Die Amitié

(DE 2023; Regie: Ute Holl, Peter Ott)

Immerhin solidarisch

Dieser Film knüpft ein Netz zwischen Figuren und Schichten von Wirklichkeit, zwischen Theorie und Praxis. Ein Mann schreckt auf aus einem Traum, der wie ein unscharfes Computerspiel aussieht und vielleicht einen Gleitflug über eine farbfleckige Ruinenlandschaft zeigt. „Die Wirklichkeit beendet den Traum“, wird es ganz am Schluss des Kollektivfilms „Die Amitié“ bedeutungsschwanger heißen. Das Filmbild wechselt jetzt zum quadratischen Format. Der türkische Erntehelfer Osman (Aziz Çapkurt), eben erwacht, liegt auf seinem Bett in einem Lübecker Wohnheim und starrt uns frontal an, als wolle er nicht nur die vierte Wand durchbrechen, sondern in uns eindringen, als wären wir wahlweise Zeugen, Komplizen oder Verantwortliche seines Schicksals, das mit ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen auf einer Tomatenplantage verknüpft ist. Diese gehört einem holländischen Konzern, der unter seinen Beschäftigten eine ganze Kette hierarchischer Abhängigkeiten erzeugt. Der maßgeblich von dem Filmemacher und Kunstdozenten Peter Ott sowie der Medienwissenschaftlerin Ute Holl initiierte und verantwortete Film handelt folgerichtig von Gegenstrategien.

Denn eigentlich ist Osman als dramaturgisches Vehikel ein Menschenfänger und Verbindungsmann, der die Solidarität für den klandestinen Widerstand organisiert. Etwas holprig und ungelenk werden dafür die beiden Protagonisten des Sozialdramas eingeführt, deren Arbeitsgeschichten im Folgenden in parallelen Handlungssträngen erzählt werden. Während der ivorische Ökonom Dieudonné (Yann Mbiene) über eine Zwischenstation in Italien zu den Lübecker Gewächshäusern kommt, tritt die polnische Altenpflegerin Agnieszka (Sylwia Gola) ihre Stelle bei dem an Demenz erkrankten Juristen Siegfried (Walter Hess) an. Das geht leider nicht ohne Klischees ab: Die jeweiligen „Vorgesetzten“ sind autoritär, gestresst und sehr deutsch; und das satirische Potential solcher Figurenzeichnung ist eher lahm. Während die einfühlsame und selbstbewusste Agnieszka als strenggläubige Katholikin eingeführt wird, liest Dieudonné den linken Antikolonialisten Frantz Fanon. Die Gegensätze ziehen sich natürlich an. Aber dafür bedarf es erst mal der Gemeinschaft eines digitalen Netzwerkes.

Und damit kommt die titelgebende „Amitié“ ins Spiel, eine selbst lernende KI, die durch den Daten-Input ihrer Mitarbeiter ein stetig wachsendes Wissen in einer immer größer werdenden Community erzeugt. Hier werden Arbeitsbedingungen- und möglichkeiten kommuniziert, Sprachen gelernt und wichtige Infos für Illegale oder Geflüchtete ausgetauscht. Was einer kann, sollen alle tun können, lautet ihr solidarischer Glaubenssatz. Das bringt heimlich, still und leise einiges in Bewegung, was als Eingriff in die Wirklichkeit diese schließlich verändert. Der dafür immer wieder bemühte Wechsel in die virtuelle Welt, der mit einer Art Datenbrille erfolgt, wirkt allerdings etwas plakativ und schwammig. Zwar geraten dabei die Machtverhältnisse mitsamt der Realität ins Wanken, doch das bleibt weitgehend harmlos; was sich auch für die wiederholt thematisierte, von Siegfrieds Sohn Carsten (Christoph Bach), einem Ästhetikprofessor der Stuttgarter Merz Akademie, verkörperte Kluft zwischen Theorie und Praxis sagen lässt. Als der Film gegen Ende plötzlich auch noch ins aufgesetzt Selbstreferentielle springt und für die „Krise der Geschichte“, gemeint ist die Filmerzählung selbst, einen visuellen Ausdruck sucht, wird es vollends konfus und abstrus. „Es gibt nur die Welt, und wir sind in ihr drin und sehen zu“, lautet das Schlusswort. Na dann.

Die Amitié
Deutschland 2023 - 102 min.
Regie: Ute Holl, Peter Ott - Drehbuch: Ute Holl, Peter Ott - Produktion: Ute Holl, Peter Ott, Karsten Krause, Frank Scheuffele - Bildgestaltung: Jörg Gruber - Verleih: Real Fiction - Besetzung: -
Kinostart (D): 21.03.2024

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt15800920/
Foto: © Real Fiction