Anne (Léa Drucker) ist Anwältin und verteidigt minderjährige Missbrauchsopfer. Wenn sie zu Beginn von Catherine Breillats neuem Film „Im letzten Sommer“ („L’été dernier“), der als Remake der dänisch-schwedischen Produktion „Königin“ entstand, eine vergewaltigte, völlig traumatisierte Teenagerin befragt, zeigt ihr Gesicht Strenge und Entschlossenheit. Distanz und Empathie, Berufliches und Privates halten sich bei ihr die Waage. Die französische Regisseurin und ihre renommierte Kamerafrau Jeanne Lapoirie filmen die Gesichter frontal und in langen Naheinstellungen. Die attraktive, immer elegante Anne lebt mit Pierre (Olivier Rabourdin), einem gestressten Unternehmer und liebevollen Ehemann, auf einem großzügigen, idyllisch gelegenen Anwesen am Stadtrand von Paris. Da Anne, bedingt durch eine Abtreibung, keine Kinder bekommen kann, haben sie die Schwestern Angéla und Séréna adoptiert. Mit Théo (Samuel Kircher), Pierres jugendlichem Sohn aus einer früheren Beziehung, der bislang in Genf lebte, kommt bald ein neuer Mitbewohner hinzu.
Der hübsche und schon ziemlich selbstbewusste 17-Jährige ist ein schwieriger, aggressiver Junge, der sich der Integration in die Familie verweigert, gleichzeitig aber noch ganz kindlich mit den beiden kleinen Schwestern spielt. Als Anne entdeckt, dass Théo ins eigene Elternhaus eingebrochen ist und ihn damit konfrontiert, entsteht zwischen den beiden ein verschworenes Einvernehmen, aus dem bald mehr wird. Der Junge, der einmal prahlt, Gefühle seien nicht sein „Ding“, verliebt sich in seine Stiefmutter. Anne, in sexueller Hinsicht selbst ein gebranntes Kind, lässt sich wider besseres Wissen und gegen alle Vorsicht darauf ein. Wenn sich die beiden zum ersten Mal und sehr lange küssen, filmt Breillat das sehr nah und intim. Neben jugendlicher Unschuld und Selbstvergessenheit geht es der Filmemacherin auch in den folgenden Liebesszenen vor allem um ein Gefühl der Entgrenzung und um eine Ekstase, die die Liebenden in einem romantischen Sinn verwandelt.
Einmal spricht Anne, die ein bisschen zu viel trinkt, von ihrer Angst vor dem Verschwinden als von einer Versuchung, sich fallen zu lassen. In diesem lustvollen Fallen verklärt sich das sexuelle Begehren zur Erlösung. Der „kleine Tod“, ablesbar an den entrückten Blicken fahler Gesichter, wird zur transzendenten Erfahrung. Als Anne in ihrer Not vor Entdeckung die Beziehung abrupt beendet, rechnet sie zunächst nicht mit der Liebeskrankheit des jugendlichen Geliebten. Als dessen Besessenheit schließlich durchbricht, kommt es zu einer verstörenden Konfrontation der Beteiligten. Eingeführt als Vertreterin der Wahrheit, die „keine halben Sachen“ macht, wird Anne zur unerbittlichen, ja kaltblütigen Verteidigern der Familie; als könne nur eine wiederhergestellte Ordnung das Dilemma ihres ekstatischen Fallens aufhalten oder den Sturz abmildern.