Wie der Herr seine Knechte und vice versa brauchen Superheroes ihre Supervillains, und je schillernder jene geraten, desto heldenhafter können diese in Aktion treten. An den Antagonisten (nicht nur) in Comics und ihren Filmadaptionen müssen sich die Protagonisten messen lassen. Wenn, wie bei den Avengers, ein ganzes Franchise sich auf einen Kulminationspunkt zubewegt, schürt das große Erwartungen. Und die werden von „Avengers: Infinity War“ ja nicht enttäuscht. Schon einmal hat sich eine bunte Superheldentruppe einem lila Ungetüm entgegengestellt. Im letzten Ableger der X-Men-Hauptstory ist der titelgebende Apocalypse eben genau darauf aus, die Apokalypse, und in diesem Sinne auch recht eindimensional – der Film deswegen auch dementsprechend (die Einnahmezahlen am Box Office sprechen Bände; dass über 540 Millionen Dollar weltweit mittlerweile als Flop gelten, auch. Eher eine Ausnahme, sprich kein Anzeichen, vielleicht aber ein Vorzeichen für Superhero Fatigue, die aber bis auf weiteres nicht um sich greift, wie der Kassenerfolg von „Black Panther“ jüngst wieder einmal bewiesen hat.). Nach bald 20 Jahren Comicfilm-Traktiererei muss aber ein komplexerer Gegenspieler her, die zu Fans umfunktionierten Zuschauer lassen sich nicht mehr mit so simplen Motiven wie Weltherrschafts- und Weltzerstörungsgelüsten abspeisen.
Auftritt Thanos: Schon nach dem Abspann der Initialzündung des Marvel Cinematic Universe (MCU), „Iron Man“, hatte dieser einen ultrakurzen Auftritt als grinsender, behelmter Behemoth. Damals haben sich noch nicht so gut wie alle automatisch dem Sitzenbleibritual ergeben, heute ist das gang und gäbe, standardisierte Konsumpraxis, zumindest bei Comic-Verfilmungen (immer häufiger passiert es, dass die meisten auch bei anderen Blockbustern bis zum bitteren Ende sitzen bleiben: Manchmal werden sie belohnt, wie bei „Kong: Skull Island“, der nach den Credits das MonsterVerse anteasert, meist aber enttäuscht). Auch haben die meisten 2008 noch keinen blassen Schimmer gehabt, wer dieser Thanos überhaupt sein soll. Sein erster Auftritt war also vor allem eines: Insider-Service in Reinkultur, aber auch: Ausblick und Werbung für das, was auf die Uneingeweihten und Heldinnen noch zukommen sollte. Eine Dekade später und das Bescheidwissen der meisten mittlerweile vorausgesetzt – immerhin hat Disney über 18 Filme hinweg einen Crashkurs in Sachen Nerd-Wissen angeboten – nun der ultimative payoff: Thanos wie er leibt und lebt, sinniert und leidet, schweren Herzens (SPOILER ALERT) seine Adoptivtochter opfert und mit Gegenaufklärung im Gepäck seine Mission erfüllt. Schillernd eben.
Was ist seine Motivation und warum hat er Gegenaufklärung im Gepäck? Angesichts des Leids, das er im Universum erblickt, und das er allein auf Überbevölkerung in den Galaxien zurückführt, offenbart sich ihm nur eine Lösung dafür: die Hälfte aller Bewohner sämtlicher Planeten – randomisiert, weshalb die Gleichung Thanos=Hitler völlig danebengreift – mit einem Fingerschnippen zu beseitigen, sie so vom Leid zu erlösen, damit die andere Hälfte diesem nicht mehr ausgesetzt ist. Seine Devise lautet, im Universum „Gleichgewicht“ unter dem Deckmantel der Gnade herzustellen – und der Zweck heiligt für ihn die Mittel. Um diesen zu erreichen, muss Thanos aber zuerst alle sechs überall im All verstreuten Infinity Stones zusammenklauben. Die MacGuffins, die das Franchise zusammengehalten haben, erhalten nun also doch ihren übergeordneten tieferen Sinn, sind also keine mehr. Wie er zu ihnen kommt, das ist schon sehr beeindruckend arrangiert: Bei dem Aufgebot an Superhelden, das im finalen Showdown auftritt, hätte auch ein veritabler Clusterfuck dabei herauskommen können. Bei „Infinity War“ handelt es sich aber um einen überraschend übersichtlichen Fleckerlteppich, zusammengewebt aus vielen aufeinanderfolgenden imposanten Set Pieces, in denen sich Iron Man, Captain America und Co. grüppchenweise darum kümmern, Thanos davon abzuhalten, die Infinity Stones in seine Hände zu bekommen, genauer: in seinen Handschuh. Denn das würde bedeuten, dass er sich sämtlicher ihnen innewohnende Kräfte bemächtigte – die da wären: (Kontrolle über) Materie, Energie, Raum, Zeit, Geist und Seele –, womit er eben seine biopolitischen Pläne in die Tat umsetzen könnte.
Mit ein wenig Fantasie ist darin eine Selbstallegorisierung Disneys wiederzuerkennen: Wie Thanos Steine sammelt Disney Studios und wächst so zunehmend zum Monopolisten – mit Übermacht über Kinoraum und -zeit – heran (immer öfter dominieren Disney-Filme die Kinos und ihre Programme überall; ein erschreckendes Handyvideo, das zeigt, wie in einem US-amerikanischen Megaplex ausschließlich „Black Panther“ gezeigt wurde, lässt nichts Gutes – im Sinne einer Verödung des Angebots – für die Blockbuster-Zukunft vermuten). Nicht nur in Sachen Kino, sondern ebenso Fernsehen, das ja, glaubt man dem Pop-Geraune in den Feuilletons und in den zu diesen zugerichteten Blogs dieser Welt, ohnehin besser als Filme funktioniert, und diese wiederum im um sich greifenden Franchise-Wahn immer mehr wie Fernsehen. Jeder Eintrag ins Universum eine Episode, die die nächste teast, inklusive „Staffel“-Finale und was das Medium sonst noch so bereithält, wie z. B. auch Cliffhanger. Davon gibt es am Ende von „Infinity War“ nämlich auch einen, wie nach dem Ende der Credits selbstverständlich wieder eine Quasi-Vorschau auf den nächsten Teil. Wie das Fernsehen ist auch im ihm nachempfundenen Kino aber eines nicht zu finden, nämlich das, was der Begriff verspricht: in die Ferne zu sehen. Anstatt dessen blickt „Infinity War“ weit zurück in die Vergangenheit, ist dabei aber überhaupt nicht weitsichtig, weil er die Entstehung von Zeit, Raum, Materie etc., also den Urknall, als Geburt der Infinity Stones markiert, die sich im Zuge dessen überall im All verstreut hatten. Also merke: Die dem Kapitalismus eigene restlose Verdinglichung hat bereits – retroaktiv gewendet – am Anfang alles Existierenden überhaupt seinen Ursprung; nur so können Abstrakta, die man, bürgerlicher Wissenschaft sei Dank, gelernt hat, als isolierte zu begreifen, in Edelsteinform sich manifestiert haben. Ein Jenseits der Verdinglichung hat es demnach nie gegeben, und Kapitalismus ist immer schon und überall gewesen, selbst in den entferntesten Galaxien. Auch wenn der im MCU nicht zwangsweise auf jedem Planeten sein Unwesen treibt, herrscht trotzdem überall dasselbe Elend, und des Krisenmanagers und Biopolitikers Pseudolösung ist eine, die so nur als vom reaktionären Antikapitalismus produzierte gedacht werden kann.
Schließlich, weil eben gänzlich randomisiert – zweiter SPOILER ALERT! –, geht es auch unseren Heroes an den Kragen, von denen gleich mal schnurstracks alle bis auf die Avengers-Stammcrew sich in Pixel-Asche auflösen. Die Szenen, in denen Thanos mit dem vollendeten Infinity Gauntlet bestückt fingerschnippend seine Mission erfüllt und die nach und nach liebgewonnenen Helden und Heldinnen zerbröseln, sind packend inszeniert und berührend; die Atmosphäre im Kinosaal von absoluter Stille geprägt, der Schock einigen ins Gesicht geschrieben. Ist es nun vorbei? Nein, natürlich nicht! Ein Blick in die IMDB verrät, dass bald ein zweiter „Infinity War“ folgt, genauso wie ein weiterer Spider-Man, Dr. Strange usw. usf. sich bereits in Pre-Production befinden. Es geht also immer so weiter, und das ist ja (nach Benjamin) die Katastrophe. Genauso, wie das Ende der Welt viel eher als das Ende des Kapitalismus vorstellbar und abbildbar ist, ist auch die Fähigkeit, sich das ganz Andere – also dass es z. B. nicht immer so weitergeht – vorstellen zu können, abhandengekommen, bzw. Fantasie überhaupt im Einerlei der Kreativindustrie aufgegangen, sprich als Begriff schon gar nicht mehr satisfaktionsfähig. Egal, Fukuyama hatte recht und das Ende der Geschichte ist eingetreten: Sich utopistisch gebendes Denken heute ebbt zwangsweise ab ins nostalgische Herbeiwünschen der sogenannten goldenen 70er-Jahre, in denen zumindest mehr Menschen als heute verständlicherweise noch ein wenig Hoffnung für die Zukunft hatten (oft nur, weil sie sich ihrer Rente sicher sein konnten, aber auch, weil die Sozialdemokratie noch nicht so umstandslos wie heute bloß als Elendsverwalter, dazu noch ein schlechter, brilliert hat), und hatte sie auch bloß den Namen „demokratischer Kapitalismus“ getragen. Dabei wird die Idee der Utopie im Allgemeinen überhöht wie sonst nix, denn dass zumindest für alle und noch mehr heute schon und bereits seit Langem ja genug zum Essen da wäre, ist Tatsache, kein Nicht-Ort (utopos), und dafür nicht zu sorgen spottet eigentlich jeder Gesellschaft, die sich gerne zivilisiert nennt. Aber „zart wäre einzig das Gröbste: dass keiner mehr hungern soll“ (Adorno). Mit einem klobigen Handschuh kann man aber nicht zärtlich sein; Thanos mag also zwar omnipotent sein, omniszient ist er aber nicht, denn dann hätte er ja z. B. einfach mehr Essen für alle Menschen und Aliens für alle Zeiten herbeischnippen können; oder ganz „banal“ gesagt: Er hätte alle „Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, umwerfen können (der Film dann aber kaum seine schön gerenderten Post-/Apokalypse-Panoramen entfalten können und die Avengers wären, hätten sie ihren größten Widersacher daran gehindert, noch viel deutlicher als sonst als das in Erscheinung getreten, was sie sind, nämlich ein konterrevolutionärer Sicherheitsapparat, der bloß seinen Hegemonieanspruch auf dem Erdball verteidigt). Das ist von Marx – der ja heute jubiläumsbedingt mal wieder durch die Feuilletons gereicht wird, deren Schreiberlinge beflissene Grabpflege leisten für einen zu Tode theoretisierten, akademisierten Marxismus –, der die Stelle damit einleitet, dass mit dieser Lehre die Kritik der Religion endet, und damit ja auch sie, also die Religion selber, da das in ihr aufgehobene Versprechen fürs Jenseits im Diesseits eingelöst würde.
Bekanntlich ist die Religion (zumindest in den deindustrialisierten Industriezentren) bereits aufgehoben und durch jene der Kulturindustrie ersetzt worden, hungern müssen aber trotzdem noch genug, am meisten gerade jene, die von den „Segnungen“ des Kapitals am allerwenigsten verschont bleiben, dafür aber von der Moral, die sein Propagandaapparat verbreitet. Dessen Credo lautet, dass alles so weiter geht, gehen muss, und das auch gut so ist. So wenig wie das prozessierende Unheil kommen das Marvel Cinematic Universe, das Star Wars-Imperium und die X-Men-Maschinerie, allesamt vereint unter Disneys Dach, sobald zur Ruhe, bzw. erst dann, wenn die Kinogeher der jeweiligen Serien überdrüssig geworden sind. Endet aber krisenbedingt das eine Franchise, liegt schon das nächste in den Startlöchern, in dem vermutlich wieder eine Fraktion Widerständiger gegen einen mächtigen Übergegner antreten wird (aus nichts anderen speisen sich die meisten Franchise-Erzählungen). Widerstand, so lehrt die Kulturindustrie, ist zwecklos, bzw. eben nicht, sofern er eben Stoff für die nächsten Blockbuster in Serie hergibt, in denen sie sich selbst als Lösung für eigens produzierte Probleme anpreist. Erst aber, wenn die Herrschaft ihre geknechteten Objekte nicht mehr braucht und vice versa, wären auch Erzählungen, die dieses Herrschaftsverhältnis unverblümt verdoppeln und als unausweichlich darstellen, nicht mehr vonnöten, um es noch irgendwie ertragen zu können – und „Infinity War“ könnte als das genossen werden, was er hoffentlich einmal sein wird: ein vergnügliches, wenn auch etwas zu lang und pompös geratenes Artefakt aus einer längst vergangenen, zum Glück überwundenen Zeit.