Little Fugitive – Der kleine Ausreißer

(USA 1953; Regie: Ruth Orkin, Morris Engel, Ray Ashley)

Kleine Fluchten, große Freuden

Der kleine Joey (Richie Andrusco) sitzt mal wieder allein auf dem Gehweg vor den Backsteinhäusern des New Yorker Stadtteils Brooklyn und malt Pferde mit langen Mähnen. Eigentlich würde der 7-Jährige gerne mit seinem älteren, gerade 12 Jahre alt gewordenen Bruder Lennie (Richard Brewster) und dessen Freunden Charly und Harry spielen, doch die Großen veräppeln den Kleinen, nehmen ihn in ihren Spielen nicht ernst oder schließen ihn aus. Joey trägt einen Revolvergürtel, liebt Pferde und wäre gerne ein Cowboy, während Lennie ein Baseballfan ist und immer seine Mundharmonika bei sich hat. Die beiden haben keinen Vater mehr. Und als ihre Mutter für zwei Tage die kranke Oma besuchen muss, sind sie plötzlich auf sich allein gestellt. Lennie sei jetzt der „Mann im Haus“ und habe die Verantwortung, sagt die Mutter (Winifred Cushing). Doch Lennie und seine Kumpels, die jetzt auf ihren geplanten Ausflug nach Coney Isalnd verzichten müssen, spielen aus lauter Übermut dem kleinen Joey einen üblen Streich.

„Little Fugitive – Der kleine Ausreißer“ ist ein ebenso origineller wie bezaubernder Kinderfilm des Schriftstellers Ray Ashley, des Kameramanns Morris Engel und der Fotografin Ruth Orkin aus dem Jahre 1953, der nach seiner Wiederentdeckung jetzt erneut in die Kinos kommt. Die in erlesenen Schwarzweißbildern, an Originalschauplätzen und mit Laiendarstellern gedrehte Independentproduktion, die das unabhängige Kino und die französische Nouvelle Vague inspiriert hat, folgt dem kleinen Helden bei seinen Abenteuern auf Coney Isalnd. Weil er fälschlicherweise glaubt, im hinterhältigen Spiel seinen Bruder erschossen zu haben, flieht er aus Angst vor der Polizei und mit Schuldgefühlen in den großen Vergnügungspark am Atlantik. Mutig und entschlossen sucht Joey seinen Spaß in den diversen Fahrgeschäften, entwickelt Ehrgeiz beim Büchsenwerfen und lernt von einem Gleichaltrigen, wie man durch das Sammeln von Pfandflaschen Geld fürs Ponyreiten verdient. Immer wieder zeigt sich der Junge erfinderisch und hartnäckig. Enttäuschungen und Rückschläge pariert er mit dem Glück kleiner Siege.

Sehr liebevoll und empathisch schildern die Filmemacher aus kindlicher Perspektive das Erleben des Jungen. Daneben blicken sie durch dessen Augen auf die Erwachsenenwelt und das sommerliche Strandleben. So besitzen viele Szenen, die fast ausnahmslos draußen spielen und nur wenige Dialoge benötigen, eine geradezu dokumentarische Anmutung. Das macht den Film fast nebenbei zu einem wichtigen Zeitbild. Durch wiederkehrende, genau gesetzte Motive, einen fantasievollen Plot, geschickte dramatische Zuspitzungen und eine teils raffende, augenzwinkernde Montage kreiert das Regie-Trio zugleich einen spannenden Spielfilm, dessen Ende natürlich sehr gewitzt und versöhnlich ist. Der Weg dorthin bietet allerdings für den unerschrockenen Joey viele lehrreiche Erfahrungen und für das Publikum außerdem visuelle Überraschungen.

Little Fugitive – Der kleine Ausreißer
(Little Fugitive)
USA 1953 - 80 min.
Regie: Ruth Orkin, Morris Engel, Ray Ashley - Drehbuch: Ruth Orkin, Morris Engel, Ray Ashley - Produktion: Ray Ashley, Morris Engel - Bildgestaltung: Morris Engel - Montage: Ruth Orkin, Lester Troob - Musik: Eddy Lawrence Manson - Verleih: Rapid Eye Movies - FSK: ab 6 - Besetzung: Richie Andrusco, Richie Brewster, Winifred Cushing, Jay Williams
Kinostart (D): 21.12.2023

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt0046004/
Foto: © Rapid Eye Movies