Archiv der Kategorie: Filmkritik

Der Spatz im Kamin

(CH 2024, Regie: Ramon Zürcher)

Beschädigte Seelen in einer falschen Welt
von Wolfgang Nierlin

Mitten im See liegt eine kleine Insel, auf der Kormorane nisten. Dann fällt der Blick auf ein altes, stattliches Haus im Grünen, von einer warmen Sommersonne beschienen. Das Spiel von …

Mitten im See liegt eine kleine Insel, auf der Kormorane nisten. Dann fällt der Blick auf ein altes, stattliches Haus im Grünen, von einer warmen Sommersonne beschienen. Das Spiel von Licht und Schatten, eingehegt von einer freundlichen Natur, erzeugt unwillkürlich die Anmutung einer friedlichen Idylle. Doch der Schein trügt. Im Innern des Hauses herrscht der blanke Familienhorror, was jedoch in seinem Ausmaß erst nach und nach deutlich wird. Karen (Maren Eggert), die Mutter von drei Kindern, wirkt depressiv, in sich versunken und genervt; zugleich zeigt sie sich auf unangenehm konfrontative Art kontrollierend, bestimmend und aggressiv. Ihrem pubertierenden, für sein Alter ungewöhnlich selbständigen Sohn Leon (Ilja Bultmann) überträgt sie das Kochen für das bevorstehende Familienfest; mit ihrer aufmüpfigen, ziemlich desillusionierten Teenager-Tochter Johanna (Lea Zoe Voss) liegt sie im Dauerclinch; während die älteste Tochter Christina (Paula Schindler) das Haus bereits verlassen hat, um sich vor ihrer Mutter zu schützen. Immer wieder drangsaliert Karen – wie nebenbei und ohne laut zu werden – ihre Kinder. Diese bezeichnen ihre Mutter wahlweise als „gestört“ und ätzend“. „Sie kann einfach nicht leben“, sagen sie bei anderer Gelegenheit.

Tatsächlich sitzt Karens Schmerz über seelische Verletzungen tief und ist eng verknüpft mit Erinnerungen an ihre tyrannischen Eltern und mit dem zwiespältigen Erbe eines Hauses, von dem sie sich nicht lösen kann. Ramon Zürcher übersetzt in seinem kunstvollen Film „Der Spatz im Kamin“, dem letzten Teil seiner zusammen mit seinem Zwillingsbruder Silvan realisierten „Tier-Trilogie“, diese Enge und Begrenzung in ein kammerspielartiges, raum-zeitliches Kontinuum. Außerdem versammelt er sein Figurenensemble immer wieder auf engem Raum in statischen, dicht „bevölkerten“ Bildern. Die Dynamik, sorgsam choreographiert, spielt sich mehr in den Bewegungen außerhalb des Bildrahmens ab. Im Innern der Szenen, wo scheinbar beiläufige, trockene Dialoge ausgetauscht werden, die zugleich hart und brutal sind, herrscht kalte, versteinerte Erstarrung. Dabei gibt es immer heimliche Beobachter und Zuhörer, die den Schmerz und das Wissen weitertragen. Ein szenisch überlappender Ton überspielt die Ellipsen, während die distanzierten Blicke nach innen gerichtet sind. Im Verbund mit Montagesequenzen aus zeichenhaften Gegenständen und diversen Symbol-Erzählungen erschafft der Schweizer Regisseur eine abstrakte Atmosphäre jenseits von Identifikationsangeboten.

Zum Familienfest trifft schließlich Karens lebenslustige Schwester Jule (Britta Hammelstein) mit ihrem Mann und zwei Kindern ein. In die allgemeine Sprachlosigkeit und Entfremdung, die im Übrigen auch die Beziehung zwischen Karen und ihrem untreuen Ehemann Markus (Andreas Döhler) bestimmt – seine Geliebte Liv (Luise Heyer) wohnt in nächster Nähe in einem Waldhaus -, mischt sich so die verbindende Geschichte einer traumatischen Vergangenheit. Diese hat bei Karen zu einem Ich-Verlust und zu einem Hass geführt, der sich immer häufiger in Selbstverletzungen und schmerzlichem Sadismus ausdrückt; dieser setzt sich wiederum auch in ihren Kindern fort. Die Dysfunktionalität der beschädigten Seelen wird offensichtlich über die Generationen weitergegeben. Nicht das Ich sei falsch, sondern die Welt, heißt es einmal sinngemäß. Trotzdem überlässt Ramon Zürcher seine Figuren nicht der Hoffnungslosigkeit. In seinem artifiziellen Familiendrama, dessen subtiler Horror an wenigen Stellen in surreale Drastik umschlägt, kommt es schließlich zu fast märchenhaften Aufbrüchen und Verwandlungsprozessen, deren reinigende Kraft den Keim einer Befreiung und damit eines Neuanfangs in sich trägt.

Patrol – Auf Patrouille durch den Regenwald

(NI 2023, Regie: Brad Allgood, Camilo de Castro)

Hüter des Waldes
von Wolfgang Nierlin

Das Biosphärenreservat Indio Maíz befindet sich inmitten des tropischen Regenwaldes an der Karibikküste von Nicaragua. Seit Jahrhunderten leben hier das indigene Volk der Rama und die aus Afrika stammenden Kriol. …

Das Biosphärenreservat Indio Maíz befindet sich inmitten des tropischen Regenwaldes an der Karibikküste von Nicaragua. Seit Jahrhunderten leben hier das indigene Volk der Rama und die aus Afrika stammenden Kriol. Für die beiden Volksgruppen ist das Gebiet nicht nur die existentielle Grundlage für ein Leben im Einklang mit der Natur, sondern auch „heiliges Land“, an das traditionelle Bräuche und religiöse Zeremonien geknüpft sind. Außerdem ist das gesetzlich festgeschriebene Territorium Lebensraum seltener Tier- und Pflanzenarten. Geradezu paradiesisch muten insofern die Bilder an, die Camilo de Castro Belli und Brad Allgood hier mit suggestiver Wirkung für ihren Film „Patrol“ vom glücklichen Leben der indigenen Familien aufgenommen haben; wenn etwa Kinder beim gemeinsamen Badespaß mit ihrem Vater im nahen Fluss zu sehen sind.

Doch seit geraumer Zeit gibt es Ärger mit Viehzüchtern, die das Land illegal in Besitz nehmen, um es für die Aufzucht von Rindern zu roden. Dieses „Gesetz der Gewalt“, wie diese Praxis von Indigenen einmal bezeichnet wird, zerstört nicht nur die natürlichen Ressourcen des Regenwaldes, sondern verknappt auch immer mehr den Lebensraum von Mensch und Tier. Da der Export von Rindfleisch zu den wichtigsten Einnahmequellen des Landes gehört, wird die illegale Landnahme politisch geduldet. Das wiederum provoziert den Protest der Rama und Kriol und hat sie schließlich dazu veranlasst, eine Patrouille zu installieren, die als selbsternannte „Hüter des Waldes“ die gesetzeswidrigen Zerstörungen dokumentieren. Begleitet von den Dokumentarfilmern unternehmen sie zusammen mit einem amerikanischen Umweltschützer eine Expedition durch das Reservat, um Beweise zu sammeln, Wachposten einzurichten und durch die Presse ihre Anliegen öffentlich zu machen beziehungsweise in politische Gremien zu tragen.

Über einen – allerdings mehrfach unterbrochenen – Zeitraum von sechs Jahren haben die Investigativjournalisten ab dem Frühsommer 2016 den zivilen Widerstand der Aktivisten begleitet, was in der inhaltlichen Darstellung nicht ohne Redundanzen bleibt. Trotzdem sind kleine Entwicklungen und Erfolge zu verzeichnen, die sich auch nach dem verheerenden Hurrikan Otto vom November 2016, der die Sorgen und Nöte der Bewohner zuspitzt, fortsetzen. Dabei sind die Schuldigen nicht immer leicht auszumachen, wenn sich etwa eine kleine, arme Siedlerfamilie, die selbst vertrieben wurde, darauf beruft, als Bauern auf die Landwirtschaft angewiesen zu sein. Daneben machen die Waldhüter aber auch größere „Player“ ausfindig.

Dabei bleiben etliche Fragen bezüglich der Siedler, ihrer Motive und den praktischen Abläufen der Rinderzucht unbeantwortet; und auch das Alltagsleben der Indigenen erscheint unterbelichtet. Stattdessen konzentrieren sich die Filmemacher, teils deutlich inszeniert, auf die Schauwerte einer abenteuerlichen Unternehmung, über deren Finanzierung man gerne mehr wüsste. Schließlich melden die Nachrichten am Ende des Films ein riesiges Feuer im Reservat, das im April 2018 tagelang große Flächen verwüstet. Die unterstellte Verbindung zu den kurz darauf einsetzenden Massenprotesten, in deren Verlauf viele Menschen getötet und Tausende vertrieben wurden, ist allerdings hinsichtlich der (überwiegend sozialen) Ursachen der Unruhen etwas spekulativ und unscharf. Auch Regisseur Camilo de Castro Belli, dem in der Folge Staatsbürgerschaft und Haus genommen wurden, ist seither gezwungen, im Exil zu leben.

Der Bundesstart des Dokumentarfilms „Patrol“ ist erst am 6.3.2025, doch sein Koregisseur Camilo de Castro Belli tourt zurzeit durch einige Städte Deutschlands, um ihn vorzustellen. Eine Liste der Termine findet sich hier beim Verleih.

Tandem – In welcher Sprache träumst du

(FR/DE/BE 2024, Regie: Claire Burger)

Grenzüberschreitungen
von Wolfgang Nierlin

Allein, fremd und verloren fühlt sich die französische Austauschschülerin Fanny (Lilith Grasmug) bei ihrer Ankunft am Leipziger Hauptbahnhof, bevor sie von ihrer leicht verspäteten Gastmutter Susanne (Nina Hoss) in Empfang …

Allein, fremd und verloren fühlt sich die französische Austauschschülerin Fanny (Lilith Grasmug) bei ihrer Ankunft am Leipziger Hauptbahnhof, bevor sie von ihrer leicht verspäteten Gastmutter Susanne (Nina Hoss) in Empfang genommen wird. Ihre politisch engagierte Brieffreundin Lena (Josefa Heinsius), mit der die 17-jährige Straßburgerin die nächsten zwei Monate verbringen soll, ist erst mal abwesend und hat offensichtlich keine Lust auf Fanny und den Austausch. Die junge Französin wirkt introvertiert, spricht wenig Deutsch und schläft schlecht. Gegenüber Lena bekennt sie, dass sie von ihren Mitschülern gemobbt werde und deshalb mehr halbherzig versucht habe, sich das Leben zu nehmen. Auch das Verhältnis zu ihren Eltern, die für das Europaparlament arbeiten, sei schwierig und angespannt. Den Kummer über eine dysfunktionale Familie teilt Fanny mit der selbstbewussten Lena, die ihren leiblichen Vater nicht kennt, während ihr Stiefvater gerade die Familie verlassen hat. Zwischen Überforderung und Zukunftsängsten treffen sich die beiden Mädchen und nähern sich allmählich einander an.

Claire Burger verknüpft in ihrem Coming-of-Age-Film „Tandem – In welcher Sprache träumst du?“ („Langue étrangère“) die gesellschaftlichen und familiären Krisen der Gegenwart mit der jugendlichen Suche nach der eigenen Identität. Dabei geht es in mehrfacher Hinsicht um das Überschreiten von sprachlichen und kulturellen Grenzen, um sich im jeweils anderen selbst zu entdecken. Die in Lothringen an der französisch-deutschen Grenze aufgewachsene Regisseurin wechselt deshalb in der zweiten Hälfte ihres Films, der dann in der elsässischen Metropole spielt, die Perspektive und lässt Lena auf das Leben ihrer Freundin und deren Gastfamilie blicken. Dabei muss sie erkennen, dass Fanny nicht immer die Wahrheit erzählt und sich in Fiktionen verstrickt, um Aufmerksamkeit zu erregen und Zuwendung zu erfahren. Fanny ist nämlich in Lena verliebt und sie braucht den falschen Schein erfundener Geschichten, um sich ihr zu nähern und zu öffnen. Das gelingt nicht zuletzt unter der Wirkung psychoaktiver Pilze.

In ihrem Film über jugendliche Sehnsucht und Begehren wechselt die französische Regisseurin deshalb an markanten Stellen zwischen Traum und Wirklichkeit, als wäre im Reich der Phantasie das möglich, was in der Realität zunächst noch auf Hindernisse stößt. So münden die fließenden, in helles, sommerliches Licht getauchten Bilder immer wieder in den Schatten rauschhafter Nächte und in der Lust erwachender Gefühle. Jenseits dieser zarten Liebesgeschichte bleibt allerdings vieles vordergründig oder unscharf. Sowohl die politischen Sorgen der Jugendlichen als auch die Hintergründe ihrer familiären Konflikte werden nur angedeutet oder erschöpfen sich mitunter im Plakativen. Das ist vermutlich auch dem hohen Erzähltempo des Films geschuldet, dem es neben seiner subtilen Liebesgeschichte, die vom einfühlsamen Spiel zweier beeindruckender Darstellerinnen getragen wird, vor allem um die Selbstfindung heutiger junger Menschen geht und, so Claire Burger, um „den Wunsch, an etwas zu glauben.“

Buñuel: Filmemacher des Surrealismus

(ES 2021, Regie: Javier Espada)

Das Gespenst der Freiheit
von Wolfgang Nierlin

In seinen Erinnerungen beschreibt der berühmte spanische Filmregisseur Luis Buñuel den Glauben, Sexualität und Tod als „lebendige Kräfte der Jugend“. „Der Tod war ständig spürbar und Teil des Alltags“, schreibt …

In seinen Erinnerungen beschreibt der berühmte spanische Filmregisseur Luis Buñuel den Glauben, Sexualität und Tod als „lebendige Kräfte der Jugend“. „Der Tod war ständig spürbar und Teil des Alltags“, schreibt er im Rückblick auf prägende Kindheitserlebnisse. Der Glaube an religiöse Wunder war ganz selbstverständlich. Als würde sich das Leben horizontal entwickeln, habe das Mittelalter in seiner aragonesischen Geburtsstadt, wo er im Jahr 1900 zur Welt kam, bis zum Ersten Weltkrieg gedauert. Mit den von seinem Sohn Juan Luis filmisch dokumentierten Trommeln von Calanda, die in der Karwoche ununterbrochen die Prozessionen mit ihren Darstellungen von Tod und Vergänglichkeit begleiten, beginnt entsprechend Javier Espadas gewichtiger Dokumentarfilm „Buñuel: Filmemacher des Surrealismus“. Die von Buñuel empfundene Ähnlichkeit zwischen Tod und Geschlechtsakt sowie die Unterdrückung der Sexualität durch die katholische Kirche lassen ihn diese als schuldhaft und zugleich als „köstliche Sünde“ erleben. In seinen späteren Filmen wird dieses thematische Dreieck eine wesentliche, immer wiederkehrende Rolle spielen.

Der spanische Buñuel-Experte Javier Espada, der als Museums- und Festivalleiter sowie als Ausstellungsmacher seine Forschungsarbeit dem Leben und Werk des spanischen Surrealisten widmet, hat seinen sehr eng und materialreich gefugten Film ausschließlich aus Dokumenten und archivarischen Quellen montiert. Frühe stereoskopische Fotografien von Buñuels Vater, zahlreiche Filmausschnitte, Zitat aus Luis Buñuels zusammen mit seinem langjährigen Drehbuchautor und Freund Jean-Claude Carrière verfassten Memoiren „Mein letzter Seufzer“ sowie viele Werke aus anderen Künsten weben ein dichtes Netz vielfältiger Bezüge und Referenzen. Dabei finden Bild und Text immer zu einer inhaltlichen Entsprechung. Diese stellt auf analytische Weise weniger die Biographie des Filmkünstlers, sondern vor allem die wiederkehrenden Motive seines Werks in den Mittelpunkt. Diese stehen natürlich ganz im Zeichen des Surrealismus, der Buñuel einen „freien Zugang zu den Tiefen meiner selbst“ und zu den dunklen Impulsen seiner Seele ermöglicht hat.

Ab 1925 in Paris, schließt sich der junge Buñuel der surrealistischen Gruppe um André Breton an und erlernt das filmische Handwerk bei Jean Epstein und Jacques Feyder. Er begeistert sich für Fritz Langs „Der müde Tod“ und die Komik Buster Keatons, die experimentelle Poesie der Avantgarde um Marcel Duchamp, Germaine Dulac und Man Ray und interessiert sich außerdem für Entomologie sowie das rätselhafte Leben der Tiere. Als er Ende der 1920er Jahre zusammen mit Salvador Dalí den Film „Ein andalusischer Hund“ veröffentlicht, kommt es zu einem ersten Skandal. Die antibürgerliche, gegen die Vertreter der Macht gerichtete Stoßrichtung setzt sich unter dem Einfluss der Schriften des Marquis de Sade dann in dem subversiven Film „Das goldene Zeitalter“ (1930) fort.

Der Surrealismus habe ihn gelehrt, dass Freiheit und Gerechtigkeit nicht existieren und ihm zugleich einen Moralkodex gegeben, wird Buñuel später sagen. Der Mythos der Wahrheit und – so der Titel eines seiner Filme – „Das Gespenst der Freiheit“ (1974), die „verrückte Liebe“ und eine destruktive Sexualität, dargestellt in Fetischen und paradoxen Ritualen, beschäftigen ihn weiterhin in seinen Filmen, die er in den 1950er Jahren in Mexiko und danach in Frankreich gedreht hat. In ihrem Streben, eine absurde Welt zu zeigen, findet die gegensätzliche Gleichzeitigkeit von surrealer Phantasie und materialistischer Wirklichkeit, von Innen- und Außenwelt einen ebenso kongenialen wie einmaligen Ausdruck.

Die Fotografin

(GB/USA/NO/AU/IE/SG 2024, Regie: Ellen Kuras)

Bilder des Krieges
von Jürgen Kiontke

Kate Winslet spielt Lee Miller, die bekannteste Kriegsfotografin der 1940er Jahre, als hochenergetische Künstlerin. Die 1907 geborene Lee Miller kam auf Umwegen zur Pressefotografie. Zunächst absolvierte sie eine komplette Karriere …

Kate Winslet spielt Lee Miller, die bekannteste Kriegsfotografin der 1940er Jahre, als hochenergetische Künstlerin. Die 1907 geborene Lee Miller kam auf Umwegen zur Pressefotografie. Zunächst absolvierte sie eine komplette Karriere als Model. Der Surrealist Man Ray entdeckte sie für die Bildende Kunst. Bei ihm wechselte sie immer öfter auf die andere Seite der Kamera. Bereits ihr Vater hatte sie in der Funktionsweise verschiedener Apparate unterrichtet. Sie veröffentlichte bald erste eigene Arbeiten und gründete ein eigenes Studio.

Die Liebe zu dem Kunsthändler Roland Penrose führte sie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs nach England. Nachdem sie verschiedene Reisereportagen veröffentlicht hatte, stand nun ihr Lebenswerk an: Einige Hindernisse musste sie beiseiteräumen. Die englische Armee erlaubte Frauen nicht, als Kriegsreporterinnen zu arbeiten. Erst die US-Armee ebnete ihr den Weg, und sie wurde eine der wenigen Fotoreporterinnen, die in den Kämpfen der Alliierten fotografierten, gern an vorderster Front. Interessanterweise arbeitete sie für die britische Ausgabe der Modezeitschrift Vogue, nicht für ein Nachrichtenmagazin; für Vogue wie Miller ein Wagnis: Würden die Leserinnen krasse Bilder des Krieges goutieren?

Dafür sorgte dann die Reporterin selbst: Miller gelangen mit die ikonischsten Bilder des Zweiten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit, etwa als sie in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald nach der Befreiung fotografierte. Das bekannteste von allen knipste sie paradoxerweise nicht selbst: In Adolf Hitlers Münchner Wohnung ließ sie sich in der Badewanne von ihrem engen Kollegen David E. Scherman ablichten.

Der Film „Die Fotografin“ rekapituliert die wichtigsten zehn Jahre dieser Reporterin. Kate Winslet gibt sie als energische Journalistin, die sich der Öffentlichkeitswirksamkeit ihrer Arbeit bewusst ist und sich gegen die oft übermächtige männliche Konkurrenz durchzusetzen weiß. Miller ist aber auch eine Akteurin, die die Gefahr offensiv sucht und ein gutes Gespür für ihre Arbeit hat. Sie begleitet Kampfeinsätze und trägt selbst Uniform.

Eingebettet in eine lose konstruierte Rahmenhandlung – Miller ist in fortgeschrittenem Alter und berichtet in einem fiktiven Interview beim Anschauen archivierter Fotos aus ihrem ereignisreichen Leben – werden die Zuschauer Zeuge ihrer beruflichen wie privaten Turbulenzen. Dabei kehrt sie auch immer wieder im Gespräch mit Kollegen und Soldaten zu der Frage zurück, wie weit man mit der Berichterstattung gehen kann oder muss, und inwiefern Bilder des Krieges den Krieg selbst mitbestimmen.

Der Blick aufs Private konzentriert sich auf ihre Beziehungen zu verschiedenen Männern, was sich leider allzu oft in Szenen voller Zigarettenrauch und Alkoholkonsum erschöpft. Hier wäre ein Blick in ihre Zeit als Kind, Jugendliche und junge Frau besser gewesen. Denn hier, und dafür findet der Film keine adäquate Darstellungsform, wäre viel zu erzählen gewesen: von in frühester Kindheit erlittenen Missbrauchserfahrungen, vom Leben als traumatisierter Teenager in der Zwischenkriegszeit und ihren Anfängen in der Kunst.

Diese Kritik erschien zuerst in: M – Menschen Machen Medien

Samia

(IT/DE/BE 2024, Regie: Yasemin Şamdereli)

Sie lief allen Widerständen davon
von Jürgen Kiontke

Samia läuft schneller als ihre Mitschüler. Wenn die Neunjährige ­antritt, kommt der Rest nicht mit. Ungewöhnlich für ein Mädchen, findet man in der Schule. Ihr Vater erkennt das Talent und …

Samia läuft schneller als ihre Mitschüler. Wenn die Neunjährige ­antritt, kommt der Rest nicht mit. Ungewöhnlich für ein Mädchen, findet man in der Schule. Ihr Vater erkennt das Talent und unterstützt sie. Er ermuntert sie, den jährlichen Stadtlauf mitzumachen – und verspricht ihr für einen guten Platz ein paar neue Laufschuhe. Ihre Mutter sieht das etwas anders: Sport schickt sich nicht für Mädchen und ist außerdem zu gefährlich. Denn Samia wohnt mit ihrer Familie in Mogadischu, der Hauptstadt des von einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg gezeichneten Landes Somalia. Ende der 1990er Jahre herrschen in der Stadt Milizen, denn seit dem Sturz des Präsidenten Siad Barre gibt es keine zentrale Regierung mehr. Die Gefahr ist groß, beim Training Bewaffneten in die Arme zu laufen. Und in der Tat wird sie bald von Milizionären bedroht, die so alt sind wie sie.

Doch was macht Samia? Sie übt nachts und deklassiert am Tag des Laufs das Teilnehmerfeld. Ihr Ziel ist nun klar: Sie will die schnellste Läuferin ihres Landes werden. Und das gelingt ihr: Als junge Frau nimmt sie 2008 an den Olympischen Spielen in Peking teil – als einzige Sportlerin aus Somalia. Trotz einer persönlichen Bestzeit von 32,16 Sekunden im 200-Meter-Lauf scheidet sie in der Vorrunde aus.

Die Geschichte des Mädchens, das so schnell gegen alle Regeln lief, faszinierte die Regisseurin Yasemin Şamdereli, die mit ihrem Film „Almanya – Willkommen in Deutschland“ (D 2011) bekannt wurde. „Samia“ sei seit acht Jahren ihr Herzensprojekt gewesen, sagt sie. Der Film basiert auf dem Roman „Sag nicht, dass du Angst hast“ von Guiseppe Catozzella. In Gesprächen mit Samias Schwester Hodan rekonstruierte er das Leben der ungewöhnlichen Sportlerin, die sich von Verboten und Repressalien bis hin zu Morddrohungen nicht davon abhalten ließ, ihre Bahnen zu laufen.

Doch das Leben meinte es nicht gut mit Samia. Als sie feststellen musste, dass es in ihrer Umgebung unmöglich war, weiter an ihren Leistungen zu arbeiten, zog sie 2010 in die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba. Um 2012 an den Olympischen Spielen in London teilnehmen zu können, versuchte sie, über den Sudan und Libyen nach Europa zu gelangen. Sie ertrank im April 2012 gemeinsam mit anderen Flüchtlingen auf dem Mittelmeer bei der Überfahrt mit einem Schlauchboot.

Şamdereli erinnert mit einem sehenswerten Film an die außergewöhnliche Läuferin. Mit Ilham Mohamed Osman hat sie eine perfekte Darstellerin für Samia gefunden. In einer Nebenrolle ist die somalische Menschenrechtlerin und „Wüstenblume“-Autorin Waris Dirie zu sehen.

Dieser Text erschien zuerst in: Amnesty Journal

Favoriten

(AT 2024, Regie: Ruth Beckermann)

Miteinander lernen
von Wolfgang Nierlin

Sie heißen unter anderem Fatima, Mohammed, Alper, Majeda, Arian und Nerjiss und sie besuchen eine Grundschule im Wiener Bezirk Favoriten, wo der Anteil an Einwanderern besonders hoch ist. Ihre Eltern …

Sie heißen unter anderem Fatima, Mohammed, Alper, Majeda, Arian und Nerjiss und sie besuchen eine Grundschule im Wiener Bezirk Favoriten, wo der Anteil an Einwanderern besonders hoch ist. Ihre Eltern stammen aus der Türkei, aus Syrien, Albanien oder Mazedonien und arbeiten auf dem Bau, als Dienstleister, in der Pflege und im Haushalt. Das erzählen die Schülerinnen und Schüler im Klassengespräch ihrer engagierten Lehrerin İlkay Idiskut, die selbst aus einer Migrantenfamilie stammt und deshalb besonders sensibilisiert ist für die Sorgen und Nöte ihrer Eleven. Diese ringen nämlich vor allem mit der deutschen Sprache und dem Lernstress, der sich daraus für das Verständnis in den anderen Fächern ergibt. Nur wenn sie zusammen mit ihrer Lehrerin ausgelassen tanzen, wen sie Tischfußball oder mit Puppen spielen, scheinen die sprachlichen, kulturellen und sozialen Barrieren eine Zeitlang aufgehoben zu sein. İlkay Idiskut sorgt mit diesen Erholungsphasen immer wieder für einen Ausgleich zum anstrengenden Unterricht.

Zwischen dem Herbst 2020 und dem Frühjahr 2023 und also von der zweiten bis zur vierten Klasse hat die österreichische Filmemacherin Ruth Beckermann die 7- bis dann 10-jährigen Kinder filmisch begleitet und den Unterricht in Ausschnitten dokumentiert. In ihrem Film mit dem doppeldeutigen Titel „Favoriten“ zeigt sie als teilnehmende Beobachterin und damit aus nächster, teils intimer Nähe das ganze Spektrum schulischer Aktivitäten und verzichtet dabei auf Kommentare und Interviews. Neben Schreiben, Lesen und Rechnen, neben Biologie- und Schwimmunterricht stehen Entspannungsübungen, besagte Ausgleichsspiele und Gespräche über kulturelle Unterschiede, über gegenwärtige Kriege oder über die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Dabei werden Prägungen, Anpassungs- und Integrationsschwierigkeiten vermittelt. Einmal besuchen die Kinder eine Moschee, wo sie ganz selbstverständlich interessiert und vertraulich mit dem Imam kooperieren; ein anderes Mal besichtigen sie den reich verzierten Stephansdom, der allen gehöre, wie der Priester wiederholt betont, obwohl oder gerade weil fast keines der Kinder einen christlichen Background hat. In anderen Szenen führt die Lehrerin Eltern- und Schülergespräche oder schlichtet geduldig und mit natürlicher Autorität Streit und Konflikte.

Gerade in diesen Passagen zeigt der Film den Wert pädagogischer Weitsicht und kultureller Einfühlung durch die Persönlichkeit der sehr stark involvierten und Anteil nehmenden Lehrerin. Daneben wird über den lagen Beobachtungszeitraum hinweg aber auch die persönliche Entwicklung einzelner Kinder sichtbar, wobei Erfolg und Enttäuschung oft nah beieinander liegen. Vor dem Übergang an eine weiterführende Schule lässt İlkay Idiskut die Kinder ihre Berufswünsche zeichnerisch gestalten, auch wenn es diese Träume und Hoffnungen angesichts der gesellschaftlichen Realität später mitunter schwer haben werden.

„Favoriten“ spiegelt diese Wirklichkeit und deutet dabei auch auf systemische Mängel, wenn beispielsweise notwendige Sprachförderung ersatzlos entfällt oder Fachkräfte an der Schule fehlen. Ruth Beckermanns ebenso aufschlussreicher wie notwendiger Film, der in der Tradition von Nicolas Philiberts „Sein und Haben“ (2002) und Maria Speths „Herr Bachmann und seine Klasse“ (2021) steht, zeigt Schule aber vor allem als Keimzelle des Lernens, des sozialen Zusammenlebens und nicht zuletzt des emotionalen Miteinanders. Von hier aus könnte vieles anders und besser werden, würden sich die politisch Verantwortlichen zu Reformen entschließen.

Ein Interview mit Regisseurin Ruth Beckermann findet sich hier.

Der schöne Sommer

(IT 2023, Regie: Laura Luchetti)

Liebe im Faschismus
von Wolfgang Nierlin

Die etwa 17-jährige Ginia (Yile Yara Vianello) blickt neugierig in die Welt und ist fast immer in Bewegung. Nur in dem Turiner Modeatelier, einem großen, gläsernen Bau, wo sie mit …

Die etwa 17-jährige Ginia (Yile Yara Vianello) blickt neugierig in die Welt und ist fast immer in Bewegung. Nur in dem Turiner Modeatelier, einem großen, gläsernen Bau, wo sie mit geschickten Händen und eigenen Ideen für Entwürfe als Schneiderin arbeitet, herrscht eine ruhige, konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Dabei ist Ginia, die auf dem Land aufgewachsen ist, ebenso zurückhaltend, ernst und strebsam wie offen und mutig. Als stille Beobachterin des Lebens wirkt sie überraschend selbstbewusst und innerlich ausgeglichen. In der Liebe noch unsicher, sehnt sie sich nach neuen Erfahrungen. Sie solle „nicht vergessen, wer wir sind“, sagt ihr jüngerer Bruder Severino (Nicolas Maupas) zu ihr. Mit dem literarisch ambitionierten, aber schwankenden und hadernden Studenten bewohnt sie zusammen eine kleine Wohnung. Als sie an einem See bei einem Picknick unter Freunden die schöne Amelia (Deva Cassel) kennenlernt, die für Maler Modell steht, wächst in Ginia stetig ein Liebesbegehren. „Ich möchte, dass mich jemand ansieht und mir zeigt, wer ich bin“, sagt die junge Frau, als bedürfe sie eines anderen, um sich selbst zu erkennen.

Fortan wechselt die Szenerie, die im faschistischen Italien des Jahres 1938 angesiedelt ist, beständig zwischen der Arbeit in der Schneiderwerkstatt und den genuss- und lustvollen Vergnügungen in Künstlerkreisen, in die Ginia durch die verführerische Amelia eingeführt wird. Laura Luchetti entwickelt in ihrem Film „Der schöne Sommer“, der nach dem gleichnamigen Roman von Cesare Pavese entstand, eine sehr ruhig und bedächtig erzählte Éducation sentimentale. Trotz des historischen Settings, das in einer ungetrübten, ausgewogenen Farbigkeit leuchtet, streift sie die politischen Zeitläufte – wenn auch unmissverständlich – doch nur am Rande. Stattdessen zeigt sie ein noch relativ ruhiges Leben sowie Zusammenkünfte der Freunde und Bohémiens bei Festen in idyllischer Natur. Denn Luchetti interessiert sich vor allem für die innere, zunehmend komplizierte Gefühlsreise ihrer Heldin, die zwischen Lust, Vorsicht und Abwehr ihren Körper und die Liebe entdeckt. Dabei konzentriert sich die italienische Regisseurin auf bemerkenswert selbstverständliche Weise ganz auf das innere Drama der Protagonistin und verzichtet dabei weitgehend auf eine äußere Dramatik, die auf Ausformulierung und Zuspitzung aus ist.

An wenigen Stellen überhöht Laura Luchetti allerdings das Geschehen vorsichtig mit einer sanften, unscheinbaren Metaphorik. Wenn sich Ginia schließlich auf eine Affäre mit dem dominanten Maler Guido (Alessandro Piavani) einlässt, zeigt der Film ihren ersten Sex ebenso minutiös wie dezent. Doch eigentlich liebt Ginia, die darüber immer häufiger ihre Arbeit vernachlässigt, die allseits begehrte Amelia, die das leichte Leben genießt und, wie sich später herausstellt, an Syphilis erkrankt ist. Das wiederum stürzt Ginia in ihrem ungewissen, aber auch verzweifelten Hin und Her zwischen Nähe und Distanz in eine tiefe Krise. „Ich weiß nicht, was mit mir passiert“, klagt sie gegenüber ihrem Bruder, der sie auffordert, die richtige Entscheidung zu treffen und ihr rät, sich nicht an den Schmerz zu gewöhnen: „Unglücklichsein ist sinnlos.“ Tatsächlich befindet sich Ginia, liebeskrank und verwirrt, auf abschüssiger Bahn. Nur eine gesundende Amelia, so scheint es, könnte ihren Liebesschmerz heilen und sie dem fatalen Sog entziehen. Zwei Mal erklingt deshalb Sophie Hungers Song „Walzer für niemand“, in dem es heißt: „Was wär‘ ich geworden, gäb‘ es dich nicht?“

Memory

(MX/USA 2023, Regie: Michel Franco)

Rückeroberung des Lebens
von Wolfgang Nierlin

Der kaputte Kühlschrank in ihrer Wohnung und das Mietshaus in einer unwirtlichen, etwas heruntergekommenen Gegend von New York sind Hinweise darauf, dass in Sylvias (Jessica Chastain) Leben etwas nicht stimmt. …

Der kaputte Kühlschrank in ihrer Wohnung und das Mietshaus in einer unwirtlichen, etwas heruntergekommenen Gegend von New York sind Hinweise darauf, dass in Sylvias (Jessica Chastain) Leben etwas nicht stimmt. Gerade kommt die alleinerziehende Mutter zusammen mit ihrer 13-jährigen Tochter Anna (Brooke Timber) von einem Jahrestreffen der Anonymen Alkoholiker. Seit Annas Geburt hat Sylvia, die in sich gekehrt wirkt und zurückgezogen lebt, nicht mehr getrunken. Nach traumatischen Kindheitserlebnissen und einer problematischen Jugend konnte die verletzte, sensible Frau offensichtlich keinen Halt im Leben finden. Von der Vergangenheit beschwert, bewältigt sie nur mühsam ihren Alltag. In einer Tageseinrichtung betreut sie, die selbst auf Hilfe von ihrer Schwester Olivia (Merritt Wever) angewiesen ist, hilfsbedürftige Menschen. Als sie nach einem Klassentreffen ihrer Highschool unter merkwürdig anmutenden Umständen den demenzkranken Saul (Peter Sarsgaard) kennenlernt, adoptiert sie zunächst wider Willen einen weiteren Versehrten.

Michel Francos neuer, höchst beeindruckender Film „Memory“, der gesellschaftliche Außenseiter beziehungsweise Marginalisierte in den Mittelpunkt stellt, widmet sich auf verschiedenen Ebenen der Sorge um den anderen. Dabei beschäftigt er sich nicht nur mit Tabus und der Frage nach Schuld und Vergebung, sondern er eröffnet seinen seelisch verwundeten Figuren auch Wege, um ihre schmerzlichen Erfahrungen in ein neues Leben zu integrieren. Gegen innere und äußere Widerstände kommen sich Sylvia und Saul näher, sie lernen sich kennen und auf behutsame, zärtliche Weise lieben. Der Film vollzieht dabei zunächst einen Perspektivwechsel, um kurz darauf die parallelen Handlungen der beiden Protagonisten in eine gemeinsame Erzählung münden zu lassen. Das Hin und Her zwischen ihnen übersetzt der mexikanische Filmemacher in wiederholte U-Bahn-Fahrten, die zugleich Gegenwart und Vergangenheit, das Verdrängte und seine Bearbeitung miteinander verbinden.

„Memory“ handelt insofern auf bewegende Weise von Heilung und gegenseitiger Unterstützung wider das Schweigen und Vergessen. Indem er die Gewichte der Dringlichkeit und dessen, was wichtig ist, verschiebt, erzählt der Film bei aller Melancholie zugleich eine ergreifende Liebesgeschichte. Michel Franco, der zuletzt mit seinem Film „Sundown“ beeindruckte, erweist sich dabei erneut als Meister der erzählerischen Verdichtung. Mit Ellipsen und einer sowohl distanzierten als auch einfühlsamen Beobachtung der sozialen Beziehungen und Verhältnisse inszeniert er gewissermaßen „Lücken“ im raumzeitlichen Kontinuum, die seinen außerordentlich bemerkenswerten Film immer wieder dem Überraschenden und Unvorhersehbaren öffnen. Angesichts dieser formalen Konzentration verzichtet Franco auch auf einen Score, um stattdessen mit J. S. Bachs berühmtem „Air“ aus der 3. Orchestersuite, vor allem aber mit Procol Harums Song „A whiter shade of pale“ tiefe und aufwühlende emotionale Akzente zu setzten. Jenseits einer vordergründigen äußeren Dramatik vollzieht sich so fast unmerklich ein inneres Drama der Befreiung und der Rückeroberung des (eigenen) Lebens.

Hausnummer Null

(DE 2024, Regie: Lilith Kugler)

Chris wird clean
von Jürgen Kiontke

Regisseurin Lilith Kugler muss am S-Bahnhof Berlin-Friedenau ausgestiegen sein, als sie in die Hauptstadt kam. Denn der erste, der sie begrüßte, war Chris, der dort sein Lager hat. Ein junger …

Regisseurin Lilith Kugler muss am S-Bahnhof Berlin-Friedenau ausgestiegen sein, als sie in die Hauptstadt kam. Denn der erste, der sie begrüßte, war Chris, der dort sein Lager hat. Ein junger Drogensüchtiger, der manchmal versucht, sein Leben in den Griff zu bekommen und vom Betteln wie vom Drogendealer lebt. Nachbarn stellen ihm manchmal Essen und Wäsche hin. „Ich habe schon 15 Schlafsäcke“, erzählt er.

Kugler, die fürs Filmstudium nach Berlin gekommen ist, findet auf diese Weise gleich den Hauptdarsteller für ihren ersten Film, die Dokumentation „Hausnummer Null“. Sie beobachtet Chris beim täglichen Überleben, lässt Alex zu Wort kommen, den einzigen Kumpel, den Chris hat. Mehrmals gibt es Anläufe, ihm einen festen Wohnsitz und einen Drogentherapieplatz zu besorgen.

Substitution, Angst vor dem Scheitern, vor dem Urteil anderer, Betäubung: Chris fühlt sich bereits zu abhängig, um vom Heroin loszukommen. Doch er hat immer wieder cleane Phasen, in denen er wirkt wie viele andere seiner Altersklasse Anfang 20. Er könnte ein Auszubildender oder ein Student sein. „Ich will bleibenden Eindruck hinterlassen bei den Menschen. Vielleicht ist das meine große Angst: dass ich vergessen werde“, sagt er. Kurz darauf dann der Rückfall, sein Gesicht dunkel und entglitten, das ist das Antlitz eines schwer gezeichneten Menschen. Dann heißt es wieder: Platte machen für den nächsten Schuss.

Für Verwunderung sorgt ein Aufenthalt bei seiner Mutter auf dem Land. Sie schildert in gut bürgerlichem Ambiente, dass sie an Chris’ Drogensucht nicht herankommt, berichtet von einer jahrelangen Krankengeschichte. Sie ist der Auffassung, er leide an Autismus sowie an ADHS und komme daher so schlecht mit sich und anderen zurecht. Die Ärzte hätten einiges ausprobiert, als Chris ein Kind war. Und sie? „Ich würde alles tun, nur nach Berlin, da gehe ich nicht. Das ist Terror dort.“

Kugler erlaubt einen Blick in die Lebenswelt jener vielen Menschen, die täglich in abgerissenem Zustand in den U- und S-Bahnen unterwegs sind. Die Welt der dreckigen Finger, der Flaschensammler, der Unter-den-Brücken-Schläfer. Eine beeindruckende filmische Arbeit, die dem Publikum zu denken gibt.

Diese Kritik erschien zuerst am 12.09.2024 auf: links-bewegt.de

Sad Jokes

(DE 2024, Regie: Fabian Stumm)

Krisengeschütteltes Durchhalten
von Wolfgang Nierlin

Der Filmemacher Joseph (Fabian Stumm), der bisher traurige Filme gedreht hat, möchte jetzt traurige Filme machen, die zugleich witzig sind. Sein Produzent Gero (Godehard Giese), der die Komödie als „Königsdisziplin“ …

Der Filmemacher Joseph (Fabian Stumm), der bisher traurige Filme gedreht hat, möchte jetzt traurige Filme machen, die zugleich witzig sind. Sein Produzent Gero (Godehard Giese), der die Komödie als „Königsdisziplin“ bezeichnet, findet das Drehbuch seines Schützlings allerdings nicht lustig, sondern traurig und hoffnungslos, weil es den lebensmüden Figuren keinen Ausweg biete und ihnen überdies keine Empathie angedeihen lasse. Der Regisseur wiederum, dem ein naturalistischer Film mit absurden Einsprengseln vorschwebt, stellt sich vor, dass erst die Inszenierung, also die visuelle Umsetzung des Buchs in bewegte Bilder den speziellen, ihm vorschwebenden Humor erzeuge. Für die Figur eines Mannes, der Angst vor Statuen hat, lässt Joseph etwa eine überdimensionierte Gips-Skulptur seines eigenen Kopfes herstellen, was natürlich auch selbstreferentiell zu verstehen ist.

Insofern und in weiteren Aspekten handelt Fabian Stumms traurig-komischer Film „Sad Jokes“ natürlich von seinem Autor, seiner Arbeit und seinem Leben. Das Autobiographische wird hier allerdings mit sehr kalkulierten filmischen Mitteln in Fiktion verwandelt, wobei die feine Balance zwischen angespanntem Ernst und absurdem Humor gerade aus jenen immer wieder überraschenden Bildideen und visuellen Erfindungen entsteht, die von der Filmfigur Joseph, vom Regisseur selbst gespielt, für sein geplantes Projekt beansprucht werden.

So inszeniert Fabian Stumm gleich zu Beginn seines szenisch gebauten Films in einer minutenlangen Einstellung ein sehr intensives häusliches Familiendrama, das die späteren komödiantischen Momente gewissermaßen konterkariert. Die Arbeit mit Off-Dialogen, die kommunikative Dynamik innerhalb von Gruppen und die Unsicherheit in zwischenmenschlichen Begegnungen sind stilistische Merkmale, die sich unter andern Vorzeichen dann auch in den mehr heiteren und ironischen Szenen wiederfinden. Außerdem experimentiert Stumm mit ungewöhnlichen Bildausschnitten, Slapstick-Elementen, Ellipsen und einem doppelbödigen Spiel-im-Spiel.

Fabian Stumm demonstriert in „Sad Jokes“ also jenen visuellen Witz der seinem filmischen Alter Ego vorschwebt und an dem dieses zunächst scheitert. Joseph befindet sich allerdings nicht nur in einer künstlerischen Krise, sondern auch in einer privaten. Seit seiner Trennung von seinem jüngeren Freund Marc (Jonas Dassler), die jetzt schon drei Jahre zurückliegt, ist er keine Beziehung mehr eingegangen. Sein Beruf und seine Aufgaben als Vater eines kleinen Jungen, den er zusammen mit seiner besten Freundin Sonya (Haley Louise Jones) hat und betreut, lassen dafür überdies wenig Zeit und Raum. Zumal die psychisch labile Mutter des kleinen Pino (Justus Meyer) unter Depressionen leidet und gerade in einer psychosomatischen Klinik gegen innere Widerstände therapiert wird.

Dass sich Joseph in dieser Situation in einer grotesk anmutenden Szene auch noch an der Hand verletzt, setzt nicht nur auf tragikomische Weise besagten visuellen Witz originell ins Bild, sondern fungiert natürlich auch als Metapher für seine allgemeine Dysfunktionalität in einem absurden, krisengeschüttelten Alltag zwischen Sein und Schein, Künstlerimago und realem Ich. Inmitten all dieser Brüche, der irritierenden Gleichzeitigkeit von Gefühlen und der Angst vor dem Glück kann Heilung also nur eine vorläufige Etappe sein. Es gehe darum, sich zu kümmern und zu verzeihen, hat Fabian Stumm gesagt. Insofern sei „Sad Jokes“, so der Regisseur, ein Ensemblefilm „über das Durchhalten“.

Wir sind so frei

(DE 2024, Regie: Christian Lehmann-Feddersen, Alf Schreiber)

Diverses Panorama
von Jürgen Kiontke

Einen Streifzug durch verschiedene Protestbewegungen machen die Filmemacher Christian Lehmann-Feddersen und Alf Schreiber in ihrer Langzeitbeobachtung „Wir sind so frei“. Motto: über die Politik der Feindschaft und was wir dagegen …

Einen Streifzug durch verschiedene Protestbewegungen machen die Filmemacher Christian Lehmann-Feddersen und Alf Schreiber in ihrer Langzeitbeobachtung „Wir sind so frei“. Motto: über die Politik der Feindschaft und was wir dagegen tun.

Porträtiert werden Aktivisten wie Loïc, der in einer Kommune in Nordfrankreich im Einklang mit der Natur wirtschaftet. Oder Julia aus Bonn, die bei der ver.di Jugend aktiv war. Die „Feinde“ sehen sie in weltumspannenden Konzernen, deren Geschäftsprinzip die Ausbeutung ist. Menschen wie die beiden haben sich bei den Protesten anlässlich des G20-Gipfels 2017 in Hamburg getroffen, bei denen es zu massiver Gewalt und Ausschreitungen kam.

Rechtsanwälte wie Lukas Theune und Gabriele Heinecke schildern ihre Sicht auf die Proteste und die Reaktion der Polizei. Die Filmemacher sind den Beamten in die eigens eingerichtete Gefangenensammelstelle gefolgt, in denen festgenommene Demonstranten stundenlang ausharrten. Julia erzählt, wie sie monatelang mit Repressionen zu kämpfen hatte, obwohl sie bloß bei der falschen Demo gewesen sei. Auch Loïc musste sich lange mit den Behörden auseinandersetzen, weil aus dem Protestzug, bei dem er mitlief, Gegenstände geworfen worden waren.

Soziologen und andere Wissenschaftler haben die Ereignisse unter dem Arbeitstitel „Mapping #NoG20“ aufgearbeitet und erläutern die Zusammenhänge. Das Projekt wird unter anderem vom Hamburger Institut für Sozialforschung getragen und von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert. Sie attestieren den politisch Verantwortlichen Mängel in der Vorbereitung und Fehleinschätzungen der zu erwartenden Proteste.

Vom direkten Protestgeschehen wendet sich der Film nach gut einer Stunde ab, Kritiker des weltweiten Kapitalismus und seiner zerstörerischen Auswirkungen kommen mit Vorträgen und in Interviews zu Wort. Sie gehen der Frage nach, inwiefern global aufgestellte Finanzdienstleister bereits in sämtlichen größeren europäischen Unternehmen stecken, wenn nicht gleich in der Politik aktiv sind.

Thema sind auch die gewerkschaftlichen Proteste rund um Dienstleister wie den Food-Lieferdienst Gorillas, die insbesondere Menschen mit migrantischer Geschichte beschäftigen und wegen ihrer Arbeitsbedingungen in die Kritik geraten sind. Arbeitslohn stand aus, Arbeitsgerichtsprozesse folgten. Da sind wir schon dabei, wie es besser geht: Zum Schluss hin gibt es einen Ausblick darauf, wie wir alle ohne Armut, Lohnraub, Sozialabbau, Aufrüstung und dergleichen leben können – und darauf, was wir anstellen müssen, damit es mit derlei Missständen endlich ein Ende hat. Der klassische Kampagnenfilm!

Diese Kritik erschien zuerst am 04.09.2024 auf: links-bewegt.de

Das Flüstern der Felder

(PL/RS/LT 2023, Regie: DK Welchman, Hugh Welchman)

Zerstörerisches Begehren
von Wolfgang Nierlin

Die bäuerliche Lebenswirklichkeit im Polen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist weit weniger idyllisch, als dies die Einleitung von DK und Hugh Welchmans neuem Film „Das Flüstern der Felder“ nahelegt. Der …

Die bäuerliche Lebenswirklichkeit im Polen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist weit weniger idyllisch, als dies die Einleitung von DK und Hugh Welchmans neuem Film „Das Flüstern der Felder“ nahelegt. Der mehr nüchterne als poetische internationale Titel „The peasants“, der direkt denjenigen des mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Roman-Zyklus „Die Bauern“ (1902-1908) von Władysław Reymont zitiert, spiegelt diesen Kontrast. So tanzt zu Beginn des ungewöhnlich gestalteten Animationsfilms, der reale Spielszenen mit nachträglichen Übermalungen der Bilder kombiniert, eine junge, schöne Frau durch ein wogendes, gelbes Blütenmeer. Verfolgt von einer sehr dynamischen Kamera trägt der Wind Pollen der Pusteblumen übers Land, die kurz darauf in einen Vogelflug übergehen. Jagnas (Kamila Urzędowska) Blick auf die Welt ist magisch. Verträumt und eigensinnig gestaltet sie aus ihren Beobachtungen fantasievolle Scherenschnitte. Neben ihrer künstlerischen Begabung ist es vor allem ihre Begehrlichkeiten weckende Schönheit, die sie unter den Dörflern zur Außenseiterin macht und so zu Widerspruch und Konflikten führt.

„Ich wünschte, ich könnte mich an den Wolken festhalten und einfach um die Welt fliegen“, sagt die nach Unabhängigkeit strebende Jagna. Diese ist heimlich in den jungen Familienvater Antek (Robert Gulaczyk) verliebt, einen zornigen, eifersüchtigen Mann, der gegen seinen Vater, den reichen Bauern Boryna (Miroslaw Baka), rebelliert. Doch auch der Witwer wirbt um die begehrte Jagna und investiert außerdem beträchtliche Landgüter, damit es schließlich zur Verheiratung kommt. Darüber eskaliert der Streit zwischen Vater und Sohn. Die beiden entzweien sich und ein rauschendes, von ausgelassenen Tänzen begleitetes Hochzeitsfest markiert den Schlusspunkt und zugleich den Beginn weiterer, zunehmend gewalttätigerer Konflikte. Dabei geht es nicht nur um Erbstreitigkeiten und den Kampf um Grund und Boden, sondern auch um die rivalisierenden Auseinandersetzungen um eine Frau, die der von seiner Leidenschaft zerfressene Antek einmal als „heilige Erde“ apostrophiert, und die doch vor allem nach persönlicher Freiheit strebt.

Nach dem Wechsel der Jahreszeiten gegliedert, folgt der Film einem zerstörerischen Begehren, das zusätzlich durch die Habgier, den Neid und die Eifersucht der Dorfbevölkerung geschürt wird. Das episch angelegte Drama wird dabei von musikalisch-folkloristischen Elementen flankiert und in delirierenden Tänzen zugespitzt, während die Gefühle der Protagonistin in Tier- und Natursymbolen veranschaulicht werden. Nach ihrem umjubelten Film „Loving Vincent“ haben die Welchmans erneut mit einer Hundertschaft bildender Künstler und Künstlerinnen die Hintergründe der gedrehten Spielszenen mit Ölfarbe gemalt und sich dabei an der Landschaftsmalerei der dargestellten Zeit orientiert, um durch deren Vorbild eine authentische Atmosphäre zu schaffen und Stimmungen zu vertiefen. Im Verbund mit den flirrenden, ständig wechselnden Schatten auf den Gesichtern der Figuren entstehen so immer wieder beeindruckende Panoramen und Porträts. Schließlich gelingt es der wiederholt gedemütigten Jagna, durch die Hölle aus Schimpf und Schande hindurch zu einer neuen, reinigenden Selbständigkeit zu finden.

Die Unbeugsamen 2

(DE 2024, Regie: Torsten Körner)

Emanzipation ist (noch mehr) Arbeit
von Jürgen Kiontke

Mit seinem Dokumentarfilm „Die Unbeugsamen“ erinnerte Regisseur Torsten Körner an wichtige Politikerinnen der Bonner Republik und ihre emanzipatorische Arbeit. Mit erstaunlichem Erfolg: Rund 200.000 Zuschauer sahen den Film in den …

Mit seinem Dokumentarfilm „Die Unbeugsamen“ erinnerte Regisseur Torsten Körner an wichtige Politikerinnen der Bonner Republik und ihre emanzipatorische Arbeit. Mit erstaunlichem Erfolg: Rund 200.000 Zuschauer sahen den Film in den Kinos. Nun ist mit „Die Unbeugsamen II – Guten Morgen, ihr Schönen“ der Osten dran: Frauen, die in der DDR aufgewachsen sind und dort gearbeitet haben, berichten von ihrem Alltag im Sozialismus.

Gut kommt der dabei nicht immer weg: Man habe die Kraft der Frauen für die Wirtschaft gebraucht, aber nicht auf der politischen Ebene, sagt Barbara Mädler, ehemals Regieassistentin der Filmgesellschaft DEFA. Leitende Positionen in der Wirtschaft seien auch im Osten schwer zu erreichen gewesen. Dennoch gab es Frauen, die hohe Positionen innehatten. Die ehemalige Oberbürgermeisterin von Potsdam, Brunhilde Hanke, berichtet aus ihrem Arbeitsalltag in den 1970er- und 1980er-Jahren.

In der Regel galt aber: Mutter arbeitet in der Kaufhalle und kümmert sich dann ums Abendbrot. „80 Prozent der Hausarbeit haben Frauen gemacht“, sagt die Musikerin Tina Powileit. Die Schriftstellerin Irmtraud Morgner erfand dafür den Terminus „die zweite Schicht“. Fazit: Hexerei war fest im Alltag integriert.

Powileit spricht auch von schweren Misshandlungen während ihrer Ehe – kein Einzelfall: Selbst in DDR-Fernsehfilmen, das zeigen Archiv-Ausschnitte, hat die Gewalt der Ehemänner ihren festen Platz.

Malerin Annemirl Bauer hat die Frauen-Verhältnisse in ihrem berühmten Bild „Madonna vom Prenzlauer Berg“ verewigt: Die Heilige trägt Blaumann und Baby. Das Bild sei in einer Wohnung mit nassen Wänden entstanden, berichtet ihre Tochter Amrei. Die Malerin zum Thema Emanzipation als Daueraufgabe: „Frauen, wenn wir heute nichts tun, leben wir morgen wie vorgestern.“

Ohne Widerspruch nahmen auch die Frauen in der DDR ihre gesellschaftliche Situation nicht hin, aus Frust konnte durchaus Protest werden. Die Mauer fand Bauer en passant „überflüssig und überholt“. Noch mal Morgner: „Emanzipierte Frauen sind alle potentielle Dissidenten.“ Und nach der Wende? „Haushalt, Familie – das ist der Westen?“, fragt sich manche der Protagonistinnen in der Rückschau. Es konnte durchaus sein, dass hart erkämpfte Positionen über Nacht nichts mehr wert waren.

Die 15 Frauen, die hier erzählen, haben sich trotzdem irgendwie zurechtgefunden. Körner will ihren Lebensleistungen gerecht werden und ihren Kampf um Chancengleichheit würdigen. Dies gelingt ihm auf interessante und enorm kurzweilig Weise. Sein Dokumentarfilm über die Frauen des Ostens ist sehr gut komponiert und mit seltenen Archivaufnahmen belegt. Man hätte sich nur gern gewünscht, dass der Name der Sprecherinnen jedes Mal eingeblendet würde, zu schnell verliert man den Überblick.

Diese Kritik erschien zuerst am 20.08.2024 auf: links-bewegt.de

Hier gibt es ein Interview mit Regisseur Torsten Körner.

Petra Kelly – Act now!

(DE 2024, Regie: Doris Metz)

Mit dem Herzen denken
von Wolfgang Nierlin

„Auf der Straße verändert sich mehr als im Parlament“, sagt Petra Kelly gleich zu Beginn des Films, um auf die demokratische Notwendigkeit außerparlamentarischer Bewegungen und zivilen Ungehorsams hinzuweisen. Dazu zeigt …

„Auf der Straße verändert sich mehr als im Parlament“, sagt Petra Kelly gleich zu Beginn des Films, um auf die demokratische Notwendigkeit außerparlamentarischer Bewegungen und zivilen Ungehorsams hinzuweisen. Dazu zeigt Doris Metz in ihrem Dokumentarfilm „Petra Kelly – Act now!“, einem bewegenden Portrait der streitbaren politischen Aktivistin, Bilder früherer und gegenwärtiger Demonstrationen. Über die Zeiten hinweg verbinden sich die unterschiedlichen Protestformen im Kampf für Frieden und Abrüstung, gegen Atomkraft und patriarchale Bevormundung sowie für eine gerechte Klimapolitik und global geltende Menschenrechte. Die Dokumentarfilmerin möchte damit einen „Diskurs zwischen den Generationen anstoßen“. Vor allem aber könne Petra Kelly, für die es keinen Unterschied zwischen Leben und Politik gab und die immer an die „Kraft der Utopie“ glaubte, als Vorbild für gegenwärtige Protestierende gelten. Denn mit ihrem visionären, globalen und vernetzten Denken war Kelly, die als stark und verletzlich, leidenschaftlich und wahrhaftig beschreiben wird, ihrer Zeit voraus. Insofern soll der Blick zurück zukünftiges Handeln inspirieren.

Anhand von Interviews mit Zeitzeugen und Weggefährten, in Selbstzeugnissen und mit umfangreichem Archivmaterial zeichnet Doris Metz auf eher konventionelle Weise den Lebensweg der idealistischen, energiegeladenen Aktivistin nach. 1947 im bayerisch-schwäbischen Günzburg geboren und von „Trümmerfrauen“ erzogen, wächst sie schließlich ab ihrem zwölften Lebensjahr in der Familie ihres amerikanischen Stiefvaters John E. Kelly in den USA auf, wo sie mit Auszeichnung Schule und Studium absolviert. Martin Luther King und Robert F. Kennedy, in dessen Wahlkampfteam sie eine Zeit lang arbeitet, werden zu ihren Vorbildern. Ihr sensibler Halbbruder John L. Kelly gibt darüber intim Auskunft. Später, ab Herbst 1970 wieder in Europa, engagiert sie sich in der Anti-Atomkraft-Bewegung, kämpft gegen den Rüstungswettlauf und wird Gründungsmitglied der Grünen, für die sie schließlich 1983 in den Bundestag gewählt wird. Begegnungen mit dem indigenen Menschenrechtsaktivisten Milo Yello Hair aus dem Pine Ridge Reservat in South Dakota, mit der Friedenskämpferin Cora Weiss und dem Künstler Joseph Beuys zeigen die weit gespannten Zusammenhänge ihres Engagements.

Petra Kellys fortgesetzte Infragestellung von Autoritäten und Machtstrukturen lässt sie gegen eine ebenso oberflächliche wie zynische „Politik hinter verschlossenen Türen“ und gegen einen von Männern beherrschten Bundestag opponieren, in dem sie mit analytischer Scharfsicht nurmehr eine „Tribüne für das Fernsehen“ erkennen kann. Ihr Misstrauen gegen Parteien und ihr gewaltfreies Denken bringen sie schließlich auch in Konflikt mit den Grünen, die doch eigentlich als „Anti-Parteien-Partei“ angetreten waren. Kelly wollte nur dem „Gesetz des Gewissens“ folgen und „mit dem Herzen denken“, wie der Titel eines ihrer Bücher lautet. Darüber und über die zunehmende Bedrohung durch die rechtsextreme LaRouche-Gruppe berichten ihre ehemaligen politischen Freunde und Freundinnen Lukas Beckmann und Otto Schily, Eva Quistorp und Ina Fuchs. Im fast 25 Jahr älteren, verheirateten Ex-Generalmajor Gert Bastian, der im Film seltsam ungreifbar bleibt, findet sie zwar eine „Beschützerfigur“; die tiefe und komplizierte Beziehung endet 1992 aber tödlich, als Bastian erst seine Lebensgefährtin und danach sich selbst erschießt. Dieser gewaltsame Tod steht in einem herben Kontrast zum friedliebenden Leben einer Frau, die so „charismatisch“, „wahrhaftig und anders“ war.

Ellbogen

(DE 2024, Regie: Aslı Özarslan)

Anhaltendes Fremdheitsgefühl
von Wolfgang Nierlin

Die fast 18-jährige Hazal (Melia Kara) fühlt sich benachteiligt und gesellschaftlich ausgegrenzt. Als Tochter türkischer Eltern im Berliner Arbeiterviertel Wedding aufgewachsen, erlebt sie immer wieder Diskriminierung und Zurückweisung. Ohne rechte …

Die fast 18-jährige Hazal (Melia Kara) fühlt sich benachteiligt und gesellschaftlich ausgegrenzt. Als Tochter türkischer Eltern im Berliner Arbeiterviertel Wedding aufgewachsen, erlebt sie immer wieder Diskriminierung und Zurückweisung. Ohne rechte Überzeugung nimmt sie an einem Bewerbungstraining teil, nur um später bei einem Vorstellungsgespräch mal wieder abgelehnt und vertröstet zu werden. Hazal schmollt, ist frustriert und wütend. Ihr latent aggressives Gefühl, nicht zu genügen, nimmt noch zu, als sie von einem Kaufhausdetektiv, der seine Machtposition ausnutzt, abgezogen wird. Als sie an ihrem Geburtstag schließlich in einen heftigen Streit mit ihrer Mutter gerät und zusammen mit ihren verschworenen Freundinnen Elma (Jamilah Bagdach) und Gül (Asya Utku) vom Türsteher eines angesagten Clubs abgewiesen wird, kommt es kurz darauf in einer zunehmend eskalierenden Situation zu einer brutalen Gewalttat. Am Kulminationspunkt einer verhängnisvollen Entwicklung hat sich etwas scheinbar unverrückbar verändert. Hazal gerät in Panik, stiehlt Geld und flieht.

„Willst du feiern, dass wir Opfer sind?“, wird die junge Frau kurz zuvor von einer ihrer Freundinnen gefragt. Zusammen stemmen sie sich mit ihren Träumen gegen den tristen Alltag. Aslı Özarslan konzentriert sich in ihrem Film „Ellbogen“, einer Adaption von Fatma Aydemirs gleichnamigem Romandebüt, zunächst mehr oder weniger plakativ und vordergründig auf eine Verdichtung und Zuspitzung dieses Ausgrenzungsdiskurses. Dabei ist sie mit ihrer realistischen Inszenierung immer nah bei der jugendlichen Heldin, heftet sich an ihre Fersen und zeigt ihre Perspektive, die sich immer mehr zu verengen scheint. „You have to decide who you are/ and force the world to deal with you“, lautet das Motto, das den Film einleitet. Aslı Özarslan erzählt eine typische Adoleszenz- und Selbstfindungsgeschichte unter den besonderen Bedingungen eines anhaltenden Fremdeitsgefühls. Ihr immer wieder spannungsgeladener Film handelt zugleich von einer ambivalenten individuellen Befreiung und von einer problematischen (weiblichen) Selbstermächtigung.

Denn nach Hazals Flucht nach Istanbul zu ihrer Internetbekanntschaft Mehmet (Doğa Gürer), einem straffällig gewordenen und deshalb aus Deutschland abgeschobenen Drogensüchtigen, bleibt sie zunächst eine vielfach Abhängige. Sie ordnet sich den Machtstrukturen unter, weil sie unsicher ist und keine andere Wahl hat. Allein und verloren streift sie durch eine fremde Stadt, in der sie wegen ihres leichten Akzents paradoxerweise als Ausländerin gilt. Trotzdem erfährt sie in besseren Momenten auch eine neue Freiheit und Unabhängigkeit zwischen allen Grenzen. Ablesbar wird dieses erwachte Selbstbewusstsein etwa beim ausgelassenen Tanzen in einer Diskothek. Außerdem lernt sie den kurdischen Oppositionellen Halil (Haydar Şahin) kennen, der regierungskritische Artikel schreibt und deshalb verfolgt wird. Mit ihm teilt Hazal gewissermaßen ihren Außenseiterstatus, ihre Wut und Verletzlichkeit. Als sie schließlich in ihrer Rastlosigkeit von ihrer schwer lastenden Vergangenheit eingeholt wird, muss sie entscheiden, ob ihre Schuld oder aber das Aufbegehren gegen eine restriktiv empfundene Gesellschaft schwerer wiegt.

A Revolution on Canvas

(USA 2023, Regie: Sara Nodjoumi, Till Schauder)

Notwendige Kunst
von Wolfgang Nierlin

Aus der Vogelperspektive blickt die Kamera auf den aus Iran stammenden Künstler Nikzad Nodjoumi, der in einem Atelier des New Yorker Stadtteils Brooklyn arbeitet. Nach dem Sturz des Schahs musste …

Aus der Vogelperspektive blickt die Kamera auf den aus Iran stammenden Künstler Nikzad Nodjoumi, der in einem Atelier des New Yorker Stadtteils Brooklyn arbeitet. Nach dem Sturz des Schahs musste der linke, regierungskritische Maler am Beginn der Islamischen Republik 1980 vor dem Mullah-Regime in die USA fliehen. Während einer Ausstellung seiner Gemälde im Museum für zeitgenössische Kunst in Teheran war er massiv angefeindet worden, seine damals ausgestellten Werke sind seitdem verschollen.

In ihrem investigativen und sehr persönlichen Dokumentarfilm „A Revolution on Canvas“ begibt sich seine Tochter Sara Nodjoumi zusammen mit ihrem Co-Regisseur und Ehemann Till Schauder deshalb auf eine Spurensuche, die sowohl in die politische Vergangenheit des heftig umkämpften Iran als auch in ihre eigene, von blinden Flecken durchsetzte Familiengeschichte führt. Dabei porträtiert sie zwar primär ihren Vater und seine Kunst im Zeichen der politischen Auseinandersetzungen, widmet sich aber zugleich ihrer Mutter Nahed Hagiga, die ebenfalls als Künstlerin tätig ist, ihre Arbeit aber eine Zeit lang hinter diejenige ihres Mannes zurückgestellt hat.

Für Sara Nodjoumi, die selbst auch zu einer Protagonistin ihres Films wird, spiegelt sich darin bei allem Verständnis für die außerordentlichen Umstände ihrer mittlerweile geschiedenen Eltern auch die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Das Aufbegehren der Frauen gegen staatliche Unterdrückung im Namen der Religion wird wiederum durch die jüngsten, unter dem Slogan „Frau, Leben, Freiheit“ geführten Proteste thematisiert. Die Kämpfe der Vergangenheit schließen sich hier mit denjenigen der Gegenwart zusammen. Die Fülle des Materials aus historischen Aufnahmen, zahlreichen Familienfotos, Gemälden und aktueller Recherchearbeit führt allerdings zu einer assoziativen, sprunghaften Montage, deren Gewichte ungleich verteilt sind. Die Einblendung von Jahreszahlen sorgt dabei zumindest für eine grobe Orientierung und eine eher lockere Chronologie.

Neben einer sich zunehmend als schmerzlich erweisenden Familiengeschichte gilt ein wesentlicher Handlungsstrang Nikzad Nodjoumis linksradikaler Politisierung, die Ende der 1960er Jahre im Zuge der Proteste gegen den Vietnamkrieg und der Bürgerrechtsbewegung in den USA entscheidende Impulse erhält. Diese bringt ihn nach seiner zeitweisen Rückkehr in den Iran schließlich in gefährliche Konflikte mit den Ordnungshütern. Die Erfahrungen mit Gewalt, Unfreiheit und Krieg, mit Paranoia und Unterdrückung spiegeln sich schließlich in seinen politisch unbequemen, provozierenden Bildern.

Expressionistisch, surreal und phantastisch verbinden sich in ihnen Mensch und Tier, Gewalt und Unterwerfung in kaleidoskopischen Arrangements. Mythische Vergangenheit und politische Gegenwart kreuzen sich in den gegenständlichen Bildern auf herausfordernde, ebenso ironische wie schreckliche Weise. Leider vermittelt der Film diese Eindrücke nur streiflichtartig. Einmal heißt es über Nikzad Nodjoumi, der auf verschiedenen Ebenen mit seiner Biographie konfrontiert wird und die Notwendigkeit seines künstlerischen Schaffens zeitlebens offensichtlich über sei Privatleben stellte, er habe „eine Revolution in sich selbst“. Diese ist auch noch nach dem Film, der ihn seinen verschwunden geglaubten Werken näher bringt, nicht zu Ende.

Twisters

(USA 2024, Regie: Lee Isaac Chung)

Kein Stress
von Bernhard Torsch

Erinnert ihr alten Säcke euch noch an „Twister“? Den Katastrophen-Actionfilm aus dem Jahr 1996? In dem eine Wissenschaftlerin (Helen Hunt) Wirbelstürme erforschen will, um sie besser vorhersagen zu können, und …

Erinnert ihr alten Säcke euch noch an „Twister“? Den Katastrophen-Actionfilm aus dem Jahr 1996? In dem eine Wissenschaftlerin (Helen Hunt) Wirbelstürme erforschen will, um sie besser vorhersagen zu können, und im Zuge der vergessenswerten Handlung zu ihrem geschiedenen Ehemann (Bill Paxton) zurückfindet? Ihr wisst schon, wie es Gott gewollt hat? „Twisters“ erzählt fast die gleiche Geschichte. Statt Hunt spielt nun Daisy Edgar-Jones das All American Girl aus dem Mittleren Westen (lustigerweise ist Edgar-Jones Britin), und sie trägt sogar die 1996 etablierte Uniform für Wirbelsturmjägerinnen (weißes Tanktop). Statt Bill Paxton ist der fesche Glen Powell nun das mächtig männliche Love Interest der Protagonistin. Die will Wirbelstürme nicht mehr nur vorhersagen können, sondern hat gleich eine chemische Formel entwickelt, mit der man die lästigen Winde ausradieren kann.

Es fehlen hier die fliegenden Kühe. Die fast alles sind, was sich mein Gehirn vom 1996-Twister-Film gemerkt hat. Dafür fliegt fast alles andere durch die Gegend, von Autos über Windräder bis zu ganzen Raffinerien. Und Menschen auch, aber das macht nichts, denn irgendeine Art von emotionaler Wirkung hat es nicht, wenn in „Twisters“ jemand stirbt. Ich war überrascht, wie kalt der Streifen ist. Obwohl andauernd jemand in Gefahr ist oder was stürmt und explodiert, war mir das wurscht. Und dass der Feschak am Schluss die Feschakin kriegt, war ohnehin klar. Warum also war „Twisters“ ein Riesenerfolg an den Kinokassen?

Ich würde sagen, weil er dem Sommerblockbuster-Publikum gibt, was das Sommerblockbuster-Publikum will. Der Punkt ist nicht als negative Kritik gemeint, es ist einfach so. „Twisters“ wandelt auf den Spuren von „Top Gun: Maverick“, insofern man hier als Mensch, der nach einer 50-Stunden-Woche in einem Scheiß-Job und zwei Wochen Urlaubsanspruch pro Jahr 20 oder 30 Dollar dafür hinlegt, unterhalten zu werden, auch unterhalten wird, ohne sein Hirn einschalten zu müssen. Das tut „Twisters“ und vermeidet sehr geschickt, irgendein Reizthema des aufgeheizten Kulturkampfes anzusprechen. So kommt etwa das Wort „Klimawandel“ in einem Film über immer schlimmer werdende und immer öfter vorkommende Stürme nicht vor. Stattdessen gibt es ganz viel Zusammenhalts-Appelle (was nicht an sich böse ist). Frauen dürfen stark sein, aber „Twisters“ schafft das, ohne Männer deswegen wie die letzten Volltrottel darzustellen. Es gibt ganz viel Rockmusik und Countrymusik und ein bisschen moderne Popmusik. Viele Szenen mit gaaanz großen Autos, die gaaanz schnell über Stock und Stein fahren und deren Insassen dabei gaaanz laut „Wooooheee“ brüllen. Rodeos. Amerikanische Flaggen. Queere Menschen existieren nicht.

„Twisters“ ist dabei aber nicht besonders offensichtlich mean spirited. Am Schluss darf sogar die Witzfigur des Films, ein britischer Journalist über 40, der Brille trägt (hahaha), dem beim wilden Auto-in-Wirbelstürme-Fahren schlecht wird (Weichei!) und der seinen Job als Journalist macht und fotografiert und Notizen schreibt (buuuuu!) ein richtiger Mensch werden, indem er seine Kamera weglegt und mit anpackt – fast wie ein echter amerikanischer Mann. Am Rande gibt es auch noch einen Bösewicht, einen gierigen Kapitalisten, der das Land von Twister-Opfern aufkauft, aber der wird so schnell wieder aus der Handlung katapultiert, dass man ihn kaum wahrnimmt.

Andererseits ist die Besetzung immerhin multi-ethnisch, was einer der wenigen Hinweise darauf ist, dass „Twisters“ nicht direkt nach „Twister“ gedreht wurde. Und das dürfte ein weiterer Grund für den Erfolg sein. „Twisters“ fühlt sich alt an, also 90er-Jahre-alt. Ähnlich wie „Top Gun: Maverick“. Das zieht beim Publikum, was angesichts der Multikrisen unserer Tage und des Dauergeschreis unserer gespaltenen Gesellschaften massenpsychologisch verständlich ist. „Twisters“ ist nicht so offen faschistisch wie etwa die Serie „Yellowstone“, sondern so reaktionär, wie es die meisten erfolgreichen Blockbuster immer waren. Anders gesagt: „Twisters“ ist der nette Konservative, der nichts gegen Schwule hat und auch selbständige Frauen akzeptiert, solange sie patriotisch sind, an die Marktwirtschaft glauben und nicht allzu vorlaut werden.

Didi

(USA 2024, Regie: Sean Wang)

Im Chaos der Gefühle
von Wolfgang Nierlin

Am Esstisch der Familie Wang wird heftig gestritten. Drei Generationen befinden sich in dem von Frauen dominierten amerikanisch-taiwanesischen Haushalt im Dauerclinch, wobei die Älteren Mandarin, die Jüngeren Englisch sprechen. Vor …

Am Esstisch der Familie Wang wird heftig gestritten. Drei Generationen befinden sich in dem von Frauen dominierten amerikanisch-taiwanesischen Haushalt im Dauerclinch, wobei die Älteren Mandarin, die Jüngeren Englisch sprechen. Vor allem Nesthäkchen Chris (Izaak Wang), von den anderen liebevoll „Dìdi“ genannt, was „kleiner Bruder“ oder „Söhnchen“ bedeutet, zofft sich fortwährend mit seiner älteren Schwester Vivian (Shirley Chen). Während sich diese im Sommer des Jahres 2008 aufs College und damit auf den Auszug aus dem Elternhaus im kalifornischen Fremont vorbereitet, steht dem 13-Jährigen der Wechsel auf die High School bevor. Tief in den Wirren der Pubertät mit ihren unsteten, oft aufbrausenden Gefühlen gefangen, verbringt Chris seine Zeit hauptsächlich mit seinen angeberischen Kumpels. Diese wiederum nennen den eher schüchternen und zurückhaltenden Außenseiter in Anspielung auf seine asiatische Herkunft „Wang-Wang“. Chris fühlt sich deshalb oft ausgeschlossen und hat einen doppelt schweren Stand. Schüchtern interessiert er sich für die hübsche, gleichaltrige Madi (Mahaela Park), die ihm eine zweifelhaftes Kompliment macht, wenn sie sagt: „Du bist ziemlich süß für einen Asiaten.“

In seinem autobiographisch gefärbten Debütfilm „Dìdi“ widmet sich Sean Wang mit seinem Titelhelden einer mehrfachen Fremdheitserfahrung und den vielen Unsicherheiten in der Phase eines Übergangs. Chris sucht Freunde, wünscht sich Zuneigung und Anerkennung, erlebt aber immer wieder Zurückweisung. Vom hohen Anpassungsdruck überfordert, reagiert er gereizt und aggressiv, was nicht nur seine Freunde, sondern auch seine Familienmitglieder zu spüren bekommen. Neben seiner Schwester trifft Chris‘ ungefilterte Wut vor allem auf seine Mutter (Joan Chen), die sich erfolglos als Künstlerin versucht und die einen schweren Stand gegenüber der Großmutter (gespielt von Chang Li Hua, der Großmutter des Regisseurs) hat. Da ihr Mann in Taiwan arbeitet, ist sie gezwungen, sich allein um das so schwer zu bewerkstelligende Wohlergehen der Familie zu kümmern.

Zwar steckt der temperamentvolle Coming-of-Age-Film, der zu einem guten Teil zeittypische elektronische Kommunikationsformen integriert, voller Konflikte, er findet im hochfrequenten Chaos der Gefühle aber auch zu versöhnlichen Momenten. Mit ironischem Witz und sanfter Melancholie begleitet Sean Wang seinen jugendlichen Helden ebenso realistisch wie phantasievoll in einem Prozess des Wachsens, der nur einen weiteren Schritt markiert und nichts Abschließendes beansprucht. Die symbolisch verstehbare Entfernung von Chris‘ Zahnspange zielt gerade auf dieses Vorübergehende. Und auch die nächtlichen Bilder, in denen die einsamen Enttäuschungen des Helden vermittelt werden und die nachdenkliche Ruhepole setzen, haben in diesem Sinne nicht das letzte Wort. Sie sind vielmehr Zwischenstationen und Übergänge zu neuen Aufbrüchen.

Was will der Lama mit dem Gewehr?

(BT/TW 2023, Regie: Pawo Choyning Dorji)

Die Dinge in Ordnung bringen
von Wolfgang Nierlin

In dem kleinen, relativ abgeschotteten Bhutan scheinen die Menschen zufriedener als andernorts zu sein. Das buddhistisch geprägte Land im fernen Himalaya entwickelt und misst sogar das sogenannte „Bruttonationalglück“ anhand verschiedener …

In dem kleinen, relativ abgeschotteten Bhutan scheinen die Menschen zufriedener als andernorts zu sein. Das buddhistisch geprägte Land im fernen Himalaya entwickelt und misst sogar das sogenannte „Bruttonationalglück“ anhand verschiedener wirtschaftlicher und kultureller Parameter. Vielleicht hat diese Zufriedenheit auch damit zu tun, dass Internet und Fernsehen mit ihren tendenziell verderblichen konsumistischen Segnungen erst seit wenigen Jahren verfügbar sind. Trotzdem gibt es nach wie vor ein großes soziales Gefälle zwischen der armen, traditionell eingestellten Landbevölkerung und den westlich orientierten Stadtbewohnern. In dieser Situation kündigt der König im Jahre 2006 nicht nur seinen Rücktritt an, sondern auch die Einführung der Demokratie. Mit Wahlen soll die Bevölkerung nun selbst über die Geschicke des Landes entscheiden.

In diesem „historischen Moment“ setzt Pawo Choyning Dorjis Film „Was will der Lama mit dem Gewehr?“ („The monk and the gun“) ein. Während „James Bond“ über die Bildschirme flimmert und die Modernisten bestrebt sind, „die Vergangenheit hinter sich zu lassen“, hegen andere Bevölkerungsschichten Zweifel am Nutzen der bevorstehenden Veränderungen. Skepsis macht sich gerade dort breit, wo es neuerdings zu Differenzen und Konkurrenzdenken kommt. Selbst in den Familien herrschen jetzt manchmal entgegen früheren Zeiten Unfrieden und Zwietracht. Was sind „geschenkte Rechte“ wert, wenn man nicht für sie kämpfen muss?“, fragt einer. Und eine Mutter, deren Mann jetzt als Wahlkämpfer tätig ist, wünscht sich: „Ich will einfach unser altes Leben zurück, als die Familie noch vereint und glücklich war.“

Der bhutanische Regisseur, der mit seinem vielbeachteten Film „Lunana“ international bekannt wurde, erzählt von diesem facettenreichen gesellschaftlichen Transformationsprozess anhand verschiedener paralleler Geschichten. Ein beschaulicher, langsamer Erzählrhythmus, grundiert von einem leisen Humor, sorgt für deren märchenhafte, unverhohlen idealistische Verknüpfung. Denn als der Lama des Klosters Ura durch die Neuerungen aus seiner Meditationsklausur aufgeschreckt wird, beschließt er, „die Dinge wieder in Ordnung zu bringen“. Für ein bei Vollmond geplantes Ritual soll sein Meisterschüler Gewehre auftreiben, was in dem friedliebenden Land kein leichtes Unterfangen ist. Weil zur gleichen Zeit ein amerikanischer Waffenhändler mit Hilfe eines Fremdenführers nach einem wertvollen historischen Gewehr sucht, kommt es zu einigen geschickt verknüpften Verwicklungen. Und schließlich ist noch ein Team von Wahlkampfhelfern damit beschäftigt, der ziemlich ahnungslosen Dorfbevölkerung das Wählen zu erklären.

Der von wogenden Getreide- und Blumenfeldern gerahmte und mit malerischen Panoramen aufwartende Film zeigt den Verlust der Unschuld im Prozess des Wertewandels, verteidigt auf sanfte, eher zurückhaltende Weise aber zugleich eine Spiritualität, die der zweifelhaften Freiheit einer materialistischen Weltordnung entgegengesetzt ist.

Zwei zu eins

(DE 2024, Regie: Natja Brunckhorst)

Bad im Geldspeicher
von Jürgen Kiontke

Halberstadt im Harz, 1990: Das verschlafene Städtchen ist plötzlich aufgeweckt worden. Gerade ist die Mauer gefallen, der DDR-Osten ist nicht mehr, der Westen aber auch noch nicht ganz da. Immerhin …

Halberstadt im Harz, 1990: Das verschlafene Städtchen ist plötzlich aufgeweckt worden. Gerade ist die Mauer gefallen, der DDR-Osten ist nicht mehr, der Westen aber auch noch nicht ganz da. Immerhin hat es dafür gereicht, dass die Volkswirtschaft mehr oder weniger zusammengebrochen ist, demnächst winken ABM-Maßnahmen – für die Jüngeren: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.

Es ist eine Zeit des großen Aufbruchs für die einen, für die anderen ist es der große Zusammenbruch. Die Welt, wie die Ostdeutschen sie kannten, ist weg. Maren (Sandra Hüller), Robert (Max Riemelt) und Volker (Roland Zehrfeld, in Nadja Brunckhorsts Filmkomödie „Zwei zu eins“ Freunde seit Kindesbeinen an, wissen auch nicht richtig, wie es weitergehen soll. Da fällt ihnen das Glück auf die Füße: Lastwagen transportieren große Mengen von Irgendwas durch die Landschaft hin zu einem alten Schacht. Bald finden die drei Wendegeschädigten heraus, was da gelagert wird: DDR-Geldscheine en masse. Sie stammen aus der Zentralbank in Berlin, keiner braucht sie mehr. Es sind sogar 500 Ostmark-Scheine dabei, die nie ausgegeben wurden.

Nun stellt sich heraus, dass die Umtauschfrist Ostmark – Westmark im Verhältnis zwei zu eins unter bestimmten Bedingungen noch läuft. Das Trio wittert den Groß-Coup. Säckeweise schleppen sie das Geld aus dem Stollen – einmal sogar unter Waffeneinsatz eines übriggebliebenen NVA-Soldaten. Dem Zuschauer wird es mulmig zumute: Werden die drei ihre Ziele umsetzen können? Lohnt sich das Ziel überhaupt? Mindestens Maren träumt davon, den alten Volkseigenen Betrieb (VEB), zu erwerben und für den Weltmarkt flottzumachen („Haben schon mit Schweden gesprochen…“). Mit allerlei Wortwitz und etwas weniger Action folgt man den Amateurganoven durch ihr Abenteuer, umgeben von einem liebevoll dekorierten DDR-Ambiente. Erstaunlich, wie viele Gegenstände von vor 35 Jahren heute noch übrig sind, um so ein Filmset einzurichten.

„Zwei zu eins“ beruht auf einer wahren Begebenheit. In der Tat wurden 1990 rund 400 Tonnen Bargeld in dem Stollen zum Verrotten deponiert, weil es keine geeignete Verbrennungsstätte gab. Es sollen größere Mengen Geld entwendet worden sein, Täter wurden nicht ermittelt. „Ich habe die Fotos gesehen von den Leuten, die in dem Stollen zum ersten Mal das Geld sehen. Sie wirken sehr glücklich. Wahrscheinlich wird man beim Anblick eines solchen Geldhaufens wieder zum Kind“, erzählt Regisseurin Brunckhorst. Freudig hat sie ihre Protagonisten das Bad im Geldspeicher nachspielen lassen.

Nun ist viel an dem Film sicher richtigerweise kritisiert worden, da stimmten diese Details nicht, da fehle jegliches Gespür für Ost-Geschichte, für zeitgeschichtliche Fakten sowieso. Mag sein. Dagegen einzuwenden ist: Hier stehen drei Darsteller in der ersten Reihe, die allesamt aus dem Osten stammen, zweitens spiegeln sich jede Menge Besonderheiten deutscher Geschichte wieder, wie zum Beispiel im Monolog einer älteren Dame in der Funktion der VEB-Kassenverwalterin, die erklärt, dass sei nicht ihre erste Währungsreform, schon 1948 hätte sie keine Kohle mehr gehabt – ein Rezensent in der Zeitung „Die Welt“ sah sich deshalb veranlasst, darauf hinzuweisen, dass schon wieder eine große Geldtransformation bevorsteht: die vom Bar- zum Digitalgeld.

Ein Besuch bei Ikea verdeutlicht den neuen DDR-Unternehmern, dass sie schon immer für den Westen gearbeitet hatten, weil dort die Pins für die Billy-Regale hingewandert sind, für die ihr Betrieb berühmt war. „Und wir dachten, wir halten mit unserer Arbeit die Welt zusammen, aber das war nicht unsere, sondern die der anderen“, wie einer der VEBler bemerkt.

Geld ist im Kapitalismus nicht unerheblich, im Staatskapitalismus aber auch, lernen die BRD-Neubürger dann auch schnell. Dem Westen wollen sie es trotzdem zeigen, aus Rache, dass ihnen Job und Republik – zwei zu nichts! – flöten gegangen sind. Mit denen sie auch schon nicht glücklich waren – vom Unglück ins Pech, könnte man sagen. Ob es damit getan ist? Das sanierungsträchtige VEB wird ihnen die Treuhand später noch nachschmeißen.

Sicher auch ein Pluspunkt: Gefühlt 120 Prozent deutscher Kinofilme spielen in Berlin, der hier spielt im Harz auf DDR-Seite. Nicht allzu oft klemmt sich eine Großproduktion in die Provinz, dafür Chapeau. Und das ist die Leistung von „Zwei zu eins“: Der Film ruft mit guter Besetzung ins Gedächtnis, dass die Deutschen auch woanders als in der Hauptstadt wohnen, dass es so etwas wie die DDR überhaupt gab. Lange ist es her. Prädikat: sehenswert.

Gloria!

(IT/CH 2023, Regie: Margherita Vicario)

Befreiung durch Musik
von Wolfgang Nierlin

Im Waisenhaus Sant’Ignazio unweit von Venedig wird die schweigsame Teresa (Galatéa Bellugi) von allen nur „die Stumme“ genannt. Dem autoritären Vorsteher des Musikkollegiums für mittellose Mädchen, bigotter Priester und selbstherrlicher …

Im Waisenhaus Sant’Ignazio unweit von Venedig wird die schweigsame Teresa (Galatéa Bellugi) von allen nur „die Stumme“ genannt. Dem autoritären Vorsteher des Musikkollegiums für mittellose Mädchen, bigotter Priester und selbstherrlicher Kapellmeister in Personalunion, gilt sie gar als zurückgeblieben und – obwohl er es besser weiß – minderwertig. Immer wieder würdigt Maestro Perlina (Paolo Rossi) die junge Frau herab und verpflichtet sie zu niederen Arbeiten. „Du musst stumm bleiben!“, sagt er beschwörend in Kenntnis ihres wahren Schicksals. Dabei ist Teresa musikalisch überaus begabt. Mit den kleineren Kindern musiziert sie mit selbstgebastelten Perkussionsinstrumenten, für die tägliche Haus- und Hofarbeit imaginiert sie Rhythmen und als sie in einem Kellerverlies ein nagelneues Pianoforte entdeckt, bringt sie sich als Autodidaktin heimlich selbst das Klavierspiel bei. Der berühmte Klavierbauer Johann Andreas Stein hat das für die Zeit um 1800 noch ungewöhnliche Instrument eigentlich den musikbegeisterten Chormädchen vermacht, doch der frustrierte Perlina verbannt es in den Keller.

In Margherita Vicarios Debütfilm „Gloria!“, einer ausdrücklichen Hommage an die von der Geschichtsschreibung vergessenen Musikerinnen und Komponistinnen, an ihre künstlerischen Talente und weibliche Kreativität, bilden die Schülerinnen eine eingeschworene Clique. Verbunden durch ihr gemeinsames Singen und Musizieren, formen sie ein Refugium weiblicher Solidarität und Freiheit. Die noch frischen Ideale der Französischen Revolution versprechen einen Aufbruch und lassen die einst ausgesetzten oder verlassenen Mädchen von einem anderen, freieren Leben träumen. Als sie eines Nachts Teresa beim Klavierspielen überraschen, treffen zunächst gegensätzliche musikalische Welten und individuelle Vorbehalte aufeinander. Denn „die Stumme“ kann nicht nur sprechen, sondern sie entlockt dem Instrument außerdem ungewöhnlich moderne Rhythmen und Klänge. Vor allem Lucia (Carlotta Gamba), hochbegabte erste Geigerin, die selbst komponiert, sieht in ihr eine Konkurrentin. Doch die regelmäßigen nächtlichen Treffen entwickeln sich bald zu einem gemeinsamen Projekt: Weil Perlina für den Besuch des in Venedig frisch gekrönten Papstes ein Konzert schreiben soll, den Zenit seiner Schaffenskraft aber überschritten hat, übernehmen seine Schülerinnen heimlich die anspruchsvolle Aufgabe.

Der italienischen Regisseurin, selbst Musikerin, geht es in ihrem schwungvollen, immer etwas über den erdenschweren Tatsachen schwebenden und deshalb eher luftigen Musikfilm weder um historische Genauigkeit noch um Plausibilität. Vielmehr huldigt sie ohne Scheu vor holzschnittartiger Figurenzeichnung und oberflächlicher Melodramatik der idealisierten Lust an der Freiheit. Diese richtet sich dezidiert gegen die Macht der Altvorderen, die von kirchlichen Autoritäten und ihren bürgerlichen Geldgebern verkörpert werden. Mit einem Hang zur Ästhetisierung sowie zum einerseits gerafften, andererseits etwas zu verzetteltem, ungenauem Erzählen platziert Margherita Vicario ihre moderne Botschaft einer den wahren zeitlichen Verhältnissen vorauseilenden Befreiung. Rasant montiert und inhaltlich mit genreüblichen filmischen Mitteln zugespitzt, mündet diese folgerichtig in einen musikalischen Skandal.

Crossing: Auf der Suche nach Tekla

(SE/DK/TR/GE 2024, Regie: Levan Akin)

Austausch und Zusammenhalt
von Wolfgang Nierlin

Eine ältere Frau geht nachdenklich einen Strand der georgischen Hafenstadt Batumi entlang, wo sie schließlich an der Tür einer ärmlichen Behausung anklopft. Darin tobt mal wieder ein heftiger Familienstreit um …

Eine ältere Frau geht nachdenklich einen Strand der georgischen Hafenstadt Batumi entlang, wo sie schließlich an der Tür einer ärmlichen Behausung anklopft. Darin tobt mal wieder ein heftiger Familienstreit um nichts. Der Umgangston ist rau und aggressiv, während im Hintergrund Meeresrauschen zu hören ist. In einer langen, dynamischen Plansequenz sind die Figuren aufeinander bezogen und zugleich zueinander auf Distanz gehalten. Doch Levan Akin kultiviert dieses Stilmittel im Verlauf seines Films „Crossing: Auf der Suche nach Tekla“ nicht weiter. Stattdessen schält er aus der Gruppe eine Zweierbeziehung heraus. Die pensionierte Geschichtslehrerin Lia (Mzia Arabuli), eine resolute, zielstrebige Frau, will den letzten Willen ihrer verstorbenen Schwester erfüllen und sich auf die Suche nach deren verschwundener Tochter Tekla begeben. Die junge Transfrau, die offensichtlich als Prostituierte arbeitet, ist einst vor der Diskriminierung durch ihre Umgebung ins Ausland geflohen. Der ebenfalls junge, etwa ungehobelte Achi (Lucas Kankava) behauptet, sie sei in Istanbul zu finden und drängt sich Lia als Reisebegleiter auf.

Achi will weg aus beengenden und bedrückenden Verhältnissen, doch was ihn umtreibt, bleibt unklar. In Lia wird er im Verlauf der Reise, die eine Suche ist und die vor allem als Vorwand für verschiedene Grenzübertritte fungiert, eine Ersatzmutter finden. Auf ihrer gemeinsamen Busfahrt entlang der Schwarzmeerküste sind sie allerdings zunächst ein ungleiches Paar, das nicht richtig kooperieren oder zueinander finden will. Bei ihrer Ankunft in der türkischen Metropole am Bosporus ändert sich erneut der Erzählstil des Films. Nachdem die Kamera in einer längeren, herausgehobenen Sequenz scheinbar auf der Suche nach Orientierung ein Eigenleben führt, wechselt sie die Perspektive. In parallelen Handlungen treten weitere Figuren auf den Plan, Nebenschauplätze rücken in den Blick, und das zunächst zielgerichtete Roadmovie teilt sich auf in verschiedene Bewegungsrichtungen, die wechselnde Begegnungen hervorbringen. Neben zwei Straßenkindern ist es vor allem die Transaktivistin Evrim (Deniz Dumanli), die für die beiden Suchenden integrativ wirkt.

Levan Akin, ein schwedischer Regisseur georgischer Abstammung, der mit seinem Film „Als wir tanzten“ einen Achtungserfolg feierte, taucht mit seinen Protagonisten und einem dokumentarischen Blick tief ein in den Mikrokosmos unbekannter, kaum gesehener Milieus. Eine faszinierende Fremde und unverhoffte Begegnungen konfrontieren Lia und Achi jeweils mit sich selbst und mit mühsam unterdrückten Vorurteilen. Indem Akin das Neben- und Ineinander von Kulturen, Sprachen und Stilen als lebendigen Austausch zeigt, befördert er auch das Verständnis und den Zusammenhalt seiner Figuren. Er habe eine „Hommage an Empathie und Solidarität“ gestalten wollen, hat der Filmemacher dazu gesagt. Seine Außenseiter-Helden sind deshalb freundlich und zugewandt, auch wenn unterschwellig die Konflikte brodeln.

Während der Film im Rahmen einer einfachen Geschichte die Bewegung und – auch im übertragenen Sinne – das Unterwegssein zu seinem erzählerischen Prinzip erhebt, bleiben Figurenzeichnung und Hintergründe leider etwas blass. Am Schluss wechselt „Crossing“ dann in den Konjunktiv der Möglichkeitsform, wo sich Zufall und Wunschvorstellung begegnen. Vielleicht ist das eine erzählerische Verlegenheitslösung; die Suche als Handlungsprinzip und als Kraft der Veränderung erhält hier aber eine deutlich lebenspraktische, auf Offenheit und Verständigung zielende Dimension.

Shahid

(DE 2024, Regie: Narges Kalhor)

Den Namen ändern
von Jürgen Kiontke

Das „Shahid“ im Namen der iranischen Regisseurin Narges Shahid Kalhor steht für „Märtyrer“. Der Namenszusatz stammt aus Zeiten der vorletzten Jahrhundertwende, Kalhors Urgroßvater galt als Kriegsheld; einer, der sich im …

Das „Shahid“ im Namen der iranischen Regisseurin Narges Shahid Kalhor steht für „Märtyrer“. Der Namenszusatz stammt aus Zeiten der vorletzten Jahrhundertwende, Kalhors Urgroßvater galt als Kriegsheld; einer, der sich im Kampf geopfert hat. Doch Kalhor will mit so einer Bürde nicht länger leben. Die junge Frau möchte ihn loswerden. Denn ein Märtyrer ist auch immer ein Toter, findet sie.

Sie lebt und arbeitet in Deutschland, wozu so ein martialischer Name. Um ihn aus den Registern, Ausweisen und sonstigen Papieren streichen zu lassen, startet sie ihre Reise durch die deutsche und iranische Verwaltung. Denn sie hat die Staatsbürgerschaften beider Länder, und die iranische kann man schon mal nicht ablegen. 2009 hat sie in Deutschland politisches Asyl beantragt und gefunden. Eine Namensänderung muss nun in allen Unterlagen erfolgen.

Damit dieses Unterfangen an die Öffentlichkeit kommt, begleitet sie sich quasi selbst in ihrem Film „Shahid“. Ihre Rolle auf der Reise durch die Bürokratie wird von der Schauspielerin Baharak Abdolifard übernommen. Alsbald stellen sich surreale Momente ein. Der Urgroßvater erscheint ihr inmitten einer Tänzergruppe, will ihr das Vorhaben ausreden. Er hat gute Gründe, immerhin soll er als Kämpfer für die Revolution gestorben sein. Das will er auch weiterhin gewürdigt wissen. Das bayerische Kreisverwaltungsreferat schickt sie zum Psychologen, der auch mit seinem Namen kämpft: Der Mann heißt Rippentrop, genau wie der Außenminister im Nationalsozialismus.

Politisches Drama wie verzweifelt-spaßige Komödie ist dieser Film, der längst Vergangenes mit der Gegenwart verbindet und in kein gängiges Format passt: Ihr Film fordere heraus, „nicht nur im Erscheinungsbild, sondern auch in der Erzählung. Er strebe danach, neue Narrative auf die Leinwand zu bringen“. Das „Cinemigrante“ – das Kino aller Gesichter und ihrer Geschichten in der westlichen Welt – und die Weiblichkeit fehlten heutzutage immer noch sehr in der Filmindustrie, so Kalhor. Nun, hier ist zumindest eine dieser vermissten Sichtweisen: äußert quirlig mit doppeltem Boden, autofiktional.

Diese Kritik erschien zuerst am 01.08.2024 auf: links-bewegt.de

Sonnenplätze

(DE 2024, Regie: Aaron Arens)

Unbehaustes Leben
von Wolfgang Nierlin

Ein Ehemann und Familienvater wird von seiner Ehefrau mit Ach und Krach vor die Tür gesetzt. Er schmeißt einen Stapel Bücher in den Kofferraum seines Autos und wird dort von …

Ein Ehemann und Familienvater wird von seiner Ehefrau mit Ach und Krach vor die Tür gesetzt. Er schmeißt einen Stapel Bücher in den Kofferraum seines Autos und wird dort von seiner kleinen Tochter verabschiedet, die sich auf dem Rücksitz versteckt hat. Später erfahren wir, dass es sich bei ihm um den Schriftsteller mit dem Pseudonym Jo Maibaum (Niels Bormann) handelt, der einst mit seinem Buch „Aus der Sonne“ großen Erfolg feierte und jetzt von seinem allmählich verblassenden Ruhm zehrt. In Aaron Arens‘ mit beißender Ironie erzählter Gesellschaftssatire „Sonnenplätze“ dienen Zitate aus diesem Werk als Überschriften für die einzelnen Kapitel. „An meine Kinder: Die Welt wartet auf euch“, ist etwa das erste betitelt. Nach einem Zeitsprung von 15 Jahren sitzt Maibaums 27-jährige Tochter Samuela (Julia Windischbauer), genannt „Sam“, im kreativen Chaos einer zugemüllten Wohnung und hat soeben das Manuskript ihres Debütromans „Verbrannte Erde“ beendet, in dem sie von ihrer dysfunktionalen Familie erzählt. Darüber hat sie die Beziehung zu ihrem Freund Olli vergessen und wird von diesem prompt ebenfalls aus der Wohnung geschmissen.

Sam scheint die Geschichte ihres Vaters zu wiederholen und zu spiegeln. Doch die Lektorin des „Ingenium Verlags“ hält die hoffnungsvolle Jungautorin auf Abstand; in ihrem Elternhaus, wohin sie mangels Alternativen zunächst geht, dominieren mittlerweile neue Konstellationen und Strukturen. Mutter Sybille (Juliane Kühler), die ebenfalls in der Verlagsbranche tätig ist, hat sich mit dem sehr viel jüngeren Möbeldesigner Marc (Jeremy Mockridge) zusammengetan; und Sams jüngerer Bruder Frederick (Jeremias Meyer), genannt „Fritzi“, täuscht nur noch vor, für die angestrebte Pianistenlaufbahn zu üben. In diesem bildungsbürgerlichen Wohlstandmilieu wirken die verwöhnten, privilegiert aufgewachsenen Kinder als Gescheiterte, die die Erwartungen ihrer Eltern offensichtlich nicht erfüllen können und die orientierungslos in einem zunehmend unbehausten Leben stehen. Da ergreifen die beiden auf der Suche nach einem Refugium die Flucht, um heimlich im Ferienhaus der Familie auf der Kanaren-Insel Lanzarote einzuchecken. Denn, so lautet eine weitere Kapitelüberschrift: „Man muss den Ort finden, von dem man nicht wegläuft.“ Doch zu ihrer Überraschung hat sich dort bereits ihr Vater eingerichtet, um seine Memoiren zu schreiben.

In der Folge werden die Einöde der staubigen Vulkaninsel und das zum Verkauf stehende Familiendomizil, das mit Kindheitserinnerungen aufgeladen ist, zu gefährdeten Orten, die alles Idyllische und Unschuldige längst verloren haben und nurmehr als letzter Unterschlupf für prekäre, vom Scheitern bedrohte Künstlerexistenzen fungieren: „Plötzlich waren wir zu dritt und die Insel verloren.“ Mit dem überraschenden Eintreffen von Sybille und Marc wird das Anwesen schließlich zum Austragungsort heftiger Familienkämpfe. Mit ebenso witzigen wie schneidenden Dialogen sezieren Aaron Arens und sein Drehbuchpartner Lukas Loose eine Familie von Ego-Shootern, die den einstigen Zusammenhalt verloren haben und in einem permanenten Gegeneinander gefangen sind. Dabei wird besonders am übermächtigen Image des schillernden Vaters gekratzt, der überaus eloquent und geistreich zwischen Frust und Überheblichkeit changiert. Als nachdenkliche Komödie verbindet der Film in unterhaltsamer Form die Entzauberung väterlicher Autorität mit der Parodie eines Milieus sowie mit einer von einem Abnabelungsprozess angetriebenen Coming-of-Age-Geschichte, deren Ende trotz gegenteiliger Behauptung einen Neubeginn verheißt.

Kinds of Kindness

(GB/IE 2024, Regie: Yorgos Lanthimos)

Abhängigkeitsregime
von Wolfgang Nierlin

Seit seinen Anfängen in der retrospektiv so bezeichneten Greek Weird Wave gestaltet Yorgos Lanthimos Parabeln über Macht und Unterwerfung, Dominanz und Abhängigkeit. Um sich in ihren prinzipiell sadomasochistischen Beziehungen ihre …

Seit seinen Anfängen in der retrospektiv so bezeichneten Greek Weird Wave gestaltet Yorgos Lanthimos Parabeln über Macht und Unterwerfung, Dominanz und Abhängigkeit. Um sich in ihren prinzipiell sadomasochistischen Beziehungen ihre Liebe zu verdienen, gar Erlösung zu finden, müssen sich die Figuren bis zur Selbstaufgabe erniedrigen und verletzen. Die totale Hörigkeit innerhalb eines Herrschaftsregimes schließt dabei auch den Verzicht auf persönliche Freiheit ein. Dafür seziert der griechische Regisseur menschliche Verhaltensweisen und psychische Zustände, indem er mit Ironie und unverhohlener Lust an Grausamkeiten Beziehungsmuster offenlegt. Dabei berührt er nicht nur Tabus, sondern er blickt mit gezielt gesetzten Schockmomenten auf verstörende Weise in menschliche Abgründe. Dicht verfugt und sehr kalkuliert aufs Wesentliche reduziert, ähneln Lanthimos‘ unterkühlte, auf den ersten Blick rätselhafte Versuchsanordnungen mit ihren absurden Dialogen selbst einer Art filmischem Regime, das die Rezeption nicht nur lenkt und gängelt, sondern auch manipuliert und einem gewissen Zwang aussetzt. Informationen werden in portionierten Dosen verabreicht, Zusammenhänge werden erst nach und nach deutlich und die so erzeugte Spannung sorgt für maximales Unbehagen.

In seinem neuen Film „Kinds of Kindness“ verbindet Yorgos Lanthimos drei Episoden, die sich eher lose Themen, Motive und die Darsteller/innen Emma Stone, Jesse Plemons, Willem Dafoe und Margaret Qualley teilen und in ihren Überschriften um das mysteriöse Namenskürzel „R. M. F.“ kreisen. Zwischen Distanz und extremer Nähe inszeniert er dabei eine Dialektik der Perspektiven, die auf scheinbare Offenheit und Übersichtlichkeit immer eine unangenehme Intimität folgen lässt. Herrschaftliche, kalte Anwesen und Bürokomplexe der Macht wechseln sich dabei ab mit Kliniken und einem Leichenschauhaus. Die Untersicht auf Größe macht den subjektiven Blick des Individuums umso kleiner und geringer.

Robert aus der ersten, „Der Tod von R. M. F.“ betitelten Geschichte ist ein solcher Abhängiger. Längst entscheidet sein Chef Raymond mit detaillierten Plänen über Roberts Leben. Essen, Sex und selbst die Lektüre werden vorgegeben, kontrolliert und überwacht. Im Gegenzug erhält der Hörige bizarre Geschenke, vor allem aber Liebe. Diese wird ihm allerdings entzogen, als er einen Fehler macht beziehungsweise sich weigert, einen ethisch höchst fragwürdigen Auftrag auszuführen. Weil der so gedemütigte, degradierte und ausgestoßene Sklave die darauffolgende soziale Isolation nicht aushält, ist er schließlich bereit, durch Reue und Erniedrigung die Liebe seines Gebieters wiederzugewinnen.

Auch in den beiden anderen Episoden stehen Selbstopferung und Liebesbedürftigkeit, Ausschluss und die Sehnsucht nach Integration in einer direkten Beziehung. So trauert der Polizist Daniel in „R. M. F. fliegt“ um seine verunglückte Frau Liz und verfällt dabei in einen zunehmenden Wahn. Als die vermeintlich Tote schließlich leicht verändert zurückkehrt, fühlt sich Daniel betrogen und fordert in seinem Streben nach dem verlorenen Ideal extreme Liebesbeweise. Auch im dritten Teil „R. M. F. isst“, der von den Erlösungsphantasien einer merkwürdigen, rigide geführten Reinheitssekte handelt, geht es um den Versuch, Ungehorsam und Ausschluss aus der Gemeinschaft zu überwinden, um so eine neue alte Ordnung herzustellen. Dafür findet die indoktrinierte Heldin sogar ein opferungswilliges Medium, das schließlich einen Toten, nämlich besage Nebenfigur R. M. F., zum Leben erweckt.

Liebesbriefe aus Nizza

(FR 2024, Regie: Ivan Calbérac)

Verletzter Löwe
von Wolfgang Nierlin

Fein säuberlich und ordentlich aufgereiht, stehen und thronen in Reih und Glied allerlei Militär-Devotionalien und patriotischer Kitsch auf den Regalen und Sideboards des geräumigen Wohnzimmers. François (André Dussollier), ein robuster …

Fein säuberlich und ordentlich aufgereiht, stehen und thronen in Reih und Glied allerlei Militär-Devotionalien und patriotischer Kitsch auf den Regalen und Sideboards des geräumigen Wohnzimmers. François (André Dussollier), ein robuster französischer Offizier im Ruhestand, hat die Sammlung gewissenhaft zusammengetragen. Zu Beginn von Ivan Calbéracs Komödie „Liebesbriefe aus Nizza“ („N’avoue jamais“) feiert er im Garten seines idyllischen Anwesens den Geburtstag seiner Frau Annie (Sabine Azéma). Zur Melodie der Marseillaise singt die Familie als Geburtstagsständchen Selbstgedichtetes von François. Darin ist, militärsprachlich formuliert, vom Schutz der ehelichen Verbindung die Rede. François ist eben durch und durch ein disziplinierter, ordnungsliebender Soldat, für den Loyalität zum Vaterland, der Zusammenhalt in der Familie und eheliche Treue alles bedeuten.

In der auf markanten Kontrasten fußenden Anlage des Films, der mit präzisem Dialogwitz und teils slapstickhafter Situationskomik kurzweilig unterhält, bekommt dieses rigide Lebenskonzept jedoch bald Risse. Nach Abreise der Gäste stößt François beim Aufräumen des Dachbodens auf eine Schachtel mit Liebesbriefen, die mittlerweile vierzig Jahre alt sind. Ein gewisser Boris hat das schwärmerisch-frivole Bettgeflüster von der „weißglühenden Brust“ und dem „explodierenden Venusdreieck“ einst an die damals schon verheiratete 29-jährige Annie gerichtet. Zur Rede gestellt, nimmt die Ehebrecherin Verjährung für sich in Anspruch, während der Gehörnte tief getroffen und verletzt reagiert. Annie habe „das Ehebett besudelt“ und „die heilige Ehe“ verraten, was an der „Madame Bovary“-Leserin allerdings zunächst abprallt. Doch dann droht François mit Scheidung. Außerdem will der prinzipientreue Krieger verspätet Rache nehmen und dem einstigen Kontrahenten „die Fresse polieren“. Schließlich sei „ein verletzter Löwe immer grausam.“

Und so schaltet der Betrogene in den „Kommandomodus“ und fährt mit seiner untreuen Frau nach Nizza, um vor der malerischen Mittelmeerkulisse Boris (Thierry Lhermitte) aufzuspüren. Dass der Anhänger der Polyamorie Junggeselle geblieben ist, eine musische Ader hat und als Karatelehrer außerdem in körperlich ziemlich guter Form ist, setzt nicht nur weitere Kontraste, sondern verkompliziert auch François‘ Rachepläne. Schließlich hat auch er eine geheime, bislang verschwiegene Vergangenheit, die im Verbund mit anderen Familiengeheimnissen allmählich ans Licht kommt.

Ivan Calbérac spiegelt die daraus resultierenden Konflikte der Figuren um Eifersucht und Treue, Identität und sexuelle Orientierung wechselseitig aneinander. Er spricht leichthändig über schmerzliche Lebensschicksale, autoritäre Prägungen, aber auch über die Familie als Hort von Sicherheit und Stabilität. Schließlich fragt der französische Regisseur, der auch als Autor arbeitet, ob die Zeit wirklich Wunden heilen kann. Die der Komödie geschuldete Schlusspointe setzt diesbezüglich zwar einen erfrischend augenzwinkernden Akzent, schwächt aber zugleich die ernsten Themen des Films, indem sie die Nöte des Protagonisten (ein zweites Mal) verrät.

The Dead don’t hurt

(USA/MX 2023, Regie: Viggo Mortensen)

Einschneidende Grenzverschiebungen
von Wolfgang Nierlin

Ein mittelalterlicher Ritter in schwerer Rüstung reitet allein durch einen Wald. Die schwerkranke Vivienne Le Coudy (Vicky Krieps) phantasiert dieses Bild im Fiebertraum auf ihrem Sterbebett. Später erfahren wir durch …

Ein mittelalterlicher Ritter in schwerer Rüstung reitet allein durch einen Wald. Die schwerkranke Vivienne Le Coudy (Vicky Krieps) phantasiert dieses Bild im Fiebertraum auf ihrem Sterbebett. Später erfahren wir durch einen Rückblick in ihre Kindheit, dass ihr Vater einst die Familie verlassen hat, um in den Krieg zu ziehen, und dass ihre Mutter der kleinen Vivienne die Geschichte der mutigen und starken Jeanne d’Arc vorlas. Mit ihr wird sich die selbstbewusste und für ihre Zeit ungewöhnlich unabhängige Frau zeitlebens identifizieren. Um bei sich selbst anzukommen, hat Vivienne auf unkonventionelle Art und gegen gesellschaftliche Erwartungen immer wieder Grenzen verschoben. Als der trauernde Kriegsveteran Holger Olsen (Viggo Mortensen) seine Lebensgefährtin beerdigt, ist das eine einschneidende Veränderung und der Aufbruch in ein neues Leben. Er quittiert seinen Dienst als schweigsamer Sheriff einer korrupten Westernstadt und bricht zusammen mit seinem kleinen Stiefsohn Vincent (Atlas Green) auf Richtung Westen und bis ans Meer.

Das sind die groben Eckdaten einer tragischen Liebesgeschichte, die der Schauspieler und vielseitige Künstler Viggo Mortensen in seiner zweiten Regiearbeit „The dead don’t hurt“ ziemlich verschachtelt und nicht linear erzählt. Vor allem der Anfang des ambitionierten, vielfach Genreversatzstücke aufrufenden Spätwesterns fordert mit seinen räumlichen und zeitlichen Sprüngen sowie einer elliptischen Erzählweise die volle Aufmerksamkeit des Zuschauers. Denn parallel und im Wechsel zu Viviennes Geschichte zeichnet Mortensen das wenig schmeichelhafte Porträt einer korrupten amerikanischen Kleinstadt Mitte des 19. Jahrhunderts, die der berechnende Bürgermeister und ein skrupelloser Großgrundbesitzer unter sich aufteilen. Eine besonders unwürdige Rolle spielt dabei dessen brutaler Sohn Weston Jeffries (Solly McLeod), ein gesetz- und gewissenloser Machtmensch, der seine Umgebung mit Gewalt terrorisiert und dabei über Leichen geht. Als an seiner Stelle ein Unschuldiger in einer absurden Gerichtsverhandlung zum Tode verurteilt wird, klagt eine unerschrockene Bürgerin: „Macht bedeutet nicht Recht.“

Viggo Mortensen thematisiert hier einmal mehr den nach wie vor aktuellen Konflikt zwischen gesetzlicher Ordnung und Machtmissbrauch, zwischen Zivilisation und Anarchie. Willkür und Gewalt dringen schließlich auch in jene friedliche und kultivierte Idylle ein, die sich die beiden Seelenverwandten Vivienne und Olsen abseits der Stadt auf einem kargen Stück Land geschaffen haben. Denn dann folgt der schreibende Zimmermann dem Aufruf, auf Seiten der Unionisten am Sezessionskrieg teilzunehmen. Er bricht auf und lässt seine Frau allein und schutzlos zurück. Damit wiederholt er nicht nur seine eigene Geschichte, sondern auch diejenige von Viviennes Vater. Insofern handelt Viggo Mortensens ruhig und langsam erzählter, immer wieder beeindruckend fotografierter „feministischer Western“ in seiner archaischen Motivik auch von Männern, die aufbrechen müssen, um das Recht zu verteidigen; und von Heimkehrern, denen vergeben wird und die durch ihre Rache hindurch eine schmerzliche Bewusstseinsveränderung erfahren.

Verbrannte Erde

(DE 2024, Regie: Thomas Arslan)

Welt im Dunkeln
von Wolfgang Nierlin

Die Autofahrt durch Essen führt von den gesichtslosen Randbezirken in ein vornehmes Villenviertel. Dort bricht Trojan (Misel Matičević) bei einsetzender Dunkelheit in einen Bungalow ein, um einen Koffer mit wertvollen …

Die Autofahrt durch Essen führt von den gesichtslosen Randbezirken in ein vornehmes Villenviertel. Dort bricht Trojan (Misel Matičević) bei einsetzender Dunkelheit in einen Bungalow ein, um einen Koffer mit wertvollen Armbanduhren zu stehlen. Trojan ist ein professioneller, gut vorbereiteter Krimineller, der alle Bewegungsabläufe verinnerlicht hat und dabei ruhig, konzentriert und präzise arbeitet. Der schweigsame Einzelgänger mit dem verschlossenen Blick, der sich keine Gefühle erlaubt, handelt zugleich nach erprobten Regeln und unumstößlichen Prinzipien. Im Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Instinkt sind für ihn Vorsicht und Misstrauen oberste Gebote. Das zahlt sich aus, als er anderntags auf einem Parkplatz bei seinem Auftraggeber die Beute gegen Bargeld eintauschen will und dabei gelinkt und betrogen wird. Die Zeiten haben sich geändert, heißt es einmal; und mit ihnen offensichtlich auch die Moral und Ehrbegriffe der Verbrecher. Keinem ist zu trauen, Loyalität und Freundschaft gelten nicht mehr viel.

Mit der atmosphärisch stimmungsvollen und elliptisch gebauten Exposition zu seinem neuen Film „Verbrannte Erde“, dem nach „Im Schatten“ (2010) zweiten Teil der sogenannten Trojan-Trilogie, etabliert Thomas Arslan in verdichteter Form die Blaupause für das folgende Geschehen. Abgebrannt kehrt Trojan, der ohne festen Wohnsitz lebt, nach jahrelanger Abwesenheit in die Hauptstadt Berlin zurück, um sich mittels alter Kontakte in einen neuen Job vermitteln zu lassen. Aber nicht nur die Stadt mit ihren zersiedelten, grauen Ansichten und unwirtlichen Nicht-Orten – von Reinhold Vorschneider ins fahl beleuchtete Cinemascope-Bild gesetzt – hat sich verändert, sondern auch die Arbeitsbedingungen im gefährlichen Metier. Trojan soll in einem bereits fest verabredeten Team zusammen mit seinem alten Kumpel Luca (Tim Seyfi) sowie der Fluchtfahrerin Diana (Marie Leuenberger) und dem Computerspezialisten Chris (Bilge Bingül) das kleinformatige, millionenschwere Gemälde „Frau vor der untergehenden Sonne“ von Caspar David Friedrich aus dem Zwischenlager eines Museums stehlen. Vorbereitung und minutiöse Durchführung des Coups gelingen ohne Probleme. Doch dann will der gewissenlose Auftraggeber nicht zahlen und setzt seinen skrupellosen Killer Victor (Alexander Fehling) auf die Diebe an.

Ruhig und konzentriert, schnörkellos und kühl zeigt Thomas Arslan eine in sich geschlossene Welt im Dunkeln. Ohne Erklärungen, aufs Wesentliche reduziert und mit knappen Dialogen erzählt er vor allem in Bildern, die mit den wechselnden Stimmungen der Schauplätze und der physischen Präsenz der Figuren aufgeladen sind. Als gäbe es gute und böse Verbrecher geraten Trojan und seine Clique plötzlich unter Druck und werden zu Gejagten. Ihr gewalttätiger Gegenspieler Victor, der weder vor Verrat noch sadistischer Erpressung zurückschreckt, wird zum unheimlichen Phantom, das sich als kompromissloser Jäger immer mehr seinen mörderischen Zielen nähert. Die unsichtbare, aber sehr deutliche und greifbare Bedrohung und die kalte, mechanische Logik der verbrecherischen Interaktionen, zu denen nicht zuletzt auch rasante Verfolgungsjagden durch ein nächtliches Berlin gehören, entwickeln dabei eine enorme Spannung. Am Ende muss Trojan erneut die Stadt verlassen, um unterzutauchen.

Landshaft

(DE/AZ 2023, Regie: Daniel Kötter)

Unsichtbare Grenze
von Wolfgang Nierlin

Ein ramponierter Lada fährt auf holprigen, teils unbefestigten Straßen durch das umkämpfte Grenzgebiet zwischen Armenien und Aserbaidschan. Vom Sewansee aus führt der Weg bis zur Goldmine von Sotk durch die …

Ein ramponierter Lada fährt auf holprigen, teils unbefestigten Straßen durch das umkämpfte Grenzgebiet zwischen Armenien und Aserbaidschan. Vom Sewansee aus führt der Weg bis zur Goldmine von Sotk durch die weite, karge Graslandschaft einer wolkenverhangenen Hochebene, die fast farblos ist und die von schneebedeckten Bergen gesäumt wird. „Diese Landschaft ist bergig und kalt“, sagt eine Stimme aus dem Off. Nur selten zeigen sich in dieser unwirtlichen Gegend Menschen und Tiere. Ein berittener Hirte treibt seine Kuhherde auf die Weide; später ziehen Schafe vorbei. Irgendwo im öden Nirgendwo tauchen marode, trostlose Wohnkasernen auf. Einmal versammeln sich Menschen für eine große Kartoffelernte. Und immer ist es die schier grenzenlose Landschaft, die das Bild dominiert und die trotz allem Heimat ist. In Daniel Kötters nach der armenischen Schreibweise betitelten Film „Landshaft“ sind in ihr die Geschichten von Krieg und Vertreibung, aber auch die Erfahrungen eines von Arbeit, Familie und Freundschaft geprägten Lebens aufbewahrt.

Der Filmemacher und Bildgestalter Daniel Kötter filmt sein Sujet in langen, kontemplativen Einstellungen und fast immer aus großer Distanz, als läge das thematische Zentrum an der Peripherie. Nur selten sind Menschen aus der Nähe zu sehen und kaum je ihre Gesichter. Das wiederum korrespondiert mit der Behandlung von Stimmen und Dialogen, die konsequent ins Off verlagert sind und nicht beziehungsweise nur manchmal zugeordnet werden können. Dadurch entsteht eine permanente Spannung zwischen Bild und Ton und ein Austausch zwischen ihnen, der nicht von vordergründigen oder gar gelenkten Interessen bestimmt wird. Zwar filmt Kötter ausschließlich auf armenischem Gebiet, doch gerade durch die Off-Erzählungen schließt das auch die aserbaidschanische Perspektive mit ein.

Visuelle Zeichen des langwierigen Konflikts, der vor allem nach dem Zerfall der Sowjetunion aufflammte und im vergangenen Herbst in der Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach gipfelte, sind dabei ebenso wenig zu sehen wie die letztlich unsichtbaren Grenzen. Vom friedlichen Zusammenleben der beiden Völker in früheren Zeiten und von jetzt veränderten, weil tendenziell bedrohten Lebensumständen ist die Rede, aber auch von den für die Kriegsführung ungünstigen topographischen Bedingungen. Immer wieder wird die Landschaft – auch in wirtschaftlicher Hinsicht – zum entscheidenden Faktor. Einmal verharrt der Kamerablick im Grenzgebiet auf einem steinernen Gräberfeld. Nur die Schafe kümmern sich nicht um Grenzverläufe oder um die Frage, ob es besser ist, zu gehen oder zu bleiben. Am Schluss sieht man sie aufgeschreckt blökend, hektisch und wie verwirrt durcheinander laufen. Man könnte dies als Metapher für die Orientierungslosigkeit und den Streit in einem schwelenden Konflikt verstehen.

Ein kleines Stück vom Kuchen

(IR/FR/SE/DE 2024, Regie: Maryam Moghadam, Behtash Sanaeeha)

Eine politische Liebesgeschichte
von Jürgen Kiontke

Mahin ist nun schon 70 Jahre alt, die Seniorin lebt seit dem Tod ihres Mannes und der Ausreise ihrer Tochter nach Europa allein in Irans Hauptstadt Teheran. Nun fragt sie …

Mahin ist nun schon 70 Jahre alt, die Seniorin lebt seit dem Tod ihres Mannes und der Ausreise ihrer Tochter nach Europa allein in Irans Hauptstadt Teheran. Nun fragt sie sich: Kann mir das Leben noch etwas bieten? Eine neue Partnerschaft? Der Nachmittagsklatsch unter Freundinnen gibt den Anstoß, sich auf die Suche nach einem geeigneten Mann zu begeben. Der lässt nicht lange auf sich warten. Esmail kreuzt ihren Weg, Taxifahrer und Überlebender des iranisch-irakischen Krieges. Mit dem sanften Mann entwickelt sich eine Beziehung voller romantischer Augenblicke.

In der iranischen Gesellschaft, lässt uns die Handlung des Films „Ein kleines Stück vom Kuchen“ wissen, könnte das bereits an Akzeptanzgrenzen stoßen. Doch Mahin lässt sich nicht beirren. Dabei wird bald deutlich, in welcher Umgebung sie sich bewegt. Oft genug sitzt auch bei ihr der Schleier nicht ordnungsgemäß bis gar nicht, was die Aufmerksamkeit der Religionspolizei erregt, mitsamt vorübergehender Festnahme. Ihre Männerbesuche? Werden von der Nachbarin umgehend weitergetragen.

Der Druck, der auf Frauen im Iran lastet, fließt hier immer wieder wie beiläufig in die Handlung ein. Kunstvoll verquickt das Regie-Duo Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha die Liebesgeschichte mit den gesellschaftlichen Zuständen. Sie leisten, was man mit Kino leisten kann. So wirkt der Film auch als Kommentar zu den Protesten mit dem Slogan „Frauen, Leben, Freiheit“. Auch die Schauspielerin und Aktivistin Lily Farhadpour, die Mahin spielt, lernte iranische Gefängnisse schon von innen kennen. Und: Dem Regie-Duo wurde die Ausreise zur Präsentation des Films auf der Berlinale von den Behörden untersagt. Ihr aktueller Film ist sehr sehenswert.

Hier gibt es eine weitere Kritik zum Film.

Diese Kritik erschien zuerst am 08.07.2024 auf: links-bewegt.de

Averroès & Rosa Parks

(FR 2024, Regie: Nicolas Philibert)

Der verwundete Mensch
von Wolfgang Nierlin

Aus der Vogelperspektive gleitet die Kamera über die Gebäude der psychiatrischen Klinik Esquirol in Saint-Maurice bei Paris. Das frühere Hospitz zu Charenton im Marne-Tal, das umgeben ist vom Bois de …

Aus der Vogelperspektive gleitet die Kamera über die Gebäude der psychiatrischen Klinik Esquirol in Saint-Maurice bei Paris. Das frühere Hospitz zu Charenton im Marne-Tal, das umgeben ist vom Bois de Vincennes, gehört zu einem Klinik-Verbund, in den auch das am Seine-Ufer stationierte Therapie-Schiff Adamant integriert ist. Mit dieser Tageseinrichtung hat sich der renommierte französische Dokumentarfilmer Nicolas Philibert in seinem preisgekrönten Film (Goldener Bär der Berlinale) „Auf der Adamant“ beschäftigt. Auf diesen folgt nun mit „Averroès & Rosa Parks“ der zweite Teil einer Trilogie über psychiatrische Einrichtungen, wobei sich der Titel auf die beiden nach dem berühmten andalusischen Philosophen und Arzt sowie der US-amerikanischen Bürgerrechtlerin benannten Abteilungen bezieht. Hier filmt Nicolas Philibert als teilnehmender Beobachter sehr ausführlich und konzentriert Therapiegespräche und Gruppensitzungen, die nur durch wenige Bilder von Fluren, Fenstern oder Gartenansichten unterbrochen werden.

Diese Konzentration auf das Gespräch ist Philiberts Interesse am verletzlichen und leidenden Menschen geschuldet, wie es sich ausdrückt in seinem Antlitz, seinen Worten, Gesten und Gefühlen. Die geschützte, von einfühlsamen und zugewandten Therapeutinnen und Therapeuten gelenkte und begleitete Therapie-Situation schafft dafür einen intimen Rahmen. In ihrem müden und sedierten oder aber aufgeregt manischen Sprechen wird die Auskunft zur Fiktion, vermischen sich unablässig und nur schwer entwirrbar Wahn und Wirklichkeit. Auf beunruhigende Weise zeigen sich darin nicht nur tiefe individuelle Verletzungen und die prinzipielle Verwundbarkeit des Menschen, sondern auch der schmale Grat zwischen Normalität und Abweichung, seelischer Gesundheit und psychischer Störung. Im Gespräch treffen die Härte menschlicher Schicksale, die im Übrigen fragmentarisch bleiben und durch Erschließung nurmehr zu erahnen sind, auf Versuche, die betroffenen Patienten gesellschaftlich zu reintegrieren.

Wie soll ausgerechnet ein psychiatrisches Krankenhaus, das zu Beginn beim Anblick der gleichförmigen Architektur von einem Bewohner als „Gefängnis“ bezeichnet wird, seinen Insassen helfen können, eine neuerliche Verbindung zur Welt herzustellen, um ins „normale“ Leben zurückzukehren? Wo finden Benachteiligte, vom sozialen Miteinander ausgeschlossene Menschen in der Gesellschaft einen Platz? Und was bedeutet Fürsorge angesichts eines zunehmend prekärer werdenden, von wirtschaftlichen Bedingungen und Interessen gelenkten Gesundheitssystems?

Diese Fragen bilden den Hintergrund, vor dem die Patienten und Patientinnen über ihre Ängste, Sorgen und Traurigkeit, über Verfolgungswahn, Selbstmordgedanken und schizoide Zustände sprechen. Einer, der oft Dinge äußert, die er nicht so meint, sagt: „Ich weiß nicht, was mein Weg ist.“ Ein anderer, der sich innerlich leer fühlt, bleibt schweigsam und findet keine Antworten. Inneren Frieden zu erfahren, scheint für sie unmöglich zu sein. Wieder ein anderer kritisiert die systemische Praxis: „Wir ersticken, wenn wir ständig Krieg gegen uns selbst führen.“ Für Nicolas Philibert fungiert die Psychiatrie als Spiegelbild für den Zustand unserer Gesellschaft und als Vergrößerungsglas für unsere Menschlichkeit und Verletzbarkeit.

Déserts – Für eine Handvoll Dirham

(FR/BE/DE/MA/QA 2024, Regie: Faouzi Bensaïdi)

Einöde der Armut
von Wolfgang Nierlin

Die beiden Männer wirken verloren. Inmitten einer weiten Einöde aus Sand und Staub, Geröll und schroffen Felsplateaus suchen sie nach dem richtigen Weg. Über eine Landkarte gebeugt, sind sich die …

Die beiden Männer wirken verloren. Inmitten einer weiten Einöde aus Sand und Staub, Geröll und schroffen Felsplateaus suchen sie nach dem richtigen Weg. Über eine Landkarte gebeugt, sind sich die beiden ungleichen Charaktere mal wieder uneins. Der genügsame, stoische Hamid (Abdelhadi Taleb) und der unzufriedene, immer wieder aufbrausende Mehdi (Fehd Benchemsi), die sich meistens anschweigen, bilden ein gegensätzliches Gespann. Als Krediteintreiber einer Inkassofirma, die in Casablanca ansässig ist, suchen sie im ländlichen Süden säumige Schuldner auf, die so arm sind, dass sie allenfalls mit Naturalien bezahlen können. Ein Teppich, eine Ziege oder ein paar Gramm Phosphor sind ihre Ausbeute. Dafür begeben sie sich an grotesk entlegene Orte, wo die Menschen oft ohne Habe und Mittel leben. Ihren mäßigen Erfolg und die „schlechten Zahlen“ werden die beiden Agenten später gegenüber ihrer fordernden Chefin damit rechtfertigen, dass sie es mit „aussichtslosen Fällen“ zu tun haben.

Dabei haben Mehdi und Hamid selbst Geldsorgen und familiäre Probleme. Während der eine von seiner Frau verlassen wurde, buhlt der andere vergeblich um seine Verlobte. Ihr offizieller Status und ihr reales Dasein stehen in einem deutlichen Kontrast und spiegeln die sozialen Verhältnisse von weiten Teilen der Gesellschaft. Wenn die beiden Anzugträger mit ihrem klapprigen Renault in unwegsamem Gelände unterwegs sind oder der Wind die Landkarte symbolträchtig davonträgt, ist das Tragikomische immer auch Ausdruck einer allgemeinen Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. In langen, oft aus der Distanz gedrehten Szenen gestaltet der marokkanische Regisseur Faouzi Bensaïdi in seinem zunächst episodisch angelegten Film „Déserts – Für eine Handvoll Dirham“ eine Reihe absurder Begebenheiten und skurriler Situationen, die ebenso humorvoll wie melancholisch eine Welt der Armut in Zeiten des Wandels zeigen. Doch dann sagt Bensaïdi selbst in der Rolle eines Ladenbesitzers, dessen Geschäft gerade gepfändet wird: „Nicht die Welt hat sich verändert, sondern wir Menschen.“

Die Helden seines lakonischen, elliptisch angelegten Films sind Verlierer, die in der weiten, leeren Landschaft förmlich verloren gehen. Mit Anklängen an die Filme von Aki Kaurismäki findet Faouzi Bensaïdi immer wieder visuell beeindruckende, vor allem aber sprechende Schauplätze. Die Tonlage und Erzählweise des Films ändert sich schließlich abrupt, als die beiden Protagonisten auf einen entflohenen Räuber (Rabii Benjhaile) treffen, der, von Liebe beseelt, um eine Frau kämpft, sie befreit und mit ihr flieht. „Die Welt ist freundlich zu denen, die frei sind“, heißt es dann, während das trostlose Roadmovie auf nächtlicher Fahrt allmählich in eine Art mystischen Western mit surrealen Elementen übergeht. Der Film wirkt jetzt, indem er motivisch zerfasert und alle möglichen Themen bis hin zu Migrationserfahrungen anspricht, aber nicht weiter entwickelt, zunehmend überladen und etwas langatmig. Während sich die in freier Natur ausgesetzten Mehdi und Hamid am Lagerfeuer Geschichten erzählen, die weniger das Vergessen als die Erinnerung befördern sollen, werden sie selbst unfreiwillig Teil einer größeren Geschichte, die als Widerspiegelung vielleicht nur eine Imagination oder ein Trugbild ist.

Ivo

(DE 2024, Regie: Eva Trobisch)

Das Leben der Pflegerin
von Jürgen Kiontke

Palliativpflege – wie geht die eigentlich? Den Anlass, der Eva Trobisch zu dem Thema brachte, beschreibt die Regisseurin so: Sie habe eine Anfrage für die Skriptentwicklung einer „Polizeiruf“-Folge gehabt, dabei …

Palliativpflege – wie geht die eigentlich? Den Anlass, der Eva Trobisch zu dem Thema brachte, beschreibt die Regisseurin so: Sie habe eine Anfrage für die Skriptentwicklung einer „Polizeiruf“-Folge gehabt, dabei sei sie auf die Geschichte einer Krankenschwester der Berliner Charité gestoßen, die schwerkranke Menschen durch die Überdosierung von Medikamenten getötet hatte – weil sie habe helfen wollen.

Was muss da vorgegangen sein? Über die Recherche habe sie gemerkt, dass sie die Pflege Schwerkranker für das Kino in Szene setzen wollte, sagt Trobisch. „Wobei mir schnell klarwurde, dass ich daraus keinen Krimistoff machen wollte. Denn die Arbeitswelt der Palliativmedizin, die mir völlig neu war, faszinierte mich – der Ton, die Direktheit, der respektvolle Umgang, diese Form der Selbstverständlichkeit und Inklusion von Leben und Sterben.“

„Ivo“ heißt nun der fertige Film. Im Zentrum steht – oder besser: fährt – die gleichnamige ambulante Pflegerin. Denn Ivo verbringt viel Zeit in ihrem in die Jahre gekommenen Auto, mit dem sie die vielen Haushalte täglich ansteuert. Ihre verwirrten und versehrten Klienten, denen sie bei der Hygiene hilft und die zugeteilten Medikamente verabreicht. Sie legt Kanülen, wechselt Verbände und Windeln, steht den Angehörigen mit Rat zur Seite. Und vor allem: hat jeden Tag den Tod vor Augen. Ob Menschen in kleinsten Räumen oder großzügigsten Villen – ihre Gebrechen machen sie vor der Pflegerin gleich.

Aber auch Ivos eigenes Leben wird genau ausgeleuchtet: Wie lebt sie mit ihrer pubertierenden Tochter zusammen, welche Musik hört sie? Mit Franz, dem Mann ihrer Freundin, der todkranken Solveigh, unterhält sie gar ein Liebesverhältnis. Geht das gut? Rührend kümmern sich beide um die kranke Frau. Und als Solveigh immer schwächer wird, kommt das Thema Sterbehilfe auf, sie möchte nicht länger leiden. Eine Angelegenheit, mit der Menschen im Pflegedienst oft konfrontiert sein dürften.

Mit Minna Wündrich hat Trobisch eine tolle Schauspielerin gefunden, die ihre Ivo mit kongenialer Ambivalenz und Offenheit in der Darstellung motiviert. Der Film erlaubt einen Einblick in eine komplizierte Wirklichkeit, in der alltägliche Handlungen zu Katastrophen führen können.

Wie viele andere täglich begleitet Ivo das Leben von Menschen an dessen Ende. Wer im deutschen Kino nach Stoffen aus der Arbeitswelt sucht, hier ist einer. „Man sieht vielmehr den Dingen dabei zu, wie sie nach und nach aus dem Lot geraten – ein treffliches Gleichnis auf die Zustände in der Pflege insgesamt“, schreibt das Gewerkschaftsmagazin „ver.di Publik“.

Hier findet sich ein Interview mit Regisseurin Eva Trobisch.

Diese Kritik erschien zuerst am 02.07.2024 auf: links-bewegt.de

Juliette im Frühling

(FR 2024, Regie: Blandine Lenoir)

Tragische Dimensionen
von Wolfgang Nierlin

Eine stille Melancholie und Gedankenverlorenheit liegen über der Szene, wenn Juliette (Izïa Higelin) mit dem Zug von Paris in ihr bressanisches Heimatdorf nahe Lyon fährt, um ihren überraschten Vater Léonard …

Eine stille Melancholie und Gedankenverlorenheit liegen über der Szene, wenn Juliette (Izïa Higelin) mit dem Zug von Paris in ihr bressanisches Heimatdorf nahe Lyon fährt, um ihren überraschten Vater Léonard (Jean-Pierre Darroussin) zu besuchen. Sie brauche einen „Tapetenwechsel“, sagt die junge, scheinbar in sich ruhende Frau, die als Illustratorin von Kinderbüchern arbeitet und sich gerade mit einer Geschichte übers Glück beschäftigt. Tatsächlich leidet die sensible Titelheldin in Blandine Lenoirs Comic-Verfilmung „Juliette im Frühling“ unter einer Depression. Schlafprobleme und Panikattacken erschweren ihren Alltag.

Doch ihr familiäres Umfeld scheint das nicht zu verstehen. Ihre ältere, verheiratete Schwester Marylou (Sophie Guillemin), die mit zwei Kindern, einem Ehemann, einem leidenschaftlich verrückten Liebhaber und einem mobilen Haarstudio ziemlich vielbeschäftigt ist, tut Juliettes psychische Problem gar als „kleine Nöte“ ab. Ihr geschiedener, desillusionierter Vater pflegt einen Galgenhumor und spricht von der „Scheußlichkeit des Lebens“, während ihre resolute, freigeistige Mutter Nathalie (Noémie Lvovsky), die obszöne Bilder malt und esoterische angehauchte Liebhaber wechselt, die individuelle Freiheit propagiert.

„Es geht ums Machen. Darum, zu tun, was man möchte“, sagt sie bei einem der chaotischen Familientreffen, die ins thematische Zentrum des Ensemblefilms führen. Dieser handelt nicht nur von Juliettes Suche nach sich selbst und einem Platz im Leben, sondern auch von der Konfrontation mit der Herkunft, familiären Konflikten, lauernden Aggressionen und den Traumata einer verschwiegenen und verdrängten Vergangenheit. „Juliette: Gespenster kehren im Frühjahr zurück“ lautet Camille Jourdys autobiographisch inspirierte Graphic Novel, die dem tragikomisch getönten, vielfach berührenden Film zugrunde liegt. Die französische Regisseurin und Schauspielerin Blandine Lenoir hat dafür nicht nur Juliettes Beruf als Zeichnerin dazuerfunden, der immer wieder Momente der Ruhe und des Ausgleichs befördert, sondern mit Hilfe der Animationsfilmerin Charlie Belin einige Sequenzen fantasievoll animiert.

Zu den verschiedenen parallelen Geschichten, die der Film ebenso humorvoll wie ernst und mit offenem Ausgang erzählt, gehört auch Juliettes Begegnung mit dem Übersetzer Pollux (Salif Cissé), der im Haus ihrer Großmutter wohnt. Pollux ist ein einfühlsamer, sanfter Mann, der eine große Ruhe ausstrahlt und Juliettes Nöte versteht, wenn er diese als „tragische Dimension“ apostrophiert. Auf der Suche nach Trost und Geborgenheit freundet sich die temporäre Heimkehrerin, die am Ende doch wieder aufbrechen muss, mit dem umsichtigen Hüter des Hauses an. Darin findet Juliette schließlich eine Schachtel mit Erinnerungsstücken, die Verborgenes auf schmerzliche Art zum Leben erwecken und ihr in der Konfrontation mit der Vergangenheit zugleich einen heilsamen Durchbruch zur eigenen Persönlichkeit ermöglichen.

Battles without honour and humanity

(JP 1973, Regie: Kinji Fukasaku)

Ehrlose Verbrecher
von Wolfgang Nierlin

Die blutroten Vorspannschriftzeichen sind unterlegt mit Schwarzweißfotografien der atomaren Zerstörung. In den Jahren nach dem 2. Weltkrieg leidet Japan unter einem nationalen Trauma. Auf den Straßen von Kure in der …

Die blutroten Vorspannschriftzeichen sind unterlegt mit Schwarzweißfotografien der atomaren Zerstörung. In den Jahren nach dem 2. Weltkrieg leidet Japan unter einem nationalen Trauma. Auf den Straßen von Kure in der Präfektur Hiroshima herrscht blankes Chaos. Im dichten, drangvollen Menschengewimmel und dem geschäftigen Treiben auf den Märkten kommt es immer wieder ganz offen zu gewalttätigen Übergriffen. Ein US-Besatzungssoldat versucht, eine Frau zu vergewaltigen und wird von dem Kriegsheimkehrer Shozo Hironi in die Flucht geschlagen. Der landet später im Gefängnis, wo er Hiroshi Wakasugi vom Doi-Syndikat kennenlernt. Die beiden werden Blutsbrüder und finden durch ein ebenso brutales wie gefährliches Täuschungsmanöver zurück in die Freiheit. Doch unter den herrschenden Zuständen ist die alte Yakuza-Ordnung purer Anarchie gewichen. Und da Shozu zur Yamamori-Gang gehört, kommt es irgendwann zur blutigen Konfrontation mit der Bande seines Freundes.

Die rivalisierenden, um Macht und Einfluss ringenden Revier- und Grabenkämpfe in Kinji Fukasakus wiederveröffentlichtem Film „Battles without honour and humanity“ von 1973 sind einigermaßen unübersichtlich. Analog zur drangvollen Enge der Straßenszenen, die durch unruhige Handkamerabilder, Zooms und Schwenks dramatisch aufgeladen werden, verdichtet Fukasaku das hässliche Geschehen auf eine Abfolge schmutziger Gewalt und deutet die Gründe und Zusammenhänge dafür nurmehr an. Stattdessen suggerieren Jahreszahlen, historische Ereignisse wie der Korea-Krieg und die eingeblendeten Namen der diversen Yakuza-Mitglieder die Rahmendaten einer historischen Chronik. Tatsächlich hat sich Fukasaku für seinen Abgesang auf die Unterwelt der organisierten Kriminalität, auf den noch weitere Teile folgten, von einer Artikel-Serie in der Zeitung inspirieren lassen. In seiner Vision hat der ehrbare Verbrecher ausgedient, der Kodex ist durch leere Rituale entstellt, Gier und Gewalt sind an die Stelle der alten Ordnung getreten.

Im Konflikt zwischen Loyalität und Verrat, Ehre und Korruption vertritt der prinzipientreue Shozu die überkommenen Ideale und den Glauben an die Tradition. Seine Überzeugung, dass der Verfolger stärker ist als der Verfolgte, lässt ihn zugleich auf einen Neuanfang hoffen. Seinem Gewissen verpflichtet, steht Shozu zwischen den Fronten der verfeindeten Banden. Dagegen verkörpert sein Antipode Sakai den neuen Typus des pragmatischen Verbrechers: „Man muss die Realitäten selber schaffen und sie unter Kontrolle halten.“ Während etwa in den Gangsterfilmen von Jean-Piere Melville die Ehrbegriffe der heldenhaften Verbrecher bis in die letzte Konsequenz durchbuchstabiert und überhöht werden, zeigt Kinji Fukasaku in seinem schonungslosen Abgesang auf das Genre die Zersetzung dieser Werte als Abbild einer treulosen, unmoralischen Welt.

Ein kleines Stück vom Kuchen

(IR/FR/SE/DE 2024, Regie: Maryam Moghadam, Behtash Sanaeeha)

Unverhofftes Glück
von Wolfgang Nierlin

Seit vielen Jahren lebt die verwitwete Mahin (Lily Farhadpour) allein in ihrer geräumigen Teheraner Wohnung. Weil sie nachts schlecht schläft, beginnen die Tage für sie oft erst um die Mittagszeit. …

Seit vielen Jahren lebt die verwitwete Mahin (Lily Farhadpour) allein in ihrer geräumigen Teheraner Wohnung. Weil sie nachts schlecht schläft, beginnen die Tage für sie oft erst um die Mittagszeit. Auf vormittägliche Telefonanrufe reagiert die 70-Jährige deshalb gereizt und mürrisch. Dreißig Jahre lang hat Mahin als Krankenschwester gearbeitet. Jetzt schleppt sie sich träge und lustlos durch die Routinen gleichförmiger Tage, erledigt Einkäufe und wässert die Pflanzen ihres geliebten Gartens. Manchmal telefoniert sie mit ihren Kindern, die im Ausland leben und wenig Zeit und Aufmerksamkeit für sie haben. Dabei sehnt sich Mahin insgeheim nach Nähe und Austausch, um ihre Einsamkeit abzumildern. Zu ihren kleinen, wiederkehrenden Freuden gehört deshalb eine kitschige Seifenoper im Fernsehen, in der von Liebe, Treue und einem „Mann der Träume“ die Rede ist, der die Angst vor dem Alleinsein vertreibt. Auch in der Runde gleichaltriger Freundinnen, die sich hin und wieder versammelt und in der viel gegessen, getrascht und gelacht wird, ist man der Meinung, Mahin müsse sich einen Freund suchen.

Aufmerksam und genau beobachten die iranischen Filmemacher Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha in ihrem preisgekrönten Film „Ein kleines Stück vom Kuchen“ die vereinsamte Heldin in ihrem unspektakulären, in der Regel unsichtbaren Alltag. Mit einem sanften, leicht tragikomischen Realismus, der sich in ruhigen, statischen Einstellungen entfaltet, durchbrechen sie Darstellungsverbote und ermöglichen so den Blick auf eine tabuisierte gesellschaftliche Wirklichkeit. Offen und ehrlich sprechen sie über die Gefühle einer älteren Frau, deren Hoffnungen und Wünsche sonst verschwiegen werden müssen. Moghaddam und Sanaeeha wurden für diese filmische Aufrichtigkeit, deren emanzipatorischen Kraft vor allem in der zweiten, kammerspielartigen Hälfte des Films zum Ausdruck kommt, in ihrem Heimatland sanktioniert und mit Restriktionen belegt.

Am Übergang zu Mahins spätem Glück, für das sie den Alltagstrott durchbricht und offensiv die Initiative ergreift, steht bezeichnenderweise eine markante, beispielhafte Szene, die sich auch als riskantes politische Statement der beiden Regisseure verstehen lässt: Mutig, unerschrocken und resolut verteidigt die Heldin in einem Park eine junge Frau gegen die Zumutungen und Anwürfe einer übergriffigen Sittenpolizei, die das Mädchen wegen eines verrutschten Kopftuchs verhaften will.

Kurz darauf lernt Mahin den gleichaltrigen Taxifahrer Faramarz (Esmaeil Mehrabi) kennen, einen Kriegsveteran im Ruhestand, der geschieden ist und keine Kinder hat und sich wie Mahin seit langem nach einem anderen Menschen und nach einer vertrauten Zweisamkeit sehnt. Die beiden verstehen sich sofort und entdecken in langen Gesprächen eine gegenseitige Nähe geteilter Gemeinsamkeiten, Anschauungen und Freuden. Ihr Schönheitsempfinden sowie ihre Liebe für Musik und Tanz, Blumen und Wein, inszeniert als lustvolle Übertretungen der üblichen Regeln, zeigen eine weitere Facette des Politischen im scheinbar Unpolitischen. Mit letzter Konsequenz und darin durchaus versöhnlich thematisiert der berührende Film auf ganz eigene Weise die unverhoffte Erfüllung eines Glücks, das aus der zufälligen Begegnung der beiden erwächst.

Hier gibt es eine weitere Kritik zum Film.

Born to be wild – Eine Band namens Steppenwolf

(CA/DE 2024, Regie: Oliver Schwehm)

Rebellen wider Willen
von Wolfgang Nierlin

Die sehr kursorisch gehaltenen Zuschreibung zu Beginn des Dokumentarfilms über die „psychedelische Underground-Blues-Band“ Steppenwolf zielen auf deren unangepasstes Renegatentum und musikalische Innovation. Dunkel, schmutzig und gefährlich sei das Image der …

Die sehr kursorisch gehaltenen Zuschreibung zu Beginn des Dokumentarfilms über die „psychedelische Underground-Blues-Band“ Steppenwolf zielen auf deren unangepasstes Renegatentum und musikalische Innovation. Dunkel, schmutzig und gefährlich sei das Image der Heavy-Metal-Pioniere gewesen, meinen etwa Alice Cooper, Jello Biafra von den Dead Kennedys oder auch der musikbegeisterte Filmregisseur Cameron Crowe. „Ihre Musik war ein Initiationsritus“, heißt es in den Statements der sich schnell ablösenden sprechenden Köpfe. Und: „Sie waren Rebellen, ohne Rebellen sein zu wollen.“ Oliver Schwehm bedient in seinem umständlich betitelten Film „Born to be wild – Eine Band namens Steppenwolf“ zunächst einmal mehr die für die Rockmusikgeschichtsschreibung typische Legendenerzählung. Dieser verklärende Blick auf den Mythos macht alles immer ein wenig größer als das wirkliche Leben und er heroisiert das Alltägliche und Gewöhnliche, als läge darin eine Prophezeiung.

Als Korrektiv dazu lässt sich die Doppelbiografie der deutschstämmigen Bandmitglieder John Kay und Nick St. Nicholas verstehen, die der Dokumentarfilmer Schwehm in Teilen erzählt und nicht zuletzt mit Privataufnehmen reichhaltig bebildert. Als Halbwaise Joachim-Fritz Krauledat gegen Kriegsende im ostpreußischen Tilsit geboren, wandert der spätere Sänger John Kay ebenso nach Kanada aus wie der aus einer angesehenen hanseatischen Familie stammende Karl Klaus Kassbaum. Während der sensible, sehbehinderte Kay einmal als kontrolliert und geerdet beschrieben wird, zumal er in seinen Songtexten auch seine Herkunft und seine Fluchterfahrungen reflektiert, gilt Bassist St. Nicholas als „fluid“ und ein bisschen schräg. Das später zugeschriebene düstere Band-Image lässt sich an diesen beiden so unterschiedlichen Persönlichkeiten, die im Film ausführlich zu Wort kommen, jedenfalls nicht ablesen; es wird aber auch nicht weiter erklärt.

Stattdessen illustriert Oliver Schwehm mit viel Musik und Bildmaterial die Bandgeschichte ab Mitte der 1960er Jahre, die unter dem Namen The Sparrows in Toronto beginnt und ein paar Jahre später in Kalifornien zur Gründung von Steppenwolf führt. Benannt nach dem gleichnamigen Hesse-Roman, sind es doch mehr die äußeren Signale dieses Titels, die im Verbund mit den verwegenen Outfits der Bandmitglieder und ihrem intensiven LSD-Konsum zum rebellischen Image der Gruppe beitragen. Zur „Biker-Band“ wird Steppenwolf schließlich durch den Song „Born to be wild“, der vor allem durch den Kultfilm „Easy Rider“ hymnische Berühmtheit erlangt. Doch der Erfolg währt nur ein paar Jahre. Die Band ist ausgebrannt, ihre Mitglieder sind zerstritten und so zerfasert Steppenwolf irgendwann in Einzelprojekten. Die Trennungskonflikte werden im Film weitgehend ausgespart; vielleicht auch deshalb, weil es Oliver Schwehm letztlich um eine versöhnliche Darstellung einer außergewöhnlichen Band und ihrer bemerkenswerten, letztlich gar nicht so „gefährlichen“ Protagonisten geht.

Julie – Eine Frau gibt nicht auf

(FR 2021, Regie: Eric Gravel)

Wettlauf gegen die Zeit
von Wolfgang Nierlin

Dieser Film hat keine Zeit. Ebenso wenig wie seine Heldin Julie Roy (Laure Calamy), die im Modus von Hektik und Stress permanent unter Strom steht. Mit einer nervösen Handkamera und …

Dieser Film hat keine Zeit. Ebenso wenig wie seine Heldin Julie Roy (Laure Calamy), die im Modus von Hektik und Stress permanent unter Strom steht. Mit einer nervösen Handkamera und mit schnellen, harten Schnitten, die die Zeit förmlich zerschneiden und aufheben, folgt Éric Gravel in seinem Film „Julie – Eine Frau gibt nicht auf“ (À plein temps“) der alleinerziehenden Mutter zweier kleiner Kinder durch einen höchst strapaziösen Alltag. Der französische Originaltitel „Vollzeit“ ist hier gewissermaßen Extremprogramm und korrespondiert mit der Atemlosigkeit einer Arbeitspendlerin, die frühmorgens im Dämmerlicht das Haus verlässt und abends zurückkehrt, wenn es schon dunkel ist. Ihre Kinder werden derweil von einer älteren Dame aus der Nachbarschaft betreut. Als Teamleiterin von Zimmermädchen eines Pariser Luxushotels steht Julie, beobachtet und kontrolliert von einer strengen Chefin, auch bei ihrer gehetzten Arbeit ständig unter Spannung. „Hier gilt die Regel: Wir sind unsichtbar“, sagt Julie zu einer neuen Mitarbeitern. Allerdings hilft man sich hier aus Solidarität auch immer wieder gegenseitig.

Éric Gravel schichtet die verhandelten Probleme bis zur Überladung, indem er die Strapazen seiner Heldin in Beziehung setzt zum sozialen Ausnahmezustand einer Gesellschaft. In den Morgennachrichten ist von Inflation, steigenden Energiepreisen und Streiks die Rede, die dann Julie, die in einem Dorf weit außerhalb von Paris wohnt, hautnah zu spüren bekommt. Zugverbindungen fallen aus, später auch die Ersatzbusse. Der Verkehr wird zu einem einzigen Stau, der auch Julie in die Enge treibt und bis zur schieren Verzweiflung blockiert. So kommt sie immer öfter zu spät. Außerdem muss sie auf der Suche nach einem neuen, für ihre Ausbildung als Marktforscherin adäquateren Arbeitsplatz Vorstellungstermine während ihrer Arbeitszeit annehmen. Doch damit nicht genug, denn es gilt zusätzlich, den Kindergeburtstag ihres Sohnes vorzubereiten. Währenddessen wird ihr überzogenes Bankkonto gesperrt, ihr Ex-Mann meldet sich weiterhin nicht und schickt auch nicht das dringend benötigte Unterhaltsgeld; und dann geht im Bad bezeichnenderweise auch noch der Durchlauferhitzer kaputt.

Julie steht immer öfter im Regen und irgendwann auch vor verschossenen Türen. Sie rennt entlang von Staus, übernachtet einmal in einem ranzigen Billighotel und findet nur ganz selten Momente der Ruhe. Während auf ihren Fahrten in überfüllten Zügen und in Fahrgemeinschaften im Dämmerlicht die Häuser, Schlote und Landschaften wie ferne, fremde Welten vorbeiziehen, spitzt sich Julies Zwangslage sukzessive und mit Thriller-Spannung zu. Für ihren Wettlauf gegen die Zeit, markant vorangetrieben von den repetitiven Sounds der französischen Elektronikerin Irène Drésel, gibt es weder eine Perspektive noch eine Lösung. Insofern lässt Éric Gravel sein preisgekröntes Sozialdrama, in dem Arbeit und Leben heftig aufeinanderprallen, am Ende in einem ambivalenten Schwebezustand münden.

Sleep with your eyes open

(BR/AR/TW/DE 2024, Regie: Nele Wohlatz)

Verloren in der Fremde
von Wolfgang Nierlin

Eigentlich wollte die junge Taiwanesin Kai zusammen mit ihrem Freund den Urlaub in der brasilianischen Küstenstadt Recife verbringen. Doch dann bleibt dieser aus und sie findet sich allein am Strand, …

Eigentlich wollte die junge Taiwanesin Kai zusammen mit ihrem Freund den Urlaub in der brasilianischen Küstenstadt Recife verbringen. Doch dann bleibt dieser aus und sie findet sich allein am Strand, wo sie einen aufdringlichen Verkäufer abwehren muss, und in einem Hotelzimmer mit der Nummer 13, wo ihr die Klimaanlage den Schlaf raubt. Obwohl Kai vielsprachig ist, fühlt sie sich einsam, fremd und verloren. Außerdem hat sie das Gefühl, zu sehr aufzufallen und damit als nicht dazugehörende Urlauberin identifiziert zu werden. Gegenüber einem deutschen Spanischübersetzer deutet sie an, dass es für sie eine Differenz zwischen sprachlicher Verständigung und Verstehen gibt. Die Kommunikation zwischen und jenseits der Sprachen begleitet stetig ihr Fremdheitsgefühl. Dann lernt Kai den hilfsbereiten chinesischen Schirmverkäufer Fu Ang kennen, der auf die Regenzeit hofft und Teil einer Community von mehr oder weniger illegalen Fremdarbeitern ist. Und sie bekommt einen Karton mit zahlreichen beschriebenen Ansichtskarten geschenkt, auf denen Xiaoxin, eine andere Chinesin, die zuvor in Argentinien gelebt hat, von ihren Erfahrungen in Recife erzählt. Diese spiegeln gewissermaßen Kais eigene Gefühlslage.

In der Folge wechselt Nele Wohlatz‘ völlig undramatisch und wie nebenbei erzählter Film „Sleep with your eyes open“ („Dormir de olhos abertos“) von der Rahmenhandlung zu einer Geschichte in der Geschichte, die aber wirkt, als fände sie gleichzeitig statt und als gäbe es zwischen den Erzählebenen keine zeitlichen und räumlichen Grenzen. Die Figuren und ihre Perspektiven lösen sich dabei ab, geben den narrativen Staffelstab weiter, rücken eine Zeit lang ins Zentrum, das es nicht gibt, und scheinen trotz diverser kultureller und kommunikativer Grenzen miteinander verbunden. Die in Deutschland geborene Regisseurin, die selbst etliche Jahre in Argentinien lebte, etabliert in ihrem unspektakulären, mit leichtem Humor abgefederten Film eine mäandernde, von langen, statischen Einstellungen getragene Erzählstruktur. Dabei setzt sie immer wieder die modernistische, austauschbare und damit irgendwie ortlos wirkende Hochhauslandschaft von Recife ins Bild.

„Hier ist immer alles gleich, nichts verändert sich“, sagt einer der Chinesen und sieht darin einen wesentlichen Unterschied zu den gravierenden Umwälzungen in seinem Heimatland, das sehr fern und abgerückt erscheint. In einem Hochhaus von Recife leben die Arbeitsmigranten wie in einer Blase und zugleich Tür an Tür mit einer wohlhabenden brasilianischen Gesellschaftsschicht, für die das Leben eine einzige, mit illegalen Mitteln finanzierte Party zu sein scheint. In einer skurrilen Szene regnet es vor einer der riesigen Panoramascheiben Geldscheine. „Weakness is a choice“, steht dagegen in großen Lettern auf dem T-Shirt eines chinesischen Gastarbeiters. Fu Ang, der in seiner Heimat Fischer war, sammle in der Fremde Ängste, heißt es. Seine Sorge ist, durch anderes Essen, andere Gewohnheiten und die Gerüche seiner Umgebung selbst in seiner Identität verändert zu werden. In einer Mischung aus Verlorenheit und Sehnsucht treibt er einmal nachts in einem Schwimmring hinaus aufs gefährliche Meer, nur um sich am Morgen desillusioniert am tristen Strand wiederzufinden. Vielleicht bleibt dort, wo die Wurzeln und Bindungen fehlen, alles gleich, beliebig und flüchtig, wie Fu Ang in seiner Perspektivlosigkeit einmal meint.

Niemals allein, immer zusammen

(DE 2024, Regie: Joana Georgi)

Protest hat viele Gesichter
von Jürgen Kiontke

Patricia, Simin, Quang, Zaza und Feline sind jung und voller Elan: Sie engagieren sich bei „Fridays for Future“, in Mieterinitiativen, hängen sich bei der Berliner Krankenhausbewegung rein und fordern die …

Patricia, Simin, Quang, Zaza und Feline sind jung und voller Elan: Sie engagieren sich bei „Fridays for Future“, in Mieterinitiativen, hängen sich bei der Berliner Krankenhausbewegung rein und fordern die Aufarbeitung rassistisch motivierter Gewalt ein. Regisseurin Joana Georgi hat sie ein Jahr lang begleitet und bringt mit ihrem Dokumentarfilm den jungen linken Widerstand auf die Leinwand. Den Berliner, wohlgemerkt. Einen Blick auf andere Städte gewährt sie leider nicht.

Dennoch steht das Engagement der Aktivisten durchaus paradigmatisch für die Arbeitsfelder, die der junge linke Widerstand ausgemacht hat. Freimütig geben sie Auskunft über ihre Arbeitsweisen, die Kamera ist sogar dabei, wenn die Gewerkschaftsjugend tagt. Während der Film in der ersten Hälfte seine Helden vorstellt, wie sie diskutieren, rauchen und wohnen – ohne Küche im Berliner Altbau geht eben nichts –, steht im zweiten Teil recht prominent Zaza im Mittelpunkt, eine junge Pflegekraft in Ausbildung in der Berliner Urbanklinik, die sich mit den Kollegen für bessere Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen einsetzt.

Das ist beileibe kein Selbstläufer! Anhand von Zazas Alltag kann der Zuschauer sich ein Bild machen von der Härte und der Dauer der Tarifauseinandersetzungen. Und auch wenn es Erfolge zu verbuchen gab – vom OP-Tisch ist hier nichts: Am 13. und 14. Juni 2024 gibt sich die Krankenhausbewegung zwei Tage mit Workshops und Vernetzung in Berlin und Brandenburg. Kommt zahlreich! Georgi folgt ihren Gewährsleuten mit der Kamera in ihre sozialen Kämpfe. Auf der Straße, im Hörsaal, bei Interviews sind wir dabei. Wir erfahren, welche Schwierigkeiten familiärer Art es gibt und wie es mit den Finanzen ist – fast ein Generationenporträt.

Ein sehenswerter Film über zeitgenössische Protestformen – der auch durchaus nicht mit Wunderlichem geizt: Etwa wenn die ihr Kleinkind alleinerziehende Feline ihre politischen Aktivitäten aus Zeitgründen in die Küche und in die sozialen Medien verlagert. Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Attentats von Hanau backt sie einen Kuchen mit den stilisierten Konterfeis der Ermordeten. Das ist vielleicht etwas kitschig, aber nicht geschmacklos – ihre Überzeugung ist authentisch. Einmal auf Instagram gepostet, trendet die Gedenktorte allerdings, die Anzahl der Likes geht durch die Decke. Eine Demonstration im Homeoffice, mit Tausenden von Teilnehmern – der Erfolg gibt Feline recht.

Diese Kritik erschien zuerst am 12.06.2024 auf: links-bewegt.de

Die Gleichung ihres Lebens

(FR/CH 2023, Regie: Anna Novion)

Auf dem Weg zu sich selbst
von Wolfgang Nierlin

Die 25-jährige Mathe-Doktorandin Marguerite Hoffmann (Ella Rumpf) studiert und arbeitet an der französischen Elite-Hochschule École Normale Supérieure (ENS) und möchte einmal Forscherin werden, was sie strenggenommen schon ist. Denn in …

Die 25-jährige Mathe-Doktorandin Marguerite Hoffmann (Ella Rumpf) studiert und arbeitet an der französischen Elite-Hochschule École Normale Supérieure (ENS) und möchte einmal Forscherin werden, was sie strenggenommen schon ist. Denn in ihrer Dissertation beschäftigt sie sich seit drei Jahren mit einem ungelösten Problem aus dem Bereich der Zahlentheorie, das unter der Bezeichnung „Goldbachsche Vermutung“ bekannt ist und um den „Beweis für die Existenz arithmetrischer Folgen in Primzahlen“ kreist. Im Interview mit einer Uni-Zeitschrift, mit dem Anna Novion ihren Film „Die Gleichung ihres Lebens“ („Le théorème de Marguerite“) eröffnet, wirkt die junge Mathematikerin sehr diszipliniert, rational und fokussiert, dabei zugleich in sich gekehrt und eigensinnig. Offensichtlich hat Ella, deren Eltern sich früh scheiden ließen, seit ihrer (beschädigten) Kindheit kaum andere Interessen. Ohne Mathematik könne sie nicht leben, sagt sie einmal. Unter ihren fast ausschließlich männlichen Kommilitonen gilt sie als Außenseiterin. Vom normalen Leben scheint sie regelrecht ausgeschlossen zu sein.

Damit korrespondiert die geometrische Ordnung der Uni-Architektur mit ihren geraden Linien und offenen Räumen. Doch Anna Novion inszeniert diese Transparenz von Anfang an ambivalent: Oft zeigt sie ihre förmlich von der Außenwelt abgeschottete Heldin hinter Glasscheiben, gerahmt und isoliert. Das Bild einer spiralförmigen Wendeltreppe symbolisiert diesbezüglich ein Kreisen um sich selbst, das sich im Unendlichen zu verlieren scheint. Ein Fehler, fachlich als „ungültige Argumentation“ markiert, bringt Ellas mathematisch geordnete Welt ins Wanken und konfrontiert sie in der Folge mit der nackten Realität. Bei einer Präsentation vor Fachpublikum verirrt sich Ella im Zeichen- und Zahlendschungel, bricht ihren Vortrag ab und ergreift die Flucht. Sie fühlt sich von ihrem väterlich strengen Professor Laurent Werner (Jean-Pierre Darrousin) verraten und zurückgesetzt, zumal dieser mit dem jungen Doktoranden Lucas Savelli (Julien Frison) überraschend einen Konkurrenten zu Ella installiert hat. Ellas Zusammenbruch deutet er als „verspätete Adoleszenzkrise“: „Die Mathematik darf nicht unter Gefühlen leiden.“

Die junge Frau tritt jetzt aus einem unscharfen Bildhintergrund in die Schärfe des Vordergrunds, aus der abstrakten Welt der Zahlenordnung in die konkrete Unordnung einer neuen Wirklichkeit. Sie zieht in eine WG mit der lebenslustigen, körperlich-sinnlichen Tänzerin Noa (Sonia Bonny), scheitert in Jobs, die ihrem Bedürfnis nach Logik nicht standhalten und entdeckt für sich schließlich das Mah-Jongg-Spiel, das sie für ihren Lebensunterhalt in verrauchten Hinterzimmern illegal gegen Chinesen spielt und gewinnt. Daneben taucht sie mit unkonventioneller Direktheit in die Milieus einer bislang unbekannten Realität ein, bevor sie erneut vom Mathe-Virus erfasst wird, immer besessener ihre Forschung vorantreibt und sich dabei regelrecht in einer Zeichenhöhle am Rande des Wahnsinns einschließt.

In ihrem zwar dramaturgisch und inhaltlich vorhersehbaren, aber nichtsdestotrotz spannenden und bewegenden Film portraitiert die französisch-schwedische Regisseurin eine faszinierende, willensstarke und genialische Heldin auf ihrem zunehmend unordentlicher werdenden, aber hartnäckig verfolgten Weg zu sich selbst. Dabei muss sie schließlich nicht nur die scheinbar festgefügten Sicherheiten und Gewissheiten einer „geordneten Unendlichkeit“ aufgeben, sondern sich auch den irrationalen Gefühlen der Liebe öffnen, um ihre prinzipielle Verletzlichkeit und Schwäche als Mensch in eine neue Stärke verwandeln zu können.

Typhoon Club

(JP 1985, Regie: Shinji Somai)

Strudel der Enthemmung
von Wolfgang Nierlin

Auch ohne Sturm ist die Gefühlswelt der Jugendlichen eines ländlich geprägten Vororts von Tokio in Unordnung. Eben noch taucht der Schüler Akira im Schwimmbad der Schule in die Stille des …

Auch ohne Sturm ist die Gefühlswelt der Jugendlichen eines ländlich geprägten Vororts von Tokio in Unordnung. Eben noch taucht der Schüler Akira im Schwimmbad der Schule in die Stille des unter künstlichem Licht grünlich schimmernden Wassers ein, während ein paar seiner Mitschülerinnen zu den treibenden Beats eines Punksongs ausgelassen gegen die gefühlte Lebensenge antanzen; kurz darauf treibt er wie leblos auf der Wasseroberfläche. Offensichtlich haben ihn die Mädchen zuvor immer und immer wieder untergetaucht. Übermut, verantwortungsvolles Handeln und die Einsicht in die Gefahr sind hier offensichtlich entkoppelt. Dabei wechselt die Atmosphäre der Szenerie zwischen einer sanften, von tropfendem Wasser grundierten Stille und der Dynamik körperlicher Unruhe und Wildheit. Tags darauf, im Unterricht des Mathematiklehrers Umemiya, geht es nicht minder chaotisch zu, was nachhaltig irritiert. Die Autorität des noch jungen, ziemlich machtlos wirkenden Pädagogen wird offensichtlich massiv in Frage gestellt.

Der japanische Regisseur Shinji Sōmai (1948-2001) zeigt diese Szenen in seinem 1985 entstandenen Coming-of-Age-Film „Typhoon Club“ in oft langen, aus der Distanz aufgenommenen Einstellungen, als blicke er auf das mitunter wüste Treiben aus einer neutralen Beobachterposition. Außerdem sind seine Bilder und die Figuren in ihnen oft durch Elemente im Vordergrund verhängt, gerastert und abgerückt. Diese Offenheit des Bildes korrespondiert auf der Erzählebene mit einem szenischen, fragmentarischen Plot, der seine narrativen Gewichte ebenso verschiebt wie sein Interesse an den Figuren wechselt. So bleibt manches streiflichtartig und wie nebenbei erzählt, während anderes von einer ungemein kraftvollen Intensität angetrieben wird; etwa wenn in einer herausgehobenen Episode einer der Jungen wie ein kopflos Getriebener einem Mädchen brutal nachstellt in der Absicht, es zu vergewaltigen. Zu diesem Zeitpunkt ist der angekündigte Taifun bereits aufgezogen, stürmischer Wind wirft das Wasser gegen die Scheiben, das Schulgebäude ist abgeschlossen und nur eine kleine Gruppe von Schülerinnen und Schülern ist darin über das Wochenende gefangen.

Unter ihnen ist der nachdenkliche und zurückhaltende Eigenbrötler Mikami, der darüber grübelt, wie sich das Leben transzendieren lässt. Dabei sind die Gedanken des schwermütigen Außenseiters bei seiner Schulfreundin Rie, die angesichts ihrer sterbenden Großmutter nach Tokio abgehauen ist und einmal sagt: „Ich hasse es, gefangen zu sein.“ Derweil treiben ihre eingeschlossenen Mitschüler mit einer richtungslosen, geradezu anarchischen Dynamik in einen Strudel der Enthemmung. Die sowohl visuelle als auch akustische Allgegenwart des Wassers wird zum Symbol entgrenzter Freiheit und zum Zeichen der Transformation; etwa wenn die rebellischen Jugendlichen nackt im Regen tanzen. Doch scheint es Shinji Sōmai, der als einflussreicher Regisseur in seinem Heimatland einen hervorragenden Ruf genießt, hierzulande aber noch zu entdecken ist, nicht um eine Form der Reinigung oder Läuterung zu gehen. Zwar gibt es inmitten einer generationsübergreifenden Orientierungslosigkeit einen Augenblick des Durchbruchs und der Entwicklung, doch ist dieser durch ein persönliches Opfer allzu teuer erkauft.

Alle die du bist

(DE/ES 2024, Regie: Michael Fetter Nathansky)

Liebesentfremdung
von Wolfgang Nierlin

Bei einem Bewerbungsgespräch ist Paul (Carlo Ljubek) ausgerastet. Er hat eine Panikattacke erlitten und sich eingesperrt. Jetzt ist seine alarmierte Frau Nadine (Aenne Schwarz) auf dem Weg zu ihm. Die …

Bei einem Bewerbungsgespräch ist Paul (Carlo Ljubek) ausgerastet. Er hat eine Panikattacke erlitten und sich eingesperrt. Jetzt ist seine alarmierte Frau Nadine (Aenne Schwarz) auf dem Weg zu ihm. Die Kamera folgt ihr aus nächster Nähe, nimmt ihre bestimmte, beharrliche Art in den Blick. Gegenüber dem beunruhigten, aufgeregten Personal sagt sie: „Mein Mann ist wie ich.“ Behutsam und verständnisvoll nähert sie sich dann dem Verstörten. Einfühlsam und zärtlich beruhigt sie sein aufgeschrecktes Gemüt. Paul ist jetzt ein Stier, der sanft gestreichelt wird. Kurz darauf verwandelt er sich in einen kleinen, schutzbedürftigen Jungen und in einen Jugendlichen, der sich für sein Verhalten entschuldigt und um eine zweite Chance bittet. Manchmal ist er auch eine ältere, mütterlich tröstende Frau. Unter den subjektiven Blicken von Nadine wechselt Paul seine Gesichter, Körper und sozialen Rollen. Gemäß dem Titel „Alle die du bist“ spaltet und entfaltet sich in der Konzeption von Michael Fetter Nathanskys magisch-realistischem Film Pauls Identität immer wieder neu.

Dabei ist der Beginn ihrer Liebe und Vertrautheit eher holprig und distanziert. Auf der Suche nach Arbeit kommt die alleinerziehende Mutter aus Hamburg ins rheinische Braunkohlerevier. Fabriken und rauchende Schlote bestimmen die graue, farblose Szenerie. In deren Mittelpunkt steht eine vom Leben enttäuschte, depressiv wirkende Frau, die sich zunächst verschlossen, schweigsam und unzugänglich gibt und die auf Avancen aggressiv reagiert. Als Mechatronikerin von Bergbaumaschinen wächst sie allerdings in die Verantwortung eines vom Strukturwandel bedrohten Betriebs; und sie lernt Paul allmählich kennen und lieben. Als selbstbewusste Anführerin im beginnenden Arbeitskampf hält sie die Kollegenschaft zusammen. Im Verbund mit dem liebenden und fürsorglichen Paul bildet sie ein starkes Paar. Doch immer häufiger kommt es zwischen ihnen zu Empfindlichkeiten und absurden Streitereien, unter denen auch die beiden Kinder leiden und die man nicht immer versteht. Nadine blickt auf Paul und seine Gestalten und fragt: „Warum liebe ich dich nicht mehr?“ Und sie ergänzt noch: „Ich will, weiß aber nicht wie.“

Michael Fetter Nathansky zeigt diesen nicht ungewöhnlichen, aber teils irritierenden Prozess zwischenmenschlicher Entfremdung als relativ statische Gefühls- und Liebeskrise zwischen Depression und zärtlicher Zugewandtheit. Außerdem spiegelt er die Zweifel seiner Protagonistin, ihre Ängste und Sehnsüchte, in ihrem erschöpfenden Kampf um den Erhalt bedrohter Arbeitsplätze. Dabei verbindet sich die sozialrealistische Zeichnung des Arbeitermilieus, charakterisiert durch (handgreifliche) Konflikte und den solidarischen Zusammenhalt innerhalb der Gruppe, mit einer sehr ambivalenten, von Widersprüchen gekennzeichneten Liebesgeschichte. Daraus entsteht ein betont körperliches, melodramatisches Kino der Gefühle. Dieses ist in seinen quälenden Momenten eines ausufernden Hin und Her emotionaler Ausnahmezustände nicht immer leicht auszuhalten. Aber wenn sich vertraute Menschen plötzlich oder vielmehr allmählich fremd werden, versagt mitunter die Vernunft; was durch etliche, gefühlsmäßig überspannte Kommunikationssituationen an Anschaulichkeit gewinnt. Der Prozess der Wandlung wird außerdem durch fast unmerkliche, durch ein verändertes Bildformat markierte Rückblenden gezeigt. So erscheint das Ende wie ein Anfang: bedrückend eng und zugleich offen für Neues.

Sold City

(DE 2024, Regie: Leslie Franke)

Wem gehört die Stadt?
von Jürgen Kiontke

Die Monetarisierung von Allgemeingut ist das Lebensthema der Filmemacherin Leslie Franke und ihres Kollegen Herdolor Lorenz. Hatten sie sich zuvor bereits die Wasserversorgung („Water Makes Money“, D 2010) und das …

Die Monetarisierung von Allgemeingut ist das Lebensthema der Filmemacherin Leslie Franke und ihres Kollegen Herdolor Lorenz. Hatten sie sich zuvor bereits die Wasserversorgung („Water Makes Money“, D 2010) und das Gesundheitswesen („Der marktgerechte Patient“, D 2018) vorgenommen, blicken sie mit ihrem neuen Werk „Sold City“ drei Stunden lang auf die Wohnungsmärkte. Wobei sie schon bei dem Begriff einhaken: Ein „Markt“ war das Wohnen lange eher nicht. Große Teile des Sektors wirtschafteten viele Jahre gemeinnützig – ein Grundprinzip, das die Linke in der Wohnungspolitik wieder einführen will. So waren Mieten gedeckelt und die Einnahmen mussten umgehend in den Bestand und Ausbau reinvestiert werden.

Mit der Aufhebung der Gemeinnützigkeit Ende der 1980er Jahre, der Lösung von Sozialbindungen und dem Verkauf großer Wohnraumbestände wurde aus der Vermietung von Wohnraum ein profitabler Geschäftszweig. Wohnen wurde Geldanlage. Jedenfalls für die Wohnraumbesitzenden. Mit Vonovia und Deutsche Wohnen entstanden in den letzten Jahren Konzerne mit Hunderttausenden Wohnungen im Bestand, die renditeorientiert bewirtschaftet werden. Die Filmemacher beleuchten Betriebsstrukturen und Geschäftsinteressen und lassen Unternehmenssprecher zu Wort kommen. Aber auch Aktivisten der Initiative „Deutsche Wohnen enteignen“ machen ihre Position deutlich, Mieter berichten aus dem Alltag, ebenso wie Mitarbeiter der Mietervereine. Der Stadtsoziologe Andrej Holm sorgt für die sozialpolitische Einordnung.

Ein weiterer Schauplatz neben Berlin ist Hamburg, wo die Linke-Politikerin Heike Sudmann den Kampf um das sogenannte Holsten-Areal erläutert: Ein gewinnträchtiges Spekulationsobjekt, das auch auf ein weiteres Problem hinweist: die ständig steigenden Preise für Bauland in den Städten.

„Sold City“ stellt eine immense Menge an Informationen und Impressionen zur Verfügung. Die Filmemacher sind nach London gereist, wo sich die Wohnungskrise wie in deutschen Städten immer weiter zuspitzt. Auch hier sprechen sie mit lokalen Initiativen und Mietern, die unter der schlimmen Situation leiden. Ebenso wichtig wie der dramatische Ist-Zustand sind ihnen aber auch positive Gegenbeispiele. Die bietet dann der zweite Teil von „Sold City“. Am Beispiel der Wohnungspolitik Wiens und Singapurs lassen Franke und Lorenz eine Ahnung aufkommen, wie es auch anders gehen kann. In Wien wurde der kommunale Wohnraum nie verkauft. Und wenn man sieht, wie die Mieter Singapurs in Wohntürmen mit Dachgärten leben, die Reisfeldern nachempfunden sind und auch im 11. Stock noch Platz für öffentliche Grünanlagen bieten, hat man eine Vorstellung davon, dass in der Stadt- und Wohnungspolitik vieles besser werden könnte.

„Sold City“ ist aufgrund seiner Länge und vielleicht auch wegen der Wucht seines Inhalts zweigeteilt. Ein immenses Werk mit Haltbarkeitsdatum, wie alles von diesem Regie-Duo. Der Film wurde zum Teil aus Spenden finanziert, Gewerkschaften und andere Verbände gehören zu den Förderern. Mag der Film auch vordergründig keine ganz so spektakulären Bilder bieten, ist er doch ein soziales Kunstwerk: Solche Projekte hätten eigentliche Goldene Palmen oder Bären verdient.

Diese Kritik erschien zuerst am 04.06.2024 auf: links-bewegt.de

Was uns hält

(IT/FR 2020, Regie: Daniele Luchetti)

Ambivalente Bindungskräfte
von Wolfgang Nierlin

Neapel, Anfang der 1980er Jahre. Eine Familie tanzt im Gruppenreigen. Der Boden ist mit buntem Konfetti übersät, die Stimmung ist fröhlich und ausgelassen. Doch gegen die scheinbare Objektivität der Karnevalsfeierlichkeiten …

Neapel, Anfang der 1980er Jahre. Eine Familie tanzt im Gruppenreigen. Der Boden ist mit buntem Konfetti übersät, die Stimmung ist fröhlich und ausgelassen. Doch gegen die scheinbare Objektivität der Karnevalsfeierlichkeiten wirft die Kamera immer wieder subjektive Blicke auf den Gleichschritt der Füße und in die Gesichter der Tanzenden, deren Freude verhalten zu sein scheint. Später badet der Familienvater Aldo (Luigi Lo Cascio), der als Radiomoderator einer Literatursendung in Rom arbeitet, seine Kinder Anna und Sandro. Aldo ist ein zärtlicher Vater. Bevor er eine Gutenachtgeschichte vorliest, versammelt sich die Familie vor dem Fernseher, um einen Dokumentarfilm über das Sozialverhalten einer Löwenfamilie zu sehen. Im Halbdunkel des Wohnzimmers strahlt dieses Bild eine behagliche Geborgenheit aus. Doch das Familienglück täuscht, als Aldo kurz darauf seiner Frau Vanda (Alba Rohrwacher), einer Lehrerin, gesteht, dass er ein Verhältnis mit einer anderen Frau habe.

Die Erschütterungen, die dieses Geständnis bei Vanda auslösen und kurz darauf das ganze Familiengefüge erfassen, sind heftig. Sie bilden fortan den schwankenden Untergrund, auf dem sich Daniele Luchettis schmerzliches Ehe- und Familiendrama „Was uns hält“ („Lacci“) entfaltet. Denn Vanda fällt in ein Loch aus Hilflosigkeit und Leere. Überwältigt von Eifersucht, Wut und namenlosem Schmerz appelliert sie an Aldos Eheversprechen und an seine Loyalität. Sie leidet unmäßig, fordert Aldos väterliche Verantwortung ein und macht ihm auf offener Straße eine schockierende Szene. Dabei wechselt Luchetti, der hier einen Roman von Domenico Starnone adaptiert, immer wieder die Perspektive. Wo früher Intimität war, herrscht jetzt Distanz, die nicht zuletzt aus den verunsicherten und verängstigten Blicken der Kinder spricht. Vanda unternimmt einen Selbstmordversuch, das Paar trifft sich vor dem Scheidungsrichter. Trotzdem sind sie Jahrzehnte später, jetzt alt und gutsituiert, wieder vereint.

Doch das frühere Unglück schwelt noch immer, die Wunden brechen wieder auf. In kurzen Flashbacks in die erinnerte Vergangenheit überbrückt Daniele Luchetti die Zeiten und stellt so der Sehnsucht nach familiärer Geborgenheit die Freiheit des Begehrens gegenüber, die vor allem der innerlich zerrissene Aldo verkörpert. Er sei unentschlossen, egoistisch und planlos, wirft ihm Vanda vor. Tatsächlich ist Aldo unentschieden und kann seine wahren Gefühle nur schwer ausdrücken. In langen Gesprächen reflektieren die beiden ihre beschädigte Liebe, was sich zur Bilanz eines desillusionierten Lebens und seiner versäumten Möglichkeiten verdichtet. Stimmungsvolle, sparsam eingesetzte Klaviermusik von Bach und Scarlatti verstärken diese melancholische, mit diversen Referenzen angereicherte Atmosphäre. Dagegen steht die Wut der erwachsenen Kinder, die sich gegen allzu lang unterdrückte Gefühle und emotional schmerzliche Bindungen richtet. Die „Schuhbändel“ des italienischen Originaltitels symbolisieren schließlich diese Ambivalenz zwischen zwangsläufiger Verbundenheit und dem Versuch, sich aus ihr zu lösen.

Das leere Grab

(TZ/DE 2024, Regie: Cece Mlay, Agnes Lisa Wegner)

Nicht endende Beerdigung
von Jürgen Kiontke

Tausende Schädel aus der Zeit, als Deutschland als Kolonialmacht in Afrika auftrat, lagern immer noch in Berlin. Sie wurden vor über hundert Jahren für pseudowissenschaftliche Untersuchungen oder schlicht als Trophäen …

Tausende Schädel aus der Zeit, als Deutschland als Kolonialmacht in Afrika auftrat, lagern immer noch in Berlin. Sie wurden vor über hundert Jahren für pseudowissenschaftliche Untersuchungen oder schlicht als Trophäen aus Gebieten des heutigen Tansania in deutsche Einrichtungen verschickt. Eine Zeit, die nicht überall vergessen ist. Die Regisseurinnen Agnes-Lisa Wegner und Cece Mlay begleiten für ihren sehenswerten Dokumentarfilm „Das leere Grab“ die Angehörigen zweier Familien aus Tansania bei der Spurensuche. Da ist der junge Anwalt John Mbano und seine Frau Cesilia, die Geschichtslehrerin ist. Sie erforschen die Lebensgeschichte von Johns Urgroßvater, der von der deutschen Kolonialarmee als feindlicher Kämpfer angeklagt und hingerichtet wurde.

Tansania stand von 1885 bis 1918 unter deutscher Kolonialherrschaft. Von 1905 bis 1907 herrschte Krieg, die Bevölkerung im Süden des Landes wehrte sich gegen die Besatzungsmacht. Songea Mbano, einer der Anführer, wurde von den Deutschen hingerichtet. Sein Leichnam wurde begraben, sein Kopf aber bald darauf von den Deutschen exhumiert und zu „Forschungszwecken“ nach Deutschland gebracht.

115 Jahre später wollen Mbanos Nachfahren ihren Angehörigen bestatten, sein Grab darf nicht leer bleiben. Sie und ihre Angehörigen, sagen sie, fühlten sich wie bei einer „Beerdigung, die nicht endet“. Ähnlich geht es Felix und Ernest Kaaya: Auch sie kämpfen um die Rückführung der Gebeine ihres Vorfahren. Befreundete Aktivisten helfen ihnen bei der Spurensuche. Bald scheint es tatsächlich nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis sie ihre Vorfahren bestatten können. Dann aber beginnt der Kampf mit der Bürokratie, von Tansania ebenso wie von Deutschland, wo die damaligen deutschen Kolonialherren und „Afrikaforscher“ mit Straßennamen geehrt werden. Bundespräsident Walter Steinmeier kommt auf Entschuldigungsvisite. Das Grab indes bleibt weiterhin leer.

Die Regisseurinnen begleiten ihre Protagonisten mit der Kamera und lassen sie ausführlich zu Wort kommen. Die Debatte um Restitution gegenüber den ehemaligen Kolonien sei bisher vor allem von Politikern und Wissenschaftlern geprägt worden, sagen die Filmemacherinnen. Entscheidende Stimmen hätten jedoch gefehlt: die der Angehörigen. Ihr Film breche das Schweigen: „Im Bewusstsein, dass das Private politisch ist, haben wir uns von den Perspektiven der Familien durch den Entstehungsprozess dieses Films leiten lassen.“

Diese Kritik erschien zuerst am 22.05.2024 auf: links-bewegt.de

King’s Land

(DK/SE/NO/DE 2023, Regie: Nikolaj Arcel)

Unkontrollierbares Leben
von Wolfgang Nierlin

Unter dunstigem Nebel erstreckt sich weit und flach die jütländische Heide. Im 18. Jahrhundert gilt diese verlassene Landschaft als unkultivierbar. Mehrere dänische Könige scheitern in ihrem Bestreben, diese großen Landesteile …

Unter dunstigem Nebel erstreckt sich weit und flach die jütländische Heide. Im 18. Jahrhundert gilt diese verlassene Landschaft als unkultivierbar. Mehrere dänische Könige scheitern in ihrem Bestreben, diese großen Landesteile urbar zu machen und zu kolonisieren. Zu schwierig sind die Umweltbedingungen, Rechtlose haben hier ihre Rückzugsorte und Verstecke. Da betritt im Jahre 1755 der ehemalige Hauptmann Ludvig Kahlen (Mads Mikkelsen), der 25 Jahre lang im Heer gedient hat, die königliche Rentenkammer in Kopenhagen, um die Erlaubnis für einen neuerlichen Kultivierungsversuch des Heidelands einzuholen. Skepsis schlägt dem ebenso entschlossenen wie zielstrebigen Königstreuen entgegen. Der schweigsame Kahlen ist ein Mann, der sich durch planvolles, diszipliniertes Vorgehen Erfolg erhofft. Er wolle die riskante Unternehmung selbst finanzieren und erwarte im Gegenzug, mit einem Adelstitel, einem Landgut und Bediensteten entlohnt zu werden.

Wie in den amerikanischen Siedlungswestern steht auch in Nikolaj Arcels bildgewaltiger Literaturverfilmung „King’s Land“ („Bastarden“), der auf einem Roman der dänischen Autorin Ida Jessen basiert, zunächst ein Zivilisationsprojekt im Mittelpunkt. Kahlen bricht auf, um mit kompromissloser Härte gegen sich selbst und andere die Natur zu unterwerfen und mit Fleiß, Entbehrungen und Willenskraft sein Lebensglück zu erzwingen. Dazu engagiert er wechselnde Helfer. Dass sein Erfolgsstreben neben seinem Dienst am König und dem Traum vom sozialen Aufstieg noch einen verdrängten biographischen Grund hat, verrät der Originaltitel: Kahlen ist das verstoßene uneheliche Kind eines Grafen. Diese Demütigung wird gleich in der ersten Begegnung mit dem herrschsüchtigen und rücksichtslosen Gutsherrn Frederik De Schinkel (Simon Bennebjerg) virulent. Der dekadente Landrichter des Bezirks, der 130 Pachthöfe besitzt und mit harter Hand verwalten lässt, ist ein brutaler Psychopath, der Kahlens Bestrebungen mit allen Mitteln verhindern will.

Damit ist der Konflikt zweier ungleicher Gegner etabliert, deren Gegensätzlichkeit sich in den Koordinaten von reich und arm, gerecht und ungerecht oder auch in der Differenz zwischen Willkürherrschaft und Königstreue markant und spannend ins Bild gesetzt findet. Arcel orientiert sich dabei nicht nur an der Hell-Dunkel-Malerei, sondern auch an der entsättigten Farbigkeit flämischer Landschaftsbilder. Stimmungsvoll und atmosphärisch dicht inszeniert er Panoramen unwirtlicher Lebensverhältnisse, in denen aber auch die menschliche Wärme einer Ersatzfamilie, die sich allmählich um Kahlen bildet und seinen Blick auf das Leben verändert, ihren emotional bewegenden Platz findet. Das Leben sei Chaos und nicht zu kontrollieren, hält De Schinkel einmal dem Idealisten Kahlen entgegen, bevor ihrer beider Leben tatsächlich in einem Abgrund aus Gier und Gewalt versinkt. Das bedeutet aber nicht, dass die Entscheidungsfreiheit suspendiert würde. Und so ziehen die Figuren ganz unterschiedliche Handlungskonsequenzen aus dieser Einsicht.

Auf trockenen Gräsern

(TR/FR 2023, Regie: Nuri Bilge Ceylan)

Unerreichbare Schönheit und ein Hauch von Transzendenz
von Wolfgang Nierlin

Das Weiß der Leinwand und die überwältigende Helle einer weiten Schneelandschaft im Cinemascope-Format verschmelzen in der ersten Einstellung von Nuri Bilge Ceylans neuem Film „Auf trockenen Gräsern“. Auf dieser Tabula …

Das Weiß der Leinwand und die überwältigende Helle einer weiten Schneelandschaft im Cinemascope-Format verschmelzen in der ersten Einstellung von Nuri Bilge Ceylans neuem Film „Auf trockenen Gräsern“. Auf dieser Tabula rasa einer beginnenden Erzählung bewegt sich als dunkler Punkt in der Ferne eine Gestalt durch den Schnee, von einem leichten Schneesturm umwölkt, auf eine entlegenes Dorf zu. Der Ankömmling, der seine Ferien in seiner Heimatregion verbracht hat, ist ein Rückkehrer und zugleich ein Fremder. In seinem mittlerweile vier Jahre andauernden Schuldienst in einer ostanatolischen Dorfschule hat sich der Kunstlehrer Samet (Deniz Celiloğlu) zwar gut integriert, doch hofft er, bald nach Istanbul versetzt zu werden. Der bei den Schülern beliebte „Lehrer aller Lehrer“, so der ironische Gruß eines Kollegen, ist eine widersprüchliche Figur mit einem innerlich zerrissenen Charakter. Er will nicht bleiben, wo er ist und vermeidet es deshalb, Wurzeln zu schlagen. Für eine Heirat sei er noch zu jung. Und seine Hoffnungen auf einen schmerzlich entbehrten Sinn projiziert er auf seine Lieblingsschülerin Sevim (Ece Bağcı), der er bei seiner Rückkehr einen Spiegel schenkt.

Dass nach der sorgsamen Exposition ausgerechnet das kluge, aufgeweckte Mädchen den Lehrer eines unangemessenen Verhaltens bezichtigt, hat eine komplizierte Vorgeschichte, die nicht nur Samets Charakter aufgrund seiner Unaufrichtigkeit ins Zwielicht rückt, sondern auch ein Schlaglicht wirft auf behördliche Hierarchien, Abhängigkeiten und Unregelmäßigkeiten in der Provinz. Außerdem werden nebenbei die sozialen und politischen Verhältnisse der armen, überwiegend kurdischen Bevölkerung thematisiert. Nachts sind die Salven von Maschinenpistolen zu hören und erinnern damit an einen kriegerischen Dauerkonflikt. Auch die Geschichte von Samets Kollegen und Mitbewohner Kenan (Musab Ekici) über seinen verhafteten und verschwundenen Vater deutet darauf hin. Freude und Schmerz würden manchmal in einem Augenblick zusammenfallen, sagt Kenan. Als Samet die Englischlehrerin Nuray (Merve Dizdar) kennenlernt, die in einem Nachbardorf unterrichtet, verbindet sich die unterschwellige politische Dimension mit seinen unausgegorenen Gefühlen und persönlichen Ambitionen.

Der türkische Meisterregisseur Nuri Bilge Ceylan, der seine genau beobachteten, durchweg ambivalenten Figuren einmal mehr in langen, vielschichtigen und oft verwickelten Rededuellen aufeinandertreffen lässt, etabliert mit Nuray eine starke Frau und Antipodin, die Samet herausfordert und ihn zwingt, Stellung zu beziehen. Die beiden verbindet ein künstlerisches Interesse, das sich bei Samet in Portraitfotos ausdrückt, während Nuray malt. Die Fallstricke des Menschlichen, die den vor allem um seine persönliche Freiheit besorgten Kunstlehrer veranlassen, zum „Herdentrieb“ der Gesellschaft auf Distanz zu gehen, führen seine Kollegin in einem hitzigen Disput schließlich zu einem Plädoyer für politisches und gesellschaftliche Engagement. Im mitlaufenden Konflikt zwischen Stadt und Provinz, Tradition und Moderne sagt Nuray, die bei einem Anschlag schwer verletzt wurde, dass für das Leben und Handeln der Ort nebensächlich sei, da die eigentlichen Probleme dem jeweiligen Menschen überallhin folgen würden. Der von zu viel Hoffnung ermüdete Samet muss sich entscheiden, ob er resignierend „im Sumpf untergehen oder ihn trockenlegen“ will, wie es an einer Stelle heißt.

Einmal mehr hat Ceylan mit seinem unbequemen, sehr nuanciert gezeichneten Protagonisten einen in Widersprüchen, Zweifeln und sich selbst gegenüber teilweise blinden Charakter geschaffen. Das zeigt sich nicht nur in Samets unentschiedenem Verhältnis zu Nuray und seiner damit verbundenen latenten Eifersucht auf seinen Kollegen Kenan, sondern auch in seinem Blick auf Sevim. Denn einerseits setzt er in sie die Hoffnungen der Jugend, andererseits prophezeit er ihre spätere, zwangsläufige Ernüchterung. „Alles Schöne auf dieser Welt scheint sich in den Netzen zu verstricken, die wir selbst weben, bevor es überhaupt zu uns gelangen kann“, heißt es einmal. Auch Samet ist ein Mensch, der gegen sein allzumenschliches Schicksal das Unmögliche, ja einen „Hauch von Transzendenz“ erträumt und sich dabei selbst im Wege steht. Wenn von einem Augenblick auf den Anderen der Winter endet und der Sommer beginnt, muss auch er, gebannt vom Blick auf die steinernen Zeugen der Vergangenheit, einen Schritt weitergehen.

Die Q ist ein Tier

(DE 2023, Regie: Tobias Schönenberg)

Fleischbeschau
von Jürgen Kiontke

Der Film „Die Q ist ein Tier“ ist ein Spielfilm im Gewand einer Dokumentation. Die Handlung wird von einer Vielzahl Figuren mit gleichen Anteilen am Geschehen erzählt. 53 Darsteller mit …

Der Film „Die Q ist ein Tier“ ist ein Spielfilm im Gewand einer Dokumentation. Die Handlung wird von einer Vielzahl Figuren mit gleichen Anteilen am Geschehen erzählt. 53 Darsteller mit gleichwertigen Rollen? Das kommt nicht alle Tage vor.

Darum geht’s: Nachdem dem Schlachthof-Betreiber Werner Haas eines Nachts Schlachtabfälle in seinen Vorgarten gekippt wurden, erstattet er aufgebracht Anzeige gegen Unbekannt. Die Polizei befragt die Anwohner des kleinen Ortes. Der Fleischbetrieb von Haas ist der einzige größere Arbeitgeber im Umkreis. Ja, die Lastwagen jeden Tag nerven schon. Nein, wir haben nichts gesehen.

Sachbuchautorin Hilal Sezgin hat die gesamte Debatte rund um Nutztierhaltung, Schlachterei-Skandalen, vegane Ernährung und Tierrechtsaktivismus in ein pralles Drehbuch verpackt und auf eine Menge Sprechrollen verteilt. Die Fleischkäuferin, den Schlachter, den Vertragsarbeiter, den Demonstranten, der im Bauwagen wohnt. Der Aktivist von „Animalista Antikapitalista“, der weiß: „Der Kapitalismus macht Leben zur Ware“. Die alleinerziehende Tierärztin, die die geregelte Arbeitszeit im Schlachthof schätzt, und so weiter.

Herausgekommen ist ein vielseitiger Blick auf die Debatte um Ernährung und ihre Produktionsabläufe zwischen Profitstreben und fleischfreiem Kantinentag, Bolzenschussgerät und Biolandwirtschaft, Kriminalisierung von Protest und der Verquickung wirtschaftlicher und politischer Interessen. „Der eine Sohn übernimmt das Schlachthaus, der andere geht in die Politik“, heißt es einmal im Film. Wo dann mit ein paar Telefonanrufen Probleme in der Lieferkette aus der Welt geschafft werden. Ja, und auch im Bio-Essen sind Fleischabfälle.

Dramaturgisch hält sich der Schauwert in Grenzen. Es bleibt beim Textaufsagen, Kuh und Leidensgenossen haben leider keinen Text, das ist irgendwie doch recht inkonsequent. „Wir haben in diesem Film auf den visuellen Horror der Schlachthäuser verzichtet und uns stattdessen für ein satirisch-unterhaltsames, wortgewaltiges Menschenensemble entschieden“, sagt Regisseur Tobias Schönenberg. Funktioniert dann auch als Podcast.

Diese Kritik erschien zuerst am 13.05.2024 auf: links-bewegt.de

Ein Schweigen

(FR/BE 2023, Regie: Joachim Lafosse)

Blick in menschliche Abgründe
von Wolfgang Nierlin

Eine Frau, merklich angespannt und nervös, fährt mit ihrem Auto zu einem wichtigen Termin. Der Ausdruck ihres Gesichts wird über den Rückspiegel vermittelt, bleibt also Ausschnitt einer indirekten, distanzierten Inszenierung …

Eine Frau, merklich angespannt und nervös, fährt mit ihrem Auto zu einem wichtigen Termin. Der Ausdruck ihres Gesichts wird über den Rückspiegel vermittelt, bleibt also Ausschnitt einer indirekten, distanzierten Inszenierung und ist doch nah, während alle Umrisse und Hintergründe unscharf sind. Astrid Schaar (Emmanuelle Devos), so der Name der Frau, gibt kurz darauf gegenüber der Kommissarin Valérie Colin (Jeanne Cherhal) Auskunft über die mutmaßlichen Umstände, die zu einer auf den ersten Blick unverständlichen Tat geführt haben. Demnach hat ihr Adoptivsohn Raphaël versucht, ihren Mann François (Daniel Auteuil) zu ermorden. Dieser ist ein ebenso angesehener wie renommierter Rechtsanwalt, der sich, begleitet von großem Medieninteresse, seit fünf Jahren mit Fällen schweren Kindesmissbrauchs beschäftigt, die offensichtlich weite Kreise ziehen. Als Verteidiger einer Opferfamilie wirft Schaar der Polizei und der Justiz Versagen vor. Erschöpft und unter Druck, gerät er durch eigene Verfehlungen und privates Versagen aber selbst immer mehr ins Zwielicht.

Angelehnt an die Affäre um den belgischen Anwalt Victor Hissel, der neben anderen die schrecklichen Taten des Kinderschänders und Mörders Marc Dutroux ermittelte, beschäftigt sich Joachim Lafosse in seinem neuen Film „Ein Schweigen“ („Un silence“) mit den Abgründen und Schattenseiten der bürgerlichen Ordnung. Diese wird von mühsam Verdrängtem, von Heimlichkeiten und Schweigen beherrscht. Während ein selbstverständlicher Wohlstand für äußere Stabilität sorgt, rumort es im Innern einer dysfunktional gewordenen Familie. Raphaël (Matthieu Galoux) wird verwöhnt und versagt in der Schule; seine verheiratete ältere Schwester Caroline (Louise Chevillotte) konfrontiert den Vater mit einer dunklen Vergangenheit; und Astrid, die im Zentrum des nachdenklichen Films steht, versucht unter widerstreitenden Gefühlen, die Familie zusammenzuhalten. Sie sorgt sich um ihren Sohn, lässt möglicherweise belastende Dokumente verschwinden und lebt neben ihrem Mann her wie eine Fremde.

Nach der Exposition auf dem Kommissariat erzählt Joachim Lafosse betont undramatisch, aber zugleich präzise und genau eine Vorgeschichte voller Andeutungen und Auslassungen. Durch einen gebremsten, sehr kontrollierten Informationsfluss, der mehr einen inneren Spannungsaufbau jenseits äußerlicher Effekte bewirkt, werden die Umrisse und Hintergründe der Erzählung erst allmählich sichtbar. Mit seiner betont nüchternen, unauffälligen Inszenierung und einer elliptischen Erzählweise stellt der belgische, 1975 geborene Regisseur Fragen, ohne Antworten zu geben, er blickt in menschliche Abgründe, ohne vorschnell zu verurteilen.

Was bringt den Menschen dazu, einen auf den ersten Blick unverständliche Tat zu begehen? Die Wahrheit scheint vielfältig zu sein. Ihm gehe es darum, die Wirkungen von Scham und verdrängter Schuld sowie die Verletzlichkeit hinter dem Schweigen zu erforschen. „Verstehen, was passiert ist“, heißt es entsprechen gleich zu Beginn des Films. Die oft aus der Distanz und im Dunkeln aufgenommenen Figuren sind bildlich immer wieder eingeschlossen, isoliert oder fragmentiert. Sie tauchen ab, um aufzutauchen, suchen Vergessen, um neuen Atem zu schöpfen und sind sich doch selbst fremd; sie verstehen sich kaum und scheinen ihren Handlungen förmlich ausgeliefert zu sein.

Challengers – Rivalen

(USA 2024, Regie: Luca Guadagnino)

Beziehungsspiele
von Wolfgang Nierlin

Seit ihrer gemeinsamen Internatszeit sind Art Donaldson (Mike Faist) und Patrick Zweig (Josh O’Connor) wie zwei unzertrennliche Brüder, denen man deshalb den Spitznamen „Fire & Ice“ gegeben hat. Im heißen …

Seit ihrer gemeinsamen Internatszeit sind Art Donaldson (Mike Faist) und Patrick Zweig (Josh O’Connor) wie zwei unzertrennliche Brüder, denen man deshalb den Spitznamen „Fire & Ice“ gegeben hat. Im heißen Sommer des Jahres 2019 stehen sie sich in New Rochelle, New York als erbitterte Gegner im Finale eines eher unbedeutenden Tenniswettbewerbs gegenüber. Während der Profispieler Art, der nach einer Verletzung in einem Formtief steckt, mit einem erwartbaren Turniersieg seine Krise zu überwinden hofft, um sich für die US Open zu empfehlen, versucht der ziemlich abgebrannte, aber charmante Patrick, der im Auto oder in fremden Betten übernachtet, mit den Preisgeldern zweitklassiger Turniere über die Runden zu kommen. Die ehemaligen Freunde haben sich lange nicht gesehen beziehungsweise nur aus der Ferne wahrgenommen. Der Grund heißt Tashi Duncan (Zendaya), sitzt – gewissermaßen als dritte Mitspielerin – unter den Zuschauern in der Mitte des Center-Courts und wird mit einem dramatisch schnellen Zoom ins Zentrum des Bildes gerückt. Einst mit Patrick liiert, trainiert die ehemalige Tennisspielerin jetzt ihren Mann Art.

Von dieser Rahmenhandlung aus, die zugleich die Konflikte von Luca Guadagninos neuem Film „Challengers – Rivalen“ metaphorisch verdichtet, springt das Beziehungsdrama zurück in das Jahr 2006. Damals verlieben sich die beiden Freunde bei einem Juniorenturnier, wo sie als siegreiche Doppelpartner reüssieren, unsterblich in die umschwärmte und umjubelte Finalsiegerin Tashi, die nicht nur schön und begehrenswert ist, sondern vor allem ehrgeizig und kämpferisch. Das Tennisspielen vergleicht sie kühl mit einer Beziehung. Und wer sich ihre Liebesgunst erhoffen will, muss deshalb erst mal auf dem Tennisplatz erfolgreich sein. Als Patrick im Junior-Finale gegen Art gewinnt, ist also er zunächst er Glückliche; und nach einem spielerischen, scheinbar unbeschwerten Auftakt zu einer Dreiecksbeziehung trennen sich so die Wege der Freunde. Als sich Tashi drei Jahre später bei einem wichtigen Spiel schwer verletzt und ihre Karriere beenden muss, wird sie zu Arts Frau und Trainerin, die offensichtlich mit kühler Berechnung ihre eigenen verlorenen Ambitionen kompensiert respektive auf Art überträgt.

Luca Guadagnino erzählt diese leidenschaftliche Beziehungsgeschichte auf mehreren Zeitebenen, die er kunstvoll miteinander verbindet. Dynamisiert wird diese komplexe Handlungsstruktur nicht nur durch treibende, pulsierende Technobeats, die selbst noch Dialoge in einen Schlagabtausch verwandeln, sondern auch durch packende, geradezu actiongeladene Tennisspielszenen. Aus diesen ragt natürlich das finale Match mit seinen visuellen Stilisierungen heraus, die den athletischen, schwitzenden und nackten Männerkörper mit voyeuristischer Lust feiern und im spannenden Zweikampf um den Sieg die Zeit bis zum fast völligen Stillstand dehnen. Modern und poppig, sinnlich und verschachtelt erzählt, fügt sich das Puzzle der Handlung allmählich zusammen, ohne ein vollständiges Bild liefern zu wollen. Zugleich nutzt Guadagnino das Tennisspiel, um darin das Duell um eine allzu dominante, gewinnorientierte Frau und das Ringen um eine wahre Freundschaft jenseits von Rivalitätsdenken und Profitstreben zu spiegeln.

Slow

(LT/ES/SE 2023, Regie: Marija Kavtaradze)

Jenseits der Liebesnormen
von Wolfgang Nierlin

Zwei Menschen, die mit ihrem Körper arbeiten, lernen sich in einem gemeinsamen Workshop kennen. Dovyda (Kęstutis Cicėnas) ist Gebärdensprachdolmetscher und soll in einem Tanzkurs für gehörlose Jugendliche die Anweisungen der …

Zwei Menschen, die mit ihrem Körper arbeiten, lernen sich in einem gemeinsamen Workshop kennen. Dovyda (Kęstutis Cicėnas) ist Gebärdensprachdolmetscher und soll in einem Tanzkurs für gehörlose Jugendliche die Anweisungen der Tanzlehrerin Elena (Greta Grinevičiūtė) übersetzen. Der große aufmerksame Mann mit dem wachen Blick spricht mit seinen Händen und seiner Mimik, während die Tänzerin mit den Jugendlichen in einen gemeinsamen Rhythmus einschwingt, um Gefühle auszudrücken. Sie wolle ihren Schülerinnen und Schülern ein besseres Körpergefühl und Selbstvertrauen vermitteln, sagt Elena später zu Dovydas. Nach der Arbeit kommen sich die beiden in langen Gesprächen allmählich näher. Zwischen dem offenen, verständnisvollen Dolmetscher, der einen stillen Humor pflegt, und der leidenschaftlichen Tänzerin, die gerne ihre Freiheit genießt, entsteht eine ungewöhnliche Liebesbeziehung.

Davon sind beide überrascht. Denn die nach Unabhängigkeit strebende Elena hat bislang eine konventionelle Paarbeziehung gemieden; und Dovydas, der sich zu ihrer Verwunderung als asexuell identifiziert, stellt Normierungen in Liebesverhältnissen prinzipiell in Frage. Er brauche keinen Sex, was aber nicht bedeute, dass er gar nichts wolle. Elena, die eine starke Vertrautheit zu Dovydas spürt und sich zu ihm hingezogen fühlt, ist irritiert und verunsichert. Sie sagt: „Ich kenne niemanden, der so ist wie du.“ Trotzdem oder gerade deshalb entwickelt sich zwischen den beiden eine tiefe, zärtliche, von großer Aufrichtigkeit getragene Liebesbeziehung, in der jeder die eigene Freiheit sowie diejenige des anderen auslotet und mit den eigenen Bedürfnissen zu verknüpfen versucht. Das bleibt nicht ohne Spannungen, führt aber immer wieder auch zu überraschenden Erfahrungen. Dabei wissen beide zugleich, dass sie sich nicht ändern werden.

Aus behutsamer Nähe und mit sorgsamem Blick für intime Details inszeniert die litauische Regisseurin Marija Kavtaradze in ihrem preisgekrönten Film „Slow“ die schwierige Normalität einer zartfühlenden Liebesbeziehung jenseits der Normen. Sensibel und glaubhaft stellt sie dabei immer wieder die Sprache der Körper ins Zentrum einer Geschichte, die ebenso unspektakulär wie selbstverständlich nach den vielfältigen Formen von Liebe und Sexualität fragt und dabei die gängigen Erwartungen und Rollenmuster unterläuft. Es gebe nicht nur eine Art „richtige Beziehung“, sagt Dovydas einmal und weiß doch auch, wie stark Sex als Praxis der Selbstvergewisserung und als Liebesbeweis wirksam ist. Marija Kavtaradzes realistischer, von einem feinen Humor und stimmungsvollen Popsongs durchzogener Film spiegelt sein Thema außerdem in Nebenfiguren, etwa in Elenas Freundin Victorija, die Nonne geworden ist. Auch wenn die Dauer ihrer außerordentlichen, von ungeahnten Empfindungen getragenen Beziehung vielleicht begrenzt ist, so wird davon, da sind sich die beiden Liebenden sicher, doch „immer etwas bleiben.“

Civil War

(USA/GB 2024, Regie: Alex Garland)

Obszöne Bilderjäger
von Wolfgang Nierlin

In den USA tobt ein Bürgerkrieg. Auf den Straßen von New York herrscht Chaos. Demonstrationen, Verteilungskämpfe und Gewalt sorgen für eine allgegenwärtige Atmosphäre der Bedrohung. Bilder der Zerstörung geben Auskunft …

In den USA tobt ein Bürgerkrieg. Auf den Straßen von New York herrscht Chaos. Demonstrationen, Verteilungskämpfe und Gewalt sorgen für eine allgegenwärtige Atmosphäre der Bedrohung. Bilder der Zerstörung geben Auskunft über den kaum vorstellbaren apokalyptischen Zustand des Landes, der in Alex Garlands Kriegsfilm „Civil War“ ohne weitere Erklärungen oder Hintergrundinformationen gesetzt wird. Offensichtlich befinden sich die Vereinigten Staaten in einem neuen Sezessionskrieg. Während sich eine sogenannte „Western Force“, ausgerechnet ein militärisches Bündnis aus kalifornischen und texanischen Kämpfern, sowie eine „Florida Alliance“ auf Washington D.C. zubewegen, um den amtierenden Präsidenten zu stürzen beziehungsweise zu liquidieren, schwafelt dieser im TV „vom größten Sieg in der Geschichte seines Landes“, den die Regierungstruppen bald erringen werden. Offensichtlich geht es auch um die Deutungshoheit über das „richtige Amerika“.

Die renommierte, ziemlich abgeklärte Kriegsfotografin Lee Smith (Kirsten Dunst) und ihren kiffenden Kollegen Joel (Wagner Moura), die beide für die Agentur Reuters arbeiten und die sich durch ihre langjährige Erfahrung ebenso abgehärtet wie desillusioniert geben, scheint die Politik nicht sonderlich zu interessieren. Als obsessive, skrupellose Bilderjäger leben und sterben sie, wer auch immer das verstehen will, allein für den perfekten fotografischen „Schuss“, der in Garlands actiongeladenem Film freilich stets embedded, also in nächster Nähe zu den „wirklich“ Schießenden stattfindet, egal wie realistisch das sein mag und egal, auf welcher Seite diese stehen. Schließlich erzählt „Civil War“ einmal mehr eine Heldengeschichte, in der die toughe Lee die aufopferungsvolle Vorbildfunktion übernimmt. Durch alles Leid, alles obszöne Fotografieren und durch tief traumatisierende Erlebnisse hindurch beharrt sie kalt, als ginge das, auf ihrer angeblichen Neutralität: „Wir fragen nicht, wir halten fest.“ Das sagt sie zu ihrer jungen, ehrgeizigen Kollegin Jessie (Cailee Spaeny), die der Älteren unverständlicherweise mit allen schrecklichen Konsequenzen nacheifert.

Der einzig einigermaßen Vernünftige in der Journalistengruppe, die sich auf weiten Umwegen in die belagerte, extrem gefährliche Hauptstadt aufmacht, ist der alten „New York Times“-Reporter Sammy (Stephen McKinley Henderson), der in der Logik dieses Films natürlich sterben muss. Das brutale Coming-of-Age-Drama verbindet sich in der Folge mit einem dystopischen Roadmovie durch ein kaputtes, blutgetränktes Land, in dem die absurden Fronten nicht immer klar sind. „Die stecken fest, wir stecken fest“, sagt ein abgebrühter Scharfschütze, der tötet, um nicht getötet zu werden. Ein Autofriedhof mitten auf einer Autobahn, ein Flüchtlingscamp im verwilderten Rund eines verfallenen Stadions oder auch der Funkenflug während einer nächtlichen Autofahrt vor den Augen des Sterbenden sorgen für eine beunruhigende visuelle Poesie. Diese wird teils verstärkt, teils konterkariert durch den Einsatz von Popsongs, die dem Schrecklichen und Unmenschlichen eine fast satirische Note verleihen.

Schwer vorstellbar, dass Alex Garland diesen sensationsgeilen, von übertriebenem Egoismus gesteuerten Kriegsjournalismus, der für die Protagonisten mitunter ein Spaßtrip zu sein scheint, unkritisch betrachtet. Sie habe nie so viel Angst erlebt, sagt Jessie dann zum Schluss, aber im Angesicht des Todes auch nie so viel Leben in sich gespürt. Das markiert natürlich ihren Eintritt in den Club der augenzwinkernden Eingeweihten. Man hat von dieser traurigen Wahrheit schon anderswo gehört. Es bleibt nicht die einzige in diesem zwiespältigen, unausgegorenen Film.

Mit einem Tiger schlafen

(AT 2024, Regie: Anja Salomonowitz)

Arbeit am inneren Schmerz
von Wolfgang Nierlin

Der enge Zusammenhang von Leben und Kunst wird schon in den ersten Szenen des Films vermittelt: Im Kerzenschein einer dunklen Bauernstube zeichnet die kleine Maria mit Kohle ein Portrait, während …

Der enge Zusammenhang von Leben und Kunst wird schon in den ersten Szenen des Films vermittelt: Im Kerzenschein einer dunklen Bauernstube zeichnet die kleine Maria mit Kohle ein Portrait, während ihre Großmutter mit einem Kreuz eine notarielle Urkunde „unterschreibt“. Die Verhältnisse, in denen das uneheliche Kind aufwächst, sind ärmlich. Erst später wird die künstlerisch begabte Maria Lassnig (1919-2014) von ihrer Mutter aufgenommen, zu der sie zeitlebens ein schwieriges Verhältnis hat. „Der Schmerz ist innen. Ich male meine Gefühle“, beschreibt sie einmal den künstlerischen Ausdruck ihrer körperlichen Empfindungen. Innen und außen verschmelzen in dieser oft hellen und sehr farbigen „Körperbewusstseinsmalerei“, in der der nackte Frauenkörper immer neue Formen annimmt oder in surrealer Weise mit anderen Kreaturen verschmilzt. Indem die Künstlerin ihren inneren Schmerz kreativ verarbeitet, therapiert sie sich selbst.

Die österreichische Filmemacherin Anja Salomonowitz übersetzt in ihrem eigenwilligen filmischen Künstlerportrait „Mit einem Tiger schlafen“ die Subjektivität Lassnigs in einen zeitlosen Bilderstrom. Jenseits einer chronologischen Erzählung wechselt ihr fragmentarischer, episodisch angelegter Film fortwährend die Zeitebenen, wobei Birgit Minichmayr jeweils die verschiedenen Lebensalter der lange verkannten Malerin verkörpert. Dazu kommt noch, dass Solomonowitz die Fiktion immer wieder mit semidokumentarischen Elementen aufbricht und verfremdet. Dann treten die Figuren aus ihrer Rolle und sprechen gewissermaßen als Zeitzeugen zum Zuschauer. In Lassnigs Bildern werden die angesprochenen Themen wiederum gespiegelt. Neben dem Konflikt mit der Mutter, die um die materielle Sicherheit der Tochter besorgt ist, geht es um die Erfolglosigkeit einer unverstandenen Künstlerin im Schatten ihrer männlichen Kollegen – etwa des jugendlich-rebellischen Arnulf Rainer (Oskar Haag) – sowie um das fortwährende Leiden an einem Leben, dass für Maria Lassnig nur durch das Malen erträglich war.

Der große, helle Raum als Atelier und Präsentationsort der „strahlenden Bilder“ markiert den Gegenpol zur Zeitlosigkeit. Die Regisseurin verstärkt diese räumliche Dimension noch durch die Wahl des Cinemascope-Formats. Oft in Unterwäsche oder im Jogginganzug kauert Lassnig in ihrem Kärntner Waldatelier tief in sich versunken vor der leeren Leinwand, malt dann im Liegen, windet sich beim Erspüren der richtigen Malposition oder dämmert mit halboffenem Mund und verzerrtem Gesicht vor sich hin. In ihrer künstlerischen Selbstentäußerung ist sie radikal, als Mensch und Künstlerin unbequem, schwierig und streitlustig. Gegenüber dem oberflächlichen Kunstbetrieb, seinen Moden und leeren Worthülsen zeigt sie sich als „bissiger Hund“. Als kompromisslose Außenseiterin, die einige Jahre auch in Paris und New York arbeitet, ohne von ihrer Kunst leben zu können, wird ihr erst spät Anerkennung und Erfolg zuteil. Noch im hohen Alter sucht sie nach der „erschreckenden Realität der Farbe“ und nach einem geliebten Gefährten inmitten der Einsamkeit; und sagt doch: „Meine Bilder sind meine Kinder. Ein Museum ist ein Waisenhaus.“

Robot Dreams

(ES/FR 2024, Regie: Pablo Berger)

Wege zur Freundschaft
von Wolfgang Nierlin

Beim Blick über Manhattan und das bunte Treiben in New York ragen die Twin Towers kurz ins Bild. Bald darauf sind es Videokassetten, Fernsehwerbung, der Musiksender MTV und das Teletennis …

Beim Blick über Manhattan und das bunte Treiben in New York ragen die Twin Towers kurz ins Bild. Bald darauf sind es Videokassetten, Fernsehwerbung, der Musiksender MTV und das Teletennis Pong, die darauf hinweisen, dass Pablo Bergers nostalgisch getönter Animationsfilm „Robot Dreams“ in den 1980er Jahren spielt. Vom bläulichen Licht des Fernsehbildschirms beleuchtet, sitzt der Hund Dog Varon allein, einsam und traurig in seinem geräumigen Apartment, um sich durch die Programme zu zappen oder gegen sich selbst Pong zu spielen, während er auf sein eigenes Spiegelbild blickt. Plakate von Pierre Etaix‘ Filmkomödie „Yogo“ und von Pink Floyds legendärem Cover zur Platte „The dark side of the moon“ zieren die Wände. Wenn Dog wieder einmal trübselig vor seinem Makkaroni-Fertiggericht sitzt, beobachtet er sehnsüchtig seine geselligen Nachbarn gegenüber. Dog ist ein schüchterner, einsamer Hund, dem es an echten Beziehungen mangelt.

Das ändert sich, als er in der TV-Werbung auf ein Angebot der Firma „Amica 2000“ aufmerksam wird, die Roboter als liebevolle Freunde und Wegbegleiter annonciert. Kurzerhand bestellt Dog einen Bausatz, schraubt das kantige Wesen mit Hilfe einer Anleitung und unter den neugierigen Blicken einiger Tauben zusammen und erweckt es schließlich zum Leben. Plötzlich erstrahlt die Welt in neuen Farben und Dog erlebt mit seinem frischgebackenen Freund Robo einen bezaubernden Sommer voller Unbeschwertheit, Freude und neuer Eindrücke. Gemeinsam durchstreifen sie die verschiedenen Stadtviertel des multikulturellen Melting Pot mit seinen Subkulturen und Straßenkünstlern. Dogs bislang trister Alltag verwandelt sich in ein fröhliches Abenteuer, zu dessen vorläufigem Höhepunkt schließlich ein gemeinsames Rollschuhballett mit Robo zum leitmotivisch eingesetzten Song „September“ von Earth, Wind & Fire wird. Schließlich landen die beiden Freunde kurz vor Saisonende im Strand- und Vergnügungspark von Coney Island, wo sie die Zeit vergessen und eine schmerzliche Trennung erleben.

Pablo Bergers wunderschöner, von tiefer Menschlichkeit getragener Animationsfilm „Robot Dreams“, der auf der gleichnamigen Graphic Novel von Sara Varon basiert, ist eine melancholische Reflexion über Freundschaft und die Vergänglichkeit von Beziehungen. Dabei kommen die fantasievoll gezeichneten und animierten Tier-Figuren, die menschlich fühlen, denken und handeln, ganz ohne Dialoge aus und evozieren im Verbund mit rein filmischen Mitteln die visuelle Poesie des Stummfilms. Klare Linien, flächige Farbigkeit und eine große, mit vielen Details angereicherte Schärfentiefe befördern und verstärken diese reine Form des Kinos, das „Robot Dreams“ zum sinnlichen, emotional bewegenden Erlebnis ebenso für Kinder wie für Erwachsene macht. Musik und Sounddesign spielen dabei eine wesentliche Rolle. Immer wieder erzählt der Film, der auch eine liebevolle Hommage an New York ist, zugleich Robos Wunschträume von einer anderen, vielleicht besseren Wirklichkeit. Doch in „Robot Dreams“ sucht und findet das Leben seine eigenen, verschlungenen Wege zu einem anderen, unerwarteten Glück.

For the Time Being

(DE 2023, Regie: Nele Dehnenkamp)

Für die Gerechtigkeit
von Jürgen Kiontke

Michelles und Jermaines Hochzeit findet unter außergewöhnlichen Umständen statt: im Besuchsraum eines Hochsicherheitsgefängnisses. Zunächst denkt Michelle Bastien, ihr Jugendfreund Jermaine Archer könnte schnell wieder freikommen. Doch bald ist klar: Er …

Michelles und Jermaines Hochzeit findet unter außergewöhnlichen Umständen statt: im Besuchsraum eines Hochsicherheitsgefängnisses. Zunächst denkt Michelle Bastien, ihr Jugendfreund Jermaine Archer könnte schnell wieder freikommen. Doch bald ist klar: Er wird wegen eines ihm zur Last gelegten Mordes eine 22-jährige Haftstrafe in der berüchtigten Haftanstalt Sing Sing bei New York verbüßen. Jermaine sagt, dass er zu Unrecht einsitzt. Die beiden beschuldigen den zuständigen Staatsanwalt, eine Zeugenaussage gekauft zu haben. Ihre Beschwerden laufen jedoch ins Nichts.

Aber weder Jermaine noch seine Frau denken ans Aufgebeben. Im Gegenteil: Michelle Bastien-Archer kämpft mit allen Mitteln vor Gericht und in der Öffentlichkeit dafür, ihren Mann freizubekommen. Die alleinerziehende Mutter von zwei Teenagern organisiert Demos, gibt Interviews und arbeitet mit Rechtsanwälten zusammen. Längst ist ihr klar, dass Jermaines Schicksal kein Einzelfall ist: Viele Afroamerikaner, da ist sie sich sicher, sitzen aufgrund ungerechter Prozessführung ein. Der Kampf um das Einzelschicksal ihres Ehemanns ist Teil ihres Einsatzes für die Menschenrechte.

Die Regisseurin Nele Dehnenkamp hat ihren Kampf und Alltag für ihr Dokumentarfilm-Debüt „For the Time Being“ über Jahre begleitet. Michelle Bastien-Archer gibt Auskunft über ihr Leben und ihre Wünsche – ihre Hoffnung, doch noch irgendwann ein normales Familienleben führen zu können. Bald steht der Auszug der Kinder bevor, und immer noch ist Jermaine eingesperrt. Aber dann taucht nach Jahren doch noch ein Beweisstück auf, das helfen könnte, seinen Fall neu aufzurollen. Und tatsächlich kommt in den Justizapparat nach Jahrzehnten endlich Bewegung.

Dehnenkamp ist eine detailreiche Skizze über das US-Justizsystem und seine Fallstricke gelungen, aber auch ein intensives Porträt der Widerstandskraft der Familie Archer. Das filmische Langzeitprojekt erstreckt sich über sagenhafte zehn Jahre. Freunde, Helfer und Prozessbeteiligte kommen zu Wort. Die Dokumentaristin nimmt ihre Rolle als Chronistin der Zeit sehr ernst. Begleitend zum Kinostart wird „For the Time Being“ in einzelnen Justizvollzugsanstalten in Deutschland zu sehen sein. Des Weiteren ist eine Kinotour mit der Regisseurin geplant.

Diese Kritik erschien zuerst am 17.04.2024 auf: links-bewegt.de

Zwischen uns das Leben

(FR 2023, Regie: Stépahne Brizé)

Existenzielle Verunsicherung
von Wolfgang Nierlin

Aus der Vogelperspektive wirkt das Auto allein und verloren in der weiten, flachen Landschaft vor der bretonischen Küste. Der populäre Filmschauspieler Mathieu (Guillaume Canet) befindet sich auf dem Weg in …

Aus der Vogelperspektive wirkt das Auto allein und verloren in der weiten, flachen Landschaft vor der bretonischen Küste. Der populäre Filmschauspieler Mathieu (Guillaume Canet) befindet sich auf dem Weg in ein großes, modernes Wellnesshotel am Meer, wo er mit einer einwöchigen Thalassotherapie Abstand zu seinem Berufsalltag finden will. Weil Nachsaison ist, wie der Originaltitel „Hor-Saison“ von Stéphane Brizés neuem Film „Zwischen uns das Leben“ bereits ankündigt, herrscht in den hellen, sterilen Räumen eine ungewohnte Ruhe. Mathieu fühlt sich einsam unter den vereinzelten Kurgästen und unter den Bedingungen eines allgemeinen Stillstands, der die Konfrontation mit seinen Selbstzweifeln noch verstärkt. Denn tatsächlich hat der Schauspieler, der mit einem ersten Auftritt auf der Theaterbühne seiner Karriere einen neuen Impuls geben wollte, vier Wochen vor der Premiere aus Angst vor dem Scheitern die Proben abgebrochen. Noch immer ist er verunsichert und hadert mit seiner Entscheidung. Sein Selbstwertgefühl ist erschüttert.

Stéphane Brizé intensiviert in seinem sorgsam entwickelten Film dieses Gefühl einer existentiellen Verunsicherung noch dadurch, dass er seinen psychisch angegriffenen Protagonisten einer Reihe von Situationen aussetzt, in denen die Tücken der Objekte für weiteres Ungemach sorgen. Das ist zugleich komisch und traurig und verstärkt den Krisencharakter der Figur, die diversen Kontrasten zwischen Außenwelt und innerem Erleben ausgesetzt wird. Außerdem erzeugt Brizé in seinem tragikomischen Film eine melancholische Grundstimmung, indem er durch eine asynchrone Montage von Bild und Ton das raum-zeitliche Kontinuum aufbricht, was zugleich der Erzählökonomie zugute kommt. In diesem Flow entgrenzter Koordinaten und gesteigerter Desorientierung begegnet Mathieu seiner früheren Freundin Alice (Alba Rohrwacher), die er vor 15 Jahren verlassen hat und die jetzt mit Ehemann und Tochter in dem Küstenort lebt.

In langen, ausführlichen Gesprächen, die mitunter die Anmutung eines kammerspielartigen Zwei-Personen-Stücks haben, tauschen sich die beiden über die Vergangenheit und ihr gegenwärtiges Leben aus. Erneut nähern sie sich einander an und rufen alte, noch immer virulente Gefühle wach. In ihrer Beziehung scheint etwas noch nicht abgeschlossen zu sein. Vor allem Alice wähnt sich auf der Verliererseite und glaubt, als Pianistin ihre kreativen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft zu haben: „Ich habe mich selbst in ein Loch gegraben. Ich kann nicht rausholen, was in mir steckt.“ Auf diesen Mangel führt sie schließlich auch das Scheitern ihrer früheren Beziehung zurück. Zu diesem Zeitpunkt weiß sie allerdings noch nicht, dass entgegen dem Anschein auch bei Mathieu nicht alles rund läuft. Je intimer und zärtlicher ihre Begegnungen werden, desto mehr und dringlicher öffnen sie sich ihren persönlichen Wahrheiten und finden so zu einem Ausgleich in ihrer Beziehung und zum Abschluss einer Liebesgeschichte, die ebenso schön wie schmerzlich ist.

Eureka

(AR/DE/FR/MX/PT 2023, Regie: Lisandro Alonso)

Bilder der Entwurzelung
von Wolfgang Nierlin

Über dem wild rauschenden Fluss brechen schroffe Felsformationen das blendende Sonnenlicht. Ein alter, hagerer „Indianer“ schlägt gleichmäßig eine Trommel. Von seinem erhöhten Standpunkt aus beobachtet er einen vorbeiziehenden Pferdewagen. Das …

Über dem wild rauschenden Fluss brechen schroffe Felsformationen das blendende Sonnenlicht. Ein alter, hagerer „Indianer“ schlägt gleichmäßig eine Trommel. Von seinem erhöhten Standpunkt aus beobachtet er einen vorbeiziehenden Pferdewagen. Das Motiv ist ikonographisch und tief in der Geschichte des Wildwestfilms verankert. Als Bild kolonialer Eroberung und Expansion versinnbildlicht es das Eindringen und die Durchquerung eines fremden Raums unter den wachsamen Blicken der indigenen Ureinwohner. Der argentinische Regisseur Lisandro Alonso inszeniert in seinem neuen Film „Eureka“ solche Bilder aus dem Fundus der Western-Mythologie, um sie als medial Vermittelte zu kennzeichnen. Zugleich bricht er die Klischees mit vehementen Gegendarstellungen. Wenn der Fremde namens Murphy (Viggo Mortensen) müde und erschöpft eine mitten in der Einöde liegende Stadt erreicht, begegnet er einer schockierenden Verwahrlosung und Gesetzlosigkeit.

Der Ort ist wüst, kaputt und heruntergekommen; die Menschen sind besoffen und gewalttätig. Alkoholismus, Unzucht und Anarchie bestimmen die Szene. Auf der Suche nach seiner Tochter schießt sich Murphy skrupellos den Weg frei, nur um schließlich vom Mann (der iranische Regisseur Rafi Pitts) der jungen Frau gesagt zu bekommen: „Manchmal sind Väter unsichtbar. Und das sollten sie auch sein.“ In Schwarzweiß und im fast quadratischen Academy Format gedreht, entpuppt sich Alonsos Western-Reminiszenz kurz darauf plötzlich als Film-im-Film. Der Sprung in die Gegenwart verbindet sich daraufhin mit der genauen, dokumentarischen Erkundung der Lebensverhältnisse indigener Oglala-Lakota-Sioux im Pine Ridge-Reservat des nordamerikanischen Bundesstaates South Dakota. Bei Minustemperaturen von bis zu 30 Grad versieht hier die völlig überlastete Polizistin Alaina (Alaina Clifford) ihren anstrengenden Dienst. Der Filmemacher begleitet geduldig ihre Arbeit und vermittelt auch hier, in der Begegnung mit meist betrunkenen und hoffnungslosen Menschen, ein ebenso realistisches wie deprimierendes Bild der Entwurzelung und sozialer Ausgrenzung.

„Hinter dieser Zelle gibt es noch so viel Leben“, versucht die junge Basketballlehrerin Sadie (Sadie Lapointe) ihren jugendlichen Bruder zu ermutigen, der im Gefängnis von Kyle einsitzt. Dann besucht Sadie, die an einem entscheidenden Punkt in ihrem Leben angekommen ist, ihren indigenen, in einer ärmliche Hütte lebenden Großvater, um sich mit seiner Hilfe und den Wirkungen eines geheimnisvollen, bewusstseinserweiternden Kräutertranks von allem zu verabschieden und eine mystische Seelenreise anzutreten. „Raum, nicht Zeit“, sagt der Alte bedeutungsvoll. „Zeit ist eine Fiktion, die vom Menschen erfunden wurde.“ Lisandro Alonsos Inszenierung mit ihren langen Einstellungen und einer distanzierten Beobachtung folgt dieser raum-zeitlichen Prämisse. Spielerisch und assoziativ wechselt der Film die Schauplätze und historischen Zeiten, bricht er Handlungen ab und setzt sie insgeheim doch fort – mit anderen, verwandten oder verwandelten Figuren. Sadie ist jetzt ein Storchenvogel, vermutlich ein südamerikanischer Jabiru, im brasilianischen Urwald der 1970er Jahre, wo allerdings eher eine Traumzeit herrscht.

Erneut beobachtet Alonso das Leben eines indigenen Stammes (oder einer Sekte), das hier, weit weg von der regierenden Militärdiktatur, weniger entfremdet erscheint. Wenngleich auch in dieser tropischen, fast magisch anmutenden Welt Neid und Missgunst, Eifersucht und Rivalität herrschen; und Goldsucher zu Vorboten kommenden Unheils werden. Nach einem gewalttätigen Streit um ein Mädchen muss ein junger Mann fliehen, bis er krank und geschwächt in die Obhut einer Schamanin gerät. Mit Reminiszenzen an seinen früheren Film „Los muertos“ (2004) kulminiert die Reise und mit ihr der Film im Unbestimmten des Verschwindens. In „Eureka“ wird die mystische Sehnsucht kontrastiert von einer sehr realen, geradezu körperlichen Darstellung jener oft übersehenen oder diskriminierten Lebensweisen an den Rändern der Gesellschaft, die unseren Fortschritt in Frage stellen. Der Eskapismus der Figuren, ihre Sehnsucht nach einer anderen, vielleicht besseren Welt, verbindet die drei Geschichten einer geheimnisvollen Loslösung und verortet die dahinter stehende Perspektivlosigkeit in einer leider immer weitergehenden Geschichte der Unterdrückung.

Evil does not exist

(JP 2023, Regie: Ryûsuke Hamaguchi)

Gestörte Harmonie
von Wolfgang Nierlin

Ruhig und ausgiebig blickt die sanft bewegte Kamera aus der Froschperspektive in Baumwipfel und verbindet sich dabei auf meditative Weise mit den atmosphärisch dicht gewirkten Streicherklängen, die die japanische Musikerin …

Ruhig und ausgiebig blickt die sanft bewegte Kamera aus der Froschperspektive in Baumwipfel und verbindet sich dabei auf meditative Weise mit den atmosphärisch dicht gewirkten Streicherklängen, die die japanische Musikerin Eiko Ishibashi komponiert hat. Ryūsuke Hamaguchis neuer Film „Evil does not exist“ beginnt wie ein visuell-akustisches Poem und beschreibt zugleich eine Naturidylle voller Einklang und Harmonie. Auf deren Unschuld bezieht sich auch der Titel des Films. Dieser ökologische Gleichklang setzt sich fort, wenn Takumi (Hitoshi Omika), der mit seiner 8-jährigen Tochter Hana (Ryo Nishikawa) in der entlegenen Waldregion lebt, zu Beginn Holz spaltet oder an einer Quelle Wasser schöpft und in mitgebrachten Kanistern transportiert. Beides sind elementare, symbolisch aufgeladene Tätigkeiten, die Hamguchi ausführlich und mit großer Bedächtigkeit zeigt. Damit etabliert der japanische Regisseur („Drive my car“) einen gemächlichen Erzählrhythmus, der den Fluss der Zeit und die Dauer der vergehenden Momente betont. Trotzdem bleiben die oft mit ungewohnten Perspektiven aufwartenden Bilder stets dynamisch bewegt.

Die Anmutung einer friedlichen Natur, die sich fortsetzt in den Waldspaziergängen von Vater und Tochter oder auch im achtsamen Umgang der Menschen miteinander, wird empfindlich gestört, als ein Tourismus-Unternehmen den Bau einer lukrativen Glamping-Anlage in dem Gebiet plant. Ein „Tourismus-Hotspot“ für ein „luxuriöses Outdoor-Erlebnis“ soll der Ort nach dem Willen des profitorientierten Investors werden, der mit seinen Plänen „Wachstumspotential“ verspricht. Doch bei der als Alibi-Veranstaltung aufgezogenen Bürgeranhörung, die der einheimischen Bevölkerung das umweltschädliche Projekt schmackhaft machen soll, regt sich schnell Widerstand. Vor allem eine geplante Kläranlage, die das gute Quellwasser verunreinigen könnte, wird kritisch hinterfragt, wobei die Argumente der Bedenkenträger stets differenziert und ausgewogen vorgetragen werden. „Harmonie ist der Schlüssel für Gleichgewicht“, sagt etwa der Dorfvorsteher zu den von ihrem Auftraggeber als Erfüllungsgehilfen vorgeschickten Mitarbeitern einer Agentur, die sich nach dem Bürgerforum ihrer Sache bald nicht mehr sicher sind.

Ryūsuke Hamaguchi kontrastiert hier den Zusammenhalt und die Loyalität innerhalb der Dorfbevölkerung mit dem auf Täuschungen basierenden Taktieren eines abgehobenen Unternehmens, das seinen Sitz in Tokio hat. Dahinter steht letztlich ein Denken, das sich mit unlauteren Mitteln dem bedingungslosen Profit verschrieben hat. Die Aufrichtigkeit und die Solidarität der Einheimischen steht dem allerdings entgegen. Nach einem Perspektivwechsel auf die beiden Agenturmitarbeiter, eine Frau und einen Mann, die sich während einer langen Autofahrt über die Unzufriedenheit mit ihrer Arbeit und mit ihrem Leben unterhalten, wird das Ausmaß ihrer Entfremdung angedeutet. In der Begegnung mit Takumi sowie im sinnlichen Erleben der Natur, vermittelt durch körperliche Erfahrungen, scheinen sie einen neuen Zugang zu sich selbst zu finden. Doch Hamaguchis sorgsam entwickelter, subtil erzählter Film mündet nicht einfach in Harmonie. Vielmehr verbindet sein unerwartetes und rätselhaftes Ende die Natur mit dem Mythos. Das Böse ist schließlich kein Teil des Paradieses, sondern von Menschen gemacht. Es kann deshalb abgewehrt werden.

Morgen ist auch noch ein Tag

(IT 2023, Regie: Paola Cortellesi)

Heimliche Emanzipation
von Wolfgang Nierlin

Als Morgengruß empfängt Delia (Paola Cortellesi) von ihrem gewalttätigen Ehemann Ivano (Valerio Mastandrea) eine schallende Ohrfeige, was die Mutter von drei Kindern, zwei halbwüchsigen Söhnen und einer Tochter im heiratsfähigen …

Als Morgengruß empfängt Delia (Paola Cortellesi) von ihrem gewalttätigen Ehemann Ivano (Valerio Mastandrea) eine schallende Ohrfeige, was die Mutter von drei Kindern, zwei halbwüchsigen Söhnen und einer Tochter im heiratsfähigen Alter, gleichmütig und wie selbstverständlich hinnimmt. Die regelmäßig wiederkehrenden Misshandlungen des jähzornigen Haustyrannen entschuldigt sie geduldig damit, dass er zwei Kriege erlebt habe und seine Nerven deshalb angespannt seien. Im Rom des Jahres 1946, also kurz nach dem Krieg und in einem Viertel sogenannter kleiner Leute, gehören solch Macho-Gebaren und männliche Dominanz zum normalen Alltag. Ivano erteilt Befehle, verbietet seiner Frau den Mund und würdigt sie permanent herab, während Delia aufopferungsvoll die Demütigungen und Schläge erduldet. Allerdings spürt man auch schnell, dass sie trotz aller Unterdrückung nicht nur willige Hausfrau und Mutter ist, sondern auch eine insgeheim selbstbewusste Frau mit eigenen Wünschen und Zielen.

Was hier nach schwerem Sozialdrama klingt, folgt jedoch den Regeln der Commedia all’italiana. Von Anfang an mildert die Schauspielerin Paola Cortellesi in ihrem Regiedebüt „Morgen ist auch noch ein Tag“ („C’è ancora domani), das in seinem Herkunftsland Italien zum außerordentlich erfolgreichen Publikumsliebling avancierte, die Härten des täglichen Lebens mit phantasievoller Komik und deutlicher Ironie ab. Dafür liefern wiederum stereotype Figuren und Rollenbilder, südländische Mentalitäten und Temperamente sowie absichtlich zugespitzte Klischees des sozialen Miteinanders den nötigen Stoff. Daneben findet Cortellesi vor allem aber mit überraschenden filmischen Mitteln zu einer federnden Leichtigkeit. Da wird zu Beginn das Bildformat „aufgezogen“, während ein scheinbar harmloses Frühlingslied die familiäre Düsternis sarkastisch konterkariert: „Öffnet die Fenster für die neue Sonne.“ Prügelexzesse werden entweder komplett hinter verschlossene Türen oder Fensterläden verbannt oder in eine spielerische Choreografie überführt. Und wenn sich eine alte Liebe in gedehnten Blicken manifestiert, fährt die Kamera gewissermaßen Karussell und wird zur umschließenden Verbündeten des Paars.

Auch Delias allmorgendlicher Gang zu ihren diversen Arbeitgebern, aufgenommen in Zeitlupe und in einem Seitwärtstravelling sowie mit hartem Bluesrock unterlegt, folgt einer Stilisierung, die den Alltag mit einem Augenzwinkern überhöht. Delia verteilt Spritzen, erledigt Flickarbeiten und hilft in einer Schirmwerkstatt, wo sie schlecht und im Vergleich zu ihrem männlichen Kollegen ungleich entlohnt wird; sie führt den Haushalt und kümmert sich um ihren grantelnden Schwiegervater. Vor allem aber will sie ihre geliebte Tochter Marcella (Romana Maggiora Vergano) vor einer absehbar unglücklichen Hochzeit bewahren. Doch dafür und für noch mehr an weiblicher Selbstbestimmung braucht es Verbündete und Verstecke, kleine Fluchten und ein geheimes Tun, das die Regisseurin gegen Ende ihres kurzweiligen und vortrefflich unterhaltenden Films mit einer retardierenden Dramaturgie der Verhinderungen in einem ebenso spannenden wie überraschenden Finale zuspitzt.

Squaring the Circle: The Story of Hipgnosis

(GB 2022, Regie: Anton Corbijn)

Kaleidoskopischer Kunstkosmos
von Wolfgang Nierlin

Der Name der legendären englischen Grafikdesign-Agentur Hipgnosis, die zwischen 1968 und 1980 mit ihren phantasievollen Cover-Gestaltungen das Artwork von Schallplatten revolutionierte, sei Programm: „Hip“ stehe für „cool und groovy“, „gnosis“ …

Der Name der legendären englischen Grafikdesign-Agentur Hipgnosis, die zwischen 1968 und 1980 mit ihren phantasievollen Cover-Gestaltungen das Artwork von Schallplatten revolutionierte, sei Programm: „Hip“ stehe für „cool und groovy“, „gnosis“ für Weisheit. Nur in Bezug auf den Namensgeber herrscht beim Rückblick diverser Zeitzeugen auf jene bewegten Jahre Uneinigkeit. Die Legende besagt, das Gitarrist Syd Barrett, damals noch Mitglied bei Pink Floyd, den Namen auf die Wohnungstür der Hipgnosis-Gründer Aubrey „Po“ Powell und Thorgerson Storm gekritzelt habe. Die beiden Kreativgenies hatten sich Mitte der 1960er Jahre im drogengeschwängerten Hipster-Underground von Cambridge kennengelernt und wurden bald zu unzertrennlichen „Brüdern“. Ihr Interesse für Rockmusik und Kunst führte unter den magischen Wirkungen von LSD bald zu ersten Cover-Entwürfen, die sie vor allem für ihre Freunde von Pink Floyd gestalteten. Ein „schwirrender Bilderkosmos“ sollte das „kaleidoskopische Gefühl“ des Space Rock imaginieren.

Gegen die etablierten Normen des Cover-Designs und gegen kommerzielle Interessen setzten der rudimentär ausgebildete Fotograf Po („Augen zu und durch“) und der menschlich schwierige, aber genialische Ideenlieferant Storm in ihren surrealen Collagen und synkretistischen Kompositionen einen radikalen Kunstanspruch. Ebenso ungewöhnliche wie rätselhafte Bildmotive entkoppelten mitunter das Design vom Band-Image; etwa wenn das Cover der Pink Floyd-Platte „Atom heart mother“ lediglich eine Kuh zeigt, auf „Animals“ ein Schwein zwischen Fabrikschloten schwebt oder auf der Plattenhülle zum Live-Album „Elegy“ von The Nice sich eine Reihe roter Bälle durch eine Wüstenlandschaft schlängelt, als handle es sich hier um ein Werk der Land Art. In einer Zeit der analogen Fotografie, der freien Improvisation und ungeahnter, mittlerweile von einer übermächtigen Musikindustrie einkassierter Möglichkeiten, scheuten die Macher von Hipgnosis keinen Aufwand. So wurde das auf einem Sofa schlafende Schaf für das 10cc-Album „Look hear?“ vor der Kulisse des Meeres in der Karibik fotografiert. Unter den mit übergroßen Lettern gestalteten Frage „Are you normal“ erscheint das aufwändige Bild auf dem Cover dann jedoch nur als Miniaturfoto. „Trockener Humor“ eben, nennen das die britischen Designer.

Der holländische Fotograf und Filmemacher Anton Corbijn, durch seine Arbeiten seit vielen Jahren mit der englischen Rockszene bestens vertraut, erzählt in seinem Dokumentarfilm „Squaring the Circle: The Story of Hipgnosis“ die Geschichte der beiden Designer und ihrer Agentur vor allem entlang ikonisch gewordener Cover. Zu diesen gehört natürlich auch das Prisma auf der Plattenhülle von „The Dark Side of the Moon“ sowie der brennende Mann auf dem Album „Wish You Were Here“. Während diese Werke in ihren originalen Farben erstrahlen, hat Corbijn seine Interviews mit Aubrey Powell, David Gilmour, Paul McCartney, Robert Plant und vielen anderen in Schwarzweiß gedreht, was sich wiederum nahtlos in die schnelle Abfolge von historischem Bild- und Filmmaterial einfügt. Deutlich wird dabei auch, wie das Artwork von Hipgnosis die Musikszene beeinflusste und inspirierte. Ein jähes Ende fand diese Kunstform, als Anfang der 1980er Jahre das Aufkommen der Compact Disc und des Musikfernsehens das Konsumverhalten im Musikgeschäft veränderten. Unverkennbar nostalgisch blickt deshalb der Nachgeborene Noel Gallagher von Oasis auf diese Goldene Ära der Rockmusik zurück und zitiert dabei einen Satz, den er selbst gerne kreiert hätte: „Vinyl ist die Kunstsammlung der armen Leute.“

Ein Traum von Revolution

(DE 2024, Regie: Petra Hoffmann)

Schluss mit Ausbeutung
von Jürgen Kiontke

Ob jung oder alt – in jedem Fall links und immer engagiert: Tausende Menschen entdecken Ende der 1970er Jahre ihre Sympathie für die sandinistische Revolution. Die Bewegung um ihren Anführer …

Ob jung oder alt – in jedem Fall links und immer engagiert: Tausende Menschen entdecken Ende der 1970er Jahre ihre Sympathie für die sandinistische Revolution. Die Bewegung um ihren Anführer Daniel Ortega hat die Schnauze voll vom Regime des Anastasio Somoza, der sich mit Ach und Krach, viel Unterstützung der USA und Brutalität in Nicaragua an der Macht hält. Ortegas linke FSLN verspricht nicht weniger als die Revolution: Schluss mit Ausbeutung und Staatsterror, her mit Bodenreform, kooperativem Wirtschaften und solidarischem Leben.

Alsbald verwickeln die „Contras“, von der CIA unterstützte Schergen, die Revolutionäre in einen brutalen Waffengang, den die FSLN aber für sich entscheiden kann. Viele junge Deutsche gehen in das Land, leisten Aufbauhilfe, bohren Brunnen und bauen sogar Zahnarztpraxen. Sie wohnen bei den Bauern, damit sie einfache Verhältnisse kennenlernen. Sie verlieben sich, gründen Familien oder kehren zurück und bleiben ein Leben lang solidarisch.

Petra Hoffmann, selbst seit damals in der Nicaragua-Solidarität aktiv, hat einen beeindruckenden Dokumentarfilm über die sandinistische Revolution und ihre Freunde weltweit gedreht. In ihrem Film verwendet sie seltenes wie schockierendes Material. Sogar einen ehemaligen CIA-Chef bekommt sie vor die Kamera.

Leider nahm die Revolution später für Nicaragua keine gute Entwicklung. Ab den 1990er Jahren entstand aus dieser wundersamen Verwandlung eines mittelamerikanischen Landes, das für den ganzen Kontinent Modell stand, ein Staatsgebilde, das – ebenfalls unter dem Revolutionsführer Daniel Ortega – die Züge einer Diktatur angenommen hat. Vetternwirtschaft, sexuelle Übergriffe, Nötigung und Gewalt: Viele ehemalige Weggefährten Ortegas, vor allem Frauen, sahen sich gezwungen, das Land zu verlassen. Nun arbeiten sie, mittlerweile selbst in ihren 70ern, weiter vom benachbarten Costa Rica aus an ihren Idealen.

Wie man die komplexe politische Entwicklung des Landes über vier Jahrzehnte in einen 90-minütigen Film bringt, informativ, kurzweilig und schön, zeigt die Regisseurin vorbildlich. „Ein Traum von Revolution“ dürfte mit Sicherheit einer der besten Filme des noch jungen Jahres 2024 sein.

Diese Kritik erschien zuerst am 03.04.2024 auf: links-bewegt.de

Amsel im Brombeerstrauch

(CH/GE 2023, Regie: Elene Naveriani)

Zur Lebendigkeit geweckt
von Wolfgang Nierlin

In der kleinen, malerischen Schlucht, umgeben von sattgrünen Wäldern, schwillt das Rauschen des Flusses bedrohlich an. Als Etero (Eka Chavleishvili) beim Pflücken ihrer geliebten Brombeeren versonnen den Flug einer Amsel …

In der kleinen, malerischen Schlucht, umgeben von sattgrünen Wäldern, schwillt das Rauschen des Flusses bedrohlich an. Als Etero (Eka Chavleishvili) beim Pflücken ihrer geliebten Brombeeren versonnen den Flug einer Amsel beobachtet, die sich kurz davor noch auf dem Strauch niedergelassen hatte, stürzt sie abrupt und rutscht einen Abhang hinunter. Zwar kann sich die 48-jährige, leicht korpulente Frau aus ihrer ebenso misslichen wie gefährlichen Lage befreien, doch auf dem Rückweg in ihr Dorf irgendwo im ländlichen Georgien hat sie plötzlich eine Vision ihres eigenen Todes. Darin wird ihr Leichnam, am Ufer des Flusses liegend, von den Dorfbewohnern umringt und skeptisch beäugt. Etero ist eine alleinstehende, misstrauisch und verschlossen wirkende Außenseiterin, die in einem Laden für „Schönheit und Komfort“ Haushaltsmittel für den täglichen Bedarf und Kosmetika für Frauen verkauft. Im Rückblick auf ihren Unfall wird sie später sagen, die Amsel habe sie zur Lebendigkeit geweckt.

Denn kurz darauf hat sie, von ihr selbst angeregt, spontanen, leidenschaftlichen Sex mit dem verheirateten Lieferanten Murman (Temiko Chinchinadze), während sich draußen ein heftiger Gewitterregen entlädt. So verliert Etero spät ihre Jungfräulichkeit, verliebt sich in einen „freundlichen Hund unter Wölfen“, der mit einer gehörigen Portion kitschigem Pathos ihre Liebe erwidert: „Ich werde deine Brombeere sein.“ Natürlich geht das in der kleinen Gemeinde, in der Etero immer wieder Spott und Anfeindungen ausgesetzt ist, nur bei heimlichen Treffen. Allerdings ist Etero selbstbewusst und unabhängig genug, um nach außen ihr Alleinsein aus Überzeugung zu verteidigen und zugleich insgeheim ihr Liebesabenteuer zu leben. Kraft findet sie dabei in der Verbundenheit mit der Natur: „Ist euch klar, wie viel Schönheit um uns herum existiert“, sagt sie zu ihren Altersgenossinnen, die immer wieder über sie tuscheln. Nur für einige jüngere Frauen scheint sie eine Art Role Model zu sein.

Ruhig und undramatisch erzählt Elene Naveriani in ihrer Romanverfilmung „Amsel im Brombeerstrauch“ von einer starken Frau, die sich noch einmal neu erfindet. Der georgischen, in der Schweiz lebenden Filmemacherin geht es dabei darum, „unsichtbare Geschichten sichtbar zu machen“ und „Raum für marginalisierte Leben zu schaffen“. In Bildern warmer Farbigkeit konzentriert sie sich ganz auf ihre unkonventionelle Heldin, die sich in ihrem Freiheitsstreben dem gesellschaftlichen Druck und dem belastenden Familienerbe widersetzt. „Da ich allein bin, kann ich mich wenigstens um mich selbst kümmern“, sagt sie einmal. Nicht zuletzt drückt auch Eteros selbstbewusster Umgang mit ihrem Körper, ihrer Nacktheit und Sexualität diesen eher klandestinen oder versteckten Widerstand aus. Ihre Erweckung wird schließlich zu einer doppelten, als am Ende auch noch „ein Wunder“ geschieht.

Zwischen uns der Fluss

(DE 2023, Regie: Michael Klier)

Neue Stärke gewinnen
von Wolfgang Nierlin

Auf einem kleinen, schmalen Videobild ist die Elbe bei Dresden zu sehen, während aus dem Off die kämpferische Stimme einer jungen Frau gegen die Zerstörung der Natur durch die geplante …

Auf einem kleinen, schmalen Videobild ist die Elbe bei Dresden zu sehen, während aus dem Off die kämpferische Stimme einer jungen Frau gegen die Zerstörung der Natur durch die geplante Bebauung der Elbwiesen polemisiert. Die Studentin Alice (Lena Urzendowsky) dokumentiert mit ihren Filmen nicht nur eine „Stadt im Wandel“, sondern sie richtet sich damit auch gegen ihren Vater, einen Architekturprofessor, der maßgeblich an den städtebaulichen Planungen beteiligt ist. Gerade muss Alice aber in einer psychotherapeutischen Einrichtung für zwei Monate Sozialstunden ableisten, weil sie bei einer Demo einen Polizisten verletzt hat; was man allerdings erst später erfährt. „Zwangsweise freiwillig“, bezeichnet das die Therapeutin (Laura Tonke), denn die junge Aktivistin wirkt lustlos und genervt. Sie soll die schwer traumatisierte, etwa gleichaltrige Cam (Kotti Yun) betreuen, die Opfer eines brutalen, vermutlich rassistisch motivierten Überfalls wurde und seither verstummt ist. Doch die beiden schweigen sich an. Cam wehrt zunächst alle Kommunikationsangebote ab und öffnet sich nur sehr zögerlich. Wenn sie schließlich zum ersten Mal spricht, sieht man sie von hinten.

Michael Klier zeigt in seinem neuen Film „Zwischen uns der Fluss“ diese angespannten, von Unausgesprochenem beherrschten Tage des Schweigens in hellen, fast leeren Räumen. Dabei konzentriert er sich intensiv auf die stummen, aber sprechenden Gesichter der beiden Protagonistinnen, die trotz räumlicher Nähe getrennt und isoliert voneinander erscheinen. In anderen Einstellungen, die Fenster als Spiegel benutzen, verschmelzen sie andererseits zunehmend mit der Umgebung. Je mehr sich die Figuren einander annähern, desto stärker gewinnt das Außen und damit die Stadt Dresden an Bedeutung. Offensichtlich im Frühjahr und auf malerischen Wegen gefilmt, vermittelt sich auf den langen Spaziergängen und Fahrradfahrten der jungen Frauen fast eine Naturidylle. Alice wohnt privilegiert auf einer Anhöhe in einem älteren, ruhigen Viertel, Cam verliert ihre Neubauwohnung und kann vorübergehend schließlich zu Alice ziehen. Je mehr sich die eine aus ihrem Trauma löst, desto deutlicher werden andererseits die Risse in Alices‘ Leben, das von einer schwierigen Kindheit und einem gespaltenen Verhältnis zu den Eltern belastet wird.

Michael Klier zeichnet in seinem ruhig, unspektakulär und sparsam erzählten Film das Portrait zweier Frauen, die nach sich selbst und einem Platz im Leben suchen. Dabei tauschen sie mitunter förmlich die Rollen; etwa wenn Cam ihre Freundin auffordert, nicht mehr länger Kind zu sein, sich von ihren übermächtigen Eltern zu lösen und die Beziehung zu ihnen zu normalisieren. In einer freien Theatergruppe, die Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“ probt, gewinnt Cam neue Stärke für ein neues, freieres Leben, das sich jeglichem Erwartungsdruck verweigern will. Wenn sie schließlich im Spiel eine ihrer Mitspielerinnen tröstend umarmt und ihr Zeilen eines Liedes von Friedrich Hollaender leise, vertraulich und zärtlich ins Ohr singt, gilt das letztlich auch für sie selbst und richtet sich zugleich an Alice: „Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre. Ich glaub‘, ich gehöre nur mir ganz allein.“

Irdische Verse

(IR 2023, Regie: Ali Asgar, Alireza Khatami)

System der Kontrolle
von Wolfgang Nierlin

Die Totale auf das nächtliche Lichtermeer von Teheran umschließt ganz abstrakt die tausendfachen Schicksale einer Stadt, die allmählich erwacht. Während Geräusche und Gebetsrufe, Vogelgesang und Verkehrslärm anschwellen, wird es heller. …

Die Totale auf das nächtliche Lichtermeer von Teheran umschließt ganz abstrakt die tausendfachen Schicksale einer Stadt, die allmählich erwacht. Während Geräusche und Gebetsrufe, Vogelgesang und Verkehrslärm anschwellen, wird es heller. Fast unmerklich rücken die Hochhäuser näher, bleiben jedoch äußerlich. Darauf folgen, als wären sie willkürlich herausgegriffen aus dem Heer menschlicher Schicksale, neun kurze, stilistisch höchst einfach und sehr konzentriert gehaltene Episoden, die jeweils den Namen der Hauptfigur tragen. In einer einzigen statischen Einstellung werden unterschiedliche Menschen ins Bild gesetzt, die jeweils in absurd anmutenden Dialogen mit den Vertretern staatlicher Behörden oder auch mit privaten Arbeitgebern in Konflikt geraten. Wobei die durchweg autoritären und unangenehmen Gegenüber der Protagonisten aus dem Off der Szene sprechen, also nicht zu sehen sind. Diese radikale Verdichtung, mit der Ali Asgari und Alireza Khatmai in ihrem Low-Budget-Film „Irdische Verse“ arbeiten, lenkt die Aufmerksamkeit auf das Wesentliche.

Vom Säugling bis zum alten Mann durchlaufen die Episoden verschiedene Lebensalter. Ein frischgebackener Vater möchte den Namen seines neugeborenen Sohnes im Standesregister eintragen lassen. „David“ soll er heißen. Doch weil das kein iranischer Name sei und er überdies „eine fremde Kultur propagiere“, lehnt der Beamte diesen Eintrag ab. Dabei verstricken sich die beiden in eine haarspalterische, tragikomische Auseinandersetzung. Ähnlich grotesk ergeht es dem kleinen Mädchen mit den lagen roten Haaren und einem pinken Kopfhörer, das fröhlich und selbstverloren in einem Bekleidungsgeschäft tanzt, während seine Mutter und die Verkäuferin ein „Kleid“ für eine Schulzeremonie des Kindes auswählen. Um den „Vorschriften“ zu entsprechen, ist der Hidschab dann weniger farbenfroh, wie von Selena gewünscht, als vielmehr grau und verhüllend. Kurz darauf muss sich eine Schülerin im Teenageralter vor einer Rektorin verantworten, weil sie angeblich vom sehschwachen Hausmeister mit einem Jungen auf einem Moped identifiziert wurde: „Er sieht, was er sehen muss. Dafür ist er da“, sagt die Anklägerin über den Denunzianten.

Überwachung und Kontrolle, behördliche Willkür und Machtmissbrauch kennzeichnen dabei ein autoritäres System, das die Individuen schikaniert und reglementiert und dabei stets anmaßend in deren Privatsphäre eingreift. Etwa wenn ein Antragsteller, der seinen Führerschein abholen möchte, auf seine „Normalität“ hin geprüft wird und dafür seine Ganzkörpertattoos vorzeigen muss; oder wenn ein unsicherer Arbeitsloser beim Bewerbungsgespräch auf erniedrigende Weise einer religiösen Prüfung unterzogen, eine junge Frau in ähnlicher Situation unsittlich bedrängt wird. Schließlich muss ein Filmemacher, der seit zwei Jahren auf eine Dreherlaubnis wartet, einmal mehr sein Drehbuch entscheidend kürzen, weil es von einem Vatermord handelt; was sich hier durchaus im übertragenen Sinn verstehen lässt.

Die beiden Regisseure Ali Asgari und Alireza Khatami reflektieren hier wohl ihre eigenen Erfahrungen in einem totalitären, von Zensur bestimmten System. Immer wieder geht es in ihrem Episodenfilm „Irdische Verse“, deren Titel sich auf ein Gedicht der bedeutenden Dichterin und Filmemacherin Forugh Farrochsad bezieht, um die Ermittlung von Wahrheit und ihre Diskreditierung. Am Ende bebt die Erde, erschüttert ein Erdbeben die Stadt: „Da/ Ward die Sonne kalt/Und der Segen verließ die Äcker“, heißt es am Anfang jener apokalyptischen Verse, die sich auch als Offenbarung übersetzen lassen.

Radical – Eine Klasse für sich

(MX 2023, Regie: Christopher Zalla)

Schule kann Spaß machen
von Jürgen Kiontke

Sergio Juarez ist der neue Lehrer. Direktor Chucho, eigentlich ein prima Kumpeltyp an der Schule für Kinder aus schwierigen Verhältnissen, zieht dem vor Idealen strotzenden Neuling gleich mal den Stecker. …

Sergio Juarez ist der neue Lehrer. Direktor Chucho, eigentlich ein prima Kumpeltyp an der Schule für Kinder aus schwierigen Verhältnissen, zieht dem vor Idealen strotzenden Neuling gleich mal den Stecker. Schüler werden hier verwaltet. In Zahlen: „50 Prozent schaffen es nicht auf die weiterführende Schule.“ Die Lehranstalt im mexikanischen Matamoros, um die es hier geht, hat einen Spitznamen: „Strafschule“. Juarez übernimmt die sechste Klasse, deren Absturz vorprogrammiert ist.

Die Kinder sind aber so gar nicht auf den Kopf gefallen, sie sind nur arm. Sie haben sich jedoch an Untätigkeit und Lustlosigkeit gewöhnt – wie ihre Vorgesetzten. Die Lehrer sind froh, nach Hause zu kommen. Und der Schulrat ist auch weniger an den ihm unterstellten Schulen interessiert als am neuen Dienstwagen. Die Gelder für die dringend benötigte Modernisierung der Schule zwackt er auch ab, da ist das Interesse mehr als geweckt.

Paloma haust im Müllberg, Nico macht gerade eine Ausbildung beim örtlichen Drogendealer-Kartell. Alles aussichtslos? Juarez lässt aber nicht locker, striezt Schüler wie Strukturen. Nach und nach kommt er den verborgenen Talenten seiner Schützlinge auf die Spur. So ist die stille Paloma ein Mathe- und Physik-As; aus Schrott baut sie astronomische Instrumente, nicht weit von hier steht Elon Musks „Space X“-Raumbahnhof im benachbarten Texas. Da will sie hin.

Wie Matamoros Kinder mithilfe von Lehrer Juarez ihr Menschenrecht auf Bildung wahrnehmen, hat Christopher Zallas in seinem Spielfilm „Radical – Eine Klasse für sich“ sehr schön nacherzählt. Tolle junge Darsteller reißen das Publikum mit, und wer bis zum Schluss keine Tränen in den Augen hat, bei dieser rührenden Geschichte, dem sei dies mitgeteilt: Die Geschichte der 12-jährigen Schülerin Paloma Noyola, die aus ärmsten Verhältnissen kam und beim Mathematik-Test als Beste des Landes rausging, ist ein realer Fall. Heute ist sie als Bildungsbotschafterin tätig und wirbt für einen systemischen Wechsel in der Bewertung von Kindern und Jugendlichen.

Diese Kritik erschien zuerst am 21.03.2024 auf: links-bewegt.de

Die Unschuld

(JP 2023, Regie: Hirokazu Kore-eda)

Beschädigte Beziehungen
von Wolfgang Nierlin

Ein Hochhaus steht in Flammen, die sich mit ihrem weit sichtbaren Feuerschein in das Dunkel der nächtlichen Stadt schneiden. Deren Straßen sind erfüllt von den Alarm-Sirenen der Feuerwehr, die kurz …

Ein Hochhaus steht in Flammen, die sich mit ihrem weit sichtbaren Feuerschein in das Dunkel der nächtlichen Stadt schneiden. Deren Straßen sind erfüllt von den Alarm-Sirenen der Feuerwehr, die kurz darauf am brennenden Objekt eintrifft, um das Feuer zu löschen. Dieses Fanal am Anfang von Hirokazu Kore-edas neuem Film „Die Unschuld“ wirkt wie ein Zeichen drohenden Unheils oder als Ausdruck von Gefahr und schwelenden Konflikten. Tatsächlich beschäftigt sich der japanische Meisterregisseur auch diesmal mit leidgeprüften Menschen in beschädigten Familienbeziehungen. Immer sind es die Folgen emotionaler Verletzungen oder Entbehrungen, die das Verhalten der Menschen bestimmen. Wo alles miteinander zusammenhängt und das „Gefühl des Schmerzes“ das Handeln bestimmt, wechselt das Gesicht der Wahrheit fortwährend die Perspektive. Nach dem Vorbild von Akira Kurosawas „Rashomon“ erzählt Hirokazu Kore-eda seine verwickelte Geschichte deshalb in drei aufeinanderfolgenden Episoden aus dem subjektiven Blickwinkel seiner Protagonisten. So entsteht allmählich ein immer vollständigeres Bild.

Dieses erinnert uns zugleich daran, dass es jenseits unserer Wahrnehmungen stets einen verborgenen Schatten gibt. So bemerkt etwa die alleinerziehende Mutter Saori, deren Mann tödlich verunglückte, dass sich ihr etwa 12-jähriger Sohn Minato seit geraumer Zeit merkwürdig verhält. Offensichtlich plagen und belasten ihn schulische Konflikte, die zudem mit körperlichen Übergriffen einhergehen. Als der Verdacht durch eine Lüge auf einen jungen Lehrer fällt, wird dieser, um das Ansehen der Einrichtung zu schützen, von der Schulleitung zum Sündenbock erklärt. Hinter einer Mauer des Schweigens soll etwas vertuscht werden, was den angeblich Schuldigen seinerseits in seelische Nöte stürzt. Erst die Perspektive des Lehrers Hori erhellt, dass dieser entgegen der Annahme ein sehr umsichtiger, auf Ausgleich bedachter Pädagoge ist; und dass die Ursache der zunächst rätselhaft erscheinenden Vorkommnisse in einem Streit unter Schülern begründet liegt.

Das Scheidungskind Yori, das bei seinem autoritären, alkoholabhängigen Vater lebt, wird von den Jungs der Klasse wegen seiner sensiblen Art gemobbt, ausgegrenzt und als Außenseiter abgestempelt. Nur Minato, der sich mit Yori anfreundet, hält zu ihm, darf das aber aus Gründen des Selbstschutzes nicht zeigen, was ihn in heftige Loyalitätskonflikte stürzt. Einfühlsam und Anteil nehmend, erzählt Kore-eda, wie in einem gesellschaftlichen Klima aus Misstrauen, Angst und falschen Verdächtigungen die innige Freundschaft der beiden Jungen unter Druck gerät. Einmal fragt Yori: „Warum wurde ich geboren?“ In einem ausrangierten, verwitterten Zugwaggon im Wald, der mit seinem saftigen Grün und einer hellen, freundlichen Farbigkeit als Kindheitsparadies inszeniert wird, finden sie ein Refugium für ihre freien Spiele in einem offenen Raum der Möglichkeiten und für ihren Traum von einer Wieder- oder Neugeburt in einer Welt, in der das Glück ausnahmsweise einmal gerecht verteilt wäre. Doch dafür braucht es erst mal einen klärenden, reinigenden Regen, der die lodernden Flammen der Zwietracht löschen könnte und der schließlich mit der Nachricht eines aufziehenden Taifuns angekündigt wird.

Die Amitié

(DE 2023, Regie: Ute Holl, Peter Ott)

Immerhin solidarisch
von Wolfgang Nierlin

Dieser Film knüpft ein Netz zwischen Figuren und Schichten von Wirklichkeit, zwischen Theorie und Praxis. Ein Mann schreckt auf aus einem Traum, der wie ein unscharfes Computerspiel aussieht und vielleicht …

Dieser Film knüpft ein Netz zwischen Figuren und Schichten von Wirklichkeit, zwischen Theorie und Praxis. Ein Mann schreckt auf aus einem Traum, der wie ein unscharfes Computerspiel aussieht und vielleicht einen Gleitflug über eine farbfleckige Ruinenlandschaft zeigt. „Die Wirklichkeit beendet den Traum“, wird es ganz am Schluss des Kollektivfilms „Die Amitié“ bedeutungsschwanger heißen. Das Filmbild wechselt jetzt zum quadratischen Format. Der türkische Erntehelfer Osman (Aziz Çapkurt), eben erwacht, liegt auf seinem Bett in einem Lübecker Wohnheim und starrt uns frontal an, als wolle er nicht nur die vierte Wand durchbrechen, sondern in uns eindringen, als wären wir wahlweise Zeugen, Komplizen oder Verantwortliche seines Schicksals, das mit ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen auf einer Tomatenplantage verknüpft ist. Diese gehört einem holländischen Konzern, der unter seinen Beschäftigten eine ganze Kette hierarchischer Abhängigkeiten erzeugt. Der maßgeblich von dem Filmemacher und Kunstdozenten Peter Ott sowie der Medienwissenschaftlerin Ute Holl initiierte und verantwortete Film handelt folgerichtig von Gegenstrategien.

Denn eigentlich ist Osman als dramaturgisches Vehikel ein Menschenfänger und Verbindungsmann, der die Solidarität für den klandestinen Widerstand organisiert. Etwas holprig und ungelenk werden dafür die beiden Protagonisten des Sozialdramas eingeführt, deren Arbeitsgeschichten im Folgenden in parallelen Handlungssträngen erzählt werden. Während der ivorische Ökonom Dieudonné (Yann Mbiene) über eine Zwischenstation in Italien zu den Lübecker Gewächshäusern kommt, tritt die polnische Altenpflegerin Agnieszka (Sylwia Gola) ihre Stelle bei dem an Demenz erkrankten Juristen Siegfried (Walter Hess) an. Das geht leider nicht ohne Klischees ab: Die jeweiligen „Vorgesetzten“ sind autoritär, gestresst und sehr deutsch; und das satirische Potential solcher Figurenzeichnung ist eher lahm. Während die einfühlsame und selbstbewusste Agnieszka als strenggläubige Katholikin eingeführt wird, liest Dieudonné den linken Antikolonialisten Frantz Fanon. Die Gegensätze ziehen sich natürlich an. Aber dafür bedarf es erst mal der Gemeinschaft eines digitalen Netzwerkes.

Und damit kommt die titelgebende „Amitié“ ins Spiel, eine selbst lernende KI, die durch den Daten-Input ihrer Mitarbeiter ein stetig wachsendes Wissen in einer immer größer werdenden Community erzeugt. Hier werden Arbeitsbedingungen- und möglichkeiten kommuniziert, Sprachen gelernt und wichtige Infos für Illegale oder Geflüchtete ausgetauscht. Was einer kann, sollen alle tun können, lautet ihr solidarischer Glaubenssatz. Das bringt heimlich, still und leise einiges in Bewegung, was als Eingriff in die Wirklichkeit diese schließlich verändert. Der dafür immer wieder bemühte Wechsel in die virtuelle Welt, der mit einer Art Datenbrille erfolgt, wirkt allerdings etwas plakativ und schwammig. Zwar geraten dabei die Machtverhältnisse mitsamt der Realität ins Wanken, doch das bleibt weitgehend harmlos; was sich auch für die wiederholt thematisierte, von Siegfrieds Sohn Carsten (Christoph Bach), einem Ästhetikprofessor der Stuttgarter Merz Akademie, verkörperte Kluft zwischen Theorie und Praxis sagen lässt. Als der Film gegen Ende plötzlich auch noch ins aufgesetzt Selbstreferentielle springt und für die „Krise der Geschichte“, gemeint ist die Filmerzählung selbst, einen visuellen Ausdruck sucht, wird es vollends konfus und abstrus. „Es gibt nur die Welt, und wir sind in ihr drin und sehen zu“, lautet das Schlusswort. Na dann.

Andrea lässt sich scheiden

(AT 2024, Regie: Josef Hader)

Wahnsinn des Gewöhnlichen
von Wolfgang Nierlin

Schnurgerade zieht sich die Straße durch eine weite, leicht hügelige Landschaft aus Feldern und Wiesen, über denen sich ein blauer Himmel ausdehnt. Inmitten dieser Ereignislosigkeit und Langeweile sind die Polizistin …

Schnurgerade zieht sich die Straße durch eine weite, leicht hügelige Landschaft aus Feldern und Wiesen, über denen sich ein blauer Himmel ausdehnt. Inmitten dieser Ereignislosigkeit und Langeweile sind die Polizistin Andrea (Birgit Minichmayr) und ihr leicht schwerfälliger Kollege Georg (Thomas Schubert) positioniert, um eine Geschwindigkeitskontrolle durchzuführen. Nur leider gibt es kaum Verkehr; und wenn ein Traktor vorbeifährt, verstärkt das nur noch die Absurdität einer Situation, die zwei Ordnungshüter an einem leeren Nicht-Ort der niederösterreichischen Provinz zeigt. Im dazugehörenden Dorf stehen die Einfamilienhäuschen aufgereiht in gerader Ordnung, älteres Bauwerk ist marode oder kaputt und in der Mitte des Verkehrskreisels thront eine überdimensionale Zwiebel-Skulptur – vom Künstler Leo Schatzl für die Gemeinde Unterstinkenbrunn gestaltet – als Wahrzeichen der Trivialität. Was man denn eigentlich an einem Geburtstag feiere, fragt Georg dann noch. Dass man wieder lebend ein Jahr überstanden habe, antwortet wortkarg seine Kollegin.

Der lakonische filmische Duktus, der sich auf das Wesentliche einer möglichst einfach gehaltenen Szene konzentriert, sowie der trockene, tendenziell schwarze Humor sind ein Markenzeichen des österreichischen Kabarettisten Josef Hader. In seinem neuen Film „Andrea lässt sich scheiden“ versammelt er entsprechend eine ganze Reihe trauriger Gestalten, die vom Unglück und von Schicksalsschlägen verfolgt werden, sich in ihrem überwiegend trostlosen Alltag gewohnheitsmäßig fatalistisch geben und emotional meistens unbeholfen und verklemmt reagieren. Der Wahnsinn des Gewöhnlichen mit seinen Traditionen, mit seinen tiefsitzenden Vorurteilen und einer allgemeinen Illusionslosigkeit wölbt sich mit stillem Pessimismus über die halsstarrigen Menschen und ihre verkorksten Beziehungen. Das alles ist trostlos und traurig, wird von Haders skurrilem filmischen Humor und Dialogwitz aber gemildert und ins Allgemeinmenschliche verschoben.

Georgs feucht-fröhliche Geburtstagsfeier am Abend im „Gasthof Müllner“, zu der auch Andreas besoffener und frustrierter Ex-Mann Andy (Thomas Stipsits) auftaucht, bildet dann den toxischen Auftakt einer Abfolge tragikomischer Ereignisse, in deren Mittelpunkt zunächst ein tödlicher Unfall inklusive Fahrerflucht steht. Ermittelt wird nicht wirklich in einem dörflichen Umfeld, wo man sich kennt, lieber vertuscht und die Autorität der Polizei geringschätzt. Dass dann ausgerechnet der von Josef Hader gespielte Religionslehrer und Alkoholiker Franz Leitner unter Verdacht gerät, ist natürlich ein Witz. Denn dieser ist so einsam und deprimiert, dass er sich sofort schuldig bekennt: „Ich möchte büßen.“ Dabei ist alles nur ein ebenso böser wie tragischer Zufall, der die Figuren immer wieder in die Ausweglosigkeit der Weite führt. Vor allem Andrea möchte gerne aus- und aufbrechen in ein Leben als Kriminalkommissarin in St. Pölten, aber ihre beruflichen, privaten und emotionalen Verwicklungen in den „Fall“ wirken als Gegenkraft; bis sie sich schließlich doch wieder – mit „tatkräftiger“ Unterstützung Leitners – auf freiem Feld (wieder)findet.

Ich Capitano

(IT/BE/FR 2023, Regie: Matteo Garrone)

Ein Traum von Europa
von Jürgen Kiontke

„Wir werden den Weißen Autogramme geben“: Seydou und Moussa, die beiden jugendlichen Cousins und Hauptfiguren in Matteo Garrones Spielfilm „Ich Capitano“, sind nicht von Krieg oder Hunger bedroht. Sie treibt …

„Wir werden den Weißen Autogramme geben“: Seydou und Moussa, die beiden jugendlichen Cousins und Hauptfiguren in Matteo Garrones Spielfilm „Ich Capitano“, sind nicht von Krieg oder Hunger bedroht. Sie treibt Abenteuerlust und Erfolgsstreben an. In der Stadt im Senegal, in der sie leben, herrscht Armut – und die beiden schnüren ihre Sachen, um Karriere zu machen. In der Nachbarschaft sind sie als begabte Musiker bekannt, jetzt wollen sie Ruhm und Ansehen in Europa. „Damit wir dir und unseren Schwestern Geld schicken können“, erklärt der 16-jährige Seydou seiner Mutter. Die hält gar nichts von dem Plan.

Auf dem Bau haben sich die beiden Schüler das Geld für den Weg erarbeitet. Nun stehen sie vor dem Road-Trip ihres Lebens – und werden grausame Dinge erleben. Wie viele andere in einem schrottreifen Bus unterwegs, begeben sie sich auf die Reise über die Länder Mali und Niger bis nach Libyen. Dort wollen sie in See stechen, rüber nach Italien. Bald geht es los mit den Schwierigkeiten. Das Geld geht drauf für falsche Pässe, der erste Grenzer, der sie kontrolliert, verlangt eine Gebühr. „Wann habt ihr die Passfotos gemacht?“, fragt er. „Vor zwei Jahren“, antwortet Seydou. „Und da hattet ihr dieselben Sachen an wie heute? Alles klar.“ Es wird nicht besser. Der Weg durch ausgedehnte Wüstengebiete ist beschwerlich und tödlich. Erschrocken starren sie auf die Leichen am Wegesrand.

Ihre Reise wird in einem Gefängnis in Libyen enden. Geiselnehmer drohen mit Folter, wenn sie nicht die Telefonnummer ihrer Angehörigen rausrücken, die Lösegeld zahlen sollen. 
Der Mutter, die gegen die Reise war, mit so einer Peinlichkeit kommen? Nie! Weil Seydou nicht kooperiert, wird er an der Decke aufgehängt, Schreie hallen durch die Gänge, die Körper von zu Tode Gefolterten stapeln sich übereinander.

Über die Verhältnisse in diesen Stätten berichtete Amnesty International mit Nachdruck. Männer, Frauen und Kinder, die sich auf dem Weg nach Europa befinden, werden abgefangen und schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt: systematische Folter, sexualisierte Gewalt und Zwangsarbeit. Nach Zahlen von Flüchtlingsorganisationen sollen sich derzeit rund 700.000 Migrant*innen in Libyen befinden, ein Großteil von ihnen sind Menschen aus Subsahara-Afrika wie Seydou und Moussa. Etwa ein Viertel dürfte jünger als 18 Jahre sein.

Wie viele von ihnen befinden sich die Jugendlichen im Film in einer durchgehenden Grenzerfahrung. Zudem hat Moussa eine Schusswunde davongetragen, er müsste schnellstens in ein Krankenhaus. Aber anders als die meisten entkommen Seydou und Moussa den Erpressern durch eine glückliche Wendung: Die Schleuser machen Seydou zum Kapitän des Schiffes, mit dem die beiden Cousins und Dutzende weitere Menschen nach Italien übersetzen sollen. Ohne nautische Erfahrung – „Ich kann nicht mal schwimmen“ – ist der Junge für diese Gruppe verantwortlich. Und wie zuvor lotet Regisseur Garrone brisante Situationen und Konflikte – Krankheitsfälle, Wassermangel – punktgenau aus. Seydou muss in seine Rolle als Verantwortlicher finden.

„Ich Capitano“ arbeitet mehr als Abenteuerfilm denn als politisches Erklärstück. Seine Struktur ist die der modernen Odyssee, der Fahrt mit ungewissem Ausgang. Regisseur Garrone lässt die Schwierigkeiten, in denen sich Menschen auf der gefährlichsten Fluchtroute der Welt wiederfinden, mit leichter Hand einfließen.

Der Film geht auf einen Besuch des Regisseurs in einem Aufnahmezentrum für Minderjährige in Catania zurück, dort kam Garrone mit jungen Geflüchteten ins Gespräch. Das Drehbuch wurde letztlich von Menschen geschrieben, die ebendiesen Weg nach Italien genommen hatten. „Ich wollte eine Geschichte aus der Perspektive der Migrant*innen erzählen, die auf ihrer abenteuerlichen Reise um ihr Leben bangen müssen“, sagt Garrone.

Im Zentrum stehen seine beiden Darsteller und wie diese mit widrigen Verhältnissen zurechtkommen. Die Kameraarbeit und die beiden guten Schauspieler machen diesen mehrfach preisgekrönten Film aus. Seydou Sarr, der brillante senegalesische Hauptdarsteller, gewann den „Marcello-Mastroianni-Preis“, Garrone den Silbernen Löwen bei den Filmfestspielen von Venedig für die Regiearbeit.

Diese Kritik erschien zuerst in: Amnesty Journal

Omen

(BE/DE/FT/NL/ZA/CD 2023, Regie: Baloji)

Stigmatisierte
von Wolfgang Nierlin

Aus der Tiefe einer weiten Wüstenlandschaft nähert sich eine mysteriöse Reiterin, die von schwarzen Tüchern eingehüllt wird. Am Ufer eines flachen Sees macht sie Rast, um kurz darauf Milch aus …

Aus der Tiefe einer weiten Wüstenlandschaft nähert sich eine mysteriöse Reiterin, die von schwarzen Tüchern eingehüllt wird. Am Ufer eines flachen Sees macht sie Rast, um kurz darauf Milch aus einer ihrer Brüste zu pressen. Dabei verfärbt sich das Wasser, als handle es sich um einen bösen Zauber, in eine immer großflächigere, fast bedrohlich wirkende gelblich-rötliche Brühe. Die Milch der Mutter wirkt, so scheint es, wie ein schleichendes Gift, das die Seelen derer, die sich davon nähren, auf unheimliche Weise besetzt und gefangen hält. Das Zeichen der Herkunft wird für immer zu einem unauslöschlichen Trauma; mit der vergifteten Milch vollzieht sich eine Ausgrenzung. In seinem Film „Omen“ („Augure“) folgt der kongolesisch-belgische Filmemacher und Musiker Baloji in mehreren Kapiteln vier Figuren, die als Verstoßene gelten und sich mit der schweren Last ihrer Vergangenheit auseinandersetzen müssen. Bezeichnenderweise geschieht dies in der Karwoche.

Für Koffi (Marc Zinga) ist es eine Rückkehr in die Fremde, als er nach 18 Jahren zusammen mit seiner Frau in sein Heimatland fährt. Alice (Lucie Debay) ist schwanger und erwartet Zwillinge. Koffi will dafür den Segen der Familie erbitten und setzt sich dafür, rücksichtslos gegenüber sich selbst, einem starken Anpassungsdruck aus. Doch die Familie reagiert verhalten, distanziert und abweisend. Während der Vater, ein Minenarbeiter, abwesend bleibt, verharrt die Mutter in tiefem Schweigen. Koffi gilt als verflucht, sein Spitzname „Zabolo“ bedeutet „der Fleck des Teufels“. Epileptische Anfälle und wiederkehrendes Nasenbluten markieren Koffis traumatische Identität. Nur seine Schwester Tshala (Eliane Umuhire) scheint ihn zu verstehen. Doch diese lebt selbst getrennt von der Familie, weil sich ihr modernes weibliches Selbstverständnis mit den überkommenen Traditionen nicht verträgt. „Wie kann man lieben, wenn man es nicht gelernt hat?“, fragt sie einmal ihren Bruder.

Baloji erzählt vom normalen Chaos einer anderen Realität und der kulturellen Differenz eines fremden Landes mit einem magischen Realismus. In ihm mischen sich Traum und Wirklichkeit sowie auf synkretistische Weise Rituale und kultische Praktiken unterschiedlicher Herkunft. Eine „andere Raum-Zeit“ aus Prozessionen, wilden Tänzen, märchenhaften Visionen und Flashs in die Vergangenheit trifft auf den Wahnsinn eines Alltags, der jenseits einer logischen Ordnung funktioniert und der stark von Aberglaube und der Macht von Zauberkräften geprägt wird.

Der halbwüchsige Paco (Marcel Otete Kabeya), ebenfalls ein Verstoßener, der mit seiner Transvestiten-Gang in einem ausrangierten Bus haust, macht sich das zunutze, gerät aber mit einer verfeindeten Bande in einen gewalttätigen Konflikt. In Paco spiegelt sich Koffis Schicksal, aber auch eine wesentliche Differenz, die schließlich auch Koffis Mutter Mujila (Yves-Marina Gnahoua) determiniert. Als früh zwangsverheiratete Ehefrau und Mutter leidet auch sie an den Wunden ihrer Herkunft und einer schweren Vergangenheit. Doch im Unterschied zu ihrem Sohn ist sie – trotz Zeichen der Versöhnung – eine Gefangene ihrer Gesellschaft, der die Möglichkeit, ein anderes Leben zu leben, verwehrt bleibt.

Die Herrlichkeit des Lebens

(DE/AT 2023, Regie: Georg Maas, Judith Kaufmann)

Porträt des Autors
von Jürgen Kiontke

Der Maus ist die Welt zu groß, sie klagt ihr Leid ausgerechnet der Katze: In der Welt des Schriftstellers Franz Kafka landen die Protagonisten oft an der falschen Adresse. Das …

Der Maus ist die Welt zu groß, sie klagt ihr Leid ausgerechnet der Katze: In der Welt des Schriftstellers Franz Kafka landen die Protagonisten oft an der falschen Adresse. Das literarische Werk des Ausnahmekünstlers ist nicht immer leicht zugänglich, seine Fabeln wie die von der Maus aber von frappierender Einfachheit. An den Anfang ihres Spielfilm-Porträts „Die Herrlichkeit des Lebens“ haben die Regisseure Georg Maas und Judith Kaufmann eine Szene gesetzt, in der Kafka, gespielt von Sabin Tambrea, die Mausgeschichte vorliest. Da weiß man gleich, wo man dran ist.

Allzu gern bezieht man die Fabel auf den Autor selbst. Die Maus ist blass und außer Puste. Kafka, in dessen Hauptwerk – Romanen wie „Der Prozess“ – der entfremdete Mensch des Industriezeitalters, dessen Bürokratie und der sich beidem verweigernde menschliche Körper im Mittelpunkt steht, wurde nur 44 Jahre alt, er litt an Tuberkulose. Dem Topos des dauerkranken Autors, der seine eigene gesundheitliche Unzulänglichkeit zum Movens der literarischen Arbeit macht, setzen Maas und Kaufmann in ihrem Spielfilm-Porträt einen zunächst erstaunlich stabilen Kafka entgegen, bevor ihn die Krankheit dahinrafft.

Im Zentrum steht seine Beziehung mit der Kommunistin und Schauspielerin Dora Diamant. Die beiden lernen sich an der Ostsee kennen und lieben. Es ist das Jahr 1923, wir lernen Kafka als begeisterten Schwimmer und Motorradfahrer kennen. Als Menschen, der gern Versammlungen und Partys besucht, mit durchaus Spaß am Leben.

Bis er in eine kalte möblierte Wohnung nach Berlin zieht. Kafkas Verwandtschaft war strikt gegen den Umzug, Mutter und Schwester sähen ihn lieber bei sich in Prag, wo sie ihn umsorgen könnten. Indes, Kafka will seinen Vater meiden, der mit seiner herrischen Präsenz wahrscheinlich erst das kafkaeske Schreiben des Sohnes ermöglicht hat (in einer Szene klingt der autoritäre Vater wie die Lehrerin in der TV-Cartoon-Serie „Peanuts“).

In Berlin arbeitet der Schriftsteller an seinen Manuskripten, bekommt Besuch von Freunden, spricht über mögliche Lesungen und ebenso hypothetische Veröffentlichungen, später soll er verfügen, alle seine Schriften seien zu vernichten.

Es sind die Vorkriegsjahre, der Nationalsozialismus läuft sich – anders als Kafkas Kohleheizung – warm. Das Leben da draußen drängt aber nur wenig ins Bild. Nur in Gesprächen Diamants taucht die Politik auf. Von Straßenschlachten, Massenarbeitslosigkeit und Inflation sieht man nichts. Das Berlin der wilden Zwanziger – in diesem Film eine ruhige Seitenstraße in Steglitz. Weglassen scheint die neue Art der Filmerzählung.

Der ohne Zweifel schöne Film konzentriert sich ganz und zu sehr auf die beiden Hauptfiguren, die mit Tambrea und Konfurius sicher eine sehenswerte Bestbesetzung erfahren. Was das für eine Zeit war, in der die beiden lebten, welche Entwicklungen guter wie schlechter Art sie bot, bleibt zu sehr im Hintergrund.

Diese Kritik erschien zuerst am 13.03.2024 auf: links-bewegt.de

Club Zero

(AT/GB/DE/FR/DK 2023, Regie: Jessica Hausner)

Radikaler Glaube
von Wolfgang Nierlin

Aus leicht erhöhter, diagonaler Sicht fällt der Blick in einen Raum mit sorgsam arrangierten Tischen und Stühlen, die kurz darauf einem Stuhlkreis weichen. Reihum erklären Schülerinnen und Schüler, adrett gekleidet …

Aus leicht erhöhter, diagonaler Sicht fällt der Blick in einen Raum mit sorgsam arrangierten Tischen und Stühlen, die kurz darauf einem Stuhlkreis weichen. Reihum erklären Schülerinnen und Schüler, adrett gekleidet in gelben Schuluniformen, gegenüber der neuen Lehrerin Frau Novak (Mia Wasikowska) ihre jeweilige Motivation für „achtsame Ernährung“. Neben der Sorge um die Zerstörung der Umwelt und damit der Lebensgrundlagen geht es den am Kurs Teilnehmenden vor allem um ihr persönliches Wohlbefinden, Stressreduktion und Selbstkontrolle. Dabei wirken die Jugendlichen sehr ernst, diszipliniert und bedächtig. Als hochbegabte Kinder reicher Eltern besuchen sie ein Privatinternat, das ihr individuelles Potential fördern soll. In idyllischer, entspannter Lernumgebung belegt man hier etwa Kurse in Mandarin und Ballett. In den Mittelpunkt rückt aber sofort der Achtsamkeitskurs der alleinstehenden, immer verständnisvollen Ernährungsberaterin, die den Konsumverzicht propagiert.

In ihrem neuen Film „Club Zero“ etabliert die österreichische Regisseurin Jessica Hausner eine unterkühlte, stilisierte Laborsituation, um das unerbittliche Voranschreiten gravierender Verhaltensänderungen zu beobachten. Wenn die Jugendlichen zu Beginn im relaxten Flow einer Zeitlupe mit seligem Lächeln in die Tiefe des Raums entschwinden, ist das bereits ein Vorausblick auf ihr Ende. Innere und äußere Ordnung finden bald zu einer Entsprechung. Die Kontrolle des Atems, die Konzentration auf ein langsames Essen und der bewusste Verzicht auf das übliche Maß der Nahrungsaufnahme sollen den Willen stärken und die Selbstreinigung des Körpers fördern. „Je langsamer du isst, desto weniger Essen brauchst du“, heißt es dazu. Bald wird Frau Novaks Einfluss auf die Jugendlichen aber suggestiver und manipulativer. Dabei wird die allmähliche, zunehmend radikalere Verhaltensänderung der Schülerinnen und Schüler durch Mechanismen der Überwachung und den gegenseitigen Druck innerhalb der Gruppe noch verstärkt.

Der Reduktion des filmischen Settings, zusätzlich betont durch eine ungewöhnliche, leicht irritierende und sparsam kommentierende Perkussionsmusik von Markus Binder, entspricht die ironisch zugespitzte Nahrungsverweigerung eines Teils der indoktrinierten Schülerschaft. „Wer ohne Nahrung leben kann, ist frei von jeglichem sozialen und kommerziellen Druck“, sagt Frau Novak mit deutlichem Affront gegen das kapitalistische System. Ihre gelehrigen Eleven tragen diese Heilsbotschaft wie eine Ersatzreligion in ihre wohlgeordneten Elternhäuser, wo sich der gute Wille zur Political Correctness bald in einen absurden Horror und in blanke Ohnmacht verwandeln. Wie die Jünger einer Sekte werden die Jugendlichen zu Gläubigen einer neuen Ordnung. Mit der Kraft des Geistes wollen sie die Wirklichkeit überwinden, um schließlich Erlösung zu finden. Nüchtern und mit analytischem Blick zeigt Jessica Hausner in ihrer teils schockierenden Moralsatire die Dynamik einer verstörenden Radikalisierung und rekurriert dabei nicht zuletzt auf gesellschaftliche, soziale und familiäre Ursachen.

Only the River Flows

(CN 2023, Regie: Shujun Wei)

Im Strudel einer absurden Welt
von Wolfgang Nierlin

Ein kleiner Junge, als Polizist verkleidet und mit einer Spielzeugpistole bewaffnet, schleicht sich schießend durch den Flur eines kaputten, verwahrlosten Abrisshauses. Die Kamera folgt ihm dabei aus subjektiver Perspektive. Als …

Ein kleiner Junge, als Polizist verkleidet und mit einer Spielzeugpistole bewaffnet, schleicht sich schießend durch den Flur eines kaputten, verwahrlosten Abrisshauses. Die Kamera folgt ihm dabei aus subjektiver Perspektive. Als sich am Ende des langen Gangs überraschend eine Tür ins Freie auftut, wirkt das, als öffne sich ein Bühnenvorhang. Der Blick fällt auf eine belebte Straßenszenerie aus Menschen, Baggern und Verkehr. Der Kontrast wird noch verstärkt, wenn man im Gegenschuss sieht, dass die komplette Fassade des Hauses bereits fehlt. Mitte der 1990er Jahre stehen in der chinesischen Provinzstadt Peishui die Zeichen auf Veränderung. Gravierende Umwälzungen an der Schwelle zu einem neuen wirtschaftlichen und informationstechnologischen Zeitalter sind im Gange. Als markantes und kinematographisch selbstbezügliches Symbol mag dafür auch die Schließung des örtlichen Kinos gelten, die der Polizeichef (Hon Tianlai) als „gute Nachricht“ wertet, weil er in dem heruntergekommenen Gebäude einen „perfekten Ort für Ermittlungen“ sieht. Der Raum für künstliche Träume und imaginierte Welten soll ganz praktisch der Wahrheitsfindung dienen.

Als eine rätselhafte Mordserie die Polizeibehörde aufschreckt, richtet der melancholische und schweigsame Inspektor Ma Zhe (Hu Yilong) sein provisorisches Großraumbüro auf der Bühne vor der Leinwand ein. Zu diesem Theatereffekt des Spiels-im-Spiel passt, dass bei der folgenden Spurensuche analoge Medien, beispielsweise ein Kassettenrekorder und ein Diaprojektor, eine wichtige Rolle spielen. Der chinesische Regisseur Wei Shujun wiederum hat seinen atmosphärisch stimmungsvollen Film Noir „Only the River Flows“, der eine graue, nasse und kaputte Welt zeigt, auf 16mm aufgenommen. Das macht die in herbstliche, ausgebleichte Farben getauchten Bilder leicht körnig und unscharf und verleiht ihnen zugleich Volumen und eine lebendige, pulsierende Dichte. Viel Regen, ärmliche Wohnverhältnisse und fortschreitender Zerfall grundieren die immer verwirrender werdenden Ermittlungen des existentialistischen Helden, dem zunehmend die Realität abhanden kommt.

Wei Shujun setzt in seiner filmisch herausragenden Adaption einer Kurzgeschichte des chinesischen Avantgarde-Schriftstellers Yu Hua diesen Wirklichkeitsverlust seines Protagonisten in Opposition zum Pragmatismus des schnelle Lösungen fordernden Polizeichefs, der sich seine Zeit mit Pingpong vertreibt. Dieser beschwört die „kollektive Ehre“, den Zusammenhalt und notwendigen Erfolg seiner Behörde als Repräsentantin des staatlichen Kollektivs. Derweil begegnet der Ermittler Opfern gesellschaftlicher Unterdrückung und Ausgrenzung: einem Liebespaar, das seine Beziehung geheim halten muss, einem Friseur mit Trans-Identität und einem stummen Verrückten, der bald zum Hauptverdächtigen wird. Doch Ma Zhe, der diese Widersprüche erfasst und in seinem Privatleben als werdender Vater selbst in Gewissenskonflikte gerät, gibt sich mit schnellen Lösungen nicht zufrieden. Und so gleitet er sukzessive in einen Strudel aus Wahn und Wirklichkeit, der sich zum surrealen Albtraum auswächst und in einer existentiellen Krise mündet. Von Beethovens „Mondscheinsonate“ begleitet und von einer umfassenden Tristesse umgeben, bewegt sich der einsame Held durch eine immer absurder werdende Welt.

„Je mehr wir versuchen, den Sinn des Lebens zu ergründen, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir ihn verfehlen“, sagt der Regisseur des Films über seine an sich und dem Fall scheiternde Figur, deren Wahrheitssuche vielleicht ins Leere oder zu immer neuen Spuren führt, als wäre sein Dienst eine unablässige Sisyphusarbeit. Nicht von ungefähr zitiert Wei Shujun gleich zu Beginn seines vielschichtigen, philosophischen Thrillers Albert Camus: „Da das Schicksal unergründlich ist, spiele ich selbst Schicksal.“ Doch Mas Erfolg bleibt äußerlich. Sowohl seine innere Resignation als auch der geheimnisvoll fragende Blick des neugeborenen Kindes am Ende des Films scheinen darauf hinzudeuten, dass Ma Zhe kaum je Herr seines Schicksals ist. Das letzte Wort scheint noch nicht gesprochen.

Helke Sander: Aufräumen

(DE 2023, Regie: Claudia Richarz)

Der feministische Faktor
von Wolfgang Nierlin

Gegen Ende des Films erklärt Helke Sander, dass sich die einzelnen Punkte der Tage erst durch Anstrengung zu einer sinnerfüllten Lebenslinie verbinden. Nachdenken, sich einmischen und Engagement kennzeichnen entsprechend das …

Gegen Ende des Films erklärt Helke Sander, dass sich die einzelnen Punkte der Tage erst durch Anstrengung zu einer sinnerfüllten Lebenslinie verbinden. Nachdenken, sich einmischen und Engagement kennzeichnen entsprechend das Leben und die künstlerische Biographie der streitbaren Filmemacherin und kämpferischen Feministin, die das Private stets politisch betrachtet und von der Veränderbarkeit der Verhältnisse überzeugt ist. „Warum ist, was ist?“ In ihrem bekanntesten Film „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers“ (1978) zeigt sie, wie eine von ihr selbst gespielte Fotografin sich auf unterschiedliche Aufgaben „aufteilen“ muss, um über die Runden zu kommen; und wie die Stadt Berlin zum Spiegel dieser Zerrissenheit wird. Was alles in einen Tag passt, verbindet sich im Zeichen einer unbedingten Integrität auch hier zu einer Linie.

Claudia Richarz folgt in ihrem Dokumentarfilm „Helke Sander: Aufräumen“ relativ chronologisch den wichtigen Punkten einer Lebenslinie, indem sie die einzelnen Stationen mit Ausschnitten aus den Filmen der Portraitierten verzahnt. Das beginnt mit dem ersten Jahrgang der 1966 eröffneten dffb, wo Helke Sander zusammen mit Harun Farocki und anderen nicht nur über ein Leben und Arbeiten jenseits von Verwertungszwecken und beruflichem Fortkommen nachdenkt, sondern Film als Medium der politischen Aktion und Agitation begreift. „Brecht die Macht der Manipulateure!“ (1966) lautet folglich der Titel des Films, der sich kritisch und kreativ mit dem politischen Einfluss des Springer-Konzerns auseinandersetzt. Kurz darauf sieht man Helke Sander im September 1968 bei der Delegiertenkonferenz des SDS in Frankfurt, wo sie mit ihrer legendären „Tomatenrede“ die geschlechtsspezifische Dominanz ihrer Genossen ins Visier nimmt.

Mit ihrer Mitwirkung an dem Film „Das schwache Geschlecht muss stärker werden“ (1969) und eigenen Arbeiten wie „Eine Prämie für Irene“ (1971) und „Der subjektive Faktor“ (1981) thematisiert Sander dann auch unterdrückende Geschlechterrollen-Zuschreibungen, ungleiche Arbeitsbelastungen und das Bedürfnis, Zeit für sich und die eigene Selbstentwicklung zu finden. Im Gespräch mit Richarz erläutert die 1937 geborene Filmemacherin, wie sie sich selbst immer wieder „als Material benutzt“ habe, ohne aber in ihren Filmen direkt autobiographisch zu sein. Ihre frühe Mutterschaft, das Verhältnis zu ihrem Sohn und die Mehrfachbelastungen als Alleinerziehende geben davon Zeugnis. Kriegserlebnisse während der Bombennächte von Dresden sowie die Beschäftigung mit dem Tabu der im Krieg vergewaltigten Frauen führen schließlich zu dem kontrovers diskutierten Film „BeFreier und Befreite“ (1992).

Zeitgeschichtliche Dokumente, Selbstauskünfte sowie das im Titel aufgerufene „Aufräumen“, bei dem die Portraitierte, die einst auch die Zeitschrift „Frauen und Film“ mitgegründet hat, immer wieder auf Erinnerungen stößt, bilanzieren letztlich ein Leben der Unruhe und Bewegung. Wenn Helke Sander schließlich am Familiengrab sitzt und ein finnisches Gedicht liest, das davon handelt, wie man in der Lautlosigkeit die innerste Stimme hört, scheint die Filmemacherin und Autorin, die sich nicht auf ihr feministisches Engagement reduziert sehen möchte, mit ihrer Lebenslinie ganz bei sich angekommen zu sein.

Umberto Eco – Eine Bibliothek der Welt

(IT 2022, Regie: Davide Ferrario)

Die Wahrheit der Stille
von Wolfgang Nierlin

Lang und verschlungen ist der Weg durch das Bücherlabyrinth. Aus subjektiver Perspektive folgt die Kamera dem Gang von Umberto Eco durch seine Mailänder Privatbibliothek. Diese umfasst 30.000 neuere Bücher sowie …

Lang und verschlungen ist der Weg durch das Bücherlabyrinth. Aus subjektiver Perspektive folgt die Kamera dem Gang von Umberto Eco durch seine Mailänder Privatbibliothek. Diese umfasst 30.000 neuere Bücher sowie 1200 antike Werke, darunter etliche Inkunabeln. Bis der berühmte italienische Schriftsteller zielgerichtet nach einem Buch seiner Sammlung greift, die vor allem von einer Vorliebe für Magie, okkulte Wissenschaften und Kuriositäten geprägt ist. Ursprünglich aufgenommen für eine Videoinstallation, die bei der Biennale von Venedig gezeigt wurde, eröffnet diese beeindruckende Bibliotheksbegehung nun Davide Ferrarios Film „Umberto Eco – Eine Bibliothek der Welt“. Die Bibliothek sei „Symbol und Realität eines kollektiven Gedächtnisses“, sagt Eco. Und er zitiert Dante Alighieri, der in seiner „Göttlichen Komödie“ den Anblick Gottes mit den Seiten eines einzigen Buches und damit mit dem ganzen Universum gleichsetzt. Gott sei demnach, so Eco, die „Bibliothek aller Bibliotheken“.

Der in drei Kapitel und einen Epilog gegliederte Film handelt entsprechend zunächst vom „Erinnern“, von Bibliotheken als „Gedächtnis der Menschheit“ und den pflanzlichen Trägerstoffen des Gedruckten. In diversen Interviews und Statements, die der Films als durchgehenden Gedankenstrom versammelt und in denen der enorm geistreiche und gebildete Autor eloquent und auf höchst unterhaltende Weise eine kritische Opposition zum digitalen Zeitalter formuliert, entwickelt Umberto Eco Grundsätze für ein enzyklopädisches Wissen. Ohne Erinnerung lasse sich keine Zukunft planen. Doch neben dem Aufbewahren habe das Gedächtnis vor allem die Aufgabe, zu filtern, was durch die Informationsflut des Internets zunehmend erschwert werde. Wo die Fähigkeit auszuwählen verloren gehe, werde die Erinnerung blockiert. Das Wissen nehme Schaden.

Neben diesen Zeitdokumenten und Gesprächen mit Familienmitgliedern inszeniert Davide Ferrario zusammen mit Schauspielern kurze Texte von Eco in Bibliotheken. Außerdem zeigt er eindrucksvolle Bilder von öffentlichen Büchereien weltweit, zu denen auch die modernen Stadtbibliotheken von Ulm und Stuttgart gehören. Während im zweiten Kapitel das Erzählen von Geschichten als besondere Fähigkeit des Menschen thematisiert wird, insofern durch die literarische Erfindung Abwesendes und Unwirkliches „wahr“ wird, problematisiert Umberto Eco im dritten Kapitel die Lüge. Denn in Abgrenzung zur Fiktion produzierten Fälschungen und Verschwörungstheorien eine Realität, die gerade im Dauerrauschen des Internets gefährlich werden könne; was schließlich gerade heute durch die jüngsten Entwicklungen belegt wird.

Folgerichtig sagt Eco im Epilog des sehr anregenden Films: „Man findet Gott nicht im Lärm, sondern nur in der Stille. Und während die kleine Enkeltochter des im Februar 2016 verstorbenen Schriftstellers auf ihren Inlineskatern durch die Gänge der Bibliothek fährt, die dem Staat zur Nutzung in der Mailänder Biblioteca Nazionale Braidense und an der Universität in Bologna übertragen wurde, ergänzt der passionierte Leser und Büchersammler noch: „Wahrheit findet man nur durch stilles Suchen.“

The Zone of Interest

(USA/GB/PL 2023, Regie: Jonathan Glazer)

Normalität inmitten des Grauens
von Wolfgang Nierlin

Es braucht seine Zeit, bis sich die dunkle Leinwand mit den Farben der Natur füllt und der düster-sphärische Klangteppich von unbekümmertem Vogelgezwitscher abgelöst wird. Inmitten einer sattgrünen Uferlandschaft picknickt eine …

Es braucht seine Zeit, bis sich die dunkle Leinwand mit den Farben der Natur füllt und der düster-sphärische Klangteppich von unbekümmertem Vogelgezwitscher abgelöst wird. Inmitten einer sattgrünen Uferlandschaft picknickt eine große Familie an einem Fluss oder See. Fahles, bleiches Sonnenlicht bescheint diese Alltagsidylle. Aus der Distanz aufgenommen, sind nur die Wortfetzen beiläufiger Dialoge zu hören. Das Leben erscheint normal und selbstverständlich. Nichts deutet zunächst darauf hin, dass Jonathan Glazers neuer, vielfach ausgezeichneter Film „The zone of interest“, der vom gleichnamigen Roman des englischen Schriftstellers Martin Amis inspiriert ist, mitten im 2. Weltkrieg in Polen spielt; und zwar in unmittelbarer Nähe des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Die Exposition endet dann auch mit einer Autofahrt durch die Nacht und mit dem Löschen der Lampen im Haus des Lagerkommandanten Rudolf Höß (Christian Friedel).

Dieses stattliche Haus mit seinem weitläufigen, prächtig blühenden „Paradiesgarten“, mit seinem großen Gewächshaus und dem Swimmingpool, alles sorgsam gepflegt von Zwangsarbeitern, befindet sich direkt neben dem Arbeits- und Vernichtungslager. Nur eine hohe Mauer trennt die Normalität vom Grauen, ein relativ sorgloses Wohlstandsleben vom gewaltsamen Tod, das Paradies von der Hölle. Diese immer wieder aktuelle Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Welten, vermittelt als Schrecken über parallele Welten, treibt Glazer mit seinem kühl und distanziert inszenierten Film ins Extreme. Für einmal geht es nicht um gängige Täter-Opfer-Schemata, sondern um den Blick auf ein angeblich „normales“ Leben und auf Menschen, die wiederum angeblich keine gewissenlosen „Monster“ sind, sondern gehorsame Rädchen im Getriebe eines zerstörerischen Machtapparates. Die Todeswelt jenseits der Mauer ist nur in den angeschnittenen Bildern von Dächern, Wachtürmen und rauchenden Schloten sichtbar und wird hauptsächlich über Schüsse, Schreie, Befehlsrufe und Hundegebell auf der mit einem beunruhigenden Grummeln unterlegten Tonspur vermittelt.

Der englische Filmregisseur Jonathan Glazer konnte seinen verstörenden Film an Originalschauplätzen drehen. Um eine möglichst authentische Atmosphäre zu kreieren und seine Schauspieler frei agieren zu lassen, hat er auf ein klassisches Filmset verzichtet und stattdessen zusammen mit seinem polnischen Kameramann Łukasz Żal zahlreiche versteckte, ferngesteuerte Minikameras installiert. Daraus resultiert unter anderem die Betonung der oftmals in diagonaler Perspektive aufgenommenen Räume, der langen Flure und Türen „unseres Zuhauses“, wie Hedwig Höß (Sandra Hüller), die stolze „Königin von Auschwitz“, einmal sagt. Als die Statik dieses Wohlstandssymbols durch die Versetzung ihres Mannes kurzzeitig ins Wanken gerät, ist es vor allem die Mutter von fünf Kindern, die sich wütend und verzweifelt an ihren unrechtmäßigen Besitz klammert.

Diese vielleicht allzu menschlichen Regungen stehen neben einer vom Film behaupteten „Normalität“ eines Verhaltens, das sich, kaum verstehbar, in gewissenloser Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern der Gewaltdiktatur ausdrückt. Nicht ganz unproblematisch erscheint auch die Fortsetzung der Idee paralleler Lebenswelten, wenn in der Jetztzeit eine Gruppe von Reinigungskräften die Vitrinenscheiben der von Zeugnissen des Grauens angefüllten KZ-Gedenkstätte putzt.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „The Zone of Interest“.

Gondola

(DE/GE 2023, Regie: Veit Helmer)

Eine Welt schwebender Leichtigkeit
von Wolfgang Nierlin

Zwei Stahlseile überspannen schnurgerade und parallel zueinander ein malerisches Bergtal irgendwo in Georgien. Geradezu magisch schweben die Gondeln in luftiger Höhe vor dem blauen Himmel. Dabei springt das Bild abwechselnd …

Zwei Stahlseile überspannen schnurgerade und parallel zueinander ein malerisches Bergtal irgendwo in Georgien. Geradezu magisch schweben die Gondeln in luftiger Höhe vor dem blauen Himmel. Dabei springt das Bild abwechselnd aus der Totalen in die Nahaufnahmen der schweren Mechanik aus Rädern und Seilwinden. Ein Akkordeon spielt traumverloren einen Walzer dazu und vermischt sich mit der dominanten Geräuschkulisse der Bahn. Auch wenn in Veit Helmers Film „Gondola“ eine fast ferne, vielleicht schon aus der Welt gefallene Realität in vielen Details präsent ist und leuchtet, erscheint sie doch zugleich verzaubert und idealisiert. Mit reduzierter Handlung, wenigen Hauptfiguren und ohne Dialoge erzeugt der Regisseur eine visuelle Poesie, deren Minimalismus und filmsprachliche Raffinesse an die Anfänge des Kinos anknüpft und zugleich ein Gefühl schwebender Leichtigkeit hervorruft.

Die Seilbahn als Mitspielerin, Mittelpunkt und erzählerisches Kraftzentrum des Films transportiert dabei förmlich die Geschichten zwischen Himmel und Erde. Das beginnt gleich mit der letzten Seilbahnreise eines verstorbenen Schaffners, dessen Sarg aus majestätischer Höhe nach einem letzten Gruß der bedächtig innehaltenden Dörfler in der Tiefe des Grabes versenkt wird. Sein schöne Tochter Iva (Mathilde Irrmann) tritt daraufhin und offensichtlich gegen den Willen der Mutter in seine Fußstapfen. Angelernt wird sie von der nicht minder hübschen Nino (Nino Soselia), die ihr zeigt, wie man Knöpfe und Hebel bedient. Bald verlieben sich die beiden jungen Frauen ineinander, misstrauisch und zunehmend eifersüchtig beäugt vom ausbeuterischen Stationsvorsteher (Zuka Papuashvili). Immer wenn sich die Gondeln auf halbem Weg begegnen, werfen sich die Frauen verliebte Blicke, Gesten und anderes zu. Mit musikalischen Einlagen, fantasievollen Gondelverzierungen und (mitunter missverständlichen) Botschaften verwandeln sie die Kabinen sukzessive in kreative Spiel- und Lebensräume.

Da werden Geschenke ausgetauscht, Granatäpfel geklaut, Lebensmittel und eine überschaubare Zahl von Passagieren transportiert sowie die jeweils geschlagenen Figuren eines Schachspiels, dessen Verlauf durch die Seilbahn getaktet wird, mit triumphaler Geste präsentiert; es wird gesteppt und gestrippt, bis der zornige Chef mit immer rabiateren Mitteln in das Liebestreiben eingreift.

Gegliedert und in Spannung gehalten wird das Geschehen, das mitunter wie eine Art Nummernrevue abläuft, durch die von der Seilbahnfahrt vorgegebenen raumzeitlichen Intervalle. Immer wenn die Gondeln zwischen Himmel und Erde aneinander vorbeifahren, macht die Handlung einen kleinen Sprung, werden neue Details und originelle Einfälle eingefügt. Das kulminiert schließlich in einem Kampf zwischen Gut und Böse und in einer romantischen Hochzeit unterm nächtlichen Sternenhimmel. Veit Helmers märchenhafter, mit liebevollem Blick gestalteter Film „Gondola“ entwirft mit bildhaften Symmetrien und einer spiegelbildlichen Nebenhandlung über die Freundschaft zweier Kinder eine Welt utopischer Schönheit, in der die Liebe siegt und dabei von einem wohlwollenden Zusammenhalt der Gemeinschaft getragen wird.

The Zone of Interest

(USA/GB/PL 2023, Regie: Jonathan Glazer)

Missglückte NS-Fiction
von Jürgen Kiontke

Sandra Hüller liebt extreme Rollen. Nun hat sie sich was ganz Besonderes ausgesucht. In Jonathan Glazer gibt sie die Ehefrau des Kommandanten von Auschwitz, Rudolph Höß. „Banalität des Bösen“ – …

Sandra Hüller liebt extreme Rollen. Nun hat sie sich was ganz Besonderes ausgesucht. In Jonathan Glazer gibt sie die Ehefrau des Kommandanten von Auschwitz, Rudolph Höß.

„Banalität des Bösen“ – das Diktum von Hannah Ahrendt gibt es hier ganz wörtlich: Familie Höß fristet ein luxuriöses Dasein an der Mauer zum Konzentrationslager. Wer immer schon mal wissen wollte, wie der Mann, der Millionen Menschen auf dem Gewissen hat, nebst Verwandtschaft so ganz privat lebte, der ist hier genau richtig. Da geht’s um den Spül, wie man billige Gärtner kriegt und was die Kinder jetzt schon wieder angestellt haben.

Berufliches dann am Rande: Die Vertreter der Firma Topf und Söhne legen ihre Pläne für die Gaskammern auf dem Wohnzimmertisch dar. Höß wird später bekannt dafür sein, dass er Zyklon B als Vernichtungsmittel etabliert hat. Reichsführer SS Heinrich Himmler („Onkel Heiner“) lässt die Gattin grüßen. Und dann steht noch die Karriereplanung auf dem Wochenplan. Von den Quälereien im Konzentrationslager erfährt der Zuschauer nur indirekt. Hinter der Mauer qualmt der Schornstein des Krematoriums, vereinzelt sind Schreie zu vernehmen.

Das Zentralgestirn dieses Kosmos ist aber Höß‘ Gattin Hedwig. Die organisiert Haus & Hof und sorgt für ordentlich Dünkel bei der angereisten Verwandtschaft. „Wie sie den tollen Garten hochgezogen hat, berichtet sie. Wobei sie keinen Handschlag selbst macht, dafür gibt es Zwangsarbeiter. Ihr Glanzstück ist aber die Mode: Jüdische Frauen werden bei der Verhaftung entkleidet, die KZ-Aufsehergattin kassiert Röcke, Blusen und Mäntel für sich selbst und das Gefolge ein. Was ein Mist, dass die alle so dünn sind, schimpft sie. Bei dem guten Essen bei ihr zu Hause passt man kaum in die tollen Klamotten rein. Wie eine Schlossherrin hält sie Hof, bis dann das Unglück naht. Höß wird abberufen, Adolf Hitler hat ihn für ein anderes KZ eingeplant. Großes Geschrei, denn Hedwig will das große, schöne Haus nicht verlieren.

Glazers Film hat bereits für viel Furore gesorgt, hat Kritiker- und andere Preise zuhauf bekommen, und Sandra Hüller wurde als heißeste Kandidatin für die Golden Globes gehandelt; eine Auszeichnung, die sie für diese Rolle ebenso wenig bekam wie für die in dem ebenfalls nominierten „Anatomie eines Falls“.

Es hat etwas überaus Skurriles, dass eine deutsche Schauspielerin dafür mit Lob und Ehre überschüttet werden soll, dass sie die fiese Nazi-Braut gibt. Ob sie sich den Preis dafür auf die Wohnzimmerkommode stellen wollen würde? Die Darstellung des besonders Bösen kann auch schnell mal nach hinten losgehen, auch wenn die Absicht wahrscheinlich löblich sein soll, dass der Zuschauer aufs Glatteis des Miterlebens geführt werden soll – hat es Hedwig nicht wirklich schwer in den schweren Zeiten?

Das beinahe vollständige Aussparen des Leidens derjenigen, die da ganz plastisch hinter der Gefängnismauer verschwinden, als vermeintlich drastisches Stilmittel – ja, das Ausblenden dieser Menschen als Individuen überhaupt ist weniger Kunst denn Eskapismus. Aber damals wusste ja auch keiner von was, stimmt schon.

Diese Kritik erschien zuerst am 21.02.2024 auf: links-bewegt.de

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „The Zone of Interest“.

Rückkehr nach Korsika

(FR 2023, Regie: Catherine Corsin)

Verwurzelte Fremdheit
von Wolfgang Nierlin

Die schöne, stille Berglandschaft mit Blick auf das Meer steht im Kontrast zur rasanten, hektischen Autofahrt auf der kurvenreichen Strecke zu einem Fähranleger. Eine sichtlich nervöse Mutter will mit ihren …

Die schöne, stille Berglandschaft mit Blick auf das Meer steht im Kontrast zur rasanten, hektischen Autofahrt auf der kurvenreichen Strecke zu einem Fähranleger. Eine sichtlich nervöse Mutter will mit ihren beiden kleinen Kindern die Insel verlassen. Als sie einen Anruf mit einer unheilvollen Nachricht erhält, bricht sie innerlich zusammen. Nach dieser markanten, zunächst rätselhaften Exposition sind fünfzehn Jahre vergangen. Fahles Licht der aufgehenden Sonne spiegelt sich auf der Meeresoberfläche. Und Khédidja (Aïssatou Diallo Sagna), einst aus Westafrika eingewandert, kehrt unverhofft mit ihren jetzt erwachsenen Teenagertöchtern zurück nach Korsika. Als Angestellte einer wohlhabenden Pariser Familie, die dysfunktional erscheint, soll sie deren Kinder betreuen. Zusammen mit Farah und Jessica wohnt sie für diese Zeit in einem Mobilhome auf dem örtlichen Campingplatz in Strandnähe.

Catherine Corsinis Film „Rückkehr nach Korsika“ („Le retour“), der durch seine örtliche und zeitliche Rahmung, verknüpft mit einem sommerlichen Flair und immer wieder stimmungsvollen Naturpanoramen, die Anmutung einer Feriengeschichte besitzt, konzentriert sich zunächst auf die Jugendlichen. Während die aufmüpfige 15-jährige Farah (Esther Gohourou) schnell aufbegehrt und sehr sensibel auf fremdenfeindliche Anwürfe und Übergriffe reagiert, verhält sich ihre ältere Schwester Jessica (Suzy Bemba) zurückhaltender und besonnener. Die 18-Jährige ist eine strebsame junge Frau, die einen Studienplatz an der renommierten Elite-Uni Sciences Po ergattert hat und in ihrem Tagebuch über ihre zunehmende Distanz zu ihrer Familie schreibt: „Es ist nicht mehr meine Welt, es ist ihre Welt.“ Am liebsten würde Jessica ihre Herkunft abstreifen. Ein Ausdruck davon ist ihre beginnende Liebesbeziehung zur gleichaltrigen Gaïa (Lomane de Dietrich), der freiheitsliebenden ältesten Tochter der Pariser Familie.

Aber eigentlich leidet Jessica unter einer „Leere, die ich nicht auffüllen“ kann, wie sie sagt. Dieser blinde Fleck, der kein Vergessen erlaubt, wo die Erinnerungen dafür fehlen, bezieht sich auf die verschwiegenen Umstände ihres tödlich verunglückten Vaters. Während sich Jessica dem schmerzlichen Trauma ihrer verheimlichten Familiengeschichte nähert und damit auch einer unterdrückten Identität, verändert sich unter heftigen Wehen das labile Familiengefüge. Schließlich machen auch Farah und Khédidja neue Erfahrungen, die in einer Art kollektiven Katharsis kulminieren. Von eigenen Erlebnissen inspiriert und realitätsnah inszeniert, zeigt Catherine Corsini auf versöhnliche Weise, wie es ihren Heldinnen gelingt, soziale Unterschiede, Fremdheit und Schuldgefühle so einzufrieden, dass für sie ein jeweils neues Selbstverhältnis und ein erstarkter Zusammenhalt möglich werden.

Hier gibt es ein Interview mit Regisseurin Catherine Corsin.

Colonos

(CL/AR/GB/TW/DE/SW/FR/DK 2023, Regie: Felipe Gálvez)

Blutige Spuren einer verdrängten Geschichte
von Wolfgang Nierlin

Schier grenzenlos erstreckt sich die weite Ebene der Pampa im äußersten Zipfel Feuerlands, wo tief hängende Wolken und ein milchiges, fahles Licht den Eindruck von Weite noch verstärken. Hier stehen …

Schier grenzenlos erstreckt sich die weite Ebene der Pampa im äußersten Zipfel Feuerlands, wo tief hängende Wolken und ein milchiges, fahles Licht den Eindruck von Weite noch verstärken. Hier stehen im Jahr 1901 raue Männer im heftigen Wind, um für die Schafzucht des herrschsüchtigen Großgrundbesitzers José Menéndez (Alfredo Castro) einen schnurgeraden Zaun bis zum Atlantik zu errichten. Die strapaziöse Arbeit ist hart und gefährlich. Wie Sklaven werden die rechtlosen Tagelöhner schikaniert und gnadenlos bestraft. Ein Schwerverletzter wird erschossen, weil er durch die Einbuße seiner Arbeitskraft nicht mehr „von Nutzen“ sei, wie der brutale Aufseher Alexander MacLennan (Mark Stanley) meint. Der angebliche englische Leutnant ist in Wirklichkeit ein abgehalfterter schottischer Matrose, der für Don José, den „König des weißen Goldes“, wie das erste Kapitel von Felipe Gálvez‘ Langfilmdebüt „Los colonos“ überschrieben ist, die indigene Bevölkerung, vom Kolonisator als „Bestien“ bezeichnet, töten soll.

Für die Durchführung dieser sogenannten „Säuberung“ werden dem „Leutnant“ der ortskundige Scharfschütze Segundo Molina (Camilo Arancibia) sowie der skrupellose Kopfgeldjäger Bill (Benjamín Westfall) an die Seite gestellt. Das Verhältnis des mörderischen Trios ist angespannt und von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Vor allem zwischen dem autoritären Anführer MacLennan („Wenn ich das Sagen habe, entscheide ich, was notwendig ist.“) und dem nicht minder grobschlächtigen Texaner Bill gibt es immer wieder Streit und Machtkämpfe, während der schweigsame Mestize Segundo gezwungen ist, sich zwischen verschiedenen Fronten einzurichten. Als es zum blutigen Massaker an einer wehrlosen Gruppe von Indigenen kommt, hält sich der innerlich zerrissene Segundo zurück, kann dabei aber nur mühsam seine Wut unterdrücken. Auf ihrer mörderischen Mission treffen die Gewalttäter im Weiteren sowohl auf Vertreter einer um Zivilisierung bemühten Aufklärung als auch auf ihr eigenes dunkles, noch destruktiveres Spiegelbild.

Angelehnt an historische Figuren und Tatsachen zeichnet Felipe Gálvez in seinem düsteren und schonungslos pessimistischen Neo-Western „Los colonos“ das blutige Bild einer verdrängen Geschichte rücksichtsloser Landnahme. Willkür, Gesetzlosigkeit und Gewalt werden zu Kennzeichen einer widerrechtlichen Kolonisierung, die noch immer nicht zu Ende ist. Wenn Jahre später ein Vertreter der Regierung Segundo aufsucht, um vergangene Verbrechen aufzuklären und dem Indigenen zu bescheinigen, er sei „Teil der Nation“, ist das nur eine „zivilisierte“ Form der Aneignung und der politischen Instrumentalisierung. Als „Gegenaufklärung“ dazu implementiert der chilenische Regisseur seinem visuell ausdrucksstarken Film in gedehnten, fast surrealen Momenten immer wieder Nahaufnahmen von Augen und Blicken als Bilder der leidenden Kreatur und eines anderen, mythischen Wissens.

Leere Netze

(DE/IR 2023, Regie: Behrooz Karamizade)

In der Sackgasse
von Wolfgang Nierlin

„Du bist für das Meer geboren“, sagt die junge Narges (Sadaf Asgari) einmal zu ihrem schönen Freund. Amir (Hamid Reza Abbasi) kann gut schwimmen und tauchen, während seine Freundin aus …

„Du bist für das Meer geboren“, sagt die junge Narges (Sadaf Asgari) einmal zu ihrem schönen Freund. Amir (Hamid Reza Abbasi) kann gut schwimmen und tauchen, während seine Freundin aus Gründen der Sittlichkeit am Ufer bleibt. Wenn er bei einem Tauchgang die Luft anhält, schafft er es so lange, unter Wasser zu bleiben, dass das Mädchen Angst um ihn bekommt. Diese Fähigkeit wird dem sympathischen jungen Mann im Verlauf von Behrooz Karamizades Film „Leere Netze“, der im Norden Irans am Kaspischen Meer spielt, noch von zweifelhaftem Nutzen sein. Die Notwendigkeit, ab- und aufzutauchen, symbolisiert wiederum die ambivalente Situation, in der sich Menschen befinden, die zum Selbstschutz ihr wahres Leben und ihre wahren Bedürfnisse verstecken müssen. So sind Amir und Narges zwar ein glückliches Liebespaar, das die nur kurze Zeit währenden Gefühle der Freiheit am Meer, bei einer Motorradfahrt oder beim gemeinsamen Picknick auf einer verwaisten Baustellenruine genießt; doch in der Öffentlichkeit muss ihre Liebe unsichtbar bleiben.

Amir und Narges wollen deshalb so schnell wie möglich heiraten. Dagegen spricht allerdings ihre Herkunft aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Während Narges einer wohlhabenden Familie entstammt, die eine Konditorei betreibt, lebt Amir zusammen mit seiner Mutter in ärmlichen Verhältnissen und verdingt sich als Kellner. Obwohl er verantwortungsbewusst und gewissenhaft arbeitet, verliert er nach einer Auseinandersetzung mit seinem autoritären Chef seinen Job. Der deutsch-iranische Regisseur nutzt diesen wesentlichen Zwischenfall, um einen Eindruck von patriarchalen Strukturen, Arbeitslosigkeit und mangelhaften Zukunftsaussichten zu vermitteln. Dabei zeigt Karamizade jenseits sozialer Gegensätze und festgefügter Traditionen immer wieder Bilder eines überaus bunten und vielfältigen Lebens und gewährt so Einblicke in eine unbekannte Gesellschaft abseits gängiger Klischees.

Um das hohe Brautgeld aufzubringen und Narges heiraten zu können, heuert Amir schließlich bei einem zwielichtigen Fischer an, der seine Arbeiter hemmungslos ausbeutet und überdies illegal mit Kaviar handelt. In diesem Umfeld verliert der unbedarfte Neuling sukzessive seine Unschuld und seinen Glauben an das Gute, bis er als nächtlicher Stör-Fischer schließlich selbst Teil der kriminellen Machenschaften wird. Zunehmend hoffnungsloser rutscht Amir ab in eine allgemeine Perspektivlosigkeit, die noch verstärkt wird durch engmaschige Abhängigkeiten. Seine Enttäuschung und Frustration nehmen weiter zu, als Narges von der Familie eines reicheren Bewerbers besucht wird.

In einem Realismus der Gegensätze, mit unaufdringlicher Symbolik sowie in subtilen Gesten und Blicken gestaltet Karamizade in seinem an Originalschauplätzen gedrehten Langfilmdebüt ein Drama des Scheiterns und der schuldhaften Verstrickung. Wie sehr dafür die Verhältnisse verantwortlich sind, drückt Amirs Kollege Omid (Keyvan Mohammadi) aus, ein verfolgter, untergetauchter Journalist auf der Flucht: „In diesem Land landet man immer in einer Sackgasse. Man kann nicht tun, was man will. Man kann sich nicht verwirklichen.“ Doch trotz Verzweiflung und schwerer Krisen steht am Ende ein Aufbruch, öffnet sich zumindest für Amir der Blick in die Weite.

Notes on a Summer

(ES 2023, Regie: Diego Llorente)

Im Fluss
von Wolfgang Nierlin

Marta (Katia Borlado) steht im Schwimmbad auf einem Startblock, aber ihr Absprung wird nicht gezeigt. Sie erteilt kleinen Kindern Schwimmunterricht, lässt sie ab- und auftauchen und zählt dabei die Sekunden. …

Marta (Katia Borlado) steht im Schwimmbad auf einem Startblock, aber ihr Absprung wird nicht gezeigt. Sie erteilt kleinen Kindern Schwimmunterricht, lässt sie ab- und auftauchen und zählt dabei die Sekunden. Doch eigentlich arbeitet die Mittzwanzigerin an der Uni und schreibt an ihrer Promotion. Davon wird allerdings nichts gezeigt. Stattdessen sieht man sie zusammen mit Leo (Antonio Araque) in ihrer Madrider Wohnung. Leo liebt Marta und verdient das Geld in einer Gesellschaft, die von Arbeitslosigkeit geprägt ist. Dann sind Sommerferien und Marta fährt mit dem Zug in ihre alte Heimat an der asturischen Atlantikküste. Sie wohnt dort bei ihrer Mutter, trifft Freundinnen, besucht Feste und eine Hochzeit. Vor allem aber nimmt sie ihre Liebesbeziehung zu ihrem früheren Freund Pablo (Álvaro Quintana) wieder auf. Die beiden haben leidenschaftliche Sex und ein gegenseitiges Vertrauen, das aus einer gemeinsamen Geschichte herrührt. Doch dann kommt Leo überraschend zu Besuch und Marta weiß in ihrer widersprüchlichen Gefühlslage immer weniger, was sie will.

Das alles wird von Diego Llorente betont beiläufig, unspektakulär und nebenordnend erzählt. In seinem Film „Notes on a Summer“ („Notas sobre un verano“) verzichtet der spanische Regisseur auf einen dramatischen Spannungsbogen und eine inhaltlich verknüpfte Szenenfolge. Stattdessen organisiert er seine Dreiecksgeschichte elliptisch, was ihr die Anmutung scheinbarer Beliebigkeit oder Zufälligkeit verleiht. Llorentes nahezu naturalistisches Interesse für alltägliche Dinge und Begebenheiten verleiht dem Film einen dokumentarischen Charakter, während die Montage seine impressionistische Seite akzentuiert. Die im Filmtitel aufgerufenen Notizen sind deshalb wie Farbtupfer auf einem Gemälde, das keine Vollständigkeit anstrebt. Zugleich besitzt der Film einen subtilen Subtext, dessen Symbolgehalt sich bereits in den ersten Szenen andeutet.

Denn natürlich befinden sich Marta und ihre Generationsgenossen in einer Phase der Orientierung und an einem unsicheren Übergang von einer prekären Gegenwart in eine ungewisse Zukunft. Konfrontiert mit ihrer Herkunft schwankt Marta plötzlich in ihren Gefühlen. Auch wird angedeutet, dass sie einst ihre künstlerischen Ambitionen einem beruflichen Pragmatismus geopfert hat. Auf der Suche nach dem richtigen Platz im Leben muss sie sich jetzt erneut entscheiden zwischen Gehen und Bleiben. Wieder scheint alles im Fluss, während sie eine emotionale Erschütterung erlebt. Nichts scheint sicher, während sie irgendwie weitermacht und weitergeht. Und man hat nicht das Gefühl, dass sie sich wirklich entscheidet oder entscheiden kann; auch wenn der Schluss eine andere Lesart nahelegt.

La Chimera

(IT/FA/CH 2023, Regie: Alice Rohrwacher)

Auf der Suche nach dem Jenseits
von Wolfgang Nierlin

Als würde sich eine Blende öffnen und schließen, erscheint für Augenblicke zwischen Licht und Dunkel, An- und Abwesenheit das schöne Gesicht einer jungen Frau auf der Leinwand. Sie sei verloren, …

Als würde sich eine Blende öffnen und schließen, erscheint für Augenblicke zwischen Licht und Dunkel, An- und Abwesenheit das schöne Gesicht einer jungen Frau auf der Leinwand. Sie sei verloren, heißt es noch, bevor der Engländer Arthur (Josh O’Connor), der sich auf einer Zugfahrt im südlichen Italien befindet, abrupt aus seinem Traum aufschreckt. Der Schaffner verlangt die Fahrkarte und bemerkt süffisant, der Träumer werde jetzt nie das Ende seines Traumes erfahren. Arthur wirkt gereizt und latent wütend. Er komme von weit her, sagt der gutaussehende junge Mann in seinem hellen, leicht abgetragenen Sommeranzug. Tatsächlich wurde der Anführer einer toskanischen Grabräuberbande gerade aus dem Gefängnis entlassen. Trotzdem spürt man eine Distanz zu seinen Kumpanen, die ihn gutgelaunt vom Bahnhof abholen. Arthur ist ein Außenseiter und Grenzgänger zwischen Raum und Zeit, der außerhalb der Stadtmauer in einer ärmlichen Wellblechhütte lebt. Außerdem besitzt er die geheimnisvolle Gabe, mit Hilfe einer Wünschelrute verborgene Dinge aufzuspüren und sichtbar zu machen.

In ihrem neuen, von einem magischen Realismus grundierten Film „La chimera“ widmet sich Alice Rohrwacher nach „Glücklich wie Lazzaro“ erneut einer ebenso wunderlichen wie eigenwilligen Figur, die mit ihrer besonderen Sensibilität zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod vermittelt. Wenn er mit den sogenannten „Tombaroli“ etruskische Gräber aufspürt, scheint sein Interesse weniger den wertvollen Grabbeigaben zu gelten, die von den Dieben hemmungslos gestohlen und verschachert werden. Die Profanisierung und materialistische Veräußerung des heiligen Erbes markiert einen Traditions- und Zivilisationsbruch, der die Geschichtsvergessenheit unserer gegenwärtigen Gesellschaft spiegelt. Dagegen verkörpert Arthur einen trauernden, mystischen Sucher, der die Orte des Jenseits aufsucht, um in Kontakt zu seiner verstorbenen Frau Benjamina zu treten. Diese ist wiederum eine von mehreren Töchtern der altehrwürdigen Signora Flora (Isabella Rossellini), die mit ihrer jungen Haushälterin Italia (Carol Duarte) in einem alten, verfallenden Palast lebt und ihre Hand schützend über Arthur hält.

Alice Rohrwacher vereint in ihrem bunten, vielschichtigen und beziehungsreichen Film einmal mehr tragikomische und burleske Elemente in der Tradition der Comedia dell’arte. Angesiedelt in den 1980er Jahren auf dem Land, verströmt die warme Körnigkeit wechselnder analoger Aufnahmeformate ebenso eine märchenhafte Atmosphäre wie einen zeitlosen Realismus, der noch den Slapstick von Stummfilmen zitiert. Dabei beschwört die italienische Regisseurin neben der Gegenwart des Überlieferten und Mythischen einmal mehr den anarchischen Geist, die Lebensfreude und die naiven Freiheitsträume der Geschichtsvergessenen. Daneben entwirft sie aber auch die positive Utopie einer sozialistischen Gemeinschaft. Der orphische Seelensucher, Grenzgänger und Träumer Arthur muss sich schließlich entscheiden, ob er der irdischen Versuchung nachgibt oder weiter seinem spirituellen Weg auf der Suche nach dem Jenseits folgt.

Green Border

(PL/FR/CZ/BE 2023, Regie: Agnieszka Holland)

Europäische Grenzwerte
von Jürgen Kiontke

Soziale Stoffe gehören zur Grundausstattung der Filme der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland. Auch in ihrem neuen und viel diskutierten Werk „Green Border“ ist dies nicht anders. Es geht um das …

Soziale Stoffe gehören zur Grundausstattung der Filme der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland. Auch in ihrem neuen und viel diskutierten Werk „Green Border“ ist dies nicht anders. Es geht um das Schicksal von Geflüchteten, die im Grenzgebiet zwischen Polen – Außenposten der Europäischen Union – und Belarus stecken bleiben.

Menschen werden aus Syrien nach Belarus freundlich eingeflogen, mit dem Versprechen, in die Europäische Union zu gelangen: Die weißrussische Regierung sieht darin die Möglichkeit, der Union Druck zu machen gegen die Sanktionen der EU. Der Gründe sind noch viele, warum sich Menschen dort wiederfinden. Amina und Bashir, ein Paar aus Syrien, ist mit den Angehörigen eingeflogen. Versprochen wurde ihnen der Transport zu polnischen Grenze, die Gruppe will dann weiter nach Schweden zu Verwandten reisen. In ihrem bürgerkriegszerrütteten Herkunftsland haben sie vieles verloren, sie sehen dort keine Zukunft mehr.

Die Grenzer karren sie samt unhandlichem Gepäck und schlechter Ausrüstung bei übler Witterung in ein dunkles Waldstück. Aber so grün, dass sie nicht gesichert wäre, ist diese Grenze nicht: Auf der polnischen Seite warten Soldaten, die die Ankommenden flugs wieder zurücktreiben. Wie Amina und Bashir stecken nun viele in dem Wald fest. Die Situation wird zunehmend gefährlich, Wasser und Nahrung hat die Gruppe kaum. Mal werden sie festgenommen und woanders wieder ausgesetzt – werden zurückgeschickt und wieder zurückgeschickt.

In neun Kapiteln erzählt Holland in düsteren Graustufen von ihrem Schicksal. Durchbrochen wird die Erzählung durch die Einführung anderer Figuren und ihrer Lebensumstände. Menschen, die im Grenzgebiet wohnen, und immer wieder Nahrungsmittel an Geflüchtete verkaufen, Grenzschützer, die sich gerade ihr Einfamilienhaus bauen, tags wie nachts Geflüchtete zurückweisen und oft ebenfalls von den Ereignissen überrollt werden. Es gibt jedoch auch ausgemachte Sadisten unter dem Personal. Die Flüchtlinge sehen sich mit Morddrohungen und Folter konfrontiert.

„Green Border“ ist ein Streifen, der das Publikum traurig macht, machen soll; zielt auf das Hervorrufen von Emotionen ab, will zur Debatte anregen. Streng komponiert wie eine Dokumentation, die Anklage führt gegen die herrschenden bürokratischen und politischen Verhältnisse. Das Grün dieser Grenze ist keines der Hoffnung.

Diese Kritik erschien zuerst am 29.01.2024 auf: links-bewegt.de

Stella. Ein Leben

(DE 2023, Regie: Kilian Riedhof)

Von deutschen Obsessionen
von Marit Hofmann

Es ist nicht so, als wäre die Biografie der Stella Goldschlag nicht bekannt. Nach Sachbuch, Dokus und großen Medienstorys über das vermeintliche „Tabu der Holocaust-Forschung“ („Spiegel“) wurde die Lebensgeschichte der …

Es ist nicht so, als wäre die Biografie der Stella Goldschlag nicht bekannt. Nach Sachbuch, Dokus und großen Medienstorys über das vermeintliche „Tabu der Holocaust-Forschung“ („Spiegel“) wurde die Lebensgeschichte der jungen Jüdin, die für die Gestapo unzählige versteckte Juden aufspürte, unter dem Titel „Das blonde Gespenst vom Kurfürstendamm“ 2016 auf die Musicalbühne gezerrt und 2019 von „Spiegel“-Redakteur Takis Würger als Romanschmonzette verramscht.

Der Publizist Micha Brumlik sprach damals von einer „entwürdigenden Ausbeutung und Verhöhnung eines NS-Opfers“. Goldschlag, die 1943 als Zwangsarbeiterin knapp der Deportation entkommen und in Berlin untergetaucht war, wurde selbst von einer jüdischen sogenannten Greiferin an die Gestapo ausgeliefert. Sie wurde gefoltert und erpresst und unternahm einen Fluchtversuch, bevor sie einwilligte, für die Nazis zu arbeiten, um ihre Eltern und sich selbst zu retten. Ihre Eltern konnte sie nicht vor dem Tod in Auschwitz bewahren.

Doch die Kulturindustrie ist noch nicht fertig mit Stella Goldschlag, die mit zehn Jahren Gefängnis härter bestraft wurde als die meisten NS-Täter, zum Christentum konvertierte, sich antisemitisch äußerte und 1994 Suizid beging. Denn hier kommen zwei deutsche Obsessionen zusammen: die von der schönen Jüdin und die von der jüdischen Mitschuld.

Während sich die Welt an Israel abarbeitet, sah sich der Regisseur Kilian Riedhof, bekannt für zeitgeschichtliche Dramen wie „Gladbeck“ oder „Barschel“, berufen, Goldschlags Geschichte in einem Spielfilm zu verbraten, denn: „Es ist für mich ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte. Sie ist im Land meiner Vorfahren passiert. Das Schicksal der Juden in Deutschland ist Teil meiner Geschichte, für die ich eine Verantwortung spüre.“

Vermutlich auch, weil eine Erbin durch Würgers Version und das Musical Persönlichkeitsrechte verletzt sah, wollten Riedhof und sein Produzent Michael Lehmann, der in der DDR erlebt haben will, „wie Diktatur auf Menschen wirkt“, alles richtig machen. Übereifrig erklären sie im Presseheft, wie genau sie recherchiert, wie viele Prozessakten sie gewälzt und wie viele Zeitzeugen sie befragt haben. Nicht müde werden sie zu betonen, mit der Jüdischen Gemeinde, insbesondere dem Historiker Andreas Nachama, dem Zentralrat und Rabbinern im (wie auch immer gearteten) „Austausch“ gewesen zu sein, als wäre das eine Art Freibrief.

Zwar dichtet „Stella. Ein Leben“ nicht wie Würgers „Stella“ Figuren hinzu, verzichtet auf bestimmte abgegriffene NS-Darstellungstopoi und will ein realistischeres und moderneres Berlin zeigen, aber auch Riedhof presst die reale Lebensgeschichte in Klischees einer deutschen Primetime-Arie. Das beginnt bei den Proben von Stellas Band, die die Vorstellungen des Publikums von „Jatz“ bedienen, und endet bei „Berlin Babylon“-ähnlichen Verruchtheiten und Orgienekstase im Bombenhagel.

Schon bevor Goldschlag zur Denunziantin wird, unterstellt der Film dem „blonden Gift“ Gefühlskälte und Treulosigkeit: „Ich war noch nie so einsam wie mit dir“, sagt ihr erster Ehemann, der jüdische Musiker Manfred Kübler, der auf eine US-Karriere als Sängerin versessenen Femme fatale. Während die Nazis Randfiguren bleiben, die an Weihnachten auch mal Mitgefühl mit den in Auschwitz Ermordeten zeigen, steht Goldschlags skrupelloser Geliebter und späterer Gatte, der Passfälscher Rolf Isaaksohn (keck und verschlagen: Jannis Niewöhner), für den raffgierigen Juden, der die Notlage ausnutzt und seinesgleichen Geld aus der Tasche zieht. Als auch er auffliegt, scheint er mit seiner stets schick zurechtgemachten und ihre Privilegien genießenden Frau Gefallen daran zu finden, im Auftrag der Gestapo auf Menschenjagd zu gehen. Sowohl Drehbuch als auch die entleerte Mimik der dauerpräsenten Paula Beer kommen an ihre Grenzen, wenn es darum gehen müsste, die seelischen Folgen von Verfolgung und Folter erahnbar zu machen.

Es sei wichtig, „den Zuschauer*innen die Chance zu geben, den eigenen moralischen Resonanzboden zum Klingen zu bringen. Damit nie wieder Menschen ihre Haut retten müssen und dabei ihre Seele verlieren“, erklären die Produzenten, deren moralischer Resonanzboden gewaltig zu scheppern scheint.

„Wer sind wir, dass wir uns anmaßen könnten“, fragte Jan Süselbeck vor fünf Jahren zu Recht in seinem Würger-Verriss in der „Zeit“, über Goldschlags „moralische Verstrickung als Holocaust-Opfer zu urteilen?“ Der jüngste kulturindustrielle Schlag gipfelt in der reißerischen Frage an das deutsche Publikum auf dem Filmplakat: „Was hättest du getan?“

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Stella. Ein Leben“.

Diese Kritik erschien zuerst am 24.01.2024 in: ND

Der Rhein fließt ins Mittelmeer

(ISR 2021, Regie: Offer Avnon)

Die inneren Bilder des Unbegreifbaren
von Wolfgang Nierlin

Was er mit seinem Film erfahren wolle und was die Frage nach der Einzigartigkeit des Holocaust überhaupt nütze oder bezwecke, wird der Filmemacher Offer Avnon im Verlauf seiner Gespräche einmal …

Was er mit seinem Film erfahren wolle und was die Frage nach der Einzigartigkeit des Holocaust überhaupt nütze oder bezwecke, wird der Filmemacher Offer Avnon im Verlauf seiner Gespräche einmal von einer älteren Interviewpartnerin gefragt. Er versuche, etwas greifbar zu machen, was nicht greifbar ist und was sich als permanente Anwesenheit der Shoah dem Bewusstsein eingeschrieben habe. Diese versteckte, unheimliche Wirklichkeit, die eine starke Bindung zur Vergangenheit bewirke, liege als Trauma hinter und jenseits des konkret Erlebten. Insofern ist Offer Avnons Film „Der Rhein fließt ins Mittelmeer“ der Versuch, sich dem Ungesagten, Verdrängten und doch stets Anwesenden auf eine mehr assoziative und sehr subjektive Weise zu nähern. Dafür verbindet der israelische Regisseur, selbst Sohn eines Holocaust-Überlebenden, die fragmentarischen Erinnerungen von Zeitzeugen und Betroffenen aus seinem persönlichen Umfeld mit Bildern, die sich in seinem Unterbewusstsein eingelagert haben.

So werden Orte und Dinge, Natur und versteinerte Reste des Vergangenen zu Platzhaltern für das Ungesagte. Der titelgebende Fluss verbindet Vergangenheit und Gegenwart. Gras und Sträucher überwuchern die Ruinen der Vertriebenen und Geflohenen. Zäune und Türen, Schlösser und Gitter markieren Orte der Gefangenschaft. Zugschienen, ein Bahnsteig, Flammen und ein Duschkopf vergegenwärtigen ganz unspektakulär den Schrecken unmenschlicher Vernichtung und des Todes. Das Unfassbare ist anwesend im vorgeblich Normalen. Konkret erscheint es hingegen an den Stätten des Gedenkens und der Mahnung: Auf dem jüdischen, inmitten eines Birkenwäldchens gelegenen Friedhof von Warschau, dem Stelenfeld in Berlin oder den von Arabern verlassenen Häusern und Ruinen in Haifa, die im Stadtbild mittlerweile so normal zu sein scheinen, dass niemand mehr darüber nachdenkt. Offer Avnon folgt hier den politischen Spuren und Ablagerungen der Geschichte im kollektiven Gedächtnis.

„Es ist unmöglich, der Erinnerung zu entkommen“, sagt einer der Befragten, zu denen neben Zeitzeugen aus Deutschland, Polen und Israel auch Avnons Vater gehört, der unter anderem über das fragile Zusammenleben mit seinen arabischen Nachbarn spricht. Trotz Freundlichkeit und Freundschaft lauere darin stets Angst und potentielle Gewalt. Die Illusionslosigkeit angesichts des leidvoll Erlebten und ein aus diesen schrecklichen Erfahrungen abgeleitetes pessimistisches Menschenbild ziehen sich leitmotivisch durch den Film. Daraus sprechen Vorurteile, Hass, Feindschaft und ein permanentes Gegeneinander derjenigen, die sich am nächsten sind, seien das Deutsche und Juden, Juden und Polen oder Araber und Juden. Pogrome, Ghettoerfahrungen und nicht verheilende Wunden finden in diesen Aussagen ihren Ausdruck; auf der Täterseite aber auch die Ablehnung von Verantwortung und Schuld. „Wir sind nur Menschen“, heißt es einmal fast entschuldigend. Und: „Es gibt keine Gerechtigkeit.“ Wenig zuversichtlich und ermutigend fragt der Filmemacher am Ende: „Wo fängt der Kreis aus Hass, Angst und Gewalt an? Und wo endet er?“ Die wenig hoffnungsvolle Antwort liegt vermutlich im Bild, das der Frage zugrunde liegt.

Plastic Fantastic

(DE 2023, Regie: Isa Willinger)

Die Kunststoff-Apokalypse
von Wolfgang Nierlin

Eine geradezu gespenstisch anmutende Fahrt in die dunkle Tiefe eines Salzstocks eröffnet den Film. Eine unbekannte Fracht wird abgelagert und versiegelt. Erst sehr viel später erfahren wir, dass es sich …

Eine geradezu gespenstisch anmutende Fahrt in die dunkle Tiefe eines Salzstocks eröffnet den Film. Eine unbekannte Fracht wird abgelagert und versiegelt. Erst sehr viel später erfahren wir, dass es sich dabei um den toxischen Filterstaub einer Plastik-Verbrennungsanlage handelt, der hier gewissermaßen „für die Ewigkeit“ aufbewahrt wird. Mit dieser Szenerie korrespondiert ein Satz, der mit Blick zum nächtlichen Sternenhimmel am Anfang von Isa Willingers aufschlussreichem Dokumentarfilm „Plastic Fantastic“ steht: „Es gibt 500-mal mehr Plastikpartikel in den Meeren als Sterne in unserer Galaxie.“ Längst ist der Müll einer gigantischen, immer mehr expandierenden Plastikproduktion zum lebensbedrohlichen Problem für die Umwelt und damit für Menschen und Tiere geworden. Er ist das Ergebnis eines profitorientierten Wirtschaftszweigs, der mit seinem fortwährend zunehmenden Angebot paradoxerweise die Nachfrage bestimmt. Jede Minute lande eine Lastwagenladung Plastikmüll im Meer, informiert eines der Inserts. Später sieht man auf einer dreigeteilten Leinwand erschreckende Bilder vermüllter Flüsse, Meere und Strände.

„Wie kann man etwas herstellen, ohne sich zu fragen, was damit passiert?“, fragt der Wissenschaftler Michael Braungart, der nach alternativen, in einen Verwertungskreislauf integrierbaren Materialien forscht. Denn bislang wird nur ein minimaler Prozentsatz des Plastiks recycelt. Das wissen selbstverständlich auch die Hersteller und Propagandisten der Plastikproduktion, von denen etwa Joshua Baca vom American Chemistry Council ausführlich zu Wort kommt. „Kunststoffe sind besser als alle anderen Materialien“, lobt der Lobbyist und verweist auf den durch Plastik bewirkten wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt. Doch während es bei den Befürwortern ein Problembewusstsein gibt, dokumentieren Zahlen und Bilder riesiger Produktionsstätten die beängstigenden Steigerungsraten der Plastikproduktion.

In Gesprächen mit Fachleuten, Betroffenen und Aktivisten in den USA, in Deutschland und in Afrika wechselt Isa Willinger mit ihrem Film immer wieder die Perspektive und setzt auf diese Weise harte Kontraste. Während der Fotojournalist James Wakibia in Kenia schwerwiegende Umweltschäden zeigt, sammelt und untersucht die Ozeanografin Sarah-Jeanne Royer das angeschwemmte Mikroplastik an einem Strand auf Hawaii. Sie spricht über vermeidbare Einwegverpackungen und erklärt, wie synthetische Fasern durch Kleidung und eingeatmeten Staub auch in den menschlichen Körper gelangen. Für die kämpferische schwarze Aktivistin Sharon Lavigne aus Lousiana steht deshalb fest, dass die hohe Zahl an Krebstoten in ihrer Gemeinde durch die angrenzende Chemiefabrik des Konzerns Formosa Plastics verursacht wird und außerdem einen rassistischen Aspekt beinhaltet.

Die komplexen Zusammenhänge erhalten schließlich eine weitere Dimension, wenn der Umweltanwalt Steven Veit über Plastik als Teil im „Öl-Gas-Puzzle“ spricht, das durch seinen immensen CO2-Ausstoß letztlich auch die Klimakrise verschärft. Wiederholte Blicke auf die Zentren der Macht und der Finanzwelt sind an die Verantwortung der Politik adressiert, entbinden jedoch nicht vom eigenverantwortlichen Konsumverhalten. Auch wenn der langwierige, unbeirrte Kampf gegen die Industriegiganten zumindest zu kleinen Erfolgen führt, zeigt das wenig hoffnungsvolle, geradezu apokalyptische Schlussbild der auf einer Mülldeponie streunenden Hunde nachdrücklich, wie ernst die Lage ist.

Olfas Töchter

(FR/TE/DE/SAU 2023, Regie: Kaouther Ben Hania)

Fiktion überholt das Leben
von Marit Hofmann

Es sollte nur ein Spaß sein und ein kleines Geschäft. Als salafistische Prediger in Tunis Niqabs gratis verteilen, holen sich Ghofrane und ihre Schwestern welche, um sie weiterzuverkaufen. Kichernd probieren …

Es sollte nur ein Spaß sein und ein kleines Geschäft. Als salafistische Prediger in Tunis Niqabs gratis verteilen, holen sich Ghofrane und ihre Schwestern welche, um sie weiterzuverkaufen. Kichernd probieren sie die Vollverschleierung an. Doch Ghofrane legt sie nicht mehr ab. Sie radikalisiert sich, tyrannisiert die „ungläubige“ Familie, versucht ihre drei jüngeren Schwestern am Schulbesuch zu hindern, und 2016 schließt sich die 16-Jährige dem Islamischen Staat in Libyen an. Kurz darauf folgt ihr die zweitälteste Schwester Rhama. Die beiden Tunesierinnen sitzen mittlerweile in einem libyschen Gefängnis, die Tochter von Ghofrane und einem IS-Kämpfer wächst hinter Gittern auf.

Olfa Hamrouni, die Mutter der, wie sie es ausdrückt, „vom Wolf gefressenen“ Jugendlichen wandte sich in ihrer Not an die Medien und kritisierte die Tatenlosigkeit der tunesischen Behörden. So kam ihre Landsfrau, die Regisseurin Kaouther Ben Hania, auf die Idee, einen Film über die starke und charismatische Mutter und ihre Töchter zu drehen. Es gab da nur ein Problem: „Olfa wurde von Journalisten konditioniert. Sie spielte mit großem Gespür für Tragik die Rolle der trauernden, hysterischen und von Schuldgefühlen zerfressenen Mutter (…) Sobald ich meine Kamera einschaltete, begann sie eine bestimmte Rolle zu spielen.“

Aus der Not heraus entwickelte Ben Hania, von jeher fasziniert „von der schwierigen Beziehung zwischen Fiktion und Dokumentarfilm“, eine geniale Idee, die ihr in Cannes den Preis für den besten Dokumentarfilm einbrachte: „Mir wurde klar, dass einen Dokumentarfilm über die Vorbereitung einer Fake-Fiktion zu drehen, die nie das Licht der Welt erblicken würde, der beste Weg war, Olfa zurück in die Realität und zu ihren Erinnerungen zu holen.“ Sie engagiert drei Schauspielerinnen – zwei spielen die abwesenden Töchter, und der tunesische Schauspielstar Hend Sabri soll in manchen Szenen, in denen es für die echte Olfa zu aufwühlend wird, ihre Rolle übernehmen. Die verbliebenen Schwestern, die ihre Haare offen tragen und sich modern kleiden, spielen sich selbst.

© Rapid Eye Movies

Aber das in der ästhetisch reduzierten Kulisse eines heruntergekommenen Hotels gedrehte introspektive Kammerspiel konzentriert sich weniger auf das Nachstellen bestimmter Erlebnisse als darauf, was diese filmische Familienaufstellung bei den echten Protagonistinnen auslöst. Die Zuschauerinnen sind beim gegenseitigen Kennenlernen und Posieren in den Rollen dabei (was bereits starke Emotionen hervorruft), beim – vermeintlichen – Briefing der Darstellerinnen durch die Familienmitglieder, beim Austausch mit der Regisseurin und auch bei der Reflexion der Schauspielerinnen darüber, wie sie sich abgrenzen können. Da fragt man sich, ob nicht bei so manchem Film nach einer wahren Geschichte das Briefing und die Dreharbeiten fesselnder wären als das Endprodukt.

Sabri fragt Olfa aus, konfrontiert sie mit Kritik, versucht zu verstehen, warum die Alleinerziehende, die sich als Putzkraft durchschlägt, mit Gewalt reagiert hat, als die ältesten Töchter begannen, sich zu schminken und mit Jungs zu flirten. Die Mutter korrigiert die Schauspielerin, spielt eine Szene spontan selbst.

Währenddessen übernimmt der Darsteller Majd Mastura alle Männerrollen: Olfas Gatten, den sie nach der Zwangsheirat in der Hochzeitsnacht verprügelt hat, um das obligatorische Blut auf dem Bettlaken präsentieren zu können, und von dem sie sich scheiden ließ; ihren drogensüchtigen Liebhaber, unter dem die Töchter zu leiden hatten; Vertreter der Behörden – auch wenn sich die Erscheinungsformen wandeln, das Patriarchat bleibt immer gleich. Ben Hania dokumentiert jedoch auch ethische Bedenken des Darstellers gegen ihre Vorgehensweise: Eine sehr emotionale Szene unterbricht Mastura, weil eine Tochter Intimitäten offenbart, die seiner Ansicht nach nicht an die Öffentlichkeit gehören.

Tatsächlich dringt Ben Hania mit ihrem „therapeutischen Labor“ in Tiefen vor, die keine Reportage zu erreichen vermag. Sie holt Verdrängtes hervor und lässt die Familienmitglieder bisher Ungesagtes aussprechen. Eine der Töchter kommt zu der Erkenntnis, die Mutter habe „eben alles an uns weitergegeben, was ihr angetan wurde, darum nennt sie es einen Fluch“. Es wird geweint, gelacht, getröstet – eine schwesterliche Verbundenheit zwischen Filmteam und Protagonistinnen wird spürbar. Und die westliche Zuschauerin versteht die Lage von Frauen, die islamistischer Propaganda ausgesetzt sind, besser, wenn die sehr reflektierten jüngeren Schwestern erklären, dass viele Mädchen den Niqab tragen, weil er ihnen mehr Bewegungsfreiheit verschafft und weil sie Angst davor haben, als Sündhafte „im Grab gefoltert zu werden“. Ihr nüchternes Resümee: „Im Islamischen Staat dürften wir diesen Film nicht drehen.“

Diese Kritik erschien zuerst am 17.01.2024 in: ND

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Olfas Töchter“.

Orca

(IRN/QAT 2021, Regie: Sahar Mosayebi)

Schwimmkunst als Politikum
von Jürgen Kiontke

Der Schwertwal, der der iranische Schwimmerin Elham im Wasser begegnet, kennt keine Hindernisse, er setzt sich gegen alle Widrigkeiten durch. Elham ist Extremschwimmerin, aber so leicht wie im Wasser fühlt …

Der Schwertwal, der der iranische Schwimmerin Elham im Wasser begegnet, kennt keine Hindernisse, er setzt sich gegen alle Widrigkeiten durch. Elham ist Extremschwimmerin, aber so leicht wie im Wasser fühlt sie sich selten. Und selbst dort – auch wenn‘s kaum möglich ist – legt man ihr Steine in den Weg. Sportschwimmen für Frauen soll es nach Auffassung der Männer und der iranischen Sportministerin nicht geben. Elham wird deshalb ein Zeichen setzen. Niemand ist bisher weiter als sie geschwommen, die Hände mit Handschellen gefesselt. Ihr Schwimmanzug trägt die Farben ihres Vorbilds: schwarz und weiß, stark und schön – ganz wie der Orca.

Mit ihrem Film „Orca“ greift Regisseurin Sahar Mosayebi den Fall der realen Elham Asgari auf. Sie startete im Jahr 2013 einen Guinessbuch-Rekordversuch im ozeanischen Weitschwimmen der Frauen. Doch das Unterfangen wurde abgebrochen, das Ministerium wollte weder Guinness-Buch noch schwimmende Frauen dulden. Asgari wurde fast von wütenden Männern in einem Motorboot getötet, weil Religionswächter Wind von ihrem Vorhaben bekommen hatten.

Gewalterfahrung ist auch im Film ein Erzählkern, ein Lebensthema, mit dem sich Asgari auseinandersetzen muss. Sie ist mit einem Schläger verheiratet, der ihr gefährliche Verletzungen zufügt. Niemand hilft ihr, nicht mal die eigenen Eltern, die von den Vorfällen wissen. Denn Asgaris Blessuren sind auch nicht zu übersehen: Einmal prügelt er sie ins Koma, sie landet auf der Intensivstation.

Ganz sprichwörtlich geht die junge Frau also ins Wasser – nicht um zu sterben, sondern um vor der Gewalt davon und zu sich selbst zu schwimmen. Der Schwimmverband unterstützt sie, aber sie bekommt Schwierigkeiten mit dem Sportministerium, das den Kader der Schwimmerinnen auflösen will. Warum, so fragt sich Asgari, vertritt die Sportministerin, eine Frau wie sie, nicht die Interessen der Sportlerinnen? Weil es die Interessen einflussreicher Kreise stört. Denn selbst das recht harmlos daherkommende Durchqueren des Wassers wird in der iranischen Religionsdiktatur zum Problem. So gerät die Schwimmkunst zum Politikum.

Diese Kritik erschien zuerst am 17.01.2024 auf: links-bewegt.de

Becoming Giulia

(CH 2022, Regie: Laura Kaehr)

Heimkehr auf die Bühne
von Wolfgang Nierlin

Allein und verloren windet sich eine junge Frau auf der großen Bühne eines leeren Opernhauses. Eng umschlungen hält sie ein Bündel mit einem Baby in ihren Armen. Dabei ist der …

Allein und verloren windet sich eine junge Frau auf der großen Bühne eines leeren Opernhauses. Eng umschlungen hält sie ein Bündel mit einem Baby in ihren Armen. Dabei ist der Bühnenhintergrund in rotes Licht getaucht. Eine Tür öffnet sich. Dann beginnt die Kamera zu delirieren, als würde nicht sie, sondern der Raum sich in rasender Geschwindigkeit drehen. Erst viel später erfahren wir, dass hier die Tänzerin Giulia Tonelli Szenen für Cathy Marstons Ballett „Der scharlachrote Buchstabe“ probt. Zunächst sieht man die erste Solistin der Züricher Oper aber zunächst als Mutter und Hausfrau bei kursorisch montierten Haushaltstätigkeiten und der Betreuung ihres erst wenig Monate alten Kindes Jacopo. Nach 11 Monaten Bühnenabstinenz will sie ihre schmerzlich vermisste Arbeit wieder aufnehmen, was in ihrem Metier alles andere als selbstverständlich ist. „Ich brauche es“, sagt Giulia. Das Tanzen sei ihre Identität.

Laura Kaehrs beobachtende, auf einen Kommentar und explizite Interviews verzichtende Langzeitdokumentation „Becoming Giulia“ handelt also vom schwierigen Spagat zwischen Mutterschaft und Tanzkarriere. Der Film dokumentiert Giulias ehrgeizigen Wiedereinstieg, der von Stress und körperlichen Schmerzen begleitet wird; er beobachtet ihre ersten Proben zu „Romeo und Julia“ und zu nachfolgenden Balletten, die Anspannung vor der Premiere und die Gelöstheit nach dem glücklichen Erfolg: „Der Abend war wie eine Heimkehr“, sagt die Ballerina. Die Bühne sei für Künstler wie ein Zuhause. Daneben zeigt Laura Kaehr, die früher selbst getanzt hat, Phasen der Regeneration bei Massagen und in Gesprächen mit Kolleginnen. Dabei geht es um Giulias körperliche Strapazen und vor allem um ihre Doppelrolle, die den Blick auf ihren Beruf zunehmend verändert, weitet und in eine andere Richtung lenkt. Die familiären Umstände treten dahinter allerdings etwas zurück.

Der Filmtitel „Becoming Giulia“ deutet deshalb bereits darauf hin, dass im weiteren Sinne ein Prozess des Reifens und Werdens im Mittelpunkt steht. Das Kind wecke in ihr ungeahnte Kräfte, sie fühle sich jetzt vollständiger, bemerkt die Porträtierte im Hinblick auf ihre künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, während sie zugleich aufmerksamer und sensibler wird für die Machtstrukturen und latenten Unterdrückungsmechanismen eines Metiers, das ein normales Privatleben kaum zulässt; und wenig Verständnis hat für die Probleme einer arbeitenden Mutter. Für Giulia spiegelt sich darin auch die unausgesprochene Einstellung der Gesellschaft. Ihr Kontakt zur Choreographin und Mutter Cathy Marston, deren erzählerischer Tanzansatz sich mit Giulias schauspielerischem Ausdrucksbedürfnis trifft, führt die Tänzerin in Gesprächen und durch die gemeinsame Arbeit am „Scharlachroten Buchstaben“ schließlich zu einem neuen künstlerischen Selbstverständnis. Dieses umfasst nicht nur ihre Loslösung von angestammten Rollenbildern, sondern auch eine veränderte Perspektive auf ihren Beruf und das klassische Ballett.

Stella. Ein Leben

(DE 2023, Regie: Kilian Riedhof)

Opfer und Täterin
von Wolfgang Nierlin

Stella Goldschlag (Paula Beer) ist jung und schön. Blond, blauäugig und lächelnd steht die 18-Jährige vor dem Spiegel, schminkt sich die Lippen und küsst kurz darauf ihr Spiegelbild. Stella ist …

Stella Goldschlag (Paula Beer) ist jung und schön. Blond, blauäugig und lächelnd steht die 18-Jährige vor dem Spiegel, schminkt sich die Lippen und küsst kurz darauf ihr Spiegelbild. Stella ist selbstverliebt und abenteuerlustig, ehrgeizig und ein bisschen bockig. Als Sängerin einer enthusiastisch swingenden Jazz-Combo will sie hoch hinaus. Übertrieben ausgelassen feiert sie mit ihren jungen Freunden einen ersten Erfolg. Dass sie außerdem aus einer jüdischen Familie stammt, die sich im Berlin des Jahres 1940 zunehmend sorgenvoll um eine Ausreisebewilligung bemüht, spielt für sie kaum eine Rolle. Nach einem Zeitsprung in den Winter 1943 arbeitet sie unter Zwang in einer grauen, trostlosen Rüstungsfabrik unter der ständigen Drohung, deportiert zu werden. Ihr Gesicht ist jetzt blass und ausgezehrt. Die Angst geht um. Und der Judenstern an ihrem Mantel kennzeichnet sie als Ausgestoßene.

Von Anfang an inszeniert Kilian Riedhof in seinem Film „Stella. Ein Leben“ harte, plakative Kontraste, die bewirken, dass das Dargestellte immer etwas größer und übertriebener erscheint als die Wirklichkeit, auf die sich der Film beruft. Denn tatsächlich basiert dieser auf historischen Tatsachen, wovon man allerdings kaum etwas bemerkt, da der Film mit hoher Beschleunigung durch die Szenen hastet. Im clip-ästhetischen Montage-Gewitter wechselnder Einstellungen und Perspektiven bleibt die erzählerische Stringenz leider auf der Strecke. Ein solches Verfahren produziert kaum mehr als Abziehbilder von Gefühlsklischees. So kollidiert in „Stella. Ein Leben“ der Anspruch auf Authentizität mit der künstlichen Reproduktion eines unechten Lebens. Wenn irgendwann später, im Bombenhagel von Berlin, Wagners (durch Coppolas „Apocalypse now“) filmgeschichtlich vorbelasteter „Ritt der Walküren ertönt, während Stella mit ihren „delinquenten“ Freunden anarchisch tanzt, gesellen sich zur Inhaltsleere solcher Inszenierung auch noch Missverständnisse.

Stella ist zu diesem Zeitpunkt bereits untergetaucht und führt zusammen mit dem überheblichen Verführer und leichtsinnigen Ausweisfälscher Rolf Isaaksohn (Jannis Niewöhner) ein klandestines Leben. Ihr Opportunismus, ablesbar an krummen Geschäften und ihrer Beziehung zu einem NS-Offizier, deutet sich hier bereits an. Als die beiden verraten und verhaftet werden, brechen sie unter dem Druck brutaler Folter schließlich zusammen und wechseln die Seiten. Um ihr Leben zu retten, wird Stella für die Gestapo zur eiskalten Denunziantin, die als sogenannte „Greiferin“ Juden verrät. Der Film zeigt in diesen Passagen eine höchst widersprüchliche Figur, die als Opfer zur Täterin wird. Zumindest nach außen hin scheint Stella, die 1957 vor Gericht steht, ein Unrechtsbewusstsein nicht zuzulassen. Doch andererseits, tief in ihrem Innern, so legt es Riedhofs Film nahe, leidet sie bis an ihr Lebensende unter verdrängen Schuldgefühlen.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Stella. Ein Leben“.

Baby to Go

(GB 2023, Regie: Sopie Barthes)

Schöne neue Kinderwelt
von Jürgen Kiontke

Die Frau der Zukunft muss nicht schwanger werden, wenn sie nicht will bzw. Geld hat. Rachel will nicht aus ihrem Social-Media-Job aussteigen, das Kind muss her, so what: Für alles …

Die Frau der Zukunft muss nicht schwanger werden, wenn sie nicht will bzw. Geld hat. Rachel will nicht aus ihrem Social-Media-Job aussteigen, das Kind muss her, so what: Für alles gibt es Lösungen.

Digitalisierung ist in dem Film „Baby to Go“, der in einer näheren Zukunft spielt, allgegenwärtig. So auch bei der Familienplanung. Eine findige Firma bietet einen Pod, ein digitales Ei, an, in dem das Kind, nach künstlicher Befruchtung, ausgebrütet wird. Gegen einen ordentlichen Aufpreis gibt es auch Chinesisch ins Babygehirn! Das Ei ist teuer und bleibt selbstverständlich im Besitz der Company. Aber zwei Wochen dürfen es die Eltern ausleihen.

Ein modisches Accessoire – das man auch locker mit zur Arbeit nehmen kann. Bis die Kollegen satthaben, im Türrahmen immer mit Rachels Brut-Ei zusammenzustoßen. Bleibt das Ei eben beim Ehemann. Alvy, Rachels Partner, ist als Botaniker noch nah dran an biologischen Prozessen. Er hätte sich dann doch eher eine natürliche Schwangerschaft gewünscht. Bis er feststellt, dass er das Kind beflüstern kann, ihm die Geheimnisse der und die Liebe zu den Pflanzen nahebringen kann.

Wie sich dieses Science-Fiction-Paar mit seinem Nachwuchs schlägt, ist eine facetten- und wendungsreiche Erzählung. Seine Umgebung ist trotz aller Sauberkeit und Glätte dystopisch. Die beiden leben in einem New York mit wenig Grün, Natur kommt nur noch im Museum vor. Die Menschen haben selbst einen sterilen Zugang zu sich selbst, Interaktion wird von Künstlicher Intelligenz bestimmt: Beim Kinderarzt oder beim Psychotherapeuten löst eine bunte Animation mit angenehmer Stimme deine Sorgen in Wohlgefallen auf.

Eine kluge filmische Reflexion – und ein Ausblick auf die Zeit, wenn ChatGPT das Kind erzieht.

Diese Kritik erschien zuerst am 09.01.2024 auf: links-bewegt.de

Olfas Töchter

(FR/TE/DE/SAU 2023, Regie: Kaouther Ben Hania)

Im therapeutischen Versuchslabor
von Wolfgang Nierlin

„Olfas Töchter“ sei eine „Reflexion über die Weitergabe von Traumata von der Mutter an die Töchter“ sowie ein Film über das Erwachsenwerden unter dem „Fluch des Patriarchats“, sagt die tunesische …

„Olfas Töchter“ sei eine „Reflexion über die Weitergabe von Traumata von der Mutter an die Töchter“ sowie ein Film über das Erwachsenwerden unter dem „Fluch des Patriarchats“, sagt die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania. Ihr semidokumentarischer, von fiktiven Elementen und Verfremdungseffekten durchwirkter Film widmet sich dem wahren Fall und tragischen Schicksal einer Mutter, die 2016 ihre beiden ältesten Töchter an den Islamischen Staat verliert. Ghofrane (geb. 1998) und Rahma (geb.1999) seien „vom Wolf verschlungen“ worden, heißt es zu Beginn, während die beiden jüngeren, nicht weniger beeinflussbaren Töchter Eya (geb. 2003) und Tayssir (geb. 2005) bei ihrer Mutter beziehungsweise in einem Kinderheim bleiben. Um das schmerzliche Geschehen zu erinnern und die Traumata der Vergangenheit zu bearbeiten, kreiert Kaouther Ben Hania mit reduziertem Setting ein „therapeutisches Labor“, das den Beteiligten ermöglicht, ihre Wunden zu zeigen und die Kette vererbter Traumata zu durchbrechen.

Dazu treffen in einem kammerspielartigen, bewusst künstlichen Rahmen die echten Beteiligten auf Schauspielerinnen, die die beiden abwesenden Schwestern sowie teilweise auch deren Mutter spielen. Neben dem Reenactment zentraler Ereignisse sprechen die Frauen aber auch über ihre Erlebnisse und die Anforderungen durch die jeweilige Rolle. Außerdem sieht man sie bei Proben und bei Schauspielübungen, während die Regisseurin ihrerseits immer wieder die Inszenierung sichtbar macht sowie die Bilder und Arrangements dezidiert kunstvoll und schön gestaltet. Diese Verfahren einer verfremdeten Nachinszenierung mit dokufiktionalen Elementen bewirkt zwar eine Distanz zu den Fallen einer klischeehaften Wahrheit; die Dominanz des formalen Konzepts verdrängt aber auch immer wieder den Inhalt.

Dieser thematisiert die Macht patriarchaler Gesellschaftsstrukturen bei gleichzeitiger Abwesenheit der Männer und Väter. Denn bald nach der Geburt ihrer Töchter ist Olfa eine alleinerziehende Mutter in ärmlichen Verhältnissen, die sich als Putzfrau durchschlägt und sich in einem Anflug romantischer Liebe mit einem entflohenen und zudem drogensüchtigen Strafgefangenen einlässt. Es ist die Zeit des Arabischen Frühlings, der den Sturz Ben Alis zur Folge hat, die persönlichen Freiheiten zu erweitern scheint, aber auch ein politisches und weltanschauliches Vakuum bewirkt.

Die Töchter erleben Missbrauch, treiben sich herum, vernachlässigen die Schule und geraten schließlich unter den Einfluss eines islamistischen Predigers. Viele Details ihres Abdriftens, das die beiden ältesten Schwestern schließlich nach Libyen und ins Gefängnis führt und die Mutter zu einer medialen Figur macht, bleiben unklar, weil Ben Hania mehr das Gefühls- und Seelenleben ihrer Heldinnen erforscht. Doch trotz aller Unwägbarkeiten und Widersprüche vermittelt der Film ein Bild weiblicher Stärke und familiären Zusammenhalts. Ob es den Figuren gelingt, ihre „innere Wahrheit“ zu finden und einer Wiederholung der Vergangenheit zu entgehen, bleibt zu hoffen, aber zugleich fraglich.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Olfas Töchter“.

Joan Baez – I am a Noise

(USA 2023, Regie: Karen O'Connor, Miri Navasky, Maeve O'Boyle)

Sie singt die Menschenrechte
von Jürgen Kiontke

Ein überaus informativer und interessanter Film über die Protestsong-Ikone Joan Baez ist „I am a Noise“. Er bietet einen sehr privaten Einblick in das Leben der nunmehr 82-jährigen Musikerin. Während …

Ein überaus informativer und interessanter Film über die Protestsong-Ikone Joan Baez ist „I am a Noise“. Er bietet einen sehr privaten Einblick in das Leben der nunmehr 82-jährigen Musikerin. Während verschiedener Alltagstätigkeiten wie dem Bügeln ihres Bühnen-Outfits und Singen mit dem Hund Baez erzählt die Sängerin von ihrem bewegten Leben. Ursprünglich, sagt sie, habe sie Tänzerin werden wollen; stieg aber stattdessen in jungen Jahren mit ihrer glockenhellen Stimme zur Ikone der Bürgerrechtsbewegung auf. Nicht zuletzt die Wiederentdeckung von Arbeiterliedern in einfachster Darbietung mit Akustikbegleitung führte zu ihrem schnellen Ruhm, Weltruhm.

Baez besitzt das seltene Talent, das Telefonbuch singen zu können und dennoch absolut unverwechselbar zu sein. Gepaart mit ihrem nimmermüden Engagement für die Menschenrechte war sie eine der Hauptfiguren der US-amerikanischen Antikriegsproteste seit den 1960er-Jahren. Sie setzte sich für inhaftierte Künstler ein, kämpfte gegen Rassismus, engagierte sich bei Amnesty International und gründete sogar die Sektion an der Westküste der USA.

Diese wichtigen Stationen in ihrem Leben lässt die Musikerin, die sich mit Yoga fit hält und mit ihrem Sohn auf nun kleineren Bühnen auftritt, im Gespräch mit den Regisseurinnen einfließen. Ihr nicht immer spannungsfreies Verhältnis zu Bob Dylan und anderen Kollegen, kriegt ein Sonderkapitel.

„I am a Noise“ ist ein interessanter Film über Musik und wie sie entsteht – am Beispiel einer besonderen Künstlerin, deren Stimme bis heute nicht nachgelassen hat.

Hier gibt es eine weitere Kritik zum Film.

Diese Kritik erschien zuerst am 28.12.2023 auf: links-bewegt.de

Die Giacomettis

(CH 2023, Regie: Susanna Fanzun)

Anders als die anderen
von Wolfgang Nierlin

Dieser Dokumentarfilm beginnt mit einer Spielszene: Mit geschlossenen Augen betastet und fühlt ein kleiner Junge das raue Gestein einer Felswand, bevor er mit einem Stöckchen Muster auf dem harten Boden …

Dieser Dokumentarfilm beginnt mit einer Spielszene: Mit geschlossenen Augen betastet und fühlt ein kleiner Junge das raue Gestein einer Felswand, bevor er mit einem Stöckchen Muster auf dem harten Boden zeichnet. Kurz darauf läuft er, förmlich beseelt, einen Abhang hinunter, über sattgrüne Wiesen und über die Brücke eines rauschenden Flusses. Eine malerische, von der Sonne beschienene Gebirgslandschaft dominiert das Bild. Dann sieht man den Jungen in einer dunklen Küche, wo die Mutter am Herd steht und kocht. Er deckt den Tisch, an dem sich später die Familie versammelt. Alles erscheint schön und wohlgeordnet in diesem Natur- und Familienidyll. Das Filmbild mit der zum Essen versammelten Familie wechselt schließlich zu einem Gemälde, das diese Szene zum Sujet hat.

Die enge Verbundenheit mit der umgebenden Landschaft des Bergell-Tals in Graubünden sowie der familiäre Zusammenhalt bilden in der Folge die maßgeblichen Motive in Susanna Fanzuns biographischem Film „Die Giacomettis“ über die berühmte Schweizer Künstlerfamilie. Immer wieder gibt es einen Abgleich der Kunstwerke mit ihren „Vorbildern“ beziehungsweise Inspirationsquellen. Die rätoromanische Filmemacherin, die bereits vor zwanzig Jahren Alberto Giacometti anlässlich seines 100. Geburtstages gewürdigt hat, meldet sich aber auch persönlich mit ihren eigenen Erfahrungen zu Wort. Die von Vater Giovanni Giacometti illustrierte Engadiner Märchensammlung „Parevlas Engiadinaisas“ gehört dabei ebenso zu ihren prägenden Eindrücken wie das Licht und die Luft derselben Berglandschaft.

Für ihre biographische Spurensuche in Archiven und Museen hat sich Susanna Fanzun aber auch mit Zeitzeugen, Weggefährten und Freunden der Giacomettis unterhalten. Für die einzelnen Portraits der durchweg künstlerisch begabten Familienmitglieder und ihr Verhältnis zueinander zitiert sie aber auch aus Briefen, zeigt Fotos, Gemälde, Skulpturen und rares historisches Filmmaterial. Neben dem Vater Giovanni, der seiner künstlerischen Berufung folgt und als Impressionist reüssiert, gilt Fanzuns Interesse vor allem dem erstgeborenen Sohn Alberto Giacometti (1901-1966), der schon als Kind „anders als die anderen“ ist. Inspiriert von den Kubisten und den Surrealisten um André Breton reift er in Paris mit seinen filigranen, langgestreckten Skulpturen zu einem der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Er habe Werke geschaffen, so Jean Genet, „die Tote beglücken“.

Unterstützt wird Alberto in seinem langjährigen Atelier in der Rue Hippolyte Maindron von seinem Bruder Diego, der Möbel und Dekor entwirft und gestaltet. In Streiflichtern wird aber auch das Leben der früh verstorbenen Schwester Ottilia und des Architekten Bruno Giacometti beleuchtet. Im geheimen Zentrum der „Giacomettis“ steht allerdings die Mutter Annetta Giacometti-Stampa, die als ruhender Pol die Familie zusammenhält und die Schritte ihrer Mitglieder bestimmt und sorgsam lenkt.

Joan Baez – I am a Noise

(USA 2023, Regie: Karen O'Connor, Miri Navasky, Maeve O'Boyle)

Heilungsprozess
von Wolfgang Nierlin

Worte des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel García Márquez stehen als Motto am Anfang des Films „Joan Baez – I am a Noise“: „Jeder hat drei Leben. Das öffentliche, das private und …

Worte des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel García Márquez stehen als Motto am Anfang des Films „Joan Baez – I am a Noise“: „Jeder hat drei Leben. Das öffentliche, das private und das geheime…“ In ihrem filmischen Portrait über die US-amerikanische Folksängerin und politische Aktivistin haben die Dokumentaristinnen Karen O’Connor, Miri Navasky und Maeve O’Boyle alle drei Aspekte in wechselnden Anteilen berücksichtigt. Trotzdem will ihr gemeinsamer Film „mehr eine Zeitreise als eine Biographie“ sein. Da Geschichte immer ein Konstrukt ist, das von persönlichen Erinnerungen gefärbt oder verzerrt wird, wie die Portraitierte selbst zu bedenken gibt, wirkt der Blick von außen für sie wie ein Korrektiv. Indem die Filmemacherinnen neben ausführlichen Gesprächen mit Joan Baez aber vor allem Dokumente aus deren umfangreichem Privatarchiv auswählen, was den Film sehr persönlich und intim macht, bleibt eine starke subjektive Note erhalten. Familienfilme und Fotos, Audio-Tapes von Therapiesitzungen und Reisen sowie Tagebuchnotizen, deren beigefügten Zeichnungen teilweise animiert werden, bilden dafür eine gewichtige und sprechende Grundlage.

In fließenden Übergängen ist diese biographische Erzählung verwoben mit Konzertaufnahmen von Joan Baez‘ Abschiedstournee aus dem Jahre 2019. Angesichts ihres Karriere-Endes reflektiert die berühmte Sängerin über ihr Leben als zunehmend weniger öffentliche Person, über das Alter und über ihre dunkler und rauer werdende Stimme, die sie unter Anleitung einer Gesangslehrerin trainiert. In ihrem großzügigen, von viel Grün und Bäumen umgebenen Anwesen im kalifornischen Woodside ertüchtigt die 80-Jährige aber auch ihre körperliche Fitness. Mit Blick auf ihr gewinnendes Wesen und ihre ruhige Ausgeglichenheit kann und mag man sich kaum vorstellen, dass die „Queen of Folk“ zeitlebens unter starken Stimmungsschwankungen, unter Ängsten und Panikattacken litt.

1941 als mittlere von drei Schwestern in einer Quäker-Familie geboren, die aus beruflichen Gründen des Vaters, eines Physikers, öfters umziehen musste, entwickelt Joan früh ein soziales Bewusstsein. Sie begegnet Armut, schärft den Blick für Ungleichheit und lernt den Wert der Freiheit kennen. Geradezu komentenhaft verläuft ihr Aufstieg als Folksängerin, die bereits mit 18 Jahren beim Newport Folk Festival reüssiert. Ihre erst glückliche („Er war alles für mich.“), dann unglückliche („Er hat mir das Herz gebrochen.“) Beziehung zum aufstrebenden und gleichaltrigen Bob Dylan bildet die markanteste von mehreren Affären, die immer wieder in Trennungen und Abstürzen münden. Sie sei nicht für Zweierbeziehungen geschaffen, sagt Baez einmal.

Ihre vitalisierende künstlerische Betätigung als Musikerin und ihr politisches Engagement, beispielsweise in der Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King, als Gegnerin des Vietnamkrieges und als Friedensaktivistin, sind für sie deshalb auch Rettungsanker in seelischen Krisen. Außerdem beginnt sie bereits früh mit einer viele Jahre andauernden Psychotherapie, aus der die Ahnung einer dunklen, von blinden Flecken besetzten Familiengeschichte aufsteigt und die zugleich einen Prozess der Heilung in Gang setzt.

Hier gibt es eine weitere Kritik zum Film.

Girl You Know It’s True

(DE 2023, Regie: Simon Verhoeven)

Wahre Popstars
von Jürgen Kiontke

Noch sind die beiden jungen Tänzer schüchtern. Ja, ein paar Jobs hatten sie, Einsätze bei Videodrehs, und ein bisschen singen können sie auch. Rob (Tijan Njie) hat es mit der …

Noch sind die beiden jungen Tänzer schüchtern. Ja, ein paar Jobs hatten sie, Einsätze bei Videodrehs, und ein bisschen singen können sie auch. Rob (Tijan Njie) hat es mit der Gruppe Wind sogar bis zum Grand Prix geschafft und ist dort ein wenig rumgehüpft, Fab (Elan Ben Ali) hat schon mehrere Tanzjobs in seinem Geburtsland Frankreich erledigt.

Eben noch standen sie fremdelnd am Hintereingang des Studios, nun träumen die Besties vom Big Business. Einig sind sie sich darüber, was eine internati­onale Popkarriere ausmacht: „Es sind die Haare“, philosophieren sie. Dann wischt die Kamera über drei Motive, die das verdeutlichen sollen: Plakate der Beatles (Pilzköpfe), Elvis (Tolle), Bob Marley (Rasta-Locken) und Robert Plant mit Jesus-Matte. Die Herren entscheiden sich für geflochtenes Haar und Piratenkopftuch.

Es sind solche flüchtigen Kleinigkeiten, die den Zuschauer des Films „Girl You Know It’s True“ im Kinosessel festhalten. Immer mal wieder nimmt sich Regisseur Simon Verhoeven eine Auszeit vom Hasten durch die frappierende Antikarriere der beiden jungen Männer, die als Popduo Milli Vanilli, bestehend aus Robert Pilatus und Fabrice Morvan, Ende der achtziger Jahre zu zweifelhaftem Ruhm gelangten.

Verhoeven erzählt die Ereignisse ihrer Karriere nach. Der Musikproduzent Frank Farian (Matthias Schweighöfer), ein begnadeter Performer tiefschwarzer Gesangsparts bis in die tiefsten Bässe hinein, aber vielleicht als weißer Provinzler nicht mit der richtigen Physiognomie ausgestattet, hat ein verblüffend gut funktionierendes Geschäftsmodell entwickelt: Er lädt Gesangsprofis für seinen Mix aus Philly-Sound und Disco ins Studio. Auf die Bühne stellt er jedoch Tänzer, die Playback singen. Bei der Formation Boney M. hat das bestens geklappt, der Tänzer Bobby Farrell brummt nicht selbst, es ist die Stimme Farians, die zu hören ist. Immerhin singen zwei Sängerinnen selbst.

© Leonine Distribution

Farian hat eine Weile als Koch gearbeitet und ist nach kurzer, aber erfolgreicher Gesangskarriere ins Produzentenlager gewechselt. Dabei wagt er Dinge, von denen er selbst weiß, dass er damit zu weit geht. Playback ist vielleicht noch bei Auftritten in Fernsehshows akzeptiert, aber als Dauerlösung? Auch mit der Urheberschaft nimmt Farian es nicht immer so genau. Das hat er sich von Elvis und anderen Stars abgeschaut. Im Rock werden traditionelle Blues-Weisen gecovert, was das Zeug hält. Bei Milli Vanilli legt Farian noch eins drauf. Die Gesangsproben sind nicht zufriedenstellend, die dünnen Stimmen der beiden werden deshalb von älteren Vollprofis im Studio ersetzt. Rob und Fab werden dazu verdammt, sich selbst zu imitieren. Der Song „Girl You Know It’s True“, Auskoppelung aus dem gleichnamigen Album von 1989, wurde ungefragt vom DJ-Team Numarx übernommen (wie viele andere Zeitzeugen haben Numarx Verhoeven beraten und auch die Musikrechte für den Film freigegeben).

Ende der achtziger Jahre geht die Musikbranche durch die Decke, die Genrevielfalt sprengt jedes Radioprogramm – man hört und feiert Madonna, Billy Ocean, Erasure, im Untergrund die Neubauten; demnächst Eurodance, Techno und Nirvana. MTV liefert die Bilder zum Sound, Musikfernsehen ist das neue Nachrichtenformat. Eine Szene im Film deu­tet es an: Da konkurriert der Golfkriegsbericht mit dem Musikvideo. Und über allem stehen Superstars wie Michael Jackson, dessen Manager sich für Milli Vanilli zu interessieren beginnt und Kanäle in die USA öffnet.

Milli Vanilli sind international erfolgreich, bald winkt den beiden ­sogar ein Grammy. Wie kommt’s? „People listen with their eyes“, vermuten die US-Plattenfirmenbosse, die sich nicht einig werden, was sie da zu hören kriegen. Ist es Soul? Disco? Irgendwas? Konsens ist: Rob und Fab sind das exotische Boy-Band-Angebot für junge weiße Frauen, da redet keiner groß drumrum. Die beiden bekommen Englischunterricht, damit sie in den USA zumindest Interviews geben können – und ein Gesangslehrer übt auch singen mit ihnen, wenn sie von den Drogen ausnahmsweise mal nicht hackedicht sind. Insbesondere Rob kommt mit dem Luxusleben in Los Angeles nicht so ganz klar. Die schmerzliche Vergangenheit des von deutschen Kleinbürgern adoptierten Sohns eines US-amerikanischen Soldaten und einer deutschen Tänzerin holt ihn ein. Ausbeutung ist scheiße, aber wenn sie mit viel Geld kompensiert wird, auch ganz nett. Im offenen Ferrari auf dem Hollywood Boulevard wehen die Haare besonders schön. Sie mögen Eintagsfliegen sein, aber sie fliegen erste Klasse; Betrug am Fan hin oder her. Rob Pilatus wird die Geschichte jedoch das Leben kosten, er kommt nie wieder von den Drogen los. Der Film soll auch ein Andenken an den 1998 Verstorbenen sein. Fab erweist sich als der Weisere der beiden, er hat schon begonnen, sich ein Leben außerhalb der Band aufzubauen.

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Farian wird im Film von einem erfreulich humorlosen Matthias Schweighöfer dargestellt – der ist in seinen selbstgedrehten Filmen oft eine Zumutung, in eng konzipierten Rollen aber durchaus stark. In Verhoevens Film ist er eher eine Randfigur, aber in kongenialem Zusammenspiel mit seiner Assistentin und Bandnamensgeberin Milli (Bella Dayne). Im Zentrum stehen – im deutschen Kino wahrscheinlich ein Novum – die zwei People-of-Colour-Nichtsänger, die die Bandkarriere des Duos verkörpern.

Ob als bescheiden bezahlter Tänzer in der Münchner Disco „P1“ oder als schuldbewusst herumschleichender Ausbildungsabbrecher im Ein­zelhandel (Rob), ob als eher nachdenklicher Künstler, der die Musik ernst nehmen will (Fab), oder als Drogenkonsument und Opfer rassistischer Polizisten in den USA (beide): Die Kameraführung unterstreicht und fördert die Leinwandpräsenz der beiden, erzählt mit Nahaufnahmen der Gesichter zuweilen wortlos vom verrückten Aufstieg zweier überforderter Jungstars.

Der Schwindel fliegt durch eine banale technische Panne auf. Bei einem ihrer Auftritte bleibt die Platte im Refrain hängen. Nach der zehnten Wiederholung flüchten sie von der Bühne. Mit dem Popskandal haben Milli Vanilli das ganze schöne Konzept der Authentizität in der Kunst auf die Probe gestellt. Und es zeigt sich: Nur mit Fake geht es nicht, zumindest nicht in den USA. Nach entsprechenden Klagen muss den Plattenkäufern das Geld zurückerstattet werden. In Deutschland regen sich weit weniger Leute übers Playback-Singen auf. So what? Wer ist denn nun das Mutterland der Popmusik?

Es folgt, was noch in jedem Musikfilm seinen Platz hat: Absturz, Schadenersatzforderungen, (noch mehr) Drogen. So weit, so erwartbar. Dass die Geschichte dennoch gut rüberkommt, dafür sorgen die Darsteller Tijan Njie und Elan Ben Ali. Insbesondere Njie spielt seine ganz besonderen Filmerfahrungen aus. Jahrelang war er in der Soap „Alles was zählt“ zu sehen, bis er durch Formate wie „Let’s Dance“ tourte. Wahrscheinlich ist das ein gutes Training.

Auch die bedrückenden Szenen sind gelungen, etwa wenn Rob mit seiner Stiefmutter darüber debattiert, warum er seine Ausbildung nicht fortsetzt, oder mit seiner Stiefschwester spricht, die zur einzigen emotionalen Verbindung außerhalb der Popwelt geworden ist. Ganz ­besonders gelungen ist die Szene, in der sein falscher Vater enttarnt wird. Erzählt durch schnelle Überblendungen ist sie ein ebensolches Glanzstück der Regie wie die Geschichte mit den Haaren.

Verhoeven macht diese Episode der Popgeschichte – eine Tragödie wie auch eine Farce – dank der Bestbesetzung bis in die kleinste Nebenrolle zu einem einfallsreich erzählten Film, der zudem Rassismus wie Klassismus so geschickt thematisiert, dass seine Hauptfiguren nie zu Nebendarstellern werden. Ja, wahrscheinlich macht er daraus sogar gutes Kino.

Diese Kritik erschien zuerst in: Jungle World 51/2023