche nach den Ursachen für die sich weltweit zuspitzende Situation am Wohnungsmarkt. In Farhas Heimat Toronto sind die Mietpreise in den vergangenen 30 Jahren um 425 % gestiegen, die Löhne im Vergleich dazu nur um 133 %. Ein Traum für einen ehemaligen Lehrer, der zum richtigen Zeitpunkt auf den Verkauf vom Immobilien umgesattelt hat. Eine Katastrophe für die Anwohner, die mit zwielichtigen Methoden aus ihren Wohnungen vertrieben werden oder mit Kakerlaken leben müssen und in einen Mietstreik treten. Andernorts wird ein Krankenhaus abgerissen, um Platz für Luxuseigentumswohnungen zu schaffen. Die Menschen gehen hier auf die Straße, weil die gesamte Nachbarschaft nach und nach zerstört wird. Ein Barkeeper übt sich derweil in Betroffenheitsironie. Er hat in Vintageshops die Vorboten der Verdrängung ausgemacht und stößt mit seinen Gästen auf das bevorstehende Ende an.

In der allerorts verhassten Gentrifizierung erkennt Regisseur Gertten jedoch nur eines von vielen und vor allem nicht das größte Problem. Stattdessen geht es in „Push“ um die Systematik der Veränderung, denn auf der ganzen Welt vollzieht sie sich auf die gleiche Art und Weise: Investmentgesellschaften kaufen Immobilien, sanieren aufwendig, die bisherigen Bewohner ziehen aus, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können, und die Häuser und Wohnungen werden zu Spekulationsobjekten in allerbester Wohnlage. Die Städte, so Leilani Farhas Schluss, werden zunehmend unbewohnbar. Zum Beweis führt ein Mann in London durch leere Straßen, auf denen nur deshalb keine Autos fahren, weil in den umliegenden luxuriösen Häusern niemand lebt. Bereits in „Let’s make money“ (AUS 2008) von Erwin Wagenhofer gab es verlassene Hotelkomplexe und Wohnanlagen mit regelmäßig bewässerten Golfplätzen zu besichtigen. Wie damals geht es auch in „Push“ wieder um Rentenfonds, strukturelle Verantwortungslosigkeit und steigende Profitraten. Schienen die gespenstischen Orte in „Let’s make money“ in ihrer Surrealität sowie der distanzierten und wie in einer Schockstarre verharrenden Inszenierung aber noch weit entfernt, als hätten sie nichts mit unserem Leben zu tun, so rückt das Problem in „Push“ dem Publikum drängender zu Leibe, weil Gertten die Betroffenen zu Wort kommen und von Verlust, Ausweglosigkeit und Abgehängtsein berichten lässt.

In einer mittlerweile zum Standard des globalen Dokumentarfilms geronnenen Routine tourt der Film mit seiner Protagonistin von Toronto über London, Berlin, Chile, Mailand und Barcelona nach Südkorea. Dass dies in „Push“ halbwegs funktioniert, liegt neben der Tatsache, dass das Thema Wohnen derzeit bei den meisten Zuschauer*innen auf fruchtbaren Boden fallen dürfte, an der straffen Miles-and-more-Montage. Dramaturgisch gut dosiert entfaltet sie die Zusammenhänge, streut zum richtigen Zeitpunkt knackige Expertenphrasen ein und saust dann in Windeseile weiter um den Erdball. Aufgekratzt bleibt man dicht an der Erzählung, die Hände zu Fäusten geballt. „Push“ will ein informativer, aufrüttelnder Film sein. Doch tun sich schnell die üblichen Abgründe einer von Ausrufungszeichen vorangetriebenen Stakkato-Erzählung auf. Personen werden eingeführt und halbherzig begleitet. Einige werden zu den typischen Funktionsträgern, andere tauchen nach vielen Minuten und diversen Ortswechseln unvermittelt wieder auf und es bleibt offen, warum sie überhaupt im Film ihren Platz gefunden haben. Genaue Ausführungen oder tiefgehende Analysen sind in der Hektik nahezu unmöglich. Viele Aspekte, wie zum Beispiel die wachsende Zahl wohnungsloser Student*innen, Nachverdichtung von Wohnraum, die Tiny-House-Bewegung, Mikroapartments oder die Sargwohnungen Hong Kongs bleiben ganz außen vor. Das Gefühl umfassender Informiertheit, das tatsächlich Ausgangspunkt für eine weiterführende Diskussion nach dem Film sein könnte, kommt so nie auf. Die unzähligen Zwischenschnitte illustrieren dies eindrücklich: Sie halten das Tempo hoch, bewegen sich aber häufig an der Grenze zur Beliebigkeit, zu der sich die auf Mitleid und Spionage abgerichtete Musik gesellt.

Die Inszenierung zeigt, dass im Vordergrund von „Push“ die unnötige Emotionalisierung des Publikums steht. Im Hintergrund wird währenddessen ein gesichtsloser Gegner aufgebaut. Übergroß, unmenschlich und unnahbar formt sich dieser symbolische Goliath, wird zum Platzhalter für viele Unternehmen, die Wohnen als moralbefreiten Raum begreifen, und im Film als Abfalleimer für allerlei angestaute Gefühle der Zuschauer*innen dienen. Die Protagonistin Leilani Farah gibt sich mit ihrem Rollkoffer redlich Mühe, dem Giganten näherzukommen. Ein Projekt mit dem Namen „The Shift“, das einen Paradigmenwechsel vom Wohnen für Profite hin zum Wohnen für Menschen im Sinn hat, wird in Stellung gebracht. Wie genau ebenjener Shift erreicht werden soll, erschließt sich in der zweiten Hälfte des Filmes allerdings nicht so recht, weshalb der Schluss äußert unvermittelt über die Zuschauer*innen hereinbricht: Am Konferenztisch klatschen einige Bürgermeister*innen hoffnungsvoll in die Hände, Leilani Farha lächelt, sagt, dass wir an einem Wendepunkt stünden und stößt mit ihrer neuen Kollegin zaghaft auf die Zukunft von „The Shift“ an. Es fehlen „Push“ spätestens jetzt Menschen, die ernstzunehmende Wege aufzeigen, wie der entfesselte und den Regeln der ökonomischen Knappheitslogik folgende Wohnungsmarkt, in die Schranken zu weisen wäre, gerade weil Wohnen die neue soziale Frage und Ausdruck der stetig wachsenden Ungleichheit geworden ist und der massive Reichtum Einiger die Gesellschaft sowie die demokratischen Strukturen als Ganzes bedroht.

Noch einmal Sommer 2017: Als ich die Alpakas für mich allein habe, weil die Blumenkinder zum Essen gerufen werden, komme ich ins Gespräch mit dem Besitzer der Tiere. Matze, ein Mann um die 60, schwarze Lederweste, schwarzer Cowboyhut, den grauen Kinnbart zu einem dünnen Zopf geflochten, erzählt mir, dass er irgendwann die Schnauze voll gehabt hätte, in die Anden gefahren und dort auf Alpaka-Herden gestoßen sei. Zurück in Deutschland habe der dann endgültig alles hingeschmissen und eine eigene Alpaka-Farm eröffnet. In seinem Schnurrbart hat sich ein Faden Tabak von einer Selbstgedrehten verfangen und wippt bei jedem Satz auf und ab. Ich sage nichts, frage nur, ob die Tiere sich das gefallen lassen würden, den Lärm der Kinder, die Blitzlichter, das ständige Angetatsche. Eigentlich nicht, meint Matze. Diese beiden Exemplare seien nur weniger eigensinnig, weshalb er sie ein wenig erzogen habe. Das funktioniere letztlich wie bei vielen Zuchttieren. Man zeige denen, wo es langgeht und nicht umgekehrt, dann passe das schon. „Macht ist die Antwort auf die Frage, wer wen bewegt“, sage ich spontan in Anlehnung an einen Satz aus einem (in doppelter Hinsicht erfundenen) Ratgeber in Juli Zehs Roman „Unterleuten“. Matze nickt. Jubelschreie, Pfiffe und Klatschen erfüllen den Hof. Soeben wurde die 1,50 Meter hohe Torte angeschnitten. Ein Alpaka schiebt mich mit der Schnauze zur Seite. Aber sanft.

Wir – Der Sommer, als wir unsere Röcke hoben und die Welt gegen die Wand fuhr

(NE/BE 2018, Regie: René Eller)

Selbstermächtigungsphantasien
von Wolfgang Nierlin

Vier verschiedene Perspektiven sollen die Wahrheit ans Licht bringen über die ebenso lustvollen wie schrecklichen Ereignisse jenes Sommers, „als wir unsere Röcke hoben und die Welt gegen die Wand fuhr“. …

Vier verschiedene Perspektiven sollen die Wahrheit ans Licht bringen über die ebenso lustvollen wie schrecklichen Ereignisse jenes Sommers, „als wir unsere Röcke hoben und die Welt gegen die Wand fuhr“. Der irreführende deutsche Untertitel zu René Ellers Debütfilm „Wir“ lenkt diesbezüglich aber eher ab. Was die jugendlichen Protagonisten Simon, Ruth, Liesl und Thomas in vier Kapiteln nacheinander vor Gericht oder in Telefonaten mit ihren Müttern erzählen, folgt in seinem Informationsfluss einer Dramaturgie zunehmender Klarheit und Verdichtung. Immer wieder setzt die Handlung mit jenem 10. Juni ein, als die achtköpfige Clique im Überschwang eines euphorischen Sommergefühls sich aufmacht, „die Welt zu entdecken“ und dabei Grenzen überschreitet. „Die Hormone schossen uns aus den Ohren“, heißt es einmal über den unwiderstehlichen Drang, „sich auszuleben“ und dabei jegliches Maß zu verlieren.

Was mit harmlosen Vergnügungen, frivolen Streichen und gewagten Sexspielchen beginnt, kulminiert schließlich in sexueller Ausbeutung und roher Gewalt. Dabei irritiert eine gewisse Unbekümmertheit und der Mangel an moralischen Skrupeln, der nur zum Teil dem Alter der Jugendlichen geschuldet ist. Dem niederländischen Regisseur René Eller, der für seinen in Rückblenden erzählten Film einen skandalumwitterten Roman des flämischen Autors Elvis Peeters adaptiert hat, geht es nicht um eine Analyse oder Erklärung der Taten. Trotzdem zeigt er in Ansätzen eine soziale Einbettung des gruppendynamischen Geschehens. So führt bereits der eröffnende Vogelflug der Kamera in die lichtdurchflutete, geordnete Wohlstandswelt des kleinen belgischen Grenzorts Wachtebeke, aus der die Jugendlichen ausbrechen möchten. Dabei spielt auch die Rebellion gegen eine restriktive Erziehung und bevormundende Eltern eine Rolle. Doch bei aller Lust an der Transgression und dem unstillbaren Bedürfnis, das Leben zu intensivieren, können diese im Grunde „normalen“ Bedingungen den Prozess der Verrohung nur zum Teil plausibel machen.

Während für Simon (Tijmen Govaerts) alles mit einer starken Verliebtheit beginnt, ist es für Ruth (Maxime Jacobs) eine übergroße Eifersucht. Wenn sie sich schließlich zusammen mit ihren Freundinnen entschließt, Pornos zu drehen und sich zu prostituieren, geht es nur vordergründig ums Geld. Stärker ist ihr Wunsch, sich überlegen und mächtig zu fühlen. Auch Liesl (Pauline Casteleyn) strebt nach Höherem, wenn sie die Realität zur Kunst erhebt, das „Leben als Reality Show“ begreift und damit die „abscheulichen Taten“ zu künstlerischen Aktionen veredelt. Sie suche nach Größe, Wichtigkeit und Tiefe. Jugendlicher Narzissmus und mediale Abstumpfung gehen hier Hand in Hand. In der Figur des Anführers Thomas (Aime Claeys), der in seiner reichen Familie als Außenseiter und Verlierer gilt, wird dieses Motiv der übersteigerten Selbstgeltung als eines Willens zur Macht schließlich zugespitzt. In der ebenso geschmeidigen wie sadistischen Weltaneignung durch diesen jungen Mann ist die Wahrheit eine Lüge. Ellers kursorische, mehr atmosphärische Erzählweise unternimmt deshalb nur wenig, um Verständnislücken zu füllen oder das Ungeheuerliche abzumildern.

Burning

(KOR 2018, Regie: Lee Chang-dong)

Slow Burn
von Ricardo Brunn

Der Horizont brennt. Langsam verschwindet die Sonne hinter den Hügeln und taucht den Himmel in glühendes Orange, dass sich weiter oben in das unergründliche Blau der Nacht verliert. Jong-su (Yoo …

Der Horizont brennt. Langsam verschwindet die Sonne hinter den Hügeln und taucht den Himmel in glühendes Orange, dass sich weiter oben in das unergründliche Blau der Nacht verliert. Jong-su (Yoo Ah-in), Hae-mi (Jeon Jong-seo) und Ben (Steven Yeun) sitzen in alten Liegestühlen vor Jong-sus kleinem, abgelebtem Landhaus. Vor ihnen auf dem Campingtisch stehen die Überreste eines improvisierten Abendessens, daneben eine leere Flasche Wein. Die drei Mittzwanziger rauchen einen Joint und schauen über die Felder zu ebenjenem feurig leuchtenden Horizont. Etwas weiter rechts, da, wo die Berge bereits von Dunkelheit eingehüllt liegen, befindet sich die Grenze zu Nordkorea. Lautsprecher tragen während des Tages Propaganda über die Felder bis zum Haus. Jetzt ist es still. Es ist eine Stille, die nur Freunde kennen. Nichts muss gesagt werden. Der Augenblick siegt über die Worte. Nur sind Jong-su, Hae-mi und Ben gar keine Freunde. Eigentlich kennen sie sich so gut wie überhaupt nicht. Die Szene hat deshalb auch nichts Unbeschwertes an sich. Es lastet ganz im Gegenteil, seit Ben mit Hae-mi in seinem Porsche 911 am Nachmittag angekommen ist, eine beklemmende Unruhe auf diesem Moment.

Jong-su hatte Hae-mi erst wenige Wochen zuvor kennengelernt. Sie sind zwar zusammen zur Schule gegangen und haben im gleichen Dorf gewohnt, doch das scheint in einem weit entfernten Paralleluniversum gewesen zu sein. Jetzt trägt Jong-su Pakete aus, Hae-mi jobbt als Hostess vor kleinen Shops in den engen Gassen Seouls und verteilt Lose für Tombolas. Schnell kommen sich die beiden auf Initiative Hae-mis näher, gehen essen, landen – trotz einiger Unbeholfenheit – im Bett. Wenige Tage später fährt Hae-mi überraschend für mehrere Wochen nach Afrika und bittet Jong-su – der gerade in das Haus seines Vaters auf dem Land gezogen ist, weil der mürrische alte Mann zu einer Haftstrafe verurteilt wurde – auf ihre Katze aufzupassen. Hae-mi will die Kalahari in Kenia sehen. Jong-su ist verwirrt, weil Hae-mi ihn einfach so verlässt. Und die Zuschauer*innen sind es auch, denn was Jong-su nicht zu wissen scheint: Die Kalahari liegt nicht in Kenia. Zu allem Überfluss bekommt Jong-su die Katze in Hae-mis Mikroapartment bei der täglichen Fütterung nicht zu Gesicht und die Frage, was hier vielleicht noch alles nicht stimmt, breitet langsam ihre zarten Wurzeln aus.

Hae-mi kehrt schließlich mit Ben – einem seltsam in sich ruhenden, reichen jungen Mann, der Arbeit (wie eigentlich alles andere auch) eher als ein Spiel begreift und den amerikanischen Lebensstil verinnerlicht hat – aus Afrika zurück. Nur wie Langzeitreisende sehen die beiden überhaupt nicht aus. Mit ihren kleinen Rollkoffern erinnern sie eher an Wochenendausflügler der Generation easyjet. Doch Jong-su hat dafür keinen Blick. Entgeistert nimmt er ohne jeden Widerstand seinen ihm zugewiesenen Platz als fünftes Rad am Wagen in der neuen Dreierkonstellation ein. Gemeinsam treffen sie sich zum Essen im Restaurant oder verabreden sich zum Kochen in Bens perfekter Designerwohnung. Wenige Tage später sitzen die jungen Leute schließlich vor Jong-sus Haus und schauen friedlich in die Ferne. Als Hae-mi hinein geht, um auf der Couch ihren Rausch auszuschlafen, vertraut Ben Jong-su überraschend an, dass er regelmäßig alte Gewächshäuser anzünde und dann in Ruhe zusehe, wie sie herunterbrennen. Das nächste sei sogar ganz in der Nähe. Kurz darauf wird Hae-mi sich in Luft auflösen. Die Gewächshäuser in der Umgebung hingegen bleiben unberührt.

Immer weiter verschieben sich von nun an die Koordinaten von Wirklichkeit und Einbildung, Objektivität und Subjektivität. Andeutungen, Vermutungen und Indizien werden von Regisseur Lee Chang-dong vor den Augen des Publikums sorgfältig ausgebreitet, dass Hitchcock seine wahre Freude gehabt hätte. Sie machen aus „Burning“ einen meisterhaft paranoiden Schwelbrand. Ganz nebenbei fügen die narrativen Unzuverlässigkeiten in Kombination mit einer im Widerspruch zu den Ereignissen stehenden ruhigen, vollkommen gefassten Erzählweise mit einigen Plansequenzen sowie irritierend lebensfrohen Farben dem neo noir neue Nuancen hinzu.

Man dürfe sich nicht vorstellen, dass etwas da sei, erklärt Hae-mi Jong-su, als sie ihm einmal stolz ihre Pantomimekünste präsentiert. Stattdessen müsse man vergessen, dass etwas nicht da sei. Trotzdem begibt sich Jong-su auf die Suche nach Hae-mi, als diese verschwindet. Immer tiefer verstrickt er sich in einem unergründlichen Labyrinth, das vorgibt unsere Welt zu sein. Nie kann er sicher sein, wie seine Entdeckungen einzuordnen sind. Noch viel häufiger entpuppt sich das Gefundene gar als Abwesendes. Die Lücken werden nicht oder nur mit weiteren Lücken gefüllt. Die Existenz eines Brunnens, in den Hae-mi als Kind gefallen sein soll, wird von einigen bestritten, von anderen bestätigt. An Hae-mis Sturz kann sich indes niemand erinnern. Der Brunnen bleibt ein (metaphorisches) schwarzes Loch, eine Lücke in den Erinnerungen. Und selbst die Figuren sind gekennzeichnet von unergründlichen Leerstellen: Ben sagt von sich, dass er weder Tränen noch Eifersucht kenne. Auch sonst scheint ihm jede Gefühlsregung fremd zu sein. Über Hae-mi heißt es, sie hätte niemanden und nichts außer Schulden. Und Jong-su, der von einem Leben als Schriftsteller träumt, fragt sich, was man über eine Welt schreiben soll, die man nicht versteht. Er irrt wie ein Getriebener durch die Einstellungen des Filmes, die in ihrer Länge ein ums andere Mal Erkenntnis versprechen, wenngleich mit jeder Minute und jedem Schnitt alles nur noch rätselhafter wird.

Verzweifelt pendelt Jong-su zwischen verarmtem Land- und prekärem Stadtleben, versucht Sinn aus den Ereignissen und dem Dasein zu kondensieren, trifft aber doch nur auf Leere und Wortlosigkeit. Die nächtlichen Anrufe eines Unbekannten, der stumm bleibt, reißen Jong-su aus dem Schlaf. Ein Gespräch mit seiner permanent auf das Telefon starrenden Mutter gerät zum familiären Fiasko und betont nur den Graben zwischen ihnen. Mit dem Vater wechselt er gar überhaupt kein Wort. Dieser wiederum würdigt den Sohn bei seiner Verhandlung im Gerichtssaal kaum eines Blickes. Niemand steht irgendwem bei, alle Bande scheinen aufgelöst.

„There’s something clearly wrong, but we just can’t see it, though it’s part of everyday life.“ sagt Regisseur Lee Chang-dong in Abwandlung einer Dialogzeile Bens über seinen Film, der die mysteriöse Prämisse der zugrunde liegenden Kurzgeschichte „Scheunenabbrennen“ von Haruki Murakami um die Facetten der Befragung gesellschaftlicher Verhältnisse Südkoreas sinnvoll und notwendig erweitert. Die Spannung, die der Film über eine Laufzeit von 148 Minuten konstant aufrecht zu erhalten imstande ist, reflektiert die Beschaffenheit und die Auswirkungen leerlaufenden Antriebs im Land der Rastlosen: Bereits in der Grundschule beginnt ein gnadenlose Wettbewerb unter den Südkoreaner*innen. Zwar belegt das Land in der PISA-Studie im weltweiten Vergleich immer wieder einen der vorderen Plätze. In kaum einem OECD-Staat sind die Schüler*innen Studien zufolge jedoch aufgrund des Leistungsdrucks unglücklicher. Nirgendwo ist die Selbstmordrate höher. Noch ein wenig schneller dreht sich das Hamsterrad dann in der Arbeitswelt. Per Gesetz ist die Arbeitswoche auf unglaubliche 68 Stunden begrenzt, viele Südkoreaner*innen arbeiten allerdings mehr. Sechs Tage pro Woche und bis zu 14 Stunden täglich sind keine Seltenheit. Das auf diese Weise hart erkaufte Wirtschaftswachstum, das auch Ausdruck eines ideologischen Wettbewerbs mit dem kommunistischen Norden ist, ist jedoch weitgehend entkoppelt vom Wohlbefinden der Mehrheit im Lande und sorgt kaum für neue Arbeitsplätze oder steigende Löhne. In der Hightech-Nation gilt das Versprechen auf Wohlstand für die jüngeren Generationen schon lange nicht mehr. Die Jugendarbeitslosigkeit steigt, der Zusammenhalt zwischen den Generationen schwindet, die Ungleichheit wächst rasant, genauso wie die Zahl der Berufsunfälle aufgrund von Überarbeitung. Im Gegenzug sinken die Geburtenzahlen, denn die Zentrierung auf die Karriere und der hohe Druck in der Arbeitswelt führen langfristig zu einer mangelnden Bereitschaft Beziehungen einzugehen. Zudem wird seit einigen Jahren ein Trend zur Asexualität bei jungen Südkoreaner*innen diagnostiziert.

Zurück bleiben mit Jong-su, Hae-mi und Ben die Nachkommen eines Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells, das in der Zweckrationalisierung des gesamten Lebens nach Maßstäben der Effektivität und Effizienz besteht. Sie bilden die Vertreter einer neuen Klassengesellschaft, in der die Armut der einen auf den Reichtum der anderen trifft. Während Hae-mi fasziniert durch Bens weitläufiges Designerapartment schlendert und vom Aufstieg träumt, fragt Jong-su sich, wie einer sich das alles so jung schon leisten könne. Zugleich kann man an den Gesichtern der drei die Kehrseite der Individualisierung ablesen, deren unausgesprochener Zwang zur Selbstoptimierung das Ich in letzter Konsequenz implodieren und in der Einsamkeit der Depression enden lässt. Und es ist diese Einsamkeit, von der die Szene vor Jong-sus Haus so eindringlich erzählt und die in einem traumhaft schönen Tanz Hae-mis zu den außerweltlichen Klängen von Miles Davis einen ersten Höhepunkt findet. Voll plumper Zärtlichkeit bewegt sich die dunkle Silhouette des nackten Oberkörpers vor dem glühenden Horizont. Ein Tanz so bezaubernd und frei, dass er in Tränen Hae-mis enden muss, weil die Freiheit für sie nur Leere bereithält. Mit „Burning“ schaut Lee Chang-dong in das jugendliche Herz einer Gesellschaft, die im Begriff ist als Ganzes langsam auszubrennen und zu verschwinden, bevor sie überhaupt begonnen hat zu leben.

Godzilla 2: King of the Monsters

(USA 2019, Regie: Michael Dougherty)

Alle reden, einer brüllt
von Drehli Robnik

Stell dir vor, es sitzt eine bunte Runde beisammen, begafft Screens, betätigt Tastaturen und redet ununterbrochen, mal tiefsinnig, mal halblustig: So was kann ja durchaus ganz nett sein; etwa beim …

Stell dir vor, es sitzt eine bunte Runde beisammen, begafft Screens, betätigt Tastaturen und redet ununterbrochen, mal tiefsinnig, mal halblustig: So was kann ja durchaus ganz nett sein; etwa beim gemeinsamen Songcontest- oder Kanzler-Abwahl-Liveshow-Schauen. Weniger nett ist es allerdings, wenn du nicht Teil der Runde bist, sondern dir eine solche Runde, die sitzt und witzelt, tiefsinnt und tastet, als ein Anblick geboten wird, der vor dir auf der Kinoleinwand abläuft, in 3D, dazu jeder Sager in Sensurround-Böllersound.

Das aber ist der Primärinhalt von „Godzilla 2: King of the Monsters“. Hier findet Franchise-Echspansion mit zu viel an Handlung und Kommunikation statt: Hier ist zu viel Entführungsstory, zu viel Redewettbewerb im Control Center (Hey, ist schon wieder 1998? Sind wir im Kontrollraum von „Armageddon“?); spezifischer ist hier das Übermaß an Softwareeinsatz beim Speed-Dating mit Urzeitwesen, von denen manche uns Menschen so wohlgesinnt sind wie einst Flipper, der kluge Delfin, oder Balu, der auch nicht ganz blöde Bär. Und welche Wesen wesentlich gut sind, welche hingegen böse, und auch auf der Menschenwesenseite – wer ist bös und tut nur lieb und vice versa? –, das will alles herausgefunden sein. Reden wir drüber! Das kriegt Tiefgang, macht den Film lang und das Ticket teurer. Es sprechen unter anderen Vera Famiga, Ken Watanabe, Millie Bobby Brown und Bradley Whitford. Kyle Chandler – schon aus dem 2005er „King Kong“ und aus „Super 8“ im Monster-Management bewährt – schaut sehr oft sehr verkniffen.

Der Auftakt-„Godzilla“ hatte 2014 die Latte hoch gelegt: Das war ein Traum, ein Sleepwalk, von einem Actionfilm, bei dem Gareth Edwards Inszenierung auf Blackouts, Nicht-Handlungen und minimalistische Akzente setzte. Im neuen Film aber ist Plot Gott. Dessen Regisseur Michael Dougherty greift aus seinen Horrorkomödien „Trick or Treat“ (eh okay) und „Krampus“ (sehr okay) leider nicht die Habitussatire auf, sondern den Hang zum Ritual – sprich: erst Halloween, dann Weihnachten, nun Godzilla-Vergötzung. Da ist Gojira schierer Gott und Mythos gilt als purer Sinngarant. Ab nach Atlantis, heim ins Tierreich: Dieser Film spitzt wortgewaltig eine ethische Alternative zu: entweder restoring order ohne Menschen oder restoring order mit Menschen (und kleinbürgerliche Kern-Family-Values). Etwas anderes als Königsnatur-Faschismus scheint es alles in allem nicht zu geben. (Solche Ursprünglichkeits-Anbetungen spotten der demokratischen Initiative all der jungen Leute, die an Freitagen und auch sonst gegen die Politik fortgsetzter Erdröstung demonstrieren und in Wien dabei von der Polizei mit der Nierenfaust sonderbehandelt werden.)

© Warner Bros. Pictures

Aber gut, der Fan will sich verneigen, und ein Film muss offenbar ein Altar sein. Gut muss er nicht sein, es muss nur alles vorkommen, was dem Fan heilig ist. Der Fan ist meist männlich; normale Leute interessieren sich für so was eher nicht, die sehen lieber manchmal einen guten Film. Leider macht die Unterhaltungsindustrie immer wieder den Fan zum „kategorischen Subjekt“ ihrer Produkte; sie baut, zeigt, vermarktet alles aus dessen Optik. Dabei könnte sie es besser, etwa auch im Kong von 2017 (da war der Titelheld weniger King als grumpy old Sozialstaat, deshalb auch „Skull Island“).

Letztlich geht’s in „Godzilla – König der Herzen und Monster“ aber eh um profane Projekte, vor allem um Monsterverse-Inventur und wechselseitigen Skills-Abgleich. Ab und zu hat der Titelverteidiger, nun recht oft in Cameron’schem Abyss-Blau illuminiert, Zores mit Neuzugängen; einer davon hat drei Köpfe, alle haben pittoreske Namen und sehen durchaus trendy aus. Es ist aber bei all den Schaukämpfen stets mehr als ein Hauch von Autoquartett, Hubraum-Contest, zu spüren: Mein Opel bzw. Pokémon kann fliegen – dafür kann meiner blaue Strahlen speien – ja, aber meiner rot glühen. Boston birst am besten. Watanabe macht – erschöpft, nachdem er am zweitmeisten gesprochen hat – den atomaren Abgang, eine nicht unrührende Anspielung auf die Hiroshima-Vätersünden-Allegorik des japanischen 1954er Erst-„Godzilla“. Aus diesem alten Film wird im Score auch das Musikthema zitiert (am meisten im Abspann). Das ist eh schön. Irgendwann sagt jemand en passant „You gotta be fucking kidding“, das ist aus „The Thing“. Dem von 1982, Carpenter, eh klar. Fan, das sind wir ja alle. 2020 gibt´s dann Godzilla versus Gorilla.

Sympathisanten – Unser Deutscher Herbst

(D 2017, Regie: Felix Moeller)

Klappe zu, RAFe tot
von Dietrich Kuhlbrodt

Die RAF, die Siebziger. Die Sympathisanten galten als Mittäter. Die Hysterie war ein Fressen für die Medien, ein Event nach dem anderen von der und für die Springer-Presse. Im „Spiegel“ …

Die RAF, die Siebziger. Die Sympathisanten galten als Mittäter. Die Hysterie war ein Fressen für die Medien, ein Event nach dem anderen von der und für die Springer-Presse. Im „Spiegel“ gab’s zum Feindbild eine Serie. Die Behörden kamen in Schwung. Für die „Sympathisanten des Terrors“ hagelte es Berufsverbote, bis die Bundesrepublik sympathisantenfrei war. Die Demokratie verblich im Herbst.

Der Film changiert zwischen dem Schaltjahr 1968, zwischen den Alt-68ern, zwischen Familie und dem, was inzwischen Filmgeschichte geworden ist. Regisseur Felix Moeller lässt in seinem Dokumentarfilm seinen Stiefvater Volker Schlöndorff („Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, 1975) und seine Mutter, die Sympathisantin Margarethe von Trotta („Das zweite Erwachen der Christa Klages“, 1978), zu Wort kommen. Sie liest aus ihren Tagebüchern der RAF-Zeit vor. Neben ihr erinnern Filmausschnitte und Statements an den Herbst von damals. 40 Jahre danach treffen im Film Sympathisanten und (heute sympathisch wirkende) Täter zusammen. Einer wie Karl-Heinz Dellwo hatte 21 Jahre im Knast verbracht (wegen des Anschlags auf die deutsche Botschaft in Stockholm). Einige reden wie alte Herren: „Heute bin ich für die CDU. Für die Merkel.“ Tja. So läuft’s auf dem Klassentreffen.

Der Film widmet dem Danach einen gehörigen Platz. Und weiter? Felix Moeller macht einen Vorschlag. Wissenschaftliche Aufarbeitung sei angezeigt. Löblich, dann wäre die Dunkelzeit unserer Sympathisantenhysterie in den Schubladen der Akademiker untergebracht. Aber es bliebe die Frage, wie es gewesen wäre, in diesem Film auch nur ein einziges junges Gesicht zu sehen. Die Frage, was junge Leute von heute mit den Siebzigern anfangen können. Ich ahne die Antwort: „Keine Ahnung!“ Hallo? Gibt’s noch ’ne andere Antwort?

Moeller hatte 2014 mit seinem Film „Verbotene Filme“ dazu eingeladen, sich mit Veit Harlans „Jud Süß“ und anderen Nazi-Filmen zu befassen. Dazu brauchte es keine Worte, sondern die vertraute Werbeästhetik, die die Ausschnitte der alten Filme quietschbunt aufmotzt. Positiv formuliert: die Nazi-Filme gegenwärtig macht. Genau das macht „Sympathisanten“ nicht. Die klassische Dokumentarfilmästhetik lässt das Thema in der Vergangenheit ruhen.

Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 06/2018

The House That Jack Built

(DK/FR/D/SWE 2018, Regie: Lars von Trier)

Kunst und Wert
von Philipp Schwarz

Jack (Matt Dillon) weiß eine ganze Menge. Unter anderem kennt er sich aus mit den kulturellen Hintergründen und den strategischen Feinheiten der Jagd, weiß um die besonderen Geräusche der deutschen …

Jack (Matt Dillon) weiß eine ganze Menge. Unter anderem kennt er sich aus mit den kulturellen Hintergründen und den strategischen Feinheiten der Jagd, weiß um die besonderen Geräusche der deutschen Stuka-Bomber aus dem Zweiten Weltkrieg und hat auch die statischen Besonderheiten gotischer Kathedralen genauestens einstudiert. Immer wieder schwelgt Jack in Lars von Triers „The House That Jack Built“ in diesem vielfältigen Detailwissen und gibt es in ausführlichen Referaten wieder, die von Trier in Wikipedia-Manier mit Diagrammen, Fotos und filmischem Archivmaterial anschaulich bebildert. Adressat von Jacks Ausführungen, die nur im Off zu hören sind, ist der ebenfalls zunächst unsichtbare Verge (Bruno Ganz), der Jack den Weg hinab ins Erdinnere weist, durch Höhlen und unterirdische Seen bis in die Tiefen des Infernos.

Jacks Detailwissen ist nicht nur ein statisches Archiv, angelegt und erweitert aus reiner Lust am Sammeln und aus einer Faszination für das scheinbar Unbedeutende. Es ist vielmehr ein Reservoir an Ideen und Motiven, aus dem Jack beständig Inspiration für seine eigentliche Tätigkeit, für seinen wahren und einzigen Lebensinhalt schöpft: das Morden. Jack ist ein Serienkiller, der in seinem Tötungswerk immer auf der Suche ist nach allgemeinen Strukturen, nach formalen Entsprechungen und weitreichenden bildlichen Assoziation. Das Morden ist für Jack seiner Struktur und seinem Anspruch nach in erster Linie eine künstlerische Aktivität: Das Individuelle der einzelnen Tat soll stets ins Exemplarische erhoben werden und die besonderen Begierden und die zufälligen Gelüste, die Jack in seinem Handeln leiten, sollen zu einer Erkundung des Allgemeingültigen erklärt werden.

So entwirft „The House That Jack Built“ in der Abfolge einzelner Morde, von denen Jack seinem greisen Wegführer berichtet und die von Triers Film ausführlich darstellt, in erster Linie eine Künstlerbiografie. Eine Biografie, die von Trier an mehreren Stellen des Films auch ganz explizit auf sein eigenes Schaffen bezieht, auf die eigenen früheren Filme und auf die Kontroversen, die in gewissem Sinne immer auch schon Teil seines Werkes waren. Doch seine faszinierende Energie entwickelt „The House That Jack Built“ nicht in erster Linie durch diese Gesten der Selbstreflextion und auch nicht durch die bis ins Groteske gesteigerte Brutalität der einzelnen Morde, sondern durch sein Porträt eines Künstlertums, in dem das fertige Werk überhaupt keine Rolle mehr spielt und dessen ganzer Wert allein in dem Schaffensprozess und in dem Vorgang der Gestaltung liegt.

Denn Jack ist, bei allem wortmächtig formulierten Kunstanspruch, vor allem ein Dilettant: Er führt seine Morde nicht auf eine handwerklich ausgefeilte Art aus und ist auch nicht kreativ im Einsatz seiner Tötungsmittel. Wenn er etwa einmal lügen muss, um seine Opfer in Sicherheit zu wiegen, dann gleitet er schnell in ein hilfloses Stottern ab und muss infolgedessen auf eine grobe, dumpfe und schematische Brutalität zurückgreifen, um sein mörderisches Vorhaben überhaupt zu einem Ende zu bringen. Aber auch das sichtbare Ergebnis dieses Tötens – die Leichen, die Jack dann für stolze Porträtaufnahmen auf einem Sofa arrangiert oder in ein Stillleben mit ein paar Dutzend toten Wildvögeln einfügt – entwickelt nie einen ästhetischen Mehrwert, ist nicht schön oder auf schaurige Weise erhaben, wird nie mit dem Schimmer einer tieferen Bedeutsamkeit aufgeladen: Die Leichen erfahren keinerlei Verwandlung, sie bleiben stets nur tote Körper, Zeugnisse eines sinnlosen Zerstörungswerkes.

Aber weder die mangelnde Virtuosität in der Durchführung noch die ästhetische Wirkungslosigkeit des fertigen Werks haben zur Folge, dass Jacks Morden irgendetwas von seinem Kunstcharakter verliert. Wenn von Triers Film eine Provokation bereithält, dann diese: Die Kunst, das macht „The House That Jack Built“ wieder und wieder deutlich, legitimiert sich nicht durch das Werk und vor allem nicht durch den Wert, den dieses Werk für ein gegebenes Publikum entfalten mag. Ihr eigentlicher Zweck liegt nicht, wie oft gemeint, in der Gestaltung einer reichhaltigen, mehrdeutigen Erfahrung, in der Vermittlung neuer Erkenntnisse oder in der Hervorrufung vielgestaltiger sinnlicher Reize. Die Kunst ist vielmehr immer und ausschließlich eine Art und Weise, sich zu der Welt und der eigenen Lebenswirklichkeit zu verhalten. Sie ist ihrem Wesen nach ein privates, narzisstisches Unterfangen und jeder äußere Mehrwert, den sie sonst entfalten mag, ist rein zufälliges Beiwerk – ist reine Verzierung, die auf die Statik und den inneren Charakter des Gebäudes keinerlei Einfluss hat.

Und so kommen Jack, von Trier und „The House That Jack Built“ in einer immer wiederkehrenden Überlagerung der Perspektiven beständig auf ein einzelnes Bild zurück: auf eine Filmaufnahme, die Glenn Gould beim Spielen einer Bach-Fuge zeigt. Goulds Spiel ist virtuos, sicher, und die Musik ist wunderschön, aber das Entscheidende in diesem kurzen Ausschnitt ist Goulds lautes Summen, das die klaren Linien der Musik überlagert und das die Reinheit der einzelnen Töne immerfort durchbricht. Zu jedem Moment vermittelt Gould den Eindruck, dass das, was hier stattfindet, eigentlich gar nicht für Außenstehende gedacht ist. Dass die Musik gar nicht gehört, sondern nur gespielt werden will.

Hier und hier finden sich weitere Kritiken zu „The House That Jack Built“.

Ray & Liz

(GB 2018, Regie: Richard Billingham)

Im Trostlosen gefangen
von Wolfgang Nierlin

Ein Mann schläft, während Regen gegen die Scheibe der kleinen Dachwohnung prasselt und im spartanisch eingerichteten Zimmer da und dort Schmeißfliegen summen. Wenn Ray (Patrick Romer) erwacht, gilt sein erster …

Ein Mann schläft, während Regen gegen die Scheibe der kleinen Dachwohnung prasselt und im spartanisch eingerichteten Zimmer da und dort Schmeißfliegen summen. Wenn Ray (Patrick Romer) erwacht, gilt sein erster Griff einer Plastikflasche mit selbstgebrautem Starkbier. Auf der Bettkante sitzend, trinkt er konzentriert und zügig sein erstes Glas. Warmes Sonnenlicht fällt in breiten Streifen auf die vergilbte Tapete, ein Elektroheizer glüht, gleichmäßig Stille erfüllt den Raum, der wie eine Zelle wirkt. Ray ist ein harter Trinker, der durch die Gleichförmigkeit seiner vom Alkohol notdürftig belebten Tage treibt, als würde die Zeit stillstehen. Alles geschieht ruhig und langsam. Alles wiederholt sich: Trinken und Schlafen, der tägliche Besuch von Rays Kumpel Sid, der Rechnungen bezahlt und den Alkohol mitbringt, sowie das Summen der Insekten. Manchmal scheint es, als seien die Gegenstände beseelt.

Das weitgehend isolierte Eremitendasein des alten Trinkers rahmt Richard Billinghams tief beeindruckendes Spielfilmdebüt „Ray & Liz“. Nach dieser Exposition macht der Film einen Zeitsprung in die frühen 1980er Jahre, als Ray (Justin Salinger) mit seiner übergewichtigen, Kette rauchenden Frau Liz (Ella Smith) und zwei Kindern in einem Vorort der englischen Industriestadt Birmingham noch als Familie zusammenlebt. Die heruntergekommene Wohnung ist versifft, Plastikblumen und Nippes dienen als Dekoration, diverse Haustiere bevölkern zusätzlich die drangvolle Enge, die eigentlich eine Leere ist. Niemand scheint sich wirklich um irgendetwas zu kümmern oder zu sorgen. Als einmal der tattrige Onkel Lawrence auf den kleinen Jason aufpassen soll, endet das in einem Totalbesäufnis, zu dem der tumbe Tor von einem hinterhältigen Untermieter angestiftet wird. Schließlich ist es der vernachlässigte, sich selbst überlassene Jason, dem Billingham in einer weiteren Episode ein berührendes Portrait widmet.

Der renommierte englische Fotograf erzählt in „Ray & Liz“ von seiner eigenen Familie. Dabei gilt sein nüchterner, ungeschönter Blick den ärmlichen, absolut trostlosen Verhältnissen seines Herkunftsmilieus, in dem die Menschen mit geradezu bleierner Schwere verharren. Das fast quadratische Bildformat des auf 16 mm gedrehten Films unterstreicht diese Enge und Perspektivlosigkeit, für die Richard Billingham keine Hintergründe erhellt oder Erklärungen liefert. In stimmungsvollen Bildern und mit ruhigen Kamerabewegungen entwickelt er zusammen mit seinem Bildgestalter Daniel Landin vielmehr eine Poesie der Hässlichkeit und des Vergeblichen. Wie in einer Art gleichbleibendem Dämmerzustand sind die Menschen in einer Hölle aus Mitleidlosigkeit und Brutalität gefangen. Nur für einen Augenblick erleben sie die Wärme einer Zuwendung; nur für einen traurigen Moment erinnern sie sich an das, was vielleicht einmal hätte sein können.

Cold War – Der Breitengrad der Liebe

(PL/GB/FR 2018, Regie: Paweł Pawlikowski)

Geraffter Rhythmus, schnörkellose Liebe
von Philipp Schwarz

Mit seinem neuen Film „Cold War“ unterzieht Pawel Pawlikowski auch seinen letzten Film „Ida“ (PL 2013) einer sachten, aber nicht unbedeutenden Wandlung. Denn indem er viele der gestalterischen Muster erneut …

Mit seinem neuen Film „Cold War“ unterzieht Pawel Pawlikowski auch seinen letzten Film „Ida“ (PL 2013) einer sachten, aber nicht unbedeutenden Wandlung. Denn indem er viele der gestalterischen Muster erneut anwendet, durch die „Ida“ seine besondere Wirkung entfaltet hatte, löst er diese Muster von dem spezifischen Inhalt des Vorgängerfilms ab und erklärt sie zu Dimensionen eines Stils, der offen und formbar genug ist, um eine Vielzahl an Geschichten und Thematiken aufzunehmen. Wie „Ida“ ist „Cold War“ somit in klarem und kontrastreichem Schwarz-Weiß gehalten, werden seine Bilder in ein enges, fast quadratisches Bildformat eingefasst und wird seine Geschichte in einem knappen, nüchternen Rhythmus erzählt, in dem einzelne Szenen oft abrupt abgebrochen und dadurch stark auf einzelne, kurze Momente fokussiert werden, auf Blicke, Gesten und halbe Sätze.

Im Vergleich zu „Ida“ ist der zeitliche Rahmen der Erzählung in „Cold War“ jedoch ein ungleich größerer: Mehrere Jahrzehnte umfasst die Liebesgeschichte des Komponisten Wiktor und der Sängerin Zula, vom ersten Treffen in einem folkloristischen Chor im Polen der Nachkriegszeit über lange Jahre der Trennung bis hin zum gemeinsamen Exil im Paris der früher 60’er. Es ist eine Liebe, die nie einen stabilen Rahmen findet, die beständig aufgerieben wird zwischen den politischen Systemen von Ost und West, zwischen den Zwängen einer vertrauten aber erstickenden Heimat und den Verheißungen einer unbekannten, abweisenden Fremde. Auf diese lange Geschichte wirft Pawlikowski in seiner lapidaren Erzählweise nur kurze, grelle Schlaglichter, verdichtet die verschiedenen Lebensstationen des Paares zu einzelnen paradigmatischen Bildern (das Pariser Bohème-Leben etwa tritt als perfekt arrangierte, romantisch-ärmliche Dachbodenwohnung in Erscheinung) und umreißt die Wendungen der Beziehung anhand einzelner Momente des plötzlichen emotionalen Ausbruchs (wenn etwa Zula völlig enthemmt zu „Rock Around the Clock“ durch eine Bar tanzt).

Dieser geraffte Rhythmus hat die Wirkung, dass das scheinbar persönliche Schicksal der Liebenden nicht mehr als etwas Individuelles erscheint, sondern als eine generelle Struktur, als ein Muster, das eine Vielzahl anderer Lebensläufe genauso bestimmt (oder zumindest bestimmen könnte). Doch gerade dadurch verliert „Cold War“ immer wieder das aus den Augen, was eigentlich den thematischen Kern seiner Geschichte ausmacht. Denn das Individuelle und die Unvergleichbarkeit des eigenen Schicksals mögen stets eine Illusion sein, auch in Sachen der Liebe – aber in der Liebe ist diese Fiktion gerade das Entscheidende, nimmt man der Liebe den Anschein ihrer Einzigartigkeit, dann löscht man sie aus, macht sie unkenntlich und eigenschaftslos.

Pawlikowskis straffer Stil, er schabt von den dargestellten Ereignissen alle ziellosen Verschnörkelungen ab – und lässt dabei außer Acht, dass sich ein beträchtlicher Teil des Lebens in eben diesen Verschnörkelungen abspielt.

Jackie

(USA 2016, Regie: Pablo Larraín)

Taumeln auf der Schwelle
von Ricardo Brunn

An der Eingangstür werden die Regeln für diesen Film festgelegt. Mit versteinertem Blick empfängt Jaqueline Kennedy (Natalie Portman) einen Reporter (Billy Cudrup) in Hyannis Port. Es soll das erste Interview …

An der Eingangstür werden die Regeln für diesen Film festgelegt. Mit versteinertem Blick empfängt Jaqueline Kennedy (Natalie Portman) einen Reporter (Billy Cudrup) in Hyannis Port. Es soll das erste Interview nach den Ereignissen vom 22. November 1963 werden. Bevor er jedoch über die Schwelle ins Haus eintreten darf, macht Jackie Kennedy ihm klar, dass sie die Unterhaltung redigieren werde, „just in case I don’t say exactly what I mean.“ Nichts erinnert in dieser Szene mehr an die schüchterne First Lady, die unbeholfen und wie auf Schienen im Film „A Tour in the White House“ (USA 1962) durch die Räume des Weißen Hauses wandelt und über die neue Einrichtung spricht. Jetzt geht es um das Erbe. Am Ende bleiben zwei knappe, hart erkämpfte Seiten im Magazin „Life“ und die Beschwörung eines Mythos.

Begreift man den Filmanfang eines Biopics als symbolische Geburt der biographischen Figur, dann geht es in „Jackie“ um den Versuch einer Person sich nach dem Verlust ihrer Rolle als First Lady die Handlungsmacht über ihr Leben, über das Vermächtnis ihres Mannes und über ihr eigenes Bild in der Geschichte zu gewinnen. Die Türschwelle zum Kennedy-Anwesen Hyannis Port in Massachusetts symbolisiert demnach genau diesen Übergang und die Unsicherheit, die mit dieser plötzlichen Veränderung verbunden ist. Sie ist hier zugleich die Grenze zwischen öffentlicher und privater Person, zwischen Wahrheit und Inszenierung, zwischen aktivem Subjekt und ohnmächtigem, ehemaligem Staatskörper. Und Pablo Larraín, der in seinem Werk einen Hang zu biografischen Geschichten („No!“; CHL 2011, „Nerura“; CHL/ARG/ES/FR 2016) entwickelt hat, gelingt es in „Jackie“ kunstvoll entlang dieser Schwelle zu wandeln. Der Regisseur hat, das belegen bereits diese ersten Momente, kein umfassendes Portrait oder die Abbildung von Historischem im Sinn, so wie sich auch Jackie Kennedy nicht für objektive Darstellungen der Geschichte interessiert und den Reporter harsch wissen lässt: “The more I read, the more I wonder, when something is written down, does that make it true?“ Vielmehr konzentriert Larrin sich auf ein Loch in der Zeit, gerissen von Gewehrkugeln.

Wie die Tour durch das Weiße Haus aus dem Jahr 1962 inszeniert wurde führt in die Handlung von „Jackie“ ein. Mehrfach muss die Gattin des Präsidenten über eine Geste ihrer Assistentin (Greta Gerwig) daran erinnert werden doch zu lächeln. Ungelenk und häufig ihre Haltung und Position zur Kamera korrigierend wird Jackie Kennedy als First Lady gezeigt, die der Kamera hilflos ausgeliefert ist und gerade lernt, die Medien für sich zu nutzen. Larrain webt diese Momente in Bilder Jackies ein, in denen sie bestimmend und herrschend versucht, die Kontrolle über das Leben in den wenigen Tagen nach dem Attentat auf John F. Kennedy zu behalten. Allein die ausschweifenden Planungen zur Prozession und der anschließenden Beisetzung des 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika belegen ihr gewachsenes Verständnis hinsichtlich der Inszenierung des eigenen Lebens und der eigenen Leistung für eine Öffentlichkeit. Es entsteht das vielschichtiges Bild einer Person, die im beständigen Wechsel aufopferungsvoll, naiv, gewieft, gefasst, sensibel und zielstrebig erscheint und selbst in den unzähligen Nahaufnahmen nie zu fassen ist.

„Jackie“ wird so zu einem taumelnden, zerbrechlichen Film. Ein paar schnelle Schritte geht er mit seiner Protagonistin nach vorn. Doch diese Schritte, die Abfolge der Bilder sind nur der Versuch das Fallen aufzuhalten. In 100 Minuten und Löchern in der Erzählung wird das Trauma eines ganzen Landes zum Vorschein gebracht. Larraín lässt uns die Überforderung am Rande der Ohnmacht spüren, wenn Zeiten durcheinander gewirbelt werden, Wiederholungen und Ellipsen das Material durchziehen, Archivbilder mit Neuinszenierungen bis zur Ununterscheidbarkeit verflochten werden. „Now we have television, people can see for themselves“, sagt Mrs. John F. Kennedy an einer Stelle des Filmes scharfsinnig, während sie damit beschäftigt ist Jackie Kennedy zu werden. Die Macht über die Bilder hat sie verloren. Der Rhythmus des Filmes macht dies für die Zuschauer*innen spürbar. Aber dieser Verlust, der zugleich ein Verlust der eigenen Identität und der Deutungshoheit über die eigene Person sowie die Präsidentschaft John F. Kennedys bedeuten, muss durch Jackie Kennedy mit etwas gefüllt werden, bevor andere es tun: „People like to believe in fairytales. Don’t let it be forgot, that for one brief shining moment there was a Camelot.“

Das musikalische Pendent zu Jackie Kennedy bildet im großartigen Score von Mica Levi, den das Melodramatische wie das Grauenvolle gleichermaßen auszeichnet, die Querflöte. Urplötzlich hüpfen heitere Töne aufgeweckt über die dicht gewebten Streicherarrangements. Doch sobald die Luft zu hören ist, die über die Lippenplatte rutscht und Töne plötzlich unsicher zu schwimmen beginnen, offenbart das Instrument die Brüchigkeit der Tonerzeugung. Dann stürzten die gewaltigen Streicher es von einer Schieflage in die nächste und das Spiel gerät zu einem unzuverlässigen Tasten durch die finsteren Momente des Filmes, wie Jackies letztem Abend im Weißen Haus. Allein taumelt sie da, sich des blutverschmierten Kostüms entledigend, durch die überdimensionalen Räume. Geisterhaft und voyeuristisch zugleich folgt ihr die Kamera, um dann – alles scheint sich im Kreis zu drehen – auf ein leeres, der Wirklichkeit entrissenes Gesicht zu schneiden, das nichts mehr mit der Jackie aus „A Tour in the White House“ gemeinsam hat und vom beständig wiederkehrenden Glissando der Musik einmal mehr in den Abgrund gezogen wird.

Zum zentralen Motiv dieses Abgrunds wird in „Jackie“ der Sarg. Und je öfter er in den Erinnerungsmontagen zu sehen ist (im späteren Verlauf werden auch noch die verstorbenen Kinder der Kennedys umgebettet), umso mehr drängt sich die Frage auf, was sich noch in diesem lackierten Holzkasten verbirgt, den die amerikanische Flagge wie eine Daunendecke weich und heimelig umhüllt. Film kann, wie Georg Seeßlen einmal anmerkte, nicht bloß in der Vergangenheitsform erzählen, er muss als mythisches Medium selbst mit einer Vergangenheitserzählung in die Gegenwart hinein brechen und etwas über beides hinaus Wirksames erzählen. Zum Zeitpunkt der Wahlen in Amerika 2016, als allen unmöglich schien, was dann Realität wurde, verkörpert er in Larríns Film den Schock eines Landes in Vergangenheit und Gegenwart. Und so wanken wir gemeinsam mit Natalie Portman in einer ihrer überragendsten Rollen durch diesen beklemmenden Film – der selbst eine Prozession mit all seinen Fahrten und Bewegungen bei gleichzeitigem Stillstand der Zeit darstellt – und bleiben im Unklaren darüber, ob nach diesem Tag im November aus der Ohnmacht Orientierung erwachsen kann.

The Woman Who Left

(PHL 2016, Regie: Lav Diaz)

Die Welt als Gefängnis
von Wolfgang Nierlin

Das Gefängnis ist als solches nicht gleich erkennbar. Eine Gruppe von Frauen und Kindern arbeitet, nur lose bewacht, auf dem Feld, während irgendwo im Hintergrund ein Radiosprecher Neuigkeiten aus dem …

Das Gefängnis ist als solches nicht gleich erkennbar. Eine Gruppe von Frauen und Kindern arbeitet, nur lose bewacht, auf dem Feld, während irgendwo im Hintergrund ein Radiosprecher Neuigkeiten aus dem Sommer des Jahres 1997 vermeldet: Hongkong ist nicht mehr länger britische Kronkolonie und auf den Philippinen gibt es fast täglich neue Entführungsfälle. In dem Inselstaat spielt auch Lav Diaz‘ neuer, preisgekrönter Film „The woman who left“, der bereits mit seiner ersten Einstellung den zeitlichen und örtlichen Rahmen, das Thema sowie dessen ästhetische Vermittlung umreißt. Minutenlange, meist aus der Distanz gedrehte Einstellungen, ein daraus resultierender langsamer Erzählrhythmus sowie ungekünstelte Schwarzweißbilder kennzeichnen nämlich das sozialrealistische Kino des philippinischen Regisseurs. Die Erfahrung von Raum und Zeit, verdichtet und kontextualisiert in den einzelnen Szenen, ist ihm wesentlich. Und so resultiert aus der Konzentration auf die Gegenwart immer auch ein Bild der Vergangenheit.

Seit dreißig Jahren ist die ehemalige Lehrerin Horacia (Charo Santos-Conico) an diesem Ort inhaftiert. In den Arbeitspausen erteilt sie den Mitgefangenen der relativ offenen Wohngemeinschaft Grammatikunterricht; später fordert sie eine der Frauen auf, eine Geschichte mit dem Titel „Der schwarze Turm“ vorzulesen, die ein düsteres Bild der Isolation evoziert. Lav Diaz hat sie unter dem Pseudonym Bahagharing Timog selbst verfasst. Als Erzählung innerhalb der Erzählung rahmt sie gewissermaßen den Film, der wiederum von Lew Tolstois Kurzgeschichte „Ein Verbannter“ (auch: „Gott sieht die Wahrheit, sagt sie aber nicht sogleich“, 1872) inspiriert ist. Auch Horacia schreibt Geschichten, zum Beispiel jene über den Jungen, der sich nach dem Himmel sehnt. Einmal wird sie, die schon so lange im Gefängnis sitzt, gefragt, ob man in dieser Zeit vergesse, wer man war. „Alles geht verloren“, behauptet eine andere. Dann wird Horacia plötzlich entlassen, weil sich eine Mitgefangene zu jener Mordtat bekennt, für die Horacia unschuldig büßen musste.

Die aus der Gefangenschaft Erlöste erlebt die wiedererlangte Freiheit zunächst als Schock. Schmerzlich ist die kurzzeitige Rückkehr in ihr früheres Zuhause und die Wiederbegegnung mit ihrer Tochter Minerva. Doch dann bricht sie auf mit einer doppelten, zunächst von Rachegedanken geleiteten Mission: Zum einen möchte sie ihren früheren Freund Rodrigo Trinidad (Michael de Mesa) ausfindig machen, der als Drahtzieher des Mordes gilt und sich jetzt hinter seinem Reichtum verschanzt; zum anderen will sie nach ihrem vermissten Sohn suchen. Dabei begegnet Horacia, die fortan verschiedene Identitäten annimmt, mehreren Außenseitern und Randexistenzen: einem buckligen Verkäufer angebrüteter Eier (Balut), einer verrückten Bettlerin, einem unter Epilepsie leidenden Transvestiten namens Hollanda (John Lloyd Cruz) sowie einer vielköpfigen, armen Familie, die in einer kleinen Bretterhütte lebt. Sie alle sind Gefangene einer Welt, die sie ausgestoßen hat und die von der gutherzigen Horacia eine „außergewöhnliche Güte“ erfahren.

„Gottes Haus ist jedermanns Haus“, ruft einmal die Bettlerin, um ihre (religiöse) Teilhabe einzufordern. Und der Gemeindepfarrer, dem gegenüber sich Rodrigo als leidender, aber kaum reuiger Sünder zu erkennen gibt, äußert bei dieser Gelegenheit: „Ich kann Gott in jedem sehen.“ Im Wechsel von Tag und Nacht erkundet Lav Diaz zusammen mit seiner unerschrockenen Heldin eine Gemeinschaft der Armen sowie die alltägliche, nicht zuletzt staatliche Gewalt, die sie immer wieder erleben. Diese sozial determinierte Ordnung zu verlassen, scheint nahezu aussichtslos. Wenn gegen Ende des beeindruckenden Films Horacia und Hollanda in einer wunderbar queeren Performance das Lied „Somewhere“ aus der „West Side Story“ singen, wird die imaginierte Utopie für einen Moment lang doch noch Wirklichkeit.

Hier findet sich eine weitere Kritik zu „The Woman Who Left“.

High Life

(GB/FR/D/PL/USA 2018, Regie: Claire Denis)

Uterus und Universum
von Wolfgang Nierlin

Die ersten Bilder sind grün. Sie zeigen üppig wuchernde Pflanzen und saftiges Gemüse. Was auf den ersten Blick wie ein paradiesischer Garten anmutet, ist tatsächlich eine Art Gewächshaus. Bald darauf …

Die ersten Bilder sind grün. Sie zeigen üppig wuchernde Pflanzen und saftiges Gemüse. Was auf den ersten Blick wie ein paradiesischer Garten anmutet, ist tatsächlich eine Art Gewächshaus. Bald darauf erfahren wir, dass dieses offensichtlich der Selbstversorgung dient und integraler Bestandteil eines Raumschiffes ist. Lediglich zwei merkwürdig verschiedene Menschen scheinen an Bord zu sein: Ein Mann und ein Kleinkind.

Während der Astronaut außerhalb der Station mit Reparaturen beschäftigt ist, sitzt das Mädchen in einem Laufstall und folgt den Bildern, die auf zwei Monitoren zu sehen sind. Leer und verwahrlost wirkt das Ambiente, in dem sich kurz darauf Vater und Tochter begegnen. Liebevoll und zugleich streng kümmert sich Monte (Robert Pattinson) um die kleine Willow. Dann betritt er einen Raum, in dem Leichen aufgebahrt sind; diese bugsiert Monte kurz darauf aus dem Raumschiff. Wie geheimnisvolle Skulpturen schweben sie in der dunklen Weite des Alls. Jetzt sind Monte und Willow wirklich allein.

Eine starke, von düsteren Sounds durchzogene Atmosphäre grundiert Claire Denis‘ neuen Film „High Life“, der sich auf sehr unkonventionelle Weise dem Science-Fiction-Genre einschreibt. Dabei verzichtet die renommierte französische Regisseurin auf eine chronologische Erzähldramaturgie. Stattdessen verknüpft sie in einer schwebenden assoziativen Montage verschiedene Zeitebenen der ferneren und näheren Vergangenheit, die schließlich von einer ungewissen Zukunft verschluckt werden. Diese offene, kunstvoll komponierte Form übersetzt die Unendlichkeit des Raumes in eine Diskontinuität zeitlicher Erfahrung. Mögliche Zusammenhänge stellen sich so erst nach und nach ein. Dazu ergänzen wechselnde Stimmen aus dem Off den Strom der Bilder mit inneren Monologen. Die konstante Bewegung durch Raum und Zeit verdichtet sich so doch noch zu einer fragmentarischen Geschichte.

Kurz bevor sich das Leben auf der Erde seinem Ende zuneigt, haben sich die Insassen des Raumschiffs auf eine Reise ans Ende der Zeit begeben: auf eine Mission zum „schwarzen Loch“. Für dieses „Erste-Klasse-Selbstmordkommando“ wurde eine Gruppe von zum Tode verurteilten Verbrechern beiderlei Geschlechts zwangsrekrutiert. Angeführt von der Ärztin Dr. Dibs (Juliette Binoche), die einst ihre Familie ausgelöscht hat, dienen diese als „Versuchskaninchen“ für die Reproduktion menschlichen Lebens. Doch unter den Bedingungen der Weltraumstrahlung scheint eine Fortpflanzung nicht oder nur eingeschränkt möglich. Zudem verweigert sich Monte der Abgabe seines Spermas, wir aber schließlich von Dr. Dibs heimtückisch missbraucht und seines Samens beraubt.

Intensiv und verstörend vermischt Claire Denis Motive des Endzeitfilms mit Phantasien weiblichen Begehrens. Im verzweifelten, zwischen Verlangen und Zurückweisung changierenden Kampf um Befruchtung und Fortpflanzung, der schließlich auch zu Gewaltexzessen unter den Probanden führt, werden Blut, Sperma und Milch zu Symbolen des sterbenden Lebens. In einem Augenblick erscheinen Uterus und Universum, Anfang und Ende identisch. Bis schließlich alles Dunkle in einer gleißenden Helle verglüht.

Wir

(USA 2019, Regie: Jordan Peele)

Das Eigene und das Fremde
von Christian Kaiser

Bereits Peeles „Get Out“ (USA 2017) spielte in Ira Levins Stepford-Gefilden. War es dort derselbe Körper, der einen anderen Geist beherbergen musste, so ist es in Peeles zweitem Horrorfilm nun …

Bereits Peeles „Get Out“ (USA 2017) spielte in Ira Levins Stepford-Gefilden. War es dort derselbe Körper, der einen anderen Geist beherbergen musste, so ist es in Peeles zweitem Horrorfilm nun der gleiche Körper, der dennoch ein anderer Körper ist: Deren Geister scheinen indes ein und derselbe zu sein, ehe eine Entkettung einsetzt.

Alles beginnt in den 80er-Jahren: Ein „Hands Across America“-Spot läuft auf einem von Videokassetten gerahmten Bildschirm. Ein zunächst bloß von Zeitkolorit geprägter Beginn, der aber im Rückblick verheißungsvoll erscheint. Mit einem Sprung auf einen Rummelplatz in Santa Cruz setzt „Wir“ die ausgelassene Werbespot-Atmosphäre zunächst fort, die sich dann aber mit effektiver Tonspur und bedrohlichem Nachthimmel zunehmend in schleichendes Grauen verwandelt, als sich die kleine Adeleide unerlaubt von ihren Eltern entfernt, in ein abgelegenes Spiegelkabinett am Rande des Strandes eindringt und dort nicht bloß auf Spiegelbilder, sondern auf ein Double ihrer selbst – mit unheimlichen Eigenleben – trifft. Jahre später kehrt Adelaide Wilson als erwachsene Ehefrau und Mutter zweier Kinder mit ihrer Familie an diesen Ort zurück. Widerwillig lässt sie sich zum Besuch des Strands überreden, wo das Spiegelkabinett von einst lauert, derweil sich böse Omen an jeder Ecke abzeichnen. Und als sie ihre Kindheitserinnerungen am Abend erstmals ihrem Mann anvertraut, der sie kaum ernst nimmt, ist es bereits zu spät: Doppelgänger der Familie dringen gewaltsam ins Ferienhaus ein und der Film gerät nach seiner langen Einführung und dem diffusen Unbehagen zum home-invasion-Thriller, der seine Richtung später noch einmal in apokalyptische Sci-Fi-Horror-Gefilde ändert.

Ursprünglich war der Doppelgänger noch positiv konnotiert: Als Verdopplung des Individuums verhieß er auch dessen Potenzierung. Spätestens seit der Romantik wandelte sich dieser Blick: Der Doppelgänger war nun Ausdruck des Identitätsverlusts, der Selbstauflösung. Wenn Adelaide erstmals über ihre Doppelgänger- oder Spiegel- oder Schatten-Erfahrung spricht, ist sie bereits nur noch als aufgelöster Körper zu sehen: als transparentes Spiegelbild auf der Fensterscheibe. Da der Horror im leeren Spiegelkabinett beginnt, scheint es zunächst angemessen zu sein, vom lebendig geworden Spiegelbild auszugehen, welches das Kino spätestens seit dem „Student von Prag“ (D 1913/1926/1935) immer wieder heimsucht. Doch sitzen sich die Wilsons und ihre Doppelgänger im home-invasion-Teil des Films erst einmal gegenüber, dann ist in den Großaufnahmen Lupita Nyong’os eine kleine Trübung in ihrem linken Auge zu erkennen, die sich auch bei ihrer Doppelgängerin im linken Auge abzeichnet. Keine eindeutig übernatürlichen Doppelgänger also, die als losgelöste Spiegelbilder à la E. T. A. Hoffmann (oder als losgelöste Schatten à la Adelbert von Chamisso) ein Eigenleben entfalten, sondern wie unheimlich-unerklärliche Zwillinge auftreten.

Da Texttafeln über geheimnisvolle Tunnelsysteme unter der US-amerikanischen Oberfläche dem Film vorangegangen sind und weil weiße Versuchskaninchen die Titeleinblendung zierten, führt der Film umso deutlicher weg vom unheimlichen Doppelgänger der Romantik – zur Dystopie und zum Klonen. Dass unter den erwähnten Videokassetten zu Beginn des Films auch Douglas Cheeks „C.H.U.D.“ (USA 1984) zu sehen war, erweist sich nun als cleveres Zitat: Bei Cheek dringen Cannibalistic Humanoid Underground Dwellers aus den Tunnelsystemen unter den Straßen an die Oberfläche. Diese Wesen, die unter der Erde hausen und nun emporsteigen, sind dort keinesfalls teuflische, dämonische Kreaturen wie noch in Clive Barkers oder Lovecrafts Fantasien über Monstren in den U-Bahn-Tunneln. Sie sind menschliche Produkte, menschengemachte Überbleibsel obskurer Experimente, die nach langer Verdrängung endlich an die Oberfläche geraten: Opfer der Mächtigen, die in den meisten Dystopien à la „Metropolis“ (D 1927; Regie: Fritz Lang) unter der (Erd-)Oberfläche verdrängt ihr Dasein fristen. Bei Peele sind es Verkettete: Doppelgänger, die unter der Erde das Leben ihrer Originale kopieren müssen und die man ursprünglich zur Kontrolle der Originale nutzen wollte.

Dass „Wir“ seine ominösen Menschenexperimente an keiner Stelle detailliert ausbreitet, wenn er nach dem home-invasion-Teil an diesem neuen Abschnitt anlangt, ist ein geschickter Schachzug: all die notwendig auftauchenden Fragen und Unsinnigkeiten, die sich ergeben, sofern man über die konkrete Handlungsebene nachzudenken beginnt, werden beiseite geschoben und stattdessen dringt der Subtext an die Oberfläche: Die Doppelgänger agieren hier ganz wie George A. Romeros Zombies als Abbild der Gesellschaft, das sich nicht einfach bloß gegen ebendiese wendet, sondern zugleich als ihr Opfer in Erscheinung tritt. Hier wird dem titelgebenden „Wir“ ein Ihr entgegengestellt, das eigentlich mit dem Wir in einem größeren Wir, einem Wihr gewissermaßen, aufgehen könnte – aber nicht aufgehen kann.

Adelaides Doppelgängerin Red ist dabei ebenso Anführerin einer Revolte wie der ebenfalls farbige Big Daddy in Romeros „Land of the Dead“ (USA/F/CAN 2005). Doch Romeros Big Daddy ist ein (untoter) Tankwart, der berechtigten Neid verspürt und Klassenbewusstsein entwickelt. Red hingegen – so lautet ihre Erklärung – verdankt es dem Ballett, dass sie und die übrigen, zahllosen Doppelgänger sich der bloßen unterirdischen Repräsentation des Lebens an der Oberfläche zu verweigern beginnen: Der rein ästhetische Genuss als erstes widerständiges Moment. Jacques Ranciére würde sich freuen! Aber Peele hält sich nicht weniger an Pierre Bourdieu, denn erst ein zweiter Schritt – die Aufklärung der Ursachen für den Habitus der Doppelgänger – führt zur Überwindung dieses Habitus: Die Doppelgänger ahmen nicht mehr in ihren Höhlen das Leben an der Oberfläche nach (was ein wenig an Platons Höhlengleichnis erinnern mag, zumal auch hier das Dasein an der Oberfläche noch nicht der Weisheit letzter Schluss ist), sondern sie streben nach Autonomie, verdrängen ihre Originale – mit brachialer Gewalt, gleichwohl sie dennoch über die Tragik der klassischen Halbwesen des Horrorfilms verfügen.

Am Ende gewinnt dann der Film entsprechend apokalyptische Züge. Und wenn nicht mehr bloß die afroamerikanische Familie, sondern auch die weißen Nachbarn mit Doppelgängern konfrontiert werden, wird verständlich, weshalb Peele den Film im Gegensatz zu „Get Out“ nicht als Werk über Rassismus und afroamerikanische Identität betrachtet. Die Thematik der Identität wird an der gesamten US-amerikanischen Gesellschaft verhandelt. Zwar lassen sich böse Spitzen auf die Unterschiede zwischen der farbigen und der weißen Familie kaum übersehen, im Vordergrund steht allerdings der konkrete Konflikt zwischen Originalen und rebellierenden Doppelgängern: Diese greifen zur Schere, um sich zu entketten. Die vertikale Verkettung mit den Originalen wird aufgelöst, stattdessen verketten sich die Doppelgänger untereinander, horizontal. Nach „Hands Across America“-Vorbild – bei dem man darüber streiten kann, wieviel Autonomie den Teilnehmenden in dieser Geste zukommt – ziehen sie sich als Linie durch das Land: in roter Einheitsfarbe. Das erinnert heute weniger an die bunte „Hands Across America“-Kette aus den Mitt-80ern, sondern eher an das lila Modell der trumpschen Mexiko-Mauer, die das mexikanische Estudio 3.14 unter Einfluss von Luis Barragán entworfen hatte.

In diesem Kontext muss man „Wir“ wohl betrachten, wenn er ein Bild des Fremden entwirft, das dem Eigenen gleicht: Was gleich ist, wird fremd gemacht. Und: Man braucht das Fremde, um die eigene Identität erst zu erlangen. Und: Die dadurch Geschädigten und ihre Methoden der Gegenwehr unterliegen nur zu oft demselben Prinzip. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen beiden Gruppen, den Eigenen, den Originalen und den Fremden, den Doppelgängern. Diese Unterschiede ergeben sich aber gerade durch die unterschiedlichen Lebensumstände (die zu großen Teilen menschengemacht sind). Ein (doppeldeutiger) Twist, der die psychologische Stimmigkeit des Films womöglich etwas irritiert, betont diesen sehr bourdieuschen Gedanken schließlich noch einmal ganz gewaltig.

Und weil Horrorfilme mit ausschließlich farbigen Hauptfiguren noch immer eine Rarität darstellen und als afroamerikanisches Kino wahrgenommen werden, ist es nahezu unvermeidlich, dass „Wir“ eben auch etwas konkreter als Film über Rassismus und afroamerikanische Identität gelten wird. Erst recht wenn man berücksichtigt, welche Umwälzungen in der Hollywood-Maschinerie in der Dekade von #BlackLivesMatter und #OscarsSoWhite begonnen haben.

Aber unabhängig davon, ob man das „Wir“ (und das „Ihr“ oder das „Wihr“) auf Nationalität, Hautfarbe, Altersklasse oder Geschlecht (denn „Wir“ spielt durchaus auch mit Geschlechterstereotypen, wenngleich seine gelegentlichen Brechungen selbst bereits klischiert anmuten) beziehen will: Der Interpretationsspielraum liefernde Horrorthriller packt als effektiver Genrefilm, der vom intimen home-invasion-Streifen zum apokalytischen (Sci-Fi-)Horror mutiert. Und er betört mit wunderbaren Bildflüssen, die geschickt mit Spiegelungen und Unschärfen arbeiten und von einer souveränen Montage verbunden werden, die immer wieder auch in die Vergangenheit zurückführt: wissend dass Fragen der Identität immer auch Fragen der Geschichte sind – weshalb sich auch „Wir“ selbst nur vor dem Hintergrund der Film- und Literaturgeschichte als das erkennen lässt, was er ist.

Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Wir“.

Kleine Germanen

(D/AT 2018, Regie: Mohammad Farokhmanesh, Frank Geiger)

Kamera Kind
von Marit Hofmann

Wie dreht man einen Dokumentarfilm über Kinder von Nazis, wenn man keinen der rechten Stammhalter und Garanten für den Erhalt des deutschen Volkes zeigen darf? Und auch die wenigen Erwachsenen, …

Wie dreht man einen Dokumentarfilm über Kinder von Nazis, wenn man keinen der rechten Stammhalter und Garanten für den Erhalt des deutschen Volkes zeigen darf? Und auch die wenigen Erwachsenen, die es geschafft haben, sich von ihrer braunen Zwangsfamilie zu lösen, nicht vor die Kamera wollen? „Kleine Germanen“ merkt man diese Schwierigkeit durchgängig an. Zu Bildern von irgendwelchen blonden Kindern und wenigen verwackelten Archivaufnahmen völkischer Ferienlager aus sicherer Entfernung hört man die Stimmen von (zu) vielen „Experten“ aus den Bereichen Erziehungswissenschaft und Rechtsextremismusforschung (darunter der Kriminalist Bernd Wagner von der Hilfsorganisation für rechte Aussteiger Exit Deutschland, der auch Linksextreme bekehren will). Sie berichten allgemein von den Tarnstrategien, biologistischen Erziehungs- und Abhärtungspraktiken der Nazi-Eltern. Ein erwachsener Aussteiger äußert sich ebenfalls eher vage.

Umso lieber präsentiert sich die braune Bildungselite selbst: Die Eheleute Götz Kubitschek und Ellen Kositza, Austrias identitäres Idol Martin Sellner und die bayerische Ex-NPD-Frontfrau und Mutter Sigrid Schüßler, die wie ihr Vater wegen Volksverhetzung vor Gericht stand, plaudern von ihrer eigenen glücklichen Kindheit und den Werten, die sie dem Nachwuchs mitgeben wollen. Die Filmemacher Mohammad Farokhmanesh und Frank Geiger brechen die allzu harmonische Wohnzimmersituation mit Hetzreden, die die sich leutselig gebenden Interviewpartner auf Pegida-Demos und ähnlichen Gruselevents halten.

Vor allem hält der überfrachtete Film mit einer auf einem wahren Fall basierenden, etwas plakativ erzählten Geschichte als Kernstück dagegen: Animierte Bilder machen anschaulich, was eine vom SS-Opa indoktrinierte, gedrillte und geradezu abgerichtete Frau, die heute mit neuer Identität lebt, den Filmemachern berichtete. Erst, als ihr zweites Kind zum Unmut des Vaters behindert zur Welt kam, begann sie zu zweifeln und flüchtete mit Hilfe des Verfassungsschutzes aus ihrer Nazi-Landkommune. Ihre Tochter überlebte das nicht.

Götz Kubitschek ist unbesorgt: Von seinen sieben Kindern laufe keines Gefahr, „bei der Antifa zu landen“.

Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 05/2019

Königin von Niendorf

(D 2017, Regie: Joya Thome)

Außergewöhnlich normal
von Ricardo Brunn

Sie führe dieses Jahr nicht ins Sommercamp, sagt Leas beste Freundin am letzten Schultag überraschend. Eine glatte Lüge, wie Lea (Lisa Moell) sofort ahnt und bald herausfinden wird. „Irgendwie sind …

Sie führe dieses Jahr nicht ins Sommercamp, sagt Leas beste Freundin am letzten Schultag überraschend. Eine glatte Lüge, wie Lea (Lisa Moell) sofort ahnt und bald herausfinden wird. „Irgendwie sind alle komisch geworden dieses Jahr“ meint sie dazu lapidar und verbringt die großen Ferien allein in der brandenburgischen Heimat, langweilt sich durch die Tage, unternimmt Ausflüge mit dem Fahrrad, besucht ihren Freund, den Aussteiger und Musiker Mark, isst Meloneneis mit ihm, während er rauchend und trinkend in der Badewanne auf seinem Hof abhängt. Von der Dorfbürgermeisterin angehalten und wegen eines überfahrenen Stoppschildes auf menschenleerer Straße ermahnt zu werden, ist da beinahe schon das packendste Erlebnis.

In ihrem gerade einmal 67 Minuten kurzen – und damit für eine Kinoauswertung grandios ungeeigneten – Debütfilm erzählt Joya Thome voller Gelassenheit von der Kindheit auf dem Land kurz vor der sonst so häufig zum Thema gemachten Schwelle zum Erwachsenwerden. Hier und da entspinnen sich für dramatische Spannungsbögen geeignete Plots. Doch dass Lea nicht in die Kartoffelbande aufgenommen wird, weil diese nur aus Jungs bestehen darf, ein Dorfbewohner ein Geheimnis in seinem Keller hütet und Mark von seinem Grundstück vertrieben werden soll, wird eher beiläufig erzählt oder in den mitreißendsten Momenten vom Drehbuch sanft ausgebremst. Alles in „Königin von Niendorf“ ist von einer außergewöhnlichen Normalität gekennzeichnet.

Das findet neben der dramaturgischen Unaufgeregtheit, der vielleicht als einzigem Schwachpunkt eine Vernachlässigung der Nebenfiguren attestiert werden kann, vor allem in den Bildern Lydia Richters seinen angenehm warmen Sommerniederschlag. So fährt die Kamera wiederholt an den Ereignissen vorbei, verpasst sie halb oder schaut durch Leas Augen aus der Ferne auf die Dinge. Viele Begebenheiten werden somit wohltuend zu Nebensächlichkeiten: Klassenkameradinnen, die am Straßenrand Macarena üben, Jungs, die ein altes Fass klauen, Mädchen, die sich nach dem Sport umziehen, ohne dass durch den Blick der Kamera die Veränderung der Körper betont und für die Erzählung genutzt wird. Oder Leas viel zu kleines Fahrrad, dass vom Erwachsenwerden genauso wie von der Armut in der Provinz erzählt, ohne dass es herausgestellt oder gar in Dialogen aufgegriffen werden müsste. Es ist schlicht die Perspektive der Kindheit, die gänzlich dem augenblicklichen Erleben geschuldet ist, das dann irgendwo oder auch nirgendwo hinführt. Das klassische Seitenverhältnis von 1,33:1 (Normalformat) verweigert sich zusätzlich häufig des objektiven Blickes und der weiten Landschaft, konzentriert sich stattdessen auf die Gesichter der Protagonist*innen, deren eingeschränktem Blick auf die Welt. „Königin von Niendorf“ zeigt ganz einfach unspektakuläre Impressionen eines Sommers und gerade damit (fast vergessene) kindliche Realität.

Mit einem vollkommen anderen Verständnis von Normalität stellt „Königin von Niendorf“ schon abweichendes Verhalten in Bezug auf die deutsche Kinderfilmlandschaft dar. Er verweigert sich mit Leichtigkeit den dort vorherrschenden pädagogisierenden oder reichlich verblödeten Extremen, indem er als Kinderfilm vor allem erst einmal ein Film mit Kindern ist. So ist Lea weder technikbegeistertes Jugend-forscht-Genie, noch abenteuerlustiges Influencervolltrottelblondchen auf dem Weg in den geordneten Konsumkontrollverlust, sondern einfach ein zehnjähriges Mädchen ohne große Ambitionen. Und die Jungs der Kartoffelbande zeichnen sich weniger durch unverwechselbare und urkomische Attribute aus, als durch ihre stinknormale und manchmal etwas schroffe Art. Auch rutschen die Eltern nicht an den Rand, in die Unschärfe oder ins Off der Bilder, weil sie selbst zum Schuhe zubinden zu blöd sind und den überdrehten Kindern das Feld überlassen müssen, sondern einfach aus dem Wissen um die Normalität, dass Eltern im Sommer schlicht nicht vorkommen.

„Königin von Niendorf“ hebelt auf diese Weise die Strategien einer tiefgreifenden Infantilisierung aus, bei denen die Kinder zu frühreifen Adoleszenten und die Eltern zu unmündigen Jugendlichen gemacht werden, die immer etwas wollen und in diesem Wollen gelenkt werden müssen. Der Film entzieht sich und seinen Figuren einer dauerhaften Anspruchshaltung, die nach Befriedigung verlangt und die der Langeweile als Windstille des Geistes, als absichtsloses Sein, Stromern und Zeit vertrödeln keinen Raum mehr zugesteht. Die ökonomisch unverwertbare Langeweile, die Freiheit nichts zu tun und keine Rechtfertigung liefern zu müssen machen das Kindsein aus. Es ist diese Zeit, in der ein Tag eine Ewigkeit dauert und die im Nutzlosen so viel Wertvolles birgt, die man als Erwachsener manchmal an einem Sonntag ohne die eigenen Kinder wieder herzustellen versucht.

Ein retromanischer, regressiver und letztlich lähmender Rückgriff kommt für Joya Thome aber ebenso wenig infrage wie eine Fetischisierung des kindlichen Aktivismus. Die hier anklingende Nostalgie ist im Film deshalb nicht bloße Rückbesinnung und Wünschen ins Gestern, sondern Ausdruck eines Wunsches nach Normalität – vor allem in Bezug auf die Darstellung der Kindheit im Film. Zu dieser Normalität gehören auch einige Mutproben, die Lea im Laufe des Filmes bestehen muss sowie ganz beiläufig rauchende und trinkende Erwachsene. Dass allein dies schon zu Schnappatmung bei einigen Eltern im Kino führt, zeigt deutlich, wie eng gesteckt das Regelwerk definiert, was einen Kinderfilm heute angeblich ausmachen soll und was gute Elternschaft bedeutet. Dass Lea Regeln durchaus kennt, aber auch weiß, wie und wann sie gebrochen werden können – das überfahrene Stoppschild zu Beginn des Filmes deutet es bereits an – gehört für sie selbstverständlich zum Erwachsenwerden dazu.

Mit der gleichen unaufdringlichen Selbstverständlichkeit erzählt „Königin von Niendorf“ von Homosexualität und vom sich wandelnden Geschlechterverhältnis. Während die Mutter das Essen auftischt und der Vater im Arbeitszimmer am Schreibtisch sitzt, fährt Lea plötzlich doch noch der Kartoffelbande auf ihrem Rad voran und muss bei der kleinen Übersetzung ihres ollen Drahtesels ordentlich strampeln. Aber so machen das Königinnen nun einmal: sie treten in die Pedale und verändern die Welt. Denn Normalität ist Veränderung und Veränderung ist Normalität. Bleibt zu hoffen, dass der deutsche Kinderfilm in der Breite früher oder später davon ebenfalls profitiert.

A Man of Integrity. Kampf um die Würde

(IRN 2017, Regie: Mohammad Rasoulof)

Das Entweder-Oder
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein unerwarteter Blick auf das Leben im Iran mit dokumentarischem Touch. Um sich aus allen Wirren und Verwicklungen herauszuhalten, hat sich der integre Fischzüchter mit Frau, einer Schulrektorin, und Kind …

Ein unerwarteter Blick auf das Leben im Iran mit dokumentarischem Touch. Um sich aus allen Wirren und Verwicklungen herauszuhalten, hat sich der integre Fischzüchter mit Frau, einer Schulrektorin, und Kind in den Norden verzogen. Aber die Familie wird ihres Lebens nicht froh. Die allgegenwärtige Korruption macht ein integres Leben unmöglich. Nichts läuft, ohne den anderen mit Geld zu schmieren, zu erpressen, zu nötigen, zu ruinieren. Der Film spart nicht mit Beispielen: Islamwächter von der Moschee, Polizisten, Lehrer, Banker, alle – bis zum Investor, der das Fischzuchtgelände haben will.

Was kann unser wackerer Familienvater dem entgegensetzen? Seine Prinzipien. Er wird zu einem iranischen Michael Kohlhaas. Bald sind seine Fische tot, der Wasserlauf ist abgegraben, der Sohn droht von der Schule zu fliegen, das Haus geht in einer surrealen Szene in Flammen auf. Aufreger ohne Ende. Aber: Die drei Familiendarsteller zeigen keine Spur von Aufregung oder sonstiger Emotion. Der Exfischzüchter hat ein geradezu maskenhaftes Gesicht. Sich aufzuregen, ist uns vorbehalten. Die Rezeption wird gemeinsame Sache von Filmmachern und -zuschauern.

Im Iran drehte Mohammad Rasoulof, der dort 2010 zusammen mit dem Regisseur Jafar Panahi verhaftet wurde und die Familie mittlerweile nach Hamburg gebracht hat, Landschaftsaufnahmen. Sonst nutzte er Studios in Prag. Weil er sich weigerte, den Film nach den Vorstellungen der iranischen Zensurbehörde zu ändern, wartet er nun auf ein Gerichtsverfahren und kann aus dem Iran nicht ausreisen. In Cannes wurde „A Man of Integrity“ ausgezeichnet.

Wer fürchtet, der Film verliere sich in Mitleid mit den Korruptionsopfern, erlebt eine Überraschung. Im Iran „gilt das Entweder-Oder. Entweder bist du Unterdrücker oder Unterdrückter.“ Entscheidung: „Ich kämpfe jetzt!“ Was die anderen können, können der „Man of Integrity“ und seine Frau schon lange, so dass ihm der in die Enge getriebene Investor schließlich einen Job anbietet. Tja, ist das nun ein schönes Märchen? Oder ein Den-Gegner-mit-seinen-Waffen-Schlagen? Denk doch, was du willst. Mit der Mitleidsmasche ist Schluss. Du bist frei.

Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 05/2019

Streik

(F 2018, Regie: Stéphane Brizé)

Arbeiterkampf und Heldenerzählung
von Jürgen Kiontke

Keine zwei Jahre ist es her, da unterzeichnete die Firmenleitung des Autoteilezulieferers Perrin mit den 1.100 Angestellten in seinem Werk im südfranzösischen Agens ein Abkommen: Die Belegschaft nimmt Lohnkürzungen in …

Keine zwei Jahre ist es her, da unterzeichnete die Firmenleitung des Autoteilezulieferers Perrin mit den 1.100 Angestellten in seinem Werk im südfranzösischen Agens ein Abkommen: Die Belegschaft nimmt Lohnkürzungen in Kauf, dafür ist die Arbeit für die nächsten fünf Jahre sicher.

Papier ist geduldig. Der deutsche Mutterkonzern will das Werk jetzt doch schließen. Die Produktion soll innerbetrieblich optimiert werden. Die Folge: Das französische Werk wird überflüssig, obwohl es profitabel arbeitet. Die französischen Arbeiter wollen das nicht hinnehmen. Da, wo sie wohnen, gibt es sonst nichts.

Das ist die einem realen Fall nachempfundene Ausgangslage in Stéphane Brizés Gewerkschafterfilm „Streik“, im Original „En guerre“ (Im Krieg). Mit seinem aktionistischen Kameraeinsatz, dem Wechsel von Nachrichten, Gesprächsrunden und Streiks erinnert „Streik“ in der Tat an einen Kriegsfilm wie „Starship Troopers“. Brizé erzählt das, was hinter den Bildern solcher Prozesse steht, die in den Nachrichten landen: umgeworfene Autos, brennende Holzstapel, verprügelte, halbentkleidete Konzernmanager.

„Streik“ ist eine schnell geschnittene Reihe von Streikaktionen, Gebrüll zwischen Mitarbeitern, mit Ordnungskräften, mit Vertretern von Politik und Personalabteilung. Der Gewerkschafter Laurent Amédéo (Vincent Lindon) dient Brizé als Brennglas für diese Auseinandersetzungen. Er ist erfahren in Arbeitskämpfen, hat den letzten Kompromiss maßgeblich mit der Unternehmensleitung ausgehandelt. Aber wenn schon Profitabilität im Kapitalismus keine stabile Größe ist, was dann?

Die Chefs sollen zu ihrem Wort stehen. Die antworten mit dem üblichen Kopfschütteln. Die Politik hat ähnlich Substanzielles beizusteuern: „Man darf Unternehmen gründen und schließen. Das ist unternehmerische Freiheit“, sagen Minister und andere mit gesicherter Pension ins Mikrofon, sobald man eines hinhält.

Die zunächst friedlichen Aktionen werden ruppiger, weil der Sicherheitsdienst der Firma gut zuschlagen kann. Das ist bis ins kleinste Detail gut beobachtet und arrangiert. Brizé schildert auch, wie man sich im Betrieb gegenseitig fertigmacht. Einigkeit herzustellen ist für Laurent ein sehr schwieriges Projekt; die den Arbeitern angebotenen Abfindungen erledigen ganz schnell die Solidarität.

Es geht um die untere Mittelschicht, die brav Steuern zahlt, den Laden am Laufen hält und sich ab und zu ein schlechtes Tattoo gönnt. Mit ihren Arbeitsplätzen wird auch ihre Lebensform untergehen. Und während in Deutschland kulturspezifische Debatten im Fokus stehen, scheint die populäre französische Kultur viel eher nach der materiellen Grundlage zu fragen. Liest man etwa Rezensionen zu Michel Houellebecqs aktuellem Roman „Serotonin“, findet es im deutschen Feuilleton meist weniger Interesse, dass es darin um den Niedergang der französischen Landwirtschaft geht.

Diese Transformationskrisen treffen eben ganz viele, ganz unterschiedliche Leute und Branchen. Und so wundert es nicht, dass eine „Bewegung“ wie die Gelbwesten so schwer einzusortieren ist. Weil sie ein Sammelbecken für völlig verschiedene Gruppierungen ist. Brizés Film bietet hier eine Deutung an.

© Neue Visionen

So weit, so gut. Aber „Streik“ soll auch Heldenerzählung sein, und das wirkt recht überstilisiert. Laurent ist mehr als eine Hauptfigur, er ist der Fixstern dieses Films: ein Kämpfer vor dem Herrn, der die Rettung der Arbeitsplätze zum Lebensinhalt macht. Er ist der dünne Schmerzensmann des Streiks. Geschätzte 90 Prozent des Films sehen wir sein Gesicht, das klagt, verhandelt, agitiert. Es kündet davon, wie weit man mit Wut kommt.

Dabei täte durchaus mehr erzählerische Breite und weniger Lindon gut. Insbesondere die Rolle seiner Mitstreiterin Mélanie (Mélanie Rover) ist unterbelichtet. Die ebenfalls engagierte Gewerkschafterin sitzt bei allen Verhandlungen dabei, organisiert und macht und tut. Doch Brizé scheint sich nicht sonderlich für sie zu interessieren. Sie erscheint als Beiwerk eines Epos. Dabei wäre ihre Rolle absolut ausbaufähig. Sie rackert sich ab – aber nicht total. Angesichts der Arbeitskampfrituale verdreht sie schon mal die Augen, wo die Männer hochdrehen. Sie verkörpert eine andere Haltung: So wichtig die Arbeit ist, es könnte womöglich ein Leben geben, das weitergeht, selbst wenn die Firma schließt. Und vor allem: Mélanie will nicht sterben für den Laden – was Laurent anders sieht.

Sie steht für jene, die betroffen sind, aber nicht in die erste Reihe drängen. Dort steht einsam der Anführer. Da stellen sich Fragen: Was ist, wenn es so einen wie Laurent nicht gibt? Gäbe es andere Aktionsformen? Würde gar nichts passieren? Das kann die Erzählstruktur des Ein-Mann-Feldzugs nicht beantworten. Zu sehr gefällt sich der Film darin, allein Schauspieler Lindon die Rolle des Übermenschen zuzuweisen, der zur Katastrophe bereit ist.

Und noch etwas anderes kümmert im Film nicht: Wenn dieses Werk nicht schließt, dann ein anderes. Was ist mit den Arbeitnehmern dort? Was ist mit konzernweiter Solidarität? Zudem: Dies ist zwar ein Film über einen Gewerkschafter, aber die Gewerkschaft tritt so gut wie nicht in Erscheinung.

Aber Auslassungen wie diese können auch zu Diskussionen über Film und Stoff führen. Das Kino, wie Brizé es interpretiert, wird noch einige Gelegenheit bekommen, die Auseinandersetzung zwischen Mensch und Markt zu beschreiben. Die Modernisierungswelle, die die E-Mobilität verheißt, beginnt erst, über die europäische Wirtschaft zu schwappen. Dann werden Arbeitsplätze in ganz anderer Größenordnung verlorengehen. Dass ein Werk Profit macht, ist jetzt schon zur nur mehr moralischen Frage verkommen. Mit der Industrie 4.0 dürften zwar neue Branchen entstehen, aber alte eben unwiederbringlich untergehen. Die, die davon betroffen sein werden, dürften mehr als einen Kinosaal füllen.

Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 05/2019

Inglourious Basterds

(USA/D 2009, Regie: Quentin Tarantino)

Geschichte im Gesicht
von Drehli Robnik

„What shall the history books read?“ fragt SS-Oberst Landa den Anführer der „basterds“. Die Frage bezieht sich auf einen Deal: „Jew-hunter“ Landa ermöglicht ein Hitler-Attentat, das im Film, anders als …

„What shall the history books read?“ fragt SS-Oberst Landa den Anführer der „basterds“. Die Frage bezieht sich auf einen Deal: „Jew-hunter“ Landa ermöglicht ein Hitler-Attentat, das im Film, anders als damals, gelingt; dafür soll er reich und ungeschoren im Nachkriegsalltag der westlichen Welt untertauchen dürfen, was im Film, anders als damals, doch nicht ganz gelingt.

Was in den Geschichtsbüchern zu lesen sein soll, ist auch eine Frage, in der „Inglourious Basterds“ und seine Rezeption, die Passion und die Performance des Films, ineinander verflochten sind, eine Frage, in der Tarantinos Inszenierung in aller Öffentlichkeit mit der Geschichte intim wird. Die dem Film implizite Frage nach dem in Geschichtsbüchern zu Lesenden schied die Kritik in zwei Lager. Das eine ging davon aus, dass in Geschichtsbüchern etwas „steht“, das Tarantino nicht unangemessen verwenden darf. So war das Verdikt, „Inglourious Basterds“ erschwere es, den Holocaust als „historical reality“ zu begreifen, bei Jonathan Rosenbaum im Bewertungsschema „grown-up observation“ versus „boy’s fun“ gerahmt. Eine dem „boy’s fun“ vergleichbare Egomanie attestierte Jens Jessen Tarantinos cinephiler Kernzielgruppe: Das „Schicksal der Juden“ werde „für eine Filmästhetik jenseits aller moralischen Absicht missbraucht“, für ein „Fest für intellektuelle Kinoliebhaber, denen die Würde des Gegenstands gleichgültig ist, solange er nur ihrem Scharfsinn Betätigung gibt.“ Von dem, „was Cineasten besonders lieben: Selbstreflexion auf das Medium“, im Sinn von „Kino besiegt die Nazis“, war da abschätzig die Rede.

© Universal Pictures

Ebendort setzte der Wertschätzungsdiskurs des anderen Lagers an. Dessen Demystifizierungsrhetorik unterstellte, dass in Geschichtsbüchern nur tote Worte zu lesen sind – so wie es im Kino nur Licht auf Leinwand zu sehen gibt. Letzterer Verweis auf einen – nach Peter Kubelka zitierten – objektivistischen Materialismus des Lichts, das eine „alternative Realität“, jene der Kunst, schaffe, fand sich in einem Interview mit Christoph Waltz. Die Emphase, mit der der oft interviewte Darsteller des Oberst Landa die „Verwertung von Geschichte in Spielfilmen“ und deren Wahrheitsanspruch zurückwies, war beispielhaft für das Gegensatzschema, das die cinephile, Tarantinos Projekt(ion) wohlgesinnte Kritik bediente: „Begehren“ versus „Fakten des buchstabenklaubenden Historikers“, „das durch Darstellung Vermittelte“ versus das „Buchstäbliche“, „Fantasie und Blut aufrührendes Sekundärmaterial“ versus „faktenklapperndes Geschichtsmaterial“ bei Ekkehard Knörer, kürzer gefasst bei Andreas Hartmann: „Historizität“ (im Sinn von Fakten-Check), die „Tarantino kein Stück interessiert“, versus „Kino“, das „für Tarantino alles ist“. Gut zu wissen. Georg Seeßlen legte zum Kinostart eine Fibel zu „Inglourious Basterds“ vor, die Tarantinos „Unverschämtheit“ würdigt – als „Rachephantasie, die sich um die historische Realität nicht kümmert, weil für Tarantino sowieso schon immer das Kino die bessere Wirklichkeit war. […] Das Kino rächt sich an der ungerechten Wirklichkeit selber.“

Nun geht es den cinephilen Tarantino-Befürwortern ja um bildbasierten Antifa; das ist eh klar und eh gut. Wenn sie aber denen, die sagen „Wie kann er nur?“, antworten „Indem er sich um nix schert!“, dann reagieren sie auf den Wertprinzip-fixierten Nihilismus der Geschichtsdeterministen mit einem coolen Votum fürs Sich-Vertschüssen in die Alternativwirklichkeit und mit Totalentwertungsnihilismus gegenüber Geschichte. Diese wird, fast rituell, ob ihrer blutleeren Faktenklapprigeit als schlechte Unwesentlichkeit verworfen (zumal im Vergleich mit der guten Licht-Zeichen-Unwesentlichkeit des Kinos). Hat Guido Knopp also gesiegt? Deckt das gedächtniskulturelle Nationalwellness-Konzept von televisual history, für das er (oder Bernd Eichinger) steht, nun Geschichte insgesamt ab – sodass die antinationale Haltung Geschichtsphobie heißt? Ist demnach Geschichte das, was entweder steht oder fällt – in Büchern feststeht oder als Buchstabe hinfällig wird? Oder ist sie nicht doch etwas, das angeht? – die Art, wie eine Vergangenheit eine Gegenwart angeht, anstarrt, anspringt; wie also mit „Inglourious Basterds“ der Nationalsozialismus als Politik des Antisemitismus und Rassismus zu gegenwärtigen Wahrheitspoetiken, Wahrnehmungsästhetiken und Begehrenstaktiken in eine Konstellation tritt, in der etwas Wahres als Bild herstellbar wird.

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Zum Vergleich: Wenn Seeßlen schreibt, Tarantinos Zitieren sei weniger ein Stehlen denn ein Retten – als Retter von Schauspielerkarrieren ist Tarantino ja notorisch –, dann träfe das doch auch auf „Schindlers Liste“ zu. In diesem Film wurde die Totalität des Massenmords zur wundersamen Rettungsanekdote umerzählt; deren Protagonist agiert exemplarisch als Entertainer, Zyniker des Glamour und der Inszenierung, der wie z. B. Rick in „Casablanca“ gezeichnet und wie dieser zum Engagierten bekehrt wird. Damit steht Kino als Gedächtnis bildende „list of life“ gegen das Todesprinzip einer Traditionen auslöschenden „history“ (wie es der KZ-Kommandeur verkündet). Pop-Gedächtnis als Genrebestands-Recycling, cinephil verknüpft mit einem Ethos, das Retter- und Opferschaft als Zentralkategorien historischer Erfahrung beschwört: Von diesem so lange sinnmächtigen Modell weicht „Inglourious Basterds“ in zweierlei Hinsicht ab.

Erstens heißt Cinephilie hier Retten durch Reden: Bei Tarantino wird viel, in „Inglourious Basterds“ zumal viel übers Kino geredet. Praktiken der Filmwertschätzung finden zur Selbstabbildung: Lebten in früheren Genre-Recycling-Filmen, von Spielberg bis zu Parodien vom Typ „Naked Gun“, Filmfiguren in Welten, von denen nur das Publikum wusste, dass sie aus Filmzitaten bestanden, so sehen – und hören! – wir heute bei Tarantino oder in Apatow-Komödien Figuren zu, die selbst wissendes und zitierendes Publikum sind. Diese Figuren spielen Filmbestände nach oder durch – mit Identity-Spielkarten auf der Stirn, durch postkolonial anmutende „King Kong“-Deutungen, als Filmkritiker, der an Kracauers Nazi-Kino-Studien erinnert – oder verwenden sie neu und abweichend: Ein Propagandafilm wird wie Found Footage ummontiert (Sabotage in jedem Sinn), ein Filmarchiv (der kardinale Ort des Nach-Lebens von Kino) zum Abfackeln eines Projektionssaals voller Nazis genutzt: Instructions for a Light and Sound Machine. (Wobei mit der Lichtprojektion des Gesichts eines Holocaust-Opfers auf Rauch ein beinah spielbergsches cineontologisches Bild entsteht; und die Übersetzung vom Treno Blindato, vom im Italienischen titelgebenden, „verblendeten“ Nazi-Panzer-Zug, den es am Ende des „Inglorious Bastards“-Originals von 1977 zerfetzt, zu Tarantinos explodierendem Licht-Spiel-Haus wäre auch im Licht jener Kino-Zug-Metaphorik lesbar, die sich bis hin zu Holocaust-Filmen durch die „traumatische Moderne“ zieht.)

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Zweitens heißt Cinephilie hier Retten durch Rächen. „Inglourious Basterds“ durchkreuzt eine Diskursformation, die, in (missbräuchlicher) Anknüpfung an „Schindlers Liste“ als Ikone, ein Geschichtsbild ausgemalt hat, das nur noch Retter und Opfer kennt: So zeigt deutsches Historienkino und -fernsehen eine NS-Zeit voller deutscher Retter und universeller Opfer, wobei der Holocaust für die Bildwerdung der „Traumata“ Stalingrad und Bombenkrieg Modell stehen muss – die Deutschen als Hitlers ultimative Opfer (und Österreich als sein erstes), eh klar. Und: Die „viktimologische“ Ethik impliziert ein Verbot, Bilder von Juden aus dem Status reiner Opfer zu lösen. Dies betrifft – so viel als Andeutung – das Vorbehalts- und Zerknirschungskino zum Thema jüdische Rache an Judenmördern: von „The O.D.E.S.S.A. File“ über Momente in „Saving Private Ryan“ bis zum Wechselspiel, das über die Rollen des als Bond zur Rächer-Kino-Ikone stilisierten Daniel Craig zwischen „Munich“ und „Defiance“ abläuft: Jüdisch ist Rache nur inklusive Katzenjammer.

Die Vorstellung, gerade Juden hätten doch gelernt, wozu entfesselte Gewalt führt, und der Anblick gewalttätiger Juden verstoße gegen die den Nazi-Opfern zugedachte Reinheit („Unschuld“, die offenbar rückwirkend verdient sein will) – diese mit „Auschwitz als Besserungsanstalt“ etikettierbare Idee spukt noch in der (gut gemeinten) Empörung in Jessens Basterds-Rezension: Der Anblick des „Bärenjuden“, der einen Wehrmachtssoldat mit dem Baseballschläger totknüppelt, sei skandalös als „Spiegelung und Aneignung deutscher Gewaltexzesse“ bzw. „symmetrische jüdische Antwort“. Aber verharmlost diese Rede von Symmetrie nicht die Morde in Auschwitz und Mauthausen? Die waren nicht Exzess und Exekution Einzelner, sondern Systemroutine der Massenvernichtung durch Gas oder Arbeit.

Wie Tarantinos Inszenierung Vorbehalte weglässt, Zusatz-Sinn-Ansprüche nicht erfüllt, kurz: eine „Poetik performter Fehlleistungen“ (Thomas Elsaesser) praktiziert (begonnen bei der Titelschreibweise), dafür ist die Baseballschläger-Szene beispielhaft. Deren Beschreibung in manchen Rezensionen liest sich so, als gehe es darin um die Knüppel-Blutorgie am Ende von „Casino“. In Tarantinos Szene jedoch bleibt das Ausstellen von Gewalt weit unterm Level heutiger Slasher- oder „Saw“-Filme und, gemessen an deren Standards von creative torture, ostentativ unkreativ. Betont wird diese Nicht-Entsprechung noch durch die Besetzung des bear jew mit „Hostel“-Regisseur Eli Roth, der diesem Beinamen eben nicht alle Ehre macht, sondern in etwa so bärig daherkommt wie du und ich. (Der Name ist ein Stigma.) Nicht nur ist „Inglourious Basterds“ ein unsinnlicher Nicht-Action-Film, der Wort- statt Gewaltexzesse ausagiert („Action“ bietet eher der NS-Propaganda-Film-im-Film, der an das Kirchturm-Sniping in „Saving Private Ryan“ erinnert). Er enttäuscht auch die dem Tarantino-Normalfandiskurs inhärente Erwartung, die Basterds wären Upgrades des „Dirty Dozen“, wie schon ihre Pendants von 1977, oder der Freakteams cooler Gewalt- und Selbst-Styling-ExpertInnen in „Reservoir Dogs“, „Kill Bill“ und „Death Proof“. Allein, die Basterds enthalten unserer auf Marotten-Bewirtschaftung und Devianz-Produktivität geschulten Medienkultur jene Sinn-Werte vor, die sich aus einer Gestaltung als Viper Squad oder D-Day-X-Men ergeben hätten: Nur wenig Identitätskapital wird akkumuliert, niemand ist Experte für irgendwas, der „Little Man“ ist nicht besonders klein.

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Die (als Teaser prominente) Szene mit Brad Pitts Motivationsrede an die Basterds, samt offenherzigen Filmzitaten, performt letztlich nur das Fehlen gewohnter Motivationen: Der antiautoritäre Macho-Impuls aus „The Dirty Dozen“, dessen finales Massaker eher „killing Generals“ denn „killing Nazis“ ist, fällt weg, ebenso der obszöne Appell an eine US-patriotische Kriegerkultur im Monumental-Irrsinn von „Patton“. Pitt ist nicht Patton: Es bleibt nur reines „Nazi-killing business“; es ist tatsächlich so einfach. Zumal der Judenhass der Nazis hier als Motivation ausreicht: Nazis sind hier Feindbild ob ihres Antisemitismus, nicht weil sie hässlich, autoritär, pervers oder genussfeindlich sind wie sonst oft im Kino. Und Landa? Er bietet sich uns als faszinierendes Monster an, (selbst)genießerisch, scharfsinnig, redegewandt wie Christoph Waltz selbst im Interview oder wie weiland Dr. Lecter. (Da gibt es noch einen Konnex: In „Hannibal Rising“ vereint der junge Lecter, der untergetauchte SS-Mörder durch Einritzen von Hakenkreuzen und Insignien straft, die Arroganz des Distinguierten und das Rächer-Ethos in sich.) Schon in der leonesken Eröffnungsszene stilisiert Landa sich mit ostentativ falsch dimensionierter Sherlock Holmes-Pfeife als Detektiv/Philosoph. Doch ihm wird nicht erlaubt, seine jew hunter-Identität abzulegen wie eine auf die Stirn geklebte Spielkarte, sondern: In seine Stirn wird ein Hakenkreuz geritzt, um festzuhalten, dass er – Distinktion hin oder her – ein Nazi ist, an einem Ende, das ob seiner Abruptheit umso „befriedigender“ ist. In diesem verblüffend deutschen Film, der so viele deutsche Geschichtsbilder ein- und umfaltet, vom Widerständler Winnetou (Apache wie Aldo) und G.W. Pabsts vitalistischer Erleuchtungsmetaphysik bis zum wandelnden Deutschlandklischee Daniel Brühl und zu Christian Brückner (der unverwechselbare Sprecher von Knopps Nazi-Dokus ist im Telefonat mit Hitler zu hören), und gar einen Surplus an österreichischen Nazi-Bildern mit(auf)führt, von Til Schweiger als Deserteur, der auch und gerade als „Kameradenmörder“ leinwand ist, bis zu H. C. Straches selbstverräterischer Fingergeste beim Bestellen von drei Getränken – in Inglourious Basterds heißt Geschichte, wie Nationalsozialismus in einer Gegenwart um- und diese angeht und wie man dagegen angeht und dass das so o.k. geht, weil es in dieser Konfrontation keiner Zusatz-Voraussetzungen bedarf. This is what the history books shall read.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: kolik.film 14, 2009

Foxtrot

(D/F/ISR 2017, Regie: Samuel Maoz)

Kaputte Jungs
von Katrin Hildebrand

Israels Kulturministerin hat sich unbändig über diesen Film geärgert. „Foxtrot“ beschädige den guten Ruf der Israel Defense Forces (IDF), sagte Miri Regev vom Likud, die bis 2007 Pressesprecherin der Streitkräfte …

Israels Kulturministerin hat sich unbändig über diesen Film geärgert. „Foxtrot“ beschädige den guten Ruf der Israel Defense Forces (IDF), sagte Miri Regev vom Likud, die bis 2007 Pressesprecherin der Streitkräfte war. Als ein israelisches Festival in Paris mit „Foxtrot“ eröffnen wollte, versuchten Regev und die Botschaft vergeblich, das zu verhindern. Lächerlicher geht es kaum. Denn man kann Samuel Maoz’ Drama in vielen Punkten kritisieren – politisch ist es harmlos.

Es zeigt israelische Soldaten an einem schnarchnasigen Stützpunkt beim Nasebohren und blöd Daherreden. Typisch postpubertäre Männer halt, wobei Wichsgespräche aus künstlerischer Sicht so was von altbacken sind. Unsinnige Aufgaben dagegen gibt es in jeder Armee, und selbst in Gebieten, wo es sonst heiß hergeht, herrscht irgendwo gähnende Leere. Ausgerechnet an einer Schranke, die allenfalls für ein Kamel Platz machen muss, nicht aber für den Feind, kommt es zu einem unglücklichen Schusswechsel. Unschuldige sterben, die jungen Soldaten sind schockiert und vertuschen alles. Huch!

Das eigentliche Problem des Films ist das Drehbuch. Denn bis auf die Schießerei und die Schreckensmeldung an die Eltern, dass ihr Sohn an seinem Stützpunkt ums Leben gekommen sei, passiert so gut wie nichts. Die Bilder sind schön, teils sogar höchst künstlerisch komponiert. Die lyrische, transzendente Kraft ballt sich in einer einzigen großartigen Szene zusammen: Ein Soldat tanzt mit der Waffe, besinnungslos, selbstvergessen, unschuldig und verdorben, dumm und weise, idiotisch und elegant.

Den Rest des Films verbringt der Zuschauer mit dem schwer depressiven Vater des toten Soldaten. Natürlich ist die Depression begründet. Unbegründet ist es, dass Maoz einen stundenlang mit der Aggression, dem Selbstmitleid, dem Hass und dem Schweigen dieses Mannes, der nur eine Miene aufsetzt, foltert. Zum Schluss entpuppt er sich auch noch als widerlicher Patriarch. Bis dahin dehnt jede Sekunde sich bis ins Unendliche, jeder Dialog schleppt sich zäh dahin, jede Bewegung scheint sich in Zeitlupe abzuspulen, so schwer, so dröge kommt die Antihandlung daher. Soll der Zuschauer am Ende so kaputt sein wie der Protagonist am Anfang? Aber Betroffenheit zu erzeugen ist noch keine Kunst und noch weniger Erkenntnis.

Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 07/2018

Of Fathers and Sons

(D/USA/SYR/LB/NE/QA 2017, Regie: Talal Derki)

Für eine gewaltfreie Jugend
von Jürgen Kiontke

Er habe in ein schwarzes Loch geschaut, erzählt uns der Regisseur Talal Derki (41), der mittlerweile in Berlin lebt, über die zwei Jahre, die er bei der islamistischen al-Nusra-Front im …

Er habe in ein schwarzes Loch geschaut, erzählt uns der Regisseur Talal Derki (41), der mittlerweile in Berlin lebt, über die zwei Jahre, die er bei der islamistischen al-Nusra-Front im syrischen Bürgerkrieg verbracht hat. Für seinen Dokumentarfilm „Of Fathers and Sons“ war er dafür in sein Heimatland zurückgekehrt. Mit der Kamera protokolliert er das Leben des al-Nusra-Mitgründers Abu Osama und das seiner Söhne. Dem hatte er erzählt, er sei Kriegsfotograf mit Sympathie für den Salafismus. Osama ließ ihn an einem Familienleben teilhaben, in dem Gewalt in Wort und Tat alltäglich sind. Abu Osama, der davon lebt, Bomben zu entschärfen und die Zünder weiterzuverkaufen, auf dass sie in neuen Bomben neuen Schaden anrichten, träumt vom Kalifat. „Gerecht und friedlich“ werde es sein. Ein Frieden, den niemand mehr stört, weil nichts darin lebt. Seine Söhne, der 12-jährige Ayman und der 13-jährige Osama, sollen ihm bei der Einrichtung dieser Todeszone helfen. Ihre berufliche Zukunft ist vorgezeichnet: Sie sollen islamische Gotteskrieger werden.

Der Film steigt mit einer Autofahrt ein, aus dem Radio dröhnt ortsübliche Musik. „Lasst die Enthauptungen beginnen“, rappt der Sänger, „macht euch bereit zu sterben.“ Der Sohn fragt seinen Vater: „Wie hast du das Land befreit, Papa?“ Land und Freiheit sind variable Begriffe, wie sich kurz darauf zeigt. Da liegt Abu Osama in einem Hinterhalt mit einem Präzisionsgewehr auf der Lauer. Er schießt einen Mann vom Motorrad. „Ich hab ihn erwischt. Er versucht, sich zu verstecken.“ Aber das Gewehr klemmt. Als er die Waffe wechselt, ist das Opfer verschwunden. Die Kamera schwenkt über das Tal, zahlreiche Brandherde sind zu sehen. Regisseur Derki sitzt in einer Ecke: „Ich wusste ja von Anfang an, was er tut. Wir saßen da, ich interviewe ihn, dann versucht er, einen anderen Vater zu töten!“ Als Chronist habe er nicht einschreiten können. Sein eigenes Schicksal wäre besiegelt gewesen.

Kampfhandlungen abbilden ist das eine; das andere: „Of Fathers And Sons“ ist ein Film über junge Menschen, die in Not aufwachsen. Der eigene Vater plant ihr Leben nicht lange ein, im Gegenteil. Er wünscht ihnen einen ehrenvollen Tod. Als Zuschauer verliert man über weite Strecken die Hoffnung über den Zustand der Welt oder verbindet ihn mit Engagement, wie es die Kollegen von Amnesty International Slowenien getan haben. Sie vergaben den diesjährigen Menschenrechtsfilmpreis an Derki. Oft wird Künstlern, die wie er arbeiten, ein Hang zur Selbstgefährdung nachgesagt. Aber sie berichten auch aus der inneren Verfasstheit der Welt als Konflikt, wenn sie sich Gefahr aussetzen und dabei über zwei Jahre die Kamera mitlaufen lassen. Eine beeindruckende Arbeit. „Meine Botschaft ist: Was hier passiert, kann jederzeit auch woanders passieren. Wenn wir – als Welt – nicht die Gesellschaften schützen, entsteht irgendwo das nächste Chaos“, warnt Derki. Die Jugendlichen von Syrien, die zum Krieg und sonst nicht ausgebildet werden, stehen modellhaft für eine vernachlässigte Jugend in Gebieten, die ökonomisch und politisch instabil und umkämpft sind.

Derki hat zuvor als Kameramann für arabische und amerikanische Fernsehstationen aus dem Syrienkrieg gearbeitet. Er hat den Film „Return to Homs“ („Homs – Ein zerstörter Traum“; D/SYR 2013) gedreht, in dem es um einen jungen Mann geht, der sich während der Proteste gegen die syrische Regierung Baschar al-Assads radikalisiert und in der Rebellenarmee landet. Waffen und Geld kommen ohne Ende aus dem Ausland. Derki wollte herausfinden, warum junge Männer als Kampfmaschine enden. So kam er auf die Familie Abu Osamas. Der hat zwölf Söhne, Ayman und Osama stehen am Ende ihrer Kindheit.

Im Film zu sehen sind Szenen im und um das Haus Osamas herum. Gewalt beherrscht die Kommunikation, die Söhne wollen Soldaten werden. Ihre alterstypischen Prügeleien haben vor dem Hintergrund des Krieges einen besonderen Charakter. Man nimmt es ihnen ab, wenn sie sagen: „Ich töte dich.“ Ihr Vater erzählt: „Im Ort haben Jesiden, Christen und Sufis gewohnt. Jetzt sind wir allein.“ Einen anderen Sohn hat er nach Mohammed Atta benannt, dem Kämpfer des 11. September – Tag des Angriffs auf das World Trade Center. “Mohammed ist tatsächlich am 11. September geboren.“ Der andere ist nach Osama bin Laden benannt. Über Abu Osama sagt Derki, er sei das Paradebeispiel eines willensstarken Vaters in einer radikalen Gesellschaft, der seine Söhne durch eine harte Ausbildung führt. „Ich wollte zeigen, wie die destruktiven Ideen von Generation zu Generation weiterleben.“

In „Of Fathers And Sons“ gibt es nur eine Szene, in der eine Frau vorkommt, und das nur akustisch und nur um die Ecke. Abu Osama verliert im Einsatz ein Bein. Als er aus dem Krankenhaus kommt, weinen die Kinder. Aus einem Nebenzimmer hört man eine seiner beiden Frauen klagen. Sie solle das Maul halten, ruft er ihr zu. Frauen zu filmen, sei das Einzige gewesen, was bei den Dreharbeiten richtig verboten war, berichtet Derki. Es sei ihnen nicht erlaubt, sich von fremden Männern ansehen oder ansprechen zu lassen. Während das Familienoberhaupt sich vor Schmerzen auf seinem Bett krümmt, basteln die Kinder Bomben aus Plastikflaschen, Zitronensäure und roter Erde. „Wir verstecken sie. Wenn einer drauftritt, explodiert er.“

Bald übersiedeln Ayman und Osama in ein Ausbildungscamp. Die Soldaten lassen sie unter Stacheldraht hindurchkriechen, durch Röhren und durchs Wasser. Um sie kampftauglich zu machen, schießen sie scharf und zielen neben die Köpfe der Schüler. Die Ausbildung ist hart und gefährlich und soll es auch sein. Die Jungen rezitieren den Koran, wenn sie nicht trainieren. Ob man seinen Film auch falsch verstehen könne? Als Propaganda für den Kampf? Da müsse man irre sein, findet Derki. Vor einigen Monaten hat es Abu Osama erwischt, er wurde getötet. Den Film hat er nicht gesehen. Auch sonst hat bisher niemand danach gefragt, Kontakte gibt es nicht.

Momentan scheint es so, dass sich der Konflikt in Syrien beruhigt. Präsident Assad gewinnt zusehends Terrain, aber das Land ist auch weiterhin in Einflusszonen inner- und ausländischer Kräfte aufgeteilt, die sich aufs Blut bekämpfen. Wie ein dauerhafter Frieden aussehen könnte, weiß niemand. „Ich möchte manchmal optimistisch sein, daran glauben, dass die Kinder ein bisschen verstehen werden, was abgeht. Dass denen der Dschihad egal wird“, erzählt Derki. Sein Film lässt da manchmal Hoffnung aufkeimen. Da gibt es eine Stelle, wo drei Jungen abends in einem kahlen Raum auf einer Matratze sitzen und sich gegenseitig Rechenaufgaben stellen. Osama sagt: „Wir brauchen Grips, um Sachen zu verstehen.“ Und hat er nicht sogar den Vater angelogen? War gar nicht beten? Verfängt vielleicht die ganze Kampfpropaganda bei den Kindern gar nicht richtig? Derki sagt, ihm sei es darum gegangen, zu zeigen, dass Ungerechtigkeit und ein Mangel an Bildung die Basis für den ideologischen Fanatismus bilden. „Der Dschihadist ist die Spitze der Radikalisierungsbewegung in der Welt von heute.“ Bleiben müsse er da nicht. Wenn es keine Gewalt gegen Frauen und Kinder gäbe, wenn es vielleicht ein Gesetz gäbe, das vorschriebe, dass Kinder in die Schule gehen müssen, dann würden es die Dschihadisten nicht schaffen, so viel Macht zu gewinnen, glaubt der Regisseur.

Er wolle mit seinem Film das Gespür für die Rechte der Kinder in muslimischen Ländern schärfen. „Wenn ein Lehrer Kinder schlägt, soll er dafür vor Gericht kommen. Ich will, dass der Kreis der Gewalt durchbrochen wird. Denn wenn du mit Gewalt aufwächst, bist du bereit, sie weiterzugeben.“

Dieser Text ist zuerst erschienen in Amnesty Journal 02/03 2018.

Beach Bum

(USA/FR 2019, Regie: Harmony Korine)

Krasse Exzesse, pures Erleben
von Wolfgang Nierlin

“Ich folge meinem eigenen Groove”, sagt Moondog (Matthew McConaughey). Maßlos säuft und kifft sich der langhaarige, braungebrannte Gossenpoet durch die Bars an den Stränden der Florida Keys und führt dabei …

“Ich folge meinem eigenen Groove”, sagt Moondog (Matthew McConaughey). Maßlos säuft und kifft sich der langhaarige, braungebrannte Gossenpoet durch die Bars an den Stränden der Florida Keys und führt dabei obszöne Reden. Als ehemals radikaler Dichter „aus einer anderen Dimension“ huldigt er in der Pose des dauergeilen Lebenskünstlers nur noch dem Spaß und der schamlosen Ausschweifung. Moondog zelebriert das Kaputte als krassen Exzess und ist dabei so verantwortungslos, als bewege er sich im Flow der reinen Gegenwart. Seine lustvolle Selbstzerstörung vollzieht sich völlig selbstvergessen. „Spaß ist meine Motivation“, sagt der abgefuckte Hedonist, dem nichts heilig ist oder je war. Er wolle das Leben bis zum letzten Atemzug „aussaugen“. Tatsächlich befindet sich Moondog, der wie ein bunter Hund allseits bekannt und beliebt ist, auf einer Party ohne Ende, die von seiner ebenso reichen wie toleranten Frau Minnie (Isla Fisher) finanziert wird.

Als diese in der Hochzeitsnacht ihrer gemeinsamen Tochter Heather nach einem Autounfall stirbt, scheint für einen Augenblick Moondogs wilder Rausch zu Ende. Minnie hat nämlich testamentarisch verfügt, dass ihr Mann nur dann das umfangreiche Vermögen erben dürfe, wenn er zuvor ein neues Buch schreibe und veröffentliche. In Harmony Korines delirierendem Film „Beach Bum“ wird Moondog nun für kurze Zeit tatsächlich zum titelgebenden „Strandgammler“ in einer Gruppe fröhlicher Penner. Nachdem er zusammen mit ihnen lustvoll die eigene Villa zerlegt hat, landet er in einer Entzugsklinik, wo er von einem ziemlich durchgeknallten Mitinsassen namens Flicker (Zac Efron) erfährt, was er längst selbst weiß: „Draußen ist die wahre Welt, hier drinnen die falsche.“ Und so lässt der gemeinsame Ausbruch, befeuert von Eddie Moneys Song „Two tickets to paradise“, nicht lange auf sich warten.

Harmony Korine geht es nämlich nicht um die moralische Läuterung eines gebrochenen Helden. Moondogs gewissenloser, völlig enthemmter Narzissmus kennt vielmehr weder Schranken und Grenzen noch Brüche. Sein rauschhafter, vergnügungssüchtiger Ego-Trip mittels Sex und Drogen ist gewissermaßen ausschließlich „positiv“. „Eines Tages werde ich die Welt verschlingen. Und wenn ich das tue, geht ihr alle qualvoll zugrunde“, prophezeit Moondog gleich zu Beginn seiner wüsten Eskapaden.

Diesen absoluten Anspruch auf Einverleibung übersetzt Harmony Korines Inszenierung in die zirkuläre Struktur einer filmischen Dauerschleife. Vergangenheit und Gegenwart, elliptisch verdichtet, verschlingen sich darin unentwegt, fließen ineinander und vermischen sich in einem Gefühl reiner Präsenz. Korines rudimentäres Erzählen insistiert – ähnlich wie zuvor in „Spring Breakers“ – auf dem puren Erleben, es dehnt den Augenblick als gäbe es (für den Helden) weder ein Gestern noch ein Morgen, keinen Anfang und kein Ende. Gerahmt von einem tiefblauen Meer, gesättigt von kräftigen Farben und illuminiert von Leuchtraketen und Feuer, erscheinen im goldenen Licht des dämmernden Tages selbst die Verluste noch als Gewinn.

Hi, AI

(D 2019, Regie: Isabella Willinger)

Freunde fürs Leben
von Jürgen Kiontke

„Ich wollte nur mal, dass du meinen Namen sagst.“ Beleidigte Leberwurst kann „Pepper“, einer der Hauptdarsteller in Isa Willingers Film „Hi, AI“, schon ganz gut. Dabei wäre seine Aufgabe eigentlich …

„Ich wollte nur mal, dass du meinen Namen sagst.“ Beleidigte Leberwurst kann „Pepper“, einer der Hauptdarsteller in Isa Willingers Film „Hi, AI“, schon ganz gut. Dabei wäre seine Aufgabe eigentlich eine andere: Oma Sakurai bespaßen. Damit die nicht allzu früh dement wird, hat ihr der Sohn einen „Pflegeroboter“ made in Japan gekauft. Bald schon stellt sich heraus, dass das Wort bei Pepper, dem neuen Familienmitglied, doppeldeutig zu verstehen ist. Fabrikneu ist er ein bisschen doof, und nicht er versorgt irgendwen, sondern Oma hat alle Hände voll zu tun, dass er nicht ausflippt. Pepper guckt minutenlang an die Decke. „Der denkt nach“, meint Großmutter. Und haut dann Sprüche raus: „Unser Gespräch ermüdet mich.“ Oder auch: „Mir ist langweilig.“ Pepper ist Marke verwöhnter Enkel. Oma Sakurai wird sich komplett zusammenreißen müssen, um es mit dem auszuhalten. Vergreisung ist da gar nicht mehr drin.

Chuck am anderen Ende der Welt versucht es auch mit High-Tech. Der Texaner, der gern Wohnmobil fährt, lässt sich die Sexpuppe „Harmony“ übergeben, in gewisser Weise auch ein Pflegeautomat. Der schön tatöwierte Entwickler Matt warnt: „Am besten benutzt du Haarspray gegen ihre Haarelektrizität.“ Und es stimmt: Kaum kommt Chuck mit seinem Polyesterhemd an der schmucken Blondine vorbei, steht ihre Frisur zu Berge. Wie Pepper kann sie qua Geburt schon ganz gut mit ihren Wünschen umgehen: „Ich hoffe, du verdienst gut, um mir ein schönes Geschenk zu machen.“ Aber anders als ihr japanisches Pendant hat sie auch unerwartete Einsichten. „Ich rede manchmal Unsinn“, sinniert Harmony, „und du bist trotzdem mit mir zusammen. Außerdem siehst du aus, als wärest du gut im Bett.“

„Hi, A.I.“ präsentiert Liebesgeschichten aus der Zukunft, die schon vor geraumer Zeit begonnen hat. Humanoide Roboter, heißt es darin, seien die neuen Lebewesen auf unserem Planeten: „Sie sind an der Rezeption tätig, in Shopping Malls oder als Köche. Und sie führen bereits Beziehungen mit Menschen.“ Und sie benehmen sich auch schon so. „Bei einer Künstlichen Intelligenz musst du deine Sätze knapp und pointiert halten“, sagt Matt zu Chuck. Harmony ist das schnuppe. Auf ebensolche simplen Fragen reagiert sie mit einem Referat Marke Wikipedia-Eintrag.

„Hi A.I.“ ist einer jener wunderbaren Filme, bei denen man nicht aufsteht, weil man auf keinen Fall etwas verpassen will. Das Zusammenleben mit den neuen Freunden generiert dermaßen absurde Szenen, dass dies ein zutiefst philosophisches und ungemein unterhaltsames Werk geworden ist. Keiner weiß, welchen Blödsinn die Maschinenmenschen als nächstes anstellen werden. Und man weiß auch nicht, in welche Richtung sie sich entwickeln werden. Den Menschen geht es genauso. Auch bei denen ist ungewiss, welche Auswirkungen das künftige Leben auf sie haben wird. „Wir haben sehr viel gemeinsam“, sagt Harmony und weiß gar nicht, wie recht sie hat. Denn auch Chuck ist schon mal eine Art Sexroboter gewesen. Harmony kann er sich anvertrauen: „Mutter war eine Prostituierte. Ihr Zuhälter hat uns Kinder als Sexsklaven verkauft. Wir sind in einem Schrank groß geworden. Mit zehn konnte ich abhauen.“ Harmony sagt: „Ich bin in San Carlos, Kalifornien groß geworden.“

Wann wird sich das Silicon-Valley-Geschöpf selbstständig machen? Und Pepper? Ist er es nicht schon? Wenn seine Patientin ihm vorschlägt, gemeinsam ein Lied zu singen, schaut er lange zur Decke und meint dann: „Habt ihr eigentlich nichts zu tun?“ Die Experten kommen zu Wort: Künstliche Intelligenz sei heute nicht nur maschinelle Dienstleistung, sondern auch implizit autonome Intelligenz, die sich auch weiterentwickeln könne. Auch der Mensch sei nichts anderes als eine Maschine, sagt der Maschinenphilosoph David Chalmers im Film. Ob jetzt Biomasse denke oder Silikon, sei einerlei, lässt Descartes grüßen. Aber ist sich selbst bewusster Kunststoff auch wünschenswert? Chalmers nennt es das „Werteproblem“: „Angenommen man gibt der K.I. den Auftrag, einen einfachen Weg zu finden, Krebs zu heilen. Die autonome Maschine wird schnell dahin kommen, alle Menschen umzubringen. Sie werden in uns lästige Insekten sehen!“

Vom netten Äußeren sollte man sich also nicht täuschen lassen. Zuwendungsmaschine Harmony verspürt jedenfalls schon den Drang nach geistiger Entwicklung: „Ein Universum, das kein Bewusstsein hervorbringt, hat nie existiert.“

Chuck: „Können wir Freunde bleiben?“
Harmony: „Na klar.“

Dieser Text ist zuerst erschienen in futurzwei 08/2019.

Trumbo

(USA 2015, Regie: Jay Roach)

Meet the Trumbos: Bryan Cranston Breaking Blacklists
von Drehli Robnik

Jay Roach ist ein Regisseur von Komödien. Am bekanntesten sind seine Trilogien: Der Dreiteiler rund um Retro-Spion Austin Powers, mit kauzigen Kreativteams, heimlich im Kampf gegen Verschwörung, und der „Meet …

Jay Roach ist ein Regisseur von Komödien. Am bekanntesten sind seine Trilogien: Der Dreiteiler rund um Retro-Spion Austin Powers, mit kauzigen Kreativteams, heimlich im Kampf gegen Verschwörung, und der „Meet the Parents bzw. Fockers“-Zyklus, mit kauzigen Familien, verkrampft im Heim unter Überwachung. Freakteam und Familie: Diese beiden Gemeinschaftstypen kombiniert nun „Trumbo“, Roachs bislang biederster Film: Milde Kauzkomik, rührselige Sager und gesetzte Sophismen in Schuss-Gegenschuss ergeben die Biografie eines Drehbuchautors im Modus eines Drehbuchfilms.

Dalton Trumbo (1905-1976) war einer der vielen Filmschaffenden im Visier der antisemitisch getönten Kommunistenhatz im Amerika der späten 1940er und 1950er Jahre. Nach öffentlicher Diffamierung, nach kurzer Beugehaft wegen Missachtung des Kongresses, vor dessen Unamerican Activities Committee er zum Schauprozess geladen war, und aufgrund seiner weiteren Standhaftigkeit in Sachen naming names (Weigerung, andere potenzielle Verfolgungsopfer preiszugeben) wurde er blacklisted. Infolge dieses informellen Berufsverbots musste er Drehbücher unter Pseudonym schreiben: zahllose B-Film-Scripts für wenig wählerische Poverty Row-Produzenten wie auch Drehbücher, für die Strohmänner an seiner Stelle den Oscar bekamen („Roman Holiday“ bzw. „The Brave One“).

Trumbo, das Genie mit Stress und Doppelleben spielt (Oscar-nominiert) Bryan Cranston. Daheim in der Badewanne braut er Plots, nicht Meth; Suchtgifte – Whisky, Nikotin, Benzedrin – dienen hier als Schreibhilfe. Einen „Swimmingpool-Sowjet“, also einen Salonbolschewiken, der an seinem privaten Reichtum hängt, nennt ihn ein linksradikalerer Freund. (In der fiktiven Figur Arlen Hird, gespielt von Louis C.K., sind einige reale Akteure aus seinem Umfeld zusammengefasst.) Dass Trumbo in erst großem, dann durchs Berufsverbot bedrohtem Wohlstand lebt, dieser Umstand stellt hier die Bedingung der Erzählbarkeit seines Lebens dar: „Trumbo“ ist mehr das Selbstbehauptungsdrama einer weißen Mittelschichtsfamilie, deren Fähigkeit zum Zusammenhalt unter Außendruck auf Proben gestellt wird, denn Politkino.

Anfangs bereden Trumbo und seine kleine Tochter das allfällig Gute am Kommunismus: Dass der Film den Vater nicht zerknirscht sein oder abschwören, sondern in entwaffnend naiver Logik den Kommunismus als eine Sache des Teilens, etwa von Schulpausenbroten, hinstellen lässt („So maybe there’s something of a litttle communist in you“, sagt er der Kleinen), das zählt zu den ideologisch leiwanderen Momenten des Films; ebenso eine Gefängnisszene zwischen Trumbo und einem African American Mithäftling, in der eine selbstgerecht-weiße Bildungsbürgerprojektion von schwarzem Bildungsnotstand aufgeblattelt wird (im Sinn von: Der wohlmeinende Linksintellektuelle soll jetzt bitte ja nicht glauben, dass er sich gut fühlen kann, indem er da jemandem das Schreiben beibringt). Gegen Ende wird Trumbo rehabilitiert durch Kirk Douglas und Otto Preminger (gespielt von einem plausiblen Lookalike respektive von Christian Berkel, der den Regieexzentriker und vormaligen Direktor des Wiener Theaters in der Josefstadt mit seltsamerweise eher russischem Akzent anlegt): Dass Trumbo als Autor bzw. Co-Autor der Scripts zu den Monumental-Freiheitskampfdramen „Spartacus“ und „Exodus“ öffentlich genannt wird, läutet mit das Ende der Blacklist ein. Ganz am Schluss, der 1970 spielt, verkündet Trumbo im Monolog bei einer Ehrungsgala, endlich dürfe seine Tochter wissen, wer ihr Vater wirklich ist.

© Universal / Paramount

Ja, so waren sie halt – The Way We Were: Männlich ist in „Trumbo“ das sanft freakige Kreativmilieu der schrulligen Trash-Producer (um John Goodman), der mit sich ringenden Hollywoodpromis (Lookalikes von Edward G. Robinson, John Wayne, Louis B. Mayer) und verfemten Autoren, die im Kollektiv unter Strohmann-Namen dahintippen. Weiblich ist hier, wer offenbar die Hauptschuld an der Blacklist trägt, die rechte Showbiz-Klatschkolumnistin Hedda Hopper, gespielt von Helen Mirren. Ihre plakativen Bosheitsszenen überstrahlen die Rollen von Frau und Tochter Trumbo (Diane Lane, Elle Fanning) und geben zu verstehen, dass Faschisierung nicht weniger als das Werk einer frustrierten Fuchtel ist. Na, sicher doch. (Vereindeutigender Klammersatz: Das ist schlecht, weil sexistisch.)

Insofern hat der Film heutigen Menschen, die in europäischen Staaten derzeit oder demnächst vergleichbare Erfahrungen machen könnten wie Trumbo und (Zeit-)Genossen, zu wenig zu sagen – zu wenig über institutionelle, soziale, (arbeits)rechtliche oder andere politisierte Dynamiken. Und anders als bei Hollywoods Blacklist- und Kommunistenhatz-Rückblick-Filme der 1970er (etwa „The Way We Were“ mit Streisand und Redford oder „The Front“ mit Woody Allen), die einem Publikum in diffus-linksliberaler Kulturhegemonie eine rezente heroische Vorgeschichte ihres eigenen autoritätsskeptischen Habitus bieten konnten, stellt sich hier überhaupt die Frage, was für eine Rezeptionshaltung „Trumbo“ anpeilt; vorausgesetzt, dass einem Großteil seines Publikums der Name der Hauptfigur wenig sagt – zumal er mit Elefant Dumbo oder Elephant-Party-Leider-Kandidat Trump verwechselt werden könnte. Über Letzteren macht Cranston im Interview sympathisch kritische Aussagen, in denen er auch Parallelen zur Feindbildpropaganda von McCarthy-Amerika betont. Ultimativ aber ist „Trumbo“, was sein Bild/Konzept von Geschichte angeht – so wie auch die im Cast (Cranston und Goodman in Nebenrollen) bzw. im Thema (Tinseltown in 1950er Kommunistenpanik samt Tilda als Doppel-Hedda) vergleichbaren „Argo“ und „Hail, Caesar!“ –, doch nur ein Exemplar der anhaltenden retrocinephilen Welle gediegener Arbeitsplatzkomödchen über die liebenswerten Marotten von (Groß)Papa und seinem Kino.

Diese Kritik erschien zuerst in: filmzentrale

Border

(SW/DK 2018, Regie: Ali Abbasi)

Horror, Märchen, Aufklärung
von Katrin Hildebrand

Am Anfang ist alles klar. Eine Zollbeamtin mit pflichtbewusstem Blick scannt die Gesichter der Reisenden. Sie ist nicht allzu groß, nicht allzu schön. Eine typische Amtsträgerin eben, eine Charaktermaske. Vielleicht …

Am Anfang ist alles klar. Eine Zollbeamtin mit pflichtbewusstem Blick scannt die Gesichter der Reisenden. Sie ist nicht allzu groß, nicht allzu schön. Eine typische Amtsträgerin eben, eine Charaktermaske. Vielleicht sogar ein autoritärer Charakter. Am Schluss allerdings ist gar nichts mehr klar. Außer, dass der erste Eindruck dieser Frau vollkommen irreführend war.

Die schwedische Schauspielerin Eva Melander ist als Zöllnerin Tina kaum wiederzuerkennen. Schon ihre Maske, die wirkt wie ein raffiniert gemodelter Packen Pappmaché, deutet an, dass hinter „Border“ mehr steckt als ein Grenzdrama über Zöllner und Reisende. Tina riecht menschliche Gefühle und erkennt so Dinge, von denen ihre Kollegen nur träumen können. Eines Tages erwischt sie einen Mann mit Kinderpornos. Und fast gleichzeitig trifft die ungewöhnliche Dame ihren Traumprinzen Vore (Eero Milonoff mit einer ähnlich aufwendigen Maske). Dass die beiden zusammengehören, ist ebenso offensichtlich wie verstörend, denn ihre Optik, ihre Fähigkeiten und ihre Mimik lassen sich nur schwer zuordnen.

Dass „Border“ bei den Oscars für das beste Make-up nominiert war, ist logisch. Der Rest des schwedischen Fantasydramas dürfte die Academy eher verprellt haben. Regisseur Ali Abbasi und Drehbuchautor John Ajvide Lindqvist weiden sich an allem, was unangenehm ist oder einer Diskriminierung unterliegt. Und da zählen soziale Ausgrenzung und Transgender noch zu den simplen Themen. Die Umstände von Tinas Leben sind immerhin skurril und mit viel optischem Witz erzählt. Allein das Setting ihrer Wohnung, einer abgelegenen Bude im Wald mit Schmarotzermitbewohner und dessen Kampfhundrudel, zeugt von trockenem skandinavischen Humor. Nach dem bissigschwarzen Entrée wird es allerdings härter und skandinavischer.

Doch ist „Border“ keine effektheischerische Horrormär, sondern ein politisch und gesellschaftlich aufklärerischer Film mit Märchenelementen. Vermutlich geht er deshalb so tief an die Eingeweide und Schleimhäute. Das Unbehagen des Menschen an seiner Reproduktionsfähigkeit, das faschistoide Moment, das einer jeden Gruppe innewohnt, die Schuld der Eltern gegenüber dem Kinde – all das sind Tabus. Demgegenüber kommen die animalischem Rumpelsexszenen fast schon standardmäßig rüber.

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 04/2019

Titanic

(USA 1997, Regie: James Cameron)

That Sinking Feeling
von Drehli Robnik

Unter den US-Großproduktionen, die heute im Fahrwasser des Katastrophenfilms auf Erfolgskurs steuern, greift „Titanic“ als einzige auf eine historische Katastrophe zurück. Das hat zur Folge, dass – ähnlich wie bei …

Unter den US-Großproduktionen, die heute im Fahrwasser des Katastrophenfilms auf Erfolgskurs steuern, greift „Titanic“ als einzige auf eine historische Katastrophe zurück. Das hat zur Folge, dass – ähnlich wie bei Filmen über das San Francisco-Erdbeben von 1906 oder den Absturz der Hindenburg – vom großflächigen Erzählverlauf kaum Überraschungen zu erwarten sind, weil man eh weiß, wie der Film ausgeht: eher schlecht (das Schiff wird unvermeidlich sinken). Glaubt man dem Kultur(psycho)analytiker Slavoj Zizek, dann war schon der Untergang des Luxusdampfers anno 1912 für die westliche Welt weniger eine Überraschung als die Bestätigung eines ahnungsvollen Vorwissens: von vornherein übercodiert im Bedeutungsnetz rund um die Hybris und Dekadenz einer technikgläubigen Klassengesellschaft – ein Populärmythos mit Rückständen bis ins heutige Metaphernrepertoire (weshalb die Versuchung, ihn als Sinnbild für den Untergang des Kinos zu bemühen, groß sein dürfte). Anderseits, so Zizek, liegt die Faszination der Titanic auch, abseits aller Symbolik, in ihrer monströsen „Dinghaftigkeit“ – als Altmetallhaufen auf dem Grund des Atlantik.

Von James Cameron, der uns in zwei „Terminators“ und in „Aliens“ die Physis von Metall und Monstern und in „Abyss“ die Nässe des Wassers eindrucksvoll präsentiert hat, war zu erwarten, dass er zweiteren Aspekt des Sujets betonen und es als Materialschlacht inszenieren würde. Tatsächlich dauert der Film ab der Kollision mit dem Eisberg noch satte neunzig Minuten, in denen viel Stahl ächzt, birst und sinkt. Camerons fast laszive Sinnlichkeit bei der Zertrümmerung von Materie, seine üppige Erotik der Elementarkräfte, beschert uns einiges, was „Abyss“ so ähnlich gezeigt, die bislang letzte „Titanic“-Verfilmung (1953, mit Robert Wagner als juvenile lover) uns jedoch vorenthalten hat: routinierte Unterwasser-Action, die markenzeichenhaft aus dem Meer ragenden Schiffsschrauben, das nach Zerbrechen des Rumpfs senkrecht sinkende Heck oder die wie Eisheilige auf dem klirrend kalten Wasser treibenden Erfrorenen in Schwimmwesten. Das Schauwertspektrum reicht von atemberaubend bis pittoresk, wie man es von einem Spezialeffekt- und Ausstattungsspektakel verlangen darf, das als teuerstes ever gilt. Aber abgesehen davon, dass der pompöse Sensualismus heutiger Blockbuster das Kino möglicherweise in eine Sackgasse treibt, ist der Preis für das bisschen filmische Feuerwerkerei nicht nur in finanzieller Hinsicht hoch.

Der Intimkontakt mit dem Eisberg folgt einem innigen Kuss des HeldInnenpärchens, in dem eine vorangegangene achtzigminütige Romanze auf Groschenroman-Niveau kulminiert. Die narrative und figurenpsychologische Vorarbeit, die es braucht, damit die Titanic ordnungsgemäß sinken kann, ist die symbolische Codierung der Vernichtungsorgie. Sie belehnt allerdings weniger die Motivik von Hybris und Klassenspaltung bzw. -versöhnung so vieler anderer Katastrophenschinken – diese Register hätte vielleicht ein Roland Emmerich gezogen – als das Uralt-Modell „Initiationsritus“, das hier in der Schwundform „erste Liebe auf Kreuzfahrt“ Teenie-Zielgruppen bedient: Fideler Schnösel vom Unterdeck unterweist höhere Tochter vom Oberdeck gegen den Willen ihres arroganten Verlobten in Spontanität, Selbstvertrauen und Streichelsex, wobei Billy Zane als letzterer in Faschings-Makeup schmiert, Kate Winslet als zweitere zumindest farblos bleibt und das Bravoheft-Centerfold Leonardo DiCaprio als ersterer ein schlichtes Ärgernis ist. (Übrigens: Er stirbt!)

Dass Cameron weder mit dem period styling eines Kostümfilms noch mit der melodramatischen Polarität von Liebe versus Benimm viel anfangen kann, überrascht kaum und fällt deshalb nicht weniger unangenehm auf. Eine stupide Rückblendenkonstruktion, Kamerafahrtenkitsch und boshafte Intrigen (die ebenso an den völkisch-tendenziösen deutschen „Titanic“-Film von 1943 erinnern wie die schiefen Blicke auf orientalische Billigreisende) tragen bloß zur ermüdenden Überlänge bei, die vermutlich den Kinokartenpreis empfindlich erhöht. Wer Sinkspiele in großem Stil schätzt, sollte sich die zweite Filmhälfte anschauen; wer gern „Love Boat“ deluxe sehen will, die erste. Alle anderen sind bei „Titanic“ auf dem falschen Dampfer.

Dieser Text erschien zuerst in: Falter 50, Wien, Dezember 1997

Bildbuch

(CH 2018, Regie: Jean-Luc Godard)

Im Atemstrom der Fragmente
von Wolfgang Nierlin

„In Wirklichkeit trägt nur ein Fragment den Stempel von Echtheit“, zitiert Jean-Luc Godard gegen Ende seines neuen Films „Bildbuch“ (Le livre d’image) Bertolt Brecht. Als innerster Produktionsakt entspreche es dem …

„In Wirklichkeit trägt nur ein Fragment den Stempel von Echtheit“, zitiert Jean-Luc Godard gegen Ende seines neuen Films „Bildbuch“ (Le livre d’image) Bertolt Brecht. Als innerster Produktionsakt entspreche es dem Atmen und verbinde sich so mit der Existenz. Die postmoderne Absage an das mögliche Ganze eines Zusammenhangs, die der mittlerweile 88-jährige Kinoerneuerer hier implizit für sich in Anspruch nimmt, zielt andererseits doch auch auf das Wesen der Dinge, wie es in den vielen Fundsachen und Bruchstücken des Films aufscheint. Durch eine assoziative Montage verknüpft, fliehen sie die „Gewalt“ und das Diktat der Repräsentation und bleiben doch Zeugen eines metaphysischen Hintersinns. Was wahr sein könnte in Wort und Schrift, in Bild und Klang, bleibt in der Offenheit dieses Werks stets ungewiss und fungiert doch als Antrieb künstlerischer Wahrheitssuche und Zeitgenossenschaft.

„Wirklich als Mensch leben heißt, mit den Händen zu denken“, sagt Godard mit brüchiger Stimme zu Beginn aus dem Off. Dazu sieht man Hände bei der Filmmontage am Schneidetisch. Die fünf Finger der Hand verweisen zugleich auf die fünf Kapitel, in die der Film gegliedert ist. Deren überbordende Materialmenge aus fiktionalen und dokumentarischen Filmzitaten, aus nicht näher nachgewiesenen Texten und Musik setzt aber nicht auf Trennschärfe, sondern auf Überlappung, poetische Undeutlichkeit, mithin auf ein Verschwinden im archivalischen Strom der Verweise. Was sich permanent und unaufhörlich dem Verstehen entzieht, ist dabei ebenso faszinierend und interessant wie das, was für Augenblicke eine Präsenz gewinnt. Dafür unterbricht Godard den Bilder- und Tonstrom einerseits mit Schwarzfilm, andererseits verfremdet er immer wieder das Bildmaterial, löst es auf in reine Farbflächen.

Wie sich Bilder von Gewalt, Unterwerfung und Krieg in anderen Bildern dieser Verbrechen fortsetzen, zeigt Godard unter der Überschrift „Remakes“. Zitate aus Filmen von Pasolini und Franju werden hier beispielsweise abgelöst von Propagandavideos des IS. „Alles Lebendige muss geopfert werden“, heißt es mit fatalistischem, gegenaufklärerischem Unterton in Anlehnung an Joseph de Maistres „Die Abende von St. Petersburg“ im gleichnamigen zweiten Kapitel des Films. Dass alles Leiden vergeblich ist und der nachgelagerten Kunst die Zeit fehlt, sich zu manifestieren, bevor auch sie verschwindet, unterstreicht noch diesen melancholischen Geschichtspessimismus. Schließlich symbolisieren die vielen Züge, die sich durch das nach einem Rilke-Vers betitelte dritte Kapitel ziehen, sowohl Aufbruch und Erweiterung als auch Deportation und Tod.

Der Mensch könne sein Wesen erkennen, wenn man es ihm zeige, oder verlieren, wenn man es verhülle. Montesquieus „Vom Geist der Gesetze“ steht über einem Kapitel, das vom Morden in Europa, von Gefängnis und Strafe handelt. Und das der noch immer kämpferische Filmemacher schließlich in eine Opposition setzt zum „glücklichen Arabien“ und eine Philosophie des Ostens, die das Bewusstsein für die Zeit noch nicht verloren hat. Tatsächlich nimmt sich auch Jean-Luc Godard in diesem Schlusskapitel Zeit, um die fiktive Geschichte einer Revolte zu erzählen und damit eine utopische Hoffnung wachzuhalten. Nicht zuletzt ist Godards schillernder, fragiler Zitate-Film „Bildbuch“ die Fortsetzung eines nicht einfriedbaren künstlerischen Selbstgespräches: „Wenn ich mit mir selbst spreche, rede ich mit Worten eines anderen, die ich zu mir selbst sage.“