Archiv der Kategorie: Filmkritik

Critical Zone

(IR 2024, Regie: Ali Ahmadzadeh)

Unerschrockener Heiler der Versehrten
von Wolfgang Nierlin

Das Auto der Drogenschmuggler ist als Krankenwagen getarnt. Aus subjektiver Sicht folgen wir ihm durch ein schier endlos langes, verzweigtes Tunnelsystem; bis im Untergrund der iranischen Metropole die offiziellen Wege …

Das Auto der Drogenschmuggler ist als Krankenwagen getarnt. Aus subjektiver Sicht folgen wir ihm durch ein schier endlos langes, verzweigtes Tunnelsystem; bis im Untergrund der iranischen Metropole die offiziellen Wege in geheimnisvolle inoffizielle übergehen oder sich im Klandestinen verlieren. Gleich in der ersten, langen Sequenz von Ali Ahmadzadehs preisgekröntem Film „Critical Zone“, der ohne Drehgenehmigung der Behörden unter erschwerten Bedingungen entstanden ist, taucht der Betrachter ein in eine unbekannte, fremde Welt. Große Säcke mit Drogen werden entladen und verteilt. Amir (Amir Pousti) ist einer der Empfänger, der sich kurz darauf, dirigiert und geleitet von seinem Navi, auf den Heimweg macht. Der hünenhafte Drogenkurier, der selbst ein Junkie ist, wirkt in seiner vulgären, provozierenden Körperlichkeit zunächst wenig sympathisch. Tatsächlich ist der Einzelgänger, der mit einer trägen Zwergbulldogge zusammenlebt, aber ein Dealer mit großem Herz, der ,wie er selbst sagt, „den Geist der Stadt in der Hand hält.“

Denn Amir ist Tröster, Wohltäter und Heiler der Süchtigen, Kranken und seelisch Versehrten. Nachdem er den Stoff portioniert, verpackt oder auch zu Haschisch-Cookies verarbeitet hat, begibt er sich in seinem Auto auf den Weg durch die nächtliche Stadt. Dabei sind seine Treffen erstaunlich gut geplant und organisiert. Ali Ahmadzadeh entwickelt aus diesem minimalen Plot, der nicht zuletzt durch die Produktionsbedingungen begrenzt ist, ein Roadmovie entlang bestimmter markanter Stationen. So spielt der größte teil des episodisch strukturierten Nachtfilms im Auto und bei schummrigem Licht. Rauschhafte, surreale Fahrten mit verwirrenden, geradezu delirierenden Perspektiven und im Zeitraffer, unterlegt mit sphärischen Sounds und akustischen Verfremdungseffekten, erzeugen einen expressiven, magischen Realismus. Kontrastiert und in Spannung versetzt wird dieser durch dokumentarische Szenen, in denen menschliches Elend, aber auch die Sehnsucht nach einem anderen, freieren Leben zum Ausdruck kommen.

So besucht Amir etwa ein Altersheim, um sein gedoptes Gebäck an die teils apathischen und müden Insassen zu verteilen, die in ihren helleren Momenten Gedichte rezitieren. Bezeichnenderweise wird später ausführlich auf einer der Fahrten aus Forugh Farrochsads prophetisch-apokalyptischem Langgedicht „Irdische Offenbarung“ zitiert: „In den Höhlen der Einsamkeit/ Kam die Sinnlosigkeit zur Welt/ Das Blut roch nach Opium und indischem Hanf/ (…) Sümpfe von Alkohol, voll/ Beißender, giftiger Dämpfe/ Zogen Scharen trockener Intellektueller/ Hinab in ihre Tiefen“.

Ebenso ausführlich und intensiv werden Amir und seine meist weiblichen Kontakte beim Drogenkonsum gezeigt. Einmal müssen sie auf einer rasanten Fahrt Verfolger abschütteln, was Ali Ahmadzadeh zu einem Akt der Befreiung überhöht. In einer anderen Szene, am Ende seines langen Arbeitstages, verwandelt sich Amir in einen Arzt, der mit seinen illegalen Substanzen einem jungen, multipel intoxikierten Mann hilft.

Das innere, verborgene und das äußere Leben, das „Draußen“ und „Drinnen“, wie es einmal heißt, stehen in einer permanenten Spannung. Amir hat sich in einer Art inneren Emigration damit arrangiert. Ali Ahmadzadeh lebt in seinem Heimatland selbst in einer solchen. In „Critical Zone“ zeige er das „unterirdische Teheran“: „Wild, müde und krank.“ Mit seinem unerschrockenen Helden porträtiert er zugleich einen ebenso bestimmten wie zärtlich zugewandten Heiler der Versehrten und Vernachlässigten am Rande der Gesellschaft.

Mond

(AT 2024, Regie: Kurdwin Ayub)

Kampfsport und Emanzipation
von Wolfgang Nierlin

Die zahlreichen Pokale auf dem Regalbrett der kleinen, etwas unordentlichen Wohnung deuten darauf hin, dass Sarah Reisinger (gespielt von der Theatermacherin und Choreografin Florentina Holzinger) eine erfolgreiche Kampfsportlerin in der …

Die zahlreichen Pokale auf dem Regalbrett der kleinen, etwas unordentlichen Wohnung deuten darauf hin, dass Sarah Reisinger (gespielt von der Theatermacherin und Choreografin Florentina Holzinger) eine erfolgreiche Kampfsportlerin in der Disziplin Mixed Martial Arts ist. Doch nach einer blutigen Niederlage, die Kurdwin Ayub als TV-Live-Übertragung an den Anfang ihres Films „Mond“ gestellt hat, beendet sie ihre 20-jährige Karriere – und stürzt in eine zunächst bodenlos erscheinende Leere. Als mäßig gefragte Trainerin hat sie es mit lustlosen, empfindlichen Kids zu tun; das Verhältnis zu ihrer ziemlich bürgerlich lebenden Schwester ist angespannt und konfliktgeladen; und ihre kiffende, eher unverbindliche Freundesclique bietet für den Single auch keinen Halt. Als sie nach einem Zoom-Gespräch einen Job als persönliche Trainerin bei einer reichen Familie in Jordanien ergattert, scheint sich für Sarah eine neue Perspektive mit der Hoffnung auf Veränderung zu eröffnen.

Der Blick aus dem 28. Stock eines Luxushotels über das Häusermeer von Amman geht insofern über eine noch unbestimmte, erst noch zu kartografierende Weite. Die lange Fahrt durch die Wüste zum herrschaftlichen Anwesen ihres zuvorkommend freundlichen Arbeitgebers erzeugt bei Sarah bereits eine erste Verunsicherung, mithin ein Unbehagen. Die Irritation nimmt noch zu, als sie bereits die erste, auf Stärke, Kraft und Körperhaltung ausgerichtete Übungsstunde mit den drei Schwestern Shaima, Nour und Fatima, die alle im Teenageralter sind, abbrechen muss. Die schweigsamen, hübschen Mädchen wirken lustlos, sind schnell frustriert und ziehen sich bald vor den Fernseher oder zum Schminken zurück. Hinter ihrer vordergründigen Langeweile machen sich Enttäuschung und eine traurige Perspektivlosigkeit bemerkbar. Offensichtlich werden die jungen Frauen entgegen dem Anschein kontrolliert, reglementiert und in ihrem luxuriösen Zuhause isoliert und eingesperrt. Ihr Leben korrespondiert wiederum auf paradoxe Weise mit der Leere und Einsamkeit, die Sarah bei ihrem Aufenthalt in der jordanischen Hauptstadt empfindet.

„Es geht um Schwestern, egal woher sie kommen, und um Käfige, egal wo sie stehen. Käfige, die man verlassen möchte und solche, in die man sich zurück wünscht“, hat die kurdisch-österreichische Regisseurin zur Thematik ihres spannenden Films erklärt. Dafür verwendet sie Elemente des Thrillergenres, mit denen sie eine undurchsichtige, mysteriöse Atmosphäre aus Angst und Misstrauen kreiert; und die sie immer wieder abrupt bricht, um dem Geschehen in mitunter arg zugespitzten Wendungen eine neue Richtung zu geben. Mit einem realistischen, durch Ellipsen strukturierten Erzählstil lenkt Kurdwin Ayub den Blick auf die nüchternen Tatsachen einer fremden, unbekannten Welt hinter dem schönen Schein. Dort entdeckt sie Gefängnisse, in denen Frauen drangsaliert und unterdrückt werden. Deren Wunsch nach Freiheit kollidiert jedoch mit dem Bild einer von Sarah verkörperten Unabhängigkeit, die weniger erfüllt ist, als es den Anschein hat; und die letztlich in einer ziellosen Leere mündet.

Niki de Saint Phalle

(FR/BE 2024, Regie: Céline Sallette)

Kunst als therapeutische Waffe
von Wolfgang Nierlin

Zu Beginn der 1950er Jahre arbeitet Niki de Saint Phalle (Charlotte Le Bon) als Fotomodell und Schauspielerin in Paris. In einer starren Einstellung zeigt die Kamera ihr unter Schminke begrabenes …

Zu Beginn der 1950er Jahre arbeitet Niki de Saint Phalle (Charlotte Le Bon) als Fotomodell und Schauspielerin in Paris. In einer starren Einstellung zeigt die Kamera ihr unter Schminke begrabenes Gesicht. Anweisungen prasseln auf sie nieder. Zu Hause erwartet die junge Frau ein schreiendes Baby mit voller Windel. Bei den Proben zu Jean Cocteaus Drama „ Die Höllenmaschine“, in dem sie als Engel auftritt, wird sie zur Disziplin aufgefordert. Niki, die zusammen mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Harry Mathews (John Robinson), den konservativen Vereinigten Staaten den Rücken gekehrt hat, fühlt sich ausgeliefert und fremdbestimmt. Dann, bei einem Besuch im Louvre, wo sie der Anblick zunehmend lebendiger erscheinender Skulpturen in die Flucht treibt, kehren die Dämonen der Vergangenheit zurück. Die empfindsame 22-Jährige leidet unter Angstattacken und einem unbestimmten Bedrohungsgefühl. Sie ist suizidgefährdet und schutzbedürftig. „Ich weiß nicht, was ich habe“, sagt sie zu ihrem verständnisvoll reagierenden Mann. Kurz darauf unterzieht sie sich in Nizza widerwillig einer Elektroschocktherapie.

Céline Scallettes biographischer Film „Niki de Saint Phalle“ konzentriert sich zeitlich auf das Jahrzehnt, in dem die Porträtierte zur Künstlerin reift und ihre Berufung findet. Dabei wird ihr die Kunst sprichwörtlich zur Waffe, mit der sie ihre Traumata bekämpft und austreibt. Diese gründen in einem sexuellen Missbrauch durch ihren Vater, den das minderjährige Mädchen über Jahre hinweg erleiden musste. In Rückblenden und teilweise auf einem Splitscreen werden diese ebenso schmerzlichen wie bitteren und außerdem tabuisierten Erfahrungen vermittelt. Das erlebte Leid wird zu ihrem künstlerischen Antrieb. Als sie in der Psychiatrie nach einer kreativen Aufgabe förmlich hungert, beginnt sie damit, aus alter Pappe und Naturmaterialien Collagen anzufertigen. „Ich mache was Eigenes“, sagt sie beglückt. „Bei den Verrückten habe ich meine Berufung gefunden.“ Dabei geht es ihr vor allem um den schnellen Ausdruck ihrer unmittelbaren Gefühle. Wenn sie später für ihre sogenannten „Schießbilder“ tatsächlich zur Waffe greift, ist das der direkteste Weg von der Emotion zur Kunst.

„Die Kunst ist die neue Waffe der Welt. Wir sind die Terroristen“, behauptet der Schweizer Bildhauer Jean Tinguely, der über seine kinetische Kunst sagt, es seien „nutzlose Maschinen“, und den Niki de Saint Halle im Umfeld der Nouveaux Réalistes kennenlernt. Noch macht sie nicht, was sie eigentlich möchte. Sie verlässt ihren Mann und die beiden Kinder und fühlt sich doch immer wieder hilflos und allein. Trotzdem und gegen alle inneren und äußeren Widerstände findet die spätere Schöpferin der farbenfrohen „Nana“-Skulpturen schließlich ihren Weg aus der bedrückenden Enge zu einem freien künstlerischen Ausdruck. Céline Sallette widmet sich dafür konsequent und aus nächster Nähe ihrer starken, von Charlotte Le Bon bis in die Abgründe hinein leidenschaftlich verkörperten Heldin. Sie zeigt die Künstlerin bei der Arbeit und spart die Werke selbst absichtlich aus, um von einer elementaren Selbstfindung und Neugeburt zu erzählen, die sich der Kunst bedient und zugleich über sie hinausweist.

Die Schattenjäger

(FR/BE/DE 2024, Regie: Jonathan Millet)

Innere Wunden
von Wolfgang Nierlin

Immer nur spaltbreit fällt Licht auf die Leinwand. Hinter der Plane, die sich im Fahrtwind und auf holprigem Gelände für Augenblicke hebt, kauern, dicht gedrängt, dunkle Gestalten auf der Ladefläche. …

Immer nur spaltbreit fällt Licht auf die Leinwand. Hinter der Plane, die sich im Fahrtwind und auf holprigem Gelände für Augenblicke hebt, kauern, dicht gedrängt, dunkle Gestalten auf der Ladefläche. Sie kommen aus einem sehr realen und brutalen Alptraum und werden kurzerhand irgendwo in der Wüste ausgesetzt. Schmutzig, ausgemergelt und erschöpft wie sie sind, schleppen sie ihre geschundenen und malträtierten Körper in eine ungewisse Zukunft oder brechen an Ort und Stelle zusammen. Die bärtigen, verwahrlosten Männer sind Opfer des Assad-Regimes, die während des syrischen Bürgerkriegs 2014 aus dem berüchtigten Saidnaya-Gefängnis entlassen werden. Sie sind jetzt sich selbst mit ihren Wunden und Traumata überlassen. Nach einem Zeitsprung von zwei Jahren arbeitet Hamid (Adam Bessa), einer der Überlebenden, auf einer Baustelle in Straßburg und wohnt in einer dunklen Kellerwohnung. Der schweigsame, in sich gekehrte Mann ist schwer traumatisiert. Er wurde nicht nur grausam gefoltert, sondern hat während des Krieges auch seine Frau und seine kleine Tochter verloren.

In Jonathan Millets ungemein spannendem Psychothriller „Die Schattenjäger“ („Les fantômes“), der von wahren Begebenheiten inspiriert wurde und der mit minimalen Mitteln große Wirkung erzeugt, gehört Hamid zu einem Untergrundnetzwerk von Zivilisten, die im Geheimen flüchtige Kriegsverbrecher und Schergen des syrischen Regimes aufzuspüren versuchen. So ist der unnahbar und undurchdringlich erscheinende junge Mann, der in Aleppo als Literaturprofessor gearbeitet hat, auf der Spur eines gewissen Harfaz (Tawfeek Barhom), der im Foltergefängnis unter dem Namen „der Chemiker“ firmierte. Hamid hat nur spärliche Anhaltspunkte. Unter den Exilanten der syrischen Community begegnet man sich mit Misstrauen. Und die Mitstreiter seiner Gruppe, mit denen er, getarnt durch ein Videokriegsspiel, kommuniziert, sind skeptisch und raten zur Vorsicht. Doch Hamid folgt seiner Intuition, achtet auf Gerüche, Stimme und Schritte und kommt so seinem mutmaßlichen Peiniger, der als Phantom einer schrecklichen Vergangenheit in der elsässischen Metropole Chemie studiert, auf schmerzliche Weise immer näher.

Diese Momente verstärkt der hoch konzentrierte Spionagefilm durch intensive Nahaufnahmen und die starke physische Präsenz des Protagonisten. Dessen Leiden und Traurigkeit, die jegliche Perspektive überschatten, verdichtet der französische Regisseur noch dadurch, dass er Hamids akribische Verfolger-Perspektive mit den mündlich überlieferten Zeugnissen von Folteropfern verschränkt. Während der einsame Beobachter immer drängender Harfaz belauert und dabei Raum und Architektur zu Mitspielern der Observation werden, durchlebt er Tiefpunkte aus Schmerz und Verzweiflung. Auf dem Höhepunkt der Konfrontation stehen seine übermächtigen inneren Wunden, die seine vergangene Gefangenschaft zu konservieren scheinen, der optimistischen Vorwärtsgewandtheit seines Gegenspielers gegenüber. Die Beziehung der beiden ist komplex. Doch Jonathan Millet interessiert sich in seinem beeindruckenden Spielfilmdebüt aus ebenso naheliegenden wie verständlichen Gründen weniger dafür, wie der Täter mit seiner Schuld leben kann; sondern er erzählt, wie des dem Opfer gelingt, zu überleben, aus der parallelen Schattenwelt auszutreten, Gerechtigkeit einzufordern und schließlich in einem Prozess persönlicher Trauerbewältigung eine neue Perspektive zu gewinnen.

Für immer hier

(BR/FR 2024, Regie: Walter Salles)

Gegen das Regime der Angst
von Wolfgang Nierlin

Im Jahre 1970 sind die bedrohlich anmutenden Militärhubschrauber über einem belebten Strand von Rio de Janeiro Vorboten zukünftigen Unheils. Auch die rigiden Straßenkontrollen nach der angeblich von Terroristen initiierten Entführung …

Im Jahre 1970 sind die bedrohlich anmutenden Militärhubschrauber über einem belebten Strand von Rio de Janeiro Vorboten zukünftigen Unheils. Auch die rigiden Straßenkontrollen nach der angeblich von Terroristen initiierten Entführung eines Schweizer Botschafters lassen nichts Gutes ahnen und geben erste Hinweise auf eine autoritäre, rechtsnationale Militärdiktatur, die seit 1964 Brasilien beherrscht und vermeintliche politische Gegner rücksichtslos verfolgt. Doch noch führt die große Familie des ehemaligen Abgeordneten Rubens Paiva (Selton Mello), die ein geräumiges Haus direkt am Meer bewohnt, ein unbeschwertes, fröhliches Leben. Die kleineren der fünf Kinder spielen am Strand, wo sie einen verwaisten Hund aufnehmen; die älteren sind mit Freunden unterwegs. Man feiert und tanzt und pflegt ein schönes, geradezu harmonisches Miteinander. Die Kinder sollen nichts von den Gefahren spüren, von denen die Eltern wissen. So schickt man die älteste Tochter Vera (Valentina Herszage) vorsorglich zum Studium nach London. Mit originellen Super-8-Filmen dokumentiert diese ihren dortigen Aufenthalt.

Alles ändert sich, als eines Tages der Vater ohne Angabe näherer Gründe von obskuren Militärpolizisten in Zivil verhaftet und an einen unbekannten Ort gebracht wird. Die fremden, schweigsamen Männer belagern und durchsuchen das Haus, beobachten die Familie und nehmen schließlich auch die selbstbewusste Mutter Eunice (Fernanda Torres) sowie ihre 15-jährige Tochter Eliana (Luiza Kozovski) zur Befragung mit. Walter Salles‘ neuer Film „Für immer hier“, der auf wahren Ereignissen basiert, taucht nun ein in eine dunkle Parallelwelt, wo in geheimen Gefängnissen Menschen widerrechtlich gefangen gehalten und gefoltert werden. Im Gegensatz zu beispielsweise Marco Bechis‘ schockierendem Film „Garage Olimpo“ verzichtet er jedoch auf explizite Gewaltdarstellungen. Das Regime aus Angst und Schrecken ist fortan trotzdem allgegenwärtig. Durch die langen, dunklen Flure hallen die Schreie der Gequälten, Eunice droht ihr Zeitgefühl zu verlieren; und der suggestive Psychoterror, dem sie täglich ausgesetzt ist, erfasst auch ihren Körper und setzt sich nach ihrer Rückkehr zur Familie fort. Alle Lebensfreude scheint verloren, zehrende Ungewissheit sowie ein bedrückendes Schweigen legen sich als Schatten über das zerbrechlich gewordene Familienleben.

Basierend auf Marcelo Paivas Memoiren sowie auf eigenen Erinnerungen, kontrastiert Walter Salles auf intensive Weise zunächst ein fast utopische Freiheitsgefühl und die warme Farbigkeit der siebziger Jahre mit staatlicher Kontrolle und Unterdrückung. Mit dem unumgänglichen Verkauf des Hauses und dem Abschied von Freunden evoziert er zugleich eine Vertreibung aus dem Paradies. Indem der Film die Perspektive seiner starken Heldin übernimmt, die sich durch ein spätes Jura-Studium neu erfindet und für ihre sowie die Rechte Indigener kämpft, thematisiert er schließlich die Geschichte der Zurückgebliebenen und ihr Umgang mit Verlust und Trauer. Gegen das Vergessen und die Verdrängung der Vergangenheit wählt Eunice – auch im Hinblick auf das Erbe nachfolgender Generationen und veranschaulicht durch zwei jeweils große Zeitsprünge – den Weg der Aufklärung, um die Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen. Weil sich in den individuellen Leiden auch die Wunden der Gesellschaft spiegeln und weil gegenwärtige rechtspopulistische Tendenzen weltweit Anlass zur Sorge sind, will der renommierte brasilianische Regisseur seinen beeindruckenden Film auch als Mahnung verstanden wissen.

Flow

(LV/FR/BE 2024, Regie: Gints Zilbalodis)

Die Arche des Überlebens
von Wolfgang Nierlin

Der Blick in den Spiegel zieht sich leitmotivisch durch Gints Zilbalodis‘ jüngst mit dem Oscar ausgezeichneten Animationsfilm „Flow“. Umgeben von Wald und seinen vielfältigen Geräuschen, blickt eine dunkle Katze mit …

Der Blick in den Spiegel zieht sich leitmotivisch durch Gints Zilbalodis‘ jüngst mit dem Oscar ausgezeichneten Animationsfilm „Flow“. Umgeben von Wald und seinen vielfältigen Geräuschen, blickt eine dunkle Katze mit ihren großen, dominanten Augen für einen langen Moment in eine Wasserpfütze. Sieht sie sich selbst und mit Bewusstsein? Ist es ein Augenblick der Selbsterkenntnis, der ängstlich auch eine ungewisse Zukunft einschließt? Die Gefahren des Waldes und durch andere Tiere sind jedenfalls stets präsent, auch wenn die tierische Heldin eigentlich im verlassenen Haus eines Künstlers lebt, dessen Katzenskulpturen markant in die Höhe ragen. Als die Katze bei Rangeleien um einen Fisch von einem Rudel Hunde verfolgt wird, ist die Gefahr in ihrem Rücken bald kleiner als diejenige, der sie entgegenrennt. Denn mit lautem Grollen und Getöse überschwemmt eine riesige Flutwelle das Land und reißt alles mit sich. Noch kann sich die Katze in ihr angestammtes Heim flüchten. Doch dann versinkt auch dieses im Wasser.

Unglaublich dynamisch und plastisch hat der lettische Filmemacher Gints Zilbalodis sein dystopisches Abenteuer um den spannenden Überlebenskampf einer Gruppe von Tieren inszeniert. In langen, bewegten Einstellungen folgt er ihren Irrfahrten durch die ebenso reale wie phantastische Zwischenwelt aus Wasser und einer versinkenden Natur. Diese führen durch Berglandschaften und antike Ruinenstädte, deren Säulen und Skulpturen aus den Fluten ragen. Faszinierende Unterwasserbilder und atmosphärische Naturstimmungen unterstreichen zusätzlich den schmalen Grat zwischen Traum und Wirklichkeit, der sich in einer besonders markanten Szene ins rein Phantastische einer unbestimmten Transzendenz auflöst. Der vollständige Verzicht auf Dialoge sowie ein nur sparsamer Musikeinsatz lenken die Aufmerksamkeit überdies auf Geräusche und die von einer beseelten Mimik begleitete Kommunikation durch Tierlaute. Schließlich müssen die sich so unterschiedlichen Schicksalsgenossen irgendwie verständigen, um zu einem gemeinsamen Handeln zu finden.

Auf einem kleinen, leicht maroden Segelboot, das gewissermaßen als Arche Noah des Überlebens fungiert, versammeln sich mit der vorsichtigen und misstrauischen Katze ein herrenloser Hund, ein schläfriges Wasserschwein, ein diebisches Äffchen sowie ein majestätischer, von seiner Gruppe verstoßener Sekretärvogel. Dieser lenkt souverän und mit Übersicht das schwankende Boot, das angesichts der Wassermassen wie eine kleine Nussschale wirkt, durch die gewaltigen Wellen. Ziellos treibt das Schiffchen durch die Fluten. Einmal rettet ein riesiger Walfisch die Katze vor dem Ertrinken. Ganz selbstverständlich und unaufdringlich verwebt Zilbalodis biblische und mythologische Motive mit seiner Parabel über eine tierische Odyssee. Als eine Art Roadmovie zu Wasser handelt diese schließlich vor allem vom solidarischen Zusammenhalt einer Gruppe, deren unterschiedliche Mitglieder auf einer Reise ins Ungewisse lernen, sich gegenseitig zu unterstützen und zu helfen, um als Freunde und jenseits von Egoismen ihre Rettung zu ermöglichen.

Die Unerwünschten – Les Indésirables

(FR 2023, Regie: Ladj Ly)

Sprengstoff sozialer Unterdrückung
von Wolfgang Nierlin

Aus der Vogelperspektive nähert sich die Kamera im Drohnenflug einem jener hässlichen Hochhäuser, die symptomatisch sind für das ausgegrenzte Leben in französischen Vorstädten. Der Teil und das Ganze sind in …

Aus der Vogelperspektive nähert sich die Kamera im Drohnenflug einem jener hässlichen Hochhäuser, die symptomatisch sind für das ausgegrenzte Leben in französischen Vorstädten. Der Teil und das Ganze sind in dieser Eröffnungssequenz des Films „Die Unerwünschten – Les indésirable“ unmittelbar und untrennbar aufeinander bezogen. Das marode Gebäude und die trostlose Perspektivlosigkeit seiner Bewohner stehen hier in direkter Wechselwirkung. „Wie kann man an einem solchen Ort leben und sterben?“, heißt es gleich zu Beginn, als die Mitarbeiter eines Bestattungsunternehmens über mehrere Stockwerke hinweg einen Sarg durch das enge Treppenhaus wuchten, weil der Fahrstuhl seit langem kaputt ist. Der französische Regisseur Ladj Ly, der mit seinem Sozialdrama „Die Wütenden – Les misérable“ reüssierte, ist als Sohn malischer Einwanderer selbst in einem solchen Gebäude im Pariser Vorort Montfermeil aufgewachsen, weshalb der Film im Original den Titel „Bâtiment 5“ („Block 5“) trägt. Ein hoher Anteil afrikanischer Migranten („Alle hier sind Ausländer.“), beengte Wohnverhältnisse, Kriminalität, aber auch Solidarität kennzeichnen das Leben in dieser Sozialsiedlung mit dem imaginären Namen Montvilliers.

Die Sprengung eines Wohnblocks führt ins sozialpolitische Zentrum des ambivalenten Geschehens. Denn einerseits soll das Leben der Bewohner durch ein Umsiedlungsprogramm verbessert werden, andererseits werden diese dabei von der Stadtverwaltung finanzielle übervorteilt. Eine, die das durchschaut, ist die junge Haby Keita (Anta Diaw). Sie arbeitet im städtischen Archiv und engagiert sich in einem Verein zur Unterstützung von Wohnungssuchenden. Weil die geplanten kleineren Wohnungen für Großfamilien ungeeignet sind, kommt es zum Konflikt mit dem Interimsbürgermeister Pierre Forges (Alexis Manenti). Denn der lokalpolitisch unerfahrene Kinderarzt ist in vielerlei Hinsicht nicht nur ein Kommunikation verweigernder Ignorant, sondern er versucht außerdem, mit harten Maßnahmen seine ungerechte, „selektive“ und kompromisslose Politik durchzusetzen. Das wiederum führt zu Unmut und Gewalt in der Bevölkerung. Als nach einem Brand in einer Wohnung, die als illegales Restaurant dient, das Gebäude unverzüglich evakuiert werden soll, eskaliert die Situation in der Konfrontation mit der Polizei.

Ladj Ly zeichnet in seinem sozialrealistischen, multiperspektivisch angelegten Ensemblefilm das mitunter plakativ zugespitzte Bild einer diskriminierten, unterdrückten Community am Rande der Gesellschaft und gibt dabei wertvolle Einblicke in eine sonst unbekannte Welt. Dabei spiegelt er den gesellschaftlichen Riss nicht nur im Verhältnis des Bürgermeisters zu seinem erfahreneren, mit den Verhältnissen besser vertrauten Stellvertreter Roger (Steve Tientchien), sondern vor allem in der Beziehung von Haby zu ihrem wütenden Bruder Blaz (Aristote Luyindula). Während sich dieser, durch polizeiliche Willkür angestachelt, zu einer radikalen Tat hinreißen lässt, mahnt die kluge Haby zur Besonnenheit und kandidiert selbst und mit großem Rückhalt in der Bevölkerung für das Amt der Bürgermeisterin. Immer wieder zeigt Ladj Ly, wie Zusammenhalt und gegenseitige Hilfe eine Alternative zu den gewalttätigen, diskriminierenden Erfahrungen sein können. Gefragt, wie sie sich selbst beschreiben würde, antwortet Haby gegenüber einer Journalistin selbstbewusst: „Ich bin eine Französin unserer Zeit.“

Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte

(CZ/SK/AT 2024, Regie: Klára Tasovská)

Fotografische Selbstsuche
von Wolfgang Nierlin

Selbstzweifel, die Angst vor dem Scheitern und Fragen nach der eigenen Identität grundieren und durchziehen Klára Tasovkás dokumentarischen Essayfilm „Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte“ über die lange …

Selbstzweifel, die Angst vor dem Scheitern und Fragen nach der eigenen Identität grundieren und durchziehen Klára Tasovkás dokumentarischen Essayfilm „Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte“ über die lange Zeit unbeachtet gebliebene tschechische Fotografin Libuše Jarcovjáková. Der schillernde, zwischen Wissen und Nicht-Wissen changierende Titel gibt eine Bewegungsrichtung mit nur vermeintlich sicherem Ziel vor. Dabei beschreibt er einen möglicherweise nie abschließbaren Prozess der Annäherung an ein Ich, das immer weiter im Entstehen begriffen ist. „Ich werde wohl nie aufhören, zu fragen, wer ich wirklich bin“, lautet vermutlich deshalb der letzte Satz des Films. Klára Tasovská hat diesen vollständig aus Fotos und Tagebuchnotizen der Porträtierten montiert und ihm durch einen dynamischen, teils beschleunigten Schnitt die Anmutung bewegter Bilder verliehen. Unterlegt mit Geräuschen und rhythmisiert durch elektronische Beats entsteht so eine Art Fotofilm, zu dem Libuše Jarcovjáková selbst aus dem Off ihre von Brüchen gekennzeichnete Lebensgeschichte erzählt.

Diese beginnt im Prager Frühling des Jahres 1968, den die 16-jährige, aus einer „politisch verdächtigen“ Maler-Familie stammende Libuše als „Ende der Hoffnungen“ erlebt. Sie fotografiert russische Panzer, eine graue Welt in Schwarzweiß, aber auch die Stadt, den Fluss und Straßenszenen. Schon die angehende Fotografin ist dem Gewöhnlichen und der Welt des Alltags auf der Spur. Vor allem aber will sie ihre persönlichen Erfahrungen dokumentieren, um sich und ihr Leben besser zu verstehen. Die Kamera dient ihr dabei als „Navigationsgerät“, um ihr „wahres Ich“ zu finden. Die vielen, teils sehr intimen Selbstporträts geben Zeugnis von dieser exzessiven, lebenslangen Suche nach sich selbst. Mit dem Mittel der fotografischen Selbstbetrachtung will sie sich ihrer Existenz versichern. Dabei steht nicht die originelle Gestaltung im Vordergrund – obwohl ihre Fotos oft durchaus komponiert erscheinen -, sondern die spontane persönliche Perspektive, die Tasovská wiederum für ihren bemerkenswert spannenden Film übernimmt und die auch die Blickrichtung der Zuschauer bestimmt.

Jetzt ist nicht die Zeit für Kunst“, sagt ihre Mutter lapidar, als Libuše Jarcovjáková aus politischen Gründen nicht zum Studium zugelassen wird. Daraufhin will sie sich als Arbeiterin in einer Druckerei „bewähren“, fällt aber in Ungnade, weil sie betrunkene und schlafende Arbeiter, den Schmutz und das Hässliche einer „totalitären Realität“ fotografiert. Die unangepasste Fotografin mit der unsicheren Identität will leben, wie sie will und empfindet sich als „ausgestoßen im eigenen Land“. Sie fotografiert Roma und fühlt sich ihnen seelenverwandt, sie dokumentiert die queere Community des T-Club und findet dort Freundinnen und Freunde. Schließlich erlebt sie Schwangerschaften und Abtreibungen und droht dabei, ihre Selbstachtung zu verlieren. Mit Alkohol und Tabletten bekämpft sie ihre Depressionen.

Bei einer Reise nach Tokio, die sie 1979 unternimmt, kehren jenseits des „kommunistischen Käfigs“ plötzlich „die Farben des Lebens“ zurück. Mitte der achtziger Jahre kann sie durch eine Scheinehe dann nach Berlin fahren. Sie jobbt als Putzfrau und Zimmermädchen, hat einen Unfall und erlebt später, bei einem erneuten Aufenthalt in der geteilten Stadt, den Mauerfall. Immer hat sie den Fotoapparat dabei. Denn: „Meine einzige Überlebensstrategie ist das Fotografieren.“ So wird Libuše Jarcovjáková, die als Fotografin erst spät internationale Anerkennung erfährt, mit ihren Fotos nicht nur zur Chronistin ihrer selbst, sondern auch zur Zeitzeugin der jeweiligen Gegenwart, die sie umgibt.

Das kostbarste aller Güter

(FR 2024, Regie: Michel Hazanavicius)

Mit Liebe das Leben verteidigen
von Wolfgang Nierlin

Dieser Animationsfilm, der auf dem gleichnamigen Jugendbuch des französischen Dramatikers Jean-Claude Grumberg basiert, beginnt wie ein Märchen: „Es war einmal…“, hebt die warme Erzählerstimme von Jürgen Prochnow mit der über …

Dieser Animationsfilm, der auf dem gleichnamigen Jugendbuch des französischen Dramatikers Jean-Claude Grumberg basiert, beginnt wie ein Märchen: „Es war einmal…“, hebt die warme Erzählerstimme von Jürgen Prochnow mit der über weite Strecken stummen Bildergeschichte an, die im Original von Jean-Louis Trintignant erzählt wird. In einem schneebedeckten Winterwald irgendwo im Osten lebt während des letzten Weltkrieges ein armes Holzfällerehepaar ein hartes, beschwerliches und mitleidloses Leben. Hunger, Kälte und Einsamkeit sind ihr Los. Noch nie haben sie den Wald verlassen, dessen Bäume dunkle Schatten in die weiße Landschaft werfen. Nach dem Verlust eines Kindes leidet vor allem die Frau unter der Kinderlosigkeit und sucht Trost und Beistand im Gebet: „Glücklicherweise ist auch das Unglück zu etwas gut“, macht sie sich selbst Mut. Und tatsächlich findet sie kurz darauf beim Holzsammeln einen weinenden Säugling im tiefen Schnee, der offensichtlich von einem der vorbeifahrenden Züge aus absichtlich ausgesetzt wurde. Das Mädchen sei ein „Geschenk der Götter des Zuges“ wird sie später sagen.

Für seinen Animationsfilm „Das kostbarste aller Güter“ („La plus préciuse des marchandises“) versetzt der französische Regisseur Michel Hazanavicius („The Artist“) diesen klassischen Topos in ein märchenhaft-romantisches Setting mit atmosphärischen Hell-Dunkel-Kontrasten und dem weitgehenden Verzicht auf Farbigkeit. Bläuliche Abendstimmungen, dichte Schneeflocken und die leitmotivisch vorbeifahrenden Züge, deren Dampf bedrohliche Schatten in die kalte Winterlandschaft wirft, unterstreichen zusätzlich diese Einsamkeits- und Verlassenheitsstimmungen. Wenn sich nächtens auf einer Anhöhe Wölfe mit Blick in die Weite versammeln, könnte das Arrangement einer Naturidylle direkt einem romantischen Gemälde entstammen. Tiere erscheinen beseelt und die mit kräftigen Umrisslinien gezeichneten Figuren sind mit ihren Schicksalen jeweils Teil einer rauen, unbarmherzigen Natur. Das durch Menschen verursachte Leid wiederum wird in einer Parallelhandlung imaginiert, die zeigt, wie auf einem der schrecklichen Deportationszüge ein verzweifelter Familienvater ein Zwillingskind aussetzt, bevor er im Konzentrationslager von seiner Familie getrennt wird. „In den verplombten Waggons ging die Menschlichkeit zugrunde“, heißt es einmal.

Die Bilder des Schreckens korrespondieren miteinander. Denn der mürrische Holzfäller beäugt zunächst misstrauisch das Glück seiner Frau und lehnt das Kind ab. Das in einen blau-weißen Tallit beziehungsweise jüdischen Gebetsschal gehüllte Mädchen sei ein Kind der „Herzlosen“ und „Gottesmörder“ einer „verfluchten Rasse“. Erst einige berührende Szenen der Annäherung später wird er mit Inbrunst und wie ein Mantra immer wieder den Satz wiederholen: „Auch die Herzlosen haben ein Herz.“ Der Holzfäller wird zum Ersatzvater, Beschützer und Verteidiger des kleinen Wesens; und er bleibt nicht der einzige in dieser Rolle. Einmal sagt die Frau, sie habe etwas verloren, aber auch etwas gewonnen. Hazanavicius und seine Zeichner akzentuieren diesen Ausgleich und die gegenseitige Hilfe in der Not. Sein Film zeigt Figuren, die gegen Widerstände das Leben verteidigen und trotz größter Not ihre Menschlichkeit bewahren. Zwischen dem märchenhaft Erfundenen und den allzu schmerzlichen Wahrheiten einer dunklen Geschichte sei die Liebe das einzig Echte. Sie sorge dafür, „dass das Leben weitergeht“, lautet die abschließende Botschaft.

Sing Sing

(USA 2023, Regie: Greg Kweda)

Menschlich werden durch Kunst
von Wolfgang Nierlin

Weiße Stofffetzen hängen lose vom blau beschienenen Bühnenhimmel herunter und erzeugen eine magische Atmosphäre, während der Schlussmonolog aus Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ an das wandelbare Glück erinnert. Dann beschließt Applaus den …

Weiße Stofffetzen hängen lose vom blau beschienenen Bühnenhimmel herunter und erzeugen eine magische Atmosphäre, während der Schlussmonolog aus Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ an das wandelbare Glück erinnert. Dann beschließt Applaus den nachdenklichen Moment und der Schauspieler, der bis dahin nur von hinten zu sehen war, zeigt nun sein Gesicht. Kurz darauf wird klar, dass diese Aufführung hinter den Mauern des Hochsicherheitsgefängnisses Sing Sing unweit von New York stattfand. Denn John Whitfield (Colman Domingo), der „Divine G“ genannt wird, und seine schauspielernden Kameraden müssen kurz darauf zurück in ihre engen Zellen. Hintereinander aufgereiht, stehen sie in einem langen Flur.

Der Gegensatz und die Dialektik von Freiheit und Gefangenschaft grundieren auf verschiedenen Ebenen Greg Kwedars Film „Sing Sing“. Die Blicke nach draußen markieren immer wieder die schmale und doch unüberwindliche Grenze zu einem normalen Leben. Vergitterte Zäune rastern das Sichtfeld; der Hudson River sowie hohe Stacheldrahtzäune umschließen das Areal. Zwischen den Drähten sitzt ein kleiner Vogel: Dieses Bild wird zur Metapher für einen existentiellen Widerspruch.

„Divine G“ lebt in diesem Dilemma, seit er zu Unrecht inhaftiert wurde. Doch der kluge und zugewandte Familienvater engagiert sich als Autor und Schauspieler. Er berät Mithäftlinge in Rechtsfragen und ist seit langem Teilnehmer im RTA (Rehabilitation Through Art)-Programm, das den Gefangenen helfen soll, sich selbst und die eigenen Gefühle zu erforschen, um die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern. „Bruder, wir sind hier, um wieder menschlich zu werden“, heißt es einmal über die verwandelnde Kraft der Kunst. Unter dem Leitspruch „Vertraue dem Prozess!“ unternehmen die Teilnehmer in ihren Improvisationen und Übungen individuelle Gefühlsreisen, um Verborgenes und Verdrängtes in sich zu entdecken und auszudrücken. Es sei wichtig, sich ehrlich und verletzlich zu zeigen, um ein Gefühl für Empathie aufzubauen, sagt der Regisseur Brent Buell (Paul Raci), der die Gruppe behutsam und zurückhaltend anleitet.

Als der schroff und innerlich unausgeglichen wirkende Drogendealer Clarence „Divine Eye“ Maclin, der sich selbst spielt, dem Projekt beitritt und für die ausnahmsweise Aufführung einer Komödie plädiert, verschiebt sich zunächst das labile Gleichgewicht innerhalb der Gruppe. Vor allem die Beziehung zwischen ihm und dem fürsorglichen „Divine G“, der selbst schwere Rückschläge erleiden muss, während er anderen hilft, steht unter Spannungen. Diese lösen sich jedoch allmählich, je mehr sich die beiden einander öffnen und ihren Schmerz teilen. Ihr Austausch führt schließlich zu einer Annäherung und zu einer vorsichtigen Freundschaft im Zeichen eines ambivalenten Freiheitsversprechens.

Regisseur Greg Kwedar hat sich für seinen authentisch wirkenden, emotional kraftvollen Film von realen Geschichten und Schicksalen ehemaliger Häftlinge und RTA-Teilnehmer inspirieren lassen, die sich teilweise wiederum selbst spielen, was „Sing Sing“ besonders stark macht. Einmal kehrt einer von ihnen als Besucher ins Gefängnis zurück, um von den (kleinen) täglichen Freuden der Freiheit, aber auch von Schmerzlichem zu erzählen. Die Welt jenseits der Mauern bleibt ambivalent; und der von widersprüchlichen Gefühlen umstellte Weg zu den Versprechungen der Freiheit erfordert Mut, Kraft und Durchhaltewillen.

Hundreds of Beavers

(USA 2023, Regie: Mike Cheslik)

Weg zum Erfolg
von Wolfgang Nierlin

Noch ist die Welt des fidelen Apfelbauers Jean Kayak (Ryland Brickson Cole Tews) in allerbester Ordnung: Die Ernten sind reichhaltig, die Apfelschnapsproduktion floriert und der trinkfeste Kayak gehört als Dauerberauschter …

Noch ist die Welt des fidelen Apfelbauers Jean Kayak (Ryland Brickson Cole Tews) in allerbester Ordnung: Die Ernten sind reichhaltig, die Apfelschnapsproduktion floriert und der trinkfeste Kayak gehört als Dauerberauschter selbst zu seinen besten Kunden. Doch dann geht eines nicht so schönen Tages die Destillerie in Flammen auf. Vielleicht haben die gefräßigen Biber am Holz genagt, vielleicht war der betrunkene Schnapsbrenner auch einfach wieder mal nur zu unaufmerksam und benebelt. Jedenfalls stürzt er vom Erfolg ins Nichts aus Eis und Schnee; und öfter auch in schwarze Löcher, die sich darin auftun. Fortan befindet sich der Gefallene im stetigen Kampf mit der Natur auf einer ebenso verzweifelten wie erfolglosen Suche nach Nahrung. Doch wie es der tumbe Anfänger auch anstellt, immer ist ihm seine potentielle Beute einen Schritt voraus. Alle seine Bemühungen werden zunichtegemacht, das Scheitern wird zum Dauerzustand.

Mike Cheslik mischt für seine anarchische Slapstick-Komödie „Hundreds of Beavers“, die im 19. Jahrhundert irgendwo im mittleren Westen angesiedelt ist, Realfilm mit Elementen der Animation. Vor meist schneeweißem Hintergrund entfacht er ein bizarres Spektakel überdrehter und vor allem permanenter Action. Wüste Kämpfe, bei denen alles passieren kann und trotz eines teilweise bösen, makabren Humors nichts wirklich wehtut, stehen im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen zwischen Mensch und Tier. Denn Jean Kayak lernt allmählich dazu und mutiert unter Anleitung eines Trappers schließlich zum skrupellosen Fallensteller, der es besonders auf die titelgebenden Biber, die von Menschen in lustigen Ganzkörperkostümen gespielt werden, abgesehen hat; und zwar umso mehr, als er sich in die streng überwachte Tochter (Olivia Graves) des Pelzhändlers (Doug Mancheski) verliebt.

Ein Zitat von Benjamin Franklin verweist in einem der wenigen Zwischentitel des ansonsten stummen Films ironisch auf den Zusammenhang zwischen eigener Hände Arbeit und Erfolg. Um die Angebetete zu erobern, muss Kayak also gnadenlos Biber meucheln, wobei seine Jagdmethoden immer ausgeklügelter werden. Wie in den überdrehten Zeichentrickfilmen der „Looney Tunes“-Serie entfaltet die Independent-Produktion „Hundreds of Beavers“ eine ganz eigene Logik der Verdoppelung, Wiederholung und Variation, um ein Höchstmaß an Klamauk und Nonsens ins schwarzweiße Bild zu setzen. Das ist originell und macht Spaß, wirkt oft und auf Dauer aber auch nur mäßig lustig und vor allem redundant. Kayaks abenteuerlicher Weg zu Erfolg und Liebesglück zeugt jedenfalls von einer unbändigen filmischen Fabulierlust und phantastischen Einfällen, die Cheslik und seinen schauspielernden Koautor Reyland Tews offensichtlich zu ungehemmter Kreativität angetrieben haben.

Bird

(GB 2024, Regie: Andrea Arnold)

Kleine Fluchten
von Wolfgang Nierlin

Die 12-jährige Bailey (Nykiya Adams) streift gerne allein durch die Natur und fühlt sich zu Tieren hingezogen. Mit ihrem Handy filmt sie durch die Drahtgitter einer Fußgängerbrücke hindurch den Flug …

Die 12-jährige Bailey (Nykiya Adams) streift gerne allein durch die Natur und fühlt sich zu Tieren hingezogen. Mit ihrem Handy filmt sie durch die Drahtgitter einer Fußgängerbrücke hindurch den Flug einer Möwe. Ihre Sehnsucht nach Weite und Freiheit tritt in den ersten Bildern von Andrea Arnolds neuem Film „Bird“ in einen harten Kontrast zu den unwirtlichen Lebensverhältnissen einer ziemlich maroden Wohnsiedlung südöstlich von London. Hier lebt die Heranwachsende zusammen mit ihrem Halbbruder Hunter (Jason Edward Buda) und ihrem noch sehr jungen Vater Bug (Barry Keoghan) in einer heruntergekommenen, verwahrlosten Wohnung und ist sich weitgehend selbst überlassen. Bailey wirkt unzufrieden und wütend. Und sie streitet mit ihrem Vater, weil dieser spontan seine neue Freundin heiraten möchte. Ihre Mutter, die noch drei weitere Kinder hat und mit ihrem gewalttätigen Freund in einer anderen Siedlung lebt, habe einmal gesagt, Bailey sei geboren worden, um Ärger zu machen.

Dabei sehnt sich das sensible Mädchen, das gerne ihre Umgebung beobachtet, doch nur nach Nähe und Liebe. Ihre Ausflüge in den Randzonen der Natur sind wie kleine Fluchten im Gefühl einer unbestimmten Sehnsucht. Wenn sie mit ihrem jugendlichen Vater, der selbst noch ein liebevoller Kindskopf ist, auf dem E-Scooter zu wilder Punkmusik durch die Straßen braust, sprengt das für lange Augenblicke die engen, perspektivlosen Verhältnisse. Dann taucht eines Tages wie aus dem Nichts der ebenso wunderliche wie zugewandte Bird (Franz Rogowski) auf. Dessen Leichtigkeit und tänzelndes Balancieren rücken ihn in die Nähe eines schwerelosen, fast schwebenden Vogelmenschen. Immer wieder sieht man den sympathischen Außenseiter auf Dächern im Zustand des Wartens. Bird ähnelt einer Phantasiegestalt und wird für Bailey – ähnlich wie der Kanarienvogel für den jugendlichen Helden in Jean-Claude Brisseaus Film „Lärm und Wut“ – zum Freund und Beschützer, den sie vielleicht nur imaginiert, um sich gegen eine schier erdrückende Wirklichkeit zu stemmen.

Wie in ihren früheren Sozialdramen filmt Andrea Arnold die harte Lebenswirklichkeit des dargestellten prekären Milieus mit einem rauen, ruppigen Handkamerastil. Dabei akzentuiert sie mehr Atmosphäre und Stimmungen als den Plot einer Coming-of-Age-Geschichte. Gegen die Unruhe eines unübersichtlichen, richtungslosen Lebens setzt sie immer wieder unspektakuläre Bilder einer Alltagsmagie. Wehende Vorhänge, bunte Wandverzierungen und Mut machende Tags oder auch Licht, das durch Türen und Fenster fällt, schaffen eine poetische Gegenwelt, die zusätzlich immer wieder von markanten Songtexten begleitet und beschworen wird. Im Mittelpunkt dieser positiven Utopie steht Bird. Er verkörpert gleichzeitig Tier und Mensch, Phantasie und Wirklichkeit und ist selbst eine Waise auf der Suche nach der verlorenen Familie. Zusammen mit Bird und ihren Geschwistern gelingt es Bailey bei einem gemeinsamen Ausflug ans Meer die Tristesse für einmal zu vergessen und einen gewichtigen Schritt hin zu sich selbst und damit zu den anderen zu machen.

Soundtrack to a Coup d‘ État

(BE/FR/NL 2024, Regie: Johan Grimonprez)

Schreckliche Ungewissheit
von Wolfgang Nierlin

Der Jazzschlagzeuger Max Roach und die Sängerin Abbey Lincoln intonieren leitmotivisch ihre „We insist Freedom Now Suite“, während sie von einem Chor mehr oder weniger prominenter kolonialer Stimmen unterbrochen werden. …

Der Jazzschlagzeuger Max Roach und die Sängerin Abbey Lincoln intonieren leitmotivisch ihre „We insist Freedom Now Suite“, während sie von einem Chor mehr oder weniger prominenter kolonialer Stimmen unterbrochen werden. In dieser politischen Umgebung der beginnenden 1960er Jahre, als die „Kalten Krieger“ starre ideologische Blöcke formierten, wirkt der Jazz wie ein Einspruch, der seinen Widerstand gegen jegliche Vereinnahmung artikuliert. Tatsächlich werden aber zunächst Louis Armstrong, Dizzy Gillespie und andere prominente „Jazz-Botschafter“ losgeschickt, um vornehmlich auf dem afrikanischen Kontinent, wo der Geist der Unabhängigkeit viele Menschen beseelt, als „geheime Waffe“ westlicher Propaganda zu wirken; und manchmal auch als Trojanisches Pferd, das die wahren Absichten der politischen Akteure verschleiert. Vor allem im Kongo, wo die belgische Kolonialmacht widerwillig auf dem Rückzug ist und der junge Patrice Lumumba zum ersten Premierminister der jungen Republik gewählt wird, soll die Musik als Sedativum die Ansprüche westlicher Kapitalisten abmildern.

Das an Bodenschätzen reiche zentralafrikanische Land steht gewissermaßen zwischen den Blöcken. Denn die Sowjetunion unterstützt andererseits das Unabhängigkeitsstreben des Kongo und anderer afrikanischer Länder. Das Gegeneinander der beiden Weltmächte im Kampf um politischen und wirtschaftlichen Einfluss bildet die historische Folie von Johan Grimonprez‘ Film „Soundtrack to a Coup d‘ État“, der mit einer ausgefeilten Montage die zahlreichen Dokumente mehr assoziativ als analytisch aufeinander bezieht. Das wiederum führt zu Unschärfen und Spekulationen; Verbindungen erscheinen beliebig; ohne historisches Hintergrundwissen bleibt vieles unverständlich und im Vagen. Grimonprez erzählt mit seinem zweifellos interessanten, teils bis dato unbekannten Material keine (chronologische) Geschichte, sondern er stellt überzeitliche Zusammenhänge her und lässt dasjenige, was in der Montage einander gegenübertritt, sich gegenseitig beleuchten.

Dass der im Titel aufgerufene Jazz als Instrument der politischen Beeinflussung dient, gehört eher zu den schwächeren Thesen des Films. Immerhin artikulieren schließlich Nina Simone, Thelonious Monk, Eric Dolphy, Ornette Coleman oder auch John Coltrane die musikalische Antithese dazu. Detaillierter, anschaulicher und gewichtiger ist der Film, wo er das „Gleichgewicht des Schreckens“ in seinen weltweiten Verästelungen darstellt. So entsteht das Bild einer höchst zerbrechlichen Ordnung in einem Klima aus Hass, Misstrauen und Gewalt. Während sich Freiheitsbewegungen, angeführt von Patrice Lumumba, Fidel Castro und Malcolm X solidarisch verbinden und in Nikita Chruschtschow einen starken Fürsprecher finden, zeigen die westlichen Staaten fast unverhüllt ihr verbrecherisches Gesicht. Der Film thematisiert diese diffuse Mischung aus rassistischer Niedertracht, kolonialer Arroganz und wirtschaftlicher Habgier weniger mit agitatorischer Absicht denn als aufgeklärtes Erschrecken über eine Ungerechtigkeit, die bis heute nach wie vor wirksam ist und die Politik bestimmt.

Nonkonform

(DE 2023, Regie: Arne Körner)

Das ziemt sich nicht
von Thomas Groh

Opa erzählt vom Krieg. Wie das damals war, in Hamburg, nachts, als Dreikäsehoch bei den Rauchern vor den Kellerbunkern. Die Stadt im Dunkeln und dann aber: was für ein Spektakel. …

Opa erzählt vom Krieg. Wie das damals war, in Hamburg, nachts, als Dreikäsehoch bei den Rauchern vor den Kellerbunkern. Die Stadt im Dunkeln und dann aber: was für ein Spektakel. Wenn die Bomber kamen. Wie es blitzte, brannte und zuckte – Feuerwerk. Opas lustige Augen sind wieder ganz die eines Kindes. Und wie es in der Schule war, wie man sehnsüchtig auf Kriegsverluste im eigenen Haus wartete. Denn dann konnte man weinen. Und dann kam die Lehrerin und nahm einen in den Arm. Die Lehrerin mit dem mächtigen Busen.

Äh, Moment mal, Opa. Das ziemt sich aber nicht, so über den Krieg zu reden. Auch Deutsche unter den Opfern! Was sich ziemt und was nicht, das ist Opa auf geradezu fröhliche Weise egal. Opa ist nicht irgendwer: Dietrich Kuhlbrodt ist sein Name, und der lebte so viele unziemliche Leben gleichzeitig, dass man kaum mitzählen kann, und das auch noch mit bravouröser Ausdauer: 92 wurde er im letzten Herbst, und wenn er in Arne Körners schönem Porträtfilm lebenslustig, listig und wendig erzählt, wie er im Fitnessstudio an den Seilen zieht, Treppen erklimmt und im Garten gärtnert, ist man sicher: Da kommt noch ein ganzer Strauß Geburtstage hinterher.

Die vielen Leben des Dietrich Kuhlbrodt also: Hitlerjugendlicher, Jura-Student in Frankreich, Mitbegründer der hiesigen Cinephilie, Filmkritiker, Autor für Konkret und andere, Schauspieler für Schlingensief und Lars von Trier, umtriebig auf diversen Bühnen, Ehemann der Künstlerin Brigitte Kausch, mit der er wohl – den vielen, wunderbar farbigen Super8-Aufnahmen in diesem Film zufolge – ein wildes Bohème-Leben führte. Aber auch: Dietrich Kuhlbrodt, als Staatsanwalt hoch-honoriger Würdenträger dieses Landes, verdienstreich als „Nazijäger“ in Ludwigsburg, als man in der wirtschaftswunderbaren Bundesrepublik diese ganze lästige Sache doch bitte schön langsam unter den Teppich kehren wollte. „Wir kriegen euch auch noch“, gellte so mancher Alt- und Immer-Noch-Nazi von der Straße aus Richtung Ludwigsburger Arbeitsbüro, erzählt Kuhlbrodt – und stellt das Gejohle geradezu gruselig inbrünstig nach, als wäre ihm das Gekeife damals tief in Mark und Bein gegangen, von wo aus es jetzt wieder nach außen dringt.

Geradezu gruselig inbrünstig – so habe ich Dietrich Kuhlbrodt auch für mich kennengelernt, in den schlimmen Neunzigern, als er in Schlingensiefs Wende-Splattersause „Das deutsche Kettensägenmassaker“ (1990) mit besagtem Arbeitsutensil Jagd auf Ostdeutsche machte (Tagline: „Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst“) und als er sich im Rechtsradikalen-Report „Terror 2000 – Intensivstation Deutschland“ (1992) als Nazi von altem Schrot und Korn in Szene setzte („Adolf Hitler war ein Nazi. Mein Vater war ein Nazi. Ich – bin ein Nazi“). Ich war damals pubertär, Punk und entsetzt von einem Deutschland, in dem jeden Tag ein Flüchtlingsheim brannte. Kuhlbrodts gellende Intonation imponierte mir, blieb hängen – hier kam etwas zum Ausdruck, etwas drückte sich aus und heraus. Wie die Kotze, die Dietrich Kuhlbrodt im Schlingensief-Film „Menu Total“ aus dem Munde des fleischigen Alfred Edel herauspuhlte.

„Ich hätte das alles gar nicht machen dürfen“, juxt Kuhlbrodt mit breitem Grinsen heute in seiner schön unordentlichen, aber nicht verwahrlosten Hamburger Villa. Das Amt des Staatsanwalts muss der Würdenträger insbesondere auch durch seinen Lebenswandel im Privaten ehren – oder so. Kettensägen in Industriebrachen schwingen, in Wurst und Kunstblut waten, Nazis spielen, auf der Volksbühne Berlins freidrehen – oder Menschen, die von der Abschiebung bedroht sind, im eigenen Haus Unterschlupf gewähren. Das ziemt sich alles nicht für einen Staatsanwalt. Schöne Episode auch: Wie Kuhlbrodt in einer Zeit, als der Muff unter den Talaren noch lange nicht gelüftet war, aufs Konzert der Rolling Stones ging, seinen Kollegen am nächsten Tag davon erzählte – und die mit großen Augen nachfragten, dies sei doch sicher nur deshalb geschehen, um zu beobachten, ob es zu Straftaten kommt. Näää, blökt der rüstige Rentner (auch wie er manchmal: „Ääääy“ ruft – ein Fest!): Er war dort, weil er die Musik gut findet. Prompt meldete sich der Vorgesetzte: Beim nächsten Mal sagen Sie mir bei solchen Vorhaben bitte im Vorfeld Bescheid.

Das alles und noch viel mehr plaudert sich in „Nonkonform“ so nebenbei weg. Lapidar, jovial, jung – ohne Pathos und Roten Teppich. Dieser Film hätte eine schlimm ehrwürdige Hommage werden können – „Unser Dietrich!“ -, zum Glück ist er das nicht geworden, sondern adäquat locker, verspielt, nah dran. Hohles Pathos bitte nicht bei Kuhlbrodt, dafür ist er viel zu sehr Spielkind geblieben, gerade in der alten Bundesrepublik, die insbesondere in ihren jungen Jahren vor allem das Lebensmodell „Frühvergreisung“ vorsah. Am Ende von „Nonkonform“ sehen wir Kuhlbrodt im Techno-Club, inmitten junger Leute. Er ist ja selber so ein junger Leut.

Dazu gibt es flankierend Archivmaterial. Meist illustrierend, in neuen Kontext gesetzt. Obendrein – eine Schau! – Auszüge aus altem TV-Material, in dem der nicht mehr ganz junge, aber eben noch nicht alte Kuhlbrodt seine Arbeit als Nazijäger von Staats wegen reflektiert. Das trockene Kunstpausen-Deutsch des Genres „ernster TV-Beitrag der Öffentlich-Rechtlichen“, wie es damals noch üblich war, hat er perfekt drauf. So ganz nebenbei ist „Nonkonform“ auch ein Film über Sprache, Stimme und den Körper, aus dem sie kommt. Wie sich das alles ändert, was durch Stimme und Sprache hindurch spricht, welche Rollen wir dadurch einnehmen – und wie sich das Eigene, das Eigensinnige darin bewahren lässt, wie man sich davon emanzipiert. Und vielleicht auch, wie man ein richtiges Leben im Falschen wenigstens irgendwie leben kann. Morgens für Schlingensief die Kettensäge schwingen, am Nachmittag im Gericht Prozesse verhandeln. Was für ein Leben. Was für ein Film.

Diese Kritik erschien zuerst am 05.02.2025 in: perlentaucher.de. Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Babygirl

(USA/NL 2024, Regie: Halina Reijn)

Wer manipuliert hier wen?
von Marit Hofmann

Antonio Banderas kann seine Frau nicht befriedigen. Mit dieser Pointe beginnt Halina Reijn ihre „spielerische und bescheidene Antwort auf das männliche ‚Eyes Wide Shut’“, wie sie sagt. Während Stanley Kubrick …

Antonio Banderas kann seine Frau nicht befriedigen. Mit dieser Pointe beginnt Halina Reijn ihre „spielerische und bescheidene Antwort auf das männliche ‚Eyes Wide Shut'“, wie sie sagt. Während Stanley Kubrick in seinem letzten Film, der 1999 herauskam, „die Thematik Monogamie“ nur aus der Sicht des Mannes behandelt habe, wollte die niederländische Regisseurin wissen, was gewesen wäre, wenn der weibliche Part außereheliche Fantasien ausgelebt hätte.

Reijn hat Tom Cruise, der (nicht nur) in Stanley Kubricks Film Nicole Kidmans Ehemann war, in „Babygirl“ gegen das gealterte Sexsymbol Antonio Banderas ausgetauscht: Dem Theaterregisseur Jacob gefällt es gar nicht, wenn seine Gattin Romy, toughe CEO eines Amazon-artigen Megakonzerns, sich im Bett unterwürfig zeigt und für ihre beiden Töchter das Tradwife mit Schürze spielt. Ihren Meister findet die fortan zwischen Unnahbarkeit und Kontrollverlust taumelnde Romy – eine Performance, die Kidman den Preis als beste Darstellerin in Venedig eingebracht hat – in einem blutjungen Praktikanten (Smart Ass Harris Dickinson in seinem ersten Not-so-erotic-Drama). Da schrillen natürlich alle Alarmglocken: Machtmissbrauch, me too! Aber wer manipuliert hier wen?

Der Wunderknabe widerspricht Jacobs Überzeugung, masochistische Frauen seien eine Männerfantasie, durchschaut die heimlichen Gelüste seiner Vorgesetzten und richtet sie ab wie ein Hündchen, das gelobt werden will: „Good girl!“
Die Ausgangskonstellation und einzelne Szenen ähneln auffallend der schwedischen Netflix-Serie „Liebe und Anarchie“, in der das ungleiche Liebespaar sich jedoch wechselseitig Mutproben unterzieht und sehr viel prickelnder und witziger auch kapitalistische Hierarchien aufmischt.

Reijn, die sich gegen verklemmte US-Moralvorstellungen wenden will, bleibt ihnen indes verhaftet. Nach ihren eigenen Erfahrungen als Schauspielerin setzt sie zwar weniger auf Nacktheit als ihre das Erotikgenre dominierenden männlichen Kollegen, arbeitet mit einer Intimitätskoordinatorin und will an das Tabu des Orgasm-Gap rühren. „Es gab Drehtage, an denen ich dachte: ‚Ich will keinen Orgasmus mehr haben'“, vertraute Kidman dabei dem britischen Boulevardblatt „The Sun“ an, was auch diverse deutsche Medien zu schlüpfrigen Schlagzeilen verleitete wie „Zu viele Orgasmen: Nicole Kidman musste ‚Babygirl‘-Dreh unterbrechen“ („Musikexpress“).

Gleichzeitig will Reijn eine Frau zeigen, „die neu beginnt, ohne dafür bestraft zu werden“, wie es sonst in Filmen (und in Ibsens Tragödie „Hedda Gabler“, die Jacob hier rein zufällig gerade am Theater inszeniert) üblich ist. Aber der vermeintliche Neubeginn in „Babygirl“ ist erstens nur mit Hilfe eines Alphamännchens möglich und mündet zweitens in die Rückkehr zur Kleinfamilie. Seitensprünge gehören nach wie vor vergeben.

Der gerade wieder zum „sexiest man alive“ gekürte Banderas legt das Drehbuch auch nicht gerade emanzipatorisch aus: Während „Political Correctness zu einer Zensur der Künstler geführt“ habe, habe Reijn „die Kraft und den Mut, Dinge auf die Leinwand zu bringen, die wir alle denken. Wir sind in gewisser Weise Gefangene unserer eigenen Instinkte. Wir sind Tiere.“ Immerhin hat Jacob am Ende des Films eine andere Sextechnik erlernt: Fuck Penetration.

Diese Kritik erschien zuerst am 31.01.2025 in: ND

Der Lehrer, der uns das Meer versprach

(ES 2023, Regie: Patricia Font)

Reise in eine dunkle Vergangenheit
von Wolfgang Nierlin

Der Abspann des Films zeigt eine Reihe von Dokumenten, die darauf hinweisen, dass die zuvor erzählte Geschichte auf wahren Begebenheiten beruht. Aufgezeichnet und damit dem Vergessen entrissen hat sie der …

Der Abspann des Films zeigt eine Reihe von Dokumenten, die darauf hinweisen, dass die zuvor erzählte Geschichte auf wahren Begebenheiten beruht. Aufgezeichnet und damit dem Vergessen entrissen hat sie der spanische Journalist Francesc Escribano unter dem Titel „Der Lehrer, der uns das Meer versprach“; unter dem wiederum Patricia Font den Stoff verfilmt hat. Die Erinnerungsstücke führen zurück in das Jahr 1935 und verbinden ein dunkles Kapitel der spanischen Geschichte mit der Gegenwart. Damals kommt ein junger, aus Katalonien stammender Lehrer in eine kleine Dorfschule der Provinz Burgos. Mit frischen Ideen und unkonventionellen Methoden begeistert Antonio Benaiges (Enric Auquer) bald die überraschten Kinder. Sein antiautoritäres Konzept, das die Kinder zum selbständigen Lernen ermutigt und sie vor allem darin bestärkt, Kinder sein zu dürfen, zeigt bald erste Früchte. Mit einer kleinen Druckerpresse stellen die Schülerinnen und Schüler eigene Hefte her; das Klassenzimmer wird zur Werkstatt und zum Versuchslabor.

Das gefällt nicht allen im Ort, namentlich der Pfarrer und der Bürgermeister blicken misstrauisch und zunehmend kritisch auf die Unterrichtspraxis des modernen Freinet-Pädagogen. Zumal dieser seine fortschrittlichen, kommunistischen Ansichten in Zeitungsartikeln veröffentlicht. Sein freigeistiges, von tiefer Menschlichkeit getragenes Denken und Handeln eckt bei den Traditionalisten an. Sein Plan, den Horizont der Kinder durch eine Exkursion ans Meer zu erweitern, muss schließlich, wie bereits der Filmtitel andeutet, ein Versprechen bleiben. Denn vor dem Hintergrund des heraufziehenden Spanischen Bürgerkrieges, der Jahre später zum Ende der Republik führt, wird der Lehrer von den Falangisten als „unpatriotisch“ und „unsozial“ gebrandmarkt und schließlich verhaftet.

Patricia Font erzählt ihren emotional bewegenden Film in Rückblenden und verschränkt diese mit der Spurensuche von Ariadna (Laia Costa), einer jungen, psychisch angegriffenen Mutter, die für ihren Großvater Carlos nach Anhaltspunkten für dessen einst im Bürgerkrieg verschwundenen Vater Bernardo recherchiert. Dass der kleine Carlos einst bei Antonio im Schulhaus wohnte, weil sein Vater inhaftiert war, ist eine von Ariadnas wichtigen und schmerzlichen Entdeckungen und zugleich ein Bindeglied zur Geschichte des Lehrers. Auch wenn die Erzählperspektiven der beiden Handlungsstränge verschieden sind, so sind doch Vergangenheit und Gegenwart untrennbar miteinander verknüpft. Ariadnas Suche beginnt bei einem der vielen Massengräber, die über das ganz Land verstreut sind und aus denen die Knochen und Habseligkeiten der Ermordeten erst in jüngster Zeit geborgen werden. Auch viele Jahre nach Francos Tod geht noch immer ein Riss durch die spanische Gesellschaft. Ariadnas Reise zu den Hoffnungen und Verbrechen der Vergangenheit endet schließlich bei einem Klassenfoto, das die Erinnerungen des alten Carlos tröstend zurückbringt.

Es geht um Luis

(DE 2024, Regie: Lucia Chiara)

Lange Taxifahrt
von Jürgen Kiontke

Constanze und Jens sind typische Eltern der Mittelklasse, oder vielleicht sogar ein bisschen drunter: Constanze schuftet ohne Arbeitszeiten im Architektenbüro, mit Ende 30 winkt der Aufstieg zur Projektleiterin. Jens fährt …

Constanze und Jens sind typische Eltern der Mittelklasse, oder vielleicht sogar ein bisschen drunter: Constanze schuftet ohne Arbeitszeiten im Architektenbüro, mit Ende 30 winkt der Aufstieg zur Projektleiterin. Jens fährt Taxi. Beide immer gestresst und immer genervt: Constanze, weil der Erfolgsdruck bei der Arbeit mit Investoren groß ist, Jens, weil der Fahr-Vermittler „Easy Lane“ ihm und den Kollegen im Genick sitzt, und sich seine Kollegen nicht gegen die Billig-Konkurrenz organisieren lassen.

Die beiden leben in Stuttgart, nicht gerade ein billiges Pflaster. Jens arbeitet oft am Wochenende, Constanze auch. Ein Paar im Kampf um Einkommen, Status, mögliches Wohlbefinden am Wochenende oder eher weit in der Zukunft.

Da fällt der Sonntagsausflug mit dem Dritten im Bunde schon mal aus: Luis. Das ist ihr Sohn, der noch zur Schule geht. Der hat Probleme, um die sich die beiden auch kümmern müssen. Vor allem sein lila Einhorn-Rucksack gibt seinen Mitschülern die Steilvorlage, ihn zu drangsalieren. Auf dem Programm: Treppenschubser, eklige Klozeichnungen, Diebstahl. Am schlimmsten: Mitschüler Finn. Die Schulleitung macht Druck, Luis biete durch sein komisches Verhalten nun mal Angriffsfläche. Aber auch ohne bunten Tornister, da ist sich Jens sicher, wird weitergemobbt.

Kann sein, dass dieses Szenario etwas überholt ist – andernorts würde man eventuell Schwierigkeiten bekommen, weil man keinen Einhorn-Rucksack hat –, jedenfalls ist es das Setting von „Es geht um Luis“, dem neuen Film der italienischen Regisseurin Lucia Chiarla. Als Vorlage diente das Theaterstück „Das kleine Pony“ von Paco Bezerro. Während es darin aber um Zeichentrickfiguren geht, liegt hier der symbolische Gehalt eindeutig in der Anspielung auf die queere Szene. Allerdings wird diese nicht sehr weit ausgeführt: Denn Luis – das wiederum ein prima Regieeinfall – ist im ganzen Film nicht zu sehen. Allenfalls per Telefon meldet er sich mal, ansonsten wird er in Gesprächen mit der Oma oder Lehrern konstruiert. Man stelle sich vor: Die Eltern haben so wenig Zeit für ihr Kind, dass es so richtig gar nicht existiert.

Scherereien hat und macht Luis trotzdem, ab und zu schlägt er auch mal zurück. Der Direktor rät zum Schulwechsel, Jens denkt über eine Anzeige nach, die Schule komme ihrer Aufsichtspflicht nicht nach. Sein Tipp für Luis, „sich durchzusetzen“, erweist sich da auch eher als kontraproduktiv – aber richtig!

Der ganze Film spielt sich quasi im Taxi von Jens ab. Konstanze und Jens schieben sich aber auch untereinander die Verantwortung hin und her. Dort streitet sich das Paar, dort telefoniert es – ein Kaleidoskop verletzender Äußerungen; die Hilfeangebote der Großmutter werden nur noch genervt quittiert, irgendwann sitzt auch sie mit in Jens‘ Droschke.

Ein nicht immer stimmiges Panorama der Menschen, die hierzulande die Steuern zahlen; die armen Leute, denkt man hernach. Keine Freunde, keine Nachbarn, null Pause, nur Stress. Ein echtes Schauspielerstück: Max Riemelt als Jens und Natalia Rudziewicz liefern eine Profi-Leistung ab.

Diese Kritik erschien zuerst auf: links-bewegt.de

Könige des Sommers

(FR 2024, Regie: Louise Courvoisier)

Mitleidlose Jugend
von Wolfgang Nierlin

Totone (Clément Faveau), der eigentlich Anthony heißt, ist ein junger, übermütiger und impulsiver Mann. Auf einem Volksfest einer kleinen Gemeinde im französischen Jura zwischen den Dörfern Pimorin und Orgelet stellt …

Totone (Clément Faveau), der eigentlich Anthony heißt, ist ein junger, übermütiger und impulsiver Mann. Auf einem Volksfest einer kleinen Gemeinde im französischen Jura zwischen den Dörfern Pimorin und Orgelet stellt er sich sturzbetrunken auf die Bühne, um unter dem Gegröle und den Anfeuerungsrufen der ausgelassenen Besucher die Hose runter zu lassen. Später in der Nacht ist der 18-Jährige mit den roten Haaren und dem sonnenverbrannten Gesicht dann zu müde und betrunken für den Sex mit Aurore, die ihn daraufhin mehr oder weniger rausschmeißt; bis ihn sein Vater, der eine Käserei betreibt, aufgabelt und wortlos nach Hause fährt. Diese stille Fahrt durch den heraufziehenden Morgen, wenn ein leichter Morgennebel über der von Bergen gesäumten Wiesen- und Waldlandschaft liegt, fungiert als Kontrast zum hitzigen Volksfesttreiben und ist zugleich eine Hommage an die Landschaft, in der die junge Filmemacherin Louise Courvoisier aufgewachsen ist und die hier ihren Debütfilm „Könige des Sommers“ („Vingt dieux“) mit Laiendarstellern gedreht hat.

Darin zeichnet sie sehr direkt, sinnlich und authentisch das Bild einer mitleidlosen Jugend unter rauen, bäuerlichen Bedingungen. Mit subjektivem Blick und Handkamera folgt sie ihrem zunächst ruhelosen und unkontrollierten Helden, seinem Macho-Gehabe unter Kumpels und einem gewalttätigen Streit, als er sich am nächsten Abend mit Freunden von Aurore anlegt. Es kommt aber noch schlimmer, denn sein Vater stirbt im Vollrausch bei einem Autounfall, den sein Sohn vielleicht hätte verhindern können. Totone verdrängt seine Schuldgefühle. Allein und auf sich gestellt, muss er nun Verantwortung für sein Leben, den Hof und vor allem seine kleine, 7jährige Schwester Claire (Luna Garret) übernehmen. Er findet kurzfristig einen Job, verliert ihn aber wieder, weil er mit den beiden Söhnen seines Chefs in jene gewalttätige Auseinandersetzung geraten ist. Und dann beginnt er auch noch eine nicht ganz uneigennützige Beziehung mit der Jungbäuerin Marie-Lise (Maïwène Barthélemy), der Schwester seiner Intimfeinde.

Die Beziehungen, ihre psychischen Dynamiken sowie die ländlichen Schauplätze sind in der überschaubaren Handlung von Louise Courvoisiers vitalem und sehr realistischem Film eng miteinander verfugt. Dabei beinhaltet er auch dokumentarische Passagen, etwa wenn die Geburt eines Kalbes, ein Stockcar-Rennen oder auch die Käseherstellung gezeigt werden. Vor allem letzteres wird für Totone zur selbst gestellten, ehrgeizigen Aufgabe, als er in mehreren Anläufen und mit unlauteren Tricks versucht, einen Comté herzustellen, um die hochdotierte Medaille zu gewinnen. Zwar scheitert er immer wieder und scheint dabei zunächst jeglichen Rückhalt zu verlieren; er wächst aber auch an seinen Verlusten und kleinen Erfolgen; und schließlich findet er fast verschämt und mit einem Augenzwinkern zu seinen Freunden und Beziehungen zurück.

A Real Pain

(USA/PL 2024, Regie: Jesse Eisenberg)

Reise ins paralelle Leben
von Wolfgang Nierlin

Benjamin Kaplan (Kieran Culkin) sitzt bereits seit Stunden zwischen den dicht gedrängten Menschen in der Wartehalle des New Yorker Flughafens. Man sehe hier verrückte Leute entgegnet er seinem verwunderten Cousin …

Benjamin Kaplan (Kieran Culkin) sitzt bereits seit Stunden zwischen den dicht gedrängten Menschen in der Wartehalle des New Yorker Flughafens. Man sehe hier verrückte Leute entgegnet er seinem verwunderten Cousin David (Jesse Eisenberg), der gestresst und mit Verspätung eintrifft. Das lässt tief blicken. Denn schon bald zeichnet sich ab, dass der so locker, kommunikativ und irritierend angriffslustige junge Mann ziemlich einsam und verloren ist. Sein direktes, aufgedrehtes Verhalten wirkt nicht immer lustig und gelegentlich sogar peinlich, wofür sich David fremdschämt. Dessen widersprüchliche Gefühle für den verhaltensauffälligen „Benji“ schwanken zwischen Bewunderung und Ablehnung. Seit ihrer Kindheit sind die beiden ungleichen Cousins füreinander wie Brüder. Doch während der neurotisch, zurückhaltend und unsicher wirkende „Dave“ mittlerweile verheirateter Familienvater ist und in der Online-Werbung jobbt, ist Benji arbeitslos und seit dem Tod seiner geliebten jüdischen Großmutter auf sich allein gestellt.

Deren Wunsch war es, dass die beiden eine gemeinsame Reise in die schmerzliche Vergangenheit der Familie unternehmen. Und so fliegen sie nach Polen, um sich dort für ihre Spurensuche einer kleinen, geführten Reisegruppe anzuschließen. In Warschau besichtigen sie das ehemalige, heute von funktionaler Architektur umstellte Ghetto, in Lublin besuchen sie einen alten jüdischen Friedhof und in dem nur wenige Kilometer entfernten Majdanek das Konzentrationslager. Aus der spürbaren Betroffenheit entsteht vor allem bei dem sensiblen Benji immer wieder ein tiefes Unbehagen. Das hat nicht nur mit seinem Status als Tourist und einem eher oberflächlichen Ausflug in die Geschichte zu tun, sondern vor allem mit seinem Empfinden geteilten Leids sowie mit einem Bewusstsein für die geschichtlichen Zufälle und Relativitäten des Lebens. Als die beiden Cousins schließlich in einem Hinterhof das ehemalige Haus ihrer Großmutter finden, die einst das KZ überlebt hat, scheint das Entsetzliche längst unter einer trivialen Alltagsnormalität begraben.

Jesse Eisenbergs tragikomisches Roadmovie zu Stationen der Vergangenheit zeigt die durch den touristischen Blick modellierte Geschichte als etwas weit Entferntes, fast Fremdes. Als emotionales Korrektiv dazu fungieren die Gespräche und Erlebnisse der Mitreisenden. Vor allem übersetzt der Film aber die äußere Bewegung der Protagonisten in ihrer Begegnung mit der nachwirkenden Historie in eine innere Bewegung, die das Verhältnis der beiden reflektiert und es immer wieder neuen Spannungen aussetzt. So handelt „A real pain“, fast durchgehend mit Chopinscher Klaviermusik unterlegt, von leidgeprüfter Nähe und einer schier unüberwindlichen Distanz in einer Freundschaft, die ihren Ursprung in einer gemeinsamen Familiengeschichte hat. Denn am Ende kehrt der Film zu Benjis Einsamkeit in der Abflughalle des New Yorker Flughafens zurück.

Queer

(IT/USA 2024, Regie: Luca Guadagnino)

Sehnsucht nach Verschmelzung
von Wolfgang Nierlin

Während die Kamera verstreut arrangierte Reiseutensilien und persönliche Dinge in den Blick nimmt, singt Sinéad O‘ Connor den Nirvana-Song „All Apologies“. Zigaretten, Bücher, leere Gläser, eine alte Schreibmaschine, Fixerbesteck und …

Während die Kamera verstreut arrangierte Reiseutensilien und persönliche Dinge in den Blick nimmt, singt Sinéad O‘ Connor den Nirvana-Song „All Apologies“. Zigaretten, Bücher, leere Gläser, eine alte Schreibmaschine, Fixerbesteck und eine Pistole deuten auf den drogensüchtigen Schriftsteller William Lee (Daniel Craig). In Luca Guadagninos Film „Queer“, einer Adaption des gleichnamigen autobiographischen Romans von William S. Burroughs, verkörpert er das Alter Ego des legendären Beat-Schriftstellers. Zu Beginn der 1950er Jahre streift Lee, der wegen seiner einmal als Krankheit bezeichneten Sucht die Staaten verlassen musste, durch die Bars eines Vergnügungsviertels von Mexiko-Stadt. Im hellen Leinenanzug, mit Fedora und Pistolenhalfter pendelt er zwischen den Lokalen, mit hungrigen Augen immer auf der Suche nach einem sexuellen Abenteuer oder ein bisschen Liebe. Doch Lee hat wenig Glück; er wirkt deprimiert, enttäuscht und einsam. Er hadert mit seinem Alter und mit seiner homosexuellen Existenz: „Ich bin nicht queer, ich bin körperlos.“ Dabei ist sein physischer Auftritt sehr männlich. Er raucht unablässig und trinkt ziemlich viel; und in einem besseren Moment gelingt es ihm, einen jungen Mann abzuschleppen.

Etwas ändert sich, als er dem jungen Ex-Soldaten und Journalisten Eugene Allerton (Drew Starkey) begegnet. Luca Guadagnino inszeniert ihre Kontaktaufnahme in Zeitlupe und mit einem gedehnten, von Rockmusik begleiteten Blickwechsel, der symbolträchtig einen Hahnenkampf kreuzt. Überhaupt interessiert sich der italienische Regisseur mehr für eine dezidiert künstliche Atmosphäre aus schwüler, schweißtreibender Luft, goldenem Licht und warmen Farben als für Handlungslogik und Figurenpsychologie. Viel erfährt man nicht über die beiden. Ihre Vergangenheit und persönlichen Hintergründe werden ausgespart. Ihre Motive bleiben äußerlich und in der Inszenierung oft auch klischeehaft. Lee verliebt sich und wirkt dabei unsicher und ungeschickt, zumal Allerton ihre ambivalente Beziehung merkwürdig und vielleicht berechnend in der Schwebe hält. Ihren Höhepunkt erreicht Lees unerfüllte, vielleicht unstillbare Sehnsucht schließlich, als er, unter Entzugserscheinungen von einem heftigen Schüttelfrost gepackt, der körperlichen Nähe des Freundes bedarf.

Im zweiten des in drei Kapitel und einen Epilog gegliederten Films unternehmen die beiden auf der Suche nach der sagenumwobenen Droge Yagé einen Trip in den Regenwald. Lee erhofft sich von ihr telepathische Kräfte und vielleicht auch ein Antidot gegen seine Opiat-Sucht. Der Film selbst verlässt hier auf teils skurrile, teils rauschhaft Weise, in die auch Alpträume eingebunden sind, immer deutlicher die raum-zeitliche Ordnung. Einmal heißt es, die Droge wirke wie ein Spiegel, also als ein Mittel für eine – möglicherweise unangenehme – Selbsterkenntnis. Im Ayahuasca-Rausch sieht Lee, wie sein Körper, als wäre er eine leere Hülle, mit demjenigen Allertons verschmilzt. Für einen langen, magischen Moment scheint die Trennung aufgehoben und die ersehnte Einheit vollzogen. Doch was ihm im Drogenrausch gelingt, wird von der Wirklichkeit wieder aufgehoben.

The Village Next to Paradise

(FR/AT/SO 2024, Regie: Mo Harawe)

Die Kraft menschlichen Zusammenhalts
von Wolfgang Nierlin

Die Nachrichten berichten von einem amerikanischen Drohnenangriff, bei dem im Süden von Somalia ein Anführer der islamistischen Terror-Miliz Al-Shabaab getötet wurde. Nach diesem dokumentarischen Anfang hebt ein Totengräber mit seiner …

Die Nachrichten berichten von einem amerikanischen Drohnenangriff, bei dem im Süden von Somalia ein Anführer der islamistischen Terror-Miliz Al-Shabaab getötet wurde. Nach diesem dokumentarischen Anfang hebt ein Totengräber mit seiner Schaufel ein Grab für den Getöteten in der steinigen und staubigen Einöde aus, während ein kräftiger Wind vom Meer her über das Geröllfeld zieht. Der schweigsame Mamargade (Ahmed Ali Farah), der sich als Tagelöhner mit wechselnden Jobs durchschlägt, wird für seine Arbeit schlecht bezahlt. Die vielen, zu Bündeln geschnürten Geldscheine sind offensichtlich wenig wert. Es wird gehandelt und gefeilscht. Man teilt, was man hat, oder macht Schulden. Armut und Tod sind allgegenwärtig. Anderntags übernimmt Mamargade einen Lebensmitteltransport, mit dem illegal Waffen und Munition geschmuggelt werden. Was der gutmütige Fahrer darüber weiß, ist nicht ganz klar. Später kehrt er in sein Dorf am Meer zurück, das Paradies heißt und hauptsächlich aus Wellblechhütten besteht.

Ruhig und mit genau komponierten Bildern beobachtet Mo Harawe in seinem Langfilmdebüt „The Village Next to Paradise“ den prekären, trostlosen Alltag seiner Protagonisten, die von Laien gespielt werden. Der sorgsam und authentisch gestaltete Einblick in weitgehend unbekannte Lebensverhältnisse fungiert dabei als Korrektiv zu den Nachrichtenbildern des Anfangs. Krieg und Terror werden nur in Andeutungen und zwischen den Zeilen vermittelt, auch wenn sie die gesellschaftliche Ordnung längst untergraben haben. Stattdessen zeigt der somalische Regisseur den Zusammenhalt in Familien- und Clan-Strukturen, die das Fehlende und Verlorengegangene ersetzen und für soziale Einbindung sorgen. So lebt Mamargade in einer Art Patchworkfamilie zusammen mit seinem kleinen Stiefsohn Cigaal (Ahmed Mohamud Saleban), der seine Mutter verloren hat, sowie mit seiner Schwester Araweelo (Anab Ahmed Ibrahim), die als Näherin arbeitet und sich gerade von ihrem Mann trennt.

Gleichmütig und wortkarg leben die Familienmitglieder scheinbar nebeneinander her. Doch dazwischen gibt es immer wieder Momente von Nähe und Zuneigung, etwa wenn Vater und Sohn zusammen spielen oder gemeinsam ihre Füße ins Meer strecken. Weil immer öfter der Unterricht ausfällt, bis die Schule schließlich ganz geschlossen wird, entscheidet sich Mamargade, sein Kind ins städtische Internat zu geben. Zwar wehrt sich Cigaal zunächst, doch dann fügt er sich in sein Schicksal. In der fremden Umgebung verliert er seine Träume, doch er darf auch wachsen – wie der Baum, der bei seinem Eintritt ins Internat für ihn gepflanzt wird. Auch für Araweelo eröffnet sich eine neue Perspektive, als sie endlich ein eigenes, kleines Schneideratelier eröffnen kann. Nur Mamargade erscheint trotz oder gerade wegen seiner Hilfsbereitschaft hoffnungslos gefangen zu sein. Er habe stets einen Schritt nach vorne machen wollen, dabei aber immer alles vermasselt, entschuldigt er sich. Doch was er als Determination empfindet, wirkt schließlich als Kraft des Ausgleichs.

Armand

(NO/NL/DE/SE 2024, Regie: Halfdan Ullmann Tøndel)

Armand
von Marit Hofmann

„Gibt es ein festgelegtes Prozedere?“, will die junge Lehrerin Sunna wissen. Gegenüber seinen Eltern soll ein Sechsjähriger seinen Klassenkameraden Armand eines sexualisierten Übergriffs bezichtigt haben. Der Rektor bescheidet Sunna ausweichend, …

„Gibt es ein festgelegtes Prozedere?“, will die junge Lehrerin Sunna wissen. Gegenüber seinen Eltern soll ein Sechsjähriger seinen Klassenkameraden Armand eines sexualisierten Übergriffs bezichtigt haben. Der Rektor bescheidet Sunna ausweichend, man müsse vorsichtig vorgehen, da Elisabeth, die Mutter des Beschuldigten (der norwegische Schauspielstar Renate Reinsve spielt einen norwegischen Schauspielstar), eine öffentliche Person sei. Gleichzeitig lässt die Schulleitung durchblicken, man müsse das Ganze irgendwie schnell vom Tisch bekommen: „Was durch ist, ist durch.“

Mit einem derart nebulösen Briefing entsenden die Vorgesetzten die unsichere, aber hoch motivierte Sunna in den Kampf, der da heißt: Elterngespräch. Das ähnelt – aus Verlegenheit und Angst vor inkorrektem Verhalten – einem Tänzeln um den heißen Brei, das in einen Filmgeschichte schreibenden ausufernden Lach- und Weinkrampf der vermeintlichen Angeklagten Elisabeth mündet.

Die gekonnt inszenierte erste Hälfte des klaustrophobischen Kammerspiels am Tatort Schule erinnert zunächst mehr an den Witz von Roman Polanskis Komödie „Der Gott des Gemetzels“ (2011) als an lker Çataks jüngeres Drama „Das Lehrerzimmer“. Auch „Armand“ beschränkt sich auf die reichlich kindisch agierenden Erwachsenen, während die Schüler außen vor bleiben.

Der Vorfall zwischen den Kindern könne, erläutert Regisseur und Drehbuchautor Halfdan Ullmann Tøndel, „völlig unschuldig oder sehr ernst sein – je nachdem, wie man ihn betrachtet und wie man ihn in den Kontext einordnet“. Es gehe „in dem Film viel mehr darum (…), wie wir als Erwachsene unsere eigenen Realitäten konstruieren, damit sie mit der Wahrnehmung unserer Identität und unseres Lebens übereinstimmen, als um eine Geschichte über einen Konflikt zwischen zwei kleinen Jungen.“ Der Enkel des schwedischen Filmberserkers Ingmar Bergman und der norwegischen Schauspielerin und Regisseurin Liv Ullman hat selbst lange an einer Grundschule gearbeitet und dabei erlebt, „wie jedes Verhalten von Kindern oder ihren Eltern, das auch nur ein bisschen außerhalb der Norm lag, fast schon verpönt war und sehr genau beobachtet wurde“.

In den Unterbrechungen seiner filmischen Krisensitzung an der Institution Schule entwickeln sich anders geartete, vertraulichere Begegnungen und neue Konstellationen zwischen einzelnen Beteiligten und Unbeteiligten auf dem Flur, in den Waschräumen und anderen von Pål Ulvik Rokseths Kamera betörend eingefangenen, abendlich verträumten Funktionsräumen. So nähert sich etwa der Vater des vermeintlichen Opfers der Kontrahentin Elisabeth an, und deren Gefühlslage bricht sich in einem besenbewehrten Tanz mit dem Putzmann Bahn. In einer weiteren surrealen Sequenz umgarnt eine Elternmeute den Star zum Anfassen und mutiert zum übergriffigen Mob.

Nicht nur in der Schuldfrage sieht sich die Zuschauerin jedoch am Ende getäuscht, sondern auch in der Erwartung, einen in sich stimmigen Film zu sehen. Leider entzaubert Ullmann Tøndels Drehbuch „Armand“ mit immer detaillierteren und komplizierteren Informationen zur Vorgeschichte seines Personals, die sich nicht aus dem Geschehen entwickeln. Aus Uneindeutigkeit und Offenheit, die Raum zum Denken und Tanzen lassen, wird ein allzu festgelegtes Prozedere.

Ob das auch der Grund dafür war, dass der 34-Jährige sein Projekt erst umsetzen konnte, als die von ihm vorgesehene Hauptdarstellerin Renate Reinsve 2021 mit „Der schlimmste Mensch der Welt“ in Cannes Erfolge feierte? Ob es vor allem sein Name war, der dem Bergman-Enkel die Camera d’Or für das beste Debüt in Cannes eingebracht hat? Wie sagte noch der Rektor: „Was durch ist, ist durch.“ Zu hoffen bleibt, dass Ullmann Tøndel mit seinem Können in kommenden Projekten fokussierter umgeht.

Dieser Text erschien zuerst am 16.01.2025 in: ND

Misericordia

(FR 2024, Regie: Alain Guiraudie)

Die Macht der Begierde
von Wolfgang Nierlin

Unter strahlend blauem Himmel geht die Fahrt, aus subjektiver Perspektive aufgenommen, über zunächst hügeliges, dann zunehmend gebirgigeres Land. Auf schmalen, kurvigen Straßen erreicht der junge Jerémie (Félix Kysyl), der aus …

Unter strahlend blauem Himmel geht die Fahrt, aus subjektiver Perspektive aufgenommen, über zunächst hügeliges, dann zunehmend gebirgigeres Land. Auf schmalen, kurvigen Straßen erreicht der junge Jerémie (Félix Kysyl), der aus Toulouse anreist, das südfranzösische Dorf Saint-Martial in den Cevennen. Hier besucht der Rückkehrer die Beerdigung des verstorbenen Bäckermeister Jean-Pierre, bei dem Jérémie einst in die Lehre ging und in den er heimlich verliebt war. Er habe „die Berufung, Brot zu schenken“ gehabt, sagt der Pfarrer (Jacques Develay) bei seiner Ansprache vor dem offenen Grab. Der Tod sei aus christlicher Sicht als „Übergang ins Reich der Liebe und des Lichts“ zu verstehen. Jérémie, über den man nur erfährt, dass er seit kurzem arbeitslos ist und sich gerade von seiner Freundin trennt, ist sichtlich gerührt. Die Witwe Martine (Catherine Frot), die den jungen Mann offensichtlich mag, lädt ihn ein, noch ein paar Tage zu bleiben und sich zu überlegen, ob er eventuell die Bäckerei übernehmen wolle. Auf diese Avancen reagiert ihr verheirateter Sohn Vincet (Jean-Baptiste Durand) mit Eifersucht.

Die Gefühle des leicht erregbaren, latent aggressiven Heißsporns gehen aber in verschiedene Richtungen. Denn entgegen dem Anschein und trotz seiner Abwehr richtet sich sein Begehren auch auf Jérémie. Dieser wiederum sucht die Nähe zu dem alleinstehenden, außerhalb des Dorfes wohnenden Bauer Walter (David Ayala). Beobachtet wird der Beziehungsreigen wiederum von Pfarrer Grisolles. Der ebenso kluge wie aufgeschlossenen Geistliche, der als heimlicher Zeuge permanent zur Stelle ist, hegt seinerseits eine versteckte Liebe zu dem mysteriösen Ankömmling, der wie der Gast in Pasolinis „Teorema“ die Emotionen und sexuellen Energien der affizierten Figuren in einen Taumel zwischen Scham und Offenbarung versetzt. Bei wiederholten Spaziergängen im Wald, wo Jérémie erfolglos nach Pilzen sucht, kommt es schließlich zum gewalttätigen Konflikt, der einen kriminalistischen Plot nach sich zieht.

Mit der Aufklärungsarbeit der Polizei und ihrer Suche nach der Wahrheit inszeniert Alain Guiraudie in seinem neuen Film „Misericordia“ vordergründig zwar eine Detektivgeschichte. In zweiter Hinsicht geht es dem renommierten französischen Regisseur aber immer deutlicher um ein vielfältiges, auf der Figurenebene eng verzahntes homosexuelles Begehren, um unterdrückte Lust und überraschend offene Bekenntnisse. Die fast theaterhafte Anordnung der Protagonisten bewirkt, dass sich diese fortwährend begegnen und wechselseitig beobachten; und zwar bevorzugt nachts und im Wald, was dem Film eine merkwürdig somnambule, zeitlich entrückte Stimmung verleiht. Als Subjekt des Begehrens wird Jérémie gleich mehrfach zum Stellvertreter, was sich auch in Äußerlichkeiten symbolhaft spiegelt, etwa wenn er Vincents Zimmer bezieht, in dessen Bett schläft oder die Kleider des Verstorbenen trägt. Mit einer Mischung aus tragischen und komischen Elementen hinterfragt Guiraudie in der Auseinandersetzung mit seiner Hauptfigur aber auch die moralische Ordnung und den Schuldbegriff. Dabei trägt er mitunter dick auf, lässt hinter dem notwendig verborgenen und Unausgesprochenen aber auch auch provozierend Abgründiges aufblitzen.

September 5 – The Day Terror Went Live

(DE 2024, Regie: Tim Fehlbaum)

Auf dem Bildschirm
von Jürgen Kiontke

Einen ungewöhnlichen Blick auf das Olympia-Attentat 1972 in München zeigt Tim Fehlbaum in seinem neuen Film „September 5 – The Day Terror Went Live“. Die Ereignisse, die zu dem Tod …

Einen ungewöhnlichen Blick auf das Olympia-Attentat 1972 in München zeigt Tim Fehlbaum in seinem neuen Film „September 5 – The Day Terror Went Live“. Die Ereignisse, die zu dem Tod von elf Mitgliedern der israelischen Delegation und fünf palästinensischer Geiselnehmer führten, werden ausschließlich aus der Perspektive von TV-Journalisten geschildert, die zu der Zeit in der Sportredaktion des Fernsehsenders ABC arbeiteten.

1972 finden die Olympischen Spiele in München statt; Deutschland will sich als Ausrichter weltoffen präsentieren. Die letzten Olympischen Spiele, die es hierzulande gab, standen unter dem Zeichen des Nationalsozialismus im Jahr 1936: Jüdische Sportler waren bereits aus den Verbänden aussortiert, 1935 wurden die antisemitischen Rassengesetze erlassen. Nichts soll an die düsteren Zeiten erinnern. Bisher ist es eine lockere Veranstaltung. Und ausgerechnet im Olympischen Dorf überfällt ein palästinensisches Kommando die israelische Olympia-Delegation. Gefordert wird die Freilassung von 200 Inhaftierten in Israel und freies Geleit.

Das Team um die TV-Sport-Leute Roone Arledge und Geoff Mason nimmt die Arbeit auf. Fehlbaum inszeniert die Ereignisse als Kammerspiel im TV-Studio: Hektik, Trubel, schnelle Entscheidungen: Außer den Produzenten und Technikern steht die deutsche Dolmetscherin Marianne Gebhardt im Zentrum. Schon früh sehen sich Redakteure und Manager mit den möglichen Folgen ihrer Arbeit konfrontiert. Schlagartig wird ihnen klar, dass sie mit ihrer Berichterstattung die teils hilflosen und dilettantischen Aktionen der deutschen Polizei ins Apartment der Geiselnehmer und ihrer Opfer senden. Es wird nicht ihr einziger Fehler sein.

Ab wann ist der berichtende Journalist ein Teilnehmer des Geschehens, der mit seiner Arbeit Einfluss auf den Lauf der Dinge nimmt? Wie ist das mit der Verantwortung? Es gehe um Emotionen, nicht um Politik, sagt der ABC-Manager. Das reicht aber selbst den Sportreportern nicht. Sie wissen, dass ihre Fehler und ihr Ehrgeiz womöglich eine Katastrophe herbeiführen. Manche zögern, aber: Nichtberichten ist für die Journalisten keine wirkliche Alternative.

Fehlbaum lässt seine Akteure von der Leine, vertraut ihrem intuitiven Spiel, und die Darsteller liefern hervorragende Arbeit ab. Dokufiction-Elemente klären die Sachfragen.

Universal Language

(CA 2024, Regie: Matthew Rankin)

Solidarisch gegen die Realität
von Wolfgang Nierlin

Das analoge 16-mm-Filmmaterial und der Produktionshinweis im Vorspann vermitteln einen verspielt ironischen Anachronismus und sind zugleich eine Reminiszenz an das iranische Kino, wo ähnliche Sätze vor allem in Filmen der …

Das analoge 16-mm-Filmmaterial und der Produktionshinweis im Vorspann vermitteln einen verspielt ironischen Anachronismus und sind zugleich eine Reminiszenz an das iranische Kino, wo ähnliche Sätze vor allem in Filmen der 1970er und 80er Jahre auf die staatliche Förderung hinwiesen: „Eine Vorführung des Winnipeg-Instituts für die intellektuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Im Namen der Freundschaft“, heißt es also zu Beginn von Matthew Rankins surrealer Komödie „Universal Language“.

In Erinnerung an Abbas Kiarostamis Film „Wo ist das Haus meines Freundes?“ beginnt diese auch prompt in einem Klassenzimmer, in dem die Kinder toben, bis der verspätet eintreffende Lehrer sie mit autoritärer Strenge lautstark diszipliniert. Der Film scheint in einer entfernteren Zeit und in einer iranischen Community der kanadischen Stadt Winnipeg zu spielen. Denn die selbstbewussten, wenig eingeschüchterten Kinder sprechen Farsi und sollen Französisch lernen, obwohl man hier überwiegend Englisch spricht. Er wolle aus ihnen bessere Menschen machen, erklärt er Lehrer mit pädagogischem Furor. Doch das sei ein hoffnungsloses Unterfangen, weil seine Schützlinge offensichtlich an der Realität scheiterten. „Wir sind für immer verloren in dieser Welt“, sprechen diese daraufhin im Chor.

Bereits in diesen ersten Szenen steckt der ganze poetische Reichtum von Matthew Rankins sprachlicher Ironie und vor allem einem sehr eindrücklichen und filmisch komplexen visuellen Witz. So beobachtet die erste lange, statische Kameraeinstellung das Klassenzimmer als Fensterausschnitt von außen; klein und an den unteren, rechten Rand gesetzt, zeigt das Bild ein Backsteingebäude, das in mehrere Rechtecke gegliedert ist. Das Zentrum erscheint also am Rande. Distanz und Nähe, Einsamkeit und Gemeinschaft werden im Folgenden immer wieder neu vermessen. Dabei spielt eine merkwürdige, prägnant brutalistische Architektur aus mächtigen Mauern, die in braune, beige und graue „Bezirke“ aufgeteilt sind, eine wesentliche Rolle. Die dezentrale Bildaufteilung im Verbund mit einer unkonventionellen Montage, die den Informationsfluss verzögert sowie eine unwirtliche winterliche Atmosphäre aus Kälte und Schnee verstärken das Gefühl der Verlorenheit. Abgefedert wird dieses freilich durch einen Humor, der mit seinen skurrilen Begebenheiten, absurden Dialogen und visuellen Späßen an die Filme von Elia Suleiman, Roy Andersson oder auch Aki Kaurismäki erinnert.

Matthew Rankin hat seinen kunstvollen Film als „autobiographische Halluzination“ bezeichnet und verknüpft darin mehrere, zunächst lose erscheinende Episoden zu einem Zusammenhang wiederkehrender Figuren und Motive. Die Heimkehr eines vom Regisseur selbst gespielten desillusionierten, ja lebensmüden Regierungsbeamten namens Matthew, der von Montréal nach Winnipeg reist, verbindet sich mit der Geschichte von zwei Schülerinnen, die unter einer Eisschicht einen Geldschein entdecken und sich auf die Suche nach einem Werkzeug machen, um diesen aus dem Dauerfrost zu lösen. Sie wollen damit die scheinbar verlorene, tatsächlich aber von einem Truthahn verschleppte Brille eines Schulkameraden refinanzieren. Beansprucht wird das Geld aber auch von dem Fremdenführer Massoud (Koautor Pirouz Nemati), der nicht nur – touristisch betrachtet – „sinnlose“ Stadtführungen anbietet, sondern auch Matthews Mutter beherbergt.

Während sich die Figuren, von anderen Begebenheiten flankiert, in Abschweifungen und Zeitschleifen kontinuierlich aufeinander zubewegen, finden Ausgleichsprozesse statt. Geschichten verbinden sich, Figuren finden zueinander und tauschen sich aus, ein Gleichgewicht der Kräfte, so scheint es, wird wider allen zeitgeistigen Pessimismus hergestellt. Denn Rankin träumt mit seinem Film auf sehr originelle Weise von menschlichem Zusammenhalt und einer „universellen Solidarität“.

Die Saat des heiligen Feigenbaums

(FR/DE/IR 2024, Regie: Mohammad Rasoulof)

Der furchtbare Richter
von Jürgen Kiontke

Es ist eine regelrechte Hatz: Ein Richter jagt seine eigene Familie wie besessen durch eine verlassene Wüstensiedlung, um seine Dienstwaffe wiederzubekommen, die Frau und Töchter ihm entwendet haben. Er ist …

Es ist eine regelrechte Hatz: Ein Richter jagt seine eigene Familie wie besessen durch eine verlassene Wüstensiedlung, um seine Dienstwaffe wiederzubekommen, die Frau und Töchter ihm entwendet haben. Er ist bereit, alles zu tun, um ihnen den Revolver abzunehmen und die verletzte Ordnung wiederherzustellen; die Jagdszenen wirken wie die iranische Version von „Shining“.

Der iranische Staatsanwalt Iman (Missagh Zareh), die zentrale Figur in Mohammad Rasoulofs Familien­drama „Die Saat des heiligen Feigenbaums“, ist eigentlich ein bedächtiger Mann. Es geht ihm, seiner Frau Najmeh (Soheila Golestani) und den Töchtern Rezvan (Mahsa Rostami) und Sana (Setareh Maleki) eigentlich nicht schlecht. Mehr Geld und eine größere Wohnung wären gut, klar, aber zumindest ließen ihn die Behörden bislang mehr oder weniger in Ruhe.

Im Jahr 2022 wird Iman zum Ermittlungsrichter am Revolutionsgericht in Teheran berufen, ein wichtiger Posten. Auf den Straßen wird protestiert, nachdem die junge Jina Mahsa Amini auf einer Polizeiwache gestorben ist. Sie wurde von der Religionspolizei festgenommen, weil sie ihren Schleier nicht richtig ge­tragen haben soll. Die Ereignisse überschlagen sich, „Frauen, Leben, Freiheit!“ – täglich finden Demonstrationen statt. Der Staat schlägt rigoros zu, Demonstranten werden verhaftet und manche umgehend hingerichtet.

Die Akten gehen über Imans Tisch. Bisher hat der akribische Beamte genau darauf geachtet, in welchen ­Fällen er Ermittlungen einleitet. Jetzt wird der Ablauf recht übersichtlich: Der leitende Staatsanwalt diktiert ihm, wie er zu urteilen hat. Fortan zeichnet er Todesurteile und hohe Haftstrafen ab – das Aktenstudium erübrigt sich. Abgefertigt wird wie am Fließband: Wenn Iman abends nach 14 Stunden Dienst nach Hause kommt, hat er Hunderte Menschen an den Galgen gebracht – der furchtbare Richter als Intensivtäter.

Nebenbei lässt man ihn wissen, dass der Vorgesetzte ihn nur auf die Stelle befördert hat, um ihn besser überwachen und rausschmeißen zu können, falls er nicht spurt. Viele Anwärter stünden schon Schlange für seinen Posten. Arbeit ist Arbeit, sagen die Kollegen. Iman erhält eine Dienstwaffe, um sich selbst zu schützen, denn die Gegner des Regimes recherchieren und veröffentlichen Privatadressen von Regierungsbeamten und Justizmitarbeitern. Als Imans Daten geleakt werden, bekommt er es mit der Angst um seine Familie zu tun.

Seine Frau Najmeh bestärkt ihn in seinem Mitläufertum. Sie hat ein sehr pragmatisches Verhältnis zu der Arbeit ihres Ehemanns – die Rolle ähnelt der von Sandra Hüller gespielten Hedwig, der Frau des KZ-Leiters Rudolf Höß, in Jonathan Glazers „The Zone of ­Interest“. Es gilt, das höhere Gehalt, die größere Wohnung und überhaupt das gewonnene An­sehen zu verteidigen. Deshalb übt sie Druck auf die beiden Töchter Rezvan und Sana aus. Die jungen Frauen sympathisieren mit der Protestbewegung und sind erschüttert über die Brutalität, die die Ordnungskräfte bei der Niederschlagung der Revolte an den Tag legen. Sie selbst dürfen nur noch mit Hijab auf die Straße oder besser gar nicht, Fotos auf Social Media sind untersagt, ein Fehlverhalten der Töchter würde umgehend Konsequenzen für den Vater haben. Als eines Tages eine Freundin der beiden schwer verletzt Zuflucht in der Wohnung der Familie sucht, spitzt sich der Konflikt zu Hause zu. Und dann ist auch die Waffe von Imans Nachttisch verschwunden. Der Richter bekommt zunehmend den Druck des Regimes zu spüren, aber auch den Widerstand seiner Töchter. Bald entlädt sich die Spannung innerhalb der Familie in Gewalt.

Der Titel des Films spielt auf die besondere Bedeutung des Feigenbaums im Koran an, der als ein Symbol der Erschaffung des Menschen, seiner moralischen Verantwortung und eines kommenden Gerichts gilt. Durch den Kot der Vögel, die von seinen Früchten naschen, pflanzt sich der Baum in anderen Gebieten fort. Rasoulof versteht sich darauf, parabelhaft zu erzählen. In seinen Filmen geben dabei die Todesstrafe und das iranische Justizsystem die Koordinaten vor.

Seit 15 Jahren gehöre die Zensur zu seinem Alltag, sagt Rasoulof im Interview. „Sicherheitsbehörden, Richter, Justizangestellte – das ist meine Welt.“ Zensur, Hausarrest und Haftstrafen hat er hinter sich. Im Juli 2022 wurde er inhaftiert, kurzzeitig freigelassen, nur um dann zu acht Jahren Haft und Stockschlägen verurteilt zu werden. Er konnte fliehen und hält sich derzeit in Deutschland auf. Zwischenzeitlich besuchte er die Ukraine als Juror des Kyiv International Film Festival. Seine Botschaft: Nicht alle Iraner stehen dahinter, dass das Regime der russischen Armee Drohnen zur Verfügung stellt, um die Ukraine zu bombardieren. Er sei durch die Repressalien vertraut mit Menschen, die im Justiz­apparat des Iran arbeiten. Vorbild für die Figur des Iman sei ein Angestellter gewesen, den er während seiner ­Inhaftierung im Teheraner Evin-Gefängnis kennengelernt und der dem Regime distanziert gegenübergestanden habe.

„Es war für mich ebenso interessant wie merkwürdig, die Aspekte menschlichen Verhaltens im Film auszuloten“, sagt Rasoulof. Warum gibt ein Mensch sich selbst auf, sei die zentrale Frage bei der Zeichnung eines typischen Mitläufers. Rasoulofs Überlegung: Würden diese Menschen in einem demokratischen System arbeiten, würden vielleicht nicht alle, aber viele menschlich korrektes Verhalten zeigen.

Sein neuer Film, der die Zerrissenheit eines Staatsbediensteten abbildet, ist weder so hart in der Bildsprache noch in der Handlung so punktgenau zugespitzt wie dies in seinem vorigen Werk der Fall war, dem Episodenfilm „Doch das Böse gibt es nicht“ (2020), für den Rasoulof mit dem Goldenen Bären auf den Berliner Filmfestspielen ausgezeichnet wurde. Das mag den schwierigen Produktionsbedingungen im Iran geschuldet sein: Die Dreharbeiten mussten im Verborgenen stattfinden und dauerten von Ende Dezember 2023 bis März 2024. Kurze Zeit später tauchte Rasoulof unter und floh.

„Die Saat des heiligen Feigenbaums“ ist ein ebenso zynischer wie künstlerisch eindrucksvoller Kommentar zur Protestbewegung und ihrer gewaltsamen Niederschlagung. Originalaufnahmen von blutigen Straßenkämpfen werden mit den fiktiven Szenen zusammengeschnitten. Rasoulof und seine Mitarbeiter, zu denen auch seine Tochter Baran gehört, haben im Wortsinn Kopf und Kragen riskiert für einen Film, der geradewegs aus dem Innern des iranischen Protests kommt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in: Jungle World 51/2024

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Die Saat des heiligen Feigenbaums“.

All We Imagine as Light

(IN/FR/NL/LU 2024, Regie: Payal Kapadia)

Die Dunkelheit durchbrechen
von Wolfgang Nierlin

Das Seitwärtstravelling entlang einer nächtlichen Großstadtstraße zeigt dicht gedrängte Menschen, ihr geschäftiges Treiben auf Märkten und in Straßenrestaurants als permanentes Durcheinander von Bewegungen. Die Perspektive darauf kommt vielleicht aus einem …

Das Seitwärtstravelling entlang einer nächtlichen Großstadtstraße zeigt dicht gedrängte Menschen, ihr geschäftiges Treiben auf Märkten und in Straßenrestaurants als permanentes Durcheinander von Bewegungen. Die Perspektive darauf kommt vielleicht aus einem der vielen vorbeifahrenden Busse, die im Vorbeiziehen die Bewegungen verdoppeln und die allgemeine Geräuschkulisse verstärken. In diese mischen sich im Wechsel anonyme Stimmen aus dem Off, die von ihrem beschwerlichen Leben und vom stetigen Gefühl des Fremdseins berichten. Die indische Metropole Mumbai sei die „Stadt der Träume“, heißt es einmal, doch für viele werde sie zu einer „Stadt der Illusionen“. Mit einer stimmungsvollen Atmosphäre aus Dunkelheit, Regen und Bewegung evoziert Payal Kapadias Film „All We Imagine as Light“ eine fremde, nahezu undurchdringliche Welt. Mit dokumentarischem Blick etabliert sie eine vielstimmige, parataktische Erzählung, deren poetischer Realismus vom Allgemeinen zum Besonderen und von der Peripherie ins Zentrum führt.

Der nicht minder vielstimmige und chaotische Arbeitsalltag auf der gynäkologischen Station eines Krankenhauses bestimmt das Leben der Krankenschwester Prabha (Kani Kusruti). Still, geduldig, sorgsam und bestimmt widmet sie sich ihren Aufgaben und ist bei Interessenkonflikten um Ausgleich bemüht. Dabei hat sie selbst Sorgen, seit ihr Mann zum Arbeiten nach Deutschland ausgewandert ist, sich aber nicht mehr meldet. Währenddessen wird sie von einem Arzt, der sich fremd und einsam fühlt, mit Gedichten und Süßigkeiten zärtlich umworben, hält aus moralischen Gründen jedoch Abstand. Mit anfänglichem Argwohn blickt sie auch auf ihre jüngere Kollegin und Mitbewohnerin Anu (Divya Prabha), die eine heimliche Liebesbeziehung mit einem Moslem führt, während ihre Eltern für sie eine möglichst lukrative Ehe arrangieren wollen. Und dann kümmert sich Prabha noch um ihre ältere Kollegin Parvaty (Chhaya Kadam), die in der Krankenhausküche arbeitet und von Bauspekulanten aus ihrer Wohnung gedrängt wird, weshalb sie zurück aufs Land ziehen möchte.

„Dem Schicksal entgeht man nicht“, sagt Parvaty einmal nachdenklich. Kulturelle und soziale Gegensätze, moralische und sprachliche Unterschiede treffen in Payal Kapadias beeindruckendem Film unablässig aufeinander. Dabei überwindet er im Fortgang der Erzählung zunehmend die Grenzen zwischen Tradition und Moderne, Realität und Imagination. Die Bewegung der drei Freundinnen, die sich gegenseitig unterstützen und helfen, führt schließlich aus der Stadt aufs Land und damit ins Offene. Eine kleine Behausung am Meer wird für ihren gemeinsamen Aufenthalt zum Fluchtort und Refugium. In dieser „anderen Welt“ jenseits patriarchaler Strukturen und ausbeuterischer Hierarchien erwächst, beflügelt von Phantasie und weiblicher Solidarität, die Keimzelle für eine utopische Gemeinschaft. Aus der Intimität von Körper und Geist entsteht eine Weite, die das Fremde überwindet. Und für lange Augenblicke, die getragen werden vom (musikalischen) Flow stiller Melancholie, durchbricht tatsächlich das Licht die Dunkelheit.

Shikun

(FR/IL/IT/CH/BR 2024, Regie: Amos Gitai)

Das Ich und die anderen
von Wolfgang Nierlin

Der titelgebende Sozialbau mit seinem schier endlos langen Flur steht in der israelischen Stadt Be’er Sheva am Rande der Wüste Negev. Entlang einer fensterlosen Front verbindet der schmale Gang innen …

Der titelgebende Sozialbau mit seinem schier endlos langen Flur steht in der israelischen Stadt Be’er Sheva am Rande der Wüste Negev. Entlang einer fensterlosen Front verbindet der schmale Gang innen und außen, Privates und Öffentliches und wird so zu einem Ort des Übergangs. In einer sehr langen, etwa ein Drittel des Films einnehmenden Sequenzeinstellung treten Figuren und ganze Gruppen wie auf einer Theaterbühne auf und ab, nur um später wiederzukehren. In ihrer kulturellen, sozialen und sprachlichen Vielfalt repräsentieren sie die israelische Gesellschaft. Alle sind in Bewegung, niemand steht still. Mehrere Architekten streiten sich über ihre Pläne, ein Kriegsveteran verliert sich in Erinnerungen, orthodoxe Juden klagen auf Jiddisch über „seltsame Zeiten“, in einer kleinen Café-Nische treffen sich ukrainische Flüchtlinge, andernorts findet Sprachunterricht statt und in einer alten Buchhandlung finden die Traumata von KZ-Überlebenden zu einer Sprache. Einmal erklingt die Melodie von „Amazing Grace“, gespielt von einer kleinen Kapelle.

Abgelöst, unterbrochen und zusammengehalten werden diese exemplarischen Auftritte von einer Französisch sprechenden Frau, einer fremden, vielleicht unsichtbaren Beobachterin (Irène Jacob), die sich an die Zuschauer wendet, indem sie die Verhältnisse, Situationen und ihr eigenes Empfinden kommentiert. Mit tänzelndem Schritt zeigt sie sich von den menschlichen Schicksalen bewegt; zugleich erfährt sie sich selbst zunehmend in eine brutale Realität und in eine daraus resultierende Veränderung verwickelt. Gegen ihren Willen und ohne erkennbaren Zweck scheinen sich die Menschen in Nashörner zu verwandeln, was hier allerdings nur symbolisch angedeutet wird. Die sogenannte Normalität fängt an, sich dadurch aufzulösen. Schon beginnt auch der Körper der Protagonistin zu jucken. Ihr anfangs ungläubiges Erstaunen wird abgelöst von der Angst, eine andere zu werden. Doch sie wehrt sich dagegen, schlägt förmlich aus und schreit dagegen an.

Der renommierte israelische Filmemacher Amos Gitai, der sich für seinen neuen Film „Shikun“ von Eugène Ionescos absurdem, gegen totalitäre Regime gerichtetem Drama „Die Nashörner“ inspirieren ließ, verdichtet Raum und Zeit, um in einem Mikrokosmos die israelische Gesellschaft zu spiegeln. Dezidiert wendet er sich gegen einen politischen Anpassungsdruck der von Machthabern durch Angst erzeugt wird und der den individuellen Protest kritischer Geister zunehmend unterdrückt und zum Verschwinden bringt. Dagegen formuliert er in seinem theaterhaften und zugleich kreisförmigen Film mit den Worten des palästinensischen Dichters Mahmud Darwisch die Pflicht zur Verantwortung gegenüber den Mitmenschen: „Denke an die anderen!“, heißt es wiederholt. Ionesco selbst hat einmal gesagt: „Das Ich ist letztlich nicht von den anderen getrennt. Es begegnet den anderen in sich selbst.“

Die Rückkehr des Filmvorführers

(DE/FR 2024, Regie: Orkhan Aghazadeh)

Das Kino als Heilmittel
von Wolfgang Nierlin

Nur auf der steilen Anhöhe über dem kleinen, entlegenen Bergdorf im Südosten Aserbaidschans lässt sich mit etwas Glück das Internetsignal einfangen. Mit Esel und Laptop begeben sich der alte Samid …

Nur auf der steilen Anhöhe über dem kleinen, entlegenen Bergdorf im Südosten Aserbaidschans lässt sich mit etwas Glück das Internetsignal einfangen. Mit Esel und Laptop begeben sich der alte Samid und sein jugendlicher Freund Ayaz auf den beschwerlichen Weg durch den Nebel, nur um am Zielpunkt mal wieder feststellen zu müssen, dass die Verbindung zur Welt jenseits ihrer traditionellen Dorfgemeinschaft instabil ist. In der bewaldeten Region nahe der iranischen Grenze, wo die Häuser vereinzelt stehen und sich tiefe Spuren durch den Lehm der unbefestigten Wege ziehen, lebt man noch ein bäuerliches Leben im Wechsel der Jahreszeiten. Auf den Nebel folgt knietiefer Schnee; und nach den Novruz-Feierlichkeiten mit Feuern und Liedern beginnt bald der Frühling mit dem Rauchen des Wildbachs und dem Gesang der Vögel.

Für den Filmvorführer Samid, der nach vielen Jahren sein fast schon vergessenes Gewerbe wieder aufnehmen will, ist das vor allem eine Zeit angespannten Wartens. Denn um seinen gerade entstaubten und von Spinnweben befreiten, noch aus Sowjetzeiten stammenden Projektor wieder funktionstüchtig zu machen, bedarf es einer selten zu findenden Projektorlampe, die er über jenes fragile Internet schließlich bei einem Anbieter in Litauen aufspürt. In der Zwischenzeit organisiert er für die geplante Vorstellung beim skeptischen Bürgermeister den Gemeindesaal, zimmert einen Holzrahmen für die Leinwand, die von Frauen genäht wird, und lässt Veranstaltungsplakate drucken. Daneben befragt er sein potentielles, in Erinnerungen schwelgendes Publikum nach Filmwünschen. Alte, moralische Filme mit Gesang und Tanz aus der indischen Bollywood-Produktion sollen es sein.

Orkhan Aghazadeh inszeniert seinen dokumentarischen Spielfilm „Die Rückkehr des Filmvorführers“ in einem weiten, verhalten dramatischen Spannungsbogen mit Verzögerungen, Rückschlägen und einem Finale, das sich den Erwartungen entzieht. Mit einem ruhigen, nachdenklichen Erzählrhythmus schildert er das jahreszeitliche Leben im Dorf, wo man sich gegenseitig hilft, sowie den Gegensatz zwischen Tradition und Moderne. Dieser wird vor allem durch einen Ausflug von Samid in die geschäftige Hauptstadt Baku und eine beeindruckende Hochhauskulisse vor dem Kaspischen Meer visualisiert. Hier ist sein 19-jähriger Sohn Polad bei einem Unfall auf einer Baustelle tödlich verunglückt. Samids Erinnerung an diesen schmerzlichen Verlust zieht sich leitmotivisch durch den Film. Seine wiedererwachte Kinoleidenschaft lässt sich insofern auch als Heilmittel verstehen.

Diese teilt Samid mit dem jungen Ayaz, der mit seinem Handy kurze Trickfilme herstellt und sich damit bei einem Festival bewerben will. Die beiden helfen und unterstützen sich gegenseitig bei ihren Projekten mit ungewissem Ausgang und verkörpern in Aghazadehs einfühlsamem, in kunstvollen Bildern komponiertem Film gewissermaßen die romantische Seite des Kinos. Die vielen gerahmten Einstellungen nehmen dabei das Motiv der Leinwand als begrenztem Bildausschnitt der Welt auf. Auch das Leben in dem kleinen Dorf hat seine Grenzen, die immer wieder auch überschritten werden; und zwar sowohl im improvisierten Dorfkino während einer holprigen Vorstellung als auch im wirklichen Leben, wo Ayaz für Samid als eine Art Ersatzsohn zum Trost für dessen Verlust wird.

Dahomey

(FR/SN/BJ 2024, Regie: Mati Diop)

Reise aus dem Dunkel ins Licht
von Wolfgang Nierlin

Es ist Nacht in Paris. Auf einem Trottoir blinken die Lichter eines Arrangements kleiner Eiffeltürme. Auf der Seine gleitet ein Restaurantschiff ruhig durch die Dunkelheit. Im Kontrast dazu stehen die …

Es ist Nacht in Paris. Auf einem Trottoir blinken die Lichter eines Arrangements kleiner Eiffeltürme. Auf der Seine gleitet ein Restaurantschiff ruhig durch die Dunkelheit. Im Kontrast dazu stehen die statischen Bilder von Überwachungskameras. Diese zeigen mit kalter Nüchternheit die leeren, von Neonlicht gleißend hell beleuchteten Gänge eines unterirdischen Depots. Dieses gehört zum Musée du Quai Branly, dem Museum für außereuropäische Kunst. Ein Schriftinsert informiert darüber, dass von Tausenden Artefakten, die von französischen Kolonialtruppen im Jahre 1892 bei ihrer Invasion im westafrikanischen Königreich Dahomey geraubt wurden, 26 Kronschätze in ihr Herkunftsland, die heutige Republik Benin, zurückkehren werden. Dazu gehören vor allem schwere anthropozoomorphe Statuen von Königen aus bemalten Holz, Metall und Fasern sowie kunstvolle Gegenstände, mit denen an Verstorbene erinnert wird. Möglich wurde dieser Akt der Restitution, der im November 2021 stattfindet, durch eine politische Entscheidung auf höchster staatlicher Ebene.

Um diesen Vorgang der Rückgabe und Wiederaneignung eines gestohlenen und vorenthaltenen kulturellen Erbes zu dokumentieren, wählt Mati Diop mit ihrem preisgekrönten Film „Dahomey“ (Goldener Bär der Berlinale) zunächst einen atmosphärischen, poetischen Zugang. Die metaphorische Bewegung aus dem Dunkeln ins Licht, übersetzt in die Reise von Europa nach Afrika, spielt dabei eine zentrale Rolle. Mit den Worten des haitianischen Lyrikers und Romanciers Makenzy Orcel spricht das zunächst namenlose Kunstwerk mit der Nummer 26 aus dem Off, als wäre es wie ein menschlicher Geist auf geheimnisvolle Weise beseelt: „Seit ich zurückdenken kann, gab es keine Nacht, die so tief und undurchsichtig war. Hier ist sie die einzig mögliche Realität. Der Anfang und das Ende.“ Die Erfahrung von Fremde und Entwurzelung findet ihren Nachhall in diesen Sätzen, die auch von einem Emigranten stammen könnten. Wenn dann die Werke äußerst vorsichtig, fast zeremoniell in Holzkisten für den Transport verpackt werden, ähnelt das einem Bestattungsritual. „Ich verlasse das Reich der Nacht“, sagt darauf die Stimme aus dem Off auf ihrem „Weg zu mir selbst“, der aus dem „Unbenennbaren“ zurückführt an „die Oberfläche der Zeit“.

Die umjubelte Ankunft der Werke in der Hafenstadt Cotonou, wo sie zunächst im modernen Regierungssitz, dem Palais de la Marina, ausgestellt und von Staatsgästen besichtigt werden, markiert den zweiten Teil des filmischen, durch Schwarzblenden gegliederten Triptychons. Mati Diop geht es mit ihrem Film über diese historisch zu nennende Restitution allerdings nicht um einen bruchlosen Übergang, sondern um Ambivalenzen und Konflikte, die damit verbunden sind.

Im dritten Teil ihres ebenso stimmungsvoll wie analytisch zwischen Realität und Phantasie changierenden Films lässt sie deshalb Studierende der Université d’Abomey-Calavi über ihr Verhältnis zum kulturellen Erbe ihres Heimatlandes diskutieren. Dabei geht es um materielle und immaterielle Werte der Kultur, um Fragen der sozialen Teilhabe und um das Problem der Finanzierung von Museen als Orte kultureller Erinnerung. Vor allem fragen sich die jungen Menschen aber, was die Rückgabe der Werke für ihre eigene Identität bedeutet und inwieweit die Restitution, als politische Instrumentalisierung verstanden, letztlich einem kolonialen Muster folgt. Als „Gesicht der Metamorphose“, so die Off-Stimme, und als „Hall des Unendlichen“ bildet die Rückgabe der Werke allerdings den bedeutsamen Anfang eines Prozesses, der hoffentlich weitergeht und der dann allmählich auch die Menschen erreichen wird.

Veni Vidi Vici

(AT 2024, Regie: Daniel Hoesl, Julia Niemann)

Schöpferische Zerstörungskraft
von Wolfgang Nierlin

Kaum hat der Fahrradfahrer, schwer atmend und mit letzter Kraft, den Gipfel des Bergs erklommen, wird er aus dem waldigen Hinterhalt von Schüssen niedergestreckt. Der Heckenschütze flüchtet kurz darauf mit …

Kaum hat der Fahrradfahrer, schwer atmend und mit letzter Kraft, den Gipfel des Bergs erklommen, wird er aus dem waldigen Hinterhalt von Schüssen niedergestreckt. Der Heckenschütze flüchtet kurz darauf mit dem Fahrrad des Getöteten und genießt zufrieden und befreit die Abfahrt. Er profitiert gewissermaßen von der Kraftanstrengung seines Opfers und liefert damit eine Metapher für das Verhältnis von Macht und Ohnmacht, Ausbeutung und Unterdrückung. In der nächsten Szene sieht man ihn inmitten einer strahlenden feinen Gesellschaft, seiner Familie und Entourage, wie diese, in helle, weiße Freundlichkeit getaucht, zwischen Bangen und Begeisterung ein Polo-Spiel verfolgen. In Zeitlupe und von sakraler Chormusik begleitet, gewinnt das Mädchen, das foult. Die 13-jährige Paula (Olivia Groschler) verteidigt als gelehrige Schülerin ihres machtbewussten, alles und alle dominierenden mörderischen Vaters Amon Maynard (Laurence Rupp) ganz selbstverständlich und wie nebenbei aus dem Off ihre sozialdarwinistischen, menschenverachtenden Ansichten: „Ein Foul ist kein Verbrechen. Sich an Regeln zu halten, kann jeder. Dafür bin ich zu kreativ, und der Erfolg gibt mir recht.“

Die österreichischen Filmemacher Daniel Hoesl und Julia Niemann, die ihrer zynischen Gesellschaftssatire „Veni Vidi Vici“ ein Zitat der neoliberalen Vordenkerin Ayn Rand vorangestellt haben, lassen ihren ebenso bösen wie smarten Helden unter dem Stichwort „Creative Destruction“ dann auch folgerichtig von der schöpferischen Zerstörungskraft schwadronieren: „Was zählt, ist das, was sich durchsetzt.“ Das Recht des Stärkeren, rücksichtsloser Fortschrittsglaube und unbedingte Risikobereitschaft sind seine Leitsterne. Nach einer zweifelhaften Firmenübernahme ist der obszön reiche Investor, der nie arbeitet, gerade dabei, inmitten schönster Natur eine riesige Batteriefabrik zu planen. Hofiert und unterstützt wird er dabei von einer emsigen Rechtsaußenpolitikerin als Vertreterin eines „schlanken Staates“ sowie von einer willfährigen Hofberichterstattungspresse. Für seine Verdienste wird er mit dem „Ring of Disruption“ ausgezeichnet. Und für seine „Work-Life-Balance“ fährt der überzeugte Familienmensch und liebende Vater, der keinem Tier etwas zuleide tun kann, ab und zu ins Gründe, um völlig willkürlich Menschen zu erschießen.

Obwohl ihm ein alter Jagdaufseher und ein desillusionierter Journalist auf der Spur sind, kann der siegesgewisse Maynard im Zenit seiner grenzenlosen Anarchie behaupten, er komme mit allem durch. „Warum lassen die Menschen sich das gefallen?“, fragt er kalt und berechnend. Und diese Frage stellen die Filmemacher angesichts aktueller Entwicklungen, identifizierbarer Vorbilder und einer zunehmenden Konzentration von Macht und Geld in den Händen weniger auch an den Zuschauer. In präzise komponierten Bildern, mit schwarzem, abgründigem Humor und einer absurden Überzeichnung vermittelt ihr szenisch gebauter Film den Verlust moralischer Wertmaßstäbe sowie eine ebenso skrupellose wie selbstverständliche Grausamkeit unter dem Deckmantel höflichen Benehmens und einer gesitteten, zugleich dekadenten Ordnung. Jeder und jede, so scheint es, wird unter diesen Bedingungen des Raubtierkapitalismus instrumentalisiert und für böse Zwecke eingespannt. Der Film fordert seine Betrachter am Ende deshalb unmissverständlich dazu auf, sich zu wehren und dagegen aufzubegehren.

Filmstunde_23

(DE 2024, Regie: Edgar Reitz, Jörg Adolph)

Filmbildung im Klassenzimmer
von Wolfgang Nierlin

Der angehende Filmregisseur Edgar Reitz ist 35 Jahre alt, als er 1968 für einige Wochen Lehrer am humanistischen Luisengymnasium in München wird. Assistiert von den Kameramännern Thomas Mauch und Dedo …

Der angehende Filmregisseur Edgar Reitz ist 35 Jahre alt, als er 1968 für einige Wochen Lehrer am humanistischen Luisengymnasium in München wird. Assistiert von den Kameramännern Thomas Mauch und Dedo Weigert, vermittelt er in einem einmaligen Experiment den 13- bis 14-jährigen Schülerinnen einer Mädchenklasse die Grundlagen des Films. Das Klassenzimmer soll zu einem Filmstudio werden, wo sich theoretisches und praktisches Wissen wechselseitig ergänzen und befruchten. Inspiriert von seinen Erfahrungen als Dozent am Institut für Filmgestaltung in Ulm sowie von seinen eigenen filmischen Versuchen als Protagonist einer neuen, aufstrebenden Filmbewegung, geht es dem späteren Schöpfer der monumentalen „Heimat“-Trilogie vor allem darum, eine gravierende Lücke im Bildungsplan der Schulen zu schließen. Ein Zitat des ungarischen Filmtheoretikers Béla Balázs, das dieser bereits in den 1920er Jahren formuliert hat, leitet dabei Reitz‘ medienpolitischen Vorstoß: „Solange Film nicht an der Schule gelehrt wird, nehmen wir die wichtigste Revolution der menschlichen Bildung nicht zur Kenntnis.“

Dieser zentrale Satz, der leider immer noch gültig ist, steht als Motto vor dem damals entstandenen Film „Filmstunde“ (1968), der zum einen den sehr aufschlussreichen und kreativen Unterricht dokumentiert und zum anderen die originellen, daraus hervorgegangenen Arbeiten der Schülerinnen präsentiert. Ausgestattet mit kleinen, handlichen Super-8-Kameras und einem zuvor entwickelten Drehplan, konnten diese ihrer kreativen Phantasie freien Lauf lassen. Dabei stand für einmal nicht der Leistungsgedanke im Vordergrund, sondern das persönliche Interesse und die Freude am spielerischen Tun und am gemeinsamen Arbeiten, das außerdem den Zusammenhalt der Gruppe stärkte. Vorausgegangen waren der filmischen Praxis Überlegungen zu den Möglichkeiten filmischen Erzählens, verstanden als Sprache des Films, aber auch Unterrichtsgespräche über den Begriff der Einstellung als kleinster Erzähleinheit, die Wirkungen des Schwenks und der bewegten Aufnahme, über Aspekte der Montage und die Theorie des Autorenfilms. Als beispielhaftes Anschauungsmaterial sahen die Schülerinnen Louis Malles „Zazie“ (1960) und Firtz Lang „M“ (1931). Edgar Reitz‘ Kampf gegen „filmisches Analphabetentum“ wird von der These geleitet, dass sich jeder filmisch ausdrücken könne.

In seinem neuen, zusammen mit Jörg Adolph realisierten Film „Filmstunde_23“ begegnet der mittlerweile 90-jährige Regisseur 55 Jahre später nun seinen ehemaligen Schülerinnen zum gemeinsamen Austausch von Erinnerungen. Bei der Betrachtung des historischen Materials sowie der persönlichen Kommentaren und Gesprächen dazu, die von Reitz und Adolph als stetiger Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart inszeniert werden, wird auf berührende Weise deutlich, wie sehr diese einmalige schulische Erfahrung mit dem Medium Film das Leben und Denken der mittlerweile ebenfalls betagten Frauen beeinflusst und geprägt hat; und zwar nicht nur im Hinblick auf ihr Filmverständnis, sondern auch mit Bezug auf die Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Denn der Filmunterricht sollte den Mädchen auch einen „Zugang zu sich selbst“ eröffnen. Das Unverwechselbare einer Person jenseits der vergehenden Zeit wird deshalb im bewegenden Erinnerungsaustausch ebenso zum Thema wie die Aufbewahrung von Lebenszeit im Medium und der Kunstform Film. Doch trotz dieser guten Gründe fand Edgar Reitz‘ so wichtige filmpädagogische Pionierarbeit leider keinen Niederschlag in den Bildungsplänen hierzulande.

Pol Pot Dancing

(DE/NO 2024, Regie: Enrique Sánchez Lansch)

Die Verhältnisse zum Tanzen
von Jürgen Kiontke

Chea Samy ist die Primadonna des königlichen Tanz-Ensembles in Kambodscha, als ihr der kleine Bruder ihres Mannes als Ziehkind überlassen wird. Samy zieht den Jungen groß, sorgt zudem für eine …

Chea Samy ist die Primadonna des königlichen Tanz-Ensembles in Kambodscha, als ihr der kleine Bruder ihres Mannes als Ziehkind überlassen wird. Samy zieht den Jungen groß, sorgt zudem für eine gute Ausbildung, sogar mit Stipendium für ein Studium in Paris. Der junge Mann bedankt sich für die Jahre: In Frankreich mit radikalkommunistischen Ideen versorgt, kehrt er zurück und errichtet mit Getreuen seine Schreckensherrschaft. Er ist Pol Pot, „Bruder Nr. 1“ der Roten Khmer, die von 1975 bis 1979 herrschten. Bis es der Regierung im Nachbarland Vietnam zu bunt wurde und sie das Regime mit einer militärischen Invasion ablöste.

Unter Pots Führung wurde rund ein Viertel der Bevölkerung Kambodschas – ca. 1,8 Millionen Menschen – ermordet. Kunst und Kultur bekämpften die Khmer in jeder Form. Der klassische kambodschanische Tanz, in dem seine Ziehmutter so glänzte, stand kurz vor dem Aussterben.

Chea Samy überlebte die Diktatur als Zwangsarbeiterin. Danach begann sie, diese Tanzform – die außer ihr kaum noch jemand beherrschte – wiederzubeleben und zu lehren. Ihre Schülerinnen: Hunderte traumatisierte Mädchen. Samy, die 1994 starb, bewahrte eine tief in der Kultur verwurzelte Tradition, heute zählt der Tanz zum UNESCO-Weltkulturerbe.

In seinem Dokumentarfilm „Pol Pot Dancing“ erzählt der auf Tanzfilme spezialisierte Regisseur Enrique Sánchez Lansch Geschichte und Kulturpolitik des Landes nach und wirft einen Blick auf die heutige Praxis des Tanzes, die in vielen Studios ausgeübt wird, allen voran durch das Sophiline Art Ensemble. Die Tänzerinnen sind stolz auf ihr Kulturgut: Es hat die Oberhand behalten über eine der schlimmsten Terrorherrschaften der Weltgeschichte.

Die leisen und die großen Töne

(FR 2023, Regie: Emmanuel Courcol)

Die feinen Unterschiede
von Wolfgang Nierlin

Gerade probt der Dirigent Thibaut (Benjamin Lavernhe) mit seinem Orchester höchst spannungsvoll Beethovens „Egmont-Ouvertüre“ (zu Goethes gleichnamigem Trauerspiel), als er plötzlich einen Zusammenbruch erleidet. Mit der niederschmetternden, aber nicht hoffnungslosen …

Gerade probt der Dirigent Thibaut (Benjamin Lavernhe) mit seinem Orchester höchst spannungsvoll Beethovens „Egmont-Ouvertüre“ (zu Goethes gleichnamigem Trauerspiel), als er plötzlich einen Zusammenbruch erleidet. Mit der niederschmetternden, aber nicht hoffnungslosen Diagnose Leukämie begibt er sich kurz darauf in seiner Verwandtschaft auf die Suche nach einem Knochenmarkspender. Thibaut ist ein optimistischer, kämpferischer Typ mit einem gewissen Galgenhumor. Bei seinen Nachforschungen muss er allerdings feststellen, dass seine Schwester Rose biologisch nicht mit ihm verwandt ist und er als Kind adoptiert wurde. Schon in der nächsten Szene von Emmanuel Courcols sehr ökonomisch und ohne Abschweifung inszenierten Films „Die leisen und die großen Töne“ („En fanfare“) sitzt der kranke Dirigent in einem Wohnzimmer des nordfranzösischen Arbeiterstädtchens Walincourt, wo sein ebenfalls in einer Adoptivfamilie aufgewachsener leiblicher Bruder Jimmy (Pierre Lottin) lebt. Der wehrt Thibaut und sein Ansinnen erst einmal ab. Zu groß und schmerzlich sind die sozialen Unterschiede der auf den ersten Blick so ungleich wirkenden Brüder.

Emmanuel Courcols warmherziger, zwischen Sozialdrama und Komödie angesiedelter Film handelt in der Folge von einer behutsamen, von gegenseitigem Verständnis getragenen Annäherung der beiden Brüder, die, in Tourcoing geboren, im Kindesalter voneinander getrennt wurden. Als Bindeglied fungiert dabei die Musik. Denn Jimmy, der in einer Kantine arbeitet, ist nicht nur Jazzfan und spielt Posaune im ziemlich lebendig und fröhlich wirkenden örtlichen Musikverein der Bergleute, sondern er besitzt ein absolutes Gehör. Als die Blaskapelle mangels eines Dirigenten in Schwierigkeiten gerät und sich überdies der erbitterte Arbeitskampf am Ort, der sich gegen eine Fabrikschließung richtet, zuspitzt, beschließt Thibaut, seinem Bruder zu helfen. Während der eine dabei immer tiefer in sein Herkunftsmilieu eintaucht, gewinnt der andere unverhofft neues Selbstvertrauen und Stärke.

Der französische Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur Courcol, der hierzulande mit seinem Gefängnisdrama „Ein Triumph“ bekannt wurde, fragt und verhandelt auch in seiner neuen Regiearbeit die sozialen Bedingungen von Identität. Ähnlich wie dies seine Landsleute Annie Ernaux und Edouard Louis in der Literatur tun, thematisiert er die Zufälle und schier unüberwindlichen Hindernisse sozialer Determination; er zeigt die Grenzen, die bleiben, macht sie auf leichte und humorvolle Weise aber immer wieder durchlässig. In diesen utopischen Momenten, die nicht auf vorhersehbare Lösungen zielen, sondern eher überraschend wirken, werden die die Musik, das gemeinsame Musizieren und das Erleben von Kunst zu ebenso tröstenden wie ermutigenden Verbindungsgliedern zwischen den unterschiedlichen Welten.

Eine Erklärung für alles

(SK/HU 2023, Regie: Gábor Reisz)

Gespaltene Gesellschaft
von Wolfgang Nierlin

„Am Montag erkennt Ábel, dass er verliebt ist.“ Und: „Am Montag denkt György an Dienstag“. So lauten die ersten Kapitelüberschriften von Gabór Reisz multiperspektivischem Ensemblefilm „Eine Erklärung für alles“. Nach …

„Am Montag erkennt Ábel, dass er verliebt ist.“ Und: „Am Montag denkt György an Dienstag“. So lauten die ersten Kapitelüberschriften von Gabór Reisz multiperspektivischem Ensemblefilm „Eine Erklärung für alles“. Nach jeder dieser prosaischen, meistens mit einem Namen und einem Wochentag verknüpften Ankündigungen ändert der in einem dokumentarischen Handkamerastil gedrehte Film seine Blickrichtung. Daraus entsteht zum einen eine verzweigte sozialrealistische Erzählung; zum anderen wird die ausdrückliche, forciert ins Bild gesetzte Nähe zu den Figuren und ihren Ansichten durch den fortgesetzten Perspektivwechsel immer wieder relativiert, in Frage gestellt oder korrigiert. So hat in der tief gespaltenen ungarischen Gesellschaft, die Gabór Reisz hier mit vielen Widersprüchen beschreibt und thematisiert, jede vermeintliche Wahrheit ihren eigenen Grund. Denn die Lehren aus der Geschichte werden in der Gegenwart ganz unterschiedlich verstanden. Und so laden auch die Figuren zu keiner reibungsfreien Identifikation ein. In ihrem Handeln vermischen sich vielmehr fortwährend private Interessen mit politischen Überzeugungen und gesellschaftlichen Bedingungen.

So findet der 18-jährige Ábel (Gáspár Adonyi-Walsh) etwa einen politischen Vorwand, um sich für seinen Liebeskummer an seinem Geschichtslehrer zu rächen. Der sensible, aus einer gutbürgerlichen, patriotischen Familie stammende Abiturient ist nämlich ziemlich heftig in seine Mitschülerin Janka (Lilla Kizlinger) verliebt, die jedoch den 19 Jahre älteren Lehrer und Familienvater Jakab (András Rusznák) anhimmelt. Zwar ist der linksliberale Freigeist, der sich trotz mangelnder Kooperation eines Zeitzeugen gerade mit dem ungarischen Volksaufstand von 1956 beschäftigt, in seinen familiären Beziehungen wiederholt unaufmerksam und selbstbezogen; andererseits möchte er Berufliches und Privates nicht vermischen. Doch gerade das tut Ábel, wenn er für sein Scheitern in der mündlichen Geschichtsprüfung die angeblichen Vorurteile Jakabs gegenüber ihm und seinem dafür empfänglichen Vater György (István Znamenák) ins Feld führt. Die Kokarde mit dem Nationalwappen an Ábels Jackett, angeheftet anlässlich des Jahrestags, an dem der Revolutionsbeginn vom 15. März 1848 gefeiert wird, habe den Pädagogen provoziert.

Dieses Symbol nationaler Unabhängigkeit und Freiheit wird jedoch von den gegenwärtig regierenden Rechtspopulisten zunehmend nationalistisch umgedeutet. Als die junge, ehrgeizige Journalistin Erika (Rebeka Hatházi) einen mäßig recherchierten, tendenziösen Artikel über den Vorfall mit der Anstecknadel in der fiktiven patriotischen Zeitung „Ungarische Tage“ veröffentlicht, wird daraus ein Politikum und öffentlicher Skandal. Dabei gerät auch die Schulleitung unter Druck. Man spürt den Riss, der durch die gespaltene Gesellschaft geht und bemerkt Abhängigkeiten, in denen sich politische Machtstrukturen spiegeln. Dass diese Verhältnisse zunehmend leider auch in anderen europäischen Ländern um sich greifen, verleiht Reisz‘ ebenso sehenswertem wie diskussionswürdigem Film seine Allgemeingültigkeit. Auf seinem Höhepunkt treffen der konservative György und der fortschrittlich denkende Jakab in einem heftigen und zugleich unversöhnlichen Streitgespräch aufeinander. Die üblen Beschimpfungen hallen noch nach, wenn sich der überforderte Ábel schließlich verweigert und sich im jugendlichen Überschwang mit seinen Freunden ins Freie und Offene aufmacht.

City of Darkness

(HK 2024, Regie: Soi Cheang)

Götterdämmerung im Hongkong-Kino
von Roman Widera

Viele Liebesbriefe zirkulieren im zeitgenössischen Kino. Seit einigen Jahren inszenieren Regisseure die Zeiten und Räume ihrer Kindheiten, tauchen sie in wehmütiges Licht und nostalgisches Filmkorn. Damit berühren sie zumeist gleich …

Viele Liebesbriefe zirkulieren im zeitgenössischen Kino. Seit einigen Jahren inszenieren Regisseure die Zeiten und Räume ihrer Kindheiten, tauchen sie in wehmütiges Licht und nostalgisches Filmkorn. Damit berühren sie zumeist gleich zwei Vergangenheiten: eine urbane und eine filmische – oft kreuzen sie sich. Filme wie „Armageddon Time“ (2022) und „Licorice Pizza“ (2021) leisten das für die Städte New York und Los Angeles, aber auch für das US-amerikanische Kino der 1970er und frühen 80er Jahre. Gedreht sind sie von erklärten Kinokindern, die zwischen Kameraauge und den eigenen, menschlichen, wenig Unterscheidung kennen.

Soi Cheangs „City of Darkness“ ist ein Liebesbrief an Hongkong, und auch hier trifft die Zuneigung zur urbanen Gestalt auf die filmische Geschichte der Stadt. Der in Macau geborene Regisseur kam mit elf Jahren dorthin, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als auch die Handlung einsetzt. Statt einer Gesamtschau der Stadt gilt seine Leidenschaft jedoch einer architektonischen Anomalie, die sie hervorgebracht hat: die Kowloon Walled City, eine organisch gewachsene Verdichtung aus Häusern und Gängen und für die Jahre, die sie stand (bis 1993), der am dichtesten besiedelte Punkt der Welt. In Hongkong kannte jeder dieses gouvernementale Niemandsland, das nicht richtig zur britischen Kolonie, aber auch nicht zu China gehörte und sich deshalb selbst überlassen war. Auch wer Hongkong in diesen Jahrzehnten besuchte, hat den bedrohlichen Komplex vermutlich gesehen: Flugzeuge, die den örtlichen Kai Tak Airport ansteuerten, passierten so gefährlich nah an den vertikalen Enden der Stadt, dass sich Passagiere und Bewohner der City beim Anflug fast in die Augen blicken konnten, so scheint es auf den vielen Fotografien, die diese Flugschneise dokumentieren.

In diese Stadt in der Stadt gerät der Geflüchtete Chan Lok-kwan (Raymond Lam) kurz nach seiner Ankunft. Einen Sack gestohlenes Kokain möchte er dort zu Geld machen, um sich einen falschen Pass zu kaufen. Er wird unter die Fittiche von Tornado (Louis Koo) genommen, der die Walled City kontrolliert. Durch seine Stellung in der kriminellen Unterwelt wagen sich die konkurrierenden Gangs nicht hinein, allerdings bahnt sich ein Machtkampf um die chaotischen Besitzrechte der tausenden Wohnparzellen an, die Enklave wird zum Knotenpunkt eines drohenden Triadenkrieges.

Filme über das organisierte Verbrechen sind eine Paradedisziplin des Hongkong-Kinos, vor allem des durch Johnnie To gegründeten Milkyway Image Studios, in dem auch Soi Cheang sich seine Sporen verdiente. Interessanterweise berührt „City of Darkness“ den Stil des Triadenfilms jedoch nur randständig. Obwohl im Gangstermilieu angesiedelt, inszeniert Cheang seine Geschichte wie ein Heldenepos des chinesischen Wuxia-Filmes: Tornado und seine Gang, aber auch die verfeindeten Triaden, selbst der schwerfällige Boss Mr. Big (Sammo Hung), erzeugen unmögliche Energien in ihren Körpern, können Kämpfen wie Götter, springen aus dem Stand zwischen den Wellblechbalkonen der Fassaden mühelos die Etagen hinauf und befördern sich gegenseitig mit wenigen Handgriffen durch Wände und Decken. Schnell nehmen wir in Kauf, dass eine der Figuren ohne Erklärung praktisch unbesiegbar wird, rein um der Kreativität ihrer Bezwingung willen, denn „City of Darkness“ ist Martial-Arts alter Güte, wenig an Realismus oder überbordender Härte interessiert, stattdessen an der Dynamik der Bewegung und der kreativen Nutzung des filmischen Raumes. So werden die schmalen Gänge der Walled City, die maroden Wohnungen, Hinterhofküchen und die miteinander verbundenen Dächer trotz aller Beengtheit von der mobilen Kamera durchflogen; sie stellt sich auf den Kopf, schnellt durch die Flure, passiert die Begrenzungen der Räume, als suche sie sich den Kräften anzupassen, die von den Bewohnern und Eindringlingen entfesselt werden.

Bemerkenswert dabei ist, dass Cheang die Walled City nie zur exotischen Bühne für die komplizierten Gefechte degradiert, sondern sich emphatisch für diesen singulären Ort interessiert – gerade in der ersten Hälfte des Filmes ist sein Blick auffallend liebevoll, hält sich in und mit Details der kleinteiligen Sets auf und stattet die Gassen und ruinösen Räume mit zwischenmenschlichen Vignetten aus. Filme wie „Bloodsport“ (1988) und „Long Arm of the Law“ (1984), die beide für kurze Szenen in der echten Mauerstadt gedreht wurden, zeigen sie als postindustrielle Vorhölle. Ganz ähnlich arbeitete Cheang selbst in seinem Hardcore-Noir „Limbo“ (2021) und gestaltete ganz Hongkong in einer der finstersten Mise-en-Scènes der letzten Jahre ausschließlich in Graustufen aus Beton und Stahl, Rohren und Kabeln. In „City of Darkness“ strahlt die Walled City trotz ihrer Missstände eine Wärme aus, die in der Erinnerungskultur der sich dort gebildeten Community schon lange vorherrscht, filmisch bislang jedoch nie artikuliert wurde. So arbeitet dieser Film inszenatorisch auch gegen seinen deutschen Verleihtitel, der die Dunkelheit der Stadt betont, während Cheang sehr bedacht darin ist, jene Winkel in ihr zu finden, die leuchten.

Der internationale Titel, „Twilight of the Warriors“, trifft den Ton besser: Cheangs Liebesbrief gilt nicht nur seiner Heimat und ihrer komplizierten urbanen und sozialen Geschichte, sondern auch einem spezifischen Kino, das diese Stadt hervorgebracht und geprägt hat. Ein Kino, das in den 1980er Jahren die Welt eroberte und Hongkong zu einem Ort machte, der wie kaum ein anderer in Asien geradezu kinematographisiert, selbst filmischer Mythos geworden ist. Das war ein unverfrorenes und überhöhtes Kino der Krieger und Helden (auch wenn häufig ein Anti-Präfix vor sie gesetzt wurde), nicht umsonst verlieh man einem der populärsten Genres aus diesem Filmland den Titel des heroischen Blutvergießens. Zugleich ist es ein Kino, das in dieser Größenordnung fast verschwunden ist. Wenn die Figuren immer wieder davon sprechen, dass die Walled City irgendwann fort sein wird, abgerissen und dem Erdboden gleichgemacht, dann zieht der Film zweifach Bilanz, erinnert gleich zwei verlorene Ausnahmeerscheinungen: eine der Stadt, eine des Kinos. Das Zwielicht der Kämpfer, auf das der Titel weist, ist programmatisch zu verstehen. Ohne Rücksicht auf Verluste lässt Soi Cheang zugleich das Hongkong dieser Zeit und seine singuläre Art und Weise, Kino herzustellen, noch einmal auferstehen. Als letztes Aufflackern vor dem Verdämmern.

Black Dog – Weggefährten

(CN 2024, Regie: Guan Hu)

Verloren inmitten der Umbrüche
von Wolfgang Nierlin

Der Kamerablick schweift über die weite, staubige Steppenlandschaft der Wüste Gobi, als von einer kleinen Anhöhe herab plötzlich eine Horde wilder Hunde stürmt und auf der unbefestigten Landstraße den Unfall …

Der Kamerablick schweift über die weite, staubige Steppenlandschaft der Wüste Gobi, als von einer kleinen Anhöhe herab plötzlich eine Horde wilder Hunde stürmt und auf der unbefestigten Landstraße den Unfall eines Überlandbusses verursacht. Auf fast schon skurrile Weise kippt das leichtgewichtige Fahrzeug einfach um. Zum Glück ist dann aber der Schrecken größer als der Schaden. Unter den aufgewühlten Passagieren befindet sich der schweigsame Lang (Eddie Peng), der nach zehn Jahren Gefängnis vorzeitig aus der Haft entlassen wurde und nun in seine Heimatstadt Chixia im Nordwesten der Volksrepublik China zurückkehrt. Dort befindet sich vieles im Umbruch. Öffentliche Orte und Einrichtungen wie zum Beispiel der Zoo und eine Bungeejumping-Anlage wirken trostlos und verlassen. Ein Großteil der ziemlich maroden und kaputten Häuser soll abgerissen werden. Und in den Straßen wimmelt es von streunenden, herrenlosen Hunden. „Als die Menschen weggegangen sind, haben sie die Hunde zurückgelassen“, heißt es einmal dazu. Um den Niedergang der verwahrlosten Stadt zu stoppen und diese für Unternehmer wieder attraktiver zu machen, ist eine umfangreiche Erneuerung geplant.

Und dafür sollen zunächst einmal die Hunde eingefangen werden. Der 38jährige Lang, der die Stadt nicht verlassen darf und sich wieder in die Gesellschaft eingliedern soll, wird verpflichtet, sich dem Trupp der Fänger anzuschließen. Als passionierter Motorradfahrer und ehemaliger Rockstar ist der stille Außenseiter, der fast nie spricht, sehr bekannt. Die meisten Menschen begegnen ihm rücksichtsvoll und mit Wohlwollen. Nur die Opferfamilie des Schlangenzüchters Hu, dessen Neffe bei einer Mutprobe mit Lang einst tödlich verunglückte, will Wiedergutmachung und sinnt auf Rache. Die Familie des Einzelgängers wiederum scheint zerstreut: Seine Schwester wohnt anderswo, der alkoholkranke Vater ist zu Hause ausgezogen, um sich im Zoo um die vernachlässigten Tiere zu kümmern. Auch Lang freundet sich mit einem Tier an, und zwar mit einem schwarzen, als gefährlich geltenden Windhund. Im preisgekrönten Film „Black Dog – Weggefährten“ von Hu Guang finden sich inmitten von Unordnung, Chaos und Veränderung zwei Außenseiter, die sich in ihrer Verlorenheit ähneln und ineinander spiegeln.

Während sich China im Sommer 2008 auf die Olympischen Spiele vorbereitet und die verbliebenen Bewohner von Chixia eine Sonnenfinsternis erwarten, versöhnt sich der Heimkehrer Lang allmählich mit seinem früheren Leben. Die wechselvolle, von Krisen und Schmerzen begleitete Beziehung zum titelgebenden schwarzen Hund sowie seine Begegnung mit einer Zirkustänzerin wecken in ihm zugleich die Lust auf einen Neuanfang inmitten gesellschaftlicher Umbrüche. Hu Guan inszeniert seine humane Botschaft im Kontrast zu den ebenso realistischen wie detailreichen Bildern einer verfallenen und zunehmend zerstörten Stadt. Ellipsen und ungewöhnliche Perspektivwechsel machen die markanten Stadtansichten zusätzlich überraschend. Die weite, stille und in sanftes Licht getauchte Wüstenlandschaft, wird, begleitet von Pink Floyds leitmotivisch eingesetztem Song „Mother, schließlich zum Fluchtraum für die Benachteiligten und Suchenden. „Für alle, die sich wieder auf die Reise machen.“ Und: „Für meinen Vater“, lauten die Widmungen am Ende des ebenso stimmungsvollen wie beeindruckenden Films.

Vena

(DE 2024, Regie: Chiara Fleischhacker)

Eine Geburt im Gefängnis
von Jürgen Kiontke

Jenny liebt Bolle, mit dem sie ein Kind erwartet – aber vor allem lieben es die beiden, sich mit Chrystal Meth zu betäuben. Bolle ist nicht recht glücklich mit seiner …

Jenny liebt Bolle, mit dem sie ein Kind erwartet – aber vor allem lieben es die beiden, sich mit Chrystal Meth zu betäuben. Bolle ist nicht recht glücklich mit seiner Existenz als Handwerker, Jenny ist schon mit ihrem ersten Kind überfordert. Dann tritt die Hebamme Marla – selbst alleinerziehende Mutter – in Jennys Leben. Die Beziehung der beiden Frauen wird auch die Beziehung Jennys zu sich selbst verändern. Zum Positiven. Aber da wartet auch noch eine Haftstrafe wegen Diebstahls auf die junge Mutter. Jenny wird ihr Kind aller Voraussicht nach im Knast zur Welt bringen. Jugendamt, Sozialbehördengänge; und immer wieder – Koksen, Rauchen trotz Schwangerschaft – Rückfälle. Präzise wird ein trostloses Umfeld ausgeleuchtet und die helfenden Hände nicht vergessen: Vieles, was bei Jenny nicht klappt, fängt ihre sorgende Mutter ab. Weder sie noch der Film geben Jenny aber jemals verloren.

Die junge Regisseurin Chiara Fleischhacker verwendet für ihren ersten Spielfilm ein eigenes Skript, zwei Jahre hat sie in Beratungsstellen, bei jungen Müttern und in Gefängnissen recherchiert, hat sich von weiblichen Häftlingen beraten lassen. Mit Emma Nova als Jenny hat sie eine kongeniale Partnerin und auch mit Paul Wollin einen tollen und überzeugenden Schauspieler vor der Kamera – der die Filmemacherin viel Freiheit lässt.

Angesiedelt ist die Geschichte in den Randsiedlungen Erfurts, wo Fleischhacker zur Schule gegangen ist. „Vena“, benannt nach der Geburtsvene, ist ein optischer und inhaltlicher Explosivstoff, auch technisch überzeugend. Vielleicht, weil dieses Meisterinnenstück auch viel mit der Situation der Filmemacherin zu tun hat, die ebenfalls alleinerziehende Mutter eines kleinen Kindes ist.

Die Bilder ihres Films sollen einen Realismus erschaffen, „der die raue Schönheit, aber auch die Herausforderungen zeigt“, die die Situation rund um die Geburt mit sich bringt. Mit ihrem kompromisslosen Stil, der optischen Wucht der Körperarbeit ihrer Darsteller*innen, ihrer Arbeitsweise mit Betroffenen und Beratungsstellen spielt sie mit Abhängigen-Klassikern wie etwa „Rückfälle“ von Peter Beauvais mit Günter Lamprecht in der Hauptrolle in einer Liga. Von Fleischhacker wird sicher noch einiges zu hören und zu sehen sein.

Baldiga – Entsichertes Herz

(DE 2024, Regie: Markus Stein)

Radikaler Lebenshunger
von Wolfgang Nierlin

„Ich bin an Menschen interessiert, die am Rande der Gesellschaft stehen und ihre Mitte gefunden haben“, schreibt Jürgen Baldiga in sein Tagebuch, das ihm auch zur Selbstvergewisserung dient. Der 1959 …

„Ich bin an Menschen interessiert, die am Rande der Gesellschaft stehen und ihre Mitte gefunden haben“, schreibt Jürgen Baldiga in sein Tagebuch, das ihm auch zur Selbstvergewisserung dient. Der 1959 in Essen geborene und in einer Arbeiterfamilie aufgewachsene Fotograf gilt mit seinen realistischen Schwarzweißfotos als Chronist der Berliner Subkultur der 1980er Jahre. Er fühle sich wohl unter Strichern, Transvestiten, Geisteskranken und Alkoholikern. Deren schrille Sinnlichkeit repräsentiere das eigentliche Leben. Radikal und schonungslos dokumentiert er das Milieu der Homosexuellen und richtet dabei die Kamera auch öfters auf sich selbst. In diesen freizügigen und intimen Selbstportraits trifft der Betrachter auf einen herausfordernden, teils aggressiven Blick. Er habe durch sein Erscheinungsbild sowie durch seine Kunst unbedingt auffallen wollen, sagen Weggefährten über Baldigas „selbstbewussten Egoismus“. Nach seiner lebensverändernden Entscheidung, Kunst zu machen, sei er kompromisslos seinem Weg gefolgt. „Meine Kunst, mein Leben, meine Gefühle“, lautete sein Credo.

Markus Steins materialreicher Film „Baldiga – Entsichertes Herz“, der hauptsächlich Fotos und Tagebuchnotizen des schwulen Künstlers eng miteinander verfugt und daraus in Teilen auch eine biographische Erzählung destilliert, beginnt folgerichtig mit einer Inszenierung. Ein Foto wird nachgestellt, auf dem Baldiga an einem Tisch über seinem Tagebuch sitzt. Ein Totenkopf mit Krone, ein Kreuz sowie eine brennende Kerze ergänzen das Arrangement, während aus dem Off der Tagebuchschreiber von einem Traum erzählt, in dem er das Grab des Malers Caravaggio geöffnet habe. Diese fotografische Installation widerspricht dem Eindruck, dass Baldigas Fotos vor allem spontan und unmittelbar entstanden seien. Auch wenn sich in seinen artifizielleren Arbeiten, in seinem Ringen um sexuelle Freiheit und unbedingten künstlerischen Ausdruck Parallelen zu dem New Yorker Fotografen Robert Mapplethorpe auftun, bleibt diese mögliche Verbindung ausgespart. Stattdessen konzentriert sich der Film in sieben Kapiteln und lose entlang biographischer Linien ganz auf das Werk Baldigas und auf Erinnerungen von Zeitzeugen.

Als Jürgen Baldiga im November 1984 positiv auf das HI-Virus getestet wird, wächst nicht nur sein Lebenshunger, sondern gewinnt auch sein Kunststreben an Dringlichkeit. Er wolle mit seinen Fotos die Zeit anhalten und das Leben einfangen. Seine ungezügelte Lust nach freier Sexualität wird allerdings schmerzlich gedämpft. Über die „paranoiden Krankheitsregeln“ notiert er in sein Tagebuch: „Mein Sperma ist Gift geworden, mein Arsch eine Fallgrube des Todes.“ Und er fürchtet die Verluste: „No sex, no drugs, no love.“ Trotzdem will sich Baldiga nicht verstecken, sondern am Leben teilnehmen. Gegen die Angst in der Szene macht er Aids sichtbar, erlebt eine letzte große Liebe mit Ulf Reimer und unternimmt mit ihm sogar eine Reise in seine Sehnsuchtsstadt New York.

Der Ausbruch der schrecklichen Krankheit, die aus vielen Krankheiten besteht, wie ein Arzt sagt, vermittelt nicht nur brutales Leiden, sondern gibt auch berührenden Einblick in die therapeutischen Dilemmata und die emotionale Hilflosigkeit von Ärzten und Pflegenden zu einer Zeit, als die Krankheit noch tödlich verlief. Doch trotz seiner Traurigkeit über das Unausweichliche beharrt Jürgen Baldiga, der im Dezember 1993 seinem Leiden ein Ende setzt, auf seinem einmal eingeschlagenen Weg: „Ich bin das, was ich sein wollte.“

Schwarzer Zucker, rotes Blut

(DE 2023, Regie: Luigi Toscano)

Spuren der Vergangenheit
von Jürgen Kiontke

Anna Strishkowa war ein Kind, als sie nach Auschwitz kam. Doch sie hat das Konzentrationslager damals überlebt, wurde adoptiert. Später machte sie als Biologin in der Sowjetunion Karriere. Zeit für …

Anna Strishkowa war ein Kind, als sie nach Auschwitz kam. Doch sie hat das Konzentrationslager damals überlebt, wurde adoptiert. Später machte sie als Biologin in der Sowjetunion Karriere. Zeit für die Suche nach Spuren ihrer Herkunft hatte sie nicht. Jetzt im hohen Alter sieht das anders aus. Gemeinsam mit dem Fotografen Luigi Toscano wertet sie für seinen Film „Schwarzer Zucker, rotes Blut“ die spärlichen Dokumente ihrer Vergangenheit aus.

Eines ist ein uralter Film über Kinder aus den Konzentrationslagern, in dem sie auch gezeigt wurde; kurz blitzt darin ihre Häftlingsnummer auf, die ihre Pflegeeltern hatten entfernen lassen. Strishkowa stellt Nachforschungen anhand der Nummer an, es müssten doch Unterlagen in den Archiven existieren, auch wenn die Nazis viele Dokumente 1945 vernichtet haben. Nichts ist zu finden. Doch bald stellt sich heraus, dass die Nummer einen Zahlendreher enthält, die Sachlage ändert sich. Nach und nach kann das frühe Leben Strishkowas rekonstruiert werden. Ihr Dorf war von der Wehrmacht überfallen worden, die Bewohner erschossen oder gefangen genommen, die Häuser in Brand gesetzt.

Die Dreharbeiten gestalten sich kompliziert: Kurz bevor die Arbeiten am Filmprojekt starten, ist der der Krieg in der Ukraine ausgebrochen, die Dreharbeiten finden unter erschwerten Bedingungen statt. Strishkowa, schon über 80, will aber auf jeden Fall an dem Projekt festhalten, sie sieht darin die Chance, etwas über ihre Kindheit und Herkunftsfamilie zu erfahren. So gelangen sie an Informationen, die auf Annas wahre Identität hinweisen. Und es tauchen sogar Hinweise auf, dass mögliche Geschwister noch leben.

Dieser insgesamt berührende und spannende Dokumentarfilm ist im Stile einer Realfiction-Reportage gedreht; ein streckenweise gewollt rasantes Erzähltempo und die Schnittfolge wirken zum Teil aufgesetzt und unangebracht; ebenso springt der Regisseur selbst oft im Bild rum, wo mehr Zurückhaltung angebracht wäre. Animationen ersetzen Bilder der Vergangenheit. Dennoch zeigt der Film, wie schwierig sich eine solche Recherche gestalten kann, wie viel Arbeit darin steckt, aber auch, wie erfolgreich ein solches Erinnerungsprojekt immer noch sein kann. „Niemals vergessen“ – das ist im Fall der Anna Strishkowa ein gelungenes Unterfangen.

Diese Kritik erschien zuerst am 21.11.2024 auf: links-bewegt.de

Das Meer ist der Himmel

(DE 2024, Regie: Enkelejd Lluca)

Auf dem Weg zu sich selbst
von Wolfgang Nierlin

Leon ist das Kind, das in den Brunnen fällt, in dessen Wasser sich der Himmel spiegelt. Als Erwachsener (Blerim Destani) lebt der gebürtige Albaner in Frankfurt a. M. und geht …

Leon ist das Kind, das in den Brunnen fällt, in dessen Wasser sich der Himmel spiegelt. Als Erwachsener (Blerim Destani) lebt der gebürtige Albaner in Frankfurt a. M. und geht kleinkriminellen Geschäften nach, indem er mit unlauteren Mitteln Mieter zwingt, ihre Wohnungen zu verlassen. In der knappen Exposition von Enkelejd Llucas Film „Das Meer ist der Himmel“ bleiben die Hintergründe und Zusammenhänge dieses Tuns aber unscharf. Dem albanisch-deutschen Regisseur geht es mehr um die milieuspezifische Charakterisierung einer Figur, die sich schweigsam und verstockt, misstrauisch und aggressiv gibt. Zu spüren bekommt das auch Leons Onkel Eri (Edon Rizvanolli), der ihn eines Morgens mit der Nachricht überfällt, dass sein Großvater Marian (Gëzim Rudi) im Sterben liege. Denn Leon hat seit Jahren den Kontakt zu seiner Familie und der früheren Heimat abgebrochen. Die Aufforderung, dem Großvater die letzte Ehre zu erweisen, wehrt er also zunächst ab. Dieser Unwille, sich auf andere einzulassen, kennzeichnet die Unsicherheit eines Charakters, dessen Entscheidungsschwäche wiederholt in stark gedehnten Szenen veranschaulicht wird.

Nach anfänglichem Zögern macht sich der arg reservierte Held also auf den Weg, gerät damit aber fast zwangsläufig in weitere Gewissensnöte. Zwar fügt er sich in die traditionelle Ordnung der Trauergesellschaft; doch als es darum geht, dass er beauftragt ist, den letzten Willen des Verstorbenen zu erfüllen und dessen Asche ins Meer zu streuen, nimmt er erst mal Reißaus. Nach einer Nacht unfreiwilliger Läuterung sitzt Leon dann in einem Land Rover und fährt über malerische Gebirgsstraßen in den äußersten Süden des Landes ans Meer. Unterwegs bilden sich durch verschiedene Begegnungen immer wieder unfreiwillige Schicksalsgemeinschaften. So begegnet Leon einem jungen Soldaten, der gerade Vater wird sowie einem unsterblich Verliebten, der bei einer Hochzeit die Braut entführt. Vor allem aber ist es die deutsche Fotojournalistin Zoe (Ariana Gansuh), die über ihre eigene Geschichte dem Außenseiter hilft, sich allmählich zu öffnen und sich seiner schmerzhaften Vergangenheit zu stellen.

Von Anfang an fügt Enkelejd Lluca in den Fluss der Erzählung mittels kurzer Flasbacks Erinnerungssplitter ein. Demnach ist der elternlose Leon hauptsächlich von seinem Großvater aufgezogen worden, was der Film in diversen Dingsymbolen spiegelt. Der Grund für diese Verlusterfahrung des Kindes bleibt aber lange im Dunkeln. Marian tröstet seinen Enkel mit der Geschichte, wonach seine Eltern im Meer verschwunden seien. Aber, so der Großvater: „Wasser und Himmel sind eins.“ In den scheinbar zufälligen Begegnungen, die Leons Reise zu sich selbst und ins Leben markieren und leiten und die letztlich das Geheimnis seiner verschwiegenen Geschichte enthüllen, spiegeln sich der Kreislauf des Lebens und familiäre Verbundenheit. Diese drückt sich aus in zwischenmenschlichem Zusammenhalt und der Verantwortung für den anderen. Enkelejds gefühlvolles, von tiefer Menschlichkeit getragenes Roadmovie, das die Geschichte einer Veränderung als Ankommen im eigenen Leben erzählt, führt schließlich in ein Kinderdorf und mündet in dem Satz: „Dort, wo du Freude findest, ist dein Ort. Und wo sie dich lieben, ist dein Zuhause.“

Code der Angst

(DE 2023, Regie: Appolain Siewe)

Gewalt ohne Strafe
von Jürgen Kiontke

Eine falsche SMS: Als sich der Kameruner Jean-Claude Roger Mbede mit einem Freund verabreden will, wartet die Polizei auf ihn. Er wird festgenommen, ausgezogen, übel zusammengeschlagen. Und am Ende zu …

Eine falsche SMS: Als sich der Kameruner Jean-Claude Roger Mbede mit einem Freund verabreden will, wartet die Polizei auf ihn. Er wird festgenommen, ausgezogen, übel zusammengeschlagen. Und am Ende zu drei Jahren Haft verurteilt.

Freunde finden die Leiche von Eric Ohena Lembembe in dessen Wohnung in Kameruns Hauptstadt Yaoundé. Die Spuren lassen auf ein hohes Maß an Gewalt schließen: Augen und Zunge sind herausgerissen, die Beine gebrochen. Die Feuerwehr bringt den Leichnam fort – auf eine Müllkippe. Lembembes Mitstreiter fordern eine Autopsie, die nicht gewährt wird.

Mbede und Lembembe hatten eines gemeinsam: ihre Homosexualität. Die SMS Mbedes lautete „Ich liebe dich“ und ging an einen Mann. Lembembe war Aktivist, er setzte sich für die Rechte queerer Menschen ein.

Die beiden Vorfälle liegen bereits einige Jahre zurück. Aber dem Filmemacher Appolain Siewe, der aus Kamerun stammt und als Student nach Deutschland kam, ließen sie keine Ruhe. Siewe kontaktierte Verwandte, um an Informationen zu kommen, und sprach mit Freunden Lembembes. Dann begann er mit den Dreharbeiten zu seinem Dokumentarfilm „Code der Angst“, den er im vergangenen Jahr fertigstellen konnte.

Siewe wollte herausfinden, warum solche Taten geschehen können. Warum Mbede für eine private Aussage inhaftiert wurde. Warum sich Politik, Justiz und Medien in Kamerun „auf einem Kreuzzug gegen sexuelle Minderheiten befinden“, wie Amnesty International es formuliert. Denn der Vorwurf, homosexuell zu sein, wird auch gezielt eingesetzt, um politischen Gegner*innen zu schaden. Und Täter wie die Mörder Lembembes können davon ausgehen, ohne Strafe davonzukommen.

Homosexualität ist in Kamerun wie in fast allen afrikanischen Ländern immer noch ein absolutes, oft auch strafbewehrtes Tabu. Sie wird oft bereits in der Familie sanktioniert, wo das „Problem“ nicht selten gewaltsam gelöst wird. Auch Mbede wurde nach der Verurteilung von seinen Angehörigen verstoßen – man habe lieber „den Dorftrottel als Sohn“, so der Vater.

In anderen afrikanischen Staaten bewegt sich aber auch etwas: In Botswana hat der Oberste Gerichtshof im Jahr 2019 gleichgeschlechtliche Beziehungen legalisiert. Zuvor drohten dort bis zu sieben Jahre Haft aufgrund eines Gesetzes, das noch aus der britischen Kolonialherrschaft stammte.

„Ich lerne beim Filmemachen, deswegen drehe ich“, sagte Siewe dem Amnesty Journal. Auf seiner Reise mit der Kamera traf er Menschenrechtsanwält*innen und Kulturwissenschaftler*innen, die im Film erklären, welche gesellschaftlichen Risiken und juristischen Möglichkeiten es für Homosexuelle in Kamerun gibt. Und auch, wie sich Aktivist*innen trotz aller Widerstände politisch engagieren.

Siewe befragte etwa Basile Ndjio. Man dürfe sich als Mann keine Schwäche erlauben, als solche würde Homosexualität aber gesehen, sagt der Professor für Anthropologie an der Universität Douala. Er schlägt einen historischen Bogen zurück in die Zeit, als Kamerun eine Kolonie mit wechselweise deutschen, französischen und englischen Herrschern war. Der Hass auf gleichgeschlechtliche Lebensweisen habe seinen Ursprung bei den Missionaren der christlichen Kirchen.

Vor der Kolonialherrschaft habe es in den Clangesellschaften des Landes sehr wohl polyamore und gleichgeschlechtliche Praktiken gegeben, erklärt auch der Soziologe Claude Abé im Interview mit Siewe. Dann seien die europäischen Missionare gekommen. Trotz stramm heterosexueller Ideologie hätten sie Jungen missbraucht, sodass Homosexualität einerseits offiziell verdammt, andererseits im Geheimen aufgezwungen worden sei. Die Kolonialisten hätten dort ausgelebt, was zu Hause in Deutschland bestraft worden wäre. So sei das Bild entstanden, Homosexualität gehöre zur Kultur europäischer weißer Invasoren. Zudem würde man sie mit einem zwangsläufigen Geburtenrückgang assoziieren, der letzten Endes zu einer Auflösung der Gesellschaft führe.

Siewe besuchte auch die Menschenrechtsanwältin Alice Nkom. In ihrem Büro hängt das Plakat von Amnesty International – im Jahr 2013 erhielt sie den Menschenrechtspreis der deutschen Sektion. Mit ihr sprach der Regisseur über die rechtliche Situation. Wie können Jurist*innen das Leben von Aktivist*innen schützen und sie vor Strafverfolgung bewahren? Nkom nennt aktuelle Fälle von Menschen, die in der bis zu fünf Jahre dauernden Haft aufgrund von Folter sterben. Sie ist sich sicher, dass die gesetzliche Situation in Kamerun nicht mit den Menschenrechten vereinbar ist. Die Lage der LGBTI-Community in ihrem Land sei von „Apartheid“ gekennzeichnet, so die Anwältin.

Auch seine eigene Geschichte und Erziehung bezieht der Regisseur, wiewohl selbst nicht homosexuell, schließlich in die filmische Erzählung ein. Als er 1997 zum Studium nach Berlin kam, habe er queeres Leben zumindest im Bezirk Schöneberg, in dem er damals lebte, als etwas Normales empfunden. Mit seinen Eltern konnte er nicht einmal während der Dreharbeiten über das Thema sprechen. Sein Vater habe gar den Kontakt abgebrochen, als er von dem Filmprojekt erfuhr. Er wolle damit nichts zu tun haben, habe er mitgeteilt, Homosexuelle seien „schlimmer als Tiere“.

Siewe gelingt in seinem 84 Minuten langen Film ein gesellschaftskritisches Kaleidoskop. Mit sehr guten Schnitten komponiert er aus den Interviews mit den Wissenschaftler*innen und Gewaltbetroffenen, mit Aktivist*innen und ­Anwält*innen, mit biografischen Einlassungen und unter Verwendung von Originalmaterial aus TV-Shows in Kamerun einen dichten Dokumentarfilm, der für die Zuschauer*innen gut nachvollziehbar ist.

„Code der Angst“ lief international bereits auf Festivals, in Deutschland hingegen bisher nur sporadisch in einigen Kinos oder auf Einladung lokaler Amnesty-Gruppen wie der in Frankfurt/Main, die den Film im Deutschen Filminstitut zeigte. Bisher hat sich noch kein Verleih gefunden, um Siewes Werk in Deutschland in die Kinos zu bringen. Dabei wäre ein offizieller Starttermin für den Film mehr als wünschenswert. Er ist engagiertes Kino, aufklärerische Dokumentation und akribische Erzählung. Und in jeder Hinsicht sehenswert.

Diese Kritik erschien zuerst in: Amnesty Journal

Shambhala

(NP/FR/NO/HK/TR/TW/USA 2024, Regie: Min Bahadur Bham)

Spirituelle Reise
von Wolfgang Nierlin

Die Steinhäuser des kleinen Dorfes stehen vereinzelt in der kargen Hochgebirgslandschaft des nepalesischen Himalaya. Dessen schroffe, teils schneebedeckten Kämme bilden die majestätische Horizontlinie vor dem nahen, tiefblauen Himmel. In den …

Die Steinhäuser des kleinen Dorfes stehen vereinzelt in der kargen Hochgebirgslandschaft des nepalesischen Himalaya. Dessen schroffe, teils schneebedeckten Kämme bilden die majestätische Horizontlinie vor dem nahen, tiefblauen Himmel. In den extrem hoch gelegenen Siedlungen geht das buddhistisch geprägte Leben mit seinen Bräuchen und religiösen Ritualen seinen traditionellen Gang. Gebetsfähnchen flattern im Wind, Schiefersteine werden graviert, eine Hochzeit wird vorbereitet. Die schöne Pema (Thinley Lhamo) heiratet nach polyandrischem Brauch gleich drei Brüder. Doch da Karma (Sonam Topden) als Mönch ins Kloster geht und der kleine, freche Dawa (Karma Wangyal Gurung) noch ein Schuljunge ist, wird der Bauer Tashi (Tenzin Dalha) zu ihrem „eigentlichen“ Ehemann. „Ein Haus wird erst zu einem Zuhause, wenn alle glücklich sind“, sagt der Rinpoche (Loten Namling). In einer langen, kunstvollen Plansequenz, die das Geschehen indirekt durch einen Spiegel vermittelt, sitzen die Brüder beim genussvollen Essen zusammen. Durch Pema fühle sich das Haus jetzt lebendig an, sagt Tashi. Doch bald bricht er mit einer Karawane zu einer mehrmonatigen Handelsreise nach Lhasa auf.

Der nepalesische Regisseur Min Bahadur Bham erzählt die Geschichte seines epischen Films „Shambhala“, dessen Titel auf ein legendäres, mythisches Königreich des Einklangs von Mensch, Natur und Geist verweist, in einem ruhigen, meditativen Rhythmus. Dieser passt sich gewissermaßen den natürlichen Gegebenheiten der Landschaft und der langsamen Lebensweise seiner Bewohner an. Mit ethnologischem Interesse zeigt der Filmemacher deren sorgsames Tun bei der Feldarbeit mit den Yaks, aber auch traditionelle Tänze und Gesänge. Weil Dawa ein problematischer Schüler ist, kommt es zu einer folgenschweren Begegnung zwischen Pema und dem dichtenden Dorfschullehrer Ram Sir (Karma Shakya). Als bald darauf Pemas Schwangerschaft bekannt wird, machen Gerüchte die Runde, die auch Tashi in der Ferne erreichen. Als dieser daraufhin von seiner Reise nicht zurückkehrt, begibt sich Pema auf die Suche nach ihm, zunächst widerwillig und schweigsam begleitet von Karma.

„Du wirst mehr finden als das, was du suchst“, sagt der Rinpoche beim Abschied und deutet damit bereits an, dass Pemas Reise letztlich eine spirituelle ist, auf der die äußere Landschaft mit ihren markanten Stationen und Veränderungen zum Spiegel von Pemas innerem Erleben wird. Als starke, widerständige Heldin verbindet sie ein modernes Frauenbild mit traditionellen buddhistischen Grundsätzen und interpretiert so auf neue Weise die Vorstellungen von Vergänglichkeit und Wiedergeburt, aber auch die Praxis einer liebenden Ehefrau. Wiederholt fügt Min Bahadur Bham poetische, durch Schwarzweiß und Zeitlupe markierte Traumsequenzen in den Fluss der Erzählung ein. Tashi wird nach einem Prozess der Läuterung schließlich heimkehren und Pema, die auf sein Vertrauen hofft, wird ihm dort begegnen. Doch ihre spirituelle Reise, die sie als Glück und „tiefe Befreiung“ erlebt, ist damit nicht zu Ende. Noch unterwegs, sagt sie einmal: „Es geht um das Schicksal. Wir müssen unseren eigenen Wegen folgen.“ Und dabei spielt die Wiedergeburt, verkörpert durch ihre Schwangerschaft, eine wesentliche Rolle.

Die Saat des heiligen Feigenbaums

(FR/DE/IR 2024, Regie: Mohammad Rasoulof)

Im Kampf der Freiheit
von Wolfgang Nierlin

Unter globalisierten beziehungsweise multinationalen Produktionsbedingungen sind Filme heutzutage mitunter nicht mehr nur das Werk eines Produktionslandes. So bewarb sich in diesem Jahr Japan mit Wim Wenders‘ dort entstandenem Film „Perfect …

Unter globalisierten beziehungsweise multinationalen Produktionsbedingungen sind Filme heutzutage mitunter nicht mehr nur das Werk eines Produktionslandes. So bewarb sich in diesem Jahr Japan mit Wim Wenders‘ dort entstandenem Film „Perfect Days“ für den sogenannten „Auslandsoscar“. Für die kommende Oscar-Preisverleihung in nämlicher Kategorie „Bester internationaler Film“ ist nun wiederum Deutschland mit dem iranischen Film „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ nominiert. Das hat vor allem damit zu tun, dass der vielfach preisgekrönte Film maßgeblich von der Hamburger Firma Run Way Pictures produziert wurde. Außerdem lebt sein Regisseur Mohammad Rasoulof, nachdem er kurz vor einer drohenden neuerlichen Inhaftierung sein Heimatland überstürzt verlassen musste, im Exil in Deutschland. Zuvor hatte er aber mit kleiner Crew und minimaler Ausstattung sowie unter besonders schwierigen und geheimen Bedingungen noch seinen politisch sehr aktuellen und brisanten Film drehen können. Dessen metaphorischer Titel spielt an auf das Wachstum der Pappelfeige, die sich entwickelt, indem sie ihren Wirtsbaum erstickt. Dieses Bild fungiert zugleich als Blaupause für das kämpferische Geschehen von Rasoulofs Film.

Dieser beginnt mit einer Beförderung im Zwielicht. Nach zwanzig Jahren wird der Familienvater Iman (Misagh Zareh) zum Ermittlungsrichter am Revolutionsgericht in Teheran ernannt. Seine treusorgende Frau Najmeh (Soheila Golestani) ist stolz, freut sich und hofft auf eine größere Wohnung für die Familie mit den beiden jugendlichen Töchtern, die sich noch ein Zimmer teilen. Doch die ersten Bilder verweisen auf eine Gefangenschaft. Die Mädchen sollen fortan ihre Lebensweise ändern, konsequent den Hidschab tragen und auf Posts in den sozialen Medien verzichten. Und schon bald erweist sich Imans beruflicher Aufstieg als äußerst zwiespältig. Denn auf Druck des Staatsanwalts soll er entgegen seiner juristischen Grundsätze Strafen verhängen, ohne hinreichende Aktenkenntnis zu haben. Kurz darauf, als nach dem durch Polizeigewalt verursachten Tod der jungen Jina Mahsa Amini, Massenproteste aufflammen, wird er gezwungen, Hinrichtungsbefehle im Schnellverfahren zu unterschreiben. Dabei gerät er zunehmend unter massiven inneren und äußeren Druck. Bald fühlt er sich selbst bedroht und nicht mehr sicher.

Im kammerspielartigen Setting des Films konzentriert sich Rasoulof aber zunächst auf die Innenperspektive der Familie. Während die traditionell eingestellte Mutter versucht, ihrem meist abwesenden, zunehmend erschöpften Mann den Rücken freizuhalten, solidarisieren sich die 21-jährige Rezvan (Masha Rostami) und ihre jüngere Schwester Sana (Setareh Maleki) mit den Protestierenden. Handy-Videos brutaler Polizeieinsätze, als Dokument in die Handlung eingefügt, stehen dabei im Widerspruch zu den offiziellen Verlautbarungen im Fernsehen. Als eine Freundin Rezvans mit Schrotkugeln im Gesicht schwer verletzt wird und außerdem Imans Dienstwaffe auf mysteriöse Weise verschwindet, dringen die Konflikte immer mehr ins Innere der Familie und führen zu schwerwiegenden Auseinandersetzungen. Misstrauen und Verhöre, offener Streit und Zwangsmaßnahmen sind die Folge.

Nicht immer ganz schlüssig, inszeniert Rasoulof diese Entwicklung als spannungsgeladenen Thriller in den Koordinaten von Freiheit und Gefangenschaft, Überwachung und Verfolgung. Andererseits überhöht er manche Szenen ins Symbolische, etwa den Vorgang einer stark stilisierten Wundversorgung oder die innerlich besänftigende Reinigung mit Wasser. Auch seine utopische Vision eines letztlich siegreichen Widerstands, der sich den gesellschaftlichen Labyrinthen entwindet, mündet in einem gewissen Pathos. Allerdings verwendet der politisch engagierte iranische Filmemacher diese markante Zeichensprache, weil er sich mit seinem Werk als Teil eines unausweichlich gewordenen Kampfes für Freiheit und gesellschaftliche Veränderung begreift.

Hier gibt es eine weitere Filmkritik zu „Die Saat des heiligen Feigenbaums“.

Des Teufels Bad

(AT 2024, Regie: Veronika Franz, Severin Fiala)

Von Schwermut vergiftet
von Wolfgang Nierlin

„Und weil ich vor Verdruss recht müde war dieses Lebens, so kam mir in den Sinn, begehe einen Mord“, steht als Motto über dem Film „Des Teufels Bad“ von Veronika …

„Und weil ich vor Verdruss recht müde war dieses Lebens, so kam mir in den Sinn, begehe einen Mord“, steht als Motto über dem Film „Des Teufels Bad“ von Veronika Franz und Severin Fiala. Entstanden nach historischen Aufzeichnungen, spielt dieser um das Jahr 1750 in Oberösterreich unter bäuerlichen Lebensbedingungen, die ärmlich und karg sind. Gleich im Prolog, eingebettet in eine bewaldete, nebelverhangene Berglandschaft, geschieht dann auch eine schreckliche Kindstötung. Die Mutter gesteht ihre Tat und wird daraufhin enthauptet. Weil sie zuvor ihre Sünden gebeichtet hat, entgeht sie nach damaligem religiösem Verständnis allerdings der ewigen Verdammnis und ist erlöst. Die Geschichtsschreibung hat diese vor allem von lebensmüden Frauen gewählte, wenig bekannte Praxis als „mittelbaren Selbstmord“ bezeichnet. Denn sich selbst umzubringen, sei schlimmer als Mord, wird später ein Pfarrer warnend über einen Selbstmörder sagen. Dieser habe „Nein zum Leben“ und zum Herrgott gesagt, keine Absolution erhalten und sei deshalb auf ewig verloren. Wie zur Abschreckung wird sein Leichnam aufs offene Feld geworfen.

Vor diesem Hintergrund erzählt der naturalistisch genau anmutende Film die tragische Geschichte der naturverbundenen, sehr empfindsamen Agens, einfühlsam und ausdrucksstark verkörpert von Anja Plaschg, die unter ihrem Künstlernamen Soap & Skin auch die Filmmusik komponiert hat. Diese heiratet den gutmütigen Fischer und Holzfäller Wolf (David Scheid) und muss dafür in ein Nachbardorf ziehen, wo sie sich fremd und bald als misstrauisch beäugte Außenseiterin fühlt. Weil ihr homosexuell veranlagter Mann die Ehe nicht vollzieht, kann ihr sehnlicher Kinderwunsch nicht erfüllt werden. Immer häufiger flüchtet sich die gottesfürchtige, zunehmend eigensinniger werdende junge Frau deshalb in religiöse Rituale und in eine Einsamkeit, in der die Dämonen ihrer Schwermut wachsen und immer bedrohlicher werden. Verstärkt wird ihre Desintegration außerdem durch eine dunkle, kalte und raue Umgebung sowie durch eine Schwiegermutter (Maria Hofstätter), die sich in Agnes‘ Haushaltsführung einmischt, sie kontrolliert und drangsaliert. „Mit der sind wir gestraft“, beklagt sie sich bei ihrem Sohn.

Franz und Fiala zeigen in ihrem preisgekrönten Film mit dokumentarischem Gestus eine ferne, von religiösen Vorstellungen und fremden Bräuchen bestimmte Welt, ohne alles auszubuchstabieren oder das Verständnis zu gängeln. Mühevolle, entbehrungsreiche Arbeit wechselt sich im Leben der Dorfgemeinschaft ab mit ausgelassenen Festen und blutigen Ritualen. Neben der realistischen Schilderung dieser Ereignisse und eindrucksvollen Naturstimmungen stehen immer wieder Schockbilder, die diese Alltagshärte unterstreichen und zugleich sublimieren. Denn nicht zuletzt führt Agnes‘ einsamer, wahnhafter Weg, der „alles Schöne mit verrückten Gedanken vergiftet“, nicht nur in ein existentielles Delirium und einen schier unentrinnbaren Seelenhorror, sondern auch zu einer umfassenden, schließlich auch sozialen Katharsis. Hier scheitert eine sensible Seele an einer lebensfeindlichen Welt, aus der sie nur noch weg will.

Hypnose

(SE/NO/FR 2023, Regie: Ernst De Geer)

Das Eigentliche und das Uneigentliche
von Wolfgang Nierlin

Der Film beginnt mit einem Rollenspiel: Vor roter Hintergrundtapete erzählt eine junge Frau frontal zum Zuschauer vom traumatischen Erlebnis ihrer ersten Regelblutung im Alter von 11 Jahren, als der Blutausfluss …

Der Film beginnt mit einem Rollenspiel: Vor roter Hintergrundtapete erzählt eine junge Frau frontal zum Zuschauer vom traumatischen Erlebnis ihrer ersten Regelblutung im Alter von 11 Jahren, als der Blutausfluss aufgrund einer Gerinnungsstörung nicht aufhören wollte; und von der Scham, die diese Erfahrung bei ihr auslöste. Nach einem Gegenschnitt entpuppt sich die Geschichte als fiktiv, inszeniert für einen bevorstehenden Pitch-Workshop, bei dem Vera (Asta Kamma August) und ihr Freund und Geschäftspartner André (Herbert Nordrum) eine Gesundheitsapp für Frauen vorstellen wollen. Mit ihrem für den globalen Markt entwickelten Produkt, das den Namen der schmerzlindernden Göttin Epione trägt, möchten sie einen Investor gewinnen, der ihrem kleinen Start-up-Unternehmen die Anschubfinanzierung sichert. Man sieht in diesen ersten Szenen von Ernst De Geers Film „Hypnose“, wie das Eigentliche vom Uneigentlichen überformt wird und sich das Verhalten und Reden der beiden Entwickler vom nur Vorgespielten nährt. Die „Work-Life-Beziehung“ von Vera und André, die sich in einer farbigen, warmen und gepflegten Ikea-Wohnung abspielt, beruht auf einer bewussten Selbsttäuschung.

In dieser Scheinwelt sind entgegen dem ersten Eindruck die Geschlechterrollen ungleich und in gewisser Weise traditionell verteilt. Auch wenn André als Hausmann und verständnisvoller Partner vorgestellt wird, ist er im Geschäftlichen der Dominante, dessen Entscheidungen sich Vera anpasst. Bei einer Hypnotherapeutin, bei der Vera mit Hilfe von Hypnose ihre „schlechte Angewohnheit“ des Rauchens loswerden will, steht deshalb offensichtlich noch mehr zur Disposition. Sie habe das Gefühl, sagt Vera, sie stehe immer nur neben sich und würde keine eigenen Entscheidungen treffen; worauf ihr die Therapeutin etwas „Radikales“, eine „magische, mystische Reise“ vorschlägt. Tatsächlich scheint Vera nach ihrem Erwachen verändert zu sein. Zunächst eher unmerklich wie von einer schwebenden Leichtigkeit beseelt, stößt ihr neues, selbstbewussteres Verhalten zunehmend auf Verwunderung und löst vor allem bei André verständnislose Irritationen und Hilflosigkeit aus. In unmerklichen Übergängen und Verschiebungen scheint sich die Wirklichkeit der Täuschung zu erwehren.

Beim „Shake Up“-Workshop in einem hochmodernen Tagungshotel mit dem sanften Pitch-Guru Julian (David Fukamachi Regnfors) spitzt sich dieser Konflikt schließlich zu. Hier, wo alle „Theater spielen“, um sich zu präsentieren und etwas zu verkaufen, wo unablässig nichtssagende Floskeln ausgetauscht werden und das gezwungene Verhalten immer wieder ins Peinliche kippt, stößt Veras wiedergewonnene Echtheit zunehmend auf Unverständnis. Ihr plötzlich verändertes, ab einem bestimmten Moment Grenzen missachtendes Verhalten provoziert, verstört und verstößt offensichtlich gegen soziale Normen. Wie sein Landsmann Ruben Östlund mit seinen Filmen, so beobachtet auch Ernst De Geer in einem zeitlich und örtlich begrenzten Rahmen das Aufeinanderprallen individueller Abweichung und gesellschaftlicher Konventionen. Indem die Protagonistin Erwartungen enttäuscht und die geforderte Anpassung aufkündigt, entlarvt sie die hohlen Regeln, nach denen die Welt angeblich funktioniert. Der schwedische Regisseur beschreibt das Milieu seines Films realitätsnah und zugleich satirisch. Nachdenklich verbindet er die Beobachtung sozialen Verhaltens mit Fragen der Identität. Denn schließlich müssen Vera und André in ihrer Beziehungskrise erst etwas über sich selbst lernen, um wieder zueinander finden zu können.

Riefenstahl

(DE 2024, Regie: Andres Veiel)

Die Manipulatorin
von Wolfgang Nierlin

Die verschwommenen, unscharfen Bilder sind in goldenes Licht getaucht, dessen Leuchten zugleich blendet, während eine junge Frau nach einem Schatz taucht. Derweil werfen die Credits Schatten auf die Leinwand. Undeutliches, …

Die verschwommenen, unscharfen Bilder sind in goldenes Licht getaucht, dessen Leuchten zugleich blendet, während eine junge Frau nach einem Schatz taucht. Derweil werfen die Credits Schatten auf die Leinwand. Undeutliches, Doppelgesichtiges und Ambivalentes bilden den Auftakt von Andres Veiels Dokumentarfilm „Riefenstahl“, der sich der Filmregisseurin und Fotografin widmet, um einmal mehr ihre Rolle während der nationalsozialistischen Diktatur zu beleuchten. Das geschieht nicht entlang einer lückenlosen biographischen Erzählung, sondern mehr fragmentarisch in Schlaglichtern auf bestimmte Aspekte ihres langen Lebens (1902-2003) und einem eng damit verknüpften Werk. Den eingangs zitierten Film „Blaues Licht“ aus dem Jahre 1932 mit seinen geheimnisvollen Bildern hat Leni Riefenstahl, die hier zusammen mit dem ungarischen Filmtheoretiker Béla Balázs erstmals Regie führte, in der Rückschau als „Schlüssel zu meinem Leben“ bezeichnet. Sportlich und abenteuerlustig hat sie zuvor als Tänzerin und waghalsige Kletterin in den Bergfilmen von Arnold Fanck Aufmerksamkeit auch bei den Nazi-Funktionären erregt.

Aus ihrer Faszination, ja Geistesverwandtschaft mit Adolf Hitler, mit dem sie in persönlichem Kontakt stand, hat Riefenstahl keinen Hehl gemacht. Er habe sie „wie durch Magnetismus eingefangen“, sagt sie über ihrer Treue zum „Führer“, der wie sie idealistisch, opferbereit und kompromisslos gewesen sei. In den kontroversen Auseinandersetzungen um ihre Rolle als NS-Propagandistin, die nach dem Krieg unter anderem in TV-Talkshows und Interviews geführt wurden, beharrt sie darauf, unpolitisch gewesen zu sein und von den Massenmorden in den Konzentrationslagern nichts gewusst zu haben: „Politik ist das Gegenteil von dem, was mich das ganze Leben lang interessierte.“ Stattdessen betont sie, sich bei ihren Olympia-Filmen (1938) sowie ihrem Propagandafilm „Triumph des Willens“ (1935) nur für die Kunst interessiert zu haben. Sie sei keine Widerstandskämpferin, sondern nur „Ausführende einer Arbeit“ gewesen. Das sah man offensichtlich auch in den Untersuchungen nach dem Krieg so und beurteilte die Regisseurin als „Mitläuferin“.

Andres Veiel bestätigt in seiner neuen Arbeit, für die er Zugriff auf einen höchst umfangreichen Nachlass aus Briefen, Aufzeichnungen und Tonmitschnitten hatte, zunächst dieses scheinbar unverrückbare Bild. Auf einer darunter liegenden Ebene interessiert er sich aber zugleich dafür, wie sich diese Image durch Riefenstahls unablässig manipulierte Selbstdarstellung verfestigte, indem die Porträtierte ihre öffentliche Wahrnehmung massiv lenkte und zensierte. Außerdem zeigt Veiel mit Blick auf Riefenstahls Gewalterfahrungen in ihren Kinder- und Jugendjahren eine traumatisierte Frau und die Prägungen, die daraus resultierten, ohne sie jedoch aus ihrer späteren politischen Verantwortung zu entlassen. Insofern ist sein Film „Riefenstahl“ nicht nur Zeugnis individueller Widersprüche und fortgesetzter ideologischer Überzeugungen, sondern auch Mahnung an unsere politische Gegenwart angesichts neuerlicher rechtsnationaler Entwicklungen.

In Liebe, Eure Hilde

(DE 2024, Regie: Andreas Dresen)

Erinnerung an die Rote Kapelle
von Jürgen Kiontke

Hilde und Hans lieben sich: In seinem neuen Film „In Liebe, Eure Hilde“ setzt Regisseur Andreas Dresen eher auf Emotion denn auf politische Erklärung. In dem Porträt der Widerstandskämpferin Hilde …

Hilde und Hans lieben sich: In seinem neuen Film „In Liebe, Eure Hilde“ setzt Regisseur Andreas Dresen eher auf Emotion denn auf politische Erklärung. In dem Porträt der Widerstandskämpferin Hilde Coppi dominiert die Gruppendynamik und noch mehr die Liebesbeziehung Hildes zu Hans Coppi, der wie sie aufgrund des Vorwurfs der Feindspionage von den Nationalsozialisten verurteilt und hingerichtet wurde. Liv Lisa Fries gibt die Arzthelferin und spätere Versicherungsangestellte dabei als äußerlich zerbrechlich wirkende, innerlich aber robuste junge Frau wieder.

Gemeinsam mit ihrem Mann Hans war sie in der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ aktiv, die von der Gestapo verfolgt wurde, weil sie angeblich moskautreue Sabotageaktionen verübte. Ihre Mitglieder hörten feindliche Sender, druckten Flugblätter gegen die Nazidiktatur und dokumentierten Verbrechen. Wie schwierig das alles war, lässt sich im Film erahnen. Die Gruppe verfügte kaum über geeignete Mittel für ihre Arbeit und operierte hauptsächlich von einer Gartenlaube aus, um beim Abhören der Radiosender mit zusammengeschraubter Technik nicht erwischt zu werden. Am Ende nutzte ihnen dies wenig. Die Gestapo hatte die Kapelle als Feind ausgemacht und verfolgte vermeintliche wie echte Mitglieder gnadenlos. Viele der Aktiven wurden verhaftet, die Prozesse waren kurz und endeten oft mit einem Todesurteil. In Hilde Coppis Fall kam noch hinzu, dass sie ein Kind erwartete, das in der Haftanstalt geboren wurde (der Wissenschaftler und spätere Vorsitzende der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten Hans Coppi junior).

Aufmärsche der Nazis und das Geplärre ihres politischen Personals sowie Inszenierungen von Kriegshandlungen gibt es in diesem Film eher weniger. Vielleicht wird hier zu wenig auf die geschichtlichen Ereignisse eingegangen. Hildes letzter Gang ist dann dramatisch wie traurig inszeniert. Der Filmtitel erinnert an ihren letzten Brief aus der Haft. Die Hinrichtung wirkt als Verwaltungsakt brutalisierter Beamter. Eine ganze Gruppe Frauen wird mittels Fallbeil getötet – nichts für schwache Nerven. Dresen begründet seine ungeschönte Darstellung wie folgt: „Irgendwen zu schonen, hat mich noch nie interessiert.“

Diese Kritik erschien zuerst am 14.10.2024 auf: links-bewegt.de

Architecton

(DE/FR 2024, Regie: Victor Kossakovsky)

Gestörtes Gleichgewicht
von Wolfgang Nierlin

Im ruhigen Gleitflug nähert sich die Kamera-Drohne kriegszerstörten Wohnblocks, filmt aufgerissene Fassaden, leere, gleichförmige Straßenzüge und verlassene Häuser als Abwesenheit des Lebens. Zugleich geht der Blick durch enge, graue Straßenschluchten …

Im ruhigen Gleitflug nähert sich die Kamera-Drohne kriegszerstörten Wohnblocks, filmt aufgerissene Fassaden, leere, gleichförmige Straßenzüge und verlassene Häuser als Abwesenheit des Lebens. Zugleich geht der Blick durch enge, graue Straßenschluchten und entdeckt in der Ferne eine beschädigte Kirche auf einem Fleck grüner Natur. Zivilisation und Natur, Altes und Neues, Tradition und Moderne bilden Gegensätze in Victor Kossakovskys neuem Film „Architecton“. Unterstrichen wird das noch von Evgueni Galperines Score, in dem helle, dramatische Trompetenklänge auf schweres, dunkles Streichergrollen treffen. Dieses Prinzip der rhythmisierten visuell-akustischen Erzählung, in der beeindruckende Bilder mit ausladender Geste auf eine suggestive, in diesem Fall wuchtige Musik treffen, erinnert entfernt an Godfrey Reggios hypnotischen Kultfilm „Kooyanisqatsi“, ohne dessen Differenzierungsgrad und emotionale Tiefe zu erreichen. Auch Kossakovsky geht es um Abstraktion und Allgemeingültigkeit. Meist aus der Distanz gefilmt und mit musikalischen Echoeffekten unterlegt, wiederholen sich die Panoramen der Zerstörung beim Blick auf die Schäden in einem Erdbebengebiet.

Die Gegenbewegung liefern die Nahansichten und Großaufnahmen eines Steinbruchs, wo durch Sprengungen riesige Geröll- und Steinlawinen ausgelöst werden. Mal fließen die Gesteinsmassen in Zeitlupe wie ein schwerer Strom, mal tanzen und hüpfen die Steine wie in einem Ballett auf Förderbändern zu ihrer Umwandlung in einen Baustoff. Dessen Kurzlebigkeit in Form von Beton, der möglicherweise schon nach wenigen Jahrzehnten zu Schutt und Staub zerfällt, ist eines der zentralen Themen des Films. Eng damit zusammen hängen die geologischen Transformationen, die im sogenannten Anthropozän von Menschen verursacht werden. Auf die Terrassen des Steinbruchs folgt im zeitlichen Abstand eine gewaltige Bauschuttdeponie, die Schneisen in die Natur schlägt und die Landschaft verändert.

Als Gegenmodell zu diesem Zerstörungswerk besichtigt Kossakovsky zusammen mit dem italienischen Architekten Michele De Lucchi die antiken Ruinen von Baalbek im Libanon. Hier stoßen sie auf übergroße, behauene Steine, die offensichtlich für die Ewigkeit verbaut wurden; oder zumindest für eine Zukunft, von der man noch eine Vorstellung hatte. Der Schönheit dieser Monumente steht die Wert- und Formlosigkeit heutiger, auf Funktionalität und Kurzlebigkeit ausgerichteten Architektur gegenüber. Das dadurch gestörte Gleichgewicht veranschaulichen in einigen kurzen Szenen fragile Steinskulpturen, die durch kleinste Erschütterungen in sich zusammenfallen, nachdem sie zuvor von einem Künstler geduldig aufgebaut worden waren. Als Ausdruck für den Kreislauf des Lebens und für den Respekt vor der Natur installiert De Lucchi unter Mithilfe von Arbeitern in seinem Garten schließlich einen magischen Steinkreis, der nicht betreten werden darf und der die Idee des Bewahrens symbolisiert. Überzeugt davon, dass Architektur das Verhalten der Menschen beeinflusst, fordert der De Lucchi einen Paradigmenwechsel, der die Einsicht in die Endlichkeit der Ressourcen mit der Notwendigkeit verbindet, eine neue Schönheit zu finden.

E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer

(CH 2024, Regie: Beatrice Minger)

Eine schützende Hülle für die unbegrenzte Vorstellungskraft
von Wolfgang Nierlin

Das Haus liegt, in einer malerischen Bucht zwischen Klippen versteckt, direkt am Meer. Der Blick in das weite Blau, gerahmt und unterbrochen von einzelnen Pinien und Zypressen, hat etwas Traumverlorenes. …

Das Haus liegt, in einer malerischen Bucht zwischen Klippen versteckt, direkt am Meer. Der Blick in das weite Blau, gerahmt und unterbrochen von einzelnen Pinien und Zypressen, hat etwas Traumverlorenes. Hier in Roquebrune-Cap-Martin an der Côte d’Azur, nahe der italienischen Grenze, hat die Designerin und Architektin Eileen Gray Ende der 1920er Jahre zusammen mit ihrem Freund Jean Badovici, einem aus Rumänien stammenden Architekturjournalisten, das Haus mit dem kryptischen Namen E.1027 entworfen, gebaut und mit eigens dafür designten Möbeln eingerichtet. Lebenslang habe sie sich nach solch einem kleinen, heimeligen Rückzugsort und Refugium gesehnt, einer unzugänglichen Insel, die zugleich eine spirituelle Erweiterung ermögliche. „Mit diesem Haus habe ich etwas gefunden, von dem ich nicht wusste, dass ich es vermisste“, schreibt Eileen Gray. Die Verbindung von Architektur und Natur, Offenheit und Privatheit ist auch eine Reminiszenz an ihre ebenso behütete wie freie Kindheit auf einem irischen Landsitz, wo sie 1878 in einer aristokratischen Familie geboren wurde, die ihr zeitlebens eine finanziell unabhängige Existenz sicherte.

In ihrem hybriden, zwischen historischen Dokumenten und fiktiven Spielszenen changierenden Film „E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer“ rekonstruieren Beatrice Minger und Christoph Schaub vor allem Lebens- und Arbeitsspuren, die zu diesem Projekt geführt haben. Während aus dem Off Gedanken und Erinnerungen der öffentlichkeitsscheuen Porträtierten zitiert werden, bewegen sich die Darstellerinnen Natalie Radmall-Quirke als Eileen und Axel Moustache als „Bado“ in einer Art Reenactment durch Räume an Originalschauplätzen oder in solchen, die im Studio nachgebaut wurden. Dabei geht es mehr um abstrakte Beziehungen zwischen Körpern und Räumen als um eine nachprüfbare, Kohärenz anstrebende Geschichte; zumal Gray, die 1976 im Alter von 98 Jahren starb, die Vernichtung privater Korrespondenzen verfügt hat und die „Lücken“ im – inhaltlich teils redundanten – Text deshalb gewissermaßen zwangsläufige sind. Die beiden Schweizer Filmschaffenden nutzen diesen „Mangel“, um ihrem in ausnehmend schönen Bildern komponierten Film eine dem Gegenstand angemessene offene und freie Forum zu geben, die auch intime Blicke nicht ausspart.

Denn gerade die Verbindung persönlicher, dezidiert weiblicher Gefühle und eine Vision avantgardistischer Unabhängigkeit beseelten auch das Schaffen Eileen Grays. Das Haus als schützende Hülle für den begrenzten, verletzbaren Körper und eine zugleich unbegrenzte Vorstellungskraft steht in der Folge im Gegensatz zu Le Corbusiers Idee einer „Wohnmaschine“. „Ein Haus ist keine Maschine, es ist das Gehäuse, die Schale des Menschen, seine Erweiterung, seine Befreiung, seine spirituelle Ausstrahlung“, schreibt die Nonkonformistin Gray. Nach einer unruhigen, von inneren Spannungen geprägten, „unscharfen Zeit“ im Paris der 1920er Jahre gestaltet sie zusammen mit dem jüngeren, Leichtigkeit ausstrahlenden „Bado“ für kurze Zeit einen Ort, an dem sich Geist und Herz verbinden. Als im Zuge des aufkommenden Riviera-Tourismus Le Corbusier (Charles Morillon) auf der Szene erscheint und nach Eileen Grays Rückzug das faszinierende Haus durch Wandmalereien für sich vereinnahmt, empfindet das die Architektin als einen „Akt der Gewalt“. Der Film zeigt diese umstrittene Aneignung und Übernahme in einer Mischung aus männlichem Machtgebaren und künstlerischem Vandalismus. Eileen Gray, die lieber etwas kreieren als besitzen will, findet den ihr gemäßen Ort schließlich abseits des Kunstbetriebs in ihrer Vorstellungskraft und in der Wirklichkeit ihrer Arbeit.

Unendlicher Raum

(DE 2024, Regie: Paul Raatz)

Die Zukunft von Loitz
von Jürgen Kiontke

Während sich deutsche Städte teuer, voll und wahlweise verkommen und/oder gentrifiziert präsentieren, wird es auf dem Land still. Die Jugend studiert woanders was mit Studium, die Siedlungen leeren sich – …

Während sich deutsche Städte teuer, voll und wahlweise verkommen und/oder gentrifiziert präsentieren, wird es auf dem Land still. Die Jugend studiert woanders was mit Studium, die Siedlungen leeren sich – je weiter von den urbanen Zentren entfernt, desto mehr. Nicht viel anders erging es der Kleinstadt Loitz jahrelang, im Nirgendwo Vorpommerns gelegen. Zu DDR-Zeiten ein florierender Flecken, mehrten sich seit der Wende die Brachflächen. Fabriken, Werkstätten, Wohnhäuser – der Verfall machte sich breit; es boomte allein der Hang zu rechten Parteien.

Regisseur Paul Raatz hat nun dort seinen Film „Unendlicher Raum“ gedreht. Eine Dokumentation, mit der er zeigen will, wie es anders geht. Ein Zukunftsprojekt soll sich dem Stadtsterben in den Weg stellen. Im Zentrum steht das Berliner Pärchen Annika und Rolando. Die beiden wollen gemeinsam mit den Anwohnern innerhalb eines Jahres einen Raum für Begegnungen schaffen. Unterstützung bekommen sie von einer Gruppe Musikern aus der Region. Alle zusammen wollen sie beweisen, dass der Leerstand eine Chance für die Kunst, und damit für die Gesellschaft ist. Dafür planen sie, ein großes Festival auf die Beine zu stellen. Wie schwierig das ist, lässt sich Raatz nicht nehmen darzustellen. Negative Gruppendynamiken, Stadt-Land-Missverständnisse und das Hadern mit der Verwaltung: Die Kamera ist bei allen Prozessen dabei, die nach vorn und nach hinten weisen.

Unterm Strich passiert aber was. Die Wirkungsstätte eines Musikkünstlers wird zur festen Institution und kulturellen Anlaufstelle; ein Schlagersänger, der Lieder über Liebe und Sehnsucht schreibt, hat sich mit seinem Studio angesiedelt; Jugendliche richten sich ein eigenes Zentrum ein. Selbst Menschen, die vor langer Zeit weggezogen sind, schauen vorbei und wundern sich über die Entwicklung. „Mein Bruder wohnt in Berlin. Wenn er hier ist, schläft er bis elf, die Luft ist einfach besser“, berichtet ein Loitzer.

Ein Zitat, das Regisseur Raatz, gebürtiger Stralsunder, auf sich selbst beziehen kann. Der sagt: „Ich bin ein Stadtmensch, der jahrelang Vorurteile gegenüber dem ländlichen Raum hatte. Darum war „Unendlicher Raum“ für mich immer eine Erkenntnisreise. Längst überfällig ist es, dass diese verborgenen Leben Vorpommerns sich auf der großen Leinwand repräsentiert sehen und, noch viel wichtiger, von anderen gesehen werden“ – Zuhausegefühl ohne heile Welt, aber mit Sehnsucht nach Geborgenheit.

Fazit: Heimatfilm mal anders.

Diese Kritik erschien zuerst am 09.10.2024 auf: links-bewegt.de

The Beast

(FR/CA 2023, Regie: Bertrand Bonello)

Die Angst vor der Liebe
von Wolfgang Nierlin

Leer, kalt und von mattem Grün ist der Raum, in den zu Beginn des Films eine Schauspielerin tritt, um sich von einer körperlosen Stimme aus dem Off inszenieren zu lassen. …

Leer, kalt und von mattem Grün ist der Raum, in den zu Beginn des Films eine Schauspielerin tritt, um sich von einer körperlosen Stimme aus dem Off inszenieren zu lassen. Die Wirklichkeit, so die Intention des ebenso neutralen wie offenen Greenscreen, tritt gewissermaßen erst später ins Bild. Sie solle, mit seitlichem Blick auf etwas Unheimliches, Angst und Schrecken ausdrücken, lautet die Regie-Anweisung. Die Schauspielerin schreit mit entsetztem Blick, bevor der diesbezüglich sprechende Filmtitel über die Leinwand flirrt. Erst viel später erfahren wir, dass die Inszenierung einem eher harmlosen, mäßig lustigen Werbeclip dient. Doch was die noch namenlose Darstellerin empfindet sowie der Anlass ihrer Furcht scheint echt und begründet. Ihr gelingt tatsächlich noch der Blick in jenen emotionalen Abgrund, der Bertrand Bonellos neuem Film „The Beast“ den Titel gab. In ihr stecken und wirken offensichtlich die Gefühle und Erfahrungen einer langen Geschichte. Sie sagt: „Ich wünsche mir, die Vergangenheit weiterzuleben, habe aber Angst, die Gegenwart zu ruinieren.“

Im Paris des Jahres 2044 herrscht eine gespenstische Leere. Die Straßen sind entvölkert, streunende Hunde und einzelne Gestalten bewegen sich durch die verhalten futuristische Szenerie. KI-Systeme haben weitgehend die Arbeit übernommen und aus den Menschen „useless people“ gemacht. In dieser Situation sucht die Schauspielerin Gabrielle Monnier (Léa Seydoux) eine Arbeit, die Intelligenz und menschliche Präsenz, Reflexion und Verantwortung miteinander verbindet. Aber die KI-Stimme ihres unsichtbaren Gegenübers „winkt ab“ und gibt zu bedenken, dass Affekte die Ergebnisse verzerrten. Erst einmal müsse ihre DNA gereinigt werden, um die schädlichen und plagenden Gefühle früherer Leben sowie die aus ihrer Vergangenheit stammenden Traumata zu löschen. Doch Gabrielle ist unsicher und unentschlossen. Sie fürchtet mit ihren Ängsten auch ihre individuelle Lebendigkeit zu verlieren. Trotzdem entscheidet sie sich schließlich für eine „Reinigung“, die nur einen Augenaufschlag dauern soll, während sie in einem ölig-glibberig schimmernden Wannenbad liegt.

Inspiriert von Henry James‘ Kurzgeschichte „Das Tier im Dschungel“ erzählt Bertrand Bonello eine zeitlich raffiniert verschachtelte „Geschichte der Gefühle“, die traum- und rätselhaft um Angst, Liebe und Einsamkeit kreist. Gerahmt von den dystopischen Schrecken einer nicht allzu fernen Zukunft, in der alle individuellen Probleme und Gefühlsregungen ausgelöscht scheinen, begibt sich Gabrielle während der „Reinigung“ auf eine innere Reise in die Vergangenheit.

1910 ist sie eine gefeierte Konzertpianistin, die ihre seelenvolle Musik aus dem Bewusstsein einer durchdringenden Empfindsamkeit erschafft. Als sie in festlicher Gesellschaft ihrem früheren Verehrer Louis Lewanski (George Mac Kay) wiederbegegnet, wird die mittlerweile mit einem Puppenfabrikanten verheiratete Gabrielle mit einer Liebe konfrontiert, die einst durch dunkle Vorahnungen und damit durch die Angst vor einem Unglück verhindert wurde. Während Paris von einer Hochwasserkatastrophe heimgesucht wird und man in der Oper die „Madame Butterfly“ als „ewiges Drama des Verlust“ aufführt, wiederholt sich die romantische Geschichte einer in ihrem Scheitern die Zeiten überdauernden Liebe unter umgekehrten und zugleich unheimlichen Vorzeichen 2014 in Los Angels.

Der schöne Schein einer geglätteten Wirklichkeit, eine unüberwindliche Einsamkeit und eine zerstörerische Unentschlossenheit lassen die „narzisstische Krise“ schließlich in einem Erdbeben münden. Konzentriert und entschlackt verknüpft Bonello wiederkehrende Motive und Symbole zu einer kühlen und zugleich berührenden Science-Fiction-Phantasie. Dabei offenbart der langsame, geduldige Fluss der Erzählung in seinem Wechsel von Zeiten und Räumen, der auch der Musik eine prominente Rolle zuweist, immer wieder überraschende Verbindungen. Liegt der Schrecken der Zukunft darin, dass dieser mitsamt seinen emotionalen Abgründen ausgelöscht wurde, wie der französische Regisseur meint. Oder brauchen wir als Menschen notwendig die Angst, um das Leben als solches zu erfahren und uns als Individuen zu begreifen, was der Film gleichfalls intendiert. In „The Beast“ heißt es einmal: „Die Katastrophe liegt hinter uns. Wir hatten alles und haben es versaut.“

The Apprentice – The Trump Story

(CA/DK/IE 2024, Regie: Ali Abbasi)

Siegen als Selbstzweck
von Wolfgang Nierlin

„Ich bin kein Gauner“, sagte Richard Nixon, bevor er im Zusammenhang mit der Watergate-Affäre etwa ein Jahr später von seinem Amt als Präsident der Vereinigten Staaten zurücktrat. Ali Abbasi beginnt …

„Ich bin kein Gauner“, sagte Richard Nixon, bevor er im Zusammenhang mit der Watergate-Affäre etwa ein Jahr später von seinem Amt als Präsident der Vereinigten Staaten zurücktrat. Ali Abbasi beginnt seinen neuen Film „The Apprentice – The Trump Story“ sehr absichtsvoll mit diesem zeitgeschichtlichen Dokument, bevor er zu treibender Rockmusik in das pulsierende Leben zwischen den Straßenschluchten New Yorks eintaucht. Unruhen, Demonstrationen und soziales Elend bestimmen die körnigen Bilder einer Metropole, die zunehmend verarmt und verfällt. Im Kontrast dazu erscheint der junge, noch ziemlich unbeleckte Millionärssohn Donald Trump (Sebastian Stan), der gerade zum neuen Mitglied eines exklusiven Restaurants geworden ist und seiner koksenden Begleiterin fasziniert vom Reichtum einzelner Club-Mitglieder vorschwärmt. In diesem erlauchten Kreis wird geklüngelt, werden korrupte Geschäfte und eigennützige Politik gemacht. Grünschnabel Donald, der für seinen Immobilienhai-Vater Klinken putzt und von armen Menschen in maroden Wohnsilos die Miete eintreibt, ist überzeugt, dass Erfolg durch ein „Gewinner-Gen“ bedingt wird, das auch er besitzt.

Ali Abbasi erzählt in der Folge mit hohem Tempo und einem fiebrigen Handkamerastil eine von Kriminalität flankierte Aufsteigergeschichte und deren fast selbstverständliche, weithin akzeptierte Verankerung im kapitalistischen System. Dafür gestaltet er eine kritische, gleich zweifache Charakterstudie über das sozialdarwinistische Recht des Stärkeren und den rücksichtslosen Willen zur Macht, was die beiden Porträtierten für sich reklamieren. Denn sein zweifelhaftes Handwerk des Siegens lernt Trump bei dem zwanzig Jahre älteren Anwalt Roy Cohn (Jeremy Strong), einer schillernden Figur der Halbwelt, der unter Senator McCarthy Kommunisten jagte und jetzt mit stierem Psychopathen-Blick seinen Lehrling auf seine „Gewinner-Regeln“ einschwört. Moral und Wahrheit sind für Trumps skrupellosen Mentor und Gönner, der mit illegalen Methoden arbeitet, austauschbare Fiktionen. Sein unbedingter Patriotismus („Amerika ist mein größter Klient.“), sein Hass auf Linke und Homosexuelle, zu denen er uneingestanden selbst gehört, färben auch auf seinen neuen Schützling ab. Dieser wird im Laufe weniger Jahre so groß, populär und mächtig, dass er seinen Förderer nicht nur überholt, sondern regelrecht verschlingt.

„Ich mag nichts, was mich bremst“, sagt der unmoralische Geschäftemacher jetzt, da er mit seiner eingeübten Rolle untrennbar verschmolzen ist und in den 1980er Jahren über zahlreiche Wolkenkratzer und Spielcasinos herrscht. Siegen ist ihm zum Selbstzweck, gar „zur Kunst“ geworden. Trotzdem zeigt der iranisch-dänische Regisseur auch die widersprüchlichen menschlichen Seiten eines Charakters, der unangenehme Gefühle abwehrt und verdrängt, Beziehungen abbricht oder verrät und im ausgestellten Narzissmus versinkt. So lässt er nach der Emanzipation von seinem übermächtigen Vater (Martin Donovan) seinen älteren, alkoholkranken Bruder im Stich; er vergewaltigt seine Frau Ivana (Maria Bakalova), mit der er in einer erkalteten Ehe lebt; und er verleugnet schließlich seinen einstigen Lehrmeister, als dieser an Aids erkrankt. So folgt Ali Abbasis „Punkrock-Version eines historischen Films“, der sich auf die Anfangsjahre von Trumps Aufstieg konzentriert, der aufschlussreichen Verwandlung eines relativ unbedarften Jungunternehmers zum skrupellosen Geschäftemacher. Indem er die Menschen in Gewinner und Verlierer einteilt, wird er schließlich zum Gefangenen des eigenen, allzu simplen Schemas.

Der Spatz im Kamin

(CH 2024, Regie: Ramon Zürcher)

Beschädigte Seelen in einer falschen Welt
von Wolfgang Nierlin

Mitten im See liegt eine kleine Insel, auf der Kormorane nisten. Dann fällt der Blick auf ein altes, stattliches Haus im Grünen, von einer warmen Sommersonne beschienen. Das Spiel von …

Mitten im See liegt eine kleine Insel, auf der Kormorane nisten. Dann fällt der Blick auf ein altes, stattliches Haus im Grünen, von einer warmen Sommersonne beschienen. Das Spiel von Licht und Schatten, eingehegt von einer freundlichen Natur, erzeugt unwillkürlich die Anmutung einer friedlichen Idylle. Doch der Schein trügt. Im Innern des Hauses herrscht der blanke Familienhorror, was jedoch in seinem Ausmaß erst nach und nach deutlich wird. Karen (Maren Eggert), die Mutter von drei Kindern, wirkt depressiv, in sich versunken und genervt; zugleich zeigt sie sich auf unangenehm konfrontative Art kontrollierend, bestimmend und aggressiv. Ihrem pubertierenden, für sein Alter ungewöhnlich selbständigen Sohn Leon (Ilja Bultmann) überträgt sie das Kochen für das bevorstehende Familienfest; mit ihrer aufmüpfigen, ziemlich desillusionierten Teenager-Tochter Johanna (Lea Zoe Voss) liegt sie im Dauerclinch; während die älteste Tochter Christina (Paula Schindler) das Haus bereits verlassen hat, um sich vor ihrer Mutter zu schützen. Immer wieder drangsaliert Karen – wie nebenbei und ohne laut zu werden – ihre Kinder. Diese bezeichnen ihre Mutter wahlweise als „gestört“ und ätzend“. „Sie kann einfach nicht leben“, sagen sie bei anderer Gelegenheit.

Tatsächlich sitzt Karens Schmerz über seelische Verletzungen tief und ist eng verknüpft mit Erinnerungen an ihre tyrannischen Eltern und mit dem zwiespältigen Erbe eines Hauses, von dem sie sich nicht lösen kann. Ramon Zürcher übersetzt in seinem kunstvollen Film „Der Spatz im Kamin“, dem letzten Teil seiner zusammen mit seinem Zwillingsbruder Silvan realisierten „Tier-Trilogie“, diese Enge und Begrenzung in ein kammerspielartiges, raum-zeitliches Kontinuum. Außerdem versammelt er sein Figurenensemble immer wieder auf engem Raum in statischen, dicht „bevölkerten“ Bildern. Die Dynamik, sorgsam choreographiert, spielt sich mehr in den Bewegungen außerhalb des Bildrahmens ab. Im Innern der Szenen, wo scheinbar beiläufige, trockene Dialoge ausgetauscht werden, die zugleich hart und brutal sind, herrscht kalte, versteinerte Erstarrung. Dabei gibt es immer heimliche Beobachter und Zuhörer, die den Schmerz und das Wissen weitertragen. Ein szenisch überlappender Ton überspielt die Ellipsen, während die distanzierten Blicke nach innen gerichtet sind. Im Verbund mit Montagesequenzen aus zeichenhaften Gegenständen und diversen Symbol-Erzählungen erschafft der Schweizer Regisseur eine abstrakte Atmosphäre jenseits von Identifikationsangeboten.

Zum Familienfest trifft schließlich Karens lebenslustige Schwester Jule (Britta Hammelstein) mit ihrem Mann und zwei Kindern ein. In die allgemeine Sprachlosigkeit und Entfremdung, die im Übrigen auch die Beziehung zwischen Karen und ihrem untreuen Ehemann Markus (Andreas Döhler) bestimmt – seine Geliebte Liv (Luise Heyer) wohnt in nächster Nähe in einem Waldhaus -, mischt sich so die verbindende Geschichte einer traumatischen Vergangenheit. Diese hat bei Karen zu einem Ich-Verlust und zu einem Hass geführt, der sich immer häufiger in Selbstverletzungen und schmerzlichem Sadismus ausdrückt; dieser setzt sich wiederum auch in ihren Kindern fort. Die Dysfunktionalität der beschädigten Seelen wird offensichtlich über die Generationen weitergegeben. Nicht das Ich sei falsch, sondern die Welt, heißt es einmal sinngemäß. Trotzdem überlässt Ramon Zürcher seine Figuren nicht der Hoffnungslosigkeit. In seinem artifiziellen Familiendrama, dessen subtiler Horror an wenigen Stellen in surreale Drastik umschlägt, kommt es schließlich zu fast märchenhaften Aufbrüchen und Verwandlungsprozessen, deren reinigende Kraft den Keim einer Befreiung und damit eines Neuanfangs in sich trägt.

Patrol – Auf Patrouille durch den Regenwald

(NI 2023, Regie: Brad Allgood, Camilo de Castro)

Hüter des Waldes
von Wolfgang Nierlin

Das Biosphärenreservat Indio Maíz befindet sich inmitten des tropischen Regenwaldes an der Karibikküste von Nicaragua. Seit Jahrhunderten leben hier das indigene Volk der Rama und die aus Afrika stammenden Kriol. …

Das Biosphärenreservat Indio Maíz befindet sich inmitten des tropischen Regenwaldes an der Karibikküste von Nicaragua. Seit Jahrhunderten leben hier das indigene Volk der Rama und die aus Afrika stammenden Kriol. Für die beiden Volksgruppen ist das Gebiet nicht nur die existentielle Grundlage für ein Leben im Einklang mit der Natur, sondern auch „heiliges Land“, an das traditionelle Bräuche und religiöse Zeremonien geknüpft sind. Außerdem ist das gesetzlich festgeschriebene Territorium Lebensraum seltener Tier- und Pflanzenarten. Geradezu paradiesisch muten insofern die Bilder an, die Camilo de Castro Belli und Brad Allgood hier mit suggestiver Wirkung für ihren Film „Patrol“ vom glücklichen Leben der indigenen Familien aufgenommen haben; wenn etwa Kinder beim gemeinsamen Badespaß mit ihrem Vater im nahen Fluss zu sehen sind.

Doch seit geraumer Zeit gibt es Ärger mit Viehzüchtern, die das Land illegal in Besitz nehmen, um es für die Aufzucht von Rindern zu roden. Dieses „Gesetz der Gewalt“, wie diese Praxis von Indigenen einmal bezeichnet wird, zerstört nicht nur die natürlichen Ressourcen des Regenwaldes, sondern verknappt auch immer mehr den Lebensraum von Mensch und Tier. Da der Export von Rindfleisch zu den wichtigsten Einnahmequellen des Landes gehört, wird die illegale Landnahme politisch geduldet. Das wiederum provoziert den Protest der Rama und Kriol und hat sie schließlich dazu veranlasst, eine Patrouille zu installieren, die als selbsternannte „Hüter des Waldes“ die gesetzeswidrigen Zerstörungen dokumentieren. Begleitet von den Dokumentarfilmern unternehmen sie zusammen mit einem amerikanischen Umweltschützer eine Expedition durch das Reservat, um Beweise zu sammeln, Wachposten einzurichten und durch die Presse ihre Anliegen öffentlich zu machen beziehungsweise in politische Gremien zu tragen.

Über einen – allerdings mehrfach unterbrochenen – Zeitraum von sechs Jahren haben die Investigativjournalisten ab dem Frühsommer 2016 den zivilen Widerstand der Aktivisten begleitet, was in der inhaltlichen Darstellung nicht ohne Redundanzen bleibt. Trotzdem sind kleine Entwicklungen und Erfolge zu verzeichnen, die sich auch nach dem verheerenden Hurrikan Otto vom November 2016, der die Sorgen und Nöte der Bewohner zuspitzt, fortsetzen. Dabei sind die Schuldigen nicht immer leicht auszumachen, wenn sich etwa eine kleine, arme Siedlerfamilie, die selbst vertrieben wurde, darauf beruft, als Bauern auf die Landwirtschaft angewiesen zu sein. Daneben machen die Waldhüter aber auch größere „Player“ ausfindig.

Dabei bleiben etliche Fragen bezüglich der Siedler, ihrer Motive und den praktischen Abläufen der Rinderzucht unbeantwortet; und auch das Alltagsleben der Indigenen erscheint unterbelichtet. Stattdessen konzentrieren sich die Filmemacher, teils deutlich inszeniert, auf die Schauwerte einer abenteuerlichen Unternehmung, über deren Finanzierung man gerne mehr wüsste. Schließlich melden die Nachrichten am Ende des Films ein riesiges Feuer im Reservat, das im April 2018 tagelang große Flächen verwüstet. Die unterstellte Verbindung zu den kurz darauf einsetzenden Massenprotesten, in deren Verlauf viele Menschen getötet und Tausende vertrieben wurden, ist allerdings hinsichtlich der (überwiegend sozialen) Ursachen der Unruhen etwas spekulativ und unscharf. Auch Regisseur Camilo de Castro Belli, dem in der Folge Staatsbürgerschaft und Haus genommen wurden, ist seither gezwungen, im Exil zu leben.

Der Bundesstart des Dokumentarfilms „Patrol“ ist erst am 6.3.2025, doch sein Koregisseur Camilo de Castro Belli tourt zurzeit durch einige Städte Deutschlands, um ihn vorzustellen. Eine Liste der Termine findet sich hier beim Verleih.

Tandem – In welcher Sprache träumst du

(FR/DE/BE 2024, Regie: Claire Burger)

Grenzüberschreitungen
von Wolfgang Nierlin

Allein, fremd und verloren fühlt sich die französische Austauschschülerin Fanny (Lilith Grasmug) bei ihrer Ankunft am Leipziger Hauptbahnhof, bevor sie von ihrer leicht verspäteten Gastmutter Susanne (Nina Hoss) in Empfang …

Allein, fremd und verloren fühlt sich die französische Austauschschülerin Fanny (Lilith Grasmug) bei ihrer Ankunft am Leipziger Hauptbahnhof, bevor sie von ihrer leicht verspäteten Gastmutter Susanne (Nina Hoss) in Empfang genommen wird. Ihre politisch engagierte Brieffreundin Lena (Josefa Heinsius), mit der die 17-jährige Straßburgerin die nächsten zwei Monate verbringen soll, ist erst mal abwesend und hat offensichtlich keine Lust auf Fanny und den Austausch. Die junge Französin wirkt introvertiert, spricht wenig Deutsch und schläft schlecht. Gegenüber Lena bekennt sie, dass sie von ihren Mitschülern gemobbt werde und deshalb mehr halbherzig versucht habe, sich das Leben zu nehmen. Auch das Verhältnis zu ihren Eltern, die für das Europaparlament arbeiten, sei schwierig und angespannt. Den Kummer über eine dysfunktionale Familie teilt Fanny mit der selbstbewussten Lena, die ihren leiblichen Vater nicht kennt, während ihr Stiefvater gerade die Familie verlassen hat. Zwischen Überforderung und Zukunftsängsten treffen sich die beiden Mädchen und nähern sich allmählich einander an.

Claire Burger verknüpft in ihrem Coming-of-Age-Film „Tandem – In welcher Sprache träumst du?“ („Langue étrangère“) die gesellschaftlichen und familiären Krisen der Gegenwart mit der jugendlichen Suche nach der eigenen Identität. Dabei geht es in mehrfacher Hinsicht um das Überschreiten von sprachlichen und kulturellen Grenzen, um sich im jeweils anderen selbst zu entdecken. Die in Lothringen an der französisch-deutschen Grenze aufgewachsene Regisseurin wechselt deshalb in der zweiten Hälfte ihres Films, der dann in der elsässischen Metropole spielt, die Perspektive und lässt Lena auf das Leben ihrer Freundin und deren Gastfamilie blicken. Dabei muss sie erkennen, dass Fanny nicht immer die Wahrheit erzählt und sich in Fiktionen verstrickt, um Aufmerksamkeit zu erregen und Zuwendung zu erfahren. Fanny ist nämlich in Lena verliebt und sie braucht den falschen Schein erfundener Geschichten, um sich ihr zu nähern und zu öffnen. Das gelingt nicht zuletzt unter der Wirkung psychoaktiver Pilze.

In ihrem Film über jugendliche Sehnsucht und Begehren wechselt die französische Regisseurin deshalb an markanten Stellen zwischen Traum und Wirklichkeit, als wäre im Reich der Phantasie das möglich, was in der Realität zunächst noch auf Hindernisse stößt. So münden die fließenden, in helles, sommerliches Licht getauchten Bilder immer wieder in den Schatten rauschhafter Nächte und in der Lust erwachender Gefühle. Jenseits dieser zarten Liebesgeschichte bleibt allerdings vieles vordergründig oder unscharf. Sowohl die politischen Sorgen der Jugendlichen als auch die Hintergründe ihrer familiären Konflikte werden nur angedeutet oder erschöpfen sich mitunter im Plakativen. Das ist vermutlich auch dem hohen Erzähltempo des Films geschuldet, dem es neben seiner subtilen Liebesgeschichte, die vom einfühlsamen Spiel zweier beeindruckender Darstellerinnen getragen wird, vor allem um die Selbstfindung heutiger junger Menschen geht und, so Claire Burger, um „den Wunsch, an etwas zu glauben.“

Buñuel: Filmemacher des Surrealismus

(ES 2021, Regie: Javier Espada)

Das Gespenst der Freiheit
von Wolfgang Nierlin

In seinen Erinnerungen beschreibt der berühmte spanische Filmregisseur Luis Buñuel den Glauben, Sexualität und Tod als „lebendige Kräfte der Jugend“. „Der Tod war ständig spürbar und Teil des Alltags“, schreibt …

In seinen Erinnerungen beschreibt der berühmte spanische Filmregisseur Luis Buñuel den Glauben, Sexualität und Tod als „lebendige Kräfte der Jugend“. „Der Tod war ständig spürbar und Teil des Alltags“, schreibt er im Rückblick auf prägende Kindheitserlebnisse. Der Glaube an religiöse Wunder war ganz selbstverständlich. Als würde sich das Leben horizontal entwickeln, habe das Mittelalter in seiner aragonesischen Geburtsstadt, wo er im Jahr 1900 zur Welt kam, bis zum Ersten Weltkrieg gedauert. Mit den von seinem Sohn Juan Luis filmisch dokumentierten Trommeln von Calanda, die in der Karwoche ununterbrochen die Prozessionen mit ihren Darstellungen von Tod und Vergänglichkeit begleiten, beginnt entsprechend Javier Espadas gewichtiger Dokumentarfilm „Buñuel: Filmemacher des Surrealismus“. Die von Buñuel empfundene Ähnlichkeit zwischen Tod und Geschlechtsakt sowie die Unterdrückung der Sexualität durch die katholische Kirche lassen ihn diese als schuldhaft und zugleich als „köstliche Sünde“ erleben. In seinen späteren Filmen wird dieses thematische Dreieck eine wesentliche, immer wiederkehrende Rolle spielen.

Der spanische Buñuel-Experte Javier Espada, der als Museums- und Festivalleiter sowie als Ausstellungsmacher seine Forschungsarbeit dem Leben und Werk des spanischen Surrealisten widmet, hat seinen sehr eng und materialreich gefugten Film ausschließlich aus Dokumenten und archivarischen Quellen montiert. Frühe stereoskopische Fotografien von Buñuels Vater, zahlreiche Filmausschnitte, Zitat aus Luis Buñuels zusammen mit seinem langjährigen Drehbuchautor und Freund Jean-Claude Carrière verfassten Memoiren „Mein letzter Seufzer“ sowie viele Werke aus anderen Künsten weben ein dichtes Netz vielfältiger Bezüge und Referenzen. Dabei finden Bild und Text immer zu einer inhaltlichen Entsprechung. Diese stellt auf analytische Weise weniger die Biographie des Filmkünstlers, sondern vor allem die wiederkehrenden Motive seines Werks in den Mittelpunkt. Diese stehen natürlich ganz im Zeichen des Surrealismus, der Buñuel einen „freien Zugang zu den Tiefen meiner selbst“ und zu den dunklen Impulsen seiner Seele ermöglicht hat.

Ab 1925 in Paris, schließt sich der junge Buñuel der surrealistischen Gruppe um André Breton an und erlernt das filmische Handwerk bei Jean Epstein und Jacques Feyder. Er begeistert sich für Fritz Langs „Der müde Tod“ und die Komik Buster Keatons, die experimentelle Poesie der Avantgarde um Marcel Duchamp, Germaine Dulac und Man Ray und interessiert sich außerdem für Entomologie sowie das rätselhafte Leben der Tiere. Als er Ende der 1920er Jahre zusammen mit Salvador Dalí den Film „Ein andalusischer Hund“ veröffentlicht, kommt es zu einem ersten Skandal. Die antibürgerliche, gegen die Vertreter der Macht gerichtete Stoßrichtung setzt sich unter dem Einfluss der Schriften des Marquis de Sade dann in dem subversiven Film „Das goldene Zeitalter“ (1930) fort.

Der Surrealismus habe ihn gelehrt, dass Freiheit und Gerechtigkeit nicht existieren und ihm zugleich einen Moralkodex gegeben, wird Buñuel später sagen. Der Mythos der Wahrheit und – so der Titel eines seiner Filme – „Das Gespenst der Freiheit“ (1974), die „verrückte Liebe“ und eine destruktive Sexualität, dargestellt in Fetischen und paradoxen Ritualen, beschäftigen ihn weiterhin in seinen Filmen, die er in den 1950er Jahren in Mexiko und danach in Frankreich gedreht hat. In ihrem Streben, eine absurde Welt zu zeigen, findet die gegensätzliche Gleichzeitigkeit von surrealer Phantasie und materialistischer Wirklichkeit, von Innen- und Außenwelt einen ebenso kongenialen wie einmaligen Ausdruck.

Die Fotografin

(GB/USA/NO/AU/IE/SG 2024, Regie: Ellen Kuras)

Bilder des Krieges
von Jürgen Kiontke

Kate Winslet spielt Lee Miller, die bekannteste Kriegsfotografin der 1940er Jahre, als hochenergetische Künstlerin. Die 1907 geborene Lee Miller kam auf Umwegen zur Pressefotografie. Zunächst absolvierte sie eine komplette Karriere …

Kate Winslet spielt Lee Miller, die bekannteste Kriegsfotografin der 1940er Jahre, als hochenergetische Künstlerin. Die 1907 geborene Lee Miller kam auf Umwegen zur Pressefotografie. Zunächst absolvierte sie eine komplette Karriere als Model. Der Surrealist Man Ray entdeckte sie für die Bildende Kunst. Bei ihm wechselte sie immer öfter auf die andere Seite der Kamera. Bereits ihr Vater hatte sie in der Funktionsweise verschiedener Apparate unterrichtet. Sie veröffentlichte bald erste eigene Arbeiten und gründete ein eigenes Studio.

Die Liebe zu dem Kunsthändler Roland Penrose führte sie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs nach England. Nachdem sie verschiedene Reisereportagen veröffentlicht hatte, stand nun ihr Lebenswerk an: Einige Hindernisse musste sie beiseiteräumen. Die englische Armee erlaubte Frauen nicht, als Kriegsreporterinnen zu arbeiten. Erst die US-Armee ebnete ihr den Weg, und sie wurde eine der wenigen Fotoreporterinnen, die in den Kämpfen der Alliierten fotografierten, gern an vorderster Front. Interessanterweise arbeitete sie für die britische Ausgabe der Modezeitschrift Vogue, nicht für ein Nachrichtenmagazin; für Vogue wie Miller ein Wagnis: Würden die Leserinnen krasse Bilder des Krieges goutieren?

Dafür sorgte dann die Reporterin selbst: Miller gelangen mit die ikonischsten Bilder des Zweiten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit, etwa als sie in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald nach der Befreiung fotografierte. Das bekannteste von allen knipste sie paradoxerweise nicht selbst: In Adolf Hitlers Münchner Wohnung ließ sie sich in der Badewanne von ihrem engen Kollegen David E. Scherman ablichten.

Der Film „Die Fotografin“ rekapituliert die wichtigsten zehn Jahre dieser Reporterin. Kate Winslet gibt sie als energische Journalistin, die sich der Öffentlichkeitswirksamkeit ihrer Arbeit bewusst ist und sich gegen die oft übermächtige männliche Konkurrenz durchzusetzen weiß. Miller ist aber auch eine Akteurin, die die Gefahr offensiv sucht und ein gutes Gespür für ihre Arbeit hat. Sie begleitet Kampfeinsätze und trägt selbst Uniform.

Eingebettet in eine lose konstruierte Rahmenhandlung – Miller ist in fortgeschrittenem Alter und berichtet in einem fiktiven Interview beim Anschauen archivierter Fotos aus ihrem ereignisreichen Leben – werden die Zuschauer Zeuge ihrer beruflichen wie privaten Turbulenzen. Dabei kehrt sie auch immer wieder im Gespräch mit Kollegen und Soldaten zu der Frage zurück, wie weit man mit der Berichterstattung gehen kann oder muss, und inwiefern Bilder des Krieges den Krieg selbst mitbestimmen.

Der Blick aufs Private konzentriert sich auf ihre Beziehungen zu verschiedenen Männern, was sich leider allzu oft in Szenen voller Zigarettenrauch und Alkoholkonsum erschöpft. Hier wäre ein Blick in ihre Zeit als Kind, Jugendliche und junge Frau besser gewesen. Denn hier, und dafür findet der Film keine adäquate Darstellungsform, wäre viel zu erzählen gewesen: von in frühester Kindheit erlittenen Missbrauchserfahrungen, vom Leben als traumatisierter Teenager in der Zwischenkriegszeit und ihren Anfängen in der Kunst.

Diese Kritik erschien zuerst in: M – Menschen Machen Medien

Samia

(IT/DE/BE 2024, Regie: Yasemin Şamdereli)

Sie lief allen Widerständen davon
von Jürgen Kiontke

Samia läuft schneller als ihre Mitschüler. Wenn die Neunjährige ­antritt, kommt der Rest nicht mit. Ungewöhnlich für ein Mädchen, findet man in der Schule. Ihr Vater erkennt das Talent und …

Samia läuft schneller als ihre Mitschüler. Wenn die Neunjährige ­antritt, kommt der Rest nicht mit. Ungewöhnlich für ein Mädchen, findet man in der Schule. Ihr Vater erkennt das Talent und unterstützt sie. Er ermuntert sie, den jährlichen Stadtlauf mitzumachen – und verspricht ihr für einen guten Platz ein paar neue Laufschuhe. Ihre Mutter sieht das etwas anders: Sport schickt sich nicht für Mädchen und ist außerdem zu gefährlich. Denn Samia wohnt mit ihrer Familie in Mogadischu, der Hauptstadt des von einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg gezeichneten Landes Somalia. Ende der 1990er Jahre herrschen in der Stadt Milizen, denn seit dem Sturz des Präsidenten Siad Barre gibt es keine zentrale Regierung mehr. Die Gefahr ist groß, beim Training Bewaffneten in die Arme zu laufen. Und in der Tat wird sie bald von Milizionären bedroht, die so alt sind wie sie.

Doch was macht Samia? Sie übt nachts und deklassiert am Tag des Laufs das Teilnehmerfeld. Ihr Ziel ist nun klar: Sie will die schnellste Läuferin ihres Landes werden. Und das gelingt ihr: Als junge Frau nimmt sie 2008 an den Olympischen Spielen in Peking teil – als einzige Sportlerin aus Somalia. Trotz einer persönlichen Bestzeit von 32,16 Sekunden im 200-Meter-Lauf scheidet sie in der Vorrunde aus.

Die Geschichte des Mädchens, das so schnell gegen alle Regeln lief, faszinierte die Regisseurin Yasemin Şamdereli, die mit ihrem Film „Almanya – Willkommen in Deutschland“ (D 2011) bekannt wurde. „Samia“ sei seit acht Jahren ihr Herzensprojekt gewesen, sagt sie. Der Film basiert auf dem Roman „Sag nicht, dass du Angst hast“ von Guiseppe Catozzella. In Gesprächen mit Samias Schwester Hodan rekonstruierte er das Leben der ungewöhnlichen Sportlerin, die sich von Verboten und Repressalien bis hin zu Morddrohungen nicht davon abhalten ließ, ihre Bahnen zu laufen.

Doch das Leben meinte es nicht gut mit Samia. Als sie feststellen musste, dass es in ihrer Umgebung unmöglich war, weiter an ihren Leistungen zu arbeiten, zog sie 2010 in die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba. Um 2012 an den Olympischen Spielen in London teilnehmen zu können, versuchte sie, über den Sudan und Libyen nach Europa zu gelangen. Sie ertrank im April 2012 gemeinsam mit anderen Flüchtlingen auf dem Mittelmeer bei der Überfahrt mit einem Schlauchboot.

Şamdereli erinnert mit einem sehenswerten Film an die außergewöhnliche Läuferin. Mit Ilham Mohamed Osman hat sie eine perfekte Darstellerin für Samia gefunden. In einer Nebenrolle ist die somalische Menschenrechtlerin und „Wüstenblume“-Autorin Waris Dirie zu sehen.

Dieser Text erschien zuerst in: Amnesty Journal

Favoriten

(AT 2024, Regie: Ruth Beckermann)

Miteinander lernen
von Wolfgang Nierlin

Sie heißen unter anderem Fatima, Mohammed, Alper, Majeda, Arian und Nerjiss und sie besuchen eine Grundschule im Wiener Bezirk Favoriten, wo der Anteil an Einwanderern besonders hoch ist. Ihre Eltern …

Sie heißen unter anderem Fatima, Mohammed, Alper, Majeda, Arian und Nerjiss und sie besuchen eine Grundschule im Wiener Bezirk Favoriten, wo der Anteil an Einwanderern besonders hoch ist. Ihre Eltern stammen aus der Türkei, aus Syrien, Albanien oder Mazedonien und arbeiten auf dem Bau, als Dienstleister, in der Pflege und im Haushalt. Das erzählen die Schülerinnen und Schüler im Klassengespräch ihrer engagierten Lehrerin İlkay Idiskut, die selbst aus einer Migrantenfamilie stammt und deshalb besonders sensibilisiert ist für die Sorgen und Nöte ihrer Eleven. Diese ringen nämlich vor allem mit der deutschen Sprache und dem Lernstress, der sich daraus für das Verständnis in den anderen Fächern ergibt. Nur wenn sie zusammen mit ihrer Lehrerin ausgelassen tanzen, wen sie Tischfußball oder mit Puppen spielen, scheinen die sprachlichen, kulturellen und sozialen Barrieren eine Zeitlang aufgehoben zu sein. İlkay Idiskut sorgt mit diesen Erholungsphasen immer wieder für einen Ausgleich zum anstrengenden Unterricht.

Zwischen dem Herbst 2020 und dem Frühjahr 2023 und also von der zweiten bis zur vierten Klasse hat die österreichische Filmemacherin Ruth Beckermann die 7- bis dann 10-jährigen Kinder filmisch begleitet und den Unterricht in Ausschnitten dokumentiert. In ihrem Film mit dem doppeldeutigen Titel „Favoriten“ zeigt sie als teilnehmende Beobachterin und damit aus nächster, teils intimer Nähe das ganze Spektrum schulischer Aktivitäten und verzichtet dabei auf Kommentare und Interviews. Neben Schreiben, Lesen und Rechnen, neben Biologie- und Schwimmunterricht stehen Entspannungsübungen, besagte Ausgleichsspiele und Gespräche über kulturelle Unterschiede, über gegenwärtige Kriege oder über die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Dabei werden Prägungen, Anpassungs- und Integrationsschwierigkeiten vermittelt. Einmal besuchen die Kinder eine Moschee, wo sie ganz selbstverständlich interessiert und vertraulich mit dem Imam kooperieren; ein anderes Mal besichtigen sie den reich verzierten Stephansdom, der allen gehöre, wie der Priester wiederholt betont, obwohl oder gerade weil fast keines der Kinder einen christlichen Background hat. In anderen Szenen führt die Lehrerin Eltern- und Schülergespräche oder schlichtet geduldig und mit natürlicher Autorität Streit und Konflikte.

Gerade in diesen Passagen zeigt der Film den Wert pädagogischer Weitsicht und kultureller Einfühlung durch die Persönlichkeit der sehr stark involvierten und Anteil nehmenden Lehrerin. Daneben wird über den lagen Beobachtungszeitraum hinweg aber auch die persönliche Entwicklung einzelner Kinder sichtbar, wobei Erfolg und Enttäuschung oft nah beieinander liegen. Vor dem Übergang an eine weiterführende Schule lässt İlkay Idiskut die Kinder ihre Berufswünsche zeichnerisch gestalten, auch wenn es diese Träume und Hoffnungen angesichts der gesellschaftlichen Realität später mitunter schwer haben werden.

„Favoriten“ spiegelt diese Wirklichkeit und deutet dabei auch auf systemische Mängel, wenn beispielsweise notwendige Sprachförderung ersatzlos entfällt oder Fachkräfte an der Schule fehlen. Ruth Beckermanns ebenso aufschlussreicher wie notwendiger Film, der in der Tradition von Nicolas Philiberts „Sein und Haben“ (2002) und Maria Speths „Herr Bachmann und seine Klasse“ (2021) steht, zeigt Schule aber vor allem als Keimzelle des Lernens, des sozialen Zusammenlebens und nicht zuletzt des emotionalen Miteinanders. Von hier aus könnte vieles anders und besser werden, würden sich die politisch Verantwortlichen zu Reformen entschließen.

Ein Interview mit Regisseurin Ruth Beckermann findet sich hier.

Der schöne Sommer

(IT 2023, Regie: Laura Luchetti)

Liebe im Faschismus
von Wolfgang Nierlin

Die etwa 17-jährige Ginia (Yile Yara Vianello) blickt neugierig in die Welt und ist fast immer in Bewegung. Nur in dem Turiner Modeatelier, einem großen, gläsernen Bau, wo sie mit …

Die etwa 17-jährige Ginia (Yile Yara Vianello) blickt neugierig in die Welt und ist fast immer in Bewegung. Nur in dem Turiner Modeatelier, einem großen, gläsernen Bau, wo sie mit geschickten Händen und eigenen Ideen für Entwürfe als Schneiderin arbeitet, herrscht eine ruhige, konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Dabei ist Ginia, die auf dem Land aufgewachsen ist, ebenso zurückhaltend, ernst und strebsam wie offen und mutig. Als stille Beobachterin des Lebens wirkt sie überraschend selbstbewusst und innerlich ausgeglichen. In der Liebe noch unsicher, sehnt sie sich nach neuen Erfahrungen. Sie solle „nicht vergessen, wer wir sind“, sagt ihr jüngerer Bruder Severino (Nicolas Maupas) zu ihr. Mit dem literarisch ambitionierten, aber schwankenden und hadernden Studenten bewohnt sie zusammen eine kleine Wohnung. Als sie an einem See bei einem Picknick unter Freunden die schöne Amelia (Deva Cassel) kennenlernt, die für Maler Modell steht, wächst in Ginia stetig ein Liebesbegehren. „Ich möchte, dass mich jemand ansieht und mir zeigt, wer ich bin“, sagt die junge Frau, als bedürfe sie eines anderen, um sich selbst zu erkennen.

Fortan wechselt die Szenerie, die im faschistischen Italien des Jahres 1938 angesiedelt ist, beständig zwischen der Arbeit in der Schneiderwerkstatt und den genuss- und lustvollen Vergnügungen in Künstlerkreisen, in die Ginia durch die verführerische Amelia eingeführt wird. Laura Luchetti entwickelt in ihrem Film „Der schöne Sommer“, der nach dem gleichnamigen Roman von Cesare Pavese entstand, eine sehr ruhig und bedächtig erzählte Éducation sentimentale. Trotz des historischen Settings, das in einer ungetrübten, ausgewogenen Farbigkeit leuchtet, streift sie die politischen Zeitläufte – wenn auch unmissverständlich – doch nur am Rande. Stattdessen zeigt sie ein noch relativ ruhiges Leben sowie Zusammenkünfte der Freunde und Bohémiens bei Festen in idyllischer Natur. Denn Luchetti interessiert sich vor allem für die innere, zunehmend komplizierte Gefühlsreise ihrer Heldin, die zwischen Lust, Vorsicht und Abwehr ihren Körper und die Liebe entdeckt. Dabei konzentriert sich die italienische Regisseurin auf bemerkenswert selbstverständliche Weise ganz auf das innere Drama der Protagonistin und verzichtet dabei weitgehend auf eine äußere Dramatik, die auf Ausformulierung und Zuspitzung aus ist.

An wenigen Stellen überhöht Laura Luchetti allerdings das Geschehen vorsichtig mit einer sanften, unscheinbaren Metaphorik. Wenn sich Ginia schließlich auf eine Affäre mit dem dominanten Maler Guido (Alessandro Piavani) einlässt, zeigt der Film ihren ersten Sex ebenso minutiös wie dezent. Doch eigentlich liebt Ginia, die darüber immer häufiger ihre Arbeit vernachlässigt, die allseits begehrte Amelia, die das leichte Leben genießt und, wie sich später herausstellt, an Syphilis erkrankt ist. Das wiederum stürzt Ginia in ihrem ungewissen, aber auch verzweifelten Hin und Her zwischen Nähe und Distanz in eine tiefe Krise. „Ich weiß nicht, was mit mir passiert“, klagt sie gegenüber ihrem Bruder, der sie auffordert, die richtige Entscheidung zu treffen und ihr rät, sich nicht an den Schmerz zu gewöhnen: „Unglücklichsein ist sinnlos.“ Tatsächlich befindet sich Ginia, liebeskrank und verwirrt, auf abschüssiger Bahn. Nur eine gesundende Amelia, so scheint es, könnte ihren Liebesschmerz heilen und sie dem fatalen Sog entziehen. Zwei Mal erklingt deshalb Sophie Hungers Song „Walzer für niemand“, in dem es heißt: „Was wär‘ ich geworden, gäb‘ es dich nicht?“

Memory

(MX/USA 2023, Regie: Michel Franco)

Rückeroberung des Lebens
von Wolfgang Nierlin

Der kaputte Kühlschrank in ihrer Wohnung und das Mietshaus in einer unwirtlichen, etwas heruntergekommenen Gegend von New York sind Hinweise darauf, dass in Sylvias (Jessica Chastain) Leben etwas nicht stimmt. …

Der kaputte Kühlschrank in ihrer Wohnung und das Mietshaus in einer unwirtlichen, etwas heruntergekommenen Gegend von New York sind Hinweise darauf, dass in Sylvias (Jessica Chastain) Leben etwas nicht stimmt. Gerade kommt die alleinerziehende Mutter zusammen mit ihrer 13-jährigen Tochter Anna (Brooke Timber) von einem Jahrestreffen der Anonymen Alkoholiker. Seit Annas Geburt hat Sylvia, die in sich gekehrt wirkt und zurückgezogen lebt, nicht mehr getrunken. Nach traumatischen Kindheitserlebnissen und einer problematischen Jugend konnte die verletzte, sensible Frau offensichtlich keinen Halt im Leben finden. Von der Vergangenheit beschwert, bewältigt sie nur mühsam ihren Alltag. In einer Tageseinrichtung betreut sie, die selbst auf Hilfe von ihrer Schwester Olivia (Merritt Wever) angewiesen ist, hilfsbedürftige Menschen. Als sie nach einem Klassentreffen ihrer Highschool unter merkwürdig anmutenden Umständen den demenzkranken Saul (Peter Sarsgaard) kennenlernt, adoptiert sie zunächst wider Willen einen weiteren Versehrten.

Michel Francos neuer, höchst beeindruckender Film „Memory“, der gesellschaftliche Außenseiter beziehungsweise Marginalisierte in den Mittelpunkt stellt, widmet sich auf verschiedenen Ebenen der Sorge um den anderen. Dabei beschäftigt er sich nicht nur mit Tabus und der Frage nach Schuld und Vergebung, sondern er eröffnet seinen seelisch verwundeten Figuren auch Wege, um ihre schmerzlichen Erfahrungen in ein neues Leben zu integrieren. Gegen innere und äußere Widerstände kommen sich Sylvia und Saul näher, sie lernen sich kennen und auf behutsame, zärtliche Weise lieben. Der Film vollzieht dabei zunächst einen Perspektivwechsel, um kurz darauf die parallelen Handlungen der beiden Protagonisten in eine gemeinsame Erzählung münden zu lassen. Das Hin und Her zwischen ihnen übersetzt der mexikanische Filmemacher in wiederholte U-Bahn-Fahrten, die zugleich Gegenwart und Vergangenheit, das Verdrängte und seine Bearbeitung miteinander verbinden.

„Memory“ handelt insofern auf bewegende Weise von Heilung und gegenseitiger Unterstützung wider das Schweigen und Vergessen. Indem er die Gewichte der Dringlichkeit und dessen, was wichtig ist, verschiebt, erzählt der Film bei aller Melancholie zugleich eine ergreifende Liebesgeschichte. Michel Franco, der zuletzt mit seinem Film „Sundown“ beeindruckte, erweist sich dabei erneut als Meister der erzählerischen Verdichtung. Mit Ellipsen und einer sowohl distanzierten als auch einfühlsamen Beobachtung der sozialen Beziehungen und Verhältnisse inszeniert er gewissermaßen „Lücken“ im raumzeitlichen Kontinuum, die seinen außerordentlich bemerkenswerten Film immer wieder dem Überraschenden und Unvorhersehbaren öffnen. Angesichts dieser formalen Konzentration verzichtet Franco auch auf einen Score, um stattdessen mit J. S. Bachs berühmtem „Air“ aus der 3. Orchestersuite, vor allem aber mit Procol Harums Song „A whiter shade of pale“ tiefe und aufwühlende emotionale Akzente zu setzten. Jenseits einer vordergründigen äußeren Dramatik vollzieht sich so fast unmerklich ein inneres Drama der Befreiung und der Rückeroberung des (eigenen) Lebens.

Hausnummer Null

(DE 2024, Regie: Lilith Kugler)

Chris wird clean
von Jürgen Kiontke

Regisseurin Lilith Kugler muss am S-Bahnhof Berlin-Friedenau ausgestiegen sein, als sie in die Hauptstadt kam. Denn der erste, der sie begrüßte, war Chris, der dort sein Lager hat. Ein junger …

Regisseurin Lilith Kugler muss am S-Bahnhof Berlin-Friedenau ausgestiegen sein, als sie in die Hauptstadt kam. Denn der erste, der sie begrüßte, war Chris, der dort sein Lager hat. Ein junger Drogensüchtiger, der manchmal versucht, sein Leben in den Griff zu bekommen und vom Betteln wie vom Drogendealer lebt. Nachbarn stellen ihm manchmal Essen und Wäsche hin. „Ich habe schon 15 Schlafsäcke“, erzählt er.

Kugler, die fürs Filmstudium nach Berlin gekommen ist, findet auf diese Weise gleich den Hauptdarsteller für ihren ersten Film, die Dokumentation „Hausnummer Null“. Sie beobachtet Chris beim täglichen Überleben, lässt Alex zu Wort kommen, den einzigen Kumpel, den Chris hat. Mehrmals gibt es Anläufe, ihm einen festen Wohnsitz und einen Drogentherapieplatz zu besorgen.

Substitution, Angst vor dem Scheitern, vor dem Urteil anderer, Betäubung: Chris fühlt sich bereits zu abhängig, um vom Heroin loszukommen. Doch er hat immer wieder cleane Phasen, in denen er wirkt wie viele andere seiner Altersklasse Anfang 20. Er könnte ein Auszubildender oder ein Student sein. „Ich will bleibenden Eindruck hinterlassen bei den Menschen. Vielleicht ist das meine große Angst: dass ich vergessen werde“, sagt er. Kurz darauf dann der Rückfall, sein Gesicht dunkel und entglitten, das ist das Antlitz eines schwer gezeichneten Menschen. Dann heißt es wieder: Platte machen für den nächsten Schuss.

Für Verwunderung sorgt ein Aufenthalt bei seiner Mutter auf dem Land. Sie schildert in gut bürgerlichem Ambiente, dass sie an Chris’ Drogensucht nicht herankommt, berichtet von einer jahrelangen Krankengeschichte. Sie ist der Auffassung, er leide an Autismus sowie an ADHS und komme daher so schlecht mit sich und anderen zurecht. Die Ärzte hätten einiges ausprobiert, als Chris ein Kind war. Und sie? „Ich würde alles tun, nur nach Berlin, da gehe ich nicht. Das ist Terror dort.“

Kugler erlaubt einen Blick in die Lebenswelt jener vielen Menschen, die täglich in abgerissenem Zustand in den U- und S-Bahnen unterwegs sind. Die Welt der dreckigen Finger, der Flaschensammler, der Unter-den-Brücken-Schläfer. Eine beeindruckende filmische Arbeit, die dem Publikum zu denken gibt.

Diese Kritik erschien zuerst am 12.09.2024 auf: links-bewegt.de

Sad Jokes

(DE 2024, Regie: Fabian Stumm)

Krisengeschütteltes Durchhalten
von Wolfgang Nierlin

Der Filmemacher Joseph (Fabian Stumm), der bisher traurige Filme gedreht hat, möchte jetzt traurige Filme machen, die zugleich witzig sind. Sein Produzent Gero (Godehard Giese), der die Komödie als „Königsdisziplin“ …

Der Filmemacher Joseph (Fabian Stumm), der bisher traurige Filme gedreht hat, möchte jetzt traurige Filme machen, die zugleich witzig sind. Sein Produzent Gero (Godehard Giese), der die Komödie als „Königsdisziplin“ bezeichnet, findet das Drehbuch seines Schützlings allerdings nicht lustig, sondern traurig und hoffnungslos, weil es den lebensmüden Figuren keinen Ausweg biete und ihnen überdies keine Empathie angedeihen lasse. Der Regisseur wiederum, dem ein naturalistischer Film mit absurden Einsprengseln vorschwebt, stellt sich vor, dass erst die Inszenierung, also die visuelle Umsetzung des Buchs in bewegte Bilder den speziellen, ihm vorschwebenden Humor erzeuge. Für die Figur eines Mannes, der Angst vor Statuen hat, lässt Joseph etwa eine überdimensionierte Gips-Skulptur seines eigenen Kopfes herstellen, was natürlich auch selbstreferentiell zu verstehen ist.

Insofern und in weiteren Aspekten handelt Fabian Stumms traurig-komischer Film „Sad Jokes“ natürlich von seinem Autor, seiner Arbeit und seinem Leben. Das Autobiographische wird hier allerdings mit sehr kalkulierten filmischen Mitteln in Fiktion verwandelt, wobei die feine Balance zwischen angespanntem Ernst und absurdem Humor gerade aus jenen immer wieder überraschenden Bildideen und visuellen Erfindungen entsteht, die von der Filmfigur Joseph, vom Regisseur selbst gespielt, für sein geplantes Projekt beansprucht werden.

So inszeniert Fabian Stumm gleich zu Beginn seines szenisch gebauten Films in einer minutenlangen Einstellung ein sehr intensives häusliches Familiendrama, das die späteren komödiantischen Momente gewissermaßen konterkariert. Die Arbeit mit Off-Dialogen, die kommunikative Dynamik innerhalb von Gruppen und die Unsicherheit in zwischenmenschlichen Begegnungen sind stilistische Merkmale, die sich unter andern Vorzeichen dann auch in den mehr heiteren und ironischen Szenen wiederfinden. Außerdem experimentiert Stumm mit ungewöhnlichen Bildausschnitten, Slapstick-Elementen, Ellipsen und einem doppelbödigen Spiel-im-Spiel.

Fabian Stumm demonstriert in „Sad Jokes“ also jenen visuellen Witz der seinem filmischen Alter Ego vorschwebt und an dem dieses zunächst scheitert. Joseph befindet sich allerdings nicht nur in einer künstlerischen Krise, sondern auch in einer privaten. Seit seiner Trennung von seinem jüngeren Freund Marc (Jonas Dassler), die jetzt schon drei Jahre zurückliegt, ist er keine Beziehung mehr eingegangen. Sein Beruf und seine Aufgaben als Vater eines kleinen Jungen, den er zusammen mit seiner besten Freundin Sonya (Haley Louise Jones) hat und betreut, lassen dafür überdies wenig Zeit und Raum. Zumal die psychisch labile Mutter des kleinen Pino (Justus Meyer) unter Depressionen leidet und gerade in einer psychosomatischen Klinik gegen innere Widerstände therapiert wird.

Dass sich Joseph in dieser Situation in einer grotesk anmutenden Szene auch noch an der Hand verletzt, setzt nicht nur auf tragikomische Weise besagten visuellen Witz originell ins Bild, sondern fungiert natürlich auch als Metapher für seine allgemeine Dysfunktionalität in einem absurden, krisengeschüttelten Alltag zwischen Sein und Schein, Künstlerimago und realem Ich. Inmitten all dieser Brüche, der irritierenden Gleichzeitigkeit von Gefühlen und der Angst vor dem Glück kann Heilung also nur eine vorläufige Etappe sein. Es gehe darum, sich zu kümmern und zu verzeihen, hat Fabian Stumm gesagt. Insofern sei „Sad Jokes“, so der Regisseur, ein Ensemblefilm „über das Durchhalten“.

Wir sind so frei

(DE 2024, Regie: Christian Lehmann-Feddersen, Alf Schreiber)

Diverses Panorama
von Jürgen Kiontke

Einen Streifzug durch verschiedene Protestbewegungen machen die Filmemacher Christian Lehmann-Feddersen und Alf Schreiber in ihrer Langzeitbeobachtung „Wir sind so frei“. Motto: über die Politik der Feindschaft und was wir dagegen …

Einen Streifzug durch verschiedene Protestbewegungen machen die Filmemacher Christian Lehmann-Feddersen und Alf Schreiber in ihrer Langzeitbeobachtung „Wir sind so frei“. Motto: über die Politik der Feindschaft und was wir dagegen tun.

Porträtiert werden Aktivisten wie Loïc, der in einer Kommune in Nordfrankreich im Einklang mit der Natur wirtschaftet. Oder Julia aus Bonn, die bei der ver.di Jugend aktiv war. Die „Feinde“ sehen sie in weltumspannenden Konzernen, deren Geschäftsprinzip die Ausbeutung ist. Menschen wie die beiden haben sich bei den Protesten anlässlich des G20-Gipfels 2017 in Hamburg getroffen, bei denen es zu massiver Gewalt und Ausschreitungen kam.

Rechtsanwälte wie Lukas Theune und Gabriele Heinecke schildern ihre Sicht auf die Proteste und die Reaktion der Polizei. Die Filmemacher sind den Beamten in die eigens eingerichtete Gefangenensammelstelle gefolgt, in denen festgenommene Demonstranten stundenlang ausharrten. Julia erzählt, wie sie monatelang mit Repressionen zu kämpfen hatte, obwohl sie bloß bei der falschen Demo gewesen sei. Auch Loïc musste sich lange mit den Behörden auseinandersetzen, weil aus dem Protestzug, bei dem er mitlief, Gegenstände geworfen worden waren.

Soziologen und andere Wissenschaftler haben die Ereignisse unter dem Arbeitstitel „Mapping #NoG20“ aufgearbeitet und erläutern die Zusammenhänge. Das Projekt wird unter anderem vom Hamburger Institut für Sozialforschung getragen und von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert. Sie attestieren den politisch Verantwortlichen Mängel in der Vorbereitung und Fehleinschätzungen der zu erwartenden Proteste.

Vom direkten Protestgeschehen wendet sich der Film nach gut einer Stunde ab, Kritiker des weltweiten Kapitalismus und seiner zerstörerischen Auswirkungen kommen mit Vorträgen und in Interviews zu Wort. Sie gehen der Frage nach, inwiefern global aufgestellte Finanzdienstleister bereits in sämtlichen größeren europäischen Unternehmen stecken, wenn nicht gleich in der Politik aktiv sind.

Thema sind auch die gewerkschaftlichen Proteste rund um Dienstleister wie den Food-Lieferdienst Gorillas, die insbesondere Menschen mit migrantischer Geschichte beschäftigen und wegen ihrer Arbeitsbedingungen in die Kritik geraten sind. Arbeitslohn stand aus, Arbeitsgerichtsprozesse folgten. Da sind wir schon dabei, wie es besser geht: Zum Schluss hin gibt es einen Ausblick darauf, wie wir alle ohne Armut, Lohnraub, Sozialabbau, Aufrüstung und dergleichen leben können – und darauf, was wir anstellen müssen, damit es mit derlei Missständen endlich ein Ende hat. Der klassische Kampagnenfilm!

Diese Kritik erschien zuerst am 04.09.2024 auf: links-bewegt.de

Das Flüstern der Felder

(PL/RS/LT 2023, Regie: DK Welchman, Hugh Welchman)

Zerstörerisches Begehren
von Wolfgang Nierlin

Die bäuerliche Lebenswirklichkeit im Polen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist weit weniger idyllisch, als dies die Einleitung von DK und Hugh Welchmans neuem Film „Das Flüstern der Felder“ nahelegt. Der …

Die bäuerliche Lebenswirklichkeit im Polen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist weit weniger idyllisch, als dies die Einleitung von DK und Hugh Welchmans neuem Film „Das Flüstern der Felder“ nahelegt. Der mehr nüchterne als poetische internationale Titel „The peasants“, der direkt denjenigen des mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Roman-Zyklus „Die Bauern“ (1902-1908) von Władysław Reymont zitiert, spiegelt diesen Kontrast. So tanzt zu Beginn des ungewöhnlich gestalteten Animationsfilms, der reale Spielszenen mit nachträglichen Übermalungen der Bilder kombiniert, eine junge, schöne Frau durch ein wogendes, gelbes Blütenmeer. Verfolgt von einer sehr dynamischen Kamera trägt der Wind Pollen der Pusteblumen übers Land, die kurz darauf in einen Vogelflug übergehen. Jagnas (Kamila Urzędowska) Blick auf die Welt ist magisch. Verträumt und eigensinnig gestaltet sie aus ihren Beobachtungen fantasievolle Scherenschnitte. Neben ihrer künstlerischen Begabung ist es vor allem ihre Begehrlichkeiten weckende Schönheit, die sie unter den Dörflern zur Außenseiterin macht und so zu Widerspruch und Konflikten führt.

„Ich wünschte, ich könnte mich an den Wolken festhalten und einfach um die Welt fliegen“, sagt die nach Unabhängigkeit strebende Jagna. Diese ist heimlich in den jungen Familienvater Antek (Robert Gulaczyk) verliebt, einen zornigen, eifersüchtigen Mann, der gegen seinen Vater, den reichen Bauern Boryna (Miroslaw Baka), rebelliert. Doch auch der Witwer wirbt um die begehrte Jagna und investiert außerdem beträchtliche Landgüter, damit es schließlich zur Verheiratung kommt. Darüber eskaliert der Streit zwischen Vater und Sohn. Die beiden entzweien sich und ein rauschendes, von ausgelassenen Tänzen begleitetes Hochzeitsfest markiert den Schlusspunkt und zugleich den Beginn weiterer, zunehmend gewalttätigerer Konflikte. Dabei geht es nicht nur um Erbstreitigkeiten und den Kampf um Grund und Boden, sondern auch um die rivalisierenden Auseinandersetzungen um eine Frau, die der von seiner Leidenschaft zerfressene Antek einmal als „heilige Erde“ apostrophiert, und die doch vor allem nach persönlicher Freiheit strebt.

Nach dem Wechsel der Jahreszeiten gegliedert, folgt der Film einem zerstörerischen Begehren, das zusätzlich durch die Habgier, den Neid und die Eifersucht der Dorfbevölkerung geschürt wird. Das episch angelegte Drama wird dabei von musikalisch-folkloristischen Elementen flankiert und in delirierenden Tänzen zugespitzt, während die Gefühle der Protagonistin in Tier- und Natursymbolen veranschaulicht werden. Nach ihrem umjubelten Film „Loving Vincent“ haben die Welchmans erneut mit einer Hundertschaft bildender Künstler und Künstlerinnen die Hintergründe der gedrehten Spielszenen mit Ölfarbe gemalt und sich dabei an der Landschaftsmalerei der dargestellten Zeit orientiert, um durch deren Vorbild eine authentische Atmosphäre zu schaffen und Stimmungen zu vertiefen. Im Verbund mit den flirrenden, ständig wechselnden Schatten auf den Gesichtern der Figuren entstehen so immer wieder beeindruckende Panoramen und Porträts. Schließlich gelingt es der wiederholt gedemütigten Jagna, durch die Hölle aus Schimpf und Schande hindurch zu einer neuen, reinigenden Selbständigkeit zu finden.

Die Unbeugsamen 2

(DE 2024, Regie: Torsten Körner)

Emanzipation ist (noch mehr) Arbeit
von Jürgen Kiontke

Mit seinem Dokumentarfilm „Die Unbeugsamen“ erinnerte Regisseur Torsten Körner an wichtige Politikerinnen der Bonner Republik und ihre emanzipatorische Arbeit. Mit erstaunlichem Erfolg: Rund 200.000 Zuschauer sahen den Film in den …

Mit seinem Dokumentarfilm „Die Unbeugsamen“ erinnerte Regisseur Torsten Körner an wichtige Politikerinnen der Bonner Republik und ihre emanzipatorische Arbeit. Mit erstaunlichem Erfolg: Rund 200.000 Zuschauer sahen den Film in den Kinos. Nun ist mit „Die Unbeugsamen II – Guten Morgen, ihr Schönen“ der Osten dran: Frauen, die in der DDR aufgewachsen sind und dort gearbeitet haben, berichten von ihrem Alltag im Sozialismus.

Gut kommt der dabei nicht immer weg: Man habe die Kraft der Frauen für die Wirtschaft gebraucht, aber nicht auf der politischen Ebene, sagt Barbara Mädler, ehemals Regieassistentin der Filmgesellschaft DEFA. Leitende Positionen in der Wirtschaft seien auch im Osten schwer zu erreichen gewesen. Dennoch gab es Frauen, die hohe Positionen innehatten. Die ehemalige Oberbürgermeisterin von Potsdam, Brunhilde Hanke, berichtet aus ihrem Arbeitsalltag in den 1970er- und 1980er-Jahren.

In der Regel galt aber: Mutter arbeitet in der Kaufhalle und kümmert sich dann ums Abendbrot. „80 Prozent der Hausarbeit haben Frauen gemacht“, sagt die Musikerin Tina Powileit. Die Schriftstellerin Irmtraud Morgner erfand dafür den Terminus „die zweite Schicht“. Fazit: Hexerei war fest im Alltag integriert.

Powileit spricht auch von schweren Misshandlungen während ihrer Ehe – kein Einzelfall: Selbst in DDR-Fernsehfilmen, das zeigen Archiv-Ausschnitte, hat die Gewalt der Ehemänner ihren festen Platz.

Malerin Annemirl Bauer hat die Frauen-Verhältnisse in ihrem berühmten Bild „Madonna vom Prenzlauer Berg“ verewigt: Die Heilige trägt Blaumann und Baby. Das Bild sei in einer Wohnung mit nassen Wänden entstanden, berichtet ihre Tochter Amrei. Die Malerin zum Thema Emanzipation als Daueraufgabe: „Frauen, wenn wir heute nichts tun, leben wir morgen wie vorgestern.“

Ohne Widerspruch nahmen auch die Frauen in der DDR ihre gesellschaftliche Situation nicht hin, aus Frust konnte durchaus Protest werden. Die Mauer fand Bauer en passant „überflüssig und überholt“. Noch mal Morgner: „Emanzipierte Frauen sind alle potentielle Dissidenten.“ Und nach der Wende? „Haushalt, Familie – das ist der Westen?“, fragt sich manche der Protagonistinnen in der Rückschau. Es konnte durchaus sein, dass hart erkämpfte Positionen über Nacht nichts mehr wert waren.

Die 15 Frauen, die hier erzählen, haben sich trotzdem irgendwie zurechtgefunden. Körner will ihren Lebensleistungen gerecht werden und ihren Kampf um Chancengleichheit würdigen. Dies gelingt ihm auf interessante und enorm kurzweilig Weise. Sein Dokumentarfilm über die Frauen des Ostens ist sehr gut komponiert und mit seltenen Archivaufnahmen belegt. Man hätte sich nur gern gewünscht, dass der Name der Sprecherinnen jedes Mal eingeblendet würde, zu schnell verliert man den Überblick.

Diese Kritik erschien zuerst am 20.08.2024 auf: links-bewegt.de

Hier gibt es ein Interview mit Regisseur Torsten Körner.

Petra Kelly – Act now!

(DE 2024, Regie: Doris Metz)

Mit dem Herzen denken
von Wolfgang Nierlin

„Auf der Straße verändert sich mehr als im Parlament“, sagt Petra Kelly gleich zu Beginn des Films, um auf die demokratische Notwendigkeit außerparlamentarischer Bewegungen und zivilen Ungehorsams hinzuweisen. Dazu zeigt …

„Auf der Straße verändert sich mehr als im Parlament“, sagt Petra Kelly gleich zu Beginn des Films, um auf die demokratische Notwendigkeit außerparlamentarischer Bewegungen und zivilen Ungehorsams hinzuweisen. Dazu zeigt Doris Metz in ihrem Dokumentarfilm „Petra Kelly – Act now!“, einem bewegenden Portrait der streitbaren politischen Aktivistin, Bilder früherer und gegenwärtiger Demonstrationen. Über die Zeiten hinweg verbinden sich die unterschiedlichen Protestformen im Kampf für Frieden und Abrüstung, gegen Atomkraft und patriarchale Bevormundung sowie für eine gerechte Klimapolitik und global geltende Menschenrechte. Die Dokumentarfilmerin möchte damit einen „Diskurs zwischen den Generationen anstoßen“. Vor allem aber könne Petra Kelly, für die es keinen Unterschied zwischen Leben und Politik gab und die immer an die „Kraft der Utopie“ glaubte, als Vorbild für gegenwärtige Protestierende gelten. Denn mit ihrem visionären, globalen und vernetzten Denken war Kelly, die als stark und verletzlich, leidenschaftlich und wahrhaftig beschreiben wird, ihrer Zeit voraus. Insofern soll der Blick zurück zukünftiges Handeln inspirieren.

Anhand von Interviews mit Zeitzeugen und Weggefährten, in Selbstzeugnissen und mit umfangreichem Archivmaterial zeichnet Doris Metz auf eher konventionelle Weise den Lebensweg der idealistischen, energiegeladenen Aktivistin nach. 1947 im bayerisch-schwäbischen Günzburg geboren und von „Trümmerfrauen“ erzogen, wächst sie schließlich ab ihrem zwölften Lebensjahr in der Familie ihres amerikanischen Stiefvaters John E. Kelly in den USA auf, wo sie mit Auszeichnung Schule und Studium absolviert. Martin Luther King und Robert F. Kennedy, in dessen Wahlkampfteam sie eine Zeit lang arbeitet, werden zu ihren Vorbildern. Ihr sensibler Halbbruder John L. Kelly gibt darüber intim Auskunft. Später, ab Herbst 1970 wieder in Europa, engagiert sie sich in der Anti-Atomkraft-Bewegung, kämpft gegen den Rüstungswettlauf und wird Gründungsmitglied der Grünen, für die sie schließlich 1983 in den Bundestag gewählt wird. Begegnungen mit dem indigenen Menschenrechtsaktivisten Milo Yello Hair aus dem Pine Ridge Reservat in South Dakota, mit der Friedenskämpferin Cora Weiss und dem Künstler Joseph Beuys zeigen die weit gespannten Zusammenhänge ihres Engagements.

Petra Kellys fortgesetzte Infragestellung von Autoritäten und Machtstrukturen lässt sie gegen eine ebenso oberflächliche wie zynische „Politik hinter verschlossenen Türen“ und gegen einen von Männern beherrschten Bundestag opponieren, in dem sie mit analytischer Scharfsicht nurmehr eine „Tribüne für das Fernsehen“ erkennen kann. Ihr Misstrauen gegen Parteien und ihr gewaltfreies Denken bringen sie schließlich auch in Konflikt mit den Grünen, die doch eigentlich als „Anti-Parteien-Partei“ angetreten waren. Kelly wollte nur dem „Gesetz des Gewissens“ folgen und „mit dem Herzen denken“, wie der Titel eines ihrer Bücher lautet. Darüber und über die zunehmende Bedrohung durch die rechtsextreme LaRouche-Gruppe berichten ihre ehemaligen politischen Freunde und Freundinnen Lukas Beckmann und Otto Schily, Eva Quistorp und Ina Fuchs. Im fast 25 Jahr älteren, verheirateten Ex-Generalmajor Gert Bastian, der im Film seltsam ungreifbar bleibt, findet sie zwar eine „Beschützerfigur“; die tiefe und komplizierte Beziehung endet 1992 aber tödlich, als Bastian erst seine Lebensgefährtin und danach sich selbst erschießt. Dieser gewaltsame Tod steht in einem herben Kontrast zum friedliebenden Leben einer Frau, die so „charismatisch“, „wahrhaftig und anders“ war.

Ellbogen

(DE 2024, Regie: Aslı Özarslan)

Anhaltendes Fremdheitsgefühl
von Wolfgang Nierlin

Die fast 18-jährige Hazal (Melia Kara) fühlt sich benachteiligt und gesellschaftlich ausgegrenzt. Als Tochter türkischer Eltern im Berliner Arbeiterviertel Wedding aufgewachsen, erlebt sie immer wieder Diskriminierung und Zurückweisung. Ohne rechte …

Die fast 18-jährige Hazal (Melia Kara) fühlt sich benachteiligt und gesellschaftlich ausgegrenzt. Als Tochter türkischer Eltern im Berliner Arbeiterviertel Wedding aufgewachsen, erlebt sie immer wieder Diskriminierung und Zurückweisung. Ohne rechte Überzeugung nimmt sie an einem Bewerbungstraining teil, nur um später bei einem Vorstellungsgespräch mal wieder abgelehnt und vertröstet zu werden. Hazal schmollt, ist frustriert und wütend. Ihr latent aggressives Gefühl, nicht zu genügen, nimmt noch zu, als sie von einem Kaufhausdetektiv, der seine Machtposition ausnutzt, abgezogen wird. Als sie an ihrem Geburtstag schließlich in einen heftigen Streit mit ihrer Mutter gerät und zusammen mit ihren verschworenen Freundinnen Elma (Jamilah Bagdach) und Gül (Asya Utku) vom Türsteher eines angesagten Clubs abgewiesen wird, kommt es kurz darauf in einer zunehmend eskalierenden Situation zu einer brutalen Gewalttat. Am Kulminationspunkt einer verhängnisvollen Entwicklung hat sich etwas scheinbar unverrückbar verändert. Hazal gerät in Panik, stiehlt Geld und flieht.

„Willst du feiern, dass wir Opfer sind?“, wird die junge Frau kurz zuvor von einer ihrer Freundinnen gefragt. Zusammen stemmen sie sich mit ihren Träumen gegen den tristen Alltag. Aslı Özarslan konzentriert sich in ihrem Film „Ellbogen“, einer Adaption von Fatma Aydemirs gleichnamigem Romandebüt, zunächst mehr oder weniger plakativ und vordergründig auf eine Verdichtung und Zuspitzung dieses Ausgrenzungsdiskurses. Dabei ist sie mit ihrer realistischen Inszenierung immer nah bei der jugendlichen Heldin, heftet sich an ihre Fersen und zeigt ihre Perspektive, die sich immer mehr zu verengen scheint. „You have to decide who you are/ and force the world to deal with you“, lautet das Motto, das den Film einleitet. Aslı Özarslan erzählt eine typische Adoleszenz- und Selbstfindungsgeschichte unter den besonderen Bedingungen eines anhaltenden Fremdeitsgefühls. Ihr immer wieder spannungsgeladener Film handelt zugleich von einer ambivalenten individuellen Befreiung und von einer problematischen (weiblichen) Selbstermächtigung.

Denn nach Hazals Flucht nach Istanbul zu ihrer Internetbekanntschaft Mehmet (Doğa Gürer), einem straffällig gewordenen und deshalb aus Deutschland abgeschobenen Drogensüchtigen, bleibt sie zunächst eine vielfach Abhängige. Sie ordnet sich den Machtstrukturen unter, weil sie unsicher ist und keine andere Wahl hat. Allein und verloren streift sie durch eine fremde Stadt, in der sie wegen ihres leichten Akzents paradoxerweise als Ausländerin gilt. Trotzdem erfährt sie in besseren Momenten auch eine neue Freiheit und Unabhängigkeit zwischen allen Grenzen. Ablesbar wird dieses erwachte Selbstbewusstsein etwa beim ausgelassenen Tanzen in einer Diskothek. Außerdem lernt sie den kurdischen Oppositionellen Halil (Haydar Şahin) kennen, der regierungskritische Artikel schreibt und deshalb verfolgt wird. Mit ihm teilt Hazal gewissermaßen ihren Außenseiterstatus, ihre Wut und Verletzlichkeit. Als sie schließlich in ihrer Rastlosigkeit von ihrer schwer lastenden Vergangenheit eingeholt wird, muss sie entscheiden, ob ihre Schuld oder aber das Aufbegehren gegen eine restriktiv empfundene Gesellschaft schwerer wiegt.

A Revolution on Canvas

(USA 2023, Regie: Sara Nodjoumi, Till Schauder)

Notwendige Kunst
von Wolfgang Nierlin

Aus der Vogelperspektive blickt die Kamera auf den aus Iran stammenden Künstler Nikzad Nodjoumi, der in einem Atelier des New Yorker Stadtteils Brooklyn arbeitet. Nach dem Sturz des Schahs musste …

Aus der Vogelperspektive blickt die Kamera auf den aus Iran stammenden Künstler Nikzad Nodjoumi, der in einem Atelier des New Yorker Stadtteils Brooklyn arbeitet. Nach dem Sturz des Schahs musste der linke, regierungskritische Maler am Beginn der Islamischen Republik 1980 vor dem Mullah-Regime in die USA fliehen. Während einer Ausstellung seiner Gemälde im Museum für zeitgenössische Kunst in Teheran war er massiv angefeindet worden, seine damals ausgestellten Werke sind seitdem verschollen.

In ihrem investigativen und sehr persönlichen Dokumentarfilm „A Revolution on Canvas“ begibt sich seine Tochter Sara Nodjoumi zusammen mit ihrem Co-Regisseur und Ehemann Till Schauder deshalb auf eine Spurensuche, die sowohl in die politische Vergangenheit des heftig umkämpften Iran als auch in ihre eigene, von blinden Flecken durchsetzte Familiengeschichte führt. Dabei porträtiert sie zwar primär ihren Vater und seine Kunst im Zeichen der politischen Auseinandersetzungen, widmet sich aber zugleich ihrer Mutter Nahed Hagiga, die ebenfalls als Künstlerin tätig ist, ihre Arbeit aber eine Zeit lang hinter diejenige ihres Mannes zurückgestellt hat.

Für Sara Nodjoumi, die selbst auch zu einer Protagonistin ihres Films wird, spiegelt sich darin bei allem Verständnis für die außerordentlichen Umstände ihrer mittlerweile geschiedenen Eltern auch die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Das Aufbegehren der Frauen gegen staatliche Unterdrückung im Namen der Religion wird wiederum durch die jüngsten, unter dem Slogan „Frau, Leben, Freiheit“ geführten Proteste thematisiert. Die Kämpfe der Vergangenheit schließen sich hier mit denjenigen der Gegenwart zusammen. Die Fülle des Materials aus historischen Aufnahmen, zahlreichen Familienfotos, Gemälden und aktueller Recherchearbeit führt allerdings zu einer assoziativen, sprunghaften Montage, deren Gewichte ungleich verteilt sind. Die Einblendung von Jahreszahlen sorgt dabei zumindest für eine grobe Orientierung und eine eher lockere Chronologie.

Neben einer sich zunehmend als schmerzlich erweisenden Familiengeschichte gilt ein wesentlicher Handlungsstrang Nikzad Nodjoumis linksradikaler Politisierung, die Ende der 1960er Jahre im Zuge der Proteste gegen den Vietnamkrieg und der Bürgerrechtsbewegung in den USA entscheidende Impulse erhält. Diese bringt ihn nach seiner zeitweisen Rückkehr in den Iran schließlich in gefährliche Konflikte mit den Ordnungshütern. Die Erfahrungen mit Gewalt, Unfreiheit und Krieg, mit Paranoia und Unterdrückung spiegeln sich schließlich in seinen politisch unbequemen, provozierenden Bildern.

Expressionistisch, surreal und phantastisch verbinden sich in ihnen Mensch und Tier, Gewalt und Unterwerfung in kaleidoskopischen Arrangements. Mythische Vergangenheit und politische Gegenwart kreuzen sich in den gegenständlichen Bildern auf herausfordernde, ebenso ironische wie schreckliche Weise. Leider vermittelt der Film diese Eindrücke nur streiflichtartig. Einmal heißt es über Nikzad Nodjoumi, der auf verschiedenen Ebenen mit seiner Biographie konfrontiert wird und die Notwendigkeit seines künstlerischen Schaffens zeitlebens offensichtlich über sei Privatleben stellte, er habe „eine Revolution in sich selbst“. Diese ist auch noch nach dem Film, der ihn seinen verschwunden geglaubten Werken näher bringt, nicht zu Ende.

Twisters

(USA 2024, Regie: Lee Isaac Chung)

Kein Stress
von Bernhard Torsch

Erinnert ihr alten Säcke euch noch an „Twister“? Den Katastrophen-Actionfilm aus dem Jahr 1996? In dem eine Wissenschaftlerin (Helen Hunt) Wirbelstürme erforschen will, um sie besser vorhersagen zu können, und …

Erinnert ihr alten Säcke euch noch an „Twister“? Den Katastrophen-Actionfilm aus dem Jahr 1996? In dem eine Wissenschaftlerin (Helen Hunt) Wirbelstürme erforschen will, um sie besser vorhersagen zu können, und im Zuge der vergessenswerten Handlung zu ihrem geschiedenen Ehemann (Bill Paxton) zurückfindet? Ihr wisst schon, wie es Gott gewollt hat? „Twisters“ erzählt fast die gleiche Geschichte. Statt Hunt spielt nun Daisy Edgar-Jones das All American Girl aus dem Mittleren Westen (lustigerweise ist Edgar-Jones Britin), und sie trägt sogar die 1996 etablierte Uniform für Wirbelsturmjägerinnen (weißes Tanktop). Statt Bill Paxton ist der fesche Glen Powell nun das mächtig männliche Love Interest der Protagonistin. Die will Wirbelstürme nicht mehr nur vorhersagen können, sondern hat gleich eine chemische Formel entwickelt, mit der man die lästigen Winde ausradieren kann.

Es fehlen hier die fliegenden Kühe. Die fast alles sind, was sich mein Gehirn vom 1996-Twister-Film gemerkt hat. Dafür fliegt fast alles andere durch die Gegend, von Autos über Windräder bis zu ganzen Raffinerien. Und Menschen auch, aber das macht nichts, denn irgendeine Art von emotionaler Wirkung hat es nicht, wenn in „Twisters“ jemand stirbt. Ich war überrascht, wie kalt der Streifen ist. Obwohl andauernd jemand in Gefahr ist oder was stürmt und explodiert, war mir das wurscht. Und dass der Feschak am Schluss die Feschakin kriegt, war ohnehin klar. Warum also war „Twisters“ ein Riesenerfolg an den Kinokassen?

Ich würde sagen, weil er dem Sommerblockbuster-Publikum gibt, was das Sommerblockbuster-Publikum will. Der Punkt ist nicht als negative Kritik gemeint, es ist einfach so. „Twisters“ wandelt auf den Spuren von „Top Gun: Maverick“, insofern man hier als Mensch, der nach einer 50-Stunden-Woche in einem Scheiß-Job und zwei Wochen Urlaubsanspruch pro Jahr 20 oder 30 Dollar dafür hinlegt, unterhalten zu werden, auch unterhalten wird, ohne sein Hirn einschalten zu müssen. Das tut „Twisters“ und vermeidet sehr geschickt, irgendein Reizthema des aufgeheizten Kulturkampfes anzusprechen. So kommt etwa das Wort „Klimawandel“ in einem Film über immer schlimmer werdende und immer öfter vorkommende Stürme nicht vor. Stattdessen gibt es ganz viel Zusammenhalts-Appelle (was nicht an sich böse ist). Frauen dürfen stark sein, aber „Twisters“ schafft das, ohne Männer deswegen wie die letzten Volltrottel darzustellen. Es gibt ganz viel Rockmusik und Countrymusik und ein bisschen moderne Popmusik. Viele Szenen mit gaaanz großen Autos, die gaaanz schnell über Stock und Stein fahren und deren Insassen dabei gaaanz laut „Wooooheee“ brüllen. Rodeos. Amerikanische Flaggen. Queere Menschen existieren nicht.

„Twisters“ ist dabei aber nicht besonders offensichtlich mean spirited. Am Schluss darf sogar die Witzfigur des Films, ein britischer Journalist über 40, der Brille trägt (hahaha), dem beim wilden Auto-in-Wirbelstürme-Fahren schlecht wird (Weichei!) und der seinen Job als Journalist macht und fotografiert und Notizen schreibt (buuuuu!) ein richtiger Mensch werden, indem er seine Kamera weglegt und mit anpackt – fast wie ein echter amerikanischer Mann. Am Rande gibt es auch noch einen Bösewicht, einen gierigen Kapitalisten, der das Land von Twister-Opfern aufkauft, aber der wird so schnell wieder aus der Handlung katapultiert, dass man ihn kaum wahrnimmt.

Andererseits ist die Besetzung immerhin multi-ethnisch, was einer der wenigen Hinweise darauf ist, dass „Twisters“ nicht direkt nach „Twister“ gedreht wurde. Und das dürfte ein weiterer Grund für den Erfolg sein. „Twisters“ fühlt sich alt an, also 90er-Jahre-alt. Ähnlich wie „Top Gun: Maverick“. Das zieht beim Publikum, was angesichts der Multikrisen unserer Tage und des Dauergeschreis unserer gespaltenen Gesellschaften massenpsychologisch verständlich ist. „Twisters“ ist nicht so offen faschistisch wie etwa die Serie „Yellowstone“, sondern so reaktionär, wie es die meisten erfolgreichen Blockbuster immer waren. Anders gesagt: „Twisters“ ist der nette Konservative, der nichts gegen Schwule hat und auch selbständige Frauen akzeptiert, solange sie patriotisch sind, an die Marktwirtschaft glauben und nicht allzu vorlaut werden.

Didi

(USA 2024, Regie: Sean Wang)

Im Chaos der Gefühle
von Wolfgang Nierlin

Am Esstisch der Familie Wang wird heftig gestritten. Drei Generationen befinden sich in dem von Frauen dominierten amerikanisch-taiwanesischen Haushalt im Dauerclinch, wobei die Älteren Mandarin, die Jüngeren Englisch sprechen. Vor …

Am Esstisch der Familie Wang wird heftig gestritten. Drei Generationen befinden sich in dem von Frauen dominierten amerikanisch-taiwanesischen Haushalt im Dauerclinch, wobei die Älteren Mandarin, die Jüngeren Englisch sprechen. Vor allem Nesthäkchen Chris (Izaak Wang), von den anderen liebevoll „Dìdi“ genannt, was „kleiner Bruder“ oder „Söhnchen“ bedeutet, zofft sich fortwährend mit seiner älteren Schwester Vivian (Shirley Chen). Während sich diese im Sommer des Jahres 2008 aufs College und damit auf den Auszug aus dem Elternhaus im kalifornischen Fremont vorbereitet, steht dem 13-Jährigen der Wechsel auf die High School bevor. Tief in den Wirren der Pubertät mit ihren unsteten, oft aufbrausenden Gefühlen gefangen, verbringt Chris seine Zeit hauptsächlich mit seinen angeberischen Kumpels. Diese wiederum nennen den eher schüchternen und zurückhaltenden Außenseiter in Anspielung auf seine asiatische Herkunft „Wang-Wang“. Chris fühlt sich deshalb oft ausgeschlossen und hat einen doppelt schweren Stand. Schüchtern interessiert er sich für die hübsche, gleichaltrige Madi (Mahaela Park), die ihm eine zweifelhaftes Kompliment macht, wenn sie sagt: „Du bist ziemlich süß für einen Asiaten.“

In seinem autobiographisch gefärbten Debütfilm „Dìdi“ widmet sich Sean Wang mit seinem Titelhelden einer mehrfachen Fremdheitserfahrung und den vielen Unsicherheiten in der Phase eines Übergangs. Chris sucht Freunde, wünscht sich Zuneigung und Anerkennung, erlebt aber immer wieder Zurückweisung. Vom hohen Anpassungsdruck überfordert, reagiert er gereizt und aggressiv, was nicht nur seine Freunde, sondern auch seine Familienmitglieder zu spüren bekommen. Neben seiner Schwester trifft Chris‘ ungefilterte Wut vor allem auf seine Mutter (Joan Chen), die sich erfolglos als Künstlerin versucht und die einen schweren Stand gegenüber der Großmutter (gespielt von Chang Li Hua, der Großmutter des Regisseurs) hat. Da ihr Mann in Taiwan arbeitet, ist sie gezwungen, sich allein um das so schwer zu bewerkstelligende Wohlergehen der Familie zu kümmern.

Zwar steckt der temperamentvolle Coming-of-Age-Film, der zu einem guten Teil zeittypische elektronische Kommunikationsformen integriert, voller Konflikte, er findet im hochfrequenten Chaos der Gefühle aber auch zu versöhnlichen Momenten. Mit ironischem Witz und sanfter Melancholie begleitet Sean Wang seinen jugendlichen Helden ebenso realistisch wie phantasievoll in einem Prozess des Wachsens, der nur einen weiteren Schritt markiert und nichts Abschließendes beansprucht. Die symbolisch verstehbare Entfernung von Chris‘ Zahnspange zielt gerade auf dieses Vorübergehende. Und auch die nächtlichen Bilder, in denen die einsamen Enttäuschungen des Helden vermittelt werden und die nachdenkliche Ruhepole setzen, haben in diesem Sinne nicht das letzte Wort. Sie sind vielmehr Zwischenstationen und Übergänge zu neuen Aufbrüchen.

Was will der Lama mit dem Gewehr?

(BT/TW 2023, Regie: Pawo Choyning Dorji)

Die Dinge in Ordnung bringen
von Wolfgang Nierlin

In dem kleinen, relativ abgeschotteten Bhutan scheinen die Menschen zufriedener als andernorts zu sein. Das buddhistisch geprägte Land im fernen Himalaya entwickelt und misst sogar das sogenannte „Bruttonationalglück“ anhand verschiedener …

In dem kleinen, relativ abgeschotteten Bhutan scheinen die Menschen zufriedener als andernorts zu sein. Das buddhistisch geprägte Land im fernen Himalaya entwickelt und misst sogar das sogenannte „Bruttonationalglück“ anhand verschiedener wirtschaftlicher und kultureller Parameter. Vielleicht hat diese Zufriedenheit auch damit zu tun, dass Internet und Fernsehen mit ihren tendenziell verderblichen konsumistischen Segnungen erst seit wenigen Jahren verfügbar sind. Trotzdem gibt es nach wie vor ein großes soziales Gefälle zwischen der armen, traditionell eingestellten Landbevölkerung und den westlich orientierten Stadtbewohnern. In dieser Situation kündigt der König im Jahre 2006 nicht nur seinen Rücktritt an, sondern auch die Einführung der Demokratie. Mit Wahlen soll die Bevölkerung nun selbst über die Geschicke des Landes entscheiden.

In diesem „historischen Moment“ setzt Pawo Choyning Dorjis Film „Was will der Lama mit dem Gewehr?“ („The monk and the gun“) ein. Während „James Bond“ über die Bildschirme flimmert und die Modernisten bestrebt sind, „die Vergangenheit hinter sich zu lassen“, hegen andere Bevölkerungsschichten Zweifel am Nutzen der bevorstehenden Veränderungen. Skepsis macht sich gerade dort breit, wo es neuerdings zu Differenzen und Konkurrenzdenken kommt. Selbst in den Familien herrschen jetzt manchmal entgegen früheren Zeiten Unfrieden und Zwietracht. Was sind „geschenkte Rechte“ wert, wenn man nicht für sie kämpfen muss?“, fragt einer. Und eine Mutter, deren Mann jetzt als Wahlkämpfer tätig ist, wünscht sich: „Ich will einfach unser altes Leben zurück, als die Familie noch vereint und glücklich war.“

Der bhutanische Regisseur, der mit seinem vielbeachteten Film „Lunana“ international bekannt wurde, erzählt von diesem facettenreichen gesellschaftlichen Transformationsprozess anhand verschiedener paralleler Geschichten. Ein beschaulicher, langsamer Erzählrhythmus, grundiert von einem leisen Humor, sorgt für deren märchenhafte, unverhohlen idealistische Verknüpfung. Denn als der Lama des Klosters Ura durch die Neuerungen aus seiner Meditationsklausur aufgeschreckt wird, beschließt er, „die Dinge wieder in Ordnung zu bringen“. Für ein bei Vollmond geplantes Ritual soll sein Meisterschüler Gewehre auftreiben, was in dem friedliebenden Land kein leichtes Unterfangen ist. Weil zur gleichen Zeit ein amerikanischer Waffenhändler mit Hilfe eines Fremdenführers nach einem wertvollen historischen Gewehr sucht, kommt es zu einigen geschickt verknüpften Verwicklungen. Und schließlich ist noch ein Team von Wahlkampfhelfern damit beschäftigt, der ziemlich ahnungslosen Dorfbevölkerung das Wählen zu erklären.

Der von wogenden Getreide- und Blumenfeldern gerahmte und mit malerischen Panoramen aufwartende Film zeigt den Verlust der Unschuld im Prozess des Wertewandels, verteidigt auf sanfte, eher zurückhaltende Weise aber zugleich eine Spiritualität, die der zweifelhaften Freiheit einer materialistischen Weltordnung entgegengesetzt ist.

Zwei zu eins

(DE 2024, Regie: Natja Brunckhorst)

Bad im Geldspeicher
von Jürgen Kiontke

Halberstadt im Harz, 1990: Das verschlafene Städtchen ist plötzlich aufgeweckt worden. Gerade ist die Mauer gefallen, der DDR-Osten ist nicht mehr, der Westen aber auch noch nicht ganz da. Immerhin …

Halberstadt im Harz, 1990: Das verschlafene Städtchen ist plötzlich aufgeweckt worden. Gerade ist die Mauer gefallen, der DDR-Osten ist nicht mehr, der Westen aber auch noch nicht ganz da. Immerhin hat es dafür gereicht, dass die Volkswirtschaft mehr oder weniger zusammengebrochen ist, demnächst winken ABM-Maßnahmen – für die Jüngeren: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.

Es ist eine Zeit des großen Aufbruchs für die einen, für die anderen ist es der große Zusammenbruch. Die Welt, wie die Ostdeutschen sie kannten, ist weg. Maren (Sandra Hüller), Robert (Max Riemelt) und Volker (Roland Zehrfeld, in Nadja Brunckhorsts Filmkomödie „Zwei zu eins“ Freunde seit Kindesbeinen an, wissen auch nicht richtig, wie es weitergehen soll. Da fällt ihnen das Glück auf die Füße: Lastwagen transportieren große Mengen von Irgendwas durch die Landschaft hin zu einem alten Schacht. Bald finden die drei Wendegeschädigten heraus, was da gelagert wird: DDR-Geldscheine en masse. Sie stammen aus der Zentralbank in Berlin, keiner braucht sie mehr. Es sind sogar 500 Ostmark-Scheine dabei, die nie ausgegeben wurden.

Nun stellt sich heraus, dass die Umtauschfrist Ostmark – Westmark im Verhältnis zwei zu eins unter bestimmten Bedingungen noch läuft. Das Trio wittert den Groß-Coup. Säckeweise schleppen sie das Geld aus dem Stollen – einmal sogar unter Waffeneinsatz eines übriggebliebenen NVA-Soldaten. Dem Zuschauer wird es mulmig zumute: Werden die drei ihre Ziele umsetzen können? Lohnt sich das Ziel überhaupt? Mindestens Maren träumt davon, den alten Volkseigenen Betrieb (VEB), zu erwerben und für den Weltmarkt flottzumachen („Haben schon mit Schweden gesprochen…“). Mit allerlei Wortwitz und etwas weniger Action folgt man den Amateurganoven durch ihr Abenteuer, umgeben von einem liebevoll dekorierten DDR-Ambiente. Erstaunlich, wie viele Gegenstände von vor 35 Jahren heute noch übrig sind, um so ein Filmset einzurichten.

„Zwei zu eins“ beruht auf einer wahren Begebenheit. In der Tat wurden 1990 rund 400 Tonnen Bargeld in dem Stollen zum Verrotten deponiert, weil es keine geeignete Verbrennungsstätte gab. Es sollen größere Mengen Geld entwendet worden sein, Täter wurden nicht ermittelt. „Ich habe die Fotos gesehen von den Leuten, die in dem Stollen zum ersten Mal das Geld sehen. Sie wirken sehr glücklich. Wahrscheinlich wird man beim Anblick eines solchen Geldhaufens wieder zum Kind“, erzählt Regisseurin Brunckhorst. Freudig hat sie ihre Protagonisten das Bad im Geldspeicher nachspielen lassen.

Nun ist viel an dem Film sicher richtigerweise kritisiert worden, da stimmten diese Details nicht, da fehle jegliches Gespür für Ost-Geschichte, für zeitgeschichtliche Fakten sowieso. Mag sein. Dagegen einzuwenden ist: Hier stehen drei Darsteller in der ersten Reihe, die allesamt aus dem Osten stammen, zweitens spiegeln sich jede Menge Besonderheiten deutscher Geschichte wieder, wie zum Beispiel im Monolog einer älteren Dame in der Funktion der VEB-Kassenverwalterin, die erklärt, dass sei nicht ihre erste Währungsreform, schon 1948 hätte sie keine Kohle mehr gehabt – ein Rezensent in der Zeitung „Die Welt“ sah sich deshalb veranlasst, darauf hinzuweisen, dass schon wieder eine große Geldtransformation bevorsteht: die vom Bar- zum Digitalgeld.

Ein Besuch bei Ikea verdeutlicht den neuen DDR-Unternehmern, dass sie schon immer für den Westen gearbeitet hatten, weil dort die Pins für die Billy-Regale hingewandert sind, für die ihr Betrieb berühmt war. „Und wir dachten, wir halten mit unserer Arbeit die Welt zusammen, aber das war nicht unsere, sondern die der anderen“, wie einer der VEBler bemerkt.

Geld ist im Kapitalismus nicht unerheblich, im Staatskapitalismus aber auch, lernen die BRD-Neubürger dann auch schnell. Dem Westen wollen sie es trotzdem zeigen, aus Rache, dass ihnen Job und Republik – zwei zu nichts! – flöten gegangen sind. Mit denen sie auch schon nicht glücklich waren – vom Unglück ins Pech, könnte man sagen. Ob es damit getan ist? Das sanierungsträchtige VEB wird ihnen die Treuhand später noch nachschmeißen.

Sicher auch ein Pluspunkt: Gefühlt 120 Prozent deutscher Kinofilme spielen in Berlin, der hier spielt im Harz auf DDR-Seite. Nicht allzu oft klemmt sich eine Großproduktion in die Provinz, dafür Chapeau. Und das ist die Leistung von „Zwei zu eins“: Der Film ruft mit guter Besetzung ins Gedächtnis, dass die Deutschen auch woanders als in der Hauptstadt wohnen, dass es so etwas wie die DDR überhaupt gab. Lange ist es her. Prädikat: sehenswert.

Gloria!

(IT/CH 2023, Regie: Margherita Vicario)

Befreiung durch Musik
von Wolfgang Nierlin

Im Waisenhaus Sant’Ignazio unweit von Venedig wird die schweigsame Teresa (Galatéa Bellugi) von allen nur „die Stumme“ genannt. Dem autoritären Vorsteher des Musikkollegiums für mittellose Mädchen, bigotter Priester und selbstherrlicher …

Im Waisenhaus Sant’Ignazio unweit von Venedig wird die schweigsame Teresa (Galatéa Bellugi) von allen nur „die Stumme“ genannt. Dem autoritären Vorsteher des Musikkollegiums für mittellose Mädchen, bigotter Priester und selbstherrlicher Kapellmeister in Personalunion, gilt sie gar als zurückgeblieben und – obwohl er es besser weiß – minderwertig. Immer wieder würdigt Maestro Perlina (Paolo Rossi) die junge Frau herab und verpflichtet sie zu niederen Arbeiten. „Du musst stumm bleiben!“, sagt er beschwörend in Kenntnis ihres wahren Schicksals. Dabei ist Teresa musikalisch überaus begabt. Mit den kleineren Kindern musiziert sie mit selbstgebastelten Perkussionsinstrumenten, für die tägliche Haus- und Hofarbeit imaginiert sie Rhythmen und als sie in einem Kellerverlies ein nagelneues Pianoforte entdeckt, bringt sie sich als Autodidaktin heimlich selbst das Klavierspiel bei. Der berühmte Klavierbauer Johann Andreas Stein hat das für die Zeit um 1800 noch ungewöhnliche Instrument eigentlich den musikbegeisterten Chormädchen vermacht, doch der frustrierte Perlina verbannt es in den Keller.

In Margherita Vicarios Debütfilm „Gloria!“, einer ausdrücklichen Hommage an die von der Geschichtsschreibung vergessenen Musikerinnen und Komponistinnen, an ihre künstlerischen Talente und weibliche Kreativität, bilden die Schülerinnen eine eingeschworene Clique. Verbunden durch ihr gemeinsames Singen und Musizieren, formen sie ein Refugium weiblicher Solidarität und Freiheit. Die noch frischen Ideale der Französischen Revolution versprechen einen Aufbruch und lassen die einst ausgesetzten oder verlassenen Mädchen von einem anderen, freieren Leben träumen. Als sie eines Nachts Teresa beim Klavierspielen überraschen, treffen zunächst gegensätzliche musikalische Welten und individuelle Vorbehalte aufeinander. Denn „die Stumme“ kann nicht nur sprechen, sondern sie entlockt dem Instrument außerdem ungewöhnlich moderne Rhythmen und Klänge. Vor allem Lucia (Carlotta Gamba), hochbegabte erste Geigerin, die selbst komponiert, sieht in ihr eine Konkurrentin. Doch die regelmäßigen nächtlichen Treffen entwickeln sich bald zu einem gemeinsamen Projekt: Weil Perlina für den Besuch des in Venedig frisch gekrönten Papstes ein Konzert schreiben soll, den Zenit seiner Schaffenskraft aber überschritten hat, übernehmen seine Schülerinnen heimlich die anspruchsvolle Aufgabe.

Der italienischen Regisseurin, selbst Musikerin, geht es in ihrem schwungvollen, immer etwas über den erdenschweren Tatsachen schwebenden und deshalb eher luftigen Musikfilm weder um historische Genauigkeit noch um Plausibilität. Vielmehr huldigt sie ohne Scheu vor holzschnittartiger Figurenzeichnung und oberflächlicher Melodramatik der idealisierten Lust an der Freiheit. Diese richtet sich dezidiert gegen die Macht der Altvorderen, die von kirchlichen Autoritäten und ihren bürgerlichen Geldgebern verkörpert werden. Mit einem Hang zur Ästhetisierung sowie zum einerseits gerafften, andererseits etwas zu verzetteltem, ungenauem Erzählen platziert Margherita Vicario ihre moderne Botschaft einer den wahren zeitlichen Verhältnissen vorauseilenden Befreiung. Rasant montiert und inhaltlich mit genreüblichen filmischen Mitteln zugespitzt, mündet diese folgerichtig in einen musikalischen Skandal.

Crossing: Auf der Suche nach Tekla

(SE/DK/TR/GE 2024, Regie: Levan Akin)

Austausch und Zusammenhalt
von Wolfgang Nierlin

Eine ältere Frau geht nachdenklich einen Strand der georgischen Hafenstadt Batumi entlang, wo sie schließlich an der Tür einer ärmlichen Behausung anklopft. Darin tobt mal wieder ein heftiger Familienstreit um …

Eine ältere Frau geht nachdenklich einen Strand der georgischen Hafenstadt Batumi entlang, wo sie schließlich an der Tür einer ärmlichen Behausung anklopft. Darin tobt mal wieder ein heftiger Familienstreit um nichts. Der Umgangston ist rau und aggressiv, während im Hintergrund Meeresrauschen zu hören ist. In einer langen, dynamischen Plansequenz sind die Figuren aufeinander bezogen und zugleich zueinander auf Distanz gehalten. Doch Levan Akin kultiviert dieses Stilmittel im Verlauf seines Films „Crossing: Auf der Suche nach Tekla“ nicht weiter. Stattdessen schält er aus der Gruppe eine Zweierbeziehung heraus. Die pensionierte Geschichtslehrerin Lia (Mzia Arabuli), eine resolute, zielstrebige Frau, will den letzten Willen ihrer verstorbenen Schwester erfüllen und sich auf die Suche nach deren verschwundener Tochter Tekla begeben. Die junge Transfrau, die offensichtlich als Prostituierte arbeitet, ist einst vor der Diskriminierung durch ihre Umgebung ins Ausland geflohen. Der ebenfalls junge, etwa ungehobelte Achi (Lucas Kankava) behauptet, sie sei in Istanbul zu finden und drängt sich Lia als Reisebegleiter auf.

Achi will weg aus beengenden und bedrückenden Verhältnissen, doch was ihn umtreibt, bleibt unklar. In Lia wird er im Verlauf der Reise, die eine Suche ist und die vor allem als Vorwand für verschiedene Grenzübertritte fungiert, eine Ersatzmutter finden. Auf ihrer gemeinsamen Busfahrt entlang der Schwarzmeerküste sind sie allerdings zunächst ein ungleiches Paar, das nicht richtig kooperieren oder zueinander finden will. Bei ihrer Ankunft in der türkischen Metropole am Bosporus ändert sich erneut der Erzählstil des Films. Nachdem die Kamera in einer längeren, herausgehobenen Sequenz scheinbar auf der Suche nach Orientierung ein Eigenleben führt, wechselt sie die Perspektive. In parallelen Handlungen treten weitere Figuren auf den Plan, Nebenschauplätze rücken in den Blick, und das zunächst zielgerichtete Roadmovie teilt sich auf in verschiedene Bewegungsrichtungen, die wechselnde Begegnungen hervorbringen. Neben zwei Straßenkindern ist es vor allem die Transaktivistin Evrim (Deniz Dumanli), die für die beiden Suchenden integrativ wirkt.

Levan Akin, ein schwedischer Regisseur georgischer Abstammung, der mit seinem Film „Als wir tanzten“ einen Achtungserfolg feierte, taucht mit seinen Protagonisten und einem dokumentarischen Blick tief ein in den Mikrokosmos unbekannter, kaum gesehener Milieus. Eine faszinierende Fremde und unverhoffte Begegnungen konfrontieren Lia und Achi jeweils mit sich selbst und mit mühsam unterdrückten Vorurteilen. Indem Akin das Neben- und Ineinander von Kulturen, Sprachen und Stilen als lebendigen Austausch zeigt, befördert er auch das Verständnis und den Zusammenhalt seiner Figuren. Er habe eine „Hommage an Empathie und Solidarität“ gestalten wollen, hat der Filmemacher dazu gesagt. Seine Außenseiter-Helden sind deshalb freundlich und zugewandt, auch wenn unterschwellig die Konflikte brodeln.

Während der Film im Rahmen einer einfachen Geschichte die Bewegung und – auch im übertragenen Sinne – das Unterwegssein zu seinem erzählerischen Prinzip erhebt, bleiben Figurenzeichnung und Hintergründe leider etwas blass. Am Schluss wechselt „Crossing“ dann in den Konjunktiv der Möglichkeitsform, wo sich Zufall und Wunschvorstellung begegnen. Vielleicht ist das eine erzählerische Verlegenheitslösung; die Suche als Handlungsprinzip und als Kraft der Veränderung erhält hier aber eine deutlich lebenspraktische, auf Offenheit und Verständigung zielende Dimension.

Shahid

(DE 2024, Regie: Narges Kalhor)

Den Namen ändern
von Jürgen Kiontke

Das „Shahid“ im Namen der iranischen Regisseurin Narges Shahid Kalhor steht für „Märtyrer“. Der Namenszusatz stammt aus Zeiten der vorletzten Jahrhundertwende, Kalhors Urgroßvater galt als Kriegsheld; einer, der sich im …

Das „Shahid“ im Namen der iranischen Regisseurin Narges Shahid Kalhor steht für „Märtyrer“. Der Namenszusatz stammt aus Zeiten der vorletzten Jahrhundertwende, Kalhors Urgroßvater galt als Kriegsheld; einer, der sich im Kampf geopfert hat. Doch Kalhor will mit so einer Bürde nicht länger leben. Die junge Frau möchte ihn loswerden. Denn ein Märtyrer ist auch immer ein Toter, findet sie.

Sie lebt und arbeitet in Deutschland, wozu so ein martialischer Name. Um ihn aus den Registern, Ausweisen und sonstigen Papieren streichen zu lassen, startet sie ihre Reise durch die deutsche und iranische Verwaltung. Denn sie hat die Staatsbürgerschaften beider Länder, und die iranische kann man schon mal nicht ablegen. 2009 hat sie in Deutschland politisches Asyl beantragt und gefunden. Eine Namensänderung muss nun in allen Unterlagen erfolgen.

Damit dieses Unterfangen an die Öffentlichkeit kommt, begleitet sie sich quasi selbst in ihrem Film „Shahid“. Ihre Rolle auf der Reise durch die Bürokratie wird von der Schauspielerin Baharak Abdolifard übernommen. Alsbald stellen sich surreale Momente ein. Der Urgroßvater erscheint ihr inmitten einer Tänzergruppe, will ihr das Vorhaben ausreden. Er hat gute Gründe, immerhin soll er als Kämpfer für die Revolution gestorben sein. Das will er auch weiterhin gewürdigt wissen. Das bayerische Kreisverwaltungsreferat schickt sie zum Psychologen, der auch mit seinem Namen kämpft: Der Mann heißt Rippentrop, genau wie der Außenminister im Nationalsozialismus.

Politisches Drama wie verzweifelt-spaßige Komödie ist dieser Film, der längst Vergangenes mit der Gegenwart verbindet und in kein gängiges Format passt: Ihr Film fordere heraus, „nicht nur im Erscheinungsbild, sondern auch in der Erzählung. Er strebe danach, neue Narrative auf die Leinwand zu bringen“. Das „Cinemigrante“ – das Kino aller Gesichter und ihrer Geschichten in der westlichen Welt – und die Weiblichkeit fehlten heutzutage immer noch sehr in der Filmindustrie, so Kalhor. Nun, hier ist zumindest eine dieser vermissten Sichtweisen: äußert quirlig mit doppeltem Boden, autofiktional.

Diese Kritik erschien zuerst am 01.08.2024 auf: links-bewegt.de

Sonnenplätze

(DE 2024, Regie: Aaron Arens)

Unbehaustes Leben
von Wolfgang Nierlin

Ein Ehemann und Familienvater wird von seiner Ehefrau mit Ach und Krach vor die Tür gesetzt. Er schmeißt einen Stapel Bücher in den Kofferraum seines Autos und wird dort von …

Ein Ehemann und Familienvater wird von seiner Ehefrau mit Ach und Krach vor die Tür gesetzt. Er schmeißt einen Stapel Bücher in den Kofferraum seines Autos und wird dort von seiner kleinen Tochter verabschiedet, die sich auf dem Rücksitz versteckt hat. Später erfahren wir, dass es sich bei ihm um den Schriftsteller mit dem Pseudonym Jo Maibaum (Niels Bormann) handelt, der einst mit seinem Buch „Aus der Sonne“ großen Erfolg feierte und jetzt von seinem allmählich verblassenden Ruhm zehrt. In Aaron Arens‘ mit beißender Ironie erzählter Gesellschaftssatire „Sonnenplätze“ dienen Zitate aus diesem Werk als Überschriften für die einzelnen Kapitel. „An meine Kinder: Die Welt wartet auf euch“, ist etwa das erste betitelt. Nach einem Zeitsprung von 15 Jahren sitzt Maibaums 27-jährige Tochter Samuela (Julia Windischbauer), genannt „Sam“, im kreativen Chaos einer zugemüllten Wohnung und hat soeben das Manuskript ihres Debütromans „Verbrannte Erde“ beendet, in dem sie von ihrer dysfunktionalen Familie erzählt. Darüber hat sie die Beziehung zu ihrem Freund Olli vergessen und wird von diesem prompt ebenfalls aus der Wohnung geschmissen.

Sam scheint die Geschichte ihres Vaters zu wiederholen und zu spiegeln. Doch die Lektorin des „Ingenium Verlags“ hält die hoffnungsvolle Jungautorin auf Abstand; in ihrem Elternhaus, wohin sie mangels Alternativen zunächst geht, dominieren mittlerweile neue Konstellationen und Strukturen. Mutter Sybille (Juliane Kühler), die ebenfalls in der Verlagsbranche tätig ist, hat sich mit dem sehr viel jüngeren Möbeldesigner Marc (Jeremy Mockridge) zusammengetan; und Sams jüngerer Bruder Frederick (Jeremias Meyer), genannt „Fritzi“, täuscht nur noch vor, für die angestrebte Pianistenlaufbahn zu üben. In diesem bildungsbürgerlichen Wohlstandmilieu wirken die verwöhnten, privilegiert aufgewachsenen Kinder als Gescheiterte, die die Erwartungen ihrer Eltern offensichtlich nicht erfüllen können und die orientierungslos in einem zunehmend unbehausten Leben stehen. Da ergreifen die beiden auf der Suche nach einem Refugium die Flucht, um heimlich im Ferienhaus der Familie auf der Kanaren-Insel Lanzarote einzuchecken. Denn, so lautet eine weitere Kapitelüberschrift: „Man muss den Ort finden, von dem man nicht wegläuft.“ Doch zu ihrer Überraschung hat sich dort bereits ihr Vater eingerichtet, um seine Memoiren zu schreiben.

In der Folge werden die Einöde der staubigen Vulkaninsel und das zum Verkauf stehende Familiendomizil, das mit Kindheitserinnerungen aufgeladen ist, zu gefährdeten Orten, die alles Idyllische und Unschuldige längst verloren haben und nurmehr als letzter Unterschlupf für prekäre, vom Scheitern bedrohte Künstlerexistenzen fungieren: „Plötzlich waren wir zu dritt und die Insel verloren.“ Mit dem überraschenden Eintreffen von Sybille und Marc wird das Anwesen schließlich zum Austragungsort heftiger Familienkämpfe. Mit ebenso witzigen wie schneidenden Dialogen sezieren Aaron Arens und sein Drehbuchpartner Lukas Loose eine Familie von Ego-Shootern, die den einstigen Zusammenhalt verloren haben und in einem permanenten Gegeneinander gefangen sind. Dabei wird besonders am übermächtigen Image des schillernden Vaters gekratzt, der überaus eloquent und geistreich zwischen Frust und Überheblichkeit changiert. Als nachdenkliche Komödie verbindet der Film in unterhaltsamer Form die Entzauberung väterlicher Autorität mit der Parodie eines Milieus sowie mit einer von einem Abnabelungsprozess angetriebenen Coming-of-Age-Geschichte, deren Ende trotz gegenteiliger Behauptung einen Neubeginn verheißt.

Kinds of Kindness

(GB/IE 2024, Regie: Yorgos Lanthimos)

Abhängigkeitsregime
von Wolfgang Nierlin

Seit seinen Anfängen in der retrospektiv so bezeichneten Greek Weird Wave gestaltet Yorgos Lanthimos Parabeln über Macht und Unterwerfung, Dominanz und Abhängigkeit. Um sich in ihren prinzipiell sadomasochistischen Beziehungen ihre …

Seit seinen Anfängen in der retrospektiv so bezeichneten Greek Weird Wave gestaltet Yorgos Lanthimos Parabeln über Macht und Unterwerfung, Dominanz und Abhängigkeit. Um sich in ihren prinzipiell sadomasochistischen Beziehungen ihre Liebe zu verdienen, gar Erlösung zu finden, müssen sich die Figuren bis zur Selbstaufgabe erniedrigen und verletzen. Die totale Hörigkeit innerhalb eines Herrschaftsregimes schließt dabei auch den Verzicht auf persönliche Freiheit ein. Dafür seziert der griechische Regisseur menschliche Verhaltensweisen und psychische Zustände, indem er mit Ironie und unverhohlener Lust an Grausamkeiten Beziehungsmuster offenlegt. Dabei berührt er nicht nur Tabus, sondern er blickt mit gezielt gesetzten Schockmomenten auf verstörende Weise in menschliche Abgründe. Dicht verfugt und sehr kalkuliert aufs Wesentliche reduziert, ähneln Lanthimos‘ unterkühlte, auf den ersten Blick rätselhafte Versuchsanordnungen mit ihren absurden Dialogen selbst einer Art filmischem Regime, das die Rezeption nicht nur lenkt und gängelt, sondern auch manipuliert und einem gewissen Zwang aussetzt. Informationen werden in portionierten Dosen verabreicht, Zusammenhänge werden erst nach und nach deutlich und die so erzeugte Spannung sorgt für maximales Unbehagen.

In seinem neuen Film „Kinds of Kindness“ verbindet Yorgos Lanthimos drei Episoden, die sich eher lose Themen, Motive und die Darsteller/innen Emma Stone, Jesse Plemons, Willem Dafoe und Margaret Qualley teilen und in ihren Überschriften um das mysteriöse Namenskürzel „R. M. F.“ kreisen. Zwischen Distanz und extremer Nähe inszeniert er dabei eine Dialektik der Perspektiven, die auf scheinbare Offenheit und Übersichtlichkeit immer eine unangenehme Intimität folgen lässt. Herrschaftliche, kalte Anwesen und Bürokomplexe der Macht wechseln sich dabei ab mit Kliniken und einem Leichenschauhaus. Die Untersicht auf Größe macht den subjektiven Blick des Individuums umso kleiner und geringer.

Robert aus der ersten, „Der Tod von R. M. F.“ betitelten Geschichte ist ein solcher Abhängiger. Längst entscheidet sein Chef Raymond mit detaillierten Plänen über Roberts Leben. Essen, Sex und selbst die Lektüre werden vorgegeben, kontrolliert und überwacht. Im Gegenzug erhält der Hörige bizarre Geschenke, vor allem aber Liebe. Diese wird ihm allerdings entzogen, als er einen Fehler macht beziehungsweise sich weigert, einen ethisch höchst fragwürdigen Auftrag auszuführen. Weil der so gedemütigte, degradierte und ausgestoßene Sklave die darauffolgende soziale Isolation nicht aushält, ist er schließlich bereit, durch Reue und Erniedrigung die Liebe seines Gebieters wiederzugewinnen.

Auch in den beiden anderen Episoden stehen Selbstopferung und Liebesbedürftigkeit, Ausschluss und die Sehnsucht nach Integration in einer direkten Beziehung. So trauert der Polizist Daniel in „R. M. F. fliegt“ um seine verunglückte Frau Liz und verfällt dabei in einen zunehmenden Wahn. Als die vermeintlich Tote schließlich leicht verändert zurückkehrt, fühlt sich Daniel betrogen und fordert in seinem Streben nach dem verlorenen Ideal extreme Liebesbeweise. Auch im dritten Teil „R. M. F. isst“, der von den Erlösungsphantasien einer merkwürdigen, rigide geführten Reinheitssekte handelt, geht es um den Versuch, Ungehorsam und Ausschluss aus der Gemeinschaft zu überwinden, um so eine neue alte Ordnung herzustellen. Dafür findet die indoktrinierte Heldin sogar ein opferungswilliges Medium, das schließlich einen Toten, nämlich besage Nebenfigur R. M. F., zum Leben erweckt.

Liebesbriefe aus Nizza

(FR 2024, Regie: Ivan Calbérac)

Verletzter Löwe
von Wolfgang Nierlin

Fein säuberlich und ordentlich aufgereiht, stehen und thronen in Reih und Glied allerlei Militär-Devotionalien und patriotischer Kitsch auf den Regalen und Sideboards des geräumigen Wohnzimmers. François (André Dussollier), ein robuster …

Fein säuberlich und ordentlich aufgereiht, stehen und thronen in Reih und Glied allerlei Militär-Devotionalien und patriotischer Kitsch auf den Regalen und Sideboards des geräumigen Wohnzimmers. François (André Dussollier), ein robuster französischer Offizier im Ruhestand, hat die Sammlung gewissenhaft zusammengetragen. Zu Beginn von Ivan Calbéracs Komödie „Liebesbriefe aus Nizza“ („N’avoue jamais“) feiert er im Garten seines idyllischen Anwesens den Geburtstag seiner Frau Annie (Sabine Azéma). Zur Melodie der Marseillaise singt die Familie als Geburtstagsständchen Selbstgedichtetes von François. Darin ist, militärsprachlich formuliert, vom Schutz der ehelichen Verbindung die Rede. François ist eben durch und durch ein disziplinierter, ordnungsliebender Soldat, für den Loyalität zum Vaterland, der Zusammenhalt in der Familie und eheliche Treue alles bedeuten.

In der auf markanten Kontrasten fußenden Anlage des Films, der mit präzisem Dialogwitz und teils slapstickhafter Situationskomik kurzweilig unterhält, bekommt dieses rigide Lebenskonzept jedoch bald Risse. Nach Abreise der Gäste stößt François beim Aufräumen des Dachbodens auf eine Schachtel mit Liebesbriefen, die mittlerweile vierzig Jahre alt sind. Ein gewisser Boris hat das schwärmerisch-frivole Bettgeflüster von der „weißglühenden Brust“ und dem „explodierenden Venusdreieck“ einst an die damals schon verheiratete 29-jährige Annie gerichtet. Zur Rede gestellt, nimmt die Ehebrecherin Verjährung für sich in Anspruch, während der Gehörnte tief getroffen und verletzt reagiert. Annie habe „das Ehebett besudelt“ und „die heilige Ehe“ verraten, was an der „Madame Bovary“-Leserin allerdings zunächst abprallt. Doch dann droht François mit Scheidung. Außerdem will der prinzipientreue Krieger verspätet Rache nehmen und dem einstigen Kontrahenten „die Fresse polieren“. Schließlich sei „ein verletzter Löwe immer grausam.“

Und so schaltet der Betrogene in den „Kommandomodus“ und fährt mit seiner untreuen Frau nach Nizza, um vor der malerischen Mittelmeerkulisse Boris (Thierry Lhermitte) aufzuspüren. Dass der Anhänger der Polyamorie Junggeselle geblieben ist, eine musische Ader hat und als Karatelehrer außerdem in körperlich ziemlich guter Form ist, setzt nicht nur weitere Kontraste, sondern verkompliziert auch François‘ Rachepläne. Schließlich hat auch er eine geheime, bislang verschwiegene Vergangenheit, die im Verbund mit anderen Familiengeheimnissen allmählich ans Licht kommt.

Ivan Calbérac spiegelt die daraus resultierenden Konflikte der Figuren um Eifersucht und Treue, Identität und sexuelle Orientierung wechselseitig aneinander. Er spricht leichthändig über schmerzliche Lebensschicksale, autoritäre Prägungen, aber auch über die Familie als Hort von Sicherheit und Stabilität. Schließlich fragt der französische Regisseur, der auch als Autor arbeitet, ob die Zeit wirklich Wunden heilen kann. Die der Komödie geschuldete Schlusspointe setzt diesbezüglich zwar einen erfrischend augenzwinkernden Akzent, schwächt aber zugleich die ernsten Themen des Films, indem sie die Nöte des Protagonisten (ein zweites Mal) verrät.

The Dead don’t hurt

(USA/MX 2023, Regie: Viggo Mortensen)

Einschneidende Grenzverschiebungen
von Wolfgang Nierlin

Ein mittelalterlicher Ritter in schwerer Rüstung reitet allein durch einen Wald. Die schwerkranke Vivienne Le Coudy (Vicky Krieps) phantasiert dieses Bild im Fiebertraum auf ihrem Sterbebett. Später erfahren wir durch …

Ein mittelalterlicher Ritter in schwerer Rüstung reitet allein durch einen Wald. Die schwerkranke Vivienne Le Coudy (Vicky Krieps) phantasiert dieses Bild im Fiebertraum auf ihrem Sterbebett. Später erfahren wir durch einen Rückblick in ihre Kindheit, dass ihr Vater einst die Familie verlassen hat, um in den Krieg zu ziehen, und dass ihre Mutter der kleinen Vivienne die Geschichte der mutigen und starken Jeanne d’Arc vorlas. Mit ihr wird sich die selbstbewusste und für ihre Zeit ungewöhnlich unabhängige Frau zeitlebens identifizieren. Um bei sich selbst anzukommen, hat Vivienne auf unkonventionelle Art und gegen gesellschaftliche Erwartungen immer wieder Grenzen verschoben. Als der trauernde Kriegsveteran Holger Olsen (Viggo Mortensen) seine Lebensgefährtin beerdigt, ist das eine einschneidende Veränderung und der Aufbruch in ein neues Leben. Er quittiert seinen Dienst als schweigsamer Sheriff einer korrupten Westernstadt und bricht zusammen mit seinem kleinen Stiefsohn Vincent (Atlas Green) auf Richtung Westen und bis ans Meer.

Das sind die groben Eckdaten einer tragischen Liebesgeschichte, die der Schauspieler und vielseitige Künstler Viggo Mortensen in seiner zweiten Regiearbeit „The dead don’t hurt“ ziemlich verschachtelt und nicht linear erzählt. Vor allem der Anfang des ambitionierten, vielfach Genreversatzstücke aufrufenden Spätwesterns fordert mit seinen räumlichen und zeitlichen Sprüngen sowie einer elliptischen Erzählweise die volle Aufmerksamkeit des Zuschauers. Denn parallel und im Wechsel zu Viviennes Geschichte zeichnet Mortensen das wenig schmeichelhafte Porträt einer korrupten amerikanischen Kleinstadt Mitte des 19. Jahrhunderts, die der berechnende Bürgermeister und ein skrupelloser Großgrundbesitzer unter sich aufteilen. Eine besonders unwürdige Rolle spielt dabei dessen brutaler Sohn Weston Jeffries (Solly McLeod), ein gesetz- und gewissenloser Machtmensch, der seine Umgebung mit Gewalt terrorisiert und dabei über Leichen geht. Als an seiner Stelle ein Unschuldiger in einer absurden Gerichtsverhandlung zum Tode verurteilt wird, klagt eine unerschrockene Bürgerin: „Macht bedeutet nicht Recht.“

Viggo Mortensen thematisiert hier einmal mehr den nach wie vor aktuellen Konflikt zwischen gesetzlicher Ordnung und Machtmissbrauch, zwischen Zivilisation und Anarchie. Willkür und Gewalt dringen schließlich auch in jene friedliche und kultivierte Idylle ein, die sich die beiden Seelenverwandten Vivienne und Olsen abseits der Stadt auf einem kargen Stück Land geschaffen haben. Denn dann folgt der schreibende Zimmermann dem Aufruf, auf Seiten der Unionisten am Sezessionskrieg teilzunehmen. Er bricht auf und lässt seine Frau allein und schutzlos zurück. Damit wiederholt er nicht nur seine eigene Geschichte, sondern auch diejenige von Viviennes Vater. Insofern handelt Viggo Mortensens ruhig und langsam erzählter, immer wieder beeindruckend fotografierter „feministischer Western“ in seiner archaischen Motivik auch von Männern, die aufbrechen müssen, um das Recht zu verteidigen; und von Heimkehrern, denen vergeben wird und die durch ihre Rache hindurch eine schmerzliche Bewusstseinsveränderung erfahren.

Verbrannte Erde

(DE 2024, Regie: Thomas Arslan)

Welt im Dunkeln
von Wolfgang Nierlin

Die Autofahrt durch Essen führt von den gesichtslosen Randbezirken in ein vornehmes Villenviertel. Dort bricht Trojan (Misel Matičević) bei einsetzender Dunkelheit in einen Bungalow ein, um einen Koffer mit wertvollen …

Die Autofahrt durch Essen führt von den gesichtslosen Randbezirken in ein vornehmes Villenviertel. Dort bricht Trojan (Misel Matičević) bei einsetzender Dunkelheit in einen Bungalow ein, um einen Koffer mit wertvollen Armbanduhren zu stehlen. Trojan ist ein professioneller, gut vorbereiteter Krimineller, der alle Bewegungsabläufe verinnerlicht hat und dabei ruhig, konzentriert und präzise arbeitet. Der schweigsame Einzelgänger mit dem verschlossenen Blick, der sich keine Gefühle erlaubt, handelt zugleich nach erprobten Regeln und unumstößlichen Prinzipien. Im Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Instinkt sind für ihn Vorsicht und Misstrauen oberste Gebote. Das zahlt sich aus, als er anderntags auf einem Parkplatz bei seinem Auftraggeber die Beute gegen Bargeld eintauschen will und dabei gelinkt und betrogen wird. Die Zeiten haben sich geändert, heißt es einmal; und mit ihnen offensichtlich auch die Moral und Ehrbegriffe der Verbrecher. Keinem ist zu trauen, Loyalität und Freundschaft gelten nicht mehr viel.

Mit der atmosphärisch stimmungsvollen und elliptisch gebauten Exposition zu seinem neuen Film „Verbrannte Erde“, dem nach „Im Schatten“ (2010) zweiten Teil der sogenannten Trojan-Trilogie, etabliert Thomas Arslan in verdichteter Form die Blaupause für das folgende Geschehen. Abgebrannt kehrt Trojan, der ohne festen Wohnsitz lebt, nach jahrelanger Abwesenheit in die Hauptstadt Berlin zurück, um sich mittels alter Kontakte in einen neuen Job vermitteln zu lassen. Aber nicht nur die Stadt mit ihren zersiedelten, grauen Ansichten und unwirtlichen Nicht-Orten – von Reinhold Vorschneider ins fahl beleuchtete Cinemascope-Bild gesetzt – hat sich verändert, sondern auch die Arbeitsbedingungen im gefährlichen Metier. Trojan soll in einem bereits fest verabredeten Team zusammen mit seinem alten Kumpel Luca (Tim Seyfi) sowie der Fluchtfahrerin Diana (Marie Leuenberger) und dem Computerspezialisten Chris (Bilge Bingül) das kleinformatige, millionenschwere Gemälde „Frau vor der untergehenden Sonne“ von Caspar David Friedrich aus dem Zwischenlager eines Museums stehlen. Vorbereitung und minutiöse Durchführung des Coups gelingen ohne Probleme. Doch dann will der gewissenlose Auftraggeber nicht zahlen und setzt seinen skrupellosen Killer Victor (Alexander Fehling) auf die Diebe an.

Ruhig und konzentriert, schnörkellos und kühl zeigt Thomas Arslan eine in sich geschlossene Welt im Dunkeln. Ohne Erklärungen, aufs Wesentliche reduziert und mit knappen Dialogen erzählt er vor allem in Bildern, die mit den wechselnden Stimmungen der Schauplätze und der physischen Präsenz der Figuren aufgeladen sind. Als gäbe es gute und böse Verbrecher geraten Trojan und seine Clique plötzlich unter Druck und werden zu Gejagten. Ihr gewalttätiger Gegenspieler Victor, der weder vor Verrat noch sadistischer Erpressung zurückschreckt, wird zum unheimlichen Phantom, das sich als kompromissloser Jäger immer mehr seinen mörderischen Zielen nähert. Die unsichtbare, aber sehr deutliche und greifbare Bedrohung und die kalte, mechanische Logik der verbrecherischen Interaktionen, zu denen nicht zuletzt auch rasante Verfolgungsjagden durch ein nächtliches Berlin gehören, entwickeln dabei eine enorme Spannung. Am Ende muss Trojan erneut die Stadt verlassen, um unterzutauchen.

Landshaft

(DE/AZ 2023, Regie: Daniel Kötter)

Unsichtbare Grenze
von Wolfgang Nierlin

Ein ramponierter Lada fährt auf holprigen, teils unbefestigten Straßen durch das umkämpfte Grenzgebiet zwischen Armenien und Aserbaidschan. Vom Sewansee aus führt der Weg bis zur Goldmine von Sotk durch die …

Ein ramponierter Lada fährt auf holprigen, teils unbefestigten Straßen durch das umkämpfte Grenzgebiet zwischen Armenien und Aserbaidschan. Vom Sewansee aus führt der Weg bis zur Goldmine von Sotk durch die weite, karge Graslandschaft einer wolkenverhangenen Hochebene, die fast farblos ist und die von schneebedeckten Bergen gesäumt wird. „Diese Landschaft ist bergig und kalt“, sagt eine Stimme aus dem Off. Nur selten zeigen sich in dieser unwirtlichen Gegend Menschen und Tiere. Ein berittener Hirte treibt seine Kuhherde auf die Weide; später ziehen Schafe vorbei. Irgendwo im öden Nirgendwo tauchen marode, trostlose Wohnkasernen auf. Einmal versammeln sich Menschen für eine große Kartoffelernte. Und immer ist es die schier grenzenlose Landschaft, die das Bild dominiert und die trotz allem Heimat ist. In Daniel Kötters nach der armenischen Schreibweise betitelten Film „Landshaft“ sind in ihr die Geschichten von Krieg und Vertreibung, aber auch die Erfahrungen eines von Arbeit, Familie und Freundschaft geprägten Lebens aufbewahrt.

Der Filmemacher und Bildgestalter Daniel Kötter filmt sein Sujet in langen, kontemplativen Einstellungen und fast immer aus großer Distanz, als läge das thematische Zentrum an der Peripherie. Nur selten sind Menschen aus der Nähe zu sehen und kaum je ihre Gesichter. Das wiederum korrespondiert mit der Behandlung von Stimmen und Dialogen, die konsequent ins Off verlagert sind und nicht beziehungsweise nur manchmal zugeordnet werden können. Dadurch entsteht eine permanente Spannung zwischen Bild und Ton und ein Austausch zwischen ihnen, der nicht von vordergründigen oder gar gelenkten Interessen bestimmt wird. Zwar filmt Kötter ausschließlich auf armenischem Gebiet, doch gerade durch die Off-Erzählungen schließt das auch die aserbaidschanische Perspektive mit ein.

Visuelle Zeichen des langwierigen Konflikts, der vor allem nach dem Zerfall der Sowjetunion aufflammte und im vergangenen Herbst in der Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach gipfelte, sind dabei ebenso wenig zu sehen wie die letztlich unsichtbaren Grenzen. Vom friedlichen Zusammenleben der beiden Völker in früheren Zeiten und von jetzt veränderten, weil tendenziell bedrohten Lebensumständen ist die Rede, aber auch von den für die Kriegsführung ungünstigen topographischen Bedingungen. Immer wieder wird die Landschaft – auch in wirtschaftlicher Hinsicht – zum entscheidenden Faktor. Einmal verharrt der Kamerablick im Grenzgebiet auf einem steinernen Gräberfeld. Nur die Schafe kümmern sich nicht um Grenzverläufe oder um die Frage, ob es besser ist, zu gehen oder zu bleiben. Am Schluss sieht man sie aufgeschreckt blökend, hektisch und wie verwirrt durcheinander laufen. Man könnte dies als Metapher für die Orientierungslosigkeit und den Streit in einem schwelenden Konflikt verstehen.

Ein kleines Stück vom Kuchen

(IR/FR/SE/DE 2024, Regie: Maryam Moghadam, Behtash Sanaeeha)

Eine politische Liebesgeschichte
von Jürgen Kiontke

Mahin ist nun schon 70 Jahre alt, die Seniorin lebt seit dem Tod ihres Mannes und der Ausreise ihrer Tochter nach Europa allein in Irans Hauptstadt Teheran. Nun fragt sie …

Mahin ist nun schon 70 Jahre alt, die Seniorin lebt seit dem Tod ihres Mannes und der Ausreise ihrer Tochter nach Europa allein in Irans Hauptstadt Teheran. Nun fragt sie sich: Kann mir das Leben noch etwas bieten? Eine neue Partnerschaft? Der Nachmittagsklatsch unter Freundinnen gibt den Anstoß, sich auf die Suche nach einem geeigneten Mann zu begeben. Der lässt nicht lange auf sich warten. Esmail kreuzt ihren Weg, Taxifahrer und Überlebender des iranisch-irakischen Krieges. Mit dem sanften Mann entwickelt sich eine Beziehung voller romantischer Augenblicke.

In der iranischen Gesellschaft, lässt uns die Handlung des Films „Ein kleines Stück vom Kuchen“ wissen, könnte das bereits an Akzeptanzgrenzen stoßen. Doch Mahin lässt sich nicht beirren. Dabei wird bald deutlich, in welcher Umgebung sie sich bewegt. Oft genug sitzt auch bei ihr der Schleier nicht ordnungsgemäß bis gar nicht, was die Aufmerksamkeit der Religionspolizei erregt, mitsamt vorübergehender Festnahme. Ihre Männerbesuche? Werden von der Nachbarin umgehend weitergetragen.

Der Druck, der auf Frauen im Iran lastet, fließt hier immer wieder wie beiläufig in die Handlung ein. Kunstvoll verquickt das Regie-Duo Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha die Liebesgeschichte mit den gesellschaftlichen Zuständen. Sie leisten, was man mit Kino leisten kann. So wirkt der Film auch als Kommentar zu den Protesten mit dem Slogan „Frauen, Leben, Freiheit“. Auch die Schauspielerin und Aktivistin Lily Farhadpour, die Mahin spielt, lernte iranische Gefängnisse schon von innen kennen. Und: Dem Regie-Duo wurde die Ausreise zur Präsentation des Films auf der Berlinale von den Behörden untersagt. Ihr aktueller Film ist sehr sehenswert.

Hier gibt es eine weitere Kritik zum Film.

Diese Kritik erschien zuerst am 08.07.2024 auf: links-bewegt.de

Averroès & Rosa Parks

(FR 2024, Regie: Nicolas Philibert)

Der verwundete Mensch
von Wolfgang Nierlin

Aus der Vogelperspektive gleitet die Kamera über die Gebäude der psychiatrischen Klinik Esquirol in Saint-Maurice bei Paris. Das frühere Hospitz zu Charenton im Marne-Tal, das umgeben ist vom Bois de …

Aus der Vogelperspektive gleitet die Kamera über die Gebäude der psychiatrischen Klinik Esquirol in Saint-Maurice bei Paris. Das frühere Hospitz zu Charenton im Marne-Tal, das umgeben ist vom Bois de Vincennes, gehört zu einem Klinik-Verbund, in den auch das am Seine-Ufer stationierte Therapie-Schiff Adamant integriert ist. Mit dieser Tageseinrichtung hat sich der renommierte französische Dokumentarfilmer Nicolas Philibert in seinem preisgekrönten Film (Goldener Bär der Berlinale) „Auf der Adamant“ beschäftigt. Auf diesen folgt nun mit „Averroès & Rosa Parks“ der zweite Teil einer Trilogie über psychiatrische Einrichtungen, wobei sich der Titel auf die beiden nach dem berühmten andalusischen Philosophen und Arzt sowie der US-amerikanischen Bürgerrechtlerin benannten Abteilungen bezieht. Hier filmt Nicolas Philibert als teilnehmender Beobachter sehr ausführlich und konzentriert Therapiegespräche und Gruppensitzungen, die nur durch wenige Bilder von Fluren, Fenstern oder Gartenansichten unterbrochen werden.

Diese Konzentration auf das Gespräch ist Philiberts Interesse am verletzlichen und leidenden Menschen geschuldet, wie es sich ausdrückt in seinem Antlitz, seinen Worten, Gesten und Gefühlen. Die geschützte, von einfühlsamen und zugewandten Therapeutinnen und Therapeuten gelenkte und begleitete Therapie-Situation schafft dafür einen intimen Rahmen. In ihrem müden und sedierten oder aber aufgeregt manischen Sprechen wird die Auskunft zur Fiktion, vermischen sich unablässig und nur schwer entwirrbar Wahn und Wirklichkeit. Auf beunruhigende Weise zeigen sich darin nicht nur tiefe individuelle Verletzungen und die prinzipielle Verwundbarkeit des Menschen, sondern auch der schmale Grat zwischen Normalität und Abweichung, seelischer Gesundheit und psychischer Störung. Im Gespräch treffen die Härte menschlicher Schicksale, die im Übrigen fragmentarisch bleiben und durch Erschließung nurmehr zu erahnen sind, auf Versuche, die betroffenen Patienten gesellschaftlich zu reintegrieren.

Wie soll ausgerechnet ein psychiatrisches Krankenhaus, das zu Beginn beim Anblick der gleichförmigen Architektur von einem Bewohner als „Gefängnis“ bezeichnet wird, seinen Insassen helfen können, eine neuerliche Verbindung zur Welt herzustellen, um ins „normale“ Leben zurückzukehren? Wo finden Benachteiligte, vom sozialen Miteinander ausgeschlossene Menschen in der Gesellschaft einen Platz? Und was bedeutet Fürsorge angesichts eines zunehmend prekärer werdenden, von wirtschaftlichen Bedingungen und Interessen gelenkten Gesundheitssystems?

Diese Fragen bilden den Hintergrund, vor dem die Patienten und Patientinnen über ihre Ängste, Sorgen und Traurigkeit, über Verfolgungswahn, Selbstmordgedanken und schizoide Zustände sprechen. Einer, der oft Dinge äußert, die er nicht so meint, sagt: „Ich weiß nicht, was mein Weg ist.“ Ein anderer, der sich innerlich leer fühlt, bleibt schweigsam und findet keine Antworten. Inneren Frieden zu erfahren, scheint für sie unmöglich zu sein. Wieder ein anderer kritisiert die systemische Praxis: „Wir ersticken, wenn wir ständig Krieg gegen uns selbst führen.“ Für Nicolas Philibert fungiert die Psychiatrie als Spiegelbild für den Zustand unserer Gesellschaft und als Vergrößerungsglas für unsere Menschlichkeit und Verletzbarkeit.

Déserts – Für eine Handvoll Dirham

(FR/BE/DE/MA/QA 2024, Regie: Faouzi Bensaïdi)

Einöde der Armut
von Wolfgang Nierlin

Die beiden Männer wirken verloren. Inmitten einer weiten Einöde aus Sand und Staub, Geröll und schroffen Felsplateaus suchen sie nach dem richtigen Weg. Über eine Landkarte gebeugt, sind sich die …

Die beiden Männer wirken verloren. Inmitten einer weiten Einöde aus Sand und Staub, Geröll und schroffen Felsplateaus suchen sie nach dem richtigen Weg. Über eine Landkarte gebeugt, sind sich die beiden ungleichen Charaktere mal wieder uneins. Der genügsame, stoische Hamid (Abdelhadi Taleb) und der unzufriedene, immer wieder aufbrausende Mehdi (Fehd Benchemsi), die sich meistens anschweigen, bilden ein gegensätzliches Gespann. Als Krediteintreiber einer Inkassofirma, die in Casablanca ansässig ist, suchen sie im ländlichen Süden säumige Schuldner auf, die so arm sind, dass sie allenfalls mit Naturalien bezahlen können. Ein Teppich, eine Ziege oder ein paar Gramm Phosphor sind ihre Ausbeute. Dafür begeben sie sich an grotesk entlegene Orte, wo die Menschen oft ohne Habe und Mittel leben. Ihren mäßigen Erfolg und die „schlechten Zahlen“ werden die beiden Agenten später gegenüber ihrer fordernden Chefin damit rechtfertigen, dass sie es mit „aussichtslosen Fällen“ zu tun haben.

Dabei haben Mehdi und Hamid selbst Geldsorgen und familiäre Probleme. Während der eine von seiner Frau verlassen wurde, buhlt der andere vergeblich um seine Verlobte. Ihr offizieller Status und ihr reales Dasein stehen in einem deutlichen Kontrast und spiegeln die sozialen Verhältnisse von weiten Teilen der Gesellschaft. Wenn die beiden Anzugträger mit ihrem klapprigen Renault in unwegsamem Gelände unterwegs sind oder der Wind die Landkarte symbolträchtig davonträgt, ist das Tragikomische immer auch Ausdruck einer allgemeinen Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. In langen, oft aus der Distanz gedrehten Szenen gestaltet der marokkanische Regisseur Faouzi Bensaïdi in seinem zunächst episodisch angelegten Film „Déserts – Für eine Handvoll Dirham“ eine Reihe absurder Begebenheiten und skurriler Situationen, die ebenso humorvoll wie melancholisch eine Welt der Armut in Zeiten des Wandels zeigen. Doch dann sagt Bensaïdi selbst in der Rolle eines Ladenbesitzers, dessen Geschäft gerade gepfändet wird: „Nicht die Welt hat sich verändert, sondern wir Menschen.“

Die Helden seines lakonischen, elliptisch angelegten Films sind Verlierer, die in der weiten, leeren Landschaft förmlich verloren gehen. Mit Anklängen an die Filme von Aki Kaurismäki findet Faouzi Bensaïdi immer wieder visuell beeindruckende, vor allem aber sprechende Schauplätze. Die Tonlage und Erzählweise des Films ändert sich schließlich abrupt, als die beiden Protagonisten auf einen entflohenen Räuber (Rabii Benjhaile) treffen, der, von Liebe beseelt, um eine Frau kämpft, sie befreit und mit ihr flieht. „Die Welt ist freundlich zu denen, die frei sind“, heißt es dann, während das trostlose Roadmovie auf nächtlicher Fahrt allmählich in eine Art mystischen Western mit surrealen Elementen übergeht. Der Film wirkt jetzt, indem er motivisch zerfasert und alle möglichen Themen bis hin zu Migrationserfahrungen anspricht, aber nicht weiter entwickelt, zunehmend überladen und etwas langatmig. Während sich die in freier Natur ausgesetzten Mehdi und Hamid am Lagerfeuer Geschichten erzählen, die weniger das Vergessen als die Erinnerung befördern sollen, werden sie selbst unfreiwillig Teil einer größeren Geschichte, die als Widerspiegelung vielleicht nur eine Imagination oder ein Trugbild ist.

Ivo

(DE 2024, Regie: Eva Trobisch)

Das Leben der Pflegerin
von Jürgen Kiontke

Palliativpflege – wie geht die eigentlich? Den Anlass, der Eva Trobisch zu dem Thema brachte, beschreibt die Regisseurin so: Sie habe eine Anfrage für die Skriptentwicklung einer „Polizeiruf“-Folge gehabt, dabei …

Palliativpflege – wie geht die eigentlich? Den Anlass, der Eva Trobisch zu dem Thema brachte, beschreibt die Regisseurin so: Sie habe eine Anfrage für die Skriptentwicklung einer „Polizeiruf“-Folge gehabt, dabei sei sie auf die Geschichte einer Krankenschwester der Berliner Charité gestoßen, die schwerkranke Menschen durch die Überdosierung von Medikamenten getötet hatte – weil sie habe helfen wollen.

Was muss da vorgegangen sein? Über die Recherche habe sie gemerkt, dass sie die Pflege Schwerkranker für das Kino in Szene setzen wollte, sagt Trobisch. „Wobei mir schnell klarwurde, dass ich daraus keinen Krimistoff machen wollte. Denn die Arbeitswelt der Palliativmedizin, die mir völlig neu war, faszinierte mich – der Ton, die Direktheit, der respektvolle Umgang, diese Form der Selbstverständlichkeit und Inklusion von Leben und Sterben.“

„Ivo“ heißt nun der fertige Film. Im Zentrum steht – oder besser: fährt – die gleichnamige ambulante Pflegerin. Denn Ivo verbringt viel Zeit in ihrem in die Jahre gekommenen Auto, mit dem sie die vielen Haushalte täglich ansteuert. Ihre verwirrten und versehrten Klienten, denen sie bei der Hygiene hilft und die zugeteilten Medikamente verabreicht. Sie legt Kanülen, wechselt Verbände und Windeln, steht den Angehörigen mit Rat zur Seite. Und vor allem: hat jeden Tag den Tod vor Augen. Ob Menschen in kleinsten Räumen oder großzügigsten Villen – ihre Gebrechen machen sie vor der Pflegerin gleich.

Aber auch Ivos eigenes Leben wird genau ausgeleuchtet: Wie lebt sie mit ihrer pubertierenden Tochter zusammen, welche Musik hört sie? Mit Franz, dem Mann ihrer Freundin, der todkranken Solveigh, unterhält sie gar ein Liebesverhältnis. Geht das gut? Rührend kümmern sich beide um die kranke Frau. Und als Solveigh immer schwächer wird, kommt das Thema Sterbehilfe auf, sie möchte nicht länger leiden. Eine Angelegenheit, mit der Menschen im Pflegedienst oft konfrontiert sein dürften.

Mit Minna Wündrich hat Trobisch eine tolle Schauspielerin gefunden, die ihre Ivo mit kongenialer Ambivalenz und Offenheit in der Darstellung motiviert. Der Film erlaubt einen Einblick in eine komplizierte Wirklichkeit, in der alltägliche Handlungen zu Katastrophen führen können.

Wie viele andere täglich begleitet Ivo das Leben von Menschen an dessen Ende. Wer im deutschen Kino nach Stoffen aus der Arbeitswelt sucht, hier ist einer. „Man sieht vielmehr den Dingen dabei zu, wie sie nach und nach aus dem Lot geraten – ein treffliches Gleichnis auf die Zustände in der Pflege insgesamt“, schreibt das Gewerkschaftsmagazin „ver.di Publik“.

Hier findet sich ein Interview mit Regisseurin Eva Trobisch.

Diese Kritik erschien zuerst am 02.07.2024 auf: links-bewegt.de

Juliette im Frühling

(FR 2024, Regie: Blandine Lenoir)

Tragische Dimensionen
von Wolfgang Nierlin

Eine stille Melancholie und Gedankenverlorenheit liegen über der Szene, wenn Juliette (Izïa Higelin) mit dem Zug von Paris in ihr bressanisches Heimatdorf nahe Lyon fährt, um ihren überraschten Vater Léonard …

Eine stille Melancholie und Gedankenverlorenheit liegen über der Szene, wenn Juliette (Izïa Higelin) mit dem Zug von Paris in ihr bressanisches Heimatdorf nahe Lyon fährt, um ihren überraschten Vater Léonard (Jean-Pierre Darroussin) zu besuchen. Sie brauche einen „Tapetenwechsel“, sagt die junge, scheinbar in sich ruhende Frau, die als Illustratorin von Kinderbüchern arbeitet und sich gerade mit einer Geschichte übers Glück beschäftigt. Tatsächlich leidet die sensible Titelheldin in Blandine Lenoirs Comic-Verfilmung „Juliette im Frühling“ unter einer Depression. Schlafprobleme und Panikattacken erschweren ihren Alltag.

Doch ihr familiäres Umfeld scheint das nicht zu verstehen. Ihre ältere, verheiratete Schwester Marylou (Sophie Guillemin), die mit zwei Kindern, einem Ehemann, einem leidenschaftlich verrückten Liebhaber und einem mobilen Haarstudio ziemlich vielbeschäftigt ist, tut Juliettes psychische Problem gar als „kleine Nöte“ ab. Ihr geschiedener, desillusionierter Vater pflegt einen Galgenhumor und spricht von der „Scheußlichkeit des Lebens“, während ihre resolute, freigeistige Mutter Nathalie (Noémie Lvovsky), die obszöne Bilder malt und esoterische angehauchte Liebhaber wechselt, die individuelle Freiheit propagiert.

„Es geht ums Machen. Darum, zu tun, was man möchte“, sagt sie bei einem der chaotischen Familientreffen, die ins thematische Zentrum des Ensemblefilms führen. Dieser handelt nicht nur von Juliettes Suche nach sich selbst und einem Platz im Leben, sondern auch von der Konfrontation mit der Herkunft, familiären Konflikten, lauernden Aggressionen und den Traumata einer verschwiegenen und verdrängten Vergangenheit. „Juliette: Gespenster kehren im Frühjahr zurück“ lautet Camille Jourdys autobiographisch inspirierte Graphic Novel, die dem tragikomisch getönten, vielfach berührenden Film zugrunde liegt. Die französische Regisseurin und Schauspielerin Blandine Lenoir hat dafür nicht nur Juliettes Beruf als Zeichnerin dazuerfunden, der immer wieder Momente der Ruhe und des Ausgleichs befördert, sondern mit Hilfe der Animationsfilmerin Charlie Belin einige Sequenzen fantasievoll animiert.

Zu den verschiedenen parallelen Geschichten, die der Film ebenso humorvoll wie ernst und mit offenem Ausgang erzählt, gehört auch Juliettes Begegnung mit dem Übersetzer Pollux (Salif Cissé), der im Haus ihrer Großmutter wohnt. Pollux ist ein einfühlsamer, sanfter Mann, der eine große Ruhe ausstrahlt und Juliettes Nöte versteht, wenn er diese als „tragische Dimension“ apostrophiert. Auf der Suche nach Trost und Geborgenheit freundet sich die temporäre Heimkehrerin, die am Ende doch wieder aufbrechen muss, mit dem umsichtigen Hüter des Hauses an. Darin findet Juliette schließlich eine Schachtel mit Erinnerungsstücken, die Verborgenes auf schmerzliche Art zum Leben erwecken und ihr in der Konfrontation mit der Vergangenheit zugleich einen heilsamen Durchbruch zur eigenen Persönlichkeit ermöglichen.

Battles without honour and humanity

(JP 1973, Regie: Kinji Fukasaku)

Ehrlose Verbrecher
von Wolfgang Nierlin

Die blutroten Vorspannschriftzeichen sind unterlegt mit Schwarzweißfotografien der atomaren Zerstörung. In den Jahren nach dem 2. Weltkrieg leidet Japan unter einem nationalen Trauma. Auf den Straßen von Kure in der …

Die blutroten Vorspannschriftzeichen sind unterlegt mit Schwarzweißfotografien der atomaren Zerstörung. In den Jahren nach dem 2. Weltkrieg leidet Japan unter einem nationalen Trauma. Auf den Straßen von Kure in der Präfektur Hiroshima herrscht blankes Chaos. Im dichten, drangvollen Menschengewimmel und dem geschäftigen Treiben auf den Märkten kommt es immer wieder ganz offen zu gewalttätigen Übergriffen. Ein US-Besatzungssoldat versucht, eine Frau zu vergewaltigen und wird von dem Kriegsheimkehrer Shozo Hironi in die Flucht geschlagen. Der landet später im Gefängnis, wo er Hiroshi Wakasugi vom Doi-Syndikat kennenlernt. Die beiden werden Blutsbrüder und finden durch ein ebenso brutales wie gefährliches Täuschungsmanöver zurück in die Freiheit. Doch unter den herrschenden Zuständen ist die alte Yakuza-Ordnung purer Anarchie gewichen. Und da Shozu zur Yamamori-Gang gehört, kommt es irgendwann zur blutigen Konfrontation mit der Bande seines Freundes.

Die rivalisierenden, um Macht und Einfluss ringenden Revier- und Grabenkämpfe in Kinji Fukasakus wiederveröffentlichtem Film „Battles without honour and humanity“ von 1973 sind einigermaßen unübersichtlich. Analog zur drangvollen Enge der Straßenszenen, die durch unruhige Handkamerabilder, Zooms und Schwenks dramatisch aufgeladen werden, verdichtet Fukasaku das hässliche Geschehen auf eine Abfolge schmutziger Gewalt und deutet die Gründe und Zusammenhänge dafür nurmehr an. Stattdessen suggerieren Jahreszahlen, historische Ereignisse wie der Korea-Krieg und die eingeblendeten Namen der diversen Yakuza-Mitglieder die Rahmendaten einer historischen Chronik. Tatsächlich hat sich Fukasaku für seinen Abgesang auf die Unterwelt der organisierten Kriminalität, auf den noch weitere Teile folgten, von einer Artikel-Serie in der Zeitung inspirieren lassen. In seiner Vision hat der ehrbare Verbrecher ausgedient, der Kodex ist durch leere Rituale entstellt, Gier und Gewalt sind an die Stelle der alten Ordnung getreten.

Im Konflikt zwischen Loyalität und Verrat, Ehre und Korruption vertritt der prinzipientreue Shozu die überkommenen Ideale und den Glauben an die Tradition. Seine Überzeugung, dass der Verfolger stärker ist als der Verfolgte, lässt ihn zugleich auf einen Neuanfang hoffen. Seinem Gewissen verpflichtet, steht Shozu zwischen den Fronten der verfeindeten Banden. Dagegen verkörpert sein Antipode Sakai den neuen Typus des pragmatischen Verbrechers: „Man muss die Realitäten selber schaffen und sie unter Kontrolle halten.“ Während etwa in den Gangsterfilmen von Jean-Piere Melville die Ehrbegriffe der heldenhaften Verbrecher bis in die letzte Konsequenz durchbuchstabiert und überhöht werden, zeigt Kinji Fukasaku in seinem schonungslosen Abgesang auf das Genre die Zersetzung dieser Werte als Abbild einer treulosen, unmoralischen Welt.

Ein kleines Stück vom Kuchen

(IR/FR/SE/DE 2024, Regie: Maryam Moghadam, Behtash Sanaeeha)

Unverhofftes Glück
von Wolfgang Nierlin

Seit vielen Jahren lebt die verwitwete Mahin (Lily Farhadpour) allein in ihrer geräumigen Teheraner Wohnung. Weil sie nachts schlecht schläft, beginnen die Tage für sie oft erst um die Mittagszeit. …

Seit vielen Jahren lebt die verwitwete Mahin (Lily Farhadpour) allein in ihrer geräumigen Teheraner Wohnung. Weil sie nachts schlecht schläft, beginnen die Tage für sie oft erst um die Mittagszeit. Auf vormittägliche Telefonanrufe reagiert die 70-Jährige deshalb gereizt und mürrisch. Dreißig Jahre lang hat Mahin als Krankenschwester gearbeitet. Jetzt schleppt sie sich träge und lustlos durch die Routinen gleichförmiger Tage, erledigt Einkäufe und wässert die Pflanzen ihres geliebten Gartens. Manchmal telefoniert sie mit ihren Kindern, die im Ausland leben und wenig Zeit und Aufmerksamkeit für sie haben. Dabei sehnt sich Mahin insgeheim nach Nähe und Austausch, um ihre Einsamkeit abzumildern. Zu ihren kleinen, wiederkehrenden Freuden gehört deshalb eine kitschige Seifenoper im Fernsehen, in der von Liebe, Treue und einem „Mann der Träume“ die Rede ist, der die Angst vor dem Alleinsein vertreibt. Auch in der Runde gleichaltriger Freundinnen, die sich hin und wieder versammelt und in der viel gegessen, getrascht und gelacht wird, ist man der Meinung, Mahin müsse sich einen Freund suchen.

Aufmerksam und genau beobachten die iranischen Filmemacher Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha in ihrem preisgekrönten Film „Ein kleines Stück vom Kuchen“ die vereinsamte Heldin in ihrem unspektakulären, in der Regel unsichtbaren Alltag. Mit einem sanften, leicht tragikomischen Realismus, der sich in ruhigen, statischen Einstellungen entfaltet, durchbrechen sie Darstellungsverbote und ermöglichen so den Blick auf eine tabuisierte gesellschaftliche Wirklichkeit. Offen und ehrlich sprechen sie über die Gefühle einer älteren Frau, deren Hoffnungen und Wünsche sonst verschwiegen werden müssen. Moghaddam und Sanaeeha wurden für diese filmische Aufrichtigkeit, deren emanzipatorischen Kraft vor allem in der zweiten, kammerspielartigen Hälfte des Films zum Ausdruck kommt, in ihrem Heimatland sanktioniert und mit Restriktionen belegt.

Am Übergang zu Mahins spätem Glück, für das sie den Alltagstrott durchbricht und offensiv die Initiative ergreift, steht bezeichnenderweise eine markante, beispielhafte Szene, die sich auch als riskantes politische Statement der beiden Regisseure verstehen lässt: Mutig, unerschrocken und resolut verteidigt die Heldin in einem Park eine junge Frau gegen die Zumutungen und Anwürfe einer übergriffigen Sittenpolizei, die das Mädchen wegen eines verrutschten Kopftuchs verhaften will.

Kurz darauf lernt Mahin den gleichaltrigen Taxifahrer Faramarz (Esmaeil Mehrabi) kennen, einen Kriegsveteran im Ruhestand, der geschieden ist und keine Kinder hat und sich wie Mahin seit langem nach einem anderen Menschen und nach einer vertrauten Zweisamkeit sehnt. Die beiden verstehen sich sofort und entdecken in langen Gesprächen eine gegenseitige Nähe geteilter Gemeinsamkeiten, Anschauungen und Freuden. Ihr Schönheitsempfinden sowie ihre Liebe für Musik und Tanz, Blumen und Wein, inszeniert als lustvolle Übertretungen der üblichen Regeln, zeigen eine weitere Facette des Politischen im scheinbar Unpolitischen. Mit letzter Konsequenz und darin durchaus versöhnlich thematisiert der berührende Film auf ganz eigene Weise die unverhoffte Erfüllung eines Glücks, das aus der zufälligen Begegnung der beiden erwächst.

Hier gibt es eine weitere Kritik zum Film.

Born to be wild – Eine Band namens Steppenwolf

(CA/DE 2024, Regie: Oliver Schwehm)

Rebellen wider Willen
von Wolfgang Nierlin

Die sehr kursorisch gehaltenen Zuschreibung zu Beginn des Dokumentarfilms über die „psychedelische Underground-Blues-Band“ Steppenwolf zielen auf deren unangepasstes Renegatentum und musikalische Innovation. Dunkel, schmutzig und gefährlich sei das Image der …

Die sehr kursorisch gehaltenen Zuschreibung zu Beginn des Dokumentarfilms über die „psychedelische Underground-Blues-Band“ Steppenwolf zielen auf deren unangepasstes Renegatentum und musikalische Innovation. Dunkel, schmutzig und gefährlich sei das Image der Heavy-Metal-Pioniere gewesen, meinen etwa Alice Cooper, Jello Biafra von den Dead Kennedys oder auch der musikbegeisterte Filmregisseur Cameron Crowe. „Ihre Musik war ein Initiationsritus“, heißt es in den Statements der sich schnell ablösenden sprechenden Köpfe. Und: „Sie waren Rebellen, ohne Rebellen sein zu wollen.“ Oliver Schwehm bedient in seinem umständlich betitelten Film „Born to be wild – Eine Band namens Steppenwolf“ zunächst einmal mehr die für die Rockmusikgeschichtsschreibung typische Legendenerzählung. Dieser verklärende Blick auf den Mythos macht alles immer ein wenig größer als das wirkliche Leben und er heroisiert das Alltägliche und Gewöhnliche, als läge darin eine Prophezeiung.

Als Korrektiv dazu lässt sich die Doppelbiografie der deutschstämmigen Bandmitglieder John Kay und Nick St. Nicholas verstehen, die der Dokumentarfilmer Schwehm in Teilen erzählt und nicht zuletzt mit Privataufnehmen reichhaltig bebildert. Als Halbwaise Joachim-Fritz Krauledat gegen Kriegsende im ostpreußischen Tilsit geboren, wandert der spätere Sänger John Kay ebenso nach Kanada aus wie der aus einer angesehenen hanseatischen Familie stammende Karl Klaus Kassbaum. Während der sensible, sehbehinderte Kay einmal als kontrolliert und geerdet beschrieben wird, zumal er in seinen Songtexten auch seine Herkunft und seine Fluchterfahrungen reflektiert, gilt Bassist St. Nicholas als „fluid“ und ein bisschen schräg. Das später zugeschriebene düstere Band-Image lässt sich an diesen beiden so unterschiedlichen Persönlichkeiten, die im Film ausführlich zu Wort kommen, jedenfalls nicht ablesen; es wird aber auch nicht weiter erklärt.

Stattdessen illustriert Oliver Schwehm mit viel Musik und Bildmaterial die Bandgeschichte ab Mitte der 1960er Jahre, die unter dem Namen The Sparrows in Toronto beginnt und ein paar Jahre später in Kalifornien zur Gründung von Steppenwolf führt. Benannt nach dem gleichnamigen Hesse-Roman, sind es doch mehr die äußeren Signale dieses Titels, die im Verbund mit den verwegenen Outfits der Bandmitglieder und ihrem intensiven LSD-Konsum zum rebellischen Image der Gruppe beitragen. Zur „Biker-Band“ wird Steppenwolf schließlich durch den Song „Born to be wild“, der vor allem durch den Kultfilm „Easy Rider“ hymnische Berühmtheit erlangt. Doch der Erfolg währt nur ein paar Jahre. Die Band ist ausgebrannt, ihre Mitglieder sind zerstritten und so zerfasert Steppenwolf irgendwann in Einzelprojekten. Die Trennungskonflikte werden im Film weitgehend ausgespart; vielleicht auch deshalb, weil es Oliver Schwehm letztlich um eine versöhnliche Darstellung einer außergewöhnlichen Band und ihrer bemerkenswerten, letztlich gar nicht so „gefährlichen“ Protagonisten geht.

Julie – Eine Frau gibt nicht auf

(FR 2021, Regie: Eric Gravel)

Wettlauf gegen die Zeit
von Wolfgang Nierlin

Dieser Film hat keine Zeit. Ebenso wenig wie seine Heldin Julie Roy (Laure Calamy), die im Modus von Hektik und Stress permanent unter Strom steht. Mit einer nervösen Handkamera und …

Dieser Film hat keine Zeit. Ebenso wenig wie seine Heldin Julie Roy (Laure Calamy), die im Modus von Hektik und Stress permanent unter Strom steht. Mit einer nervösen Handkamera und mit schnellen, harten Schnitten, die die Zeit förmlich zerschneiden und aufheben, folgt Éric Gravel in seinem Film „Julie – Eine Frau gibt nicht auf“ (À plein temps“) der alleinerziehenden Mutter zweier kleiner Kinder durch einen höchst strapaziösen Alltag. Der französische Originaltitel „Vollzeit“ ist hier gewissermaßen Extremprogramm und korrespondiert mit der Atemlosigkeit einer Arbeitspendlerin, die frühmorgens im Dämmerlicht das Haus verlässt und abends zurückkehrt, wenn es schon dunkel ist. Ihre Kinder werden derweil von einer älteren Dame aus der Nachbarschaft betreut. Als Teamleiterin von Zimmermädchen eines Pariser Luxushotels steht Julie, beobachtet und kontrolliert von einer strengen Chefin, auch bei ihrer gehetzten Arbeit ständig unter Spannung. „Hier gilt die Regel: Wir sind unsichtbar“, sagt Julie zu einer neuen Mitarbeitern. Allerdings hilft man sich hier aus Solidarität auch immer wieder gegenseitig.

Éric Gravel schichtet die verhandelten Probleme bis zur Überladung, indem er die Strapazen seiner Heldin in Beziehung setzt zum sozialen Ausnahmezustand einer Gesellschaft. In den Morgennachrichten ist von Inflation, steigenden Energiepreisen und Streiks die Rede, die dann Julie, die in einem Dorf weit außerhalb von Paris wohnt, hautnah zu spüren bekommt. Zugverbindungen fallen aus, später auch die Ersatzbusse. Der Verkehr wird zu einem einzigen Stau, der auch Julie in die Enge treibt und bis zur schieren Verzweiflung blockiert. So kommt sie immer öfter zu spät. Außerdem muss sie auf der Suche nach einem neuen, für ihre Ausbildung als Marktforscherin adäquateren Arbeitsplatz Vorstellungstermine während ihrer Arbeitszeit annehmen. Doch damit nicht genug, denn es gilt zusätzlich, den Kindergeburtstag ihres Sohnes vorzubereiten. Währenddessen wird ihr überzogenes Bankkonto gesperrt, ihr Ex-Mann meldet sich weiterhin nicht und schickt auch nicht das dringend benötigte Unterhaltsgeld; und dann geht im Bad bezeichnenderweise auch noch der Durchlauferhitzer kaputt.

Julie steht immer öfter im Regen und irgendwann auch vor verschossenen Türen. Sie rennt entlang von Staus, übernachtet einmal in einem ranzigen Billighotel und findet nur ganz selten Momente der Ruhe. Während auf ihren Fahrten in überfüllten Zügen und in Fahrgemeinschaften im Dämmerlicht die Häuser, Schlote und Landschaften wie ferne, fremde Welten vorbeiziehen, spitzt sich Julies Zwangslage sukzessive und mit Thriller-Spannung zu. Für ihren Wettlauf gegen die Zeit, markant vorangetrieben von den repetitiven Sounds der französischen Elektronikerin Irène Drésel, gibt es weder eine Perspektive noch eine Lösung. Insofern lässt Éric Gravel sein preisgekröntes Sozialdrama, in dem Arbeit und Leben heftig aufeinanderprallen, am Ende in einem ambivalenten Schwebezustand münden.

Sleep with your eyes open

(BR/AR/TW/DE 2024, Regie: Nele Wohlatz)

Verloren in der Fremde
von Wolfgang Nierlin

Eigentlich wollte die junge Taiwanesin Kai zusammen mit ihrem Freund den Urlaub in der brasilianischen Küstenstadt Recife verbringen. Doch dann bleibt dieser aus und sie findet sich allein am Strand, …

Eigentlich wollte die junge Taiwanesin Kai zusammen mit ihrem Freund den Urlaub in der brasilianischen Küstenstadt Recife verbringen. Doch dann bleibt dieser aus und sie findet sich allein am Strand, wo sie einen aufdringlichen Verkäufer abwehren muss, und in einem Hotelzimmer mit der Nummer 13, wo ihr die Klimaanlage den Schlaf raubt. Obwohl Kai vielsprachig ist, fühlt sie sich einsam, fremd und verloren. Außerdem hat sie das Gefühl, zu sehr aufzufallen und damit als nicht dazugehörende Urlauberin identifiziert zu werden. Gegenüber einem deutschen Spanischübersetzer deutet sie an, dass es für sie eine Differenz zwischen sprachlicher Verständigung und Verstehen gibt. Die Kommunikation zwischen und jenseits der Sprachen begleitet stetig ihr Fremdheitsgefühl. Dann lernt Kai den hilfsbereiten chinesischen Schirmverkäufer Fu Ang kennen, der auf die Regenzeit hofft und Teil einer Community von mehr oder weniger illegalen Fremdarbeitern ist. Und sie bekommt einen Karton mit zahlreichen beschriebenen Ansichtskarten geschenkt, auf denen Xiaoxin, eine andere Chinesin, die zuvor in Argentinien gelebt hat, von ihren Erfahrungen in Recife erzählt. Diese spiegeln gewissermaßen Kais eigene Gefühlslage.

In der Folge wechselt Nele Wohlatz‘ völlig undramatisch und wie nebenbei erzählter Film „Sleep with your eyes open“ („Dormir de olhos abertos“) von der Rahmenhandlung zu einer Geschichte in der Geschichte, die aber wirkt, als fände sie gleichzeitig statt und als gäbe es zwischen den Erzählebenen keine zeitlichen und räumlichen Grenzen. Die Figuren und ihre Perspektiven lösen sich dabei ab, geben den narrativen Staffelstab weiter, rücken eine Zeit lang ins Zentrum, das es nicht gibt, und scheinen trotz diverser kultureller und kommunikativer Grenzen miteinander verbunden. Die in Deutschland geborene Regisseurin, die selbst etliche Jahre in Argentinien lebte, etabliert in ihrem unspektakulären, mit leichtem Humor abgefederten Film eine mäandernde, von langen, statischen Einstellungen getragene Erzählstruktur. Dabei setzt sie immer wieder die modernistische, austauschbare und damit irgendwie ortlos wirkende Hochhauslandschaft von Recife ins Bild.

„Hier ist immer alles gleich, nichts verändert sich“, sagt einer der Chinesen und sieht darin einen wesentlichen Unterschied zu den gravierenden Umwälzungen in seinem Heimatland, das sehr fern und abgerückt erscheint. In einem Hochhaus von Recife leben die Arbeitsmigranten wie in einer Blase und zugleich Tür an Tür mit einer wohlhabenden brasilianischen Gesellschaftsschicht, für die das Leben eine einzige, mit illegalen Mitteln finanzierte Party zu sein scheint. In einer skurrilen Szene regnet es vor einer der riesigen Panoramascheiben Geldscheine. „Weakness is a choice“, steht dagegen in großen Lettern auf dem T-Shirt eines chinesischen Gastarbeiters. Fu Ang, der in seiner Heimat Fischer war, sammle in der Fremde Ängste, heißt es. Seine Sorge ist, durch anderes Essen, andere Gewohnheiten und die Gerüche seiner Umgebung selbst in seiner Identität verändert zu werden. In einer Mischung aus Verlorenheit und Sehnsucht treibt er einmal nachts in einem Schwimmring hinaus aufs gefährliche Meer, nur um sich am Morgen desillusioniert am tristen Strand wiederzufinden. Vielleicht bleibt dort, wo die Wurzeln und Bindungen fehlen, alles gleich, beliebig und flüchtig, wie Fu Ang in seiner Perspektivlosigkeit einmal meint.

Niemals allein, immer zusammen

(DE 2024, Regie: Joana Georgi)

Protest hat viele Gesichter
von Jürgen Kiontke

Patricia, Simin, Quang, Zaza und Feline sind jung und voller Elan: Sie engagieren sich bei „Fridays for Future“, in Mieterinitiativen, hängen sich bei der Berliner Krankenhausbewegung rein und fordern die …

Patricia, Simin, Quang, Zaza und Feline sind jung und voller Elan: Sie engagieren sich bei „Fridays for Future“, in Mieterinitiativen, hängen sich bei der Berliner Krankenhausbewegung rein und fordern die Aufarbeitung rassistisch motivierter Gewalt ein. Regisseurin Joana Georgi hat sie ein Jahr lang begleitet und bringt mit ihrem Dokumentarfilm den jungen linken Widerstand auf die Leinwand. Den Berliner, wohlgemerkt. Einen Blick auf andere Städte gewährt sie leider nicht.

Dennoch steht das Engagement der Aktivisten durchaus paradigmatisch für die Arbeitsfelder, die der junge linke Widerstand ausgemacht hat. Freimütig geben sie Auskunft über ihre Arbeitsweisen, die Kamera ist sogar dabei, wenn die Gewerkschaftsjugend tagt. Während der Film in der ersten Hälfte seine Helden vorstellt, wie sie diskutieren, rauchen und wohnen – ohne Küche im Berliner Altbau geht eben nichts –, steht im zweiten Teil recht prominent Zaza im Mittelpunkt, eine junge Pflegekraft in Ausbildung in der Berliner Urbanklinik, die sich mit den Kollegen für bessere Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen einsetzt.

Das ist beileibe kein Selbstläufer! Anhand von Zazas Alltag kann der Zuschauer sich ein Bild machen von der Härte und der Dauer der Tarifauseinandersetzungen. Und auch wenn es Erfolge zu verbuchen gab – vom OP-Tisch ist hier nichts: Am 13. und 14. Juni 2024 gibt sich die Krankenhausbewegung zwei Tage mit Workshops und Vernetzung in Berlin und Brandenburg. Kommt zahlreich! Georgi folgt ihren Gewährsleuten mit der Kamera in ihre sozialen Kämpfe. Auf der Straße, im Hörsaal, bei Interviews sind wir dabei. Wir erfahren, welche Schwierigkeiten familiärer Art es gibt und wie es mit den Finanzen ist – fast ein Generationenporträt.

Ein sehenswerter Film über zeitgenössische Protestformen – der auch durchaus nicht mit Wunderlichem geizt: Etwa wenn die ihr Kleinkind alleinerziehende Feline ihre politischen Aktivitäten aus Zeitgründen in die Küche und in die sozialen Medien verlagert. Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Attentats von Hanau backt sie einen Kuchen mit den stilisierten Konterfeis der Ermordeten. Das ist vielleicht etwas kitschig, aber nicht geschmacklos – ihre Überzeugung ist authentisch. Einmal auf Instagram gepostet, trendet die Gedenktorte allerdings, die Anzahl der Likes geht durch die Decke. Eine Demonstration im Homeoffice, mit Tausenden von Teilnehmern – der Erfolg gibt Feline recht.

Diese Kritik erschien zuerst am 12.06.2024 auf: links-bewegt.de

Die Gleichung ihres Lebens

(FR/CH 2023, Regie: Anna Novion)

Auf dem Weg zu sich selbst
von Wolfgang Nierlin

Die 25-jährige Mathe-Doktorandin Marguerite Hoffmann (Ella Rumpf) studiert und arbeitet an der französischen Elite-Hochschule École Normale Supérieure (ENS) und möchte einmal Forscherin werden, was sie strenggenommen schon ist. Denn in …

Die 25-jährige Mathe-Doktorandin Marguerite Hoffmann (Ella Rumpf) studiert und arbeitet an der französischen Elite-Hochschule École Normale Supérieure (ENS) und möchte einmal Forscherin werden, was sie strenggenommen schon ist. Denn in ihrer Dissertation beschäftigt sie sich seit drei Jahren mit einem ungelösten Problem aus dem Bereich der Zahlentheorie, das unter der Bezeichnung „Goldbachsche Vermutung“ bekannt ist und um den „Beweis für die Existenz arithmetrischer Folgen in Primzahlen“ kreist. Im Interview mit einer Uni-Zeitschrift, mit dem Anna Novion ihren Film „Die Gleichung ihres Lebens“ („Le théorème de Marguerite“) eröffnet, wirkt die junge Mathematikerin sehr diszipliniert, rational und fokussiert, dabei zugleich in sich gekehrt und eigensinnig. Offensichtlich hat Ella, deren Eltern sich früh scheiden ließen, seit ihrer (beschädigten) Kindheit kaum andere Interessen. Ohne Mathematik könne sie nicht leben, sagt sie einmal. Unter ihren fast ausschließlich männlichen Kommilitonen gilt sie als Außenseiterin. Vom normalen Leben scheint sie regelrecht ausgeschlossen zu sein.

Damit korrespondiert die geometrische Ordnung der Uni-Architektur mit ihren geraden Linien und offenen Räumen. Doch Anna Novion inszeniert diese Transparenz von Anfang an ambivalent: Oft zeigt sie ihre förmlich von der Außenwelt abgeschottete Heldin hinter Glasscheiben, gerahmt und isoliert. Das Bild einer spiralförmigen Wendeltreppe symbolisiert diesbezüglich ein Kreisen um sich selbst, das sich im Unendlichen zu verlieren scheint. Ein Fehler, fachlich als „ungültige Argumentation“ markiert, bringt Ellas mathematisch geordnete Welt ins Wanken und konfrontiert sie in der Folge mit der nackten Realität. Bei einer Präsentation vor Fachpublikum verirrt sich Ella im Zeichen- und Zahlendschungel, bricht ihren Vortrag ab und ergreift die Flucht. Sie fühlt sich von ihrem väterlich strengen Professor Laurent Werner (Jean-Pierre Darrousin) verraten und zurückgesetzt, zumal dieser mit dem jungen Doktoranden Lucas Savelli (Julien Frison) überraschend einen Konkurrenten zu Ella installiert hat. Ellas Zusammenbruch deutet er als „verspätete Adoleszenzkrise“: „Die Mathematik darf nicht unter Gefühlen leiden.“

Die junge Frau tritt jetzt aus einem unscharfen Bildhintergrund in die Schärfe des Vordergrunds, aus der abstrakten Welt der Zahlenordnung in die konkrete Unordnung einer neuen Wirklichkeit. Sie zieht in eine WG mit der lebenslustigen, körperlich-sinnlichen Tänzerin Noa (Sonia Bonny), scheitert in Jobs, die ihrem Bedürfnis nach Logik nicht standhalten und entdeckt für sich schließlich das Mah-Jongg-Spiel, das sie für ihren Lebensunterhalt in verrauchten Hinterzimmern illegal gegen Chinesen spielt und gewinnt. Daneben taucht sie mit unkonventioneller Direktheit in die Milieus einer bislang unbekannten Realität ein, bevor sie erneut vom Mathe-Virus erfasst wird, immer besessener ihre Forschung vorantreibt und sich dabei regelrecht in einer Zeichenhöhle am Rande des Wahnsinns einschließt.

In ihrem zwar dramaturgisch und inhaltlich vorhersehbaren, aber nichtsdestotrotz spannenden und bewegenden Film portraitiert die französisch-schwedische Regisseurin eine faszinierende, willensstarke und genialische Heldin auf ihrem zunehmend unordentlicher werdenden, aber hartnäckig verfolgten Weg zu sich selbst. Dabei muss sie schließlich nicht nur die scheinbar festgefügten Sicherheiten und Gewissheiten einer „geordneten Unendlichkeit“ aufgeben, sondern sich auch den irrationalen Gefühlen der Liebe öffnen, um ihre prinzipielle Verletzlichkeit und Schwäche als Mensch in eine neue Stärke verwandeln zu können.

Typhoon Club

(JP 1985, Regie: Shinji Somai)

Strudel der Enthemmung
von Wolfgang Nierlin

Auch ohne Sturm ist die Gefühlswelt der Jugendlichen eines ländlich geprägten Vororts von Tokio in Unordnung. Eben noch taucht der Schüler Akira im Schwimmbad der Schule in die Stille des …

Auch ohne Sturm ist die Gefühlswelt der Jugendlichen eines ländlich geprägten Vororts von Tokio in Unordnung. Eben noch taucht der Schüler Akira im Schwimmbad der Schule in die Stille des unter künstlichem Licht grünlich schimmernden Wassers ein, während ein paar seiner Mitschülerinnen zu den treibenden Beats eines Punksongs ausgelassen gegen die gefühlte Lebensenge antanzen; kurz darauf treibt er wie leblos auf der Wasseroberfläche. Offensichtlich haben ihn die Mädchen zuvor immer und immer wieder untergetaucht. Übermut, verantwortungsvolles Handeln und die Einsicht in die Gefahr sind hier offensichtlich entkoppelt. Dabei wechselt die Atmosphäre der Szenerie zwischen einer sanften, von tropfendem Wasser grundierten Stille und der Dynamik körperlicher Unruhe und Wildheit. Tags darauf, im Unterricht des Mathematiklehrers Umemiya, geht es nicht minder chaotisch zu, was nachhaltig irritiert. Die Autorität des noch jungen, ziemlich machtlos wirkenden Pädagogen wird offensichtlich massiv in Frage gestellt.

Der japanische Regisseur Shinji Sōmai (1948-2001) zeigt diese Szenen in seinem 1985 entstandenen Coming-of-Age-Film „Typhoon Club“ in oft langen, aus der Distanz aufgenommenen Einstellungen, als blicke er auf das mitunter wüste Treiben aus einer neutralen Beobachterposition. Außerdem sind seine Bilder und die Figuren in ihnen oft durch Elemente im Vordergrund verhängt, gerastert und abgerückt. Diese Offenheit des Bildes korrespondiert auf der Erzählebene mit einem szenischen, fragmentarischen Plot, der seine narrativen Gewichte ebenso verschiebt wie sein Interesse an den Figuren wechselt. So bleibt manches streiflichtartig und wie nebenbei erzählt, während anderes von einer ungemein kraftvollen Intensität angetrieben wird; etwa wenn in einer herausgehobenen Episode einer der Jungen wie ein kopflos Getriebener einem Mädchen brutal nachstellt in der Absicht, es zu vergewaltigen. Zu diesem Zeitpunkt ist der angekündigte Taifun bereits aufgezogen, stürmischer Wind wirft das Wasser gegen die Scheiben, das Schulgebäude ist abgeschlossen und nur eine kleine Gruppe von Schülerinnen und Schülern ist darin über das Wochenende gefangen.

Unter ihnen ist der nachdenkliche und zurückhaltende Eigenbrötler Mikami, der darüber grübelt, wie sich das Leben transzendieren lässt. Dabei sind die Gedanken des schwermütigen Außenseiters bei seiner Schulfreundin Rie, die angesichts ihrer sterbenden Großmutter nach Tokio abgehauen ist und einmal sagt: „Ich hasse es, gefangen zu sein.“ Derweil treiben ihre eingeschlossenen Mitschüler mit einer richtungslosen, geradezu anarchischen Dynamik in einen Strudel der Enthemmung. Die sowohl visuelle als auch akustische Allgegenwart des Wassers wird zum Symbol entgrenzter Freiheit und zum Zeichen der Transformation; etwa wenn die rebellischen Jugendlichen nackt im Regen tanzen. Doch scheint es Shinji Sōmai, der als einflussreicher Regisseur in seinem Heimatland einen hervorragenden Ruf genießt, hierzulande aber noch zu entdecken ist, nicht um eine Form der Reinigung oder Läuterung zu gehen. Zwar gibt es inmitten einer generationsübergreifenden Orientierungslosigkeit einen Augenblick des Durchbruchs und der Entwicklung, doch ist dieser durch ein persönliches Opfer allzu teuer erkauft.

Alle die du bist

(DE/ES 2024, Regie: Michael Fetter Nathansky)

Liebesentfremdung
von Wolfgang Nierlin

Bei einem Bewerbungsgespräch ist Paul (Carlo Ljubek) ausgerastet. Er hat eine Panikattacke erlitten und sich eingesperrt. Jetzt ist seine alarmierte Frau Nadine (Aenne Schwarz) auf dem Weg zu ihm. Die …

Bei einem Bewerbungsgespräch ist Paul (Carlo Ljubek) ausgerastet. Er hat eine Panikattacke erlitten und sich eingesperrt. Jetzt ist seine alarmierte Frau Nadine (Aenne Schwarz) auf dem Weg zu ihm. Die Kamera folgt ihr aus nächster Nähe, nimmt ihre bestimmte, beharrliche Art in den Blick. Gegenüber dem beunruhigten, aufgeregten Personal sagt sie: „Mein Mann ist wie ich.“ Behutsam und verständnisvoll nähert sie sich dann dem Verstörten. Einfühlsam und zärtlich beruhigt sie sein aufgeschrecktes Gemüt. Paul ist jetzt ein Stier, der sanft gestreichelt wird. Kurz darauf verwandelt er sich in einen kleinen, schutzbedürftigen Jungen und in einen Jugendlichen, der sich für sein Verhalten entschuldigt und um eine zweite Chance bittet. Manchmal ist er auch eine ältere, mütterlich tröstende Frau. Unter den subjektiven Blicken von Nadine wechselt Paul seine Gesichter, Körper und sozialen Rollen. Gemäß dem Titel „Alle die du bist“ spaltet und entfaltet sich in der Konzeption von Michael Fetter Nathanskys magisch-realistischem Film Pauls Identität immer wieder neu.

Dabei ist der Beginn ihrer Liebe und Vertrautheit eher holprig und distanziert. Auf der Suche nach Arbeit kommt die alleinerziehende Mutter aus Hamburg ins rheinische Braunkohlerevier. Fabriken und rauchende Schlote bestimmen die graue, farblose Szenerie. In deren Mittelpunkt steht eine vom Leben enttäuschte, depressiv wirkende Frau, die sich zunächst verschlossen, schweigsam und unzugänglich gibt und die auf Avancen aggressiv reagiert. Als Mechatronikerin von Bergbaumaschinen wächst sie allerdings in die Verantwortung eines vom Strukturwandel bedrohten Betriebs; und sie lernt Paul allmählich kennen und lieben. Als selbstbewusste Anführerin im beginnenden Arbeitskampf hält sie die Kollegenschaft zusammen. Im Verbund mit dem liebenden und fürsorglichen Paul bildet sie ein starkes Paar. Doch immer häufiger kommt es zwischen ihnen zu Empfindlichkeiten und absurden Streitereien, unter denen auch die beiden Kinder leiden und die man nicht immer versteht. Nadine blickt auf Paul und seine Gestalten und fragt: „Warum liebe ich dich nicht mehr?“ Und sie ergänzt noch: „Ich will, weiß aber nicht wie.“

Michael Fetter Nathansky zeigt diesen nicht ungewöhnlichen, aber teils irritierenden Prozess zwischenmenschlicher Entfremdung als relativ statische Gefühls- und Liebeskrise zwischen Depression und zärtlicher Zugewandtheit. Außerdem spiegelt er die Zweifel seiner Protagonistin, ihre Ängste und Sehnsüchte, in ihrem erschöpfenden Kampf um den Erhalt bedrohter Arbeitsplätze. Dabei verbindet sich die sozialrealistische Zeichnung des Arbeitermilieus, charakterisiert durch (handgreifliche) Konflikte und den solidarischen Zusammenhalt innerhalb der Gruppe, mit einer sehr ambivalenten, von Widersprüchen gekennzeichneten Liebesgeschichte. Daraus entsteht ein betont körperliches, melodramatisches Kino der Gefühle. Dieses ist in seinen quälenden Momenten eines ausufernden Hin und Her emotionaler Ausnahmezustände nicht immer leicht auszuhalten. Aber wenn sich vertraute Menschen plötzlich oder vielmehr allmählich fremd werden, versagt mitunter die Vernunft; was durch etliche, gefühlsmäßig überspannte Kommunikationssituationen an Anschaulichkeit gewinnt. Der Prozess der Wandlung wird außerdem durch fast unmerkliche, durch ein verändertes Bildformat markierte Rückblenden gezeigt. So erscheint das Ende wie ein Anfang: bedrückend eng und zugleich offen für Neues.

Sold City

(DE 2024, Regie: Leslie Franke)

Wem gehört die Stadt?
von Jürgen Kiontke

Die Monetarisierung von Allgemeingut ist das Lebensthema der Filmemacherin Leslie Franke und ihres Kollegen Herdolor Lorenz. Hatten sie sich zuvor bereits die Wasserversorgung („Water Makes Money“, D 2010) und das …

Die Monetarisierung von Allgemeingut ist das Lebensthema der Filmemacherin Leslie Franke und ihres Kollegen Herdolor Lorenz. Hatten sie sich zuvor bereits die Wasserversorgung („Water Makes Money“, D 2010) und das Gesundheitswesen („Der marktgerechte Patient“, D 2018) vorgenommen, blicken sie mit ihrem neuen Werk „Sold City“ drei Stunden lang auf die Wohnungsmärkte. Wobei sie schon bei dem Begriff einhaken: Ein „Markt“ war das Wohnen lange eher nicht. Große Teile des Sektors wirtschafteten viele Jahre gemeinnützig – ein Grundprinzip, das die Linke in der Wohnungspolitik wieder einführen will. So waren Mieten gedeckelt und die Einnahmen mussten umgehend in den Bestand und Ausbau reinvestiert werden.

Mit der Aufhebung der Gemeinnützigkeit Ende der 1980er Jahre, der Lösung von Sozialbindungen und dem Verkauf großer Wohnraumbestände wurde aus der Vermietung von Wohnraum ein profitabler Geschäftszweig. Wohnen wurde Geldanlage. Jedenfalls für die Wohnraumbesitzenden. Mit Vonovia und Deutsche Wohnen entstanden in den letzten Jahren Konzerne mit Hunderttausenden Wohnungen im Bestand, die renditeorientiert bewirtschaftet werden. Die Filmemacher beleuchten Betriebsstrukturen und Geschäftsinteressen und lassen Unternehmenssprecher zu Wort kommen. Aber auch Aktivisten der Initiative „Deutsche Wohnen enteignen“ machen ihre Position deutlich, Mieter berichten aus dem Alltag, ebenso wie Mitarbeiter der Mietervereine. Der Stadtsoziologe Andrej Holm sorgt für die sozialpolitische Einordnung.

Ein weiterer Schauplatz neben Berlin ist Hamburg, wo die Linke-Politikerin Heike Sudmann den Kampf um das sogenannte Holsten-Areal erläutert: Ein gewinnträchtiges Spekulationsobjekt, das auch auf ein weiteres Problem hinweist: die ständig steigenden Preise für Bauland in den Städten.

„Sold City“ stellt eine immense Menge an Informationen und Impressionen zur Verfügung. Die Filmemacher sind nach London gereist, wo sich die Wohnungskrise wie in deutschen Städten immer weiter zuspitzt. Auch hier sprechen sie mit lokalen Initiativen und Mietern, die unter der schlimmen Situation leiden. Ebenso wichtig wie der dramatische Ist-Zustand sind ihnen aber auch positive Gegenbeispiele. Die bietet dann der zweite Teil von „Sold City“. Am Beispiel der Wohnungspolitik Wiens und Singapurs lassen Franke und Lorenz eine Ahnung aufkommen, wie es auch anders gehen kann. In Wien wurde der kommunale Wohnraum nie verkauft. Und wenn man sieht, wie die Mieter Singapurs in Wohntürmen mit Dachgärten leben, die Reisfeldern nachempfunden sind und auch im 11. Stock noch Platz für öffentliche Grünanlagen bieten, hat man eine Vorstellung davon, dass in der Stadt- und Wohnungspolitik vieles besser werden könnte.

„Sold City“ ist aufgrund seiner Länge und vielleicht auch wegen der Wucht seines Inhalts zweigeteilt. Ein immenses Werk mit Haltbarkeitsdatum, wie alles von diesem Regie-Duo. Der Film wurde zum Teil aus Spenden finanziert, Gewerkschaften und andere Verbände gehören zu den Förderern. Mag der Film auch vordergründig keine ganz so spektakulären Bilder bieten, ist er doch ein soziales Kunstwerk: Solche Projekte hätten eigentliche Goldene Palmen oder Bären verdient.

Diese Kritik erschien zuerst am 04.06.2024 auf: links-bewegt.de

Was uns hält

(IT/FR 2020, Regie: Daniele Luchetti)

Ambivalente Bindungskräfte
von Wolfgang Nierlin

Neapel, Anfang der 1980er Jahre. Eine Familie tanzt im Gruppenreigen. Der Boden ist mit buntem Konfetti übersät, die Stimmung ist fröhlich und ausgelassen. Doch gegen die scheinbare Objektivität der Karnevalsfeierlichkeiten …

Neapel, Anfang der 1980er Jahre. Eine Familie tanzt im Gruppenreigen. Der Boden ist mit buntem Konfetti übersät, die Stimmung ist fröhlich und ausgelassen. Doch gegen die scheinbare Objektivität der Karnevalsfeierlichkeiten wirft die Kamera immer wieder subjektive Blicke auf den Gleichschritt der Füße und in die Gesichter der Tanzenden, deren Freude verhalten zu sein scheint. Später badet der Familienvater Aldo (Luigi Lo Cascio), der als Radiomoderator einer Literatursendung in Rom arbeitet, seine Kinder Anna und Sandro. Aldo ist ein zärtlicher Vater. Bevor er eine Gutenachtgeschichte vorliest, versammelt sich die Familie vor dem Fernseher, um einen Dokumentarfilm über das Sozialverhalten einer Löwenfamilie zu sehen. Im Halbdunkel des Wohnzimmers strahlt dieses Bild eine behagliche Geborgenheit aus. Doch das Familienglück täuscht, als Aldo kurz darauf seiner Frau Vanda (Alba Rohrwacher), einer Lehrerin, gesteht, dass er ein Verhältnis mit einer anderen Frau habe.

Die Erschütterungen, die dieses Geständnis bei Vanda auslösen und kurz darauf das ganze Familiengefüge erfassen, sind heftig. Sie bilden fortan den schwankenden Untergrund, auf dem sich Daniele Luchettis schmerzliches Ehe- und Familiendrama „Was uns hält“ („Lacci“) entfaltet. Denn Vanda fällt in ein Loch aus Hilflosigkeit und Leere. Überwältigt von Eifersucht, Wut und namenlosem Schmerz appelliert sie an Aldos Eheversprechen und an seine Loyalität. Sie leidet unmäßig, fordert Aldos väterliche Verantwortung ein und macht ihm auf offener Straße eine schockierende Szene. Dabei wechselt Luchetti, der hier einen Roman von Domenico Starnone adaptiert, immer wieder die Perspektive. Wo früher Intimität war, herrscht jetzt Distanz, die nicht zuletzt aus den verunsicherten und verängstigten Blicken der Kinder spricht. Vanda unternimmt einen Selbstmordversuch, das Paar trifft sich vor dem Scheidungsrichter. Trotzdem sind sie Jahrzehnte später, jetzt alt und gutsituiert, wieder vereint.

Doch das frühere Unglück schwelt noch immer, die Wunden brechen wieder auf. In kurzen Flashbacks in die erinnerte Vergangenheit überbrückt Daniele Luchetti die Zeiten und stellt so der Sehnsucht nach familiärer Geborgenheit die Freiheit des Begehrens gegenüber, die vor allem der innerlich zerrissene Aldo verkörpert. Er sei unentschlossen, egoistisch und planlos, wirft ihm Vanda vor. Tatsächlich ist Aldo unentschieden und kann seine wahren Gefühle nur schwer ausdrücken. In langen Gesprächen reflektieren die beiden ihre beschädigte Liebe, was sich zur Bilanz eines desillusionierten Lebens und seiner versäumten Möglichkeiten verdichtet. Stimmungsvolle, sparsam eingesetzte Klaviermusik von Bach und Scarlatti verstärken diese melancholische, mit diversen Referenzen angereicherte Atmosphäre. Dagegen steht die Wut der erwachsenen Kinder, die sich gegen allzu lang unterdrückte Gefühle und emotional schmerzliche Bindungen richtet. Die „Schuhbändel“ des italienischen Originaltitels symbolisieren schließlich diese Ambivalenz zwischen zwangsläufiger Verbundenheit und dem Versuch, sich aus ihr zu lösen.