Der Rhein fließt ins Mittelmeer

(ISR 2021; Regie: Offer Avnon)

Die inneren Bilder des Unbegreifbaren

Was er mit seinem Film erfahren wolle und was die Frage nach der Einzigartigkeit des Holocaust überhaupt nütze oder bezwecke, wird der Filmemacher Offer Avnon im Verlauf seiner Gespräche einmal von einer älteren Interviewpartnerin gefragt. Er versuche, etwas greifbar zu machen, was nicht greifbar ist und was sich als permanente Anwesenheit der Shoah dem Bewusstsein eingeschrieben habe. Diese versteckte, unheimliche Wirklichkeit, die eine starke Bindung zur Vergangenheit bewirke, liege als Trauma hinter und jenseits des konkret Erlebten. Insofern ist Offer Avnons Film „Der Rhein fließt ins Mittelmeer“ der Versuch, sich dem Ungesagten, Verdrängten und doch stets Anwesenden auf eine mehr assoziative und sehr subjektive Weise zu nähern. Dafür verbindet der israelische Regisseur, selbst Sohn eines Holocaust-Überlebenden, die fragmentarischen Erinnerungen von Zeitzeugen und Betroffenen aus seinem persönlichen Umfeld mit Bildern, die sich in seinem Unterbewusstsein eingelagert haben.

So werden Orte und Dinge, Natur und versteinerte Reste des Vergangenen zu Platzhaltern für das Ungesagte. Der titelgebende Fluss verbindet Vergangenheit und Gegenwart. Gras und Sträucher überwuchern die Ruinen der Vertriebenen und Geflohenen. Zäune und Türen, Schlösser und Gitter markieren Orte der Gefangenschaft. Zugschienen, ein Bahnsteig, Flammen und ein Duschkopf vergegenwärtigen ganz unspektakulär den Schrecken unmenschlicher Vernichtung und des Todes. Das Unfassbare ist anwesend im vorgeblich Normalen. Konkret erscheint es hingegen an den Stätten des Gedenkens und der Mahnung: Auf dem jüdischen, inmitten eines Birkenwäldchens gelegenen Friedhof von Warschau, dem Stelenfeld in Berlin oder den von Arabern verlassenen Häusern und Ruinen in Haifa, die im Stadtbild mittlerweile so normal zu sein scheinen, dass niemand mehr darüber nachdenkt. Offer Avnon folgt hier den politischen Spuren und Ablagerungen der Geschichte im kollektiven Gedächtnis.

„Es ist unmöglich, der Erinnerung zu entkommen“, sagt einer der Befragten, zu denen neben Zeitzeugen aus Deutschland, Polen und Israel auch Avnons Vater gehört, der unter anderem über das fragile Zusammenleben mit seinen arabischen Nachbarn spricht. Trotz Freundlichkeit und Freundschaft lauere darin stets Angst und potentielle Gewalt. Die Illusionslosigkeit angesichts des leidvoll Erlebten und ein aus diesen schrecklichen Erfahrungen abgeleitetes pessimistisches Menschenbild ziehen sich leitmotivisch durch den Film. Daraus sprechen Vorurteile, Hass, Feindschaft und ein permanentes Gegeneinander derjenigen, die sich am nächsten sind, seien das Deutsche und Juden, Juden und Polen oder Araber und Juden. Pogrome, Ghettoerfahrungen und nicht verheilende Wunden finden in diesen Aussagen ihren Ausdruck; auf der Täterseite aber auch die Ablehnung von Verantwortung und Schuld. „Wir sind nur Menschen“, heißt es einmal fast entschuldigend. Und: „Es gibt keine Gerechtigkeit.“ Wenig zuversichtlich und ermutigend fragt der Filmemacher am Ende: „Wo fängt der Kreis aus Hass, Angst und Gewalt an? Und wo endet er?“ Die wenig hoffnungsvolle Antwort liegt vermutlich im Bild, das der Frage zugrunde liegt.

Der Rhein fließt ins Mittelmeer
Israel 2021 - 95 min.
Regie: Offer Avnon - Drehbuch: Offer Avnon - Produktion: Offer Avnon - Bildgestaltung: Offer Avnon - Montage: Offer Avnon - Verleih: Cinemalovers/Offer Avnon - Besetzung: -
Kinostart (D): 04.05.2023

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt15658324/
Foto: © Cinemalovers/Offer Avnon