Nach dem Lemke ist vor dem Lemke

Ein Nachruf
von Christian Keßler

Zu Klaus Lemke und seinen Filmen habe ich – ähnlich wie zu vielen anderen essentiellen Tröstungen – erst spät in meinem Leben gefunden. Meine filmische Sozialisation sah Sachen wie „Rocker“ oder (mein Liebling!) „Idole“ nicht vor. War meine Kindheit noch weitgehend beherrscht von Hollywoodware, die im Fernsehen der 70er vor sich hin funzelte, stieß mir das Videoerlebnis das Tor zum Schlonz und zur Exploitation auf. Wann immer mir ein Vertreter des „jungen deutschen Kinos“ vorkam, winkte ich meistens gelangweilt ab. Mit meinem jungen Leben hatten die Filme von Faßbinder, Wenders & Co. nichts zu tun. Die spielten sich eher in „drüberen“ Künstlerkreisen ab, mit denen ich nichts zu schaffen hatte. Wäre mir das Werk von Klaus Lemke schon früher begegnet, hätte das dramatisch anders laufen können. Das tat es aber nicht.

Ich weiß kaum etwas von Lemkes Vita. Ich verbinde den Mann mit München, sein heute wohl populärster Film – „Rocker“ – ist aber norddeutsch wie die Nacht. Seine mir bekannten Fernsehauftritte, die ihn als alten Mann zeigen, sind rattencool. Ich beneide jeden, der ihn mal persönlich kennenlernen durfte. Das große Lebensfazit müssen somit andere ziehen. Ich weiß nur eines: Als ich meinen ersten Lemke-Film sah, war es um mich geschehen. Das war damals „Idole“, Freunde von mir hatten den noch auf Video, und ich war absolut hingerissen. Während ich mit den meisten „Autorenfilmern“ der 68er-Generation mittlerweile meinen Frieden geschlossen hatte (Faßbinder, Herzog et al), suchte ich bei vielen anderen noch nach dem Schlüssel. Grund hierfür war die Distanz, die sich dräuend zwischen mir und ihren Filmen aufbaute. Vieles schien klug, vieles war sogar klug, aber wenn die Figuren, die die Filme bevölkerten, mir fern waren, dann interessierte mich das alles so sehr wie Schnee auf dem Matterhorn. Ich habe selber einen schönen Nabel, da muss ich mir nicht auch noch die von anderen anschauen, die von schönen Frauen vielleicht mal ausgenommen.

Szene aus „Rocker“ (© Klaus Lemke/Bernd Fiedler)

Bei den Figuren, die man in Lemkes Werken antrifft, von Distanz keine Spur. Man kann darüber streiten, ob die im Einzelfall sympathisch sind, ob man die selber gerne kennenlernen würde, aber drin ist da wirklich, was draufsteht. Mit „Liebe, so schön wie Liebe“ etwa schuf er meinen Lieblings-Gammlerfilm, über die Segnungen des Gammelns. Keine verklärende Überhöhung wie in so vielen Hippiefilmen der Zeit, nur Leute, die machen, was ihnen in den Kram passt, nämlich gar nix. Die meisten Protagonisten, denen man in den Filmen begegnet, haben nicht das Schießpulver erfunden, sind aber stramme Individualisten, die sich ihr Leben so zusammenbasteln, wie ihnen das vorschwebt. Sie tun dies nicht im Rahmen einer intellektuellen Leistung, sondern intuitiv, ganz auf Autopilot, weil es eben sein muss. Dabei steuern sie gelegentlich auch gegen die Wand, aber was müssen die Dinger auch immer im Weg stehen? Mir würde es dabei widerstreben, Lemkes Filme als „anti-intellektuell“ zu bezeichnen. Dieses beklemmende Prädikat wird häufig Leuten verliehen, die man launig abservieren will, über Bande sozusagen. Und das kommt ja gar nicht in die Tüte. Lemkes Protagonisten sind keine Papiergeburten, sondern lebensnah, im Guten wie im Schlechten. Häufig verwendete er keine professionellen Schauspieler, sondern Leute, die offensichtlich irgendwie passten. Man spürt, wie viel Freude der Regisseur dabei hatte, die Leute einfach mal machen zu lassen. Das Spannende sind ja meistens die Überraschungen, die sich beim Drehen ergeben. Da mag dann Larifari dabei sein, aber eben auch Einsichten in die Verhaltensweisen von Menschen, die kein noch so gescheiter Drehbuchautor ersinnen könnte. Dramaturgisch sind die Filme, die ich von dem Mann kenne, eher amorph, aber gerade das macht sie so lohnend, wenn man sich auf ihre Figuren einlassen will. Denn das Leben ist auch meistens amorph.

Ich kenne von Lemke eine Handvoll seiner frühen Sachen, „Acapulco“, „Negresco“, „Paul“, „Liebe“ und so fort. Seine 80er-Sachen und das, was danach kam, muss ich noch aufarbeiten. Vielleicht nehme ich diesen traurigen Zeitpunkt mal zum Anlass, damit zu beginnen. Der Mann ist jetzt leider nicht mehr da, aber seine Filme, die bleiben. Und die ganzen Chaoten, denen man in ihnen begegnen kann. Mit Werner Enke durfte ich mal einige Biere stemmen, ein weiterer Prachtmann. Bei Klaus Lemke blieb mir dies versagt. So tue ich das eben jetzt und erhebe das Glas, das mit Bier gefüllt ist und mit ganz viel Dank für die Schönheit, die er geschaffen hat. Prost!

Foto: © Klaus Lemke Filmproduktion (aus "Making Judith!")