Archiv der Kategorie: Filmkritik

Der Sommer mit Anaïs

(FR 2021, Regie: Charline Bourgeois-Tacquet)

Leidenschaftlicher Lebenshunger
von Wolfgang Nierlin

Die junge, hübsche Anaïs (Anaïs Demoustier) ist ein Wirbelwind im Blumenkleid. Sie scheint keinen Stillstand zu kennen und ist immer in Bewegung. Hektisch und in permanenter Zeitnot zieht sie ihre …

Die junge, hübsche Anaïs (Anaïs Demoustier) ist ein Wirbelwind im Blumenkleid. Sie scheint keinen Stillstand zu kennen und ist immer in Bewegung. Hektisch und in permanenter Zeitnot zieht sie ihre Bahnen. Zu Beginn von Charline Bourgeois-Tacquets tempogeladenem Film „Der Sommer mit Anaïs“ („Les amours d’Anaïs“) eilt die Titelheldin vom Blumenhändler zu einem Termin mit ihrer Vermieterin, die wohl nicht ganz zufällig auch die Mutter von Anaïs‘ Freund Raoul (Christophe Montenez) ist. Die flatterhafte Literaturstudentin, die promoviert, wovon allerdings nicht viel zu bemerken ist, hat Mietschulden und findet natürlich Ausreden, um ihr besorgtes Gegenüber zu besänftigen. Denn außerdem redet sie ziemlich viel und schnell und zeigt sich dabei offen und distanzlos.

Es verwundert also nicht, dass die gehetzte Titelheldin ein eher chaotisches Beziehungs- und Liebesleben führt. Von Raoul, der ihr vorwirft, egoistisch zu sein, trennt sie sich kurzerhand nach einer Abtreibung. Und mit dem älteren Verleger Daniel (Denis Podalydès) lässt sie sich eher aus einer Laune heraus ein. Doch dann verliebt sie sich in das Bild seiner Lebensgefährtin Emilie (Valeria Bruni Tedeschi), einer 56-jährigen Schriftstellerin, mit der sich Anaïs sogleich identifiziert. Bei einem Literaturkongress in der Bretagne kommt es schließlich zur Begegnung zwischen den beiden Frauen, die bald von einem leidenschaftlichen Liebestaumel erfasst werden. Emilie ist fasziniert von Anaïs‘ Bestimmtheit, mit der diese ihr Verlangen lebt, und wird dabei selbst von einer unerwartet intensiven Lust überwältigt. Dabei trägt sie bezeichnenderweise ein blaues, Anaïs ebenso sinnfällig ein rotes Kleid.

Was der Schriftstellerin als „realitätsfremde“ Illusion erscheint, ist für die Jüngere nicht nur wahre Gewissheit, sondern vor allem ein Überlebenselixier. Denn mit ihrem steten Verlangen vertreibt oder bekämpft sie auch die Traurigkeit, die sie bei der Begegnung mit ihrer schwerkranken Mutter überfällt. Vielleicht ist ihre gesteigerte Aktivität auch ein Mittel, um vor den Schmerzen des Lebens zu fliehen. Und vielleicht spiegelt sich in ihrer Liebe zu Emilie auch ihre Sehnsucht nach der Mutter. In ihrem zwischen Komödie und Drama changierenden Liebesfilm folgt die französische Regisseurin in sehr dynamischen Plansequenzen und geistreichen Dialogen der ebenso sprunghaften wie selbstbewussten Heldin. Deren fordernder Lebenshunger wird wiederum durch Ellipsen verdichtet und in Referenzen an Werke von Marquerite Duras und John Cassavetes gespiegelt. Anaïs‘ Unbedingtheit wird dabei zum Ausdruck ihrer Selbstbehauptung sowie eines Reifeprozesses.

El Entusiasmo

(ESP 2018, Regie: Luis E. Herrero)

Eine linke Filmgeschichtsschreibung
von Jürgen Kiontke

„Wir waren wie eine große Empanada voll mit Verbotenem“, sagt die Aktivistin, die damals dabei war: Als Europas letzter faschistischer Diktator Francisco Franco im Jahr 1975 stirbt, explodiert das Leben …

„Wir waren wie eine große Empanada voll mit Verbotenem“, sagt die Aktivistin, die damals dabei war: Als Europas letzter faschistischer Diktator Francisco Franco im Jahr 1975 stirbt, explodiert das Leben in Spanien. Sein Tod beendet eine Ära der Angst und Unterdrückung, macht den Weg frei für eine erlebnishungrige Jugend, die einiges nachzuholen hat. An Leben, Demokratie und Freiheit. Nach Jahrzehnten der Reaktion kommen auch exilierte Kämpfer aus dem spanischen Bürgerkrieg wieder ins Land, in den Fabriken rumort es… Es herrscht der entusiasmo, die Begeisterung – und der Aufbruch ist generationenübergreifend. Der Übergang von der Diktatur ins Leben – die transición – schien vieles möglich zu machen.

Der Kulturwissenschaftler Luis E. Herrero zeichnet in seinem ersten Langfilm die Entwicklung der Ereignisse nach. Aber er orientiert sich nicht an der offiziellen Geschichtsschreibung. Im Zentrum von „El Entusiasmo“ stehen die Zeitzeugen aus dem Lager der Anarchisten und Syndikalisten und ihre Organisation, die unabhängige Gewerkschaft Confederación Nacional del Trabajo (CNT). Sie, die vor der Herrschaft Francos eine Rolle in der spanischen Gesellschaft gespielt hatte, erlebt Mitte der 1970er Jahre ihre Wiedergeburt im Großen.

Innerhalb kurzer Zeit wird aus einer kleinen Untergrund-Gruppierung eine Massenbewegung. „Wir hatten Dynamit im Herzen“, wie es im Film heißt: Versammlungen mit hunderttausenden Teilnehmern, libertäre Festtage, Streiks und antikapitalistischer Widerstand stehen auf dem Programm. Die weltweite 68er-Bewegung entfaltet ihre Wirkung in Spanien mit Verzögerung, dafür aber in allen Lebensbereichen: neue Bücher, neue Aktionsformen, neue Kunst und Gesellschaftstheorien – eine Explosion von Formen und Farben.

Herrero hat eine rasante, sehr sehenswerte, eine linke Filmgeschichte dieser Zeit gedreht. Die Interviews mit den Akteuren der CNT werden von Aufnahmen von Festivals, nächtlichen Debatten und Streikszenen flankiert. Analysiert wird aber auch der Niedergang der Bewegung durch staatliche Intervention und sogar inszenierte Anschläge.

Denn in der Phase dieses Umbruchs blieben die Anarchosyndikalisten letztlich unbeachtet, wurden von den politischen Parteien ausgekontert. Den Schwung der libertären Bewegung nahm man gerne mit, ihre politischen Forderungen aber nicht. Und oft blieben dieselben franquistischen Funktionäre im Amt, die schon in der Diktatur das Sagen hatten. Aber auch interne Auseinandersetzungen taten ihr Übriges. Es kam zur Spaltung und Gründung einer – allen Ernstes – zweiten CNT (ab 1989 CGT). Heute arbeiten die beiden Gruppierungen punktuell zumindest in Katalonien zusammen.

Der Film ist ohne Förderung entstanden, mit viel Engagement der Beteiligten. „Es wäre sehr kompliziert geworden, wenn wir nicht das Vertrauen derjenigen gehabt hätten, die die unzähligen historischen Materialien zur Verfügung gestellt haben, durch die der Film lebt“, sagt Herrero. „Und da sich alles verändert, Menschen und Dinge, kann das Betrachten der Vergangenheit nur dazu dienen, die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft besser zu meistern.“

Und die sind ja nicht kleiner geworden.

Diese Kritik erschien zuerst am 14.07.2022 auf: links-bewegt.de

Die Ruhelosen

(FR/BE/LU 2021, Regie: Joachim Lafosse)

Die Grenzen der Liebe
von Marit Hofmann

Am Anfang des Films könnte der Kontrast zu seinem Titel nicht größer sein. Eine Frau schlummert selig am Strand einer idyllischen Bucht der Côte d‹Azur. Vater und Sohn sind zusammen …

Am Anfang des Films könnte der Kontrast zu seinem Titel nicht größer sein. Eine Frau schlummert selig am Strand einer idyllischen Bucht der Côte d‹Azur. Vater und Sohn sind zusammen mit dem Motorboot rausgefahren. Doch schon nach wenigen Minuten kommt der Film nicht mehr zur Ruhe. Draußen auf dem Meer springt Vater Damien kurzerhand ins Wasser und ruft dem verdatterten Kind zu: „Du nimmst das Boot, ich schwimme zurück.“ Bahnt sich eine Katastrophe an? Das Kind schafft es allein zurück, wo die mittlerweile unruhig auf und ab tigernde Mutter wartet. Bis endlich auch der Vater heil eintrifft, vergeht eine gefühlte bange Ewigkeit.

Die Angst ist von nun an dauerpräsent. Damien ist bipolar, und die nächste psychotisch-größenwahnsinnige Phase kündigt sich an. Wenn er seine Tabletten nicht nimmt – warum auch, wenn er sich einfach großartig fühlt und nichts seinen kreativen Schub als Maler hemmen soll –, wird er unberechenbar und zur Gefahr für sich und seine Familie.

„Tatsächlich werden Menschen, die enge Beziehungen zu bipolaren Menschen haben, auch selbst ‚unruhig'“, sagt Joachim Lafosse. Der belgische Regisseur hat sich für „Die Ruhelosen“ von seinen Erfahrungen mit dem eigenen bipolaren Vater, einem Fotografen, der darauf spezialisiert war, Gemälde abzulichten, inspirieren lassen. Der Vater im Film ist Maler; der kunstaffine Schauspieler Damien Bonnard (die Hauptdarsteller tragen dieselben Vornamen wie ihre Figuren) hat die in „Die Ruhelosen“ entstehenden abstrakten Gemälde teils selbst zusammen mit dem belgischen Künstler Piet Raemdonck kreiert. Die Malerei ist neben dem von radikalen Kontrasten geprägten Schauspiel ein weiteres Element, das Damiens Seelenzustand, seine fragile Impulsivität, illustriert.

Der Film spielt zur Zeit der Corona-Pandemie, die die Kleinfamilie umso mehr isoliert; in einer manischen Phase mutiert Damien zum Maskenverweigerer, jede Beschränkung engt ihn ein. Zu unterscheiden, wo die Leidenschaft endet und wo der Wahn beginnt, ist auch für die Zuschauerin nicht immer leicht. Lässt sich seine Frau (Leïla Bekhti überzeugt durch subtil nuancenreiches Spiel) anfangs noch von Damiens Begeisterungsstürmen mitreißen und auf einen spontanen feurigen Tanz ein, gewinnen über die Spanne des Films Resignation und schließlich Trotz und Widerstand gegen ihre unfreiwillige Rolle als Bewacherin, Krankenschwester und Ersatzmutter die Oberhand. Die Liebe bleibt auf der Strecke. Ihre Ablehnung richtet sich auch gegen den Galeristen, der Damien mit Ausstellungsterminen unter Druck setzt und von der Produktivität seiner manisch-eruptiven Phasen profitiert.

Auf den Ausbruch und die von lauter Musik begleiteten fahrig wackelnden Bilder von Kameramann Jean-François Hensgens folgt auch filmisch der harte Kontrast: lähmende Stille. Nach Damiens gewaltsam herbeigeführter Zwangsunterbringung in einer Klinik kommt der zuvor ruhelose Berserker von Medikamenten benebelt als vollends erschlaffter Koloss zurück, der sich in diesem Zustand umso mehr als Belastung für seine Familie fühlt.

Doch Lafosse erzählt vor allem aus Sicht der Angehörigen. Auch der Sohn ist mit der Aufgabe, auf den eigenen Vater aufpassen zu müssen, überfordert und bekommt mehr mit, als er soll. Die verlogenen Erwachsenensätze „Alles wird gut“ und „Mach dir keine Sorgen“ sind mehr Hohn als Trost.

Lafosse beruft sich auf den Psychoanalytiker Roland Gori, der sagt, „dass eine Diagnose für Ärzte bestimmt ist und nicht für die Angehörigen eines Patienten. Sobald eine Diagnose gestellt ist, besteht nämlich die Gefahr, … dass jedes Verhalten, jede Veränderung oder jedes weitere Problem, das auftaucht, der Krankheit zugeschrieben wird. Ich erinnerte mich, dass in meiner Familie die Bipolarität meines Vaters manchmal ein sehr bequemer Sündenbock war“.

„Die Ruhelosen“ ist kein Betroffenheitsfilm, sondern soll „unsere Fähigkeiten und Grenzen in unserem Engagement für die Liebe“ hinterfragen. Ob Beziehungen extremen Belastungen standhalten, untersuchte Lafosse schon in früheren ähnlich quälenden Filmen wie „Die Ökonomie der Liebe“ (Originaltitel: „After Love“) mit sezierendem, aber empathischem Blick.

Den Ausgang der „Ruhelosen“ entwickelte der Regisseur am Ende der Dreharbeiten gemeinsam mit den beiden Hauptdarstellern.

Diese Kritik erschien zuerst am 14.07.2022 in: ND

Wie im echten Leben

(FR 2021, Regie: Emmanuel Carrère)

Undercover in der Putzkolonne
von Jürgen Kiontke

Erfolgsschriftstellerin Marianne (Juliette Binoche) hat genug auf den Vernissagen, Eröffnungsbällen und Empfängen des Pariser Kulturlebens rumgestanden. Jetzt nimmt sie sich mal was Richtiges vor. Michel Houellebecqs Nichthelden erleben ihre Talfahrten …

Erfolgsschriftstellerin Marianne (Juliette Binoche) hat genug auf den Vernissagen, Eröffnungsbällen und Empfängen des Pariser Kulturlebens rumgestanden. Jetzt nimmt sie sich mal was Richtiges vor. Michel Houellebecqs Nichthelden erleben ihre Talfahrten in der Provinz, Didier Eribon kehrt nach Reims zurück. Und Marianne? Zieht unerkannt, weil bestens ungeschminkt, ins nordfranzösische Caen. Statt Häppchen und Brut ab jetzt McDonald’s-Fritten und Arbeitslosenhilfe. Gleich gibt es was auf die Ohren, als sie in der Fallaufnahme des Arbeitsamtes aufschlägt: „Nein“, brüllt die Beraterin der Frau, die vor Marianne dran ist, ins Gesicht, „wir können Ihnen nichts mehr auszahlen!“ Womit Christèle, die junge, rabiate Mutter, die schnell mal die Kontrolle verliert, ihren drei Kindern den Hunger stillen soll, darauf gibt es keine Antwort. Erst der Sicherheitsdienst beendet die Keilerei.

Marianne recherchiert auf der Unterseite der französischen Gesellschaft: Arbeitslosenraten von 30 Prozent und mehr, deindustrialisierte Zonen, vielleicht gibt es gerade noch einen großen Arbeitgeber. In Mariannes Fall ist es die Zentrale der Putzkolonne: Nachts haben die Frauen nur wenig Zeit, um die Fähre nach England zu schrubben. Was sie dort vorfinden, nimmt ihnen mehr als einmal den Atem. Eine andere Arbeit findet sich nicht. Für Marianne ist es gerade recht, die anderen – die Migranten mit abgelaufener Aufenthaltsgenehmigung, die Single-Mütter, die jungen Leute ohne Schulabschluss – finden hier am Nordende des Albtraums der Europäischen Union wenig anderes.

Badezimmer durchwischen, Bettwäsche raus und rein, die Flure schick – die Kolonne läuft zum Hochleistungssport auf, für einen Stunden-Mindestlohn, der ständig unterlaufen wird. Zwei Stunden Anfahrt mit Bussen, die nicht immer kommen. Heiße enge Räume, einmal wird die Mannschaft sogar eingesperrt, fährt mit nach England, plündert immerhin mehrere Minibars und hat recht gute Laune. Der Spaß kommt jedenfalls nicht zu kurz.

© Neue Visionen

Regisseur Emmanuel Carrère – eigentlich selbst eher Autor und derzeit ungewöhnlicherweise stark im Gespräch wegen seines Buches „Yoga“, in dem er von seinem Leben mit einer bipolaren Störung berichtet – zeigt richtig viel Talent im Umgang mit seinen Darstellerinnen Hélène Lambert, Léa Carne, Emily Madeleine und anderen, bis auf Binoche meist Laiendarstellerinnen, im Auftreten ebenso überzeugend wie die Hollywood-Prominenz.

„Wie im echten Leben“ bringt das prekäre Leben mit intelligenter Zeichnung und einem guten Blick für Details auf die Leinwand. Das ist ein Film, der drastisch ist, aber niemals den Respekt vor seinem Sujet verliert – und auch nicht in schlechten Humor abkippt, wie dies wohl bei einem deutschen Film passierte, der sich fürs Fußvolk oft nur per Slapstick begeistern kann. (Wer es überprüfen will, mag sich „Liebesdings“ mit Elyas M’Barek anschauen (ab 7. Juli), in dem die Figuren aus dem Prekariat klassistisch gestrickt die meiste Zeit auf ihre schlechten Angewohnheiten reduziert werden.)

Neben der Handlung liefert das Skript von „Wie im echten Leben“ eine Reihe Informationen über Europas prekäre Arbeitswelt, speziell der Frauen. Und selbst den Ausstieg Mariannes aus der Zeitarbeiterklasse zeigt der Film überzeugend und an der Grenze zur Sentimentalität, die freilich nie überschritten wird: Mariannes Mitstreiterinnen können zwar eine Menge Dinge ab. Aber angelogen werden ist nicht so ihrs. Wie der Film aus dem Dilemma rauskommt, ist hart und herzlich gleichermaßen – mit Tendenz zum ersteren. Einer der besten Spielfilme dieses Jahr.

Diese Kritik erschien zuerst am 30.06.2022 auf: links-bewegt.de

France

(FR/DE/BE/IT 2021, Regie: Bruno Dumont)

Gefangen in Selbsttäuschungen
von Wolfgang Nierlin

Bevor der französische Präsident Emmanuel Macron seine große, mit Spannung erwartete Pressekonferenz beginnt, zeigt das erste Bild die über dem Élysée-Palast gehisste Trikolore. Sie solle den Staatschef mit einer Frage …

Bevor der französische Präsident Emmanuel Macron seine große, mit Spannung erwartete Pressekonferenz beginnt, zeigt das erste Bild die über dem Élysée-Palast gehisste Trikolore. Sie solle den Staatschef mit einer Frage nach der „rebellischen Instabilität der französischen Gesellschaft“ aufs Glatteis führen, rät die forsche und etwas vulgäre Assistentin Lou (Blanche Gardin) ihrer Chefin, der Starjournalistin France de Meurs (Léa Seydoux). Diese trägt für ihren angriffslustigen, provokanten Auftritt einen roten Mantel. „Du zeigst ihn nackt“, frohlockt Lu über Frances Coup, begleitet von obszönen Gesten. Dagegen ist die auffallende, oft wechselnde Kleidung von France ein Markenzeichen. Die Identität einer schillernden Medienvertreterin als Repräsentantin des öffentlichen Lebens wird in Bruno Dumonts neuem Film „France“ zum Spiegelbild eines krisenhaften Landes. Dabei spielen die medialen Inszenierungen im Spannungsfeld zwischen Wahrheit und Lüge, Fiktion und Realität eine besondere Rolle.

„Un regard sur le monde“ lautet der Titel von Frances umjubeltem TV-Magazin. Doch „ihr Blick auf die Welt“ ist nicht nur ein höchst „subjektiver“, wie die Journalistin selbst einmal über ihren Stil sagt, sondern vor allem ein höchst inszenierter. Das Sensationsheischende und das Skandalumwitterte dominieren den politischen Inhalt. Auch Bruno Dumont interessiert sich mehr für die Mechanismen des Medienbetriebs, der mit Fiktionen eine Wirklichkeit herstellt, die aus Täuschungen besteht und zugleich zum Abbild einer krisenhaften Gesellschaft wird. Dass diese ihre Gefährdungen nicht bemerkt, ist dabei ebenso beunruhigend wie Frances Selbstbetrug. Denn noch in ihren Abstürzen wähnt sich die Sensationsjournalistin auf einer „Mission“, ohne zu bemerken, dass sie selbst ein Werkzeug und Opfer ist.

Dass das ihr Unbewusstes lange vor ihr weiß, signalisieren ihre wiederholten Tränen. France weint über sich und über das, was sie tut; vor allem aber über ihr eigenes Bild und ihre öffentliche Berühmtheit. Als sie einen Verkehrsunfall mit eher marginalen Folgen verursacht, verdichten sich die Anzeichen einer Identitätskrise. France, für ihren Mann (Benjamin Biolay) und ihren kleinen Sohn längst nicht mehr erreichbar, nimmt eine Auszeit, um ihr „krankes Herz“ in einem Kurhotel in den verschneiten Bergen zu besänftigen. „Ich möchte unsichtbar sein“, beschreibt sie in einer Therapiesitzung ihren Wunsch nach Anonymität. Doch dann wird sie selbst betrogen und zum Opfer der Klatschpresse.

Der Zwang zur Wiederholung im Kreislauf des Unabänderlichen und die Gefangenschaft in der jeweiligen sozialen Klasse scheinen Dumonts hyperrealistische Gesellschaftsdiagnose zwischen Groteske und Melodram zu dominieren. Trotzdem schwingt in der ausgestellten Künstlichkeit gedehnter Szenen und den schwebenden Sounds von Christophe am Ende doch auch eine leichte Hoffnung auf das Menschliche eines erwachenden Bewusstseins mit.

Lieber Thomas

(D 2021, Regie: Andreas Kleinert)

Kino der Emphase
von Wolfgang Nierlin

Schon die ersten Bilder von Andreas Kleinerts Film „Lieber Thomas“ sowie die überdimensionalen, die Leinwand füllenden Credits (sonst eher in den Filmen Gaspar Noés zu besichtigen) signalisieren, etablieren und behaupten …

Schon die ersten Bilder von Andreas Kleinerts Film „Lieber Thomas“ sowie die überdimensionalen, die Leinwand füllenden Credits (sonst eher in den Filmen Gaspar Noés zu besichtigen) signalisieren, etablieren und behaupten ein Kino der Emphase und der Übertreibung. Mit großer filmischer Geste, überdeutlichen Unterstreichungen und pastoser Figuren-Zeichnung entwickelt der Regisseur ein bewusst lückenhaftes, von Unschärfen und Erfindungen gekennzeichnetes Biopic über den umstrittenen Schriftsteller Thomas Brasch (Jahrgang 1945), der in der DDR aufwächst und später im Westen lebt. Gegliedert nach Gedichtzeilen, die eine gewisse Widersprüchlichkeit und innere Zerrissenheit des umschwärmten Autors ausdrücken, folgt der Schwarzweißfilm einem Künstler, der mit sich und gegen eine repressive respektive ausbeutende Gesellschaft um Freiheit ringt. Die Darstellung einer exzessiven Künstlerexistenz, die sich hier weitgehend in Schreiben, Saufen und Vögeln erschöpft, bleibt allerdings ziemlich eindimensional und oberflächlich.

Das beginnt schon mit dem Internatsaufenthalt des kleinen Thomas, der sich als verträumter Junge gegen eine rigide, brutale Ordnung aus Zucht und Disziplin behaupten muss. Später, im Dramaturgie-Studium an der Filmhochschule Babelsberg, wird aus dem zum Schriftsteller berufenen jungen Mann (Albrecht Schuch) ein schlagfertiger Rebell mit Widerspruchsgeist, der von den Vertretern des Regimes kaum zu bändigen ist und der deshalb relegiert wird. Als er schließlich während des Prager Frühlings, ohne davon richtig überzeugt zu sein, zusammen mit seinen Freunden Flugblätter verteilt, kommt es zur offenen Konfrontation mit seinem Vater, einem ranghohen Kulturfunktionär, der den Sohn verrät. Haft, Zwangsarbeit als Fräser und die Ausweisung beziehungsweise Ausreise nach Westdeutschland im Jahre 1976 sind die gravierenden Folgen. Dass die ersehnte Freiheit auch dort weiterhin ein uneingelöstes Versprechen bleibt, muss der Verfemte schmerzlich erfahren.

Sowohl Braschs politischer Kampf als auch seine Literatur sind in Kleinerts Film – eine Ausnahme bildet die Beschäftigung mit dem schriftstellernden Mädchenmörder Brunke – merkwürdig unterbelichtet. Stattdessen konzentriert sich die Inszenierung mit einigen plakativen Schauwerten auf die Darstellung eines wüsten, wilden Künstlerlebens irgendwo zwischen Drogen, Sex und intensiven Schreibanfällen. Neben der Zeichnung einer hungrigen, kreativen Ost-Bohème bleiben vor allem Braschs Beziehungen zu diversen Frauen klischeehaft. Diese erscheinen vornehmlich als schöne, weitgehend konturlose Anhängsel eines auf seine Unabhängigkeit bestehenden Genies, das die hehren Ideale einer freien Liebe und einer ebenso freien Kunst postuliert und dabei auf jegliche Verantwortung pfeift.

Thomas Brasch, so gibt Kleinerts Film zu verstehen, will (gemäß der symbolischen Rahmenhandlung) hoch hinaus, schafft das, bedingt durch seinen frühen Tod im November 2001, aber nur zum Teil. Nur in den nahtlos in die Handlung eingeflochtenen Träumen, die mal aufsässige, widerständige und unversöhnliche, dann wieder friedliche, zärtliche und symbiotische Gegenwelten beschreiben, scheint zu gelingen, was dem widersprüchlichen Autor zeitlebens verwehrt blieb.

Wood – Der geraubte Wald

(AT/DE/ROU 2020, Regie: Michaela Kirst, Monica Lazurean-Gorgan, Ebba Sinzinger)

Kahlschlag
von Jürgen Kiontke

Ob in Sibirien, Rumänien oder Peru: In vielen Weltgegenden floriert der illegale Holzeinschlag. Der Dokumentarfilm „Der geraubte Wald“ macht auf den Umstand aufmerksam, dass – weit unter dem Radar der …

Ob in Sibirien, Rumänien oder Peru: In vielen Weltgegenden floriert der illegale Holzeinschlag. Der Dokumentarfilm „Der geraubte Wald“ macht auf den Umstand aufmerksam, dass – weit unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung und ganz entgegen allen Schutzmaßnahmen gegen den Klimawandel – der Holzhandel mit verbotenen Hölzern läuft wie geschmiert.

Im Zentrum steht Alexander von Bismarck, der seit Jahren die „Environmental Investigation Agency“ in Washington betreibt, eine NGO, die sich der Waldrettung verschrieben hat. Von Bismarcks Methoden erinnern dabei durchaus an einen Wirtschaftskrimi: Er wechselt Identität und Aussehen, benutzt versteckte Kameras und Mikros, um die Akteure des illegalen Holzhandels ans Licht zu bringen. Vor die Linse geraten ihm Waldarbeiter, die Manager eines österreichischen Holzkonzerns und führende Regierungsmitglieder.

Hier Abhilfe zu schaffen und den Bestand zu schützen, scheint fast unmöglich. Und es ist nicht immer nur der Regenwald – die Verbrechen geschehen durchaus auch in Europa: 48 Hektar sollen allein in Rumänien täglich abgeholzt werden. In Sibirien bedroht der Kahlschlag mittlerweile die letzten Rückzugsgebiete des Sibirischen Tigers – „dabei wollen wir nur Dielen“, wie es einer der Holzzwischenhändler formuliert. Ein Geschäft, das richtig auf die Knochen geht. Politiker werden eingeschüchtert oder geschmiert – das können sie sich aussuchen -; Umweltschützer und Förster einfach umgebracht.

Dieser Film will mit detektivischem Spürsinn politisches und öffentliches Bewusstsein schaffen – über die grausigen Folgen des Raubbaus in den Wäldern.

Diese Kritik erschien zuerst am 21.06.2022 auf: links-bewegt.de

Infos zu Terminen und On-Demand-Sichtungen: https://dergeraubtewald.de/im-kino

Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel

(FR/JP/DE/BE/IT/KH 2021, Regie: Arthur Harari)

Pflicht, zu überleben
von Wolfgang Nierlin

In der Rahmenhandlung des Films reist im Jahre 1973 ein junger japanischer Tourist auf die philippinische Insel Lubang, um den „letzten Soldaten des Krieges“ aufzuspüren. Dieser ist aus dem Off …

In der Rahmenhandlung des Films reist im Jahre 1973 ein junger japanischer Tourist auf die philippinische Insel Lubang, um den „letzten Soldaten des Krieges“ aufzuspüren. Dieser ist aus dem Off zu hören, während er seiner gefallenen Kameraden gedenkt: „Sie haben gesagt, wir kommen wieder.“ Onoda Hirō (Kanji Tsuda), der seit dreißig Jahren fernab der Zeitläufte im Dschungel lebt, ist ein Wartender und ein Überlebender. Mit seiner Treue zu Befehl und Vaterland ehrt er nicht nur die Vergessenen, sondern er demonstriert zugleich einen Gehorsam wider die Vernunft. Als der 22-jährige Onoda von seinem Vater in den Pazifikkrieg verabschiedet wird, beschwört ihn dieser: „Dein Körper ist dein Vaterland!“ Niemals dürfe dieser lebend in die Hände des Feindes fallen, weshalb der Vater dem Sohn zum Abschied einen Dolch schenkt. Doch der junge Leutnant gehört zu einer Spezialeinheit, deren Pflicht es ist, zu überleben: „Ihr habt nicht das Recht, zu sterben.“

Arthur Hararis epischer Film „Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel“, der auf einer wahren Geschichte basiert, folgt den Spuren seines aus der Zeit gefallenen Titelhelden über einen Zeitraum von dreißig Jahren. Geleitet wird er dabei von Onodas rudimentären Tagebuchaufzeichnungen sowie von einer Karte der Insel, die dieser über die Jahre erstellt. Obwohl der pflichtbewusste Offizier den „totalen Widerstand“ befiehlt, kommt es kaum zu einer Feindberührung. Vielmehr scheint er einer Strategie des Ausweichens zu folgen. Die Absurdität der Mission resultiert schließlich gerade aus der schier unumstößlichen Überlebenspflicht, die sich nach dem Ende der Kampfhandlungen gegen die historische Wahrheit und damit auch gegen die neue Wirklichkeit des eigenen Heimatlandes stellt.

Und so erzählt Hararis ebenso beeindruckender wie vielschichtiger Film auf einer zweiten Ebene vor allem vom Zusammenhalt und der Freundschaft unter den wenigen verbleibenden Männern, die nach und nach sterben oder die Truppe verlassen. Onodas eigensinnige Mission trägt dabei zunehmend Züge einer Realitätsflucht. Umgeben von einem überwältigend satten Grün, von den Geräuschen des Dschungels und der feuchten Atmosphäre langer, sinnlicher Regentage, deutet der „letzte Held“ die Wirklichkeit um. Er folgt damit dem Auftrag und Diktum seines ehemaligen Vorgesetzten: „In letzter Instanz ist jeder allein sein eigener Offizier.“ Nur derjenige, der den Befehl gegeben hat, kann ihn widerrufen.

Das starke Geschlecht

(D 2021, Regie: Jonas Rothlaender)

Manchmal schwach aufgestellt
von Jürgen Kiontke

Stress, Stress, Stress – das ist es, was heterosexuelle Männer im Kopf haben, wenn es um Sexualität geht. Zumindest wenn man den anonym bleibenden Interviewpartnern des Regisseurs Jonas Rothlaender glauben …

Stress, Stress, Stress – das ist es, was heterosexuelle Männer im Kopf haben, wenn es um Sexualität geht. Zumindest wenn man den anonym bleibenden Interviewpartnern des Regisseurs Jonas Rothlaender glauben darf, die er für seinen Film „Das starke Geschlecht – Männer reden über Sex“ vor die Kamera gesetzt hat. Jeweils zu Beginn eines Gesprächs übergibt er ihnen einen Text, mit dem sie sich auseinandersetzen sollen, ihre Meinung äußern. Anschließend können die Männer, geschätzt Ende 20 bis Ende 30 Jahre alt, mit ihren Vorstellungen loslegen. Was macht die ideale Partnerin aus? Wie muss sie handeln? Welche Erwartungen stellst du an dich selbst? Und nicht zuletzt: Wie entsteht Gewalt im sexuellen Kontext, wie stehst du dazu?

Viele der Antworten handeln von männlicher Dominanz. Ja, die Frauen erwarten von uns Männern, dass wir bestimmend sind, nicht lange rumeiern – Aktivität ist gefragt. Was machen derlei Konventionen mit der eigenen Sexualität und inwieweit formt die Fremdwahrnehmung den Umgang mit Schwächen und Emotionen?

Vor allem machen sie Druck. Wenn ich den Regeln, die es in meiner Vorstellung gibt, nicht Folge leiste, bin ich ein Versager – das bekunden Rothlaenders Interviewpartner nicht nur einmal. Besonders verrückt wird es, wenn es darum geht, wie die Partnerin zu sein hat. An Offenheit mangelt es hier nicht: Von Verständnis bis zu einem bestimmten Aussehen bis hin zur Form der Geschlechtsorgane ist alles dabei. Na, und wenn sich herausstellt, dass nicht alles perfekt ist? Auch dann fühlen sich einige der Männer als Loser, denn sie geben sich selbst dafür die Schuld, nicht die ideale Frau gefunden zu haben.

Als Zuschauer fühlt man mit den Protagonisten mit – und mit den nicht anwesenden Protagonistinnen auch. Die Szenen in Beziehungen, die sich aus den angesprochenen Haltungen ergeben, kann man sich sehr lebhaft vorstellen. Und das sind alles die Ottonormalverbraucher. Denken alle Männer so? Das müsste man eben rausfinden, sagt der Regisseur. Das Thema „männliche Identität“ beschäftige ihn schon lange, „da ich selber einfach schon sehr lange mit meiner gehadert habe“. Ausgangspunkt sei gewesen, dass fast jede Frau, die er kennt, sexuelle Belästigung oder gar sexualisierte Gewalt erlebt hat. Dabei seien ihm die „gesellschaftlichen Regeln“, die ganz schnell die eigenen sind, sehr klar gewesen. Rothlaender: „Passt du nicht in diese Schablone, dann bist du kein Mann.“ Na, dann eben nicht, möchte man ihm zurufen! Aus dieser Haltung diesen Dokumentarfilm gemacht zu haben, sich selbst der Technik Film zu bedienen, um sich seiner Einstellungen bewusst zu werden, verdient großes Lob, und den Sprechern sei Dank, dass sie offen reden, auch wenn an manchen Stellen gezielteres und weiterführendes Nachfragen möglich gewesen wäre, denn eine Reihe Themen der härteren Sorte kommen recht kurz: etwa Prostitution und Krankheit. Und Kindererziehung! Diversität sucht man ebenfalls eher vergebens.

Unmöglich aber ist es, sich diesen Film anzuschauen und nicht selbst ins Nachdenken zu kommen. Und das ist top! Rothlaender: „Mein Hauptziel ist, einen Dialog herzustellen und Leute zu einer Diskussion anzuregen. Das Interessante ist, dass die Zuschauenden in die unterschiedlichsten Gefühlslagen eintauchen.“

Diese Kritik erschien zuerst am 15.06.2022 auf: links-bewegt.de

Bettina

(DE 2022, Regie: Lutz Pehnert)

Das Leben als Zivilcourage
von Jürgen Kiontke

„Hoffnung haben beim Ertrinken/Nicht im Wohlstand zu versinken/Einen Feind zum Feinde machen/Solidarität mit Schwachen“: Lieder und Texte von Bettina Wegner stellen in Deutschland ein eigenes Genre dar. Wider Willen berühmt …

„Hoffnung haben beim Ertrinken/Nicht im Wohlstand zu versinken/Einen Feind zum Feinde machen/Solidarität mit Schwachen“: Lieder und Texte von Bettina Wegner stellen in Deutschland ein eigenes Genre dar. Wider Willen berühmt geworden mit ihrem Lied „Sind so kleine Hände“, das sich bis heute vor ihr Gesamtwerk schiebt, ist ihr Schaffen eine vertonte gesamtdeutsche Nachkriegsbiografie.

Regisseur Lutz Pehnert – nach Filmen über Alkoholiker-Brigaden, die DDR-Seefahrt und Osttheater mittlerweile so etwas wie der filmische Chronist ostdeutscher Geschichte – hat der Legende nun ein filmisches Denkmal gesetzt. „Bettina“ rekonstruiert anhand von Prozessakten, Archivaufnahmen und Live-Mitschnitten einer heutigen Probensession dieses spektakuläre Leben, das sich in mindestens zwei Ländern, vor Gericht und in Haftanstalten, zwischen mehreren Kindern, Ehemännern und einer Affäre mit Oskar Lafontaine abgespielt hat. Die Gitarrenschlaghand kaputt operiert. Die heute 74-jährige Kettenraucherin brilliert mit druckbaren Statements vor der Kamera, einer Philosophin am eigenen Leben.

Geboren am 4. November 1947 in Berlin-Lichterfelde, wächst Bettina Wegner im Ostberliner Bezirk Pankow auf, die Eltern, überzeugte Kommunisten, waren in den Ostteil der Stadt gezogen. Im Westen waren ihnen die Mieten zu teuer. Mit 12 Jahren eckte Bettina, die Aufmüpfige, an. Kurioserweise, weil sie Lobpreisungen auf den Genossen Stalin hatte verlauten lassen. Der war da aber gerade richtig out.

© Salzgeber

1964 Ausbildung zur Bibliotheksfacharbeiterin, dann Studium an der Schauspielschule in Berlin. 1965 nimmt sie am republikweiten Wettbewerb junger Talente teil, wird delegiert zu den Arbeiterfestspielen in Frankfurt/Oder. 1966 gehört sie zu den Mitbegründern des „Hootenanny-Klubs“, der von dem kanadischen Sänger Perry Friedman ins Leben gerufen wird, später geht aus ihm der „Oktoberklub“ hervor.

Nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakische Republik verteilt sie Flugblätter gegen die Intervention und wird verhaftet. Der Vorwurf: staatsfeindliche Hetze. Ihre Haftstrafe darf sie in der Produktion ableisten. Nach Heirat mit dem Schriftsteller Klaus Schlesinger landet sie in der Berliner Stadtbibliothek. Per Abendschule Abitur nachgeholt, jetzt schnell die Ausbildung zur Sängerin am Zentralen Studio für Unterhaltungskunst; staatlich geprüfte Liedermacherin. Sie tritt mit eigenen Liedern und lyrischen Texten auf.

Auch Wegner gerät Mitte der 1970er Jahre in den Strudel der Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermann. Wer dagegen protestiert, kriegt selber Ärger mit der Staatsmacht. Sie erhält Auftrittsverbot, darf paradoxerweise aber in Westdeutschland singen. 1983 verlässt sie die DDR. Mit ihrem Top-Hit „Kleine Hände“ erlangt sie schnell Berühmtheit, sogar ein gemeinsames Konzert mit Joan Baez gibt es. Mit Amnesty International engagierte sie sich jahrelang öffentlich gegen die Todesstrafe.

Nie ruhig sein: Bis heute weiß sie nicht, wie man den Mund hält, da ist dieser Film der ideale Transmissionsriemen für diese schlagfertige Frau. „Ich habe sofort zugesagt“, sagt sie, als man für den Film an sie herantrat. „Weil ich gedacht habe, das gibt sowieso nichts.“

Ihr Markenzeichen – pessimistische Grundhaltung bei guter Laune – hat sie bis heute beibehalten: Ja, sie habe Angst vor einem Krieg, sagt sie. Aber sie befinde sich „ja nun auf der Zielgeraden des Lebens“. Was solle da schon passieren.

Diese Kritik erschien zuerst am 30.05.2022 auf: links-bewegt.de

Vom Kriege

(FR 2008, Regie: Bertrand Bonello)

Auf der Suche nach Lebendigkeit
von Wolfgang Nierlin

„Wäre ich nicht Bob Dylan, wäre ich sicher auch davon überzeugt, dass Bob Dylan jede Menge Antworten hat“, lautet ein Zitat des Folksängers, das nicht von ungefähr als Motto über …

„Wäre ich nicht Bob Dylan, wäre ich sicher auch davon überzeugt, dass Bob Dylan jede Menge Antworten hat“, lautet ein Zitat des Folksängers, das nicht von ungefähr als Motto über Bertrand Bonellos Film „Vom Kriege“ („De la guerre“) aus dem Jahre 2008 steht. Denn darin befindet sich der Filmemacher Bertrand (Mathieu Amalric) als mutmaßliches Alter Ego des französischen Regisseurs und Musikers in einer sowohl existentiellen als auch künstlerischen Krise. Zu Beginn sieht man ihn beim Telefonieren mit seiner Freundin Louise (Clotilde Hesme) hinter der Scheibe eines Waschsalons, ohne ihn zu hören. Bertrands Distanz zu seinem Umfeld ist also eine doppelte und verweist zugleich auf seine persönliche Isolation, in der er allein ist mit seinen Fragen. Alles falle ihm schwer, sagt er, der das Leben sucht, ja von ihm überwältigt werden möchte und ihm doch ausweicht.

Bonello spiegelt diese autofiktionale Künstlerproblematik außerdem im neuen Filmprojekt seines Protagonisten, für das dieser in einem Beerdigungsinstitut recherchiert. „Es geht um jemanden, der viel an den Tod denkt“, beschreibt Bernard seinen noch jungen Helden, der das Gefühl habe, „nie da zu sein, wo er sein müsste.“ Für die Nacht erhält Bertrand vom Inhaber (Vincent Macaigne) die Erlaubnis, in dem Ausstellungsraum mit den Särgen bleiben zu dürfen. Als er sich in einen von diesen legt und sich der Sargdeckel unvermittelt schließt, erlebt er den Albtraum einer Gefangenschaft zwischen Leben und Tod, Wirklichkeit und Traum. Am darauffolgenden Morgen beschreibt der Filmemacher sein Schockerlebnis allerdings zugleich als genussvoll und ekstatisch, mithin als einen Zustand der Erhabenheit.

Um das durch diese Initiation ausgelöste „göttliche Gefühl“ wiederzufinden, entsagt Bertrand seinem bisherigen Leben und lässt sein privates und berufliches Umfeld hinter sich. Fortan sucht er nach der absoluten Gegenwärtigkeit einer reinen Existenz. Bonello zitiert dafür den gleichnamigen Film von David Cronenberg. Vor allem aber stellt er seinem Suchenden mit dem mysteriösen Charles (Guillaume Depardieu) einen Begleiter an die Seite, der ihn in die Landkommune einer Aussteiger-Sekte einführt. Deren zugewandte, charismatische Führerin Uma (Asia Argento) propagiert Genuss durch Entsagung sowie eine Freude, die sich nur dadurch erreichen lasse, dass man wie ein Krieger kämpfe. Bertrand Bonello hat seinen spirituellen Film deshalb lose nach Kapitelüberschriften aus dem titelgebenden Buch des preußischen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz gegliedert.

Schon darin zeigt sich das von disparaten Elementen besetzte Feld, auf dem Bonello zur Beschreibung eines krisenhaften Sinnverlustes eine Reihe von esoterischen, mythologischen und philosophischen Motiven versammelt hat. Diese wiederum sind verschränkt mit Selbstzitaten (etwa dem Film „Tiresias“, 2003) sowie Referenzen auf „Woyzeck“ und „Apocalypse Now“, Pasolini und Dylan. Im experimentellen, mit einfachen Mitteln gestalteten Setting entfaltet sich insofern eine anspielungsreiche, symbolische Handlung, die mitunter auch die Realitätsgrenze verwischt.

Nach Meditationsübungen, ritualisierten Kämpfen, Deprivationszuständen und ekstatischen Tänzen – einem Katalog suggestiver oder auch entgrenzender Praktiken, die Bonello nicht ohne Ironie inszeniert -, scheint Bertrand allmählich eine neue Stufe des Bewusstseins zu erreichen, auch wenn das banal oder komisch klingen mag: „Heute habe ich akzeptiert, dass ein gewöhnlicher Tag ein schöner ist.“ Doch selbst nach der akuten Krisenbewältigung ist sein utopisches Verlagen noch nicht gestillt. Dass Bertrands Weg zur individuellen Befreiung und zur Erfahrung von Transzendenz schließlich in einer Art Selbstapotheose kulminiert, scheint dann doch gewagt, wird durch Dylans Song „She belongs to me“ aber zugleich auf den Boden schillernder „Tatsachen“ zurückgeholt und damit abgemildert.

Der Film ist bis zum 31.10.2022 in der Arte-Mediathek verfügbar.

Flee

(DK/FR 2020, Regie: Jonas Poher Rasmussen)

Erinnerungen eines Geflüchteten
von Wolfgang Nierlin

Ein Zuhause sei für ihn ein Ort, an dem er sich in Sicherheit fühle und dauerhaft bleiben könne, sagt Amin Nawabi zu Jonas Poher Rasmussen. Der dänische Regisseur hat sich …

Ein Zuhause sei für ihn ein Ort, an dem er sich in Sicherheit fühle und dauerhaft bleiben könne, sagt Amin Nawabi zu Jonas Poher Rasmussen. Der dänische Regisseur hat sich mit seinem aus Afghanistan stammenden Freund zu einem langen Interview verabredet, in dem Amin von seiner traumatischen Flucht erzählt. Zwanzig Jahre lang konnte der mittlerweile 36-jährige Akademiker nicht darüber sprechen, musste er Geschichten erfinden, um sich vor seiner Angst zu schützen. Im Setting einer psychoanalytischen Sitzung, für deren Hintergrund der Interviewer das Muster eines orientalischen Teppichs wählt, stellt sich Amin in der Gegenwart des Films seinen Erinnerungen und damit der Wahrheit. Als Mittel der Distanzierung verwendet Jonas Poher Rasmussen, der selbst aus einer Künstlerfamilie ehemals geflüchteter Juden stammt, das Medium der Animation, das durch verschiedene Verfremdungstechniken zusätzlich gebrochen wird. So wechselt der Film immer wieder zwischen erzählter Gegenwart und erinnerter Vergangenheit, die wiederum durch historische Dokumentarfilmaufnahmen illustriert wird; außerdem verweist und zeigt der preisgekrönte Film „Flee“ seine eigene Inszeniertheit.

Auch die animierten Sequenzen weisen deutliche stilistische Unterschiede auf und kontrastieren damit das innere und äußere Erleben des Protagonisten. Während Amins Kindheit zu Beginn der 1980er Jahre in Kabul in lebendigen Farben und mit klar konturierten Figuren gezeichnet ist, erscheinen seine Ängste und Albträume als gesichtslose, verzerrte Schatten in Schwarzweiß, deren fragmentierten Bewegungen in wenigen Strichen über die Leinwand huschen. Das Ungreifbare und Verdrängte, das sich darin bedrohlich und schmerzhaft Bahn bricht und noch immer Amins Leben entscheidend bestimmt, ist Gegenstand des gewissermaßen „therapeutischen Interviews“. Durch seine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erhofft sich Amin, der als Postdoktorand zwischen Princeton in den USA und seinem Wohnort in Dänemark pendelt, auch eine Perspektive auf das Zusammenleben mit seinem Freund Kasper.

Doch bevor sich Amin in der Rahmenhandlung des Films endlich zu Kasper und einem gemeinsamen Domizil bekennen kann, durchlebt er noch einmal die Schrecken seiner Flucht. Schon unter den Kommunisten gerät seine bürgerliche, offensichtlich gut situierte Familie in Bedrängnis, muss dann aber überstürzt mit einem Reisevisum nach Moskau flüchten, als die Mudschaheddin Kabul erobern. Nach dem Zerfall der Sowjetunion herrschen dort Chaos, Mangel und Kriminalität, was der Film mit einer realistischen Zeichnung und historischem Bildmaterial wirklichkeitsnah erzählt. Schließlich ist Amins Familie gezwungen, sich zwischen Scheitern und Hoffen kriminellen Schleppern anzuvertrauen. Was der Heranwachsende dabei oft unter Todesangst erlebt, schildert der Film in den vielen Szenen, in denen die Flüchtenden diskriminiert, zurückgewiesen und abgelehnt werden. Als Amin schließlich als „unbegleiteter Minderjähriger“ 1995 Kopenhagen erreicht, findet seine äußere Odyssee zwar ein vorläufiges Ende; sein innerer Weg zu einem neuen Vertrauen geht allerdings weiter und führt schließlich zu Jonas Poher Rasmussens wichtigem Film „Flee“ sowie durch diesen hindurch.

„Flee“ läuft als Erstaufführung am 30.5.2022 um 20.15 im Arte TV und steht vom 23.5. bis 28.7. in der Arte Mediathek zur Verfügung.

Sundown

(MEX/SW/FR 2021, Regie: Michel Franco)

Die Zeit, die bleibt
von Wolfgang Nierlin

Vom wolkenlosen, blauen Himmel strahlt unerbittlich die Sonne. Das Licht bricht sich auf den Wasserflächen an einem Strand von Acapulco und in den Swimmingpools der Hotels. Unter der gleißenden Helligkeit …

Vom wolkenlosen, blauen Himmel strahlt unerbittlich die Sonne. Das Licht bricht sich auf den Wasserflächen an einem Strand von Acapulco und in den Swimmingpools der Hotels. Unter der gleißenden Helligkeit scheint sich die Linie des Horizonts ins Unendliche zu dehnen. Wo Himmel und Meer verschmelzen, wirkt die Zeit wie eine träge Masse, die sich in die Körper schleicht. Mehr dösend sowie von Alkohol und Tabletten benebelt, verbringt die Londoner Unternehmerfamilie Bennett ihre Ferientage in einem Luxushotel der mexikanischen Touristenstadt am Pazifik. Dass die beiden erwachsenen Kinder Alexa (Albertine Kotting McMillan) und Colin (Samuel Bottomley) zu Alice (Charlotte Gainsbourg) gehören und dass der schweigsame Neil (Tim Roth) der Bruder von Alice ist, wird erst nach und nach klar. Denn Michel Franco erzählt seinen Film „Sundown – Geheimnisse von Acapulco“ elliptisch, völlig schnörkellos und mit einem sehr sparsamen Informationsfluss; was wiederum mit der Sprachlosigkeit zwischen den Familienmitgliedern korrespondiert.

Eine untergründige, ungute Spannung grundiert das Geschehen aus Langeweile, Wellness und touristischem Zeitvertreib. Das Bild von den Fischen, die sich mit letztem Atem auf dem Trockenen winden, steht bezeichnenderweise am metaphorischen Anfang des Films. Die Gegenwart des Todes und die Zeit, die bleibt, von Francos traurig schönem Film in verschiedenen Facetten gespiegelt, bricht sich schließlich abrupt Bahn, als Alice vom Tod ihrer Mutter erfährt. Während sie mit den Kindern überstürzt abreist, bleibt Neil unter einem Vorwand zurück, als wolle er sich wie eine Art moderner Bartleby jeglicher Verantwortung oder Entscheidung entziehen und stattdessen es vorziehen, nicht zu handeln. Offensichtlich ohne Plan und Ziel checkt Neil in einem billigen Hotel ein, kappt seine Verbindungen und lässt sich treiben, indem er melancholisch und nachdenklich seine Tage Bier trinkend am Strand verbringt und bald darauf eine Beziehung mit der jungen Mexikanerin Berenice (Iazua Larios) eingeht.

Zwischen den beiden und ihren Körpern scheint es ein wortloses Einverständnis zu geben, denn Neil bleibt weiterhin passiv und stumm. Sein offensichtlicher Ausstieg aus dem gewohnten Alltag und einem nicht genauer definierten Leben folgt allerdings einem tiefer liegenden existentiellen Verzicht beziehungsweise einer lähmenden Verweigerung, die aus einem schicksalhaften Verhängnis kommt. Sehr genau beobachtet Michel Franco die schleppenden, geradezu hilflosen Schritte seines Helden in einer Umgebung beunruhigender sozialer Kontraste. Gewalt und die vielfältigen Formen von Ausbeutung und Prostitution sind hier allgegenwärtig. Als Neil irgendwann später auf sein Erbe verzichtet und Alice einem Attentat zum Opfer fällt, entsteht eine fatale Bewegung, die Neils Stillstand und der daraus resultierenden Schuld allerdings nichts anhaben kann. Seine traurige Selbstaufgabe, von surrealen Visionen, Angst und Schmerzen begleitet, kommt aus einem Schweigen, das letztlich absolut ist. Sein Nicht-Handeln ersehnt eine Freiheit, die sich in ihren Grenzen selbst verzehrt.

Was geschah mit Bus 670?

(MEX/ESP 2020, Regie: Fernanda Valadez)

Das Schicksal der Verschwundenen
von Jürgen Kiontke

Für Jesús ist es ein logischer Schritt, wie für so viele andere aus der jungen Generation Mexikos: Auf Jobsuche will er gehen, so sagt er es seiner Mutter. Und natürlich …

Für Jesús ist es ein logischer Schritt, wie für so viele andere aus der jungen Generation Mexikos: Auf Jobsuche will er gehen, so sagt er es seiner Mutter. Und natürlich über die Grenze in die USA, in den Bundesstaat Arizona. „Ich gehe zur Arbeit“, sagt er noch, dann ist er auch schon weg. Er nimmt den Bus 670, der ihn an die Grenze der USA bringen soll.

Mutter Magdalena macht sich Sorgen, vor allem ab jenem Zeitpunkt, wo sie gar nichts mehr von ihrem Kind hört. Sie weiß: Menschen verschwinden auf dieser Strecke, das ist sogar der Normalfall. Mexikos Grenzregion ist für Migranten ein äußerst gefährliches Pflaster. Sie werden von Banditen ausgeraubt – jungen Leuten wie sie selbst, die von Straßenraub und Geiselnahme leben. Oft machen sie kurzen Prozess, bringen ihre Opfer um, vernichten alle Spuren und verbrennen die Leichen. In jüngster Zeit wurden mehrere Massengräber entdeckt.

Der Spielfilm „Was geschah mit Bus 670?“ von Regisseurin Fernanda Valadez geht diesen Ereignissen nach. Im Zentrum immer die Mutter Magdalena und ihr vermisster Sohn Jesús – vielleicht sind beide nicht zufällig mit biblischen Namen versehen. Auch Jesús, so erwächst die Gewissheit, scheint ein Opfer geworden zu sein. Aber als Monate später die Leiche seines Freundes und Begleiters aufgefunden wird, macht sich Magdalena selbst auf die Suche, geht in Leichensammelstellen und fragt bei Polizeistationen nach.

Das Regiedebüt von Fernanda Valadez ist gelungen. Immer wieder geraten ihre zentralen Figuren in parabelhafte Zwickmühlen, immer wieder stellen sie sich die Frage, welchen Wert ein Leben in Angst und Armut hat. Und ob es überhaupt Sinn macht, in eine ohnehin miese Welt Kinder zu setzen, auf die ein schlimmes Leid wartet – oder gar womöglich selbst zum brutalisierten Täter werden. Valadez lässt den Zuschauer aber auch immer wieder innehalten, indem sie mit künstlerischer Bildsprache Pausen generiert: mit Unschärfen, Nachtaufnahmen und Tierszenen.

Ein Werk, das geschickt und sehr künstlerisch eine große Verzweiflung über die rabiat-kapitalistischen Verhältnisse vermittelt. Alltagsterror spielt darin immer eine Rolle, aber er darf nie im Zentrum stehen. „Ich wollte nicht, dass uns die Gewalt von der Suche nach dem Verschwundenen ablenkt“, sagt die Regisseurin.

Diese Kritik erschien zuerst am 21.02.2022 auf: links-bewegt.de

Der schlimmste Mensch der Welt

(NOR 2021, Regie: Joachim Trier)

Statistin des eigenen Lebens
von Wolfgang Nierlin

Die wechselnden Hintergrundfarben, mit denen die Vorspanntitel von Joachim Triers neuem Film „Der schlimmste Mensch der Welt“ unterlegt sind, weisen bereits auf die Unentschiedenheit seiner Protagonistin hin. Im kursorisch und …

Die wechselnden Hintergrundfarben, mit denen die Vorspanntitel von Joachim Triers neuem Film „Der schlimmste Mensch der Welt“ unterlegt sind, weisen bereits auf die Unentschiedenheit seiner Protagonistin hin. Im kursorisch und ziemlich rasant erzählten Prolog ist die junge Julie (Renate Reinsve) damit beschäftigt, ihre Studienfächer und Liebhaber zu wechseln, bis sie nach medizinischen, psychologischen und fotografischen Lerninhalten schließlich als knapp 30-jährige Verkäuferin in einer Buchhandlung landet. Julie ist auf der Suche nach sich selbst und nach einem Platz im Leben, was in einer Zeit schier unbegrenzter Möglichkeiten schwerer ist denn je; und sie unterdrückt ihre Unsicherheit mit stetig wiederkehrenden Fluchtbewegungen. Als sie schließlich den erfolgreichen Comic-Zeichner Aksel (Anders Danielsen Lie) kennenlernt, der allerdings fünfzehn Jahre älter ist, scheint sich ihr unstetes Leben auf den ersten Blick zu beruhigen.

Doch die Ungleichzeitigkeit ihrer mehr oder weniger schwankenden Lebensentwürfe zwischen Selbstverwirklichung und Erfahrungshunger holt die Protagonisten ein. Joachim Trier und sein langjähriger Ko-Autor Eskil Vogt haben für ihre sich über mehrere Jahre ausdehnende Geschichte eine dezidiert literarische Form gewählt. Fragmentarisch in zwölf Kapitel unterteilt und von einer Off-Erzählerin kommentiert, folgen wir der schwierigen Identitätssuche einer jungen Frau, ihren Krisen und ihrer Hoffnung, ihrer Trauer und ihren Freuden. Dabei erzeugt Joachim Triers Inszenierung eine sensible Spannung zwischen Leichtem und Schwerem. Denn irgendwann beschließt Julie, die sich als Statistin ihres eigenen Lebens fühlt, Aksel trotz ihrer Liebe zu ihm zu verlassen und stattdessen ihren Gefühlen zu Eivind (Herbert Nordrum) nachzugeben, den sie zuvor bei einer Hochzeitsfeier kennengelernt hat.

Wenn der Film in einer langen, bezaubernden Szene die Magie dieses Liebesglücks zeigt, steht die Zeit still, ist das Leben, das die Liebenden umgibt, eingefroren. Immer wieder überschreitet Joachim Triers intensive Inszenierung auf (alb)traumhaft schöne Weise die Grenzen von Raum und Zeit, etwa auf einem rauschhaften Trip mit psychoaktiven Pilzen. Das dabei zum Vorschein kommende Unterbewusste deutet zugleich auf das Verdrängte und Ungelöste in Julies Leben, das in den einzelnen Kapiteln sukzessive thematisiert wird. Neben den wiederkehrenden Fragen nach der beruflichen Zukunft, nach Mutterschaft und dem richtigen Lebenspartner, rückt auch Julies schwierige Beziehung zu ihrem Vater in den Fokus. Joachim Triers bewegender und mit viel Musik aufwartender Film, der den Abschluss seiner „Oslo-Trilogie“ bildet, weitet daneben auch den Blick auf den gesellschaftlichen Zeitgeist. Und er konfrontiert außerdem mit großer Einfühlsamkeit und menschlicher Anteilnahme seine Heldin, die entgegen dem selbstironischen Titel „ein verdammt guter Mensch“ ist, wie Aksel einmal sagt, mit äußerst schmerzlichen persönlichen Verlusten.

Desterro

(BR/PO/AR 2020, Regie: Maria Clara Escobar)

Haus in Flammen
von Wolfgang Nierlin

Der Blick auf Dachziegel ist mit einem zunächst undefinierbaren, kratzenden Geräusch unterlegt. Dann öffnet sich das Bild und integriert die Details in einen größeren Zusammenhang: Aus den Ziegeln wird das …

Der Blick auf Dachziegel ist mit einem zunächst undefinierbaren, kratzenden Geräusch unterlegt. Dann öffnet sich das Bild und integriert die Details in einen größeren Zusammenhang: Aus den Ziegeln wird das Dach eines Hauses, vor dem eine Kleinfamilie versammelt ist. Eltern beobachten einen kleinen Jungen, der mit Stützrädern Fahrrad fährt, als plötzlich Regen einsetzt. Der Vater zieht den Jungen unter das Dach, das Schutz bietet wie andererseits die Stützräder Sicherheit geben. Was auf der Bild-Ton-Ebene zunächst entkoppelt scheint, bildet im ideellen Setting des Familienkonstrukts eine Einheit. „Wir sind noch dieselben“, lautet die einerseits beruhigende Überschrift des ersten Kapitels von Maria Clara Escobars ästhetisch ungewöhnlichem Film „Desterro“. Der selbstverständliche, auf Identifikation zielende Status quo dieser Aussage beinhaltet andererseits aber auch eine Beunruhigung, denn wo sich nichts ändert, herrscht der Zwang zur Wiederholung, mithin Stillstand.

Die Routinen des Alltags mit seinen wiederkehrenden Abläufen und Ritualen inszeniert die brasilianische Filmemacherin und Lyrikerin als statische Ordnung der Dinge. Während die Künstler Laura (Carla Kinzo) und Israël (Otto Jr.), die seit acht Jahren unverheiratet ein Paar sind, morgens in ihrer Küche frühstücken und eine monotone Konversation pflegen, sehen wir eine Montage von Einrichtungsgegenständen. Was eben noch Schutzraum einer konventionellen Familienordnung war, spiegelt nun den Stillstand einer eingefrorenen Beziehung. Laura und Israël sind gefangen in Konventionen, die den Sinn der Existenz verdunkeln beziehungsweise diese auf Symptome reduzieren. Vor allem Laura, die desillusioniert, gelangweilt und depressiv wirkt, leidet unter dem Gleichmaß der Tage, einem verflüchtigten Sinn und uneinholbaren Verlusten. Wenn sie vom Ende der Welt spricht, steht ihre Lust am Untergang, dem sie gefasst begegnen will, im Gegensatz zu Israëls Veränderungs- und Behauptungswillen.

„Manchmal merkt man erst, dass man etwas hatte, wenn es wieder weggeht“, beschreibt die apathische Laura ihr Gefühl einer flüchtigen Existenz, die sich in Anpassungsleistungen und der Erfüllung von Funktionen erschöpft. Als Israël im dritten Kapitel, das auf das erste folgt, erfährt, dass Laura auf einer Busreise durch Argentinien plötzlich verstorben ist, tritt an die Stelle der Trauer eine komplizierte Bürokratie. „Lauras Körper“ lautet entsprechend die Kapitelüberschrift über einem Handlungsabschnitt, der sich vor allem mit den logistischen und finanziellen Details der Rückführung eines Leichnams beschäftigt. Die analytische Sachlichkeit und das Interesse für scheinbar unwichtige Details erzeugen in „Desterro“, was „Verbannung“ bedeutet, einen – trotz aller Statik – kontinuierlichen Strom der Nebenordnung. Das Ganze, Heile oder Bruchlose entzieht sich. Eine mitunter abschweifende Kamera, undefinierbare Geräusche, räumliche Unschärfe sowie angeschnittene Bilder spitzen Unsicherheit, Bedrohung und Irritation auf kunstvolle Weise zu. Immer scheint es ein paralleles Leben mit sich entziehenden Bedeutungen zu geben.

Im abschließenden zweiten Kapitel, das „Alles wird gut“ überschrieben ist und das Lauras lange, trostlose Busfahrt dokumentiert, wird diese Gleichzeitigkeit in die Pluralität verschiedener Geschichten überführt, die von Frauen erzählt werden. Diese berichten von ihren leidvollen Erfahrungen und blicken dabei direkt zum Zuschauer. In diesem Chor weiblicher Stimmen ist schließlich auch Lauras Schicksal aufgehoben und integriert. Ihr schweigsamer Sitznachbar und Mitfahrer Julio (Rômulo Braga) wird dabei zu ihrem letzten Begleiter.

Immer wieder lenkt Maria Clara Escobars artifizieller Erzählstil die Aufmerksamkeit in verschiedene Richtungen und überschreitet so die Grenzen eines nur scheinbar festgefügten Möglichkeitsraums. Dann gewinnt die Statik ihres Films eine mitunter ungeahnte Dynamik, löst sich die Starrheit der Figuren auf, etwa in einem rasanten, von energiegeladener Punkmusik angetriebenen Lauf, der an die „Modern Love“-Sequenz aus Leos Carax‘ Film „Mauvais Sang“ („Die Nacht ist jung“) erinnert, oder auch in einem wilden Tanz zu einem melancholischen Liebeslied. Am Schluss vereint das vieldeutige, assoziationsreich Filmbild Laura und Israël zu einer Pietà aus Liebe, Leben und Tod, während hinter ihnen eine Hütte in Flammen steht und es offensichtlich außer der Erinnerung fast nichts mehr zu retten gibt.

Glück auf einer Skala von 1 bis 10

(FR/CH 2021, Regie: Bernard Campan, Alexandre Jollien)

Nimm einen Hering
von Jürgen Kiontke

Sie haben etwas gemeinsam, wenn auch auf den ersten Blick nicht viel: Igor ist als Fahrradkurier für Biogemüse unterwegs. Louis fährt auch was: Der Beerdigungsgroßunternehmer sorgt im großen Stil – …

Sie haben etwas gemeinsam, wenn auch auf den ersten Blick nicht viel: Igor ist als Fahrradkurier für Biogemüse unterwegs. Louis fährt auch was: Der Beerdigungsgroßunternehmer sorgt im großen Stil – „Wir haben 800 Leichen am Tag“ – dafür, dass Verstorbene gut verpackt zu ihrer eigenen Beerdigung kommen. Als sich eines Tages der Weg der beiden kreuzt, wird Igor beinahe Kunde von Louis. Denn der räumt ihn souverän mit seinem Mercedes von der Straße. Igor landet verletzt im Graben.

Ein Unfall mit überraschenden Folgen. Denn Igor ist behindert, bei der Geburt hatte er sich in der Nabelschnur verheddert und zu wenig Luft bekommen. Sprach- wie Bewegungszentrum wurden in Mitleidenschaft gezogen. Nun ist er 37 Jahre alt und hadert mit seinen Einschränkungen und der Abhängigkeit von der Mutter. Seit Jahren hat er sich in die Philosophie versenkt, haut ein Zitat namhafter Denker nach dem anderen raus.

Louis, bei dem alles immer perfekt funktionieren muss – das Bestattungsinstitut des Vaters hat er zu einem profitablen Industriebetrieb ausgebaut -, fühlt sich durch die ständigen Invektiven des Unfallopfers in seinen Routinen gestört. Er will den jungen Mann im Krankenhaus abliefern, doch wird er ihn nicht mehr los. Der an seiner Einsamkeit leidende Igor ist sich sicher: Louis wird sein bester Kumpel und klammert sich an den älteren Herrn. Abschütteln geht nicht mehr. Höhepunkt wird eine gemeinsame Reise mitsamt einer abzuliefernden Leiche, in der sich abgedrehteste Ereignisse die Sarggriffe in die Hand geben. Beziehungen in jeder Art und Weise bilden das Thema ihrer Unterhaltungen, Besäufnisse, Abenteuer. Im Raum die großen Fragen: Was ist „normal“? Was macht zufrieden im Leben? Wie stehen wir zum eigenen Ableben?

Für den Film „Glück auf einer Skala von 1 bis 10“ haben sich zwei Ausnahme-Charaktere zusammengetan, die nicht nur gemeinsam das Drehbuch verantwortet, sondern auch Regie und Hauptrollen übernommen haben: Alexandre Jollien, der den Igor spielt, wurde mit zerebraler Lähmung geboren und hat sich als Autor philosophischer Bücher („Lob der Schwachheit“) einen Namen gemacht. Bernard Campan in der Rolle des Louis ist als Regisseur und Darsteller bekannt. Zusammen haben sie einen äußerst flotten Film gedreht, der sich einreiht in jene französischen Lebenswelten-Clash-Filme, die à la „Ziemlich beste Freunde“ spielerisch und dennoch nicht nur im Komödien-Modus Klassen- und Gesellschaftsschranken überschreiten.

Nicht jedes Klischee wird dabei elegant umschifft und nicht immer mag die Darstellung gelungen sein; an manchen Stellen wird es durchaus ruppig. Aber die beiden – und auch die anderen Schauspieler – gehen mit ihren nicht immer so perfekten Körpern richtig an die Grenze in diesem Film. „Wenn du ein Philosoph sein willst, nimm einen Hering und zieh ihn hinter dir her, während du durch die Stadt gehst“, zitiert Igor den Philosophen Diogenes, um auszudrücken, wie man mit den Urteilen anderer Menschen umgehen könne. Und setzt hinzu: „Der Vorteil ist, dass ich den Hering immer mit mir herumschleppe.“ Die Idee des Film: den Blick auf die Marginalität und den anderen zu verändern. Und dann auch noch obendrein die Sicht auf den Tod. Das gelingt hier über alle Maßen. Fazit: ein beeindruckendes filmisches Experiment!

Diese Kritik erschien zuerst am 05.05.2022 auf: links-bewegt.de

Sigmund Freud – Freud über Freud

(FR/AT 2020, Regie: David Tebou)

Dünner Firnis der Zivilisation
von Wolfgang Nierlin

In David Tebouls Schwarzweißfilm „Sigmund Freud – Freud über Freud“ sprechen die Dokumente. Im Off lesen wechselnde Sprecher aus Briefen, Selbstzeugnissen und Erinnerungen, die allerdings nicht nur vom Porträtierten (Johannes …

In David Tebouls Schwarzweißfilm „Sigmund Freud – Freud über Freud“ sprechen die Dokumente. Im Off lesen wechselnde Sprecher aus Briefen, Selbstzeugnissen und Erinnerungen, die allerdings nicht nur vom Porträtierten (Johannes Silberschneider) stammen, wie der unnötig umständliche deutsche Verleihtitel suggeriert, sondern auch von Weggefährten. Besonders Freuds Tochter Anna (Birgit Minichmayr), die den berühmten Begründer der Psychoanalyse zeitlebens begleitet, unterstützt und betreut hat, spielt eine prominente Rolle; aber auch Prinzessin Marie Bonaparte (Catherine Deneuve), die einige von Freuds Schriften ins Französische übersetzte und dem Juden bei seiner Flucht ins Londoner Exil half. Von ihr stammen auch einige private Filmaufnahmen, die den alten, schwerkranken Freud im Kreis seiner Familie zeigen. Auch alle anderen Bild- und Filmdokumente kommen her aus der Lebenszeit Freuds oder tragen deren visuelle Anmutung.

Um die Entwicklung von Freuds Denken nachzuzeichnen, folgt der Film ziemlich strikt den Lebensdaten des Psychoanalytikers von seiner Geburt 1856 im kleinen mährischen Ort Freiberg, über seine Ausbildungszeit und sein Wirken in Wien, bis zu seinem Tod 1939 in London. In der Verbindung von Bild und Ton wählt David Teboul dabei ein assoziatives Verfahren und folgt damit mitunter auch thematischen Nebenwegen, die er zugleich in die übergeordnete biographische Erzählung integriert. Diese verbindet persönliche Erlebnisse, Träume, Begegnungen, Freundschaften und historische Ereignisse bzw. Umwälzungen, um aus ihnen nicht zuletzt auch die Entwicklung psychoanalytischer Grundbegriffe herzuleiten.

Zwar rekurriert der Film dabei auch auf Freuds jüdische Herkunft, seine Faszination für biblische Geschichten, seine starke Mutterbindung und seine Begegnung mit dem französischen Arzt Jean Martin Charcot, dem „Hohepriester der Hysterie“, wodurch sein Weg zur „Traumdeutung“ entscheidende Impulse erhält. Doch seine Erforschung des Unbewussten mit seinen gegensätzlichen Triebstrukturen ist nicht nur ein Reflex auf die teilweise verdrängte sexuelle Bedingtheit des Menschen, sondern spiegelt auch die Erfahrung des Krieges mit seinen politischen und kulturellen Umwälzungen. „Bereite dich auf den Tod vor, um das Leben zu ertragen“, lautet Freuds pessimistisches Fazit im Hinblick auf den dünnen Firnis der Zivilisation. So zeigt Tebouls konzentriertes dokumentarisches Porträt nicht nur den psychoanalytischen Denker und die Stationen seiner wissenschaftlichen Entwicklung, sondern immer auch das Leid, die Bedürftigkeit und die Freuden des dahinter stehenden Menschen.

Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush

(DE/FR 2022, Regie: Andreas Dresen)

Knastgeschichte
von Jürgen Kiontke

In der Ukraine will ihn keiner und jetzt gibt es auch noch Ärger im Kino: Wenn der Film „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ nun in den Kinos startet, kann …

In der Ukraine will ihn keiner und jetzt gibt es auch noch Ärger im Kino: Wenn der Film „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ nun in den Kinos startet, kann sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an seinen Job als Kanzleramts-Chef erinnert fühlen. Murat Kurnaz, ein junger Bootsbauer-Azubi aus Bremen, verbrachte insgesamt fünf Jahre im US-Knast Guantanamo auf einem US-Stützpunkt auf Kuba. Den US-Behörden war er in Pakistan ins Netz gegangen – kurz nachdem der „War on Terror“ in der Folge der Anschläge auf das New Yorker World Trade Center ausgerufen worden war, die islamistischen Attentätern zugeschrieben wurden.

Kurnaz passte zwar optisch ins Terroristen-Profil, ansonsten befand er sich im Jahr 2002 eigenen Angaben zufolge auf privater Sinnsuche. Die US-Ermittler boten Steinmeier seinerzeit denn auch an, Kurnaz nach Deutschland zu überstellen. Steinmeier zeigte daran aber kein Interesse, und so verbrachte Kurnaz einige Jahre länger in US-Haft als notwendig. Menschenrechtler kritisieren Steinmeier deswegen bis heute.

Der renommierte Regisseur Andreas Dresen erzählt nun Kurnaz‘ Geschichte nach, ruft die „extralegale“ Gefängnispraxis der USA in Guantanamo ins Gedächtnis zurück. Allerdings sehr indirekt: Sein Star ist Rabiye Kurnaz, Murat Kurnaz‘ resolute, herzenswarme wie schlagfertige Mutter. Mit viel Energie – und mit Hilfe des engagierten Rechtsanwalts Bernhard Docke – konnte sie jenen titelgebenden Prozess gegen den US-Präsidenten erwirken, der letztlich zu Kurnaz‘ Freilassung führte.

Rabiye Kurnaz wird kongenial von der Komikerin Meltem Kaptan in einer Mischung aus Mutterwitz und Attacke à la Mutter Beimer in Szene gesetzt. Keine Frage, wer Mutter Kurnaz kennt, findet sie top dargestellt, der Schauspielerpreis „Silberner Bär“ auf der diesjährigen Berlinale geht voll okay!

Allerdings wird der Komödien-Anteil in diesem Film bisweilen etwas dominant – und mehr als einmal reitet Dresen der Teufel. So besetzt er sich selbst als Richter im US-Gericht – Lacher garantiert, klar. Aber dient dies unbedingt der Geschichte? Ist das hier wirklich so lustig? Als Murat dann schließlich deutschen Boden betritt, zerstört von der Haft, wortkarg, kann die Regie zu wenig mit ihm anfangen. Zu sehr soll hier Satire inszeniert werden. Ob das angemessen ist, mag jeder selbst beurteilen. Sehenswert ist der Film allemal.

Diese Kritik erschien zuerst am 22.04.2022 auf: links-bewegt.de

Nawalny

(USA 2022, Regie: Daniel Roher)

Opposition in Russland
von Jürgen Kiontke

Alexei Nawalny dürfte – zumindest im Westen – als der auffälligste Vertreter der russischen Opposition gelten. Und das nicht erst, seit er dort verurteilt und weggesperrt wurde. Er ist prominenter …

Alexei Nawalny dürfte – zumindest im Westen – als der auffälligste Vertreter der russischen Opposition gelten. Und das nicht erst, seit er dort verurteilt und weggesperrt wurde. Er ist prominenter Gegner Wladimir Putins, der von ihm nur als der „Person“ spricht, und agitiert gegen dessen Partei Einiges Russland. Immer wieder hat er Enthüllungen über Parteimitglieder via Social Media in Umlauf gebracht.

Seit Ende der 1990er Jahre ist der 45-jährige als Antikorruptionsaktivist in der Oppositionspolitik tätig, sofern diese überhaupt möglich ist. Und als Aktivist gegen Korruption. Von den einen als CIA-Agent verschrien, von anderen als aufrechter Kämpfer glorifiziert, hat er das Zeug, Menschen gegen sich aufzubringen wie sie einzunehmen.

Und Nawalny gibt sich durchaus zwiespältig. Durchaus kontrovers hat er sich mit seinen Äußerungen in die Nähe russischer Nationalisten manövriert. Er selbst erklärt das damit, dass Russland mit solchen Figuren bis obenhin voll wäre. Man könne nicht russische Politik machen und einen entscheidenden Teil der Bevölkerung außen vor lassen. In einem „normalen“ politischen System, sagt er, wäre er nicht „mit solchen Leuten“ in einer Partei. Überzeugend geht anders.

Das alles erzählt er in die Kamera des nicht mal 30-jährigen kanadischen Regisseurs Daniel Roher, der nun mit „Nawalny“ eine rund 100 Minuten lange Dokumentation über den schillernden Oppositionellen gedreht hat – in der er sich durchaus hütet, sich mit den Belangen Nawalnys allzu sehr gemein zu machen.

Ein weltweiter Aufreger war dessen Vergiftung vor zwei Jahren; nachdem Nawalny aus Russland ausgeflogen war, wurde er in der Berliner Charité behandelt. Auch im Film ist die Geschichte des Mordanschlags auf ihn zentral und markiert den Höhepunkt, wenn Nawalny und sein Team glauben, sie hätten die Attentäter, staatliche Akteure, ausfindig gemacht. Nawalny kann mit einem von ihnen ein fast einstündiges Telefongespräch führen, in dem der Mann zugibt, an dem Attentat beteiligt gewesen zu sein. Flankiert werden die Aufnahmen von Statements von Journalisten der Plattform Bellingcat und vom „Spiegel“, die in diesem Fall recherchiert haben.

Darüber hinaus kommen Weggefährten und die Familie zu Wort. Menschen, die auf der Flucht sind, aus dem Koffer leben, ihre Jugend verpassen wie Nawalnys Tochter.

Man lernt etwas über die Art und Weise, wie in Russland Politik gemacht wird. Und da legt Nawalny immer wieder gern die Finger in die Wunde. Die Politiker möchten sich gern mal an die Gesetze des Landes halten, vom gängigen Villenbau Abstand nehmen, während die Bevölkerung nichts im Kühlschrank hat. Ein durchaus existenzgefährdendes Unternehmen: Nawalny sitzt derzeit für lange Zeit in Haft wegen angeblich veruntreuter Stiftungsgelder.

Ein spektakulärer und debattenträchtiger Dokumentarfilm.

Diese Kritik erschien zuerst am 28.04.2022 auf: links-bewegt.de

Vortex

(Frankreich, Belgien 2021, Regie: Gaspar Noé)

Im Strudel des Verschwindens
von Wolfgang Nierlin

Am Anfang des Films laufen die Abspanntitel. Bildfüllend in Blockschrift gesetzt, deutet diese visuell auffallende Geste auf ein emphatisches Verständnis von Kino. Gaspar Noé setzt auch in seinem neuen Film …

Am Anfang des Films laufen die Abspanntitel. Bildfüllend in Blockschrift gesetzt, deutet diese visuell auffallende Geste auf ein emphatisches Verständnis von Kino. Gaspar Noé setzt auch in seinem neuen Film „Vortex“ stilistische Ausrufezeichen und inszeniert in einem fortlaufenden Wechsel von Bewegung und Statik symmetrische Bilder von zunehmend kontrastierenden Verhältnissen. Nur tauscht er diesmal die Provokation mit der Einfühlung und widmet sich thematisch der Vergänglichkeit statt seinen bislang bevorzugten Sujets Sex, Gewalt und Rausch. „Für all diejenigen, deren Hirn vor ihren Herzen vergehen wird“, lautet das programmatische Motto des Films. In dessen Mittelpunkt steht ein altes, krankes Paar. Eben haben die beiden auf dem lauschigen Balkon ihrer Pariser Wohnung noch das Leben als Traum gefeiert. Dann singt Françoise Hardy ein trauriges Lied („Mon amie la rose“) über das Vergehen. Bis sich nachts, während sie schlafen, ein schwarzer Balken zwischen die Ehepartner schiebt, sie isoliert und trennt.

Auch die Leinwand ist ab diesem Zeitpunkt in einen Splitscreen geteilt. Fortan verlaufen die Leben der beiden Protagonisten bildlich, aber oft auch räumlich parallel. Die daraus resultierende Gleichzeitigkeit der Bewegungen und Ereignisse oder auch die doppelte, leicht verschobene Perspektive auf die Handlung bewirkt eine ebenso irritierende wie herausfordernde Aufmerksamkeitsverlagerung. Während sich der vom berühmten italienischen Giallo-Regisseur Dario Argento gespielte 80-jährige Filmpublizist der Arbeit an seinem neuen Buchprojekt („Psyche“) über den Zusammenhang von Kino und Traum widmet, irrt seine Frau Stéphane (Françoise Lebrun), eine Psychiaterin, zunächst verwirrt und orientierungslos durch diverse Läden, später durch die labyrinthische, mit Büchern, Papieren und Filmplakaten vollgestopfte Wohnung. Stéphane leidet unter einer sich immer gravierender bemerkbar machenden Demenz. In den dunkelsten Phasen ihrer Verlorenheit spiegelt jeder Handgriff eine tiefe, verzweifelte Verunsicherung und sie erkennt dann weder ihren Mann noch ihren sichtlich betroffenen Sohn (Alex Lutz).

Dieser würde gerne helfen, hat aber als alleinerziehender Drogensüchtiger selbst genügend Probleme. Den Vorschlag, für seine Eltern Plätze in einem Altersheim zu organisieren, wehrt der Schriftsteller trotz seiner Herzkrankheit ab: „Ich werfe meine Vergangenheit nicht weg.“ Und damit meint er die Wohnung mit ihren Büchern und Erinnerungen. Diese wirkt mit ihrer dominanten Materialität, ihrer Lebendigkeit und Aura wie eine dritte faszinierende Mitspielerin mit einer eigenen Geschichte. Schonungslos und genau zeigt Gaspar Noé, wie die Protagonisten seines intensiven, bewegenden Films „Vortex“ in einem schmerzhaften Prozess alles verlieren: sich selbst und den anderen, die Dinge und das Leben. „Ein Zuhause ist nur etwas für die Lebenden“, erklärt der Sohn am Ende seinem kleinen, fragenden Jungen. Dann verschwindet alles und das Bild steht Kopf.

Benedetta

(FR 2021, Regie: Paul Verhoeven)

Emanzipation vom Patriarchat
von Jürgen Kiontke

Novizin Benedetta bekommt gleich die frohe Botschaft serviert, als sie ins Kloster eintritt. Die Armut hat gefälligst draußen zu bleiben. Frauen werden geschlagen, Kinder essen vom Boden: Die Umgebung des …

Novizin Benedetta bekommt gleich die frohe Botschaft serviert, als sie ins Kloster eintritt. Die Armut hat gefälligst draußen zu bleiben. Frauen werden geschlagen, Kinder essen vom Boden: Die Umgebung des Klosters von Pescia im Italien des 17. Jahrhundert ist durch starke Gegensätze geprägt. Aber obwohl in der Ordensgemeinschaft der Frauen alles vorhanden ist, wird hier nicht geprotzt. Frau trägt Büßergewand, geht mit einem Gebet schlafen, lernt und arbeitet fleißig. Benedetta, die Lebensfrohe, gewöhnt sich langsam ihr ungestümes Wesen ab. Sie weiß: Was sie tut, ist gut für den Ruf ihrer Familie. Bis, ja, bis die Nonnenschülerin Bartholomea aufschlägt…

Paul Verhoeven hat sich, mittlerweile im hohen Alter, mit seinem neuesten Film wieder seinem Lebensthema zugewandt: der Darstellung starker Frauenfiguren in schwierigen Verhältnissen. Kaum ein Film des „Showgirls“- und „Basic Instinct“-Regisseurs kommt ohne die trickreiche, amazonengleiche Heldin aus, die sich durchaus mit unlauteren Methoden gegen die übermächtigen Kräfte des Patriarchats zu wehren weiß.

In „Benedetta“ – basierend auf dem Roman „Immodest Acts“ von Judith C. Brown, die in den Achtzigerjahren die 350 Jahre alten Gerichtsakten von Benedettas Prozess fand – schlägt die gleichnamige Hauptfigur die katholische Kirche mit ihren eigenen Mitteln. Die durchaus machtbesessene junge Nonne macht sich selbst zum Zeichen Gottes, indem sie sich die Stigmata – die Wunden der Nägel von Jesus von Nazareth am Kreuz – zufügt. Obwohl Äbtissin Felicita (ganz groß: Charlotte Rampling) Zweifel an den Wundergaben Benedettas hat, macht diese beim einfachen Volk schnell Karriere: Von ihrer neuen Berühmtheit als Heilige getragen, kennt sie nur noch wenig Vorsicht und sägt die alte Chefin gleich mal ab.

Mit Bartholomea führt sie eine lesbische Liebesbeziehung. Ein ums andere Mal geraten die beiden Frauen in Gefahr, entdeckt zu werden, zumal sie sich mit der geschassten Äbtissin eine echte Feindin geschaffen haben – die bald dafür sorgt, dass Benedetta vor dem Inquisitionsgericht und Bartholomea klassenjustiziabel im Folterkeller landet.

Die spannende Frage: Werden die beiden aus der Misere herauskommen?, fesselt das Publikum an den Kinostuhl wie der Klerus Benedetta auf den Scheiterhaufen! Nur so viel: Die historische Benedetta, die lebenslang im Knast landete, würde sicher staunen über die Volten, die ihre Filmschwester schlägt. Paul Verhoeven hat einen in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Film über die katholische Kirche gedreht. Mit Virginie Efira als Benedetta und Daphné Patakia als Bartholomea steht dem Regie-Altmeister erstklassiges Personal für seine gewohnt leicht überdrehte Auseinandersetzung mit den herrschenden Kräften zur Verfügung.

Fazit: Sehenswert, skandalträchtig, streckenweise verwirrend und mit Sicherheit umstritten!

Diese Kritik erschien zuerst am 27.11.2021 auf: links-bewegt.de

Die Odyssee

(FR/DE/CZE 2020, Regie: Florence Miailhe)

Auf einer Flucht voller Abschiede
von Wolfgang Nierlin

Sie habe immer gezeichnet, sagt die alte Kyona mit der einfühlsamen Stimme von Hanna Schygulla aus dem Off. Während in der Rahmenhandlung von Florence Miailhes melancholischem Animationsfilm „Die Odyssee“ („La …

Sie habe immer gezeichnet, sagt die alte Kyona mit der einfühlsamen Stimme von Hanna Schygulla aus dem Off. Während in der Rahmenhandlung von Florence Miailhes melancholischem Animationsfilm „Die Odyssee“ („La traversée“) die Blätter ihres Skizzen- und Malheftes wie von magischer Hand umgeschlagen werden, erinnert sie sich an die Stationen ihres bewegten Jugendlebens. Aus den gemalten Bildern als Träger vergangener Erlebnisse erstehen so die einzelnen Kapitel einer dramatischen Fluchtgeschichte. Diese beginnt, in der Folge von zahlreichen Märchenmotiven durchwirkt, in einem kleinen Dorf eines fernen Landes, wo die junge Kyona zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern lebt. Das mutige Mädchen ist am liebsten mit ihrem jüngeren Bruder Adriel unterwegs. Mit ihm durchstreift sie die nähere Umgebung des Dorfes und erklettert Kirschbäume.

Aus der Perspektive eines solchen Baumes erleben sie ihren ersten großen Schock. Eben zeichnet Kyona noch die ferne Silhouette ihres Heimatdorfes in ihr Heft mit dem blauen Umschlag, als plötzlich die bunte, farbenfrohe Welt in schwarze Rauchwolken gehüllt wird. Maskierte und damit gesichtslose, hasserfüllte Männer einer marodierenden Bande überfallen das Dorf, brandschatzen es und vertreiben seine Bewohner*innen. Auch Kyonas drangsalierte Familie begibt sich überstürzt auf die Flucht, während über den Köpfen der Fliehenden eine dunkle Rabenschar den Himmel fast zu einer Nacht verdunkelt. Von überall her scheinen die Menschen zu fliehen und „alle haben ihre Gründe“, wie es einmal heißt. Die permanente, nahezu apokalyptische Bedrohung derjenigen, die ihre Heimat verloren haben und täglich neuen Gefahren ausgesetzt sind, bestimmt dann auch Kyonas weiteren Weg, als sie und Adriel brutal von ihrer Familie getrennt werden und im weiteren Verlauf ihrer Odyssee allein auf sich gestellt sind.

Florence Miailhe erzählt in ihrem aufwändig gestalteten Film, der von Erinnerungen ihrer einst aus Odessa vor antisemitischen Pogromen geflohenen Großmutter inspiriert wurde, eine aktuelle, zeitlose und universelle Geschichte. Zusammen mit verschiedenen internationalen Teams aus Zeichner*innen hat sie dafür Bilder animiert, die direkt unter der Kamera mit Öl auf Glasplatten gemalt wurden. Diese mit breitem Strich und sanft verspielten Tupfern aufgetragenen Malereien bestechen vor allem durch eine intensiv leuchtende Farbigkeit, die alles Dunkle und Graue illuminiert und über alle schrecklichen und schmerzhaften Erfahrungen triumphiert. Beseelt von einer märchenhaften Phantasie, verbindet die renommierte französische Animationskünstlerin die Erzählung über die Wechselfälle einer gefahrvollen Flucht zugleich mit einer Coming-of-Age-Geschichte.

„Die Geflüchteten verließen sich auf ihr Glück“, heißt es einmal. Getrennt von ihren Eltern, landen die unzertrennlichen Geschwister zunächst in einer fremden Stadt, wo sie sich der Straßenkinderbande des cleveren Iskender anschließen. Doch auch der Anführer der „Raben“, der sich außerdem in Kyona verliebt, kann nicht verhindern, dass die Geschwister vom skrupellosen Menschenhändler Jon an ein reiches Ehepaar verkauft werden. Von hier aus führt sie die Flucht, als wären sie Hänsel und Gretel, schließlich durch einen unheimlichen winterlichen Wald, in dem sie sich durch einen Schneesturm verlieren. Gerettet von einer alten, guten Hexe, findet Kyona ihren Bruder im beginnenden Frühjahr wieder bei einer fahrenden Zirkustruppe. Eine freundliche Elster wird dabei zur treuen Begleiterin des nunmehr erwachsenen Mädchens.

Doch die Flucht, die voller Abschiede ist und auf der Kyona immer wieder Menschen verliert („Mein Herz war zu einem Sieb geworden.“), ihnen auf wundersame Weise aber manchmal auch wiederbegegnet, ist hier noch nicht zu Ende. Bevor sie zusammen mit Adriel in ein Internierungslager gesteckt wird und schließlich kurz darauf die letzte Grenze in eine ungewisse Zukunft überschreitet, gibt ihr die „Madame“ genannte Zirkusvorsteherin eine Erkenntnis mit auf den Weg: „Nichts ist nur schwarz oder weiß. Das Leben ist grau. Wenn du durchkommen willst, musst du lernen, die Grautöne zu sehen.“

Barzakh

(FIN 2011, Regie: Mantas Kvedaravicius)

In der Nicht-Welt
von Jürgen Kiontke

Das Bild einer einsamen Frau, das im Regen verschwimmt. Ihre Klagen verwischen, verlaufen wie die Farben, die Landschaft, der Mensch. Mit dieser Einstellung beginnt Mantas Kvedaravicius’ Dokumentarfilm „Barzakh“. Ein Mensch, …

Das Bild einer einsamen Frau, das im Regen verschwimmt. Ihre Klagen verwischen, verlaufen wie die Farben, die Landschaft, der Mensch. Mit dieser Einstellung beginnt Mantas Kvedaravicius’ Dokumentarfilm „Barzakh“. Ein Mensch, der das Verschwinden betrauert: Der Sohn wurde entführt, er wird wohl nie wiederkommen.

Das von Krieg und Folter gezeichnete Tschetschenien ist der Ort der Handlung dieses eindrucksvollen Films: Städte, in denen Moscheen neben Foltergefängnissen stehen und in denen Auskünfte über den Verbleib von Menschen weniger glaubwürdig sind als die Voraussagen von Wahrsagerinnen.

Der 35-jährige litauische Regisseur, der derzeit in Cambridge studiert, besuchte für seinen ersten Film Angehörige von Verschwundenen. Von Beamten soll der junge Verwandte abgeführt worden sein, ganz offiziell, das haben Zeugen beobachtet. Dennoch kennt niemand seinen Aufenthaltsort.

Die Menschen berichten von unerhörten Vorgängen. Mit seinem Kamerateam besuchte Kvedaravicius auch ehemalige Gefängnisse. Dabei gelingen ihm einige der härtesten Bilder: Etwa wenn die ehemaligen Häftlinge ins Bild rücken und davon erzählen, was dort geschehen ist. Ihnen allen fehlen die Ohren – weil sie im Gewahrsam abgeschnitten wurden.

Von einem besonderen Platz an der Grenze der Welt handelt dieser Film. Sein Name gibt den Titel vor: „Barzakh“. Einer alten Sufi-Legende zufolge liegt er zwischen Leben und Tod, ist eine Nichtwelt. Wer hier landet, gehört weder zu den Lebenden noch zu den Toten.

„Barzakh“, gerade einmal eine Stunde lang, setzte auf den diesjährigen Berliner Filmfestspielen vom 10. bis zum 20. Februar in der Sparte Panorama Maßstäbe im Kino der Menschenrechte. Wie seine Protagonisten zwischen Leben und Tod feststecken, so wandelt auch der Film auf den Grenzen des Genres. Diese Kunst der Darstellung beeindruckte auch die Amnesty-Filmjury – Schauspielerin Juliane Köhler, Regisseur Hans-Christian Schmid und Amnesty-Generalsekretärin Monika Lüke –, die den diesjährigen Preis an „Barzakh“ vergab: „Der Film zeigt eindringlich die lähmende Ungewissheit und den Schmerz der Wartenden, deren Leben stillsteht“, begründete die Jury ihre Entscheidung.

„‚Barzakh‘ dokumentiert nicht, der Film beobachtet nicht aus der Distanz – sondern er schafft Nähe. Wer diesen Film sieht, ist in Tschetschenien. Der Regisseur nimmt die Zuschauer mit in das Dorf, in das Leben und in die Seelen der Menschen.“
Durch den mit 5.000 Euro dotierten Preis will Amnesty International die Aufmerksamkeit von Fachleuten und Publikum auf das Thema Menschenrechte lenken und Filmemacher dazu ermutigen, sich dieses Themas verstärkt anzunehmen.
15 Filme waren dieses Jahr nominiert. Darunter so schöne Werke wie der spanische „Tambien la Iluvia“ von Icíar Bollaín. Er handelt vom Wasserkrieg in Bolivien im Jahr 2000 bzw. 2005. Ein gelungener Film über den Kampf um die Privatisierung der Grundversorgung in Südamerika.

In der Auswahl stand natürlich auch der Wettbewerbssieger „Nader und Simin: Die Trennung“ aus dem Iran – nicht nur ein brillanter Film, sondern auch einer mit besonderer politischer Brisanz, dadurch, dass Jafar Panahi, Kollege des Regisseurs Asghar Fahadi, in der Hauptjury der Berlinale sitzen sollte, jedoch nicht aus seinem Heimatland ausreisen konnte. Ihm drohen nach einem Gerichtsverfahren sechs Jahre Haft und 20 Jahre Berufsverbot. Seit dem vergangenen Jahr stand Panahi im Mittelpunkt mehrerer Amnesty-Initiativen und Urgent Actions. Auch der iranische Filmemacher Mohammed Rasulof ist derzeit von Gefängnis bedroht. Der Vorwurf lautet: „Propaganda gegen das System.“ Beide Künstler hatten sich offen auf die Seite der Opposition gestellt. Fahadi erklärte sich mit ihnen solidarisch. Sein Film bekam nicht weniger als drei Bären, die offiziellen Auszeichnungen der Berlinale – die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit war gegeben.

Wie diskutierte angesichts der politischen Großwetterlage die Amnesty-Jury? „Unsere Entscheidung stand schnell fest“, sagt Juliane Köhler dem Amnesty Journal. „Wir haben uns bewusst für einen ‚kleineren‘ Film entschieden – um jenen zu helfen, die nicht so viel Unterstützung bekommen.“

Auch der künstlerische Anspruch habe die Jury überzeugt, sagt Köhler. „Barzakh“ sei ein Dokumentarfilm, der wie ein Spielfilm gemacht sei. Und dazu handelt es sich auch noch um ein Filmdebüt – zu einem Thema, das aus der Öffentlichkeit nahezu verschwunden ist, beinahe so wie die Menschen, über die der Film berichtet. Nach wie vor stellt der Amnesty-Länderbericht für Tschetschenien schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen fest: „Nach den zwei Kriegen in Tschetschenien, in deren Umfeld praktisch jede Familie der kleinen Republik im Nordkaukasus Angehörige durch willkürliche Tötungen, Folter und ‚Verschwindenlassen‘ verlor, hat sich die Lage dort nur scheinbar beruhigt.“

Wer Kritik übe, könne Opfer von Folter und Mord werden; „die Verantwortlichen gehen nach wie vor straffrei aus“. Gern sei von offizieller Seite von Normalität die Rede. Ein Zustand, der so nicht existiere.,“Ich habe nach einer Möglichkeit, einer Sprache gesucht, um die Gefühle der Menschen zu transportieren“, sagt Regisseur Kvedaravicius dem Amnesty Journal. Sich selbst sieht er gar nicht in erster Linie als Filmemacher, aber er hat offensichtlich ein gutes Auge für das Team: Als Produzenten konnte Kvedaravicius immerhin den finnischen Ausnahme-Regisseur Aki Kaurismäki gewinnen. Der Amnesty-Preis sei für die Menschen, die er zeige, eminent wichtig, sagt Kvedaravicius: „Es ist ihr Film.“

Das große Thema der diesjährigen Berlinale hieß: Beziehungen. Viele Filme spiegelten das Verhältnis der Menschen untereinander, die Veränderungen im Privaten angesichts gesellschaftlicher Transformation. Ein Aspekt, den auch Kvedaravicius’ Film aufnimmt, in ganz eigener Weise: „In Tschetschenien sind Beziehungen elementar wichtig“, sagt der Regisseur. „Von diesem Film habe ich mir erhofft, mit vielen Leuten in Beziehung zu treten. Ich habe mich dafür entschieden, einen Film zu machen, weil ich nach einer universellen Sprache gesucht habe, einer Sprache, die weltweit verständlich ist. Film ist diese Sprache.“ Nichtsdestotrotz arbeitet der Regisseur auch an einem Buch zum Thema Tschetschenien.

Wer „Barzakh“ sieht, lernt zugleich etwas über das Kino selbst. Doch ob der Film in Grosny laufen kann, ist ungewiss.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 19.05.2011 in Amnesty Journal.

Abteil Nr. 6

(FI/DE/ES/RU 2021, Regie: Juho Kuosmanen)

Tragik einer beschissenen Gesellschaft
von Katrin Hildebrand

Im Roman, der 2011 erschien, ist es ein Geliebter. Im Film, der 2021 in Cannes seine Premiere hatte, ist es eine Geliebte. Im Roman schweigt die Protagonistin ausgiebig, im Film …

Im Roman, der 2011 erschien, ist es ein Geliebter. Im Film, der 2021 in Cannes seine Premiere hatte, ist es eine Geliebte. Im Roman schweigt die Protagonistin ausgiebig, im Film spricht sie schließlich doch immer wieder. Es ist wie so oft: Die beiden Kulturerzeugnisse haben zwar denselben Titel, „Abteil Nr. 6“, und die Verfilmung bezieht sich auch tatsächlich auf das Buch. Doch folgen beide Werke jeweils einem ganz anderen Rhythmus und erzählen unterschiedliche Geschichten. Die Leinwandadaption von Rosa Liksoms Roman „Abteil Nr. 6“ wird mal als Drama und Komödie beschrieben, mal unter Road Movie oder Romanze einsortiert. Und irgendwie trifft alles zu – nur „Road“ ist falsch. Denn während die Figuren in einem Road Movie mit Hilfe eines Autos irgendeiner Art von Freiheit entgegenrollen, rattert hier der Zug: In ihm zu reisen ist weder beglückend noch befreiend, vielmehr geht es eng und unbequem zu, bisweilen ist es dröge, doch immer wieder findet sich Zeit zur Kontemplation. Eine lange Zugreise ist fürs Individuum immer zugleich eine Reise ins Innere. Das gilt natürlich nicht für saufende Fußballfans oder sandwichessende Familien, die vor lauter Mampf die Maskenpflicht vergessen: Nur wer allein fährt, wird auf sich selbst zurückgeworfen, muss mit sich und den eigenen Gedanken vorliebnehmen. Das ist freilich ein Zustand, dem der infantile Mensch in einer westlichen Gesellschaft, in der man zwischen einem Agenturtrottel-Arbeitsplatz, einer meist heterosexuellen Pärchenmatrix und einem verblödeten Freundeskreis voller Angeber und Schnittchen vor sich hin existiert, kaum gewachsen ist.

In Juho Kuosmanens Film geht es zum Glück nicht so zu: Da sitzt mit Laura (Seidi Haarla) eine junge, schwärmerische Intellektuelle im Zug, mit dem Rücken in Fahrtrichtung. Die in Moskau lebende finnische Archäologiestudentin will die Petroglyphen nahe der Hafenstadt Murmansk sehen und tuckert daher nach Norden. Eine lange Reise, die viel Einsamkeit und Melancholie verspricht. Denn ihre ältere Geliebte, eine Wissenschaftlerin mit dem nahezu perfekten Leben der urbanen Bohemienne, kann nicht mit ihr kommen. Und diese Geliebte, so stellt sich im Lauf der Zeit heraus, bereut das kein bisschen. Die reisende, sich aber im Herzen zurückgelassen fühlende Laura wiederum ist kein Filmschnittchen: weder kulleräugige Zuckerschnute noch perfekt gestylte Kämpferin, weder verhärmte Sozialdrama-Trutschn (bairisch für: beschränkte, unattraktive Frau) noch nostalgisch aufgedonnerte Diva oder – die in deutschen Filmen gern auftauchende – kesse Göre. Wie sie da abwartend und leicht betrübt, neugierig und genervt zugleich auf ihrer Sitzbank hockt, versinnbildlicht sie den Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit eines jeden Menschen: zerrissen zwischen Individualität und Gesellschaft. Sie fährt in die Kälte und trauert zugleich der Stadt hinterher. Nichts stimmt, nichts ist perfekt. Schon gar nicht der Mann, der ihr gegenübersitzt.

© eksystent filmverleih

Es ist selten, dass eine Frau im Film eine Idee verkörpert, die nicht sexistisch ist und sie nicht zur Mutter, zur Gattin oder zu irgendeinem anderen Männeranhängsel macht. Laura durchlebt auf ihrer Reise verschiedene Formen der Einsamkeit. Doch steht ihre Einsamkeit nicht für die Einsamkeit der Frau, sondern für die eines Menschen, ja des Menschseins an sich (das normalerweise stets mit dem Mann assoziiert wird). Hier ist es erst einmal die männliche Figur, die in ihrem sozialen Geschlecht gefangen ist. Zwischen der Dunkelheit, dem flauen Tageslicht des russischen Winters und dem Schein der Glühbirne des Abteils kann der Mann zunächst seinem Muster nicht entfliehen: Der junge Bergarbeiter Ljoha (Yuriy Borisov) benimmt sich schon kurz nach der Abfahrt wie der Alptraum einer jeden allein reisenden Frau: Er sexualisiert sie, palavert im Rausch über die weiblichen Geschlechtsteile, so wie man eben darüber spricht, wenn man außer der patriarchal geprägten Verachtung für alles weiblich Stilisierte nichts gelernt hat und sich eine freie Sexualität noch nicht einmal nach dem Genuss einer Flasche Wodka vorstellen kann.

Laura verfolgt zwar eine bürgerliche Unikarriere, hat aber die in diesem Milieu nicht selten gepflegte empört-bourgeoise Verachtungsattitüde nicht verinnerlicht. Das beweist sie spätestens, als sie trotz aller berechtigten Abscheu mit dem Mann gegenüber zu sprechen beginnt. Und siehe da: Ljoha besitzt eine soziale Ader.

Von Laura wiederum verlangt die Lage eine doppelte Form der Emanzipation: den Mut, all jenem Paroli zu bieten, was den Mann als Verfügenden und Gefangenen einer verstörenden Menschheitsgeschichte ausmacht, zugleich aber das Wagnis der Empathie einzugehen. Laura beginnt, Ljoha zuzuhören, und überwindet damit die Kluft zwischen dem vermeintlich höherwertigen Intellektuellen und dem, wie es der Bürger sieht, stinkenden Abschaum des Proletariats.

Neben dieser sozialpolitischen Ebene gibt es im Film noch eine existentielle: die der Einsamkeit. Einzig der Dichter darf sie genießen. Von Beginn an versucht die Kamera, dem Gefühl des Verlassenseins entgegenzuwirken und es gleichzeitig zu steigern. Ganz nah rückt sie an die Gesichter heran, so nah, dass ihre Bewegungen Schwindel, ja fast Übelkeit auslösen. Das gilt vor allem in jenen Szenen, in denen sich Laura noch in der vermeintlichen Wärme der Moskauer Intellektuellenszene bewegt: heiteres Beisammensein in dekorativen Altbauwohnungen. Das Gefühl, zu den Guten zu gehören, die Staat und Gesellschaft, Politik und Ökonomie verstanden haben. Den Selbstbetrug macht die Kamera schon sichtbar, als der Betrachter noch nicht einmal ahnt, wohin die Reise führen wird. Später werden die Bilder etwas ruhiger. Doch auch als der Film im Zug spielt, fängt er die Verlorenheit immer wieder ein: Da ist die genervte Schaffnerin, die im Lauf der Zeit von der Hexe zur Vertrauten wird. Da ist der ewig einsame, mit allen gleich anbandelnde Traveller. Seine Gitarre ist sein Kuscheltier, und obwohl er jedermenschs Freund ist, hält er die Leute niemals lange aus. Und selbst die kinderreiche Familie, die im Speisewagen einmal rund um Laura Platz nimmt, wirkt verloren und im Sumpf der Sippschaft gefangen. Trotz des Blicks auf die Tragik einer beschissenen Gesellschaft und des Menschseins an sich gelingt es diesem Film, all das hinter sich zu lassen und in wenigen Momenten eine Ahnung zu geben, was sein könnte, wenn nicht alles so wäre, wie es ist.

Diese Kritik erschien zuerst in: Konkret 04/2022

Das Ereignis

(FR 2021, Regie: Audrey Diwan)

Eine Erfahrung von Leben und Tod
von Marit Hofmann

„Wenn ich diese Erfahrung nicht im Detail erzähle, trage ich dazu bei, die Lebenswirklichkeit von Frauen zu verschleiern, und mache mich zur Komplizin der männlichen Herrschaft über die Welt.“ Die …

„Wenn ich diese Erfahrung nicht im Detail erzähle, trage ich dazu bei, die Lebenswirklichkeit von Frauen zu verschleiern, und mache mich zur Komplizin der männlichen Herrschaft über die Welt.“ Die Erfahrung, die Annie Ernaux in ihrer autobiografischen Erzählung „Das Ereignis“ sehr plastisch schildert, ist ihre illegale Abtreibung im prüden Frankreich der 60er Jahre. Die Regisseurin Audrey Diwan beschränkt sich in ihrem gleichnamigen Spielfilm auf diese unmittelbare Schilderung und lässt die Reflexionsebene weg, die Ernaux’ Bücher auszeichnet und auf der sie auf ihr jüngeres Ich zurückblickt und die Mechanismen des Erinnerns hinterfragt.

Diwan hat einen sehr körperlichen Film gedreht, der die traumatische Erfahrung angemessen drastisch ins Bild setzt, wie Ernaux, mit der die Regisseurin das Drehbuch abgestimmt hat, bestätigt. Niemand redet hier offen; um so direkter zeigt Diwan nackte, nicht sexualisierte Frauenkörper im Dampf der Gemeinschaftsduschen, Blut, Stricknadeln und andere Folterinstrumente und lässt Atem, Stöhnen und Schmerzensschreie sehr präsent erscheinen.

Die Kamera sitzt der Schauspielerin Anamaria Vartolomei, die den Film mit ihrer feinen Mimik in jeder Hinsicht trägt, förmlich im (durch den Pferdeschwanz freigelegten) Nacken. Damit sich die Zuschauerin mit der Protagonistin Anne identifiziert und aus ihrer Perspektive erlebt, wie distanzierte Ärzte, lüsterne Männer, missgünstige Kommilitoninnen, biedere Eltern, der desinteressierte Erzeuger und der verständnislose Professor die verzweifelt nach einer Lösung suchende Studentin behandeln, setzt Diwan auf ein altmodisches engeres Bildformat und eine intime Zusammenarbeit mit dem Kameramann Laurent Tangy. „Die Kamera sollte Anne sein, nicht auf Anne schauen“, so Diwan. „Er und Anamaria haben hart daran gearbeitet, im gleichen Rhythmus zu gehen, einen gemeinsamen Rhythmus zu finden.“

© Prokino

Wir laufen mit Anne gegen den Strom sorgloser Studierender, denn seit der Feststellung der Schwangerschaft, die das Ende ihres Studiums zu sein droht und damit auch die Möglichkeit, aus der Arbeiterklasse aufzusteigen, fällt sie förmlich aus ihrem Leben und dem der anderen heraus, als wäre sie eine Aussätzige. „Die Zeit war nicht mehr eine Reihe von Tagen, die mit Unterricht und Papieren gefüllt werden mussten, sondern sie war zu dem formlosen Ding geworden, das in mir wuchs“, heißt es in dem 2021 mit 20 Jahren Verspätung auch auf Deutsch erschienenen Buch. In dem im selben Jahr in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten Film sind die immer bedrohlicher verstreichenden Wochen als Zeitangabe eingeblendet, ein grausamer Countdown.

An Vartolomeis Gesicht kann man die Distanz zu ihrer Umwelt ablesen, das Leiden unter der „Krankheit, die Frauen zu Hause hält“ und die sie und mögliche Mitwisserinnen und Helfer zu Kriminellen macht – ihr Dilemma, so Diwan: „Ihr Leben riskieren und abtreiben oder das Baby bekommen und ihre Zukunft opfern. Körper oder Geist.“ Ihre Bücher nutzt die Literaturstudentin, die Schriftstellerin werden will, nun als Hanteln, um durch Extremsport einen Abgang des Fötus zu befördern, aber dazu taugen sie nicht.

Dennoch erscheint Anne nicht als Opfer, sondern als Kämpferin, die Männern herausfordernd in die Augen schaut und in ihrem Liebes- wie Berufsleben selbstbestimmt und unabhängig sein will. Wie das Buch geht der durch sparsame Kulissen und kühle Farben überzeitlich gehaltene Film weit über die individuelle Erfahrung hinaus. Vieles lässt an aktuelle Formen struktureller Benachteiligung von Frauen in Medizin und Gesellschaft denken, die nicht nur Abtreibung nach wie vor zu einem Tabu und einer Privatsache machen. Ernaux, die „Ethnologin ihrer selbst“, nennt das, was sie erlebt hat, „eine allumfassende menschliche Erfahrung […], eine Erfahrung von Leben und Tod, von Zeit, von Moral und Tabu, von Gesetz, eine ganz und gar körperliche Erfahrung“. Am Ende des Films folgen wir der knapp dem Tod Entronnenen zurück in die Welt, in den Hörsaal zum Examen. Das letzte, was wir hören, ist das Kritzeln auf Papier.

Diese Kritik erschien zuerst am 31.03.2022 in: ND

The Case You – Ein Fall von vielen

(DE 2020, Regie: Alison Kuhn)

Systematische Übergriffigkeit
von Jürgen Kiontke

„Schön, dass du heulst. Du kommst ja heute richtig gut in die Emotionen.“ Die jungen Schauspielerinnen sind zu einem Filmcasting gegangen, sie dachten, es handele sich um seriöse Filmrollen, dabei …

„Schön, dass du heulst. Du kommst ja heute richtig gut in die Emotionen.“ Die jungen Schauspielerinnen sind zu einem Filmcasting gegangen, sie dachten, es handele sich um seriöse Filmrollen, dabei war es wohl ein „Experiment“: Sie wurden zu Dingen gezwungen, die sie nicht machen wollten, mussten sich teilweise ausziehen, weil das angeblich zur Filmvorbereitung gehörte, ihre Körper wurden abfällig kommentiert und beschimpft wurden sie auch noch.

Und dabei wurden sie ungefragt gefilmt, das Material zu einem Dokumentarfilm über übergriffiges Verhalten am Filmset zusammengekleistert, der dann auch noch Preise gewann. That’s business.

Alison Kuhn hat für ihren ersten Film „The Case You“, der gleich einer übers Filmemachen insgesamt wurde, fünf der Teilnehmerinnen des ominösen Castings in szenischen Abläufen erneut vor die Kamera geholt. Diesmal aber erzählen die Protagonistinnen ihre Version der Dreharbeiten und wie sie den Umgang mit anderen miterlebten. Denn nicht nur sie, sondern auch viele andere Frauen, zum Teil im Alter von 14 Jahren, wurden vor der Kamera rundgemacht – und am meisten ausgerechnet von der Produzentin des Films.

Das Erlebte kommt in Alisons Film nun im geschützten Raum – einem Theater – zur Sprache. Die Darstellerinnen erarbeiten sich im Reenacting, im inszenierten Wieder-Durchleben, was damals geschah, was es mit ihnen gemacht hat, und wie sie heute zum Beruf der Schauspielerin stehen. Regisseurin Kuhn selbst hat mit diesem Film natürlich schon ihr Statement abgegeben. Denn auch sie war eine der Frauen, die an dem Casting teilnahmen.

In „The Case You“, gedreht 2020, verständigen sich die Darstellerinnen auf ein weiteres Vorgehen, während noch Prozesse in ihrer Sache anhängig sind. Ein Film, der die Me-Too-Debatte dezidiert im Schild führt, man erinnere sich an die Vorgänge und Aussagen rund um den Prozess gegen US-Filmmogul Harvey Weinstein, in dessen Produktionsfirma Übergriffigkeit zum System gehörte.

Der betroffene Regisseur und sein Film werden übrigens nie namentlich erwähnt. Einerseits mag dies wohl rechtliche Ursachen haben, aber Kuhn wollte darüber hinaus sicherstellen, dass die Erfahrungen der Schauspielerinnen im Zentrum stehen.

Diese Kritik erschien zuerst am 24.03.2022 auf: links-bewegt.de

Petite Maman

(F 2021, Regie: Céline Sciamma)

Zeitreise mit einem intimen Ziel
von Marit Hofmann

Kannst du dir deine Mutter als Kind vorstellen? Hättet ihr als Gleichaltrige befreundet sein können? Die achtjährige Nelly geht in „Petite Maman“ diesen Fragen auf den Grund. Als ihre Großmutter …

Kannst du dir deine Mutter als Kind vorstellen? Hättet ihr als Gleichaltrige befreundet sein können? Die achtjährige Nelly geht in „Petite Maman“ diesen Fragen auf den Grund. Als ihre Großmutter stirbt und die Familie das Haus ausräumt, hält die depressive Mutter Marion der Trauer und den Erinnerungen im Haus ihrer Kindheit nicht stand und lässt Nelly dort mit dem Vater zurück. Nelly geht in den Wald vor der Tür, um die Stelle zu suchen, an der ihre Mutter als Kind ein Baumhaus gebaut hat, und begegnet dort Marion als achtjährigem Mädchen.

Der Übergang zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit geschieht ganz unvermittelt ohne Erklärungen und ohne filmische oder mystische Zeitreisetricks. Geschmeidig bewegt sich Nelly zwischen den Welten hin und her. Zusammen mit ihrer bewährten Kamerafrau Claire Mathon, die traumschöne Bilder vom herbstlichen Wald (tatsächlich ein Kindheitsort der französischen Regisseurin) zaubert, bemüht sich Céline Sciamma in ihrem während des Lockdowns Ende 2020 im Großraum Paris gedrehten Film um Zeitlosigkeit der Szenerie. „Nicht um eine touristische Zeitreise“ geht es ihr, „sondern um die Möglichkeit, Raum und Zeit miteinander zu teilen, eine Zeitreise mit einem sehr intimen Ziel“.

Bei ihrer Begegnung auf Augenhöhe füllt Nelly sowohl die Rolle der besten Freundin als auch der Schwester aus, die die kleine Marion sich schon lange wünscht, und hilft beim Pfannkuchenbacken und beim Bau des Baumhauses, sodass es noch besser wird „als vorgestellt“ – es ist eine Freude, dem oft improvisierten, sehr natürlichen Spiel der Zwillinge Joséphine und Gabrielle Sanz zuzusehen, besonders wenn sie kichern.

Die Tochter übernimmt jedoch auch eine Fürsorgerolle, die eigentlich Erwachsene innehaben sollten. Sie hört Marion zu, die mit einer chronisch kranken Mutter aufwächst, geht auf ihre Ängste ein und ermutigt sie, Schauspielerin zu werden. Psychologinnen könnten hier Parentifizierung wittern, eine gefährliche Umkehr der Rollen. Gleichzeitig sorgt Nelly für sich selbst, indem sie auf ihrer Zeitreise den versäumten Abschied von der Großmutter nachholt; und die kindliche Marion nimmt ihrer Tochter die Schuldgefühle („Du hast nicht meine Traurigkeit erfunden“) – und vielleicht sogar die Angst, ein ungewolltes Kind zu sein: „Ich denke jetzt schon an dich.“

Wo Erwachsene im Irrglauben, Kinder zu schützen, indem sie ihnen Unangenehmes verschweigen, oft Schaden anrichten, wird hier eine Utopie lebendig – gegenseitiges Verständnis, jenseits aller Hierarchien. Zwischen Mutter und Tochter entsteht eine Offenheit, die vorher, über die Generationengrenze hinweg, nicht möglich war. Man kann das Ganze als Bewältigungsstrategie der sich selbst überlassenen Nelly deuten, die sich auf eine imaginierte Suche nach den Gründen für die Traurigkeit der Mutter begibt – aber das würde nicht weit genug gehen. Denn Nellys Reise scheint auch die erwachsene Mutter beeinflusst zu haben. Als sie zurückkehrt, sind sich beide näher als zuvor.

In einem Theaterstück, das die Mädchen in der kurzen gemeinsamen Zeit mit verteilten Rollen einüben, verarbeiten sie Themen wie ungeplante Schwangerschaft und die Rolle alleinerziehender Mütter. Das Motiv der weiblichen Solidarität zieht sich durch Sciammas Werk, das sich feministischen und queeren Themen widmet und etwa in „Tomboy“ (2011) auch ein jugendliches Publikum adressiert.

„Petite Maman“ ist nicht nur formvollendet elegante Filmkunst, sondern hat eine geradezu therapeutische Dimension und löst bei der Zuschauerin unwillkürlich Gedanken an die eigene Familiengeschichte aus. Sciamma hat „Petite Maman“ bewusst in einer kindgerechten Länge von 70 Minuten gehalten und wünscht sich, dass Kinder zusammen mit ihren Eltern und Großeltern ins Kino gehen. Kann es einem Spielfilm gelingen, Ältere dazu zu animieren, sich mit ihrem inneren Kind auseinanderzusetzen, und Barrieren zwischen den Generationen und die in Familien verbreitete Sprachlosigkeit abzubauen? Den Versuch ist es wert.

„Es ist eine Zeitreise, um Menschen wieder zu vereinen“, sagte Sciamma in einem Interview. „Und das ist etwas, was wir tatsächlich tun können. Wir haben diese Reisemaschine in uns.“

Diese Kritik erschien zuerst am 14.06.2021 in: ND

Luchadoras

(DE/ME 2021, Regie: Paola Calvo, Patrick Jasim)

Acknowledge them
von Jürgen Kiontke

In der mexikanischen Ciudad Juárez, laut ihrer Bewohnerinnen die gefährlichste Stadt für Frauen auf der ganzen Welt, hat sich im Schatten anderer Sportarten das Frauen-Catchen etabliert. Nun ist der „Lucha …

In der mexikanischen Ciudad Juárez, laut ihrer Bewohnerinnen die gefährlichste Stadt für Frauen auf der ganzen Welt, hat sich im Schatten anderer Sportarten das Frauen-Catchen etabliert. Nun ist der „Lucha Libre“ neben Fuß- und Baseball zu einer beliebten Sportart in ganz Mexiko geworden, er findet in großen und kleinen Hallen und Ligen statt. Zur Ausrüstung der Kämpfer_innen gehört immer die charakteristische Maske, mit deren Tragen die Akteurinnen sich zu Superheldinnen stilisieren.

Paola Calvo und Patrick Jasim haben über die Protagonistinnen dieses Gewerbes, dessen Wettkampf-Honorare einigen ein zusätzliches Einkommen beschert, einen wunderschönen, einfühlsamen und mitreißenden Dokumentarfilm gedreht.

Ciudad Juárez ist als verlängerte Werkbank der USA bekannt, viele Montagefabriken gibt es hier. Das durchschnittliche Monatseinkommen liegt bei 300 Dollar. Viele Frauen arbeiten in den Werkstätten, hier setzt der Film an: Denn die Arbeiterinnen fahren spät abends allein mit dem Bus nach Hause. Eine gefährliche Fahrt, erzählen sie: Entweder wird gleich der Busfahrer übergriffig oder Banditen stehen bereit, sie zu entführen und Lösegeld zu verlangen. Wer nicht zahlen kann, endet als Leiche in der Wüste vor den Toren der Stadt.

Wir erfahren wie nebenbei von diesen Verhältnissen, während die spektakulären Bilder der Kämpfe gezeigt werden. Denn immer im Mittelpunkt des Films stehen die furchteinflößenden Kämpferinnen mit ihren so fantasievollen wie naheliegenden Noms de guerre: Mini Serenita ist selbstredend kleinwüchsig und Baby Star noch nicht mal volljährig.

Mit dem vermeintlich brutalen Sport – oft genug freundliches, aber wild aussehendes Umherwerfen – kompensieren sie ihre gewaltvolle Umgebung, ihre reale Unterlegenheit. Sie schlüpfen in ihre Superheldinnenrolle im Ring, um zu vergessen, dass auch Familienangehörige zu den Opfern gehören. Gemeinsam mit dem Publikum praktizieren sie ihre symbolische Rache am Patriarchat. „Frauen sollen sich organisieren“, sagt Lady Candy. In ihrem Land werde alle zwei Stunden eine Frau getötet, sie selbst war wie viele ihrer Mitstreiterinnen bereits Gewalt ausgesetzt. Von ihrem Ex-Partner bekam sie „eine Pfanne ins Gesicht“.

Die Luchadoras steigen in den Ring, kämpfen gegen ihre Angst, gegen Unterdrückung und beschissene Verhältnisse, die sie nicht länger hinnehmen wollen.

Diese Kritik erschien zuerst am 14.03.2022 auf: links-bewegt.de

Vatersland

(DEU/BEL 2020, Regie: Petra Seeger)

Jetzt einmal bitte hübsch lächeln
von Marit Hofmann

„Mädchen gehören vor die Kamera.“ Marie, die Tochter des Werksfotografen, darf nur für die Herren hinter der Kamera posieren und soll sich ansonsten um ihre Belange, sprich: den Haushalt, kümmern. …

„Mädchen gehören vor die Kamera.“ Marie, die Tochter des Werksfotografen, darf nur für die Herren hinter der Kamera posieren und soll sich ansonsten um ihre Belange, sprich: den Haushalt, kümmern. Ihren Bruder dagegen weist der Vater ausführlich in die Geheimnisse seines Handwerks ein. Vom drolligen Blondschopf, der ins Taumeln gerät und den die fürsorgliche Mama auffängt, zum „Backfisch“, der vorm Bergpanorama in die Linse lächelt – die auf Filmspulen und Fotos festgehaltene Familiengeschichte zeigt nur eine, nämlich die patriarchale Sicht der Dinge.

Als Marie, mittlerweile selbst Mutter und Filmemacherin in der Schaffenskrise, das umfangreiche Archiv ihres moribunden Vaters in einer sargartigen Truhe („meine Kindheit“) zugestellt wird, macht sie der Inhalt so wütend, dass sie beschließt, ihre Version der Geschichte zu erzählen, mithin im wahrsten Sinne des Wortes die Regie über ihr Leben zu übernehmen. Von der moralinsauren Erziehung der 50er und 60er Jahre, dem frühen Krebstod der Mutter, dem autoritären Vater, der seine Hilflosigkeit durch militärische Organisation des Haushalts („Das Klo ist die Visitenkarte der Familie, merk dir das!“) zu überdecken sucht, über die Abschiebung der Tochter ins nicht minder lebens- und lustfeindliche Klosterinternat bis zur Drangsalierung des einsamen Teenagers, der sich ganz verhalten fürs andere Geschlecht zu interessieren beginnt und zu hören bekommt: „Du verhältst dich wie eine läufige Hündin … Denkst du denn gar nicht an Mama? … Wer soll dich denn mal nehmen?“

Frei nach dem Motto des französischen Schriftstellers Claude Simon „Alles ist autobiografisch, auch das Erfundene“ nennt Dokumentarfilmerin Petra Seeger („Auf der Suche nach dem Gedächtnis“) ihr erstes fiktionales Werk ihren „Lebensfilm“. Tatsächlich stammen die so faszinierenden wie bedrückenden Originalaufnahmen familiärer Standardsituationen der Nachkriegsjahrzehnte, die Seeger höchst elegant in die Spielszenen einbettet, aus dem großen Privatarchiv ihres Vaters, zeigen also sie selbst als Kleinkind, ihre Mutter als Hausfrau, zu Beginn auch den Vater als NS-Soldaten. Dazu erklingen Schlager der Zeit, die die Verlogenheit des abgelichteten Kleinfamilienidylls unterstreichen: „Für mich gibt’s alle Tage Sonnenschein.“

In der Filmhandlung verkörpern vier Darstellerinnen Marie vom Kleinkind bis zur Erwachsenen, wobei besonders die lebendige Stella Holzapfel die Erzählung trägt und sich als Teenie-Marie schließlich auch von den 68ern emanzipiert, die zwar willkommene Vorlagen zur Rebellion gegen den Nazi-Vater und den Muff unter den Talaren lieferten, aber ebenfalls von gockelnden Männern dominiert waren.

Die Dialoge in der Gegenwartsrahmenhandlung fallen gegen die fesselnden Rückblenden und das überzeugend eingefangene Zeitkolorit der Enge hölzern aus. Alles andere als originell sind auch die Symbolbilder, die Seeger für Maries Vereinigung mit ihrem inneren Kind findet (die Erwachsene legt sich zum traurigen kleinen Mädchen, das sich in der Dunkelheit zusammengerollt hat) oder für ihre Trauer (statt ihrem Spiegelbild schaut der erwachsenen Marie auf der Wasseroberfläche das Gesicht ihrer Mutter entgegen – Margarita Broich in einer Doppelrolle).

Noch mehr stört, dass die Regisseurin und Drehbuchautorin auserzählt, was offensichtlich ist, und ihren Bildern nicht genug vertraut. Stellvertretend für die Zuschauerin müssen Maries Tochter oder ihr Gatte sich noch einmal anhören, was aus den Spielszenen deutlich herauszulesen war: „Die Kamera stand zwischen uns“ oder: „Ich dachte, ich bin schuld am Tod der Mutter.“

Am Ende stellt sich heraus, dass es sich bei den Rückblenden nicht nur um Maries Erinnerungen handelt, sondern um Szenen aus dem Film, den sie selbst als Regisseurin soeben erfolgreich abgedreht hat. Aber hätte es zu dieser runden Geschichte weiblicher Selbstermächtigung wirklich noch Maries Worte aus dem Off gebraucht? „Es war Zeit, mich aufzumachen und das Vatersland zu verlassen … mein Land zu finden, in dem ich zu Hause bin.“

Diese Kritik erschien zuerst am 09.03.2022 in: ND

Der Mann, der seine Haut verkaufte

(TUN/FRA/BEL/DEU/SWE/TUR 2020, Regie: Kaouther Ben Hania)

Kunstkapitalismus
von Jürgen Kiontke

Sam Ali hat von Syrien genug. Denn wegen einer Lappalie ist er ins Visier der Geheimpolizei geraten. Seine Freundin hat sich von ihm abgewendet. Der ohnehin labile junge Mann beschließt, …

Sam Ali hat von Syrien genug. Denn wegen einer Lappalie ist er ins Visier der Geheimpolizei geraten. Seine Freundin hat sich von ihm abgewendet. Der ohnehin labile junge Mann beschließt, in den benachbarten Libanon zu fliehen. Auch dort geht es ihm nicht besonders gut, wie wir aus dem Film „Der Mann, der seine Haut verkaufte“ der tunesischen Regisseurin Kaouther Ben Hania erfahren, dessen Hauptfigur Sam ist. Eines aber ist klar: Sam liebt die Kunst – und daran nicht zuletzt die üppigen Büfetts, die bei den Vernissagen in den Galerien Beiruts bereitstehen.

Kunst-Agentin Soraya Waldy spricht den essenden Ausstellungsliebhaber eines Tages an, und so lernt er den internationalen Star der Künstler-Szene, Jeffrey Godefroi, kennen. Bald haben die beiden eine schräge Idee: Weil Sam alles dafür tun will, nach Europa zu kommen, bietet ihm Godefroy an, ihm das Schengen-Einreisevisum auf den Rücken zu tätowieren und ihn damit auszustellen. Als Kunstobjekt hätte Sam mehr Freiheiten als ein Mensch, so die Logik. Und Godefroy würde mit der Aktion international Aufsehen erregen. Umsatzbeteiligung geht auch klar. Doch der junge Flüchtling eignet sich nicht gut zum Gegenstand. Stundenlang halbnackt still zu sitzen ist nicht immer seine Sache. So entwickeln sich schwierige Verhältnisse, in denen Sams Bewegungsdrang mit den Mechanismen des europäischen Kunstkapitalismus – Sitzen und Klappe halten – aneinandergerät.

Zwei Sphären knallen aufeinander: die des Kunstmarkts und die von allem anderen, was auf der Welt los ist. Godefroy als intelligenter Visualisierer von Wirklichkeit kommt hier durchaus an seine Grenzen. Und auch seine schlag- und denkfertige Agentin wird auf Herz und Nieren geprüft.

Ein Film über einen Handel Marke Faust – zwischen einem Privilegierten und dem Verdammten, wie Regisseurin Ben Hania sagt: Sam Ali kehrt dem Teufel den Rücken zu, weil er keine andere Wahl hat, und gerät so in die elitäre und überkodierte Sphäre der zeitgenössischen Kunst.

Die Geschichte hat einen realen, wenn auch etwas anders gelagerten Fall zum Vorbild. 2012 besuchte die Regisseurin im Pariser Louvre die Retrospektive des belgischen Künstlers Wim Delvoye. Dort entdeckte sie dessen Werk „Tim“, bei dem der Künstler den Rücken des Schweizers Tim Steiner über mehrere Jahre hinweg tätowierte und ihn so in eine menschliche Leinwand verwandelt hatte. Wie Sam im Film saß Steiner mit freiem Oberkörper auf einem Sessel und präsentierte Delvoyes Skizzen.

Diesen introvertierten Plot mit dem politischen Thema der Menschenrechte zu verknüpfen, ist die Leistung von Ben Hanias Film. Leider oft zu überdreht erzählt, ist der Film dennoch eine sehenswerte Reflexion über die heutigen Zustände.

Diese Kritik erschien zuerst am 28.02.2022 auf: links-bewegt.de

The Other Side of the River

(D/FI 2021, Regie: Antonia Kilian)

Emanzipation in Kurdistan
von Jürgen Kiontke

Hala ist erst 19 Jahre alt, musste aber schon einer arrangierten Ehe entkommen. Sich herumkommandieren zu lassen, ist nichts für die junge Syrerin. Denkste. Denn ihr Wege führt geradewegs über …

Hala ist erst 19 Jahre alt, musste aber schon einer arrangierten Ehe entkommen. Sich herumkommandieren zu lassen, ist nichts für die junge Syrerin. Denkste. Denn ihr Wege führt geradewegs über den Fluss, den Euphrat, rüber zu den kämpfenden Fraueneinheiten der kurdischen Verteidigungseinheiten. Und nicht immer kann sich die energische junge Frau an die militärischen Gepflogenheiten anpassen.

Dafür steht sie im Fokus der Weltöffentlichkeit. Sie findet sich inmitten der Verteidigungslinie gegen den Islamischen Staat und andere Horden wieder – und kann kurz drauf sogar ihre Heimatstadt Minbij befreien.

Der Hintergrund: Ab 2011 kämpften die militärischen Kräfte von Rojava, genannt YPG/YPJ, erfolgreich gegen die islamistischen Gruppen und eroberten mehr und mehr Gebiete. Der IS regierte Minbij drei Jahre lang, bis er dort rausgeschmissen wurde. Unterstützt wurden die kurdischen Einheiten von internationalen Brigaden. Als sie die Stadt einnahmen, war für Regisseurin Antonia Kilian der Moment gekommen, dorthin zu reisen und mit Unterstützung ansässiger Videojournalisten ihren Film über Hala zu drehen.

Sie ist dabei, wenn die jungen Frauen ausgebildet und in den feministischen Idealen der kurdischen Frauenbewegung unterrichtet werden. Hala ist zunächst beeindruckt und lässt sich dazu inspirieren, auch ihre Schwestern in die Freiheit zu führen. So einfach ist das dann allerdings nicht, und die Zuschauer werden Zeuginnen von Halas Kampf mit ihren Zweifeln und dem militärischen Regime, das trotz aller Freiheitsversprechen nun einmal in Kurdistan herrscht.

Antonia Kilian schildert in ihrem auf vielen Festivals erfolgreich gelaufenen Film „The Other Side of the River“ den Weg Halas, der sich so grundlegend von dem anderer Jugendlicher unterscheidet. Kilian will ihren Film als Werk über Frauen in einem aufgezwungenen Krieg verstanden wissen, die sich nicht mehr länger als Opfer sehen wollen. Ein leichtes Leben ist das nicht. Ein mitreißender Dokumentarfilm, der seiner Protagonistin viel Platz einräumt. Und zeigt, wie schwierig und gefährlich Emanzipation sein kann.

Diese Kritik erschien zuerst am 24.01.2022 auf: links-bewegt.de

Wunderschön

(D 2020, Regie: Karoline Herfurth)

Optimierungsbedarf
von Jürgen Kiontke

In „Wunderschön“, der dritten Regie-Arbeit von Karoline Herfurth, geht es um Frauen, das Bild von ihren Körpern in der Öffentlichkeit und im Verhältnis zu sich selbst. Gibt es Idealbilder, sollte …

In „Wunderschön“, der dritten Regie-Arbeit von Karoline Herfurth, geht es um Frauen, das Bild von ihren Körpern in der Öffentlichkeit und im Verhältnis zu sich selbst. Gibt es Idealbilder, sollte man ihnen nacheifern, geht das überhaupt?

Die Regisseurin, selbst in der Hauptrolle als junge zweifache Mutter Sonja, und ihre vier Mitstreiterinnen gehen hier aufs Ganze und beweisen richtig Mut. Herfurth selbst hat sich mindestens zehn Kilo Speck angefressen, der einfach nicht in die alte Jeans passen will. Emilia Schüle spielt ihre Schwägerin Julie, die Model ist. Sie hat sich dafür dasselbe Gewicht runter gehungert. Was sie isst, erbricht sie – viel ist es nicht, was sie zu sich nimmt, und es hat meist Pulverform.

Die Tochter ihrer Agenturchefin Leyla (Dilara Aylin Ziem) geht als schwergewichtige Schülerin zum Baseball. Ein Spiel, das ihr abgehauener und daher umso mehr präsenter amerikanischer Vater als Profi gespielt hat. Die Vorlieben der fülligen Tochter bringen die sitzengelassene Mutter, gespielt von der wiederum extrem schlanken Melika Foroutan, schier zum Wahnsinn im Hass auf den Ex.

Auch Frauke (Martina Gedeck) ist mit dem Körper unzufrieden, allerdings mit dem ihres Mannes Wolf (Joachim Król). Die Anfang Sechzigjährigen versuchen es mit einem Tangokurs, aber nur Frauke kommt dabei in die Gänge – mit dem Tango-Lehrer. Bald geht sie allein zum Kurs, ein kurzer Kuss stürzt sie in arge Zweifel über ihre langjährige Ehe. Und da wäre noch Vicky (Nora Tschirner), Sonjas beste Freundin, die herumläuft wie in den fünfziger Jahren, eine Affäre mit dem neuen Sportlehrer ihrer Schule beginnt und ansonsten eine recht indifferente Rolle einnimmt.

Schönheitsoperationen, exzessiver Sport, Hungern – „Wunderschön“ nimmt sich den Wahn der Oberflächenperfektion vor. Der Vergleich mit Nachbarinnen, Freundinnen und Kolleginnen ist bitter real. Und geht es denen nicht wirklich besser, sind sie nicht schöner und schlanker? Dieser Film lebt von diesem vermeintlichen Gefälle. Und er hätte ein Meisterstück werden können, mit Filmen wie „Titane“, „Joker“ oder „Black Swan“ und anderen Werken, die Körperlichkeit extrem in Szene setzen, in einer Liga spielen.

Leider tut er es nicht. Denn erstens vertraut der Film kaum auf seine Darstellerinnen, die oft genug wirken, als seien sie nur zum Drehbuchaufsagen gekommen. Eine furchtbare Filmmusik sorgt für weitere schlimme Momente – es vergehen kaum fünf Minuten, bis ein sehr gewöhnlicher Filmscore die Szenerie untermalt und einen zum Schmunzeln auffordern will.

Am deprimierendsten ist aber: „Wunderschön“ soll eine Komödie sein, wie sie zuhauf in Deutschland produziert werden. Und das passt oft nicht: Wo Verzweiflung ist, soll bitte gelacht werden. Wo Härte extrapoliert werden müsste, gibt es schlecht gespieltes Geknutsche und Beziehungsgelaber. Wo Kampf sein müsste, ist Albernheit.

An vielen Stellen hat der Film auch Probleme mit der Wirklichkeit. Dass man in über zwei Stunden fast nichts über Sonjas Beruf erfährt, aus dem sie angeblich wegen ihrer Schwangerschaft geflogen sein will, zeigt ein herbes Desinteresse an den Figuren. Wie schade.

Diese Kritik erschien zuerst am 03.02.2022 auf: links-bewegt.de

Niemand ist bei den Kälbern

(D 2021, Regie: Sabrina Sarabi)

Existentielle Verlorenheit
von Wolfgang Nierlin

Flirrende Hitze liegt über dem weiten, flachen Landstrich im Nordosten Deutschlands. Nur einige Windräder und einzelne, verstreut liegende Gehöfte ragen daraus hervor wie kleine Farbtupfer aus dem Einerlei des Ununterscheidbaren. …

Flirrende Hitze liegt über dem weiten, flachen Landstrich im Nordosten Deutschlands. Nur einige Windräder und einzelne, verstreut liegende Gehöfte ragen daraus hervor wie kleine Farbtupfer aus dem Einerlei des Ununterscheidbaren. Hier, wo die Zeit stillzustehen scheint, lebt man für sich, abgeschnitten von der Welt. Entsprechend schweigsam, mürrisch und wortkarg sind die Menschen, die sich hier hauptsächlich um Tiere kümmern und mit ihren Gefühlen nichts anzufangen wissen. Zumindest legt das Sabrina Sarabis Film „Niemand ist bei den Kälbern“ nahe, der nach dem gleichnamigen Roman von Alina Herbing entstanden ist. Dysfunktionale Familien, toxische Beziehungen und eine dominante, rechtsradikale Männerwelt zwischen Suff und Frust bilden die äußeren Eckpfeiler eines Provinzdaseins, das apathisch und perspektivlos vor sich hin dämmert.

In einem solchen Leben ist auch die einsame, aufgrund ihrer Schweigsamkeit schwer zu durchschauende Christin (Saskia Rosendahl) gefangen. Die junge, attraktive Frau mit den leuchtend blauen Augen gibt sich mit ihren knappen, körperbetonten Outfits gerne einen aufreizenden Look, wirkt aber meistens lustlos und träge, gelangweilt und gleichgültig. Nur widerwillig hilft sie auf dem Bauernhof ihres etwa gleichaltrigen Freundes Jan (Rick Okon) mit, der seine Eltern unterstützt und den Milchbetrieb einmal übernehmen soll. Zwischen den beiden herrscht aber meistens sowohl kommunikative als auch emotionale Funkstille. Sie haben weder Sex noch sonstige Freuden. Während sich Jan, den seine Arbeit stresst, verstockt, frustriert und latent aggressiv zeigt, träumt Christin ohne rechten Glauben oder überhaupt konkrete Vorstellungen von einem anderen Leben. „Irgendwas in der Stadt“ und „was Eigenes“, lauten ihre knappen Auskünfte dazu. Christin sitzt in einer Abhängigkeit fest, aus der sie sich nicht zu lösen traut.

Ihr existentielles Unbehagen wendet sie schließlich auf zerstörerische Weise gegen sich selbst. Sie lässt sich auf eine ruppige Sex-Affäre mit dem älteren, aus Hamburg angereisten Techniker Klaus (Godehard Giese) ein, der die Windräder wartet. Der verheiratete Familienvater weckt in ihr eine unbestimmte Sehnsucht und zugleich eine destruktive Energie. Christin gibt sich ihm ebenso vorbehaltlos wie leidenschaftslos hin. In ihr gärt ein Verlangen, das ohne Richtung ist und kein Ziel kennt. Ihr Mangel an Interesse kompensiert sie auf paradoxe Weise mit Passivität. Wenn sie gierig wahlweise Wasser, Limonade oder Hochprozentiges trinkt, drückt sich darin auch ihr orientierungsloser Durst nach Leben aus.

Sabrina Sarabi begleitet diese komplexe Verlorenheit einer jungen Frau in langen Handkamera-Einstellungen, die immer sehr nah bei der Protagonistin sind und ihren Körper, ihre Bewegungen und ihr Gesicht als nonverbale Äußerungen erfassen. Der Stillstand einer permanenten Gegenwart spiegelt sich ebenso darin wie der Mangel an einer erzählbaren Geschichte. Nur in vagen Andeutungen wird diese körperliche Nähe durchbrochen, erscheinen Hintergründe und nicht weiter erklärte Zusammenhänge. Diese mitunter zähe und darin sehr stilbewusste erzählerische Statik reflektiert Christins ganze Beziehungs- und Ortlosigkeit. In diese mischen sich schließlich immer mehr Bilder des Todes und der Gewalt, die am Ende zu einem eruptiven Ausbruch führen. Ob darin allerdings auch ein Aufbruch hin zu einem selbstbestimmten, entschiedeneren Handeln liegt, lässt sich allenfalls erahnen.

Bad Tales – Es war einmal ein Traum

(IT/CH 2020, Regie: Fabio D’Innocenzo, Damiano D’Innocenzo)

Familendrangsal
von Marit Hofmann

Die Männerstimme aus dem Off gibt gleich zu Beginn Rätsel auf: „Was folgt, basiert auf einer wahren Geschichte. Die wahre Geschichte basiert auf einer unwahren. Die unwahre ist eher uninspiriert.“ …

Die Männerstimme aus dem Off gibt gleich zu Beginn Rätsel auf: „Was folgt, basiert auf einer wahren Geschichte. Die wahre Geschichte basiert auf einer unwahren. Die unwahre ist eher uninspiriert.“ Die Identität dieses unzuverlässigen Erzählers bleibt bis zum Schluss im Unklaren. Er habe das Tagebuch eines Mädchens gefunden, das ihn so fasziniert, dass er es weiterführt. Tagebuch und Film erzählen von einem Hitzesommer in einem römischen Vorort wie dem, in dem die Regisseure, die Zwillinge Fabio und Damiano D’Innocenzo, aufgewachsen sind.

Was sich hinter den adretten Fassaden der bürgerlichen Einfamilienhäuser abspielt, ist auf ganz alltägliche Art grausam. In den Episoden aus verschiedenen Kleinfamilien dominieren durchgängig abstoßende Erwachsene (ihre schiefen Zähne und ihr falsches Lachen führt eine Großaufnahme vor) schweigsame Kinder; sie sexualisieren und dressieren sie nach alten patriarchalen Mustern. Da ist der Macho, der zur Masernparty lädt, als sein Sohn erkrankt, und ihm dazu Kondome aufdrängt. Da erstickt ein Kind beinah beim Grillabend im penibel gepflegten Garten und zerstört die vom Vater geplante familiäre Standardsituation. „Siehst du, was du angerichtet hast? Du hast deinen Vater traurig gemacht“, ermahnt die Mutter pflichtschuldig. Als ein Junge seinen Vater ängstlich fragt: „Ist alles okay zwischen Mama und dir?“, bezieht er Prügel. Nicht den Pubertierenden, sondern ihren Erziehungsberechtigten fehlt hier jede Impulskontrolle.

„Unser Film ist ein dunkles Märchen, das von den schlimmsten Aspekten einer Form des Kapitalismus erzählt, die weder von der Kultur noch von der Tradition her zu uns gehören, aber die wir als (provinzielle) Weltbürger meinen, irgendwie verdient zu haben“, sagen die Regisseure, die sich das Filmen selbst beibrachten und auch zusammen Gedichte veröffentlichen. „Das Zuhause – das, was man früher als Nest … bezeichnete – ist nun der Knotenpunkt von Intoleranz, Kälte und Ängsten. Ein Blick auf die Statistiken der häuslichen Morde reicht aus, um zu erkennen, dass das oft der Wahrheit entspricht.“ Die „sterilen Routinen“, in denen die Familien feststecken, und die Unfähigkeit der Eltern, zu kommunizieren und Empathie zu zeigen, sezieren die Gebrüder so, dass es wehtut.

Die wenigen Glückmomente erleben die Kinder, die insgeheim bereits an Exit-Strategien arbeiten, wenn sie sich gegenseitig nass spritzen oder ins Meer abtauchen. Das kurze Idyll im gleißenden Sonnenlicht in Zeitlupe überlagern von drohendem Sirren begleitete Nahaufnahmen von verschwitzten Körperteilen und ausschwärmenden Ameisen, die von Zersetzung und Eskalation künden.

Zwischen Erwachsenen und Kindern steht die Figur der jungen und reichlich vulgären Schwangeren Vilma, die – nun ja – ehrlicher kommuniziert. „Hey, du Spast!“ oder „Na, du Arsch“ sind ihre Begrüßungsformeln, wenn sie mit Kindern spricht. Ein Jugendlicher fragt ebenso ehrlich zurück: „Bist du wirklich sicher, dass du ein Kind willst?“

Als das Baby da ist, lassen die jungen Eltern es weinen (sicher nur ein Hund, der da jault) und malen sich eine goldene Zukunft aus, in der sie ihr Leben nun endlich ganz erwachsen auf die Reihe kriegen – bis Vilma zusammenbricht, weil sie die Lüge erkennt, die hier alle Familien leben. Die Tragödie nimmt ihren Lauf.

„Ich bereue“, bilanziert unser unsicherer Erzähler, „dass ich diese düstere Geschichte erzählt habe. Fangen wir von vorn an.“ Zu spät – diese Bilder kriegt man so schnell nicht aus dem Kopf.

Diese Kritik erschien zuerst am 05.01.2022 in: ND

Annette

(FR/BE/DE/US 2021, Regie: Leos Carax)

Nicht von dieser Welt
von Wolfgang Nierlin

Während kurze Stromunterbrechungen für Bild- und Tonstörungen sorgen, formieren sich Schauspieler und Musiker für ihren Auftritt. Derweil taucht Leos Carax, der mit dem Rücken zum Zuschauer an einem Mischpult sitzt, …

Während kurze Stromunterbrechungen für Bild- und Tonstörungen sorgen, formieren sich Schauspieler und Musiker für ihren Auftritt. Derweil taucht Leos Carax, der mit dem Rücken zum Zuschauer an einem Mischpult sitzt, aus der Unschärfe des Bildes auf. Noch tut der Film des französischen Meisterregisseurs so, als würde die Fiktion mit der angekündigten Show erst noch beginnen. Aber die Grenzen zwischen filmischer Realität und phantasievoller Fabel, zwischen Raum und Zeit, zwischen gesprochenem und gesungenem Wort sind in Carax‘ ebenso magischem wie exzessivem Musical „Annette“ aufgehoben.

Orchestriert und strukturiert von der Musik des amerikanischen Avantgarde-Pop-Duos Sparks, entfaltet der Film einen visuellen Rausch aus Farben und Licht. Im artifiziellen, opulent ausgestatteten Setting dieses überbordenden Films wird jeder Raum zur Bühne, die dann von den Helden mit dem ersten rockigen Song in einer langen, soghaften Plansequenz, aufgenommen von der renommierten Bildgestalterin Caroline Champetier, betreten wird: „Es ist Zeit, anzufangen.“

Was dann atemlos beginnt, parallel choreografiert und motivisch gegeneinander gesetzt, ist die Liebesgeschichte zwischen dem Stand-up-Comedian Henry McHenry (Adam Driver), der sich „Der Affe Gottes“ nennt, und der gefeierten Opernsängerin Ann Defrasnoux (Marion Cotillard), die sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere befindet. Während sie theatralische Tode stirbt, unterhält und „rettet“ der Provokateur im Bademantel seine Zuschauer mit sardonischem Lachen. Mit einem solchen bringt Ann schließlich als Frucht ihrer Liebe zu Henry, dabei medienwirksam begleitet, ein Kind zur Welt, von dem es heißt, es sei nicht von dieser Welt. Die wundersame Titelheldin Annette ähnelt nämlich in ihrem Aussehen und mit ihren mechanischen Bewegungen eher einer Puppe als einem lebendigen Menschen. Trotzdem wird sie irgendwann später, beseelt vom Geist ihrer toten Mutter, zum weltweit abgöttisch verehrten Baby-Star.

Doch bis es zu dieser Geistergeschichte mit messianischen Zügen kommt, erzählt Leos Carax vor allem vom Scheitern eines von der Medien-Öffentlichkeit umlagerten Künstlers an sich und an der Liebe. Von Frauen der Übergriffigkeit bezichtigt, liebeskrank und vom Publikum geschmäht, stürzt Henry ab, wird zum gefallenen Clown und verzweifelten Mörder. Zwischen elaboriertem Kitsch und hoher Kunst, deren spannungsarme Geschichte sich fast vollständig aus der Musik und der starken körperlichen Performance der Figuren im Tanz entwickelt, inszeniert Carax nicht ohne Selbstbezug die Identitätskrise eines Mannes, der dem schönen Schein und den an ihn herangetragenen Erwartungen radikal abschwört. Wo sich Sein und Schein unablässig vermischen, geht nicht nur die Wahrheit (der Kunst), sondern auch die Liebe verloren; wo Kommerz die Kunst dominiert, bleibt dem ungeliebten Künstler, so scheint es, nur noch die unfreiwillige beziehungsweise zwangsläufige Isolation.

Lamb

(IS/SE/PL 2021, Regie: Valdimar Jóhannsson)

Das Schreien der Lämmer
von Jürgen Kiontke

Island, hinter dem erloschenen Vulkan rechts: Hier züchten Maria und Ingvar Schafe. Das Leben als Lieferanten für Wolle der gehobenen Klasse blökt, ist hart und naturbelassen. Kein Instagram, kein Amazon, …

Island, hinter dem erloschenen Vulkan rechts: Hier züchten Maria und Ingvar Schafe. Das Leben als Lieferanten für Wolle der gehobenen Klasse blökt, ist hart und naturbelassen. Kein Instagram, kein Amazon, kein Fastfood.

Eines Nachts kommt im Schafstall ein Mischwesen auf die Welt und wirbelt das Leben der beiden Einsiedler gehörig durcheinander. Ada ist halb Mensch und am Kopf ein Schaf. Es frisst Gras, lässt sich aber auch gern Geschichten vorlesen.

So geht es dahin, das Leben in Valdimar Jóhannssons Fantasy-Thriller und Debütfilm „Lamb“, das Lamm. Gemächlich und unter tätiger Mitwirkung von Ingvars Bruder Petúr wird die Luft dicker im einsamen Haushalt. Und sukzessive kommt heraus, dass die beiden Brüder mal durchaus interessante Rockmusiker waren, denen das Schicksal aber irgendwann Bärte hat wachsen, das harte Landleben wählen (Ingvar) bzw. arm werden (Petúr) lassen.

Während nun Ada die Gegend erkundet und Projektionsfläche für verschiedene Arten von Aggressionen bis hin zu Mordfantasien wird, verstricken sich die drei Menschen mehr und mehr in sich selbst.

Noomi Rapace ils Maria ist mit Sicherheit eine prima Wahl für einen aus der Sagenwelt Islands beeinflussten Bioschocker in der Einöde. Nicht nur in der „Millenium“-Trilogie bewies sie Gespür für traumatisch Sagenhaftes, auch in Ridley Scotts „Prometheus – Dunkle Zeichen“ hat sie sich einen Namen als Kämpferin im Obskuren gemacht, die sich mal nebenbei selbst per Kaiserschnitt-Automat einen Alien-Embryo entfernt.

Hier spielt sie ein bisschen im Norwegerpullover vor sich hin wie der Erzählrhythmus auch nicht der allerschnellste ist. Aber tolle Landschaftsaufnahmen im Nebel!

Diese Kritik erschien zuerst am 03.01.2022 auf: links-bewegt.de

Faking Hitler

(D 2021, Regie: Wolfgang Groos, Tobi Baumann)

Falsch und Fälscher
von Marit Hofmann

Von der Achtziger-Jahre-Hertie-Tüte, die sie haben auftreiben oder nachbilden lassen, sind die Filmemacher offenbar begeistert. Mehrfach ist sie groß im Bild und muss als Transportbehältnis für die gefälschten Hitler-Tagebücher herhalten. …

Von der Achtziger-Jahre-Hertie-Tüte, die sie haben auftreiben oder nachbilden lassen, sind die Filmemacher offenbar begeistert. Mehrfach ist sie groß im Bild und muss als Transportbehältnis für die gefälschten Hitler-Tagebücher herhalten. Den üblichen Ausstattungsirrsinn deutscher Fernsehfilme inklusive großer Autoschau samt R4 und VW-Käfer sowie all die Gassenhauer im Soundtrack und die schlecht sitzenden Anzüge und Kassengestelle nimmt man noch in Kauf. Lars Eidinger darf nicht nur nach Herzenslust grimassieren auf seiner Achterbahnfahrt als Stern-Starreporter Gerd Heidemann, der 1983 vermeintlich die Tagebücher Adolf Hitlers als Knüller an Land zieht, sondern sich auch noch mit der Tochter Görings vergnügen und dabei Sätze sagen wie: „Du bist der Jackpot meines Lebens.“ Moritz Bleibtreu sächselt-schwäbelt sich gemütlich und mit viel Sympathie durch seine Rolle des knuffigen Hitler verharmlosenden Kunstfälschers Konrad Kujau („Ich mag Konrad Kujau, ich finde den einfach lustig“).

Die sechsteilige Serie „Faking Hitler“ fügt der bekannten Geschichte des Skandals um die gefälschten Hitler-Tagebücher ganz offen die Fiktion hinzu, eine Nachwuchsredakteurin habe den Abdruck der Tagebücher zusammen mit einem jüdischen Aktivisten verhindern wollen. Doch die Herren Kollegen halten die junge Elisabeth Stöckel (Sinje Irslinger) für hysterisch und feuern sie. Dafür konfrontiert sie ihren Vater Hans (Ulrich Tukur), einen linksliberalen Juraprofessor, mit seiner Nazivergangenheit, woraufhin der sich selbst als Buße für seine Beteiligung an einem Massaker in Frankreich ins Gefängnis einliefert. Selbst der jüdische Rächer Leo Gold (Daniel Donskoy), der selbstverständlich mit der engagierten Reporterin anbandelt, ist nun schwer beeindruckt von seinem Schwiegervater in spe.

Die Serie handelt von einem Fälschungsskandal und fälscht munter mit: „Faking Hitler“ zeichnet ein geschöntes Geschichtsbild, in dem Nazi-Täter sich reumütig läutern. Und das ganz ohne Kujau, der diesen Promofilm nicht mehr erleben darf.

Die sechsteilige Serie „Faking Hitler“ läuft auf RTL+ im Stream.

Diese Kritik erschien zuerst in Jungle World 50/2021.

Plan A

(D/IL 2021, Regie: Doron Paz, Yoav Paz)

Rachepläne
von Jürgen Kiontke

Deutschland 1945: Zeichenkünstler Max hat zwar das Grauen der Konzentrationslager überlebt, aber seine Familie verloren. Schuldgefühle schütteln ihn: Als Kommandomitglied hat er die Juden auf den Bahnsteigen von Auschwitz ankommen …

Deutschland 1945: Zeichenkünstler Max hat zwar das Grauen der Konzentrationslager überlebt, aber seine Familie verloren. Schuldgefühle schütteln ihn: Als Kommandomitglied hat er die Juden auf den Bahnsteigen von Auschwitz ankommen sehen, sie in die Gaskammern geleitet und anschließend ihr Gepäck durchgewühlt. Hätte er es nicht gemacht, wäre er selbst getötet worden. Die Vergangenheit lässt ihm deshalb noch lange keine Ruhe, zumal er Frau und Kind verloren hat.

Auf der Suche nach seinem früheren Leben besucht er sein Elternhaus, aber dort wohnt nun eine andere Familie. Der Hausvater schlägt Max zusammen und brüllt: „Das ist jetzt mein Haus. Glaub ja nicht, dass wir keine Juden mehr töten könnten, bloß, weil der Krieg vorbei ist!“ Der ist für Max aber gar nicht vorbei. Er schließt sich der Jüdischen Brigade an – jüdische Soldaten unter britischem Kommando, die Kriegsverbrecher und wichtige Köpfe des Nazi-Regimes aufspüren und hinrichten.

Doch die Truppe wird abberufen, und so folgt Max einer Gruppe ehemaliger Partisanen nach Nürnberg. Sie sind sich einig: Die Täter können sie nicht alle kriegen. Die Nürnberger Prozesse? Nur ein paar einzelne Figuren stehen dort vor Gericht. Gerechtigkeit sieht anders aus.

Die Gruppe um Anführer Abba Kovner, mit der Max nun zu tun hat, plant daher einen großen Anschlag: Sie wollen Gift in die Trinkwasserversorgung einspeisen und so dafür sorgen, dass sechs Millionen Deutsche sterben – für die sechs Millionen jüdischen Opfer, die in den KZs umgekommen sind. Dafür schleusen sie sich in die Wasserwerke großer deutscher Städte ein.

Die historische „Nakam“ – hebräisch für Rache -, um die es im Film geht, war eine von ukrainischen Partisanen gegründete jüdische Organisation, die sich das Ziel gesetzt hatte, sich mit dem „Plan A“ genannten Vorhaben für den Holocaust zu rächen und der Welt zu zeigen, dass die Juden in der Lage sind, sich zu wehren.

Gekommen ist es dazu nicht – schon aufgrund logistischer Probleme. So verlor Kovner einen Großteil des Giftes bereits bei einer Schiffsreise. Im Film ist es aber auch die Jüdische Brigade, die das größte Interesse hat, die Gruppe zu stoppen: In Israel ist man der Ansicht, dass es nichts wird mit dem neuen Staatsgebiet, wenn es zu einem solchen Anschlag komme. Zudem spielten, auch darauf geht der Film ein, noch andere Überlegungen eine Rolle: Die Alliierten standen in Deutschland, hatten die Wehrmacht besiegt. Auch sie wären von vergiftetem Trinkwasser betroffen. Sie von der Wasserversorgung abzukoppeln, wäre ein viel zu großer Aufwand.

Im Film sind auch die Gruppenmitglieder selbst – und nicht nur Max – nicht mehr von ihrem Plan überzeugt: Es seien schon genug Menschen gestorben, sie sehen ihre Aufgabe nicht mehr im Töten. Die Mitglieder der Gruppe um Kovner haben bis vor wenigen Jahren nie detailliert über diese Zeit gesprochen. Durch die Arbeit der Gedenkstätte Yad Vashem konnten sie jedoch dazu bewegt werden, erstmals ihre Geschichte zu erzählen.

Unter der Regie der israelischen Filmemacher-Brüder Doron und Yoav Paz – selbst Nachfahren von Holocaust-Überlebenden – ist daraus ein engagierter, eindrücklicher Spielfilm geworden; mit einem August Diehl in der Hauptrolle, der sich zunehmend auf große historische Stoffe spezialisiert.

Diese Kritik erschien zuerst am 06.12.2021 auf: links-bewegt.de

Abschied und Ankunft

(D 2021, Regie: Beate Kunath)

Stefan Heym im Film
von Jürgen Kiontke

Stefan Heym war eine prägende Gestalt des 20. Jahrhunderts. 1913 in eine jüdischen Kaufmannsfamilie in Chemnitz hineingeboren – sein damaliger Name: Helmut Flieg –, entdeckte er früh Talent und Liebe …

Stefan Heym war eine prägende Gestalt des 20. Jahrhunderts. 1913 in eine jüdischen Kaufmannsfamilie in Chemnitz hineingeboren – sein damaliger Name: Helmut Flieg –, entdeckte er früh Talent und Liebe zur Literatur. Noch als Jugendlicher veröffentlichte er das rüstungskritische Gedicht „Exportgeschäfte“ – und schon musste er auf Druck ultrarechter Kreise seine Heimatstadt verlassen. Das Abitur bestand er in Berlin, das Studium erfolgte dann schon zur Hälfte in den USA, erste Bücher und Chefredakteursposten anbei. Da tobte sich in Deutschland bereits der Nationalsozialismus aus, die Familie wurde bedroht und musste auswandern.

Heym publizierte in Deutsch wie in Englisch. Der Roman „Hostages“ brachte es bereits früh zur Verfilmung in Hollywood.

Dem Judenhass in Europa wollte er sich aber ganz praktisch entgegenstellen, er trat der US-Armee bei. „Erstmals zurückfeuern zu können, und das nicht allein, sondern mit vielen anderen“ – das hielt er für äußerst erstrebenswert.

Von der Kommunistenhatz in den fünfziger Jahren der McCarthy-Ära war er erneut bedroht, ausgerechnet in dem Land, in dem er Zuflucht gefunden hatte. Er emigrierte in die Tschechoslowakei, wo er bereits vor dem Krieg gelebt hatte. Aber die Zeiten hatten sich geändert, auch hier fühlte er sich vom aufkommenden Antisemitismus verfolgt. Und so siedelte er in die DDR über.

Gefeiert, gelobt, verboten: Nach dem 11. Plenum der SED 1965, dem eine restriktive Auslegung der Kulturpolitik folgte, konnte er nicht mehr publizieren, wie er wollte, setzte sich konsequent für andere ein, bekam Ärger mit dem Staatsapparat. Erst Jahre später sollte sich das Klima entspannen. 1989, in der Wendezeit, sprach er sich für einen demokratischen Sozialismus aus, wurde in den Bundestag gewählt und dort Alterspräsident. Er hatte für die PDS kandidiert, ohne in der Partei Mitglied zu sein. Bequemer wurde er für seine Gegner nicht, er hielt sich mit Kritik am neuen Kapitalismus bis zu seinem Tod im Jahr 2001 kaum zurück.

Man kann nur sagen: Welch ein Leben. „Stefan Heym – ein großer Humanist. Ein Sozialist. Ein unbequemer Schriftsteller“, so fasst es die Filmemacherin Beate Kunath zusammen. Wie Heym stammt sie aus Chemnitz und hat nun die Filmbiografie „Abschied und Ankunft“ über den großen Künstler gedreht.

Der Anlass: Das Archiv von Stefan und Inge Heym zog 2020 um und wurde samt Originalmobiliar seines Arbeitszimmers die Stefan-und-Inge-Heym-Arbeitsbibliothek im neu eingerichteten Stefan-Heym-Forum in seiner Heimatstadt. Kunath filmte den Umzug beiläufig, er bildet den äußeren Rahmen ihre Dokumentation. Bücher, Zeitdokumente, Schriften und Tagebücher werden gesichtet, der Film enthält viele Interview-Ausschnitte und historische Aufnahmen. Ein ganzes Jahrhundert steht hier zur Disposition.

Die Perspektive ist dabei maßgeblich von Inge Heym bestimmt, der Witwe. Selbst Dramaturgin und Lektorin, gibt sie sachkundige und nicht selten wehmütige Auskunft über ihrer beider Leben. Das Berufliche mischt sich mit dem Weltpolitischen und dann wieder mit dem Privaten: Was dieses Paar erlebt hat, ist nicht nur ein Leben mit der Literatur, sondern auch selbst Kunst. Was sich in diesem Film entwickelt, ist deutscher Antifaschismus als Teil der deutschen Geschichte in anderthalb Stunden. Ein mitreißendes Filmdokument, exzellent geschnitten und wunderbar erzählt.

Seine Berlin-Premiere feiert „Abschied und Ankunft – Die Arbeitsbibliothek von Stefan und Inge Heym“ am 30. November 2021 um 19.30 Uhr im Babylon, Berlin-Mitte, Rosa-Luxemburg-Str. 30, 10178 Berlin (2 G-Regel). Mit Gästen in Anwesenheit der Regisseurin und des Filmteams, moderiert von niemand Geringerem als Schriftstellerin und Journalistin Marion Brasch. Das wird ein interessanter Abend.

Diese Kritik erschien zuerst am 25.11.2021 auf: links-bewegt.de

Who’s afraid of Alice Miller?

(CH 2021, Regie: Daniel Howald)

"Lass uns jetzt trennen"
von Marit Hofmann

„Wenn Sie irgendjemanden schädigen, werden Sie dafür bestraft, nur nicht, wenn Sie Vater oder Mutter sind. Zum Beispiel Schlagen ist eine lebenslange Schädigung. Wenn Sie ein Kind haben, sind Sie …

„Wenn Sie irgendjemanden schädigen, werden Sie dafür bestraft, nur nicht, wenn Sie Vater oder Mutter sind. Zum Beispiel Schlagen ist eine lebenslange Schädigung. Wenn Sie ein Kind haben, sind Sie dem Kind schuldig, Schutz zu geben. Und wenn Sie nichts darüber wissen wollen, dann ist das ein Verbrechen.“

Der Schweizer Psychotherapeut Martin Miller erträgt es bis heute kaum anzusehen, wie seine berühmte Mutter Alice Miller (1923-2010) in Fernsehinterviews für Kinder Partei ergriff. Unter Tränen der Wut bricht es in Schwyzerdütsch aus ihm heraus: „Das ist einfach alles gelogen! Meine Mutter … erzählt genau das, was sie gemacht hat, und sagt, man darf das nicht machen. Und das ist meine Tragödie.“

Bereits 2013, drei Jahre nach dem Tod der Psychoanalytikerin, hatte Martin Miller versucht, sein „wahres ‚Drama des begabten Kindes'“ in einem Buch aufzuarbeiten und die Diskrepanz zwischen ihrem Einsatz für Kinderrechte und ihrer Kälte gegenüber dem eigenen Sohn, den der Vater schlägt und den die Eltern häufig weggeben, damit zu erklären, „wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken“. Doch zur Ruhe gekommen scheint Martin Miller dadurch nicht. So entschloss er sich, in Begleitung des Dokumentarfilmers Martin Howald und von Irenka Taurek, Alice Millers Cousine und ebenfalls Holocaust-Überlebende und Therapeutin, an Orte der dunklen Vergangenheit seiner Eltern zu reisen und sich ihnen bei Recherchen in Polen, den USA und Berlin anzunähern.

Vom polnischen Ghetto und der Shoa, die sie dank falscher Papiere in ständiger Angst vor Entdeckung in Warschau überlebte, sprach die Mutter nie. „Die extreme Ausbildung eines falschen Selbst“, analysiert Martin Miller, „rettete meiner Mutter während des Krieges das Leben“ – zeitlebens verleugnete sie ihre Herkunft aus einer jüdisch-orthodoxen Familie. Den erwachsenen Sohn, der unermüdlich nach Erklärungen und Nähe sucht, hält sie sich mit grausamen, im Film von Katharina Thalbach mit dämonischer Stimme vorgetragenen Briefen vom Leib, in denen sie ihn mit seinem herrischen Vater oder gar mit Hitler vergleicht. „Lass uns jetzt trennen, wie es erwachsene Menschen tun, wenn sie einsehen, dass es ihnen unmöglich ist, miteinander zu kommunizieren. Deine Mutter.“

Erst spät gesteht sie ein: „Es war mir nicht gegeben, eine gute Mutter zu sein.“ Sie habe auf Martin „Dinge projiziert, die mit ihrer früheren Verfolgungserfahrung zu tun hatten“, urteilt der Therapeut, den Alice Miller erst mit fast 80 Jahren konsultiert und der Schweigepflicht entbunden hat. „Who’s afraid of Alice Miller“ belegt mustergültig die transgenerationale Weitergabe von Traumata und zeigt gleichzeitig den Versuch, den Teufelskreis zu durchbrechen.

Oft sieht man dem vom Leben gezeichneten 70-jährigen Sohn und seiner emphatischen Tante, ein Gegenbild zur Mutter, schlicht dabei zu, wie sie vorm Computer sitzen, Fotos sichten und in immer neuen Städten, Hotels und Archiven ankommen, was zu etwas spröden Filmbildern führt. Die Zuschauerin bekommt nicht wie üblich die Ergebnisse serviert, sondern ist bei der mühevollen und oft unbefriedigenden Recherche dabei, zu der verwirrend viele Personen (Verwandte, Zeitzeuginnen, Psychologen, Historikerinnen, Journalisten) beitragen, sodass der Film streckenweise wenig fokussiert wirkt. Doch spätestens, als am Ende alle um einen Tisch sitzen und mit viel Verständnis für alle Leidtragenden in dieser Geschichte Bilanz ziehen, versteht man: Bei seiner Suche hat Martin Miller eine Ersatzfamilie gefunden. Zu hoffen ist, dass sein persönliches Drama des begabten Kindes nun ein ruhigeres Ende findet: „Ich bringe die Gefühle meiner Eltern nach Polen zurück und kehre mit eigenen zurück“, resümiert er. Dass jedoch seine wertvolle Stütze Irenka Taurek kurz nach den Dreharbeiten starb, ist ein weiterer Schlag, den er verkraften muss.

Diese Kritik erschien zuerst am 11.11.2021 in: ND

Futur Drei

(D 2020, Regie: Faraz Shariat)

Sozialstunden im Asylbewerberheim
von Jürgen Kiontke

Gerade 27 Jahre alt ist der Regisseur Faraz Shariat. Nach einigen Schauspielrollen ist er nun hinter die Kamera gewechselt und hat mit „Futur Drei“ sogleich einen abendfüllenden Spielfilm gedreht. Sein …

Gerade 27 Jahre alt ist der Regisseur Faraz Shariat. Nach einigen Schauspielrollen ist er nun hinter die Kamera gewechselt und hat mit „Futur Drei“ sogleich einen abendfüllenden Spielfilm gedreht. Sein Protagonist ist Parvis, dessen Eltern vor Jahren aus dem Iran nach Hildesheim gekommen und dort längst etabliert sind. Der homosexuelle Sohn aus besseren Kreisen hat es sich zwischen Sex-Dates und Dachstuhl des elterlichen Hauses gemütlich gemacht.

Ein Diebstahl bringt dem queeren Hipster 120 Sozialstunden ein, die er in einem Asylbewerberheim absolviert. Das erste Mal in seinem Leben trifft er auf ziemlich „echte“ Probleme. Nicht selten hängt es von seiner Übersetzungsleistung ab, wie es mit den Leuten und ihrem Aufenthalt in Deutschland weitergeht. Zudem muss sich der blondierte Paradiesvogel diskriminierende Bemerkungen von der Leitung und der Bewohnerschaft anhören.

Bei seiner Arbeit lernt er die Geschwister Amon und Banafshe kennen, die aus dem Iran geflüchtet sind und auf einen positiven Asylbescheid warten. Ganz offen wird Banafshes Lage von einem Projektmitarbeiter ausgenutzt, der ihr großzügig eine Scheinhochzeit anbietet. Amon verliebt sich derweil in Parvis, ein Umstand, der bei den zumeist erzkonservativen Bewohnern des Heims geheim bleiben muss.

Der Regisseur verarbeitet hier seine eigenen Erfahrungen. Auch ihm wurden exakt jene 120 Sozialstunden für einen Ladendiebstahl aufgebrummt, die Geschichte mit den Farsi-Übersetzungen ist die seine. Zudem verwendet er autobiografisches Filmmaterial, etwa alte Videos, die ihn als Kind zeigen und von Shariats Vater stammen. „Durch die Möglichkeit, mich in seinen Blick hineinzubewegen, wurden die Bilder einer Ankunft und meines Aufwachsens zu einer der stärksten Referenzpunkte meiner eigenen Kindheitserinnerungen“, sagt er. Ebenso aber fließen viele seiner Kinoerfahrungen ein: Den Film sehe er als „visuelles und narratives Archiv von Migration“.

Und zwar ein extrem buntes und knalliges, das von Zuwanderern in Deutschland handelt, die auf ganz unterschiedliche Weise Probleme mit ihrem Status, den Behörden, mit ihrem Leben haben. Kein Wunder, dass er vor allem den Publikumspreis auf Filmfestivals gewinnt, wie etwa den „Teddy Award“ auf der Berlinale.

Diese Kritik erschien zuerst am 24.08.2021 auf: links-bewegt.de

Schachnovelle

(D/AT 2020, Regie: Philipp Stölzl)

Zeitlos politisch
von Jürgen Kiontke

60 Jahre nach der Verfilmung von „Schachnovelle“ – damals mit Curd Jürgens und Hansjörg Felmy – liefert Regisseur Philipp Stölzl eine weitere Filmversion des berühmten Buches von Stefan Zweig. Die …

60 Jahre nach der Verfilmung von „Schachnovelle“ – damals mit Curd Jürgens und Hansjörg Felmy – liefert Regisseur Philipp Stölzl eine weitere Filmversion des berühmten Buches von Stefan Zweig. Die vielbeschäftigten Mimen Oliver Masucci und Albrecht Schuch brillieren in den Rollen des Anwalts Josef Bartok und des Gestapo-Leiters Franz-Josef Böhm. Bartok ist als Vermögensverwalter für den Adel in Wien tätig, als 1938 der „Anschluss“ Österreichs an Deutschland gefeiert wird. Die Nazis sind überall in Wien, aber gerade die Upper Class mag nicht so recht an gravierende Veränderungen in ihrem Leben glauben. So lange in Wien getanzt wird, so der Tenor, wird die Welt nicht untergehen.

Bartok folgt dem nicht ganz, er versucht, mit seiner Frau zu fliehen, doch er wird verhaftet, nicht jedoch, ohne brisante Unterlagen vernichtet zu haben. Nun soll er die Nummernkonten seiner Klienten preisgeben. Die Gestapo interniert ihn in einem leeren Hotelzimmer. Verhörleiter Böhm stellt ihm die Emigration in die USA in Aussicht, sobald er die Informationen preisgibt. Der Notar aber bleibt trotz Folter und einschüchternder Verhöre standhaft.

Um – nicht nur mental – zu überleben, muss er seinen Kopf beschäftigen. Als er zufällig ein Schachbuch findet, knetet er sich aus Brotresten Schachfiguren, die er im Badezimmer versteckt. Als Böhm Buch und Figuren in die Hände fallen, spielt Bartok die Partien in seinem Kopf weiter und driftet in eine andere Realität ab.

Durchbrochen wird die Erzählung durch die Ereignisse auf der vermeintlichen wie realen Überfahrt in die USA. Dort tritt Bartok gegen einen mitreisenden Schachweltmeister an. Durch die Zeit der Internierung bestens trainiert, leistet er dem Großmeister locker Paroli.

Der Film, der sich nicht immer zwingend an Zweigs Vorlage hält, changiert zwischen Ein-Personen-Kammerspiel im Hotelzimmer und wilden Szenen an Bord des Schiffes. Was real und irreal ist, das wissen die Zuschauer alsbald nicht mehr. Insofern folgt die Erzählung der psychischen Verfasstheit der Hauptfigur. Überaus echt bleibt aber die Bedrohung, die Bartok durch die Nazis erfährt, Zeichen der Deprivation lassen sich im Spiel Masuccis schnell erkennen.

Die kafkaeske Situation des Gefängnisses im Nobelhotel habe er darstellen wollen, sagt Stölzl, den Menschen auf dem Weg in die geistige Verwirrung, wenn er unter unmenschlichem Druck steht. Er wolle davon erzählen, wie dünn die Schicht der Zivilisation sei und wie unmittelbar darunter die Barbarei liege. Ein zeitloser politischer Film.

Diese Kritik erschien zuerst am 22.09.2021 auf: links-bewegt.de

Freistaat Mittelpunkt

(DE 2019, Regie: Kai Ehlers)

Die andere Stille
von Wolfgang Nierlin

Lange verharrt der Kamerablick auf einem kargen Flurstück, das sich im herbstlichen Nebel verliert, während zarte Mundharmonikaklänge die leise Melancholie verstärken. In die entfärbten Bilder einer verlassenen Landschaft mischen sich …

Lange verharrt der Kamerablick auf einem kargen Flurstück, das sich im herbstlichen Nebel verliert, während zarte Mundharmonikaklänge die leise Melancholie verstärken. In die entfärbten Bilder einer verlassenen Landschaft mischen sich bald wechselnde Stimmen, die aus dem Off vom ehemaligen Psychiatrie-Patienten und Einsiedler Ernst Otto Karl Grassmé berichten Dieser hat nach seiner Entlassung aus der Anstalt über viele Jahre allein und zurückgezogen in einem Torfmoor von Schleswig-Holstein gelebt. „Es ist anders Stille hier“, schreibt er in einem seiner Briefe, die er unter anderem an ein Mädchen aus der Nachbarschaft namens Katja richtet.

In Kai Ehlers sehr konzentriertem, auf wenige Schauplätze verdichteten Dokumentarfilm „Freistaat Mittelpunkt“ formt sich das Portrait Grassmés (1912-1991) aus Selbstzeugnissen und behördlichen Akten, aus persönlich Empfundenem und öffentlich Verzeichnetem. Die Inszenierung des nachgelassenen Materials folgt allerdings keiner zeitlichen Chronologie, sondern vielmehr einer dialektischen Bewegung, in der Subjektives und vermeintlich Objektives in einen wechselseitigen Dialog treten und sich gegenseitig kommentieren. Verstärkt wird dieses ästhetische Verfahren noch durch Bilder, die keinen direkten, sondern einen mehr räumlichen und assoziativen Zusammenhang herstellen und so auf die Imaginationskraft der Zuschauer vertrauen.

Während Ernst Grassmé von seiner Zeit als Maurer und Fotograf erzählt sowie von seinen Aufenthalten in der Psychiatrie, wo er unter den Nazis im Namen der sogenannten „Erbgesundheit“ zwangssterilisiert wurde, erforscht die Kamera den ländlichen Raum aus Moor-Landschaft, Wiesen, Wald und Gleisübergängen. Die Melodie des Liedes „Kein schöner Land“ klingt dazu einmal an. Doch die objektivierte Mensch- und Naturbeschreibung, die das Gesprochene kontrapunktiert, ist keine ungebrochene. Ein Mädchen spaziert mit einer Kuh über die Wiesen, Bäume werden gefällt, eine Jagdgesellschaft versammelt sich, eine alte Frau schlachtet und rupft Hühner. Dazu erinnert sich Grassmé an die Zwangsmaßnahmen, die er für die Volksgesundheit in der Psychiatrie erleiden musste. Die bittere Klage über eine verlorene Sexualität und ein geraubtes Leben spricht aus seinen Worten.

Was ist normal und wo beginnt die Abweichung oder Krankheit?, fragt der Film in der behutsamen Annäherung an seinen Protagonisten. Ist es Größenwahn oder eine listige Ironie, wenn sich Ernst Grassmé als gläubiger Adventist „Reichsbundesbischof“ oder auch „Märtyrerkönig“ nennt? Im Sprachfluss seiner warmherzigen, teils poetischen Briefe gibt es immer wieder kleine Risse, gedankliche Sprünge und Verschiebungen ins Wunderliche. Nach dem Krieg und nach seiner Entlassung wirken die psychiatrischen Befunde der Nazis noch lange nach. Über Jahrzehnte hinweg verweigert man Grassmé eine Entschädigung. Nur in seiner Einsiedlerhütte kann er, so scheint es, relativ selbstbestimmt für und bei sich sein; wobei für ihn vor allem das Schreiben zu einem Mittel der Kompensation wird.

Kai Ehlers sorgfältig komponierter, ebenso offener wie vielschichtiger Film und das diesem angeschlossene umfangreiche Online-Archiv bewahren Ernst Grassmé vor dem Vergessen und stellen wichtige Fragen an uns alle.

Titane

(FR/BL 2021, Regie: Julia Ducournau)

Radikal, blutig, feministisch
von Jürgen Kiontke

So ziemlich das Extremste, was das Kino dieses Jahr zu bieten hat, dürfte Julia Ducournaus Spielfilm „Titane“ sein. Der Gewinner der diesjährigen Goldenen Palme bei der Welt wichtigsten Filmfestspielen in …

So ziemlich das Extremste, was das Kino dieses Jahr zu bieten hat, dürfte Julia Ducournaus Spielfilm „Titane“ sein. Der Gewinner der diesjährigen Goldenen Palme bei der Welt wichtigsten Filmfestspielen in Cannes wurde von der Kritik mit allerlei Attributen wie (feministischer) „Body Horror“ oder „Gendercore“ versehen.

Im Zentrum des kontrovers aufgenommenen Werkes steht die Fusion einer jungen Frau mit ihrer technischen Umgebung. Nachdem Alexia einen Verkehrsunfall hatte, wird ihr die titelgebende Titanplatte in den Schädel eingesetzt. Alsbald entwickelt sie eine innige Liebe zu möglichst protzigen Automobilen und zudem eine sadistische Ader, die sie wahllos Menschen, die ihr im Weg stehen, töten lässt. Dann das: Nachdem sie als Gogo-Tänzerin auf einer Messe für aufgemotzte Karren eine Affäre mit einem Sportwagen hatte, wird sie umgehend schwanger.

Auf der Flucht vor der Polizei verwandelt sie sich in Adrien, einen vermissten Jugendlichen. Sie sucht dessen Vater auf, einen Feuerwehrhauptmann, den der Schauspieler Vincent Lindon in seiner ganzen Wandlungsfähigkeit – zuletzt war Lindon als arbeitskämpfender Gewerkschaftssekretär in dem Film „Streik“ zu sehen – leicht irre auf die Leinwand bringt. Der bekommt recht schnell mit, dass sein Sohn nicht ganz echt ist; untypisch flexibel und zur Verwunderung der machistischen Kollegen aber akzeptiert er die Gratwanderung Alexias auf den schmalen Gendergrenzen: Besser ein nicht ganz eindeutiger Sohn, so die Devise, als gar keiner. Derweil tritt langsam das Motoröl aus dem Körper der werdenden Mutter, die Spannung steigt – man möchte schließlich wissen, wen oder was Alexia zur Welt bringen wird…

„Titane“ ist eine sperrige, wilde und irre Reflexion der Gegenwart. Menschen grenzen sich von ihrer technischen Umwelt nicht mehr ab, sie verschmelzen im Gegenteil mit ihr. Die rohe Gewalttätigkeit zu Filmbeginn stellt Kompromisslosigkeit aus. „Titane“ war seiner Regisseurin zufolge mit Sicherheit nicht unbedingt als Gewinnerbeitrag eines großen Filmfestivals geplant, für die Hauptdarstellerin Agathe Rousselle war es gar der erste Spielfilm überhaupt. Die Cannes-Jury um den Filmregisseur Spike Lee ließ sich jedenfalls von der filmischen Radikalität überzeugen. Also nichts wie rein ins Kino!

Diese Kritik erschien zuerst am 07.10.2021 auf: links-bewegt.de

Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?

(D 1932, Regie: Slatan Dudow)

Ein Meisterwerk
von Jürgen Kiontke

„Wir haben teuren Weizen und arbeitslose Industriearbeiter“, liest der Mann in der S-Bahn den anderen Passagieren aus der Zeitung vor, „während Argentinien teure Industriewaren hat und arbeitslose Landarbeiter. Das Ganze …

„Wir haben teuren Weizen und arbeitslose Industriearbeiter“, liest der Mann in der S-Bahn den anderen Passagieren aus der Zeitung vor, „während Argentinien teure Industriewaren hat und arbeitslose Landarbeiter. Das Ganze heißt Weltwirtschaft und ist eine Affenschande.“

Selten wird im deutschen Film so fokussiert und so clever eingebettet über Ökonomie gesprochen. In diesem Film bildet sie – in ihrer ungleichen Ausformung zwischen Arm und Reich – den Haupterzählstrang. „Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt“, im Jahr 1932 von Slatan Dudow gedreht, ist zwar mit 74 Minuten recht kurz, dafür aber umso zielgenauer und durchaus sehr aktuell, geht es doch nicht zuletzt um das Recht auf menschenwürdiges Wohnen. Im Mittelpunkt steht eine Berliner Arbeiterfamilie, die von Sorgen und Mittellosigkeit geplagt, ihre Wohnung verlieren wird. Familienoberhaupt Bönike und sein Sohn sind arbeitslos wie das halbe Land, der Junge wird aus Verzweiflung sogar Selbstmord begehen. Tochter Anni hat zwar eine schlecht bezahlte Anstellung, ist aber mit einer ungewollten Schwangerschaft konfrontiert, ein großes Armutsrisiko. Anni wird später Hilfe der kommunistischen Arbeiterjugend erhalten.

Die Bönikes sind mit ihren Sorgen nicht allein, sie stehen für eine mittellose Klasse. Hausbesitzer und Polizei sorgen für reibungslose Räumungen der Arbeiterwohnungen. Die Handlung spielt gleichsam am Vorabend der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, deren Schlägerbanden die Straßen kontrollieren. Die Ära der Gewalt, der Aufmarsch in Uniformen und das totalitäre Denken kündigen sich im Film bereits an. Und das Werk selbst sollte Gegenstand mehrerer Zensurverfahren sein.

Die Kamera begleitet Arbeiterinnen und Arbeiter auf ihrem Weg in die Zeltstadt Kuhle Wampe, die dem Film den Titel leiht, darunter auch Anni. Den diskursiven Höhepunkt bildet die S-Bahnfahrt zurück in die Stadt, bei der sich Hinz und Kunz aus allen Schichten und Klassen im Waggon treffen. Die von Armut betroffenen Hauptfiguren Anni und ihr Freund Fritz debattieren mit sozial beglückteren Passagieren über die Weltwirtschaft – und wem die eigentlich gehört. Die Wohlhabenden würden die Welt nicht verändern wollen, sie profitierten ja von der Ungleichheit. Das müssten jene übernehmen, denen sie nicht gefalle, wie sie ist.

Das Drehbuch trägt die Handschrift Bertolt Brechts – es stammt von ihm und Ernst Ottwalt. „Kuhle Wampe“ gilt als einer der beiden kommunistischen Filme der Weimarer Republik, die in Deutschland gedreht wurden – der andere ist Dudows „Wie der Arbeiter wohnt“ (D 1930). In diesem Kurzfilm entwickelte der Regisseur die Stilistik eines proletarischen Reportagefilms, wie auch „Kuhle Wampe“ trotz Schauspielerensemble einer ist. Von Brecht stammt die Idee der Verfremdungseffekte: An mehr als einer Stelle hat man den Eindruck, die Handlung sei auf Stopp gestellt, um dem Publikum Zeit zu lassen, das Gesehene zu reflektieren. Das Ergebnis ist wunderbar, prägnant und bedrückend gleichermaßen, vor allem hat er tolle Darsteller; dieser Film wird nie seinen Glanz verlieren.

Dudow war in den Anfangszeiten der DDR-Filmgesellschaft DEFA ein wichtiger Regisseur, und Brecht erfand das Theater neu. Was die beiden wohl heute für Filme drehen würden? Themen müssten sie jedenfalls nicht lange suchen.

„Kuhle Wampe“ ist letztes Jahr aufwendig restauriert worden. Der Film ist seit dem 22. Juni auf dem Arthouse-Filmportal MUBI (www.mubi.com) zu sehen. Bei Atlas Film erschien im Herbst 2020 ein DVD-/Blu-ray-Mediabook.

Diese Kritik erschien zuerst am 04.08.2021 auf: links-bewegt.de

New Order – Die neue Weltordnung

(MX/FR 2020, Regie: Michel Franco)

Burning down the house
von Wolfgang Nierlin

Auf die verdrehten Buchstaben des Filmtitels und auf dissonante Klänge folgen Bilder der Gewalt: Grünes Wasser überschwemmt Treppenaufgänge, Sperrmüll übersät die Straßen, Barrikaden und Autos brennen, Patienten werden aus ihren …

Auf die verdrehten Buchstaben des Filmtitels und auf dissonante Klänge folgen Bilder der Gewalt: Grünes Wasser überschwemmt Treppenaufgänge, Sperrmüll übersät die Straßen, Barrikaden und Autos brennen, Patienten werden aus ihren Krankenhausbetten gezerrt, um Platz zu schaffen für Verletzte. Zugleich begleitet eine Geräuschkulisse aus Polizeisirenen, Flugzeuglärm, Schüssen und Geschrei die Szenen. Chaos und Anarchie sind in Michel Francos äußerst intensivem Film „New Order – Die neue Weltordnung“ von Anfang an allgegenwärtig.

Die Welt steht in Flammen, aber nicht alle wollen das wahrhaben oder überhaupt bemerken. Und so geht der Film nahtlos und für längere Zeit über zu einer Hochzeit in der High Society, die in einem vornehmen Wohnviertel von Mexiko-Stadt stattfindet, wo die Reichen und Schönen unbeschwert und ausgelassen feiern. Hier heiratet die glückliche Braut Marianne Novelo (Naian González Norvind) im roten Hosenanzug, begrüßt Gäste und nimmt Geschenke entgegen.

Auch wenn es erste Irritationen und unscheinbare Risse in dieser glänzenden und blendenden Fassade des Wohlstands gibt, wird die Realität jenseits der weitgehend abgeschirmten Wohlfühlinsel ausgeblendet. Die Kontraste zwischen heiler und zerstörter Welt könnten kaum größer sein. Das ändert sich abrupt, als plötzlich Aufständische in das abgesicherte Privatgelände eindringen und die Feier rücksichtslos in Gewalt und Chaos stürzen.

Mitleidlos und ohne Ansehen der Person wird gemordet, geplündert, gierig gerafft und zerstört. Ein blinder Vandalismus zieht eine Spur der Verwüstung nach sich. „Scheiß Reiche“ wird in großen Lettern auf die Wände geschmiert. Dabei wechselt das diskriminierte indigene Hauspersonal die Seiten, um sich zu rächen und zu bereichern. Jegliche Regeln und Moral sind außer Kraft gesetzt. Es gibt weder Gnade noch Verzeihen.

Michel Francos radikale filmische Dystopie betreibt keine Ursachenforschung oder überhaupt eine Analyse sozialer Ungleichheit, die hier zum Auslöser der Krawalle wird. Sein atemloser Film folgt vielmehr der unberechenbaren Dynamik von Gesetzlosigkeit und einer Gewalt, die von völliger Willkür dominiert wird. Das gewinnt besonders deutlich Brisanz, als schließlich das Militär die Aufstände niederschlägt, Folterzentren einrichtet und ein Überwachungssystem installiert. Denn auch unter den Soldaten ist jeder auf seinen eigenen Vorteil bedacht, sind Freund und Feind nicht zu unterscheiden. Ihr Regime aus Angst und Schrecken zielt mit aller Brutalität auf Bereicherung.

„New Order“ dringt in der Darstellung eines vollständigen Kontroll- und Vertrauensverlustes vor in eine grausame, schwer erträgliche Dimension schier unvorstellbarer Entmenschlichung, wo es weder Gnade noch Hoffnung gibt. „Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen“, lautet das nach einem Zitat des Philosophen George Santayana betitelte Wandgemälde von Omar Rodriguez-Graham, das gleich zu Beginn des Films zu sehen ist.

The trouble with being born

(AT/DE 2020, Regie: Sandra Wollner)

Projektionsmaschine einer fragilen Welt
von Wolfgang Nierlin

Aus dem Off spricht ein Mädchen über seine Vergangenheit. Seine Stimme, die wie aus einem jenseitigen Raum zu kommen scheint, richtet sich dabei an den Vater. Erinnerungen an gemeinsame Sommerferien …

Aus dem Off spricht ein Mädchen über seine Vergangenheit. Seine Stimme, die wie aus einem jenseitigen Raum zu kommen scheint, richtet sich dabei an den Vater. Erinnerungen an gemeinsame Sommerferien mit langen Nächten und vielen ungewohnten Freiheiten stehen, sich mehrmals wiederholend, im Mittelpunkt, während die Kamera aus subjektiver Sicht schwebend durch ein Waldgebiet streift. Die irritierend undeutliche, leicht unheimliche Atmosphäre, die Sandra Wollner in ihrem eigenwilligen, teils verstörenden Film „The trouble with being born“ von Anfang an etabliert, deutet zunächst auf eine Art Geistergeschichte. Denn mehrmals wünscht sich die körperlose Stimme, es möge für immer Sommer sein. Doch zehn Jahre sind vergangen, seitdem sie verschwunden ist.

Erst als die Kamera das Dickicht des Waldes verlässt, um auf dem angrenzenden Anwesen eines Bungalows mit Swimmingpool anzukommen verändert sich die Perspektive. Hier lebt offensichtlich Georg (Dominik Warta), der Vater des Mädchens, zurückgezogen und ohne soziale Kontakte ein Inseldasein. Gesellschaft leistet ihm ein 10-jähriges Mädchen, das er Elli (Lena Watson) ruft und das eine merkwürdig monotone, irgendwie gleichgültige Ausstrahlung zwischen Präsenz und Abwesenheit besitzt. Georg könnte der Vater von Elli sein. Die beiden schauen zusammen Fernsehen, verbringen gemeinsame Zeit am Pool. Einmal fotografiert der Vater seine mutmaßliche Tochter in lasziven Posen, ein anderes Mal wird eine Liebesnacht zwischen den beiden angedeutet. Als Elli leblos im Pool treibt, wird sie von Georg eher unaufgeregt herausgefischt und „reanimiert“. Offensichtlich handelt es sich dabei um eine Art „Neustart“, denn Elli ist ein Android.

Als programmierte Maschine in Menschengestalt sagt das Kind: „Ich bleib‘ für immer bei dir.“ Georg hat den Roboter offensichtlich mit Erinnerungen, Sehnsüchten und Träumen „gefüttert“, die eine verlorene Beziehung aus seinem früheren Leben wachrufen und kompensieren. Er trauert um einen Verlust, indem er diesen künstlich am Leben erhält. Manchmal erscheint Elli wie eine Vision, die ins Dunkel starrt, ohne Wünsche, Sehnsüchte und Träume. Als sie plötzlich im Wald verschwindet, um kurz darauf in einem anderen Leben aufzutauchen, endet für Georg die Geschichte, während für Elli, umprogrammiert zu einem kleinen Jungen namens Emil, eine neue beginnt. Fortan bewegt sich der Roboter an der Seite einer alten Frau (Ingrid Burkhard), die ihren vor sechzig Jahren tödlich verunglückten Bruder vermisst. Emil wird zu dessen Stellvertreter, reproduziert zugleich auf irritierende Weise aber auch nicht gelöschte Erinnerungen aus Ellis Leben.

In Ellipsen und experimentellen Erinnerungsschleifen erzählt Sandra Wollner von der Erfüllung eines programmierten und deshalb unmöglichen Schicksals. Denn die prinzipielle Unendlichkeit der „intelligenten“ Maschine steht im harten Kontrast zur Begrenztheit ihrer menschlichen Besitzer. Auf der visuellen Ebene übersetzt die österreichische Regisseurin diese Ambivalenz, indem sie dem quadratischen Bildformat ihres abgründigen Films eine Vielzahl unterschiedlicher Flächen einzieht, die als Projektionsräume fungieren. Das reicht vom Pool und der Innenarchitektur des Bungalows bis hin zu Parkplätzen und Supermärkten, die in eine kalte, nebelverhangene Atmosphäre getaucht sind.

Gelenkte Blicke, harte Ton-Montagen und ein monotones Geschehen führen die Betrachter immer wieder gezielt in einen rätselhaften Bereich jenseits der Realität als einem Sammelpunkt des Unbewussten. Davon kündet nicht nur die virtuelle Flucht der Figuren aus einer fragilen Wirklichkeit, sondern auch die akustische Agonie jener gleichgültigen, letztlich identitätslosen Maschine, die diese imaginäre Ersatzrealität speichert und dabei eine Grenzenlosigkeit verspricht, die für den Menschen Illusion bleiben muss.

I want to return return return

(D 2021, Regie: Elsa Rosengren)

Pausierte Gegenwart
von Ricardo Brunn

Nach etwa einer Minute Schwarzfilm öffnet Protagonistin Elpi (Elpiniki Saranti), auf der Couch liegend, die Augen. Der Film beginnt und bleibt selbst sogleich auf dem Sofa liegen, richtet sich ein …

Nach etwa einer Minute Schwarzfilm öffnet Protagonistin Elpi (Elpiniki Saranti), auf der Couch liegend, die Augen. Der Film beginnt und bleibt selbst sogleich auf dem Sofa liegen, richtet sich ein in einer Postmittagsschlafgemütlichkeit. Von irgendwoher dringt Straßenmusik nach drinnen. Elpi lauscht ihr mit einem zaghaften Lächeln im Gesicht. Die Zeit scheint stillzustehen. Von Balkonen und auf Fensterbänken gelehnt starren Menschen aus anderen Wohnungen starr ins Nichts oder auf das unsichtbare Treiben auf der Straße.

Episodisch fügen sich in „I want to return return return“ Erinnerung, Traum und Wirklichkeit zu einem Sommernachmittag im Berliner Wrangelkiez. Und so springt der Film nach Elpis Erwachen und den Menschen an ihren Fenstern zu einer älteren Frau, die wie eine 30 Jahre ältere Version Elpis aussieht. Wie von der Erzählung pausiert schaut sie aus dem Bild hinaus, denkt vielleicht an ihr jüngeres Ich auf dem Sofa, bis sie den Kopf plötzlich wendet, einen Freund im Off neben sich begrüßt und beide in einen Redeschwall verfallen, der seinerseits nur von Pausen und Unfertigem handelt: Das Leben? Ja, geht so. Der Flughafen? Wird wohl niemals fertig werden. Die Jugend von heute? Unternimmt nichts. Die Alten? Haben ausgedient.

Irgendwann setzt dann so etwas wie eine Erzählung ein. Elpi erhält einen Anruf von einer Freundin. Beide haben sich lange nicht gesehen. Sie verabreden sich für den Abend. Bis dahin verwebt sich Elpis Warten mit weiteren Geschichten aus dem Leben im Kiez: Da ist die Rede von einer Kindheit auf einer Tabakfarm in Kentucky und von der beängstigenden Entwicklung des Wohnungsmarktes. Ein Mann erzählt von der Gleichmäßigkeit, die er für sich entdeckt hat und von der er doch nicht sagen kann, ob sie ihm Zufriedenheit bringt. Ein anderer übersetzt das Gesagte für eine junge Zuhörerin. Ob sie versteht, was gemeint ist? Es wird geraucht und Bier und Kaffee an Bierbänken, von denen die Lasur abblättert, getrunken. Die Ellbogen auf die Tische gestützt.

Auf die ein oder andere Art sprechen die Menschen in „I want to return return return“ von lang zurückliegenden Tagen, der Pausierung der Gegenwart und einer sich daraus ergebenden Vertagung der Zukunft. Der Leichtigkeit sonniger Bilder auf gelbstichigem 16mm-Material ist zugleich eine beängstigende und entzeitlichte Ruhe eingeschrieben. Lange Einstellungen und feste, bewegungslose Kamerapositionen verhärten selbst die flüchtigen Momente. Einmal steht ein kleiner Junge auf dem Fensterbrett einer Wohnung im dritten Stock und wartet. Und nie wird klar, ob Elpi die Zuhörerin all dieser Gespräche und Ereignisse ist, ob sie manches nur im Vorübergehen hört und sieht, oder ob alles nur stattfindet, weil der Film anwesend ist an diesem erlahmten, für Berlin so typischen Hochsommertag.

Ein sicherlich sehr verkürzter, doch in der direkten Gegenüberstellung durchaus ergiebiger Vergleich der Darstellung Berlins im Film etwa der 1920er Jahre mit den Filmen der Berliner Schule (ab Ende der 1990er Jahre) und aktuellen Produktionen legt einen veränderten Blick auf die Stadt offen: Berlin ist in den Filmen um die Jahrtausendwende oftmals jedes Leben entzogen, die Figuren verlieren sich in der sinnentleerten Architektur der Nachwendezeit, der Lärm der Stadt hat keine Entsprechung in der Dynamik, bleibt Getöse ohne Fortkommen. In “Victoria” (R: Sebastian Schipper; D 2015) werden das Rastlose, das Suchende und die Unmöglichkeit des Entkommens aus der Stadt (und der Unterwelt) gar in eine einzige zwei Stunden dauernde Einstellung gegossen. Der Reiz Berlins, so erzählt es diese Plansequenz, liegt in der Möglichkeit, sich in der Stadt zu verlieren. Die Kehrseite dieses Sich-Verlierens ist das Empfinden in ihr zum Gefangenen zu werden.

In einem Interview zu ihrem Film „Das Glück meiner Schwester“ (D 1995) beschrieb Angela Schanelec rückblickend das Gefühl nach Berlin zu kommen einmal mit den Worten: „Ich glaubte, es wäre einfach wieder zu gehen.“ Und dann ging es nicht, bis der Gedanke verblasste und es selbstverständlich wurde da zu sein, weil auch andere blieben. Es gab und gibt ja einfach auch keine Antwort auf die Frage, wohin zu gehen sich von hier aus lohnt, weil die Angst etwas zu verpassen einem die Stadt ans Bein bindet und die Fallhöhe plötzlich zu groß ist, denn nichts ist ja größer als Berlin. Nichts holt einen so ab und lässt einen so stehen, dass man es gleich nochmal versuchen will.

Mit „I want to return return return“ gelingt Elsa Rosengren nun eine sehr genaue Zustandsbeschreibung einer Großstadt, die sich treiben lässt und zugleich sehr viel Energie in die Aufrechterhaltung einer Illusion steckt. Wir werden Zeugen einer unbestimmten Sehnsucht in den Suchbewegungen der Menschen, die gefangen sind in Wiederholungs- und Warteschleifen des Lebens und auf die Auflösung der – einer Schockstarre gleichenden – Verfassung hoffen. Etwas soll wiederkehren. Was es ist, bleibt verborgen. Nur, dass es nicht wiederkehren wird, scheint allen mehr oder weniger bewusst zu sein. Und so ist das Warten zum Berlingefühl schlechthin geworden. Man harrt in der Wohnung oder WG aus, weil man sich einen Umzug nicht leisten kann. Man harrt in schlecht bezahlten Jobs oder in Praktika aus, weil man hofft, dass das Beste noch kommt. Man harrt aus, weil es bequem geworden ist und das Ausharren sich als Lifestyle verkaufen lässt. Man harrt aus, weil es anderswo noch beschissener ist. Man harrt aus, weil das Versprechen, das einen hergelockt hat, noch nicht eingelöst wurde. Man harrt aus, weil es die anderen auch tun.

Nach einigen Umständen und Missverständnissen, der Tag ist längst müde von sich selbst geworden, treffen sich die Freundinnen dann doch noch. Nur zu sagen gibt es nichts. Und so harren sie in einer Bar aus bis zum Ende. Gott sei Dank wird noch getanzt.

Promising young woman

(GB/US 2020, Regie: Emerald Fennell)

Gegen die Mauern männlicher Macht
von Wolfgang Nierlin

Der Film beginnt mit einer Art umgekehrtem Voyeurismus, einem bewusst denunzierenden “female gaze”, der in Zeitlupe auf die Unterkörper, Bäuche und Genitalien tanzender Männer in einem Nachtclub gerichtet ist. Schwitzend, …

Der Film beginnt mit einer Art umgekehrtem Voyeurismus, einem bewusst denunzierenden “female gaze”, der in Zeitlupe auf die Unterkörper, Bäuche und Genitalien tanzender Männer in einem Nachtclub gerichtet ist. Schwitzend, betrunken, grölend und anzüglich repräsentieren diese Männer jenes Bild eines hässlichen Menschentiers, das von einem toxischen Sexualtrieb und von Machtgeilheit angetrieben wird.

Wie übergriffig, demütigend und verletzend dieser allgegenwärtige Machismus für Frauen ist, thematisiert Emerald Fennell in ihrem vielversprechenden Debütfilm „Promising young woman“ immer wieder. Dass die männliche Spezies für ihr in Testosteron getränktes Überlegenheitsgebaren einerseits die Kohorte Gleichgepolter braucht, andererseits ihre angebliche Stärke auf ein vermeintlich schwächeres Gegenüber angewiesen ist, zeigt sich gerade dort, wo diese Geschlechterrollen umgekehrt werden und Frauen sich selbst ermächtigen.

Eine solche Frau ist die 30-jährige Cassandra Thomas (Carey Mulligan), die deshalb auch immer wieder in einer frontalen, Dominanz ausstrahlenden Perspektive gezeigt wird. Seit ihrem vor sieben Jahren unter traumatischen Umständen abgebrochenen Medizinstudium und dem damit verbundenen Verlust ihrer besten Freundin ist sie zur Rächerin an der Männerwelt geworden. Während sie tagsüber lustlos in einer Coffee-Bar jobbt, schleppt sie nachts unter vorgespielter Trunkenheit Männer ab, um sie psychisch zu foltern und zu demütigen.

Dabei hat ihre Rache unterschiedliche Gesichter, zielt aber vor allem darauf ab, durch die umgekehrte Täter-Opfer-Rolle die Männer für einmal Schwäche und hilflose Ohnmacht erleben zu lassen. Denn noch immer wird den weiblichen Opfern männlicher Gewalt eine Mitschuld zugeschrieben. Und noch immer solidarisieren sich männliche Täter, wenn es darum geht, Verantwortung und Strafe abzuwenden.

Emerald Fennell lässt in ihrem doppelbödigen Rape-and-Revenge-Drama sowohl in Bezug auf Cassies Vorgeschichte als auch hinsichtlich ihrer abgründigen Taten bewusst Leerstellen, die als Projektionsflächen und Spiegel für unausgesprochene, stets präsente männliche Gewalt dienen. Zugleich spielt sie mit genretypischen Versatzstücken, die sie teils parodistisch überzeichnet, überdeutlich ins Bild setzt oder aber konterkariert, indem sie durch unerwartete Wendungen in der Handlung die Zuschauererwartungen täuscht und umlenkt.

Fennells ironischer Blick auf eine anständige und gepflegte Vorstadtwelt, die von Wohlstand und Sauberkeit, schlechtem Geschmack und kitschigen Interieurs gekennzeichnet ist, zeigt wiederum die tiefe Verankerung und gesellschaftliche Akzeptanz diskriminierender Rollenzuweisungen. Cassandra, die außerdem unter Schuldgefühlen leidet, entzieht sich immer wieder diesen Zuschreibungen. Als wandlungsfähige Streiterin für Gerechtigkeit wechselt sie bis zum fulminanten Schluss ihre Rollen und Identitäten, um die Mauern männlicher Macht zu durchbrechen.

Gunda

(NO/US 2020, Regie: Victor Kossakovsky)

Aus dem Leben der Tiere
von Wolfgang Nierlin

Die aus einer Bretterwand geschnittene rechteckige Öffnung ist wie ein zweiter Rahmen innerhalb des Bildrahmens. Minutenlang und sehr geduldig verharrt der Kamerablick auf dieser schwarzen Tür, die zum Guckloch und …

Die aus einer Bretterwand geschnittene rechteckige Öffnung ist wie ein zweiter Rahmen innerhalb des Bildrahmens. Minutenlang und sehr geduldig verharrt der Kamerablick auf dieser schwarzen Tür, die zum Guckloch und zur Bühne wird. Hier beginnt und endet Victor Kossakovskys Schwarzweißfilm „Gunda“, der in gleich mehrfacher Hinsicht an die Anfänge des Kinos erinnert. Denn neben seiner Ästhetik aus Licht und Schatten kommt er auch ganz ohne Worte und Kommentare aus. Nur die Tiere und die Geräusche der Natur „sprechen“.

Außerdem etabliert der russische Filmkünstler in seinem außergewöhnlichen Dokumentarfilm über eine Schweinefamilie, ein paar Hühner und etliche Kühe eine Poesie des Zeigens und Beobachtens, die sehr konzentriert und mit reduzierter „Handlung“ dem Zuschauer erlaubt, sich entlang der Bilder eine „eigene“ Geschichte zu erzählen. Insofern ist Kossakovskys Film reines Kino.

Bald zeigt sich die Titelheldin und Hauptdarstellerin Gunda in der Türöffnung zum Stall. Nach und nach wird das grunzende und knurrende Muttertier von zahlreichen quiekenden Schweinchen belagert, die gierig an den Zitzen ihrer Mutter saugen. Das beeindruckende, für Gunda sicherlich strapaziöse Schauspiel wird sich im Lauf der Zeit mehrmals wiederholen, wobei die Kämpfe um die Nahrung immer ruppiger werden.

Manchmal döst die Ferkelschar aber einfach nur in der Sonne, während sich ihre Mutter in einem Schlammloch suhlt. Für einmal sehen wir nämlich eine Schweinefamilie, die unter natürlichen Bedingungen lebt und die sich frei bewegen kann zwischen einem mit Stroh ausgelegten Stall und einem weitläufigen Außengelände, das von Bäumen begrenzt wird und vielfältige Erkundungsmöglichkeiten besitzt.

Victor Kossakovsky geht es allerdings nicht um die Beschreibung einer perfekten Idylle oder gar einer heilen Tierwelt. Das zeigen nicht nur die Bilder versehrter Hühner, alter Kühe oder auch das stetige Gerangel der Tiere bei der Nahrungsaufnahme. Vielmehr vermittelt der Film sehr anschaulich Einblicke in das Leben und die Verhaltensweisen unserer tierischen Mitgeschöpfe. Er portraitiert sie als fühlende Wesen, ausgestattet mit einer eigenen Wahrnehmung zur Erkundung der Welt, mit eigenen Empfindungen und einem kommunikativen Austausch innerhalb der Spezies, der sich auch auf die Umgebung und wechselnde Wetterverhältnisse bezieht.

In einer Zeit, in der durch unwürdige und klimaschädliche Massentierhaltung tierische Lebewesen zu puren Fleischlieferanten degradiert werden, erhebt dieser stille Film ebenso nachdrücklich wie gewichtig Einspruch.

Journey through a body

(FR 2019, Regie: Camille Degeye)

Brüche und Bewegungen
von Ricardo Brunn

Thomas sitzt mit gebrochenem Bein zu Hause fest. Minutenlang schauen wir dem Musiker dabei zu, wie er versucht das Beste aus der Situation zu machen, sich die Haare schneidet, isst, …

Thomas sitzt mit gebrochenem Bein zu Hause fest. Minutenlang schauen wir dem Musiker dabei zu, wie er versucht das Beste aus der Situation zu machen, sich die Haare schneidet, isst, auf dem Bett herum lungert, Youtube-Videos schaut, telefoniert, Elektronikteile verlötet, raucht und Musik hört. Dass die Narration in diesen Szenen jede Entwicklung verweigert, ist durchaus langweilig anzuschauen, doch ist diese Langeweile nicht Ausdruck mangelnden filmischer Gestaltungswillens, sondern ihr ganzes Gegenteil. Der Film braucht diese Zeit, um Thomas’ Gefühlshaushalt auf die Zuschauer*innen zu übertragen, so schmerzlich sich sein Versuch, mit der Langeweile umzugehen, auch anfühlen mag.

Zugleich bietet die Dehnung der Zeit einen intimen Zugang zu Thomas’ Welt, denn im Grunde genommen sehen wir in dieser ersten Hälfte von “Journey through a body” der Kreativität beim Entstehen zu. Nach und nach verlässt der Film seinen festen Pfad und führt uns aus der anfänglichen Langeweile eines Tagesablaufs in einen beinahe hypnotischen Rausch. In einer etwa siebenminütigen Sequenz bewegt sich der Film von einem Telefongespräch in die Heimat über sich langsam in das Gespräch schleichende Vogelgeräusche und Bilder von Insekten im Urwald, über die sich wiederum erste Ansätze eines Ambient-Tracks legen, zu Aufnahmen von Werner Herzog im Dschungel weiter zu Thomas, der an Reglern spielt und den Song kreiert, der bereits seit Minuten zu hören ist und in den sich wiederum Herzogs Respektbekundungen zum grünen Dickicht hinter ihm mischen. Selbst die Beleuchtung in der Wohnung beginnt ein Eigenleben, wenn sie plötzlich auf den Wänden wabert und diese flüssig zu werden scheinen.

Die im Filmtitel formulierte Reise durch den Körper ist hier die Reise durch Thomas‘ Gedanken, zeigt den Weg von der Inspiration zum Ausdruck als fluide Bewegung. Thomas’ Soundcollagen verschmelzen langsam mit der bildlichen Gestaltung, die sich von den zunächst starren und sehr nahen, beinahe aufdringlichen Bildern löst und im geschlossenen Raum den geistigen öffnet und zu einer Weite gelangt, in der sich der Blick und die eigenen Gedanken nach und nach verlieren.

Daneben findet die Überlagerung, die wie selbstverständlich ins Mehrdeutige neigt auch in Thomas’ äußerer Erscheinung ihre Entsprechung. Durch das Abrasieren seiner Haare zu Beginn des Filmes und seiner Nacktheit entzieht er sich hinsichtlich seiner Identität einer eindeutigen Kategorisierung. Mit Thomas Kuratli wird der Protagonist des Filmes zudem von einem Musiker gespielt, der mit seinem Projekt „Pyrit“ nicht nur die Musik zum Film beisteuerte, sondern auch als Filmkomponist (u.a. für „Blue My Mind“ von Lisa Brühlmann) tätig ist. „Journey through a body“ versieht also auch die Schnittstelle von Fiktion und Wirklichkeit mit Frakturen. Der Filmtitel wiederum ist einem Albumtitel der Industrial-Pioniere Throbbing Gristle entlehnt, deren Musik Grenzbereiche auslotet und einen Bruch mit gewohnten Songstrukturen darstellt.

Und als wäre das eingegipste Bein nicht genug, vollzieht sich in der Mitte des Filmes ein weiterer Bruch. Eine Mitarbeiterin des Sozialamtes möchte mit Thomas einen von ihm gestellten Antrag auf staatliche Unterstützung durchgehen und auf Rechtmäßigkeit prüfen. Was folgt, ist eine 15-minütige Demütigung, in der es plötzlich um die Suche nach Eindeutigkeiten und Kategorisierungen geht. Sogleich werden Kontoauszüge verlangt, Daten und Angaben nüchtern abgeglichen, das Mietverhältnis hinterfragt, Rechnungen gesucht, blank gezogen. Das beinahe quadratische Bildformat (1,33:1), die kleinen Räume der Wohnung, die Kamera, die an Thomas klebt und die vielen Detailaufnahmen, die zu Beginn des Filmes eine unmittelbare Intimität schufen, zwingen einem mit einem Mal eine Enge auf, die sich im weiteren Verlauf in Ausweglosigkeit verwandelt. Nichts kann sich der Kraft des Raumes noch entziehen, alles steht zur Inspektion. Die Räumlichkeiten werden nun auch wortwörtlich in einem anderen Licht gesehen, da die Wohnung von Thomas plötzlich heller wirkt. Kühles Tageslicht ersetzt die schummrigen Kerzen und die orangestichigen Nachttisch- und Deckenlampen.

Mit jeder freundlich gestellten Frage der unnachgiebigen Beamtin verengt sich das Herz und türmt sich die Anspannung, die von Minute zu Minute nach einer Entladung schreit. Ihr Eindringen in Thomas’ Wohnung ist einerseits Ausdruck der immer diffuser werdende Grenze von privat und öffentlich zugunsten des Letzteren. Beide Brüche – Thomas Bein und die dramaturgische Wende in der Mitte des Filmes – verweisen andererseits auf die immer deutlicher zu Tage tretenden gesellschaftlichen Brüche und die zunehmende Kluft zwischen arm und reich. „Nur wer arbeitet, soll auch essen.“ So brachte es in Deutschland in der Phase der Umstrukturierung des Sozialstaates und des Arbeitsmarktes am Ende des vergangenen Jahrtausends einmal ein Arbeitsminister auf den Punkt. Zynischer kann Politik nicht sein. Doch 15 Jahre später ist etwa ein Viertel der Menschen in diesem Land im Notfall nicht in der Lage 1000 Euro für anfallende Kosten zu bezahlen – von Altersvorsorge oder anderen Rücklagen ganz zu schweigen. Die Entsolidarisierung mit den sozial Schwächeren und jenen, die nicht vom Arbeitsmarkt und seinen begrenzt lohnstarken Berufen, profitieren, ist auf dem Tiefpunkt.

Viel wurde in den beiden großen Krisen der vergangenen zwanzig Jahre von “Systemrelevanz” gesprochen, doch gemeint war damit immer nur ein bestimmter Teil der Ökonomie. In diesem werden Banken und Konzerne lautlos gerettet, Pflegekräfte hingegen vor allem beklatscht. Zuletzt wird die Kultur mit dem Label versehen. Doch glaubhaft klingt das nie, wirkt im Gegenteil nachgeschoben. Auch, weil jede*r weiß, dass Kultur unter den gegebenen Marktlogiken nicht „systemrelevant“ ist. Der Begriff schafft Hierarchien, erzeugt Abwertung und Ausgrenzung. Doch das System, um dessen Relevanz es geht, ist die Gesellschaft, nicht die Wirtschaftsform. „Journey through a body“ setzt da ein unmissverständliches Zeichen und zeigt in seiner letzten Einstellung, wie mit dem Problem umzugehen ist.

Bacurau

(BR/FR 2019, Regie: Kleber Mendonça Filho, Juliano Dornelle)

Pastiche des Widerstands
von Wolfgang Nierlin

Makro- und Mikrokosmos, das Große und das Kleine bilden einen gewichtigen Zusammenhang in Kleber Mendonça Filhos und Juliano Dornelles‘ preisgekrönten Film „Bacurau“. Ein ungewöhnliches Zoom verbindet zu Beginn die Perspektive …

Makro- und Mikrokosmos, das Große und das Kleine bilden einen gewichtigen Zusammenhang in Kleber Mendonça Filhos und Juliano Dornelles‘ preisgekrönten Film „Bacurau“. Ein ungewöhnliches Zoom verbindet zu Beginn die Perspektive aus dem All mit dem titelgebenden kleinen Ort im strukturschwachen Nordosten Brasiliens. Dieser nach einer Nachtschwalbe benannte Flecken des Sertăo ist ebenso fiktiv wie real. Denn im Grunde steht er für eine verfehlte Politik, für soziale Benachteiligung und für die systematische Ausgrenzung von Minderheiten an den Rändern des riesigen Landes. In einer nahen Zukunft, in der dieser auf groteske Weise wahre Neon-Western mit seinen Science-Fiction-Anleihen spielt, ist Bacurau bereits von der digitalen Landkarte gelöscht. Auch von der Wasserversorgung wurde er abgeschnitten, weshalb man eingangs aus der Vogelperspektive dem Weg eines Wassertankwagens durch die staubige Einöde folgt.

Mit ihm kehrt Teresa (Bárbara Colen) in das Dorf zurück. Ihre allseits geschätzte Großmutter Carmelita ist gestorben und die verschworene Dorfgemeinschaft versammelt sich zum Trauerzug. „Lasst uns das Beste aus dem Leben machen, solange wir es haben“, sagt Plínio (Wilson Rabelo), Sohn der Verstorbenen und Dorfschullehrer. Seine Tochter Teresa hat einen auffallend roten Koffer aus der Stadt mitgebracht, in dem sie Impfstoffe, Medikamente und eine geheimnisvolle Psycho-Droge schmuggelt.

Unter Anführung des ehemaligen Killers Pacote alias Alácio (Thomás Aquino), der außerdem mit Teresa liiert ist, formiert sich offensichtlich ein Widerstand gegen die korrupten Behörden und gegen einen schmierigen Bürgermeisterkandidaten namens Tony Junior (Thardelly Lima). Ein Berg alter Bücher, abgelaufene Lebensmittel und unwirksame Arzneien dienen ihm als Wahlgeschenke zur Besänftigung der rebellischen Dorfgemeinschaft, was jedoch nichts nützt. Gleichzeitig begibt sich ein ausländisches Killer-Kommando unter dem sinistren deutschen Anführer Michael (Udo Kier) auf den Weg, um das Leben in Bacurau auszulöschen.

In einem bizarren Genre-Mix, der bekannte Westernmotive zitiert und diese sowohl mit mythischen als auch futuristischen Elementen verknüpft, komponieren Kleber Mendonça Filho und Juliano Dornelles ein ebenso vergnügliches wie ernstes Pastiche des Widerstands. Die beiden Regisseure, die selbst aus dem brasilianischen Bundesstaat Pernambuco stammen, erzählen den politischen Subtext ihres Films als ein unkonventionelles Crossover der Stile, das sich mit einer mehr flächigen, horizontalen Dramaturgie verbindet und auf eine zentrierte Figurenperspektive verzichtet.

So reiht sich in das Ensemble der subversiven Dörfler auch noch der an die Tradition der Cangaceiros angelehnte Bandit und Staatsfeind Lunga (Silvero Pereira) ein, der den grausamen Showdown nicht von ungefähr im geschichtsträchtigen Dorfmuseum inszeniert. Dass dabei psychoaktive Drogen ihre magische Wirkung entfalten, markiert im offenen Konzept des Films eine weitere wundersame Strategie, mit der die Regisseure ein politisches Anliegen mit solidarischem Handeln und einem traditionellen Volksgauben in Beziehung setzen.

Fabian oder Der Gang vor die Hunde

(D/AT 2021, Regie: Dominik Graf)

Alles Schlampen, außer Mutti
von Marit Hofmann

Es muss spätestens bei der Pressekonferenz zu Heinrich Breloers „Brecht“ gewesen sein, als ich mir eine veritable Tom-Schilling-Unverträglichkeit zugezogen habe. Nicht nur, weil er in dem auf der Berlinale 2019 …

Es muss spätestens bei der Pressekonferenz zu Heinrich Breloers „Brecht“ gewesen sein, als ich mir eine veritable Tom-Schilling-Unverträglichkeit zugezogen habe. Nicht nur, weil er in dem auf der Berlinale 2019 welturaufgeführten Schmierentheater den Dichter mit Wolf Biermann verwechselt und Brechts diversen Frauen mit Bänkelgesang zur Klampfe zu Leibe rückt. Auf die Frage nach seinem Bezug zu Brecht antwortete er, sie hätten am gleichen Tag Geburtstag. Der auch im Privaten offenbar äußerst feinfühlige Künstlerdarsteller entschuldigte sein Zuspätkommen zum Pressetermin beifallheischend damit, er habe einem ohnmächtigen Obdachlosen helfen müssen, und da wäre es doch das Mindeste gewesen, ihm die eigene Jacke unter den Kopf zu legen, bis der Krankenwagen kam. Applaus von den Pressekolleg*innen.

Nun also unser Major Tom in einem Berlin-Film von Dominik Graf, noch so ein Liebling der kulturbeflissenen Deutschen – wenn sie sich schon zu einem „Tatort“ oder „Polizeiruf“ herablassen, dann bevorzugt von einem Ästheten wie Graf.

Als Erich Kästners Antititelheld Jakob Fabian darf Schilling an der Liebe, am Leben und am Werte- und Sittenverfall in den letzten Jahren der Weimarer Republik sehr vorzeigbar leiden und vor die Hunde gehen. Oh, Boy! In dieser „Geschichte eines Moralisten“ (so der Untertitel der ersten vom Verlag abgeschwächten Romanfassung von 1931) verabscheut der unbeteiligte Beobachter Fabian die Nazis, begegnet aber auch den kommunistischen Umtrieben seines Freunds Labude mit Unverständnis und überlegener Distanz – so hat es das gesamtdeutsche Publikum gern.

Mit gekonnt brüchiger Stimme deklamiert Schilling aufs bedeutsamste Original-Kästner-Sätze, die Graf ihm in den Mund legt, wenn er sich nicht gerade mit einem altersweisen Off-Erzähler behilft.

Romanverfilmungen müssten lang sein, um der Komplexität der Buchvorlage gerecht zu werden, so begründet Graf Qual die drei Stunden, in denen wir den unglücklich verliebten arbeitslosen Werbetexter beim Dahintreiben und höchst symbolträchtigen Verirren in Babelsberger Filmkulissen begleiten. Unverständlich allerdings, warum das Drehbuch dann Entscheidendes am Roman ändert. Im Film rückt die Liebesgeschichte in den Vordergrund, und die Schauspielerin Cornelia (Saskia Rosendahl darf vornehmlich hübsch und verliebt sein), für die Fabian sein slackerhaftes Unbeteiligtsein aufgibt, taucht wieder auf, nachdem sie ihn für einen einflussreichen Filmproduzentenopi sitzen gelassen hat. Doch während sie im Buch die männliche Doppelmoral verhöhnt: „Ihr wollt den Warencharakter der Liebe, aber die Ware soll verliebt sein“, entmündigt Grafs Drehbuch sie und legt diese Kritik Fabians ebenfalls unglücklich verliebtem Akademikerfreund Labude in den Mund.

Frauenfiguren dürfen nicht vielschichtig sein und haben Grafs Empathie nicht verdient. Er leidet mit den verlassenen Männern, aber nicht mit der treulosen Femme banale. Während Cornelia zunächst eine Heilige schien und für die Karriere zur Hure wird (Wer wird denn hier gleich an me too denken? Graf jedenfalls nicht), sind alle anderen Damen Abziehbilder des Sündenpfuhls Berlin. Was man von „Berlin Babylon“ kennt und hoffentlich hasst, feiert hier feuchtfröhliche Urständ. Meret Becker muss als übergriffige Nymphomanin den feschen Fabian vor den Augen ihres alten Gatten ins Ehebett lotsen. Alles Schlampen, außer Mutti, die den armen Jungen mit Essen versorgt.

Ungemein elegant dafür, wie Graf die Zeitebenen im historischen Kinoformat verwebt – mit Split-Screen, Originalaufnahmen der 30er und allen Schikanen. Da kann es passieren, dass man plötzlich über einen Stolperstein stolpert, damit auch der oder die Letzte schnallt, dass hier gewaltig irgendwas in Richtung Gegenwart mahnt und warnt – so allgemein und unverfänglich, dass der hingerissene „Welt“-Redakteur den Film getrost „eine Parabel auf alles, was uns zur Zeit beschäftigt“, nennen kann.

Diese Kritik erschien zuerst am 09.06.2021 im Rahmen der Berlinale-Berichterstattung in: ND

Das Mädchen und die Spinne

(CH 2021, Regie: Ramon Zürcher, Silvan Zürcher)

Melancholie des Abschieds
von Wolfgang Nierlin

Auf dem Bildschirm des Computers erscheint der Grundriss einer geräumigen Zwei-Zimmer-Wohnung, der kurz darauf ausgedruckt wird. Die Geräusche des Druckers gehen über in das Wummern eines Presslufthammers, das wiederum abgelöst …

Auf dem Bildschirm des Computers erscheint der Grundriss einer geräumigen Zwei-Zimmer-Wohnung, der kurz darauf ausgedruckt wird. Die Geräusche des Druckers gehen über in das Wummern eines Presslufthammers, das wiederum abgelöst wird vom Lärm einer Bohrmaschine. Um diese Lärmquellen herum, durch sie hindurch und jenseits von ihnen gewinnen Stimmen, Schritte und die Geräuschkulisse eines Umzugs die Oberhand. Doch tatsächlich ist davon nicht viel zu sehen. Vielmehr liefert er die Folie beziehungsweise den zeitlich gedehnten Rahmen für eine räumliche Verdichtung von Gesichtern und Stimmen, Bewegungen und Begegnungen, aus denen für Augenblicke Beziehungen aufscheinen. Im Zentrum dieser minimalistischen Kontakte und Dialoge, die meist einem einfachen Frage-Antwort-Schema folgen, steht die Zeichnerin Mara (Henriette Confurius). Als schöne, stille Beobachterin des merkwürdigen Treibens um sie herum bleibt sie zunächst undurchschaubar und mysteriös.

In Ramon und Silvan Zürchers kunstvoll gestaltetem Film „Das Mädchen und die Spinne“ ist Mara die Verletzte. Äußerlich ablesbar ist das an ihrem Herpes-Bläschen über der Oberlippe, einem eingerissenen Fingernagel und einer Schramme auf der Stirn. Doch aus ihrer schweigsamen Gedankenverlorenheit blitzen immer deutlicher eine gereizte Angriffslust und unterdrückte Aggressionen. Offensichtlich leidet sie unter der bevorstehenden Trennung von ihrer WG-Mitbewohnerin Lisa (Liliane Amuat), die in besagte neue Wohnung umzieht. In Erinnerungen ruft sie die enge, fast symbiotische Beziehung wach, die sich jetzt in einem schmerzlichen Gefühl aus Melancholie und Vergeblichkeit aufzulösen scheint. „Voyage, voyage“ von Desireless wird im Hintergrund auf einem alten, verstimmten Klavier wiederholt intoniert, als gäbe es kein Wiedersehen.

Auf ästhetisch sehr eigenwillige, artifizielle Weise thematisieren die aus der Schweiz stammenden Zwillingsbrüder Zürcher diesen Abschied, der von Momenten der Vergänglichkeit und des Verschwindens durchdrungen ist. In kurzen Gesprächen und langen Blicken, für die es stets wechselnde Augen- und Ohrenzeugen gibt, inszenieren sie die Parallelität und Gleichzeitigkeit von Menschen und Dingen, die in der lyrischen Montage ein Eigenleben führen und eine eigene Geschichte entwickeln. Nicht die Erzählung, sondern die Darstellung und das Zeigen stehen im statischen Kino der Brüder Zürcher im Mittelpunkt.

„Schönheit lässt sich nicht bewahren“: Eine existentielle Unsicherheit und Ungewissheit sprechen aus der Protagonistin, die ihr Dasein als schwankend erlebt. Alles driftet auseinander, was auf der teils leicht forcierten Symbolebene des Films mit einer morbiden Lust an der Unordnung und Zerstörung einhergeht. Und doch gibt es immer wieder auch Übergänge in den Traum und die Phantasie als Fluchträume, hin zu einer Transzendenz, die die Wirklichkeit wie in einer bewegten Gewitternacht überschreitet – „als halte eine geheime Kraft die Dinge zusammen.“

Josep

(FR/ES/BL 2020, Regie: Aurel)

Mit dem Zeichenstift gegen das Vergessen, mit Farbe gegen die Angst
von Wolfgang Nierlin

Drei dunkle, ausgemergelte Gestalten irren durch den Schnee. Ihre langen Schatten werden vom Weiß der Landschaft und von der Schwärze des Waldes förmlich verschluckt. Im Februar 1939, nachdem Francos Truppen …

Drei dunkle, ausgemergelte Gestalten irren durch den Schnee. Ihre langen Schatten werden vom Weiß der Landschaft und von der Schwärze des Waldes förmlich verschluckt. Im Februar 1939, nachdem Francos Truppen Barcelona erobert haben, fliehen viele republikanisch gesinnte Spanier und internationale Brigadisten ins Nachbarland Frankreich. Hier sind die „Ausländer“ und „Kommunisten“ allerdings nicht willkommen. Blutspuren markieren den Grenzübertritt. Zu Tausenden werden die „Unerwünschten“ dieser „Retirada“ („Rückzug“) in sogenannten „Konzentrationslagern“ interniert, wo sie hinter Stacheldraht, Demütigungen und unmenschlichen Schikanen sowie unter Hunger und Krankheiten vor sich hin vegetieren. Als „Scheißspanier“ diffamiert, drangsaliert und geschlagen, fragt einer von ihnen: „Wer sind die Tiere? Wir oder sie?“

Einer, der in diese Klage einstimmt, ist der spanische Zeichner und Maler Josep Bartolí (1910 – 1995). Der ehemalige Polizist Serge mittlerweile ein alter, bettlägeriger Mann, erzählt seinem ebenfalls zeichnenden Enkel Valentin von seinen schockierenden Erlebnissen in einem südfranzösischen, direkt am Meer gelegenen Lager. Für ihn, der in seiner Erinnerung lebt, ist die Vergangenheit gegenwärtiger als die Gegenwart. Zugewandt und zugleich distanziert, berichtet er von Vertreibung, Flucht und einem unmenschlichen Lageralltag. Europa habe das alles zugelassen, konstatiert er ernüchtert. Ausgangspunkt für seine leidvollen Erinnerungen ist das schmerzliche Portrait eines sterbenden Lagerinsassen namens Helios, in dessen aufgerissenem Mund und den vor Entsetzen starren Augen sich alle Qualen verdichten. In feinen Strichen hat Josep Bartolí dieses Bild und das triste, brutale Lagerleben gezeichnet. In Rückblenden wird dieses lebendig, während sich Serge an seine berührende Freundschaft mit dem internierten Maler und dessen Sehnsucht nach seiner schwangeren Verlobten María Valdès erinnert.

Der französische Illustrator und Cartoonist Aurel orientiert sich in seinem Animationsfilm, den er aufgrund der mehr oder weniger suspendierten Bewegungen eher als „gezeichneten Film“ versteht, an den überlieferten Skizzen des Portraitierten. Mit reduzierten, auf die Figuren und markante Details konzentrierten Strichen taucht er ein in eine graue, karge und fast farblose Welt, wobei die einzelnen Bilder meist deutlich voneinander abgesetzt sind. Diese Betonung der Zeichnungen gegenüber der Animation verstärkt zugleich das Motiv der Gefangenschaft. So leben die Flüchtlinge mit ihren geschundenen Körpern in einer quälenden Ungewissheit, der Willkür der Wächter ausgesetzt. Bartolís Werk, hier durch Aurel vermittelt, gibt Zeugnis davon und ist ein Dokument gegen das Vergessen. Dem spanischen Maler gelingt mithilfe von Serge schließlich die Flucht nach Mexiko, wo er Asyl bei Frida Kahlo findet.

Wenn Seelen existieren, dann als schöne Idee, die zu ihrer Verwirklichung wunderbare Menschen braucht, sagt Bartolí einmal sinngemäß. Als Heilmittel gegen seine Angst empfiehlt ihm Frida Kahlo vor allem Farbe. Bartolís Vermächtnis wiederum wird am Schluss des Films in einer schönen Geste von Valentin weitergetragen.

„Josep“ ist auf MUBI und als VoD bei amazon, iTunes oder Google Play zu sehen.

Ayka

(RU/DE/PL 2018, Regie: Sergey Dvortsevoy)

Ins Leben geworfen
von Wolfgang Nierlin

Moskau ist unwirtlich und kalt. Die Lokalnachrichten melden ungewöhnlich heftige Schneestürme. Auf den Straßen und Plätzen sind die Räumdienste im Dauereinsatz. Und in den U-Bahnen herrscht drangvolle Enge. Unter den …

Moskau ist unwirtlich und kalt. Die Lokalnachrichten melden ungewöhnlich heftige Schneestürme. Auf den Straßen und Plätzen sind die Räumdienste im Dauereinsatz. Und in den U-Bahnen herrscht drangvolle Enge. Unter den vielen frierenden Menschen, allein und verloren, ist die 25-jährige Ayka (Samal Yeslyamova) unterwegs durch die fremde Stadt. Zu Beginn von Sergey Dvortsevoys ebenso rauem wie intensivem Film „Ayka“ hat die junge Kirgisin ihr Neugeborenes auf einer Entbindungsstation zurückgelassen. Sie flieht und läuft in einer schier ununterbrochenen Bewegung, verfolgt von einer hektischen Handkamera, die ihr dicht auf den Fersen ist und die Mühen ihres schmerzenden Körpers förmlich auf den Zuschauer überträgt. Fast scheint es, als würde ihr schwerer Atem die müden Glieder tragen.

In ihrer Heimat hat Ayka, die einmal eine Nähwerkstatt eröffnen wollte, Schulden. Jetzt sucht sie, die als Illegale unter Illegalen in einer kalten, verdreckten Wohnung mit zugeklebten Fenstern haust, verzweifelt nach einer Arbeit. In einer gammligen Hühnerschlachterei, wo sie unter unzumutbaren Bedingungen schuftet, wird sie um ihren verdienten Lohn geprellt. Und ihr früherer Job in einer Küche ist mittlerweile an eine andere Aushilfe vergeben. Während Ayka wie ein instinktgeleitetes Tier um ihr Auskommen, ja ihr Überleben kämpft, nehmen die nachgeburtlichen Schmerzen und Blutungen zu, wachsen Hunger und Angst. Ihre von der nicht abgegebenen Muttermilch geschwollenen Brüste bilden dazu einen schmerzlichen Kontrast und fungieren im weiteren Verlauf des Films zugleich als ein Symbol der Hoffnung.

Der russische Regisseur Sergey Dvortsevoy, dessen physische Inszenierung ganz auf die hervorragend verkörperte Heldin (Darstellerpreis in Cannes) konzentriert ist, vermittelt Aykas persönliche Hintergründe und Motive eher ungeordnet und nebenbei. Aus dem schonungslosen Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen leidendem Körper und einer menschenfeindlichen Umgebung bezieht sein teils schwer erträglicher Film eine immense Spannung.

Mit einem drastischen Realismus erkundet Dvortsevoy das Leben und Vegetieren von Menschen am Rande der Gesellschaft. Dabei setzt er die unwürdigen Verhältnisse der Illegalen und Deklassierten immer wieder in einen harten Kontrast zu den Erfolgreichen und ihren Versprechungen. Ayka ist eine Gedemütigte und Ausgebeutete, ins Leben geworfen wie ihr vor Hunger schreiendes Kind und schlechter behandelt als ein Tier. Reduziert auf ihre nackte, tierische Existenz erscheint Aykas schlussendliche Entdeckung des Mutterinstinkts trotz aller Bedrohung und Fragilität wie eine Besänftigung.

The Dissident

(USA 2020, Regie: Bryan Fogel)

Chronik einer Ermordung
von Jürgen Kiontke

In seinem Film „The Dissident“ geht Bryan Fogel den Hintergründen zum Mord am saudischen Journalisten und Medienberater Jamal Khashoggi am 2. Oktober 2018 nach. Der 60-jährige besuchte an diesem Tag …

In seinem Film „The Dissident“ geht Bryan Fogel den Hintergründen zum Mord am saudischen Journalisten und Medienberater Jamal Khashoggi am 2. Oktober 2018 nach. Der 60-jährige besuchte an diesem Tag die saudische Ländervertretung in Istanbul, um Scheidungsunterlagen abzuholen. Ein eigens eingeflogenes Team brachte ihn an Ort und Stelle um, kaum dass er das Gebäude betreten hatte. Saudische Stellen gaben zwei Wochen später die Tat auch zu, es habe sich um „ein Versehen“ gehandelt – ein Beweis dafür, dass man sich recht sicher fühlte in dem, was man tat. Und sich nicht mal eine gute Ausrede ausdachte.

Saudi-Arabien ist ein wichtiger Handelspartner auf internationaler Ebene. Im Austausch gegen Öllieferungen kauft die Staatsführung gern die Arsenale westlicher Waffenfabriken leer. Mit allzu viel Konsequenzen hat die Regierung wohl nicht gerechnet, als der vom regierungsnahen zum regierungskritischen gewandelte Medienprofi ermordet wurde. Ein Prozess mit elf Angeklagten fand zwar statt, aber die Urteile wurden später abgeschwächt oder ganz aufgehoben. Angehörige und Journalistenorganisationen und selbst der US-Geheimdienst CIA wollen in der Sache dennoch keine Ruhe geben.

Jetzt legt Oscar-Preisträger Regisseur Bryan Fogel („Ikarus“) mit einem Dokumentarfilm nach. Er konnte sehr viel Beweismaterial türkischer Ermittler verwenden, führt zahlreiche Interviews mit Khashoggis Mitstreitern, staatlichen Stellen in der Türkei, den USA und Saudi-Arabien. Daraus entsteht das Bild eines in den sozialen Medien geführten Kampfes um die Medienfreiheit in arabischen Staaten und autoritäre Eliten. Der saudische Kronprinz und Regierungschef Mohammed bin Salman, einst als liberaler Reformer angetreten, streitet jede Verantwortung für den Mord ab. Aber Ruhe wird es für ihn in der Sache erst mal nicht geben. So hat die Journalisten-Organisation „Reporter ohne Grenzen“ erst im März 2021 eine Klage gegen bin Salman beim Bundesgerichtshof eingereicht.

Fogel präsentiert eine umfangreiche Recherche, sein Film ist spannend erzählt und enthält auch Dinge der übelsten Art. So wurde am Tag der Tat im Botschaftsgebäude quasi alles mitgeschnitten, was gesprochen wurde. Im Film sind Tonprotokolle der Täter zu hören, die sich darüber unterhalten, wie man die Leiche zerteilt, plus die entsprechenden Geräusche. Einer der eingeflogenen Spezialisten ist Pathologe.

Nicht zuletzt Fogels Film wird dazu führen, dass der Fall Khashoggi auf Wiedervorlage bleibt. Der Regisseur selbst sagt: „Ich hoffe, die Menschen fühlen sich beim Zuschauen in der Verantwortung, selbst aktiv zu werden. Auf der ganz persönlichen Ebene kann sich jeder auf dem Weg zur Tankstelle überlegen: ‚Mein Kraftstoffverbrauch unterstützt ein unterdrückerisches Regime, das bereit ist, Menschen zu töten, nur weil sie Meinungsfreiheit wollen‘.“

Diese Kritik erschien zuerst am 23.04.2021 auf: links-bewegt.de

Zu sehen auf „Kino on Demand“: https://www.kino-on-demand.com/movies/the-dissident Wir empfehlen diese Plattform, weil hier ein Teil der Einnahmen direkt an die Programmkinos geht. Ebenfalls auf Amazon, Apple TV, Sky: 16. April 2021.

Gleichung mit einem Unbekannten

(FR 1980, Regie: Dietrich de Velsa)

Herzschlag des Lebens
von Wolfgang Nierlin

Die gedämpften Taktschläge eines Metronoms begleiten die ersten Bilder dieses fast stummen Films, der eine geheimnisvolle, schwebende Stimmung zwischen Realität und Traum, Erinnerung und Imagination etabliert. Der Herzschlag des Lebens …

Die gedämpften Taktschläge eines Metronoms begleiten die ersten Bilder dieses fast stummen Films, der eine geheimnisvolle, schwebende Stimmung zwischen Realität und Traum, Erinnerung und Imagination etabliert. Der Herzschlag des Lebens im Rhythmus der vergehenden Zeit evoziert zugleich eine Melancholie angesichts der Vergänglichkeit. Angesiedelt in einer nebelgrauen Vorstadtwelt aus Baustellen, Brücken, Unterführungen, Fabriken und Kneipen, spielt Dietrich de Velsas wiederentdeckter schwuler Pornofilm „Gleichung mit einem Unbekannten“ („Équation à un inconnu“, 1980) zugleich in einer in sich abgeschlossenen, spiralförmigen Welt. In ihre klandestinen Räume, ausgewiesen als Topographien der Homoerotik und entsprechend symbolisch aufgeladen, dringen Außengeräusche wie aus weiter Ferne. Zug- und Hafenlärm, Kindergeschrei und das Rauschen von Wasser kommen nicht aus dem Bild, sondern dienen der Suggestion. Verstärkt wird diese fast sakrale Atmosphäre noch durch den Einsatz klassischer Musik, die, gespielt auf Synthesizer und elektrischer Orgel, leicht verfremdend wirkt.

Dietrich de Velsa zeigt in seinem aus kunstvollen Einstellungen komponierten Film ausnahmslos jugendlich schöne Männer in ihrem sexuellen Begehren und in ihrer verzehrenden Lust, beim zärtlichen, fast unschuldig anmutenden Liebesspiel und in ekstatischen Orgien. Er inszeniert ihre Begegnungen an halböffentlichen Orten, die den Zuschauer-Voyeur zum Komplizen der durch Rahmungen distanzierten Voyeure im Bild machen. So werden Duschen, Umkleidekabinen, Kneipen-Toiletten und Unterführungen zur alltäglichen Bühne einer offenen, freien Sexualität, deren Erfüllung zugleich den Makel der Vergeblichkeit und des Hinfälligen in sich trägt. So scheint in den sehnsüchtigen, fast jenseitigen Blicken der Jünglinge die Zeit zwar aufgehoben, doch in ihren lasziv geöffneten Mündern vermischt sich der ätherische Atem des Lebens mit dem dunklen Hauch des Todes. Insofern öffnet sich der Film immer wieder einer Transzendenz, die seine Helden ebenso nährt wie verzehrt.

Als Dialektik zwischen An- und Abwesenheit lassen sich auch die Bewegungen der cruisenden Protagonisten im Raum verstehen. Ihre nächtlichen Motorradfahrten, als lange, dynamische Bewegungen inszeniert, suchen lustvoll das Unbekannte und öffnen sich einer unbeschwerten Freiheit. Wie sehr diese, vor allem auch in den Bildern sexuellen Verlangens, mit jugendlicher Unabhängigkeit verknüpft ist, wird wiederholt akzentuiert. Körper, Räume und Gegenstände sind dann regelrecht erotisch beseelt. Die sinnliche Welt kennt kein Außen und ist doch fremd und fern. Einmal sitzt ein Mann mittleren Alters – es könnte in der Logik des Films der Regisseurs sein – allein, schweigsam und scheinbar unbeteiligt in der Ecke einer Bar vor seinem Pastis, während sich wenige Schritte von ihm entfernt die Jungen in ihrer exzessiven, grenzüberschreitenden Lust besudeln. Die vergehende Zeit trennt ihn wie eine ferne Erinnerung von einem unmöglich gewordenen Begehren.

We

(FR 2021, Regie: Alice Diop)

Die Ränder des Herzens
von Ricardo Brunn

Ein Auto schlängelt sich auf holprigen Pfaden durch einen Wald irgendwo vor Paris. Die Insassen sind angespannt und halten Ausschau nach etwas, dass sich dem Blick der Zuschauer*innen entzieht. Als …

Ein Auto schlängelt sich auf holprigen Pfaden durch einen Wald irgendwo vor Paris. Die Insassen sind angespannt und halten Ausschau nach etwas, dass sich dem Blick der Zuschauer*innen entzieht. Als der Wagen hält, steigt ein älterer Herr – seiner Kleidung nach könnte er zu einer Jagdgemeinde gehören – aus und erspäht durch sein Fernglas die für das Publikum weiterhin unsichtbar bleibende Beute am Horizont. An seiner Seite ist ein kurz vor der Pubertät stehender Junge zu sehen, der mäßig interessiert in die Landschaft blickt und so aussieht, als könne er sich durchaus etwas besseres vorstellen, als an einem wolkenverhangenen Herbsttag mit Opa und dessen Kameraden das Wild aus dem Unterholz zu scheuchen.

Rund um die RER B-Zuglinie, welche die weitläufige Region um das Pariser Zentrum auf der Nord-Süd-Achse durchquert, siedelt die französische Dokumentarfilmregisseurin Alice Diop, aufgewachsen in einem Wohnprojekt in Aulnay-sous-Bois, ihren Film „Nous“ an. In lose miteinander verbundenen Episoden zeigt sie darin unaufdringlich und einfühlsam Ausschnitte des Lebens, wirft ausgehend von den Individuen nach und nach Fragen zur Gemeinschaft auf und versucht sich so an einer Definition des titelgebenden Begriffes, die einer Ab- und Ausgrenzung geschickt aus dem Weg zu gehen versteht. Stattdessen baut die Regisseurin kleine Brücken zwischen Welten, die in direkter Nachbarschaft liegen, sich aus der Ferne aber eher skeptisch und kontrollierend durch ein metaphorisches Fernglas beobachten oder gar nicht erst wahrnehmen.

Und so zieht der Film von der Jagdszene zum Automechaniker, der in einem Lieferwagen schläft und seit 20 Jahren nicht mehr in seiner Heimat Mali war, vorbei am Holocaust-Mahnmal und ehemaligen Sammellager in Drancy, dessen Gebäudekomplex in den 1920er Jahren zunächst im Rahmen des Sozialen Wohnungsbaus errichtet wurde und vorbei an Jugendlichen, die in ebenjenem Wohnkomplex gelangweilt auf Parkbänken Musik hören und nichts mit sich anzufangen wissen und weiter zu einer öffentlichen Verlesung des Testaments König Ludwig XVI, das am 25. Dezember 1792 aus dem Gefängnis geschrieben wurde, und zu den Menschen, die andächtig und den Tränen nahe zuhören. Verbunden sind alle Szenen durch den Zug, der mal in weiter Ferne vorüber eilt und mal als ein schneidendes Rauschen nur zu hören ist. Jedes Fenster ein Leben, jeder Waggon eine Ort.

Die Episoden von „Nous“ sind durchzogen von Ungleichheit und Isolation, von Diskriminierung und der Suche nach Halt in der Auseinandersetzung mit der nationalen Vergangenheit. Und obwohl die Trennungen zunächst zu überwiegen scheinen, zieht Diop zarte Linien der Verbindung in ihren Film. Denn obwohl die von ihr porträtierten Menschen nicht viel zu sagen haben und auch die Dinge schweigen, erzählen sie genau dadurch von Gegenwart und Vergangenheit und davon wie beides miteinander verbunden ist und das Zusammenleben gestaltet. Verbindungen, die Geschichte zum Sprechen und in einen Dialog mit dem Hier-und-jetzt bringen, stellt Alice Diop auch darüber her, dass sie sich selbst und ihre Familiengeschichte behutsam in das Patchwork des Filmes einwebt. Alte Hi-8-Aufnahmen zeigen zunächst Erinnerungen an ihre Eltern. Ihren Vater hört man darin sagen, dass es ihm nie an Arbeit gefehlt hätte und das Leben in Frankreich in Ordnung gewesen sei. Trotzdem haben er und seine Frau eine Versicherung abgeschlossen, die es ihnen ermöglicht ihre Leichen nach dem Tod in den Senegal zurückzubringen. Auch die Töchter sollten diese Versicherung abschließen, obwohl Alice Diop nicht vorhat, in Senegal beerdigt zu werden. Es zählt zu den eindringlichsten Momenten des Filmes, als dieser Konflikt zum Thema wird.

Daneben begleitet die Regisseurin ihre Schwester, die als Pflegerin arbeitet und im Film zu tiefst berührende Hausbesuche bei älteren Menschen macht. Gerade in diesen Bildern wird Diops Ansatz und Ziel deutlich in den sozioökonomischen Umgebungen nach Ungleichgewichten und Ähnlichkeiten zu forschen; zum Beispiel auch die, dass Menschen, die nach Frankreich immigrierten, und ihre Nachkommen genauso selbstverständlich Teil der französischen Geschichte sind wie die Könige der Grande Nation, die in der Basilika von Saint-Denis begraben sind und derer in Gottesdiensten gedacht wird.

Wer Wir sagt, begibt sich auf schwieriges Terrain, denn häufig ist Wir ein Plural, der einen Singular meint und auf der Suche nach verbindenden Gemeinsamkeiten viel stärker auf das Außen und die Unterschiede verweist. Wir wird so zu einem begrenzenden Begriff, dessen Wissensanspruch selten aufgeht und der je nach Kontext etwas anderes bedeuten kann. Das Wir in „Wir schaffen das!“ aus dem Jahr 2015 ist nun einmal ein anderes als das in „Wir sind das Volk!“ aus demselben Jahr. Dass und wie in Wir eine Gesellschaft den Widerspruch zwischen Individuum und Masse verhandelt, ist auch deshalb komplex, weil nicht alle gleichermaßen Wir sagen können: Wer Geld und Macht hat ist dazu häufig eher in der Lage. Auf diesem Minenfeld stellt „Nous“ in einer Zeit von Individualisierungsprozesse und Polarisierungen die einfühlsamste Art „Wir“ zu sagen dar, ohne zu vereinnahmen und ohne patriotischen Parolen des Zusammenhalts und der Zugehörigkeit auf den Leim zu gehen.

Am Ende landet Diop noch einmal bei der Jagdgemeinde. Die Vorbereitungen sind abgeschlossen, es wird zur Jagd geblasen. Der ältere Herr vom Anfang ist sichtlich ergriffen vom Moment. Ein Dutzend Hunde werden von der Leine gelassen und stürmen in den Wald. Uniformierte Männer schwingen sich auf die Pferde. Stolz in den Augen. Dass diese Jagdszene den Film wie eine Klammer umschließt und damit auf formaler Ebene das Prinzip der Treibjagd – die ebenfalls über eine Umklammerung funktioniert – wiederholt, kann bei aller Sensibilität und Offenheit im Blick durchaus als deutlicher Kommentar auf die Bruchstellen der französischen Gesellschaft und eines kollektiven Identitätsgefühls gelesen werden. Das Fernglas wird hier endgültig zur Metapher, wenn mithilfe eines technischen Apparats, der Unsichtbares sichtbar und in gewisser Hinsicht auch etwas aufspüren soll, Entfernung überwunden und so etwas wie Nähe (künstlich) hergestellt wird.

Cosmos

(FR 2015, Regie: Andrzej Żuławski)

Das irrationale Gewicht der Existenz
von Wolfgang Nierlin

Immer gibt es Unterbrechungen und Interruptionen, Eingriffe und Überlagerungen. Was man eben noch zu greifen glaubte, entzieht sich im nächsten Augenblick oder kehrt in veränderter Gestalt wieder. Der Zusammenhang ist …

Immer gibt es Unterbrechungen und Interruptionen, Eingriffe und Überlagerungen. Was man eben noch zu greifen glaubte, entzieht sich im nächsten Augenblick oder kehrt in veränderter Gestalt wieder. Der Zusammenhang ist ebenso auf der Flucht wie es die Wirklichkeit und das Leben sind. Die Bedeutung, so scheint es, bleibt ein absurdes Begehren. Und der sprunghafte Sinn ist aufgelöst in Bruchstücken zahlreicher Zitate. In den verwegenen Filmen des polnischen Regisseurs und Schriftstellers Andrzej Żuławski, der über viele Jahre hauptsächlich in Frankreich gearbeitet hat, ist alles möglich, weil das Leben, wie er es sieht und darstellt, unmöglich ist. Mit überdrehtem Witz, überspanntem Schauspiel und surrealer Theatralik feiert sein Kino den Exzess und den Wahnsinn. Es ist unlogisch und irrational, turbulent und energetisch. Die Syntax seiner nervösen, übertriebenen, exzentrischen Sprache fließt in eins mit einem unmöglichen Inhalt. Wild, utopisch und frei evoziert der 2016 verstorbene Künstler in seinem letzten Film „Cosmos“ (2015) noch einmal die Kakophonie einer unmöglichen Existenz.

„Ich habe Angst vor dem Wald. Die Hälfte meines Lebens war ich in einem dunklen Wald, abgekommen vom Weg“, sagt der aus Grenoble stammende Jura-Student Witold (Jonathan Genet) bei seiner Ankunft in einem Ferienort an der portugiesischen Atlantikküste. Zusammen mit dem Pariser Modeassistenten Fuchs (Johan Libéreau), einer Zufallsbekanntschaft, bezieht er Quartier in der Familienpension des exzentrischen Paares Madame Woytis (Sabine Azéma) und Monsieur Léon (Jean-François Balmer). Witold ist ein nervöser, überreizter, paranoider junger Mann, der sein Studium hasst und sich zum Schriftsteller berufen fühlt. Geradezu obsessiv arbeitet er an einem neuen Manuskript, das von mysteriösen Zeichen in seiner Umgebung, besonders aber von seiner manischen Liebe zu Lena (Victória Guerra), der schönen Tochter des Hauses, beflügelt wird. Während sich der zunehmend liebekranke Künstler nach dem verführerischen „Monster mit grünen Augen“ verzehrt, versucht er zusammen mit Fuchs das Geheimnis der getöteten Vögel, die auftauchen und verschwinden, zu ergründen.

Weil Lena bereits an den smarten Architekten Lucien (Andy Gillet) vergeben ist, steigert sich Witolds verzweifeltes Verlangen zur wilden Raserei: „Stoppt diesen Wahnsinn, diese Unzucht!“ Verlockt vom Unbekannten und Unerklärlichen, beklagt er die „irrationale Organisation dieser Welt“, die Schönes und Hässliches vereint und deren Fluch er mit literarischen Mitteln zu bekämpfen sucht. In seiner Sehnsucht nach unverdorbener, reiner Liebe ist Witold ein Romantiker, der, delirierend angesichts einer unergründlichen Finsternis, „das Gewicht des Hier und Jetzt“ spürt, während er sich mit magischen, zunehmend zerstörerischen Kräften dem Vergehen entgegenstellt. Als „15 Minuten Unendlichkeit in einem Leben, in dem nichts gratis ist“, bezeichnet er die Spanne seines Glücks. Und an einer anderen Stelle sinniert er über das Rätsel der begrenzten Dauer, mit dem er vielleicht auch ganz allgemein die individuelle Existenz meint: „Seltsam, dass etwas davor ist und etwas dahinter.“

Andrzej Żuławski reflektiert dieses Thema in seinem preisgekrönten Film „Cosmos“ (Silberner Leopard beim Festival von Locarno), der auf dem gleichnamigen, aus dem Jahr 1965 stammenden Roman seines Landsmannes Witold Gombrowicz basiert, allerdings weit weniger stringent und philosophisch, als das hier klingen mag. Vielmehr folgt er mit seiner Übertreibungskunst primär verrückten Einfällen und eruptiven (sprachlichen) Ausdrucksformen, wofür die Zusammenkünfte der schrägen, dysfunktionalen Familie, zu der auch noch das durch eine Lippenwulst entstellte Dienstmädchen Catherette (Clémentine Pons) gehört, einen idealen Rahmen bilden. Hier kann die zeternde Hausherrin schon mal in eine augenblickliche Starre fallen, während sich ihr Mann in ein konvulsivisches Sprachwirrwarr hineinsteigert, um irgendwann zu bekennen: „Ich habe geliebt.“

Dieses Credo könnte trotz aller Sinnverluste, trotz zeitgeschichtlicher Schrecken, die hier via TV-Bildschirm im Hintergrund immer wieder präsent sind, sowie der von Witold diagnostizierten Leere hinter den menschlichen Masken auch Żuławski selbst und damit sein Werk inspiriert haben. Sein liebeskranker Künstler und mögliches Alter Ego findet mit seiner Angebeteten hinter den verwitterten, von Moos überwucherten alten Mauern eines Schlosses schließlich ein erhofftes Paradies, in dem er Schriftsteller und Lena, wie von ihr erträumt, Schauspielerin sein kann. In Żuławskis tröstlichem filmischem Vermächtnis, das ebenso persönlich wie universell verstehbar ist, kehrt im Abspann auf ironische, selbstreflexive Weise die Kunst ins Leben zurück. „Es gibt nichts mehr zu sehen“, sagt der alte Léon an einem Ende, das zumindest in der Fiktion des Films auch ein Anfang sein könnte.

Die versteckte Stimme

(FR/IR 2020, Regie: Jafar Panahi)

Die Realität der leeren Leinwand
von Wolfgang Nierlin

Aus politischen Gründen wurden im Jahr 2010 die iranischen Filmemacher Jafar Panahi und Mohammad Rasulof verhaftet und zeitweise inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt. Während Panahi mit einem 20-jährigen Berufsverbot belegt …

Aus politischen Gründen wurden im Jahr 2010 die iranischen Filmemacher Jafar Panahi und Mohammad Rasulof verhaftet und zeitweise inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt. Während Panahi mit einem 20-jährigen Berufsverbot belegt wurde, kann Rasulof zumindest unter den Bedingungen der Zensur arbeiten. Auch Auslandsreisen sind den beiden prominenten Regisseuren nicht (oder nur zeitweise) erlaubt, weshalb beispielsweise Rasulof unlängst als Mitglied der Berlinale-Jury nicht in die deutsche Hauptstadt reisen konnte. Dort wurde im Jahr zuvor sein Film „Doch das Böse gibt es nicht“, der, bedingt durch die Pandemie, immer noch auf eine Kinoauswertung wartet, mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Denn sowohl Rasulof als auch sein befreundeter Kollege Panahi haben seit nunmehr zehn Jahren immer wieder kreative Wege gefunden, um heimlich oder offiziell Filme zu drehen. Dem 1960 in der iranischen Provinz Ost-Aserbaidschan geborenen Jafar Panahi gelang dies zuletzt etwa mit seinem preisgekrönten Film „Drei Gesichter“ (Drehbuchpreis in Cannes), der wie zuvor schon „Taxi Teheran“ (ebenfalls mit dem Goldenen Bären der Berlinale ausgezeichnet) in einem Auto spielt. Damit verweist der Regisseur zugleich auf ein beliebtes Motiv seines berühmten Lehrers Abbas Kiarostami.

Auch in seinem neuen Kurzfilm „Die versteckte Stimme“, der thematisch an „Drei Gesichter“ (IR 2018) angelehnt ist, ist das der Fall. Das Auto fungiert dabei als mobiler Schutzraum, der trotz seiner Begrenzung räumliche Bewegung ermöglicht. Zwei einfache Handykameras zeichnen direkt und fast in Realzeit das Geschehen auf. Während die eine an der Windschutzscheibe befestigt und auf den Innenraum des Wagens gerichtet ist, wird die andere Kamera von Panahis Tochter Solmaz bedient. Der Regisseur wiederum sitzt am Steuer und ist meist nur aus dem Off zu hören. Dieses Setting verleiht dem Film einen spontanen, improvisierten Charakter zwischen Dokumentation und Inszenierung.

In der kurdisch geprägten Stadt Mahabad, die im Nordwesten Irans liegt, steigt die junge Theaterproduzentin Shabnam Yousefi zu den beiden in den schwarzen Geländewagen. Sie ist mit Solmaz befreundet und erklärt zunächst einmal ihr Projekt: Während eines Castings für eine Theaterinszenierung hatte sie zuvor in einem kurdischen Dorf eine junge Frau mit einer wunderschönen Gesangsstimme entdeckt. Weil deren Eltern dem Mädchen die Teilnahme an dem Projekt versagten, kehrt Yousefi nun mit Panahi an den Ort in West-Aserbaidschan zurück. Dieser hatte in seinem Film „Drei Gesichter“ einen ähnlichen Fall behandelt und scheint deshalb als „Unterstützer“ prädestiniert. Doch Panahi verweist trotz des dokumentarischen Ansatzes zunächst auf eine wesentliche Differenz zu seinem eigenen, auf einem Drehbuch basierenden Film: „Die Realität ist etwas anderes.“

In den Gesprächen während der Fahrt, in denen es um kulturelle und sprachliche Unterschiede innerhalb des großen Landes sowie um absurde Vorschriften und überholt erscheinende Bräuche geht, lässt Yousefi durchblicken, dass sie mit ihrer Arbeit vor allem die Öffentlichkeit informieren und aufklären möchte. Im Dorf angekommen, muss das kleine Filmteam allerdings feststellen, dass sich traditionelle Verbote nicht einfach aufheben lassen. Weder darf die junge Frau das Theaterstück mit ihrer Stimme bereichern, noch darf sie sich überhaupt zeigen. Das visuelle Medium Film stößt hier an eine empfindliche Grenze. Allerdings ist es Trife Karimian erlaubt, hinter einem großen weißen Leintuch versteckt, ihre Stimme zum Klingen zu bringen; was eine irritierende Dialektik zwischen An- und Abwesenheit, Sichtbarem und Unsichtbarem erzeugt. Zugleich wird das Laken als leere Leinwand nicht nur zum Abbild des Zeigeverbots, sondern auch zur Projektionsfläche für die Imaginationen der Zuschauer.

Nixen

(DE 2018, Regie: Katinka Narje)

Ablösungsprozesse in Rot und Blau
von Wolfgang Nierlin

„29.9.1995“, sagt die Kinderstimme auf dem Tonband und kündigt einen Liedvortrag von Nene und Ava an, der von ihrer Mutter am Klavier begleitet wird. Später wiederholt sich die Szene: Die …

„29.9.1995“, sagt die Kinderstimme auf dem Tonband und kündigt einen Liedvortrag von Nene und Ava an, der von ihrer Mutter am Klavier begleitet wird. Später wiederholt sich die Szene: Die beiden jetzt erwachsenen Schwestern sitzen viele Jahre danach, ihre Rücken dem Publikum zugewandt, vor der großen Panoramascheibe eines Bungalows und blicken in den nächtlichen Garten, dessen Pflanzengrün sich in ihre Spiegelbilder mischt. Dann beginnen Nene (Lucy Wirth) und Ava (Odine Johne) im Sitzen eine Pantomime. Zur Musik wiegen sie ihre Körper und vollführen synchrone Bewegungen mit ihren Armen, bis schließlich ihre verspielt tänzelnden Hände zueinander finden. Noch immer bilden die beiden Schwestern eine innige, fast symbiotische Gemeinschaft, die keine fremden Störgeräusche oder unangenehme Erinnerungen duldet. Doch neben dieser tiefen Vertrautheit spürt man in Katinka Narjes bemerkenswert kunstvoll gestaltetem Debütfilm „Nixen“ von Anfang an auch schwelende Konflikte.

Doch noch ist das Haus mit seinen hellen, warmen und offenen Räumen wie ein modernes Refugium, abgetrennt von den Zumutungen draußen in der Welt einer namenlosen Stadt, wo die beiden als Kellnerinnen in einem schicken Café arbeiten. Während Nene, die ältere der beiden, als alleinerziehende Mutter der 7-jährigen Sabrina (Emelie Harbrecht) insgeheim von einer Karriere als Sängerin träumt, aber sich nicht recht traut, fühlt sich die unausgeglichen und unzufrieden wirkende Ava in ihrer Beziehung zu Alex (Roland Bonjour) unglücklich. Ebenso lustlos wie anhänglich sagt sie einmal zu ihm: „Ich will auch getragen werden.“ Obwohl Ava anlehnungsbedürftig und unselbständig ist, stößt sie ihren eifersüchtigen, meist abwesenden Freund immer wieder zurück, will sich schließlich sogar von ihm trennen. Doch die Los- und Ablösung gestaltet sich schwierig: Als Alex sie auffordert, den Bungalow und damit den liebgewordenen Raum aus Sicherheit und Geborgenheit zu verlassen, sucht Ava heimlich Schutz im Poolhaus.

Die Vertreibung aus dem Paradies und der gleichzeitige Verlust ihrer Jobs spitzen schließlich den geschwisterlichen Konflikt in seinem Wechsel zwischen Nähe und Distanz zu. Im kammerspielartigen Setting ihres poetischen Films choreographiert Katinka Narjes zusammen mit der Bildgestalterin Carmen Treichl in langen Einstellungen und fließenden Kamerabewegungen Prozesse der Anziehung und der Abstoßung. Zwischen Langeweile, Müßiggang und kindlichem Versteckspiel vollführen die beiden Schwestern im Flow leicht perlender Jazzmusik einen höchst farbintensiven Tanz, der aus den Verschlingungen der Abhängigkeit ins Freie führen soll. Während Nene als Farbe ein leuchtendes, potentiell kämpferisches Rot zugeordnet ist, verliert sich Ava in einem melancholischen, sehnsüchtigen Blau. Doch dann kommt es zu einer außerordentlich schönen Liebeserklärung, die originell über Bande gespielt und über Trennwände hinweg inszeniert wird; außerdem wagt Nene einen kleinen Konzertauftritt in der Lounge eines Hotels. Die Kleider der Schwestern sind jetzt weiß. Etwas gerät in Bewegung, öffnet sich, beginnt vielleicht neu.

„Nixen“ ist derzeit im OnDemand-Angebot von Grandfilm auf Vimeo zu finden:

Ema

(CL 2019, Regie: Pablo Larraín)

Ganz Feuer und Flamme
von Christian Kaiser

Ema. Ein Name, eine Protagonistin, ein Titel. Das war schon bei Pablo Larraíns „Jackie“ (USA, 2016) so, dem US-Debüt des Chilenen, der seine ganze Aufmerksamkeit damals auf eine US-amerikanische Geschichte …

Ema. Ein Name, eine Protagonistin, ein Titel. Das war schon bei Pablo Larraíns „Jackie“ (USA, 2016) so, dem US-Debüt des Chilenen, der seine ganze Aufmerksamkeit damals auf eine US-amerikanische Geschichte richtete und sich von der zuvor von ihm so oft verhandelten Geschichte Chiles abwandte. „Jackie“ war damit eine Art Unikat in Larraíns Schaffen, stilistisch aber eng mit seinen anderen Filmen verwandt, insbesondere mit dem nahezu zeitgleich erschienenen „Neruda“ (CL, 2016). Vielleicht muss man „Jackie“ gar als eine Art Schlüsselfilm Larraíns einstufen, der seine Heldin hier machen ließ, was er selbst stets machte: Geschichte schreiben. Oder besser: Geschichte gestalten. Und der seine Heldin auch über diese Tätigkeit reflektieren ließ.

Weniger direkt war diese Geschichtsschreibung schon Thema in Larraíns vorherigen Filmen: Ging es in „Fuga“ (CL, 2006) und „Tony Manero“ (CL, 2008) noch um die Überführung von Erfahrung in Musik bzw. um das Nachstellen der ikonischen „Saturday Night Fever“-Hauptfigur, so blickte Larraín in „¡No!“ (CL, 2012) auf die Macht des Marketings, die 1988 mit der No-Kampagne das Ende der Pinochet-Ära einleitete. In „El Club“ (CL, 2015) ließ er sündige, exkommunizierte Priester, ein anklagendes Missbrauchsopfer und einen Vertreter der Kirche um das Bild der Kirche ringen, in „Neruda“ inszenierte er das Ringen des flüchtigen Dichters und seines Häschers darum, wer von ihnen Geschichte schreiben und wer darin als Hauptfigur eingehen würde. Auch in diesen Filmen geht es letztlich darum, über unterschiedliche künstlerische Formen (Musik, Performance, Tanz, Film, Literatur, Sprache) die Vergangenheit oder die unmittelbare Gegenwart zu kommentieren und somit ihren zukünftigen Kurs zu beeinflussen. Aber wo „Neruda“ in bester 60er-Jahre-Autorenfilmtradition etwas verklausuliert bleibt, thematisiert „Jackie“ die Gestaltung von Geschichte ganz explizit und lässt Signifikat und Signifikant weitgehend zusammenfallen – wohingegen in „¡No!“ nur eine Art Feelgood-Kampagne durchgezogen wird, die mit der Pinochet-Diktatur gerade äußerst wenig zu tun hat, wo also die Zukunft von der Utopie beeinflusst wird und nicht von der Gestaltung des Vergangenen.

„Ema“, in dem nun wieder eine weibliche Hauptfigur mit ihrem Vornamen titelgebend gerät, nimmt auf andere Weise eine besondere Stellung in Larraíns bisherigem Gesamtwerk ein, schlägt aber tatsächlich eine neue Richtung ein, anstatt in aller Deutlichkeit frühere Linien zu bündeln. Denn zunächst einmal ist „Ema“ ein Gegenwartsfilm, kein Geschichtsfilm. Und anders als Larraíns Debütfilm „Fuga“, der ebenfalls in der Gegenwart spielte, führen hier auch keine eingeschobenen zusätzlichen Zeitebenen in eine düstere Vergangenheit zurück, welche die Figuren als Trauma heimsuchen würde. Zwar haben auch in „Ema“ die Hauptfiguren an den bedrückenden Ereignissen einer Vergangenheit zu knabbern, welche dem Publikum erst nach und nach erschlossen wird, aber diese Vergangenheit ist noch sehr jung, führt keinesfalls zurück in Zeiten der Diktatur. Ema, die Titelfigur, deren Name bereits an Mutterschaft gemahnt, ist in ihrer Beziehung zum Choreografen Gastón kinderlos geblieben, weshalb beide einen Jungen – nicht mehr ganz Kind, aber auch noch kein Jugendlicher – adoptiert haben. Doch der Knabe, der mit rebellischen Aktionen Aufmerksamkeit einforderte, verbrannte Emas Schwester eine Gesichtshälfte und wurde von seinen Adoptiveltern umgehend wieder abgegeben – was Ema nun, Reue empfindend, rückgängig machen möchte.

Das ist die Ausgangssituation eines Films, der sein Publikum lange im Unklaren darüber lässt, wer aus welcher Motivation heraus welche Interessen verfolgt. Ohne erahnbares Ziel tragen Ema, die Tänzerin und Tanzlehrerin, und Gastón, der Choreograf, in ihrer jeweiligen Verletztheit miteinander einen zunehmend intensiveren Beziehungsstreit aus. Sie geraten über voneinander abweichenden künstlerische Ziele und Perspektiven ihrer Tanzkompanie in Konflikt. Kolleginnen oder Freundinnen vom Jugendamt kritisieren ihre Entscheidungen. Ema bandelt mit einem Feuerwehrmann an, und schließt (eine nicht bloß platonische) Freundschaft mit einer Notarin. In den nächtlichen Straßen Valparaísos vollführt sie zerstörerische Flammenwerfer-Performances und strebt tagsüber eine neue Stelle als Tanzlehrerin an, ehe sich die Konsequenzen all dieser Ereignisse aus der anfangs noch irritierenden episodenartigen Erzählstruktur in der zweiten Hälfte des Films zunehmend herausschälen.

Den besagten und schon im Trailer eindrucksvoll platzierten Flammenwerfer-Performances kommt dabei ein großer Stellenwert zu: Hier wie auch im – von Gastón geschmähten – Reggaeton oder im Sexualverkehr lebt Ema mit ihren Freundinnen eine impulsive (und nebenbei die Umgebung umformende) Leidenschaft aus, in der das Innenleben ganz direkt in Körperlichkeit und Aktion transformiert wird. Gastón, der bisweilen für schwul gehaltene, scheinbar nicht zeugungsfähige Choreograf, rügt die Reggaeton-Auftritte als niveaulos und so sexualisiert wie sexistisch. In seinen Augen erscheint als Selbsterniedrigung und billige Darbietung, was in den Augen von Ema und ihren Begleiterinnen Selbstbehauptung, Selbstbewusstsein und (Anziehungs-)Kraft ist.

Zwei aus der Historie in diesen Gegenwartsfilm eingeführte Details unterstreichen, dass Ema einen alten Geschlechterkonflikt überwindet. Denn in einer ihrer Aktionen mit dem Flammenwerfer setzt sie eine Büste in Brand, die an Arturo Prat erinnert: Anwalt, Kapitän und Nationalheld seit den 1860er-Jahren und seinem Einsatz im Spanisch-Südamerikanischen Krieg. Prat ist ein Mann, wie er im (Geschichts-)Buche und gegossen oder gemeißelt auf Sockeln steht: stechender Blick und imposanter Vollbart als Zeichen seiner Maskulinität, volle Bedeutungsschwere ausstrahlend. Er wird von Ema regelrecht gegrillt. Und dann gibt es noch eine andere Figur aus der Geschichte Chiles: Rebeca Matte, Namensgeberin des Colegio, an dem sich Ema gegen Ende des Films vor einer, allem Progressiven gegenüber aufgeschlossen wirkenden, Direktorin als Tanzlehrerin bewirbt. Matte – am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als Bildhauerin tätig – knüpfte nicht zuletzt dank der sozialen Stellung ihres Vaters Kontakte zu den Intellektuellen und Künstlern ihrer Zeit und hatte wie Ema den Verlust eines Kindes zu beklagen. Anders als Matte zählt Ema eher zu den suspekten Randfiguren der Gesellschaft, wie ihr die Jugendamt-Mitarbeiterin frei heraus sagt; und anders als Matte zerbricht Ema nicht am Verlust eines Kindes, sondern kämpft für ihr Glück. Sie ist somit eine zeitgemäßere Version Mattes, deren Name konträr zu dem von Prat eingesetzt wird. Mit diesen so auffällig wie flüchtig in Szene gesetzten Namen hallen die Verweise auf historische Personen aus Larraíns vorangegangenen Geschichtsfilmen in diesem Gegenwartsfilm noch nach.

In solch unscheinbaren Details – etwa auch in den kreisrunden Motiven, die immer wieder auf Mutterleiber zu verweisen scheinen, in den Motiven des Feuer(wehrmann)s und des Wassers oder in den einstudierten Tänzen – verleiht „Ema“ einer Beziehungskrise ein größeres Fundament: hier geht es ganz grundsätzlich um Geschlechterrollen, zu denen auch die sexuelle Identität gehört. Dabei füllt Gastón keinesfalls den Part eines Schurken oder eines Hanswurst aus: der von Gael García Bernal charismatisch gespielte Mann, der wie Mariana Di Girólamos wuchtig dargebotene Ema eher ein Sonderling in der Gesellschaft ist, der manchem als effeminiert oder schwul erscheint, der keinen Nachwuchs erzeugt und der etwas verkopft und überheblich seiner Partnerin erklärt, wie sie ihren Körper einzusetzen habe, gehört selber zum utopischen Bild der neuen Bandbreite des Mannes. Denn vielleicht gehören solche Fehlbarkeiten zu diesem neuen Bild dazu, das auch andere Männer einschließt: etwa den maskulineren, kräftigen (Feuerwehr-)Mann der Tat (der aufgeschlossener ist, als man zunächst meinen könnte). Auf der anderen Seite bilden Ema, ihre Partnerinnen und ihre geliebte Notarin ein ähnlich breites Bild von Weiblichkeit ab. Und die Sexualität, die sie alle verbindet, neigt mindestens ins Bisexuelle, wenn nicht gar ins Pansexuelle, wobei die Sexualität selbst nur Teil einer sehr viel größeren Ekstase ist, die in der Kunst, in rebellischer Performance und platonischer Zuneigung ihren Platz findet.

So ist Larraíns Film, der in ein ganz und gar erstaunliches, erhebendes Patchwork-Family-Szenario mündet, in welchem die Außenseiter der Gesellschaft mit der Mitte der Gesellschaft in Harmonie zusammenkommen können, letztlich ein Werk, welches sich den Filmen von Larraíns Landsmann und Kollegen Sebastián Lelio anzunähern scheint, der in „Gloria“ (CL, 2013) und „Eine fantastische Frau“ (CL, 2017) mit der transsexuellen Hauptdarstellerin Daniela Vega ebenfalls neuartig auf Geschlechterrollen und sexuelle Identitäten blickt – ähnlich kraft- und humorvoll, ebenso zuversichtlich.

90%

(DE 2020, Regie: Jerry Hoffmann)

Sexy Anorexia
von Ricardo Brunn

Jean (Simon Frühwirth) denkt permanent ans Essen – etwa 90% der Zeit. Nur geht es ihm nicht darum möglichst viele leckere Speisen zu verdrücken, sondern genau darum dies zu vermeiden. …

Jean (Simon Frühwirth) denkt permanent ans Essen – etwa 90% der Zeit. Nur geht es ihm nicht darum möglichst viele leckere Speisen zu verdrücken, sondern genau darum dies zu vermeiden. Jean möchte dünn sein. Vor dem Abendessen trainiert er deshalb wie besessen in seinem Zimmer. Anschließend formt er am Esstisch mit der Gabel lustlos ein Gesicht aus Möhren, Erbsen und Kartoffelbrei. Und während Mutter voller Kummer auf ihren Sohn blickt, platzt dem Vater aus Ratlosigkeit der Kragen. Auch die Ärztin in der Klinik macht sich große Sorgen: Jean solle umkehren solange es noch ginge, denn sein Body Mass Index läge mittlerweile bei 17. Für den Jungen klingt das allerdings eher wie eine Ermunterung, den eingeschlagenen Weg weiter zu gehen. Da tritt die selbstbewusste Lili (Lili Epply) auf dem Krankenhausflur in Jeans Leben und fragt frei heraus, ob Jean mit ihr abhängen wolle. Der willigt ein und wenige Minuten später sitzt das Pärchen mit Susi-und-Strolch-Spaghetti am Essenstisch in Lilys Haus. Jean sträubt sich, bis Lili ihm ein Angebot macht: Wenn er aufisst, gibt‘s Sex. Und siehe da, der Junge kann reinhauen wie Terrence Hill in seinen besten Filmen.

Jerry Hoffmann unternimmt in „90%“ den Versuch eine Geschichte zu erzählen, die in der öffentlichen Wahrnehmung kaum vorkommt: Weil sie als „typische Frauenkrankheit“ gilt, wird Anorexie bei Männern und Jungen oft zu spät oder gar nicht als solche entdeckt. Marginalisierung oder Bagatellisierung sind auch in Ratgebern zum Thema Gang und Gäbe, wenn zum Beispiel das Bildmaterial nur Frauen oder Mädchen zeigt. Doch etwa jeder zehnte Betroffene von Magersucht ist deutschlandweit ein Mann. Die Gründe für die Krankheit sind vielfältig und können mit dem Stellenwert des Körpers in der Gesellschaft, Geschlechtererwartungen und gängigen Schönheitsidealen zusammenhängen, die jeweils für sich oder in Verbindung Druck auf junge Erwachsene ausüben. Der Weg aus einer Essstörung ist folglich oft alles andere als einfach. Hier setzt Hoffmann mit seinem Film an: Er möchte zeigen, wie wichtig es ist, geliebt und als das angenommen zu werden, was man ist. Nur entgleitet ihm sein Film mit jeder Minute und die schöne Absicht gebiert ihre ganz eigenen Monster.

Bereits auf der Ebene der Erzählung drängt sich nämlich eine sehr unangenehme Lesart des Filmes auf, die in der hanebüchenen Verkürzung der Behandlung einer Krankheit liegt. Nicht nur, dass zu keinem Zeitpunkt das Gefühl aufkommt, dass Jean überhaupt ein ernstzunehmendes Problem hat, weil außer ein paar Sit-Ups, bedrückt ins Leere starren und Mit-der-Gabel-im-Essen-Herumstochern abgegriffene Bilder zur Illustration eines Zustands verwendet werden, die eine dreidimensionalen Vorstellung der Figur, ihrer Lebensumstände und damit Glaubwürdigkeit sowie Ernsthaftigkeit kaum zulassen. Es stellt sich darüber hinaus sehr schnell die Frage, warum der Filmemacher seinen Figuren keine andere Möglichkeit gibt zueinander zu finden und die Einstellung Jeans zu seinem Körper zu verändern, als mit der Aussicht auf den Geschlechtsakt. „90%“ versäumt es nahezu gänzlich sich des Erforschens des Gegenübers mit Berührungen, der Angst vor dem Sich-Zeigen und in all seiner Verletzlichkeit Offenbarens oder des Stellenwerts der Sexualität, die gern verweigert wird oder aufgrund veränderter Hormonhaushalte bei anorektischen Menschen eine untergeordnete Rolle spielt, anzunehmen. Lieber reduziert der Film Jean auf ein billiges Reiz-Reaktions-Schema, weshalb es schwer fällt, die vom Regisseur in Interviews proklamierte Interpretation, dass es in „90%“ um den Wunsch ginge der Scham zu begegnen und von einem Gegenüber angenommen zu werden, im Film zu finden.

Ganz im Gegenteil fußt die Prämisse dieses Filmes auf einem hoffnungslos überholten Verständnis der Genderrollen: Der Mann ist in „90%“ schüchtern und hat ein Problem, die Frau löst es und zwar mit ihrem Körper. Es ist ein altbekanntes Muster, in dem männliche, heterosexuelle Teenager von Frauen träumen, die es faustdick hinter den Ohren haben und freimütig, ohne weiteres Kennenlernen, ihren Körper zum Sex anbieten. Und wie viele Filme, in denen selbstbewusste Frauen schüchterne oder jugendlich übermütige Helden mit ihren Körpern zähmen, gibt es in der Filmgeschichte? Nach wie vor eindeutig zu viele. Als Gegenthese ließe sich in den Raum stellen, dass es in „90%“ nicht um eine Essstörung, sondern um die Angst des Mannes vor der (weiblichen) Sexualität geht. Er will sich dieser nicht stellen, er will sie bekommen; gratis und ohne fragen zu müssen. Willkommen im Gestern.

Flankiert wird diese Lesart durch die Inszenierung Lilis. Sie ist nichts weiter als die abgedroschene Schablone einer kurvigen, vitalen und selbstbewussten „Powerfrau“ mit vollen Lippen und laszivem Blick, die sich Jean geradezu aufdrängt. Dass Lili selbst ein Problem zu haben scheint – wie es an einer Stelle mit Verweis auf eine Psychotherapie angedeutet und nicht weiterverfolgt wird – ist irgendwie egal, denn es geht in „90%“ eben nicht um eine Krankheit oder den Aufbau einer liebevollen Beziehung zwischen Menschen. Noch ein wenig unangenehmer wird es, wenn man in Betracht zieht, dass in schöner Regelmäßigkeit Studien für Schlagzeilen herhalten müssen, nach denen kräftige Frauen für hungrige oder gestresste Männer besonders interessant seien, und dieses Klischee in „90%“ einhundertprozentig breitgetreten wird.

Zur Reduktion der Figuren auf ihre (Körper)Funktionen passt, dass sich „90%“ in ästhetischer Hinsicht den oberflächlichen Eindeutigkeiten aussagekräftiger Werbebilder verschreibt: visuelle Effekte im Stile der 90er Jahre, knallige Beleuchtung, weil Neon gerade wieder in ist, erwartbare Zeitlupe beim Tanzen und Herumtollen, eine Betonung des Schnitts und Stangenelektropop, den die Chefetage einer Versicherung oder einer Brauerei sicherlich mit dem Attribut fresh beschreiben würde. Subtil ist da kaum etwas. Auch Platz für Widersprüche, Ängste und Unsicherheiten, die Essstörungen begleiten können, gibt es kaum. An einer Stelle redet Jean von Selbstbeherrschung, aber Bilder findet der Film dafür keine. Einzig Jeans Tanz in Frauenkleidern, der die Abgrenzungstendenzen von allem Weiblichen auf der Suche nach männlicher Identität als Element anorektischen Verhaltens aufgreift, bezeugt Auseinandersetzung mit dem gewählten Thema.

Der Film ist ein Paradebeispiel dafür, wie gut gemeint und gut gemacht auseinanderdriften und wie schnell notwendige Reduktion in Reduktionismus umschlagen können. Leider ist er auch ein Beispiel dafür, das Filmfestivals gern einmal auf das Gutgemeinte hereinfallen und solche Filme in ihren Wettbewerben platzieren. „90%“ ist an der Hamburg Media School (HMS) entstanden und es ist auffällig, wie viele Filme dort thematisch wie künstlerisch in dieselbe Kerbe schlagen. Mit „Stand Up“ (R: Shahab Habibi), „Herbst“ (R: Greta C. Benkelmann), „Aus den Fugen“ (R: Wiebke Becker), „Unter Menschen“ (R: Caren Wuhrer) und auch Jerry Hoffmanns zweitem Kurzfilm „Mall“ widmen sich mehrere Werke aus den letzten etwa eineinhalb Jahren gesellschaftlich relevanten Themen wie Demenz, Anorexie, Rassismus und Pädophilie auf die gleiche Art und Weise: Die Filme zeichnet ein reduktionistischer Hang zur Eindeutigkeit in den Dialogen und der Bildsprache aus, was wiederum die auf kurzfristige Wirksamkeit hin angelegten Absichten offenbart. Einer ernsthaften Auseinandersetzung in der verdichteten Form des Kurzfilmes verweigern sich diese Filme gänzlich. Hier werden Schlagworte checklistenartig bearbeitet wie für die, noch schnell am Vorabend zusammengeschusterte, Ethik-Powerpoint-Präsentation einer 8. Klasse. Das passt zu einer Filmhochschule, deren Geschäftsführerin Katharina Schäfer bei der Verleihung des Deutschen Kurzfilmpreises 2019 selbstbewusst verkündete: „Die Generation Z guckt fast 60 Videos am Tag, da ist der Kurzfilm genau das richtige Medium“ und mit solch einer Aussage verkennt, dass Kurzfilme Geschichten eben anders erzählen als die Formate der Sozialen Medien. In Kurzfilmkreisen hat sich die HMS deshalb schon einen gewissen Ruf erarbeitet. Will man diesen auch in Zukunft erhalten, lohnt es sich in jedem Fall, weiterhin übermotiviert ehrgeizige Relevanzfilme voller 08/15-Weisheiten unter dem Oberbegriff Diversität auf den Filmfestivalmarkt zu werfen.

Komm und sieh

(SU 1985, Regie: Elem Klimow)

Mit eigenen Augen
von Jürgen Kiontke

Der Zweite Weltkrieg, der sich im Gesicht eines Jungen abspielt – das ist der sowjetische Spielfilm „Komm und sieh“ aus dem Jahr 1985, der, nach einer sehr kurzen Spielzeit im …

Der Zweite Weltkrieg, der sich im Gesicht eines Jungen abspielt – das ist der sowjetische Spielfilm „Komm und sieh“ aus dem Jahr 1985, der, nach einer sehr kurzen Spielzeit im letzten Herbst, nun online und als DVD restauriert zur Verfügung steht.

Regisseur Elem Klimow war sich sicher, nicht mehr aus dem Medium Kino herauszubekommen als diesen Film, der die Ereignisse im von der deutschen Wehrmacht überrollten Weißrussland im Jahr 1943 aus der Perspektive des Jungen Florja zeigt – und stellte danach das Filmemachen kurzerhand ein.

Zu Beginn des eindrucksvollen Films sehen wir Florja, halb spielend, halb schon kämpfend, mit einem Freund nach alten Gewehren im Sand wühlen. Er will zu den Partisanen, aber ohne Waffe werden sie ihn nicht nehmen. Seine Mutter will nicht, dass er in den Krieg zieht, sie macht ihm eine Szene. Er solle sie töten, ruft sie, und seine Geschwister auch, dann wüsste er, was Krieg ist.

Trotzdem geht er, doch im Partisanenlager will man ihn nicht. Gerade mal seine Schuhe darf er abgeben, damit ein anderer damit kämpfen kann. Doch auf seinem Rückweg zur Familie kann er Krieg haben, so viel er will: Zu Hause sind alle ermordet worden, die deutschen Soldaten haben seine Leute umgebracht. Die Handlung gipfelt in der Vernichtung der Bewohner des Nachbardorfes: Florja wird Zeuge und beinahe selbst Opfer, als sie von der SS und anderen deutschen Einheiten in eine Scheune gesperrt und verbrannt werden.

„Komm und sieh“ ist ein Film, dessen Kameraführung konsequent vom Blick des Betroffenen geleitet wird, niemals sind hier die Täter schon deswegen im Vorteil, weil sie die Handelnden sind und Film das Medium der Aktion ist. In vielen Kriegsfilmen wird die Anwesenheit des Aggressors auf fremdem Terrain mit unhinterfragbarer Selbstverständlichkeit dargestellt. In diesem Film nicht, denn jede Einstellung, die die deutschen Soldaten zeigt, stellt ihre Existenz an diesem Ort infrage: Was wollen diese Menschen dort?

„Der Krieg ist schuld“, werden sie später sagen, wenn sie den Partisanen in die Hände gefallen sind. „Wir können gar nichts dafür.“ Dass wir 100 Menschen in der Scheune exekutiert haben. Auf 628 vernichtete Dörfer sind die Mörder in Weißrussland, gekommen, wird der Abspann den Zuschauern mitteilen.

Nicht die Täter, sondern das Gesicht Florjas steht hier im Zentrum: Minutenlang nimmt sich Klimow immer wieder Zeit für seinen jungen Protagonisten, protokolliert die Verwandlung eines unbekümmerten Jungen in einen schmerzzerfressenen alten Mann, obwohl die Ereignisse nur wenige Tage umfassen. Der Titel des Films leitet sich aus der Offenbarung des Johannes ab, der Ausruf „Komm und sieh“ fordert in diesem Bibelteil dazu auf, die Verheerungen durch die vier Reiter der Apokalypse anzuschauen. Und Florja muss viel anschauen.

Dennoch schafft Klimow auch für die Fantasien des Jungen Raum, erlaubt schöne und traumhafte Szenen, vor allem zwischen ihm und Glascha, einer jungen Frau, die später von den Deutschen aufs Übelste misshandelt wird. Es gibt in diesem Film Szenen, da versinkt Florja bis zum Hals im Sumpf. Aus Menschen Erde zu machen, das ist wohl eine Folge von Krieg. Dieser außergewöhnliche Film, der zeigt, was Kino vermag, eines der letzten großen Werke aus Sowjetzeiten, erzählt davon.

Diese Kritik erschien zuerst am 03.02.2021 auf: links-bewegt.de

Soul

(USA 2020, Regie: Peter Docter)

Zum Beispiel Pizza
von Thomas Blum

Es geschieht in Filmen nicht oft, dass die Hauptfigur noch vor dem Vorspann ihr Leben lässt. In „Soul“, dem allerneuesten Artefakt des umtriebigen Animationsstudios Pixar, wird der Protagonist, der soeben …

Es geschieht in Filmen nicht oft, dass die Hauptfigur noch vor dem Vorspann ihr Leben lässt. In „Soul“, dem allerneuesten Artefakt des umtriebigen Animationsstudios Pixar, wird der Protagonist, der soeben erst eingeführte New Yorker Aushilfsmusiklehrer und Jazz-Liebhaber Joe Gardner, bereits in den ersten Minuten dem Dasein entrissen. Und der Zuschauer wird gleich mit mehreren Welten bekannt gemacht, durch die er in den folgenden knapp 100 Minuten bei relativ hoher Schnittfrequenz navigiert wird: erstens ein detailverliebt entworfenes New York, das den nostalgischen Charme von Filmklassikern wie „Frühstück bei Tiffany“ und „West Side Story“ verströmt und das nicht ohne Grund stark dem New York der sechziger Jahre ähnelt; zweitens ein Jenseits, in das die Verstorbenen nach ihrem Tod per Laufband, wie man es von Flughäfen kennt, transportiert werden; und drittens ein sogenanntes Davorseits, eine Mischung aus Ferienlager und Trainingszentrum für ungeborene, noch eigenschaftslose Existenzen, ein Ort, an dem liebevoll durchnumeriert jene „Seelen“ existieren, die noch in keinen menschlichen Körper gefahren sind, weil sie dazu hier, im Davorseits, erst von sogenannten Mentoren – sagen wir – ausgebildet werden müssen. Als Mentoren wiederum fungieren verdienstvolle Personen der Weltgeschichte, die die „Seelen“, die als kleine, teletubbieartige Wesen dargestellt und ebenso ahnungslos wie possierlich sind, anleiten und zu einem gelingenden Leben auf der Erde „inspirieren“ sollen.

Für Joe, der besessen ist vom Pianospielen, sind – mitten in seinem unspektakulären Leben – soeben überraschenderweise gleich zwei Wünsche auf einmal in Erfüllung gegangen: Nicht nur wurde ihm verkündet, dass er von der Aushilfs- zur Vollzeitlehrkraft befördert werden soll, inklusive aller sozialen Absicherung, die damit verbunden ist. Es ist ihm auch gelungen, einen lange erstrebten Bühnenauftritt zu ergattern: Er soll am Abend bei einem Konzert im legendären Jazz-Club The Half Note seine Lieblingsmusikerin begleiten – inklusive der Option, als dauerhaftes Bandmitglied aufgenommen zu werden. Ein Lebenstraum, der wahr werden würde.

Doch weil Joe vor lauter Aufregung über sein neu gewonnenes zweifaches Glück kopflos durch die Straßen New Yorks rennt und dabei in einen tiefen Schacht fällt, kommt alles anders: Er findet sich in einem schwarzen Nichts auf besagtem Laufband wieder. Gemeinsam mit anderen soeben Verstorbenen fährt er auf ein hell erstrahlendes Etwas zu: das Jenseits. Dort aber möchte Joe partout nicht hin: „Ich habe ein Konzert! Ich kann jetzt nicht sterben!“

Joe wird in der Folge natürlich ein gewaltiges Abenteuer erleben. Unter anderem wird er im Davorseits Seele 22 kennenlernen, ein wunderbar misanthropisches und auch sonst erfrischend lebensfeindliches Ekelpaket, das zu nichts Lust hat und sich schon lange erfolgreich und standhaft weigert, zu irgendetwas „inspiriert“ zu werden. Ghandi und Mutter Teresa haben sich an ihm bereits die Zähne ausgebissen.

Animationstechnisch werden in „Soul“ alle Register gezogen, wie bereits im letzten Film Pete Docters („Inside Out“, 2015), dem man hierzulande den ebenso schwachsinnigen wie irreführenden Titel „Alles steht Kopf“ gegeben hat und in dem bereits Immaterielles und Abstraktes wie Gefühlsregungen, das Vergehen der Zeit oder existentielle Sinnfragen in farblich berauschende Bildwelten übersetzt wurden.

Schon die ersten Töne und Bilder lassen erkennen, dass man es bei „Soul“ mit einer Hommage an den Jazz der fünfziger und sechziger Jahre und an die afroamerikanische Musik- und Popkultur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tun hat: An den Wänden tauchen etwa die Plattencover alter Jazz-Vinylklassiker und Schwarz-weißfotografien auf, die an die Bilder des Blue-Note-Fotografen und Jazz-Enthusiasten Francis Wolff erinnern.

Und natürlich haben wir es, wie immer bei Disney / Pixar, mit einem perfekten Märchen zu tun, einem von der Sorte, die Marketingtrottel und das ihnen angeschlossene Feuilleton – Zweckfreiheit der Kunst hin, Unterhaltungsindustrie her – gerne einen „Feelgood“-Film nennen. Ein sehr komischer zwar, aber auch einer, der notorisch wie brachial Lebensmut und Optimismus vermittelt und einschlägige Kalenderspruchlebensweisheiten anbietet. Bei der „Zeit“ ist man nach der Filmsichtung entsprechend begeistert: „Man … horcht dem eigenen Atem hinterher, riecht einen Imbissduft und freut sich einfach, dass das alles da und nicht nichts ist – komme, was da wolle.“ Zugegeben, das hört sich nach dem üblichen, durchstandardisierten Disney-Kitschprogramm an, und zweifellos ist es das an nicht wenigen Stellen auch – bis hin zum unvermeidlichen Happy End, das man schon ahnt, bevor der Vorspann zu Ende ist. Doch gleichzeitig ist „Soul“ auch ein originelles, elegantes, modernes Gegenstück zu den stets gleich gebauten sentimentalen Schnulzen und Konfektionserzählungen des im schlechtesten Sinne konservativen Mutterkonzerns Disney, eines Unternehmens, bei dem man annehmen muss, es sei ihm von jeher daran gelegen, jeden Funken Originalität zu ersticken und alles am Leben als ungustiös Geltende (die Endgültigkeit des Todes, die Allgegenwart von Gewalt und Schmerz, Körperlichkeit und Sexualität) aus seinen Produktionen auszublenden.

Der Film, der ursprünglich im vergangenen Jahr in Cannes seine Premiere haben und im Sommer 2020 in die Kinos kommen sollte, ist die erste Pixar-Produktion mit einer schwarzen Hauptfigur (sowie mehreren schwarzen Nebenfiguren) und eine außergewöhnlich turbulente, rasend geschnittene, vor visuellem Einfallsreichtum nur so strotzende Komödie, die vehement darauf besteht, dass das menschliche Leben nicht sinnlos ist. „Soul“ will den Zuschauer bezaubern, ihn daran erinnern, dass es auf unserer Welt, auf der es zuweilen recht trostlos zugeht, zahllose große und kleine Dinge gibt, für die es sich zu leben lohnt. Zum Beispiel Pizza.

Diese Kritik erschien zuerst in: Konkret 02/2021

Sister my sister

(UK 1994, Regie: Nancy Meckler)

Die Narbe
von Wolfgang Nierlin

Zwei kleine Mädchen, zerzaust und verdreckt, spielen miteinander in einem dunklen, staubigen Verlies. Die ältere der beiden Schwestern beschützt und tröstet die jüngere, besänftigt sie mit einem Schlaflied: „Alle Flüsse …

Zwei kleine Mädchen, zerzaust und verdreckt, spielen miteinander in einem dunklen, staubigen Verlies. Die ältere der beiden Schwestern beschützt und tröstet die jüngere, besänftigt sie mit einem Schlaflied: „Alle Flüsse fließen ins Meer.“ Das grobkörnige Schwarzweiß der Bilder dient der Beglaubigung, dass die folgende, nach einem Zeitsprung in Farbe erzählte Geschichte auf wahren Begebenheiten beruht. Es verbindet sich zugleich mit den Inserts am Schluss des Films und setzt so einen historischen Rahmen. Tatsächlich hat die Theatermacherin Nancy Meckler für ihren aus dem Jahr 1994 stammenden Debütfilm „Sister my sister“ ein Theaterstück adaptiert, dass sich mit dem berüchtigten Fall der Schwestern Papin beschäftigt. Von Jean Genets „Die Zofen“ bis zu Claude Chabrols Ruth Rendell-Verfilmung „Biester“ diente dieser immer wieder als Stoff künstlerischer und intellektueller Auseinandersetzung.

In einer französischen Kleinstadt des Jahres 1932 arbeitet Christine (Joely Richardson) als Dienstmädchen im Haushalt der verwitweten Madam Danzard (Julie Walters), die ein strenges Regiment führt, als ihre fünf Jahre jüngere Schwester Lea (Jodhi May) eintrifft. Die beiden ehemaligen Klosterschülerinnen teilen sich Arbeit und Lohn und bewohnen zusammen eine kalte Dachkammer. Außer sich selbst scheinen sie niemanden zu haben, weshalb ihre emotionale Abhängigkeit immer inzestuösere Züge annimmt. „Für immer miteinander verbunden, verbunden durch ihr Blut“, wie ihnen nach einem gemeinsamen Unfall einst geweissagt wurde, geraten sie doch über ihr ungleiches Verhältnis zur Mutter immer wieder in Streit. Unter den prüfenden Blicken ihrer resoluten Herrin erledigen die Schwestern, die viele Talente haben, gewissenhaft und zuverlässig ihre Aufgaben.

Die standesbewusste Madame, die mit ihrer erwachsenen, noch unverheirateten Tochter Isabelle (Sophie Thursfield) der gepflegten Langeweile frönt, ist davon ganz begeistert und bezeichnet die ausgebeuteten jungen Frauen als „zwei echte Perlen“. Bittere Ironie schwingt daher mit, wenn man sieht, wie Lea einmal zu Füßen der leicht karikaturenhaft überzeichneten Madame einzelne Perlen, die von Isabelle durch ein Missgeschick verstreut wurden, aufliest. Immer wieder kontrastiert Nancy Meckler in ihrem von einer untergründigen, fast unheimlichen Spannung durchzogenen Kammerspiel die sozialen Kontraste. Während die Hausherrin mit ihrer Tochter stickt, Klavier und Karten spielt oder Tee trinkt, arbeiten die beiden Schwestern aufopferungsvoll. Während die einen „alle Zeit der Welt“ haben, haben die anderen nur sich, eine gemeinsame Narbe und Körper, die zärtlich und unter Verlustängsten zueinander finden. Konzentriert und mit einem feinen Gespür für Symmetrien inszeniert Nancy Meckler deren Zusammensein, das durch Eifersucht, Ängste und Alpträume immer paranoidere Züge annimmt – bis der Psycho-Horror schließlich in einem schrecklichen Gewaltexzess mündet.

Kollektiv – Korruption tötet

(RO/LU 2019, Regie: Alexander Nanau)

Mut zu Offenheit und Transparenz
von Wolfgang Nierlin

Am 30. Oktober 2015 spielt die rumänische Metalcore-Band Goodbye to Gravity anlässlich der Veröffentlichung ihres neuen Albums „Mantras of War“ ein Release-Konzert im angesagten Bukarester Club Colectiv. Dabei kommt Pyrotechnik …

Am 30. Oktober 2015 spielt die rumänische Metalcore-Band Goodbye to Gravity anlässlich der Veröffentlichung ihres neuen Albums „Mantras of War“ ein Release-Konzert im angesagten Bukarester Club Colectiv. Dabei kommt Pyrotechnik zum Einsatz, die einen verheerenden Brand auslöst, als die Schallisolierung der Decke plötzlich Feuer fängt. Wie schnell das geht, zeigt ein Amateurvideo, das inmitten der entstehenden Massenpanik aufgenommen wurde. Weil der Saal entgegen der Vorschrift heillos überfüllt ist und es nur einen einzigen, zudem zu schmalen Ausgang gibt, kommt es zur Katastrophe: 27 Menschen sterben, 180 werden teils schwer verletzt. In den Wochen darauf sind 37 weitere Opfer zu beklagen, die ihren Krankenhausaufenthalt nicht überleben, obwohl sie vermutlich zu retten gewesen wären.

An dieser Stelle setzt Alexander Nanaus preisgekrönter Dokumentarfilm „Kollektiv – Korruption tötet“ („Colectiv“) ein. Während Massenproteste gegen die Behörden das ganze Land erfassen und schließlich zum Rücktritt der sozialdemokratischen Regierung führen, beklagen sich geschockte und trauernde Eltern in öffentlichen Veranstaltungen über ein „faules System“, über „Pfusch“ bei der Arbeit und eine zweifelhafte Informationspolitik der Behörden. Offensichtlich wurden sie mit Lügen abgespeist, als man von staatlicher Seite den Brandopfern eine „bestmögliche Behandlung“ versprach. Tatsächlich aber recherchiert eine investigative Reporter-Gruppe um den Sportjournalisten Cătălin Tolontan, dass in den rumänischen Krankenhäusern katastrophale Zustände herrschen und viele Verletzte an multiresistenten Keimen gestorben sind. Offensichtlich hat der Pharmakonzern Hexi Pharma, ein führender Hersteller von Desinfektionsmitteln, diese über Jahre hinweg durch unzulässige Verdünnung in ihrer Wirksamkeit geschwächt.

Alexander Nanau begleitet diese Recherchen, Pressekonferenzen und Redaktionssitzungen in seinem beobachtenden, aufschlussreichen Dokumentarfilm aus nächster Nähe. Auf intime Weise zeigt er die Pressearbeit als notwendiges Instrument und Korrektiv der Demokratie. Die Enthüllungen der Gazeta Sporturilor führen schließlich zum Rücktritt des Gesundheitsministers, der von einer „Medienkampagne“ spricht und ohne weitere Erklärungen die Pressekonferenz verlässt.

Seinem um Aufklärung und Transparenz bemühten Nachfolger Vlad Voiculescu ist schließlich der zweite Teil der beeindruckenden Langzeitdokumentation gewidmet, die im Dezember 2020 mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet wurde. Der junge Minister wirbt bei den Angehörigen der Opfer um Vertrauen, kommt im offenen Austausch mit der Presse und mit Whistleblowern einem fehlerhaften und korrupten Krankenhaus-Management auf die Spur, erfährt über Zeugen von unhaltbaren Zuständen in Kliniken und verweigert schließlich einer Fachklinik für Lungenkrankheiten die Zulassung.

14 Monate lang begleitet der deutsch-rumänische Dokumentarfilmer die nervenaufreibende Arbeit der Journalisten und des idealistischen Politikers, dessen Engagement schließlich in eine Ernüchterung führt. Während die Verantwortung der Clubbetreiber ausgespart bleibt, wird zumindest in wenigen markanten Szenen und in erschütternden Bildern die schwer versehrte Mariana Oprea aka Tedy Ursuleanu portraitiert. Der von Neugier und Wissenshunger angetriebene Film taucht tief ein in die Lebens- und Arbeitswelt seiner Protagonisten und fordert so den Zuschauer zur Teilnahme auf. Schließlich sind es im Film immer wieder Menschen, die den Mut haben, sich mit ihrer Gewissenslast zu öffnen und sich in der Hoffnung auf Veränderung anderen mitzuteilen.

The woman who ran

(KR 2019, Regie: Hong Sang-soo)

Die Wahrheit in Variationen
von Wolfgang Nierlin

“Wer sich liebt, muss zusammen sein”, sei ihr Mann überzeugt. Gan-hee (Kim Min-hee), die das zu ihrer Gastgeberin sagt, war deshalb seit fünf Jahren noch nie von ihrem Mann getrennt. …

“Wer sich liebt, muss zusammen sein”, sei ihr Mann überzeugt. Gan-hee (Kim Min-hee), die das zu ihrer Gastgeberin sagt, war deshalb seit fünf Jahren noch nie von ihrem Mann getrennt. Und sie wird diese Tatsache in allen drei Episoden des Films „The woman who ran“, dessen Struktur entsprechend aus drei Besuchen beziehungsweise Begegnungen besteht, wiederholen. Zunächst besucht sie ihre frühere Freundin Young-soon (Seo Young-hwa), die geschieden ist und in einer ländlichen Region lebt. Gemeinsam mit einer jungen Nachbarin grillen die Frauen Fleisch, unterhalten sich über Vegetarismus und einen „abartigen Hahn“ und stellen am jeweiligen Gegenüber Veränderungen fest, die das Leben mit sich gebracht hat. So gesteht etwa Gam-hee ihrer Freundin, dass sie keine Lust mehr verspüre, Leute zu treffen und deshalb sehr zurückgezogen lebe. Viel zu reden oder Dinge zu tun, die sie nicht tun will, sei nämlich oft an zwischenmenschliche Begegnungen geknüpft.

Dass es vermutlich eine Differenz gibt zwischen dem, was die Protagonistinnen des Films sagen und dem Leben, das sie führen, schwingt in diesen Gesprächen, aus denen der betont schlicht gebaute Film hauptsächlich besteht, von Anfang an unterschwellig mit. Die Worte und Dialoge selbst erscheinen doppelbödig und wie eine äußere Hülle. Versteckt ist in ihnen eine tief sitzende Unzufriedenheit mit dem Leben und den Liebesbeziehungen. So genießt etwa die Pilates- und Tanzlehrerin Su-young (Song Seon-mi), die von Gam-hee als zweites besucht wird, ein unabhängiges, finanziell abgesichertes Leben in einer geschmackvollen Designer-Wohnung, beschwert sich aber über die koreanischen Männer. Ihr Verhältnis zu einem benachbarten Architekten ist noch vage; und ein junger, unglücklicher Dichter, mit dem sie eine Nacht verbracht hat, macht ihr eine Szene, was Gam-hee aus der tonlosen Distanz einer Überwachungskamera beobachtet.

Der vielfach ausgezeichnete südkoreanische Autorenfilmer Hong Sang-soo wiederholt und variiert in seinem auf den ersten Blick kunstlos erscheinenden Film „The woman who ran“ scheinbar absichtslos solche Szenen und Motive. In wenigen langen Einstellungen, die nur durch gelegentliche Zooms oder Schwenks „dramatisiert“ werden, gewinnt das scheinbar Beliebige jedoch Methode, wird das Vordergründige mehrdeutig und das bloß Angedeutete erhellt sich. Durch fortwährende Wiederholungen nutze sich das Gesagte ab und werde weniger authentisch, konstatiert schließlich Woo-jin (Kim Sae-byunk) mit Blick auf die Fernsehauftritte ihres Mannes. Gam-hee, die früher einmal mit dem mittlerweile bekannten Schriftsteller liiert war, trifft Woo-jin zufällig im Kulturzentrum „Fall in Fall“ in Seoul. Und sie hat auch eine kurze Begegnung mit ihrem früheren Gefährten, der dort eine Lesung hat.

Vieles bleibt offen, ungesagt und lediglich angedeutet, lässt aber Rückschlüsse auf ein krisenhaftes Beziehungsleben und schwelende Konflikte zu. Wenn Gam-hee vor und nach ihren Begegnungen im hausinternen Kino aber gleich zweimal in denselben „friedlichen“ Film geht, kann man allerdings vermuten, dass in den Filmen von Hong Sang-soo, der bewusst jegliche Verallgemeinerung und absichtsvolle Bedeutung vermeidet, die Wahrheit gerade aus den Wiederholungen und Variationen spricht. „Ich schätze die Dinge, die mir gegeben werden, die ich sehe und nicht suche“, sagt der Regisseur über seine Art des Filmemachens, das sich dem, was geschieht überlässt und folgt.

Das Neue Evangelium

(DE/CH/IT 2020, Regie: Milo Rau)

Jesus als Aktivist
von Jürgen Kiontke

Jesus ist schwarz, er ist Feldarbeiter und hat keine Papiere: Für seinen neuen spektakulären Film nimmt sich Milo Rau die Situation afrikanischer Migranten in Italien vor. Und wie es die …

Jesus ist schwarz, er ist Feldarbeiter und hat keine Papiere: Für seinen neuen spektakulären Film nimmt sich Milo Rau die Situation afrikanischer Migranten in Italien vor. Und wie es die Arbeitsweise des Schweizer Theater- und Filmregisseurs ist, bezieht er die Situation und die Menschen vor Ort in das Projekt mit ein. Spielort ist die süditalienische Stadt Matera – hier drehten schon Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson ihre Bibelfilme, zum Teil stehen sogar noch die Kulissen. Rau bringt das Genre auf den zeitgemäßen Stand und fragt: Was würde Jesus heute predigen und wie sähen seine Jünger aus?

Die Antwort: Er wäre ein Menschenrechtsaktivist und würde gerechte Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Gestrandeten der europäischen Flüchtlingspolitik fordern, die offiziell zwar abgewehrt, aber als illegalisierte Arbeiter auf den Feldern der Agrarindustrie gern genommen werden.

Gemeinsam mit dem Aktivisten Yvan Sagnet, der Jesus spielt und früher selbst auf den Tomatenfeldern geschuftet hat, besucht Rau die aus Brettern und Pappe zusammengezimmerten Unterkünfte der Arbeiterinnen und Arbeiter, filmt an den Orten der Prostitution, in die afrikanische Frauen gezwungen werden, und lässt alle Beteiligten ausführlich zu Wort kommen.

Im Film inszenieren Raus Protagonisten ein Passionsspiel und interpretieren ihre Lage als biblisches Schicksal, das aber alles andere als unveränderbar ist. Dieser Film im Film ist Kunstaktion und Passion gleichermaßen – und vor allem: ein mitreißendes politisches Manifest.

Milo Rau ist einer der politischsten Regisseure unserer Zeit. Seit fast 20 Jahren geht er in seinen Theaterstücken, Filmen und Büchern mit den ökonomischen und sozialen Verhältnissen in Europa und andernorts ins Gericht. So verband er in seiner „Europa-Trilogie“ (2014-2016) die Erzählungen seiner Schauspieler aus 13 Ländern – von Belgien über Russland bis nach Syrien – zu einer Geschichte der politischen Gegenwart.

Für das Meisterwerk „Das Kongo-Tribunal“ (2017) nahm er den Welthandel mit seltenen Erden und Metallen für die Digitalindustrie unter die Lupe. Dabei gelang es ihm, auf einer kleinen Theaterbühne in Berlin einen internationalen Gerichtshof zu erschaffen: Das Stück und der daran anschließende Film, die den Bürgerkrieg um Rohstoffe im Ostkongo behandeln, lassen echte Bergleute, Manager, Soldaten und Politiker vor einer Jury aus Anwälten und ehemaligen Richtern zu Wort kommen. Das Tribunal hatte ganz konkrete politische Folgen: Zwei Minister der Demokratischen Republik Kongo sowie der Gouverneur der schwer umkämpften Provinz Süd-Kivu, die das Zentrum des Bergbaus bildet, mussten zurücktreten.

In seinem neuen Film schafft Rau eine Synthese aus der Kritik an einer Weltordnung mit Europa als Zentrum und den Lebenswegen von Menschen, die von diesen Zuständen betroffen sind. Auch künstlerisch ist sein Film ein Meilenstein, er schließt an die Bildsprache Pier Paolo Pasolinis und anderer Regisseure an, die sich mit der Passionsgeschichte auseinandergesetzt haben. Matera, der Schauplatz und Drehort des Passionsfilms, war 2019 Kulturhauptstadt Europas. Milo Rau hat der Stadt ein Denkmal gesetzt; allerdings anders, als man es sich dort wohl vorstellte. Er gibt den sozial Benachteiligten eine Stimme, den Mittellosen, denen, die auf dem Boden schlafen müssen, während um sie herum die europäischen Tomatenplantagen blühen, den Ausgegrenzten in den ärmlichen und offiziell gar nicht existierenden Lagern. „Wo könnten die Widersprüche des modernen Europas sichtbarer sein als hier, und was wäre sinnvoller, als in dieser so unglaublich schönen wie armen Region einen politischen Jesus-Film zu drehen, in dem biblische Erzählung und echte Revolte ineinanderfließen?“, fragt Rau.

Es sei eine besondere Art von Film entstanden – zwischen Fiktion und Dokumentation, sagt der Regisseur. „Ein Evangelium für das 21. Jahrhundert, ein Manifest für die Opfer des westlichen Kapitalismus.“

Diese Kritik erschien zuerst in: Amnesty Journal 12/2020

Ar Condicionado

(AO 2020, Regie: Fradique)

Kritische Klimaanlagenkrise
von Dominique Ott-Despoix

Das Leben in der angolanischen Hauptstadt Luanda ist gefährlich: Allerorts lösen sich Klimaanlagen von den Wänden und stürzen mit lebensbedrohlicher Wucht zu Boden. Hinter der Fassade dieser verschrobenen und etwas …

Das Leben in der angolanischen Hauptstadt Luanda ist gefährlich: Allerorts lösen sich Klimaanlagen von den Wänden und stürzen mit lebensbedrohlicher Wucht zu Boden. Hinter der Fassade dieser verschrobenen und etwas surrealen Prämisse, zeichnen sich in dem Film „Ar Condicionado“ jedoch eine ganze Reihe sozio-politischer Hintergründe ab. Dass es hier nicht wirklich um Belüftungsanlagen geht, wird spätestens bei der Trauerfeier um solch eine Anlage klar. Sie bieten eher den Anstoß zu einer kurzen Wanderung durch die angolanische Gesellschaft.

Zunächst bekommt die rätselhafte Klimaanlagenkrise durch ihre konstante Thema- und Mediatisierung im Radio eine politische Dimension: Der Regierung wird Handlungsunfähigkeit unterstellt, Rücktrittsforderungen werden laut, die Sozialwohnungspolitik soll reformiert werden. Gleichzeitig wird über einen Sabotageakt gemutmaßt, der Angola von chinesischen Ventilatoren abhängig machen soll. Darin kann man einen kritischen Kommentar auf die bilateralen Beziehungen beider Länder vermuten, schließlich ist Angola Chinas zweitgrößter Geschäftspartner in Afrika. Neben Import-Export-Handel festigt China (wie vielerorts auf dem Kontinent) durch die Vergabe von Krediten und massiven Investitionen in Infrastruktur und Handelsrouten gegenwärtig seinen Einfluss in der Region.

Während das Radio also den makropolitischen Hintergrund auf Tonebene wiedergibt, tauchen die Filmbilder in den lokalen Kontext der Großstadt ein. Wir begleiten Matacedo (José Kiteculo), der eine Stelle zwischen Wachmann und Hauswart innezuhaben scheint, bei seinem Arbeitsalltag in einer Betonsiedlung. Zusammen mit der Hausangestellten Zézinha (Filomena Manuel) soll er sich für ihren gemeinsamen Chef (der nie müde wird, seinen sozialen Status zu betonen) um die Reparatur von dessen Klimaanlage kümmern. Hier deutet sich ein soziales Gefälle an, bei dem kühle Luft nur jenen gebührt, die sich eine funktionierende Anlage (oder noch besser: ein klimatisiertes Auto) leisten können. Nimmt man den portugiesischen Titel wortwörtlich, ‚konditionierte Luft‘, werden Kontrollmechanismen angedeutet, denen sogar das Lebensnotwendigste unterliegt. Dabei wird die Kontrolle von jenen ausgeübt, die über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen.

Da der Einbruch des Außergewöhnlichen, Absurden oder Übernatürlichen im Kino auch immer für die Auflehnung gegen einen repressiven Status Quo steht, kann der plötzliche Freitod des Statussymbols Klimaanlage also auch als Gleichstellungsgeste verstanden werden, mit der sich alle gleichermaßen einer erdrückenden Hitzewelle ausgesetzt sehen. Somit wird der Temperaturanstieg in sozialen Brennpunkten auch in den oberen Etagen der Gesellschaft spürbar.

Angesichts der Hitze scheint alles in eine dichte, schwerwiegende Atmosphäre gehüllt, die sich auf den Film selbst überträgt. Dieser schreitet im Tempo von Matacedos ruhigem Gang durch die heruntergekommenen Siedlungen voran. Die Kamera folgt dessen Silhouette auf Schritt und Tritt, während sich die urbane Landschaft Luandas offenbart und er uns durch ihre verwinkelten Ecken geleitet. Die warmen Farben der dunklen Lichter nehmen die drückende Hitze auf. Sie erzwingt eine Entschleunigung, die in wiederkehrenden Zeitlupen explizit wird. Auch der treibende Soundtrack trägt das Publikum mit bedächtigem Rhythmus durch den Film, bevor der Klimaanlagenregen auch in diese Tonebene über den Rapgesang eines Anwohners einfließt.

Matacedo seinerseits braucht nur bedingt Worte, um sich zu verständigen. Eine Kriegsverletzung beeinträchtigt sein Gehör. Was ihn nicht daran hindert, sich mit verschiedenen Anwohnerinnen und Anwohnern in stummen Blickwechseln beredt auszutauschen. Sein Background als Soldat im Dschungel bleibt wie vieles im Film nur angedeutet. Auf dem Weg zurück in den Großstadtdschungel scheint in ihm etwas verlorengegangen zu sein. Durch dessen Straßen und Wohnkomplexe schlendert er nun, bis er in das Elektrogeschäft des einsiedlerischen Herrn Minos (David Caracol) findet. Ohne das Mysterium um die fallenden Luftkühlanlagen je gänzlich zu lüften, erkennt Herr Mino in ihnen die verborgene Funktion, Erinnerungen in Form von Bildern aufzuzeichnen. Dem entgegnet Zézinha, wie denn in einer Nachbarschaft, in der sich niemand eine Klimaanlage leisten kann, Erinnerungen erhalten bleiben sollen. Darin offenbart sich die selbstauferlegte Aufgabe von „Ar Condicionado“: dieser Leerstelle entgegenzuwirken und das Leben innerhalb eines realen Wohnviertels in Luanda festzuhalten. Vor Ort gedreht, nimmt der Film demnach trotz seiner surrealen Elemente eine Beobachterposition ein. Bereits der Vorspann setzt sich aus Schwarzweißfotografien zusammen, die nicht nur in das städtische Umfeld einführen, sondern dessen Bewohner*innen dokumentieren. Sei es bei einem mit Kronkorken improvisierten Damespiel oder bei einem Streit darum, wer für 20 Cent mit Matacedo eine Klimaanlage tragen darf, bilden Alltagssituationen im Laufe des Films ebenfalls Momentaufnahmen des Milieus. Beim Abspann sind es schließlich Videoaufzeichnung auf einem Röhrenfernseher, die den dokumentarischen Rahmen betonen.

„Ar Condicionado“ war ein thematisch passender Höhepunkt des diesjährigen Afrikamera Festivals, das unter dem Motto „Urban Africa, Urban Movies: Politics & Revolution“ gänzlich online stattfinden musste. Neben Filmen afrikanischen Ursprungs, die in diesem Jahr in der internationalen Festivalszene vertreten waren, liefen im Programm auch gänzlich lokale Produktionen wie der nigerianische „The Ghost and the House of Truth“ (NG 2019; R: Akin Omotoso). „Ar Condicionado“ seinerseits wurde von der angolanischen Produktionsfirma Geração 80, zu der auch sein Regisseur Fradique gehört, mit Unterstützung des Filmfestivals Rotterdam produziert. Nachdem der Film Anfang des Jahres dort noch gezeigt wurde, stellte er im Sommer Rotterdams Beitrag zum We Are One: A Global Film Festival auf YouTube dar. So werden die Wenigsten die eindrücklichen Bilder aus „Ar Condicionado“ im Kino erlebt haben, trotz der dort einwandfrei funktionierenden Belüftungssysteme. Angesichts der heißen Luft, die sich in unserer Gesellschaft in den letzten Wochen und Monaten angestaut hat, kann man nur auf ein baldiges Entlüften hoffen, das die Kinoerfahrung wieder ermöglicht.

Der Letzte der Ungerechten

(FR/AT 2013, Regie: Claude Lanzmann)

Dinosaurier auf der Autobahn
von Jonas Engelmann

„Der ungehörte Zeuge“ hat Wolf Murmelstein sein Nachwort betitelt, das die Erinnerungen seines Vaters Benjamin Murmelstein an die Internierung seiner Familie in „Eichmanns Vorzeige-Ghetto“ Theresienstadt historisch einordnet. Murmelsteins Version der …

„Der ungehörte Zeuge“ hat Wolf Murmelstein sein Nachwort betitelt, das die Erinnerungen seines Vaters Benjamin Murmelstein an die Internierung seiner Familie in „Eichmanns Vorzeige-Ghetto“ Theresienstadt historisch einordnet. Murmelsteins Version der Geschichte von Theresienstadt erschien erstmals 1961 in Italien und wurde erst 2014 ins Deutsche übersetzt, mehr als 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung und dem Eichmann-Prozess, bei dem Murmelstein ein solcher „ungehörter Zeuge“ blieb, obwohl er eine Aussage im Zeugenstand vor dem Jerusalemer Gericht angeboten hatte. Durch seine erzwungene Zusammenarbeit mit Adolf Eichmann in Wien, wo der ehemalige Rabbiner Benjamin Murmelstein in den Jahren zwischen dem sogenannten Anschluss 1938 und seiner Deportation nach Theresienstadt am 29. Januar 1943 in unterschiedlichen Leitungsfunktionen der Israelitischen Kulturgemeinde vorstand und in der Eichmann unterstehenden „Auswanderungsabteilung“ arbeitete, hätte er einen wichtigen Beitrag zum psychologischen Verständnis jener Person beitragen können, die die Prozessbeobachterin Hannah Arendt als „Hanswurst“ bezeichnet hatte und der man „beim besten Willen keine teuflisch-dämonische Tiefe abgewinnen“ könne. Im Gegenteil, insistierte Murmelstein, Eichmann sei ein „Dämon“ und eben nicht nur Schreibtischtäter gewesen, und er sei in der Pogromnacht auch selbst tätlich geworden: „Ich wurde schon auf der Straße verhaftet und in den Tempel Seitenstettengasse geführt, wo ich eine Truppe vorfand, die mit einem Eifer dabei war, alles zu zerstören. Mit Hämmern und Äxten haben sie auf die Einrichtungsgegenstände losgeschlagen. Und kommandiert das Ganze hat Herr Eichmann.“

Diese Facette Eichmanns beschrieb Murmelstein im Film „Der Letzte der Ungerechten“, der Regiearbeit Claude Lanzmanns, die in über dreieinhalb Stunden ein Porträt des letzten überlebenden „Judenältesten“ Theresienstadts zeichnet und darüber hinaus eine filmische Studie über die Rolle der von den Nazis eingesetzten „Judenräte“ und das Ghetto Theresienstadt darstellt. Eine Woche lang hatte Lanzmann 1975 mit dem damals als Möbelhändler in Rom lebenden Murmelstein Gespräche geführt, die ursprünglich für „Shoah“ vorgesehen waren, dann aber vom Regisseur nicht verwendet und nun für einen eigenen Film neu gesichtet wurden. Lanzmann erklärt in einem Interview diese Entscheidung folgendermaßen: „›Shoah‹ ist ein Film in Erzählform, der allgemeine Ton ist von einer schrecklichen Tragik. Wenn man Benjamin Murmelstein zuhört, merkt man, dass das nicht zu ihm passt. Er ist von einem anderen Schlag.“ Das ist zweifelsohne richtig, doch gleichzeitig gehört es wohl zur Tragik von Murmelsteins Leben, dass er die Rehabilitierung seiner Person durch Lanzmanns Film und durch Historiker wie Doron Rabinovici nicht mehr erleben konnte; er starb bereits 1989, „nach langem Leiden infolge der Erfahrungen in den finsteren Jahren und danach“, wie sein Sohn Wolf Murmelstein ausführt.

© Absolut Medien

Murmelstein hat sehr darunter gelitten, dass der Justizapparat und die Geschichtswissenschaft seine Erinnerungen stets zurückgewiesen hatten, was oftmals auch in Aggressionen gegen Murmelstein als „Symbol für die jüdische Kollaboration“ (Rabinovici) mündete. In einem am 19. Oktober 1963 in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichten Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Gershom Scholem bezeichnete Arendt alle jüdischen Persönlichkeiten, die während des Nationalsozialismus wichtige Funktionen bekleidet hatten, als Verräter. Scholem, der ihr Urteil ablehnt, da die extremen Umstände den Juden keine Wahl gelassen hätten, stimmt zumindest in einem Punkt mit ihr überein: „Gewiss, Murmelstein in Theresienstadt hätte verdient, von den Juden gehängt zu werden.“

Er sei wie ein Dinosaurier auf einer Autobahn, umschreibt Murmelstein in Lanzmanns Film seine Situation: störend und allen im Weg, völlig aus der Zeit gefallen. Jüdische Opfer, die nicht dem Bild des Opfers entsprechen, seien nicht einzuordnen und erregten daher solche Abscheu, erklärt Rabinovici das harte Urteil des sonst bedachtsamen Scholem. Lanzmanns Film ist auch die Suche nach einer Erklärung für diesen Hass, der sich sowohl bei Überlebenden als auch jüdischen Exilanten wiederfindet. Der Film wie auch Murmelsteins Buch „Theresienstadt. Eichmanns Vorzeige-Ghetto“ zeigen, wie der von den Nazis geschürte Hass nachwirkte. So wurde Murmelstein postum ein Grab an der Seite seiner Frau und ein Totengebet in der Synagoge verweigert.

„Entschuldigen Sie, Sie werfen mir immer vor, dass ich abschweife, aber die Dinge sind nur im Zusammenhang zu verstehen“, sagt Murmelstein in „Der Letzte der Ungerechten“, und diese lange nicht gesehenen Zusammenhänge sind es, die Lanzmann herausarbeitet, wenn er die Aufnahmen des Gesprächs mit Murmelstein solchen von Theresienstadt und anderen Orten der Vernichtung gegenüberstellt. So betont Lanzmann, dass die jüdische Verwaltung unter den Nazis, der Murmelstein von 1938 bis 1945 angehörte, bewusst eingesetzt worden war, um das Vertrauen in die eigene Administration zu zerstören, wenn etwa die antisemitischen Maßnahmen in Wien von den Judenräten verkündet und durchgeführt werden mussten oder sie in Theresienstadt die Deportationslisten nach Auschwitz zusammenzustellen hatten. Wer sich weigerte, bezahlte mit seinem Leben, und wer sich einfügte, verlor seine Integrität in der jüdischen Gemeinde. Murmelstein galt darüber hinaus ohnehin bereits in seiner Zeit in Wien als unberechenbar, jähzornig und gefühlskalt. Doch gerade weil er sich dafür entschied, sich den nationalsozialistischen Strukturen unterzuordnen, gelang es ihm in seiner Funktion als Leiter der „Auswanderungsabteilung“, über 120 000 österreichischen Juden die Ausreise zu ermöglichen. Ihm war klar, dass er mit dem NS-Regime zusammenarbeiten musste, um keine Handhabe für ein gewaltsames Vorgehen gegen die Gemeinde zu liefern. Sieht man Murmelstein in Lanzmanns Film beim Erzählen zu, bekommt man eine Ahnung davon, wie sehr ihn diese Rolle zerrissen haben muss.

© Absolut Medien

Gerade weil er stets versucht, objektiv zu bleiben und sachlich von den Umständen zu erzählen, gewinnen jene Momente an Bedeutung, in denen die Fassade Murmelsteins brüchig wird und seine eigene Beschädigung durch die Geschichte nach außen dringt. So fragt Lanzmann ihn, ob er Angst gehabt habe. Nach kurzem Zögern bekennt Murmelstein: „Ja.“ Sein darauf folgendes Schweigen, bevor er wieder in seinen sachlichen Duktus verfällt und erklärt: „Selbstverständlich, in gewissem Sinne musste man Angst haben“, ist jenem Schweigen ähnlich, das viele der Überlebenden aus „Shoah“ bestimmt hatte und in dem mehr vom Grauen steckte als in dem, was sie zuvor in Worte zu fassen versucht hatten. „Benjamin Murmelstein überlebte, trug zeitlebens die Last der Erinnerungen mit sich und musste sich den Vorwürfen und Anschul­digungen derer stellen, die in diesen Jahren in Sicherheit gewesen, mit der Realität des Ghettos nicht in Berührung gekommen waren“, fasst Wolf Murmelstein die Tragik seines Vaters zusammen.

Auch in Theresienstadt versuchte sich Murmelstein, als Repräsentant der jüdischen Verwaltung und ab September 1944 als „Judenältester“, in die Psyche der Nazis hineinzuversetzen, um ihnen keine Handhabe für mörderische Strafen zu liefern. „Ich musste mich mit dem Ghetto identifizieren, um das Ghetto zu retten, das die Deutschen liquidieren wollten – und um mich selbst zu retten“, erklärt Murmelstein. So führte er etwa die 70-Stunden-Woche ein, um das Lager wieder herzurichten, was ihm nach der Befreiung von vielen Überlebenden vorgeworfen wurde. Ob er mit seiner Auffassung, damit das Ghetto gerettet zu haben, richtig liegt, sei dahingestellt, zentral ist seine darin enthaltene Forderung, als handelndes Subjekt wahrgenommen zu werden und nicht nur als Opfer, als Marionette der Nazis in ihrem mörderischen Vorhaben. Diese Wahrnehmung wurde ihm lange Zeit aufgrund von moralischen Urteilen wie jenem Hannah ­Arendts verweigert. „Verurteilen kann man mich, aber urteilen über mich kann man nicht“, sagt er. Lanzmann gibt Murmelstein – spätestens dann, wenn er ihm zum Ende des Films seine Hand auf die Schulter legt – seinen Status als handelndes Subjekt der Geschichte zurück, dessen Erinnerungen es verdient haben, gehört zu werden.

Dieser Beitrag erschien zuerst in: Jungle World 26/2015

Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit

(DE 2020, Regie: Yulia Lokshina)

Die Sprachlosen der Schlachthäuser
von Wolfgang Nierlin

Aus der Vogelperspektive, in grünes Licht getaucht, sehen wir minutenlang ein junges Schwein, das vergeblich nach einem kleinen Ball an einer Kette schnappt. Es könnte sich um eine Form von …

Aus der Vogelperspektive, in grünes Licht getaucht, sehen wir minutenlang ein junges Schwein, das vergeblich nach einem kleinen Ball an einer Kette schnappt. Es könnte sich um eine Form von Hospitalismus handeln. Dazu erklingt, auf einem Cembalo gespielt, Domenico Scarlattis „Fandango“. Schließlich erzählt eine Frauenstimme aus dem Off – das fast schon närrische Schwein versucht noch immer, den Ball zu erhaschen – die tragische Geschichte des polnischen Arbeiters Stanislaw, der in einem Schlachthausbetrieb durch einen grauenvollen Unfall sein Leben verliert. „Kannst du dich erinnern?“, insistiert wiederholt die Erzählerin. Längst haben der Lärm und die Zeit seine Schreie und seine Geschichte verschluckt. Dann wird die Geräuschkulisse des Schweinegeheges lauter, als wäre dies eine Entsprechung zum Gesagten; bis nach einem harten Schnitt ein Demonstrationszug ins Bild kommt, eine Art Prozession in rosa Schweinskostümen. „Europas größte Sauerei“, steht auf einem der Plakate, während die Demonstranten an einer Metzgerei vorbeigehen, die frische Ware aus eigener Hausschlachtung annonciert.

Gleich die ersten Szenen von Yulia Lokshinas preisgekröntem Dokumentarfilm „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“, der ein sehr aktuelles und dringliches Thema behandelt, zeigen das dialektische Verfahren, mit dem in der Montage Bild und Ton verschränkt werden. Innerhalb einer Einstellung kommentiert und erhellt sich das Material gewissermaßen selbst. Yulia Lokshina und ihre Editorin Urte Alfs schaffen durch Überlappungen des Tons aber auch Verbindungen zwischen den Szenen, die multiperspektivisch einen Zusammenhang erkunden. Beleuchtet werden die Ausbeutung und Unterdrückung osteuropäischer Leiharbeiter, die sich in deutschen Schlachtbetrieben für Hungerlöhne verdingen und in erbärmlichen, menschenunwürdigen Verhältnissen leben müssen. Von einer „Parallelgesellschaft“ und von „rechtsfreien Räumen“ ist die Rede. Ein litauischer Arbeiter, der mit seiner Frau in einem Trailer auf einem Campingplatz lebt, hat ein sehr klares Bewusstsein von seiner Situation und dem dahinter stehenden System: „Wir arbeiten wie die weißen Nigger.“

Wie viel Verantwortung trägt der Staat auf dem diffusen Feld aus wirtschaftlicher Freiheit, unregulierter Arbeit und der Machtkonzentration von Konzernen? Und was kann der Einzelne dagegen tun, dass die namen- und sprachlosen Betroffenen vergessen werden? Der Film zeigt das Engagement verschiedener Helferinnen, Initiativen und Aktivisten. Zugleich kommen die Arbeitsmigranten selbst zu Wort, wobei das fast quadratische Bildformat eine besondere Nähe zu ihnen herstellt. Ein Integrationsrat fordert mehr politische Kontrolle, eine ehrenamtliche Sozialarbeiterin rekonstruiert den Weg einer traumatisierten Frau, die ihr heimlich entbundenes Kind ausgesetzt hat, und ein Pfarrer fordert während eines Gottesdienstes: „Das Kapital hat den Menschen zu dienen!“

Im Wechsel dazu proben Schülerinnen und Schüler eines Münchener Gymnasiums Bertolt Brechts Theaterstück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ aus dem Jahre 1931, das auf diese Weise überraschende Aktualität gewinnt. Die Mitwirkenden diskutieren mit ihrem engagierten Lehrer unter anderem, ob das Unglück vorherbestimmt ist oder strukturelle Ursachen in der Gesellschaft hat. Yulia Lokshina geht es in ihrem vielschichtigen Film auch darum, das Gespräch über die Ungerechtigkeit wach zu halten.

Der Starttermin von „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ war zwar bereits am 22.10.2020. Aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie (Lockdown Light) wird der Film ab 03.12.2020 deshalb wiederaufgeführt werden. Mehr Infos dazu auf der Seite des Verleihs.

Und morgen die ganze Welt

(D 2020, Regie: Julia von Heinz)

Ab durch die Mitte
von Jürgen Kiontke

„Mit Mollies und Benzin/Sieht man sie zum Bauzaun zieh’n“ – die Bonner Punk-Band Geistige Verunreinigung setzte in den 80er Jahren einst dem Schwarzen Block, den Autonomen, ein beachtliches akustisches Denkmal. …

„Mit Mollies und Benzin/Sieht man sie zum Bauzaun zieh’n“ – die Bonner Punk-Band Geistige Verunreinigung setzte in den 80er Jahren einst dem Schwarzen Block, den Autonomen, ein beachtliches akustisches Denkmal. Jetzt kommt der passende Film zum Thema: „Und morgen die ganze Welt“ handelt von der autonomen Antifa zu Beginn der 90er Jahre. Regisseurin Julia von Heinz sammelte ihre Erfahrungen als Schülerin in einschlägigen Gruppen. Die Handlung des Films soll modellhaft stehen für den Kampf zwischen Links und Rechts. Und Luisa – gespielt von Mala Emde, Julia von Heinz‘ auch optisches Alter Ego, ist eindeutig links: Als Schülerin war sie schon in der Flüchtlingshilfe und in der Schülervertretung aktiv, jetzt, als Studentin im ersten Semester Jura, kommt sie über ihre Freundin mit der Antifa-Gruppe im autonomen Zentrum zusammen.

„Batte“, „Alfa“, „Lenor“: Da sind schon die richtigen Kampfnamen am Start! Luisa, das Mädchen aus stinkreichem Hause – die Eltern residieren auf einem richtigen Landsitz und vertreiben sich die Zeit mit Treibjagden – ist schwer beeindruckt. Vor allem von den (Macho-)Allüren vom schönen Alfa.

Aber bildmächtige Liebe gut und schön. Als die Gruppe auf einer Gegendemonstration zu einer Kundgebung einer rechten Partei mit verdächtig hellblauen Wimpeln und Alice-Weidel-Lookalike als Sprecherin mit Kuchen- und Eierwürfen aktiv wird, kommt es zu einer massiven Gewalterfahrung mit einem der Nazi-Schläger, die die Veranstaltung absichern, und die soll Luisa nachhaltig prägen. Fortan rückt sie in die extremeren Gefilde der Gruppe auf, Transpis malen reicht ihr nicht mehr. Sie und ihre Freunde denken über bewaffneten Widerstand nach, kommen zudem durch Zufall an die Adressen extrem Rechter und auch an deren Sprengstoff. Da stellt sich wie von selbst die Frage: „Wie weit ist weit genug im Kampf gegen Rechts?“ (Der Verleih)

Direkt beantworten will von Heinz dies zunächst nicht – und lässt ihre Protagonisten zu Wort kommen. Zum Beispiel die Betreiber des Jugendzentrums, die kein Interesse an Gewaltaktionen haben („Wir demonstrieren friedlich gegen die Arschlöcher“). Die wollen ihre Freiräume sichern. Auf der anderen Seite werden gute Gründe für rabiate Aktionen vorgebracht. So werden die Positionen gegeneinandergestellt, der Film will mehr Debattengrundlage sein als Urteil.

© Alamode

Im Ganzen ist der Film nah dran an der Wirklichkeit. Die Rechten erobern die Straße, sitzen in Parlamenten und verfügen über viele Ressourcen. Ebenso aktuell dann die linken Gegenaktionen, der Kampf gegen Rechts auf vielen Ebenen, nicht zuletzt in Debatten und Medien. Der deutsche Film ist dafür bekannt, aktuelles Geschehen eher selten oder äußerst verspielt in die Kinolandschaft einzupflegen. Von Heinz gibt an, mit ihrem Filmvorhaben immer wieder auf Hindernisse insbesondere bei der Finanzierung gestoßen zu sein; unter anderem mit der Begründung, der Stoff sei „zu aktuell“. Schon deswegen ist dies ein richtiger, wichtiger Film.

Seine Stärken hat er in der Darstellung der Akteure und Szenen, geht gerade zu Beginn noch oft auf Details ein – wann sieht man schon mal das „Antifa-Infoblatt“ im deutschen Kino? Hier schon. Sehr genau beobachtet sie auch die Klassenunterschiede bei den Aktivisten: Wenn es bei Luisa und Alfa brenzlig wird, hauen die Anwälte der wohlhabenden Eltern ihre Schützlinge raus. Bei Lenor, der eher aus der unteren Mittelschicht stammt, ist da keiner.

Allerdings nimmt sich der Film mit fortschreitender Handlung immer weniger Zeit für genaue Beobachtungen. Das Geschehen verflacht mit zunehmender Action, verengt sich auf nur noch wenige Akteure beim Hetzen und Rennen. Das erinnert stark an Filme über die Rote Armee Fraktion oder ähnliche Gruppen, die in der Hektik von Verfolgungsjagden enden. Nicht ganz ungewollt kommt einem diese Parallele vor, auch inhaltlich – nicht zuletzt durch die Figur des Dietmar, eines Veteranen der Revolutionären Zellen, der Luisa und den anderen logistische Unterstützung bietet.

Zudem konzentriert sich die Kamera im zweiten Teil beinahe nur noch auf das Gesicht von Luisa, als freue sich die Regisseurin, ein Ebenbild gefunden zu haben. Der Film beginnt, mehr und mehr konventionellen Regeln des Kinos zu gehorchen, etwa einen Helden oder eine Heldin ausstellen zu müssen. Gesellschaftliche Prozesse, die deutschen Wirklichkeiten, wie immer sie geartet sein mögen, verblassen hier immer mehr.

Bliebe noch der Titel zu klären. „Und morgen die ganze Welt“, was soll er bedeuten? Die Zeile stammt aus einem Lied der Hitlerjugend und beginnt mit „Heute gehört uns Deutschland“. Abgesehen von der zweifelhaften Entscheidung, für einen ganzen Film als Titel Nazi-Jargon zu verwenden, wird hier offensiv die Hufeisentheorie in Stellung gebracht: Linke, Rechte – alles Nazis, und die mittig-bürgerlichen Gesellschaftsanteile sind schön raus. Wer in diesem Film alles Allmachtsphantasien hege, wer sich selbst ermächtige, das habe sie bewusst zwiespältig wirken lassen wollen, sagt die Regisseurin. Nun heißt der Film ja nicht „Kommste heut nicht, kommste morgen“ oder „Atemlos durch die Nacht“. Tendenz zwiespältig halten? Zumindest an dieser Stelle ist ihr das nicht gelungen.

Diese Kritik erschien zuerst am 14.10.2020 auf: Links bewegt

Hier gibt es ein Interview mit Regisseurin Julia von Heinz.

Oeconomia

(DE 2020, Regie: Carmen Losmann)

Im Maschinenraum des Kapitalismus
von Wolfgang Nierlin

Als im Zuge der Finanzkrise ab 2007 paradoxe Phänomene innerhalb der kapitalistischen Wirtschafts- und Finanzordnung sichtbar werden, beginnt die Filmemacherin Carmen Losmann („Work Hard – Play Hard“; DE 2011) damit, …

Als im Zuge der Finanzkrise ab 2007 paradoxe Phänomene innerhalb der kapitalistischen Wirtschafts- und Finanzordnung sichtbar werden, beginnt die Filmemacherin Carmen Losmann („Work Hard – Play Hard“; DE 2011) damit, sich und anderen ganz einfache Fragen zu stellen: Wie entsteht Geld und wie kommt es in die Welt? Wie funktioniert überhaupt eine Bank? Warum wachsen Schulden und Wirtschaftleistung gleichzeitig? Und warum wird das Privatvermögen einiger Weniger immer größer? Um diese „Spielregeln“ zu verstehen, begibt sich Losamann mit ihrem dezidiert persönlichen Ansatz in den „Maschinenraum des Kapitalismus“. Sie trifft Experten von Banken und Investmentgesellschaften und erfährt zunächst Dinge, die widersprüchlich erscheinen: Geld wird „produziert“, wenn Menschen investieren und Banken dafür Kredite vergeben. Dadurch wächst die Wirtschaft, deren Kapitalvermehrung also auf Schulden basiert.

„Das funktioniert nur so lange, wie es funktioniert“, kommentiert einer der Banker die Instabilität eines Systems, das seine eigene Logik erzeugt, die mit der Alltagswirklichkeit wenig zu tun hat und immer wieder zu Zirkelschlüssen führt. Deshalb erscheint in Carmen Losmanns aufschlussreichem Film „Oeconomia“ das Finanzsystem auch öfters wie eine esoterische Geheimwissenschaft, von der keiner so genau weiß, wie sie funktioniert, oder auch als „Glaubensgebäude“. Aus der Konfrontation mit den „eingeweihten“ Experten resultiert deshalb immer wieder eine Distanz, die dadurch noch verstärkt wird, dass sich die „Player“ hinter ihrem Wissen verschanzen und in ihren repräsentativen Machtzentren abschotten.

Carmen Losmann und ihr Bildgestalter Dirk Lütter inszenieren deren sehr dominante Architektur, die sich mächtigen Hochhäusern, spiegelnden Glasfassaden und weiten, hellen Räumen eingeprägt hat, deshalb als eine nur scheinbare Transparenz. Zwar ist die Sicht nach draußen, meist von einem erhöhten Standpunktaus, frei und unverstellt. Aber im Innern der Gebäude stößt die Filmemacherin immer wieder auf Widerstände, Reglementierungen und Vorgaben, die ihre Arbeit behindern oder modellieren. Dazu passen Gesprächspartner, deren Persönlichkeit, Sprache und Arbeit merkwürdig abstrakt und ungreifbar bleiben.

Losmann begegnet diesen Kontrollmechanismen eines ziemlich „unerotischen“, überwiegend aus Männern bestehenden Machtsystems deshalb einerseits mit Beharrlichkeit, andererseits mit Offenheit in Bezug auf ihr eigens Vorgehen. Dieses dokumentiert sie mit Computergrafiken, nachgestellten Telefon-Interviews und immer wieder mit Fragen an das eigene Verständnis. Als Gegengewicht zu den Adepten der Finanzwelt inszeniert sie zugleich eine alternative Expertenrunde im öffentlichen Raum, die mit Hilfe eines abgeänderten Monopoly-Spiels die beschriebenen Paradoxien zu erhellen sucht und vor dem Hintergrund der ökologischen Krise ein notwendig anderes Wirtschaften fordert.

Hier gibt es ein Interview mit Regisseurin Carmen Losmann.

Niemals Selten Manchmal Immer

(USA 2020, Regie: Eliza Hittman)

Odyssee aus Anonymität und Kälte
von Wolfgang Nierlin

„He’s got the power“, ein Song der Exciters, singt die 17-jährige Autumn (Sidney Flanigan) zur Gitarrenbegleitung bei einem Schulkonzert: „The power of love over me.“ „Schlampe!“, ruft einer ihrer Mitschüler …

„He’s got the power“, ein Song der Exciters, singt die 17-jährige Autumn (Sidney Flanigan) zur Gitarrenbegleitung bei einem Schulkonzert: „The power of love over me.“ „Schlampe!“, ruft einer ihrer Mitschüler in die Stille einer kurzen Liedpause. Die junge Frau wirkt schweigsam, in sich gekehrt und verschlossen, als lebe sie in einer Distanz zu der sie umgebenden Welt einer Kleinstadt in Pennsylvania. Autumn ist mit sich selbst beschäftigt, was ihr gleichgültiger Vater wenig einfühlsam als schlechte Laune interpretiert. Sie ist okkupiert von Gedanken, die sich auf ihren Bauch richten, wie ein Spiegelblick zeigt. Ein Besuch bei der örtlichen Frauenärztin bestätig ihre Befürchtung: Autumn ist angeblich in der 10. Woche schwanger, tatsächlich aber ist es die 18. Woche. Die Ärztin ermutigt sie, das Kind auszutragen, doch das schüchterne Mädchen fühlt sich noch nicht reif genug für die Mutterschaft.

Eliza Hittman stellt in ihrem preisgekrönten Film „Niemals Selten Manchmal Immer“ diese Entscheidung nicht zur Diskussion. Zwar streift sie in der Figur der Ärztin und in einer Szene mit Abtreibungsgegnern ein konservatives gesellschaftliches Umfeld, doch im Kern geht es um eine innere Isolation und den verzweifelten Versuch, diese zu durchbrechen. Autumns um sich selbst kreisende Eltern sind dabei eher schlechte Ratgeber. Allein ihre etwa gleichaltrige Cousine und beste Freundin Skylar (Talia Ryder), mit der sie in einem Supermarkt als Kassiererin jobbt, genießt Autumns Vertrauen. Zusammen mit ihr begibt sie sich heimlich im Bus auf den Weg nach New York, um in einer Abtreibungsklinik die Schwangerschaft abzubrechen. In der winterlichen Großstadt erleben die beiden Ausreißerinnen eine Odyssee aus Anonymität und Kälte.

Die amerikanische Independent-Regisseurin und ihre französische Kamerafrau Hélène Louvart folgen den Bewegungen ihrer Protagonistinnen durch den öffentlichen Raum mit dokumentarischem Gestus. U-Bahn-Fahrten, Wartezonen auf Bahnhöfen, Einkaufspassagen, Imbiss-Restaurants und institutionelle Abläufe vermitteln ein trostloses Gefühl des Ausgesetzseins und hilfloser Abhängigkeit. Wiederholt werden die beiden Mädchen, die keine Bleibe haben, sexuell belästigt. Eliza Hittman registriert das ebenso subtil wie dezent. Immer wieder schafft sie erzählerische Ellipsen, um sich mit großer Einfühlung ganz auf das wortlose innere Erleben ihrer Heldin zu konzentrieren. Dieses kulminiert auf bewegende Weise schließlich in einem Beratungsgespräch, das persönliche Erschütterungen in Ahnungen erfahrbar macht. Etwas öffnet sich in Autumn, ihre Isolation im Rhythmus der Anonymität wird durchbrochen. Doch das Fassliche oder Greifbare, der Moment eines Aufbruchs oder einer leisen Hoffnung liegt in Hittmans Film jenseits der Sprache: Im intimen Blick auf den Körper, in verschworenen, zärtlichen Gesten der Freundschaft und einem flüchtigen Aufschauen in die Weite des Himmels.

All Inclusive

(CH 2018, Regie: Corina Schwingruber Ilić)

Die schönsten Wochen des Jahres
von Ricardo Brunn

Am Ende der Saison 2016 hatten nach Darstellung der Stadtverwaltung circa 790.000 Touristen von 530 Kreuzfahrten Dubrovnik besucht. 2017 spülten die Luxusliner zu Hochzeiten bis zu 10.000 Menschen pro Tag …

Am Ende der Saison 2016 hatten nach Darstellung der Stadtverwaltung circa 790.000 Touristen von 530 Kreuzfahrten Dubrovnik besucht. 2017 spülten die Luxusliner zu Hochzeiten bis zu 10.000 Menschen pro Tag in die Kleinstadt an der Adria, die selbst nur etwa 43.000 Einwohner zählt. Und allein bis Mitte Juli 2019 sind es nach Angaben des kroatischen Ministeriums für Tourismus bereits knapp 700.000 Besucher gewesen – 20 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum 2018. Die Zahlen sind so irreal wie die haushohen Kreuzfahrtschiffe, die sich losgelösten Eisschollen gleich den Städten nähern, sie lautlos platt zu walzen drohen und schließlich doch Halt machen, um wie Raumschiffe im Orbit vor ihren Zielen zu schweben. Und vielleicht sind die etwa 300 Kreuzfahrtschiffe, die bis Anfang 2020 im Akkord die Weltmeere bereisten, genau deshalb so beliebt: fernab der Realität kann man nur mitten auf dem Ozean noch wirklich sein. Wie das Urlaubsbild auf Instagram die Realität der Sehenswürdigkeiten als Orte des Massentourismus supprimiert, schafft die Kreuzschifffahrt selbst bei Landgängen keine Berührungspunkte mit der Wirklichkeit mehr. An Bord wird die Landessprache gesprochen und gegessen, was man von zu Hause kennt. Sicher vor den Problemen und Bösartigkeiten der Welt ist alles in diesem Kokon-Urlaub einer „traumhaften“ Künstlichkeit untergeordnet, in der man von einem Museum zum nächsten schippert.

All inclusive ist in den vergangenen Jahren aus diesem Grund zum geflügelten Wort der Tourismusbranche geworden: Es beinhaltet das Versprechen sich um nichts kümmern zu müssen, weil vorab bereits alle monetären Unannehmlichkeiten aus der Welt geschafft und die permanente Aufforderung zum Konsum in den Urlaub geschickt wurden. Doch alles zu erwarten und alles zu bekommen bedeutet nicht nur Teil einer unbeschränkten Steigerungslogik zu sein, sondern zuvorderst einer lieblosen Dienstleistung auf den Leim zu gehen. Versprochen wird das singuläre Erlebnis, geliefert wird Uniformität in einer Minimalerfahrung dessen, was reisen sein kann. Die Kunst der Massenabfertigung liegt nun genau darin, sie als solche nicht in Erscheinung treten zu lassen. Entlang dieses schmalen Grats operiert Corina Schwingruber Ilić mit ihrem Dokumentarkurzfilm „All inclusive“.

In eisblauen, aseptischen Bildern fängt die Schweizer Filmemacherin ein, was an Bord eines Kreuzfahrschiffes den lieben langen Tag geschieht: Cocktails im Pool schlürfen, in der Wasserrutsche steckenbleiben, auf der Sonnenliege einschlafen, romantische Fotos bei Sonnenuntergang vom Bordfotografen schießen lassen, eine Polonaise durch das knackevolle Bordrestaurant, die Nachtschicht auf dem Laufband im Fitnessstudio, Party mit Konfetti, Fressen ohne Ende. Mit jeder neuen Einstellung offenbart sich eine weitere Facette dieses stählernen Urlaubsmikrokosmos auf hoher See, dessen grundlegendes Anliegen zu sein scheint, in einer blitzblanken Umgebung durch vielfältigste Angebote keine Gelegenheit für den Gedanken zu bieten, dass die Erlebnisse aller Anwesenden identisch sind und auf einem System perfekten ineinander greifender, unsichtbarer und unterbezahlter Zahnräder fußt. Dementsprechend bietet die Montage des Filmes in ihrem steten Rhythmus neue Szenerien immer genau dann an, wenn die Mischung aus ungläubigem Staunen und Faszination abzuebben droht. Wie die Attraktionen auf den Schiffen selbst stehen die Einstellungen, die jeweils auch eine Szene abbilden nebeneinander und provozieren in den immer gleichen Einstellungsgrößen und ähnlichen -längen über die Zeit hinweg das unangenehme Gefühl unterschwelliger Monotonie.

Das vielleicht präziseste Bild in diesem Zusammenhang zeigt das obligatorische Get Together mit dem Kapitän beim Captain‘s Dinner: jeder*m Passagier*in wird wie an einem Fließband die Hand geschüttelt – aber erst, nachdem diese auch desinfiziert wurde. Und wie es sich gehört wird das Desinfektionsmittel diskret von einem der unzähligen Arbeiter*innen aus einem Niedriglohnland gereicht, die aus dem Hintergrund heraus für die reibungslose Dauerbespaßung der Gäste sorgen und in den Bilder des Filmes ein ums andere Mal leise am Rand in Erscheinung treten. Auf engstem Raum und in kürzester Zeit erfasst „All Inclusive“ so die Probleme des Massentourismus prägnant, ohne dass dafür auch nur ein einziges Wort fallen müsste. Im Sounddesign wird die Künstlichkeit des Gezeigten manchmal zu sehr auf die Spitze getrieben, wenn die Musik besonders dämlich vor sich hin dudelt und Gesprächsfetzen wie versehentlich in den Vordergrund gemischtes Gebrabbel einer Statistenmenge klingt. Darin liegt ein nicht mehr ganz so zarter Sarkasmus, der unnötig überhöht, was der Überhöhung gar nicht bedarf.

Dass es in „All inclusive“ an keiner Stelle Individuen zu sehen gibt, sondern der Mensch anonyme Masse bleibt, ist nicht nur Teil der Strategie, niemanden bloßzustellen und zugleich den Zuschauer*innen zu ermöglichen, für einen Moment ebenfalls Teil dieser Kreuzfahrer*innengemeinschaft zu werden. Aus der Distanz gibt sich vielmehr eine Infantilisierung durch Übertragung von Verantwortung nach und nach zu erkennen: Wie in der Altersresidenz werden die Gäste den Tag über umsorgt ohne sich je um etwas kümmern zu müssen. Dass von den Schiffen bereits einige Routen nicht mehr befahren werden, weil die Gefahr besteht auf Flüchtlingsboote zu treffen, verdeutlicht einmal mehr, wie eng befreundet der Wunsch nach Entdeckung der Welt durch Reisen und das gleichzeitige Ausblenden der Realität und der Verantwortung für diese im Massentourismus sind. Bereits 2004 hat der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace in „Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich“ sehr vortrefflich eine Kreuzfahrt beschrieben, auf der genau solche Passagiere dann fragen, ob die Crew mit an Bord schläft, man beim Schnorcheln nass werden oder wann das Mitternachtsbuffet eröffnet wird. Und der nächste Trend dreht bereits richtig auf: Individualreisen im luxuriösen Wohnmobil. Nach all der Hochseedekadenz will der Mensch in den schönsten Wochen des Jahres jetzt in den eigenen vier Wänden wieder zurück zur Natur. Genug ist eben genug. Die europäische Caravaningindustrie zeichnet 2019 mit über 210.000 Neuzulassungen als das zweiterfolgreichste ihrer Geschichte aus. Auf nach Dubrovnik!

Space Dogs

(AUS/DE 2019, Regie: Elsa Kremsers, Levin Peter)

Freiheit im Verborgenen
von Wolfgang Nierlin

Der Geist eines verstorbenen Hundes streift durch die Moskauer Straßen. Nachts lagert er im Schatten des Mondes und beobachtet das menschliche Treiben unter den Lichtern der Zivilisation. Zwischen Autoverkehr und …

Der Geist eines verstorbenen Hundes streift durch die Moskauer Straßen. Nachts lagert er im Schatten des Mondes und beobachtet das menschliche Treiben unter den Lichtern der Zivilisation. Zwischen Autoverkehr und verlassenen Parkplätzen, Rummel und Nachtclub-Betrieb folgt er unsichtbaren Spuren, deren Ziele nur er kennt. Zusammen mit einem Rudel streunender Artgenossen sucht er in den Resten und Hinterlassenschaften der Menschen nach Nahrung und Unterschlupf. Er trinkt aus Regenpfützen, geht wie ein Raubtier auf die Jagd oder schnüffelt so lange an einem Auto, bis dessen Alarmanlage ausgelöst wird. Perfekt angepasst an ihre Umgebung, leben diese herrenlos Tiere in einer Parallelwelt. Unterwegs auf geheimnisvollen Wegen teilen sie ein Wissen, das wir nicht kennen. In Elsa Kremsers und Levin Peters beeindruckendem Film „Space Dogs“ ist für einmal die Perspektive umgekehrt und wir blicken zusammen mit den Tieren auf uns Menschen.

Aus diesem ungewöhnlichen dokumentarischen Material entwickeln die beiden Filmemacher den Mythos der Hündin Laika, die 1957 als erstes irdisches Lebewesen ins All geschossen wurde und als „kosmisches Treibgut“ aus ihrer Kapsel auf die Erde blickte. Was sah das Tier damals und was sieht es heute? Einst beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre verglüht, spinnen Kremser und Peter Laikas Geschichte in traumverlorenen Bildern fort und vermischen dabei historische Tatsachen und fiktive Elemente, um eine uns unbekannte Welt zu zeigen. Dafür haben sie eine poetische Erzählung aus wissenschaftlichen Tatsachen und kosmischen Phantasien geschrieben, die in Abschnitten von dem bekannten russischen Schauspieler Alexey Serebryakov aus dem Off vorgetragen wird. In der Distanz zum Menschen leben die streunenden Tiere eine Freiheit im Verborgenen.

Neben diesem überraschenden, virtuos realisierten Perspektivwechsel thematisieren die beiden Filmemacher den sogenannten „Space Race“, den Wettlauf ins All, der 1950er und 60er Jahre, als die Großmächte um die Vorherrschaft im Weltraum stritten und für ihre Versuche mit verschiedenen Tieren experimentierten. Etwa mit dem zunächst nur „Nr. 65“, später „Ham“ genannten Schimpansen, den die Amerikaner mit einer Rakete in die unendlichen Weiten schickten. Dieser kam zwar lebendig zurück, verhielt sich aber verändert und seiner Spezies entfremdet. Bislang unveröffentlichte Filme aus russischen Archiven zeigen, wie Straßenhunde für ihre Weltraummission präpariert, malträtiert und instrumentalisiert wurden. Was sie im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts schmerzlich erduldeten, lässt sich beim Blick in ihre Augen nur erahnen. Doch spiegeln die Hunde zugleich jene Projektionen zurück, mit denen die Menschen in ihren tierischen Stellvertretern den „Zauber heldenhafter Entdecker“ imaginieren beziehungsweise sehen wollen.

Sühne

(SU 1926, Regie: Lev Kuleshov)

Im Goldrausch
von Christian Kaiser

Am Klondike River in Yukon kam es in den 1890er-Jahren zum sogenannten Goldrausch, der – etwa titelgebend bei Charles Chaplin – fortan zum Fundus der populären Kultur gehören sollte: Von …

Am Klondike River in Yukon kam es in den 1890er-Jahren zum sogenannten Goldrausch, der – etwa titelgebend bei Charles Chaplin – fortan zum Fundus der populären Kultur gehören sollte: Von Jack London bis hin zu den Uncle-Scrooge-Geschichten eines Carl Barks oder Don Rosa reicht der literarische Nachhall. Und auch Filme wie „Die goldene Hölle“ (USA 1928; Regie: Clarence Brown), „Goldfieber in Alaska“ (USA 1935; Regie: William A. Wellman) oder „Über den Todespass“ (USA 1954; Regie: Anthony Mann) haben an der Grenze zwischen Western und Abenteuerfilm das Motiv des Goldsuchers am Klondike ins nahezu Mythische überhöht. Einer der kraftvollsten Filme aus dieser Sparte stammt allerdings aus der Sowjetunion: Lev Kuleshov, Filmtheoretiker und Filmemacher, legte nach der Kurzgeschichte „The Unexpected“ (1906) von Jack London ein hochdramatisches Kammerspiel vor, das wenig für das Abenteuerfilm-Potential der Goldsuche übrig hat, sondern das Rauschhafte und Fiebrige des Goldrausches in den Blick nimmt.

Fünf Menschen und ein Hund hocken in einer Hütte am Klondike und umliegenden Zeltlagern zusammen: der Ire Michael Dennen, der Vorstandsvorsitzende Hans Nelson, ein Schwede, seine englische Gattin Edith Nelson, sowie die Aktionäre Dutchy und Harkey. Dennen ierscheint zunächst als aktivste Figur, wenn er mit dem hündischen Gefährten am Ufer werkelt, Wasser kocht und das Mittagessen für alle zubereitet. Edith wird dagegen mit Bibel in der Hand und andächtig in den Himmel schauend als fromme Person eingeführt, bevor sie voller Anmut ihre Haare kämmt. Die Aktionäre tun sich vor allem als gute Esser beim gemeinsamen Mahl hervor, nach welchem Dennen schnell wieder zur Schürfstelle zurückkehrt, als man sich entschlossen hat, die Zelte abzubrechen. Und gerade jetzt, kurz vor dem Abbruch stößt er auf Gold und löst einen allgemeinen Freudentaumel aus.

„Little Home, Great Happiness“, verkündet ein Schild vor der gemeinsamen Hütte, in der sich Dennen um die Wäsche kümmert, derweil es mit der Goldgewinnung, um die sich Edith und die anderen Männer kümmern, vorangeht. Edith ist dabei vor allem als Spiegelbild im Schürfbecken zu sehen: als Bild, das auf der bewegten Wasseroberfläche ins Wanken gerät. Bei Dennen regt sich indes Unmut, hat man doch ihn als Entdecker des Goldes mit der Wäscherei beauftragt. In einer Pfanne auf offenem Feuer kocht es in Großaufnahme, die Nelsons und die Aktionäre freuen sich auf die Mahlzeit und einen Wein. Dutchy und Harkey spotten über den abwesenden Dennen. Da tritt der Ire ein, mit fanatischem Blick und einem Gewehr. Zwei Schüsse fallen und nachdem gerade einmal das erste Viertel des Films um ist, hat Dennen Dutchy und Harkey tödlich versehrt. Vor seiner Schüssel mit Bohnen, den Kopf an der Tischkante und auf dem Boden kniend, den Teller dabei eingeklemmt, die Bohnenpampe wie Hirnmasse von seiner Stirn tropfend ist Dutchy in sich zusammengesackt. Ein krudes, ruppiges Bild der Gewalt. Vor und nach diesem Anblick kämpft erst Edith mit Dennen, dann auch Hans. Rasante Montage schräg und schief eingefangener Bilder, derweil siedendes Wasser einen Kessel auf der Feuerstelle zum Pfeifen bringt. Zur Überraschung aller entpuppt sich Harkey als durchaus noch lebendig – doch die Hoffnung währt nur kurz, denn wenig später erliegt auch er seinen Verletzungen.

Nun beginnt die eigentliche Handlung des Films: Edith und Hans leben nun in der Abgeschiedenheit mit einem Mörder zusammen, den sie zwar überwältigt und gefesselt haben, der aber keinen Zweifel daran lässt, dass er auch ihnen den Tod wünscht. Hans’ frühes Vorhaben, Dennen zu erschlagen, wird von Edith noch vereitelt – immerhin sei Dennen ein Weißer. Während um die Hütte herum Wind und Regen peitschen, während mal Schnee und Eis und mal Wasser auf dem teils zugefrorenen Yukon für Unwirtlichkeiten sorgen, spitzen sich die Schwierigkeiten zwischen Dennen und den Nelsons zu. Letztere beseitigen, nachdem sie schon die Toten in mühsamer Arbeit bestattet haben, die blutigen Spuren des Verbrechens, welches damit freilich nicht aus der Welt geschafft ist. Gewissenhaft wacht man über den scheinbar wahnsinnig Gewordenen und kämpft gegen steigendes Wasser, das bald auch in die Hütte dringt. Erneut muss Edith verhindern, dass Hans den Mörder entleibt, als es diesem gelungen ist, ein Feuer zu legen – diesmal fügt sie die Einschränkung „Nicht ohne Gesetz“ hinzu. An Ediths Geburtstag bahnt sich ein etwas zivilisierteres Verhalten Dennens an, der auf ihren Wunsch dann auch von Hans rasiert wird. Kuleshov macht daraus eine bedrohliche Suspense-Szene, die Dennen freilich überleben wird: die scharfe Klinge wird sich nicht durch seine Kehle ziehen. Nachdem man zu dritt feierlich gespeist hat, gibt Dennen erstmals seine Gründe für den Mord an Dutchy und Harkey an: furchtbar einfach schien es ihm damals zu sein, als einziger mit dem Gold heimzukehren. Und Kuleshov überblendet prompt auf solch eine imaginierte Heimkehr – auf die alte Mutter, die den Zwischentiteln gemäß immer zu Dennen gesagt habe, er werde einmal am Galgen enden.

Diese nachträgliche Charakterisierung des offenbar schon früher auffällig gewesenen Mörders lässt zwar die Spötteleien seiner Gefährten nicht vergessen, die wohl zu seiner Motivation beigetragen haben dürften, entschärft doch aber ein wenig den Eindruck, der Film würde der einzigen Frau die Schuld zuweisen, die als Vorstandsgattin ihren Mann steht, während gerade Dennen als Entdecker der Goldquelle mit traditioneller Hausfrauenarbeit beschäftigt wird. (Zumindest in der deutschen/englischen Übersetzung der Zwischentitel der Edition-Filmmuseum-DVD klagt Dennen explizit darüber, dass man ihn zur „Wäscherin“ gemacht habe.) Ein solcher Verdacht mag aufkeimen, da Ediths frommes Beharren auf der Einhaltung des Gesetzes in Verbindung mit der wohl von allen Figuren geteilten (aber nur von ihr ausgesprochenen) rassistischen Unterteilung in Weiße und Nicht-Weiße die Figur letztlich nicht im besten Licht erstrahlen lässt. Doch Aleksandra Khokhlova, Kuleshovs Partnerin, vereint so kraftvoll wie glaubwürdig Frömmelei, Anmut, Freude, Erregung, Bestürzung und Schrecken, dass sie alle möglicherweise problematischen Anlagen der Figur mit einer Ambiguität ummantelt, die aus ihrer Edith Nelson die faszinierendste und komplexeste Figur des Films machen, welche sich vorschnellen Urteilen letztlich entzieht.

Parallel zu Dennens Beruhigung beruhigt sich auch das Wetter. Und Edith und Hans fassen den Entschluss, ein Urteil zu sprechen. Edith besteht auf ein Verfahren nach englischem Recht, das dann auch unter dem Bild von Queen Victoria abgehalten wird. Nun läuft alles zivilisiert und geordnet ab: Anklage, Verfahren, Urteilsfindung. Ediths Blick erscheint – im gespenstischen Kerzenschein – fanatischer als einstmals derjenige Dennens, den man bald zum Tod durch Erhängen verurteilt hat. An einem nahegelegenen Baum wird er schließlich mit einiger Mühe aufgeknüpft. Und wie schon bei Jack London vermengen sich hier Erregung, Erschrecken und Erschöpfung am Ende der Hinrichtung. Edith scheint unter Schock zu stehen, Hans muss sie beim Rückweg stützen.

Bei Jack London endet die Geschichte hier: Bloß ein paar Indianer betrachten gemäß des Schlusssatzes die verlassen in der Luft tanzende Leiche des Gehängten. Eine spannende, neuartige Perspektive, die das für Hans und Edith trotz aller Belastung normale Geschehen in einen anderen Kontext rückt: Normalität wird als Konstrukt ausgewiesen. Kuleshov weicht von diesem Schluss ab. Nachdem Hans und Edith gegangen sind, baumelt kein Leichnam am Baum. Dafür sucht sie der Gehängte in ihrer Hütte heim: Wie eine Geistererscheinung, um die es sich womöglich auch handelt, betritt er mit anklagendem Blick das Innere, nimmt sich seine Schlinge vom Hals, übergibt sie seinen Richtern und Henkern, nimmt sich seinen Anteil des Goldes und stapft in die karge, unwirtliche Wildnis.

Man kann darin eine schwarzhumorige Pointe entdecken, nach welcher die Hinrichtung nach all den Ritualen und Mühen dann auch noch unbeabsichtigt erfolglos geblieben wäre. Spannender ist es vermutlich, darin die Heimsuchung des Gewissens durch den Getöteten zu sehen. So wenig wie Dennens Mord durch die Beseitigung der Bluflecken zu entfernen war, ist nun die Sühne nach ihrer Durchführung vom Tisch. Sie lastet schwer und erstaunlicherweise sinnt der Zurückgekehrte nicht einmal auf Rache. Er nimmt sich sein Gold, lässt mit anklagendem, vorwurfsvollem und verächtlichem Blick den Strick zurück und zeigt kein Interesse, länger in der Gesellschaft der Nelsons zu bleiben, die ihre tödlichen Absichten in aller Ruhe, nach dem Gesetz und seinen Ritualen durchgeführt haben, während Dennen einst als zwar habsüchtiger Charakter, aber doch auch als Verspotteter in rasender Wut agierte, möglicherweise im Zustand eines Kollers.

Den bloß scheinbar normalen Charakter der Sühne des Verbrechens vermittelt Kuleshov auch ohne die Perspektive der Indianer, indem er die Beherrschtheit der Gepflogenheiten eines Gerichtssaales in dieser kümmerlichen Hütte zwischen drei einander gut vertrauten Beteiligten als absurde Farce erscheinen lässt. Eine echte Gerichtssaalsituation lässt sich trotz aller Bemühungen kaum herstellen. Durch die Übertragung solcher Abläufe in diese menschenleere Einöde einerseits und dieses enge, vertraute Beziehungsgefüge andererseits lassen sich weder Recht noch Gerechtigkeit herstellen. Man kann aber – und das ist der Clou, der bei London gegen Ende sanft anklingt – noch einen zweiten Schritt machen: Nicht bloß lässt sich in dieser Konstellation in der Einöde nicht jene Gerechtigkeit herstellen, die in der Gemeinschaft in Ediths Heimat herrscht, sondern die Rituale und Gesetzmäßigkeiten der Zivilisation selbst werden in dieser Extremsituation ad absurdum geführt. Die geregelte, zivilisierte Hinrichtung nach einem Recht mit all seinen Ritualen wird hier als Obszönität entlarvt. Dennens Mordtat wie auch Hans’ Totschlagversuche erscheinen hingegen nachvollziehbar. All das läuft zusammen im Bild der Schlinge, die zwar beileibe nicht perfekt geknüpfte ist, aber doch als Schlinge bereits Technik, Kunstfertigkeit und vermeintliche Zivilisiertheit einerseits und tödliche Absicht andererseits in sich birgt und damit etwas Perverses an sich hat. Hans’ affektive Totschlagversuche haben in der Extremsituation und angesichts der Bedrohung, die mehrfach von Dennen ausgeht, etwas sehr Verständliches an sich, wohingegen das sachlich-nüchterne Richten & Hinrichten nach System etwas Befremdliches mit sich bringt.

Sicherlich wollte Kuleshov so wenig wie London ein archaisches Recht affektiver Gewalt gegen zivilisatorisch errungene Gesetze, die in der Wildnis an ihre Grenzen stoßen, ausspielen. Aber dass nicht bloß eine Hinrichtung nach dem Gesetz in einer Situation wie der geschilderten absurd anmutet, sondern auch rückwirkend jede sachlich-nüchtern geregelte Hinrichtung auch innerhalb zivilisierter Gesellschaften pervers anmutet, zeigt sich bei Kuleshov spätestens im anklagenden Blick des zurückgekehrten, gehängten Mörders, der auf den erschrockenen, ertappten Blick seiner Henker trifft.

Dieses grimmige kleine Kammerspiel über den Zynismus der Vorstellung gerechten Tötens, das in seiner Kürze enorm viel Biss aufweist, ist aber auch auf formaler Ebene überaus bestechend: Nicht bloß intensivieren Affektbilder lodernden Feuers, prasselnden Regens, siedenden Wassers oder tropfender Bohnenpampe die latente oder manifeste Gewalt, sondern auch Bilder des Formverlustes bemüht Kuleshov mehrfach in dieser Geschichte des Gesetzes, das im neuen Kontext zur Farce gerät oder vielmehr seine Maske fallen lässt. So weicht der feste, vereiste Boden bald der flüssigen Fläche gestiegenen Wassers; so zerrinnt Ediths Antlitz nach dem Goldfund in der Wasseroberfläche innerhalb einer Schürfschale; und so verliert auch der Kamerablick seinen Halt, wenn die Figuren ihre Fassung verlieren, blickt aus Schrägen oder Untersichten in die Gesichter.

Über die Unendlichkeit

(SE/DE/NO 2019, Regie: Roy Andersson)

Graue Menschen in grauer Welt
von Wolfgang Nierlin

Wie die vielen einzelnen Lichtpünktchen, aus denen sich der Filmtitel „Über die Unendlichkeit“ zusammensetzt, so ist auch Roy Anderssons neuer Film selbst aus lauter kurzen Episoden komponiert. In sich abgeschlossen …

Wie die vielen einzelnen Lichtpünktchen, aus denen sich der Filmtitel „Über die Unendlichkeit“ zusammensetzt, so ist auch Roy Anderssons neuer Film selbst aus lauter kurzen Episoden komponiert. In sich abgeschlossen wie einzelne Bilder oder Gemälde, werden diese Miniaturen auf der Erzählebene nur manchmal miteinander verknüpft. Ihr Zusammenhang und die Beziehungen, die diese in jeweils einer statischen Einstellung gedrehten Szenen miteinander eingehen, sind vielmehr motivisch und ästhetisch motiviert. Anderssons minimalistische Inszenierung akzentuiert dabei vor allem den jeweiligen Raum, der von der Kamera meist in einer tiefenscharfen Totale erfasst wird. Dieser wird bevölkert von überwiegend statuarischen Figuren, die sich schleppend oder langsam bewegen, die betont ausdruckslos und monoton sprechen und dabei öfters ihre Sätze wiederholen. Manchmal sagt auch eine Off-Erzählerin in einem knappen Satz, was wir im Bild bereits sehen.

In farblosen, fast aschfahlen Bildern zeigt uns der schwedische Meisterregisseur graue Menschen in einer grauen Welt und entwickelt in unscheinbaren, archetypischen Alltagsszenen, surreal anmutenden Visionen und markanten historischen Tableaus beziehungsreiche Ansichten über die menschliche Existenz. Zum motivischen Leitbild wird dabei ein verzweifelter Pfarrer (Martin Serner), der seinen Glauben verloren hat. In einem wiederkehrenden Alptraum sieht er sich in der Rolle des Gekreuzigten. Er sei von Gott verlassen, klagt er gegenüber seiner Frau. Angetrunken vom Messwein, torkelt er zum Abendmahl. „Wenn man seinen Glauben verloren hat, was kann man da tun?“, fragt er seinen Arzt, der keine Zeit für ihn hat und ihm Bescheidenheit empfiehlt: „Man muss damit zufrieden sein, dass man lebt.“

Roy Andersson zeigt die existentielle Verzweiflung von Menschen, die nicht wissen, was sie mit ihrem Leben wollen und dem Alkohol verfallen, die traumatisiert sind vom Krieg oder in der Weite der Landschaft rettungslos verloren sind. Der trockene, absurde Humor des Films und sein lakonischer Stil mildern allerdings die Härten dieses hoffnungslosen Ausgesetzt-Seins. Sein Thema sei „die Verletzlichkeit des Menschen“, hat der Regisseur dazu gesagt. Er zeige die Nöte des Menschen, um im Gegensatz dazu „die Schönheit des Lebens“ zu evozieren.

Das entrückt über den Ruinen der vom Krieg zerstörten Stadt Köln schwebende Liebespaar, das auch aus einem Gemälde von Marc Chagall stammen könnte, vermittelt diese fast schon utopische, jedenfalls überzeitliche Anmutung, in der die Unendlichkeit des Filmtitels aufgerufen wird. Von schwebender Leichtigkeit und ungezwungener Lebendigkeit zeugt auch der Tanz, den drei junge Mädchen vor einer Café-Terrasse im Vorbeigehen aufführen. Einmal zitiert ein Student etwas unscharf ein thermodynamisches Gesetz: Alles sei unzerstörbare, unendliche Energie. Diese werde immer nur umgewandelt, um sich in neuen Formen und Gestalten zu manifestieren.

I, Tonya

(USA 2017, Regie: Craig Gillespie)

Der dreifache Axel unter den Biopics
von Drehli Robnik

Der alte Hofrat Deleuze meinte einmal, Filme hätten ein Bewegungsdiagramm, das ihr Konzept zum Bild macht: etwa die Spirale in „Vertigo“. Im Eiskunstlauf-Biopic „I, Tonya“ ist es die Zeitlupenpirouette. Tonya …

Der alte Hofrat Deleuze meinte einmal, Filme hätten ein Bewegungsdiagramm, das ihr Konzept zum Bild macht: etwa die Spirale in „Vertigo“. Im Eiskunstlauf-Biopic „I, Tonya“ ist es die Zeitlupenpirouette.

Tonya Harding, um 1990 Skandalfigur mit Redneck-Hintergrund in einem auf Noblesse machenden Sport, springt den Dreifach-Axel zu axe grinding Hardrock: im Bild so langsam, dass es erhebend ist – und zum Mitschreiben deutlich. Wie die Dreh- und Wendungen, die der Film zu Aufstiegskampf-Wahrheit-versus-Medienimage vollführt: vom Ankündigen einer Story „based on irony-free interviews“ über Camcorder-Monologe, die, ebenso wie Wendungen zur Kamera aus dem Spiel heraus, die Handlung skandieren, bis zu Archivbildern im Abspann. Rumrutschen auf Fake-Styling samt Zwinkern an uns als Implizierte, triple axing the fourth wall: Solch virtuose Kür ist längst Pflichtprogramm.

Tonya schleppt Zement und Holz beim Joggen und vergleicht sich mit dem Held von „Rocky IV“. Ihre Trainerin zwinkert uns zu: „She did this.“ Zuletzt mündet die Klassenjustiz der Punkte- und Strafrichter (da war was mit einer Attacke auf eine Rivalin) in Montagepirouetten: Eisläuferin springt hoch, Promiboxerin fällt tief, Off-Stimme sagt, alle hätten ihre Wahrheit, In-die-Kamera-Rede feixt trotzig, das sei die gültige – besiegelt mit Blut, Siouxsie Sioux’ „The Passenger“-Version und Anklängen an Scorsese-Klassiker zur All-American Selbstüberschätzung.

Rund um Margot Robbie, stark als grelles bad girl, und Allison Janney als brutale mum (ausgezeichnet mit einem Oscar für die beste weibliche Nebenrolle) bietet „I, Tonya“ ein White-working-class-Panorama im Zugleich von Komik und Beziehungsgewalttragik: Klasse ist hier (wie bei Didier Eribon, anderseits bei Donald Trump) eine Lebensweise, die ganz im Makel oder aber Exzess aufgeht. Bis alle kapiert haben, dass alles ganz uneindeutig ist.

Diese Kritik erschien zuerst in: Spex No. 379

T

(USA 2020, Regie: Keisha Rae Witherspoon)

Innere Realität schafft äußere Form
von Hannes Wesselkämper

Um einen geliebten Menschen zu trauern, mag zunächst als innerlicher Prozess erscheinen, eine Aushandlung des Verlustes mit sich selbst. Den Verlust nach außen zu kehren und in Gemeinschaft zu trauern, …

Um einen geliebten Menschen zu trauern, mag zunächst als innerlicher Prozess erscheinen, eine Aushandlung des Verlustes mit sich selbst. Den Verlust nach außen zu kehren und in Gemeinschaft zu trauern, ist ebenso wichtig, um dem Tod einer*s Nahestehenden Sichtbarkeit zu verleihen. Diese öffentliche Wertschätzung eines verlorenen Lebens ist nicht nur dann politisch, wenn um staatstragende oder ikonische Persönlichkeiten getrauert wird, sondern gerade in marginalisierten Gemeinschaften, deren Leben im öffentlichen Diskurs ungleich weniger wert sind.

„T“ porträtiert drei Trauernde einer afroamerikanischen Community in Miami, die ihrem Verlust mit extravaganten Kostümen und großflächig bedruckten T-Shirts Ausdruck verleihen. Jungsgesichter, oft nicht älter als zwanzig Jahre, prangen darauf neben verschnörkelten R.I.P.-Schriftzügen. Auf dem jährlichen T-Ball wird ihnen mit Tanzperformances und Kostümen in einer Form gedacht, die aus der Ballroomszene stammt und ihrerseits seit den 1920er Jahren für eine Sichtbarkeit der schwarzen LGBTQI*-Community einsteht.

Jedoch versteht sich Keisha Rae Witherspoons Film nicht als Porträtfilm. Die einzelnen Schicksale bleiben im Unklaren, wie auch der Ball selbst nur bruchstückhaft Eingang in den Film findet. In teils assoziativen Bildern ergründet „T“ die komplizierten Verstrickungen von individueller und gemeinschaftlicher Trauer, von gewollter Sichtbarkeit und privaten Rückzugsräumen.

Dimples, eine ältere Dame, die für ihren verstorbenen Sohn einen silbernen Hosenanzug mit Flügeln aus zerschnittenen Chipstüten näht, zeigt diesen Widerspruch am deutlichsten. Voller Stolz präsentiert sie seine Kunst, lässt sich beim Nähen über die Schulter schauen. Doch in einen Raum darf das Filmteam – von Witherspoon als solches herausgestellt – nicht. Zumindest nicht über die Schwelle. Dimples sitzt dort in verhangenem Licht, neben ihr ein junger Mann, der bereits wie eingefroren dort sitzt als sie den Raum betritt. „I know you can’t see him, but for me he is there“, sagt sie quer durch den Raum zur Kamera gerichtet.

Durch solche Momente der Inszenierung und der assoziativen Bilder – etwa von Blutkreisläufen und Galaxien – gerät „T“ zur Reflexion über die Möglichkeiten der Sichtbarmachung. Die zweite Porträtierte, Tahir, verlor ihre Zwillingsschwester und ist lediglich als Voice-Over einer computergenerierten Stimme zu hören, während Stills ihrer Schwester durchmischt mit monochromen Farbtafeln das Bild füllen. Ash, der als leidenschaftlicher Gärtner eingeführt wird, wechselt ebenfalls seine Position, so scheint es. Nachdem es keine Pflanzen mehr zu präsentieren gibt, fragt er schließlich mit versteinerter Miene in die Kamera: „What y’all wanna see?“, und ermahnt seinen Kollegen, nichts über die Verstorbenen preiszugeben.

Aus den Widersprüchen von gemeinschaftlicher und individueller Trauer ergibt sich die Frage, was denn nun zu zeigen sei. Witherspoons Film stellt diese Problematik aus, versucht sich in Lösungen, greift nach Assoziationen und findet letztlich darin zu seiner Stärke. Mehr als Homestories von Betroffenen oder der beobachtende Blick auf die schrille Gala des T-Balls, wirkt jene freie Collage. Nicht zuletzt ist der ‚klassische‘ dokumentarische Blick auf marginalisierte Communities meist von einem weißen, mindestens aber institutionalisierten Blick geprägt.

„T“ ersetzt diesen Blick nicht, markiert sich auch nicht einer Seite absolut zugehörig. Der Film eröffnet einen Diskurs über die Komplexität der Trauer und darin die Sichtbarkeit der zu früh verstorbenen afroamerikanischen Jugendlichen, ohne dabei Statistiken über Drogennutzung oder Waffen- und Polizeigewalt zitieren zu müssen. In der Verweigerungshaltung bleibt einiges ungesagt, aber trotzdem spürbar. Die Form sei hingegen nachgeordnet zu behandeln, wie Witherspoon einen Jungen als Witz in die Kamera sagen lässt: „The inner reality creates the outside form…there’s no punchline, bitch.“

Sibyl – Therapie zwecklos

(FR/BE 2019, Regie: Justine Triet)

Im Dickicht der Fiktionen
von Wolfgang Nierlin

Während Sibyl (Virginie Efira) in einem Restaurant den wortreichen Erklärungen ihres Verlegers zuhört, gleiten auf einem schmalen Förderband in einer Endlosschleife fortwährend Schälchen mit verschiedenen Essensangeboten an ihnen vorüber. Der …

Während Sibyl (Virginie Efira) in einem Restaurant den wortreichen Erklärungen ihres Verlegers zuhört, gleiten auf einem schmalen Förderband in einer Endlosschleife fortwährend Schälchen mit verschiedenen Essensangeboten an ihnen vorüber. Der Möglichkeiten sind viele, sagt uns diese Szene. Man muss sich nur entscheiden und zugreifen. Oder wie Sibyl selbst viel später einmal sagt: „Mein Leben ist eine Fiktion. Ich kann es jederzeit neu schreiben.“ Tatsächlich will die Psychotherapeutin, die vor etlichen Jahren mit einem Roman reüssierte, ein neues Buch beginnen und dafür einen Großteil ihrer Patienten aufgeben. Bezeichnenderweise trifft sie diese Entscheidung an ihrem Geburtstag, während es regnet und der Strom in ihrer Wohnung ausgefallen ist. Ihr Neuanfang gestaltet sich also zwiespältig, zumal sie noch keine Romanidee hat. Da trifft es sich gut, dass sie von der verzweifelten Schauspielerin Margot (Adèle Exarchopoulos) angerufen und um psychologische Hilfe gebeten wird. Diese ist von ihrem Kollegen Igor (Gaspar Ulliel) im zweiten Monat schwanger und erwägt gegen dessen Willen eine Abtreibung.

Ab diesem Zeitpunkt multipliziert Justine Triet in ihrem tragikomischen Film „Sibyl – Therapie zwecklos“ die Fiktionen. Für die schriftstellernde Therapeutin wird Margots unglückliche Liebesgeschichte zur heimlichen Inspirationsquelle für ihr Romanprojekt. Mit lustvoller Neugier beutet sie die Erlebnisse ihrer Klientin für die Kunst aus. Zugleich wird Sibyl mit ihrer eigenen dunklen Vergangenheit konfrontiert, die zum Spiegelbild wird von Margots Geschichte. In assoziativen Zeitsprüngen phantasiert sie sich zurück in ihre leidenschaftliche, aber gescheiterte Beziehung mit Gabriel (Niels Schneider); sie erinnert sich an den Selbstmord ihrer Mutter, zu der sie – im Gegensatz zu ihrer Schwester – ein distanziertes Verhältnis hatte; und sie erlebt noch einmal Sitzungen bei den Anonymen Alkoholikern. Obwohl die zweifache Mutter ihre Sucht mittlerweile hinter sich gelassen hat, wirkt sie noch immer labil und konsultiert selbst einen Psychiater. Das ihr zugedachte musikalische Leitmotiv ist dann auch das Spiritual „Sometimes I feel like a motherless chield“.

In knapp skizzierten Handlungsdetails, schnellen Szenenwechseln und einer dichten Montage spitzt Justine Triet den zunehmenden Realitäts- und Kontrollverlust ihrer Heldin allmählich zu. An einem bestimmten Punkt ihres Identitätskonflikts steht Sibyl am Kreuzungspunkt verschiedener, sich überschneidender Fiktionen. Bei Dreharbeiten auf der filmgeschichtsträchtigen Vulkaninsel Stromboli, wo die am Rande eines Nervenzusammenbruchs agierende Regisseurin Mika (Sandra Hüller) einen Film mit dem Titel „Never talk to strangers“ dreht, wird Sibyl als Mittlerin zwischen den Akteuren selbst zur Spielerin und Regisseurin in einem Geflecht aus Lügen und Manipulationen.

Im überkonstruierten, inhaltlich überladenen Konzept von Triets Film, der zudem verschiedene Tonlagen bedient, teilt sich ihr Drama allerdings nicht nachvollziehbar mit. Zu wenig entwickelt und mehr der übergeordneten Idee als der Erzähllogik verpflichtet, erscheinen die Motive in einem allzu engen Korsett gefangen. So ordnen sie sich zu einem unübersichtlichen, von losen Erzählfäden durchwirkten Dickicht aus Fiktionen. Dies zu entwirren führt vermutlich zu keiner Übersichtlichkeit zurück. Fast scheint es, als verlöre sich die französische Regisseurin so wie ihre zwischen Realität, Phantasie und Fiktion strauchelnde Protagonistin in einem Meer der Möglichkeiten.

Holocaust

(USA 1978, Regie: Marvin J. Chomsky)

Kurzfristig erschüttert
von Jonas Engelmann

Der Begriff „Holocaust“ transformiere Auschwitz in die sinnvolle Struktur eines Alptraums, so hat es der Soziologe Detlev Claussen formuliert. Als die Gesellschaft für Deutsche Sprache „Holocaust“ zum „Wort des Jahres …

Der Begriff „Holocaust“ transformiere Auschwitz in die sinnvolle Struktur eines Alptraums, so hat es der Soziologe Detlev Claussen formuliert. Als die Gesellschaft für Deutsche Sprache „Holocaust“ zum „Wort des Jahres 1979“ wählte, wirkte diese Entscheidung doch einigermaßen befremdlich. Die Jury begründete ihre Wahl damit, dass der Begriff „Holocaust“ die öffentliche Diskussion in Deutschland nach der Ausstrahlung der gleichnamigen US-amerikanischen Fernsehserie im Jahr 1979 bestimmt habe. Dass das Wort „Holocaust“ („Brandopfer“) der Ermordung der europäischen Juden eine Art Sinn unterschiebt, wurde von der Gesellschaft für Deutsche Sprache allerdings nicht problematisiert. Der Serie „Holocaust – Die Geschichte der ­Familie Weiss“ kann aber zumindest das Verdienst zugesprochen werden, dass sie die aus dem Nationalsozialismus übernommene Bezeichnung „Endlösung“ aus dem bundesrepublikanischen Sprachgebrauch verdrängt hat. Wenn anlässlich der Wiederausstrahlung des Mehrteilers im Januar 2019 dessen Bedeutung für die deutsche „Erinnerungskultur“ gelobt wird, so lohnt es, noch einmal einen genauen Blick auf seine Entstehung, die ­gesellschaftliche und mediale Diskussion und die Wirkung der Serie zu werfen.

Gegen die Ausstrahlung der Serie begehrten ganz unterschiedliche ­politische Gruppen auf, etwa der Kreis um den Rechtsterroristen und NPD-Politiker Peter Naumann, der mit Bombenattentaten auf einen Sendemast bei Koblenz und die Richtfunkstelle Nottuln bei Münster die Ausstrahlung einer zur Serie ge­hörenden Dokumentation zu verhindern versuchte, was ihm zumindest in 100 000 Haushalten gelang. Oder die linken K-Gruppen, die Kritik an „Holocaust“ wegen angeblicher „zionistischer Propaganda“ formulierten – dabei war die deutsche Fassung von „Holocaust“ bereits um acht ­Minuten gekürzt.

Nicht gezeigt wurde den Zuschauern der Neuanfang des einzigen Überlebenden der jüdischen Familie Weiss in Palästina und seine Rolle bei der Staatsgründung Israels. Die bildungsbürgerliche Linke wandte sich gegen die „Trivialisierung“ der Shoah und übernahm damit die Kritik des Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel. Der Film verwandele „ein ontologisches Ereignis in eine Seifenoper“, kritisierte er. Heinrich Böll, Günter Grass und Martin Walser meldeten sich zu Wort und boten an, sich an einem deutschen Gegenentwurf zu der US-amerikanischen „Seifenoper“ zu beteiligen. Während die amerikanische Debatte zwischen Elie Wiesel und anderen Kritikern auf der einen und den Machern und Verteidigern der Serie auf der anderen Seite vor allem eine innerjüdische Diskussion um eine angemessene fiktionale Darstellung der Shoah war – sowohl der Regisseur Marvin J. Chomsky, ein Cousin von Noam Chomsky, als auch der Produzent Herbert Brodkin und der Autor ­Gerald Green hatten einen jüdischen Hintergrund –, interessierte sich die innerdeutsche Feuilletondiskussion nicht für die jüdische Perspektive. Man ließ vielmehr durchblicken, dass die mediale Darstellung der deutschen Verbrechen nicht erneut von den Siegern diktiert werden sollte. „Holocaust“ wurde als die Fortsetzung des amerikanischen Reeducation-Programms gedeutet.

Die jüdische Perspektive, die die Serie einnimmt, wurde nur in einem Artikel in einer Regionalzeitung überhaupt erwähnt. Und schließlich stritten die Verantwortlichen bei der ARD darum, in welcher Form sie die Serie dem deutschen Publikum servieren sollten. Gegen eine Ausstrahlung im Hauptprogramm der ARD sprach sich vor allem der Bayerische Rundfunk aus.

Schließlich einigte man sich auf den Kompromiss, die Serie gleichzeitig in allen Dritten Programmen auszustrahlen und mit Dokumentationen und Diskussionsrunden zu ergänzen. Der Schluss der Serie wurde gekappt, einzelne Sequenzen wurden umgestellt: Statt zu zeigen, wie sich Juden auf den bewaffneten Widerstand im Ghetto vorbereiten, wurde eine Szene vorangestellt, in der ­Juden gefoltert und ermordet werden. Den Verantwortlichen der Bundeszentrale für politische Bildung, die den gesamten Prozess begleiteten und pädagogische Materialien zur Serie erstellten, war bewusst, dass der Widerstand bei der deutschen Bevölkerung nur selten auf Verständnis stieß und der Antisemitismus weiterbestand.

Bild aus der TV-Serie „Holocaust“ (© Polyband)

Flankiert von öffentlichen Debatten, wurde „Holocaust“ bei Ausstrahlung der Serie an vier Abenden im Januar 1979 zu einem Medien­ereignis, das Einschaltquoten bis zu 40 Prozent und zeitweise 20 Millionen Zuschauer erreichte. „Die besonderen Schwächen des Films begründen gerade seine Stärke, eine öffentliche Reaktion hervorrufen zu können“, schrieb Moishe Postone kurz nach der Ausstrahlung und erklärte, wie der Film die Zuschauer einlade, sich mit dem Schicksal der Familie Weiss zu identifizieren, die als assi­milierte Juden aus der Mittelklasse gezeigt würden. Anhand dieser ­Familie schildert die Serie die zentralen Stationen der Vernichtung der europäischen Juden, von der Pogromnacht bis zu den Gaskammern in Auschwitz. Dem gegenüber steht der Jurist Erik Dorf, der im NS-System Karriere macht. Zum ersten Mal gab es angesichts dieses zugespitzten ­Gegensatzes zwischen den Haupt­figuren eine breite gesellschaftliche Debatte über die Ermordung der ­europäischen Juden und das Eingeständnis deutscher Schuld. Nach Jahrzehnten der Verdrängung und Leugnung, so Postone, sei „dieser schlafähnliche Zustand“ durch die Serie „Holocaust“ zumindest für ­einen Augenblick erschüttert worden: „Die öffentliche Reaktion auf ›Holocaust‹ machte klar, dass Millionen Deutsche tatsächlich davon gewusst haben mussten, selbst wenn nicht in allen Einzelheiten.“ Fast 30 000 Anrufe seien bei den Sendern in der anschließenden Sendung „Anruf erwünscht!“ eingegangen, berichtete der Spiegel in einem Artikel Ende ­Januar 1979. Es hätten sich „Irritierte, Betroffene, Überlebende“ gemeldet. „Manche schämten sich, klagten sich selbst an, einige weinten.“ Hat die Serie also mit den falschen Mitteln das Richtige erreicht? Die wissenschaftliche Aufarbeitung kommt zu einem anderen Ergebnis. So hielten vor Ausstrahlung der Serie 36 Prozent der Deutschen den Nationalsozialismus für eine gute, aber schlecht ausgeführte Idee, danach nur noch 30 Prozent, ein Rückgang, der kaum als „Kehrtwende“ oder „erinnerungspolitische Zäsur“ bezeichnet werden kann, was viele Medien dennoch taten. Auch 30 Prozent der Zuschauer von „Holocaust“ waren nach wie vor der Meinung, man solle die Zeit von 1933 bis 1945 am besten vergessen, 40 Prozent machten sich weiterhin Sorgen um das Ansehen der Deutschen im Ausland angesichts solcher Filme. Immerhin einen Effekt hatte die Serie: Als im Sommer 1979 im deutschen Bundestag darüber diskutiert wurde, die Verjährungsfrist für nationalsozialistische Verbrechen abzuschaffen, sprach sich eine knappe Mehrheit von 255 zu 222 Stimmen ­dafür aus. Grund dafür war auch, dass sich der gesellschaftliche Trend ­gewendet hatte: Waren vor der Serie noch 51 Prozent der Bevölkerung für eine Verjährung gewesen, waren es nach der Ausstrahlung nur noch 31 Prozent.

Woran mag es liegen, dass die Serie zwar eine langfristige Wirkung auf die wissenschaftliche Debatte über die Darstellbarkeit der Shoah hatte, aber trotz aller persönlichen Betroffenheit der Zuschauer keine nachhaltigen Veränderungen im Denken der Mehrheitsgesellschaft bewirkte? Wohl vor allem, weil eine Einfühlung in das Schicksal der europäischen ­Juden, die Identifikation mit ihrer Entrechtung und Verfolgung, wie Postone bereits 1979 befürchtet hatte, nur eine kurzzeitige Erschütterung bewirken kann. In „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?“ ­berichtet Theodor W. Adorno von ­einem ähnlichen Fall: „Man hat mir die Geschichte einer Frau erzählt, die einer Aufführung des dramatisierten Tagebuchs der Anne Frank beiwohnte und danach erschüttert sagte: ja, aber das Mädchen hätte man doch wenigstens leben lassen sollen.“ Adorno betont die Ambivalenz dieser Äußerung: „Sicherlich war selbst das gut, als erster Schritt zur Einsicht. Aber der individuelle Fall, der aufklärend für das furchtbare Ganze einstehen soll, wurde gleichzeitig durch seine eigene Individuation zum Alibi des Ganzen, das jene Frau da­rüber vergaß.“

Einer der vehementesten Kritiker von „Holocaust“ war Claude Lanzmann, der wenige Jahre später mit „Shoah“ eine Art Gegenentwurf zur trivialen Serie in die ­Kinos brachte. Er kritisierte vor allem die Darstellung der jüdischen Familie. Um dem Tätervolk die Identifikation mit der Familie zu ermöglichen, sei „alles ausgemerzt“ worden, was „sie von anderen hätte unterscheiden können“. Jede „Spur von Anderssein“ habe man „verschwinden lassen“. Auf diese Weise lässt sich zwar Mitleid mit dem Individuum empfinden und auch dessen Tod betrauern, das Verschwinden der jüdischen Kultur aus Europa werde dadurch ­jedoch der Wahrnehmung entzogen. Auch Moishe Postone wies bereits 1979 darauf hin, dass die Familie Weiss kaum mehr jüdische Bezüge habe, was den Deutschen die Identifikation erleichtere: „Durch die Erleichterung der Identifikation schwächte der Film die Wahrnehmbarkeit, dass es sich um die Auslöschung einer anderen Kultur handelte.“ Der Film konnte den Antisemitismus weder in seiner historischen noch in seiner ­gesellschaftlichen Dimension erklären – ebensowenig wie die Experten in den Diskussionsrunden im Anschluss an die Ausstrahlung. Sie hätten, so Postone, zwar Fakten und Zahlen präsentiert; einen Erklärungsansatz für das Funktionieren der Vernichtung seien sie jedoch schuldig geblieben. So stünden in der ­Serie auf der einen Seite die individuellen Lebensgeschichten, auf der ­anderen Seite stehe die Inszenierung der nationalsozialistischen Macht; der strukturelle Antisemitismus, seine historische Dimension und zent­rale Rolle für den Nationalsozialismus würden jedoch ausgespart.

Mittlerweile hat sich die bei „Holocaust“ bewährte Methode der Identi­fikation in der filmischen Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte als Norm etabliert. Mal sind es ­“Unsere Mütter, unserer Väter“, in die sich Zuschauer einfühlen, mal auf gleiche Weise die jüdischen Opfer. 1979 hatte die Serie zumindest noch eine Diskussion über die die Darstellbarkeit der Shoah ausgelöst, an der sich auch Intellektuelle wie Postone oder Lanzmann beteiligten. Heut­zutage findet eine solche Diskussion nicht mehr statt, stattdessen fordert eine Petition, die ARD solle die Serie ins Hauptprogramm nehmen. Der Spiegel bedauert den fehlenden Mut des deutschen Fernsehens, „eine ­aktualisierte ›Holocaust‹-Serie“ zu produzieren und im Kino wird wieder „Schindlers Liste“ gezeigt. Kaum jemand kritisiert noch die Trivialisierung oder fragt nach der Darstellbarkeit der Shoah, stattdessen zeigt sich, wie richtig Eike Geisel lag, als er die „Erinnerung als höchste Form des Vergessens“ bezeichnete.

Dieser Text erschien zuerst in: Jungle World 04/2019

Space is the Place

(USA 1974, Regie: John Coney)

Kosmische Emanzipation
von Jonas Engelmann

„Ich landete auf einem Planeten, den ich als Saturn identifizierte“, erzählte Sun Ra über seine angebliche Entführung durch Außerirdische Mitte der dreißiger Jahre, „und sie wollten mit mir reden. Sie …

„Ich landete auf einem Planeten, den ich als Saturn identifizierte“, erzählte Sun Ra über seine angebliche Entführung durch Außerirdische Mitte der dreißiger Jahre, „und sie wollten mit mir reden. Sie rieten mir, das College zu schmeißen, da es bald in den Schulen drunter und drüber gehen werde. Die ganze Welt würde im Chaos versinken. Ich aber könnte durch meine Musik sprechen und die Welt würde mir zuhören. Das haben sie mir gesagt.“ Es wäre ein Leichtes, Herman Poole Blount einfach als Spinner abzutun, der sich mit einer Alien-Entführungsstory wichtig tun wollte. Allerdings sind diese Phantastereien nur eine Facette einer komplexen Künstlerpersönlichkeit, die unter dem Namen Sun Ra ihr Alien-Dasein in dieser Welt zelebriert hat.

Geboren 1914 in Birmingham, Alabama, hatte sich der Jazz-Pianist Herman Poole Blount 1952 eine Identität als außerirdischer ägyptischer Sonnengott zugelegt. In diese Zeit fiel auch die Gründung seines „Arkestra“, das immer mehr war als lediglich eine begleitende Big Band, worauf bereits die Wortschöpfung im Bandnamen hinweist. Wie in einer Arche hatten die Musiker in der afroamerikanischen Kommune zusammen­gelebt, ein in exzentrische Kostüme gewandetes Kollektiv von Künstlern, das die Grenze zwischen Kunst und Leben einreißen wollte.

Bis heute tourt das Arkestra, das seit Sun Ras Tod 1993 vom Saxophonisten Marshall Allen geleitet wird, durch die Welt und trägt mit seinem „Cosmic Jazz“ die Weltraumutopie ihres Gründers weiter. Denn um eine Utopie, um den Vorschein einer besseren Welt für die afroamerikanische Bevölkerung, ging es Sun Ra mit seiner Musik, dessen Herkunftsstadt Birmingham Martin Luther King einmal die „Metropole der Rassentrennung“ genannt hat.

Afroamerikanische Utopie

Im Laufe der Vierziger hatte Sun Ra sich in der Jazzszene von Chicago ­einen Namen erspielt, zunächst mit Swing- und Big-Band-Standards, bald mit neuen, experimentellen Sounds. Diese auf unzähligen Tonträgern – über 100 Alben hat Sun Ra hinterlassen – veröffentlichte Musik ist kaum einzuordnen, zu sehr hat sie sich, wie auch ihr Schöpfer, gegen die Jazz-Konventionen ihrer Zeit ­gestemmt: mal blubbernd, fiepend, mal klassischer Big-Band-Sound, dann wieder minutenlange Synthesizerexperimente oder spirituelle Texte über das Weltall und die Errettung der Seele. Anders als viele an­dere afroamerikanische Musiker hat er nicht nach seinen Wurzeln und ­einer verschütteten Vergangenheit gesucht, stattdessen blickte er nach vorne und vor allem nach oben. Sun Ra hat aus dem traumatischen Motiv der Vergangenheit der Sklaverei, dem Schiff, ein in die Zukunft weisendes, ermutigendes Motiv gemacht: das Raumschiff.

© Rapid Eye Movies

Der britische Kulturwissenschaftler Mark Dery hat diesem Phänomen den Namen Afrofuturismus gegeben. Für den Blick in die Zukunft ist auch eine neue Ästhetik notwendig, in der Wissenschaft und Kunst verschmelzen. Für Sun Ra ist das Raumschiff der Inbegriff dieser neuen Ästhetik, ein Raumschiff, das mit Musik angetrieben wird.

Sun Ra war nicht der Erste, der den space, das Weltall, als Metapher für eine afroamerikanische Utopie benutzt hat, er war jedoch einer derjenigen, die dieses Konzept am konsequentesten umgesetzt haben, weswegen er neben George Clinton und Lee „Scratch“ Perry als Erfinder des Afrofuturismus gilt. Aber die eskapistische Idee, angesichts der Diskriminierung der Schwarzen in USA in Richtung Weltall zu blicken und dort nach einem freieren Leben zu suchen, ist bereits seit dem frühen 20. Jahrhundert durch die afroamerikanische Kulturgeschichte gegeistert.

„Ich bin nicht echt“

Sun Ras Biograph John Szwed erwähnt den baptistischen Priester Reverend A. W. Nix aus Birmingham, Alabama, von dem die Aufnahme „The White Flyer to Heaven“ aus den Zwanzigern datiert, die Ra vermutlich als Kind live erlebt hat: „Höher und höher! Wir werden in den zweiten Himmel übergehen. Den leuchtenden großen Himmel, und sehen die fliegenden Sterne und stürzenden Meteoriten. Und dann lassen wir den Mars und Merkur hinter uns und den Jupiter und die Venus. Und den Saturn und den Uranus, und den Neptun mit seinen vier funkelnden Monden.“

Afroamerikanische Autoren und Musiker wie Duke Ellington, Jean Toomer oder Johnny Griffin haben ebenfalls mit kosmischen Ideen gespielt, bevor Sun Ra sie zu einem Gesamtkunstwerk verwoben hat. „Ich weiß, dass ich nicht von diesem Planeten bin“, hatte etwa der Saxophonist Johnny Griffin erklärt. „Ich muss von irgendwo anders in dieses Universum gekommen sein, weil ich ein totaler Außenseiter bin.“

Ganz ähnlich formuliert es Sun Ra im Film „Space is the Place“ von 1974, der 2019 zum ersten Mal auf Blu-ray erschienen ist. Darin betritt Sun Ra, der sich selbst spielt, begleitet von zwei Wesen mit Masken der ägyptischen Gottheiten Anubis und Horus ein afroamerikanisches Jugendzentrum in Oakland, der Stadt, in der die Black Panther Party gegründet worden war.

Die Wände sind übersät mit Plakaten von Angela Davis, Eldrige Cleaver und anderen afroamerikanischen Ikonen, der Musiker wirkt in seinem bunten Gewand wie ein Fremdkörper im verrauchten Zentrum. Die Jugendlichen lachen ihn aus und fragen, ob er echt sei. „Ich bin nicht echt“, antwortet Sun Ra, „ich bin genau wie ihr. In dieser Gesellschaft existiert ihr nicht. Würdet ihr es, müssten eure Leute nicht für Gleichberechtigung kämpfen. Ihr seid nicht real. Also sind wir beide Mythen. Ich komme zu euch nicht als Realität, sondern ich komme zu euch als der Mythos, weil es das ist, was die Schwarzen sind: Mythen.“

Sexismus, Gewalt und Drogen

In dieser Schlüsselszene des Films wird deutlich, dass es Sun Ra anders als der schwarzen Bürgerrechtsbewegung nicht um eine Integration in die US-amerikanische Gesellschaft ging, da ihm eine tatsächlich verwirklichte Integration utopischer erschien, als im Weltall eine Schwarze Kolonie zu gründen.

„Space Is the Place“ von Regisseur John Coney ist ein wilder Genremix aus Dokumentarfilm, Science-Fiction, biblischer Erlösungsstory und Blaxploitation. Wie auch in anderen Filmen dieses afroamerikanischen Genres werden in „Space Is the Place“ Menschen repräsentiert, die vorher keine Repräsentation im Kino erfahren haben: Schwarze Heldenfiguren. Blaxploitation war, entstanden in den späten sechziger Jahren, eine afroamerikanische Selbstermächtigung im Film, der erzwungenen Passivität der einstigen Sklaverei wurden überzogen gezeichnete schwarze Protagonisten entgegengestellt, Drogenbosse und Gangster, Agenten und Draufgänger, konsequent gefilmt aus einer schwarzen Perspektive. Die Low-Budget-Filme haben mit ihrer Ästhetik, dem Style ihrer meist männlichen, groben und potenten Protagonisten auch den Look von Bewegungen wie der Black Panther Party mit geprägt.

© Rapid Eye Movies

Doch auch hier widersetzt sich Sun Ra allen Erwartungen: Zwar steht der Film in der Tradition des Blaxploitation-Genres, allerdings haben die Drehbuchautoren Sun Ra und Joshua Smith zugleich eine kritischen Aus­einandersetzung mit den problematischen Aspekten dieses Genres intendiert. Die von Waffen, Geld und Frauen besessene Figur „The Overseer“, ein klassischer Blaxploitation-Charakter, wird in „Space Is the Place“ zum Antagonisten des positiven Helden Sun Ra. Gerade die Aspekte, die in Blaxploitation-Filmen den Helden definieren, werden hier problematisiert: Sexismus, Gewalt und Drogen.

Schwarze Utopia im Weltall

Sun Ra hat sogar darauf bestanden, dass der Film für das Kino auf eine 60minütige Version gekürzt wird, da ihm das Ergebnis zu sexistisch war, erst nach seinem Tod erschien erstmals die nun vorliegende, in der Tat stellenweise sexistische und misogyne achtzigminütige Schnittfassung des Films.

Vorausgegangen war dem Film das Seminar „The Black Man in the Cosmos“, das Sun Ra 1972 an der University of California in Berkeley abgehalten hatte, sowie die Anfrage von John Coney, einen Dokumentarfilm über Sun Ra und sein Arkestra zu drehen. Dies erklärt den seltsamen Mix aus dokumentarischen Konzertaufnahmen, Space-Mythologie und Spielfilmelementen, denn Sun Ra ließ sich schnell überzeugen, zur Verbreitung seiner Ideen das Genre Film zu nutzen – allerdings in Form eines Science-Fiction- und keines Dokumentarfilms. Jede Einstellung, jede Szene des Films ist mit Bedeutung aufgeladen, ist inszeniert im Sinne von Sun Ras schwarzen Utopia im Weltall.

Nach einem kurzen Vorspiel im Weltall beginnt die Handlung des Films in einem Jazzclub in Chicago 1943, in dem der Pianist Sonny Ray die Begleitmusik zu exotischen Tänzen leichtbekleideter Frauen spielt. Als sein Gegenspieler The Overseer den Laden betritt und den Manager auffordert, dass der Pianist sich ­gefälligst etwas zurückhalten und stattdessen mehr Mädchen auf die Bühne sollen, eskaliert die Situation: Sonny Rays Pianospiel löst sich immer mehr in Lärm auf, der Gläser zerspringen lässt, Besucher verlassen schreiend den Raum und das Klavier explodiert. Schon hier zeigt sich ein zentraler Konflikt, der im Film ausgetragen wird: Was ist die Rolle von Kunst, von Musik, für die schwarze Community. The Overseer sieht im Jazz reines Entertainment, den Soundtrack zu seiner persönlichen Unterhaltung, während Sonny Ray Musik als Beitrag zur Befreiung von den Zwängen der Gesellschaft, von Alltagsrassismus und Armut begreift.

Gegenentwurf zur kapitalistischen Gesellschaft

The Overseer fordert Sonny Ray zu einem Kartenspiel heraus, dessen Einsatz in der Zukunft der afroame­rikanischen Community besteht. In einem surrealen menschenleeren Wüstensetting sitzen sich die beiden gegenüber, und während Sun Ra um die kosmische Emanzipation der Schwarzen spielt, für einen Gegenentwurf zur kapitalistischen US-amerikanischen Gesellschaft, sieht The Overseer die Zukunft in einer schwarzen Emanzipation, die die weißen Macht- und Statussymbole übernimmt; er definiert sich vor allem über Frauen, Waffen, Geld und aus­gefallene Autos. Nach diesem ersten Kartenduell springt die Handlung in die damalige Gegenwart, in der Sun Ra unter anderem die beschriebene Begegnung im Community Center hat und danach eine Agentur für Zeitarbeit eröffnet, um unter den Bewerbern diejenigen zu wählen, die mit ihm ins All reisen können.

© Rapid Eye Movies

Die einzigen Weißen, die auftreten, sind zwei sich als Nasa-Mitarbeiter ausgebende FBI-Agenten, die mit Waffengewalt herausfinden sollen, mit welchem Treibstoff Sun Ras Raumschiff angetrieben wird. Nebenbei prügeln sie zwei Prostituierte krankenhausreif und versuchen Sun Ra unter Folter zur Preisgabe der ­gewünschten Informationen zu bewegen: Gefesselt bekommt er über Kopfhörer Dixieland zu hören. Das weiße Amerika hat zumindest in diesem Film seit dem Ende der Sklaverei kaum Fortschritte gemacht, seine Vertreter strafen mit körperlicher Gewalt und wenden Folter an, kein Wunder, dass Sun Ra nur Afroamerikaner auf sein Raumschiff beamt, als er im Finale des Films, einem Konzert des Arkestra, endlich Richtung All aufbricht. In letzter Sekunde, kurz nach dem Start des Raumschiffs explodiert die Erde.

Erst im All kann Sun Ra einen Ort finden, an dem er kein Alien mehr ist, denn im Weltall, so zeigt eine Szene im Film, sind die Grenzen zwischen Hautfarben, Geschlechtern und anderen trennenden Zuordnungen gefallen, alle Außenseiter, ob Mensch oder Alien, haben ihren Platz gefunden. „Die Musik ist hier anders. Die Vibrationen sind anders. Nicht wie Planet Erde. Planet Erde klingt nach Gewehren, Wut, Frust“, sagt Ra im Weltall. „Hier werden wir eine Kolonie für die Schwarzen errichten.“ Er ist angekommen in der Gegenwart der Zukunft und vielleicht gibt es ja doch noch eine Hoffnung für die Menschheit. Die letzten Worte im Film jedenfalls lauten: „In a far out place, in space, we’ll wait for you.“

Dieser Text erschien zuerst in: Jungle World 33/2019

Unhinged – Außer Kontrolle

(USA 2020, Regie: Derrick Borte)

Bleifuß mit Bauch, Blutrausch in Blech – ein B-Film
von Drehli Robnik

Let’s face it: Russell Crowe wird immer dicker. Das Durchschnittsauto auch. Zum Glück? Wohl kaum. Bald wird, in Erwartung sich verschärfender Verteilungskämpfe im und um urbanen Raum, jeder Pkw gepanzert …

Let’s face it: Russell Crowe wird immer dicker. Das Durchschnittsauto auch. Zum Glück? Wohl kaum. Bald wird, in Erwartung sich verschärfender Verteilungskämpfe im und um urbanen Raum, jeder Pkw gepanzert sein wie ein SUV. Dieses Kürzel liest sich „as you wish“. Und weil in „Unhinged – Außer Kontrolle“ die Welt sich nicht den Wünschen des massiven Mannes am Steuer fügt, rastet er aus und rast. Nämlich einer Alleinerzieherin (Caren Pistorius) und ihrem Fortnite-geschulten präpubertären Sohn in deren Schrottauto nach – als Vergeltung dafür, dass sie sich für ihr unhöfliches Hupen an der ergrünenden Ampel nicht entschuldigt hat. Er will ihr, so deklariert er seine manische Mission, eine Lektion erteilen. Seine Ex und deren neuen Gemahl hat er gleich zu Filmbeginn gemeuchelt.

Er fährt übrigens streng genommen kein(en) SUV, sondern einen Pickup Truck, aber für die Verfolgten macht das, im Rückspiegel gesehen, nicht so viel Unterschied, was die bedrohlich fette Karrosserie hinter ihnen betrifft. Könnte auch ein Spielberg’scher Tanklaster sein (wären nicht Stadtstraßen und -autobahnen in New Orleans hier der Schauplatz). Der Pickup war ja das Erfolgsmodell bei den rasanten automobilen Gebietsgewinnen des gottesstaatlichen Terrorregimes IS vor einigen Jahren. Der oder Das SUV hingegen ist mit anderen, im Westen legitimeren Typologien raumgreifender Maskulinität assoziiert. (Und natürlich mit Liebe zur Natur, keine Frage.) Jedenfalls werden in „Unhinged“ nach dem regennächtlichen Initialmord noch 75 kurzweilige Minuten des Stalking in Blech (nebst Handyklauterror und boshaften Gesprächsgames) absolviert – seitens des bullig alternden Repräsentanten einer rabiaten Normalpopulation, die sich entmachtet, des ihr zustehenden Respekts beraubt und zu wenig geliebt (und gefürchtet) fühlt. Romper Stomper aber auch!

So – nämlich „Romper Stomper“ – hieß ein noch in Australien gedrehtes Skinhead-Drama aus den frühen 1990ern, mit dem Russell Crowes Aufstieg zum Weltstar begann. Überhaupt erinnert diese vorwiegend sitzend bzw. mit außen getragenem Zelthemd absolvierte Rolle schräg an seine Anfänge in Schurkenrollen, die mit einer Aura rücksichtslos-sadistischer Virilität aufgeladen waren, so auch als ins Leben versetztes, obsessiv auf ein Opfer fixiertes maliziöses „Computerprogramm“ in dem Virtual Reality-Thriller „Virtuosity“ vor einem Vierteljahrhundert.

Die schön schlanke Thrillerkonstellation von „Unhinged“ hingegen macht auf #MeToo, das aber zu verhalten (und macht am Ende sogar einen Rückzieher in Richtung fürderhin Selbstbeschränkung beim Hupen – was ethisch vertretbar ist, wenn es um Lärmreduktion und Limitierung der bewaffneten Alltagsraumaneignung durch motorisierten städtischen Individualverkehr geht; aber als eine Final-„Moral“, der zufolge eine per Stalking terrorisierte Frau in der Öffentlichkeit künftig lieber schön ruhig und unauffällig sein möchte, ist das verheerend). Der Doku-Vorspann mit Verkehrsüberwachungskamera-Schnipseln will uns etwas über road rage als Symptomatik unserer Tage sagen. Aber warum nicht gleich den Konnex von automobiler und präsidentieller Wut (die ja nicht erst dieses Jahr ausgebrochen ist), jeweils als Mittel zur Öffentlichkeitsdurchdringung, stark in den Raum stellen? Ja, eh, o.k.: Dieser Film will niemanden vergraulen und lieber viele spannend unterhalten, passt schon. (Übrigens sind alle Cops und Amsträger*innenfiguren rund um das weiße Täter-Opfer-Geschehen in diesem Film people of color.)

Überhaupt: Die Stärke von „Unhinged“-Regisseur Derrick Borte sind nicht Worte, ist nicht der Überbau. (Auch wenn sein Vorname von Wien über München bis Amsterdam mit dem Schon-mal-Holen eines Wagens und der Verteidigung alter Werte assoziiert ist… ach, diesen Kalauer versteht niemand mehr, zu Recht.) Das bewies schon anno 2016 Bortes patriarchal und misogyn missratenes Coming-of-Age-Drama „London Town“ über The Clash, mit einem gockeligen Joe Strummer als Ersatzvater, der einen Kleinstadtbuben lehrt, auf seinen Dad zu hören und seine promiskuitive Mum zu schelten, bäh – da ist das diesjährige Modell mit Rücksitzbub, Steuer-Mum und Daddys rächender Rückkehr im Rückspiegel sympathischer.

Und: Was in „Unhinged“ hinhaut, ist mehr Crash als Clash. Deftige Blechschäden, trocken und aprupt serviert, sowie Spannungsschinderei-Setpieces an der Tankstelle bzw. im Diner, das erfreuet die Nerven. Warum also es nicht dem Alt-Gladiator gleichtun, breit dasitzen und obsessiv nach vorn schauen? Und zwar im Kino, wo dieses rohe B-Movie seine Chance nützt und Platz findet, in Europa noch lange bevor es in seinem Herkunftsland anlaufen kann, denn in den USA regieren The Big C und The Big D mit und ohne SUV, das ist schlecht für Mensch und Kino. Sicher, es gibt schönere und menschlichere Filme als diesen – aber wie lange noch? Oder auch: Wann wieder, nämlich auf Leinwand? Wer da noch bingt und nicht hingeht, ist unhinged. Naja, das vielleicht nicht, aber: Ein Herz für schlanken Kino-Thrill mit dicken Stars und Autos zu beweisen, wird selten so einfach und nachgerade sinnvoll gewesen sein.

Als wir tanzten

(SW/GE/FR 2019, Regie: Levan Akin)

Coming-out im Kaukasus
von Jürgen Kiontke

Das georgische Nationalensemble ist die beste Tanz-Compagnie der Welt, keine Frage. Deshalb trainiert Merab auch schon von Kindesbeinen an hart in der Nachwuchsakademie, um irgendwann einmal dazuzugehören. Tanzen ist ein …

Das georgische Nationalensemble ist die beste Tanz-Compagnie der Welt, keine Frage. Deshalb trainiert Merab auch schon von Kindesbeinen an hart in der Nachwuchsakademie, um irgendwann einmal dazuzugehören. Tanzen ist ein Knochenjob, das merkt man in Levan Akins Film „Als wir tanzten“ recht schnell. Und nicht immer geht es dabei ums Tanzen: Man geht auch noch zur Schule, steht doof in der Raucherecke rum, vertreibt sich die Zeit. Merab hat schnell gemerkt: Wenn er aus dem trüben Alltag Georgiens rauskommen will, ist das Ensemble seine erste Adresse.

Männlich bis in die Haarspitzen sei der georgische Tanz, das bläut ihm der Trainer ein. Bloß, was bedeutet das? Als Irakli in die Akademie kommt, weckt das Merabs erotisches Erleben. Bisher hat er sich mehr oder weniger lustlos mit Mädchen rumgetrieben. Der neue Tänzer hat da eine ganz andere Qualität. Einfacher wird dadurch gar nichts – und die beiden sollten sich besser nicht erwischen lassen. Was wird aus den beiden werden?

Schwulsein kann in Georgien richtig zum Problem werden: Wer homosexuell ist, kann mit Prügel und Schlimmerem rechnen. Levan Akin hat den ersten Film über Homosexualiät in Georgien gedreht, und sich dann auch noch gleich das Staatsheiligtum Nationalensemble als Kulisse für sein Drama ausgesucht. „Als wir tanzten“ ist ein wunderschön fotografiertes Jugend- und Gesellschaftsdrama, an dem Georgien kaum vorbeikommt: Und die fiktive Geschichte wurde auch schon auf seltsame Weise Realität: Schon während der Produktionszeit kam es zu massiven Drohungen von rechtsextremer Seite, bei den Aufführungen im letzten Jahr gab es massive Schlägereien. Die Vorstellungen konnten nur unter Polizeischutz stattfinden. Ein Film, der zeigt, wie politisch ein Stück Kultur sein kann.

Diese Kritik erschien zuerst auf: links-bewegt.de

Alien: Covenant

(USA/GB 2017, Regie: Ridley Scott)

Bund mit dem Biest
von Drehli Robnik

Es soll ja Raumschiffe geben, die heißen „Unternehmertum“ (Enterprise). Das neue Schiff von Ridley Scott ist nun Covenant benannt und (anders als beim Frachter Nostromo im „Alien“-Franchise-Auftakt aus dem Jahr …

Es soll ja Raumschiffe geben, die heißen „Unternehmertum“ (Enterprise). Das neue Schiff von Ridley Scott ist nun Covenant benannt und (anders als beim Frachter Nostromo im „Alien“-Franchise-Auftakt aus dem Jahr 1979) der ganze Film nach ihm. Ursprünglich hätte er „Alien: Paradise Lost“ heißen sollen. In der Heilslehre bleiben wir freilich trotzdem im „Land of the Covenant“, im gelobten Land. Covenant heißt „Bund”, im Sinn von „Alter Bund“ für „Altes Testament“.

„Alien: Bund“ – das klingt wie ein Werbefilm der Bundeswehr. Da konveniert doch eher Covenant als Titel. Aber anstelle jüdisch-christlicher Verheißung bleibt Regisseur Scott, der in seinem Moses-Film „Exodus“ 2014 biblische Visionen in den Sand gesetzt, nämlich skeptizistisch auf Wüstenwetter- und Hautpickelkapriolen heruntergebrochen hat, der Alien-Gott-Mystik von „Prometheus“ (2012) treu. Sprich: Es gibt nun noch mehr quests und capes, Schöpfer und Space-Jockey-Priester – als wäre dies „Alien vs Predator 3“. Könnten wir nächstes Mal nicht noch die Eierschädel auf den Osterinseln mit ins Spiel bringen?

Kein Bund ohne Michael Fassbender: Der von ihm gespielte Prometheus-Robot, der sich nach der Lichtsucher-Dandy-Figur des Peter O’Toole in „Lawrence Of Arabia“ stylt und modelt, ist wieder mit dabei. (Er heißt diesmal nicht David, sondern Walter, nachdem er schon letztes Mal als waltende Gewalt agiert hatte.) Dieser prometheische Humanoid ist Teil der Art, wie sich die Selbstvergöttlichung eines zur großen Geste neigenden (und in den frühen Achtzigern auch wirklich großen) Regisseurs in Selbstschöpferfiguren selbst abbildet: sei es als der Gladiator als selbstbewusster Entertainer, der das Zentrum politischer Macht von Senat und Thron weg in die Arena verlegt, sei es zuletzt als der Marsianer, der aus archivierter Scheiße als Dünger eine Welt baut, die bewohnbar ist, so wie Scott mit „Alien“ und „Blade Runner“ aus Rost, Fleisch und alten B-Movie-Motiven Biotope designte, die auf Jahrzehnte bewohnt und kultisch beackert werden können. (Beide, „Alien“ und „Blade Runner“, werden 2017 rebooted, so wie übrigens auch der „Predator“-Franchise.)

© 20th Century Fox

„Wer hat den Weizen gepflanzt?“, fragen im „Covenant“-Trailer die Siedler, als sie auf einem fernen Planeten Weizen vorfinden. Na, der Marsianer Matt Damon mit seinem Scheißearchiv! Dazu läuft eine Version des 1947 von Nat King Cole berühmt gemachten Songs „Nature Boy“, der (kein Scherz) auf deutsche Lebensreform-Wandervögel um 1900 zurückgeht. Das ist eine der vielen Verschiebungen der „Alien“-Biopolitik: weg von dem Konnex Cyborg-Proll-Folk und Black History, von schwarzen Arbeits- und Sträflings-„Sklaven“ (Höhepunkt: die Malcolm-X-Anklänge in David Finchers „Alien 3“, 1992) hin zur Öko-Mystik. (Wobei angemerkt sei: Donna Haraways früher Manifest-förmiger Entwurf zur Cyborg-Existenz war vor allem eine Studie zu post-patriarchalen, postfordistischen Arbeitsformen. Und in Sachen Cyborg-Prolls hätte der nun zugunsten von „Covenant“ auf Eis gelegte „Alien“-Film von Neill Blomkamp – nach der Concept Art zu schließen wieder mit Sigourney Weaver und in Anknüpfung an die Siedler/Space-Marines-Welt von James Camerons „Aliens“ – wohl etwas mehr Akzente gesetzt.)

Je mehr „Alien: Covenant“ ins Schöpfungs-Spirituelle abhebt, desto mehr gilt es, darauf hinzuweisen, dass covenant auch schlicht „Vertrag“ bedeutet. Der „Alien: Vertrag“ bindet alte und neue Zielgruppen in Konsumtreue und Verehrung an ein Franchise. Und das ist hier hochrelevant: Der Schatz des 40 Jahre alten „Alien“-Erbes wird von strengen Fanpriesterkulturen gehütet, denen „Prometheus“ viel Wirrnis und Motivverrat zugemutet hatte. Ein „Covenant“-Trailer beginnt mit der Anrede: „You’ve all sacrificed so much to be here.“ Was übersetzt in Fan-Sprache so viel heißt wie: „Sorry.“ Ein weiterer Trailer fordert zum Auftakt: „Follow the light!“ Das ist eine Neu-Einschwörung auf den Bund mit dem Biest.

Dieser Bund bringt eine Neu-Bündelung von mittlerweile weit in der Popkultur verstreuten „Alien“-Motiven mit sich: Guter, alter Facehugger aus dem Ei, du bist auch dabei! Dazu gibt es auch eine Anspielung auf die unerwartete Geburt des Aliens bei Tisch: Was im vierminütigen „Covenant“-Prolog-Film biblisch als Last Supper tituliert ist, meint das Dinner einer Crew aus zerknautschten Tech-Proll-Typen. An den Habitus dieses 1979er Modells von Mikrosozietät knüpft der neue Film merklich wieder an, lässt sogar Leute mitwirken, die heute eher als Komiker renommiert sind (James Franco, Danny McBride mit Cowboyhut).

© 20th Century Fox

Was „Alien: Covenant“ wohl nicht erreichen wird, ist die genuine Obszönität, die Alien insofern aufwies, als das ein Film über Arbeitsalltag in technisierten Büroumgebungen war – samt Kaffeefleck auf der Raumschiffkonsole und dem Witz (nur in der Synchro) von Yaphet Kotto als Maschinist Parker über das Bordmenü „Spaghetti Nostromo“. Allerdings: Mehr als nur Nudeln quellen gleich darauf hervor – und zwar jeweils unmittelbar nachdem 1979 Parker beim Essen eine weiße Kollegin anmachte und 2012 Charlize Theron mit Idris Elba ins Bett geht. Und auch der Teaser legt die falsche Fährte mit dem verdächtigen Husten beim Last Supper auf ein interracial couple. Die Vorstellung, dass das Zusammenkommen, das „convenire“ von schwarzem Mann und weißer Frau, das Signal zur deskruktiven Eruption von Physis setzt, scheint auch in „Covenant“ noch zu tragen. Oder es ist bloße Konvention.

Der Frachter Nostromo war, ganz unmythologisch, benannt nach Joseph Conrads gleichnamigem Roman über Ausbeutung in einer Minenkolonie. Im Vertrag von „Covenant“ klingt auch der Aufruf „Vertragt euch!“ an, denn: „Alien“, dem sich der neue Film demütig nähert wie einem Altar, zeigte im Modus des Wahrheitsschocks, wie sozialer Konflikt, wie der Antagonismus von race, class & gender, nicht loszuwerden ist: Er ist auch einem flach-hierarchischen Teamkollektiv „innerlicher“ als alle liberale Integrationsfähigkeit (oder Integrationsillusion). Und: Meeting your maker hieß 1979 nicht Begegnung mit Vater/Fucker/Gott, auch nicht mit Mutter; die war MU/TH/UR („Alien“), Bitch („Aliens“), „womb as tomb“ (Barbara Creed) – und der Bund implizierte jeweils die Möglichkeit der Ent-Bindung tougher Frauen wie Ripley und Vasquez und auch noch der sich prometheisch selbst entbindenden Noomi-Rapace-Figur in „Prometheus“ von organischer mothership beziehungsweise -hood, sowie ein Aufrücken in Führungsrollen und männliche Actionkino-Domänen.

Dem begegnen, was dich gemacht hat (und kaputt macht), hieß damals Begegnung mit dem Businessplan der Corporation, mit einer Politik, die in der Infrastruktur deiner Vitalfunktionen sitzt. Ohne alle Mystik war „Alien“ tief gedacht. Und super.

Übrigens: Auch Faschismus leitet sich vom Bund ab, vom fascio: Wir werden’s ja erleben. Den Neuen Bund nicht mehr erleben wird John Hurt, der damals beim Spaghetti-Dinner das Alien gebar. Der englische Schauspieler starb Ende Januar. Vermutlich hustend.

Dieser Text erschien zuerst in: Spex No. 374

Yalda

(FR/DE/CH/LU/LB/IR 2019, Regie: Massoud Bakhshi)

Freude des Vergebens
von Jürgen Kiontke

Für Maryam läuft es – vergleichsweise – gut: Die junge Iranerin wartet seit zwei Jahren im Gefängnis auf die Vollstreckung des Todesurteils, sie soll ihren Ehemann Zia auf Zeit erschlagen …

Für Maryam läuft es – vergleichsweise – gut: Die junge Iranerin wartet seit zwei Jahren im Gefängnis auf die Vollstreckung des Todesurteils, sie soll ihren Ehemann Zia auf Zeit erschlagen haben, „zufällig“, wie sie sagt. Jetzt, es ist der Abend des Yalda-Festes, der persischen Wintersonnenwende, sitzt sie in der populären Fernsehshow mit dem schönen Titel „Freude des Vergebens“. Millionen Zuschauer wollen miterleben, wie Mona, die Tochter des Getöteten, der Delinquentin vergibt. In dem Fall sind „nur“ drei bis sechs Jahre Haftstrafe zu erwarten.

Dass Mona kooperativ sein wird, daran haben TV-Produzentinnen, Moderatoren und Technikerinnen der beliebten Sendung keinen Zweifel, sonst wäre sie gar nicht gekommen. Allerdings nehmen die Ereignisse dann doch einen unerwarteten Verlauf: Nicht zuletzt ihre Jugend macht der Verurteilten einen Strich durch die Rechnung, weil sie ihre vorlaute Klappe nicht halten kann. So zumindest kommt es bei der geschädigten Mona an. Die hatte sich um Maryam wie eine große Schwester gekümmert. Beide Familien waren auf unterschiedlichste Weise verbandelt. Allerdings hadert die Täterin auch immer noch mit dem Gebaren und vor allem den sexuellen Wünschen des Verstorbenen. Maryam war umgehend schwanger geworden, und Mona sah zu, dass das Kind schnellstens von der Bildfläche verschwand.

Der Moderator ist dann auch leicht überfordert und rät Maryam: „Du kannst gern dein Leben ruinieren, aber nicht die Show.“ Denn die ist auch ein großes Gewinnspiel, wo per SMS („Senden Sie 1 für ja, 2 für nein“) um einen Riesenhaufen Geld gezockt wird.

„Yalda“ besitzt eine extrem dicht gestrickte Handlung, permanent wenden sich die Ereignisse überraschend, selten zum Guten. Und wenn die Lage erst mal richtig aussichtslos erscheint, geht es immer noch etwas trostloser, als hätte Franz Kafka das Drehbuch geschrieben. Beispiel: Selbst wenn Mona Maryam vergibt, kann das Kind immer noch Jahre später entscheiden, ob seine Mutter sterben soll.

Der Film spielt auf reale Formate des iranischen Fernsehens an und ist als krasse Mediensatire angelegt. Heraus kommt ein Film, der existenzielle Fragen nach dem Zusammenleben und -sterben stellt. Und zwar absolut sehenswert.

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 7/2020

The Girl With All The Gifts

(GB/USA 2016, Regie: Colm McCarthy)

Untote regieren
von Drehli Robnik

Werwölfe mögen heute angesagter, Kannibalen als Kollektiv krasser, Vampire seit jeher sexyer seien als sie, aber: Zombies regieren. Denn sie sind ein Genre. Also, sie sind auch eine Gattung, zahlenmäßig …

Werwölfe mögen heute angesagter, Kannibalen als Kollektiv krasser, Vampire seit jeher sexyer seien als sie, aber: Zombies regieren. Denn sie sind ein Genre. Also, sie sind auch eine Gattung, zahlenmäßig meist größer als die der Un-Untoten. Sie sind aber nicht nur viele und praktisch überall, sondern, ausgehend vom Kino quer durch Medien, Plattformen und Formate, eben zu einem Genre geworden. Waren andere Monster der Filmgeschichte kurzlebiger oder an große Literaturvorlagen gebunden (und damit an große Einzelfiguren wie etwa diesen einen Fürsten der Vampire), so sind Zombies für sich und in ihrer Masse auch von Dauer.

Wie jedes Genre bietet auch Zombiekino heute viel Routine und etwas Variation – und es hat die Trauer um eine Hipness hinter sich gelassen, die spätestens 2012 oder doch schon seit „The Walking Dead“ oder vielleicht eh immer schon dahin war. Vielmehr scheint der Zombiefilm heute an einem Punkt angelangt, wo es angezeigt sein kann, sich zu verneigen im Rückblick auf Gründungsmomente seiner mittlerweiligen Normalität, konkret auf die britischen Filme „28 Days Later“ und „28 Weeks Later“ von 2002 und 2007.

Das tut auch der britisch-amerikanische Film „The Girl With All The Gifts“: Auch hier sind Zombies – im Kontext der Genredifferenzierung – nicht Untote im engeren Sinn, sondern Infizierte der mittelschnellen Art. Sie werden hier hungries genannt und zeigen ihre Kiefermuskelkraft im Beißreflex. Ihnen gegenüber spulen das Militär und die Wissenschaft, nicht weniger verbissen und oft in Rivalität miteinander, ihre jeweiligen Programme ab: schießen auf die einen, sezieren die anderen, schotten beide ab. Hinzu kommt ein Ethos des Lehrens und der Fürsorge als Alternativhabitus, der auch im echten Europa ab und zu noch etwas mitzureden hat. Alle routinierten Fähigkeiten, alle krisendienlichen technischen und sozialen Skills, aber auch prekäre, riskant zu praktizierende gifts kommen hier zum Tragen.

Selbstdisziplin, die Verhärtung ist, versus Selbsteinsicht, die Verzicht und bedachtes Sich-Öffnen heißt – nicht nur seitens einer beherzten Lehrerin, sondern auch für ein kluges Halb-hungry-Mädchen namens Melanie: Der proto-politische Konflikt wird hier prägnant, weil die Inszenierung (vom Schotten Colm McCarthy, bislang Fernsehregisseur) ihm ein Bildmilieu schafft. Urbane Zombiemassen nicht taumelnd und ächzend, sondern wie einen Skulpturengarten nah beieinander zu gestalten, stumm, starr, in einer Art Winterschlafzustand und fast nur durch Geruch oder Berührung reizbar – diese Idee wurde vielleicht schon einmal anderswo umgesetzt. In „The Girl With All The Gifts“ wird sie zu einem der plastischen Bilder einer Sozietät, die für alle beteiligten Ethnien/Spezies ein Einander-ausgesetzt-Sein bedeutet. (Auch für hungries kann es ein abzuwägendes Wagnis sein, mit „uns“ zu leben.) Ähnlich eindrücklich das Mund-Aufreißen-und-Zubeißen: Wie ein Affekt ergreift es schlagartig von einer Gruppe malträtierter Kinder Besitz.

Blässe und Grünstich, Sinn für Rhythmus und Raum, jeweils zwischen Routine und Kollaps beziehungsweise zwischen Beklemmung und Sturz ins Panorama, mysteriöse Bauten (Kinderkerker, Krankenhausruine) und Objekte (Riemenfessel-Rollstuhl, Fungus-Turm), ein guter multiethnischer Cast (Newcomerin Sennia Nanua als Melanie, ihr gegenüber Gemma Arterton, gegen den Typ gestylt im Arbeits-Outfit, Glenn Close knorrig, Paddy Considine als Sergeant), ein Score aus intimem Ethno-Techno, Sounddesign aus ferner Atmungs-Atmo, ein Hauch von Peter-Pan-Bandenkrieg (der rasch vorbeiweht) und vor allem bizarre Schulinstitutionsszenen am Beginn und Ende, die Bildungsbetrieb als Macht- und Problemmilieu weiterimaginieren – das ergibt einen Schocker, der viel Mitgefühl verlangt und einige Gedanken zulässt.

Diese Kritik erschien zuerst am 13.7.2017 auf: Spex.de

Jean Améry – Die Tortur

(D 2018, Regie: Dieter Reifarth)

Nicht mehr heimisch in der Welt
von Jonas Engelmann

„Wer das Kunstspiel mit Peitsche und Folter treibt, hat zur Wirklichkeit der Tortur zu schweigen“ schrieb Jean Améry 1971 in der Zeitschrift Merkur mit Blick auf den Film „L’ Eden …

„Wer das Kunstspiel mit Peitsche und Folter treibt, hat zur Wirklichkeit der Tortur zu schweigen“ schrieb Jean Améry 1971 in der Zeitschrift Merkur mit Blick auf den Film „L’ Eden et ­après“ (1970) von Alain Robbe-Grillet. Améry stieß vor allem die Sexualisierung der gezeigten Folterszenen durch den französischen Avantgardefilmer auf, wie auch grundsätzlich die Diskrepanz zwischen der außerkünstlerischen Realität der Folter und ihrer artifiziellen Darstellung. Positiv hat Améry dagegen den Umgang des deutschen Regisseurs und Schriftstellers Horst Bienek mit diesem Thema im Film „Die Zelle“ bewertet, mit dem er sich im Jahr darauf im Merkur auseinandersetzte. „Vom Augenblick an“, schreibt Améry dort, „in dem die Tore des Gefängnisses dröhnend hinter dem Arrestanten zufallen, denkt, handelt, verfügt eine rätselhafte Macht.“ Weil Bienek die Räume, die Mauern, Gitter und Wände in den Mittelpunkt rücke, gelinge es ihm, die „Befindlichkeit der Gefangenschaft“ mit solcher Dichte und Eindringlichkeit zu reproduzieren, dass der Film schließlich generell „die metaphysische Frage nach der Freiheit des Menschen“ stelle.

Ob überhaupt angemessene Bilder für die Folter und die Tortur gefunden werden können, seien es literarische Bilder oder Filmbilder, hat Améry zeit seines Lebens beschäftigt. Während in dem Fragment geblie­benen Text „Die Festung Derloven“ von 1945 sein Alter Ego Eugen Althager noch um Worte für das Erlebte ringt, und beispielsweise das Geräusch der während der Folter aus den Gelenkkugeln springenden Arme mit einem bei „unzureichendem Funktionieren der Kupplung ­eines geschalteten Automobils“ vergleicht, erklärt Améry 20 Jahre spä­ter im Essay „Die Tortur“: „Es wäre ohne alle Vernunft, hier die mir zu­gefügten Schmerzen beschreiben zu wollen. War es ›wie ein glühendes ­Eisen in meinen Schultern‹, und war dieses ›wie ein mir in den Hinterkopf gestoßener stumpfer Holzpfahl‹? – ein Vergleichsbild würde nur für das andere stehen, und am Ende wä­ren wir reihum genasführt im hoffnungsvollen Karussell der Gleichnis­rede.“

Am 23. Juli 1943 war der jüdische Kommunist Hans Mayer, wie Améry damals noch hieß, in Brüssel von der Gestapo verhaftet worden. „Wir stellten ziemlich primitives Agita­tionsmaterial her, von dem wir uns einbildeten, es könne die deutschen Soldaten vom grausamen Wahnwitz Hitlers und seines Krieges überzeugen“, erinnerte er sich 20 Jahre später in „Jenseits von Schuld und Sühne“. „Heute weiß ich oder glaube zumindest, ich wisse, dass wir unser dürf­tiges Wort an taube Ohren richteten.“ Der 1912 in Wien geborene Améry war nach dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland nach Belgien geflohen und hatte sich nach dem dortigen Einmarsch der Deutschen und einer kurzzeitigen Inhaftierung im französischen Internierungslager Gurs der kommunistischen Widerstandsgruppe „Österreichische ­Freiheitsfront“ angeschlossen. Von Brüssel aus wurde er nach seiner Verhaftung in die Festung Breendonk überführt, wo er bis zum 2. November des Jahres inhaftiert blieb. „Dort geschah es mir: Die Tortur“, heißt es in „Jenseits von Schuld und Sühne“. Der Text „Die Tortur“ ist ein Bestandteil der aus insgesamt sechs Essays kompilierten autobiographischen Annäherung Amérys an den „Zwang und die Unmöglichkeit, Jude zu sein“. Die Folter, der er in Breendonk ausgesetzt war, ließ ihn zeit seines Lebens nicht mehr los, in den „Bewältigungsversuchen eines Überwältigten“, wie der Untertitel des Buches lautet, hält er fest: „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in dieser Welt.“

© Absolut Medien

„Die Tortur“ ist Amérys intensivste Annäherung an diese biographische Erfahrung und schließt thematisch unmittelbar an den Eröffnungstext von „Jenseits von Schuld und Sühne“ an. In diesem, „An den Grenzen des Geistes“ betitelten Essay, hat er seine Zeit als Häftling in Auschwitz reflektiert, seine Situation als Intellektueller im KZ. So beschreibt er darin den gescheiterten Versuch, sich in Auschwitz über ein Hölderlin-Gedicht zu vergewissern, dass noch eine Verbindung zu seinem bisherigen Leben bestehe: „Das Gedicht transzendierte die Wirklichkeit nicht mehr. Da stand es und war nur noch sachliche Aussage: so und so, und der Kapo brüllte ›links‹, und die Suppe war dünn, und im Winde klirren die Fahnen.“ Die sechs Essays des Bandes waren ursprünglich für das Radio konzipiert worden, in Auftrag gegeben von Helmut Heißenbüttel, der damals als Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk arbeitete. „Die Tortur“ wurde am 3. Mai 1965 ausgestrahlt, eingelesen von Améry selbst. Heißenbüttel hatte ihn darum gebeten: „Das, was die Qualität Ihrer Arbeit ausmacht, die unmittelbare Verschränkung von persönlicher Erfahrung und objektiver Analyse, kann, so denke ich, nur der einem Zuhörer nahebringen, der diese Dinge erlebt und geschrieben hat.“

Die Stimme Amérys, in der sich persönliche Erfahrung und objektive Analyse treffen, steht auch im Mittelpunkt des Films „Jean Améry – Die Tortur“ von Dieter Reifarth. Der Regisseur hat die Radioaufnahme von 1965 für den einstündigen Film genutzt, um zu der Stimme Amérys dokumentarischen Filmbilder zu zeigen. Ähnlich wie von Améry 1972 im Zusammenhang mit dem Spielfilm von Horst Bienek gefordert, konzentriert sich Reifarths Film ebenfalls auf die Räume, Mauern und Gitter, auf die Topographie des Ortes, an dem ­Améry als Gefangener gefoltert wurde. Diese Form der Reflexion über die filmische Annäherung an den Nationalsozialismus, das Nachdenken über die Unmöglichkeit der Bebilderung des Unvorstellbaren, ist nicht neu: Jeder Film von Claude Lanzmann zeugt davon. Doch Lanzmann zeigt sich stets als Teil des Dokumentierten, als Teil der Inszenierung in der Gegenwart, während sich Reifarth völlig zurücknimmt, den Text von Améry und die ruhigen Filmbilder für sich sprechen lässt. Mikko Linnemanns Filme „Kein Friede den Frevlern“ und „Die Erde von Treblinka“ über die Konzentrationslager Sachsenhausen und Treblinka funktionieren auf ähnliche Weise, auch dort sind es lange, ruhige Einstellungen der Orte, von denen die eingesprochenen Texte begleitet werden. Neben dem für „Jean Améry – Die Tortur“ verwendeten Text sind auf der DVD auch die Tondokumente aller weiteren von Améry eingesprochenen Essays zu finden, wie auch ein umfangreiches Interview mit Amérys Biographin Irene Heidelberger-Leonard und der von Jochen Nix eingelesene Text „Die Festung Derloven“.

© Absolut Medien

Die Festung Breendonk ist heute eine Gedenkstätte, wie Améry in seinem Essay zu Beginn erklärt: „Die Kuratoren des Nationalmuseums haben alles so gelassen, wie es von 1940–1944 war.“ Die Kamera nähert sich dem Ort behutsam an, betrachtet ihn zunächst von außen, um dann Schritt für Schritt jenen Weg nach­zuvollziehen, den einst Améry zurücklegen musste: „Man tritt durchs Haupttor und befindet sich bald in einem Raum, der damals myste­riöserweise ›Geschäftszimmer‹ hieß. Dann die feuchten, kellerigen Korridore.“ Der Essay „Die Tortur“ habe eine Dramaturgie, die „es eilig hat“, erklärte Irene Heidelberger-Leonard, „eine Dramaturgie, die nicht chro­nologisch vorgeht, sondern eine, die im Zeichen des Zeitsprungs steht.“ Umso stimmiger erscheint der Versuch des Regisseurs, den Text in die Gegenwart zu übersetzen, drei Zeit­ebenen – das von Améry beschriebene Jahr 1943, die Entstehungszeit des Textes Mitte der Sechziger und die Gegenwart – miteinander in Verbindung zu bringen. „Ich rebelliere“, hat Améry 1976 im Vorwort zur Neuausgabe von „Jenseits von Schuld und Sühne“ festgehalten, „gegen meine Vergangenheit, gegen die Geschichte, gegen eine Gegenwart, die das Unbegreifliche geschichtlich einfrieren lässt und es damit auf empörende Weise verfälscht.“ Diesem Einfrieren der Geschichte wirkt der Film entgegen, der die analytische Kraft und Wut des Textes unangetastet lässt, jedoch mit visuellen Eindrücken der Gegenwart koppelt. Man sieht Menschen, die sich individuell mit dem Ort auseinandersetzen, alleine, in Gruppen, die sich frei durch die Anlage bewegen, wodurch die von Améry beschriebene Unfreiheit und Hilflosigkeit mit noch größerer Wucht wirkt.

„Der erste Schlag bringt dem Inhaftierten zu Bewußtsein, daß er hilflos ist – und damit enthält er alles Spätere schon in Keime“, erklärt Améry in seinem Text die Wirkung der Folter, während der Film gleichzeitig diese Einsamkeit des Inhaftierten in einer Folge von Einstellungen spiegelt, die keine Menschen der Gegenwart zeigen, lediglich die heutzutage verlassenen Orte, an denen diese Gewalt einst möglich gewesen ist. „Jean Améry – Die Tortur“ fügt dem Text lange Einstellungen aus den Räumen der heutigen Gedenkstätte hinzu, ergänzt um einige wenige historische Filmaufnahmen und Fotos, die davon zeugen, dass in Breendonk tatsächlich alles belassen wurde wie zur Zeit der deutschen Besatzung. „Nichts ist vernarbt, und was vielleicht 1964 schon im Begriffe stand zu heilen, das bricht als infizierte Wunde wieder auf“, schrieb Améry 1976 mit Blick auf „die alten Tölpel aus dem Lager der unausrottbaren Reaktion“ wie auch seine „natürlichen Freunde, die jungen Frauen und Männer der Linken“, bei denen ­“unter dem Banner des Anti-Zionismus der alte miserable Antisemitismus sich wieder hervorwagt.“ Der Regisseur Dieter Reifarth erinnert daran, dass es Améry in der Auseinandersetzung mit der an ihm verübten Folter nicht nur um die individuellen Folgen für ihn selbst ging, nicht ausschließlich um seinen Verlust an „Weltvertrauen“, sondern um das Nachleben des Nationalsozialismus, um die Wiederkehr des Untoten von rechts wie von links, die sich Améry immer wieder offenbarte, und die ihn die gleiche Ohnmacht verspüren ließ wie einst im Folterkeller der Festung Breendonk.

„Ein stolzes Volk, immer noch“, erklärt er in seinem Essay „Ressentiments“. „Der Stolz ist ein wenig in die Breite gegangen, das sei zugegeben. Er beruft sich nicht mehr auf die heroische Waffentat, sondern auf die in der Welt einzig dastehende Produktivität. Aber es ist der Stolz von einst, und es ist auf unserer Seite die Ohnmacht von damals. Wehe den Besiegten.“

Dieser Text erschien zuerst in: Jungle World 47/2018

Congo Calling

(D 2019, Regie: Stephan Hilpert)

Ziemlich ehrlich
von Jürgen Kiontke

„Wenn uns einer blöd kommt, legen wir ihn um und essen ihn auf. Aber wir finden, du bist okay“: Wenn Raúl Interviews führt für seine wissenschaftliche Studie über Rebellengruppen im …

„Wenn uns einer blöd kommt, legen wir ihn um und essen ihn auf. Aber wir finden, du bist okay“: Wenn Raúl Interviews führt für seine wissenschaftliche Studie über Rebellengruppen im Ostkongo, kriegt er ehrliche Worte zu hören, während nebenan wie nebenbei Frank-Walter Steinmeier mit Pomp einen Flughafen eröffnet.

Der Forscher weiß: Bei seinen Untersuchungen bringt er Geld mit und seine Klientel hört sich gerne reden, dementsprechend sprachlich lässig ist die. Andererseits: Gebeten hat Raùl auch keiner der Ansässigen, hier zu arbeiten. Und so wandelt er selbst in seinen Äußerungen in seinem Zynismus gewandeltem Idealismus hart an der Grenze zur Überheblichkeit, wenn nicht zum Rassismus.

Doktor Raúl ist einer der drei Protagonisten in Stephan Hilperts sehenswertem Dokumentarfilm „Congo Calling“. Thema: „Westliche“ Entwicklungshelfer und Forscher und ihre Einstellungen. Dass die sich im Laufe der Arbeit vor Ort erheblich ändern können, zeigen auch die Beispiele von Peter und Anne-Laure. Der eine hat sein gesamtes Berufsleben in der Entwicklungshilfe verbracht und steht voll hinter seinen Projekten. Nun hat sein Trägerverein alle Mittel gestrichen, Peter steht kurz vor der Rente. Und noch kürzer vor der Privatinsolvenz. So sucht er Hilfe bei seinem Sohn in Berlin. Mehr als Hartz 4 ist für ihn nicht drin, eigentlich ist ihm klar: Er kann nur im Kongo leben – wo es für ihn auch keine Zukunft gibt.

Anne-Laure wiederum war von den strukturellen Hindernissen in ihrem Job als Kinderschützerin genervt, organisiert jetzt regimekritische Musikfestivals. In einem Seitenstrang wird der Tod des Musikers und Menschenrechtsaktivisten Djoo Paluku thematisiert, der 2017 von einem Polizisten aus Versehen erschossen wurde, der stockbesoffen mit seiner Pistole herumfuchtelte.

Der Film wirft einen Blick auf die extrem gewalttätigen Verhältnisse, die durch den Abbau von Rohstoffen für die Digitalindustrie regelmäßig aufgekocht werden. Hilperts Leute räumen mit gängigen Vorstellungen auf dem Feld der internationalen Hilfe auf. Hier wird draufgehalten und nicht kommentiert. Im Raum stets die Frage, was der Westen in afrikanischen und anderen Ländern treibt und welchen Sinn die Hilfen machen. Dokumentation at it’s best.

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 06/2020

Die Kinder von Golzow

(DDR/D , Regie: Barbara Junge, Winfried Junge)

Jeder ist sich selbst der Nächste
von Thomas Blum

Die Idee zur längsten Dokumentation der Filmgeschichte stammt aus der DDR: „Die Kinder von Golzow“, wie die 22 Filme umfassende Reihe heißt – insgesamt sind es über 40 Stunden Spieldauer …

Die Idee zur längsten Dokumentation der Filmgeschichte stammt aus der DDR: „Die Kinder von Golzow“, wie die 22 Filme umfassende Reihe heißt – insgesamt sind es über 40 Stunden Spieldauer -, kann heute als eine Art Klassiker der Filmgeschichte gelten, nicht nur jener der DDR. Der letzte der Filme hatte 2008 seine Premiere auf der Berlinale. „Der Zensor ist heute der Markt“, sagte die Filmemacherin Barbara Junge damals dem Evangelischen Pressedienst. „Auch weil das ein starker Gegner ist, lassen wir es jetzt mit ›Golzow‹ lieber sein.“

Eine Handvoll ausgewählte Grundschüler und -schülerinnen der Jahrgänge 1953 bis 1955, so die Ursprungsidee, sollte über viele Jahre hinweg mit der Kamera begleitet werden, bis in ihr späteres Leben als stolze, mündige Erwachsene hinein. Dem nebenan prosperierenden Kapitalismus und der Nachwelt sollte – wenn alles so klappte wie vorgesehen – gezeigt werden, wie der neue, in einem gerechteren, menschenfreundlicheren Gesellschaftssystem aufwachsende Erdenbürger zu einem besseren Menschen wird. Was zwangsläufig passieren musste, denn der Sozialismus, das wusste man, war allen anderen Gesellschaftsformen überlegen. Der Einfall, die Kinder langfristig mit der Kamera zu begleiten, stammte vom DEFA-Dokumentarfilmregisseur Karl Gass (1917-2009).

Die Dreharbeiten für die filmische Langzeitbeobachtung von Schulkindern im brandenburgischen Oderbruch, in der 1000-Seelen-Gemeinde Golzow, begannen 1961, wenige Tage nach Beginn des Mauerbaus. Wie schon erwähnt: „Als die DEFA das Projekt beschließt, gibt es ein großes Ziel: Man will zeigen, wie die DDR bis zum Jahr 2000 den Sozialismus aufbaut.“ (MDR) Entsprechend sehen wir in den frühen Aufnahmen fröhliche Kinderaugen aufgeweckt in die Kameras blicken. Das Heile-Welt-Geflöte der Filmmusik, die ganz in der Ästhetik jener Zeit daherkommt, versöhnt uns mit der Realität, und gleichzeitig ertönt aus dem Off in der Regel ein biederer, onkeliger Erzählton, der uns über die Schönheit der unwiederbringlichen Zeit der Kindheit informiert.

Man merkt den frühen Filmen an, dass hier nichts Unbotmäßiges, Sperriges produziert werden sollte, dass man vielmehr die Vorzüge eines behüteten Aufwachsens im besseren, sozialistischen Staat ausstellen wollte, was selbstverständlich in Form und Machart der frühen Filme eingegangen ist: Glückliche, sonnenbeschienene, vielversprechende Jugend in einem modernen, fortschrittlichen Staatswesen. Der Dokumentarfilm als eine Art Staatsreklameschaufenster, in dem Bewegtbilder vom gelingenden Leben ausgestellt werden.

Regie führte Winfried Junge, seinerzeit Regieassistent bei Karl Gass. Den Beteiligten, seien es nun die 18 Kinder oder die Dokumentarfilmer, dürfte damals einiges nicht bewusst gewesen sein. Weder haben sie geahnt, dass der Staat, in dem sie geboren wurden oder an den sie glaubten, 30 Jahre später nicht mehr existieren wird, noch wussten sie, was sie nach dessen Ende erwarten wird, nämlich eine Gesellschaft, in der vor allem zwei Gesetze gelten: Jeder gegen jeden. Und: Jeder ist sich selbst der Nächste. Der Weg in die Arbeitslosigkeit oder in die Depression ist für den einen oder die andere der Porträtierten, die nicht gerade zu den sogenannten Wendegewinnern zählen, vorgezeichnet.

© Absolut Medien

Nahezu 50 Jahre lang – von 1961 bis 2007 – werden die beiden Filmemacher, das Ehepaar Barbara und Winfried Junge, ihre Golzowerinnen und Golzower am Ende mit der Kamera begleitet haben. Zumindest jene ihrer Schützlinge, die nicht gestorben oder nach der sogenannten Wende von 1989/90 aus dem Projekt ausgestiegen sind. Einige sind der Filmerei überdrüssig geworden, wollten sich nicht mehr länger bei alltäglichen Verrichtungen, Sonntagsausflügen oder beim depressiven Herumsitzen beobachten lassen, wollten nicht mehr länger ihren bisweilen freudlosen Alltag im Realkapitalismus ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt sehen. Das Ehepaar Junge wird viel gesehen haben. Auch solches, das ursprünglich nicht vorgesehen war, zu Dokumentarfilmgeschichte zu werden.

Im Großen und Ganzen bleibt das Filmemacher-Ehepaar den von ihnen Porträtierten gegenüber in all den Jahrzehnten stets freundlich gesonnen, wenn auch Winfried Junges zuweilen drängendes, beharrliches und suggestives Ausfragen der von ihm Gefilmten in der Vergangenheit nicht nur dem einen oder anderen der von ihm Befragten auf die Nerven gegangen sein dürfte.

Der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) zeigt nun von Mitte Juni bis Mitte August zehn Filme aus der „Golzow“-Reihe, die nach der sogenannten deutsch-deutschen Wiedervereinigung entstanden sind: 24 Stunden, 19 Minuten.

Wer zwei der älteren, in der DDR entstandenen Filme der Reihe sehen möchte: Zum 85. Geburtstag des in Berlin geborenen Regisseurs, der am 19. Juli bevorsteht, veranstaltet das Filmmuseum Potsdam ihm zu Ehren einen „Kinotag“. Am 5. Juli sollen die Filme „Anmut sparet nicht noch Mühe“ (1979/80, 107 Min.) sowie „Lebensläufe“ (1980, 257 Min.) vorgeführt werden.

Zehn Dokumentarfilme der Reihe, die seit 1991/92 entstanden, werden ab 14. Juni immer am späten Sonntagabend gesendet, sind aber auch komplett in der ARD-Mediathek abrufbar.

Dieser Text erschien zuerst am 11.6.2020 in: Neues Deutschland

Freie Räume. Eine Geschichte der Jugendzentrumsbewegung

(D 2020, Regie: Tobias Frindt)

Man durfte nicht jung sein
von Jonas Engelmann

Als die Jugendlichen mehr Zeit bekamen, wollten sie diese auch für sich nutzen. „In den ›langen 1960er Jahren‹ verlängerte sich auch für Jugendliche die freie Zeit jenseits von Schule und …

Als die Jugendlichen mehr Zeit bekamen, wollten sie diese auch für sich nutzen. „In den ›langen 1960er Jahren‹ verlängerte sich auch für Jugendliche die freie Zeit jenseits von Schule und Betrieb“, erklärt der Soziologe David Templin in seiner Untersuchung über die Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre, „Freizeit ohne Kontrollen“. In der neuen Massenkonsumgesellschaft „war es nicht nur zu ökonomischen, sondern auch zu tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandlungsprozessen gekommen.“

Lebensweisen und politische Einstellungen hatten sich seit den 1950ern liberalisiert. Immer mehr Jugendliche besuchten Gymnasien, wodurch sich die Ausbildungszeiten verlängerten. Eine Folge dieser gesellschaftlichen Veränderungen war die Forderung von Jugendlichen nach Freiräumen, in denen sie ihre Freizeit jenseits der Kontrolle der Elterngeneration selbst gestalten konnten. Es entstanden an zahlreichen Orten lokale Netzwerke von Jugendlichen, die für „Freizeit ohne Kontrollen“ auf die Straße gingen und „Selbstverwaltung als Demokratie in Praxis“ – so ein Demoslogan aus Mainz – von der Politik einforderten.

Der Mannheimer Regisseur Tobias Frindt hat dieser heute etwas in Vergessenheit geratenen Bewegung mit dem Film „Freie Räume. Die Geschichte der Jugendzentrumsbewegung“, der nun auf DVD erschienen ist, ein Denkmal gesetzt. Historisches Filmmaterial, zum größten Teil von jugendlichen Aktivisten in Mannheim und Mainz selbst produziert, steht neben Aufnahmen aus gegenwärtigen Jugendzentren. Außer dem Wissenschaftler David Templin kommen auch zahlreiche frühere Aktivistinnen und Aktivisten zu Wort, die über ihre Kämpfe gegen konservative Kleinstadtpolitiker sprechen, über die Verbindungen zur Hausbesetzerszene und über die Krise der Jugendzentrumsbewegung ab Mitte der 1970er.

© Drop-Out-Cinema

Vor 1970 waren es vor allem Jugendverbände und die Jugendpflege, die sich um die Jugend kümmerten; neben Sport, Jugendfreizeiten, Pfadfindern und kirchlichen Aktivitäten war allerdings dadurch nicht viel Angebot vorhanden. Aber mit der wachsenden Freizeit von Jugendlichen stiegen die Erwartungen an die Gestaltung dieser Freiräume, es entstanden neue Bedürfnisse, die von den Jugendverbänden nicht mehr gedeckt werden konnten. „Die Jugendzentrumsbewegung war eine Reaktion auf die Verbotshaltung der Gesellschaft“, erklärt im Film Werner Schretzmeier, ein ehemaliger Jugendzentrumsaktivist im Juz „Hammerschlag“ in Schorndorf. „Man durfte einfach nicht jung sein.“

Daher entstanden in den frühen 1970ern, oft in Verknüpfung mit der Lehrlingsbewegung und angefeuert von der Studentenbewegung, zahlreiche Initiativen, vor allem in der Provinz der BRD. „In jedem dritten Kaff gab’s so eine Bewegung“, erinnert sich der Musiker Bernd „Schlauch“ Köhler aus Mannheim. Diese Initiativen waren nicht alle explizit politisch, sondern kämpften zunächst einmal um Freiräume für die Freizeit. Allerdings haben politische Jugendorganisationen wie die Jungsozialisten, die SDAJ oder die der K-Gruppen häufig eine zentrale Rolle gespielt, die die Selbstorganisation als Akt der Befreiung von Fremdbestimmung und die Selbstverwaltung in den Mittelpunkt rückten. „Was wir in der Arbeit, im Beruf machen, bestimmen die Chefs. Was wir im Fernsehen, im Kino sehen, bestimmt die Filmindustrie. Also dürfen wir wählen zwischen den Leuten, die uns bestimmen. Wann versuchen wir endlich, unser Leben selber zu bestimmen?“, hieß es kämpferisch auf einem Flugblatt für ein Jugendzentrum aus jener Zeit. „Ein grundlegend antifaschistisches Verständnis war von vornherein da“, ergänzt Bernd Köhler. „Und das Antikapitalistische im Hinterfragen dieses Systems.“

Aus diesem Gemisch aus Antifaschismus und Antikapitalismus, der Sehnsucht nach politischen und kulturellen Freiräumen oder einfach Orten für ein Bier am Abend ohne den kontrollierenden Blick der Eltern entstanden in den 1970ern Hunderte selbstverwaltete Jugendzentren. Einige mussten hart erkämpft werden, andere wurden von der Lokalpolitik unkompliziert zur Verfügung gestellt. Ab etwa 1975 geriet die Bewegung in eine Krise, kommunale Vertreter nahmen unter dem Vorwand einer „linken Unterwanderung“ der Zentren und des Vandalismus ihre anfängliche Offenheit wieder zurück, viele Orte der Selbstverwaltung wurden wieder geschlossen.

© Drop-Out-Cinema

Der Film von Tobias Frindt spannt einen großen Bogen bis in die Gegenwart, wo politische Akteure wie die AfD oder die NPD gegen linke Jugendzentren agitieren und „freie Räume“ wie das AJZ Leisnig in Sachsen direkt bedrohen. Auch das Juz Mannheim ist in den 1990ern immer wieder von Rechten angegriffen worden. Anderswo sorgen politische Entscheidungsprozesse für Schwierigkeiten, indem etwa Fördergelder für die Jugendzentren ausbleiben. Frindt zeigt, dass angesichts der neuen Bedrohung von rechts die „Freizeit ohne Kontrollen“ in den Jugendzentren wichtiger ist denn je. „Gerade wenn du Punk auf dem Dorf warst“, erinnert sich Mal Élevé von der Band Irie Révoltés an die Bedeutung des Juz Mannheim für seine eigene Politisierung in seiner Jugend. „Ein Ort, wo du einfach hingehen kannst, wo alle ähnlich drauf sind, wo Konzerte sind, und dann haben wir mitgekriegt, da gibt’s einen Infoladen, fette Bücher, Buttons, T-Shirts.“

Obwohl der Film die gegenwärtige Notwendigkeit von Orten wie dem Juz Mannheim oder dem AJZ Leisnig erklären kann, verliert er im Versuch, einen großen Bogen von 1970 bis in die Gegenwart zu spannen und die unterschiedlichen Kämpfe dieser 50 Jahre deutscher Gegenkulturgeschichte abzubilden, ein wenig den roten Faden. Der genaue Blick auf die historischen Kämpfe gegen die Elterngeneration in den Siebzigern, gegen Kontrollen und Zwänge, für freie Räume und Selbstbestimmung, der den größten Teil des Films „Freie Räume“ einnimmt, entschädigt jedoch für diesen einzigen Schwachpunkt. Die DVD, die der Regisseur selbst produziert hat und vertreibt – eine Fähigkeit, die er sich vermutlich in seinen Jahren als Aktivist im Juz Mannheim selbst erworben hat -, ist mit umfangreichem Bonusmaterial ausgestattet.

Dieser Text erschien zuerst am 06.06.2020 in: Neues Deutschland

Deutscher

(D 2020, Regie: Simon Ostermann)

Muss ja
von Ulrich Kriest

Bäm! Aufgrund geringer Wahlbeteiligung gelingt einer rechtspopulistischen Partei überraschend der Wahlsieg. Eine Zäsur, auch in dem ruhigen Vorort, in dem die Familien Schneider und Pielcke Nachbarn sind. Während man bei …

Bäm! Aufgrund geringer Wahlbeteiligung gelingt einer rechtspopulistischen Partei überraschend der Wahlsieg. Eine Zäsur, auch in dem ruhigen Vorort, in dem die Familien Schneider und Pielcke Nachbarn sind. Während man bei Schneiders, er Lehrer, sie Apothekerin, noch fassungslos vor der Glotze sitzt („Fuck! Das ist doch wohl ein schlechter Scherz! Diese scheiß-naive Hoffnung, dass bei uns nichts Schlimmes passiert!“), werfen Pielckes nebenan, er selbständig im Sanitärbereich, sie Hausfrau, „zur Feier des Tages“ den Grill an. Den Teenager-Söhnen der beiden Paare ist der Ausgang der Wahl herzlich egal.

Politik findet in der Miniserie „Deutscher“ alsdann nur noch als Hintergrundrauschen in Form von ein paar TV-Statements zum selbstbewussten Umgang mit der deutschen Geschichte und zur Lügenpresse statt. Worum es „Deutscher“ zu tun ist, sind die atmosphärischen Veränderungen und Polarisierungen im Alltag, am Arbeitsplatz. Der Wahlsieg der Rechten ist mithin kein Unfall gewesen. Die diversen Konflikte, die die Serie auffächert, illustrieren Begriffe wie Alltagsrassismus, Opportunismus, Zivilcourage und Solidarität. Opfer rassistischer Gewalt werden nicht mehr geschützt, liberale Lehrer isoliert, muslimische Schüler*innen segrediert. Wer sich wehrt, verliert den Job. Jedes Arschloch meldet sich bedenkenlos in seiner Arschlochhaftigkeit zu Wort. Die Serie spielt diese Prozesse in diversen Schattierungen durch und stellt die Opferfrage. Gleichzeitig skizziert sie die Gender- und Klassenlagen der Nachbarsfamilien ansatzweise unter Zuhilfenahme einer trivialisierten Schwundform Bourdieuscher Überlegungen.

Angesichts der Verdichtung des Erzählens aufs Bebildern von Thesen erinnert man sich an Harun Farockis frühsiebziger Polemik gegen den „Berliner Arbeiterfilm“. Dort vermisste er die Arbeit, stets würden obligatorisch drei Hammerschläge ausgeführt, bevor es heiße: „Weißt du, ich hab dir doch neulich gesagt …“ Vergleichbar verhandelt „Deutscher“ „das Politische“ mit den Mitteln der gutgemeinten Daily Soap. Die finale Aussöhnung mit reichlich Körperkontakt findet dann am Krankenbett statt: „Wird alles wieder gut.“ Zumindest im Privaten.

28./29. April ab 20.15 Uhr auf ZDF Neo; seit 25. April in der ZDF-Mediathek

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 05/2020

Enough

(SE 2018, Regie: Anna Mantzaris)

Gegen die Mühseligkeit des Alltags
von Hannes Wesselkämper

„Wir alle spielen Theater“, sobald wir aus der Tür in die Öffentlichkeit treten. Im Büro, an der Bushaltestelle, im Restaurant – alles Beispiele für soziale Situationen, in denen wir eine …

„Wir alle spielen Theater“, sobald wir aus der Tür in die Öffentlichkeit treten. Im Büro, an der Bushaltestelle, im Restaurant – alles Beispiele für soziale Situationen, in denen wir eine bestimmte Rolle erfüllen und Regeln beachten müssen. Falls nicht, könnten diese Situationen schnell ins Chaos kippen. Der kanadische Soziologe Erving Goffman, von dem das Bild des Theaterspielens stammt, nennt unsere Auseinandersetzung mit solchen Regeln des Alltags Rahmenanalyse.

In zwölf szenischen Miniaturen durchbrechen die Figuren in Anna Mantzaris‘ Kurzfilm „Enough“ genau diese sozialen Rahmungen: Sie schmeißen den Computerbildschirm aus dem Fenster, werfen sich aus dem fahrenden Auto, drücken ihren Gästen den Spaghettiteller ins Gesicht. Die liebevoll gestalteten Filzmenschen geben ihren Gefühlen und Impulsen nach, ohne sich den Konsequenzen zu stellen. Sie sprengen aber nicht nur Rahmen, sondern gehen auch sinnlichen Verlockungen nach. In kindlicher Naivität liefern ihre Handlungen Antworten auf die Fragen: Ist der dichte Vollbart meines Gegenübers eigentlich brennbar? Oder: Wie fühlt sich die tiefrot leuchtende Herdplatte an, wenn ich meine Hand darauf lege?

Die gefilzte Wolle, aus der die Figuren bestehen, erweist sich ebenfalls als widerspenstiges Element. Zwischen jedem Einzelbild bewegen sich kleine Härchen auf den Körpern oder den Köpfen der Puppen. Sie wabern in den Einstellungen, die Falten ihrer Kleidung verselbstständigen sich, statt sich einer glatten Animation zu fügen. Damit untermauert schon das Material den absurden Witz, der aus jeder Episode des zweiminütigen Films hervorscheint. Die Handlungen der einförmigen Hemd- und Blusenträger/-innen wirken in ihrer Welt maximal deplatziert – und trotzdem nachvollziehbar. Ihr Übriges tut dabei das Setting einer namenlosen grauen Stadt. Jene minimalistisch gestalteten Innenräume sowie die Häuserfassaden in verblassten Pastelltönen sind von der filmischen Welt des schwedischen Regisseurs Roy Andersson inspiriert, wie Mantzaris in Interviews betont.

Ähnlich den Figuren in „Enough“ verzweifeln Anderssons Protagonistinnen und Protagonisten auf ebenso humorvolle Weise an der profanen Alltäglichkeit ihrer Welt. Zwischen der ultima ratio des Selbstmordes und einem Einkauf im Supermarkt liegt bei ihm eine kaum merkliche Grenze. Doch der Drastik in Anderssons Filmen wie „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ stellt seine Landsfrau Mantzaris einen Moment der Kontemplation entgegen. Die rundliche Frau im Bus hält noch einmal inne, die Filzhand zum Schlag erhoben, bevor sie dem Störer das Handy umso energischer vom Ohr haut.

Dieses Innehalten kann aber auch in Zärtlichkeit und Solidarität umschlagen. So kuschelt sich ein Mann in der Schlange vor dem Bankautomaten – alle Goffman’schen Rahmen sprengend – an das lange Haar seines tätowierten Vordermanns. Und wenn am Ende eine Frau aus Ärger über den verpassten Bus ihre Einkäufe fallen lässt und sich auf den blanken Asphalt legt, scheint das Phänomen um sich zu greifen: In solidarischer Geste gegen die Mühseligkeit des Alltags legt sich ein Fremder in Hemd und Krawatte wie selbstverständlich daneben.

Diese Kritik ist zuerst erschienen auf: Kinofenster.de.

Die Getriebenen

(D 2020, Regie: Stephan Wagner)

Alle sind Opfer
von Marit Hofmann

Niemand mag sie. Keiner will sie haben. Spitzenpolitiker haben in Deutschland einfach keine Lobby. „Die Getriebenen“, frei nach einem Sachbuch von „Welt“-Mann Robin Alexander, will das nun ändern und blickt …

Niemand mag sie. Keiner will sie haben. Spitzenpolitiker haben in Deutschland einfach keine Lobby. „Die Getriebenen“, frei nach einem Sachbuch von „Welt“-Mann Robin Alexander, will das nun ändern und blickt im Spätsommer 2015, der sich, wie man dieser Tage allerorten hört, nicht wiederholen dürfe, „in die Hinterzimmer der Mächtigen, die vor allem eins sind: Getriebene, die zwischen politischer Verantwortung und dem atemlosen Tempo der sich überschlagenden Ereignisse in einer Ausnahmesituation Entscheidungen treffen“ (Das Erste). Nicht die Vertriebenen, sondern die Mittäter sind hier die Leidtragenden. Denn wer, wenn nicht Drehbuchautor Florian Oeller, weiß, „was das alles mit den Menschen macht, die politische Verantwortung tragen“.

So gilt sein Mitgefühl nicht verzweifelt Asylsuchenden, die hier nur als anonyme Masse auftauchen, sondern dem nachts im Büro vereinsamenden Peter Altmaier, dem sich schwer vergrippt zum Dienst für Deutschland schleppenden Thomas de Maizière und all ihren Kollegen, die das Bild des ertrunkenen Kleinkinds Alan Kurdi um Imagepunkte bringt. Imogen Kogges Respekt ist bei ihren angestrengten Versuchen, so wie Angela Merkel auszusehen, „gewachsen vor denen …, die tagtäglich … um ernsthafte Entscheidungen ringen, sich kompromissbereit zeigen müssen und doch ihren Idealismus behalten“.

Die prominenten Rollen hat man nach vermeintlicher Ähnlichkeit besetzt beziehungsweise gewaltsam darauf getrimmt, was, etwa wenn Altmaier (Tristan Seith) vor Wut zu platzen droht, zu unfreiwilligen „Spitting Image“-Momenten führt. Nur Horst Seehofer fällt heraus, den Josef Bierbichler als Grübelgreis auf dem Abstellgleis veredelt.

Das nicht zuletzt „würdigende Porträt der Kanzlerin“ (RBB-Filmchefin Martina Zöllner) zeigt, was man sich nicht auszumalen wagte: Angela mit Mitarbeiterin auf dem Damenklo oder mit dem Gatten auf dem Sofa, der ihr ins Gewissen redet. Merke: Hinter jeder starken Frau steht ein Mann, der die Strippen zieht.

Die TV-Biedermänner wollen ihrem Primetime-Event durch Split Screens und eingeblendete Handychats krampfhaft etwas von den hippen US-Serien verpassen und verblüffen durch lebensechte Sprüche (Sigmar Gabriel: „Wahltag ist Zahltag“) und frische Dialoge: „Was wollen Sie, Alexis? Es geht darum, ob das Europa, das wir kennen, noch weiter besteht.“

Thrillermusikakkorde, die nichtexistierende Spannung vorgaukeln, künden vom dräuenden Unheil in Gestalt der „wilden Horden“ und Viktor Orbáns („eine Schande für Europa“), der sie einfach in Züge gen Germania setzt und so die Deutschen austrickst.

Regisseur Stephan Wagner sonnt sich in öffentlich-rechtslastiger Objektivität. Der Spielfilm ermögliche es, „abseits der täglichen Scheibchen der Ereignisse, die es in die Nachrichten schaffen und gern auch interessengebeugt“ – linksversifft? – „vermittelt werden, den großen Handlungsbogen der Entstehung dieser bisher größten europäischen Prüfung des 21. Jahrhunderts nachzuvollziehen, mit allen Emotionen, die ihn spannend machen“.

Programmdirektor Volker Herres schließlich hat die Prüfung bestanden und sichert sich nicht nur emotional nach ganz rechts ab: „Durch gezielte Indiskretion oder einfach nur durch Pannen können sich Nachrichten verbreiten, die syrische Bürger glauben lassen, Deutschland stünde ihnen offen.“ Ja, haben die denn nicht alle Latten am Grenzzaun? Nichts läge den Deutschen ferner. „Wie man sich auch immer dabei positioniert“ – ob als Nazi oder Programmdirektor –, „eins steht fest: Politik geht uns alle an, und wir Zivilbürger müssen engagiert mitreden, um selbst nicht am Ende die Getriebenen zu sein.“ Es reicht offenbar nicht, Politiker zu „Getriebenen“ zu verklären, auch „wir Zivilbürger“ sind potentielle Opfer. So ein Film über 2015 darf sich nicht wiederholen.

Ab 8. April in der ARD-Mediathek; am 15. April um 20.15 Uhr im Ersten

Diese Kritik erschien zuvor in: KONKRET 04/2020

Der kleine Maulwurf

(CSHH 1957, Regie: Zdenek Miler)

Scheinbar entrückt
von Jonas Engelmann

Im Jahr 1968 hat der kleine Maulwurf symbolisch die tschechoslowakische Kultur zu Grabe getragen. In der Episode „Der Maulwurf und das Radio“ findet der Protagonist der erfolgreichsten Animationsserie des Landes …

Im Jahr 1968 hat der kleine Maulwurf symbolisch die tschechoslowakische Kultur zu Grabe getragen. In der Episode „Der Maulwurf und das Radio“ findet der Protagonist der erfolgreichsten Animationsserie des Landes im Wald ein Radio, das ihm zwar Jazz, Fußball und die Nachrichten überträgt, ihn jedoch gleichzeitig seiner Freunde beraubt, die genervt vom Lärm den Wald verlassen. Nachdem das Radio seinen Geist aufgegeben hat, schaufelt der kleine Maulwurf – „Krtek“, wie er im Original heißt – dem Gerät ein Grab. Kurz darauf kehren seine Freunde zurück und bringen wieder die eigene Kultur des Waldes zurück: Die Vögel singen, die Frösche quaken. Ein seltsames Bild in einem Animationsfilm für Kinder, als auf die politische und kulturelle Öffnung des Landes mit der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 tatsächlich der Rückzug auf eigene Kultur einsetzte und Einflüsse, die jenseits des sozialistischen Realismus sowjetischer Prägung lagen, durch Zensur und gestrichene Fördergelder zurückgedrängt wurden.

© Universum Film

Wie genau sich der kleine Maulwurf und sein Schöpfer Zdeněk Miler zu diesen politischen Entwicklungen verhielten, bleibt in der Schwebe, „Der Maulwurf und das Radio“ zeichnet sowohl das Radio als auch dessen Verlust als positiv. Für den Waldbewohner jedenfalls begann kurz darauf eine Karriere, die den Eisernen Vorhang überwinden konnte und bis heute andauert, auch wenn ein Funktionär der Filmindustrie den Maulwurf am liebsten aus dem Programm verbannt hätte, weil er gerade persönlichen Ärger mit den Tieren in seinem Garten hatte.

„Über den Millionär, der die Sonne raubte“ hieß 1948 eine der ersten Produktionen des jungen Animationsfilmers Zdeněk Miler, damals noch mit einem erwachsenen Publikum vor Augen. Die gestohlene Sonne bewahrt der egoistische Millionär in seinem Haus auf, beim Happy End steht sie wieder als Allgemeingut am Himmel. Während „Über den Millionär, der die Sonne raubte“ Egoismus und soziale Ungerechtigkeit anprangerte, geriet „Der Mohnkuchen“ von 1953 zu einem Lehrfilm, der den gesamten Entstehungsprozess vom Mähen des Getreides bis zum Backen eines Kuchens abbildet und aufzeigt, dass unzählige Menschen an der Produktion beteiligt sind. Die Filme stachen aus den Auftragsproduktionen der verstaatlichten tschechoslowakischen Filmindustrie heraus, sie wurden, nach einer Auszeichnung auf dem Filmfestival in Venedig, als osteuropäische Version von Disney gehandelt.

Dennoch war, als Zdeněk Miler aufgrund des Erfolgs seiner bisherigen Arbeiten 1954 den staatlichen Auftrag erhielt, einen Animationsfilm für Kinder über die Herstellung von Kleidung zu produzieren, kaum abzusehen, was sich aus seiner eher zufälligen Entscheidung, einen kleinen Maulwurf zum Protagonisten zu wählen, entwickeln würde. „Wie der kleine Maulwurf zu seiner Hose kam“ wurde 1957 bei den Filmfestspielen in Venedig mit einem Silbernen Löwen ausgezeichnet und legte den Grundstein für über 60 Episoden über „Krtek“, den kleinen Maulwurf, die nun in einer DVD-Box als Gesamtausgabe erschienen sind.

Der 1921 geborene Miler hatte von 1936 bis 1942 Graphik und Fotografie in Prag studiert und nach der Befreiung von der deutschen Besatzung als Zeichner, Regisseur und Autor in einer Zeichentrickfirma zu arbeiten begonnen. Die verstaatlichte Filmindustrie in der Tschechoslowakei orientierte sich spätestens ab 1948, als die „Komunistická strana Československa“ (KSČ) an die Macht kam, an der kulturpolitischen Agenda der Sowjetunion und die damit verbundenen Vorstellungen von Kunst. Da kamen die Lehrfilme für Kinder des KSČ-Mitglieds Zdeněk Miler gerade recht. Technisch war die Tschechoslowakei auf dem aktuellsten Stand, der Krieg hatte nicht allzu viel an Filminfrastruktur zerstört, außerdem bestand eine lange Tradition, auf die sich die Animationsfilmindustrie beziehen konnte, Puppentheater, Märchenverfilmungen, aber auch die Avantgarden der Zwischenkriegsjahre – Elemente der tschechoslowakischen Variante des Surrealismus finden sich auch immer wieder in den Filmen um den kleinen Maulwurf.

© Universum Film

1954, als Miler mit dem ersten Maulwurf-Film beauftragt war, herrschte im Land politisch ein angespanntes Klima: Während nach dem Tod Stalins 1953 in vielen Ländern des Warschauer Pakts eine Phase der Liberalisierung begonnen hatte, dauerte es in der Tschechoslowakei noch ein ganzes Jahrzehnt, bis eine politische und kulturelle Öffnung einsetzte. Diese wirkte sich dann auch unmittelbar auf Filme für Kinder aus: Während sie bis in die frühen Sechziger vor allem als Teil des Erziehungssystems gesehen wurden, als pädagogischer Auftrag für die nachwachsende Generation, drangen danach Alltagsprobleme und realistischer Auseinandersetzungen mit Kinderwelten in den Vordergrund. Auch in den Maulwurf-Filmen spiegelt sich diese Entwicklung: Waren die frühen Werke wie „Der Maulwurf und sein rotes Auto“ oder „Der Maulwurf und die Rakete“ vor allem auf den Nutzen von Technologie und eine Hoffnung auf die Zukunft konzentriert, stellen spätere Filme stärker die zwischenmenschlichen Beziehungen in den Mittelpunkt, Ängste und Unsicherheiten und das Verhältnis des Einzelnen zu seiner Umwelt.

Während nach dem August 1968 durch Zensur und Berufsverbote viele Regisseure der Tschechoslowakischen neuen Welle – jener Filmbewegung, die wie keine andere für einen kulturellen Aufbruch gestanden hatte – wie Miloš Forman oder Vojtěch Jasný ins Ausland gingen, hatten die Filmemacher im Bereich des Kinderfilm weniger mit Repressionen zu kämpfen. Allerdings haben sich auch im Bereich Kinderfilm die Produktionen nach der sogenannten Normalisierung seltener mit gesellschaftspolitischen Themen auseinandergesetzt. Der Maulwurf bildete dabei eine Ausnahme, die Filme um ihn und seine Freunde die Maus, den Frosch und andere Waldbewohner wurden zunehmend politischer.

Dies hatte auch mit der Rolle des WDR als wichtigem Co-Produzenten der Serie zu tun. Ab den frühen Siebzigern stieg der Sender aus vor allem zwei Gründen in die Produktion ein: Die Filme aus der Tschechoslowakei füllten einerseits in der BRD eine Lücke, da es dort keine Tradition an eigens für Kinder produzierten Programmen gab, und andererseits waren Serien aus dem Osten günstiger als ihre US-amerikanischen Pendants. Über den WDR wurde die Serie auch in der westlichen Welt zu einem Erfolg, über den sich bis heute Merchandise und Lizenzen verkaufen.

© Universum Film

Über den Umweg des WDR drangen ab den späten Siebzigern auch linke gesellschaftliche Debatten des Westens in die Serie ein und erfüllten zunehmend einen pädagogischen Bildungsauftrag, der sich eigentlich mit den Idealen des sozialistischen Realismus hätte beißen müssen, allein der ökonomische Erfolg der Serie, der auch der staatlichen tschechoslowakischen Filmindustrie zugute kam, garantierte dem Maulwurf Freiheiten, die andere Produktionen nicht hatten. „Der Maulwurf kommt in die Stadt“ oder „Der Maulwurf im Traum“ etwa, beides Produktionen aus den frühen Achtzigern, konfrontieren den Maulwurf beispielsweise mit den negativen Auswirkungen der Zivilisation. In ersterem wird der Wald gerodet, und in der Stadt, die an seiner Stelle erbaut wird, haben die Tiere keinen Platz mehr; in zweiterem wird die Abhängigkeit der Menschen von ihren technischen Errungenschaften kritisch hinterfragt.

Als Zdeněk Miler 2011 starb, war der Maulwurf in über 80 Ländern weltweit zu sehen, eine Plüschversion hatte mit der „Endeavour“ das Weltall besucht, und die begleitenden Bücher zur Fernsehserie sind bis heute Millionenseller. Die DVD-Box mit allen Episoden in chronologischer Reihenfolge zeigt eine eigenwillige Kindersicht auf die Welt. Trotz der ausgestellten Naivität des Maulwurfs und seiner Lebenswelt, die scheinbar entrückt von politischen Erschütterungen existiert, hat die Serie doch die Beben in sich aufgenommen, die in den Produktionsjahren von 1957 bis 2002 das Weltgeschehen bestimmt haben.

Dieser Text erschien zuerst am 26.03.2020 in: Neues Deutschland