Archiv der Kategorie: Filmkritik

Burning Days

(TR 2022, Regie: Emin Alper)

Zwischen den Fronten
von Wolfgang Nierlin

Ein riesiges, ausgetrocknetes Erdloch inmitten einer weiten Landschaft öffnet sich den Blicken der Betrachter. Am Kraterrand stehen sehr klein und verloren zwei Menschen, eine Richterin und ein Staatsanwalt, wie wir …

Ein riesiges, ausgetrocknetes Erdloch inmitten einer weiten Landschaft öffnet sich den Blicken der Betrachter. Am Kraterrand stehen sehr klein und verloren zwei Menschen, eine Richterin und ein Staatsanwalt, wie wir später erfahren. Emre (Selahattin Pacali), so sein Name, ist jung und neu an diesem Ort irgendwo in der türkischen Provinz, deren topographischen und geologischen Parameter in Emin Alpers spannendem Film „Burning Days“ zu Sinnbildern werden. Wenn sich Emre in seinem Auto durch die weite, staubige Landschaft bewegt, die am Horizont von hohen Bergen gesäumt wird, ist er allein und isoliert. Die Totale aus der Vogelperspektive vermittelt außerdem ein Gefühl der Ungewissheit. Als der Fremde in den fiktiven Ort Yaniklar einfährt, hört er Gewehrschüsse. Eine Blutspur zieht sich durch die Straßen, weil Jäger ein getötetes Wildschwein, an ein Auto gebunden, hinter sich her schleifen. Später klingelt ein junger Mann an Emres Tür, um in der alten Wohnung Rattengift auszulegen.

Die realen Gegebenheiten und Ereignisse, die Alper in der Exposition seines sehr kalkulierten Politthrillers versammelt, besitzen zugleich eine symbolische Ebene, die unterschwellig ein bedrohliches Potential entfaltet. Ein Anwalt, zugleich Sohn des Bürgermeisters, und ein grinsender Zahnarzt statten Emre ihren Antrittsbesuch ab, um die Wildschweinjagd und die eigentlich verbotenen Schüsse auf offener Straße zu verharmlosen. Die von Anspielungen und falschen Höflichkeiten, von Unausgesprochenem und schwelenden Konflikten getragene Kommunikation macht bald klar, dass die guten Vorsätze des idealistischen Staatsdieners hier auf die Traditionen und ungeschriebenen Gesetze alteingesessener Honratioren treffen, die sich wenig veränderungswillig zeigen. Vielmehr bilden diese eine eigene, korrupte Macht im Staat, die mit zwielichtigen Methoden ein Netz aus Lügen und Intrigen spinnt und dabei auch vor kriminellen Taten nicht zurückschreckt. Zu diesem Klüngel einer provinziellen Machtelite gehören außerdem der sich im Wahlkampfmodus befindende Bürgermeister, die opportunistische Richterin und ein angeblich oppositioneller Journalist.

Als bei einem feuchtfröhlichen Fest im Haus des Bürgermeisters, zu dem auch Emre eingeladen ist, eine junge Roma-Frau brutal vergewaltigt wird, gerät der sonst so selbstbewusst und gewissenhaft wirkende Staatsanwalt zwischen die Fronten. Weil er zum Zeitpunkt der Tat stark alkoholisiert war, ist seine Erinnerung lückenhaft. In kurzen Flashbacks auf das unklare Geschehen, vor allem aber in doppelbödigen, hervorragend gespielten Dialogsequenzen inszeniert Emin Alper ein permanentes Klima des Uneindeutigen und der Verunsicherung. Um seinen Ruf besorgt, steht Emre bald selbst im Zentrum von Gerüchten.

Während er in den vier Kapiteln des Films Verhaftungen veranlasst und Ermittlungen anstrengt, die außerdem mit der lokalen Wasserknappheit und mysteriösen Sinklöchern assoziiert sind, erhält er kompromittierende Botschaften und versteckte Drohungen. Schließlich wird er in einem fulminanten Finale selbst zum Verfolgten. Sein Scheitern an den eigenen Ansprüchen in Bezug auf Wahrheit und Gerechtigkeit zeigt die Gräben innerhalb einer Gesellschaft, deren korrupte Strukturen in ihrer Mischung aus überlieferten Privilegien und egoistischem Machtwillen unentwirrbar erscheinen.

Total Trust

(NL/DE 2023, Regie: Jialing Zhang)

Wie Tiere im Käfig
von Wolfgang Nierlin

Eine gewaltige Hochhauslandschaft wird illuminiert von farbigem Licht und hellen Strahlen. Über dem Stadion beleuchtet ein gigantisches Feuerwerk den nächtlichen Himmel, auf den ein Laser die Symbole des „Sozialismus mit …

Eine gewaltige Hochhauslandschaft wird illuminiert von farbigem Licht und hellen Strahlen. Über dem Stadion beleuchtet ein gigantisches Feuerwerk den nächtlichen Himmel, auf den ein Laser die Symbole des „Sozialismus mit chinesischen Werten“ projiziert. Die Kommunistische Partei feiert ihr 100. Jubiläum und die Errungenschaft, China zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt gemacht zu haben. Sicherheit, Zufriedenheit und politische Stabilität seien garantiert, müssten aber nicht nur gegen ausländische Feinde, sondern auch gegen die Gefahren im eigenen Land verteidigt werden. Nicht zuletzt deshalb gibt es im Reich der Mitte schon seit vielen Jahren ein immer umfangreicher und rigider werdendes Überwachungs- und Kontrollsystem, mit dem Daten gesammelt und die „Zuverlässigkeit“ des Bürgers überprüft wird. Zu dieser „Smart Technology“ gehören Gesichtserkennungskameras im öffentlichen Raum, die „Emotionsanalyse“ in Schulen oder auch das sogenannte „Sharp Eyes Project“, bei dem die Bilder von Überwachungskameras über das Fernsehen ausgestrahlt werden.

Jialing Zhang zeigt in ihrem zum Teil heimlich gedrehten Film „Total Trust“ die erschreckenden Ausmaße dieser bereits sehr weit fortgeschrittenen Überwachungstechnologie, die immer tiefer in die Privatsphäre der Menschen eindringt und dadurch deren Verhalten normiert und steuert. Bilder gleichförmiger Einheitsarchitekturen korrespondieren äußerlich mit dieser Entindividualisierung. Tatsächlich kontrollieren sich die Bürger unter den Bedingungen riesiger Datensammlungen immer häufiger gegenseitig. Das wiederum wird gefördert durch ein Programm namens „Social Credit Scoring“: Pluspunkte erhält, wer sich regelkonform verhält; bestraft werden diejenigen, die davon abweichen, auch wenn sie eigentlich nur ganz normal ihre Arbeit tun oder versuchen, grundlegende Rechte zu verteidigen.

Zu diesen vermeintlichen „Abweichlern“, deren Fälle in „Total Trust“ thematisiert und dokumentiert werden, gehören zwei Anwälte und eine Journalistin. „Heute ist Schreiben ein Verbrechen“, sagt Sophia Xuequin Huang, die mit ihrer Arbeit im Zuge der MeToo-Debatte ins Visier des Überwachungsstaates geriet und sich mittlerweile wie „ein Tier im Käfig“ fühlt. Der Anwalt Weiping Chang, der sie verteidigte und ansonsten Mandanten in Entschädigungsverfahren oder bei Diskriminierung am Arbeitsplatz vertritt, wurde wegen „Anstiftung zum Umsturz“ verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Ebenso erging es Quanzhang Wang, der sich für die Rechte der Bürger einsetzt.

Die chinesische, in den USA lebende Filmemacherin begleitet vor allem den Kampf der auf sich gestellten Frauen in einem beschwerlichen Alltag voller Hürden und Einschränkungen, die immer mehr zu einer „verinnerlichten Zensur“ führen. Dabei setzt Jialing Zhang teils fragwürdige „dokumentarische“ Mittel ein, indem sie Emotionen inszeniert und damit in gewisser Weise instrumentalisiert; was gerade bei diesem nicht zuletzt „medialen“ Thema problematisch ist. Auch bleiben viele Fragen bezüglich ihrer filmischen Quellen und der jeweiligen Drehsituation offen, da diese nicht unwesentlich Ereignisse modelliert. Trotzdem ist „Total Trust“ ein wichtiger Film über die aktuelle Brisanz einer beunruhigend voranschreitenden Überwachungsgesellschaft, deren Gefahren auch westlichen Demokratien drohen könnten.

Rose – Eine unvergessliche Reise nach Paris

(DK 2022, Regie: Niels Arden Oplev)

Schönheit des Anderssein
von Wolfgang Nierlin

Gedankenverloren und mit stierem Blick kämmt sich eine Frau mittleren Alters die Haare. Ihr inneres Auge sieht Bilder einer fernen Vergangenheit, die unscharf und in Zeitlupe vorbeihuschen. Manchmal hört sie …

Gedankenverloren und mit stierem Blick kämmt sich eine Frau mittleren Alters die Haare. Ihr inneres Auge sieht Bilder einer fernen Vergangenheit, die unscharf und in Zeitlupe vorbeihuschen. Manchmal hört sie auch Stimmen, die ihr Befehle geben. Ängstlich und geduckt, zieht sie sich dann vor der Welt zurück. Inger (Sofie Gråbøl) ist schizophren und lebt in einer psychiatrischen Einrichtung an einem dänischen Ort am Meer. Seit einem Aufenthalt in Paris, wo sie im Alter von 17 Jahren in einen älteren, verheirateten Mann verliebt war, leidet sie an einer gespaltenen Persönlichkeit und weiß nicht mehr, wer sie wirklich ist. Dabei kommuniziert sie klar, offen und direkt. Inger spielt Klavier, singt Chansons, spricht Französisch und ist literarisch gebildet. Wenn sie zu ihrer liebevollen, sehr zugewandten Schwester Ellen (Lene Maria Christensen) sagt: „Ich will dich erwürgen!“, meint sie das Gegenteil. Doch das versteht man erst später.

Im Herbst des Jahres 1997 – der tödliche Autounfall von Prinzessin Diana ist gerade Gegenstand der Nachrichten – unternehmen Ellen und ihr Mann Vagn (Anders W. Berthelsen) zusammen mit Inger eine Reise nach Paris. Diese wird für die hypersensible Heldin zu einer Fahrt in die Vergangenheit, in die sich immer wieder Traumbilder und Visionen mischen. Zusammen mit einer kleinen Gruppe macht man sich in einem Reisebus auf den Weg. Bald kommt es zu Konflikten und zu emotionalem Stress, weil ein mitreisender Schulleiter, der keine Abweichungen beziehungsweise Störung der „normalen“ Ordnung erträgt, sich gegenüber Inger immer wieder misstrauisch und feindselig verhält. Ganz anders begegnet dessen 12-jähriger Sohn Christian (Luca Reichardt Ben Coker) der psychisch kranken Frau. Neugierig stellt er Fragen, hilft ihr – zum Leidwesen der Mitreisenden – an einer Autobahnraststätte einen toten Igel zu begraben und wird später in Paris gar zu Ingers Komplizen auf der Suche nach ihrem früheren Liebhaber.

Er habe einen „Film über die Schönheit des Andersseins“ machen wollen, sagt der dänische Regisseur Niels Arden Oplev. Tatsächlich basiert sein berührendes Roadmovie „Rose – Eine unvergessliche Reise nach Paris“ auf wahren Begebenheiten und ist einer Geschichte seiner beiden Schwestern nachempfunden. Zur innigen Beziehung der Geschwister kommt Ingers enge Mutterbindung, die trotz räumlicher Distanz wiederholt dynamische Konflikte auslöst. In den Teils humorvollen Begegnungen mit der französischen Kultur, etwa beim Essen im Restaurant oder bei diversen Museumsbesuchen, ergreift zur Überraschung der Mitreisenden immer wieder Inger die Initiative und zeigt so ihre Talente. So entsteht allmählich ein verständnisvolles Miteinander unter den Reisenden, das von gegenseitiger Hilfe bestimmt ist. Trotzdem bleibt Inger auf ihrem Weg zu sich und ihrer vergangenen Liebesgeschichte unberechenbar und gefährdet. In Oplevs von einem sehr humanen Geist getragenen Film wird sie aber stets von anderen Menschen aufgefangen.

Vergiss Meyn nicht

(DE 2023, Regie: Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl, Jens Mühlhoff)

Ein Dokumentarfilm als Andenken
von Jürgen Kiontke

2018 besetzten Klimaaktivisten den Hambacher Wald, der rasch zum Symbol des Widerstands gegen Politik und Wirtschaft wurde. Der jahrhundertealte Wald sollte für die Braunkohlegewinnung abgebaggert werden. Schnell avancierte die Besetzung …

2018 besetzten Klimaaktivisten den Hambacher Wald, der rasch zum Symbol des Widerstands gegen Politik und Wirtschaft wurde. Der jahrhundertealte Wald sollte für die Braunkohlegewinnung abgebaggert werden. Schnell avancierte die Besetzung zum Symbol des Widerstandes gegen eine umweltfeindliche Industriepolitik. Im Zuge eines der größten Polizeieinsätze des Landes Nordrhein-Westfalen sollte das Gelände geräumt werden, es kam zu erbitterten Kämpfen zwischen Besetzern und Polizei.

Steffen Meyn war mittendrin dabei. Der junge Fotograf und Filmemacher hatte sich in dem Camp einquartiert, das Leben dort dokumentiert, unter anderem mit einer 360-Grald-Helmkamera. Viele Stunden Filmmaterial sind so entstanden. Die Räumung aber überlebte er nicht. Er stürzte – ungesichert – aus 15 Metern ab und starb.

Jahre danach sichten Meyns‘ Freunde Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff seine Arbeiten, führen weitere Interviews mit Menschen, die damals involviert waren, und bringen einen gut geschnittenen Dokumentarfilm als Andenken an Steffen Meyn heraus. Die Geschichte des Kampfes um den Hambacher Wald wird nachgezeichnet, aber auch der Klimaaktivismus insgesamt einer Kritik unterzogen: Welche Ziele lassen sich erreichen? Welche Risiken soll man eingehen? Die Politiker hätten den Unfall nicht einfach übergehen können, sagen die Filmemacher. Sie hätten aber Meyns Tod als Beispiel für die Gefahr, die von der Besetzung ausginge, instrumentalisiert. Einem Teil der Besetzer wiederum hätte der Vorfall dazu gedient, zeigen zu können, dass das System über Leichen gehe: „In jeder Facette des Widerstands finden sich neue Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen.“

Ein kluger Blick auf die Klimaproteste – den es ohne das umfangreiche Filmmaterial Steffen Meyns nicht gäbe.

Diese Kritik erschien zuerst am 21.09.2023 auf: links-bewegt.de

Millennium Mambo

(TW 2001, Regie: Hou Hsiao-Hsien)

Existenzielle Verlorenheit
von Wolfgang Nierlin

Wie in Trance bewegt sich eine junge Frau in Zeitlupe und mit wehendem Haar durch den langen Gang einer Unterführung. Immer wieder wendet sie den Kopf zurück zur Kamera, die …

Wie in Trance bewegt sich eine junge Frau in Zeitlupe und mit wehendem Haar durch den langen Gang einer Unterführung. Immer wieder wendet sie den Kopf zurück zur Kamera, die ihr folgt, und damit zum Zuschauer. Ihr sinnlicher Blick durchbricht die vierte Wand und vermittelt im Verbund mit einem hypnotischen Beat ein Gefühl von Ekstase und Befreiung. Dieses wird jedoch sofort in eine Spannung aus Abhängigkeit und Gefangenschaft überführt, als eine Off-Erzählerin aus der nicht allzu fernen Zukunft der Erzählzeit zehn Jahre zurückblickt auf das Jahr 2001 und damit auf die Jahrtausendwende. „Millennium Mambo“ lautet entsprechend der Titel des Films, der seine rauschhafte Heldin Vicky (Shu Qi) in eine toxische, destruktive Beziehung setzt zu ihrem ebenso eifersüchtigen wie besitzergreifenden Freund Hao-Hao (Tuan Chun-hao). Als „Fluch“ beschreibt die Erzählerin Vickys Abhängigkeit, die sie immer wieder zwinge, zu dem gestörten jungen Mann zurückzukehren, der seine Zeit mit Drogen, Videospielen und Technomusik füllt.

Hou Hsiao-Hsien imprägniert seinen hypnotischen Film von Anfang an mit einer Atmosphäre existentieller Verlorenheit. Seine hedonistischen Figuren leben nach dem Lustprinzip, lassen sich treiben und haben keine Perspektive für ihr Leben, das immer wieder feststeckt in Frust, Gleichgültigkeit und Langeweile. Eine gestörte Kommunikation, latente Unwilligkeit und immer wieder ausbrechende Aggressionen kennzeichnen das Verhältnis der trübsinnigen, kettenrauchenden Schönen und des eifersüchtigen Kontrollfreaks. Die räumliche Enge ihrer kleinen Wohnung in Taipeh, wohin Vicky bereits im Jugendalter aus Keelung aufgebrochen ist, spitzt die klaustrophobische, tendenziell konfrontative Gefühlslage noch zu. Dabei konzentriert sich Hou Hsiao-Hsien auf die Gesichter und Körper im Vordergrund und lässt die Hintergründe unscharf und diffus erscheinen. Seine szenische Regie dehnt dabei in langen Einstellungen, die durch behutsame Schwenks dynamisiert werden, die Zeit, sodass alle Bewegungen mit ihren Leidenschaften letztlich nur einen traurigen Stillstand markieren.

Dabei sind die Bilder der einzelnen Episoden der retrospektiven Off-Erzählung nachgelagert, ohne deren Vorgaben genau oder vollständig zu erfüllen. Im Kontrast zur Beziehungsgefangenschaft beschwört Hou Hsiao-Hsien die Entgrenzung im Rausch, im Tanz und in der Musik. „Millennium Mambo“ ist insofern ein Film der Nacht und der dunklen Farbigkeit, die sich in Rot- und Blautönen gegen das Licht stemmt, als gelte es, das Vergehen der Zeit aufzuhalten und die Vergänglichkeit für lange, neonfunkelnde Augenblicke zu suspendieren. Der taiwanesische Meisterregisseur übersetzt dieses Lebensgefühl in die visuell herausragend komponierte Spannung dialektischer Bilder zwischen Enge und Aufbruch. „Wir kommen aus unterschiedlichen Welten. Wie sollen wir uns da jemals verstehen?“, sagt Hao-Hao wiederholt zu Vicky. Es ist schließlich der sanfte Gangster Jack (Jack Kao), der sich um die abstürzende Vicky kümmert und mit seiner Zuwendung trotz aller Unwägbarkeiten hilft, ihr Leben vielleicht doch noch „in Ordnung zu bringen“.

Sieben Winter in Teheran

(D/FR 2023, Regie: Steffi Niderzoll)

In der Todeszelle
von Jürgen Kiontke

„Jin, Jiyan, Azadî“ – Frau, Leben, Freiheit – lautet ein kurdischer Slogan, der von der iranischen Protestbewegung übernommen wurde. Wenn Frauen nicht frei sind, ist es niemand. Wie eng die …

„Jin, Jiyan, Azadî“ – Frau, Leben, Freiheit – lautet ein kurdischer Slogan, der von der iranischen Protestbewegung übernommen wurde. Wenn Frauen nicht frei sind, ist es niemand. Wie eng die Begriffe miteinander verwoben sind, dafür steht auch der Fall der Studentin Reyhaneh Jabbari: Im Jahr 2007 hatte sie in Notwehr einen Mann getötet, der sie vergewaltigen wollte. Ein Gericht verurteilte sie daraufhin zur Hinrichtung am Galgen. Die Familie des Toten hätte sie verschonen können, aber entschied nach iranischem Recht, dass das Todesurteil an ihr vollstreckt werden soll.

Sieben Jahre saß die junge Frau in der Todeszelle eines Teheraner Gefängnisses. Ihre Familie kämpfte um ihr Leben, bis sie selbst unter Druck der Behörden geriet. Die Mutter Shole Pakravan emigrierte nach Deutschland, ihre beiden anderen Töchter ebenfalls, dem Vater Fereydoon Jabbari wird bis heute die Ausreise verweigert.

Trotz weltweiter Kampagnen, in deren Verlauf sich unter anderem die Vereinten Nationen für Reyhaneh Jabbari einsetzten und 200.000 Menschen eine entsprechende Petition zur Aufhebung des Todesurteils unterzeichneten, wurde sie hingerichtet. Dabei wies der Prozess einige Unregelmäßigkeiten auf: Verweigerung eines Rechtsbeistandes, Unterschlagung von Beweismaterial, Auswechslung des Richters.

Nun rollt Regisseurin Steffi Niederzoll den Fall noch einmal auf. In ihrem hochaktuellen Dokumentarfilmdebüt „Sieben Winter in Teheran“ berichtet sie anhand von unveröffentlichtem Filmmaterial aus dem Kreise der Familie wie auch einer Filmemachergruppe aus Teheran vom Schicksal Jabbaris. Aus ihren Briefen wird rezitiert, Mitgefangene kommen zu Wort. Ein wichtiger Film – und nichts für schwache Nerven, da mit zum Teil mit drastischen Szenen: etwa wenn die Mutter von ihrer Tochter am Telefon erfährt, dass sie nun zur Hinrichtung abtransportiert wird.

Im Interview mit Pakravan, die seit Jahren als prominente Kämpferin gegen die Todesstrafe agiert, werden Parallelen zwischen dem Gerichtsverfahren damals und den vielen gegenwärtigen Prozessen im Iran gezogen. Hunderte Menschen, die an den Protesten gegen die iranische Regierung im Zuge der Tötung von Jina Mahsa Amini teilnahmen – einer jungen Frau, die im letzten Jahr zunächst wegen Verstoß gegen das Hijab-Gesetz festgenommen wurde und dann auf einer Polizeistation zu Tode kam –, wurden ebenfalls mit der Höchststrafe belegt und exekutiert.

Diese Kritik erschien zuerst am 14.09.2023 auf: links-bewegt.de

Oskar Fischinger – Musik für die Augen

(D 2023, Regie: Harald Pulch)

Tönende Ornamente, tanzende Formen
von Wolfgang Nierlin

Lange bevor in den Werbeclips von Lucky Strike smarte Glimmstängel kleine, hintersinnige Sketche erzählten, ließ der Filmpionier Oskar Fischinger (1900–1967) bereits in den 1930er Jahren die Zigaretten tanzen. In seinem …

Lange bevor in den Werbeclips von Lucky Strike smarte Glimmstängel kleine, hintersinnige Sketche erzählten, ließ der Filmpionier Oskar Fischinger (1900–1967) bereits in den 1930er Jahren die Zigaretten tanzen. In seinem sehr beliebten „Zigarettenfilm“ „Muratti greift ein“, einem Reklametrailer für die gleichnamige Firma, choreographiert „der Zauberer der Friedrichstraße“ zur Musik von Josef Bayers „Die Puppenfee“ ein Ballett aus animierten Kippen. Die Verbindung von Rhythmus und Film, vor allem mit, aber auch ohne Musik, beschäftigen den bedeutenden Vertreter des absoluten Films aber bereits seit seinen künstlerischen Anfängen in den zwanziger Jahren. In diversen, ungemein einfallsreichen und fantasievollen „Studien“ werden aus einfachen Strichen die Flügelschläge von Vögeln oder Wellen des Meeres, geometrische Figuren reiben sich aneinander oder gehen Verbindungen ein, und runde, kreisende Formen verschmelzen miteinander. Diese oft verspielten Bewegungen synchronisiert der erfinderische Avantgardist und Vorläufer der Musikvideos zu meist klassischer Musik.

In ihrem sehr informativen und aufschlussreichen Film „Oskar Fischinger – Musik für die Augen“ dokumentieren Harald Pulch und Ralf Ott nun den künstlerischen Werdegang und Lebensweg des Experimentalfilmers, der zeitlebens um Unabhängigkeit bemüht war. Sie tun das, indem sie sehr konzentriert und mit verdichteten Mitteln der weitgehend chronologischen Erzählung von Fischingers jüngerer Ehefrau und Mitarbeiterin Elfriede Fischinger (1910–1999) folgen, die Pulch für ein langes Interview im Jahre 1993 im kalifornischen Long Beach besuchte. Die hochbetagte Frau erweist sich als höchst vitale, auskunftsfreudige und dabei völlig uneitle Zeitzeugin, die ihre klaren Erinnerungen zu brillanten Erzählungen über die Entstehungsbedingungen von Fischingers Kunst formt. Dabei gewährt sie nicht nur Einblicke in dessen Trickfilmwerkstatt, sondern erzählt auch, wie Fischingers Ideen oft von alltäglichen Begebenheiten inspiriert wurden. Veranschaulicht und ergänzt werden diese Werkstattberichte wiederum durch die entsprechenden Animationsfilme.

Daneben thematisieren die Filmemacher in einzelnen Kapiteln anhand von Fischingers bewegtem Lebensweg dessen fortwährendes Ringen um künstlerische Freiheit, das von Geldsorgen und Existenznöten begleitet ist. Angeregt von Walther Ruttmanns „Lichtspielen“ kann Fischinger am Beginn seiner Karriere nach einer Zwischenstation in München beim Animationsfilmer Louis Seel (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Maler), wo er an den satirischen „Bilderbogen“-Filmen mitarbeitet, ab 1927 zunächst in Berlin Fuß fassen. Hier realisiert er unter anderem Trickfilmsequenzen für Fritz Langs „Frau im Mond“ und Victor Jansens „Das Blaue vom Himmel“. Außerdem experimentiert er für den Reklamefilm „Kreise“ (1933) und für die bei der Biennale in Venedig prämierte „Komposition in Blau“ (1934/35) mit Farbe. Doch die zunehmend kunstfeindliche Stimmung in Nazi-Deutschland veranlassen ihn, zusätzlich angelockt durch ein Angebot der Paramount Pictures, 1936 zusammen mit seiner Frau in die USA zu emigrieren.

Sein Selbstverständnis als „Katalyst“ und „Idealist“ führt allerdings immer wieder zu Konflikten mit seinen Arbeitgebern und zu Kündigungen. Über seine ernüchternden Erfahrungen bei Disney, wo er eine Zeit lang am Film „Fantasia“ mitarbeitet und einem Knebelvertrag unterworfen ist, wird er später sagen: „Kein wirkliches Kunstwerk kann mit der Arbeitsweise entstehen, die im Disney-Studio üblich ist.“ Und so zieht sich Fischinger schließlich trotz eines Guggenheim-Stipendiums „vom Bewegtbild zum Standbild“ – so einer der gliedernden Zwischentitel – zurück und malt seine „tönenden Ornamente“ in Öl.

Music for Black Pigeons

(DK 2022, Regie: Jørgen Leth, Andreas Koefoed)

Suche nach einem inneren Gleichgewicht
von Wolfgang Nierlin

Ruhig, meditativ und sehr introvertiert klingen die Kompositionen des dänischen Jazzgitarristen Jakob Bro. Es ist eine Art balladesker Seelenmusik voller Stimmungen und Atmosphäre, die einen „spirituellen Flow“ erzeugt und die …

Ruhig, meditativ und sehr introvertiert klingen die Kompositionen des dänischen Jazzgitarristen Jakob Bro. Es ist eine Art balladesker Seelenmusik voller Stimmungen und Atmosphäre, die einen „spirituellen Flow“ erzeugt und die Bro in wechselnden Besetzungen realisiert. Dabei haben ihn die Dokumentarfilmer Jørgen Leth und Andreas Koefoed über einen Zeitraum von 14 Jahren begleitet. Bei Aufnahmesessions in New York, Kopenhagen und Lugano gewähren sie mit ihrem Film „Music for Black Pigeons“ nicht nur Einblicke in die Entstehungsprozesse von Jakob Bros Musik und das energetische Zusammenspiel der freundschaftlich verbundenen Musiker, sondern auch in deren Leben und Denken. Lose strukturiert, aber formal und inhaltlich klar ausgerichtet, entstehen dabei mehrere spannende Einzelporträts. Der hochbetagte, ziemlich humorvolle Altsaxophonist Lee Konitz, der zu Beginn sagt, für ihn sei alles Inspiration, erzählt einmal, wie sich zu Bros Musik schwarze Tauben vor dem Fenster seiner New Yorker Wohnung versammelt haben.

Diese Geschichte hat wiederum den poetischen Titel des Films inspiriert, der nicht nur dem an Covid verstorbenen Lee Konitz gewidmet ist, sondern ebenso im Gedenken an Paul Motian, Tomasz Stańko und Jon Christensen entstand. Die Zerbrechlichkeit des Lebens, aber auch die Aufhebung der Gegensätze, Spannungen und Unterschiede in der Musik und vor allem beim improvisierenden Musizieren sind dann auch die Themen sowohl der Stücke als auch einiger Statements. So beschreibt etwa der Saxophonist Mark Turner sein Spiel als „Suche nach einem Zuhause“ und nach einer Mitte, wobei diese Suchbewegung kreisförmig von außen nach innen verlaufe. Während es für den dänischen Trompeter Palle Mikkelborg darum geht, beim Musikmachen den Lebenssinn zu erfahren, sucht der Kontrabassist Thomas Morgan nach einer Balance, einem inneren Gleichgewicht.

Der scheue, in New York ansässige Musiker ist es dann auch, der am längsten nach Worten ringt, um seine Gefühle beim Musikmachen zu beschreiben und das sprachlich nicht Fassbare der Musik zu verbalisieren. Die Stille wird in diesen Passagen des Films ungemein spannend und bedeutsam. ECM-Produzent Manfred Eicher wird später sagen, dass Pausen in der Musik nicht nur verrieten, „wo man hin will“, sondern auch, woher man komme. Und für den Schlagzeuger Andrew Cyrille ist Musik sowieso Kommunikation ohne Worte, mit der man auch, so Saxophonist Joe Lovano sowie die japanische Perkussionistin Midori Takada mit den Geistern der Verstorbenen in Verbindung trete. Dass bei solch transzendenter musikalischer Verständigung weder eingeübte Muster noch Perfektion, sondern eher das Unbestimmte von Stimmungen wichtig ist, bekräftigen sowohl Morgan als auch der feinfühlige Gitarrist Bill Frisell. Und so haben sich auch die dänischen Filmemacher bei ihrer Dokumentation nicht von vorgefassten Plänen oder der Suche nach „konkreten Antworten“ leiten lassen, sondern von dem, was im Laufe eines Prozesses passiert und schließlich durch die Summe der Teile zu Zusammenhängen führt.

The Equalizer 3 – The Final Chapter

(USA 2023, Regie: Antoine Fuqua)

Do the right thing, Equalizer: Lass es sein
von Drehli Robnik

Wer sonst zieht so schön die Ober- über die Unterlippe, wenn er ein zu belehrendes Gegenüber mustert? Wer sonst kratzt sich so graziös am meist glatzigen Haupt, um dadurch einen …

Wer sonst zieht so schön die Ober- über die Unterlippe, wenn er ein zu belehrendes Gegenüber mustert? Wer sonst kratzt sich so graziös am meist glatzigen Haupt, um dadurch einen Anflug von Zweifel auszudrücken? Zweifel nämlich an der eigenen Rolle als einer, der sieht, der streng erzieht, mitunter auch straft.

Die genannten Gesichtsgesten zählen zu Denzel Washingtons durchgängig bewährten Schauspiel-Manierismen, und die fusioniert er mit den Marotten des Rächers, den er im „Equalizer“-Franchise darstellt; in „Equalizer 3“ zum nunmehr (womöglich) letzten Mal. Da wird wieder die Serviette zum Teeritual gefaltet; da werden allsehenden Auges sämtliche Details einer Situation erfasst, die kurz erstarrt, ehe sie sich in einem Gewaltausbruch auflöst; da wird die Stoppuhr gestellt, um diesen seitens des Ex-CIA-Agenten souverän absolvierten Brutal-Exzess zu timen.

Mit Stammregisseur Antoine Fuqua – einem vielfilmenden Action-Routinier und bekennendem Fan von Akira Kurosawas Kinoklassikern über die zum Gesellschaftsbetrieb quer stehende Ethik der Samurais (siehe auch seine Version von „The Magnificent Seven“) – legt Washington seit 2014 reichlich gravitas in eine Pseudophilosophie vom Ringen ums Gute. Das Gute wäre ja, philosophisch wie politisch, die gesellschaftliche Gleichheit, die equality. Die „Equalizer“-Erfolgsthriller (vage zurückgehend auf eine Mid-Eighties-TV-Serie, deren Protagonist weiß und im Erscheinungsbild noch pensi-mäßiger war) verstehen das Gute jedoch nur aus der Warte einer herrschaftlichen Strafmoral, hinter deren Engagement für „ausgleichende Gerechtigkeit“, für equalizing, einiges an Ressentiment gegenüber der Niedrigkeit der Menschen und ihrer Alltage steckt. Also feiern die Filme Selbstjustiz, kreative Messernutzung, auch mal Folter, wenn’s denn nützt – und tun das im Pathos patriarchaler Autorität, die wohlmeinend und multiethnisch offen auftritt, die aber vor allem Jüngere ständig auf ihre subalternen Plätze verweist. Die halbwegs intakte Zielgruppenbindung älterer Kinopublika an „Equalizer“-Filme müssen wir uns (anders als bei der „John Wick“-Serie) zum Teil wohl so vorstellen wie die von Leuten, die ab Mitte der 1960er Jahre in knorrige John Wayne-Filme gegangen sind. Zum Teil – weil Wayne eine Ikone des White America war und nie Malcolm X verkörpert hat.

Dies ist ein Abschiedsfilm (oder eben doch nicht, weil in den USA überraschend erfolgreich – und de-aging könnte das Übrige bewirken). „Equalizer 3“ will viel, wackelt im Stil, ist dadurch skurril und gerade insofern nicht ganz ohne Reiz. In einem camorrageplagten Amalfiküsten-Dorf, in einem Tourismus-Klischee-Panorama, setzt Washington sich endgültig zur Ruhe und schnell noch eine lokale Jungmänner-Gang matt. Dass er das mit 70 Lenzen schafft – nämlich wirklich, wie auch auf dem Filmplakat, im Sitzen bzw. nach einer fast tödlichen Verletzung am Stock gehend –, weiters die Bruchstücke eines CIA-Krimis (mit Dakota Fanning in der hier weniger als sonst forcierten Rolle des jungen Menschen, der mit equalizender Lebensweisheit überhäuft wird) sowie die Anleihen an katholische Folklore, samt einer Doppelprozession (einmal mit Marienstatue, einmal parallel dazu mit krepierendem Mafiaboss), all das geht, hinkt, durch; irgendwie. Dass aber ein Schwarzer Neuankömmling im Land der Regierung Meloni wieder Law and Order etabliert, dies zumal im Kampf gegen Gangster, deren Büro eine Mussolini-Büste ziert, und dass er dabei als Teetrinker zum Cappuccino-Genießer und als loyaler US-Bürger zum Fan von italienischem Regionalfußball bekehrt wird, sodass Denzel inmitten von Tifosi über den Kirchplatz tänzelt – das ist höchst selbstwidersprüchlich und insofern dann doch etwas zu viel vom erzwungenen Guten.

Diese Besprechung saß zuerst in Kurzfassung in der Wiener Stadtzeitschrift Falter.

Le Mali 70

(D 2022, Regie: Markus CM Schmidt)

Musik als Mittel der Verständigung
von Wolfgang Nierlin

„Es gab eine Zeit, als malische Big Bands den Soundtrack zur neugewonnenen Unabhängigkeit lieferten“, heißt es zu Beginn von Markus CM Schmidts Musikdokumentation „Le Mali 70“. Das war vor allem …

„Es gab eine Zeit, als malische Big Bands den Soundtrack zur neugewonnenen Unabhängigkeit lieferten“, heißt es zu Beginn von Markus CM Schmidts Musikdokumentation „Le Mali 70“. Das war vor allem in den 1960er Jahren, als sich in dem westafrikanischen Land lokale Musiktraditionen mit kubanischen Rhythmen, Lieder der Dogon und Tuareg mit funkigem Bläsersound der Karibikinsel verbanden. Afrojazz oder Afrobeat nannte sich diese rhythmisch vertrackte, energiegeladene Fusion-Musik, die neben einem virtuosen Gesang auch Raum für instrumentale Improvisationen ließ. Mystère Jazz de Tombouctou, Kanaga de Mopti, Super Bitons de Ségou oder auch Rail Band Bamako nannten sich diese Bands oft mit Bezug auf ihren Heimatort. Die Platten, die damals entstanden, sind heute eine maßgebliche Inspirationsquelle für das Berliner Musikerkollektiv Omniversal Earkestra, das sich seit zehn Jahren diesem speziellen afrokubanischen Sound verschrieben hat.

Um ihre musikalische Leidenschaft zu vertiefen und etwas über die Hintergründe des Afrojazz zu erfahren, begeben sich die Musiker der deutschen Big Band im Januar 2010 auf eine Reise durch Mali. Ihre Route ist dabei nicht nur Spurensuche und musikalischer Trip, sondern sie ermöglicht vor allem die Begegnung und den Austausch mit den damaligen Protagonisten der Szene. Zu ihnen gehören etwa Jimmy Soubeiga, Mouneissa Tandina, Sory Bamba, Cheik Tidiane Seck und Salif Keïta. Mit ihnen proben die Musiker des Omniversal Earkestra, wobei immer wieder über Rhythmen und Bläsereinsätze gefachsimpelt wird. „Ihr müsst tanzen. Nicht tanzen ist nicht gut“, sagt einer der malischen Meister. Es kommt zu gemeinsamen Auftritten und schließlich zu einer Plattenaufnahme in Salif Keïtas Moffon-Studio in Bamako. Daneben erkunden die Berliner Musiker die damaligen Schauplätze in ihrem heutigen Zustand und erfahren dabei etwas über die Ursprünge der Liedtexte und ihre Wurzeln im Alltag der Menschen. Nur eine Fahrt nach Timbuktu bleibt aufgrund der angespannten Sicherheitslage tabu.

Man erfährt nicht viel über die aktuelle und vergangene Politik des Landes. Auch in Bezug auf die Ursprünge und Besonderheiten des Afrojazz bleibt vieles unterbelichtet oder nur angedeutet. Stattdessen konzentriert sich Markus CM Schmidt, von wenigem Archivmaterial unterbrochen, mit seiner beobachtenden Kamera und unter Verzicht auf einen Kommentar auf die Dynamik der gemeinsamen Proben und Auftritte. Insofern gibt es nicht nur viel zu hören, sondern es vermittelt sich in diesen Passagen auch ein sehr lebendiger Prozess des musikalischen Austauschs. „Glaub nicht, du kennst jemand, wenn du nicht mit ihm zusammengearbeitet hast“, heißt es in einem der Songs. In diesem Sinne und auf der mit vielfältigen Impressionen und Begegnungen aufwartenden Fahrt durch das Land wird die Musik schließlich zum grenzüberschreitenden Mittel des kulturellen Austauschs und der Verständigung.

Auf der Adamant

(FR/JP 2022, Regie: Nicolas Philibert)

Oase der Menschlichkeit
von Wolfgang Nierlin

Der Auftakt des Films ist wie ein fulminantes Statement: Leidenschaftlich und aus Leibeskräften singt ein Mann mittleren Alters den Song „La bombe humaine“ (Die menschliche Bombe) der französischen Rockband Téléphone: …

Der Auftakt des Films ist wie ein fulminantes Statement: Leidenschaftlich und aus Leibeskräften singt ein Mann mittleren Alters den Song „La bombe humaine“ (Die menschliche Bombe) der französischen Rockband Téléphone: „Ich bin ein Elektron im Protonenhagel.“ Der psychisch kranke François Gozlan, Sohn des Regisseurs Gérard Gozlan, gehört zu einer Gruppe von Patienten, die mehr oder weniger regelmäßig das Klinikschiff „Adamant“ aufsuchen, eine psychiatrische Tageseinrichtung am rechten Seine-Ufer in Paris. Während auf den Straßen und Brücken drumherum der Alltagsverkehr rollt und Frachtschiffe mit schwerer Last vorbeiziehen, wirkt das anheimelnde, phantasievoll gestaltete Holzschiff wie eine geschützte, sanft schaukelnde Oase der Ruhe. Seit Juli 2010 in Betrieb, wurde die psychiatrische Anlaufstelle, die zu einem Kliniknetzwerk gehört, einst gemeinschaftlich von Architekten, Psychologen und Patienten konzipiert. Unabhängig von Alter, Geschlecht und Herkunft können Betroffene hier zusammenkommen.

Der renommierte französische Dokumentarfilmer Nicolas Philibert, der hierzulande mit seinem Film „Sein und Haben“ (2002) bekannt geworden ist, hat nun in seinem preisgekrönten neuen Film „Auf der Adamant“ (Goldener Bär der Berlinale) dieser ungewöhnlichen Einrichtung ein aufschlussreiches Porträt gewidmet. Ohne Kommentar beobachtet er die Treffen in den diversen Workshops, die hier überwiegend künstlerisch ausgerichtet sind. So gibt es beispielsweise Mal- und Fotokurse, einen Filmclub namens „Travelling“, der sein 10-jähriges Jubiläum vorbereitet, und eine Bibliothek mit Schreibwerkstatt. Es wird musiziert, gesungen und getanzt, genäht und gekocht. Der Film dokumentiert aber auch Gesprächssituationen und Selbstauskünfte der Klienten, ohne jedoch ihre jeweiligen Krankheitsbilder zu erläutern oder gar zu „problematisieren“. Vielmehr vermittelt Philibert eine Gleichrangigkeit der Beziehungen zwischen Teilnehmern und Therapeuten und integriert sich und sein kleines Team auch selbst in dieses demokratische Gefüge.

Im geschützten Raum des Bootes sprechen „labile Menschen“ über ihre Ängste, über „negative Schwingungen“ und Stimmen in ihrem Kopf, über Isolation und Einsamkeit. „Ich habe meine Freiheit verloren“, sagt eine Frau. „Geisteskranke haben keine Familie“, meint ein anderer Besucher. Es geht um Assoziationen, die von Bildern und Menschen ausgelöst werden, und um notwendige Medikamente, die dabei helfen, nicht durchzudrehen. Marc Nauciel singt auf berührende Weise „Personne n’est parfait“ (Niemand ist perfekt); und die Vielfachbegabung Frédéric Brieur, der malt, schreibt und Musik macht, wähnt in sich Inkarnationen tragischer Künstlergestalten wie van Gogh und Jim Morrison. Für sein Porträt eines ebenso widerständigen wie „utopischen Orts der Menschlichkeit“ lässt sich Nicolas Philibert von Zufällen, guten Gelegenheiten und überraschenden Details leiten. So entsteht unvoreingenommen eine Nähe zu Menschen, ihrer Würde und zu ihren kreativen Potentialen, die Selbstwirksamkeit befördern und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Darin spiegelt sich zugleich – und nicht zuletzt als Korrektiv – ganz allgemein unser Menschsein.

Talk to Me

(AU 2022, Regie: Danny Philippou, Michael Philippou)

Sommer-Challenge: Handerlhalt-Horror
von Drehli Robnik

Zum heutigen Teen-Horror-Repertoire gehören Filme, in denen junge Leute ein Objekt finden, das ihnen alle möglichen Wünsche erfüllt: Sie müssen sich dafür dem jeweiligen Dingsbums – oft ist es eine …

Zum heutigen Teen-Horror-Repertoire gehören Filme, in denen junge Leute ein Objekt finden, das ihnen alle möglichen Wünsche erfüllt: Sie müssen sich dafür dem jeweiligen Dingsbums – oft ist es eine Art Medium: Polaroid-Kamera, Zauberkasterl, Ouija-Board – allerdings rückhaltlos rituell hingeben. Darauf folgt dann erwartungsgemäß die Übererfüllung der Wünsche mit schaurigen Kollateralschäden und jeder Menge Katzenjammer.

So ist es auch im australischen Melancholiegrusler „Talk to Me“: Eine weiße Hand – ob Gips-Zierrat (so sieht sie aus) oder einbalsamierter Leichenteil (so heißt es), ist egal – wird einer multiethnischen jungen Clique zur Partydroge. Wer nämlich diese Hand für einige Sekunden hält, sieht ramponierte Tote vor sich, die auf Zuruf eine Minute lang von den zur Mutprobe Angetretenen Besitz ergreifen. Das ist trippig für die Jeweiligen – und eine Mordsgaudi für jene rundum, die sie dabei mit ihren Telefonkameras filmen und ohne erkennbaren Abnutzungseffekt schadenfreudig kichern. Eh klar sind manche von ihnen irgendwann sehr traurig, weil Kontakt mit toter Mutter und viel unaufgearbeiteter intergenerationaler Schmerz, na so was!

Der Habitus von High School- oder College-Anfangs-Kids ist in anderen Filmen nur ein Hintergrund für bizarre Todesserien – hier rückt er nun (for better or for worse) in den Vordergrund: Ein prägnant als schizophren herausgearbeitetes Wechselspiel zwischen Apathie (Herumhängen am Handy) und boshafter Euphorie (Herumfilmen mit Handy), das in eine etwas ausgestellte Verletztheit als ostentativ authentische Existenzweise mündet. Im Misch-Diskurs zwischen Kritik und PR wird „Talk to Me“ dafür – und für das Auftauchen im Dialog von Jargonwörtern, an denen Leute wie ich erkennen (sollen), dass hier echte Jugendliche so reden wie echte Jugendliche – als irgendwie echt gelobt. Wird schon so sein. Jedenfalls treiben nicht Kiffen, Sex oder Nerd-Wissen (wie einst in „Halloween“ oder „Scream“), sondern Verlust und Trauma hier zarte Seelen und Körper um. Sie halten Handys und sehen sich; sie halten die Hand, sehen Tote und halten es nicht mehr aus. Don’t Fear the Reaper.

Das ist gut gespielt (vor allem von Sophie Wilde in der Hauptrolle) und eh gepflegt inszeniert, von dem australischen Online-Content-Providing-Scherzkeks-Duo Danny & Michael Philippou, die das Machen eines Horrorfilms eingestandenermaßen als etwas sehen, das einfach getan gehört, sei’s als Karriere-Move oder als eine Challenge, die zum Gaudium der Peergroup absolviert sein will, oder wo ist der Unterschied… Viel musst du ja eh nicht tun, der Film ist kurz, der Cast ansehnlich, die schöne lange Eröffnungsszene könnte aus „It Follows“ stammen, das Grinse-Sujet auf dem Plakat aus „Smile“. (Siehst du es auch so?) Außerdem trägt man heuer A24 und vulnerability, und was herauskommt, ist hohl (wie die Hand), aber hip.

Diese Besprechung erschien zuerst in handschriftlicher Fassung im Rahmen einer karriereboostenden Filmkritik-Challenge und dann in Kurzfassung in der Wiener Stadtzeitschrift Falter.

Past Lives

(FR/KR 2023, Regie: Celine Song)

Zwischen Zufall und Notwendigkeit
von Wolfgang Nierlin

Die 12-jährige Na Young ist ein kluges und ehrgeiziges Mädchen. Auf dem gemeinsamen Heimweg mit ihrem gleichaltrigen Schulfreund Hae Sung hat sie Tränen in den Augen, weil in der letzten …

Die 12-jährige Na Young ist ein kluges und ehrgeiziges Mädchen. Auf dem gemeinsamen Heimweg mit ihrem gleichaltrigen Schulfreund Hae Sung hat sie Tränen in den Augen, weil in der letzten Klassenarbeit ausnahmsweise nicht sie, sondern er die beste Note geschrieben hat. Die scheue, selbstverständliche Freundschaft der beiden Kinder, die nur in wenigen Szenen und tiefen Blicken behauptet wird, bedeutet vor allem dem zurückhaltenden Jungen mehr. Einmal, auf der Heimfahrt vom Spielplatz, halten sie sich geschwisterlich die Hände. Kurz darauf kommt es zu einem stummen, verstockten Abschied, denn die Eltern von Na Young, die beide als Künstler tätig sind, wollen mit ungewisser Perspektive nach Kanada auswandern. Der Grund dafür bleibt unklar. Doch die Mutter erklärt einmal bedeutungsschwanger: „Wenn man etwas zurücklässt, entsteht Platz für Neues.“ Celine Songs Film „Past lives“ („In einem anderen Leben“) handelt auch davon, wie die Vergangenheit die Gegenwart einholt und sich nicht einfach abschütteln lässt.

12 Jahre später befindet sich Na Young tatsächlich in einem neuen Leben: Sie heißt jetzt Nora Moon (Greta Lee), wohnt in New York und gilt als vielversprechende Dramatikerin, weil sie schicke Sätze schreibt. Doch auch über diesen Lebensabschnitt wird kaum etwas erzählt. Stattdessen meldet sich unerwartet Hae Sung (Teo Yoo) aus Südkorea, der angeblich schon länger nach Nora sucht, weil er sie seit der gemeinsamen Kindheit schmerzlich vermisst. Nach seinem Armeedienst hat er Maschinenbau studiert, ist aber offensichtlich Single geblieben. Das erfährt man über eine arg kursorische Internetkommunikation, deren Parallelmontage nur eine oberflächliche Bebilderung bietet und die Gewichte außerdem ungleich verteilt. Dann entscheidet sich Nora gegen ihre Gefühle und bricht den Kontakt abrupt ab. Später wird Hae Sung über ihre berufliche Zielstrebigkeit, der alles Private untergeordnet ist, sagen, sie habe immer alles machen, alles haben wollen.

Der Determinismus und die Zwangsläufigkeit, die daraus sprechen, werden in „Past lives“ kontrastiert von der Idee der schicksalhaften Fügung, bei der Seelenverwandte, die sich aus einem früheren Leben kennen, füreinander bestimmt sind. Die Gegenwart wäre in diesem Sinne also von der Vergangenheit geprägt. Zwar heiratet Nora ihren Schriftstellerkollegen Arthur (John Magaro), den sie in einer Künstlerresidenz von Montauk kennenlernt, doch in einem weiteren Zeitsprung von 12 Jahren wird sie in einem selbstverständlich verregneten New York von ihrem Kindheitsfreund besucht. In langen Gesprächen und noch längeren Blicken zwischen Nora und Hae Sung werden die Möglichkeitsformen eines nicht gelebten Lebens durchdekliniert und die Anteile des Zufalls erwogen. Dabei werden auch die besonderen Bedingungen von Migranten gestreift, die in der neuen Heimat immer auch Fremde geblieben sind und weiterhin in ihrer Muttersprache träumen.

Die südkoreanisch-kanadische Dramatikerin Celine Song erzählt die unausgesprochene, schwelende Liebesgeschichte ihres stimmungsvollen Debütfilms, der von eigenen Erlebnissen inspiriert ist, in einer ausgewogenen Mischung aus Nähe und Distanz. Der Akzent liegt dabei auf langen, behutsam inszenierten Dialogen, in denen das Schweigen und die Blicke beredt sind und die befangenen Gefühle nur mühsam unterdrückt werden können. Bevorzugt vor pittoresken Manhattan-Ansichten inszeniert, scheut die Regisseurin weder bildliche Klischees noch die Statik einer auf der Stelle tretenden, kaum greifbaren und wenig realitätshaltigen Erzählung. So besticht „Past lives“ allenfalls durch die subtile Ausdehnung eines ebenso schmerzlichen wie vergeblichen Gefühls, das ideell unterfüttert wird mit Überlegungen zur Frage, ob das Leben von Zufällen oder Notwendigkeiten bestimmt wird.

Fallende Blätter

(FI 2023, Regie: Aki Kaurismäki)

Einsam in einer kalten Welt
von Wolfgang Nierlin

Auf dem Laufband der Supermarktkasse stapeln sich riesige Fleischmassen. Währenddessen ist Ansa (Alma Pöysti) an den Regalen damit beschäftigt, unter dem stieren Blick eines Security-Mitarbeiters neue Produkte auszuzeichnen und Waren …

Auf dem Laufband der Supermarktkasse stapeln sich riesige Fleischmassen. Währenddessen ist Ansa (Alma Pöysti) an den Regalen damit beschäftigt, unter dem stieren Blick eines Security-Mitarbeiters neue Produkte auszuzeichnen und Waren mit überschrittenem Ablaufdatum zu „entsorgen“. Als sie einmal einem Bedürftigen erlaubt, abgelaufene Lebensmittel mitzunehmen und selbst ein vakuumiertes Brötchen einsteckt, wird sie denunziert, vom Chef zur Rede gestellt und kurzerhand entlassen. „Zeit ist Geld“, hält ihr der Betreiber eines überteuerten Internetcafés entgegen, als sich Ansa dort online auf Stellensuche begibt. Und als sie schließlich ihren neuen Job als Spülkraft in dem von trostlosen Trinkern frequentierten „California Pub“ antritt, macht der zwielichtige Boss keinen Hehl daraus, dass er ihre Arbeitskraft hemmungslos ausbeutet. Für Ansa ist die Spelunke indes nur ein weiterer Zwischenstopp auf dem Weg zum nächsten mehr oder weniger üblen Job.

Auch in seinem neuen illusionslosen Film „Fallende Blätter“ widmet sich Aki Kaurismäki in der für ihn typischen Mischung aus Melancholie, Tristesse und trockenem Humor den Außenseitern und Verlierern am Rande der Gesellschaft. Zu ihnen gehört auch Holappa (Jussi Vatanen), der seine staubige Arbeit auf dem Bau regelmäßig mit Alkohol hinunterspült und deshalb ebenfalls gefeuert wird. Dazu verliert er auch noch sein Bett in einer schäbigen Arbeiterbaracke. Einmal erklärt er seinem Kollegen den Circulus vituosus, in dem er sich befindet: „Ich bin deprimiert, weil ich so viel trinke; und ich trinke so viel, weil ich deprimiert bin.“ Darüber ist er einsam geworden, was ihn aber nicht zu stören scheint. Auch Ansa ist einsam, wenn sie abends allein und freudlos in ihrer kleinen Wohnung sitzt und wieder einmal die Radionachrichten ausstellt, als diese die neuesten Horrormeldungen aus dem Ukrainekrieg senden.

Natürlich lässt der finnische Regisseur auch diesmal seine traurigen Helden nicht ohne Hoffnung und schickt sie auf die wechselseitige Suche nach dem jeweils anderen. In der Logik von Kaurismäkis einmal mehr sehr lakonisch und statisch erzählten Liebesgeschichte, für die es nicht viele Worte braucht, es aber umso mehr sprechende Bilder gibt, bleibt das nicht ohne Rückschläge und absurde Verfehlungen. Die Begegnungen, die zufällig oder geplant dazu führen, finden statt in Cafés, an einer Bushaltestelle oder auch in jenem Filmkunsttheater namens „Ritz“, wo die beiden Jim Jarmuschs Zombie-Satire „The dead don’t die“ sehen. Außerdem wird die Handlung begleitet und kommentiert von einer Reihe finnischer Tangos und wehmütiger Schlager, in denen die Liebessehnsucht und der Schmerz über vergebliche Gefühle besungen werden. Selbstverständlich huldigt Kaurismäki in seiner sehr kunstvoll und genau komponierten Tragikomödie auch diesmal dem Stummfilm – und zwar nicht nur stilistisch. Vor allem aber inszeniert er mit gedeckter Farbigkeit ein ebenso unwahrscheinliches wie romantisches Liebesmärchen gegen die Kälte des Kapitalismus, gegen (patriarchale) Ausbeutung und Krieg.

Forever Young

(FR 2022, Regie: Valeria Bruni Tedeschi)

Theater des Lebens
von Wolfgang Nierlin

Von Anfang an sind die Grenzen zwischen Leben und Theater aufgehoben und die Übergänge fließend. In Valeria Bruni Tedeschis autobiographisch inspiriertem Film „Forever young“ („Les amandiers“) beginnt dieser permanente Austausch, …

Von Anfang an sind die Grenzen zwischen Leben und Theater aufgehoben und die Übergänge fließend. In Valeria Bruni Tedeschis autobiographisch inspiriertem Film „Forever young“ („Les amandiers“) beginnt dieser permanente Austausch, der die Spielenden ebenso körperlich wie seelisch herausfordert und zur Selbstentblößung zwingt, mit einem Vorspiel. Angehende Schauspielschüler/innen bewerben sich in kurzen Spielszenen und sich daran anschließenden Motivationsgesprächen an der Schule des angesehenen Théâtre des Amandiers in Paris-Nanterre, das von Patrice Chereau (Louis Garrel) und Pierre Romans (Micha Lescot) geleitet wird. Exzessiv und exhibitionistisch zeigt sich dabei die junge Stella (Nadia Tereszkiewicz) in der Rolle von Sartres „Ehrbaren Dirne“. Danach im Gespräch sagt die offensichtlich aus wohlhabendem Elternhaus stammende Studentin, sie habe Angst, ihre Jugend zu verschwenden und fürchte sich vor dem Nichts. Eine andere Kandidatin bemerkt, dass für sie die Worte aus der Theaterliteratur als Schutzwall dienen.

Dass das Theater, um wahrhaftig zu sein, die Beglaubigung durch das Leben braucht, ist die von Chéreau mit Autorität und Strenge vertretene ästhetische Position. Die teils übergriffige Ausbeutung der Gefühle geht damit Hand in Hand. Dabei interessiert sich der fordernde Theaterregisseur, der mit den hungrigen Studentinnen und Studenten Anton Tschechows „Platonow“ einstudiert, vor allem für den Prozess der Arbeit. Chéreau will das echte Leben auf die Bühne bringen und bedient sich dafür hemmungslos der Gefühle und Erlebnisse anderer. Gleich zu Beginn heißt es einmal, auf dem Theater müsse man das Leben gegen das Schauspiel eintauschen und dabei verrückt und traurig werden.

Trotzdem ist „Les amandiers“ weder primär ein Portrait Chéreaus noch eine Reflexion über die Doppelbödigkeit des Theaters. Valeria Bruni Tedeschi, die ihren Ensemblefilm in warmen Farben und mit einer vitalen, atmenden Körnigkeit aufgenommen hat, evoziert vielmehr das künstlerische Milieu und den gesellschaftlichen Zeitgeist Mitte der 1980er Jahre sowie die leidenschaftlichen Erlebnisse ihrer junge Protagonisten. Die Liebeskämpfe und Leiden, überschwänglichen Hoffnungen und tiefen Enttäuschungen spiegeln sich dabei besonders in der schwierigen Liebesbeziehung zwischen Stella und dem drogensüchtigen Etienne (Sofiane Bennacer). Während die Proben voranschreiten, in der Gruppe eine panische, nur allzu berechtigte Angst vor Aids grassiert und in den Nachrichten von der Atomreaktor-Katastrophe in Tschernobyl berichtet wird, spitzt sich deren fragiles Verhältnis unheilvoll zu. Doch Valeria Bruni Tedeschi entlässt ihr Alter Ego Stella nicht ohne einen Trost, der direkt aus der Fähigkeit zum Schauspielen kommt.

Motherland

(NO/SE/UA 2023, Regie: Alexander Mihalkovich, Hanna Badziaka)

Das Land der Soldatenmütter
von Jürgen Kiontke

Selbstmord soll ihr Sohn begangen haben, so die offizielle Mitteilung, die Svetlana erhält. Der Junge war zum Wehrdienst eingezogen worden, und den hat er nicht überlebt. „Mein Sohn ist kein …

Selbstmord soll ihr Sohn begangen haben, so die offizielle Mitteilung, die Svetlana erhält. Der Junge war zum Wehrdienst eingezogen worden, und den hat er nicht überlebt. „Mein Sohn ist kein Selbstmörder“, sagt Svetlana. Als sie den Leichnam sehen konnte, habe sie bemerkt, dass der Körper voller Blutergüsse gewesen sei. Svetlana ist sich sicher: Ihr Sohn ist Opfer der „Herrschaft der Großväter“ geworden, eines Systems, in dem ältere Armeeangehörige jüngere quälen – und das manchmal mit tödlichem Ausgang.

„Motherland“ heißt der traurige Dokumentarfilm der belarussischen Regisseure Hanna Badziaka und Alexander Michalkowitsch. Das „Land der Mütter“ interpretieren sie dabei auf denkbar drastische Weise: Sie begleiten Svetlana auf ihrer Reise zu anderen Eltern, die ihr Kind im Dienst der Armee verloren. Gemeinsam schreiben sie Eingaben an das Verteidigungsministerium, wollen Aufklärung, was den Söhnen widerfahren ist.

Ihr zweiter Protagonist ist Nikita, der gerade zum Wehrdienst eingezogen wurde. Auch er erlebt unwürdige Zustände, viele seiner Freunde sind bereits vor dem Dienst geflohen. Mit einer Sache hat der junge Mann, der durchaus hinter seinem Land steht, nicht gerechnet: Als es 2020 zu Protesten gegen den Präsidenten Aleksandr Lukaschenko kommt, weil es zu Unregelmäßigkeiten bei seiner Wiederwahl gekommen sein soll, wird die Armee beauftragt, für Ordnung zu sorgen. Nikita wird schlecht bei dem Gedanken, auf die Demonstranten schießen zu müssen – nicht zuletzt, weil auch Freunde von ihm darunter sein könnten. Neulich waren sie noch zusammen auf einem Rave!

Auch unter den jungen Protestteilnehmern hören sich die Filmemacher um. Sie berichten von Übergriffen durch die Ordnungskräfte, dass Menschen zu Tode gekommen sind, sprechen von Prügel und schlimmen Haftbedingungen. Badziaka und Michalkowitsch halten mit ihrer Kamera voll drauf auf Belarus – das Land ihrer Mütter zeigt sich dabei nicht von der besten Seite.

Diese Kritik erschien zuerst am 12.08.2023 auf: links-bewegt.de

L’amour du monde – Sehnsucht nach der Welt

(FR/PT/CH 2023, Regie: Jenna Hasse)

Kleine Fluchten
von Wolfgang Nierlin

In den Sommerferien beginnt die 14-jährige Margaux (Clarisse Moussa) mit einem Praktikum in einem Kinderheim am Genfersee. Ihre Ankunft ist von Turbulenzen begleitet, denn ein kleines, etwa 7 Jahre altes …

In den Sommerferien beginnt die 14-jährige Margaux (Clarisse Moussa) mit einem Praktikum in einem Kinderheim am Genfersee. Ihre Ankunft ist von Turbulenzen begleitet, denn ein kleines, etwa 7 Jahre altes Mädchens namens Juliette (Esin Demircan) wehrt sich schreiend und mit Händen und Füßen gegen die Erzieher. Die verstörende Szene kontrastiert mit dem stillen und verträumten Wesen der Schülerin, die gerade ihr Schuljahr nicht geschafft hat, gelangweilt wirkt und eigentlich lieber etwas anderes machen würde. Denn ihre Freundinnen posten Bilder aus dem Italien-Urlaub, und Margaux selbst sehnt sich nach der Ferne. Mit einem gefakten Foto sendet sie „Grüße aus dem Paradies“ zurück. Trotzdem entsteht bald eine verhaltene, fast wortlose und zunehmend verschworene Beziehung zwischen der scheuen Teenagerin und der wütenden, hyperaktiven Juliette, die sich vernachlässigt fühlt. Ihre Mutter ist gestorben und der unzuverlässige Vater kümmert sich kaum.

Diese Einsamkeit, durch die Abwesenheit der Eltern verursacht, verbindet die beiden Mädchen. Denn Margaux‘ Eltern scheinen getrennt zu sein, weshalb sie bei ihrem Vater in einem Hotel von Aubonne lebt. Dieser hat allerdings nur Augen für seine Geliebte, sodass Margaux sich selbst überlassen bleibt. Gemeinsam mit der ebenso eigensinnigen wie neugierigen Juliette unternimmt sie Streifzüge entlang des bewaldeten Seeufers. Dabei lernen sie den jungen Fischer Joël (Marc Oosterhoff) kennen, der, weil seine Mutter gestorben ist, von Indonesien in die Romandie zurückgekehrt ist. Zwischen persönlichen Rückzügen und kleinen Fluchten in die Natur bilden die Kinder bald eine temporäre Schicksalsgemeinschaft, die sich den alltäglichen Zumutungen entzieht. Wenn die drei zusammen sind, scheint die Zeit stillzustehen. Dann treiben sie auf dem Rücken ruhig im Wasser oder erfahren beim gemeinsamen Fischen ein unbeschwertes, glückliches Zusammensein, dessen Selbstverständnis kaum Worte braucht.

Die junge Filmemacherin Jenna Hasse hat sich für ihr stimmungsvolles, atmosphärisch dichtes Spielfilmdebüt „L’amour du monde – Sehnsucht nach der Welt“ vom gleichnamigen Romantitel des waadtländischen Schriftstellers Charles Ferdinand Ramuz inspirieren lassen und zitiert eingangs aus dessen 1925 erschienenem Buch: „Wie konnten wir nur so leben und mit so wenig zufrieden sein; wie konnten wir so klein leben, wo doch alles so groß ist und es so viel gibt?“ Einmal schleicht sich Margaux ins Kino Rex, wo G. W. Pabsts Abenteuerfilm „L’Atlantide“ (1932) läuft; ein anderes Mal gestaltet sie mit ihrem Körper ein Schattenspiel. Zwischen einem imaginierten Anderswo und aufkeimender Liebessehnsucht, zwischen Wunsch und Wirklichkeit treiben die jugendlichen Helden in Jenna Hasses ruhig und unspektakulär erzähltem Coming-of-Age-Film durch die Ungewissheiten ihrer noch jungen Leben. Dabei finden sie vorübergehend Halt in den stillen Refugien ihres verschworenen Zusammenseins.

Black Box

(D 2023, Regie: Aslı Özge)

Unsicherheit macht paranoid
von Jürgen Kiontke

In Berlin zu Zeiten der Gentrifizierung: Im Hinterhof eines leicht maroden Mietshauses gehen unheimliche Dinge vor sich. Nicht nur, dass der Haupteigentümer einen Container samt Architekten in den Hinterhof platziert …

In Berlin zu Zeiten der Gentrifizierung: Im Hinterhof eines leicht maroden Mietshauses gehen unheimliche Dinge vor sich. Nicht nur, dass der Haupteigentümer einen Container samt Architekten in den Hinterhof platziert hat, der über das „Bauprojekt“ informiert, nein, nun kommt auch noch die Polizei. Die Straße wird abgesperrt, die Anwohner werden in ihre Wohnungen verwiesen. Einen Grund dafür erfährt man – erst mal und eine ganze Weile danach – nicht. Wer ein dringendes Vorstellungsgespräch hat, guckt heute in die Röhre – so etwas geht doch längst auch am Computer, war bei Corona auch so, rät der Hauptkommissar. Es soll Hinweise auf terroristische Aktivitäten geben. Von wem, das bleibt in diesem Film wie so vieles unklar. Nicht umsonst heißt Aslı Özges Mietshauspsychogramm „Black Box“ – es kommt nichts raus und nichts rein.

Der Reihe nach werden die Bewohner mit ihren Problemen und Sichtweisen vorgestellt. Wenn man das Haus nicht verlassen kann, beschäftigt man sich schon mal mit dem Nachbarn. Warum fährt die da ein Auto, das ihr nicht gehört? Warum hat der Typ oben rechts keinen Namen auf dem Klingelschild stehen? Du bist doch mit mir verheiratet, warum sagst du mir erst jetzt, dass du unsere Kohle an der Börse verzockt hast? Mit der Zeit nehmen die Ängste überhand: Immer noch weiß niemand genaues, weiter geht es auch nicht mit irgendwas und über allem kreist unablässig der Helikopter…

Regisseurin Özge lässt ihren erfahrenen Cast – u. a. Christian Berkel und Anne Ratte Polle – schön paranoid frei drehen. In „Black Box“ reflektieren sie über die Dinge, die die letzten Jahre durchaus an der Tagesordnung waren. Von Seuchenpolitik über Wohnungsverlust bis zu bürgerkriegsähnlicher Kneipenräumung reicht das Spektrum locker. Es dauert nicht lang, dann tendieren die ersten zu radikalen Einschätzungen und Lösungen der Situation. Allen gemein ist: Sie fürchten sich, weil sich ihr Umfeld ungewohnt verändert hat.

Mit der Zunahme von Unsicherheit würden unsere Gesellschaften immer verängstigter, sagt Özge. Dies führt zu einer zunehmenden Polarisierung und zu einem erstarkenden Nationalismus. „Im Gegensatz zu dem, was uns die Regierungen weismachen wollen, kommt die Gefahr in diesem Film, genau wie im wirklichen Leben, vielleicht nicht von außen, sondern von innen, von uns selbst.“ Ob das stimmt, kann jetzt gern im Kino überprüft werden.

Diese Kritik erschien zuerst am 10.08.2023 auf: links-bewegt.de

Barbie

(USA/GB 2023, Regie: Greta Gerwig)

Riss in der Kontinuität
von Wolfgang Nierlin

In der Exposition von Greta Gerwigs Film „Barbie“ dient die Referenz an die berühmte „Dawn of Man“-Sequenz aus Stanley Kubricks Science-Fiction-Klassiker „2001: Odyssee im Weltraum“ für einen ungewöhnlichen Zeit- und …

In der Exposition von Greta Gerwigs Film „Barbie“ dient die Referenz an die berühmte „Dawn of Man“-Sequenz aus Stanley Kubricks Science-Fiction-Klassiker „2001: Odyssee im Weltraum“ für einen ungewöhnlichen Zeit- und Quantensprung: Aus der gewöhnlichen Handpuppe, mit der Mädchen von jeher ihre spätere Mutterrolle einüben, wird der in Rosa strahlende Mädchentraum Barbie, ein verkaufsträchtiges Hochglanzprodukt mit übertriebenen weiblichen Körpermaßen und angeblich feministischer Botschaft; und aus der Steinwüste einer grauen Vorzeit ersteht das bunt glitzernde „Barbieland“ als Repräsentation einer idealen Frauenwelt, deren Perfektion natürlich ebenso utopisch wie verlogen ist. Die Projektionsfläche für die traumhafte Erfüllung des Unerfüllbaren besteht folgerichtig aus kitschigen Farben und runden Formen ohne räumliche Tiefe: ein fast mechanisches Räderwerk aus Plastik, Sperrholz und Pappe, das jedem Ding und jeder Puppe einen idealen Platz zuweist. Wo sich nichts verändert, ist alles ebenso heil wie steril.

Sorglos und selbstbewusst, unabhängig und befreit von der Mutterrolle bewegt sich die unablässig lächelnde Barbie durch dieses paradiesische Universum aus Traumhäusern und sonnigen Stränden in der ewig gleichen Abfolge perfekter Tage. „Frauen können alles sein“, sagt Barbie (Margot Robbie) mit feministischer Stoßrichtung. Doch tatsächlich ist ihre Welt unter der Konsumhülle leer, und Leben wird hier nur simuliert. Dazu passt auch die strikte Geschlechtertrennung, denn Begehren und Sex sind in diesem aseptischen Vakuum nicht vorgesehen. Die Männer sind nurmehr Schmachtende, vollständig abhängig von der Gunst der Angebeteten. „Ich existiere nur in der Wärme deines Blickes“, formuliert einmal Ken (Ryan Gosling) überaus poetisch mit Bezug auf sein aussichtsloses Schicksal gegenüber Barbie. Doch dann kommt es plötzlich zu einem „Riss in der Kontinuität“. Weil Barbie an Tod und Vergänglichkeit denkt, erfährt sie Irritationen, körperliche Veränderungen und Fehlfunktionen. Die Schönheit von „Barbieland“ ist nicht mehr makellos; und um den „Riss in der Membran“ zu reparieren, reisen Barbie und Ken auf der Suche nach der Ursache in die „reale Welt“.

© Warner Bros. Pictures

Greta Gerwig inszeniert diese Passagen, in denen gegensätzliche Welten, Lebensmodelle und Geschlechterrollen aufeinanderprallen, als Cultur-Clash-Komödie mit philosophischen Untertönen, geistreichen Dialogen, augenzwinkernden Zitaten und vielen witzigen Details. Daneben blickt sie selbstironisch auf die eigene Filmproduktion, die in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Spielzeughersteller Mattel entstand, und nimmt einen Teil des Rummels, der darauf folgte, gewissermaßen selbstreferentiell vorweg. Das verleiht dieser vielschichtigen und poppigen Realverfilmung der ideologisch aufgeladenen Spielzeugpuppenwelt, angesiedelt zwischen divergierenden Lebensanschauungen, einem ewigen, vielfach gebrochenen Geschlechterkampf und Anspielungen auf aktuelle Krisen, geradezu postmoderne Züge. Zwar erscheint der teils komplizierte Plot mit seinem konfliktreichen und permanentem Hin und Her etwas überfrachtet, doch Tanz und Gesangseinlagen, die nicht zuletzt an die farbigen Musicals von Jacques Demy erinnern, gleichen das wieder aus.

Während die „stereotypische Barbie“ in der echten Welt schließlich ihre notwendige Verletzlichkeit und das Leben als einen Prozess der Veränderung entdeckt, erwacht in Ken der Macho-Mann, der nach seiner Rückkehr nach „Barbieland“ dieses in ein patriarchalisches Kendom-Land transformiert. Das provoziert wiederum einen Geschlechterkrieg mit Kompromissen und einem ewig ungewissen Ausgang. Dass es dabei nicht nur um weibliche Emanzipation, sondern auch um die Identitätskrise des Mannes geht, stimmt zumindest tröstlich. Dass die Welt der Puppen letztlich nur ein defizitäres Modell für das echte Leben sein kann, mag als selbstverständlich erscheinen. Der schwierige Übertritt ins Unperfekte des Veränderlichen ist es weit weniger.

Jeder schreibt für sich allein

(DE 2023, Regie: Dominik Graf)

Das Virus des Faschismus
von Wolfgang Nierlin

In der Rahmenhandlung des Films untersucht der amerikanische Psychiater Douglas M. Kelley mit Hilfe des Rorschachtests die Psyche von Nazi-Verbrechern. Die von der zerfließenden Tinte und ihren zufälligen Mustern ausgelösten …

In der Rahmenhandlung des Films untersucht der amerikanische Psychiater Douglas M. Kelley mit Hilfe des Rorschachtests die Psyche von Nazi-Verbrechern. Die von der zerfließenden Tinte und ihren zufälligen Mustern ausgelösten Assoziationen sollen die Suche nach dem Bösen im Menschen befördern. Zwischen einer Verhaltensstörung und übertriebener Anpassungsleistung liegt vielleicht nur ein schmaler Grat. Das lässt sich wiederum übertragen auf das Verhalten des Einzelnen in diktatorischen Unrechtssystemen. Wie ein roter Faden zieht sich deshalb – auch auf der formalen Ebene – die Frage der Perspektive durch Dominik Grafs neuen Film „Jeder schreibt für sich allein“, der sich mit dem Verhalten deutscher „Schriftsteller im Nationalsozialismus“ beschäftigt. Als Grundlage und Wegweiser dienen ihm und seinem Co-Regisseur Felix von Boehm dabei Anatol Regniers gleichnamiges Buch. Der 1945 in einer prominenten Künstlerfamilie geborene Schriftsteller und Musiker versucht darin eine Erinnerungsgeschichte zu schreiben, die nicht vom Ende her und aus der Rückschau urteilt, sondern die unmittelbare Wirklichkeit gewissermaßen aus der Innenperspektive der betroffenen Schriftsteller zu erfassen sucht.

Da es sich bei dieser Rekonstruktion nur um Bruchstücke und Splitter einer vergangenen Realität handeln kann, sind dem Projekt von vornherein also Ambivalenzen, Relativitäten und mögliche Widersprüche eingeschrieben. Die Filmemacher konzentrieren sich in der Folge auf schriftliche Zeugnisse aus Büchern und Archiven, die sie mit filmischen Dokumenten, Ortsbegehungen, Spielszenen (aus Filmen) und aktuellen Interviews in Beziehung setzen. In der ersten Hälfte des fast dreistündigen Films stehen vor allem die widersprüchlichen Biographien von Gottfried Benn, Erich Kästner, Jochen Klepper und Hans Fallada im Mittelpunkt, die zwischen Anpassung und Rückzug ins Private changieren und dabei sehr unterschiedliche Facetten annehmen. Verteidigt etwa Benn in seiner Rede „Der neue Staat und die Intellektuellen“ und in seinem Aufsatz „Züchtung“ zunächst noch das „Hervortreten eines neuen biologischen Typs“, gerät er später selbst ins Visier der Machthaber. Während Erich Kästner wiederum mit ironischer Distanz und „depressivem Trotz“ den Weg in die Melancholie und ins unauffällige Mittun wählt, wie der Kunsthistoriker Florian Illies meint, zieht sich der verkrachte Schriftsteller Fallada in ein mecklenburgisches Dorf zurück und schreibt dort Romane, die sehr erfolgreich werden.

Der Begriff der sogenannten „inneren Emigration“ wird anhand dieser Beispiele einer kritischen Prüfung unterzogen. Immer wieder stellt sich dabei die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik, Werk und Autor. Kann man ein guter Schriftsteller und zugleich Nazi sein? Bei den Autoren Hanns Johst und Will Vesper, beides Apologeten des Regimes, scheint der Fall eines „Pakts mit dem Teufel“ (so die Kunstkritikerin Julia Voss mit Blick auf die Rolle Benns) eindeutiger zu liegen. Vespers Sohn Bernward wird später in seinem experimentellen Buch „Die Reise“ dem „Virus des Faschismus“ auf ganz eigene Weise nachspüren. „Wie sicher kann ein Mensch sich seiner selbst sein?“ Dieser von der Publizistin Carola Stern geprägte Satz zieht sich als Mahnung vor vorschnellen Urteilen durch diesen ebenso komplexen wie differenzierten Film.

Passages

(FR/DE 2023, Regie: Ira Sachs)

Verwirrende Liebesunordnung
von Wolfgang Nierlin

Zwischen Fiktion und Spiel im Spiel geht Tomas (Franz Rogowski) ziemlich nervös und aufgeregt hin und her, während Kameraschwenks seinen hektischen Bewegungen folgen. Der junge Regisseur, der aus Deutschland stammt …

Zwischen Fiktion und Spiel im Spiel geht Tomas (Franz Rogowski) ziemlich nervös und aufgeregt hin und her, während Kameraschwenks seinen hektischen Bewegungen folgen. Der junge Regisseur, der aus Deutschland stammt (und vielleicht deshalb wahlweise Fahrrad oder einen BMW fährt), leitet Dreharbeiten in historischem Dekor und ist unzufrieden mit dem Spiel seiner Darsteller. Ständig muss er die Aufnahmen unterbrechen. Dabei wechselt die Sprache ebenso unstet zwischen Englisch und Französisch. Erst später bei der Abschlussparty zum beendeten Filmdreh wird klar, dass Tomas seit mehreren Jahren in Paris lebt und arbeitet. Verheiratet ist er mit dem eher ruhigen und zurückhaltenden Grafikdesigner Martin (Ben Whishaw), der einen Gegenpol zum impulsiven, mehr spontanen Filmregisseur bildet. Als Tomas beim Tanzen der Grundschullehrerin Agathe (Adèle Exarchopoulos) näherkommt, die gerade ihren Freund verlassen hat, entwickelt sich zwischen den beiden bald eine leidenschaftliche Liebesbeziehung.

„Ich hatte Sex mit einer Frau“, gesteht Tomas am nächsten Morgen seinem Mann und erhofft sich von ihm nicht nur Verständnis für seine neue, aufregende Erfahrung, sondern auch brüderlichen Gefühlsbeistand. Zwar reagiert der verletzte Martin zunächst liebevoll und einfühlsam, doch das gemeinsame Wochenende im Landhaus bestätigt nur die Distanz. Tomas folgt seinen Gefühlen und zieht zu Agathe, die von ihm schwanger ist; und Martin lässt sich auf eine Beziehung mit dem Schriftsteller Amad (Erwan Kepoa Falé) ein, worauf Tomas wiederum mit Eifersucht reagiert. „Ich bin verwirrt“, sagt er, der spontan und fast unschuldig seinen Gefühlen folgt, diese aber nicht in Einklang bringen kann mit der Lebensrealität oder mit seinem vielleicht utopischen Beziehungsexperiment, das er in dieser schmerzhaften Dreiecksgeschichte anstrebt. In seinem ständigen Hin und Her wirkt Tomas wie ein Verlorener, der sich nicht entscheiden kann und ohne Arg andere verletzt, während er sich förmlich abstrampelt.

Vielleicht sieht man ihn in Ira Sachs‘ mittlerweile achtem Film „Passages“, der einen Übergang oder Zwischenzustand beschreibt, deshalb immer wieder unterwegs auf dem Fahrrad zwischen Orten und Menschen. Seine emotionale Instabilität, die eine energiegeladene Vorwärtsbewegung erzeugt und auch an seinem verwegenen Kleidungsstil ablesbar ist, irritiert immer wieder das labile Beziehungsgefüge und führt zu vielleicht unverständlichen Abzweigungen. Der amerikanische Regisseur überführt dieses unstete Begehren in eine elliptische Erzählstruktur mit einer Vorliebe für symmetrische Figurenkonstellationen. Angesiedelt im Künstlermilieu, überrascht sein in warmes Licht getauchter Film durch emotionale Aufrichtigkeit und eine sensibel gestaltete Intimität der Figuren untereinander. Sehr konzentriert, realistisch und genau erzählt Ira Sachs von komplizierten Gefühlen, die unweigerlich zu einer anderen, diverseren Liebesordnung führen. Trotzdem bleibt am Ende des Tages, wie es in dem von Carrie Jacobs-Bond (in einem ganz anderen Zusammenhang) geschriebenen Lied „A perfect day“ heißt, jeder allein mit seinen Gedanken und Erinnerungen zurück.

Im Herzen jung

(FR/BL 2021, Regie: Carine Tardieu)

Liebe gegen Begrenzungen
von Wolfgang Nierlin

Pierre Escande (Melvil Poupaud) kommt aus der nächtlichen Unschärfe eines langen Krankenhausflurs. Der gutaussehende, sympathische Arzt und Onkologe arbeitet in einer Lyoner Klinik und hat gerade Bereitschaftsdienst. In dieser Nacht …

Pierre Escande (Melvil Poupaud) kommt aus der nächtlichen Unschärfe eines langen Krankenhausflurs. Der gutaussehende, sympathische Arzt und Onkologe arbeitet in einer Lyoner Klinik und hat gerade Bereitschaftsdienst. In dieser Nacht kümmert er sich aufmerksam und engagiert um eine todkranke Patientin. Deren beste Freundin ist die Architektin Shauna Loszinsky (Fanny Ardant). Angesichts des Unausweichlichen fühlt sie Angst und Sorge. Pierre versucht, sie zu beruhigen: Noch atmeten sie alle drei die gleiche Luft. Die Hoffnung, so lange es geht, am Leben festzuhalten, verbindet die Figuren und ihre Schicksale. Für einen kurzen Moment werden sie umhüllt von einem warmen, bläulichen Licht, das sich über die Stille der nächtlichen Einsamkeit legt. Pierre und Shauna verlieben sich in dieser Ausnahmesituation ineinander, ohne es zu wissen. Doch erst 15 Jahre später werden sie sich in Irland in einem Haus am Meer wiedersehen.

Was hier beginnt, von anfänglichem Zögern begleitet und von Unsicherheiten und gesellschaftlichen Tabus umstellt, ist die leidenschaftliche Liebesgeschichte zwischen einer 71-jährigen Frau und einem über zwanzig Jahre jüngeren Mann. Waren zu Beginn von Carine Tardieus Film „Im Herzen jung“ („Les jeunes amants“), der auf einer Idee und Script-Vorlage der verstorbenen Regisseurin Sólveig Anspach basiert, isolierende Räume und labyrinthische Gänge dominierend, so öffnet sich nun der Raum und die Dunkelheit weicht einem zögerlichen Licht. Pierre bewegt sich in der Folge zwischen Lyon und Paris, zwischen Gefühl und Verstand, vor allem aber zwischen seiner Familie und einer Geliebten, die ihrem unverhofften Glück nicht traut. Weil Pierre aufrichtig und ehrlich ist, kommt es bald zu einem heftigen Konflikt mit seiner Frau Jeanne (Cécile de France). Doch auch Shauna leidet unter einer Liebe, der keine Zukunft beschieden zu sein scheint.

Carine Tardieus ebenso ökonomisch wie behutsam und genau erzählte Liebesgeschichte besticht durch ausgefeilte Bilder, gute Dialoge und souveränes Schauspiel. Vor allem aber bleibt die differenzierte Darstellung der sich allmählich entfaltenden Konflikte immer nachvollziehbar. Dabei weitet die französische Regisseurin den Blick außerdem auf die Beziehungsnöte von Nebenfiguren, die gewissermaßen einen Resonanzraum für die allgemeine Sehnsucht nach Liebe bilden. Für Carine Tardieu spiegelt sich in diesem Begehren der Wunsch nach Lebendigkeit angesichts der vergehenden Zeit sowie die Notwenigkeit, sich von Begrenzungen zu befreien. Ihre Protagonisten, beide von Verlust und Trauer gezeichnet, müssen deshalb lernen, ihre bis dato unterdrückten Gefühle zu leben, um in einem schmerzhaften Prozess zu sich und zum anderen zu finden.

Die Purpursegel

(FR/IT/DE 2022, Regie: Pietro Marcello)

Gegen die Entzauberung der Welt
von Wolfgang Nierlin

Eine lange Kolonne von Kriegsheimkehrern erinnert an das Ende des 1. Weltkrieges. Müde und stumm gehen die Soldaten durch die weite Landschaft, die herbstlich anmutet und fern in der Zeit, …

Eine lange Kolonne von Kriegsheimkehrern erinnert an das Ende des 1. Weltkrieges. Müde und stumm gehen die Soldaten durch die weite Landschaft, die herbstlich anmutet und fern in der Zeit, was durch eine blasse, neblige Farbigkeit verstärkt wird. Tatsächlich handelt es sich um historische Aufnahmen, die Pietro Marcello hier und an anderen Stellen seines neuen Films „Die Purpursegel“ („L’envol“) nahtlos in die Spielhandlung einfügt. Denn schon wechselt die Szene zu Raphaël (Raphaël Thiéry), der mit schwerem, hinkendem Gang ebenfalls in sein kleines Dorf in der Picardie zurückkehrt, wo die Kinder noch Krieg spielen und die Bevölkerung Mangel leidet. Hier muss der große, schwere Mann mit den groben Gesichtszügen und den kräftigen Händen von der sorgsamen Nachbarin Adeline (Noémie Lvovsky) erfahren, dass seine junge Frau Marie gestorben ist. Deren Tochter Juliette, noch ein Baby, wird von Adeline nun in die Obhut des Vaters übergeben. Dieser sitzt am nächsten Tag auf dem Gräberfeld des Friedhofs zwischen schiefen, schmucklosen Kreuzen und spielt wehmütig Akkordeon.

Dass Maries Erkältungstod eine Vergewaltigung durch den Dorfwirt vorausging, wird in der Folge Raphaëls von unterdrückten Rachegefühlen imprägnierten Außenseiterstatus unter den rauen Dörflern verhärten. Schweigsam und zurückgezogen beginnt der handwerklich und musisch begabte Mann mit Holz zu arbeiten, und zwar zunächst als Angestellter im Schiffsbau, später als selbständiger Kunsthandwerker, der Spielzeug herstellt. Der Kontrast zwischen dem massigen Mann und der feinen Geschicklichkeit seiner Hände bestimmt auch das zärtlich innige Verhältnis zwischen dem Vater und seiner heranwachsenden Tochter. Juliette (Juliette Jouan) entwickelt sich im Lauf der Zeit nämlich zu einer schönen jungen, musikalisch begabten Frau, die Gedichte zu Liedern vertont und sich frei entfalten kann. Marcello betont hier die emanzipatorische und solidarische Kraft einer zusammengewürfelten Ersatzfamilie, zu der neben Adeline noch die Familie des Schmieds gehört. Zusammen bilden sie einen Gegenpol zu den Anfeindungen der Dorfgemeinschaft.

In seiner freien Adaption von Alexander Grins literarischen Vorlage geht es Pietro Marcello erneut um die Darstellung einer nahezu archaischen ländlichen Welt, die Mühen des einfachen Lebens und den Zauber der Natur, während die Vorzeichen des modernen Wandels zugleich vom allmählichen Verschwinden dieser Welt künden. Der körnige, mit dokumentarischen Mitteln gestaltete Realismus seines ebenso beeindruckenden wie bewegenden Films ist selbst Zeugnis eines Beharrungsvermögens wider den Zeitgeist. Aber auch mit der romantischen Figur Juliettes, die von der Liebe und von fernen Ländern träumt und dabei von den Prophezeiungen einer alten Zauberin (Yolande Moreau) bestärkt wird, evoziert Pietro Marcellos poetischer Film eine magische Gegenwelt. Elemente des Märchens und des Musicals sind deshalb ganz selbstverständlich Teil dieser magischen Ordnung, in der Juliette gegen die machtvolle Wiederholung des Schicksals und für ein selbstbestimmtes Liebesglück kämpft.

Insidious: The Red Door

(USA/CA 2023, Regie: Patrick Wilson)

Erinnert euch! Findet euch! Schreckt euch!
von Drehli Robnik

Dieser Kinosommer ist mit Abschieden gepflastert: Indiana Jones tritt ab, Ethan Hunt beginnt seinen Sechsstundenabgang, das DC-Universum wird demnächst rebootet, und ob sich nach dem diesjährigen Eberhoferkrimi noch ein zehnter …

Dieser Kinosommer ist mit Abschieden gepflastert: Indiana Jones tritt ab, Ethan Hunt beginnt seinen Sechsstundenabgang, das DC-Universum wird demnächst rebootet, und ob sich nach dem diesjährigen Eberhoferkrimi noch ein zehnter ausgehen wird, oder ob auch dieses Universum zum Rebooting muss, das weiß nur die Inflation.

Auch das „Insidious“-Horror-Franchise sagt zum Abschied leise Servus. Viele wussten ja vielleicht gar nicht, dass es überhaupt noch da war; ist doch „Insidious: The Red Door“ nun der späte Nachklapp zu den vier Filmen der von 2011 bis 2018 höchst erfolgreichen Spuk-Schocker-Reihe. Zwischenzeitlich hatte die Gruselkinoschmiede Blumhouse in Erwägung gezogen, einen Mashup zweier Zehnerjahre-Horror- nun ja: Universen anzupeilen, nämlich zwischen den „Insidious“- und „Sinister“-Reihen (letzteres war die mit den rituellen Familien-Suiziden auf alten Homemovies) unter dem Titel „Insinister“. (Vielleicht hätten ja noch die Fusionstitel „Insister“, „Sinidious“, „Sinnlous“ oder „Insiderwitzious“ zur Auswahl gestanden. Aber die wirklich durchschlagenden Film-Kernfusionstitel schreibt ohnehin der folgsame Nachvollzug halblustiger Marketing-Ideen durch den Meme-Betrieb, und insofern hätte es ja „Insidenheimer“ heißen müssen, um wirklich bruhahadasglaubstdunicht.) (Oder „Geröllheimer“, wie der alte GenX-Witz sagt.)

Zurück aber zu „Insidious 5“, der – viel einfallsreicher als ein bloßer Nummerzusatz – „Insidious: The Red Door“ titelt. Weil im Film nämlich eine Tür, und die ist… genau. Portal, ganz normal, zwischen den Welten, da musst du durch. Wobei die markenzeichenhaft düstere, in den Schwarztönen und Kamerafahrten so markante Inszenierung von unheimlichen Wohn-Innenräumen in den frühen Beiträgen dieses Franchise nun einem Fokus auf den endlos aufgeblähten Innenraum der mittelständischen Normpsyche gewichen ist, und letztere leidet derzeit rundum medial besonders einprägsam. Der „Insidious“-Nachklapp-Film hält also Rückschau auf spukende Familienseelenqual: was bisher geschah, quasi. Und so wird manch alte Szene neu bespielt, umperspektiviert (meta, Oida!). Dazu setzt es viel Drama – laut Plot-Prämisse durch Amnesie-Hypnose bewirkt – um das Problem, ob man sich eh noch erinnern kann: an all die hier aufgewärmten großen Momente eines mittleren Horror-Franchise, an all seine Jumpscares und Visionen, an Tiny Tims „Tiptoe Through the Tulips“, eiernd auf einem Kinder-Plattenspieler, an Dads wutrasende Besessenheit, die immer schon aussah wie ganz normale Männergewalt im gemeinsamen Haushalt (damals hieß so was noch „Beziehungsdrama“ oder „Familientragödie“), und an seine Problembeziehung zum Sohn (Ty Simpkins, Jahrgang 2001, wuchs mit dieser Rolle auf wie Putzi Lutz). (Diesen Putzi-Witz verstehen nur Leute, die mit der seit 1999 im österreichischen Reklamefernsehen eingesetzten und konstant gleich besetzten Familie Putz vom Möbelhaus XXXLutz vertraut sind, das für seinen Werbeauftritt in diesem Artikel 1 Million Schilling bezahlt hat. Danke. So macht Online-Filmkritik wieder Spaß.)

© Sony Pictures

Den Vater spielt wie immer Patrick Wilson, der ansonsten auch als Parapsychologiepatriarch im nach wie vor zugkräftigen „Conjuring“-Spukhorror-Universum fungiert; in „Insidious: The Black Window“ – Scherz! – führt er nun auch Regie, und da gelingen ihm einige Gustostückerl in Sachen wenig Licht (z. B. die Klaustro-Szene in der Computertomografie-Röhre) und Spielereien nach Art „Now you see it, now you don’t“. Echt fiese Kompositionen, wirklich gut. Und Lin Shaye, nunmehr 80, spielt wieder die Spiritistin und gibt lebensweisen Rat; ihr Anblick ist ein Repertoire-Motiv im neueren Horrorkino, eine Scream Queen – vielmehr: ein Gute-Gruselfee-Typus –, die erst mit Ende sechzig zum Dienst antrat (und also im Unterschied zu Jamie Lee Curtis immer schon betagt war und wohl noch länger als sie auf einen Nebenrollen-Oscar warten muss).

So viel Rückblick: Der fragile Sohn – er besucht nunmehr das College und kuriert dort seine Traumata in der scheuen Liebe zu einer toughen comic relief-Kommilitonin, sowie im Kunstunterricht: „Zeig mir beim Malen deine Dämonen!“ etc. –, er verkörpert in der Fiktion, was der Film uns als Publikum anmutet, nämlich ein wehmütiges Anknüpfen an Coming-of-Age-Erinnerungen. Ja, das waren noch Zeiten, damals – vor zehn Jahren! In der verklärenden Retrospektion scheint es, als hätten wir uns in den good old Zehnerjahren nur vor Filmen fürchten müssen. Als hätten viele, die heute selbst bald Eltern werden (Rose Byrne spielt hier auch wieder mit und streitet mit Patrick Wilson wie in einem Scheidungsdrama von Noah Baumbach, nur kürzer), sozusagen ihre glückliche Kindheit und Jugend mit der jährlichen Dosis „Insidious“ verbracht. Solch ein durcharbeitender Rückblick erfolgt hier in Form von Horror, der Horror erfolgt hier (wie in jedem gefühlt dritten Film heute) in Form eines Ringens um Heilung und mental health, und all dies erfolgt mit erstaunlichem Kassenerfolg in der weltweiten Performance. Das also bedeutet „Psychotherapie als Kassenleistung“.

Dieser Text erschien zuerst als nächtliche Vision und dann in gekürzter Fassung in der Wiener Stadtzeitung Falter.

Brother’s Keeper

(TR/RO 2021, Regie: Ferit Karahan)

Die Schule als Abbild des Systems
von Jürgen Kiontke

Die Schule ist abgelegen, es ist Winter: Im Internat im anatolischen Bergland unterrichten türkische Lehrer kurdische Schüler, die durch besondere Leistungen aufgefallen sind, es herrschen äußerst rigide Regeln. Jetzt das: …

Die Schule ist abgelegen, es ist Winter: Im Internat im anatolischen Bergland unterrichten türkische Lehrer kurdische Schüler, die durch besondere Leistungen aufgefallen sind, es herrschen äußerst rigide Regeln. Jetzt das: Die Jungen haben sich beim Waschen gestritten, daraufhin dürfen sie nur eiskaltes Wasser benutzen. Der zarte Memo spürt, wie er krank wird, er friert. Der 12-Jährige bittet seinen Freund Yusuf, mit bei ihm im Bett schlafen zu dürfen. Yusuf traut sich nicht, es könnte gefährliches Gerede geben. Am nächsten Tag geht es Memo schlecht, er muss dem Unterricht fernbleiben. Die Heizung fällt aus, Memos Fieber steigt, bald ist er nicht mehr ansprechbar. Die Lehrer schieben sich gegenseitig die Schuld zu.

Der Fall macht das Schulsystem offenbar. Niemand kümmert sich um die Nöte der Jungen, die Lehrer sind frustrierte Typen, sie hassen es, hier ohne Anbindung im Hinterland zu arbeiten. Es herrscht Drill – und politisch bedingter Druck: Kurdistan gibt es in dieser Schule nicht, das heißt Ostanatolien. Das Internat ist auch eine Umerziehungsanstalt.

Als die Schulleitung erkennt, wie brisant Memos Erkrankung werden könnte, zeigen sich die Mängel der Infrastruktur, bedingt durch eigene Willkür: Der Schulbus ist in Küchendingen unterwegs, es muss Käse für den Direktor besorgt werden. Das einzige Internatsauto ist aus Schlamperei sowieso nicht fahrtüchtig. Bald liegt Memo im Koma, keiner hilft… Die Schule – ein Systemfehler.

Regisseur Ferit Karahan verarbeitet im gemeinsam mit Gülistan Acet geschriebenen Drehbuch seine eigenen Erfahrungen als Kind in ähnlichen Schulen. Einerseits eröffnen diese die Möglichkeit der Bildung, andererseits dominiert rigider Nationalismus den Unterricht. Es herrscht Beklemmung. „Angst ist das Hauptthema“, sagt Karahan, „mit dem ich mich in meinen Filmen beschäftige“. Beziehungen unter solchen Bedingungen seien über die Maßen brüchig; um zu überleben, seien die Menschen täglich gezwungen zu lügen. Gefühle, Gesundheit und Sicherheit der Schüler spielen hier nicht die größte Rolle. Karahans Film ist ein Nachrichtenkanal aus der Welt autoritärer Erziehung.

Diese Kritik erschien zuerst am 19.07.2023 auf: links-bewegt.de

Aurora – Star wider Willen

(AM/DE/LT 2022, Regie: Inna Sahakyan)

Albtraumhafte Geschichte einer Flucht
von Wolfgang Nierlin

Eine alte Frau entrollt ein altes, gemaltes Filmplakat, auf dem sie selbst als junges Mädchen zu sehen ist und das den Stummfilm „Auctions of souls“ („Auktion der Seelen“) aka „Ravished …

Eine alte Frau entrollt ein altes, gemaltes Filmplakat, auf dem sie selbst als junges Mädchen zu sehen ist und das den Stummfilm „Auctions of souls“ („Auktion der Seelen“) aka „Ravished Armenia“ („Geschändetes Armenien“) von Oscar Apfel annonciert. Begleitet von der Off-Erzählung, blendet der Film dann über ins Jahr 1919, um Archivbilder von der Premiere und Ausschnitte aus dem Film zu zeigen, von dem nur etwa 18 Minuten erhalten sind. Zu sehen sind Bilder von Vertreibung und Flucht, von schrecklichen Gräueltaten und Tod. Gegenwart, Erinnerung und Vergangenheit gehen ineinander über. Die leidvolle Erfahrung kehrt als Trauma zurück. Und Aurora Mardiganian (1901–1994), die zur Zeit der Dreharbeiten 17 Jahre alt war und sich selbst als 14-jähriges Flüchtlingsmädchen spielt, sagt: „Ich war gar keine Schauspielerin. Das im Film war nicht gespielt. Es war meine eigene Geschichte.“

Diese ebenso unglaubliche wie wahre Überlebensgeschichte voller Gewalt und Tod beginnt im Frühling 1915 in Chmshkatzag, einem kleinen Ort im Westen Armeniens, der damals zum Osmanischen Reich gehört. Hier wird Arshaluys Mardigian im Jahre 1901 als Tochter eines wohlhabenden Seidenherstellers geboren. Das aufgeweckte Mädchen hat noch sieben Geschwister (der älteste Bruder lebt allerdings in Amerika), was durch ein Familienfoto dokumentiert wird. Zu Beginn ihres Animationsfilms „Aurora – Star wider Willen“ („Aurora’s sunrise“), in den Interviews mit der betagten Zeitzeugin, Archivmaterial sowie Szenen aus dem verschollenen Stummfilm kunstvoll eingearbeitet sind, beschreibt die armenische Regisseurin Inna Sahakyan eine idyllische, fast heile Welt der Kindheit. Diese erscheint in aquarellierten Landschaften und in zarten, hellen Pastelltönen eines glücklichen Miteinanders in der Großfamilie. Im schönen Garten des elterlichen Hauses führen die Kinder kleine Theaterstücke auf und Arshaluys lernt Schwimmen, was ihr später von Nutzen sein wird.

Diese heile Welt wird jäh zerstört, als die Jungtürken im Schatten des 1. Weltkrieges mit der systematischen Vertreibung und Ermordung des armenischen Volkes beginnen. Männer und Priester werden getötet, Häuser geplündert und gebrandschatzt, Frauen und Kinder auf Todesmärschen in die syrische Wüste getrieben. Es kommt zu Vergewaltigungen und willkürlichen Gewaltexzessen. Auf ihrer albtraumhaften Odyssee verliert Arshaluys fast ihre komplette Familie, sie wird mehrfach entführt und verkauft, findet aber auch immer wieder freundliche Helfer.

Der Film illustriert die furchtbaren Geschehnisse von Auroras autobiographischer Erzählung, die sie nach ihrer geglückten Flucht in die USA mit Hilfe des Journalisten Henry Gates zunächst in Fortsetzungen aufschreibt und publiziert, in ebenso drastischen wie realistischen Bildern. Dabei dient die Animation als wirkungsvolles Mittel, um zwischen emotionaler Nähe und Distanz zum Schrecken zu vermitteln. Daneben stehen Flashbacks, in denen unter dem Eindruck der Gewalt die Symbole einer glücklichen Kindheit schmerzlich pervertiert werden. Nach Stationen in Erzurum, Tiflis, St. Petersburg und Oslo erreicht die jugendliche Heldin auf abenteuerlichen Wegen 1918 schließlich New York. Der besagte dreistündige Film, der in Hollywood nach ihrer Geschichte gedreht wird, führt schließlich zu einer landesweiten, sehr erfolgreichen Spendenkampagne für armenische Waisenkinder. Am Ende aber steht Auroras Forderung nach Anerkennung für erlittenes Leid und nach – zumindest moralischer – Gerechtigkeit für ihr Volk.

Der Film ist noch bis zum 24.07.2023 in der Arte-Mediathek zu sehen.

Mission: Impossible Dead Reckoning – Teil 1

(USA 2023, Regie: Christopher McQuarrie)

Verlässlichkeit! Was sonst ist die Mission eines Action-Blockbusters?
von Drehli Robnik

Ausatmen, Einatmen: Es gab einmal den Vergleich des klassischen handlungsorientierten Kinofilms – Western oder andere „Reise-intensive“ Filme (kolonial, eh klar) – mit einem atmenden Körper, der sich in einem Rhythmus …

Ausatmen, Einatmen: Es gab einmal den Vergleich des klassischen handlungsorientierten Kinofilms – Western oder andere „Reise-intensive“ Filme (kolonial, eh klar) – mit einem atmenden Körper, der sich in einem Rhythmus von Sich-Ausbreiten und Sich-Zusammenziehen dahinbewegt. Davon bietet Tom Cruises „Mission: Impossible“-Franchise, das heute einen dauerhaft einprägsamen Inbegriff von Actionkino verkörpert, ein Zerrbild: mehr Hecheln als Atmen – und das Ausdehnen und Zusammenziehen ritualisiert im Wechsel von weitem Naturraum (rundherum nur Gebirge) und vernetzter Infosphäre (rundherum nur Daten), von durchraster Totalaufnahme und Knopf im Ohr, von Tourismusmetropole als Verfolgungsjagdrevier und verschlossenem Innenraum als Druckkammer bizarrer Choreografien (letzteres mustergültig im Hängen von der Decke einer Datenspeicherkammer im „Mission: Impossible“-Debütfilm von 1996; oder in der Unterwasser-Security-Schleuse im 2015er-Film; oder in der beengten Schlägerei zu dritt in der Herrentoilette im vorigen, 2018 veröffentlichten Film).

Auch Cruises Lebenszeit dehnt sich aus (beim Dreh des neuen Films war er 59), dafür wird sein Repertoire enger: Er macht seit Jahren nur noch Selbstbeweis-Aufgüsse wie das üble „Top Gun“-Reboot oder eben das „Mission: Impossible“-Franchise (das seit 2015 ein Stamm-Regisseur und -Co-Autor, Christopher McQuarrie, betreut). Und das Franchise wird immer länger, ist nunmehr fast ein Vierteljahrhundert alt (mit einer Vorgeschichte zurück zu jenem Maskenball von einer Spionage-Thriller-Serie aus den Mid-Sixties, von der Lalo Schifrins weird getaktetes Musik-Thema und der Titel stammen; auf Synchrondeutsch damals „Kobra, übernehmen Sie!“ – hat sich für die Kinofilme zum Glück nicht durchgesetzt); und auch in den einzelnen Folgen dehnt es sich immer mehr aus, sodass das Finale „Mission: Impossible Dead Reckoning“, nominell Teil 7 und 8, auf zwei knappe Dreistünder und zwei Sommer verteilt ist – aber die Zeit, die für Actionszenen bleibt, scheint sich zusammenzuziehen. Oder andersrum gesagt: War es bei fast allen „Mission: Impossible“-Filmen immer „besonders gleichgültig“, was für eine Art Massenvernichtungs-Formel oder Weltverbesserungs-Waffe wem abgeluchst werden muss, wodurch also die geheimdienstlichen und Terror-Sekten-Ränkespiele motiviert sind, so scheint diesmal leider genau darauf der Fokus des Films zu liegen. Sprich: „Mission: Impossible Dead Reckoning“ (der Titel hat sicher irgendwas zu bedeuten) krankt an zu viel Plot. Es gibt zu wenig Action und zu viele ominös flüsternde Gruppengespräche (speaking of „Atmen“) – und in denen muss immer irgendeine offene Rechnung, irgendein Rachetrieb, irgendein Gefühl, dass die Zeiten künftig anders sein werden, als sie es früher waren (Einsichten dieses Kalibers werden diesmal besonders oft durch verkniffene Lippen gepresst), muss all das sorgfältig kleingekaut werden, als wär dies auch nur ein ganz normaler Superheld*innenfilm und nicht eine Action-Ikone.

© Paramount Pictures

Wobei aber und immerhin: Das Intro mit einem russischem U-Boot (wohl als ein Ort, auf den Teil 2 der Abschiedstour zurückkommen wird), der Showdown mit Springerei in von der Brücke stürzenden Zugwaggons, das fetzt schon ein wenig, ebenso die car chase im possierlichen gelben Kleinauto in Rom. Cruise ist da am Steuer per Handschelle an Neuzugang Hayley Atwell gekettet, und sie zanken recht rum, wer da jetzt lenkt und wie und was. Das ist lustig. Aber es ruft, eben gerade mit der Handschelle, den Direktvergleich mit ähnlichen Pärchen-auf-der-Flucht-Situationen in Action-Reise-Krimis von Herrn Hitchcock vor 70, 80, 90 Jahren ins Gedächtnis – von „The Thirty-Nine Steps“ (1935) bis „North by Northwest“ (1959), der sozusagen der letzte Halt vor der James-Bond-Film-Formel war, mit der ja heute noch „Mission: Impossible“ rivalisiert –, und dieser Vergleich fällt schmerzlich, wehmütig aus. Denn: Da ist bei Cruise doch wenig an Spiel mit Objekten, seien sie ein Symbol-Ding oder ein Fetisch-Toy; vielmehr ist die Handschelle hier Teil und Insignie des umfassenden Programms „Bindung“, aufgeladen mit den Werten Loyalität und Verlässlichkeit, und all das wird von Cruises Ethan Hunt hier (und auch schon im vorigen Film) breit verkündet. Und da aber in „Dead Reckoning“ Figuren äußerst schematisch beseitigt (Rebecca Fergusons Ilsa) oder heruntergestuft werden (Ving Rhames‘ Luther), da hier also – auch wenn der wie immer besonders unlustige Franchise-Regular Simon Pegg (der war mal echt gut!) (in anderen Filmen) irgendwas von wegen seine friends seien ihm das Wichtigste daherredet – die Loyalität keineswegs dem Personal gilt, meint das ultimativ unsere Bindung, und zwar an die verlässliche Marke Cruise.

Wie ein braver alter Verbrenner springt er immer wieder an – Tom-Tom-Tom-Tom-Tom! – und tut seinen Dienst. Verweigert hat er nie. Das ist Ideologie in Aktion/Action – Trauma heißt hier auch nur Antrieb: Auf good old Tom Cruise können (sollen) wir uns halt verlassen; verbissen und technologieoffen macht er weiter im Abnützungskrieg gegen den Kinopublikumsschwund. Stunts D.I.Y., na super! (Ich dachte, Belmondo ist tot.) Einst grinste er mit Flatterhaar, jetzt ruft er „I won’t let you down!“. Er predigt (zumal beim salbungsvollen Rekrutieren eines Neuzugangs in die Church of IMF, besonders doof, lang und redselig). Man möchte fast sagen: Er missioniert. Diese Art ist eigentlich unmöglich! Aber: So heißt ja der Film.

Diese Besprechung erschien zuerst in Kurzform in der Zeitschrift Falter und wird sich innerhalb von zehn Sekunden selbst zerstören.

Gehen und Bleiben

(DE 2023, Regie: Volker Koepp)

Notwendige Erinnerungen
von Wolfgang Nierlin

Ein ruhiger Kameraschwenk übers Meer mit seiner fernen Horizontlinie mündet in der Liedzeile „Blue as blue can be“, die aus dem Außenlautsprecher eines Kleinbusses dröhnt. Auch wenn Countrysänger Smiley Maxedon …

Ein ruhiger Kameraschwenk übers Meer mit seiner fernen Horizontlinie mündet in der Liedzeile „Blue as blue can be“, die aus dem Außenlautsprecher eines Kleinbusses dröhnt. Auch wenn Countrysänger Smiley Maxedon darin seinen Liebesschmerz besingt, ist diese Reminiszenz dem Schriftsteller Uwe Johnson gewidmet, der hier, im englischen Sheerness on Sea auf der Isle of Sheppey, ab 1974 bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1984 gelebt hat und einmal schrieb: „Und überdies erwies uns die See einige Augenblicke lang die Höflichkeit, so blau zu sein, wie blau nur sein kann.“ Das Meer als facettenreiches Bindeglied führt entsprechend die filmische Spurensuche des renommierten Dokumentaristen Volker Koepp von Johnsons pommerschem Geburtsort Cammin an der Ostsee ins unweit gelegene Anklam, wo dieser einen Teil seiner Kindheit verbracht hat. In seinem neuen Film „Gehen und Bleiben“ trifft Koepp hier zunächst auf die gebürtige Anklamerin und Schriftstellerin Judith Zander, die vermutet, dass nur aus der Distanz die Heimat zu einem Sehnsuchtsort werden könne.

Nach seinem Aufbruch in den Westen, wo Uwe Johnson nach seinem Germanistikstudium ab 1959 zunächst in Westberlin, später in New York und in besagtem Sheerness lebte, blickte er für sein Schreiben aus der Entfernung auf Geschichte und Gegenwart seines Herkunftslandes. Dass die Nachwirkungen der Kriege gerade auch angesichts des gegenwärtigen in der Ukraine noch immer nicht vorbei seien, ist gewissermaßen eine These des Films, die sich wiederum mit Johnsons Schreiben gegen das Vergessen verbindet. Auf seiner Reise durch die Fluss- und Seenlandschaft Mecklenburg-Vorpommerns zwischen Anklam, Güstrow und dem Fischland lässt Koepp deshalb Menschen zu Wort kommen, die sich an die schweren Kriegs- und Nachkriegsjahre, an Tod und Vertreibung erinnern. Dazu liest der Schauspieler Peter Kurth, der aus Goldberg bei Güstrow stammt, aus den Werken Johnsons.

Volker Koepps gewohnt ruhiger, nachdenklicher Film ist aber mehr als ein konventionelles Schriftstellerportrait. Zwar trifft er Menschen, die Johnson kannten und sich an ihn erinnern, die dabei aber immer auch über sich selbst, über Orte, Landschaften und von eigene Erfahrungen erzählen. In dieser Mischung aus historischen Fakten, persönlichen Erinnerungen, Assoziationen und Zitaten entsteht eine Art Doppelportrait durch Zeit und Raum, das neben dem Schriftsteller immer auch von mehr oder weniger bekannten anderen Menschen handelt; so gibt etwa auch der in Nossendorf lebende Filmemacher Hans-Jürgen Syberberg Auskunft. Das mutmaßlich Nebensächliche, Beiläufige oder auch Abschweifende, das damit korrespondiert, hat in den Filmen Volker Koepps Methode. Kein überflüssiger Schnitt stört den Zeitfluss, während die Zeitzeugen sprechen sowie Alltägliches, Zufälliges und scheinbar Banales in den Film einfließen, der damit auch wiederholt auf seine Gemachtheit verweist. So entsteht schließlich auch eine besonders vertrauensvolle Nähe, die Neugier weckt, den Blick auf das Entfernte schärft und die aktuelle Dringlichkeit notwendiger Erinnerung unterstreicht.

Alma & Oskar

(AT/DE/CH/CZ 2022, Regie: Dieter Berner)

Im Klischeesumpf
von Wolfgang Nierlin

1911 probt Gustav Mahler (Marcello De Nardo) in New York. Seine junge Frau Alma (Emily Cox), die selbst musikalische Ambitionen hegt und komponieren möchte, assistiert ihm genervt. Dann öffnet der …

1911 probt Gustav Mahler (Marcello De Nardo) in New York. Seine junge Frau Alma (Emily Cox), die selbst musikalische Ambitionen hegt und komponieren möchte, assistiert ihm genervt. Dann öffnet der herzschwache Komponist einen Liebesbrief, der zwar an ihn adressiert, aber an seine Frau gerichtet ist und vom Architekten Walter Gropius (Anton von Lucke) stammt. Es kommt zu einem Streit, in dessen kurzem Verlauf Alma Mahler schlagwortartig sagt, sie fühle sich vernachlässigt, wolle leben und begehre den Körper des Jüngeren. Außerdem träume sie davon, Komponistin zu sein. Geballter weiblicher Lebenshunger trifft hier auf ängstliche Eifersucht und ungeordnetes Begehren auf die Sorge um geordnete Lebensbahnen. Vier Monate später stirbt Mahler in Wien und ein junger, geheimnisvoller Maler namens Oskar Kokoschka (Valentin Postlmayr) fertigt seine Totenmaske. Als er sich dabei in die Handfläche schneidet, leckt die Witwe zumindest in ihrer Fantasie Blut.

So holzschnittartig gerafft und plakativ erzählt Dieter Berner nach dem Buch „Die Windsbraut“ von Hilde Berger die leidenschaftliche Amour fou zwischen „Alma & Oskar“, wie der kumpelhafte Titel des flotten, in bewegten Einstellungen inszenierten Films lautet. Denn schon kurz darauf entbrennt der Maler mit dem bohrenden Blick und der Gabe zur Seelenschau in heftige Liebe zur freigeistig und unabhängig gezeichneten Alma Mahler, die sich gerne, so sagt sie selbst, mit Genies umgibt. Er malt ihr Portrait in der Pose der „Olympia“, hat rasenden Sex mit ihr im Atelier und reagiert auf die anderen Liebschaften der Angebeteten mit besessener Eifersucht: „Ich dulde keine Götter neben mir.“ Ähnlich überhöht und klischeehaft ist entsprechend seine eigenwillige, unbequeme Künstlernatur charakterisiert. Wie so oft in oberflächlichen Filmen sind auch in „Alma & Oskar“ Arbeit, Künstlergespräche sowie Alltägliches nur Behauptung und Vorwand für Liebeskämpfe und Gefühlsausbrüche.

Daneben erheben Berner und Berger mit ihrem Künstlerfilm aber zugleich und vor allem den Anspruch, in der Charakterisierung von Alma Mahler eine fortschrittliche, sexuell freizügige und künstlerisch kreative Frau zu zeigen, die sich selbstbewusst gegen den herrschenden Zeitgeist behauptet. Doch zwischen Anpassung ans bürgerliche Leben und dem Willen zur Unabhängigkeit legt sich immer wieder der Schatten ihres verstorbenen Mannes über ihre eigenen Ambitionen. So probt sie etwa zusammen mit dem Dirigenten Bruno Walter (Mehmet Ateşçi) für die Uraufführung von Mahlers nachgelassener 9. Sinfonie. Ihre Sehnsucht nach Ruhm und Anerkennung führt schließlich zum Konflikt mit Kokoschka und zu einer nicht ganz klaren Entzweiung. Doch weil der sich sehr heutig gebende, diverse Hintergrundinformationen aussparende Film „Alma & Oskar“ in der Beziehung seiner Protagonisten vor allem ein Liebesbegehren zeigen will, das sich mutig der Angst vor dem Leben entgegenstellt, sind die beiden zumindest ideell und in der Logik dieser Anekdote auf ewig vereint.

Unser Fluss… Unser Himmel

(GB/DE/FR/KW 2021, Regie: Maysoon Pachachi)

Kampf um Normalität
von Jürgen Kiontke

Bagdad, im Winter 2006. Drei Jahre ist es her, dass die von den USA angeführten Truppen in den Irak einmarschiert sind. Und wie sieht es nun aus? Gewalt von Islamisten, …

Bagdad, im Winter 2006. Drei Jahre ist es her, dass die von den USA angeführten Truppen in den Irak einmarschiert sind. Und wie sieht es nun aus? Gewalt von Islamisten, nächtliche Ausgangssperren. Stromausfall. Was als Befreiung von einer Diktatur proklamiert wurde, führt zu neuen Missständen.

Die irakische Regisseurin und Drehbuchautorin Maysoon Pachachi führt das Publikum in ihrem neuen Film „Unser Fluss… Unser Himmel“ zurück in den Irak nach dem Krieg, nach Saddam Hussein. Am Beispiel einer kleinen Nachbarschaft von Menschen unterschiedlicher Religion und Herkunft zeigt sie, wie sich das Leben nun anfühlt.

Trotz Anschlägen, Leid und Elend. Die Menschen kämpfen um Normalität und Nähe, lachen und ziehen ihre Kinder groß. Welche Zukunft werden sie dort haben? Das fragt sich auch Sara, einst gefeierte Lyrikerin, nun alleinerziehende Mutter und Autorin ohne Text. Alles, denkt Sara, was sie schreiben würde, müsste Lüge sein: Kriegshorror und Traumata sorgen bei ihr für die Schreibblockade. Sie fährt mit ihrer Tochter über den Tigris und rekapituliert ihr Leben, Chancen und Aufgaben für sich und das Kind.

Zukunft ist ein großes Stichwort, Flucht eine dauerpräsente Überlegung. Erst ein Treffen mit ihrem ehemaligen Literaturdozenten lässt sie zu neuen Erkenntnissen kommen. Der Lehrer erinnert sie daran, welch großes Talent sie besitzt. Wäre es nicht besser, sich über das Schreiben das Land – metaphorisch „Fluss und Himmel“-, den Tigris und ganz Bagdad wieder anzueignen?

Regisseurin Pachachi erschafft mit der Geschichte Saras elegische Bilder einer zerstörten Stadt, in der trotz allen Übels die Menschlichkeit erhalten blieb. Sie berichtet von den Versuchen, eine schwierige Gegenwart in etwas anderes zu verwandeln – und seien es Gedichte. Der Versuch, so die Botschaft, lohnt sich immer. Gerade jetzt sei es wichtig, von individuellem Widerstand und Hoffnung im Nahen Osten zu erzählen, „wo so viele Menschen es immer noch schaffen, als Menschen miteinander solidarisch zu sein“, sagt die Regisseurin.

Diese Kritik erschien zuerst am 06.07.2023 auf: links-bewegt.de

Mit Liebe und Entschlossenheit

(FR 2022, Regie: Claire Denis)

Zweischneidiges Begehren
von Wolfgang Nierlin

Vom Liebesglück am Meer erzählen die ersten, wortlosen Bilder des Films, die von einer leicht sentimentalen Musik begleitet werden. Während sich das Licht auf den kräuselnden Wellen bricht, bewegen sich …

Vom Liebesglück am Meer erzählen die ersten, wortlosen Bilder des Films, die von einer leicht sentimentalen Musik begleitet werden. Während sich das Licht auf den kräuselnden Wellen bricht, bewegen sich Sara (Juliette Binoche) und Jean (Vincent Lindon) unter einem blauen Himmel durch das kniehohe Wasser. Man spürt ihre tiefe, zärtliche Vertrautheit, wenn sie sich berühren, umarmen oder an den Händen halten. So fühlt sich eine Liebe an, die nahezu körperlich spürbar wird. Dafür inszeniert Claire Denis in ihrem neuen Film „Mit Liebe und Entschlossenheit“ zusammen mit ihrem Kameramann Eric Gautier eine feine Balance zwischen intimer Nähe und Distanz. Seit neun Jahren sind die beiden ein Paar. Doch wenn sie aus dem Urlaub in ihre helle Pariser Wohnung mit den offenen Türen zurückkehren, wo sie sich in den großen Balkonfenstern ineinander spiegeln, liegt im stillen Einverständnis ihrer Blicke zugleich der Schatten eines zögerlichen Lauerns.

Dass zwischen dem sommerlichen Meer und der Ankunft in der herbstlichen Wohnung die Fahrt erst durch einen langen, dunklen Metro-Schacht geht, verweist bereits auf die bevorstehende Krise. Nur wenig und auch nur in Andeutungen erfährt man über Sara, die als Radiojournalistin arbeitet, und über den früheren Rugbyspieler Jean, der offensichtlich einen Gefängnisaufenthalt hinter sich hat. Ihre Geschichten wirken zwar fort, doch Claire Denis, die hier einen Roman der französischen Schriftstellerin Christine Angot adaptiert hat, interessiert sich mehr für die Ablagerungen, Spuren und Gesten in der Gegenwart. Dann sagt Sara eines Tages zu Jean: „Die Vergangenheit ist zurückgekommen.“ Und damit meint sie ihren früheren Geliebten François (Grégoire Colin), der auch mit Jean befreundet ist und der zusammen mit diesem eine Agentur zur Vermittlung von Rugbyspielern eröffnen will. Die tatsächliche Arbeit der beiden bleibt im Folgenden aber eher abstrakt und nebulös.

Saras wiedererwachtes Begehren, das fortan mit Widersprüchen und Halbwahrheiten jongliert und dabei das Offensichtliche nur halbherzig verdrängt, wird geradezu zu einem physischen Schmerz. Sie registriert an sich „Liebe, Angst schlaflose Nächte, das Telefon neben dem Bett und das Gefühl, feucht zu werden“. Und Jean, der sich verletzt fühlt, reagiert zunächst mit Eifersucht: „Es gibt Wunden, die nie verheilen.“ Mit intimen Blicken widmet sich die französische Regisseurin erneut der Sprache der Körper, ihrem Glück und ihren Wunden. Wo die Worte lügen und sich in sinnlosen Streitereien verheddern, geraten die Körper aneinander. Das ist ebenso menschlich wie erschreckend. Parallel zu diesen schonungslosen Szenen einer Paarbeziehung erzählt Denis von Jeans orientierungslosem 15-jährigen Sohn Marcus (Issa Perica), der bei seiner Oma Nelly (Bulle Ogier) in Vitry lebt und mit seiner Herkunft hadert. Doch das bleibt als Reminiszenz an Denis‘ frühere Beschäftigung mit dem Erbe des Kolonialismus nur eine Randnotiz. Auch wenn sich Jean mit seinem Sohn darin trifft, für sich und ihn ein eigenes Leben zu fordern; bevor die Tindersticks schließlich „Both sides of the blade“ singen.

Indiana Jones und das Rad des Schicksals

(USA 2023, Regie: James Mangold)

Aale müssen mit: Sentimentale Zeitreise zu den Pflichtstationen eines Franchise
von Drehli Robnik

„Yesterday belongs to us!“ sagt gegen Ende des Films ein Altnazi-Archäologe (Mads Mikkelsen, etwas vergeben als Schurke besetzt), als ihm das Zurückreisen in die Zeit zu glücken scheint. Über Zeitliches, …

„Yesterday belongs to us!“ sagt gegen Ende des Films ein Altnazi-Archäologe (Mads Mikkelsen, etwas vergeben als Schurke besetzt), als ihm das Zurückreisen in die Zeit zu glücken scheint. Über Zeitliches, Vergangenes, hatte davor schon der Held dieses Films, vielmehr: dessen Darsteller Harrison Ford, einen starken Sager zu bieten; auf die Frage, ob nach seinem fünften, definitiv finalen Kino-Einsatz als Indiana Jones noch weitere Filme mit diesem Abenteuer-Archäologen denkbar wären, antwortete Ford: Ganz sicherlich nicht – „When I’m gone, he’s gone.“

Wenn Ford fort ist… Der Schauspieler mit der immer noch angenehmen Stimme und den mittlerweile enormen Ohrläppchen ist achtzig Jahre alt. Damit ist er ungefähr so alt wie – nun, nicht wie Indiana Jones, aber wie dessen Vorbilder. Er ist zirka so alt wie z. B. „Gunga Din“ (1939, mit Cary Grant im Tropenhelm-Haudrauf-Modus), einem Blueprint des zweiten Indiana Jones-Films (dem mit dem „Temple of Doom“, 1984) und wie generell jene Art von Old-Hollywood-Abenteuer-Exotismus, der dem Indy-Franchise als Inspiration und Revamping-Referenz diente, als es in den frühen 1980ern begann. Damals noch ohne Indy im Titel: „Raiders of the Lost Ark“ hieß sein Filmdebüt; die ark, die hebräische Bundeslade, fand sich 1981 verschämt umgetitelt in „Jäger des verlorenen Schatzes“ im Synchrondeutsch der Nach-Nazi-Länder. Teenies wie ich (und Millionen andere jung und alt) amüsierten sich über vorschriftsmäßig augenzwinkernde Action nach Art von Stationenlauf-Games (all die Schatzkammer-Todesfallen!) vor kolonialen Kulissen. Manche Leute sagten angesichts all dessen ein mysteriöses Wort, das mit P begann und mit „ostmodern“ endete. Hinzu kam die Ahnung, dass Indys lakonisches Erschießen und beherztes Herumkommandieren von Menschen mit Turban, Schleier oder nichtweißer ethnischer Identifizierung rassistisch war. Gar so anders verhält sich das nun in „Indiana Jones and the Dial of Destiny“ vulgo „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“ auch nicht.

© Walt Disney

Dieses Rad drehte – erstmals bei einem Indiana-Jones-Film – nicht Steven Spielberg, sondern James Mangold. Die movie brats von damals – Spielberg und der Indy-Mit-Erfinder George Lucas – verhielten sich ihren vierzig Jahre alten Vorbildern aus Hollywoods schwarzweißen Studiodschungeln gegenüber frech; am frechsten allerdings gegenüber den dazwischen, in den Nachkriegsjahrzehnten, eingetretenen Krisen kolonialer und patriarchaler Herrschaft und ihrer Imaginarien: Diese Brüche galten den jungen Blockbuster-Designern als bloße Abstandsmarkierung, über die hinweg sich auf einen westlichen Kino-Kindheitserinnerungsbestand zugreifen ließ, ganz im Sinn eines augenzwinkernd auftrumpfenden „Yesterday belongs to us!“. Mangold hingegen – ein Regisseur, der sich mit dem Johnny Cash-Biopic „Walk the Line“, mit der Rennfahrer-Hagiografie „Ford v Ferrari“ („Le Mans 66 – Gegen jede Chance“) sowie ambivalenter mit „Logan“ als Denkmalspfleger alter Heldenlegenden eingeführt hat – ist Teil eines umgekehrten Verhältnisses zum Gestern: He makes us belong to yesterday. Demütig unterwirft er sich und sein Publikum einer Vergangenheit, der noch einmal Ehre erwiesen wird. Ehrung heißt hier: mit allen gebotenen, nichts weniger als vorschriftsmäßigen, Streicheleinheiten an Ironie. Mangold geht mit den Indiana-Jones-Erinnerungsbeständen aus der Reagan-Ära so um, als würde er heilige Texte rezitieren. Und was am Beginn des 1969 spielenden Haupt-Plots des Films passend mit dem Beatles-Song als eine „Magical Mystery Tour“ angekündigt wird, gerät zur Abschiedstournee, die – wenn auch flott – noch einmal alles abklappert.

Es gibt, was es geben muss, weil es das in den ersten drei Indiana-Jones-Filmen schon gab (der mit dem „Crystal Skull“ und Indys Sohn von 2008 gilt ja, obwohl er seine Momente hat, als Flop). Nämlich: Zug-Kletterei-Action mit Grußgeste an „Indiana Jones and the Last Crusade“ – und mit einem de-aged Ford – als anno 1944 spielender Auftakt; Phoebe Waller-Bridge als verbal wie artistisch engagierte, recht lustige Sidekick; Archimedes‘ Zeitreise-Tools (das titelgebende Schicksalsrad) als zu plündernden Schatz; Mathematik-Mystik als Pendant zu den Schätze hinterlassenden Religionen der Vorgängerfilme (Judentum 1981, Hinduismus 1984, Christentum 1989, Anbetung allwissender Aliens mit Kristallschädel-Datennetzwerk 2008). Weiters gibt es: Aale, wo einst Schlangen waren; Nazis, wo einst Nazis waren; einen marokkanischen Buben als Reminiszenz zum lokalen Helferlein Short Round von 1984 (dessen damals 12-jähriger Darsteller Ke Huy Quan bekam unlängst den Nebenrollen-Oscar); eine in den Ablauf reingeschriebene Schwarze CIA-Agentin als Wink an die Wokeness, der letztere beleidigt. Es gibt zweimal kurz Herrn Sallah, fünfmal kurz Rückspiegel in Verfolgungsjagden, fünzigmal lang das Fanfare-Thema. „Fan, fahre mit!“ fordert die Marschmusik. (Noch mehr als sonst wird in Autos rumgerast: Harrison Ford v Ferrari) Es hilft beim Mögen, das von Kindheit an schon gesehen zu haben. Und: Sentimental geht allemal. Im Liebesdialog am Ende – ehe Indy für die Rückkehr ins Eheglück ostentativ seinen Hut braucht (seine unverzichtbare Peitsche, Signatur der Rückbindung an Kolonialherrenmythologie, ja wohl doch nicht) – wird wie anno ’81 gefragt, wo’s denn nicht wehtut. Was willst du mehr? Du willst nicht mehr.

Eine Kurzfassung dieser Besprechung erschien zuerst in: Falter 26/2023.

Before, Now & Then

(ID 2023, Regie: Kamila Andini)

Geheimnisvolle Haarknoten
von Marit Hofmann

„Er soll ein Kommunist sein? Unmöglich, er ist doch so ein feiner Kerl!“ Im Klatsch und Tratsch der feinen Gesellschaft, die in der Villa von Nanas zweitem Ehemann verkehrt, wird …

„Er soll ein Kommunist sein? Unmöglich, er ist doch so ein feiner Kerl!“ Im Klatsch und Tratsch der feinen Gesellschaft, die in der Villa von Nanas zweitem Ehemann verkehrt, wird es an dieser Stelle ein einziges Mal explizit politisch. Der antikommunistische Putsch mit anschließenden Massenmorden im Indonesien der 60er Jahre, bei dem Nana ihren ersten Mann, ihren Vater und ihr Kind verliert, schwingt als Hintergrund im indonesischen Spielfilm „Before, Now & Then“ stets mit, kommt aber nie direkt zur Sprache.

Ein kurzer Prolog aus dem „Before“ zeigt Nanas panische Flucht, und unvermittelt eingestreute Albtraumsequenzen und Flashbacks unterbrechen die Handlung im „Now“. Das ist konsequent, denn so wie dieser Teil der indonesischen Geschichte nicht aufgearbeitet ist (Joshua Oppenheimers schockierende Dokumentarfilme „The Act of Killing“ erzählen davon), ist Politik in dieser immer noch „sehr patriarchalischen Welt“, wie Regisseurin Kamila Andini sagt, für Frauen tabu – erst recht für Frauen wie Nana, die in die Ehe mit einem Großgrundbesitzer flüchtete, um einer Zwangsheirat mit einem Anführer der Mörder ihres Vaters zu entgehen.

Während der „unseren Müttern und Ahninnen von den Sundainseln“ gewidmete und in sundanesischer Sprache gedrehte Film nicht zuletzt wegen der Zensur in ihrem Land einiges an Wissen zum historischen und politischen Hintergrund voraussetzt, verpackt die indonesische Regisseurin bisweilen Informationen zu Nanas persönlicher Vorgeschichte etwas zu direkt in Dialoge. Etwa wenn Nana zu ihrem zweiten Mann sagt: „Du hast mich gerettet. Wir sind jetzt fünf Jahre verheiratet.“

Nana führt die Farmgeschäfte und leitet Bedienstete an, dennoch scheint er sie vor allem als Bestandteil der ästhetisch ansprechenden Dekoration wahrzunehmen, für die sie im Haushalt sorgt und mit der die wohlkomponierten Bilder in gedeckten Farben der kaum beweglichen Kamera korrespondieren. Melancholische Streichmusik, die viele Filmkritiker*innen an die Stimmung aus Wong Kar-wais „In the Mood for Love“ denken lässt, deutet neben Nanas stoischer Miene darauf hin, dass sich hinter der sichtbaren Ordnung unterdrückte Bedürfnisse und Gefühle, Unruhe und Unglück verbergen. Die Nachbarinnen kontrollieren sich gegenseitig und achten auch auf die Aufzucht des Nachwuchses, die weitgehend an Angestellte oder Pflegemütter ausgelagert ist: „Eine Frau aus gutem Hause bringt artige Kinder zur Welt.“

Ihre Geheimnisse bewahrten die Frauen in ihren Haarknoten, verrät Nana in einem der seltenen vertraulichen Momente ihrer Tochter. In langen sinnlichen Sequenzen, die für den Internettrend der meditativ-entspannenden ASMR-Videos zweckentfremdet werden könnten, sieht man Nana langsam ihre Haare bürsten oder die ihres Gatten färben. Nanas Überlebensstrategie, die mitanzusehen wehtut: „Ich bin geschmeidig wie Wasser, ich passe mich an.“ Erst im „Then“, einem kurzen Epilog, wird Nana ihre Haare offen tragen.

Nanas Ausweg aus dem goldenen Käfig orientiert sich an der Biografie der Mutter von Jais Darga, der ausführenden Produzentin des Films. Während sie zunächst still darunter leidet, dass ihr reicher Gatte eine Geliebte hat, verbündet sich Nana schließlich mit dieser. „Sie sind beide Opfer der Situation und der Zeit, aber die Gesellschaft der anderen ist das, was sie brauchen, um dieses Gefühl der Stärke und Befreiung zu gewinnen“, erläutert Andini. „Diese Art von Stärke … muss von einer anderen Frau kommen.“ Es ist befreiend zu sehen, wie Nana beim gemeinsamen Bad im Fluss aus ihrer zurückgenommenen Rolle fällt. Ihr Heil und ihre Zukunft findet sie dann allerdings, mit dem Segen des Großgrundbesitzers, im Wiedersehen mit ihrem verschollen geglaubten ersten Mann. Es ist noch ein weiter Weg für die Frauen in Indonesien.

Diese Kritik erschien zuerst am 28.06.2023 in: ND

20.000 Arten von Bienen

(ES 2023, Regie: Estibaliz Urresola Solaguren)

Suche nach Identität
von Wolfgang Nierlin

Ohne Hinführung oder erläuternde Exposition versetzt uns Estibaliz Urresola Solaguren in ihrem preisgekrönten Spielfilmdebüt „20.000 Arten von Bienen“ mitten hinein in die Turbulenzen und Streitereien einer baskischen Familie und ihres …

Ohne Hinführung oder erläuternde Exposition versetzt uns Estibaliz Urresola Solaguren in ihrem preisgekrönten Spielfilmdebüt „20.000 Arten von Bienen“ mitten hinein in die Turbulenzen und Streitereien einer baskischen Familie und ihres spannungsreichen Beziehungsgefüges. Das macht zunächst die Orientierung schwer und verhindert eine allzu schnelle Identifizierung und Festlegung der Figuren. Die Benennung durch Namen und die Zuschreibung einer Geschlechtsidentität stehen folglich auch im fluiden Zentrum des Films, der sich auf verschiedenen Ebenen mit Fragen der kulturellen, überlieferten und politischen Zugehörigkeit beschäftigt und so sein Thema nach verschiedenen Seiten ausweitet. Dabei verzichtet die spanische, 1984 in Bilbao geborene Regisseurin auf eine konventionelle Spannungsdramaturgie, um stattdessen mit einem sozialrealistischen Stil den schwierigen Alltag einer Familie zu beobachten, die im französischsprachigen Teil des Baskenlandes lebt, aber zu Beginn für einen mehrtägigen Besuch in die spanische Grenzregion reist.

Ganz nah ist die Kamera immer wieder beim 8-jährigen Aitor (Sofía Otero), der von allen Cocó gerufen wird, aber seinen Spitznamen nicht mag und seinen Geburtsnamen ablehnt. Der kindliche Held mit den mandelförmigen Augen, den langen Haaren und den bunt lackierten Fingernägeln fühlt sich nämlich auch im Spiel mehr zu Mädchen hingezogen, was sein familiäres Umfeld zunehmend irritiert. Unsicher und oft wütend, schämt er sich für seine Bedürfnisse und reagiert mit Abwehr und Angst, wenn er mit seinem „Problem“ konfrontiert wird. Aitor alias Cocó, der irgendwann den von der gleichnamigen Heiligen übernommenen Namen Lucía für sich entdeckt, fragt: „Warum bin ich so?“ Und gegenüber seiner Mutter Ane (Patricia López Arnaiz) bekundet er eine grundsätzliche Verunsicherung in Bezug auf seine Identität: „Wieso weißt du, wer du bist und ich nicht?“ Während im baskischen Heimatort der Großmutter mit unaufdringlicher Symbolik das Johannisfeuer entzündet, eine Taufe vorbereitet und eine Skulptur des Täufers gesucht wird, spitzt sich die Identitätskrise des Jungen zu.

Eingebunden ist diese kindliche Selbstsuche in ein verzweigtes Geflecht von Traditionen, religiösen Prägungen, familiären Konflikten zwischen Müttern und ihren Kindern sowie dem Streben einer Frau nach Unabhängigkeit und künstlerischer Selbstbestimmung. Die mehrfache Mutter Ane, die immer angespannt und gestresst wirkt, arbeitet nämlich als Bildhauerin, die sich in diesem Metier aber nur schwer vom Erbe ihres übermächtigen Vaters lösen kann. Im Formen von Skulpturen korrespondiert ihre Suche nach einer künstlerischen Identität also auch mit der Selbstfindung ihres Kindes. Als metaphorische Klammer zwischen individuellem Streben und familiärer Gemeinschaft fungieren wiederum die titelgebenden Bienen, die das Verschiedene zur Einheit integrieren. In Urresola Solagurens Film und in der mehrsprachigen Wirklichkeit der Basken ist mit diesen heiligen Tieren eine reichhaltige Tradition verbunden, die schließlich nicht nur zur Vorstellung einer Transzendenz führt, sondern auch Aitor im Übergang zu Lucía eine innere Gewissheit vermittelt. Schließlich, so wird einmal gesagt, reiche der Glaube weiter, als das Auge sehen könne.

The Scars of Ali Boulala

(NO/SE 2021, Regie: Max Eriksson)

Unwiederbringliche Verluste
von Wolfgang Nierlin

Die inneren Narben seien schlimmer als äußere Blessuren, sagt der Skateboardfahrer Ali Boulala im Rückblick auf seine rauschhafte Jugendzeit. Im Spannungsfeld zwischen Aufstieg und Fall einer Legende bewegt sich entsprechend …

Die inneren Narben seien schlimmer als äußere Blessuren, sagt der Skateboardfahrer Ali Boulala im Rückblick auf seine rauschhafte Jugendzeit. Im Spannungsfeld zwischen Aufstieg und Fall einer Legende bewegt sich entsprechend Max Erikssons hauptsächlich aus Archivmaterial bestehender Dokumentarfilm „The Scars of Ali Boulala“, der über weite Strecken relativ abstandslos die Faszination für die Subkultur der jugendlichen Skater abbildet. Ungefiltert und ohne Erläuterung von Hintergründen oder gar einer Wertung taucht der Film ein in ein exzessives Leben auf der Überholspur und reproduziert dabei mittels Amateurvideos waghalsige Kunststücke, halsbrecherische Mutproben, übermütige Ausgelassenheit und den selbstzerstörerischen Drogenkonsum innerhalb der Szene. Daneben kommentieren Freunde, Weggefährten, Familienmitglieder sowie der Porträtierte selbst aus der Erinnerung das Geschehen.

1979 in einem Vorort von Stockholm als Sohn einer finnischen Mutter und eines algerischen Vaters geboren, zeigt Ali bereits als Heranwachsender ein enormes Talent auf dem Skateboard. Er übt wie ein Besessener, gewinnt Wettbewerbe und geht bereits mit 16 Jahren in die USA, wo ihn das Flip-Team unter Vertrag nimmt. Bald avanciert der gutaussehende, kreative und ziemlich wilde Junge zum Star in der Skater-Community von Huntington Beach. „Bezahlt fürs Nichtstun“, pflegen die Mitglieder der verrückten Clique unter zunehmendem Realitätsverlust einen „Rock ’n‘ Roll-Lifestyle. Selbstvergessen und unbedacht stürzen sie sich in ebenso alberne wie gefährliche Abenteuer und sind dabei meistens stoned oder besoffen. Ali und seine Freunde leben und geben sich wie Punks und sind zugleich weltweit unterwegs. Sie verschwenden ihre Jugend und sind dabei ganz bei sich selbst.

Der unendliche Spaß endet, als Ali und sein bester Freund Shane Cross im März 2007 in Australien einen schweren Motorradunfall haben, bei dem der 20-jährige Shane stirbt. Ali überlebt schwerverletzt und mit tiefen Schuldgefühlen. Weil er als Fahrer bei dem Unfall stark alkoholisiert war, muss er ins Gefängnis. Doch er empfindet schon sein Überleben als Strafe, weil er seinen schweren Gedanken nicht entfliehen kann. Aus dem heiteren, unbeschwerten Skater, der einst unter der kalifornischen Sonne kein Vergnügen ausgelassen hat, wird jetzt ein nachdenklicher, verloren wirkender Mann von trauriger Gestalt, der gezwungen ist, seine Leidenschaft aufzugeben. Zwar heiratet Ali im Oktober 2010 seine Freundin Amanda, doch das tragische Gefühl unwiederbringlicher Verluste bleibt. Selbst seine Erinnerungen entziehen sich ihm immer wieder. „You can’t put your arms around a memory“, lautet entsprechend der Titel des Abspannsongs.

Chevalier Noir

(FR/DE/IR 2022, Regie: Emad Aleebrahim Dehkordi)

Vermächtnis des Niedergangs
von Wolfgang Nierlin

Weil der junge Iman (Iman Sayad Berhani) seinen Schlüssel verloren hat, muss er mal wieder über die Dächer klettern, um in sein Elternhaus im Teheraner Stadtteil Shemroon zu gelangen. Dort …

Weil der junge Iman (Iman Sayad Berhani) seinen Schlüssel verloren hat, muss er mal wieder über die Dächer klettern, um in sein Elternhaus im Teheraner Stadtteil Shemroon zu gelangen. Dort lebt er zusammen mit seinem kranken Vater (Behzad Dorani) und seinem jüngeren Bruder Payar (Payar Allahyani), der guten Seele der Familie. Doch eigentlich ist der energiegeladene Iman in seinem schnellen Leben, in dem er mit Drogen dealt und selbst oft high ist, ständig in Bewegung. Die dynamische Kamera folgt ihm dabei aus nächster Nähe in langen Plansequenzen. Als er eines Nacht mit seinem Motorrad in voller Fahrt mit einem großen Vogel kollidiert und dabei stürzt, ist das ein schlechtes Vorzeichen auf seinem unsicheren Weg in zunehmend konfliktbeladene Beziehungen. Anderntags trifft sich die Familie am Grab der unlängst verstorbenen Mutter. In der Auseinandersetzung um ein Grundstück kommt es zu Spannungen. Offensichtlich zehrt die verarmte Familie von ihrem Erbe.

„Es ist alles ein Vermächtnis“, lautet das Motto des Films, das Emad Aleebrahim Dehkordi ganz ans Ende von „Chevalier Noir“ gestellt hat. Der in Iran und Frankreich lebende Regisseur beobachtet in seinem höchst spannenden Langfilmdebüt gesellschaftliche Umbrüche, indem er den Niedergang einer traditionell wohlhabenden Schicht mit dem hippen Lebensstil neureicher, konsumorientierter und nach Spaß gierender Emporkömmlinge konfrontiert. Dabei ermöglicht er ungewöhnliche, bislang so kaum gesehene Einblicke in das Milieu hedonistischer Partypeople fernab von Religionswächtern und staatlichen Restriktionen. Im Kontrast dazu thematisiert er aber auch die Verluste derjenigen, die vom modernistischen Fortschrittsgauben überrollt werden. Zu ihnen gehört etwa Imans drogensüchtiger Maler-Freund, der in einer verwahrlosten Villa mit Garten lebt und einmal sagt: „Wir können auch zusammen depressiv sein.“

Der wegen seiner illegalen Geschäfte gestresste und zunehmend aggressiver werdende Dealer wurde im Dauerstreit mit seinem Vater nämlich der Wohnung verwiesen. In Dehkordis fast klassischer Tragödie, die auch eine Brudergeschichte ist, wird ihm Payar, der in seiner Freizeit boxt und der mit seiner für einen Besuch aus Frankreich zurückgekehrten Nachbarin Hanna (Masoumeh Beygi) eine verstohlene Romanze erlebt, zum stetigen Halt und auf tragische Weise zum Stellvertreter. Doch bevor sich die Gewalt brutal entlädt, sieht sich Iman in einem Alptraum als Toter unter den Flügeln eines gefräßigen Aasgeiers. Neben solchen symbolischen, auf Mythen verweisenden Einsprengseln besticht „Chevalier Noir“ aber vor allem durch seinen direkten, unverstellten Alltagsrealismus, der ehrlich und minutiös eine parallele, fast geheime Welt jenseits der offiziellen beschreibt.

How to Blow Up a Pipeline

(USA 2022, Regie: Daniel Goldhaber)

Eine filmische Reflexion über aktivistische Umweltgruppen
von Jürgen Kiontke

Rowan, Logan, die optisch an Carola Rackete erinnernde Theo und ihre widerständigen Freunde haben genug von der fossilen Umweltverschmutzung. Da sich auf normalem Wege nichts tut in Sachen Bekämpfung des …

Rowan, Logan, die optisch an Carola Rackete erinnernde Theo und ihre widerständigen Freunde haben genug von der fossilen Umweltverschmutzung. Da sich auf normalem Wege nichts tut in Sachen Bekämpfung des Klimawandels, beschließen die jungen US-Amerikaner, das fossile System direkt anzugreifen. So steht es in Andreas Malms Buch „How to Blow Up a Pipeline“. Filmregisseur Daniel Goldhaber wollte die Klimaaktivisten nicht einfach zwischen den Buchdeckeln verstauben lassen und hat sie nun vor die Kamera geholt.

Die Folgen des Klimawandels werden immer gewaltiger, finden sie. Mit Auf-die-Straße-kleben haben sie es nicht. Sie wollen die Infrastruktur im Erdöl-Staat Texas direkt angreifen. Die Pipeline hochjagen und eine Riesensauerei veranstalten. „Wir müssen den Leuten Angst machen!“, schallt es durch die Plenum-Sitzung. Jeder der jungen Leute hat seine eigenen Beweggründe; sei es, dass die Farm, jahrzehntelang in Familienbesitz, enteignet wurde, weil sie dem Pipeline-Bau im Weg stand, sei es, wie bei Michael, dass sein Indianerstamm immer schon betrogen wurde. Und sogar eine Polizeispitzelin in Doppelagentenrolle ist dabei.

Nicht ohne Witz erzählt Goldhaber vom zum Teil dilettantischen Vorgehen der Aktivisten. Nicht jeder ist voll bei der Sache, und gerade Rowan und Logan ziehen gern mal eine Tüte durch oder nutzen jede freie Zeit für Amouröses. Nicht zu vergessen: Sie haben starke Gegner, stellen extrem gefährliche Sprengstoffe her und planen nicht weniger als einen terroristischen Anschlag auf kritische Infrastruktur. „Ihr müsst auch an die Arbeiter denken, die dann ihren Lebensunterhalt verlieren oder nicht mehr ins Krankenhaus kommen, wenn sie einen Unfall haben“, wendet Afroamerikanerin Alisha ein und findet wenig Gehör. Müßig zu erwähnen, dass die Person, die unterm Strich mit die schwerwiegendsten Blessuren bei der Aktion davontragen wird, an die Situation von Arbeitern erinnert und schwarze Hautfarbe trägt.

Wir gehen so weit, wie wir wollen, um das zu verhindern, was wir als das Schlimmste ansehen: Goldhabers Film zeigt, wo der Klimaprotest mal landen könnte, sympathisiert dabei stark mit seinen Figuren, ihrem Handeln als kleine, isolierte und zum Äußersten bereite Gruppe, lässt aber dabei durchaus Raum für Widersprüche.

Diese Kritik erschien zuerst am 12.06.2023 auf: links-bewegt.de

Piaffe

(D 2022, Regie: Ann Oren)

Sexuelles Erwachen
von Wolfgang Nierlin

„Die Welt der Farne“, ihr stilles, wildes Wuchern nach ihrer Selbstbefruchtung, entfaltet sich unter der schwerfälligen Mechanik eines Kaiserpanoramas gewissermaßen auf einer Guckkastenbühne. Hier imaginiert der voyeuristische Blick des Botanikers …

„Die Welt der Farne“, ihr stilles, wildes Wuchern nach ihrer Selbstbefruchtung, entfaltet sich unter der schwerfälligen Mechanik eines Kaiserpanoramas gewissermaßen auf einer Guckkastenbühne. Hier imaginiert der voyeuristische Blick des Botanikers Novak (Sebastian Rudolph) sein erotisches Verhältnis zu den geheimnisvollen Pflanzen. Zugleich begegnen seine Augen an diesem präkinematographischen Ort der scheuen Eva (Simone Bucio), die ihre Blicke allerdings abwendet. Denn die junge Frau repräsentiert die Welt des Hörens. Als Geräuschemacherin vertritt sie ihre ältere Schwester Zara (Simon(e) Jaikiriuma Paetau), die nach einem Nervenzusammenbruch in der Psychiatrie gelandet ist. Eva soll einen Werbeclip für das Beruhigungsmittel „Equili“ synchronisieren, indem sie die Töne für ein auf der Stelle trabendes Pferd herstellt. Nach der Kunstgangart dieser Pferdedressur hat die Videokünstlerin Ann Oren wiederum ihr Langfilmdebüt „Piaffe“ benannt.

Die ersten Ergebnisse stellen den gnadenlos fordernden Werbeproduzenten allerdings nicht zufrieden. Auch sonst erlebt die unsicher und schüchtern wirkende Eva vor allem Ablehnung und Zurückweisung. Bis sie sich immer mehr in ihre Arbeit mit den Geräuschen vertieft und mit einem ganzen Arsenal von natürlichen Utensilien die Bewegungen und Geräusche des Pferdes nachahmt. Ihre Identifizierung mit dem dressierten Tier geht dabei so weit, dass ihr im Verlauf dieser Beschäftigung allmählich ein Schweif aus dem Steißbein wächst, der zum erotischen Fetisch und Signal wird. Immer deutlicher gewinnt Eva dabei ein sexuelles Selbstbewusstsein. Je mehr sie sich mit mimetischem Hufschlag und lustvoll benutztem Zaumzeug dressiert, desto genauer trifft sie die Töne. Evas entgrenztes, geschlechtsübergreifendes Erwachen findet in dem Botaniker schließlich ihr Gegenüber und einen schweigsamen Komplizen im erotischen Spiel mit Fesselung und Schweif.

Ann Oren erfindet für den Verwandlungs- und Selbstfindungsprozess ihrer Protagonistin eine phantastische, grenzüberschreitenden Sexualität zwischen Mensch und Tier, Pflanzen und Dingen. Dabei ist ihr ruhiger, sorgsam erzählter und in warmes Licht getauchter Film, der auf 16mm gedreht wurde, zugleich eine Hommage an die analoge Welt mit ihrer Haptik und Materialität. Dafür braucht es kaum Dialoge. Stattdessen entfalten die Geräusche einen Echoraum für erotische Phantasien. Rot, Blau und Grün werden dabei zu den dominierenden Farben der Lust. Wenn Eva ihren zukünftigen Gespielen im Botanischen Garten mit eindeutigen Avancen aufsucht, betritt sie ihr Paradies des Begehrens; und wenn sie schließlich mit ihrem „Techno-Piaffe-Tanz“ allein die Tanzfläche der Disco erobert, ist sie ganz bei sich angekommen.

Bis ans Ende der Nacht

(D 2023, Regie: Christoph Hochhäusler)

Im falschen Leben gefangen
von Wolfgang Nierlin

Etwas fängt an, etwas beginnt neu, während in der durch die Montage zeitlich gerafften Exposition eine leere, helle, fast aseptisch weiße Wohnung renoviert und eingerichtet wird. Dazu legen sich große, …

Etwas fängt an, etwas beginnt neu, während in der durch die Montage zeitlich gerafften Exposition eine leere, helle, fast aseptisch weiße Wohnung renoviert und eingerichtet wird. Dazu legen sich große, gelbe Buchstaben über das kühle, kunstvolle Bild; und aus dem Off erklingt ein gefühliges Liebeslied aus vergangenen Zeiten, das nahtlos übergeht in eine Einweihungs- und Begrüßungsfeier, die von Robert Demant (Timocin Ziegler) und Leni Malinowski (Thea Ehre) gegeben wird. Die 25-jährige Transfrau, die bereits vor ihrer neuen Geschlechtsidentität mit dem homosexuellen Polizisten zusammen war, ist vorzeitig und unter Auflagen aus der Haft entlassen worden. Sie soll jetzt zusammen mit Robert verdeckt im Milieu eines Drogendealers ermitteln, für den sie früher gearbeitet hat und der seine illegalen Online-Geschäfte mit seiner Arbeit als Discobetreiber und Musikproduzent tarnt. Unter veränderten Vorzeichen und gefakten Bedingungen startet das Liebespaar also in ein neues, falsches Leben.

Entsprechend behauptet Christoph Hochhäuslers bemerkenswerter Film „Bis ans Ende der Nacht“ große, melodramatische Gefühle, gestaltet in artifiziellen, visuell ausgefeilten Bildern. Diese führen konsequent ins nächtliche Blau, in eine Schattenwelt des Undeutlichen sowie in ein schillerndes Wechselspiel aus Wahrheit und Lüge. Der renommierte Bildgestalter Reinhold Vorschneider etabliert für dieses Oszillieren zwischen Melodram und Film noir auf sehr elegante Weise ein stark dominierendes visuelles Konzept aus gestaffelten Räumen, sich überlagernden, ineinander spiegelnden Bildern sowie verschwimmender Grenzen zwischen innen und außen. Dadurch entstehen Verschiebungen und eine brillante Uneindeutigkeit, die sich mit der tastenden, neugierigen Erkundung von Räumen verbindet und mit der doppelt unsicheren Identität der beiden Protagonisten korrespondiert.

Denn der in Widersprüchen gefangene Robert hat nicht nur Probleme damit, seine noch immer heftige Liebe zu Leni mit ihrem neuen Selbstverständnis in Einklang zu bringen, sondern er zweifelt auch immer mehr an einem Job, der sein Doppelleben zunehmend infrage stellt und unmöglich macht. Als er und Leni sich schließlich bei einem Tanzkurs mit dem gesuchten Dealer Victor Arth (Michael Sideris) anfreunden, werden die Grenzen zwischen Liebe und Verrat immer durchlässiger. Fast scheint es, als fänden die Handelnden in ihrem schmerzlichen Hin und Her zwischen Nähe und Distanz zu einem wahreren, gewissermaßen zu ihrem eigentlichen Selbst. Und tatsächlich ist das Verbindende in Christoph Hochhäuslers vielschichtigem Film manchmal nur durch eine hauchdünne Scheibe getrennt; und das Trennende wird aufgehoben durch einen verbindenden Blick.

Hier gibt es ein Interview mit Christoph Hochhäusler zu „Bis ans Ende der Nacht“.

Picknick in Moria

(D 2022, Regie: Lina Luzyte)

Warten auf ein besseres Leben
von Wolfgang Nierlin

Ein vollbesetztes, motorisiertes Boot mit Flüchtlingen ist unterwegs in der Weite des Meeres. Ein anderes, von dem man glauben soll, es handle sich um dasselbe, legt kurz darauf an einem …

Ein vollbesetztes, motorisiertes Boot mit Flüchtlingen ist unterwegs in der Weite des Meeres. Ein anderes, von dem man glauben soll, es handle sich um dasselbe, legt kurz darauf an einem Ufer an, wo die Ankömmlinge von vermutlich Einheimischen beschimpft und angefeindet werden. Dann erklären Textinserts, dass Geflüchtete, die im Jahr 2020 auf der griechischen Insel Lesbos landen, nicht willkommen sind und Europa keine weiteren Asyl- und Schutzsuchende aufnehmen wolle. Das für 2.500 Menschen ausgelegte Flüchtlingslager Moria sei mit 13.000 Menschen heillos überfüllt. Bedingt durch lange, ungewisse Wartezeiten befänden sich diese, verstärkt durch unwürdige Lebensbedingungen, mithin in einer „Sackgasse“. Kurz darauf vermittelt ein geschmeidiger Drohnenflug der Kamera über Wege, Zelte und Wellblechhütten einen ersten Eindruck der Lagerrealität.

Der politische Zusammenhang, der mit den ersten, vermutlich aus verschiedenen Quellen stammenden Bildern von Lina Lužytės Film „Picknick in Moria“ („Blue Red Deport“) nahegelegt wird, ist ebenso klar wie manipulativ. Auch wenn das Anliegen berechtigt und dringlich erscheint, bleiben die dabei verwendeten, intransparenten filmischen Mittel fragwürdig und problematisch. Eine mangelhafte Kontextualisierung, fehlende oder nur angedeutete Hintergründe und ein leider nur oberflächlicher, teils plakativer Blick auf die Lagerrealität bestimmen auch den weiteren Verlauf des angeblich heimlich gedrehten Films. Dabei geht es ihm und seinem Protagonisten Talibshah Hosini um eine „Erkundung der Realität“. Der geflüchtete afghanische Filmemacher und Schauspieler arbeitet mit seiner Familie und Lagerinsassen nämlich gerade an einem Film, der die prekären Lebensbedingungen in dem Camp beschreiben und über die Gefühlslage der Geflüchteten aufklären soll.

Als Film-im-Film dokumentiert die litauische Regisseurin diese mitunter beschwerlichen Dreharbeiten. Die Übergänge zu den Szenen des Lageralltags sind dabei fließend. Daneben zeigt Lina Lužytė die Vorbereitungen des Drehs, bei denen Talib Hosini seinem Cast aus Laien die von eigenen Erlebnissen inspirierte Handlung erklärt. In Interviews und Selbstauskünften stellt er wiederum sich und seine Familie vor. Dabei erzählt er auch von den Gründen, die den kritischen Künstler, seine Frau Yasamin, vormals Betreiberin eines Schönheitssalons, und die drei kleinen Töchter dazu bewogen haben, unter den Drohgebärden der Taliban ihre Heimat zu verlassen; diese Gründe will er jetzt, unterstützt von einer Helferin, bei einer Anhörung geltend machen.

Das Familienportrait und die Impressionen von den primitiven, provisorischen Lebensbedingungen verbinden sich so inhaltlich mit den in Ausschnitten gezeigten Film-im-Film-Spielszenen, die ebenfalls inszeniert erscheinen und nicht frei sind von problematischen Übergriffen im Umgang Hosinis mit seiner ältesten Tochter. Die Botschaft des mitunter forsch und ungeduldig auftretenden Mannes ist dabei unmissverständlich: „Wir sind nach Europa gegangen, weil wir den Fortschritt wollten, aber gelandet sind wir in der Steinzeit“ und an einem „schmutzigen, unfreundlichen Ort“, wie die Tochter – tatsächlich oder in einer Spielszene? – ergänzt. Lina Lužytės relativ distanzloser, aber diskussionswürdiger Film solidarisiert sich mit dieser Aussage und wird so zum Sprachrohr für ein immer dringlicher werdendes Problem.

Orphea in Love

(D 2022, Regie: Axel Ranisch)

Vom Suchen und Finden der Liebe
von Wolfgang Nierlin

Im Off summt leitmotivisch eine Schmeißfliege, während sich Theaterblut über den Bühnenboden ergießt. Doch dort, wo der Film beginnt und endet und sich Leben und Tod verbinden, laufen die Bilder …

Im Off summt leitmotivisch eine Schmeißfliege, während sich Theaterblut über den Bühnenboden ergießt. Doch dort, wo der Film beginnt und endet und sich Leben und Tod verbinden, laufen die Bilder zunächst rückwärts in der Zeit. Was blutrot ist, wird wieder sauber und weiß. Der Tod hat nicht das letzte Wort. Und so können Leben und Liebe noch einmal beginnen. Axel Ranischs Opernfilm „Orphea in Love“, in dem die Geschlechterrollen des antiken Mythos vertauscht sind, wechselt fließend zwischen Traum und Wirklichkeit, Imagination und Inszenierung, wobei die beiden Protagonisten ihre Gefühle (füreinander) vor allem singend und tanzend ausdrücken.

Das beginnt schon im Callcenter, wo Nele (Mirjam Mesak) für ihr Studium jobbt und unter den kontrollierenden Blicken ihrer strengen Chefin (Christina Große) vergeblich versucht, ihre Quote zu erfüllen. Doch weil sie Geburtstag hat und außerdem von einem Kollegen angehimmelt wird, verwandelt sich das verschachtelte, in warmes Licht getauchte Großraumbüro unter den Klängen aus Puccinis Oper „La rondine“ kurzzeitig in eine Theaterbühne, auf der glückliche Mitarbeiter singen und tanzen. Neles Liebestraum wird aber erst wahr, als sie auf dem Weg zu ihrem Zweitjob als Garderobiere dem Taschendieb Kolya (Guido Badalamenti) begegnet, der am Stadtrand in einem Turm lebt. Als sie außerdem während der Aufführung der „Madame Butterfly“ spontan den Gesangspart der schwächelnde Titelheldin übernimmt, wird sie kurz darauf zusätzlich von dem zwielichtigen und selbstherrlichen Künstleragenten Höllbach (Heinz Pinkowski) mit einem Karriereangebot gelockt.

„Eines Tages sehen wir einen Rauchstreifen am Horizont“, singt Nele. Während sie und Kolya, getrieben von Sehnsucht und Verlangen, sich gegenseitig suchen und finden, verlieren und wieder vereinen, dabei auf erträumten Bühnen und in realen Unterführungen von fließenden, fast tanzenden Kamerabewegungen umhegt werden, öffnen sich in Axel Ranischs ebenso romantischer wie phantasievoller Opern-Revue Türen in die Vergangenheit. „Deine Stimme gegen sein Leben“, lautet Höllbachs perfides Angebot, bevor sich Nele auf den Weg in die Unterwelt begibt. Wird sie zugunsten der Liebe auf ihre Kunst verzichten? Muss sie etwa selbst noch eine alte Schuld abtragen? Axel Ranischs vielfach gebrochenes, zwischen Ernst und Humor changierendes Musical gibt die Antworten darauf, flankiert von viel Musik und einer Prise Selbstironie, natürlich auf den Brettern, die die Welt bedeuten.

Valeria is getting married

(IL/UA 2023, Regie: Michal Vinik)

Fremde Nähe
von Wolfgang Nierlin

Strömender Dauerregen geht nieder über Tel Aviv, als Christina (Lena Fraifeld) und ihr Mann Michael (Yakov Zada Daniel) zum Flughafen fahren, um Valeria (Dasha Tvoronovich) abzuholen. Die junge Ukrainerin, die …

Strömender Dauerregen geht nieder über Tel Aviv, als Christina (Lena Fraifeld) und ihr Mann Michael (Yakov Zada Daniel) zum Flughafen fahren, um Valeria (Dasha Tvoronovich) abzuholen. Die junge Ukrainerin, die außerdem Christinas jüngere Schwester ist, soll mit dem Israeli Eitan (Avraham Shalom Levi) verheiratet werden, den sie bislang nur vom Skypen her kennt. Vermittelt hat das Treffen wiederum der eifrig bemühte Michael, der für seine Dienste eine stattliche Provision kassiert. Doch schon bei der Ankunft in seiner Wohnung spürt man neben Unsicherheiten und einer allgemeinen Anspannung aller Beteiligten einen unverhohlenen Erwartungsdruck, dem die fremde junge Frau ausgesetzt ist. Dieser verstärkt sich schließlich noch, als der etwas unbeholfene, aber offensichtlich tatsächlich verliebt Eitan zum Essen eintrifft, das bald zum kommunikativen Minenfeld zwischen den Sprachen und unterschiedlichen Erwartungen wird.

Michal Vinik inszeniert in ihrem filmischen Kammerspiel „Valeria is getting married“ diese zunehmenden Verstimmungen und sprachlichen Parallelhandlungen, indem die agile Kamera mit Schärfenverlagerungen auf die wechselnden Figurenkonstellationen blickt. Dabei sucht sie immer wieder die Nähe zur Titelheldin, während sich die Blicke überkreuzen, die Erwartungen allmählich ins Übergriffige übergehen und draußen der Regen scheinbar noch zunimmt. Zwischen erhoffter Freiheit, verbunden mit der Sehnsucht nach einem besseren Leben, und einer sich abzeichnenden Abhängigkeit spitzt sich die angespannte Situation schließlich zu, als sich Valeria plötzlich im Badezimmer einschließt.

Schon das erste Bild des Films imaginiert diese Szene, die zugleich den dramatischen Höhepunkt bildet: Hinter der geriffelten, halbtransparenten Glasscheibe einer Tür erscheint verschwommen die Silhouette eines nicht identifizierbaren Menschen. Zwischen An- und Abwesenheit, Nähe und Ferne, innen und außen, Sprechen und Schweigen ist schließlich Valeria, der diese unscharfen Umrisse gehören, gefangen. Die israelische Regisseurin Michal Vinik benutzt diese Undeutlichkeit, in der sich die innere Zerrissenheit der Heldin spiegelt, um von Abhängigkeiten und einem prinzipiellen Ungleichgewicht in Beziehungen zu sprechen. Während das eine Drama unter Gewittergrollen seinen Lauf nimmt, deutet sich zugleich der Beginn eines anderen an.

Fucking Bornholm

(PL 2022, Regie: Anna Kazejak)

Unangenehme Wahrheiten
von Wolfgang Nierlin

Die Fahrt mit der Autofähre führt übers Meer zur dänischen Ostseeinsel Bornholm. Zwischen den beiden befreundeten Paaren, die sich im Bordrestaurant ironisch necken, belauern und miteinander frotzeln, ist die Stimmung …

Die Fahrt mit der Autofähre führt übers Meer zur dänischen Ostseeinsel Bornholm. Zwischen den beiden befreundeten Paaren, die sich im Bordrestaurant ironisch necken, belauern und miteinander frotzeln, ist die Stimmung ungezwungen und noch relativ unbekümmert. Ein gemeinsamer Campingurlaub in den Dünen soll Erholung und Entspannung bringen. Der Blick übers Meer geht in die Weite. Und wenn sich an der Anlegestelle des Zielortes schließlich die große Heckklappe der Fähre öffnet, wird der sich eröffnende Raum so hell und leer wie eine Tabula rasa. Diese wird in Anna Kazejaks tragikomischem Film „Fucking Bornholm“ im Folgenden beschrieben mit einer Feriengeschichte, die sich zu schmerzlichen Ehedramen ausweitet.

Die Verstimmung beginnt schon damit, dass der reservierte übliche Stellplatz bereits von einer anderen Familie belegt ist, was die beiden pragmatischen Männer der Neuankömmlinge zunächst sportlich nehmen. Während sich der geschiedene David (Grzegorz Damięcki) und seine deutlich jüngere Freundin Nina (Jaśmin Polak) im Gefühl einer frischen Verliebtheit offen und tolerant geben, vermittelt das unterschwellig angespannte Verhältnis zwischen den Ehepartnern Maja (Agnieszka Grochowska) und Hubert (Maciej Stuhr), die in Begleitung ihrer beiden minderjährigen Söhne sind, eheliche Ernüchterung und sexuelle Frustration. Als es nachts im Zelt der Kinder, in dem auch Davids etwa gleichaltriger Sohn schläft, zu einem verstörenden Übergriff kommt, der immer weitere Kreise zieht, spitzen sich die schwelenden Konflikte in den Beziehungen der Paare zu. Zwischen Selbstvorwürfen und der Schuldfrage fordert vor allem die sichtlich schockierte Maja, sich unangenehmen Wahrheiten zu stellen.

Die polnische Regisseurin Anna Kazejak verbindet diese ebenso schwierige wie spannungsreiche Aufklärung mit einem entlarvenden Blick auf die Geschlechterrollen und die emotionalen Zerrüttungen in langjährigen Beziehungen. In sorgsam komponierten, stimmungsvollen Bildern erzählt sie subtil und genau von verschwiegenen Verletzungen, die zu Brüchen führen und von einem überkommenen Rollenverständnis, das weibliche Sehnsüchte und Bedürfnisse noch immer unterdrückt. Dabei fühlt sich vor allem Maja in ihrer Mutterrolle gefangen; bis sie es schließlich doch wagt, einen Schritt in das unerschlossene Feld ihrer unerfüllten Träume zu unternehmen.

Nostalgia

(IT/FR 2022, Regie: Mario Martone)

Labyrinth der Erinnerung
von Wolfgang Nierlin

„Die Erkenntnis liegt in der Nostalgie. Wer nichts verloren hat, besitzt sie nicht“, wird zu Beginn des Films Pier Paolo Pasolini zitiert. Ein Mann mittleren Alters kehrt nach langer Abwesenheit …

„Die Erkenntnis liegt in der Nostalgie. Wer nichts verloren hat, besitzt sie nicht“, wird zu Beginn des Films Pier Paolo Pasolini zitiert. Ein Mann mittleren Alters kehrt nach langer Abwesenheit zurück nach Neapel. Wie ein Fremder bewegt er sich gemessenen Schrittes und mit aufmerksamem Blick durch die belebten Straßen und verwinkelten Gassen des alten Viertels Sanità. Vierzig Jahre lang hat Felice Lasco (Pierfrancesco Favino), der als Bauunternehmer in Kairo lebt, die Orte seiner Kindheit und wilden Jugend nicht gesehen. Merkwürdig vertraut erscheinen ihm diese bei seiner langsamen Annäherung. Nichts habe sich verändert, als seien die Zeit und mit ihr das Leben stehengeblieben. Und tatsächlich wirken die in Rückblenden und in einem anderen Bildformat eingestreuten Erinnerungen wie ein Abbild der Gegenwart. Nur die Tür zur elterlichen Wohnung bleibt zunächst verschlossen. Denn Felices alte Mutter Teresa (Aurora Quattrocchi), eine ehemalige Näherin, ist mittlerweile in einer anderen Wohnung des maroden Hauses untergebracht.

Fürsorglich und liebevoll kümmert sich der nachdenkliche Heimkehrer um seine gebrechliche, vernachlässigte Mutter, die noch einmal aufblüht und dann plötzlich stirbt. „Ab heute wird deine Mutter in dir leben. Heiße sie willkommen“, sagt der Priester Don Luigi (Francesco Di Leva) zum trauernden Sohn. In dem von der Camorra dominierten Viertel, das außerdem unter einer hohen Arbeitslosigkeit leidet, ist der Geistliche mit seiner Kirche ein Hort des Widerstands und der Integration. Don Luigi hält nicht nur flammende Reden gegen das organisierte Verbrechertum, sondern bietet den gefährdeten Jugendlichen in den Kirchenräumen ganz unkonventionell auch einen sicheren Rückzugs- und Gegenort. Bald und nach anfänglichen Widerständen gehört auch Felice zu seinen Schützlingen. Denn dieser wird geplagt von einer schweren Vergangenheit und der tiefen Freundschaft zu einem Mann namens Orest (Tommaso Ragno), der jetzt einer der berüchtigten Clan-Bosse ist.

In seinem atmosphärisch stimmungsvollen Film „Nostalgia“, einer Adaption des gleichnamigen Romans von Ermanno Rea, folgt der selbst aus Neapel stammende Film- und Theaterregisseur Mario Martone seinem melancholischen Helden durch die Labyrinthe der Stadt und der Erinnerung. Dabei taucht der Heimwehkranke langsam und sehr bewusst immer tiefer ein in eine unstillbare Sehnsucht, die ihn mit seiner Identität verbindet und zugleich zunehmend gefährdet. Verloren zwischen Vergangenheit und Gegenwart verirrt sich Felice in einem notwendigen, aber trügerischen Gefühl von Nähe und Vertrautheit. In einem getragenen Rhythmus und mit einer genauen, fast dokumentarisch anmutenden Milieuzeichnung erzählt Mario Martone von der Nostalgie eines Mannes, der in eine Heimat zurückkehren möchte, die ihn einst ausgestoßen hat und nun nicht mehr haben will. Felices Sehnsucht ist zugleich sein Schicksal.

Vor dem Morgengrauen

(FR 2007, Regie: Philippe Garrel)

Liebeskranke Gespenster
von Wolfgang Nierlin

Indem der junge Fotograf François (Louis Garrel) die verheiratete Schauspielerin Carole Weissman (Laura Smet) fotografiert, verliebt er sich in sie. Kunst und Liebe sind eins in Philippe Garrels Film mit …

Indem der junge Fotograf François (Louis Garrel) die verheiratete Schauspielerin Carole Weissman (Laura Smet) fotografiert, verliebt er sich in sie. Kunst und Liebe sind eins in Philippe Garrels Film mit dem poetischen Titel „Vor dem Morgengrauen“ („La frontière de l’aube“). Der Künstler ist hier ein Begehrender und ein romantischer Idealist, der seine Gefühle verabsolutiert. François beansprucht, „länger als immer“ zu lieben. „Wahre Liebe“ ist für ihn „mehr als eine Beziehung“, was für ihn bedeutet, mit und durch den andern zu leben. François ist aber auch ein Theoretiker der Liebe, der seinen Worten mehr traut als seinen Gefühlen und der im Zweifelsfall vor der Verantwortung flieht. Und das wiederum macht ihn anfällig für jene Schuldgefühle, die im Unterbewusstsein nisten, in der Stille wachsen und schließlich als Gespenster in die Wirklichkeit eintreten. Der Künstler als junger Mann ist in Garrels Film schließlich vor allem ein unangepasster Schwärmer, der sich in seinem emotionalen Bewegungsdrang ungern festlegen lässt.

Dagegen bewegt sich Caroles Liebeskrankheit zwischen Besessenheit und Wahnsinn, was sie ebenso geheimnisvoll wie unberechenbar macht. Sie wirkt unstet, psychisch labil und depressiv. Sie trinkt zu viel und hat schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie sagt: „Ich mache oft dumme Sachen.“ In der Liebe will sie mit dem Geliebten verschmelzen und dann verschwinden. Das Nichts scheint ihr näher zu sein als das Absolute. Ihre unstillbare Sehnsucht kann sich nur im Tod erfüllen. Im Leben ist Carole eine Verzweifelte, die zu François sagt: „Wenn du mir nicht vertraust, bin ich allein.“ Später, nach einem weiteren Selbstmordversuch, wird sie in einer psychiatrischen Klinik mit Elektroschocks behandelt, als wolle man ihr alles Begehren und jegliche Sehnsucht austreiben.

Diese Szenen wirken wie aus der Zeit gefallen, was durch die schwarzweiße Optik und die Verwendung von Kreisblenden (Kamera: William Lubtchansky) noch unterstrichen wird. Außerdem konzentriert sich Philippe Garrel auf eine überschaubare, in sich geschlossene Welt, um die sich zwischen Anziehung und Abstoßung bewegenden Liebeskranken zu inszenieren. Jenseits von ihnen und ihren Konflikten ist das Leben diffus und abstrakt. Selbst die Räume taugen kaum zur Wiedererkennbarkeit. Sie sind karg, spartanisch und kaum möbliert. Die wiederkehrenden Mansardenzimmer fungieren in Garrels Werk als Topoi unsteter, vorübergehender und prekärer Lebensverhältnisse. In ihnen wohnen Außenseiter und Künstler, die ihren Nonkonformismus mit Einsamkeit bezahlen. Ihnen widmet Garell mit seinem Film eine von Melancholie grundierte, traurig-schöne Hommage: „Wir sind das schlafende Volk. Diejenigen, die Geschichte machen, sind in der Überzahl.“

Der Film ist bis zum 30.06.2023 als TV-Erstaufführung in der Arte-Mediathek abrufbar.

Ramba Zamba

(D 2023, Regie: Sobo Swobodnik)

"Wir tanzen durch den Kiez"
von Jürgen Kiontke

Moritz ist voll Schlamm. Und das hat seinen Grund: Er spielt den Golem, den Mann aus Lehm. Der ist die zentrale Figur im neuen Stück des RambaZamba-Theaters, eines Projektes von …

Moritz ist voll Schlamm. Und das hat seinen Grund: Er spielt den Golem, den Mann aus Lehm. Der ist die zentrale Figur im neuen Stück des RambaZamba-Theaters, eines Projektes von und mit Behinderten. Das inklusive Theater hat seine feste Spielstätte auf dem Gelände der Kulturbrauerei in Berlin Prenzlauer Berg, und neben dem Golem schon x Stücke auf die Bretter gebracht. Es wurde 1990 von den Regisseuren Gisela Höhne und Klaus Erforth gegründet.

Mittlerweile umfasst das Ensemble rund 30 Personen. Ziel war und ist es, „ein Theater zu machen, das süchtig macht, unterhaltsam ist, zugänglich und menschlich bleibt“, wie der jetzige Intendant Jacob Höhne sagt. Man sei offen für sämtliche Spielarten der Kunst und habe dabei immer den einzigartigen Ausdruck der Darsteller*innen im Blick. In den Worten des Schauspielers Jonas Sippel: „Wir tanzen durch den Kiez.“

Entlang der Proben zum „Golem“ wird der Alltag in dieser außergewöhnlichen Spielstätte erzählt, wo die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung Realität ist und mit bis zu 100 Vorstellungen im Jahr ihren künstlerischen Aus- wie Eindruck findet.

Die Praxis, Menschen mit einer Behinderung nicht zu verstecken, sondern in ihren künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten zu fördern, war dem für innovative Filmarbeit bekannten Regisseur Sobo Swobodnik Grund genug, zum 30-jährigen Bestehen einen Dokumentarfilm über diese Bühne zu drehen. „Ramba Zamba“ soll nicht nur ein Film über Inklusion, Diversität, Integration und Partizipation sein, der die Darsteller*innen porträtiert und bei Proben und Auftritten begleitet, er will selbst Kunstprojekt sein, an dem exemplarisch abzulesen ist, wie das Zusammenspiel von Menschen mit und ohne Behinderung funktioniert. Handlung und Ablauf werden weitgehend von den Protagonisten selbst gestaltet, gern mit der Handkamera, damit bekommt ihr Blick auf die Wirklichkeit Raum. Eine experimentelle Versuchsanordnung, „bei der der integrative und inklusive Ansatz auch in den filmischen Prozess mit integriert wird“, sagt Swobodnik über seinen sehenswerten Film.

Diese Kritik erschien zuerst am 11.05.2023 auf: links-bewegt.de

All the Beauty and the Bloodshed

(USA 2022, Regie: Laura Poitra)

Kampf gegen Stigmatisierung
von Wolfgang Nierlin

Es sei leicht, sein Leben in eine Geschichte zu verwandeln, sagt Nan Goldin. Schwieriger und wichtiger sei es aber, die dem Körper eingeschriebenen Erinnerungen daran zu bewahren. In Laura Poitras‘ …

Es sei leicht, sein Leben in eine Geschichte zu verwandeln, sagt Nan Goldin. Schwieriger und wichtiger sei es aber, die dem Körper eingeschriebenen Erinnerungen daran zu bewahren. In Laura Poitras‘ preisgekröntem Film „All the Beauty and the Bloodshed“ erinnert sich die 1953 geborene Fotokünstlerin an ihr Leben, an Lieben, Freunde, Süchte und Kämpfe. Sechs Kapitel gliedern diese sehr persönlichen Erinnerungen, die Nan Goldin mit rauer, brüchiger Stimme aus dem Off spricht, während ihre Erzählung von einer Tonbildschau ihrer Arbeiten und von Undergroundfilmen über ihre subkulturelle Community begleitet werden. Daraus resultiert eine unmittelbare Nähe zu ihrem Leben, das gewissermaßen mit der starken Intimität ihrer Fotos verschmilzt. Nachdem sie bereits als Jugendliche der Enge ihres Vorstadt-Elternhauses entfliehen kann, taucht sie lustvoll und mit einem großen Freiheitsdrang ein in jenes Milieu von sexuellen Außenseitern und künstlerischen Randexistenzen, die sich zwischen Autonomie und Abhängigkeit bewegen.

In den Fotos zur „Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“ hat Goldin diese von Sex, Drogen und Abweichung gekennzeichnete Szene ebenso lustvoll wie schmerzlich porträtiert. Für die Fotografin waren diese Bilder ein Mittel, sich künstlerisch zu finden und als Mensch zu behaupten. Zugleich sind ihr die Fotos Schutz vor der Angst und Sublimierung unterdrückter Sehnsüchte. Leben und Kunst fallen bei Nan Goldin, die sich zeitweise prostituiert und drogensüchtig ist, in eins. Als in den 1980er Jahren Aids die Szene erschüttert und viele ihrer Freunde tötet, wird Goldin einerseits zur trauernden Chronistin; andererseits muss sie schmerzlich erfahren, wie Ausgrenzung und Stigmatisierung zu einer verfehlten Politik führen. Hier wiederholt sich auf gesellschaftlicher Ebene eine traumatische Erfahrung, die sie im familiären Rahmen seit ihrer Kindheit begleitet: Damals hatte sich ihre geliebte ältere Schwester Barbara, die angeblich psychisch krank war, im Alter von 18 Jahren das Leben genommen.

In Laura Poitras‘ vielschichtigem Film fungiert dieser persönliche Schicksalsschlag als grundlegende Erfahrung von Unterdrückung und Abhängigkeit. Diese spiegelt sich schließlich auch in einer weiteren gewichtigen, parallel gesetzten Erzählung des Films: Poitras dokumentiert darin ab 2018 – und damit auf dem Höhepunkt der sogenannten Opioidkrise – Nan Goldins öffentlichkeitswirksamen Kampf gegen den Pharmakonzern der einflussreichen Milliardärsfamilie Sackler. Nach einer Operation selbst abhängig geworden von dem stark süchtig machenden Schmerzmittel Oxyconktin, dem nach Schätzungen über eine halbe Million Menschen zum Opfer gefallen sind, startet Goldin mit ihrer Gruppe P.A.I.N. Aktionen in Museen. Denn die Sacklers sind bedeutende Mäzene und Sponsoren der Kunst. Als politische Aktivistin klagt die Künstlerin also ihre eigenen Förderer an und erringt im Verlauf dieses Prozesses zusammen mit ihren Freunden mehr als nur symbolische Erfolge. In Laura Poitras‘ sehenswertem, zwischen Gegensätzen und Widersprüchen ausgespanntem Film erhalten die Ausgegrenzten schließlich zumindest einen Teil ihrer Würde zurück.

Sparta

(AT/FR/DE 2022, Regie: Ulrich Seidl)

Trübe Welt
von Wolfgang Nierlin

Eine Gruppe alter Menschen, zum Blick des Betrachters frontal aufgereiht in Rollstühlen, intoniert mit brüchiger Stimmkraft das Lied „So ein Tag, so wunderschön wie heute“. Wie seinen vorhergehenden Film „Rimini“ …

Eine Gruppe alter Menschen, zum Blick des Betrachters frontal aufgereiht in Rollstühlen, intoniert mit brüchiger Stimmkraft das Lied „So ein Tag, so wunderschön wie heute“. Wie seinen vorhergehenden Film „Rimini“ eröffnet Ulrich Seidl auch „Sparta“, den zweiten Teil seines filmischen Diptychons über zwei ungleiche Brüder, mit dieser Szene in einem Seniorenheim. Und es liegt erneut im Urteil des Betrachters, ob er diese problematische Darstellungsform ausgestellten Leids als mitfühlend oder einfach nur als zynisch empfindet. Auch die Szenen mit dem Heiminsassen Ekkehart (Hans-Michael Rehberg in seiner letzten Rolle) sind ein Déjà-vu. Nur wird der demente Alt-Nazi, der verloren durch die Gänge irrt und alte Kampflieder summt, diesmal nicht vom abgehalfterten Schlagersänger Richie Bravo besucht, sondern von dessen verdruckstem Bruder Ewald Scholz (Georg Friedrich). Dieser schiebt den Vater auf den Friedhof, um ihn mit der Urne seiner kürzlich verstorbenen Frau abzulichten.

Dann fährt Ewald nach Rumänien, wo er in der Schaltzentrale einer großen, von außen marode ausschauenden Fabrik in offensichtlich leitender Position arbeitet. Um was es dabei geht, bleibt unklar. Ewald hat auch eine junge rumänische Freundin, die er bald heiraten will. Doch weil es mit dem Sex nicht klappt und beide darüber frustriert sind, packt Ewald eines Tages wortlos seinen Koffer. Parallel dazu deutet der Film an, dass sich der Mittvierziger offensichtlich stärker zu kleinen Jungs hingezogen fühlt. Immer wieder sucht er Spielplätze auf und mischt sich zunächst auf scheue Art in Kinderspiele ein. Ewald sehnt sich nach einer Nähe, die er sich zugleich verbietet. Er leidet, weil er sein pädophiles Begehren unterdrückt. Das scheint sich zu ändern, als er im Sommer in der baufälligen Schule eines entlegenen Dorfes ein Judo-Camp für Kinder errichtet, die sich dort bald wohler fühlen als in ihren zerrütteten Elternhäusern. Kurz darauf deutet sich eine ebenso schüchterne wie zärtliche Liebe zwischen Ewald und einem der Jungen an.

Dass der Protagonist ganz selbstverständlich fremde Höfe und Häuser betritt, seine „Sparta“ betitelte Festung zusammen mit den Kindern errichtet und dabei kaum behelligt oder befragt wird, mutet wie manches andere merkwürdig unplausibel an. Zumal Ulrich Seidls zweifelhafte Wirklichkeitserforschung neben der üblichen Improvisation mit Laienspielern noch deutlicher dokumentarische Mittel einsetzt. Zwar inszeniert er noch immer mit einer gewissen Schaulust seine berüchtigten Tableaus der Hässlichkeit, aber die Schnittfrequenz, verbunden mit einem flüssigen Handkamerastil, ist deutlich erhöht. Im grauen, rauen und kaputten Ambiente finden gegensätzliche Außenseiter an einem selbstgewählten Zufluchtsort zu einer Gemeinschaft zusammen und – ungeachtet abstruser Plot-Twists – zu einer Geborgenheit. Ulrich Seidls Helden sehnen sich trotz aller Widersprüche auch in „Sparta“ nach einem „Paradies: Liebe“. Doch auch diesmal lässt die Vertreibung daraus nicht lange auf sich warten: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“, erklingt deshalb erneut zum Schluss der Anfang aus Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“.

Music

(DE/FR/GR/RS 2022, Regie: Angela Schanelec)

Der Klang des Schmerzes
von Marit Hofmann

„Sag mir mehr darüber“, verlangt Iro (Agathe Bonitzer), als sie am Telefon erfährt, dass ihr Ex getötet wurde. Diese Worte sprechen der Zuschauerin aus dem Herzen. Über weite Strecken hat …

„Sag mir mehr darüber“, verlangt Iro (Agathe Bonitzer), als sie am Telefon erfährt, dass ihr Ex getötet wurde. Diese Worte sprechen der Zuschauerin aus dem Herzen. Über weite Strecken hat die für ihre so hermetischen wie eigensinnigen Filme bekannte Angela Schanelec in „Music“ bis zu diesem Telefonat konsequent auf gesprochene Sprache nahezu verzichtet. Die Zuschauerin lechzt nach Erklärungen. Während andere deutsche Regisseur*innen auf enervierende Weise noch für die Begriffstutzigsten alles auserzählen, deutet die originellste Vertreterin der Berliner Schule nur an und lässt die Bilder ihrer starren Kamera und die sparsame Mimik ihrer Darsteller*innen sprechen: lange Einstellungen, lange Blicke.

Am Anfang ist Nebel über den Bergen, irgendwann ein Donnerhall – und es ist zunächst nur eine Ahnung: Hier sind wir mitten in einer Katastrophe. Es verschlägt dem Film und seinen Protagonist*innen die Sprache. „Es ging darum, Bilder für Vorgänge zu finden, für die es meiner Meinung nach keine Worte gibt. Unser Leben ist voll von missglückter Verständigung“, sagt Schanelec dazu. „Bei Spielfilmen habe ich oft den Eindruck, es wird etwas gezeigt, damit es auch geglaubt wird. Das ist mir fremd. Für mich liegt in der Auslassung erst die Chance, zu erzählen.“

Und das treibt sie diesmal auf die Spitze. Noch mehr als in ihren früheren Filmen, versucht die Zuschauerin sich mühevoll einen Reim aus dem Geschehen zu machen und ohne den Hinweis aus Pressemappe und Filmplakat „frei nach dem Ödipus-Mythos“ wäre ich womöglich gar nicht auf diesen Pfad gelangt, zumal (mutmaßlicher) Vater und Sohn in Schanelecs griechischer Tragödienvariation gleich alt wirken.

Erst durch das Telefonat geht Iro und der Zuschauerin nachträglich ein Licht auf: Ihr neuer Partner Jon (Aliocha Schneider) hat seinen Vorgänger im Impuls getötet. Während Iro an ihrer Erkenntnis zerbricht, begnadigt Schanelec ihren Ödipus und lässt ihn im wahrsten Sinne im Dunkeln tappen. Zwar landet Jon zunächst im Gefängnis, wo er Iro und seine Liebe zur Musik kennenlernt, zwar verliert er Iro wieder und erblindet nach und nach – doch durch die Entdeckung des eigenen Gesangstalents wird ihm Erlösung zuteil.

© Grandfilm

Jon kehrt ins gesellschaftliche Leben zurück und avanciert vom Findelkind in den griechischen Bergen zum Berliner Berufsmusiker, dessen Falsettgesang den Film in sphärische Höhen gleiten lässt. Die titelgebende Musik gibt es nie aus dem Off, sondern als Bestandteil der Handlung und sie rettet Leben: Barockmusik vom Rekorder im Knast und von Jon selbst gesungene Klänge (Filmmusik: Doug Tielli) – die Musik nimmt als Ausdruck des Unbewussten am Ende so viel Raum im Film ein, dass sich hier die beiden Kunstformen vermischen. „Ich scheue die Musik, weil sie schnell überwältigt“, räumt Schanelec im Interview ein. „Jetzt gab es durch den Schmerz einen Grund, eine Notwendigkeit für die Musik.“

Eine Ödipus-Aufführung von Sophokles hatte die junge Angela Schanelec offenbar so nachhaltig beeindruckt, dass sie nun, Jahrzehnte später, diese verrätselte und traumschöne filmische Variation des Mythos vorlegen musste und dabei die Zuschauerin den eigenen Assoziationen überlässt. Während ich, um mitzukommen, mein mythologisches Halbwissen zusammenkratzte, fiel mir auf, dass ich selbst mit Sophokles’ Ödipus Musik verknüpfe, aber in gänzlich anderer Weise.

Mein Lateinlehrer, ein promovierter Altphilologe, der gern mit Pschychotricks arbeitete, die Schultheater-AG leitete und von seinen Jünger*innen verehrt wurde, bat mich in seiner Inszenierung des „Ödipus“, Klarinette zu spielen. Ein angehender Komponist von unserer Schule würde die Musik schreiben und habe gesagt, er brauche unbedingt eine Klarinette. Ich versuchte, ihn abzuwimmeln. Aber Dr. B. sah mir eindringlich in die Augen und sprach den unheilvollen Satz: „Du weißt, dass ich auf dich angewiesen bin.“ So verbrachte ich einen Großteil meiner Freizeit mit Musik- und Theaterproben und begleitete zusammen mit einer Querflötistin Sophokles’ Chor mit Zwölftonklängen. Nach der Premiere kam ich mit dem Komponisten ins Gespräch. Warum er eigentlich eine Klarinette wollte. „Eine Klarinette? Ich habe dem B. gesagt, er soll einfach gucken, welche Instrumente er auftreiben kann.“ Erst durch „Music“ bin ich auf die Idee gekommen, was ich Dr. B. hätte antworten sollen: „Warum lassen Sie Ödipus nicht einfach selber singen?“

Diese Kritik erschien zuerst am 04.05.2023 in: ND

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Music“.

Für die Vielen – Die Arbeitskammer Wien

(AT 2022, Regie: Constantin Wulff)

Gerechtigkeit für immer
von Wolfgang Nierlin

Hinter den vielen Fensterscheiben des wuchtigen, langen Gebäudes herrschen emsiges Treiben und ein konzentrierter Austausch. Die Wiener Arbeiterkammer (AK) mit ihren 700 Angestellten ist seit hundert Jahren Anlaufstelle für Rat- …

Hinter den vielen Fensterscheiben des wuchtigen, langen Gebäudes herrschen emsiges Treiben und ein konzentrierter Austausch. Die Wiener Arbeiterkammer (AK) mit ihren 700 Angestellten ist seit hundert Jahren Anlaufstelle für Rat- und Hilfesuchende aus der Arbeitswelt. Hier werden arbeitsrechtliche Fragen geklärt, säumige Lohnzahlungen eingefordert, Klagen über unfaire Arbeitsbedingungen eingereicht oder auch Hilfen bei Krankheitsfällen aufgezeigt. Die Anliegens sind so vielfältig wie die Menschen, die sich zu Beginn von Constantin Wulffs Dokumentarfilm „Für die Vielen“ an der Anmeldung der sozialen Einrichtung im schnellen Wechsel einfinden. Oft haben sie schlecht bezahlte Jobs, sind von Entlassung bedroht oder werden von ihren zwielichtigen Arbeitgebern betrogen. Dahinter verbergen sich Schicksale von Menschen, die unter prekären Bedingungen leben müssen und kaum Mittel haben, ihre Rechte einzufordern.

„Hier lebt die Gerechtigkeit“, heißt es einmal über die traditionsreiche Organisation, in deren Foyer eine große, rote Faust als Symbol der Arbeiterbewegung die Besucher begrüßt und die international ziemlich einmalig ist. Neben der konkreten Beratung und praktischen Hilfe beschäftigt man sich hier anlässlich des Jubiläums mit der eigenen Geschichte, plant eine Kampagne mittels eines modernen Imagefilms und liefert wissenschaftliche Expertisen für die politische Arbeit. Wulff beobachtet Teamsitzungen, in denen angeregt Argumente ausgetauscht werden, er dokumentiert eine Ausstellungseröffnung, eine Veranstaltung für Schüler zu Praktikumsfragen oder auch einen Auftritt des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty. Aus all diesen Initiativen und Maßnahmen, ihrem Wechsel aus praktischer und theoretischer Arbeit, die oft auch sprachliche Hürden zu überwinden hat, spricht ein hohes Maß an Solidarität.

Constantin Wulff filmt das wie der US-amerikanische Dokumentarist Frederick Wiseman im Stil des Direct Cinema als teilnehmender Beobachter, der auf Off-Kommentare, Interviews, dramatisierende Musik sowie Soundeffekte oder gar nachgestellte Szenen verzichtet. Das verleiht seinem Film „Für die Vielen“ den Charakter nüchterner, konzentrierter Sachlichkeit und lädt ihn auf mit konkreter Wirklichkeit, die der österreichische Filmemacher mit ergebnisoffenem Blick begleitet. Das ist auch nötig, als im Frühjahr 2020 die Corona-Pandemie zunächst für Verunsicherung, dann für ein verändertes Beratungsprozedere und umstrukturierte Arbeitsabläufe sorgt. Bilder leerer Flure und Büros beherrschen kurzzeitig die Szene. Daneben macht die Krise aber auch latente oder schon ältere Probleme der Arbeitswelt neu bewusst. Am Schluss vermittelt eine Montage von Stadtansichten eine Ahnung jener vielen unbekannten Schicksale, die Wulffs informativer Film zuvor zumindest in Ausschnitten greifbar gemacht hat.

The Whale

(USA 2023, Regie: Darren Aronosky)

Das enge Leben
von Jürgen Kiontke

Kino der härteren Gangart bietet „The Whale“ des Ausnahmeregisseurs Darren Aronofsky. Mit Filmen wie „The Wrestler“ und „Black Swan“ inszenierte er mit Hollywoodstars rabiate Körperlichkeit als Kinoereignis. An diese Filme …

Kino der härteren Gangart bietet „The Whale“ des Ausnahmeregisseurs Darren Aronofsky. Mit Filmen wie „The Wrestler“ und „Black Swan“ inszenierte er mit Hollywoodstars rabiate Körperlichkeit als Kinoereignis.

An diese Filme schließt er nun mit einem Werk an, das auf einem erfolgreichen Theaterstück beruht, dessen Hauptfigur mit über 200 Kilo schwerst adipös ist. Charlie, dargestellt von – in diesem Fall kann man in der Tat von Hollywood-Schwergewicht sprechen – Brendan Fraser im Fatsuit, hat eine traumatische Biografie, die er zum Anlass nimmt, sich extrem zu vernachlässigen. Unablässig stopft er Chips und Schokoriegel in sich rein, lässt den Pizzadienst täglich doppelt anfahren und stapelt das Essen übereinander. Als durchaus feinsinniger Literaturdozent analysiert er online mit seinen Studenten Hermann Melvilles epochales Werk „Moby Dick“, in dem der aggressive Walfänger Ahab den weißen Wal jagt. Welch bedrückende Geschichte, sagen die Studenten. Charlie erkennt sich indes selbst in Wal und Ahab als eine Person. Als vom Leben lädierte Figur, die letztlich sich selbst zur Strecke bringt.

Die „Moby Dick“-Thematik ist äußerst kunstvoll ins Skript gewoben. Charlie hat vor Jahren ohne Rücksicht auf Verluste seine Familie verlassen, um mit einem Studenten eine Beziehung zu führen, der bald darauf starb. Der Freund war in einer radikalen Christensekte aufgewachsen, konnte seine Lebensführung nicht mit den erlernten religiösen Dogmen in Einklang bringen. Immer wieder wird Charlie von einem Wanderprediger ebenjener Provenienz aufgesucht, die seinen Lebenspartner zur Strecke brachte.

Charlie weiß, dass sein übermäßiger Nahrungsmittel-Konsum – Stichpunkte: Bluthochdruck, Herzinsuffizienz u. a. – irgendwann seinen eigenen Tod bedeuten wird. Vorher aber will er wieder mit seiner Familie in Kontakt treten. Nicht einfach: Seine Ex-Frau Mary hängt an der Flasche, Tochter Ellie ist eine Jugendliche voller Gewaltgefühle.

Aronofskys Film: Einerseits eine Reflexion über Lebensgewohnheiten manch Durchschnittsamerikaners voller schlechtem, aber extrem kalorienreichem Plastikfutter und ohne Krankenversicherung, andererseits komplexes Familiendrama, zusammengeführt auf der recht begrenzten Fläche eines Wohnzimmer-Sofas.

Schauspieler Brandon Fraser glänzt sicher in einer perfekten Maskerade als Schwergewichtiger auf engstem Raum, keine Frage. Und doch bleibt dieses Werk unter seinen Möglichkeiten, besteht es in der zweiten Hälfte aus reichlich Weinen und Umarmen und erzählerischem Herumstehen. Dramaturgische Stringenz war Aronofskys Ding zwar noch nie, hier aber liefert er die visuell ehrlichen Momente, die den Film hätten ausmachen können, oft eher nicht, vielleicht um dem Vorwurf des Voyeurismus auszuweichen. Welche Schwierigkeiten Charlies Dasein mit sich bringt, wird oft nur angedeutet. Der Regisseur vermeidet allzu drastischer Darstellung; übrig bleibt letztlich ein jugendfreies Familiendrama. Aber das ist auch echt ‘ne Geschmackssache, vielleicht ist der Film genau richtig so, indem er bei manchen Dingen eben in Andeutungen verbleibt. „The Whale“ dürfte jedenfalls eines der spektakulärsten Kinoereignisse des Jahres sein.

Diese Kritik erschien zuerst am 25.04.2023 auf: links-bewegt.de

Vamos a la playa

(D 2023, Regie: Bettina Blümner)

Das Ungleichgewicht der Liebe
von Wolfgang Nierlin

„Machen wir jetzt eine Gruppenreise?“, fragt der schon ungeduldig vor dem Flughafen wartende Benjamin (Leonard Scheicher) seine verspätet eintreffende Freundin Katharina (Victoria Schulz). Denn diese hat für den Trip nach …

„Machen wir jetzt eine Gruppenreise?“, fragt der schon ungeduldig vor dem Flughafen wartende Benjamin (Leonard Scheicher) seine verspätet eintreffende Freundin Katharina (Victoria Schulz). Denn diese hat für den Trip nach Kuba spontan noch Judith (Maya Unger) eingeladen. Der reiche Papa zahle alles, beruhigt die ziemlich unbekümmerte und abenteuerlustige Katharina die Gemüter. Für ihn sollen sie auch ihren auf Kuba abgetauchten Bruder Wanja (Jakub Gierszal) aufspüren, der dort an seiner Masterarbeit über Seekühe arbeitet und sich seit langem nicht mehr gemeldet hat. Warum das so ist und warum der gewissenhafte und pflichtbewusste Benjamin den Auftrag ernster nimmt als die Tochter des Auftraggebers, lässt sich nur erahnen. Denn Bettina Blümner interessiert sich in ihrem diesbezüglich wenig entwickelten Plot ihres Films „Vamos a la playa“ mehr für die Beziehungs- und Liebeswirren ihrer jungen Protagonisten. Und so wird die Suche nach dem Verschwundenen eher zu einem Vorwand.

Sie wolle keine Beziehung führen, in der sie sich – so wie ihre Mutter – abhängig und bevormundet fühle, sagt Judith einmal zu Benjamin. Dieser verliebt sich zögerlich in die junge, selbstbewusste Frau, ist aber zu kontrolliert und angepasst, um den günstigen Zeitpunkt für ein intimes Geständnis zu nutzen. Stattdessen entwickelt Judith Gefühle für den Salsa-Tänzer Ignacio (Eugenio Torroella Ramos), der aus einer armen Familie stammt. Soziale und kulturelle Unterschiede, vor allem aber das enorme Wohlstandgefälle zwischen Touristen und Einheimischen deutet der Film in einigen Streiflichtern an. Gespiegelt werden die ungleichen Verhältnisse aber vor allem in der materialistischen Einstellung und dem Machtgebaren Katharinas, die vor allem nach Sex sucht, bereit ist, dafür zu zahlen und doch nur Enttäuschungen erlebt. Sie reproduziert gewissermaßen das von ihr verachtete Verhalten ihres Vaters.

„Was ist ein guter Orgasmus?“, fragt sich Katharina in einem ihrer Selbstgespräche, die sie mit ihrem Smartphone aufzeichnet. Diese zeitgeistigen Selbstbekundungen, die als dokumentarische Einsprengsel lose und eher unmotiviert über den Film verteilt sind, haben aber kaum einen Mehrwert in Bezug auf die Charakterisierung der Figuren. Gegliedert durch die zeitliche Angabe der einzelnen Tage, die sich schließlich zu drei Wochen summieren, tritt die Suche trotz räumlicher Veränderungen auf der Stelle. Wanjas plötzliches Auftauchen in der Stadt Trinidad gegen Ende der dünnen Handlung erscheint dann eher zufällig und hat auch keine besonderen Konsequenzen, obwohl bekannt wird, dass sein Vater schwer erkrankt ist. Diverse Ungereimtheiten in den nur oberflächlich skizzierten Familienbeziehungen legen nahe, dass der Fokus des um Authentizität bemühten und gut gespielten Films auf etwas anderes gerichtet ist, und zwar auf das Ungleichgewicht der Liebe im Spannungsfeld sozialer Differenzen. Nur leider mangelt es diesem traditionsreichen Thema in der vorliegenden Bearbeitung an Stringenz und Vertiefung.

Schulen dieser Welt

(FR 2021, Regie: Emilie Thérond)

Die Kraft der Bildung
von Jürgen Kiontke

Ob im Nomadenlager inmitten von Sibiriens Schneemassen, im stickigen Buschland von Burkina Faso oder auf Booten in den überfluteten Gebieten Bangladeschs: Überall leben Kinder, die was lernen sollen. Dafür braucht …

Ob im Nomadenlager inmitten von Sibiriens Schneemassen, im stickigen Buschland von Burkina Faso oder auf Booten in den überfluteten Gebieten Bangladeschs: Überall leben Kinder, die was lernen sollen. Dafür braucht es Lehrkräfte, die weite Wege und ungewöhnliches Gelände nicht scheuen. Regisseurin Émilie Thérond hat nun drei von ihnen in ihrem neuen Film „Schulen der Welt“ begleitet. Svetlana Vassileva, Sandrine Zongo und Taslima Akter unterrichten an schwer zugänglichen Orten, haben nichtsdestotrotz mit schwierigen Schülern und Eltern zu tun. Sie haben nicht mal Kollegen oder ein Schulgebäude, sprich, sie arbeiten unter erschwerten Bedingungen. Sie eint ihre Berufsauffassung: Kindern Bildung zu vermitteln – egal wo!

Akter zum Beispiel unterrichtet in Bangladeschs Schwemmland Kinder, deren Eltern lieber sähen, dass sie zu Hause helfen würden und nicht irgendwelche Flausen in den Kopf gesetzt bekommen, wie etwa arbeiten oder gar studieren zu gehen. Sie arbeitet auf einem abgewrackten Kahn, der zum Schulschiff umgerüstet wurde. Mit bescheidensten Mitteln bringt sie ihren Schülerinnen Lesen und Schreiben bei, verhindert Minderjährigen-Ehen, stiftet Frieden. Vassileva dagegen ist mit dem Motorschlitten schon mal 200 Kilometer in der Tundra unterwegs, um unwilligen Kindern Einzelunterricht zu geben. Und Zongo lässt ihre Familie zurück, um auf dem Land in der Provinzschule zu arbeiten.

Vor der Kamera kommen Lehrerinnen, Eltern und Schüler zu Wort. Ein Kaleidoskop von Bildung ohne große Systeme, die allein vom Einsatz der Lehrkräfte lebt. Das Thema Bildung war und ist durchaus Thema im Kino – sei es „Herr Bachmann und seine Klasse“, der 2021 auf der Berlinale und anschließend preisgekrönt im Kino lief, oder demnächst am 4. Mai auch „Das Lehrerzimmer“ von lker Çatak, eine Reflexion über den Druck, der auf den Lehrkräften liegt. Allerdings fehlt beiden der Drive, den Théronds überaus flott gedrehte Dokumentation an den Tag legt: Der Lehrer Bachmann hat für die Selbstdarstellung seiner Arbeit in einer Unterstützungsklasse von Migranten, die schlecht oder noch gar nicht Deutsch sprechen, immerhin dreieinhalb Stunden Zeit, das zunächst ambitionierte „Lehrerzimmer“-Drama versackt unverständlicherweise im Slapstick.

Die „Schulen dieser Welt“ kommt ohne Witzchen aus, sind aber ganz und gar nicht witzlos. Und jedenfalls absolut sehenswert.

Diese Kritik erschien zuerst am 19.04.2023 auf: links-bewegt.de

Die Gewerkschafterin

(DE/FR 2022, Regie: Jean-Paul Salomé)

Mutige Kämpferin
von Wolfgang Nierlin

Im Keller ihres Hauses sitzt am 17. Dezember 2012 seit Stunden eine an Händen und Füßen gefesselte Frau. Ihr Kopf steckt in einem Sack, ihr Mund ist geknebelt. Außerdem hat …

Im Keller ihres Hauses sitzt am 17. Dezember 2012 seit Stunden eine an Händen und Füßen gefesselte Frau. Ihr Kopf steckt in einem Sack, ihr Mund ist geknebelt. Außerdem hat der maskierte Täter, der die Gewerkschaftsführerin Maureen Kearney (Isabelle Huppert) überfallen hat, mit einem Messer ein großes „A“ auf ihren Bauch geritzt und danach das Tatwerkzeug mit dem Griff voran in ihre Vagina eingeführt. Seit vielen Jahren setzt sich Kearney für die Interessen von Arbeitenden in der französischen Atomindustrie ein. Allein beim führenden Kraftwerkbauer Areva vertritt sie als Vorsitzende des Betriebsrates 50.000 Beschäftigte. Verstört und traumatisiert muss sich die sonst mutige und leidenschaftliche Kämpferin für Arbeitnehmerrechte demütigenden Fragen und gynäkologischen Untersuchungen unterziehen und dabei immer deutlicher erfahren, dass ihr mit zunehmendem Misstrauen begegnet wird. Bald steht sie im Fadenkreuz der polizeilichen, ziemlich übergriffigen Ermittlungen, die aus dem Opfer eine Verdächtige machen.

Chronologisch strukturiert durch Zeit- und Ortsangaben erzählt Jean-Paul Salomé in seinem nach einem authentischen Fall entstandenen Film „Die Gewerkschafterin“ („La syndicaliste“) zunächst die Vorgeschichte. Als bei Areva die Konzernchefin Anne Lauvergeon (Marina Foïs) entlassen und durch den ehrgeizigen Choleriker Luc Oursel (Yvan Attal) ersetzt wird, verliert Maureen Kearney nicht nur eine loyale Partnerin, sondern der Umgangston und die Bandagen werden zunehmend härter. Der machtbewusste Oursel erträgt offensichtlich keinen weiblichen Widerspruch. Die Lage spitzt sich schließlich zu, als Kearney von einem Informanten mit dem bezeichnenden Namen Tirésias erfährt, dass der angeschlagene Konzern an einen chinesischen Konkurrenten verkauft werden soll und dadurch viele Arbeitsplätze bedroht wären. Ihr Weg führt sie deshalb zu hochrangigen Politikern. Gleichzeitig erhält sie anonyme Anrufe und wird wiederholt auch körperlich bedroht.

Jean-Paul Salomé inszeniert diese Passagen und die polizeilichen Ermittlungen durch den Kommissar Nicolas Brémont (Pierre Deladonchamps) als spannenden Polit- und Verschwörungsthriller zwischen Aufklärung und Paranoia. Dabei findet er in den Architekturen repräsentativer Gebäude sowie in großen, hellen Räumen jene Bilder männlicher Macht und eines korrupten Wohlstands, denen sich die Protagonistin, schwankend zwischen Beharrlichkeit und Fragilität, entgegenstellt. Während die wirtschaftlichen Zusammenhänge im Hintergrund weitgehend ausgespart bleiben, konzentriert sich der französische Regisseur auf den Kampf einer zutiefst verletzten Frau, die offensichtlich nicht in das übliche Opferschema passt und deshalb kriminalisiert wird. Die sich über mehrere Jahre hinziehenden rechtlichen Auseinandersetzungen, die der Film dokumentiert, zeigen aber auch und vor allem die Stärke einer Frau, die in immer neuen Anläufen für ihr Recht streitet.

Roter Himmel

(D 2023, Regie: Christian Petzold)

Das Leichte und das Schwere
von Wolfgang Nierlin

„In my mind, love’s gonna make us blind“, singen die Wallners aus dem Off, während ein Auto durch ein Waldstück mehr gleitet als fährt. Die vorbeiziehenden, im Autofenster gespiegelten Baumreihen, …

„In my mind, love’s gonna make us blind“, singen die Wallners aus dem Off, während ein Auto durch ein Waldstück mehr gleitet als fährt. Die vorbeiziehenden, im Autofenster gespiegelten Baumreihen, die sich auf das schläfrige Gesicht eines jungen Mannes legen, verbinden sich mit den schwebenden Sounds der Musik zu einer traumverlorenen Atmosphäre. Diese endet jäh, als das Fahrzeug plötzlich mit einer Panne liegenbleibt und die beiden Freunde Felix (Langston Uibel) und Leon (Thomas Schubert) die letzten Kilometer zum idyllischen Ferienhaus an der Ostsee zu Fuß mit dem schweren Gepäck zurücklegen müssen. Es ist dies der bezeichnende Auftakt einer ganzen Reihe unvorhergesehener Bedingungsänderungen und nicht geplanter Situationen, die von den Ankömmlingen eine Anpassungsleistung verlangen. Denn bei ihrer Ankunft müssen sie feststellen, dass das Haus schon belegt ist und sie also nicht allein sein werden. In den Zimmern herrscht Unordnung, eines davon ist schon belegt und so müssen sich die beiden jungen Männer das andere teilen.

Lange bleibt die hübsche Nadja (Paula Beer) fast ein Phantom. Bevor sie die Szene betritt und sichtbar wird, ist sie zum Leidwesen der anderen nur zu hören, wenn sie nachts beim Liebesspiel mit dem Rettungsschwimmer Devid (Enno Trebs) stöhnt. Vor allem der stets mürrische und angeödete Leon, der als angehender Schriftsteller an seinem zweiten Roman arbeitet und sich unentwegt allen anderen möglichen Aktivitäten verweigert, fühlt sich gestört, reagiert distanziert und abweisend. Während er wichtigtuerisch Schreibarbeit simuliert und dabei das Leben der anderen beobachtet, genießen diese die Freiheit eines unbeschwerten Sommers am Meer. Insgeheim eifersüchtig, missgünstig und nicht frei von Vorurteilen kreist Leon um sich selbst und versäumt dabei sich, die anderen und das Leben. Er leidet darunter, ausgeschlossen zu sein, und tut alles dafür, diesen Status gegen seine eigentlichen Gefühle aufrechtzuerhalten. Liebe macht eben blind. Doch die Flammen der Waldbrände, die nachts den Himmel rötlich färben und sich immer bedrohlicher nähern, sind bald nicht mehr zu übersehen.

Sehr spielerisch, mit überraschenden Wendungen und subtilen Zwischentönen inszeniert Christian Petzold in seinem neuen Film „Roter Himmel“ die Entwicklungsgeschichte eines jungen, unsicheren und von Selbstzweifeln geplagten Mannes, der gezwungen wird, sein mühsam geschaffenes und kultiviertes Selbstbild neu zu hinterfragen und dabei auf die anderen zuzugehen. Besonders als Leons Verleger (Matthias Brandt) eintrifft, nach und nach die Biographien und Identitäten der andern sichtbar werden und ein tragisches Unglück die Beziehungen überschattet, wird Leons unfreiwillige Häutung zum schmerzlichen Prozess. Trotzdem gelingt es Petzold auf filmisch feinfühlige Weise eine wunderbare Balance zwischen Leichtem und Schwerem zu halten und dabei ganz selbstverständlich auch das Verhältnis von Leben und Kunst zu thematisieren. Denn nach diesem Sommer einer blinden Selbstkonfrontation wird der verloren erscheinende Held seine Erlebnisse in einem neuen Roman verarbeiten.

Die Kairo Verschwörung

(SW/FR/FI 2022, Regie: Tarik Saleh)

Das zweischneidige Schwert der Macht
von Wolfgang Nierlin

Als am Horizont die Sonne über dem Meer aufsteigt, kehren Adam (Tawfeek Barhom) und sein Vater vom Fischfang zurück. Weil ihre Mutter gestorben ist, erledigen die drei Brüder alle Haushaltsaufgaben, …

Als am Horizont die Sonne über dem Meer aufsteigt, kehren Adam (Tawfeek Barhom) und sein Vater vom Fischfang zurück. Weil ihre Mutter gestorben ist, erledigen die drei Brüder alle Haushaltsaufgaben, während die väterliche Autorität unmissverständlich Gehorsam und Zusammenhalt einfordert. Die Welt ist überschaubar geordnet in dem kleinen ägyptischen Küstenort, wo der Imam als moralische Instanz, als Religionsführer und als Ratgeber in Lebensfragen fungiert. Er ist es auch, der eines Tages dem jungen Adam einen Brief der Azahr-Universität aushändigt. Darin wird dem Fischersohn mitgeteilt, dass er zum Studium an die altehrwürdige Bildungseinrichtung aufgenommen werde. Diese gilt nicht nur als „Leuchtturm der islamischen Wissenschaften“, sondern auch als Zentrum des sunnitischen Glaubens. Und weil Adam seine Begabung von Gott erhalten habe, gibt auch der Vater dem Studierwunsch seines Sohnes den Segen.

Nach einer langen Busfahrt, die im Verkehrschaos von Kairo mündet, führt Adams Weg in eine davon abgetrennte, faszinierend neue Welt, wo Studieren und Wohnen, religiöse Unterweisung und Leben untrennbar miteinander verwoben sind. In der Abgeschiedenheit dieses Mittelpunkts, umgeben von Büchern und versunken in Gebeten wachsen das Wissen und der Glaube. „Vergiss nicht, wo du herkommst“, hatte Adams Vater beim Abschied gesagt. Jetzt, in der Enge des Schlafsaals, wird der angehende Student von einem Kommilitonen mit einem dazu gegensätzlichen Satz begrüßt: „Wer du bist, spielt keine Rolle, sondern nur, wer du sein willst.“ Bald darauf wird der bodenständige, zurückhaltende Adam von diesen Worten auf völlig unerwartete Weise eingeholt. Denn als unerwartet der Großimam stirbt, wird der gelehrige Schüler plötzlich in eine Rolle gezwungen, die bei ihm Unsicherheit, Misstrauen und Angst auslöst. In Gestalt von Oberst Ibrahim (Fares Fares) streckt nämlich der staatliche Geheimdienst seine mächtigen Hände aus, um den unerfahrenen Studenten für eine schmutzige Intrige zu gewinnen.

Zwar vermittelt Tarik Saleh in seinem Film „Die Kairo Verschwörung“ zunächst eindrückliche Bilder einer weitgehend unbekannten „Gelehrtenrepublik“, samt ihren Räumen und Ritualen; sein Hauptinteresse gilt aber den Machtkämpfen im Innern einer traditionsreichen Institution im Spannungsfeld zwischen staatlicher Einflussnahme und religiöser Autonomie, zwischen weltlichem und geistlichem Leben. Weil der Staat die Nachfolge des Imam manipulieren möchte, wird Adam als möglicher Spion rekrutiert und von Ibrahim durch Überwachung, Erpressung und politische Indoktrination gefügig gemacht. Immer tiefer wird der unschuldige „boy from heaven“, als den ihn der Originaltitel des Films apostrophiert, von der dunklen Seite der Macht zwischen die rivalisierenden ideologischen Fronten gezogen.

Im schier undurchschaubaren Dickicht der Interessen wird er zum Verräter und zum Spielball, bewahrt sich aber durch seine intellektuelle Stärke und moralische Integrität doch einen Rest von Unabhängigkeit. Tarik Saleh bettet Adams Verlust der Unschuld, seine heldenhafte Rolle als gewissenhafter Vermittler und seine schlussendliche Rückkehr zu den Wurzeln in einen spannenden und erhellenden Politthriller. Dieser gewährt Einblick hinter die dicken Mauern einer einflussreichen Institution und mündet in der Erkenntnis: „Die Macht ist ein zweischneidiges Schwert. Man kann sich leicht selbst daran schneiden.“

Victim

(SK/CZ/DE 2023, Regie: Michal Blaško)

Moralisches Dilemma
von Wolfgang Nierlin

Ein Bus steht im Stau. Es ist dunkel, nass und kalt. Weil die mitreisende Ukrainerin Irina (Vita Smachelynk) sehr in Eile ist, steigt sie kurzerhand in diesem unwirtlichen Nirgendwo aus, …

Ein Bus steht im Stau. Es ist dunkel, nass und kalt. Weil die mitreisende Ukrainerin Irina (Vita Smachelynk) sehr in Eile ist, steigt sie kurzerhand in diesem unwirtlichen Nirgendwo aus, um nach einer anderen Mitfahrgelegenheit zu suchen. Die Handkamera folgt ihr dabei in einer langen Einstellung aus subjektiver Perspektive und gibt damit die sozialrealistische Tonlage von Michal Blaškos Film „Victim“ vor. Dann sieht man die besorgte junge Mutter am Krankenhausbett ihres minderjährigen Sohnes Igor (Gleb Kuchuk), der schwerverletzt eingeliefert wurde und operiert werden musste. Angeblich wurde er von mehreren gleichaltrigen Jungs aus der Nachbarschaft verprügelt, die in der tschechischen Kleinstadt zur Minderheit einer Roma-Community gehören. Die Hochhaussiedlung, in der die beiden gesellschaftlichen Randgruppen aufeinandertreffen, gehört zu einem sozialen Brennpunkt. Irina, die offensichtlich nicht zum ersten Mal Ärger mit ihrer Nachbarschaft hat, ist stark und willens, sich und ihren Sohn zu verteidigen.

Diese Details werden nach und nach erzählt und fügen sich erst allmählich zu einem zunehmend widersprüchlichen Bild. Ein Kriminalkommissar namens Novotný (Igor Chmela) ermittelt wegen schwerer Körperverletzung. Oder handelt es sich womöglich um einen Unfall, den der Junge aus Scham zu kaschieren versucht, weil er im Übermut einem Mädchen imponieren wollte? Bald hat der Zuschauer gegenüber anderen Figuren einen Wissensvorsprung und wird damit zum Komplizen von Mutter und Sohn. Die alleinerziehende Irina, die in einem Einwanderer-Wohnheim als Reinigungskraft arbeitet und einen Sprachkurs absolviert, befindet sich offenbar in einer prekären Lage. Seit Jahren bemüht sie sich vergeblich um die tschechische Staatsbürgerschaft, die ihr außerdem dabei helfen soll, zusammen mit einer Freundin einen Frisiersalon zu eröffnen.

Der slowakische Regisseur Michal Blaško entfaltet in seinem mit Genre-Elementen angereicherten Sozialdrama „Victim“ ein dichtes Geflecht aus Wahrheit und Lüge, gegenseitigen Abhängigkeiten und Vorurteilen. Dabei führt er seine unter vielfachen Einflüssen und Einflüsterungen stehende Protagonistin, die zugleich als Vehikel für die Darstellung gesellschaftlicher Einflussnahme fungiert, sukzessive in ein tiefes moralisches Dilemma, das entfernt an ähnliche Konfliktlagen in den Filmen der Brüder Dardenne oder auch in denjenigen des Iraners Asghar Farhadi erinnert. Diese missliche Lage, die aus der Dynamik einmal getroffener Entscheidungen und aus dem Zwang der Umstände resultiert, spitzt sich noch zu, als der smarte, sich tolerant gebende Rechtsnationale Selský (Viktor Zavadil) im Verbund mit der Presse den Fall für seine politischen Zwecke zu instrumentalisieren versucht. Zwischen mühsam unterdrückten Schuldgefühlen und einem natürlichen, sehr menschlichen Gerechtigkeitsempfinden versucht sich Irina gegen subtile Manipulationen und Erpressungen zu wehren. Ihr Engagement zielt immer deutlicher auf Wiedergutmachung. Einmal sagt sie zu Igor: „Das Wichtigste ist jetzt, dass wir nicht zu viel reden.“

Der Gymnasiast

(FR 2022, Regie: Christophe Honoré)

Das Verlorene wiederfinden
von Wolfgang Nierlin

Hinter der spiegelnden Autofensterscheibe vermischen sich die Konturen von Lucas‘ (Paul Kircher) Gesicht mit den herbstlichen Farben der vorbeiziehenden Landschaft. Seit dem plötzlichen Unfalltod seines Vaters (Christophe Honoré) fühlt sich …

Hinter der spiegelnden Autofensterscheibe vermischen sich die Konturen von Lucas‘ (Paul Kircher) Gesicht mit den herbstlichen Farben der vorbeiziehenden Landschaft. Seit dem plötzlichen Unfalltod seines Vaters (Christophe Honoré) fühlt sich der 17-jährige Internatsschüler desorientiert und hilflos. Aus dem Off erzählt er von seiner Angst und einer tiefen Verunsicherung. Wenn der mädchenhaft hübsche Junge dann im Bild ist, scheint er zu einem unsichtbaren Gegenüber, vielleicht zu einem Therapeuten zu sprechen. „Mein Leben ist zu einem wilden Tier geworden“, bekennt Lucas, der eigentlich eher sensibel und zärtlich wirkt. Nach der unheilvollen Nachricht erleidet er einen Nervenzusammenbruch und gerät außerdem in einen heftigen Streit mit seinem älteren Bruder Quentin (Vincent Lacoste), während seine Mutter (Juliette Binoche) und die Familie unter Schock stehen. Auch sein Freund Oscar (Adrien Casse) kann ihm nicht aus der Verstörung helfen. Er wolle sich allein „ein neues Schicksal suchen“, sagt Lucas.

Als ihn Quentin, der in Paris als Künstler lebt, in einer Geste der Versöhnung für eine Woche zu sich einlädt, keimt in dem innerlich zerrissenen Jungen eine neue Lust am Leben. Lucas verlässt Chambéry, wo die umgebenden Berge der französischen Alpen deutliche Grenzen setzen, um sich mit seinen widerstreitenden, impulsiven Gefühlen im Großstadtdschungel zu verlieren. Überhastet und unkontrolliert stürzt er sich in Abenteuer. Ziemlich schnell verliebt er sich in Quentins älteren Mitbewohner Lilio (Erwan Kepoa Falé), einen unglücklichen Maler, der sich prostituiert, bleibt aber einsam. Auf ein anonymes Sex-Date folgt im gewagt provozierenden Gegenschnitt das Gespräch mit einem Priester, in dem es um die Hoffnung geht, etwas Verlorenes wiederzufinden.

Lucas‘ innere Zerrissenheit auf der Suche nach Liebe und einem neuen Halt erzeugt immer wieder zeitliche Verschiebungen und Risse in der Chronologie, in die sich auch Albträume mischen. In seinem melancholischen Film „Der Gymnasiast“ übersetzt Christophe Honoré, der selbst früh seinen Vater verloren hat und sich insofern auf eigene Erfahrungen bezieht, die innere Unruhe seines Helden in eine fiebrige Ästhetik. In unruhigen, bewegten Bildern sucht er die Nähe zu den Gefühlen seiner Figuren, folgt ihren intensiven seelischen Erschütterungen und emotionalen Ausbrüchen. Lucas‘ chaotisch erscheinende Auseinandersetzung mit Verlust und Trauer, die in einem heftigen Absturz schließlich zu scheitern droht, ist trotz ihrer Instabilität und Zerbrechlichkeit ein markanter Schritt ins Leben, ein Übergang zu etwas anderem, was wiederum durch wiederholte Tunnelfahrten visualisiert wird. Es gehe darum, „wie man eine Tragödie in eine fröhliche Form der Trauer verwandelt“, hat Christophe Honoré über seinen Film gesagt.

Music

(DE/FR/GR/RS 2022, Regie: Angela Schanelec)

Poesie des Ungesagten
von Wolfgang Nierlin

Im dunklen Rauschen des Windes treiben dichte Nebelschwaden über eine Gebirgslandschaft und verhüllen das ätherische Bild. Dann zerreißt ein plötzlicher Donnerschlag, der wie aus dem Nichts kommt, die dumpf tönende …

Im dunklen Rauschen des Windes treiben dichte Nebelschwaden über eine Gebirgslandschaft und verhüllen das ätherische Bild. Dann zerreißt ein plötzlicher Donnerschlag, der wie aus dem Nichts kommt, die dumpf tönende Stille und führt ins Dämmerlicht eines beginnenden Tages. Ein Mann trägt bergaufwärts eine Frau über Steine und Geröll. Deren herzzerreißende Schreie künden von einer Niederkunft. Am darauffolgenden Morgen finden Sanitäter den Mann auf dem felsigen Untergrund zwischen Bienenstöcken. Von der Frau fehlt jede Spur. Schließlich wird in einem niederen, steinernen Ziegenstall der Säugling gefunden und geborgen.

Schon die ersten, meist aus der Distanz aufgenommenen Bilder aus Angela Schanelecs neuem Film „Music“ eröffnen einen mythologischen Raum, belebt von statischen Figuren, symbolischen Handlungen und vagen, unausgesprochenen Bedeutungen. In langen, unverbundenen Einstellungen gewinnen Räume und die sinnliche Natur einer südlichen Landschaft an Gewicht. Dazwischen betonen kurze Schnitte auf Details die sorgsame Arbeit der Hände, die Körperlichkeit der Dinge oder nicht weiter ausgedrückte Gefühle. Denn die meist schweigenden Figuren sind weder Träger psychologischer Charaktere noch primär über ihre rudimentären Handlungen zu verstehen. Ihr „Spiel“ aus starrer Mimik, statischer Präsenz und wenigen Gesten ähnelt vielmehr einem Ritual, das auf das „Erscheinen“ einer Bedeutung vertraut. Dieser ungreifbare, gewissermaßen transzendente Gehalt resultiert aus der sehr stilisierten, theatralischen Mechanik der Ereignisse und korrespondiert außerdem mit einer elliptischen Erzählstruktur. Deren Auslassungen beschwören ähnlich wie in den Filmen Robert Bressons eine Poesie des Ungesagten.

Was dann tatsächlich, aber jenseits einer realistischen Erzählung gezeigt wird, ist, so die Vorinformation, vom Ödipus-Mythos inspiriert. Demnach tötet der thebanische Königssohn unwissentlich seinen Vater, schläft mit seiner Mutter und blendet sich, als er seine schicksalhafte Schuld erkennt. Auch Jon (Aliocha Schneider), der an seinen „Schwellfüßen“ erkennbare Ödipus aus Angela Schanelecs „Nicht-Tragödie“, wird durch eine unglückliche Tat zum Mörder und landet deshalb im Gefängnis. Dort verliebt sich die Wärterin Iro (Agathe Bonitzer) in den Gefangenen. Sie pflegt seine wunden Füße und heilt seinen Schmerz mit Musik. Doch dann, Jahre nachdem sie ein Paar und Eltern geworden sind, heißt es in einem der ausführlich dargebotenen barocken Lieder: „Die Freuden der Liebe / Sie währen nur einen Augenblick / Das Herzens Leid dafür ein Leben lang“. Iro wird sich von einer Klippe stürzen, Jon daraufhin zunehmend sein Augenlicht verlieren. Doch in „Music“ geht es weniger um Schuld und die Determination des Menschen nach dem ewigen Ratschluss der Götter, sondern um die heilende Kraft der Kunst angesichts einer leidvollen Existenz.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Music“.

Sara Mardini – Gegen den Strom

(Deutschland 2022, Regie: Charly Wai Feldman)

Angeklagt
von Jürgen Kiontke

Sara Mardini ist Flüchtlingshelferin, sie selbst ist 2015 mit ihrer Schwester Yusra aus Syrien geflohen. Spektakulär war die Überfahrt nach Griechenland, deren Umstände die beiden berühmt machen sollte: Gemeinsam springen …

Sara Mardini ist Flüchtlingshelferin, sie selbst ist 2015 mit ihrer Schwester Yusra aus Syrien geflohen. Spektakulär war die Überfahrt nach Griechenland, deren Umstände die beiden berühmt machen sollte: Gemeinsam springen die Schwestern nach Ausfall des Schiffsmotors ins Wasser, ziehen das Schlauchboot drei Stunden lang.

Die Rettungstat kommt nicht von ungefähr: Sara und Yusra stammen aus einer Familie von Sportler*innen in Syrien. Beide sind Leistungsschwimmerinnen. Yusra nimmt bald in einem Geflüchteten-Team an den Olympischen Spielen teil.

Bei Sara hinterlässt die Flucht andere Spuren. Sie engagiert sich im griechischen Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos und betreibt aktiv Fluchthilfe. Menschen, die das gleiche Schicksal haben wie sie, muss man unterstützen, sagt sie. Das kann kein Verbrechen sein. Die griechischen Behörden sehen das anders. Im Jahr 2018 wird sie von der Polizei verhaftet. Sie sitzt in Untersuchungshaft, der Vorwurf: Schleusertätigkeit, Geldwäsche und Betrug und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Mit ihr sind 23 weitere Menschen angeklagt, darunter der Rettungsschwimmer Seán Binder.

Im Verfahren werden viele Mängel in der Anklageerhebung und in der Prozessführung offenbar. Unter anderem, weil ein Anwalt angeklagt wird, müssen die Fälle vor einem übergeordneten Gericht verhandelt werden. Bald werden geringere Anklagepunkte auch fallengelassen. Bestehen bleibt jedoch der Verdacht, schwere Straftaten begangen zu haben. Seit Beginn dieses Jahres wird verhandelt. Kurioserweise darf Mardini nicht vor Gericht erscheinen, die griechischen Behörden haben sie ausgewiesen. Mardini und ihre Familie leben mittlerweile in Deutschland.

Regisseurin Charly Wai Feldman erzählt die Geschichte der beiden Schwestern in ihrem facettenreichen Dokumentarfilm „Gegen den Strom“ nach. Vier Jahre hat sie Sara begleitet. Neben ausführlichen Interviews, in denen die Schwestern und viele weitere Protagonisten der Flüchtlingshilfe zu Wort kommen, beleuchtet der sehenswerte Film die Situation auf den Fluchtrouten Europas.

Diese Kritik erschien zuerst am 21.03.2023 auf: links-bewegt.de

Inside

(GB/DE/BE/CH/GR 2022, Regie: Vasilis Katsoupis)

Essentieller Überlebenskampf
von Wolfgang Nierlin

Das hochmoderne, von exquisiten Möbeln, Kunstobjekten und Gemälden „bevölkerte“ Luxusloft liegt im oberen Stockwerk eines Hochhauses von New York. Dicht gedrängt stehen die Wolkenkratzer mit ihren spiegelnden Fassaden und bilden …

Das hochmoderne, von exquisiten Möbeln, Kunstobjekten und Gemälden „bevölkerte“ Luxusloft liegt im oberen Stockwerk eines Hochhauses von New York. Dicht gedrängt stehen die Wolkenkratzer mit ihren spiegelnden Fassaden und bilden dabei enge Straßenschluchten, die wie Labyrinthe oder Fluchtwege aussehen. Die weite und helle Transparenz des Apartments mit seinen offenen Räumen kontrastiert diese abgezirkelte städtische Außenwelt. Mit Hilfe eines Hackers, der über einen Code die Alarmanlage für wenige Minuten ausschalten kann, ist der Kunstdieb Nemo (Willem Dafoe) in die verwaiste Wohnung eingedrungen, um mehrere Gemälde von Egon Schiele zu stehlen. Als er so schnell wie er eingedrungen ist, den Schauplatz des Verbrechens wieder verlassen möchte, blockiert das Sicherungssystem die massive Holztür. Eine ohrenbetäubend laute Alarmanlage wird ausgelöst. Durch einen panischen Eingriff in die Elektronik gelingt es dem Einbrecher zwar, diese zu deaktivieren, doch dadurch gerät fortan die Klimaanlage außer Kontrolle. Hitze und Kälte, Hunger und Durst ausgesetzt, sitzt Nemo in der Falle eines modernen Systems, das für ihn zum Hochsicherheitsgefängnis wird.

In seinem Spielfilmdebüt „Inside“ zeigt der griechische Regisseur Vasilis Katsoupis diese unfreiwillige Isolation als gnadenlosen Überlebenskampf. Während Nemo zunächst rudimentäre Ausbruchsversuche unternimmt, muss er feststellen, dass die Wohnung nicht nur in allen Teilen und Belangen massiv verschlossen ist, sondern außer ein paar Konserven, Alkoholika und Hundefutter keine Nahrungsmittel im Vorrat hat. Außerdem wurde durch die komplizierte Haustechnik die Wasser- und Gaszufuhr gesperrt. Nur die von Zeit zu Zeit aktivierte Pflanzenbewässerungsanlage spendet Wasser, das von Nemo gierig in Behältern aufgefangen wird. Eine verletzte, flugunfähige Taube vor einem der Panoramafenster spiegelt Nemos Gefangenschaft ebenso wie jene Fotografie, die Passagiere auf einer Fluggasttreppe zeigt, die im Nirgendwo endet. Die lange Dauer der Isolation lässt sich ablesen an der zunehmenden Verwahrlosung der Wohnung, die bald wie ein Schlachtfeld aussieht, sowie an den psychischen Beeinträchtigungen des Helden, der von Halluzinationen heimgesucht wird. Daneben charakterisiert eine einseitige Durchlässigkeit die Dialektik von innen und außen; denn durch Überwachungskameras kann Nemo zwar Bruchstücke der nahen Außenwelt sehen, bleibt dabei selbst jedoch für andere unsichtbar.

In einem seiner Albträume, in denen Nemo an einer Vernissage des von ihm bestohlenen Kunstsammlers teilnimmt, sagt er den Satz: „Ich bin eine Insel.“ Die Idee eines Inseldaseins, das Kunst zum einzigen Überlebensmittel erhebt, rahmt und durchdringt den Film und seine zahlreichen Spiegelungen. Denn der Held beginnt nicht nur, in ein Skizzenbuch zu zeichnen und Wände zu bemalen, sondern er errichtet aus Möbeln und Gegenständen ein hohes Gerüst, das ihm über ein Oberlicht die Flucht ermöglichen soll. Diese Konstruktion ähnelt zunehmend einer Skulptur, während Nemo gleichzeitig damit beschäftigt ist, Werkzeuge herzustellen. In einer alten Schrift liest er etwas über die Überwindung der Gegensätze durch die enge Verbundenheit von Körper und Seele sowie über die transformative, ewige Kraft von Energie. In Vasilis Katsoupis‘ reduziertem, auf elementare Lebensfunktionen konzentriertem Film gelingt dem Gefangenen diese sowohl geistige als auch körperliche Überschreitung durch Kunst hin zu einer Transzendenz. Angesichts einer „umgeformten“ beziehungsweise in Chaos verwandelten Wohnung konstatiert er: „Letzten Endes gibt es keine Schöpfung ohne Zerstörung.“

Das Blau des Kaftans

(FR/MA/BE/DK 2022, Regie: Maryam Touzani)

Plädoyer für die Freiheit der Gefühle
von Wolfgang Nierlin

Langsam und bedächtig gleitet die Kamera über eine lange, sanft fließende Stoffbahn aus blauer Seide. Hände prüfen die Dichte und Weichheit des Gewebes und vermitteln ein Gefühl für die Haptik …

Langsam und bedächtig gleitet die Kamera über eine lange, sanft fließende Stoffbahn aus blauer Seide. Hände prüfen die Dichte und Weichheit des Gewebes und vermitteln ein Gefühl für die Haptik des Stoffes. Für Halim (Saleh Bakri) und Mina (Loubna Azabal), die in der Medina der marokkanischen Küstenstadt Salé eine Kaftan-Schneiderei betreiben, gehört die Wahl guter Stoffe zum Alltag. Während der stille und zurückhaltende Schneider geduldig und konzentriert seinem traditionsreichen Handwerk nachgeht, kümmert sich die resolute Mina selbstbewusst und bestimmt um die überwiegend weibliche, ebenso launische wie wählerischen Kundschaft. Deren Sinn für die traditionelle Schneiderkunst ist begrenzt. Und so schwebt über der Faszination für das alte, auf Dauer und Beständigkeit ausgerichtete Handwerk zugleich das melancholische Bedauern über seine Vergänglichkeit. Denn längst ersetzen vielerorts „schnellere“ Maschinen das diffizile Handwerk des Schneiders, dessen Wissen immer mehr verloren geht.

In Maryam Touzanis preigekröntem Film „Das Blau des Kaftans“, der auch eine Hommage an das traditionelle Handwerk ist, heißt es einmal: „Ein Kaftan muss denjenigen, der ihn trägt, überleben. Ein Kaftan hält der Zeit stand.“ Von diesem Geist der Unvergänglichkeit ist auch Halims neuer Lehrling Youssef (Ayoub Missioui) beseelt, der seit früher Kindheit auf sich allein gestellt ist und sich ebenso bemüht wie strebsam seinen Aufgaben widmet. Während Mina mit einiger Skepsis auf den attraktiven jungen Mann blickt, spiegelt sich in Halims Augen ein verstecktes Begehren. Denn der schweigsame Schneider ist homosexuell und hat im Hamam regelmäßig Sex mit Männern. Seine liebevolle, zärtlich Ehe mit Mina scheint davon aber unberührt. Doch dann kommen sich Halim und Youssef, beide auf ihre Art Waisenkinder, in scheuen Blicken und verschämten Berührungen allmählich näher, ohne ihre Gefühle füreinander auszusprechen.

Maryam Touzani inszeniert diese wortlose Intimität in vielen Naheinstellungen auf Gesichter, Blicke und Hände. Im langsamen, ruhigen Erzählfluss ihrer von warmem Licht beleuchteten Bilder entsteht der Mikrokosmos eines unspektakulären Alltags, der sich stetig wiederholt und doch unwiderruflich ändert. Denn während bei Halim neue, ungekannte Gefühle erwachen, vertiefen sich in Sorge und Verbundenheit seine alten für Mina, als deren schwere Krankheit unheilbar zurückkehrt. Fortan pflegt und begleitet Halim seine Frau, die für ihn stets ein „Fels“ war und die noch im Leid Augenblicke findet, das Leben zu feiern und dem Unvermeidlichen ihren Witz entgegenzusetzen. Während die beiden Schneider mit ihrer Arbeit ans Krankenbett wechseln, entsteht eine vertrauensvolle Gemeinschaft und Ersatzfamilie. In diesem geschützten Raum des offenen Miteinanders werden sowohl Geständnisse als auch Verzeihen möglich. Subtil und Anteil nehmend formuliert Maryam Touzani in ihrem zutiefst humanistischen Film vor diesem Hintergrund ein Plädoyer für Freiheit und den Mut, zu lieben.

Hier gibt es ein Interview mit Regisseurin Maryam Touzani.

The Five Devils

(FR 2022, Regie: Léa Mysius)

Verschattete Identität
von Wolfgang Nierlin

Die mysteriösen Sounds der Exposition sowie die schreienden, in Tränen aufgelösten Mädchen, hinter denen ein Haus lichterloh in Flammen steht, verheißen nichts Gutes. Trotzdem scheint in dem kleinen, im Schatten …

Die mysteriösen Sounds der Exposition sowie die schreienden, in Tränen aufgelösten Mädchen, hinter denen ein Haus lichterloh in Flammen steht, verheißen nichts Gutes. Trotzdem scheint in dem kleinen, im Schatten der französischen Alpen liegenden Ort zunächst alles seinen gewöhnlichen Gang zu gehen. Die junge Schwimmlehrerin Joanne (Adèle Exarchopoulos), ehemals Schönheitskönigin der Rhône-Alpes-Region, wie ein Poster verrät, leitet eine Aquajogging-Gruppe und kümmert sich nebenbei und ein bisschen halbherzig um ihre etwa 10-jährige, ziemlich aufgeweckte Tochter Vicky (Sally Dramé). Dabei wirkt Joanne merkwürdig unausgeglichen und reizbar, als würde sie etwas bedrücken. Nach der Arbeit geht die Außenseiterin, die offensichtlich nur wenige soziale Kontakte hat, regelmäßig in einem kalten Bergsee schwimmen. Ihr Element ist das Wasser und die ihr zugeordnete Farbe das Blau. Dieses steht in einer Spannung zum Rot, das mit ihrem Mann Jimmy (Moustapha Mbengue) assoziiert ist, einem aus dem Senegal stammenden Feuerwehrmann. Seit zehn Jahren sind die beiden verheiratet, doch ihre Ehe scheint erkaltet zu sein.

Die dunklen Schatten einer schweren, zunächst nicht näher bestimmten Vergangenheit scheinen auf den Figuren zu lasten. In Léa Mysius‘ mit fantastischen Elementen angereichertem Liebesfilm „The Five Devils“ („Les cing diables“) gelingt es Vicky, in diese emotional aufgewühlte Zeit vor ihrer Geburt einzudringen. Begabt mit einem außerordentlichen Geruchssinn, mit dem sie Menschen identifiziert und sich im Raum orientiert, stößt die kleine, neugierige und sehr kluge Sammlerin von Düften auf einen scharfen Geruch, der sie bewusstlos macht und in die Vergangenheit katapultiert. Dort wird sie, die für fast alle anderen unsichtbar bleibt, zur Zeugin von Liebeswirren zwischen Joanne und Jimmys geheimnisvoller jüngerer Schwester Julia (Swala Emati), aber auch zwischen ihrem späteren Vater und der impulsiven Nadine (Daphné Patakia). Und sie reagiert in der Gegenwart der Handlung, in der nach zehn Jahren Julia plötzlich wieder auftaucht und – auch in der kleinen Gemeinde – für allgemeine Unruhe sorgt, ziemlich eifersüchtig. Einmal fragt Vicky ihre Mutter: „Hast du mich geliebt, bevor ich existiert habe?“

Mit fließenden Kamerabewegungen und einem fluiden, durchlässigen Stil wechselt Léa Mysius die Zeiten und webt dabei ein dichtes, magisches Gewebe aus Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Vision. Erst langsam, dann immer dringlicher drängen die früheren Konflikte und Geheimnisse in das aktuelle Geschehen und damit in Vickys Bewusstsein. Außerdem muss sich das ungewöhnliche Mädchen, das wegen seiner Hautfarbe und eines mächtigen Afrolooks gehänselt und angefeindet wird, gegen Diskriminierung wehren. Wenn wiederum Joannes Vater (Patrick Bouchitey), Julia als „Lesben-Pyromanin“ verunglimpft, wird klar, dass es in „The Five Devils“ neben der Abwehr des Fremden auch um sexuelle Ausgrenzung geht. Im Zentrum des magischen Geschehens, das mit diversen Zeichen und Symbolen aufgeladen ist, steht aber Vickys Suche nach dem Ursprung ihrer Identität und das damit einhergehende unstillbare Verlangen, sich der Liebe ihrer Eltern zu versichern.

Der vermessene Mensch

(D 2022, Regie: Lars Kraume)

Täterblicke
von Jürgen Kiontke

Ethnologie ist das Fach der Stunde am Ende des 19. Jahrhunderts. Und Alexander, der junge Völkerforscher, ist fest entschlossen, seinen Vater, der auf demselben Gebiet tätig war, zu toppen. Im …

Ethnologie ist das Fach der Stunde am Ende des 19. Jahrhunderts. Und Alexander, der junge Völkerforscher, ist fest entschlossen, seinen Vater, der auf demselben Gebiet tätig war, zu toppen. Im Hörsaal ist er bereits der Chef, stellt sich sogar hin und wieder gegen die Theorien seiner Vorgesetzten, wenn auch nicht zu laut.

In Mode ist gerade das Schädelvermessen von Bewohnern neudeutscher Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent. Es dient der Zementierung der vermeintlichen Höherstellung und Vorherrschaft der weißen „Rasse“, insbesondere der deutschen natürlich. Aus jeder Ritze der Universität quillt der Überlegenheitsanspruch, der vor Ort dann militärisch durchgesetzt wird.

Alexander ist durchaus angewidert von der pseudo-wissenschaftlichen Herangehensweise der Kollegen. Er will sie widerlegen, versucht, ihre Fehler nachzuweisen. Bei der großen Völkerausstellung in Berlin – bei der genau das passiert: Es werden „Völker“ ausgestellt wie Tiere im Zoo – lernt er Kezia kennen. Sie ist Dolmetscherin einer Delegation von Nama und Herero, die unter falschem Vorwand nach Deutschland gelockt wurden und nun zur Teilnahme an der „Völkerschau“ gezwungen werden.

Kurz nach der Abreise der Delegierten beginnt in „Deutsch-Südwestafrika“ der Aufstand gegen die deutsche Kolonialmacht. Zugleich reist Alexander als ethnologischer Experte im Schutz der Armee durch das ganze Land, um Knochenmaterial für deutsche Forschungsprojekte einzusammeln. Und sucht dabei auch nach Kezia. Er gerät zwischen die Fronten der Kämpfenden, findet heraus, dass Konzentrationslager aufgebaut werden, und wird gewahr, dass hier ein Vernichtungskrieg im Gange ist, in dessen Folge viele Herero den Tod in der Wüste finden.

Lars Kraume hat mit „Der vermessene Mensch“ einen intensiven Film über ein wichtiges Thema gedreht. Das Drehbuch ist in Zusammenarbeit mit der Schauspielerin und Darstellerin der Kezia, Girley Charlene Jazama, entstanden. Kezia glänzt allerdings mehr durch ihre Abwesenheit im Film. Faszinosum, exotistisches Sehnsuchtsziel – ihre Rolle bleibt klein. Gezeigt wird immer die Sicht des deutschen Forschers, der, wenn auch widerständig, eine schier überzentrale Figur ist, die doch alles mitmacht.

Damit verschiebt sich der Fokus völlig weg von den Opfern hin zum Blick des Täters. Man erfährt zwar jeden Gedanken Alexanders, aber nur wenig über die Herero. Das ist umso enttäuschender, als sie zu Beginn des Films noch präsenter sind als durchaus politische Subjekte. Kurz: Die Einwohner Namibias sind nur Staffage für die Entwicklung der Hauptfigur.

Man habe schlichtweg keine Aufzeichnungen über die Herero und Nama und habe ihre Geschichte während des Aufstandes daher auch in größerem Rahmen fiktionalisieren wollen, sagt Kraume. Im Ergebnis gibt es jedoch nun nicht eine einzige tragende Rolle auf ihrer Seite. Ob das wirklich nicht anders ging?

Ein überraschender und intelligenter Twist zum Ende hin kündigt bereits die kommenden geschichtlichen Ereignisse an und weist auf die historische Vorreiterrolle der biologistischen Wissenschaft der Jahrhundertwende für den Nationalsozialismus. Fazit: prima Thema, zweifelhafte Umsetzung.

Diese Kritik erschien zuerst am 15.03.2023 auf: links-bewegt.de

Erica Jong – Breaking the Wall

(CH 2022, Regie: Kaspar Kasics)

Emanzipation durch Schreiben
von Wolfgang Nierlin

Am 4. April 2020 sind die Straßen und Häuserschluchten von New York City leer und verlassen. Die großflächigen Reklamen an den Wänden der Hochhäuser wirken irgendwie verloren und noch sinnloser …

Am 4. April 2020 sind die Straßen und Häuserschluchten von New York City leer und verlassen. Die großflächigen Reklamen an den Wänden der Hochhäuser wirken irgendwie verloren und noch sinnloser als sonst. Eine unheimliche Stille liegt über der Stadt. In diese Abwesenheit hinein sagt eine Stimme am Telefon: „Es ist einfach verrückt. Wie in Albert Camus‘ Roman ‚Die Pest‘.“ Die berühmte Schriftstellerin Erica Jong beschreibt gegenüber dem Filmemacher Kaspar Kasics ihr „Gefühl der Isolation“, das sich unter den Bedingungen des Covid-Lockdowns gewissermaßen verdoppelt. Der Schweizer Regisseur am anderen Ende der Leitung, der vom unerschütterlichen Selbstbewusstsein der Autorin und Feministin beeindruckt ist, fragt sich wiederum, wie es mit den im Februar begonnenen Dreharbeiten weitergehen soll. Sein Film „Erica Jong – Breaking the Wall“ findet in den wiederholten Bildern der leeren Großstadtstraßen gewissermaßen einen Resonanzraum für die Selbstauskünfte der Schriftstellerin. Erst Monate später, ablesbar auch am Wechsel der Jahreszeiten, beleben sich die Straßen wieder mit Menschen.

Es ist nicht leicht auszumachen, ob die vielen Gespräche und Familienszenen aus Jongs geschmackvoller, mit vielen Büchern und Kunstobjekten eingerichteter Wohnung noch vor oder nach dem Lockdown dokumentiert wurden. Sie gewähren jedenfalls einen sehr intimen und persönlichen Einblick in den Arbeitsalltag, das Leben und die Gedankenwelt der streitbaren Schriftstellerin, die von ihrem Schreibtisch aus einen Panoramablick über die Skyline von New York genießt. Hier arbeitet die am 26. März 1942 in eine jüdische Künstlerfamilie geborene Jong zusammen mit einer Assistentin gerade an ihren Memoiren. Andere Szenen zeigen sie mit ihren Enkelkindern, ihrem vierten Ehemann Ken Burrows, mit dem sie seit rund dreißig Jahren glücklich verheiratet ist, bei gymnastischen Übungen mit einem privaten Fitnesscoach oder auch bei einer Party. Im gedanklichen Mittelpunkt des Films stehen allerdings ihre Überlegungen zur weiblichen Selbstbestimmung und wie diese Niederschlag in ihren Büchern gefunden haben.

Vor allem ihr skandalumwitterter Erfolgsroman „Angst vorm Fliegen“, mit dem Erica Jong 1973 debütierte und in dem sie auch Erfahrungen aus ihrer Zeit in Heidelberg (1966 bis 1969) verarbeitet hat, wird zum stetigen Bezugspunkt. Während ihr der befreundete Schriftsteller Henry Miller bestätigt, sie habe mit diesem Roman die Frauen befreit und setze sich für sie ein, spricht sie in TV-Talkshows über weibliche Kreativität und über das sexuelle Begehren von Frauen, deren Gleichberechtigung nur schleppend vorangehe. „Ich wollte die Welt verändern“, sagt sie einmal mit einem Anflug von Ernüchterung. Trotzdem gibt sie, die als „Stimme des Feminismus“ gilt, den Kampf nicht verloren. Gerade im Schreiben erschaffe die Phantasie das Leben neu und erzeuge damit auch die Ahnung einer anderen Wirklichkeit. Worte verändern Menschen, ist die Schriftstellerin überzeugt. Nur indem man die Wahrheit über das Leben erzähle, gelange man zur Freiheit. Um diesem „utopischen Traum“ näher zu kommen, hat Erica Jong in ihrer Heimatstadt ein Schreibzentrum für junge Frauen gegründet.

Rebellinnen – Fotografie. Underground. DDR

(D 2022, Regie: Pamela Meyer-Arndt)

Kunst gegen die Auslöschung
von Wolfgang Nierlin

An ihrem langen Ende werden die Haare einer jungen Frau mit einer Schnur umwickelt und schließlich gespannt, als hingen sie an Zügeln. Je stärker ihr Kopf in eine Richtung zieht, …

An ihrem langen Ende werden die Haare einer jungen Frau mit einer Schnur umwickelt und schließlich gespannt, als hingen sie an Zügeln. Je stärker ihr Kopf in eine Richtung zieht, desto schmerzhafter wirkt die Gegenkraft desjenigen, der die Schnur hält. Es sei gut, wenn es spürbar wird, dass die gehemmte, eingeschränkte Bewegung „ein bisschen quält“, sagt die Fotografin Gabriele Stötzer über ihre Performance, mit der sie visualisiert, wie ein Mensch an seine Vergangenheit gebunden ist. In besonderer Weise gilt dies nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihre Kolleginnen Cornelia Schleime und Tina Bara. Sie alle stammen aus der DDR und widersetzten sich als Künstlerinnen staatlichen Schikanen und Repressionen. In ihrem Dreifachportrait „Rebellinnen – Fotografie. Underground. DDR“ widmet sich Pamela Meyer-Arndt in Interviews, vor allem aber anhand vieler Fotos und einiger Super-8-Filme dem beeindruckenden Werk der Künstlerinnen in seiner jeweiligen engen Verflechtung mit dem Leben.

Während Tina Bara (Jahrgang 1962) in ihren auf Kommunikation und Austausch zielenden Fotos den staatlichen Druck als „Katalysator“ versteht, weil er Gegendruck erzwinge und im Hinblick auf das Ausloten von Grenzen erfinderisch mache, erlebt die 1953 geborene Cornelia Schleime die Reglementierung und Unterdrückung ihrer künstlerischen Entfaltungsmöglichkeiten vor allem als eine Form des Eingeschlossenseins. Ihre performativen Fotos zeigen entsprechend immer wieder mit Schnüren geknebelte Frauenköpfe und eingewickelte, gewissermaßen mumifizierte, erstarrte und zur Bewegungsunfähigkeit gezwungene Körper. Von den Offiziellen als „Müllkunst“ diffamiert, folgen Cornelia Schleimes Arbeiten einem erweiterten Kunstbegriff, den sie mit lustvoller Sinnlichkeit und kreativer Freizügigkeit jenseits einer planen Konzeptkunst mit ihrem eigenen Leben beglaubigt. Auffallend oft rückt sowohl bei ihr als auch bei den anderen beiden Künstlerinnen neben dem Gesicht der nackte weibliche Körper in den Mittelpunkt. Seine ausgestellte Verletzlichkeit wird so zu einem Akt des Widerstands.

Ungeschützte Nacktheit, die Nähe zum Schmerz, eingewickelte Körper und scheinbar „blutende“ Augen spielen auch in den Fotografien und subversiven Filmen der ebenfalls 1953 geborenen Gabriele Stötzer eine irritierende Rolle. Als sie mit ihrer Unterschrift gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann protestiert, landet sie im Gefängnis, wo sie im Chor der für sie Schreienden eine besondere Form weiblicher Nähe und Solidarität erlebt. Dann, nach ihrer Entlassung, verstummt sie zunächst, bewahrt sich aber ihre Widerständigkeit und weigert sich, aufzugeben oder gar zu gehen. Zu zeigen, „wir sind da“, wird bei ihr zum Fanal einer „Kunst gegen die Auslöschung“. Während ihre Kolleginnen mehr oder weniger unfreiwillig in den Westen gehen, wird für Stötzer das bewusste Bleiben zum Credo. Leben und Kunst sind auch bei ihr untrennbar miteinander verwoben. In ihrem Experimentalfilm „…hab ich euch nicht glänzend amüsiert?“ wird die Endlosschleife des titelgebenden Satzes zu einer bitteren, verstörenden Litanei.

Saint Omer

(FR 2022, Regie: Alice Diop)

Geschichte einer Unsichtbaren
von Wolfgang Nierlin

Die Schriftstellerin Rama Fall (Kayije Kagame) wird von einem Albtraum geweckt: In einer dunklen Nacht, in der man nur das Rauschen des Meeres hört, trägt eine Mutter ihr Kind zu …

Die Schriftstellerin Rama Fall (Kayije Kagame) wird von einem Albtraum geweckt: In einer dunklen Nacht, in der man nur das Rauschen des Meeres hört, trägt eine Mutter ihr Kind zu einem Strand, um es der steigenden Flut zu überlassen. Diese Tat hat sich im November 2013 in dem nordfranzösischen Badeort Berck-sur-Mer tatsächlich ereignet und große öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Eine aus dem Senegal stammende Frau hatte auf diese Weise ihre 15 Monate alte Tochter „dem Meer übergeben“, wie sie später sagen wird, und war damit zur Mörderin geworden, ohne ihre Tat selbst zu verstehen. Unter dem Arbeitstitel „Der Schiffbruch der Medea“ möchte Rama, die ebenfalls senegalesische Wurzeln hat, den Fall dokumentieren, um sich dem, was sich dem Verstehen entzieht, anzunähern. Sie fährt deshalb mit dem Zug nach Saint-Omer, um den mehrtägigen Prozess zu verfolgen.

Zuvor sieht man Rama aber zuerst als Literaturlehrerin, die in einem Hörsaal einen Dokumentarfilm über jene öffentlich erniedrigten Frauen zeigt, die nach dem 2. Weltkrieg den Franzosen als sogenannte „horizontale Kollaborateurinnen“ galten. Die (geschorene) Frau als „Objekt der Schande“ sei zugleich ein „Subjekt im Zustand der Gnade“, zitiert Rama die Schriftstellerin Marguerite Duras aus ihrem Drehbuch zu Alain Resnais‘ „Hiroshima, mon amour“. Im Gerichtssaal, wo Alice Diops tief beeindruckender Film „Saint Omer“ fortan hauptsächlich spielt, trifft dieses Bild einer ambivalenten Weiblichkeit auf einen Lebenslauf, der eine Vielzahl von Widersprüchen in sich vereint. Während die 36-jährige Angeklagte Laurence Coly (Guslagie Malanda) von ihrer Kindheit im Senegal, von ihrer Einsamkeit als Philosophie-Studentin in Frankreich und von ihrer Liebesbeziehung zu einem über 30 Jahre älteren Bildhauer erzählt, entfaltet sich ein unheilvolles Geflecht aus Erwartungsdruck, kulturellen Prägungen und Unterschieden sowie materiellen Abhängigkeiten. Am Ende wird Laurence sagen, sie habe sich zunehmend ausgenutzt und entfremdet gefühlt und sei schließlich zu einem „Opfer von Hexerei“ geworden: „Ich war in einem schwarzen Loch.“

Alice Diop gestaltet die angespannte Atmosphäre ihres zwischen dokumentarischer Genauigkeit und fiktiven Elementen changierenden Films mit konzentrierter Aufmerksamkeit. Gerade aus der Reduktion und aus den Ellipsen spricht ausführlich das Unsagbare. Zusammen mit ihrer Kamerafrau Claire Mathon kultiviert die französische Regisseurin eine Ästhetik der Abwesenheit, in der die Sprecherinnen immer wieder dem Bild entzogen sind und dadurch einen ungewöhnlichen Resonanzraum aus sich überlagernden Stimmen und Schweigen eröffnen. Als „Geschichte einer Phantomfrau“, die zunehmend unsichtbarer geworden sei, wird die Anwältin (Aurélia Petit) den Fall ihrer Mandantin beschreiben und in ihrem bewegenden Plädoyer auf „Chimären“ verweisen, die nicht nur Mutter und Kind, sondern alle Frauen verbinde. Selbst schwanger und in einer problematischen Mutterbeziehung gefangen, wird sich Rama im Verlauf des Prozesses immer stärker mit der Angeklagten identifizieren, die in einem Verweis auf Pasolinis „Medea“ zu einer mythischen Figur wird. Trotzdem eröffnet sich für Rama am Ende ein Weg aus den „schrecklichen menschlichen Mustern“.

Teheran Tabu

(D/AT 2016, Regie: Ali Soozandeh)

Falsche Ordnung
von Wolfgang Nierlin

Nichts ist so, wie es scheint. Hinter den Masken liegen Abgründe. Im Untergrund tobt das Leben. Und die Fassaden dienen der Bestätigung einer falschen Ordnung. In Ali Soozandehs Animationsfilm „Teheran …

Nichts ist so, wie es scheint. Hinter den Masken liegen Abgründe. Im Untergrund tobt das Leben. Und die Fassaden dienen der Bestätigung einer falschen Ordnung. In Ali Soozandehs Animationsfilm „Teheran Tabu“, der mit dem Rotoskopie-Verfahren hergestellt wurde, also auf Realfilmaufnahmen mit Schauspielern basiert, herrscht ein permanentes Gegeneinander. Misstrauen und Hass, Lügen und Korruption bestimmen die Beziehungen der Menschen, während die Staatsmedien zum „Schutz vor fremden Kulturen“ angebliche „islamische Werte“ und daraus resultierende Regeln verbreiten. Deren Einhaltung wird allerdings nicht nur von der Polizei, sondern auch von den Betroffenen selbst überwacht und kontrolliert. Unter der religiös begründeten staatlichen Repression wird jeder zum Beobachter des anderen und damit zum möglichen Denunzianten. Die sich auf diese Weise potenzierende Unfreiheit legt sich wiederum wie ein Netz über die Beziehungen und zeigt sich am markantesten in der systematischen Unterdrückung und Benachteiligung von Frauen.

„Unordnung ist eine Form von Ordnung, an die wir uns gewöhnt haben“, sagt etwa Sara (Zar Amir Ebrahimi). Die attraktive Literaturlehrerin ist mit einem Bankangestellten verheiratet und nach zwei angeblichen Fehlgeburten erneut schwanger. Sie möchte arbeiten, was ihr Mann aber nicht erlaubt. Stattdessen muss sie sich um die Schwiegereltern kümmern. Als die resolute Pari (Elmira Rafizadeh) mit ihrem 5-jährigen stummen Sohn Elias (Bilal Yasar) in das Hochhaus mit dem weiten Blick über die Stadtlandschaft einzieht, entsteht zögerlich ein freundschaftliches Band weiblicher Solidarität. Weil ihr Mann wegen eines Drogendelikts im Gefängnis sitzt, prostituiert sich Pari, um für sich und das Kind sorgen zu können. Und weil ihr der Richter (Hasan Ali Mete) die nötigen Scheidungspapiere verweigert, lässt sie sich auf einen Sex-Deal mit ihm ein. Der junge Musikstudent Babak (Arash Marandi) wiederum hat unter Drogeneinfluss bei einer geheimen Party die vorgeblich verlobte Donya (Negar Mona Alizadeh) entjungfert. Jetzt soll er Geld auftreiben, damit das Hymen operativ wieder hergestellt werden kann.

Die lose verknüpften, als „short cuts“ erzählten Episoden enthüllen eine dicht gefügte Welt der Parallelitäten und eine alle Lebensbereiche durchdringende Doppelmoral. Der wiederholte Blick über die Skyline der Millionenstadt und damit auf die vielen anderen ähnlichen Schicksale verweist auf das Exemplarische der Geschichten, deren Verdichtung freilich nicht frei ist von Typisierungen und Zuspitzungen. Mit einem sehr dynamischen Erzähltempo und einer unerwartet unverblümten Sprache zeichnet der im deutschen Exil lebende Iraner Ali Soozandeh ein düsteres Gesellschaftsbild und entlarvt dabei die mehr oder weniger aufgezwungenen Lügen. Vor allem der kleine Elias wird zum stummen Beobachter und Zeugen des widersprüchlichen Treibens und der Heuchelei. Wie sehr das unhintergehbare Geflecht aus Abhängigkeiten einen selbstverleugnenden Anpassungsdruck erzeugt, verdeutlichen in „Teheran Tabu“ schließlich die wechselnden farbigen Hintergründe, die ein Fotograf je nach Anlass und Zweck für seine Porträtfotos bereithält. Sind diese für staatliche Behörden gedacht, wählt er konsequent eine dunkle Folie aus.

Der Film ist noch bis zum 14.03.2023 in der Arte-Mediathek zu sehen.

Return to Dust

(CHN 2022, Regie: Ruijun Li)

Fortschreitende Entwurzelung
von Wolfgang Nierlin

Die rechteckige Öffnung in der Wand aus dunkelbraunem Lehm ist wie ein Fenster in eine andere Welt und zugleich wie ein Rahmen, der diese begrenzt. Das gerahmte dunkle Loch ist …

Die rechteckige Öffnung in der Wand aus dunkelbraunem Lehm ist wie ein Fenster in eine andere Welt und zugleich wie ein Rahmen, der diese begrenzt. Das gerahmte dunkle Loch ist aber auch ein Bild im Bild. Der Mist aus dem Eselstall wird durch diese Öffnung von drinnen nach draußen befördert. Youtie (Renlin Wu), der diese Arbeit verrichtet, kommt erst später ins Bild. Mitglieder seiner Familie rufen ihn, der nur „Bruder vier“ genannt wird, aus dem Off zum Essen. Leichter Schneefall begleitet die Schritte des schweigsamen, von harter körperlicher Arbeit etwas gebeugten Mannes. Ohne ihn zu fragen, wird für Youtie eine Ehe arrangiert. Der gutmütige Außenseiter soll eine andere schweigsame Außenseiterin heiraten: Guiying (Hai Qing) wurde in ihrer Kindheit misshandelt und leidet seitdem unter körperlichen Einschränkungen. Wenn die beiden kurz darauf von einem Fotografen für ein Hochzeitbild arrangiert werden, sitzen sie wie zwei Fremde nebeneinander.

Der von einem ruhigen Erzählrhythmus getragene Film „Return to Dust“ von Li Ruijun handelt zunächst von der zögerlichen, sehr behutsamen Annäherung zweier Menschen, ihrem zärtlichen Miteinander und ihrer wortlosen Liebe. Eingebunden ist ihre Geschichte, die im kleinbäuerlichen Milieu der Provinz Gansu im nordwestlichen China angesiedelt ist, in die Mühen einer harten körperlichen Arbeit unter ärmlichem, kargen Lebensbedingungen. In genauen Bildern, die eine schöne Ausgewogenheit zwischen Naturalismus und Poesie vermitteln, zeigt Li, der selbst in dieser Gegend am Rande zur Wüste Gobi aufgewachsen ist, nahezu archaische Lebensformen. Im Wechsel der Jahreszeiten bestellen Youtie und Guiying die Felder, ernten die Ähren und mahlen das Korn; sie ziehen Küken groß, stellen Lehmziegel her und bauen daraus ein Haus. Unterstützt werden sie dabei von einem treuen Esel. „Alles kommt aus der Erde“, sagt Youtie, der seine bescheidene, sorgsame Lebensführung als direkten Austausch mit der Natur versteht.

Wiederholt formuliert der selbstgenügsame, ehrliche Bauer, der sich außerdem geduldig um seine Frau kümmert, solche Einsichten in die existentiellen Grundlagen des Lebens und dessen Bestimmungen. Der Film begleitet dieses Wissen mit einer unaufdringlichen Symbolik und der Metapher einer fortschreitenden Entwurzelung. Die Protagonisten werden nämlich – sprichwörtlich bis aufs Blut – von der neureichen Obrigkeit nicht nur vielfach übervorteilt, ausgebeutet und ausgenutzt, sondern immer wieder enteignet und umgesiedelt, bis auch ihr neues Eigenheim, mit Geduld und Liebe mühevoll gebaut, zur Disposition steht. Youtie erträgt das alles stoisch und widerstandslos. Und er, der von seiner Frau als „ein guter Mensch“ apostrophiert wird, bleibt trotz allem solidarisch und gewissenhaft. Seine sukzessive Vertreibung in ein für ihn unmögliches Leben ähnelt dem Schicksal jener ins Bild rückenden Schwalbennester, die mit jedem abgerissenen Haus ein Stück ihres Lebensraumes einbüßen.

Wo ist Anne Frank

(BE/LU/FR/NL/IL 2021, Regie: Ari Folman)

Der Geist aus den Buchstaben
von Wolfgang Nierlin

Über den Straßen von Amsterdam tobt ein heftiger Gewittersturm mit Starkregen. Helle Blitze zucken aus einem dunklen, schwarzgrau gefärbten Himmel, während der Sturmwind ein rotes, kleines Iglu-Zelt mit sich fortreißt, …

Über den Straßen von Amsterdam tobt ein heftiger Gewittersturm mit Starkregen. Helle Blitze zucken aus einem dunklen, schwarzgrau gefärbten Himmel, während der Sturmwind ein rotes, kleines Iglu-Zelt mit sich fortreißt, in dem eine Flüchtlingsfamilie bis dato notdürftig einen Unterschlupf auf dem Gehweg vor dem Anne-Frank-Haus gefunden hat. Im Museum wiederum zerspringt das Glas einer Vitrine, in der Anne Franks berühmtes Tagebuch ausgestellt ist. Ähnlich dem Geist aus der Flasche und wie von Zauberhand berührt, verflüssigen sich die handgeschriebenen Buchstaben, steigen in dünnen, feinen Fäden auf, um auf leichte, zeichnerische Art eine Figur zu formen. Dabei handelt es sich um eine Materialisierung von Kitty, jener imaginären Freundin, an die Anne Frank einst ihre Briefe gerichtet hat. Diese schreibt sie nach ihrem 13. Geburtstag, den sie am 12. Juni 1942 mit ihrer Familie feiert, in ihr Tagebuch mit dem rot-weiß karierten Einband. Kurz darauf bezieht die jüdische Familie, die Jahre zuvor aus Deutschland geflohen ist, ihr Versteck in einem Hinterhaus, wo sie vor dem Zugriff durch die Nazis zunächst sicher ist.

Ari Folman wählt für seinen vielschichtigen Animationsfilm „Wo ist Anne Frank“ diesen ungewöhnlichen Einstieg, um durch einen Perspektivwechsel einen neuen und zugleich aktualisierten Blick auf die berühmte Geschichte zu werfen. Denn Kitty entsteigt dem Tagebuch, um sich auf die Suche nach ihrer Schöpferin zu begeben und dabei Annes Geschichte bis zu ihrem traurigen Ende zu erzählen. Dafür wechselt der phantasievoll animierte Film permanent die Zeitebenen zwischen einer sehr farbigen Vergangenheit und einer winterlich grauen Gegenwart. Während Kitty innerhalb des Museums für die Besucher unsichtbar bleibt, wird sie draußen auf den Straßen und zugefrorenen Grachten der Stadt als jetzt sichtbare „Diebin“ des Tagebuchs zur Verfolgten, was der Film für rasante Verfolgungsjagden nutzt. Als Alter Ego und als Gegenüber von Anne erzählt sie einerseits von den Sorgen und Nöten des selbstbewussten Mädchens in ihrem Versteck, andererseits entfaltet sich um die Hauptfigur Kitty in den Passagen der Gegenwart eine eigene Geschichte.

Darin folgt das als warmherzig, klug und mutig charakterisierte Mädchen nicht nur dem bitteren Weg Anne Franks ins Verderben durch die Nazis, die hier als schwarz gewandete Sensenmänner unter einem blutroten Himmel gezeichnet werden. Denn außerdem verliebt sich die lebenslustige Kitty in den gewieften Taschendieb Peter, mit dem sie diverse Abenteuer besteht, und freundet sich zugleich mit dem Flüchtlingsmädchen Awa aus Mali an. Dem israelischen Regisseur und Drehbuchautor Ari Folman, der selbst in einer Familie von Holocaust-Überlebenden aufgewachsen ist, geht es in der Adaption der gleichnamigen Graphic Novel, die das Gegenstück zum zuvor veröffentlichten „Graphic Diary“ bildet, um die Kontinuität von Vertreibung, Flucht und Ausschließung. Gegen die Kommerzialisierung der Gedenkkultur etabliert er, einfühlsam und von einem humanistischen Geist beseelt, eine jugendliche Heldin, die mit dem Wissen aus der Vergangenheit für eine bessere Gegenwart kämpft und sich dabei mutig für das Bleiberecht verfolgter und geflüchteter Menschen einsetzt. Anne Franks Tagebuch wird ihr dabei gleich in mehrfacher Hinsicht zur Hilfe. Kitty gewinnt ein eigens Leben und bleibt letztlich doch Phantasie eines außergewöhnlichen Mädchens.

Höchstens vier Wochen

(DE 2023, Regie: Jonas Alter)

Arbeitskämpfe lohnen sich
von Jürgen Kiontke

„Höchstens vier Wochen“ sollte der Krankenhausstreik 2022 in NRW dauern. Es wurden elf. Jonas Alter war von Anfang an dabei und hat einen beeindruckenden Film über den längsten Arbeitskampf im …

„Höchstens vier Wochen“ sollte der Krankenhausstreik 2022 in NRW dauern. Es wurden elf. Jonas Alter war von Anfang an dabei und hat einen beeindruckenden Film über den längsten Arbeitskampf im deutschen Gesundheitssystem gedreht.

Dominik sagt: „Ich arbeite in der Sterbebegleitung. Ich habe keine Zeit für die Sterbenden und ihre Angehörigen.“ Carola sagt: „Ich muss ständig einspringen. Ob per Mail, WhatsApp oder Anruf: Die Klinik lässt einen nicht in Ruhe.“ Und für Kira ist klar, dass die Klinikleitung vor das Arbeitsgericht zieht, um einen Streik zu verhindern. „Mit diesem Vertrauensbruch haben wir gerechnet.“

Die drei sind die Hauptdarsteller*innen in Jonas Alters dramaturgisch prima gebautem Dokumentarfilm „Höchstens vier Wochen.“ Er handelt vom größten Streik im deutschen Gesundheitssystem im Frühjahr 2022, der 79 Tage dauerte. Die Beteiligten hatten damit gerechnet, dass in „höchstens vier Wochen“ alles vorüber sei.

Aus dem Nichts ist dieser Arbeitskampf beim besten Willen nicht entstanden. Seit Ende der 1990er-Jahre wird am System der Krankenhäuser in Deutschland herumgebastelt. Gewinnträchtige Privatisierungen wie Massenentlassungen von Pflegekräften gehörten zum Instrumentarium, um das deutsche Gesundheitssystem zumindest für Investoren profitabel zu machen; vor allem durch das Konzept der Fallpauschalen, mit denen die Krankenhäuser einen festen Satz für bestimmte Behandlungen bekommen, was zu reiner Gewinnorientierung, zu Arbeitsverdichtung, Stress auf den Stationen und Fachkräfteflucht aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen geführt hat.

Die Beschäftigten der Unikliniken in Nordrhein-Westfalen wollten sich das zu Beginn des Jahres 2022 nicht mehr länger bieten lassen, gemeinsam kämpften sie mit gewerkschaftlicher Unterstützung nicht für mehr Lohn, sondern erstmals für mehr Personal. Sie forderten vor allem Entlastung. Es war ein Streik für ein besseres Gesundheitssystem und für eine bessere Versorgung – denn die Unterbesetzung von z. B. Rettungsstellen kann zu Todesfällen führen. Mehr als einmal erwähnen die Mitarbeiter*innen in Alters Film, dass gerade mal eine Pflegekraft pro Schicht in der Notaufnahme arbeitet – ein fahrlässiger Personalschlüssel, der Leben kosten kann. Es ging um genug Zeit, den Job richtig zu machen, genug Zeit, um nicht vor Arbeit verrückt zu werden.

Alter ist überall mit der Kamera dabei: bei Streikaktionen, Betriebsversammlungen, vor dem Arbeitsgericht, das die Uniklinikleitung Bonn bemühte. Deren Sprecher versucht zu begründen, warum man die Gerichte anrief. Die Einlassungen überzeugten die Pflegekräfte nicht – und auch nicht die Richterin. Am Schluss kam dann tatsächlich der Tarifvertrag Entlastung zustande, er enthält Bestimmungen zum Zeitmanagement, Belastungsausgleich, bessere Bedingungen für Auszubildende und dual Studierende. Vor allem wird die Einhaltung der Bestimmungen kontrolliert.

Ein mitreißendes Stück Dokumentarfilm darüber, dass sich Engagement immer lohnt. Es ist die erste Arbeit des jungen Regisseurs. So kann er gerne weitermachen!

Diese Kritik erschien zuerst am 17.02.2023 auf: links-bewegt.de

Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber

(RU/DE/FR/CH 2021, Regie: Kirill Serebrennikow)

Deformierte Wirklichkeit
von Wolfgang Nierlin

Ein Winterabend in der russischen Stadt Jekaterinburg. In einem Linienbus herrscht drangvolle Enge. Während sich eine korpulente, weihnachtlich verkleidete Schaffnerin mit blonden Zöpfen durch die Menge der verhärmten Fahrgäste schiebt …

Ein Winterabend in der russischen Stadt Jekaterinburg. In einem Linienbus herrscht drangvolle Enge. Während sich eine korpulente, weihnachtlich verkleidete Schaffnerin mit blonden Zöpfen durch die Menge der verhärmten Fahrgäste schiebt und nach den Fahrscheinen verlangt, wird gezetert, geschimpft und gestritten. Unaufhörlich geht es gegeneinander und gegen andere, gegen eine unfähige Regierung und gegen die Fremden im Land. Inmitten der üblen Flüche und hitzigen Wortgefechte steht fiebernd, hustend und schwitzend der Titelheld aus Kirill Serebrennikows Film „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“, der wiederum auf einem Roman seines Landsmannes Alexei Salnikow basiert. Dann wird der schweigsame Petrow (Semjon Sersin) plötzlich von zwei Schergen des Inlandsgeheimdienstes FSB aus dem Bus gezogen und zu einem Erschießungskommando abkommandiert, an dem er willenlos und wie im Wahn teilnimmt. Die Opfer des nicht näher erläuterten Massakers wirken auffällig vornehm und sind gut gekleidet.

Kirill Serebrennikow, der auch als Theater- und Opernregisseur bekannt ist, filmt diese Szenen und den Schauplatzwechsel in einer langen, fließenden Plansequenz, sodass der Zuschauer nicht gleich erkennt, dass sich hier Realität und Fiebertraum ohne filmische Schnitte vermischen. Dieses ästhetische Prinzip bestimmt auch im Folgenden den zweieinhalbstündigen Film, der in einer Art delirierenden Revue ein ebenso groteskes wie hartes Bild der russischen Gesellschaft zeichnet. Dabei wechselt er oft ununterscheidbar zwischen Realität und diversen Visionen, zwischen einer schwarzweißen Vergangenheit und einer farbigen Gegenwart. Zwischen den brutalen Gewaltausbrüchen und den Tötungsphantasien von Petrows Frau (Tschulpan Chamatowa) wiederum scheint noch eine dünne, trennende Realitätsgrenze zu verlaufen. Aber kann sich der Held, der seine nächtliche Fahrt im Leichenwagen seines besoffenen Kumpels Igor (Juri Kolokolnikow) fortsetzt, sicher sein, dass er einem erfolglos schriftstellernden Freund nicht tatsächlich beim Suizid geholfen hat?

Eben war Petrow nämlich noch eine homosexuelle Figur aus einer Erzählung des Schriftstellers. Und er selbst zeichnet Comics, in denen er seine Erlebnisse verarbeitet. Während sein ebenfalls erkrankter kleiner Sohn trotz hohen Fiebers an einem bizarren Neujahrsfest mit der Schneejungfrau teilnehmen möchte, bewegt sich der schonungslos überdrehte Film, der fest in Kälte und Dunkelheit, Chaos und Anarchie verankert ist, immer tiefer hinein in einen nicht endenden Alptraum. Einmal heißt es in einem Lied mit sarkastischem Unterton: „Oh wunderbares Leben, lehre mich heller zu brennen.“ Dass in den Wirren aus Suff und Fieber irgendwann eine Schwangerschaft zur Disposition steht, korrespondiert gewissermaßen mit jener „auferstandenen“ und danach verschwundenen Leiche, die am Ende durchnässt einen Bus besteigt. Offensichtlich gibt es in „Petrov’s Flu“ keinen Ausweg aus dem surreal-wahnhaften Kreislauf einer absurd deformierten, moralisch verkommenen Wirklichkeit.

Bigger Than Us

(FR 2021, Regie: Flore Vasseur)

Weltweiter Aktivismus
von Jürgen Kiontke

Seitdem Melati laufen kann, engagiert sie sich gegen die Plastikschwemme in ihrem Heimatland Indonesien. Vom Müll hat sie die Nase gestrichen voll. Gemeinsam mit ihrer Schwester hat sie die Initiative …

Seitdem Melati laufen kann, engagiert sie sich gegen die Plastikschwemme in ihrem Heimatland Indonesien. Vom Müll hat sie die Nase gestrichen voll. Gemeinsam mit ihrer Schwester hat sie die Initiative „Ban the Plastic Bags“ ins Leben gerufen. Ihre Arbeit brachte sie sogar schon nach New York, dort hielt sie vor den Delegierten der Vereinten Nationen eine Rede. Ihre Devise: Eine bessere Welt ist möglich!

Heute ist Melati 18 Jahre alt und schaut schon auf eine langjährige politische Praxis zurück. Gemeinsam mit einem Filmteam macht sie sich für den mitreißenden Dokumentarfilm „Bigger Than Us“ auf zu anderen Aktivisten, die sich von Kindesbeinen an für eine Sache engagieren. Sie will wissen: Was treibt die denn zu Höchstleistungen an?

Fantasievoll und verschachtelt erzählt, führt sie ihre Reise zur Flüchtlingshelferin Mary auf die griechische Insel Lesbos. Der schildert sie Begegnungen mit den Menschen, die sie bisher getroffen hat. Fünf junge Leute vom Libanon über Afrika bis Brasilien werden vorgestellt, die besondere soziale Projekte nicht nur gegründet haben, sondern auch erfolgreich weiterführen.

Memory stellt sich früh gegen die Tradition der Zwangsehe in ihrem Land Malawi. Dazu gekommen ist sie vor allem aus persönlicher Betroffenheit, sollte sie doch bereits als Kind verheiratet werden. Sie schafft es, im Parlament gehört zu werden, und erreicht, dass die Mindestaltersgrenze für Hochzeiten von 15 auf 18 Jahre angehoben wird. Auch bei Mohamed hat das Engagement nicht zuletzt private Auslöser. Als Kind flüchtete er aus Syrien in den Libanon, fand, dass die Menschen in den Flüchtlingslagern nur vor sich hindämmern. „Du vergisst dort, was Zeit ist“, sagt er. Er gründete eine Schule, in der heute 200 Kinder unterrichtet werden. Und Rene? Das Kind aus der Favela in Rio de Janeiro war die Berichte der Medien über seine Nachbarschaft leid, es ging immer nur um Drogen und Gewalt. Um die Informationslage zu verbessern, gründete er eine Kinder-Favela-Zeitung, deren Chefredakteur er heute ist und die monatlich erscheint.

Die junge Winnie baute eine Initiative für saubere Landwirtschaft in Uganda auf; heute ist diese eine Kooperative, die von Bürgerkriegsflüchtlingen aus den Nachbarländern betrieben wird. Und der indigene Rapper Xiuhtezcatl hat den US-Bundesstaat Colorado verklagt, weil dessen Regierung zu faul sei, etwas an der desolaten Umweltsituation zu ändern. Colorado ist bekannt für seine Fracking-Industrie und deren Auswirkungen auf Mensch und Natur. Das Gas, das mit dieser Technik aus dem Boden gepresst wird, landet auch gern mal im Trinkwasser, wie der junge Aktivist eindrucksvoll an der Spüle seiner Mutter demonstriert. Einmal den Hahn aufgedreht, kann er den Output mit dem Feuerzeug anzünden.

Die Leute, die hier für etwas kämpfen, das größer ist als wir, du oder ich, setzen sich für Menschenrechte ein, für den Zugang zu guter Nahrung, zu Bildung. Sie streiten für Meinungsfreiheit und soziale Gerechtigkeit.

Diese Kritik erschien zuerst am 15.02.2023 auf: links-bewegt.de

Das Salz der Tränen

(FR 2020, Regie: Philippe Garrel)

Erziehung des Herzens
von Wolfgang Nierlin

Aus erhöhter Perspektive blickt die Kamera auf zwei junge Menschen, die, durch eine leere Straße getrennt, einander gegenüberstehen und auf einen Bus warten. Ihre Beziehung wird zunächst durch diese räumliche …

Aus erhöhter Perspektive blickt die Kamera auf zwei junge Menschen, die, durch eine leere Straße getrennt, einander gegenüberstehen und auf einen Bus warten. Ihre Beziehung wird zunächst durch diese räumliche Distanz definiert, bevor sie erst durch verstohlene Blicke, dann durch das Überqueren der Straße aufgehoben wird. Der etwa 20-jährige Luc (Logann Antuofermo), der neu ist in Paris, fragt an der Vororthaltestelle Djemila (Oulaya Amamra) nach dem Weg. Die erste Begegnung der beiden ist vorsichtig tastend, zögerlich, fast scheu. Kaum ein Wort wird während ihrer gemeinsamen Busfahrt gewechselt. Nur sehr langsam überwinden die beiden ihre Distanz. Der schüchternen Annäherung folgt eine Verabredung zum Spaziergang. Während Djemila als Arbeiterin gerade eine schulische Pause überbrückt, ist der angehende Tischler Luc aus einem kleinen Provinzort angereist, um an der Kunstgewerbeschule École Boulle die Aufnahmeprüfung abzulegen. Sein Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt geht einher mit der Erziehung des Herzens.

In mehreren zeitlichen Abschnitten, die jeweils mit Ortswechseln und neuen Begegnungen verbunden sind, erzählt der 1948 geborene Philippe Garrel in seinem Film „Das Salz der Tränen“ („Le sel des larmes“) von Lucs ziemlich flatterhaften Éducation sentimentale. Dabei liegt das Interesse des französischen Regisseurs, der seinen Film zusammen mit dem renommierten Kameramann Renato Berta erneut in Schwarzweiß und in einem zeitlosen Ambiente aufgenommen hat, weniger auf einer durchgehenden Geschichte, sondern vielmehr im Szenischen und im einzelnen Bild. Die Beziehungen der Figuren im Raum, Orte als Ansammlung von Ideen, von subjektiven Obsessionen, unterbewussten Träumen und Erinnerungen sowie eine unverkennbar Faszination für das Schöne lassen die mögliche Kohärenz des Plots und der Dialoge mitunter zurücktreten.

Philippe Garrels romantischer, fast schwärmerischer Film folgt der Logik der Poesie und ist geradezu unschuldig gegenüber filmischen Konventionen. Wo es Handlung zu überbrücken gilt, meldet sich aus dem Off ein Erzähler kurz zu Wort. Stimmungsvolle Klaviermusik von Jean-Louis Aubert setzt eine melancholische Grundnote. Garrels poetischer Realismus macht seinen Film ebenso gegenwärtig wie überzeitlich.

„Ich vergesse dich nicht“, sagt Luc bei seinem Abschied von Djemila. Zurück in seinem Heimatort, thematisiert der Film zunächst die enge Beziehung des Protagonisten zu seinem alten Vater (André Wilms), der eine Tischler-Werkstatt betreibt, etwas ernüchtert auf die mögliche Zukunft seines Handwerks blickt („Nomaden brauchen keine Möbel.“) und seinen Sohn allein aufgezogen hat. Als Luc eine Zusage für die Aufnahme an der École Boulle erhält, wird klar, dass er mit Beginn seines Studiums auch einen nicht realisierten Traum seines Vaters lebt.

Doch zunächst gerät Luc in weitere Liebeswirren, als er seine schöne frühere Schulfreundin Geneviève (Louise Chevillotte) trifft und diese nach einer leidenschaftlich intensiven Romanze schwanger wird. Der bis dato unentschieden und wankelmütig erscheinende Held lässt daraufhin unumwunden seine Freundin sitzen, um sich seiner beruflichen Zukunft zu widmen. Ohne Arbeit und finanzielle Mittel, jung, unerfahren und am Beginn eines neuen Lebensabschnittes sagt Luc, er sei noch nicht bereit für Vaterschaft und Ehe. Diese ebenso plötzliche wie harte Entschiedenheit, die vom Erzähler knapp als feige Flucht vor der Verantwortung gedeutet wird, wirft ein neues Licht auf den so unzuverlässigen, suchenden und sich selbst ungewissen Helden.

Einmal sagt Geneviève zu ihm: „Du liebst mich – im Moment.“ Dieser Satz mit Gedankenstrich trifft ziemlich genau Lucs vorläufiges Handeln, das noch keinem bestimmten oder gewissen Begriff von Liebe folgt und auf eine „ebenbürtige“ Gefährtin hofft. Auch nach seiner Rückkehr nach Paris, wo er sich auf ein ziemlich gewagtes Liebesexperiment mit der abenteuerlustigen Betsy (Souheila Yacoub) und ihrem Kumpel Paco (Martin Mesnier) einlässt, bleiben seine Beziehungen unstet und von melancholischer Einsamkeit grundiert. Fast scheint es, als sei sein Los, den Wert des Verlorenen nur immer erst und mit vergeblichem Bedauern im Nachhinein ermessen zu können.

Am 20.2.2023 erfolgt die Erstausstrahlung auf Arte, bis zum 21.3.2023 wird der Film in der Arte-Mediathek erhältlich sein.

Luanas Schwur

(AL/DE 2021, Regie: Bujar Alimani)

Unvollständige Befreiung
von Wolfgang Nierlin

Das Spiel, mit dem der Film beginnt und endet und das insofern die Zeiten überdauert, ist eigentlich ein Nullsummenspiel. Es dient der puren kindlichen Lust und Freude, ist reines Spiel. …

Das Spiel, mit dem der Film beginnt und endet und das insofern die Zeiten überdauert, ist eigentlich ein Nullsummenspiel. Es dient der puren kindlichen Lust und Freude, ist reines Spiel. Trotzdem gibt es Verlierer und Gewinner, wenn es darum geht, möglichst schnell eine große, bauchige Flasche mit Wasser zu füllen und dieses dann wieder in den Fluss zu schütten. Und weil in der Gewinner-Mannschaft ein Mädchen mitspielt, das angeblich nicht mitspielen darf, entzündet sich sofort ein Streit. Dieser eskaliert, als sich ein Junge namens Agim einmischt, um die hübsche Luana (Shkurte Sylejmani) zu verteidigen. Denn der Sohn aus einer Akademikerfamilie gilt in dem entlegenen Bergdorf im Norden Albaniens als Fremder, der nicht dazugehört. In dieser Eröffnungsszene, die 1958 spielt und in der die beiden jugendlichen Helden etwa 14 Jahre alt sind, finden sich also zwei Außenseiter, die sich fortan heimlich treffen. Zugleich etabliert Bujar Alimani in seinem epischen, mit folkloristischer Schönheit imprägnierten Film „Luanas Schwur“ damit ein konfliktreiches Spannungsfeld zwischen Tradition und kommunistischem Regime, zwischen religiösen Regeln und aufoktroyiertem Atheismus.

Eigentlich ist das Buch von Jack London, mit dem Agim seiner Freundin Luana Lesen lehrt und sie zugleich zum Träumen bringt, verboten. In der idyllischen Ruhe einer malerischen, weiten Gebirgslandschaft wachsen freundschaftlich und zärtlich die Gefühle der beiden füreinander. Doch ihre stille, manchmal etwas zu schwelgerisch inszenierte Vertrautheit erfährt ein jähes Ende, als die Macht der Tradition mit ihren ehernen Gesetzen ihr Recht unmissverständlich einfordert. Gegen ihre Gefühle wird Luana dem jungen Flamur, der aus einer befreundeten Familie stammt, versprochen. „Ein Versprechen gilt als Gesetz“, wird ihr beschieden. Und dieses Gesetz ist Teil des Kanun, eines mittelalterlichen Verhaltenskodex, der hier noch immer das Zusammenleben regelt. „Damit wir nicht wie Tiere sind“, sagt Luanas Vater und ergänzt: „Wir brauchen die Regeln, sie machen uns zu Menschen, egal wie grausam sie uns erscheinen mögen.“

Nach einem Zeitsprung ins Jahr 1968, in dem endlich die Hochzeit stattfinden soll, entspinnt sich aus dem klassischen Drama über eine unerlaubte Liebe schließlich eine spannende Rachegeschichte mit tragischer Note. Sehr deutlich und dadurch mitunter etwas zu zugespitzt setzt der albanische Regisseur ein patriarchales System in Szene, das Frauen in eine untergeordnete, dienende Rolle zwingt, während die Männer über deren Lebensschicksal entscheiden. Als nach einem tragischen Zwischenfall mit dem überheblichen und brutalen Heißsporn Flamur Luanas Vater getötet wird, beschließt die junge Frau (jetzt von Rina Krasniqi gespielt), eine sogenannte „Schwurjungfrau“ (Burrnesha) zu werden, fortan als Mann zu leben und als neues Familienoberhaupt das Erbe ihres Vaters anzutreten. Und das wiederum bedeutet nach den überlieferten archaischen Gesetzen zunächst und vor allem, Blutrache zu üben. Kein Weg führe daran vorbei. Und so entfaltet „Luanas Schwur“ zwischen schicksalhafter Determination und weiblicher Selbstermächtigung die Geschichte einer wehmütig grundierten Befreiung, die unter den Bedingungen der Gefangenschaft allerdings nur unvollständig sein kann.

Return to Seoul

(BE/DE/FR/QA 2022, Regie: Davy Chou)

Fremde Identitäten
von Wolfgang Nierlin

Eigentlich ist Freddie der maskulin klingende Kosename von Frédérique Benoît. Allerdings wurde die 25-jährige Französin einst als Yeon-hee in Südkorea geboren, bevor sie Mitte der 1990er Jahre zur Adoption freigegeben …

Eigentlich ist Freddie der maskulin klingende Kosename von Frédérique Benoît. Allerdings wurde die 25-jährige Französin einst als Yeon-hee in Südkorea geboren, bevor sie Mitte der 1990er Jahre zur Adoption freigegeben wurde. Jetzt steht Freddie (Park Ji-min) mit wunderlichem Blick in einem Seouler Gästehaus vor der höflichen, etwa gleichaltrigen Rezeptionistin Tena (Guka Han). Die beiden sprechen ganz selbstverständlich Französisch. Doch Freddies direkte, ungezwungene Art, die sich auf teils konfrontative Weise den ortsüblichen Gepflogenheiten und kulturellen Konventionen verweigert, stößt spätestens am Abend beim gemeinsamen Restaurantbesuch auf Irritationen und Unverständnis. Sie erklärt, was es heißt, „vom Blatt zu spielen“: „Viele Zeichen sehen wir, ohne sie zu kennen.“ Und definiert kurzerhand Situationen mit ihrem erlernten Zeichenvokabular um, indem sie im übertragenen Sinne spontan auf Neues reagiert. Kulturelle Differenz und sprachliche Verständigungsschwierigkeiten wiegen in Davy Chous Film „Return to Seoul“ umso stärker, je mehr sich die Protagonistin mit ihrer Herkunft und damit ihrer Identität beschäftigt.

Dabei will Freddie angeblich nur für zwei Wochen eher plan- und ziellos Ferien machen, ohne nach ihren biologischen Eltern zu forschen. Doch dann geht sie doch zum Adoptionszentrum Hammond, das vor allem nach dem Koreakrieg viele Kinder und Waisen ins Ausland vermittelte. Während Freddies leibliche Mutter zunächst einen Kontakt ablehnt, kommt es zu einer Begegnung mit dem Vater, den sie zusammen mit Tena an einem Wochenende in der Küstenstadt Gunsan besucht. Der Weg dorthin führt über einen langen Fahrdamm, der sich in der Weite zu verlieren scheint. „Folgsam“ und „freundlich“ bedeute ihr koreanischer Name, hatte bereits die Vermittlerin auf dem Amt übersetzt. Und an andere Stelle werden Freddies Gesichtszüge als „rein koreanisch“ beschrieben. Die in Frankreich sozialisierte junge Frau wehrt sich gegen solche Zuschreibungen und Integrationsversuche und blockt zugleich die emotionalen Avancen und „Übergriffe“ des Vaters ab, der sein Kind einst aus wirtschaftlicher Not zur Adoption freigab.

Wenn Freddie einmal unter der Dusche steht, wirkt das, als würde der Wasserstrahl alle Konflikte von ihr abwaschen. Tatsächlich fühlt sie sich allein. „I never needed anybody“, heißt es in einem Song, bevor Freddie wild und ganz für sich tanzt. „Du bist ein sehr trauriger Mensch“, sagt Tena zu ihr, die verloren und doch auch bei sich ist. Dann vergeht Zeit in Davy Chous melancholischem Film über eine schmerzliche Selbstsuche zwischen den Kulturen. Denn Freddie kehrt in den nächsten acht Jahren wiederholt nach Seoul zurück, taucht ein in die queere, freizügige, ja rauschhafte Künstlerszene und hat eine Affäre mit dem älteren französische Waffenhändler André (Louis-Do De Lencquesaing). Davy Chous Inszenierung ist immer nah bei seiner Heldin und ihrer inneren Zerrissenheit. Behutsam und geduldig begleitet der französische Regisseur kambodschanischer Herkunft den widersprüchlichen Prozess ihrer Annäherung an eine fremde Identität. Wenn Freddie am Ende ein Stück von J. S. Bach tastend „vom Blatt spielt“, verwandeln sich die unbekannten Zeichen der Notenschrift spontan in etwas Vertrautes.

Die Frau im Nebel

(KR 2022, Regie: Park Chan-wook)

Das Rätselspiel der Liebe
von Wolfgang Nierlin

Die abrupten ersten Schnitte und Szenenwechsel mit ihren überlappenden Dialogen deuten bereits darauf hin, dass Park Chan-wook in seinem neuen Film „Die Frau im Nebel“ die übliche raum-zeitliche Logik außer …

Die abrupten ersten Schnitte und Szenenwechsel mit ihren überlappenden Dialogen deuten bereits darauf hin, dass Park Chan-wook in seinem neuen Film „Die Frau im Nebel“ die übliche raum-zeitliche Logik außer Kraft setzt. Sein assoziativ verdichtetes, sehr schnelles und komplexes Erzählen, mit dem er den Ermittlungen des smarten Polizeikommissars Jang Hae-joon (Park Hae-il) folgt, vermischt wie in einem halbwachen Zustand permanent Realität, Imagination und Traum. Sprunghaft wie ein Comic etabliert der gefeierte südkoreanische Regisseur ein kunstvoll gestaltetes Vexierspiel aus Verdoppelungen, Spiegelungen und scheinbaren Nebensächlichkeiten, die jedoch Puzzleteile einer engen motivischen Verzahnung sind. Paradoxien, ein skurriler Humor, eine artifizielle Bildsprache und angeblich bedeutsame Zeichen erweisen sich zugleich als manipulatives postmodernes Spiel, mit dem Park den Inhalt einer ästhetischen Strategie unterordnet und den Zuschauer in Haft nimmt.

Die Suspendierung des raum-zeitlichen Kontinuums passt wiederum ganz gut zu einem Kommissar, der unter Schlaflosigkeit leidet und deshalb zum besessenen Observierer geworden ist. Außerdem führt er eine Wochenendbeziehung mit seiner Ehefrau Jung-an (Lee Jung-hyun), die als Wissenschaftlerin in Ipo lebt, während Hae-joon in Busan arbeitet. Dort begegnet er im Zuge von Ermittlungen der ebenso schönen wie geheimnisvollen Witwe Song Seo-rae (Tang Wei), die eben ihren Mann bei einem Unfall verloren hat. Oder war der Sturz des Bergsteigers ein Suizid, gar ein Mord? Der eifrige, von ungelösten Fällen umstellte Polizist ermittelt in alle Richtungen und kommt dabei sehr schnell der überraschend nüchternen Seo-rae näher. Diese ist einst aus China geflohen und arbeitet nun als sorgsame Krankenschwester in einem Altenpflegeheim. Hae-joon verliebt sich in die kühle Femme fatale und verliert dabei seine berufsmäßige Objektivität und Neutralität aus dem Blick. In der Folge verbessert sich allerdings zunehmend die Qualität seines Schlafes.

Obwohl der von gegensätzlichen Gefühlen gelenkte Polizist der mysteriösen Witwe den Mord nachweisen kann, schließt er den Fall als Tat eines Selbstmörders ab. „Er ist gestorben, wie er es sich gewünscht hat“, sagt Seo-rae. Ein Jahr später – die beiden sind mittlerweile getrennt – wird sich das Morden an einem anderen Ort und unter anderen Vorzeichen wiederholen. Park Chan-wook konstruiert in seinem melodramatischen Neo-Noir ein ebenso schillerndes wie vieldeutiges Spiel mit Zeichen. Solange ein Fall nicht gelöst ist, kommt Hae-joon nicht zur Ruhe. Seo-rae wiederum strebt und verlangt danach, für den Ermittler ein ungelöster Fall zu werden, um ihm in ihrer Liebe nahe zu sein. Sie tötet, weil sie liebt. Morde sind für sie ein Vehikel, um von Hae-joon „als Verdächtige“ behandelt zu werden. Parks elaboriertes filmisches Rätselspiel zeigt Liebesbesessene, die sich verfehlen müssen, weil ihre leidenschaftliche Obsession nur in Gegensätzen zueinander findet.

Der Geschmack der kleinen Dinge

(JA/FR 2022, Regie: Slony Sow)

Herzensgüte als Geschmacksverstärker
von Wolfgang Nierlin

Das Leben ist eine holprige Parallelmontage aus konfusen Korrespondenzen, Entsprechungen und Zufällen. Zumindest gilt das für Slony Sows kitschigen Selbstfindungsfilm „Der Geschmack der kleinen Dinge“ („Umami“), der zu viel auf …

Das Leben ist eine holprige Parallelmontage aus konfusen Korrespondenzen, Entsprechungen und Zufällen. Zumindest gilt das für Slony Sows kitschigen Selbstfindungsfilm „Der Geschmack der kleinen Dinge“ („Umami“), der zu viel auf einmal will und deshalb hohldreht. Bevor jedoch das, was der pseudopoetische Film an überbordenden Handlungselementen und angeblichen Lebensweisheiten mäßig lustig aufschichtet, sich in leerem Wohlgefallen auflöst, muss sich Starschauspieler Gérard Depardieu erst noch in der Rolle eines stark übergewichtigen Spitzenkochs vom tristen Frankreich in ein winterlich verschneites Japan wuchten. Denn dort, in der kleinen Ramen-Küche eines früheren Kontrahenten, wird er nicht nur endlich die geheimnisvolle, titelgebende Geschmacksnote „entziffern“, sondern auch das zu lange verdrängte Familien- und Lebensglück finden.

Denn Gabriel Carvin wird zu Beginn auf seinem herrschaftlichen Anwesen zwar medienwirksam der dritte Kristallstern für seine Kochkunst verliehen, doch den Geschmack an seinem Leben hat er längst verloren. Seine Frau Louise (Sandrine Bonnaire) betrügt ihn mit einem einflussreichen Restaurantkritiker und sein ältester Sohn scheint ein wenig würdiger oder geeigneter Nachfolger zu sein. Die Lebensmüdigkeit, die bei Carvin im Vollrausch zu einem Herzinfarkt führt, teilt er übrigens mit einer jungen Japanerin namens Mai (Sumire), deren nicht minder abstruse Geschichte im Wechsel erzählt wird. Nach diesem dramatischen gesundheitlichen Weckruf, der zusätzlich befeuert wird durch die esoterische Hypnose-Philosophie eines befreundeten Austernfischers (Pierre Richard) („Eine Perle vertreibt den Ärger.“), begibt sich der gepeinigte Koch überstürzt und orientierungslos auf die Reise nach Japan.

„Ich komme zurück, nachdem ich ein altes Hirngespinst vertrieben habe“, gibt sich der Berserker zuversichtlich, um dann stets mürrisch und gewohnt herrisch im weißen Bademantel durch Schnee und fremdes Terrain zu stampfen. Bevor jedoch die zwei Welten, die hier aufeinanderprallen, wie zu Beginn des Films von einem zunächst obskuren, merkwürdigerweise allwissenden Off-Erzähler versprochen wird, sich vereinen, gibt es noch einige mehr oder weniger skurrile Witzchen aus der Klamottenkiste kultureller und sprachlicher Clashs; wobei die deutsche Synchronisation für zusätzliche Irritationen sorgt. „Warum will man den Mond, wenn man die Sterne hat?“, wird ein französisches Chanson zitiert, bevor der unglückliche Held seinen Bademantel gegen einen Kimono tauscht und schließlich, „umami“ erschmeckend, die „Herzensgüte als Geschmacksverstärker“ entdeckt. Das dramaturgische Wirrwarr des Films schafft es zugleich, auch alle anderen Neben- und Parallelhandlungen einem glücklichen Ende zuzuführen.

Close

(BE/FR/NL 2022, Regie: Lukas Dhont)

Vertreibung aus dem Paradies
von Wolfgang Nierlin

Im Dunkeln eines geheimen Verstecks flüstern sich zwei Jungen gegenseitig Mut zu und versichern sich ihres Zusammenhalts vor den draußen lauernden Angreifern. Dann wagen die beiden 13-Jährigen den Ausbruch und …

Im Dunkeln eines geheimen Verstecks flüstern sich zwei Jungen gegenseitig Mut zu und versichern sich ihres Zusammenhalts vor den draußen lauernden Angreifern. Dann wagen die beiden 13-Jährigen den Ausbruch und rennen in einem wilden, energiegeladenen Lauf ihren Verfolgern einfach davon. Es geht durch einen lichten Wald, über sonnendurchflutete Wiesen und durch die leuchtenden Farben eines Blumenfeldes. Die unbändige Kraft der jungen Körper verbindet sich mit der Freiheit des Sommers und einer ländlichen Idylle. Léo (Eden Dambrine) und Rémi (Gustav de Waele) „sind beste Freunde im Sinne von Brüdern“, wie einer der beiden einmal sagt. In ihren noch kindlichen Spielen imaginieren sie gefährliche Abenteuer, die sie zu unzertrennlichen Verbündeten zusammenschweißen. Sie teilen ihre Phantasien und Träume und sind ganz selbstverständlich Teil der jeweils anderen Familie, wenn sie beispielsweise zusammen übernachten.

Die Vertreibung aus dem Paradies beginnt nach den Sommerferien, als Léo und Rémi aufs Gymnasium wechseln und ihre bis dato unschuldige und zärtliche Freundschaft von Mitschülern angefeindet wird. Plötzlich werden die beiden hübschen Jungs als „Paar“ gesehen und mit homophoben Sprüchen gehänselt. Um diesen Verdacht zu entkräften und nicht ausgegrenzt zu werden, geht Léo auf Distanz zu seinem Freund und schließt sich einer Eishockeymannschaft an. Deren harter, männlicher Drill steht in einem starken Kontrast zu den unschuldigen Kinderspielen. Ein heftiger, wortloser Ringkampf zwischen Léo und Rémi besiegelt schließlich das schmerzliche Ende ihrer Freundschaft. Als der seelisch verletzte Rémi kurz darauf bei einem Klassenausflug ans Meer fehlt, nimmt die Geschichte eine tragische Wendung. Der Verlust seines Freundes löst wiederum bei Léo Schuldgefühle aus, die er durch intensives Eishockeytraining verdrängt.

Schon in seinem gefeierten Spielfilmdebüt „Girl“ hat der belgische Regisseur Lukas Dhont die Arbeit der Körper und ihren energetischen Ausdruck zwischen Abwehr, Schutz und Zerbrechlichkeit in den Mittelpunkt gestellt. Auch in seinem neuen, preisgekrönten Film „Close“ dominiert die Sprache der Körper gegenüber einer allgemeinen Sprachlosigkeit. Ihre Bewegungen verdichten Energie und wandeln sie auch in einem übertragenen Sinn um. Eine symbolische Erzählebene korrespondiert deshalb permanent mit einer Geschichte, die einen psychischen Zustand beschreibt und ihren Blick auf das traumatische Innenleben der Figuren richtet. Die Konzentration auf Gesichter und einen minimalen Plot wird dabei in eine Beziehung gesetzt zum Zyklus der Jahreszeiten und des Lebens. Blumen werden auf der Farm von Léos Eltern gepflückt und neu gepflanzt. Ein Prozess der Heilung setzt ein, als sich Léo beim Spiel den Arm bricht. Und wenn Rémis Mutter auf einer Entbindungsstation arbeitet, symbolisiert das auch die Hoffnung auf Vergebung und einen möglichen Neubeginn.

Apples

(GR/PL/SI 2020, Regie: Christos Nikous)

Zwischen Vergessen und Erinnern
von Wolfgang Nierlin

Ein leichtes Klopfen oder Hämmern rhythmisiert eine kurze Abfolge aufblitzender Bilder. Ein Mann (Aris Servetalis) schlägt mit seinem Kopf gegen die Wand. Dann sitzt er verloren auf dem Sofa, blickt …

Ein leichtes Klopfen oder Hämmern rhythmisiert eine kurze Abfolge aufblitzender Bilder. Ein Mann (Aris Servetalis) schlägt mit seinem Kopf gegen die Wand. Dann sitzt er verloren auf dem Sofa, blickt in einen großen Spiegel und starrt zugleich ins Leere seiner in dämmriges Licht getauchten Wohnung. In den Radio-Nachrichten ist von einer mysteriösen Krankheit die Rede, die den Betroffenen die Erinnerung und damit die Identität raubt. Draußen blockiert ein Auto die Straße. Sein Fahrer sitzt auf dem Gehsteig und kann sich nicht daran erinnern, der Verursacher des Staus zu sein. Derweil befindet sich der Namenlose des Anfangs auf dem Weg zum Blumenhändler. Später, es ist bereits dunkel, sitzt er in einem Bus, schläft bis zur Endstation, ohne sein Ziel zu kennen oder sich daran zu erinnern. Die orangefarbenen Lichter der Straßenlaternen bilden eine Abfolge illuminierender Reflexe. Dann befindet sich der große, bärtige und stille Mann in einem Krankenwagen, der in einen Tunnel fährt. Weil er keine Papiere bei sich trägt, gilt er fortan als ein Patient ohne Identität, nach dem niemand sucht.

„Viele leiden an Amnesie“, sagt die betreuende Ärztin, die den Namenlosen mit der Nummer 14842 registriert und sein Portrait auf einem Polaroidfoto dokumentiert. Nach einer Reihe von Gedächtnistests, die merkwürdig skurril und altmodisch anmuten, diagnostizieren die Ärzte einen Erinnerungsverlust, der offensichtlich selektiv ist. Denn der Namenlose, der gerne Äpfel isst, kann sich zwar nicht an seine Herkunft erinnern, seine Sprache, sein Denken, bestimmte Gewohnheiten und Fähigkeiten scheinen aber nicht beeinträchtigt. Trotzdem empfiehlt ihm die Ärztin eine spezielle Therapie, die ihm zu einer neuen Identität verhelfen soll. Denn: „Ein Alltag ohne Identität ist schwierig.“ „Erlerne dein Leben“, lautet der Titel des Programms, das zwar nicht die Erinnerung zurückbringe, aber Erfahrungen für einen Neuanfang im Leben ermögliche. Ausgestattet mit einer Wohnung, mit Kleidern und Geld, folgt der Namenlose fortan den Instruktionen einer Audiokassette. Die alltäglichen Aufgaben und Mutproben, die ihm gestellt werden und die auch auf seine soziale Reintegration zielen, soll er mit Polaroidfotos festhalten.

Christos Nikou inszeniert in seinem eigenwilligen Spielfilmdebüt „Apples“ („Mia“) eine analoge Welt. In unterkühlten, fahlen Bildern im Format 4:3 und mit einem reduzierten Setting entwirft er in Korrespondenz zu den Aufgaben seines Protagonisten eine episodische Struktur, die sehr konzentriert und mit lakonischem Erzählduktus eine Reihe ebenso absurder wie komischer Szenen vorführt. Diese reichen vom Fahrrad- und Autofahren über eine Verkleidungsparty bis zum Nachtclubbesuch. Als Schüler der Greek Weird Wave, die sich um den Regisseur Giorgos Lanthimos gebildet hat, folgt Nikou mit seiner teils surreal anmutenden Versuchsanordnung weder einer konventionellen Dramaturgie noch der Logik des Erzählkinos. Mit seiner melancholischen, als Allegorie auf unsere Zeit (und letztlich auch auf die digitalen Speichermedien) verstandenen Reflexion über die Funktionsweise des Gedächtnisses untersucht der griechische Filmemacher, inwieweit Gefühle unser Erinnerungsvermögen beeinflussen.

Ist der namenlose Held seines bemerkenswerten Films vielleicht auf der Flucht vor sich selbst und seinen negativen Erinnerungen an sein früheres Leben? Verdrängt er durch die Flucht ins Vergessen einen Schmerz? Und braucht es die Wiedererinnerung, um weiterleben zu können? Wiederholt er etwa sein altes Leben, um zu einem Neuanfang zu gelangen? Wenn der Protagonist am Ende des Films in seine alte Wohnung zurückfindet, ist er den Antworten auf diese Fragen zumindest ein Stück weit näher gekommen.

Midwives

(CA/DE/MM 2022, Regie: Snow Hnin Ei Hlaing)

Schwer umkämpftes Gebiet
von Jürgen Kiontke

Zwei Hebammen stehen im Mittelpunkt von Snow Hnin Ei Hlaings Dokumentarfilm „Midwives“. Ihr Einsatzort: das Siedlungsgebiet der verfolgten Rohingya-Minderheit in Myanmar. Sechs Jahre hat Regisseurin Snow Hnin Ei Hlaings, die …

Zwei Hebammen stehen im Mittelpunkt von Snow Hnin Ei Hlaings Dokumentarfilm „Midwives“. Ihr Einsatzort: das Siedlungsgebiet der verfolgten Rohingya-Minderheit in Myanmar. Sechs Jahre hat Regisseurin Snow Hnin Ei Hlaings, die unter anderem in Baden-Württemberg studiert hat, an ihrem Film „Midwives“ (Geburtshelferinnen) gearbeitet. Da ist Hla, Buddhistin und Inhaberin einer provisorischen Geburtsklinik. Und Nyo Nyo, Muslima und gelernte Hebamme, sie arbeitet bei Hla als Assistentin und Übersetzerin. Die Religionsangabe spielt deswegen eine Rolle, weil die beiden Frauen Kindern in einer umkämpften Region auf die Welt helfen. Sie leben im Rakhaing-Staat in Myanmar, dem Siedlungsgebiet der Rohingya-Minderheit. Die gehört derzeit zu denen am meisten verfolgten Volksgruppen auf der Welt. Weil Rohingya-Kämpfer 2016 mehrere Anschläge auf Polizeistationen verübten, rückte die Armee an, um die Menschen aus Myanmar gewaltsam zu vertreiben. Hunderttausende flüchteten ins benachbarte Bangladesch und leben dort nun in provisorischen Lagern.

Die Verbliebenen haben mit der Feindseligkeit der ansässigen buddhistischen Bevölkerung zu kämpfen. Hla und Nyo Nyo sind da mittendrin in den Ereignissen, die Konflikte spiegeln sich täglich im Alltag. Und ihre Zusammenarbeit ist alles andere als harmonisch, was dieser Dokumentation durchaus eine rabiate Note verleiht. Besonders Hla überschüttet Patientinnen und Personal den ganzen Tag mit Verwünschungen und Flüchen. Aber sie ist die Einzige in der Gegend, die sich überhaupt auf Geburtshilfe versteht und eine entsprechende Praxis betreibt. Nyo Nyo kann sich denn auch gut eine eigene Filiale vorstellen; ein Vorhaben, das während der jahrelangen Dreharbeiten durchaus Form annimmt.

Filme aus Myanmar sind nicht gerade häufig, „Midwives“ nimmt sich auch die Zeit, Land und Leute zu filmen. Von bedrohlichen Demonstrationen bis hin zu unfassbaren Naturaufnahmen ist hier einiges dabei, und wie im Vorbeigehen fängt die Kamera auch Aktionen des Militärs Myanmars ein – sicher kein ungefährliches Unterfangen. Ein absolut sehenswerter Film!

Diese Kritik erschien zuerst am 25.01.2023 auf: links-bewegt.de

Daniel Richter

(D 2022, Regie: Pepe Danquart)

Zwischen Kunst und Kommerz
von Wolfgang Nierlin

„Warum machen wir diesen Film und warum jetzt?“, fragt Pepe Danquart gleich zu Beginn aus dem Off den Künstler Daniel Richter, als hätte dieser selbst das filmische Portrait über ihn …

„Warum machen wir diesen Film und warum jetzt?“, fragt Pepe Danquart gleich zu Beginn aus dem Off den Künstler Daniel Richter, als hätte dieser selbst das filmische Portrait über ihn in Auftrag gegeben. Die Antwort des eloquenten Malers fällt etwas sprunghaft und ungeordnet aus. Jenseits eines planen Künstlerportraits solle der Film sicht- und überprüfbar machen, was eine bestimmte Form von Kunst auf verschiedenen Ebenen leiste, und zwar sowohl in Bezug auf ihre Herstellung als auch im Hinblick auf ihre Vermarktung. Warum sich das Medium Film für dieses bilanzierende Dokumentieren besonders eignet, bleibt etwas unklar, denn Richter selbst weist auf die Differenz zwischen seinen Bildern und ihrer filmischen Abbildung hin. Allerdings scheint ihn auch jenes mediale Bild zu interessieren, das als Selbstinszenierung Auskunft darüber gibt, wie er selber „funktioniere“.

Der Filmemacher Pepe Danquart nimmt den international erfolgreichen Maler Daniel Richter diesbezüglich jedenfalls beim Wort und zeigt ihn vor allem und ausführlich bei der Arbeit in seinem Berliner Atelier. Auf großen Leinwänden entwickelt der Künstler mit dem Spachtel Farbflächen, die er mit der Hand verwischt und dann mit geschwungenen Linien konturiert. Die Formen, die dabei entstehen machen grotesk verzerrte menschliche Körper erahnbar. Figuratives und Abstraktes, das zu Beginn seiner Karriere Richters überbordend detailreichen Bilder dominierte, verbinden sich so zu Geschichten, die sich auf politische Weise beispielsweise mit Krieg und Unterdrückung, Flucht und Migration beschäftigen. Aus wenigen biographischen Angaben erfahren wir, dass der 1962 geborene Richter vor seinem Kunststudium in der Hamburger Hausbesetzerszene aktiv war und – inspiriert von der Populärkultur und den Massenmedien – zunächst Konzertplakate und Plattencover für Punkbands entwarf.

Von hier her rührt auch der Widerspruch zwischen Kunst und Kommerz, dem Pepe Danquarts in Cinemascope gedrehter Film „Daniel Richter“ in zweiter Hinsicht auf der Spur ist: „Wie politisch kann ein Künstler in einem Umfeld des kapitalistischen Luxuswarenhandels sein?“ Er begleitet den Maler zu Empfängen, zu Vernissagen in New York und Paris und zeigt Auktionen, bei denen dessen Bilder zu hohen Preisen versteigert werden. Zwar bleibt Richter als Teil des Systems in diesen Widersprüchen gefangen, nutzt sie aber produktiv, indem er seine Bilder „politisiert“ und auch als Persönlichkeit erfrischend unkonventionell, ungezwungen und reflektiert bleibt. In etlichen Szenen geben befreundete Künstler, zum Beispiel Jonathan Meese und Tal R, sowie Sammler und Galeristen auf teils witzige Weise Auskunft über Daniel Richter und sein stilistisch vielgestaltiges Werk. Daneben ist es aber vor allem der Portraitierte selbst, der in dem motivisch eher locker und ausschnitthaft gegliederten Film mal launisch, mal konzentriert über seine Kunst spricht und seine Arbeitsweise erklärt.

Meinen Hass bekommt ihr nicht

(FR/DE/BE 2022, Regie: Kilian Riedhof)

Kokon aus Schmerz und Trauer
von Wolfgang Nierlin

Paris, 13. November 2015. Für die Familie Leiris beginnt ein Tag wie jeder andere. Während warme Sonnenstrahlen ins eheliche Schlafzimmer fallen und Antoine (Pierre Deladonchamps) gerade im Begriff ist, zärtlich …

Paris, 13. November 2015. Für die Familie Leiris beginnt ein Tag wie jeder andere. Während warme Sonnenstrahlen ins eheliche Schlafzimmer fallen und Antoine (Pierre Deladonchamps) gerade im Begriff ist, zärtlich seine Frau Hélène (Camélia Jordana) zu liebkosen, springt der kleine, etwa eineinhalb Jahre alte Melvil (Zoé Iorio) lärmend aufs Bett. Die junge Familie ist sicht- und hörbar gestresst. Doch das ist die Normalität eines mit kleinen Konflikten und liebevollen Neckereien angereicherten Alltags, in dem Antoine, der sich als Autor gerade an einem Buch versucht, die Rolle des Hausmanns übernommen hat und Hélène als Visagistin arbeitet. Kilian Riedhof blickt in seinem Film „Meinen Hass bekommt ihr nicht“, einer Adaption von Antoine Leiris‘ gleichnamigem, auf Tatsachen basierendem Erfahrungsbericht, mit Humor und Wohlwollen auf die Probleme heutiger Großstadteltern zwischen Rollentausch, Kita-Betrieb und Bio-Ernährung. Wenn Hélène am Abend vergnügt mit ihrem Freund Bruno (Yannick Choirat) ins Konzert der Eagles of Death Metal in den Musikclub Bataclan geht, ist das auch ein Statement für einen freien, unabhängigen Lebensstil.

Das mörderische Attentat, das dort stattfindet und dem Hélène neben vielen anderen zum Opfer fällt, ist gerade auf die Zerstörung dieser Werte aus. Der Film vermittelt die schrecklichen Geschehnisse indirekt über Antoine, der erst am späten Abend vom islamistischen Terror erfährt, der die französische Hauptstadt erschüttert. Besorgte Kurznachrichten von Freunden, Blaulicht und Polizeisirenen sowie erste Fernsehnachrichten erfüllen Antoine zunehmend mit Angst und Sorge um seine Frau. In Panik und mit unerträglicher Ungewissheit macht er sich in der Nacht auf die Suche nach ihr. Eine erfolglose Odyssee durch Krankenhäuser und das Chaos der Stadt beginnt. Doch erst zwei Tage später, während sich eine unheimliche Stille über die Straßen legt, erfährt er von ihrem Tod. Bruno überlebt verletzt und traumatisiert. Präsident François Hollande spricht im TV in einer ersten Reaktion von einer „Kriegserklärung“ der Terroristen.

Im Folgenden konzentriert sich Kilian Riedhof fast ausschließlich auf das innere Erleben seines Protagonisten, auf seine Anfälle von Verzweiflung und tiefer Trauer über den schmerzlichen Verlust sowie auf seine kreisenden Gedanken, die kaum einen Fortschritt zulassen. In seinen psychischen Ausnahmezustand brechen immer wieder Erinnerungen und Visionen an seine Frau ein. Die Inszenierung findet dafür Bilder einer tranceartigen Zwischenwelt und eines labilen Bewusstseins. Naheinstellungen, räumliche Begrenztheit und schwebende Zeitlupen akzentuieren diese Intimität.

Zwischen unterdrückter Wut und Panikattacken schreibt Antoine jenen titelgebenden Facebook-Eintrag, der weltweit geteilt wird und schließlich auf der Titelseite von Le Monde landet. Der seelisch Versehrte verbietet sich Hass und Rachegedanken, um die Logik des Terrors zu durchbrechen und um zu einem irgendwie „normalen Leben“ zurückzufinden. Halt und Zuversicht geben ihm seine Familie, Freunde und die Bedürftigkeit seines kleinen Sohnes. Doch trotz Phasen der Besänftigung und des Trostes bleibt am Ende – versinnbildlicht im Blick auf den in einer Hängematte liegenden Antoine – ein Schwanken, ein Warten ohne festen Grund, ein Hoffen auf etwas Neues.

Eine Revolution – Aufstand der Gelbwesten

(FR 2022, Regie: Emmanuel Gras)

Kurz aber heftig
von Jürgen Kiontke

Im Oktober 2018 erschüttern die „Gelbwesten“ Frankreich. Die Regierung von Präsident Emmanuel Macron hat höhere Spritpreise in der Pipeline. Aus dem gleichen Rohr wird mit Steuererhöhungen gefeuert. Obendrein soll es …

Im Oktober 2018 erschüttern die „Gelbwesten“ Frankreich. Die Regierung von Präsident Emmanuel Macron hat höhere Spritpreise in der Pipeline. Aus dem gleichen Rohr wird mit Steuererhöhungen gefeuert. Obendrein soll es ein Tempolimit auf der Landstraße geben. Dort fährt, wer wenig Geld hat und doch irgendwohin muss. Französische Autobahnen sind mautpflichtig. Vor allem Tempolimit und Sprit lassen die Volksseele heiß laufen. Eine Protestwelle überzieht das ganze Land, auf der Straße die prekäre untere französische Mittelschicht. Die weiß nicht, wie sie über die Runden kommen soll.

Die Aktivisten postieren sich an den Straßen in den Kreisverkehrsrondellen, hier rollen die Wagen mit den Berufstätigen langsamer, hier werden sie angesprochen. Ihre leuchtenden Sicherheitswesten geben der Protestbewegung ihren Namen: „Mouvement des Gilets jaunes“, die Gelbwesten. Gleichzeitig läuft eine Online-Petition. Gefordert werden 40 Einzelposten, von Mindestlohn und Renten bis zur Wiedereinführung der gerade abgeschafften Vermögenssteuer ist alles dabei. Mobilisiert – und das sehr schlagkräftig – wird über die sozialen Medien.

Es ist eine kurze, harte Zeit des Protests, und Regisseur Emmanuel Gras war mittendrin dabei. In Chartres, einem Vorort von Paris, filmt er täglich Agnès, Benoît, Nathalie und Allan. Sie sind wütend, sie kommen von unten, sind Pflegerinnen und ehemalige Obdachlose. Sie berichten von Armut, Schikane auf dem Arbeitsamt, Alkoholismus. Gras‘ Film „Eine Revolution – Der Aufstand der Gelbwesten“ berichtet detailgenau über Protestmethoden, Ziele und die nicht zu knappen inneren Widersprüche der Bewegung. An keiner Stelle gibt er Wertungen ab und bietet genau deshalb eine solide Diskussionsgrundlage über Für und Wider der Proteste.

Denn die Gelbwesten nehmen eine gefährliche Entwicklung. Sie sind keine einheitliche, in Politik geübte NGO, sondern mehr oder weniger durch die Ereignisse zusammengewürfelte Menschen, die es nicht mehr hören können, dass, kaum dass der neue Präsident in Amt und Würden ist, die Rente gekürzt werden soll. Klimaschutz? Bezahlt die Unterschicht.

Mit wenigen Zugeständnissen, knallharter Polizeiarbeit, mit Tränengas und großer Hilfe des rechtsextremen Rassemblement National, der die Proteste vereinnahmt, werden die Gelbwesten ganz schnell zerlegt. Zu 44 Prozent sollen sie für die Rechtsextremen bei den Wahlen zum EU-Parlament 2019 gestimmt haben, das Bild des von Demonstranten und Einsatzkräften zerhauenen Prachtboulevards, des Champs Élysées, tat sein Übriges. Eine linke Alternative schien nur kurz auf, auch grenzübergreifend. Der Vorstand der Partei Die Linke in Deutschland solidarisierte sich zu Beginn noch mit den Protesten – das Anliegen sei berechtigt. Doch der damalige Linke-Vorsitzende Bernd Riexinger hatte sich bereits zuvor ob des rechten Potenzials skeptisch geäußert.

Und heute? Spricht man allenfalls in Anekdoten von den Gelbwesten. Regisseur Gras hat sie nicht vergessen und ruft sie ins Gedächtnis. Er porträtiert in seinem Film gekonnt und in bester Dokumentarfilm-Manier eine ganze Protestbewegung in 100 Minuten. Chapeau!

Diese Kritik erschien zuerst am 12.01.2023 auf: links-bewegt.de

Unruh

(CH 2022, Regie: Cyril Schäublin)

Aufstand gegen die Fiktionen der Zeit
von Wolfgang Nierlin

Die erzählerische, filmsyntaktische und bildkompositorische Nebenordnung bestimmt diesen ästhetisch eigenwilligen Film, der gegen alle möglichen Hierarchien und Eindeutigkeiten arbeitet beziehungsweise gemacht ist. Was in den gestaffelten Bildern von Cyril Schäublins …

Die erzählerische, filmsyntaktische und bildkompositorische Nebenordnung bestimmt diesen ästhetisch eigenwilligen Film, der gegen alle möglichen Hierarchien und Eindeutigkeiten arbeitet beziehungsweise gemacht ist. Was in den gestaffelten Bildern von Cyril Schäublins vielgelobtem Film „Unruh“ geschieht, negiert alles Dramatische zugunsten von Pluralität, Vielstimmigkeit und Mehrsprachigkeit. Was in ihnen an Figuren, Dingen und Begebenheiten arrangiert ist, flieht alles Zentrale. Das kann irritieren und die Identifikation erschweren. Denn währen der Raum dieser statischen Tableaux vivants die Bilder dominiert, rücken die Handelnden an ihre Ränder, von wo aus die Dialoge wie ein konstantes, fast beiläufiges Gemurmel in den Vordergrund drängen. Die Ordnung der Bilder und Töne folgt hier also einer eigenen Logik und erzeugt dadurch eine Wirklichkeit, die einen Kontrapunkt setzt zur vorgeblichen Realität des historischen Stoffes. Nur die Details der Uhrmacherarbeit, die oft in Großaufnahmen gezeigt wird, scheint in ihrer dokumentarischen Qualität dieses Konzept zu kontrastieren.

Angesiedelt im Jahr 1877 in einem Tal des Schweizer Jura, wo die Uhrmacher-Manufakturen aufblühen, beleuchtet Cyril Schäublin in Streiflichtern und nur scheinbar fast absichtslos das damit einhergehende Erstarken der anarchistischen Bewegung. Der organisierte und komponierte Anarchismus der parataktischen filmischen Form hat also eine inhaltliche Entsprechung. Der russische Geograph Pjotr Kropotkin (Alexei Evstratov) trifft in Saint-Imier ein, um eine „anarchistische Karte“ zu erstellen und wird dabei vom antiautoritären Geist der ausgebeuteten, überwiegend weiblichen Arbeiterschaft inspiriert. Dabei lernt er als eher stiller Beobachter auch die junge Anarchistin Josephine Gräbli (Clara Gostynski) kennen, die als sogenannte „Regleuse“ bei ihrer feinmechanischen Arbeit für die titelgebende Unruh, das Herzstück der Uhr und damit für ihr Schwingsystem, verantwortlich ist. Woraus sich wiederum eine schöne Doppeldeutigkeit und Korrespondenz zu den konspirativen Umtrieben der anarchistischen Bewegung ergibt.

Nach seinem Debüt „Dene wos guet geit“ (2017) interessiert sich der Schweizer Regisseur in seinem zweiten Langfilm allerdings nicht für zwischenmenschliche Beziehungen, ihre daraus resultierenden möglichen Konflikte oder dramatische Handlungsverläufe, sondern vielmehr für die kapitalistischen Mythen und Fiktionen, die den Zusammenhang von Arbeit und Zeit bis in die aktuelle Gegenwart bestimmen. So zeigt sein Film, wie Arbeitsleistung kontrolliert, gemessen, in der Folge Produktion gesteigert und jeweils in eine zahlenmäßige Relation zur Entlohnung gesetzt wird. Die dadurch ermöglichte Abtragung von Steuerschulden korreliert wiederum mit der Berechtigung, an Wahlen teilzunehmen. Geschäfte, die sich angeblich aus ihrer Beziehung zur Zeit herleiten (beispielsweise die aufkommende Photographie) und ein Patriotismus, der sich auf markante Daten der Geschichte (hier die Schlacht bei Murten) beruft, sind weitere Aspekte der Zeitmessung, ihrer Synchronisierung und politischen Instrumentalisierung. Dagegen opponieren mit stiller Beharrlichkeit, Solidarität und ganz unaufgeregter, nahezu unmerklicher Verweigerung die Anarchisten.

Holy Spider

(DK/DE/FR/SE 2022, Regie: Ali Abbasi)

Anerkannter Mord
von Jürgen Kiontke

Sie nehmen Drogen und sorgen für unzüchtiges Verhalten: Prostituierte haben in der öffentlichen Wahrnehmung des Iran einen denkbar schlechten Leumund. Männer suchen sie auf, klar, aber wollen nichts mit ihnen …

Sie nehmen Drogen und sorgen für unzüchtiges Verhalten: Prostituierte haben in der öffentlichen Wahrnehmung des Iran einen denkbar schlechten Leumund. Männer suchen sie auf, klar, aber wollen nichts mit ihnen zu tun haben. Bigotterie ist der Boden der Moral.

Als der „Spinnenmörder“ seine Mordserie unter Prostituierten beginnt, kann er sich zumindest des heimlichen Beifalls sicher sein. Er befreie nun einmal „die Straßen vom Dreck“, verrichte die Arbeit Gottes. Er mordet in seiner Wohnung, wenn seine Familie nicht da ist. Dabei tritt er plakativ dreist auf und ruft sogar bei Zeitungen an, um die Stelle durchzugeben, wo sich die Leiche befindet – die er vorher in aller Öffentlichkeit auf dem Motorrad durch die Stadt gefahren hat.

Die Polizei? Macht zunächst Dienst nach Vorschrift, bis eine Sondereinheit ermittelt. Nur die engagierte Journalistin Rahimi veröffentlicht kontinuierlich Artikel über ihre Recherchen zu dem Fall und kollidiert immer wieder mit einer der von Männern vorgegebenen Regeln. Nicht nur das: Der Täter wird alsbald sogar als Held gefeiert. Er sei ein Kämpfer des Dschihad gegen die Zügellosigkeit.

Die junge Journalistin nimmt das gesellschaftliche Klima wahr, aber es interessiert sie nicht. Konsequent geht sie ihrer Arbeit nach, auch noch, als der Polizeichef sie unter Druck setzt und belästigt. Sie recherchiert weiter, obwohl sie beleidigt, bekämpft und bedroht wird.

„Holy Spider“ setzt dem unerschrockenen Journalismus ein Denkmal. Ein Plädoyer, nicht lockerzulassen, egal, wie die Umstände sind. Der Plot hat einen realen Hintergrund. Regisseur Ali Abbasi nimmt in seinem Spielfilm Bezug auf eine reale Mordserie im Iran Anfang der 2000er-Jahre. Der Täter Saeed Hanaei ermordete in Maschhad innerhalb zweier Jahre 16 Frauen mit ihren eigenen Kopftüchern; wie eine Spinne ihre Beute einwebe, befand die Presse.

Abbasi konzipiert den einfachen Handwerker als einen Täter, der sich berechtigt fühlt, im Sinne einer gesellschaftlichen Ordnung zu handeln, wie er sie wahrnimmt. Ein Vollstrecker mit moralischem Auftrag. Die Frauen hätten die Sittenlosigkeit in seine Nachbarschaft gebracht, seine Familie sei bedroht worden, sagt er vor Gericht.

© Alamode Film

Abbasi hat einen intelligenten und packenden Thriller aus dem Stoff gemacht. „Meine Absicht war es nicht, einen Serienmörderfilm zu drehen“, sagt der Regisseur. Er habe vielmehr einen Film über eine „Serienmörder-Gesellschaft“ machen wollen. „Holy Spider“ thematisiere den tief verwurzelter Hass auf Frauen, der nicht unbedingt religiös oder politisch motiviert sei, sondern einen kulturellen Ursprung habe. Insofern wirkt der Film wie ein direkter Kommentar zu den derzeitigen Ereignissen im Iran, den Demonstrationen und Polizeiaktionen, Protesten und Hinrichtungen, die nach dem Tod der jungen Frau Jina Mahsa Amini auf einer Polizeistation im September des letzten Jahres begannen. Die Behörden hatten sie festgenommen, weil sie ihr Kopftuch nicht ordnungsgemäß getragen haben soll. Nach der Festnahme fiel sie ins Koma und verstarb bald darauf in einer Klinik. Der Frauenhass zeige sich in der Geschichte des Saaed ungefiltert, sagt Abbasi über seinen Film, „in seiner reinsten Form“. Er wolle dies aus verschiedene Perspektiven zeigen, in einem Panorama der iranischen Gesellschaft.

Aber „Holy Spider“ handelt nicht nur spannungsreich davon, wie Rahimi den Mörder überführt, indem sie als Lockvogel agiert, er thematisiert auch auf sehr ungewöhnliche Art das Thema Todesstrafe. Saeed wird aufgrund eindeutiger Beweise schnell überführt; zudem prahlt er vor Gericht mit seinen Taten. Der Richter spricht – ganz entgegen dem ersten Eindruck – entschieden schnell das Todesurteil. Im Gefängnis aber sichert man ihm zu, der Prozess sei nur Komödie. Auf dem Weg zum Galgen werde man ihm die Flucht ermöglichen.

Erst als Saaed die Schlinge um den Hals spürt, ist ihm klar, dass dies sein Ende sein wird. Ist er Opfer seiner selbst? Er hat 16 Menschen auf dem Gewissen, welche Gefühle hat nun die Zuschauer*in? Findet sie die Todesstrafe gerecht? Hinterfragt sie ihre eigenen Einstellungen? Aus einem lange zurückliegenden Kriminalfall gelingt es Abassi, mit einem hervorragend spielenden Ensemble tiefergehende Fragen nach Recht und Gerechtigkeit aufzuwerfen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in: Amnesty Journal 01/23

Passagiere der Nacht

(FR 2022, Regie: Mikhaël Hers)

Alles weichgezeichnet
von Marit Hofmann

Ins Kino gehe sie vor allem, wenn es draußen kalt sei, sagt Talulah. Doch diesen guten Grund kann Regisseur und Drehbuchautor Mikhaël Hers nicht so stehenlassen. Dort, ergänzt die Achtzehnjährige, …

Ins Kino gehe sie vor allem, wenn es draußen kalt sei, sagt Talulah. Doch diesen guten Grund kann Regisseur und Drehbuchautor Mikhaël Hers nicht so stehenlassen. Dort, ergänzt die Achtzehnjährige, könne man sich so gut selbst verlieren, das mache „etwas mit einem“. Das wohnungslose Junkiemädchen ist angefixt von der in „Passagiere der Nacht“ viel beschworenen Magie des Kinos – insbesondere von Eric Rohmers „Vollmondnächten“, in die sie sich irrtümlich schleicht (eigentlich wollte sie „Gremlins“ sehen). So fasziniert ist Talulah von Rohmers Comédie d’amour, dass sie bald darauf die Nachricht vom frühen Tod der Hauptdarstellerin Pascale Ogier kalt erwischt.

Talulah, gespielt von Noée Abita, die Ogier auffällig ähnelt, ist eine der titelgebenden Passagiere der Nacht – jene ruhelosen Seelen, mit denen Emmanuelle „Die Stimme“ Béart als einfühlsame Moderatorin in ihrer nächtlichen Radiosendung ins Gespräch kommt. Unterstützt wird sie von der alleinerziehenden Elisabeth (die Ikone Charlotte Gainsbourg ungeschminkt als „eine von uns“), die, nach überstandener Krebserkrankung von ihrem Mann verlassen, hier den dringend benötigten Job findet. Die Sympathieträgerin verguckt sich (mütterlich) in Talulah und quartiert sie in ihrer Rohmerschen Kulissen entlehnten Pariser Hochhauswohnung ein. Woraufhin auch ihr Sohn, Dichter in spe, Gefühle für die mysteriöse Schöne, die immer wieder abtaucht, entwickelt.

Die Adoptivfamilie nimmt Talulah nicht nur arg symbolisch beim gemeinsamen Tanz zu Joe Dassins Chanson-Klassiker „Et si tu n’existait pas“ in ihrer Mitte auf, sie hilft ihr auch mal eben durch den Drogenentzug. Weniger vorzeigbare Seiten der Sucht und der Stadt (mehrmals muss der angestrahlte Eiffelturm herhalten) stören nur das romantische Genrebild. „Ich denke oft an die Momente, die wir gemeinsam erlebt haben, sie sind wie Geschenke“, schreibt Talulah in einem Abschiedsbrief. Das Kino, in dem sie nun jobbt, ist zu ihrer Rettung geworden.

In diese „éducation sentimentale in zwei Lebensabschnitten“ – Mutter und Sohn begeben sich auf die Suche nach Liebe und Berufung – hat Hers Archivaufnahmen aus dem Paris der Achtziger, die „dem restlichen Film Realität“ verleihen sollen, elegant eingewoben: zu Beginn die nicht lange anhaltende Aufbruchstimmung auf den Straßen, als der Sozialist François Mitterand 1981 Präsident wurde, später Alltagsszenen, etwa Passagiere in der Metro, einer davon Rohmers Nouvelle-Vague-Kollege Jacques Rivette.

Was für die Bilder gilt, die Hers durch Filter weicher gemacht hat, gilt ganz bewusst auch für die Geschichte. „Meine Filme sind nicht konfliktlastig“, räumt Nostalgiker Hers ein. „In diesem Film lieben sich meine Figuren, sie helfen sich gegenseitig, passen aufeinander auf. Ich mag dieses Wohlwollen und die Großzügigkeit, die der Stoff ist, aus dem Filmheld*innen gemacht sind.“ Da hat sein Vorbild Rohmer deutlich mehr Ambivalenz und analytische Tiefe zu bieten.

Sollte sich eine Obdachlose in die Nachmittagsvorstellung von »Passagiere der Nacht« verirren, kann man nur hoffen, dass das Kino gut geheizt ist.

Diese Kritik erschien zuerst am 04.01.2023 in: ND

Annie Ernaux – Die Super-8 Jahre

(FR 2022, Regie: Annie Ernaux, David Ernaux-Briot)

Überschreibung der Bilder
von Marit Hofmann

Eine Super-8-Kamera war 1972 „das ultimative Wunschobjekt“ für Annie Ernaux und ihren Ehemann Philippe. Als „Neuankömmlinge in der Bourgeoisie“ – er bekam nach seinem Studium eine hohe Stelle in der …

Eine Super-8-Kamera war 1972 „das ultimative Wunschobjekt“ für Annie Ernaux und ihren Ehemann Philippe. Als „Neuankömmlinge in der Bourgeoisie“ – er bekam nach seinem Studium eine hohe Stelle in der Verwaltung der ostfranzösischen Stadt Annecy, sie unterrichtete an der Oberschule – war es ihnen möglich, sich diesen Wunsch zu erfüllen. Die Bilder, die in den kommenden neun Jahren bis zur Trennung des Paares entstanden, hat hauptsächlich der Ehemann gefilmt. Annie Ernaux überließ ihm, wie sie offenbart, „ohne Widerstand die Rolle“ des Filmenden, „aus Angst, etwas an dem damals sehr teuren Equipment kaputtzumachen“. Wenn sie „die Kamera nahm, dann nur, um ihn zu filmen. Er posiert furchtbar!“

Aus heutiger Sicht mag erstaunen, dass die feministische Literatin, die gerade den Nobelpreis gewonnen hat, damals in einer Beziehung mit einer „sehr geschlechtsspezifischen Aufteilung“ lebte, obwohl sich beide als Linke verstanden. Doch gerade diesen Widerspruch – ihre private Erfahrung, die viel über das kollektive Rollenverständnis und die politische Beschränktheit der Zeit aussagt – arbeitet sie in ihrer Literatur auf.

Die ersten Aufnahmen, die der Familienvater macht, zeigen Frau und Kinder beim Heimkommen aus Schule und Supermarkt. Sie reagieren ratlos, verharren und lachen verlegen in die Kamera. Annie Ernaux beschreibt die Szene als ein von ihrem Mann konzipiertes „Happening“, das mit der Kamera in ihr Familienleben kam, freudvoll, aber auch von einer Art Gewalt geprägt.

Nach der Trennung hat Philippe Ernaux die Kamera behalten und seiner Exfrau die Filmrollen überlassen. Sohn David Ernaux-Briot wollte die Aufnahmen nun ursprünglich als private Erinnerung für seine Kinder mit Kommentaren der Beteiligten unterlegen, bis seine Mutter und er merkten, dass sie es hier nicht nur mit einem Familienarchiv zu tun hatten, sondern auch mit einem „Zeugnis für die Zeit, den Lebensstil und die Bestrebungen einer Gesellschaftsschicht im Jahrzehnt nach 1968“ (Annie Ernaux). 

© Film Kino Text

Erst durch den gewohnt klar ausformulierten Voice-over-Kommentar der Schriftstellerin bekommen die Bilder der gut einstündigen, vom Sohn geschnittenen Super-8-Collage allerdings etwas Fesselndes, ja, der anspruchsvolle Text absorbiert bisweilen die Aufmerksamkeit, zumal in der untertitelten Fassung, in der der deutsche Verleih das französische Original dankenswerterweise ins Kino bringt. Dadurch, dass ihr Kommentar nicht beschreibend hinter die Aufnahmen zurücktritt, sondern sich ihnen gegenüber behauptet, überschreibt Annie Ernaux die Bilder ihres einem Krebsleiden erlegenen Ex-Mannes im wahrsten Sinne des Wortes mit ihrer Perspektive, entlarvt den männlichen Blick und kleinfamiliäre Zwänge und erobert sich so die Regie zurück.

Ernaux, zu deren Verständnis von Linkssein leider auch gehört, Aufrufe der antisemitischen Israel-Boykott-Bewegung BDS zu unterschreiben, verband mit ihrem Mann der Drang, statt „wie Idioten am Strand“ zu liegen, politische Reisen zu unternehmen – nach Albanien oder nach Chile zu Salvador Allende. Die Kamera bekommt dann, jenseits des Festhaltens von Familienfeierstereotypen und Fortschritten der Kinder, eine historische Reportagefunktion und erzählt von den Utopien, von denen ihre Besitzer*innen träumten.

Annie Ernaux’ stets kitteltragende Mutter, die zeitweise bei der Familie wohnte, „repräsentierte die tägliche Präsenz der Welt meiner Herkunft aus der Arbeiterklasse in dem intellektuellen, bürgerlichen Zuhause, das ich mit meinem Mann geschaffen hatte“.

Die Entstehungszeit der Bilder ist noch aus anderen Gründen für Ernaux wichtig: Es war ihr Einstieg ins Schreiben, das sie damals heimlich neben den beruflichen und familiären Pflichten verfolgte und das die Kamera kaum einfängt. Mit ihren ersten Veröffentlichungen ging der „unvermeidliche Prozess des Endes meiner Ehe“ einher. In den letzten Aufnahmen sind keine Menschen mehr zu sehen, sondern Impressionen vom Garten.

Was für Ernaux’ Literatur gilt, gilt auch für diesen Film. Die „Ethnologin ihrer selbst“ stellt ihr individuelles Erleben in einen kollektiven Zusammenhang und macht es fruchtbar für eine universelle Gesellschaftskritik. Dass die Schriftstellerin dem alten Medium etwas Neues abzugewinnen weiß, erklärt sie ganz kokett so: „Der Vorteil für mich ist, dass es stille Bilder sind, in denen mir niemand widerspricht.“

Diese Kritik erschien zuerst am 28.12.2022 auf: ND

Verlorene Illusionen

(FR 2021, Regie: Xavier Giannoli)

Ausverkauf der Ideale
von Wolfgang Nierlin

Inmitten einer weiten, von der Sonne beschienenen Landschaft liegt ein junger Dichter im Gras und huldigt, mit Notizbuch und Tinte ausgestattet, dem Ideal der Kunst. Der 20-jährige Lucien Chardon (Benjamin …

Inmitten einer weiten, von der Sonne beschienenen Landschaft liegt ein junger Dichter im Gras und huldigt, mit Notizbuch und Tinte ausgestattet, dem Ideal der Kunst. Der 20-jährige Lucien Chardon (Benjamin Voisin) ist mittellos und verwaist. Sein Auskommen hat er in der Druckerei seines Schwagers. Und als Poet, der sich nach dem Namen seiner verstorbenen, aus verarmtem Landadel stammenden Mutter de Rubempré nennt, besingt er als schwärmerisch Liebender die Schönheit. Gerichtet sind seine Verse vor allem an seine Gönnerin und ältere Geliebte Louise de Bargeton (Cécile de France), eine Baronin mit Schloss, die von ihrem hauptsächlich der Jagd frönenden Mann gelangweilt ist. Als ihre Affäre ruchbar wird, fliehen die beiden Liebenden von der westfranzösischen Stadt Angoulême aus ins geschäftige Paris.

In der Provinz verkannt, ergeht es dem Dichter in der pulsierenden Metropole kaum besser. Nach einem kostspieligen Opernbesuch ist nicht nur sein Erspartes verbraucht, sondern auch sein zweifelhafter Ruf lädiert. In der Restaurationszeit der 1820er-Jahre herrscht zwar einerseits überall Aufbruch und gesellschaftliche Modernisierung; andererseits behauptet die alte aristokratische Ordnung weiterhin ihre angestammten Rechte. Die feine Pariser Gesellschaft erkennt mit ihren elaborierten Distinktionsmerkmalen sehr schnell den unerfahrenen Neuankömmling und sein windiges Gebaren und verweigert ihm die Aufnahme in den Zirkel aus oberflächlichem Maskenspiel und schönem Schein. Unter den darbenden Glückssuchern der progressiven Hauptstadt findet Lucien durch das Zusammentreffen mit dem zweifelhaften Journalisten und kiffenden Hallodri Étienne Lousteau (Vincent Lacoste) aber bald ein neues Betätigungsfeld: Die auf Kontroverse und Krawall gebürstete Sensationspresse, die ihre Speerspitze auf die Royalisten gerichtet hat, wird zu seinem neuen Metier.

In eleganten Bildern, mit einem flüssigen Stil und in einer leicht ironisch-satirischen Überzeichnung porträtiert Xavier Giannoli in seiner filmischen Adaption des zweiten („Ein großer Mann aus der Provinz in Paris“ betitelten) Teils von Honoré de Balzacs dreiteiligem Roman „Verlorene Illusionen“ die gesellschaftlichen Gegensätze. Die manipulative „Armee der Presse“, die mit Sensationsjournalismus Meinung macht und damit eine „neue Aristokratie des Geldes“ befördert, steht dabei gegen das Selbstverständnis des alten Adels. Sich bewusst, in dem von effektvollen Falschnachrichten orchestrierten Pressespektakel nur eine Marionette zu sein, erklärt Étienne: „Wir werden alles für wahr halten, was wahrscheinlich ist.“ Indem Lucien in seinem Hunger nach Anerkennung bei diesem schmutzigen Spiel zunehmend federführend mittut, gerät er als Emporkömmling nicht nur zwischen die Fronten, sondern er verrät auch seine künstlerischen Ideale und literarischen Ambitionen.

Ein Korrektiv dazu bildet nicht nur seine Liebe zu der Schauspielerin Coralie (Salomé Dewaels), sondern vor allem seine Begegnung mit dem Schriftsteller und zeitweise Kontrahenten Nathan D’Anastazio (Xavier Dolan). Dieser erweist sich nicht nur als Verteidiger von Luciens Idealen, sondern auch als auktorialer Off-Erzähler, der in Balzacs Worten dem Scheitern des zwiespältigen und für ihn rätselhaften Antihelden nachspürt. Als dieser am Ende dieses Sittengemäldes, das sich in Teilen auch als aktuelle Zeitdiagnose verstehen lässt, ernüchtert in die Provinz zurückkehrt, heißt es, er müsse „aufhören zu hoffen und anfangen, zu leben“. Dass dies keine leichte Aufgabe ist äußert der Erzähler abschließend in einer persönlichen Note: „Ich denke an diejenigen, die nach der Enttäuschung etwas in sich selbst finden müssen.“

Triangle of Sadness

(SE/USA/FR/GB/GR 2022, Regie: Ruben Östlund)

Mechanismen der Macht
von Wolfgang Nierlin

Schönheit ist eine Währung. Beim Casting einer Modeagentur, für das sich lauter junge, gutaussehende, halbnackte Männer versammelt haben, kommt es außerdem darauf an, flexibel und anpassungsfähig zu sein. Dabei bestimmt …

Schönheit ist eine Währung. Beim Casting einer Modeagentur, für das sich lauter junge, gutaussehende, halbnackte Männer versammelt haben, kommt es außerdem darauf an, flexibel und anpassungsfähig zu sein. Dabei bestimmt das Image einer Marke die Passform, in die sich die makellosen Körper bereitwillig pressen lassen. Was die Models im Wettbewerb der Attraktionen verkaufen, ist eine Rolle, die vor allem am sozialen Status des potenziellen Kunden orientiert ist. Bei seiner Vorstellung wird das Männermodel Carl (Harris Dickinson) vom mehrköpfigen Gremium aufgefordert, bei seinem Walk einem inneren, imaginierten Rhythmus zu folgen. Mode sei Ausdruck einer inneren Haltung, die es zu vermitteln gelte. Außerdem rät man Carl, seine „trinagle of sadness“, also seine Sorgenfalte auf der Stirn, zu entspannen. Offensichtlich ist Carl nicht glatt, geschmeidig und formbar genug, um seine Rolle im Verkaufsspiel zu erfüllen.

In Ruben Östlunds preisgekröntem Film „Triangle of Sadness“, einer teils grellen Satire über die Macht des Geldes und die Mechanismen der Macht, ist Carl überdies der Mann, der ganz bildlich seinen privilegierten Platz in der ersten Reihe verliert, während seine schöne Freundin Yaya (Charlbi Dean) auf dem Laufsteg gefeiert wird. „Jeder ist gleich“, lautet das Motto der Show. Und gerade darum geht es Carl, wenn er beim Bezahlen einer Restaurant-Rechnung mit Yaya über Geschlechterrollen diskutiert. Zwar verdienen weibliche Models in Umkehrung der sonst üblichen Verdienstordnung mehr als ihre männlichen Kollegen; im gesellschaftlichen Rollenspiel wird dem Mann aber noch immer der Part des großzügigen Bezahlers zugewiesen. Als scharf beobachtete, analytische Versuchsanordnung ist das eine typische Östlund-Szene, mit der der schwedische Regisseur menschliche Verhaltensweisen seziert und in eine Inszenierung zwischen Nähe und Distanz übersetzt.

Ausführlicher noch kommt diese auf biologischen und soziologischen Parametern fußende Laborsituation im zweiten und dritten Teil des Films zum Tragen, der zunächst auf einer Luxusjacht, dann auf einer Insel spielt. Die hier versammelte Gesellschaft von Reichen definiert die sozialen Hierarchien mit ihren Grenzen und ihrem Machtgefälle. Während die willigen Servicekräfte mit der Aussicht auf hohe Trinkgelder motiviert werden, scheint die Unterordnung des Putzpersonals eine Selbstverständlichkeit zu sein. Dagegen herrschen unter den zahlungskräftigen Reisenden Langeweile, launische Spleens und pure Dekadenz. Ein russischer Oligarch (Zlatko Burić), der mit Düngemitteln handelt, bezeichnet sich selbstironisch als „König der Scheiße“ und liefert sich mit dem stets betrunkenen Kapitän (Woody Harrelson) einmal bei stürmischem Seegang ein bitterböses Zitate-Duell, bei dem die ideologischen Grenzen zwischen Kapitalismus und Kommunismus auf ebenso desillusionierende wie zynische Weise verwischt werden.

Einmal fordert die gelangweilte Oligarchen-Gattin (Sunnyi Melles) das Personal zu einem Rollentausch auf, was für Unruhe, Verunsicherung und einigen Irritationen sorgt. Als nach einem Angriff von Piraten das Kreuzfahrtschiff sinkt und sich einige Überlebende auf eine scheinbar verlassene Insel retten können, wird aus dem zuvor diktierten Spiel Ernst, weil plötzlich tatsächlich die angestammten Rollen und Hierarchien getauscht werden. In eng verzahnten Details und wie unter einem Brennglas untersucht Östlund dabei jene basalen Mechanismen und sozialen Verhaltensweisen zwischen Geben und Nehmen, die Machtstreben und Ausbeutung angeblich legitimieren.

Eo

(PL/GB/IT 2022, Regie: Jerzy Skolimowski)

Das missbrauchte Tier
von Wolfgang Nierlin

Am Anfang steht eine Erweckung: Im roten Stroboskoplicht einer Zirkusmanege richtet sich Eo unter dem zärtlichen Flüstern und Streicheln der Artistin Kassandra (Sandra Drzymalska) auf. Titelheld Eo ist ein sardischer …

Am Anfang steht eine Erweckung: Im roten Stroboskoplicht einer Zirkusmanege richtet sich Eo unter dem zärtlichen Flüstern und Streicheln der Artistin Kassandra (Sandra Drzymalska) auf. Titelheld Eo ist ein sardischer Esel, der hier buchstäblich zum Leben erwacht. In Jerzy Skolimowskis „Eo“ markiert diese geheimnisvolle Szene den Auftakt zu einer abenteuerlichen Lebensreise, die mehr Sorgen und Leid als Freuden kennt. Wie in Robert Bressons Film „Zum Beispiel Balthasar“ aus dem Jahre 1966 ist auch der Esel in Skolimowskis Hommage an das berühmte Vorbild ein ausgebeutetes, missbrauchtes und misshandeltes Tier. Doch spiegelt sich in ihm nicht primär das existentielle Leid aller Kreaturen, sondern eine prinzipielle Differenz zwischen Tier und Mensch, Natur und Zivilisation. Diese unterstreicht Skolimowskis poetischer Film auch visuell, wenn er in beeindruckenden, teils surrealen Bildern das von Menschen Gemachte dem Naturgegebenen gegenüberstellt und dadurch auch eine sehr zeitgemäße politische Dimension gewinnt.

Bei aller scheinbaren „Vermenschlichung“, die vielleicht nur auf unseren Projektionen basiert, ist Eo, der Esel, vor allem ein in sich ruhender, geduldig Distanz wahrender Außenseiter und Fremder, der eigensinnig seine Wege geht und offensichtlich misstrauisch und reserviert das mitunter lächerliche, teils als Karikatur gezeichnete Treiben der Menschen beobachtet. Immer wieder richtet sich die Kamera auf seine großen, dunklen Augen, die rätselhaft und undurchdringlich bleiben. Was sieht, denkt und fühlt Eo?, scheint der Film zu fragen, während er einen melancholischen, einsamen Esel zeigt, der unverkennbar auf liebevolle Zuwendung reagiert und Trennungsschmerz empfindet. Der polnische Regie-Altmeister Jerzy Skolimowski versucht sich an einer Innensicht, indem er immer wieder in die subjektive Perspektive des Tieres wechselt, dessen Erinnerungen und Träume visualisiert und mit den Augen des Tieres auf die Welt blickt.

Diese Welt ist für den verstoßenen Esel auf seiner Lebensreise eine Abfolge von Freiheit und Gefangenschaft, die nicht zuletzt auf menschliche Widersprüche und Absurditäten hindeutet. So sorgt ein neues Tierschutzgesetz gegen Dressur zunächst dafür, dass Eo konfisziert wird; aber Zucht, Abrichtung und Ausbeutung begegnen ihm auch auf einem Pferdehof, in einem Feriencamp für Kinder oder als unfreiwilliges Maskottchen für eine Fußballmannschaft, die samt Esel für die Verlierer zum Feindbild und damit zur Zielscheibe eines gewalttätigen Übergriffs wird, dem auch Eo zum Opfer fällt.

Freiheit hingegen erlebt Eo bei seinen wiederholten Ausbrüchen, die ihn bei Nacht einmal durch einen von Tieren magisch belebten Wald führen, wo er zwar einerseits Gefahren ausgesetzt ist, sich andererseits aber unter seinesgleichen bewegt. Als in der Morgendämmerung unter sinfonisch zugespitzten Klängen geradezu majestätisch ein Windrad auftaucht, ist die Unfreiheit der Zivilisation nicht mehr fern. Einmal blickt Eo, während er selbst in einem Transporter gefangen ist, spiegelbildlich auf einen vorbeifahrenden Wagen mit eingepferchten Schweinen; ein anderes Mal wird sein letztlich trauriger Weg von einer Herde galoppierender, in Zeitlupe gefilmter Wildpferde begleitet und kontrastiert. Die greifbare Unschuld des Tieres und das ihm aufgezwungene Unrecht markieren in ihrer Diskrepanz sein tragisches Schicksal.

Ein Triumph

(FR 2022, Regie: Emmanuel Courcol)

Warten auf das Ende der Haft
von Jürgen Kiontke

Etienne hat fertig: Mit der Tochter liegt er im Streit, mit der Ex-Frau sowieso. Gute Rollen bekommt der Schauspieler schon länger nicht mehr angeboten, dafür aber jetzt dann doch was …

Etienne hat fertig: Mit der Tochter liegt er im Streit, mit der Ex-Frau sowieso. Gute Rollen bekommt der Schauspieler schon länger nicht mehr angeboten, dafür aber jetzt dann doch was ganz Besonderes: Er soll die Theater-AG im Knast übernehmen. Das passt: So wie er auf das Ende der Arbeitslosigkeit wartet, sehnen sich die Strafgefangenen nach dem Ende ihrer Haft. Und die Gefängnisdirektorin Ariane wird sich im Lauf der Geschichte manchmal nach dem Ende der Theater-AG umsehen, die ihr viel Scherereien einbringt.

Welches Stück würde sich hier besser anbieten als Samuel Becketts „Warten auf Godot“, ein Stück, das schon im Titel verheißt, was alle Beteiligten in den Knochen haben? „Ein Triumph“ müsste her, ein erfolgreiches Programm, mit dem die Knackis sehen, dass sie doch zu was gut sind, denkt Anstalts-Chefin Ariane. Das denkt auch der Regisseur, das denken auch die Diebe, Räuber und Totschläger, aus denen das Ensemble besteht. Und so beginnen die Proben.

Regisseur Emmanuel Courcol dreht in seinem Film eine reale Geschichte nach. 1985 inszenierte der schwedische Schauspieler und Regisseur Jan Jönson mit den Insassen des Hochsicherheitsgefängnisses Kumla das Stück. Am Tag nach der öffentlichen Premiere in Göteborg verschwanden fünf seiner Schauspieler spurlos. Das Stück konnte er im Alleingang aufführen. Mit Beckett soll ihn dann eine Freundschaft verbunden haben – Jönson inszenierte später „Warten auf Godot“ erneut in den USA – passend in der Strafanstalt von San Quentin in Kalifornien.

Courcol verlagert die Ereignisse nach Frankreich, mit lockerer Hand inszeniert er die Erlebnisse der Theatertruppe, angereichert mit Blicken auf die sozialen und juristischen Eckdaten des französischen Staatswesens. Einmal mehr erzählt das französische Kino mit reichlich Humor und Herz von Not, Arbeitsmarkt und sozialer Spaltung.

Becketts bekanntestes Stück im Rahmen eines Sozialisierungsprogramms? Es ist die Paradedisziplin für jeden, der schon mal ein Gefängnis von innen gesehen hat: An einer Landstraße hängen die Protagonisten Estragon und Wladimir rum, um auf einen Unbekannten namens Godot zu warten. Den Grund der Verabredung erinnern sie nicht; sie wissen auch nicht, ob und wann Godot kommen wird. Ja, nicht mal, wer oder was Godot ist. Ein Klassiker der Weltliteratur, was Wunder.

Aufs Warten verstehen sich die vermeintlich und echten schweren Jungs Moussa, Kamel, Patrick, Jordan und Alex. Energie und Intensität ihres Spiels übertragen sich schnell aufs Kinopublikum in diesem Stück-im Stück-Film. Der Schluss – so vorhersehbar wie dennoch überraschend. Etienne wird jedenfalls die Rolle seines Lebens spielen. Courcol: „Ich möchte keine verzweifelten Filme machen, auch wenn sie von einer düsteren Realität handeln.“ Das ist ihm prima gelungen.

Diese Kritik erschien zuerst am 15.12.2022 auf: links-bewegt.de

To the Ends of the Earth

(JA/UZ/QA 2019, Regie: Kiyoshi Kurosawa)

In der Fremde
von Wolfgang Nierlin

Die Differenz zwischen Sein und Schein grundiert diesen Film motivisch auf verschiedenen Ebenen. Das Bildmedium Film mit seiner vorgetäuschten Wirklichkeit ist selbst besonders dafür geeignet. Wenn die japanische TV-Reporterin Yoko …

Die Differenz zwischen Sein und Schein grundiert diesen Film motivisch auf verschiedenen Ebenen. Das Bildmedium Film mit seiner vorgetäuschten Wirklichkeit ist selbst besonders dafür geeignet. Wenn die japanische TV-Reporterin Yoko (Atsuko Maeda) mit ihrem kleinen, ehrgeizigen Fimteam durch Usbekistan reist, um an markanten Schauplätzen einen touristischen Imagefilm zu drehen, wird sie immer wieder von der Diskrepanz zwischen der vorgefundenen und der dargestellten Realität eingeholt. Am Aydarsee hofft man vergeblich darauf, den mythischen Fisch Bramul filmen zu können; in Samarkand testet sie nur widerwillig ein schwer verdauliches Nationalgericht; und in einem Vergnügungspark lässt sie sich pflichtbewusst und unter großer Leidensbereitschaft von einer „Horror-Schaukel“ durch die Luft wirbeln. Stets macht Yoko dabei gute Miene zum bösen Spiel. Einmal kauf das Filmteam einen Ziegenbock, um ihn in einer weiten Landschaft in eine fragwürdige Freiheit zu entlassen.

Nichts will so richtig funktionieren, überall gibt es Hindernisse und der genervte Regisseur ist unzufrieden. Yoko glaubt gar, sie habe kein Glück. Dabei wird immer deutlicher, dass der Riss durch sie selbst geht. Ihre gutgelaunten Auftritte stehen in einem Kontrast zu ihrem introvertierten, zerbrechlichen Wesen. Noch schwerer wiegt ihr Fremdheitsgefühl, das sie auf ihren ausgedehnten Spaziergängen durch Basars und dunkle Gassen fortwährend begleitet und das sich zur Angst steigert. Umstellt wird ihr orientierungsloses Unterwegssein von fremden Blicken, vermeintlichen Gefahren und sehr dominanten Sprach-und Verständigungsproblemen, die Yoko letztlich einsam machen und sie auf sich selbst zurückwerfen. In der Konfrontation mit einer fremden Kultur und Mentalität erlebt sie eine tiefgreifende Verunsicherung. Yoko, die Textnachrichten an ihren Freund in Tokio schickt, hat in der Fremde Angst, sich zu öffnen. Einmal sagt ein Usbeke: „Wenn wir nicht miteinander reden, können wir einander nicht kennenlernen.“

Der japanische Regisseur Kiyoshi Kurosawa macht diese doppelte Fremdheitserfahrung seiner Protagonistin zum Ausdruck einer tiefen Identitätskrise. Einmal sagt Yoko zu einem Kollegen: „Ich glaube, ich entferne mich von dem, was ich wirklich machen will.“ Denn eigentlich träumt sie davon, Musical-Sängerin zu werden. In einer magischen Sequenz, die im labyrinthischen Navoi Theater von Taschkent spielt, erlebt sie diesbezüglich eine Vision, in der sie sich bei einem imaginierten Auftritt selbst dabei zusieht, wie sie eine japanische Version von Edith Piafs Chanson „Hymne à l’amour“ singt. Die Ahnung eines möglichen anderen Lebens steigt dabei in ihr auf. Doch das „Blau der Unendlichkeit“ mit seinem Versprechen auf eine ewige, alles überwindende Liebe, wovon Yoko auf ihrem Weg zu sich selbst inbrünstig singt, muss erst noch vor einem irdischen Feuer gerettet werden. Und auch hier scheint sich der Satz eines Usbeken zu bewahrheiten: „Das Glück belohnt uns alle gleich.“

Die stillen Trabanten

(D 2022, Regie: Thomas Stuber)

Sehnsucht nach Nähe
von Wolfgang Nierlin

Der Prolog von Thomas Stubers Literaturverfilmung „Die stillen Trabanten“ spielt auf dem freien Feld in der schweißtreibenden Hitze eines windigen Sommertags. Eine Gruppe von Landschaftspflegern, angeführt von dem Vorarbeiter Hans …

Der Prolog von Thomas Stubers Literaturverfilmung „Die stillen Trabanten“ spielt auf dem freien Feld in der schweißtreibenden Hitze eines windigen Sommertags. Eine Gruppe von Landschaftspflegern, angeführt von dem Vorarbeiter Hans (Peter Kurth), entdeckt eine Gruppe von Flüchtlingen, unter denen eine Mutter ihr totes Kind beweint. Heimatlosigkeit und Fremde, Schutzbedürftigkeit und Anteilnahme werden in dieser Szene wortlos angesprochen und zugleich für die drei nachfolgenden Episoden des Films, die auf Erzählungen von Clemens Meyer basieren, etabliert. Eine lose Verbindung ergibt sich außerdem durch diverse Figuren, die hier unbemerkt ihre Prägung erhalten und die in einer späteren Geschichte vom Rand in den Mittelpunkt treten. Allerdings vermeidet die episodische Struktur des Films ein Zentrum. Angesiedelt im Umfeld des Leipziger Hauptbahnhofes, unter seinen Rand- und Nachtgestalten, akzentuiert Stuber eher das Transitorische und Flüchtige. Dabei beschäftigen sich alle Geschichten mit Einsamkeit und der Sehnsucht nach Nähe.

Im alternierenden Modus der Erzählung gilt dies zunächst für die Reinigungsfrau Christa (Martina Gedeck), die Züge putzt, für angebliche „Nachlässigkeiten“ gerügt wird und allabendlich nach getaner Arbeit in der Bahnhofskneipe dem Cognac zuspricht. Bis sie die offensichtlich ähnlich einsame Friseurin Birgitt (Nastassja Kinski) kennenlernt, die sich wiederum mit Sekt tröstet. Allmählich entwickelt sich zwischen den beiden eine zärtliche Beziehung. Kleine, fast unmerkliche Gesten und Zeichen vermitteln dabei ihre unterdrückten Gefühle. Ihr vorsichtiges, verdruckstes Sprechen am Rande des Schweigens zeigt wiederum ihre Unsicherheit und Angst vor Verletzung. Allerdings steckt in ihren knappen, vernuschelten und oft im Flüsterton gehauchten Dialogen auch ein gehöriges Maß an Kindlichkeit und Naivität, die ihre schüchterne Reserviertheit manchmal einfach nur banal erscheinen lassen.

In eine triste, meist nächtliche Atmosphäre getaucht, gilt diese merkwürdig gekünstelte Verhaltenheit auch für die anderen verlorenen Seelen des Episodenfilms, der langsam und streckenweise leider auch zäh das die Figuren verbindende Thema umkreist. Während sich Wachmann Erik (Charlie Hübner) mit empfindsamem Beschützerinstinkt um die geflüchtete Ukrainerin Marika (Irina Starsehnbaum) kümmert, die in einem Ausländerwohnheim lebt, verliebt sich Imbiss-Betreiber Jens (Albrecht Schuch) in die ziemlich labile Konvertitin Aischa (Lilith Stangenberg), die im selben Stockwerk eines Hochhauses wohnt wie er. Sie sagt, ihr Mann Hamed (Adel Bencherif), der sich gerade mit Jens anfreundet, und der Islam hätten ihr Halt gegeben. Sie habe, die Schönheit wiedergefunden.

Das bleibt, wie vieles andere in diesem Film der zögerlichen Andeutungen und raunenden Bedeutungen, allerdings nur Behauptung. Offensichtlicher hingegen ist die subtile, gewissermaßen väterliche Dominanz der Männer im Verhältnis der Geschlechter. Trotz gegenteiliger Behauptung („Du bist stark und schön.“) spekuliert diese auf die vermeintliche Schwäche der Frauen. Das kann dann auch vom utopischen, selbstermächtigenden und überdies leicht kitschigen Schlussbild eines blühenden Kirschbaumes nicht mehr entkräftet werden.

Ennio Morricone – Der Maestro

(Italien 2022, Regie: Giuseppe Tornatore)

Rache am Western
von Wolfgang Nierlin

Das Metronom gibt in dieser filmischen Musiker-Biographie den Takt vor, und zwar mit einer ziemlich hohen Schlagzahl. Zweieinhalb Stunden lang hetzt der renommierte italienische Regisseur Giuseppe Tornatore in seinem ausschweifenden …

Das Metronom gibt in dieser filmischen Musiker-Biographie den Takt vor, und zwar mit einer ziemlich hohen Schlagzahl. Zweieinhalb Stunden lang hetzt der renommierte italienische Regisseur Giuseppe Tornatore in seinem ausschweifenden und zugleich pingelig detaillierten Dokumentarfilm „Ennio Morricone – Der Maestro“ durch das lange Leben, aber mehr noch durch das umfangreiche Werk seines Landsmannes und Freundes. Zwar präzise montiert, entsteht dabei eine hochtourige, chronologisch angelegte Schnipsel-Ästhetik aus „sprechenden Köpfen“, Konzertaufnahmen und einem Interview mit Morricone selbst. Alle möglichen Filmregisseure und Musiker verneigen sich in kurzen Statements mit viel Lob vor dem Portraitierten und setzen so den nahezu hagiographischen Rahmen für Tornatores überschwängliche Hommage. Er sei „rätselhaft“, „ernst“, „er selbst und zugleich ein anderer“ gewesen, heißt es da etwa. „Eine Legende“, „ein eigenartiger Mann“ und „eine Ausnahme“ befinden andere, um Morricones Besonderheit hervorzuheben. Und am Ende wird dem Geehrten gar ein Ewigkeitsstatus zugesprochen: „Der Gott der Musik spricht durch ihn.“

Dabei hat jenseits dieser Elogen und Überhöhungen für den eher zurückhaltenden und sehr emotionalen Ennio Morricone (1928-2020) die musikalische Karriere bescheiden angefangen. Vom Trompete spielenden Vater gezwungen, in dessen Fußstapfen zu treten, verdingt er sich zunächst als Unterhaltungsmusiker und Arrangeur von Schlagermusik, der er bereits seinen eigenwilligen Stempel aufdrückt. Denn dazwischen liegt ein Kompositionsstudium bei Gottfredo Petrassi und die Beschäftigung mit der zeitgenössischen Neuen Musik, der er u. a. 1958 während eines Aufenthaltes bei den Darmstädter Ferienkursen begegnet. Diese Spannweite und Spannung zwischen Tradition und Moderne kennzeichnet auch sein Werk und findet seine erste charakteristische Ausprägung in der sogenannten „Dollar-Trilogie“ seines früheren Schulkameraden Sergio Leone Mitte der 1960er-Jahre. Dessen ebenso eigenwilligen wie einflussreichen Italowestern prägt er nicht nur mit seiner melodischen Signatur, sondern auch durch seine Verwendung von Geräuschen, die so zu einem Stück der Musique concrète werden.

In seinen Scores zu Filmen von Elio Petri, Liliana Cavani und dem Giallo-Meister Dario Argento spitzt Morricone diese experimentelle Seite teils durch Improvisation noch zu. Daneben finden sich unter seinen über 500 Filmmusiken auch dezidiert orchestrale Werke, die in den Filmen von Bernardo Bertolucci („1900“), Gillo Pontecorvo („Schlacht um Algier“), Roland Joffé („Mission“) und Terrence Malick („In der Glut des Südens“) zu eigenen Erzählungen werden. Der sehr produktive „Erfinder der Filmmusik“ sagt dazu: „Filmmusik muss für sich allein stehen, wenn sie dem Film dienen soll.“ Erst spät wird diese Eigenständigkeit von den traditionellen Klassikkomponisten anerkannt und gewürdigt. Für Morricone, der auch über 100 Werke jenseits seiner Arbeit für Kino geschrieben hat, war das eine Genugtuung, denn er litt zeitlebens unter Minderwertigkeitskomplexen und Schuldgefühlen. Auch in Hollywood brauchte es lange, bevor man dem Avantgardisten erst den Ehrenoscar (2007) und im Jahr 2016 schließlich für den Score zu Quentin Tarantinos Film „The Hateful 8“ noch einen „regulären“ Oscar verlieh. Ennio Morricone, der beim Komponieren stets nach etwas Unbekanntem suchte, schrieb mit dieser Musik laut eigener Aussage übrigens seine „Rache am Western“; womit er einmal mehr seinen lebenslangen Konflikt zwischen den Genres und Sparten zum Ausdruck brachte.

Stille Post

(D 2021, Regie: Florian Hoffmann)

Denkmal für Videoaktivismus
von Jürgen Kiontke

Es ist das Jahr 2015, Lehrer Khalil lebt schon lange in Deutschland. Mit seiner kurdischen Vergangenheit hat er abgeschlossen – oberflächlich. Eltern und Schwester sind vor langer Zeit im Krieg …

Es ist das Jahr 2015, Lehrer Khalil lebt schon lange in Deutschland. Mit seiner kurdischen Vergangenheit hat er abgeschlossen – oberflächlich. Eltern und Schwester sind vor langer Zeit im Krieg getötet worden. Doch nun, so scheint‘s, entpuppt sich dies als Irrtum. Die Familienmitglieder haben ihren Tod vorgetäuscht, um in den Kampf zurückzukehren und die türkische Armee zu täuschen. Zumindest seine Schwester sei am Leben, berichtet Khalils Bekannter Hamid, der in Diensten des Widerstandes steht. Sie soll Videoaktivistin sein. Wenn Khalil ihre Filmaufnahmen vom Einrücken der türkischen Armee in die Stadt Cizre, wo sie die vermeintlichen kurdischen Terroristen bekämpfen will, ins deutsche Fernsehen einschleust, kann er ein Wiedersehen arrangieren.

Khalils Partnerin ist die junge Journalistin Leyla. Sie arbeitet in einer Nachrichtenagentur und sucht ein Thema für ihren ersten eigenen, investigativen Beitrag. Warum nicht das Material aus Kurdistan von Übergriffen der Armee gegen die Zivilbevölkerung nutzen? Die Frage ist nicht rhetorisch, denn die Aufnahmen sind ein bisschen dröge und Kurdistan interessiert in Deutschland nicht wirklich. Daher legen die beiden eine neue Tonspur unter das Material. Das wirkt gleich ganz anders und der Krieg findet ja auch tatsächlich statt.

Tags drauf läuft das Video dann auch in der „Tagesschau“, ist die News des Tages. Und Khalil, der sich aus allem raushalten wollte, sieht sich plötzlich selbst als Teilnehmer eines Krieges, der sogar in seinem Klassenzimmer tobt. Kinder mit türkischem und kurdischem Background verprügeln sich bereits gegenseitig. Und überhaupt: Gibt es die Schwester wirklich oder war alles nur Täuschung?

Florian Hoffmanns Film „Stille Post“ handelt zwar zunächst von der Produktion von Sensationen in der Medienwelt und reflektiert so die Gesetze des TV-Marktes. Andererseits setzt er Videoaktivisten in jenen Kriegsgebieten ein Denkmal, in dem Vertreter etablierte Medien gar nicht mehr arbeiten können. Hoffmann verarbeitet in seinem Abschlussfilm für die Filmhochschule eigene Erlebnisse. Er selbst ist im betreffenden Zeitraum in Kurdistan gewesen, brachte Videomaterial mit, das auf wenig Interesse stieß. 79 Tage dauerte der Ausnahmezustand in Cizre. „Ich fand eine zerstörte Stadt vor und sprach mit traumatisierten Einwohnern. Zugleich sicherte ich die Videos, die die Bewohner von Cizre heimlich mit ihren Handys gedreht hatten und die Angriffe und Menschenrechtsverletzungen während der Ausgangssperre belegten“, sagt er.

Eine intelligente, wenn auch wenig gefällige filmische Reflexion über Menschen im Krieg und die Rolle der Medien. Der Film hat bereits viele Auszeichnungen bei verschiedenen Festivals gewonnen. Politisches Kino eines politischen Filmkünstlers, von dem sicher noch einiges zu sehen sein wird.

Diese Kritik erschien zuerst am 08.12.2022 auf: links-bewegt.de

An einem schönen Morgen

(FR/DE 2022, Regie: Mia Hansen-Løve)

Was bleibt, ist die Liebe
von Wolfgang Nierlin

Der Film beginnt an einem hellen Sommertag mit einer verschlossenen Tür. Auf der einen Seite davon steht Sandra (Léa Seydoux), die Einlass begehrt; auf der anderen ihr Vater Georg Kienzler …

Der Film beginnt an einem hellen Sommertag mit einer verschlossenen Tür. Auf der einen Seite davon steht Sandra (Léa Seydoux), die Einlass begehrt; auf der anderen ihr Vater Georg Kienzler (Pascal Greggory), der es lange nicht schafft, die Tür zu öffnen. Denn der ehemalige Philosophie-Professor, der sein Leben dem Denken und den Büchern gewidmet hat, leidet unter dem sogenannten Benson-Syndrom, einer seltenen neurophysiologischen Krankheit, die bewirkt, dass er zunehmend vergesslich wird, seine visuelle Wahrnehmung gestört ist und er allmählich das Bewusstsein verliert. In den helleren Momenten seines fortschreitenden Verlöschens gewinnt sein scheinbar unlogisches Reden einen flirrenden poetischen Sinn. Einmal sagt er, er wähne sich in der Krankheit gefangen und fühle einen Abgrund; es gebe keinen Anfang und kein Ende, etwas fehle. Angstzustände begleiten den Verlust seiner kognitiven und sensorischen Fähigkeiten. Weil Georg in diesem Zustand nicht mehr länger allein leben kann, sucht Sandra zusammen mit anderen Familienmitgliedern für ihn einen Heimplatz, was sich als schwierige Odyssee gestaltet und ein bezeichnendes Licht auf die Mängel unserer Sozialgemeinschaft und ihrer Systeme wirft.

„Alle Wege sind offen“, zitiert Sandra eingangs die Reiseschriftstellerin Annemarie Schwarzenbach. Sie selbst wird allerdings als früh verwitwete, alleinerziehende Mutter einer kleinen Tochter namens Linn (Camille Leban Martins) von allen Seiten beansprucht. Als Übersetzerin und Dolmetscherin arbeitet die attraktive Enddreißigerin in allen möglichen Bereichen, was streiflichtartig ins Bild gesetzt wird. Als Singlefrau, die seit Jahren keine Beziehung mehr eingegangen ist und die mit Linn in einer kleinen Dachwohnung lebt, hat sie das Gefühl, ihr Liebesleben liege hinter ihr. Das ändert sich, als sie ihrem früheren Freund Clément (Melvil Poupaud) begegnet und ein leidenschaftliches Liebesverhältnis mit ihm eingeht. Da der begehrenswerte Kosmochemiker verheiratet ist, einen kleinen Sohn hat und außerdem viel reist, ist die Beziehung allerdings von einem ständigen Hin und Her, von Hoffnung und Enttäuschung geprägt.

Die französische Regisseurin Mia Hansen-Løve, die in ihrem neuen Film „An einem schönen Morgen“ („Un beau martin“) einmal mehr eigene Erfahrungen verarbeitet hat, konzentriert in ihrer beanspruchten Heldin zwei gegensätzliche Gefühlsbewegungen. In den Begegnungen mit ihrem kranken Vater, von dem sie sich allmählich löst, erlebt sie Trauer und Abschied; in ihrer zunächst unsicheren und bedrohten Liebe zu Clément wächst hingegen zugleich die Zuversicht für einen Neuanfang. Das emotionale Bindeglied zwischen diesen kontrastierenden Empfinden ist jeweils die liebevolle Sorge um den anderen. „Love will remain“, heißt es entsprechend im Abspannsong. Außerdem situiert Mia Hansen-Løve ihren Film über ein schweres Thema in einem sommerlich leichten, von warmen Farben geprägten Paris, zu dessen Schauplätzen nicht nur triste Pflegeheime gehören, sondern auch helle Plätze und schattige Parks. Mit ihrem typisch dynamischen Stil und schnellen Szenenwechseln verknüpft sie ohne die sonst üblichen dramatischen Zuspitzungen die unterschiedlichen Lebenswelten. Der erzählerische Bogen des Films verbindet schließlich die verschlossene Tür des Anfang mit dem weiten, offenen Blick über die Stadtlandschaft von Paris.

Aftersun

(GB/USA 2022, Regie: Charlotte Wells)

Dunkle Schatten der Schwermut
von Wolfgang Nierlin

Der Film wird gerahmt von einem Video, das nicht gleich als solches identifizierbar ist. Ein junges Mädchen befragt darin einen Mann zu seinem Alter, während es ihn filmt. Dann springen …

Der Film wird gerahmt von einem Video, das nicht gleich als solches identifizierbar ist. Ein junges Mädchen befragt darin einen Mann zu seinem Alter, während es ihn filmt. Dann springen die Bilder im Schnelldurchlauf der Spulfunktion, werden immer wieder unterbrochen vom Gesicht einer tanzenden Frau, bleiben schließlich eingefroren. Dieser doppelte subjektive Blick gehört Sophie Patterson, die als 11-Jährige (Frankie Corio) ihren Vater im gemeinsamen Türkei-Urlaub filmt und sich viele Jahre später als Erwachsene (Celia Rowlson-Hall) daran erinnert. Der Urlaubsfilm mit seinen aufgezeichneten Spielereien und Albernheiten, mit seinen sowohl banalen als auch ernsten Momenten wird dabei zum Medium der Erinnerung, das Verlorenes vergegenwärtigt und bewahrt.

Als Sophie und ihr noch junger, 30-jähriger Vater Calum (Paul Mescal) nach einer nächtlichen Busfahrt in ihrem Hotel in Ölüdeniz an der Ägäis ankommen, fehlt zunächst ein Bett. Im All-inclusive-Resort sind die beiden offensichtlich Gäste zweiter Klasse. Calum, der getrennt von seiner Familie lebt, hat wenig Geld und Perspektive. Aber das wird von Charlotte Wells in ihrem beeindruckenden Spielfilmdebüt „Aftersun“ nur in Andeutungen und eher beiläufig erzählt. Während die Tage vergehen und die ziemlich aufgeweckte Sophie zusammen mit ihrem leicht melancholischen, aber immer wieder antreibenden Vater einigen Spaß bei Wasserspielen, trägem Nichtstun und Ausflügen hat, legt sich sanft ein dunkler Schatten der Schwermut über die Szenerie.

Der stets aufmerksame und fürsorgliche Calum trägt offensichtlich einen Schmerz mit sich, den er vor Sophie verbirgt. Eine unglückliche Kindheit, eine früh gescheiterte Beziehung, Einsamkeit und sein Umzug von Schottland nach England geben dezente Hinweise auf eine wohl auch finanziell prekäre Existenz. Seine Beschäftigung mit Tai-Chi, Meditation und die Lektüre der schottischen Dichterin und Filmemacherin Margaret Tait zeigen seine vielleicht vergeblichen Mühen um inneren Ausgleich. Derweil freundet sich Sophie vorsichtig mit einem gleichaltrigen Jungen an. Während sie wächst und Erfahrungen macht, scheint ihrem Vater das Leben zu viel zu werden. Fast bitter oder ernüchternd wirkt im Kontrast dazu seine Aufmunterung an Sophie, sie könne so sein, wie sie wolle.

Charlotte Wells forciert nichts in ihrem ruhigen, atmosphärisch dichten Film, der Ende der 1990er Jahre spielt. Sehr subtil und mit intimen Blicken erzählt sie eine zärtliche Vater-Tochter-Geschichte, die von einer existentiellen Krise grundiert wird. Dabei lenkt sie durch langsame Zooms, Schärfenverlagerungen und Spiegelbilder die Aufmerksamkeit immer wieder auf unmerkliche Details und deren mögliche Bedeutung. Der wiederholte Blick auf Gleitschirmflieger über der Bucht vermittelt die Ahnung einer ebenso möglichen wie unmöglichen Freiheit. Um trotz räumlicher Trennung ihre Verbundenheit mit dem Vater auszudrücken, äußert Sophie einmal: „Es ist schön, dass man von verschiedenen Orten aus denselben Himmel sieht.“

Medusa

(BRA 2021, Regie: Anita Rocha da Silveira)

Dämon der Befreiung
von Wolfgang Nierlin

Augen schauen uns an. Der Blick füllt die Leinwand und durchbricht die Vierte Wand. In Anita Rocha da Silveiras filmischer Dystopie „Medusa“ wird er mehrmals wiederkehren unter stets anderen Vorzeichen. …

Augen schauen uns an. Der Blick füllt die Leinwand und durchbricht die Vierte Wand. In Anita Rocha da Silveiras filmischer Dystopie „Medusa“ wird er mehrmals wiederkehren unter stets anderen Vorzeichen. Es ist ein Blick, der begehrt, der Angst und Misstrauen ausdrückt, der Fragen stellt und schließlich die Gewissheit einer Befreiung vermittelt. Denn „Medusa“ ist auch eine emanzipative Coming-of-Age-Geschichte, getaucht in neonfarbenes Rot und Grün und eingehüllt von einer tiefen Dunkelheit. Sie spielt in Brasilien in einer nicht näher definierten Zeit. Eine parallele Welt aus Zeichen und Symbolen evoziert eine geheimnisvolle, kunstvoll gestaltete Aura, in die sich zunehmend Albträume und Halluzinationen mischen. Dabei trifft nicht zuletzt eine krisenhafte Gesellschaft auf die Kraft der alten Mythen.

Die junge Mariana (Mari Oliveira) gehört zu einer Gruppe junger Frauen, die nachts durch die Straßen zieht, um in christlicher Mission und mit Gewalt vermeintliche Sünderinnen zu „bekehren“. Im fundamentalistisch-evangelikalen Weltbild dieser Gemeinschaft ist kein Platz für emanzipierte, homosexuelle oder gar promiskuitive Frauen. Ihre Gottesdienste, geleitet von einem charismatischen Prediger, tragen deutlich sektiererische und faschistoide Züge. „Wachen und Beten“, lautet der an Wänden plakatierte Slogan der Gemeinde, deren Mitglieder unter den indoktrinierenden Reden des manipulativen Anführers mit einem seligen Lächeln in eine Art Trance fallen. Alles Weltliche, Sündige und Böse, angeblich ein Merkmal dieser Endzeit, soll ausgetrieben werden. Eine Wehrsportgruppe junger, kämpferischer Männer, die zugleich um heiratswillige Frauen werben, ergänzt die radikale Sekte.

Ihr Gründungsmythos fußt auf der Bestrafung einer angeblich besonders unzüchtigen Sünderin namens Melissa, deren schönes Gesicht einst von einer „Heiligen“ mit Feuer entstellt wurde und die seither verschwunden ist. Als Mariana bei einem nächtlichen Einsatz selbst mit einem langen Schnitt im Gesicht verletzt wird und daraufhin ihre Arbeit bei einem Schönheitschirurgen verliert, beginnt sie, nach Melissa zu suchen. Zweifel an den Praktiken der Sekte und eine zunehmende Identifikation mit dem Opfer führen sie als Pflegerin in eine Klinik. Dort, versteckt in einem Wald, sind ausschließlich Koma-Patienten untergebracht. In einer somnambul-zwischenweltlichen Atmosphäre, die an die Krankenstation in Apichatpong Weerasethakuls Film „Cemetery of Splendour“ erinnert, erlebt Mariana allmählich eine Verwandlung. Diese fühlt sich für sie zunächst an wie eine Besessenheit, lässt sich aber, assoziiert mit dem wiederkehrenden Bild eines Abflussbeckens, als eine andere Art der Reinigung und des nicht zuletzt sexuellen Erwachens verstehen. Dieses kulminiert schließlich in einem ansteckenden Schrei der Befreiung.