Archiv der Kategorie: Filmkritik

Only the River Flows

(CN 2023, Regie: Shujun Wei)

Im Strudel einer absurden Welt
von Wolfgang Nierlin

Ein kleiner Junge, als Polizist verkleidet und mit einer Spielzeugpistole bewaffnet, schleicht sich schießend durch den Flur eines kaputten, verwahrlosten Abrisshauses. Die Kamera folgt ihm dabei aus subjektiver Perspektive. Als …

Ein kleiner Junge, als Polizist verkleidet und mit einer Spielzeugpistole bewaffnet, schleicht sich schießend durch den Flur eines kaputten, verwahrlosten Abrisshauses. Die Kamera folgt ihm dabei aus subjektiver Perspektive. Als sich am Ende des langen Gangs überraschend eine Tür ins Freie auftut, wirkt das, als öffne sich ein Bühnenvorhang. Der Blick fällt auf eine belebte Straßenszenerie aus Menschen, Baggern und Verkehr. Der Kontrast wird noch verstärkt, wenn man im Gegenschuss sieht, dass die komplette Fassade des Hauses bereits fehlt. Mitte der 1990er Jahre stehen in der chinesischen Provinzstadt Peishui die Zeichen auf Veränderung. Gravierende Umwälzungen an der Schwelle zu einem neuen wirtschaftlichen und informationstechnologischen Zeitalter sind im Gange. Als markantes und kinematographisch selbstbezügliches Symbol mag dafür auch die Schließung des örtlichen Kinos gelten, die der Polizeichef (Hon Tianlai) als „gute Nachricht“ wertet, weil er in dem heruntergekommenen Gebäude einen „perfekten Ort für Ermittlungen“ sieht. Der Raum für künstliche Träume und imaginierte Welten soll ganz praktisch der Wahrheitsfindung dienen.

Als eine rätselhafte Mordserie die Polizeibehörde aufschreckt, richtet der melancholische und schweigsame Inspektor Ma Zhe (Hu Yilong) sein provisorisches Großraumbüro auf der Bühne vor der Leinwand ein. Zu diesem Theatereffekt des Spiels-im-Spiel passt, dass bei der folgenden Spurensuche analoge Medien, beispielsweise ein Kassettenrekorder und ein Diaprojektor, eine wichtige Rolle spielen. Der chinesische Regisseur Wei Shujun wiederum hat seinen atmosphärisch stimmungsvollen Film Noir „Only the River Flows“, der eine graue, nasse und kaputte Welt zeigt, auf 16mm aufgenommen. Das macht die in herbstliche, ausgebleichte Farben getauchten Bilder leicht körnig und unscharf und verleiht ihnen zugleich Volumen und eine lebendige, pulsierende Dichte. Viel Regen, ärmliche Wohnverhältnisse und fortschreitender Zerfall grundieren die immer verwirrender werdenden Ermittlungen des existentialistischen Helden, dem zunehmend die Realität abhanden kommt.

Wei Shujun setzt in seiner filmisch herausragenden Adaption einer Kurzgeschichte des chinesischen Avantgarde-Schriftstellers Yu Hua diesen Wirklichkeitsverlust seines Protagonisten in Opposition zum Pragmatismus des schnelle Lösungen fordernden Polizeichefs, der sich seine Zeit mit Pingpong vertreibt. Dieser beschwört die „kollektive Ehre“, den Zusammenhalt und notwendigen Erfolg seiner Behörde als Repräsentantin des staatlichen Kollektivs. Derweil begegnet der Ermittler Opfern gesellschaftlicher Unterdrückung und Ausgrenzung: einem Liebespaar, das seine Beziehung geheim halten muss, einem Friseur mit Trans-Identität und einem stummen Verrückten, der bald zum Hauptverdächtigen wird. Doch Ma Zhe, der diese Widersprüche erfasst und in seinem Privatleben als werdender Vater selbst in Gewissenskonflikte gerät, gibt sich mit schnellen Lösungen nicht zufrieden. Und so gleitet er sukzessive in einen Strudel aus Wahn und Wirklichkeit, der sich zum surrealen Albtraum auswächst und in einer existentiellen Krise mündet. Von Beethovens „Mondscheinsonate“ begleitet und von einer umfassenden Tristesse umgeben, bewegt sich der einsame Held durch eine immer absurder werdende Welt.

„Je mehr wir versuchen, den Sinn des Lebens zu ergründen, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir ihn verfehlen“, sagt der Regisseur des Films über seine an sich und dem Fall scheiternde Figur, deren Wahrheitssuche vielleicht ins Leere oder zu immer neuen Spuren führt, als wäre sein Dienst eine unablässige Sisyphusarbeit. Nicht von ungefähr zitiert Wei Shujun gleich zu Beginn seines vielschichtigen, philosophischen Thrillers Albert Camus: „Da das Schicksal unergründlich ist, spiele ich selbst Schicksal.“ Doch Mas Erfolg bleibt äußerlich. Sowohl seine innere Resignation als auch der geheimnisvoll fragende Blick des neugeborenen Kindes am Ende des Films scheinen darauf hinzudeuten, dass Ma Zhe kaum je Herr seines Schicksals ist. Das letzte Wort scheint noch nicht gesprochen.

Helke Sander: Aufräumen

(DE 2023, Regie: Claudia Richarz)

Der feministische Faktor
von Wolfgang Nierlin

Gegen Ende des Films erklärt Helke Sander, dass sich die einzelnen Punkte der Tage erst durch Anstrengung zu einer sinnerfüllten Lebenslinie verbinden. Nachdenken, sich einmischen und Engagement kennzeichnen entsprechend das …

Gegen Ende des Films erklärt Helke Sander, dass sich die einzelnen Punkte der Tage erst durch Anstrengung zu einer sinnerfüllten Lebenslinie verbinden. Nachdenken, sich einmischen und Engagement kennzeichnen entsprechend das Leben und die künstlerische Biographie der streitbaren Filmemacherin und kämpferischen Feministin, die das Private stets politisch betrachtet und von der Veränderbarkeit der Verhältnisse überzeugt ist. „Warum ist, was ist?“ In ihrem bekanntesten Film „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers“ (1978) zeigt sie, wie eine von ihr selbst gespielte Fotografin sich auf unterschiedliche Aufgaben „aufteilen“ muss, um über die Runden zu kommen; und wie die Stadt Berlin zum Spiegel dieser Zerrissenheit wird. Was alles in einen Tag passt, verbindet sich im Zeichen einer unbedingten Integrität auch hier zu einer Linie.

Claudia Richarz folgt in ihrem Dokumentarfilm „Helke Sander: Aufräumen“ relativ chronologisch den wichtigen Punkten einer Lebenslinie, indem sie die einzelnen Stationen mit Ausschnitten aus den Filmen der Portraitierten verzahnt. Das beginnt mit dem ersten Jahrgang der 1966 eröffneten dffb, wo Helke Sander zusammen mit Harun Farocki und anderen nicht nur über ein Leben und Arbeiten jenseits von Verwertungszwecken und beruflichem Fortkommen nachdenkt, sondern Film als Medium der politischen Aktion und Agitation begreift. „Brecht die Macht der Manipulateure!“ (1966) lautet folglich der Titel des Films, der sich kritisch und kreativ mit dem politischen Einfluss des Springer-Konzerns auseinandersetzt. Kurz darauf sieht man Helke Sander im September 1968 bei der Delegiertenkonferenz des SDS in Frankfurt, wo sie mit ihrer legendären „Tomatenrede“ die geschlechtsspezifische Dominanz ihrer Genossen ins Visier nimmt.

Mit ihrer Mitwirkung an dem Film „Das schwache Geschlecht muss stärker werden“ (1969) und eigenen Arbeiten wie „Eine Prämie für Irene“ (1971) und „Der subjektive Faktor“ (1981) thematisiert Sander dann auch unterdrückende Geschlechterrollen-Zuschreibungen, ungleiche Arbeitsbelastungen und das Bedürfnis, Zeit für sich und die eigene Selbstentwicklung zu finden. Im Gespräch mit Richarz erläutert die 1937 geborene Filmemacherin, wie sie sich selbst immer wieder „als Material benutzt“ habe, ohne aber in ihren Filmen direkt autobiographisch zu sein. Ihre frühe Mutterschaft, das Verhältnis zu ihrem Sohn und die Mehrfachbelastungen als Alleinerziehende geben davon Zeugnis. Kriegserlebnisse während der Bombennächte von Dresden sowie die Beschäftigung mit dem Tabu der im Krieg vergewaltigten Frauen führen schließlich zu dem kontrovers diskutierten Film „BeFreier und Befreite“ (1992).

Zeitgeschichtliche Dokumente, Selbstauskünfte sowie das im Titel aufgerufene „Aufräumen“, bei dem die Portraitierte, die einst auch die Zeitschrift „Frauen und Film“ mitgegründet hat, immer wieder auf Erinnerungen stößt, bilanzieren letztlich ein Leben der Unruhe und Bewegung. Wenn Helke Sander schließlich am Familiengrab sitzt und ein finnisches Gedicht liest, das davon handelt, wie man in der Lautlosigkeit die innerste Stimme hört, scheint die Filmemacherin und Autorin, die sich nicht auf ihr feministisches Engagement reduziert sehen möchte, mit ihrer Lebenslinie ganz bei sich angekommen zu sein.

Umberto Eco – Eine Bibliothek der Welt

(IT 2022, Regie: Davide Ferrario)

Die Wahrheit der Stille
von Wolfgang Nierlin

Lang und verschlungen ist der Weg durch das Bücherlabyrinth. Aus subjektiver Perspektive folgt die Kamera dem Gang von Umberto Eco durch seine Mailänder Privatbibliothek. Diese umfasst 30.000 neuere Bücher sowie …

Lang und verschlungen ist der Weg durch das Bücherlabyrinth. Aus subjektiver Perspektive folgt die Kamera dem Gang von Umberto Eco durch seine Mailänder Privatbibliothek. Diese umfasst 30.000 neuere Bücher sowie 1200 antike Werke, darunter etliche Inkunabeln. Bis der berühmte italienische Schriftsteller zielgerichtet nach einem Buch seiner Sammlung greift, die vor allem von einer Vorliebe für Magie, okkulte Wissenschaften und Kuriositäten geprägt ist. Ursprünglich aufgenommen für eine Videoinstallation, die bei der Biennale von Venedig gezeigt wurde, eröffnet diese beeindruckende Bibliotheksbegehung nun Davide Ferrarios Film „Umberto Eco – Eine Bibliothek der Welt“. Die Bibliothek sei „Symbol und Realität eines kollektiven Gedächtnisses“, sagt Eco. Und er zitiert Dante Alighieri, der in seiner „Göttlichen Komödie“ den Anblick Gottes mit den Seiten eines einzigen Buches und damit mit dem ganzen Universum gleichsetzt. Gott sei demnach, so Eco, die „Bibliothek aller Bibliotheken“.

Der in drei Kapitel und einen Epilog gegliederte Film handelt entsprechend zunächst vom „Erinnern“, von Bibliotheken als „Gedächtnis der Menschheit“ und den pflanzlichen Trägerstoffen des Gedruckten. In diversen Interviews und Statements, die der Films als durchgehenden Gedankenstrom versammelt und in denen der enorm geistreiche und gebildete Autor eloquent und auf höchst unterhaltende Weise eine kritische Opposition zum digitalen Zeitalter formuliert, entwickelt Umberto Eco Grundsätze für ein enzyklopädisches Wissen. Ohne Erinnerung lasse sich keine Zukunft planen. Doch neben dem Aufbewahren habe das Gedächtnis vor allem die Aufgabe, zu filtern, was durch die Informationsflut des Internets zunehmend erschwert werde. Wo die Fähigkeit auszuwählen verloren gehe, werde die Erinnerung blockiert. Das Wissen nehme Schaden.

Neben diesen Zeitdokumenten und Gesprächen mit Familienmitgliedern inszeniert Davide Ferrario zusammen mit Schauspielern kurze Texte von Eco in Bibliotheken. Außerdem zeigt er eindrucksvolle Bilder von öffentlichen Büchereien weltweit, zu denen auch die modernen Stadtbibliotheken von Ulm und Stuttgart gehören. Während im zweiten Kapitel das Erzählen von Geschichten als besondere Fähigkeit des Menschen thematisiert wird, insofern durch die literarische Erfindung Abwesendes und Unwirkliches „wahr“ wird, problematisiert Umberto Eco im dritten Kapitel die Lüge. Denn in Abgrenzung zur Fiktion produzierten Fälschungen und Verschwörungstheorien eine Realität, die gerade im Dauerrauschen des Internets gefährlich werden könne; was schließlich gerade heute durch die jüngsten Entwicklungen belegt wird.

Folgerichtig sagt Eco im Epilog des sehr anregenden Films: „Man findet Gott nicht im Lärm, sondern nur in der Stille. Und während die kleine Enkeltochter des im Februar 2016 verstorbenen Schriftstellers auf ihren Inlineskatern durch die Gänge der Bibliothek fährt, die dem Staat zur Nutzung in der Mailänder Biblioteca Nazionale Braidense und an der Universität in Bologna übertragen wurde, ergänzt der passionierte Leser und Büchersammler noch: „Wahrheit findet man nur durch stilles Suchen.“

The Zone of Interest

(USA/GB/PL 2023, Regie: Jonathan Glazer)

Normalität inmitten des Grauens
von Wolfgang Nierlin

Es braucht seine Zeit, bis sich die dunkle Leinwand mit den Farben der Natur füllt und der düster-sphärische Klangteppich von unbekümmertem Vogelgezwitscher abgelöst wird. Inmitten einer sattgrünen Uferlandschaft picknickt eine …

Es braucht seine Zeit, bis sich die dunkle Leinwand mit den Farben der Natur füllt und der düster-sphärische Klangteppich von unbekümmertem Vogelgezwitscher abgelöst wird. Inmitten einer sattgrünen Uferlandschaft picknickt eine große Familie an einem Fluss oder See. Fahles, bleiches Sonnenlicht bescheint diese Alltagsidylle. Aus der Distanz aufgenommen, sind nur die Wortfetzen beiläufiger Dialoge zu hören. Das Leben erscheint normal und selbstverständlich. Nichts deutet zunächst darauf hin, dass Jonathan Glazers neuer, vielfach ausgezeichneter Film „The zone of interest“, der vom gleichnamigen Roman des englischen Schriftstellers Martin Amis inspiriert ist, mitten im 2. Weltkrieg in Polen spielt; und zwar in unmittelbarer Nähe des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Die Exposition endet dann auch mit einer Autofahrt durch die Nacht und mit dem Löschen der Lampen im Haus des Lagerkommandanten Rudolf Höß (Christian Friedel).

Dieses stattliche Haus mit seinem weitläufigen, prächtig blühenden „Paradiesgarten“, mit seinem großen Gewächshaus und dem Swimmingpool, alles sorgsam gepflegt von Zwangsarbeitern, befindet sich direkt neben dem Arbeits- und Vernichtungslager. Nur eine hohe Mauer trennt die Normalität vom Grauen, ein relativ sorgloses Wohlstandsleben vom gewaltsamen Tod, das Paradies von der Hölle. Diese immer wieder aktuelle Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Welten, vermittelt als Schrecken über parallele Welten, treibt Glazer mit seinem kühl und distanziert inszenierten Film ins Extreme. Für einmal geht es nicht um gängige Täter-Opfer-Schemata, sondern um den Blick auf ein angeblich „normales“ Leben und auf Menschen, die wiederum angeblich keine gewissenlosen „Monster“ sind, sondern gehorsame Rädchen im Getriebe eines zerstörerischen Machtapparates. Die Todeswelt jenseits der Mauer ist nur in den angeschnittenen Bildern von Dächern, Wachtürmen und rauchenden Schloten sichtbar und wird hauptsächlich über Schüsse, Schreie, Befehlsrufe und Hundegebell auf der mit einem beunruhigenden Grummeln unterlegten Tonspur vermittelt.

Der englische Filmregisseur Jonathan Glazer konnte seinen verstörenden Film an Originalschauplätzen drehen. Um eine möglichst authentische Atmosphäre zu kreieren und seine Schauspieler frei agieren zu lassen, hat er auf ein klassisches Filmset verzichtet und stattdessen zusammen mit seinem polnischen Kameramann Łukasz Żal zahlreiche versteckte, ferngesteuerte Minikameras installiert. Daraus resultiert unter anderem die Betonung der oftmals in diagonaler Perspektive aufgenommenen Räume, der langen Flure und Türen „unseres Zuhauses“, wie Hedwig Höß (Sandra Hüller), die stolze „Königin von Auschwitz“, einmal sagt. Als die Statik dieses Wohlstandssymbols durch die Versetzung ihres Mannes kurzzeitig ins Wanken gerät, ist es vor allem die Mutter von fünf Kindern, die sich wütend und verzweifelt an ihren unrechtmäßigen Besitz klammert.

Diese vielleicht allzu menschlichen Regungen stehen neben einer vom Film behaupteten „Normalität“ eines Verhaltens, das sich, kaum verstehbar, in gewissenloser Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern der Gewaltdiktatur ausdrückt. Nicht ganz unproblematisch erscheint auch die Fortsetzung der Idee paralleler Lebenswelten, wenn in der Jetztzeit eine Gruppe von Reinigungskräften die Vitrinenscheiben der von Zeugnissen des Grauens angefüllten KZ-Gedenkstätte putzt.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „The Zone of Interest“.

Gondola

(DE/GE 2023, Regie: Veit Helmer)

Eine Welt schwebender Leichtigkeit
von Wolfgang Nierlin

Zwei Stahlseile überspannen schnurgerade und parallel zueinander ein malerisches Bergtal irgendwo in Georgien. Geradezu magisch schweben die Gondeln in luftiger Höhe vor dem blauen Himmel. Dabei springt das Bild abwechselnd …

Zwei Stahlseile überspannen schnurgerade und parallel zueinander ein malerisches Bergtal irgendwo in Georgien. Geradezu magisch schweben die Gondeln in luftiger Höhe vor dem blauen Himmel. Dabei springt das Bild abwechselnd aus der Totalen in die Nahaufnahmen der schweren Mechanik aus Rädern und Seilwinden. Ein Akkordeon spielt traumverloren einen Walzer dazu und vermischt sich mit der dominanten Geräuschkulisse der Bahn. Auch wenn in Veit Helmers Film „Gondola“ eine fast ferne, vielleicht schon aus der Welt gefallene Realität in vielen Details präsent ist und leuchtet, erscheint sie doch zugleich verzaubert und idealisiert. Mit reduzierter Handlung, wenigen Hauptfiguren und ohne Dialoge erzeugt der Regisseur eine visuelle Poesie, deren Minimalismus und filmsprachliche Raffinesse an die Anfänge des Kinos anknüpft und zugleich ein Gefühl schwebender Leichtigkeit hervorruft.

Die Seilbahn als Mitspielerin, Mittelpunkt und erzählerisches Kraftzentrum des Films transportiert dabei förmlich die Geschichten zwischen Himmel und Erde. Das beginnt gleich mit der letzten Seilbahnreise eines verstorbenen Schaffners, dessen Sarg aus majestätischer Höhe nach einem letzten Gruß der bedächtig innehaltenden Dörfler in der Tiefe des Grabes versenkt wird. Sein schöne Tochter Iva (Mathilde Irrmann) tritt daraufhin und offensichtlich gegen den Willen der Mutter in seine Fußstapfen. Angelernt wird sie von der nicht minder hübschen Nino (Nino Soselia), die ihr zeigt, wie man Knöpfe und Hebel bedient. Bald verlieben sich die beiden jungen Frauen ineinander, misstrauisch und zunehmend eifersüchtig beäugt vom ausbeuterischen Stationsvorsteher (Zuka Papuashvili). Immer wenn sich die Gondeln auf halbem Weg begegnen, werfen sich die Frauen verliebte Blicke, Gesten und anderes zu. Mit musikalischen Einlagen, fantasievollen Gondelverzierungen und (mitunter missverständlichen) Botschaften verwandeln sie die Kabinen sukzessive in kreative Spiel- und Lebensräume.

Da werden Geschenke ausgetauscht, Granatäpfel geklaut, Lebensmittel und eine überschaubare Zahl von Passagieren transportiert sowie die jeweils geschlagenen Figuren eines Schachspiels, dessen Verlauf durch die Seilbahn getaktet wird, mit triumphaler Geste präsentiert; es wird gesteppt und gestrippt, bis der zornige Chef mit immer rabiateren Mitteln in das Liebestreiben eingreift.

Gegliedert und in Spannung gehalten wird das Geschehen, das mitunter wie eine Art Nummernrevue abläuft, durch die von der Seilbahnfahrt vorgegebenen raumzeitlichen Intervalle. Immer wenn die Gondeln zwischen Himmel und Erde aneinander vorbeifahren, macht die Handlung einen kleinen Sprung, werden neue Details und originelle Einfälle eingefügt. Das kulminiert schließlich in einem Kampf zwischen Gut und Böse und in einer romantischen Hochzeit unterm nächtlichen Sternenhimmel. Veit Helmers märchenhafter, mit liebevollem Blick gestalteter Film „Gondola“ entwirft mit bildhaften Symmetrien und einer spiegelbildlichen Nebenhandlung über die Freundschaft zweier Kinder eine Welt utopischer Schönheit, in der die Liebe siegt und dabei von einem wohlwollenden Zusammenhalt der Gemeinschaft getragen wird.

The Zone of Interest

(USA/GB/PL 2023, Regie: Jonathan Glazer)

Missglückte NS-Fiction
von Jürgen Kiontke

Sandra Hüller liebt extreme Rollen. Nun hat sie sich was ganz Besonderes ausgesucht. In Jonathan Glazer gibt sie die Ehefrau des Kommandanten von Auschwitz, Rudolph Höß. „Banalität des Bösen“ – …

Sandra Hüller liebt extreme Rollen. Nun hat sie sich was ganz Besonderes ausgesucht. In Jonathan Glazer gibt sie die Ehefrau des Kommandanten von Auschwitz, Rudolph Höß.

„Banalität des Bösen“ – das Diktum von Hannah Ahrendt gibt es hier ganz wörtlich: Familie Höß fristet ein luxuriöses Dasein an der Mauer zum Konzentrationslager. Wer immer schon mal wissen wollte, wie der Mann, der Millionen Menschen auf dem Gewissen hat, nebst Verwandtschaft so ganz privat lebte, der ist hier genau richtig. Da geht’s um den Spül, wie man billige Gärtner kriegt und was die Kinder jetzt schon wieder angestellt haben.

Berufliches dann am Rande: Die Vertreter der Firma Topf und Söhne legen ihre Pläne für die Gaskammern auf dem Wohnzimmertisch dar. Höß wird später bekannt dafür sein, dass er Zyklon B als Vernichtungsmittel etabliert hat. Reichsführer SS Heinrich Himmler („Onkel Heiner“) lässt die Gattin grüßen. Und dann steht noch die Karriereplanung auf dem Wochenplan. Von den Quälereien im Konzentrationslager erfährt der Zuschauer nur indirekt. Hinter der Mauer qualmt der Schornstein des Krematoriums, vereinzelt sind Schreie zu vernehmen.

Das Zentralgestirn dieses Kosmos ist aber Höß‘ Gattin Hedwig. Die organisiert Haus & Hof und sorgt für ordentlich Dünkel bei der angereisten Verwandtschaft. „Wie sie den tollen Garten hochgezogen hat, berichtet sie. Wobei sie keinen Handschlag selbst macht, dafür gibt es Zwangsarbeiter. Ihr Glanzstück ist aber die Mode: Jüdische Frauen werden bei der Verhaftung entkleidet, die KZ-Aufsehergattin kassiert Röcke, Blusen und Mäntel für sich selbst und das Gefolge ein. Was ein Mist, dass die alle so dünn sind, schimpft sie. Bei dem guten Essen bei ihr zu Hause passt man kaum in die tollen Klamotten rein. Wie eine Schlossherrin hält sie Hof, bis dann das Unglück naht. Höß wird abberufen, Adolf Hitler hat ihn für ein anderes KZ eingeplant. Großes Geschrei, denn Hedwig will das große, schöne Haus nicht verlieren.

Glazers Film hat bereits für viel Furore gesorgt, hat Kritiker- und andere Preise zuhauf bekommen, und Sandra Hüller wurde als heißeste Kandidatin für die Golden Globes gehandelt; eine Auszeichnung, die sie für diese Rolle ebenso wenig bekam wie für die in dem ebenfalls nominierten „Anatomie eines Falls“.

Es hat etwas überaus Skurriles, dass eine deutsche Schauspielerin dafür mit Lob und Ehre überschüttet werden soll, dass sie die fiese Nazi-Braut gibt. Ob sie sich den Preis dafür auf die Wohnzimmerkommode stellen wollen würde? Die Darstellung des besonders Bösen kann auch schnell mal nach hinten losgehen, auch wenn die Absicht wahrscheinlich löblich sein soll, dass der Zuschauer aufs Glatteis des Miterlebens geführt werden soll – hat es Hedwig nicht wirklich schwer in den schweren Zeiten?

Das beinahe vollständige Aussparen des Leidens derjenigen, die da ganz plastisch hinter der Gefängnismauer verschwinden, als vermeintlich drastisches Stilmittel – ja, das Ausblenden dieser Menschen als Individuen überhaupt ist weniger Kunst denn Eskapismus. Aber damals wusste ja auch keiner von was, stimmt schon.

Diese Kritik erschien zuerst am 21.02.2024 auf: links-bewegt.de

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „The Zone of Interest“.

Rückkehr nach Korsika

(FR 2023, Regie: Catherine Corsin)

Verwurzelte Fremdheit
von Wolfgang Nierlin

Die schöne, stille Berglandschaft mit Blick auf das Meer steht im Kontrast zur rasanten, hektischen Autofahrt auf der kurvenreichen Strecke zu einem Fähranleger. Eine sichtlich nervöse Mutter will mit ihren …

Die schöne, stille Berglandschaft mit Blick auf das Meer steht im Kontrast zur rasanten, hektischen Autofahrt auf der kurvenreichen Strecke zu einem Fähranleger. Eine sichtlich nervöse Mutter will mit ihren beiden kleinen Kindern die Insel verlassen. Als sie einen Anruf mit einer unheilvollen Nachricht erhält, bricht sie innerlich zusammen. Nach dieser markanten, zunächst rätselhaften Exposition sind fünfzehn Jahre vergangen. Fahles Licht der aufgehenden Sonne spiegelt sich auf der Meeresoberfläche. Und Khédidja (Aïssatou Diallo Sagna), einst aus Westafrika eingewandert, kehrt unverhofft mit ihren jetzt erwachsenen Teenagertöchtern zurück nach Korsika. Als Angestellte einer wohlhabenden Pariser Familie, die dysfunktional erscheint, soll sie deren Kinder betreuen. Zusammen mit Farah und Jessica wohnt sie für diese Zeit in einem Mobilhome auf dem örtlichen Campingplatz in Strandnähe.

Catherine Corsinis Film „Rückkehr nach Korsika“ („Le retour“), der durch seine örtliche und zeitliche Rahmung, verknüpft mit einem sommerlichen Flair und immer wieder stimmungsvollen Naturpanoramen, die Anmutung einer Feriengeschichte besitzt, konzentriert sich zunächst auf die Jugendlichen. Während die aufmüpfige 15-jährige Farah (Esther Gohourou) schnell aufbegehrt und sehr sensibel auf fremdenfeindliche Anwürfe und Übergriffe reagiert, verhält sich ihre ältere Schwester Jessica (Suzy Bemba) zurückhaltender und besonnener. Die 18-Jährige ist eine strebsame junge Frau, die einen Studienplatz an der renommierten Elite-Uni Sciences Po ergattert hat und in ihrem Tagebuch über ihre zunehmende Distanz zu ihrer Familie schreibt: „Es ist nicht mehr meine Welt, es ist ihre Welt.“ Am liebsten würde Jessica ihre Herkunft abstreifen. Ein Ausdruck davon ist ihre beginnende Liebesbeziehung zur gleichaltrigen Gaïa (Lomane de Dietrich), der freiheitsliebenden ältesten Tochter der Pariser Familie.

Aber eigentlich leidet Jessica unter einer „Leere, die ich nicht auffüllen“ kann, wie sie sagt. Dieser blinde Fleck, der kein Vergessen erlaubt, wo die Erinnerungen dafür fehlen, bezieht sich auf die verschwiegenen Umstände ihres tödlich verunglückten Vaters. Während sich Jessica dem schmerzlichen Trauma ihrer verheimlichten Familiengeschichte nähert und damit auch einer unterdrückten Identität, verändert sich unter heftigen Wehen das labile Familiengefüge. Schließlich machen auch Farah und Khédidja neue Erfahrungen, die in einer Art kollektiven Katharsis kulminieren. Von eigenen Erlebnissen inspiriert und realitätsnah inszeniert, zeigt Catherine Corsini auf versöhnliche Weise, wie es ihren Heldinnen gelingt, soziale Unterschiede, Fremdheit und Schuldgefühle so einzufrieden, dass für sie ein jeweils neues Selbstverhältnis und ein erstarkter Zusammenhalt möglich werden.

Hier gibt es ein Interview mit Regisseurin Catherine Corsin.

Colonos

(CL/AR/GB/TW/DE/SW/FR/DK 2023, Regie: Felipe Gálvez)

Blutige Spuren einer verdrängten Geschichte
von Wolfgang Nierlin

Schier grenzenlos erstreckt sich die weite Ebene der Pampa im äußersten Zipfel Feuerlands, wo tief hängende Wolken und ein milchiges, fahles Licht den Eindruck von Weite noch verstärken. Hier stehen …

Schier grenzenlos erstreckt sich die weite Ebene der Pampa im äußersten Zipfel Feuerlands, wo tief hängende Wolken und ein milchiges, fahles Licht den Eindruck von Weite noch verstärken. Hier stehen im Jahr 1901 raue Männer im heftigen Wind, um für die Schafzucht des herrschsüchtigen Großgrundbesitzers José Menéndez (Alfredo Castro) einen schnurgeraden Zaun bis zum Atlantik zu errichten. Die strapaziöse Arbeit ist hart und gefährlich. Wie Sklaven werden die rechtlosen Tagelöhner schikaniert und gnadenlos bestraft. Ein Schwerverletzter wird erschossen, weil er durch die Einbuße seiner Arbeitskraft nicht mehr „von Nutzen“ sei, wie der brutale Aufseher Alexander MacLennan (Mark Stanley) meint. Der angebliche englische Leutnant ist in Wirklichkeit ein abgehalfterter schottischer Matrose, der für Don José, den „König des weißen Goldes“, wie das erste Kapitel von Felipe Gálvez‘ Langfilmdebüt „Los colonos“ überschrieben ist, die indigene Bevölkerung, vom Kolonisator als „Bestien“ bezeichnet, töten soll.

Für die Durchführung dieser sogenannten „Säuberung“ werden dem „Leutnant“ der ortskundige Scharfschütze Segundo Molina (Camilo Arancibia) sowie der skrupellose Kopfgeldjäger Bill (Benjamín Westfall) an die Seite gestellt. Das Verhältnis des mörderischen Trios ist angespannt und von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Vor allem zwischen dem autoritären Anführer MacLennan („Wenn ich das Sagen habe, entscheide ich, was notwendig ist.“) und dem nicht minder grobschlächtigen Texaner Bill gibt es immer wieder Streit und Machtkämpfe, während der schweigsame Mestize Segundo gezwungen ist, sich zwischen verschiedenen Fronten einzurichten. Als es zum blutigen Massaker an einer wehrlosen Gruppe von Indigenen kommt, hält sich der innerlich zerrissene Segundo zurück, kann dabei aber nur mühsam seine Wut unterdrücken. Auf ihrer mörderischen Mission treffen die Gewalttäter im Weiteren sowohl auf Vertreter einer um Zivilisierung bemühten Aufklärung als auch auf ihr eigenes dunkles, noch destruktiveres Spiegelbild.

Angelehnt an historische Figuren und Tatsachen zeichnet Felipe Gálvez in seinem düsteren und schonungslos pessimistischen Neo-Western „Los colonos“ das blutige Bild einer verdrängen Geschichte rücksichtsloser Landnahme. Willkür, Gesetzlosigkeit und Gewalt werden zu Kennzeichen einer widerrechtlichen Kolonisierung, die noch immer nicht zu Ende ist. Wenn Jahre später ein Vertreter der Regierung Segundo aufsucht, um vergangene Verbrechen aufzuklären und dem Indigenen zu bescheinigen, er sei „Teil der Nation“, ist das nur eine „zivilisierte“ Form der Aneignung und der politischen Instrumentalisierung. Als „Gegenaufklärung“ dazu implementiert der chilenische Regisseur seinem visuell ausdrucksstarken Film in gedehnten, fast surrealen Momenten immer wieder Nahaufnahmen von Augen und Blicken als Bilder der leidenden Kreatur und eines anderen, mythischen Wissens.

Leere Netze

(DE/IR 2023, Regie: Behrooz Karamizade)

In der Sackgasse
von Wolfgang Nierlin

„Du bist für das Meer geboren“, sagt die junge Narges (Sadaf Asgari) einmal zu ihrem schönen Freund. Amir (Hamid Reza Abbasi) kann gut schwimmen und tauchen, während seine Freundin aus …

„Du bist für das Meer geboren“, sagt die junge Narges (Sadaf Asgari) einmal zu ihrem schönen Freund. Amir (Hamid Reza Abbasi) kann gut schwimmen und tauchen, während seine Freundin aus Gründen der Sittlichkeit am Ufer bleibt. Wenn er bei einem Tauchgang die Luft anhält, schafft er es so lange, unter Wasser zu bleiben, dass das Mädchen Angst um ihn bekommt. Diese Fähigkeit wird dem sympathischen jungen Mann im Verlauf von Behrooz Karamizades Film „Leere Netze“, der im Norden Irans am Kaspischen Meer spielt, noch von zweifelhaftem Nutzen sein. Die Notwendigkeit, ab- und aufzutauchen, symbolisiert wiederum die ambivalente Situation, in der sich Menschen befinden, die zum Selbstschutz ihr wahres Leben und ihre wahren Bedürfnisse verstecken müssen. So sind Amir und Narges zwar ein glückliches Liebespaar, das die nur kurze Zeit währenden Gefühle der Freiheit am Meer, bei einer Motorradfahrt oder beim gemeinsamen Picknick auf einer verwaisten Baustellenruine genießt; doch in der Öffentlichkeit muss ihre Liebe unsichtbar bleiben.

Amir und Narges wollen deshalb so schnell wie möglich heiraten. Dagegen spricht allerdings ihre Herkunft aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Während Narges einer wohlhabenden Familie entstammt, die eine Konditorei betreibt, lebt Amir zusammen mit seiner Mutter in ärmlichen Verhältnissen und verdingt sich als Kellner. Obwohl er verantwortungsbewusst und gewissenhaft arbeitet, verliert er nach einer Auseinandersetzung mit seinem autoritären Chef seinen Job. Der deutsch-iranische Regisseur nutzt diesen wesentlichen Zwischenfall, um einen Eindruck von patriarchalen Strukturen, Arbeitslosigkeit und mangelhaften Zukunftsaussichten zu vermitteln. Dabei zeigt Karamizade jenseits sozialer Gegensätze und festgefügter Traditionen immer wieder Bilder eines überaus bunten und vielfältigen Lebens und gewährt so Einblicke in eine unbekannte Gesellschaft abseits gängiger Klischees.

Um das hohe Brautgeld aufzubringen und Narges heiraten zu können, heuert Amir schließlich bei einem zwielichtigen Fischer an, der seine Arbeiter hemmungslos ausbeutet und überdies illegal mit Kaviar handelt. In diesem Umfeld verliert der unbedarfte Neuling sukzessive seine Unschuld und seinen Glauben an das Gute, bis er als nächtlicher Stör-Fischer schließlich selbst Teil der kriminellen Machenschaften wird. Zunehmend hoffnungsloser rutscht Amir ab in eine allgemeine Perspektivlosigkeit, die noch verstärkt wird durch engmaschige Abhängigkeiten. Seine Enttäuschung und Frustration nehmen weiter zu, als Narges von der Familie eines reicheren Bewerbers besucht wird.

In einem Realismus der Gegensätze, mit unaufdringlicher Symbolik sowie in subtilen Gesten und Blicken gestaltet Karamizade in seinem an Originalschauplätzen gedrehten Langfilmdebüt ein Drama des Scheiterns und der schuldhaften Verstrickung. Wie sehr dafür die Verhältnisse verantwortlich sind, drückt Amirs Kollege Omid (Keyvan Mohammadi) aus, ein verfolgter, untergetauchter Journalist auf der Flucht: „In diesem Land landet man immer in einer Sackgasse. Man kann nicht tun, was man will. Man kann sich nicht verwirklichen.“ Doch trotz Verzweiflung und schwerer Krisen steht am Ende ein Aufbruch, öffnet sich zumindest für Amir der Blick in die Weite.

Notes on a Summer

(ES 2023, Regie: Diego Llorente)

Im Fluss
von Wolfgang Nierlin

Marta (Katia Borlado) steht im Schwimmbad auf einem Startblock, aber ihr Absprung wird nicht gezeigt. Sie erteilt kleinen Kindern Schwimmunterricht, lässt sie ab- und auftauchen und zählt dabei die Sekunden. …

Marta (Katia Borlado) steht im Schwimmbad auf einem Startblock, aber ihr Absprung wird nicht gezeigt. Sie erteilt kleinen Kindern Schwimmunterricht, lässt sie ab- und auftauchen und zählt dabei die Sekunden. Doch eigentlich arbeitet die Mittzwanzigerin an der Uni und schreibt an ihrer Promotion. Davon wird allerdings nichts gezeigt. Stattdessen sieht man sie zusammen mit Leo (Antonio Araque) in ihrer Madrider Wohnung. Leo liebt Marta und verdient das Geld in einer Gesellschaft, die von Arbeitslosigkeit geprägt ist. Dann sind Sommerferien und Marta fährt mit dem Zug in ihre alte Heimat an der asturischen Atlantikküste. Sie wohnt dort bei ihrer Mutter, trifft Freundinnen, besucht Feste und eine Hochzeit. Vor allem aber nimmt sie ihre Liebesbeziehung zu ihrem früheren Freund Pablo (Álvaro Quintana) wieder auf. Die beiden haben leidenschaftliche Sex und ein gegenseitiges Vertrauen, das aus einer gemeinsamen Geschichte herrührt. Doch dann kommt Leo überraschend zu Besuch und Marta weiß in ihrer widersprüchlichen Gefühlslage immer weniger, was sie will.

Das alles wird von Diego Llorente betont beiläufig, unspektakulär und nebenordnend erzählt. In seinem Film „Notes on a Summer“ („Notas sobre un verano“) verzichtet der spanische Regisseur auf einen dramatischen Spannungsbogen und eine inhaltlich verknüpfte Szenenfolge. Stattdessen organisiert er seine Dreiecksgeschichte elliptisch, was ihr die Anmutung scheinbarer Beliebigkeit oder Zufälligkeit verleiht. Llorentes nahezu naturalistisches Interesse für alltägliche Dinge und Begebenheiten verleiht dem Film einen dokumentarischen Charakter, während die Montage seine impressionistische Seite akzentuiert. Die im Filmtitel aufgerufenen Notizen sind deshalb wie Farbtupfer auf einem Gemälde, das keine Vollständigkeit anstrebt. Zugleich besitzt der Film einen subtilen Subtext, dessen Symbolgehalt sich bereits in den ersten Szenen andeutet.

Denn natürlich befinden sich Marta und ihre Generationsgenossen in einer Phase der Orientierung und an einem unsicheren Übergang von einer prekären Gegenwart in eine ungewisse Zukunft. Konfrontiert mit ihrer Herkunft schwankt Marta plötzlich in ihren Gefühlen. Auch wird angedeutet, dass sie einst ihre künstlerischen Ambitionen einem beruflichen Pragmatismus geopfert hat. Auf der Suche nach dem richtigen Platz im Leben muss sie sich jetzt erneut entscheiden zwischen Gehen und Bleiben. Wieder scheint alles im Fluss, während sie eine emotionale Erschütterung erlebt. Nichts scheint sicher, während sie irgendwie weitermacht und weitergeht. Und man hat nicht das Gefühl, dass sie sich wirklich entscheidet oder entscheiden kann; auch wenn der Schluss eine andere Lesart nahelegt.

La Chimera

(IT/FA/CH 2023, Regie: Alice Rohrwacher)

Auf der Suche nach dem Jenseits
von Wolfgang Nierlin

Als würde sich eine Blende öffnen und schließen, erscheint für Augenblicke zwischen Licht und Dunkel, An- und Abwesenheit das schöne Gesicht einer jungen Frau auf der Leinwand. Sie sei verloren, …

Als würde sich eine Blende öffnen und schließen, erscheint für Augenblicke zwischen Licht und Dunkel, An- und Abwesenheit das schöne Gesicht einer jungen Frau auf der Leinwand. Sie sei verloren, heißt es noch, bevor der Engländer Arthur (Josh O’Connor), der sich auf einer Zugfahrt im südlichen Italien befindet, abrupt aus seinem Traum aufschreckt. Der Schaffner verlangt die Fahrkarte und bemerkt süffisant, der Träumer werde jetzt nie das Ende seines Traumes erfahren. Arthur wirkt gereizt und latent wütend. Er komme von weit her, sagt der gutaussehende junge Mann in seinem hellen, leicht abgetragenen Sommeranzug. Tatsächlich wurde der Anführer einer toskanischen Grabräuberbande gerade aus dem Gefängnis entlassen. Trotzdem spürt man eine Distanz zu seinen Kumpanen, die ihn gutgelaunt vom Bahnhof abholen. Arthur ist ein Außenseiter und Grenzgänger zwischen Raum und Zeit, der außerhalb der Stadtmauer in einer ärmlichen Wellblechhütte lebt. Außerdem besitzt er die geheimnisvolle Gabe, mit Hilfe einer Wünschelrute verborgene Dinge aufzuspüren und sichtbar zu machen.

In ihrem neuen, von einem magischen Realismus grundierten Film „La chimera“ widmet sich Alice Rohrwacher nach „Glücklich wie Lazzaro“ erneut einer ebenso wunderlichen wie eigenwilligen Figur, die mit ihrer besonderen Sensibilität zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod vermittelt. Wenn er mit den sogenannten „Tombaroli“ etruskische Gräber aufspürt, scheint sein Interesse weniger den wertvollen Grabbeigaben zu gelten, die von den Dieben hemmungslos gestohlen und verschachert werden. Die Profanisierung und materialistische Veräußerung des heiligen Erbes markiert einen Traditions- und Zivilisationsbruch, der die Geschichtsvergessenheit unserer gegenwärtigen Gesellschaft spiegelt. Dagegen verkörpert Arthur einen trauernden, mystischen Sucher, der die Orte des Jenseits aufsucht, um in Kontakt zu seiner verstorbenen Frau Benjamina zu treten. Diese ist wiederum eine von mehreren Töchtern der altehrwürdigen Signora Flora (Isabella Rossellini), die mit ihrer jungen Haushälterin Italia (Carol Duarte) in einem alten, verfallenden Palast lebt und ihre Hand schützend über Arthur hält.

Alice Rohrwacher vereint in ihrem bunten, vielschichtigen und beziehungsreichen Film einmal mehr tragikomische und burleske Elemente in der Tradition der Comedia dell’arte. Angesiedelt in den 1980er Jahren auf dem Land, verströmt die warme Körnigkeit wechselnder analoger Aufnahmeformate ebenso eine märchenhafte Atmosphäre wie einen zeitlosen Realismus, der noch den Slapstick von Stummfilmen zitiert. Dabei beschwört die italienische Regisseurin neben der Gegenwart des Überlieferten und Mythischen einmal mehr den anarchischen Geist, die Lebensfreude und die naiven Freiheitsträume der Geschichtsvergessenen. Daneben entwirft sie aber auch die positive Utopie einer sozialistischen Gemeinschaft. Der orphische Seelensucher, Grenzgänger und Träumer Arthur muss sich schließlich entscheiden, ob er der irdischen Versuchung nachgibt oder weiter seinem spirituellen Weg auf der Suche nach dem Jenseits folgt.

Green Border

(PL/FR/CZ/BE 2023, Regie: Agnieszka Holland)

Europäische Grenzwerte
von Jürgen Kiontke

Soziale Stoffe gehören zur Grundausstattung der Filme der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland. Auch in ihrem neuen und viel diskutierten Werk „Green Border“ ist dies nicht anders. Es geht um das …

Soziale Stoffe gehören zur Grundausstattung der Filme der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland. Auch in ihrem neuen und viel diskutierten Werk „Green Border“ ist dies nicht anders. Es geht um das Schicksal von Geflüchteten, die im Grenzgebiet zwischen Polen – Außenposten der Europäischen Union – und Belarus stecken bleiben.

Menschen werden aus Syrien nach Belarus freundlich eingeflogen, mit dem Versprechen, in die Europäische Union zu gelangen: Die weißrussische Regierung sieht darin die Möglichkeit, der Union Druck zu machen gegen die Sanktionen der EU. Der Gründe sind noch viele, warum sich Menschen dort wiederfinden. Amina und Bashir, ein Paar aus Syrien, ist mit den Angehörigen eingeflogen. Versprochen wurde ihnen der Transport zu polnischen Grenze, die Gruppe will dann weiter nach Schweden zu Verwandten reisen. In ihrem bürgerkriegszerrütteten Herkunftsland haben sie vieles verloren, sie sehen dort keine Zukunft mehr.

Die Grenzer karren sie samt unhandlichem Gepäck und schlechter Ausrüstung bei übler Witterung in ein dunkles Waldstück. Aber so grün, dass sie nicht gesichert wäre, ist diese Grenze nicht: Auf der polnischen Seite warten Soldaten, die die Ankommenden flugs wieder zurücktreiben. Wie Amina und Bashir stecken nun viele in dem Wald fest. Die Situation wird zunehmend gefährlich, Wasser und Nahrung hat die Gruppe kaum. Mal werden sie festgenommen und woanders wieder ausgesetzt – werden zurückgeschickt und wieder zurückgeschickt.

In neun Kapiteln erzählt Holland in düsteren Graustufen von ihrem Schicksal. Durchbrochen wird die Erzählung durch die Einführung anderer Figuren und ihrer Lebensumstände. Menschen, die im Grenzgebiet wohnen, und immer wieder Nahrungsmittel an Geflüchtete verkaufen, Grenzschützer, die sich gerade ihr Einfamilienhaus bauen, tags wie nachts Geflüchtete zurückweisen und oft ebenfalls von den Ereignissen überrollt werden. Es gibt jedoch auch ausgemachte Sadisten unter dem Personal. Die Flüchtlinge sehen sich mit Morddrohungen und Folter konfrontiert.

„Green Border“ ist ein Streifen, der das Publikum traurig macht, machen soll; zielt auf das Hervorrufen von Emotionen ab, will zur Debatte anregen. Streng komponiert wie eine Dokumentation, die Anklage führt gegen die herrschenden bürokratischen und politischen Verhältnisse. Das Grün dieser Grenze ist keines der Hoffnung.

Diese Kritik erschien zuerst am 29.01.2024 auf: links-bewegt.de

Stella. Ein Leben

(DE 2023, Regie: Kilian Riedhof)

Von deutschen Obsessionen
von Marit Hofmann

Es ist nicht so, als wäre die Biografie der Stella Goldschlag nicht bekannt. Nach Sachbuch, Dokus und großen Medienstorys über das vermeintliche „Tabu der Holocaust-Forschung“ („Spiegel“) wurde die Lebensgeschichte der …

Es ist nicht so, als wäre die Biografie der Stella Goldschlag nicht bekannt. Nach Sachbuch, Dokus und großen Medienstorys über das vermeintliche „Tabu der Holocaust-Forschung“ („Spiegel“) wurde die Lebensgeschichte der jungen Jüdin, die für die Gestapo unzählige versteckte Juden aufspürte, unter dem Titel „Das blonde Gespenst vom Kurfürstendamm“ 2016 auf die Musicalbühne gezerrt und 2019 von „Spiegel“-Redakteur Takis Würger als Romanschmonzette verramscht.

Der Publizist Micha Brumlik sprach damals von einer „entwürdigenden Ausbeutung und Verhöhnung eines NS-Opfers“. Goldschlag, die 1943 als Zwangsarbeiterin knapp der Deportation entkommen und in Berlin untergetaucht war, wurde selbst von einer jüdischen sogenannten Greiferin an die Gestapo ausgeliefert. Sie wurde gefoltert und erpresst und unternahm einen Fluchtversuch, bevor sie einwilligte, für die Nazis zu arbeiten, um ihre Eltern und sich selbst zu retten. Ihre Eltern konnte sie nicht vor dem Tod in Auschwitz bewahren.

Doch die Kulturindustrie ist noch nicht fertig mit Stella Goldschlag, die mit zehn Jahren Gefängnis härter bestraft wurde als die meisten NS-Täter, zum Christentum konvertierte, sich antisemitisch äußerte und 1994 Suizid beging. Denn hier kommen zwei deutsche Obsessionen zusammen: die von der schönen Jüdin und die von der jüdischen Mitschuld.

Während sich die Welt an Israel abarbeitet, sah sich der Regisseur Kilian Riedhof, bekannt für zeitgeschichtliche Dramen wie „Gladbeck“ oder „Barschel“, berufen, Goldschlags Geschichte in einem Spielfilm zu verbraten, denn: „Es ist für mich ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte. Sie ist im Land meiner Vorfahren passiert. Das Schicksal der Juden in Deutschland ist Teil meiner Geschichte, für die ich eine Verantwortung spüre.“

Vermutlich auch, weil eine Erbin durch Würgers Version und das Musical Persönlichkeitsrechte verletzt sah, wollten Riedhof und sein Produzent Michael Lehmann, der in der DDR erlebt haben will, „wie Diktatur auf Menschen wirkt“, alles richtig machen. Übereifrig erklären sie im Presseheft, wie genau sie recherchiert, wie viele Prozessakten sie gewälzt und wie viele Zeitzeugen sie befragt haben. Nicht müde werden sie zu betonen, mit der Jüdischen Gemeinde, insbesondere dem Historiker Andreas Nachama, dem Zentralrat und Rabbinern im (wie auch immer gearteten) „Austausch“ gewesen zu sein, als wäre das eine Art Freibrief.

Zwar dichtet „Stella. Ein Leben“ nicht wie Würgers „Stella“ Figuren hinzu, verzichtet auf bestimmte abgegriffene NS-Darstellungstopoi und will ein realistischeres und moderneres Berlin zeigen, aber auch Riedhof presst die reale Lebensgeschichte in Klischees einer deutschen Primetime-Arie. Das beginnt bei den Proben von Stellas Band, die die Vorstellungen des Publikums von „Jatz“ bedienen, und endet bei „Berlin Babylon“-ähnlichen Verruchtheiten und Orgienekstase im Bombenhagel.

Schon bevor Goldschlag zur Denunziantin wird, unterstellt der Film dem „blonden Gift“ Gefühlskälte und Treulosigkeit: „Ich war noch nie so einsam wie mit dir“, sagt ihr erster Ehemann, der jüdische Musiker Manfred Kübler, der auf eine US-Karriere als Sängerin versessenen Femme fatale. Während die Nazis Randfiguren bleiben, die an Weihnachten auch mal Mitgefühl mit den in Auschwitz Ermordeten zeigen, steht Goldschlags skrupelloser Geliebter und späterer Gatte, der Passfälscher Rolf Isaaksohn (keck und verschlagen: Jannis Niewöhner), für den raffgierigen Juden, der die Notlage ausnutzt und seinesgleichen Geld aus der Tasche zieht. Als auch er auffliegt, scheint er mit seiner stets schick zurechtgemachten und ihre Privilegien genießenden Frau Gefallen daran zu finden, im Auftrag der Gestapo auf Menschenjagd zu gehen. Sowohl Drehbuch als auch die entleerte Mimik der dauerpräsenten Paula Beer kommen an ihre Grenzen, wenn es darum gehen müsste, die seelischen Folgen von Verfolgung und Folter erahnbar zu machen.

Es sei wichtig, „den Zuschauer*innen die Chance zu geben, den eigenen moralischen Resonanzboden zum Klingen zu bringen. Damit nie wieder Menschen ihre Haut retten müssen und dabei ihre Seele verlieren“, erklären die Produzenten, deren moralischer Resonanzboden gewaltig zu scheppern scheint.

„Wer sind wir, dass wir uns anmaßen könnten“, fragte Jan Süselbeck vor fünf Jahren zu Recht in seinem Würger-Verriss in der „Zeit“, über Goldschlags „moralische Verstrickung als Holocaust-Opfer zu urteilen?“ Der jüngste kulturindustrielle Schlag gipfelt in der reißerischen Frage an das deutsche Publikum auf dem Filmplakat: „Was hättest du getan?“

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Stella. Ein Leben“.

Diese Kritik erschien zuerst am 24.01.2024 in: ND

Der Rhein fließt ins Mittelmeer

(ISR 2021, Regie: Offer Avnon)

Die inneren Bilder des Unbegreifbaren
von Wolfgang Nierlin

Was er mit seinem Film erfahren wolle und was die Frage nach der Einzigartigkeit des Holocaust überhaupt nütze oder bezwecke, wird der Filmemacher Offer Avnon im Verlauf seiner Gespräche einmal …

Was er mit seinem Film erfahren wolle und was die Frage nach der Einzigartigkeit des Holocaust überhaupt nütze oder bezwecke, wird der Filmemacher Offer Avnon im Verlauf seiner Gespräche einmal von einer älteren Interviewpartnerin gefragt. Er versuche, etwas greifbar zu machen, was nicht greifbar ist und was sich als permanente Anwesenheit der Shoah dem Bewusstsein eingeschrieben habe. Diese versteckte, unheimliche Wirklichkeit, die eine starke Bindung zur Vergangenheit bewirke, liege als Trauma hinter und jenseits des konkret Erlebten. Insofern ist Offer Avnons Film „Der Rhein fließt ins Mittelmeer“ der Versuch, sich dem Ungesagten, Verdrängten und doch stets Anwesenden auf eine mehr assoziative und sehr subjektive Weise zu nähern. Dafür verbindet der israelische Regisseur, selbst Sohn eines Holocaust-Überlebenden, die fragmentarischen Erinnerungen von Zeitzeugen und Betroffenen aus seinem persönlichen Umfeld mit Bildern, die sich in seinem Unterbewusstsein eingelagert haben.

So werden Orte und Dinge, Natur und versteinerte Reste des Vergangenen zu Platzhaltern für das Ungesagte. Der titelgebende Fluss verbindet Vergangenheit und Gegenwart. Gras und Sträucher überwuchern die Ruinen der Vertriebenen und Geflohenen. Zäune und Türen, Schlösser und Gitter markieren Orte der Gefangenschaft. Zugschienen, ein Bahnsteig, Flammen und ein Duschkopf vergegenwärtigen ganz unspektakulär den Schrecken unmenschlicher Vernichtung und des Todes. Das Unfassbare ist anwesend im vorgeblich Normalen. Konkret erscheint es hingegen an den Stätten des Gedenkens und der Mahnung: Auf dem jüdischen, inmitten eines Birkenwäldchens gelegenen Friedhof von Warschau, dem Stelenfeld in Berlin oder den von Arabern verlassenen Häusern und Ruinen in Haifa, die im Stadtbild mittlerweile so normal zu sein scheinen, dass niemand mehr darüber nachdenkt. Offer Avnon folgt hier den politischen Spuren und Ablagerungen der Geschichte im kollektiven Gedächtnis.

„Es ist unmöglich, der Erinnerung zu entkommen“, sagt einer der Befragten, zu denen neben Zeitzeugen aus Deutschland, Polen und Israel auch Avnons Vater gehört, der unter anderem über das fragile Zusammenleben mit seinen arabischen Nachbarn spricht. Trotz Freundlichkeit und Freundschaft lauere darin stets Angst und potentielle Gewalt. Die Illusionslosigkeit angesichts des leidvoll Erlebten und ein aus diesen schrecklichen Erfahrungen abgeleitetes pessimistisches Menschenbild ziehen sich leitmotivisch durch den Film. Daraus sprechen Vorurteile, Hass, Feindschaft und ein permanentes Gegeneinander derjenigen, die sich am nächsten sind, seien das Deutsche und Juden, Juden und Polen oder Araber und Juden. Pogrome, Ghettoerfahrungen und nicht verheilende Wunden finden in diesen Aussagen ihren Ausdruck; auf der Täterseite aber auch die Ablehnung von Verantwortung und Schuld. „Wir sind nur Menschen“, heißt es einmal fast entschuldigend. Und: „Es gibt keine Gerechtigkeit.“ Wenig zuversichtlich und ermutigend fragt der Filmemacher am Ende: „Wo fängt der Kreis aus Hass, Angst und Gewalt an? Und wo endet er?“ Die wenig hoffnungsvolle Antwort liegt vermutlich im Bild, das der Frage zugrunde liegt.

Plastic Fantastic

(DE 2023, Regie: Isa Willinger)

Die Kunststoff-Apokalypse
von Wolfgang Nierlin

Eine geradezu gespenstisch anmutende Fahrt in die dunkle Tiefe eines Salzstocks eröffnet den Film. Eine unbekannte Fracht wird abgelagert und versiegelt. Erst sehr viel später erfahren wir, dass es sich …

Eine geradezu gespenstisch anmutende Fahrt in die dunkle Tiefe eines Salzstocks eröffnet den Film. Eine unbekannte Fracht wird abgelagert und versiegelt. Erst sehr viel später erfahren wir, dass es sich dabei um den toxischen Filterstaub einer Plastik-Verbrennungsanlage handelt, der hier gewissermaßen „für die Ewigkeit“ aufbewahrt wird. Mit dieser Szenerie korrespondiert ein Satz, der mit Blick zum nächtlichen Sternenhimmel am Anfang von Isa Willingers aufschlussreichem Dokumentarfilm „Plastic Fantastic“ steht: „Es gibt 500-mal mehr Plastikpartikel in den Meeren als Sterne in unserer Galaxie.“ Längst ist der Müll einer gigantischen, immer mehr expandierenden Plastikproduktion zum lebensbedrohlichen Problem für die Umwelt und damit für Menschen und Tiere geworden. Er ist das Ergebnis eines profitorientierten Wirtschaftszweigs, der mit seinem fortwährend zunehmenden Angebot paradoxerweise die Nachfrage bestimmt. Jede Minute lande eine Lastwagenladung Plastikmüll im Meer, informiert eines der Inserts. Später sieht man auf einer dreigeteilten Leinwand erschreckende Bilder vermüllter Flüsse, Meere und Strände.

„Wie kann man etwas herstellen, ohne sich zu fragen, was damit passiert?“, fragt der Wissenschaftler Michael Braungart, der nach alternativen, in einen Verwertungskreislauf integrierbaren Materialien forscht. Denn bislang wird nur ein minimaler Prozentsatz des Plastiks recycelt. Das wissen selbstverständlich auch die Hersteller und Propagandisten der Plastikproduktion, von denen etwa Joshua Baca vom American Chemistry Council ausführlich zu Wort kommt. „Kunststoffe sind besser als alle anderen Materialien“, lobt der Lobbyist und verweist auf den durch Plastik bewirkten wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt. Doch während es bei den Befürwortern ein Problembewusstsein gibt, dokumentieren Zahlen und Bilder riesiger Produktionsstätten die beängstigenden Steigerungsraten der Plastikproduktion.

In Gesprächen mit Fachleuten, Betroffenen und Aktivisten in den USA, in Deutschland und in Afrika wechselt Isa Willinger mit ihrem Film immer wieder die Perspektive und setzt auf diese Weise harte Kontraste. Während der Fotojournalist James Wakibia in Kenia schwerwiegende Umweltschäden zeigt, sammelt und untersucht die Ozeanografin Sarah-Jeanne Royer das angeschwemmte Mikroplastik an einem Strand auf Hawaii. Sie spricht über vermeidbare Einwegverpackungen und erklärt, wie synthetische Fasern durch Kleidung und eingeatmeten Staub auch in den menschlichen Körper gelangen. Für die kämpferische schwarze Aktivistin Sharon Lavigne aus Lousiana steht deshalb fest, dass die hohe Zahl an Krebstoten in ihrer Gemeinde durch die angrenzende Chemiefabrik des Konzerns Formosa Plastics verursacht wird und außerdem einen rassistischen Aspekt beinhaltet.

Die komplexen Zusammenhänge erhalten schließlich eine weitere Dimension, wenn der Umweltanwalt Steven Veit über Plastik als Teil im „Öl-Gas-Puzzle“ spricht, das durch seinen immensen CO2-Ausstoß letztlich auch die Klimakrise verschärft. Wiederholte Blicke auf die Zentren der Macht und der Finanzwelt sind an die Verantwortung der Politik adressiert, entbinden jedoch nicht vom eigenverantwortlichen Konsumverhalten. Auch wenn der langwierige, unbeirrte Kampf gegen die Industriegiganten zumindest zu kleinen Erfolgen führt, zeigt das wenig hoffnungsvolle, geradezu apokalyptische Schlussbild der auf einer Mülldeponie streunenden Hunde nachdrücklich, wie ernst die Lage ist.

Olfas Töchter

(FR/TE/DE/SAU 2023, Regie: Kaouther Ben Hania)

Fiktion überholt das Leben
von Marit Hofmann

Es sollte nur ein Spaß sein und ein kleines Geschäft. Als salafistische Prediger in Tunis Niqabs gratis verteilen, holen sich Ghofrane und ihre Schwestern welche, um sie weiterzuverkaufen. Kichernd probieren …

Es sollte nur ein Spaß sein und ein kleines Geschäft. Als salafistische Prediger in Tunis Niqabs gratis verteilen, holen sich Ghofrane und ihre Schwestern welche, um sie weiterzuverkaufen. Kichernd probieren sie die Vollverschleierung an. Doch Ghofrane legt sie nicht mehr ab. Sie radikalisiert sich, tyrannisiert die „ungläubige“ Familie, versucht ihre drei jüngeren Schwestern am Schulbesuch zu hindern, und 2016 schließt sich die 16-Jährige dem Islamischen Staat in Libyen an. Kurz darauf folgt ihr die zweitälteste Schwester Rhama. Die beiden Tunesierinnen sitzen mittlerweile in einem libyschen Gefängnis, die Tochter von Ghofrane und einem IS-Kämpfer wächst hinter Gittern auf.

Olfa Hamrouni, die Mutter der, wie sie es ausdrückt, „vom Wolf gefressenen“ Jugendlichen wandte sich in ihrer Not an die Medien und kritisierte die Tatenlosigkeit der tunesischen Behörden. So kam ihre Landsfrau, die Regisseurin Kaouther Ben Hania, auf die Idee, einen Film über die starke und charismatische Mutter und ihre Töchter zu drehen. Es gab da nur ein Problem: „Olfa wurde von Journalisten konditioniert. Sie spielte mit großem Gespür für Tragik die Rolle der trauernden, hysterischen und von Schuldgefühlen zerfressenen Mutter (…) Sobald ich meine Kamera einschaltete, begann sie eine bestimmte Rolle zu spielen.“

Aus der Not heraus entwickelte Ben Hania, von jeher fasziniert „von der schwierigen Beziehung zwischen Fiktion und Dokumentarfilm“, eine geniale Idee, die ihr in Cannes den Preis für den besten Dokumentarfilm einbrachte: „Mir wurde klar, dass einen Dokumentarfilm über die Vorbereitung einer Fake-Fiktion zu drehen, die nie das Licht der Welt erblicken würde, der beste Weg war, Olfa zurück in die Realität und zu ihren Erinnerungen zu holen.“ Sie engagiert drei Schauspielerinnen – zwei spielen die abwesenden Töchter, und der tunesische Schauspielstar Hend Sabri soll in manchen Szenen, in denen es für die echte Olfa zu aufwühlend wird, ihre Rolle übernehmen. Die verbliebenen Schwestern, die ihre Haare offen tragen und sich modern kleiden, spielen sich selbst.

© Rapid Eye Movies

Aber das in der ästhetisch reduzierten Kulisse eines heruntergekommenen Hotels gedrehte introspektive Kammerspiel konzentriert sich weniger auf das Nachstellen bestimmter Erlebnisse als darauf, was diese filmische Familienaufstellung bei den echten Protagonistinnen auslöst. Die Zuschauerinnen sind beim gegenseitigen Kennenlernen und Posieren in den Rollen dabei (was bereits starke Emotionen hervorruft), beim – vermeintlichen – Briefing der Darstellerinnen durch die Familienmitglieder, beim Austausch mit der Regisseurin und auch bei der Reflexion der Schauspielerinnen darüber, wie sie sich abgrenzen können. Da fragt man sich, ob nicht bei so manchem Film nach einer wahren Geschichte das Briefing und die Dreharbeiten fesselnder wären als das Endprodukt.

Sabri fragt Olfa aus, konfrontiert sie mit Kritik, versucht zu verstehen, warum die Alleinerziehende, die sich als Putzkraft durchschlägt, mit Gewalt reagiert hat, als die ältesten Töchter begannen, sich zu schminken und mit Jungs zu flirten. Die Mutter korrigiert die Schauspielerin, spielt eine Szene spontan selbst.

Währenddessen übernimmt der Darsteller Majd Mastura alle Männerrollen: Olfas Gatten, den sie nach der Zwangsheirat in der Hochzeitsnacht verprügelt hat, um das obligatorische Blut auf dem Bettlaken präsentieren zu können, und von dem sie sich scheiden ließ; ihren drogensüchtigen Liebhaber, unter dem die Töchter zu leiden hatten; Vertreter der Behörden – auch wenn sich die Erscheinungsformen wandeln, das Patriarchat bleibt immer gleich. Ben Hania dokumentiert jedoch auch ethische Bedenken des Darstellers gegen ihre Vorgehensweise: Eine sehr emotionale Szene unterbricht Mastura, weil eine Tochter Intimitäten offenbart, die seiner Ansicht nach nicht an die Öffentlichkeit gehören.

Tatsächlich dringt Ben Hania mit ihrem „therapeutischen Labor“ in Tiefen vor, die keine Reportage zu erreichen vermag. Sie holt Verdrängtes hervor und lässt die Familienmitglieder bisher Ungesagtes aussprechen. Eine der Töchter kommt zu der Erkenntnis, die Mutter habe „eben alles an uns weitergegeben, was ihr angetan wurde, darum nennt sie es einen Fluch“. Es wird geweint, gelacht, getröstet – eine schwesterliche Verbundenheit zwischen Filmteam und Protagonistinnen wird spürbar. Und die westliche Zuschauerin versteht die Lage von Frauen, die islamistischer Propaganda ausgesetzt sind, besser, wenn die sehr reflektierten jüngeren Schwestern erklären, dass viele Mädchen den Niqab tragen, weil er ihnen mehr Bewegungsfreiheit verschafft und weil sie Angst davor haben, als Sündhafte „im Grab gefoltert zu werden“. Ihr nüchternes Resümee: „Im Islamischen Staat dürften wir diesen Film nicht drehen.“

Diese Kritik erschien zuerst am 17.01.2024 in: ND

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Olfas Töchter“.

Orca

(IRN/QAT 2021, Regie: Sahar Mosayebi)

Schwimmkunst als Politikum
von Jürgen Kiontke

Der Schwertwal, der der iranische Schwimmerin Elham im Wasser begegnet, kennt keine Hindernisse, er setzt sich gegen alle Widrigkeiten durch. Elham ist Extremschwimmerin, aber so leicht wie im Wasser fühlt …

Der Schwertwal, der der iranische Schwimmerin Elham im Wasser begegnet, kennt keine Hindernisse, er setzt sich gegen alle Widrigkeiten durch. Elham ist Extremschwimmerin, aber so leicht wie im Wasser fühlt sie sich selten. Und selbst dort – auch wenn‘s kaum möglich ist – legt man ihr Steine in den Weg. Sportschwimmen für Frauen soll es nach Auffassung der Männer und der iranischen Sportministerin nicht geben. Elham wird deshalb ein Zeichen setzen. Niemand ist bisher weiter als sie geschwommen, die Hände mit Handschellen gefesselt. Ihr Schwimmanzug trägt die Farben ihres Vorbilds: schwarz und weiß, stark und schön – ganz wie der Orca.

Mit ihrem Film „Orca“ greift Regisseurin Sahar Mosayebi den Fall der realen Elham Asgari auf. Sie startete im Jahr 2013 einen Guinessbuch-Rekordversuch im ozeanischen Weitschwimmen der Frauen. Doch das Unterfangen wurde abgebrochen, das Ministerium wollte weder Guinness-Buch noch schwimmende Frauen dulden. Asgari wurde fast von wütenden Männern in einem Motorboot getötet, weil Religionswächter Wind von ihrem Vorhaben bekommen hatten.

Gewalterfahrung ist auch im Film ein Erzählkern, ein Lebensthema, mit dem sich Asgari auseinandersetzen muss. Sie ist mit einem Schläger verheiratet, der ihr gefährliche Verletzungen zufügt. Niemand hilft ihr, nicht mal die eigenen Eltern, die von den Vorfällen wissen. Denn Asgaris Blessuren sind auch nicht zu übersehen: Einmal prügelt er sie ins Koma, sie landet auf der Intensivstation.

Ganz sprichwörtlich geht die junge Frau also ins Wasser – nicht um zu sterben, sondern um vor der Gewalt davon und zu sich selbst zu schwimmen. Der Schwimmverband unterstützt sie, aber sie bekommt Schwierigkeiten mit dem Sportministerium, das den Kader der Schwimmerinnen auflösen will. Warum, so fragt sich Asgari, vertritt die Sportministerin, eine Frau wie sie, nicht die Interessen der Sportlerinnen? Weil es die Interessen einflussreicher Kreise stört. Denn selbst das recht harmlos daherkommende Durchqueren des Wassers wird in der iranischen Religionsdiktatur zum Problem. So gerät die Schwimmkunst zum Politikum.

Diese Kritik erschien zuerst am 17.01.2024 auf: links-bewegt.de

Becoming Giulia

(CH 2022, Regie: Laura Kaehr)

Heimkehr auf die Bühne
von Wolfgang Nierlin

Allein und verloren windet sich eine junge Frau auf der großen Bühne eines leeren Opernhauses. Eng umschlungen hält sie ein Bündel mit einem Baby in ihren Armen. Dabei ist der …

Allein und verloren windet sich eine junge Frau auf der großen Bühne eines leeren Opernhauses. Eng umschlungen hält sie ein Bündel mit einem Baby in ihren Armen. Dabei ist der Bühnenhintergrund in rotes Licht getaucht. Eine Tür öffnet sich. Dann beginnt die Kamera zu delirieren, als würde nicht sie, sondern der Raum sich in rasender Geschwindigkeit drehen. Erst viel später erfahren wir, dass hier die Tänzerin Giulia Tonelli Szenen für Cathy Marstons Ballett „Der scharlachrote Buchstabe“ probt. Zunächst sieht man die erste Solistin der Züricher Oper aber zunächst als Mutter und Hausfrau bei kursorisch montierten Haushaltstätigkeiten und der Betreuung ihres erst wenig Monate alten Kindes Jacopo. Nach 11 Monaten Bühnenabstinenz will sie ihre schmerzlich vermisste Arbeit wieder aufnehmen, was in ihrem Metier alles andere als selbstverständlich ist. „Ich brauche es“, sagt Giulia. Das Tanzen sei ihre Identität.

Laura Kaehrs beobachtende, auf einen Kommentar und explizite Interviews verzichtende Langzeitdokumentation „Becoming Giulia“ handelt also vom schwierigen Spagat zwischen Mutterschaft und Tanzkarriere. Der Film dokumentiert Giulias ehrgeizigen Wiedereinstieg, der von Stress und körperlichen Schmerzen begleitet wird; er beobachtet ihre ersten Proben zu „Romeo und Julia“ und zu nachfolgenden Balletten, die Anspannung vor der Premiere und die Gelöstheit nach dem glücklichen Erfolg: „Der Abend war wie eine Heimkehr“, sagt die Ballerina. Die Bühne sei für Künstler wie ein Zuhause. Daneben zeigt Laura Kaehr, die früher selbst getanzt hat, Phasen der Regeneration bei Massagen und in Gesprächen mit Kolleginnen. Dabei geht es um Giulias körperliche Strapazen und vor allem um ihre Doppelrolle, die den Blick auf ihren Beruf zunehmend verändert, weitet und in eine andere Richtung lenkt. Die familiären Umstände treten dahinter allerdings etwas zurück.

Der Filmtitel „Becoming Giulia“ deutet deshalb bereits darauf hin, dass im weiteren Sinne ein Prozess des Reifens und Werdens im Mittelpunkt steht. Das Kind wecke in ihr ungeahnte Kräfte, sie fühle sich jetzt vollständiger, bemerkt die Porträtierte im Hinblick auf ihre künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, während sie zugleich aufmerksamer und sensibler wird für die Machtstrukturen und latenten Unterdrückungsmechanismen eines Metiers, das ein normales Privatleben kaum zulässt; und wenig Verständnis hat für die Probleme einer arbeitenden Mutter. Für Giulia spiegelt sich darin auch die unausgesprochene Einstellung der Gesellschaft. Ihr Kontakt zur Choreographin und Mutter Cathy Marston, deren erzählerischer Tanzansatz sich mit Giulias schauspielerischem Ausdrucksbedürfnis trifft, führt die Tänzerin in Gesprächen und durch die gemeinsame Arbeit am „Scharlachroten Buchstaben“ schließlich zu einem neuen künstlerischen Selbstverständnis. Dieses umfasst nicht nur ihre Loslösung von angestammten Rollenbildern, sondern auch eine veränderte Perspektive auf ihren Beruf und das klassische Ballett.

Stella. Ein Leben

(DE 2023, Regie: Kilian Riedhof)

Opfer und Täterin
von Wolfgang Nierlin

Stella Goldschlag (Paula Beer) ist jung und schön. Blond, blauäugig und lächelnd steht die 18-Jährige vor dem Spiegel, schminkt sich die Lippen und küsst kurz darauf ihr Spiegelbild. Stella ist …

Stella Goldschlag (Paula Beer) ist jung und schön. Blond, blauäugig und lächelnd steht die 18-Jährige vor dem Spiegel, schminkt sich die Lippen und küsst kurz darauf ihr Spiegelbild. Stella ist selbstverliebt und abenteuerlustig, ehrgeizig und ein bisschen bockig. Als Sängerin einer enthusiastisch swingenden Jazz-Combo will sie hoch hinaus. Übertrieben ausgelassen feiert sie mit ihren jungen Freunden einen ersten Erfolg. Dass sie außerdem aus einer jüdischen Familie stammt, die sich im Berlin des Jahres 1940 zunehmend sorgenvoll um eine Ausreisebewilligung bemüht, spielt für sie kaum eine Rolle. Nach einem Zeitsprung in den Winter 1943 arbeitet sie unter Zwang in einer grauen, trostlosen Rüstungsfabrik unter der ständigen Drohung, deportiert zu werden. Ihr Gesicht ist jetzt blass und ausgezehrt. Die Angst geht um. Und der Judenstern an ihrem Mantel kennzeichnet sie als Ausgestoßene.

Von Anfang an inszeniert Kilian Riedhof in seinem Film „Stella. Ein Leben“ harte, plakative Kontraste, die bewirken, dass das Dargestellte immer etwas größer und übertriebener erscheint als die Wirklichkeit, auf die sich der Film beruft. Denn tatsächlich basiert dieser auf historischen Tatsachen, wovon man allerdings kaum etwas bemerkt, da der Film mit hoher Beschleunigung durch die Szenen hastet. Im clip-ästhetischen Montage-Gewitter wechselnder Einstellungen und Perspektiven bleibt die erzählerische Stringenz leider auf der Strecke. Ein solches Verfahren produziert kaum mehr als Abziehbilder von Gefühlsklischees. So kollidiert in „Stella. Ein Leben“ der Anspruch auf Authentizität mit der künstlichen Reproduktion eines unechten Lebens. Wenn irgendwann später, im Bombenhagel von Berlin, Wagners (durch Coppolas „Apocalypse now“) filmgeschichtlich vorbelasteter „Ritt der Walküren ertönt, während Stella mit ihren „delinquenten“ Freunden anarchisch tanzt, gesellen sich zur Inhaltsleere solcher Inszenierung auch noch Missverständnisse.

Stella ist zu diesem Zeitpunkt bereits untergetaucht und führt zusammen mit dem überheblichen Verführer und leichtsinnigen Ausweisfälscher Rolf Isaaksohn (Jannis Niewöhner) ein klandestines Leben. Ihr Opportunismus, ablesbar an krummen Geschäften und ihrer Beziehung zu einem NS-Offizier, deutet sich hier bereits an. Als die beiden verraten und verhaftet werden, brechen sie unter dem Druck brutaler Folter schließlich zusammen und wechseln die Seiten. Um ihr Leben zu retten, wird Stella für die Gestapo zur eiskalten Denunziantin, die als sogenannte „Greiferin“ Juden verrät. Der Film zeigt in diesen Passagen eine höchst widersprüchliche Figur, die als Opfer zur Täterin wird. Zumindest nach außen hin scheint Stella, die 1957 vor Gericht steht, ein Unrechtsbewusstsein nicht zuzulassen. Doch andererseits, tief in ihrem Innern, so legt es Riedhofs Film nahe, leidet sie bis an ihr Lebensende unter verdrängen Schuldgefühlen.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Stella. Ein Leben“.

Baby to Go

(GB 2023, Regie: Sopie Barthes)

Schöne neue Kinderwelt
von Jürgen Kiontke

Die Frau der Zukunft muss nicht schwanger werden, wenn sie nicht will bzw. Geld hat. Rachel will nicht aus ihrem Social-Media-Job aussteigen, das Kind muss her, so what: Für alles …

Die Frau der Zukunft muss nicht schwanger werden, wenn sie nicht will bzw. Geld hat. Rachel will nicht aus ihrem Social-Media-Job aussteigen, das Kind muss her, so what: Für alles gibt es Lösungen.

Digitalisierung ist in dem Film „Baby to Go“, der in einer näheren Zukunft spielt, allgegenwärtig. So auch bei der Familienplanung. Eine findige Firma bietet einen Pod, ein digitales Ei, an, in dem das Kind, nach künstlicher Befruchtung, ausgebrütet wird. Gegen einen ordentlichen Aufpreis gibt es auch Chinesisch ins Babygehirn! Das Ei ist teuer und bleibt selbstverständlich im Besitz der Company. Aber zwei Wochen dürfen es die Eltern ausleihen.

Ein modisches Accessoire – das man auch locker mit zur Arbeit nehmen kann. Bis die Kollegen satthaben, im Türrahmen immer mit Rachels Brut-Ei zusammenzustoßen. Bleibt das Ei eben beim Ehemann. Alvy, Rachels Partner, ist als Botaniker noch nah dran an biologischen Prozessen. Er hätte sich dann doch eher eine natürliche Schwangerschaft gewünscht. Bis er feststellt, dass er das Kind beflüstern kann, ihm die Geheimnisse der und die Liebe zu den Pflanzen nahebringen kann.

Wie sich dieses Science-Fiction-Paar mit seinem Nachwuchs schlägt, ist eine facetten- und wendungsreiche Erzählung. Seine Umgebung ist trotz aller Sauberkeit und Glätte dystopisch. Die beiden leben in einem New York mit wenig Grün, Natur kommt nur noch im Museum vor. Die Menschen haben selbst einen sterilen Zugang zu sich selbst, Interaktion wird von Künstlicher Intelligenz bestimmt: Beim Kinderarzt oder beim Psychotherapeuten löst eine bunte Animation mit angenehmer Stimme deine Sorgen in Wohlgefallen auf.

Eine kluge filmische Reflexion – und ein Ausblick auf die Zeit, wenn ChatGPT das Kind erzieht.

Diese Kritik erschien zuerst am 09.01.2024 auf: links-bewegt.de

Olfas Töchter

(FR/TE/DE/SAU 2023, Regie: Kaouther Ben Hania)

Im therapeutischen Versuchslabor
von Wolfgang Nierlin

„Olfas Töchter“ sei eine „Reflexion über die Weitergabe von Traumata von der Mutter an die Töchter“ sowie ein Film über das Erwachsenwerden unter dem „Fluch des Patriarchats“, sagt die tunesische …

„Olfas Töchter“ sei eine „Reflexion über die Weitergabe von Traumata von der Mutter an die Töchter“ sowie ein Film über das Erwachsenwerden unter dem „Fluch des Patriarchats“, sagt die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania. Ihr semidokumentarischer, von fiktiven Elementen und Verfremdungseffekten durchwirkter Film widmet sich dem wahren Fall und tragischen Schicksal einer Mutter, die 2016 ihre beiden ältesten Töchter an den Islamischen Staat verliert. Ghofrane (geb. 1998) und Rahma (geb.1999) seien „vom Wolf verschlungen“ worden, heißt es zu Beginn, während die beiden jüngeren, nicht weniger beeinflussbaren Töchter Eya (geb. 2003) und Tayssir (geb. 2005) bei ihrer Mutter beziehungsweise in einem Kinderheim bleiben. Um das schmerzliche Geschehen zu erinnern und die Traumata der Vergangenheit zu bearbeiten, kreiert Kaouther Ben Hania mit reduziertem Setting ein „therapeutisches Labor“, das den Beteiligten ermöglicht, ihre Wunden zu zeigen und die Kette vererbter Traumata zu durchbrechen.

Dazu treffen in einem kammerspielartigen, bewusst künstlichen Rahmen die echten Beteiligten auf Schauspielerinnen, die die beiden abwesenden Schwestern sowie teilweise auch deren Mutter spielen. Neben dem Reenactment zentraler Ereignisse sprechen die Frauen aber auch über ihre Erlebnisse und die Anforderungen durch die jeweilige Rolle. Außerdem sieht man sie bei Proben und bei Schauspielübungen, während die Regisseurin ihrerseits immer wieder die Inszenierung sichtbar macht sowie die Bilder und Arrangements dezidiert kunstvoll und schön gestaltet. Diese Verfahren einer verfremdeten Nachinszenierung mit dokufiktionalen Elementen bewirkt zwar eine Distanz zu den Fallen einer klischeehaften Wahrheit; die Dominanz des formalen Konzepts verdrängt aber auch immer wieder den Inhalt.

Dieser thematisiert die Macht patriarchaler Gesellschaftsstrukturen bei gleichzeitiger Abwesenheit der Männer und Väter. Denn bald nach der Geburt ihrer Töchter ist Olfa eine alleinerziehende Mutter in ärmlichen Verhältnissen, die sich als Putzfrau durchschlägt und sich in einem Anflug romantischer Liebe mit einem entflohenen und zudem drogensüchtigen Strafgefangenen einlässt. Es ist die Zeit des Arabischen Frühlings, der den Sturz Ben Alis zur Folge hat, die persönlichen Freiheiten zu erweitern scheint, aber auch ein politisches und weltanschauliches Vakuum bewirkt.

Die Töchter erleben Missbrauch, treiben sich herum, vernachlässigen die Schule und geraten schließlich unter den Einfluss eines islamistischen Predigers. Viele Details ihres Abdriftens, das die beiden ältesten Schwestern schließlich nach Libyen und ins Gefängnis führt und die Mutter zu einer medialen Figur macht, bleiben unklar, weil Ben Hania mehr das Gefühls- und Seelenleben ihrer Heldinnen erforscht. Doch trotz aller Unwägbarkeiten und Widersprüche vermittelt der Film ein Bild weiblicher Stärke und familiären Zusammenhalts. Ob es den Figuren gelingt, ihre „innere Wahrheit“ zu finden und einer Wiederholung der Vergangenheit zu entgehen, bleibt zu hoffen, aber zugleich fraglich.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Olfas Töchter“.

Joan Baez – I am a Noise

(USA 2023, Regie: Karen O'Connor, Miri Navasky, Maeve O'Boyle)

Sie singt die Menschenrechte
von Jürgen Kiontke

Ein überaus informativer und interessanter Film über die Protestsong-Ikone Joan Baez ist „I am a Noise“. Er bietet einen sehr privaten Einblick in das Leben der nunmehr 82-jährigen Musikerin. Während …

Ein überaus informativer und interessanter Film über die Protestsong-Ikone Joan Baez ist „I am a Noise“. Er bietet einen sehr privaten Einblick in das Leben der nunmehr 82-jährigen Musikerin. Während verschiedener Alltagstätigkeiten wie dem Bügeln ihres Bühnen-Outfits und Singen mit dem Hund Baez erzählt die Sängerin von ihrem bewegten Leben. Ursprünglich, sagt sie, habe sie Tänzerin werden wollen; stieg aber stattdessen in jungen Jahren mit ihrer glockenhellen Stimme zur Ikone der Bürgerrechtsbewegung auf. Nicht zuletzt die Wiederentdeckung von Arbeiterliedern in einfachster Darbietung mit Akustikbegleitung führte zu ihrem schnellen Ruhm, Weltruhm.

Baez besitzt das seltene Talent, das Telefonbuch singen zu können und dennoch absolut unverwechselbar zu sein. Gepaart mit ihrem nimmermüden Engagement für die Menschenrechte war sie eine der Hauptfiguren der US-amerikanischen Antikriegsproteste seit den 1960er-Jahren. Sie setzte sich für inhaftierte Künstler ein, kämpfte gegen Rassismus, engagierte sich bei Amnesty International und gründete sogar die Sektion an der Westküste der USA.

Diese wichtigen Stationen in ihrem Leben lässt die Musikerin, die sich mit Yoga fit hält und mit ihrem Sohn auf nun kleineren Bühnen auftritt, im Gespräch mit den Regisseurinnen einfließen. Ihr nicht immer spannungsfreies Verhältnis zu Bob Dylan und anderen Kollegen, kriegt ein Sonderkapitel.

„I am a Noise“ ist ein interessanter Film über Musik und wie sie entsteht – am Beispiel einer besonderen Künstlerin, deren Stimme bis heute nicht nachgelassen hat.

Hier gibt es eine weitere Kritik zum Film.

Diese Kritik erschien zuerst am 28.12.2023 auf: links-bewegt.de

Die Giacomettis

(CH 2023, Regie: Susanna Fanzun)

Anders als die anderen
von Wolfgang Nierlin

Dieser Dokumentarfilm beginnt mit einer Spielszene: Mit geschlossenen Augen betastet und fühlt ein kleiner Junge das raue Gestein einer Felswand, bevor er mit einem Stöckchen Muster auf dem harten Boden …

Dieser Dokumentarfilm beginnt mit einer Spielszene: Mit geschlossenen Augen betastet und fühlt ein kleiner Junge das raue Gestein einer Felswand, bevor er mit einem Stöckchen Muster auf dem harten Boden zeichnet. Kurz darauf läuft er, förmlich beseelt, einen Abhang hinunter, über sattgrüne Wiesen und über die Brücke eines rauschenden Flusses. Eine malerische, von der Sonne beschienene Gebirgslandschaft dominiert das Bild. Dann sieht man den Jungen in einer dunklen Küche, wo die Mutter am Herd steht und kocht. Er deckt den Tisch, an dem sich später die Familie versammelt. Alles erscheint schön und wohlgeordnet in diesem Natur- und Familienidyll. Das Filmbild mit der zum Essen versammelten Familie wechselt schließlich zu einem Gemälde, das diese Szene zum Sujet hat.

Die enge Verbundenheit mit der umgebenden Landschaft des Bergell-Tals in Graubünden sowie der familiäre Zusammenhalt bilden in der Folge die maßgeblichen Motive in Susanna Fanzuns biographischem Film „Die Giacomettis“ über die berühmte Schweizer Künstlerfamilie. Immer wieder gibt es einen Abgleich der Kunstwerke mit ihren „Vorbildern“ beziehungsweise Inspirationsquellen. Die rätoromanische Filmemacherin, die bereits vor zwanzig Jahren Alberto Giacometti anlässlich seines 100. Geburtstages gewürdigt hat, meldet sich aber auch persönlich mit ihren eigenen Erfahrungen zu Wort. Die von Vater Giovanni Giacometti illustrierte Engadiner Märchensammlung „Parevlas Engiadinaisas“ gehört dabei ebenso zu ihren prägenden Eindrücken wie das Licht und die Luft derselben Berglandschaft.

Für ihre biographische Spurensuche in Archiven und Museen hat sich Susanna Fanzun aber auch mit Zeitzeugen, Weggefährten und Freunden der Giacomettis unterhalten. Für die einzelnen Portraits der durchweg künstlerisch begabten Familienmitglieder und ihr Verhältnis zueinander zitiert sie aber auch aus Briefen, zeigt Fotos, Gemälde, Skulpturen und rares historisches Filmmaterial. Neben dem Vater Giovanni, der seiner künstlerischen Berufung folgt und als Impressionist reüssiert, gilt Fanzuns Interesse vor allem dem erstgeborenen Sohn Alberto Giacometti (1901-1966), der schon als Kind „anders als die anderen“ ist. Inspiriert von den Kubisten und den Surrealisten um André Breton reift er in Paris mit seinen filigranen, langgestreckten Skulpturen zu einem der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Er habe Werke geschaffen, so Jean Genet, „die Tote beglücken“.

Unterstützt wird Alberto in seinem langjährigen Atelier in der Rue Hippolyte Maindron von seinem Bruder Diego, der Möbel und Dekor entwirft und gestaltet. In Streiflichtern wird aber auch das Leben der früh verstorbenen Schwester Ottilia und des Architekten Bruno Giacometti beleuchtet. Im geheimen Zentrum der „Giacomettis“ steht allerdings die Mutter Annetta Giacometti-Stampa, die als ruhender Pol die Familie zusammenhält und die Schritte ihrer Mitglieder bestimmt und sorgsam lenkt.

Joan Baez – I am a Noise

(USA 2023, Regie: Karen O'Connor, Miri Navasky, Maeve O'Boyle)

Heilungsprozess
von Wolfgang Nierlin

Worte des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel García Márquez stehen als Motto am Anfang des Films „Joan Baez – I am a Noise“: „Jeder hat drei Leben. Das öffentliche, das private und …

Worte des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel García Márquez stehen als Motto am Anfang des Films „Joan Baez – I am a Noise“: „Jeder hat drei Leben. Das öffentliche, das private und das geheime…“ In ihrem filmischen Portrait über die US-amerikanische Folksängerin und politische Aktivistin haben die Dokumentaristinnen Karen O’Connor, Miri Navasky und Maeve O’Boyle alle drei Aspekte in wechselnden Anteilen berücksichtigt. Trotzdem will ihr gemeinsamer Film „mehr eine Zeitreise als eine Biographie“ sein. Da Geschichte immer ein Konstrukt ist, das von persönlichen Erinnerungen gefärbt oder verzerrt wird, wie die Portraitierte selbst zu bedenken gibt, wirkt der Blick von außen für sie wie ein Korrektiv. Indem die Filmemacherinnen neben ausführlichen Gesprächen mit Joan Baez aber vor allem Dokumente aus deren umfangreichem Privatarchiv auswählen, was den Film sehr persönlich und intim macht, bleibt eine starke subjektive Note erhalten. Familienfilme und Fotos, Audio-Tapes von Therapiesitzungen und Reisen sowie Tagebuchnotizen, deren beigefügten Zeichnungen teilweise animiert werden, bilden dafür eine gewichtige und sprechende Grundlage.

In fließenden Übergängen ist diese biographische Erzählung verwoben mit Konzertaufnahmen von Joan Baez‘ Abschiedstournee aus dem Jahre 2019. Angesichts ihres Karriere-Endes reflektiert die berühmte Sängerin über ihr Leben als zunehmend weniger öffentliche Person, über das Alter und über ihre dunkler und rauer werdende Stimme, die sie unter Anleitung einer Gesangslehrerin trainiert. In ihrem großzügigen, von viel Grün und Bäumen umgebenen Anwesen im kalifornischen Woodside ertüchtigt die 80-Jährige aber auch ihre körperliche Fitness. Mit Blick auf ihr gewinnendes Wesen und ihre ruhige Ausgeglichenheit kann und mag man sich kaum vorstellen, dass die „Queen of Folk“ zeitlebens unter starken Stimmungsschwankungen, unter Ängsten und Panikattacken litt.

1941 als mittlere von drei Schwestern in einer Quäker-Familie geboren, die aus beruflichen Gründen des Vaters, eines Physikers, öfters umziehen musste, entwickelt Joan früh ein soziales Bewusstsein. Sie begegnet Armut, schärft den Blick für Ungleichheit und lernt den Wert der Freiheit kennen. Geradezu komentenhaft verläuft ihr Aufstieg als Folksängerin, die bereits mit 18 Jahren beim Newport Folk Festival reüssiert. Ihre erst glückliche („Er war alles für mich.“), dann unglückliche („Er hat mir das Herz gebrochen.“) Beziehung zum aufstrebenden und gleichaltrigen Bob Dylan bildet die markanteste von mehreren Affären, die immer wieder in Trennungen und Abstürzen münden. Sie sei nicht für Zweierbeziehungen geschaffen, sagt Baez einmal.

Ihre vitalisierende künstlerische Betätigung als Musikerin und ihr politisches Engagement, beispielsweise in der Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King, als Gegnerin des Vietnamkrieges und als Friedensaktivistin, sind für sie deshalb auch Rettungsanker in seelischen Krisen. Außerdem beginnt sie bereits früh mit einer viele Jahre andauernden Psychotherapie, aus der die Ahnung einer dunklen, von blinden Flecken besetzten Familiengeschichte aufsteigt und die zugleich einen Prozess der Heilung in Gang setzt.

Hier gibt es eine weitere Kritik zum Film.

Girl You Know It’s True

(DE 2023, Regie: Simon Verhoeven)

Wahre Popstars
von Jürgen Kiontke

Noch sind die beiden jungen Tänzer schüchtern. Ja, ein paar Jobs hatten sie, Einsätze bei Videodrehs, und ein bisschen singen können sie auch. Rob (Tijan Njie) hat es mit der …

Noch sind die beiden jungen Tänzer schüchtern. Ja, ein paar Jobs hatten sie, Einsätze bei Videodrehs, und ein bisschen singen können sie auch. Rob (Tijan Njie) hat es mit der Gruppe Wind sogar bis zum Grand Prix geschafft und ist dort ein wenig rumgehüpft, Fab (Elan Ben Ali) hat schon mehrere Tanzjobs in seinem Geburtsland Frankreich erledigt.

Eben noch standen sie fremdelnd am Hintereingang des Studios, nun träumen die Besties vom Big Business. Einig sind sie sich darüber, was eine internati­onale Popkarriere ausmacht: „Es sind die Haare“, philosophieren sie. Dann wischt die Kamera über drei Motive, die das verdeutlichen sollen: Plakate der Beatles (Pilzköpfe), Elvis (Tolle), Bob Marley (Rasta-Locken) und Robert Plant mit Jesus-Matte. Die Herren entscheiden sich für geflochtenes Haar und Piratenkopftuch.

Es sind solche flüchtigen Kleinigkeiten, die den Zuschauer des Films „Girl You Know It’s True“ im Kinosessel festhalten. Immer mal wieder nimmt sich Regisseur Simon Verhoeven eine Auszeit vom Hasten durch die frappierende Antikarriere der beiden jungen Männer, die als Popduo Milli Vanilli, bestehend aus Robert Pilatus und Fabrice Morvan, Ende der achtziger Jahre zu zweifelhaftem Ruhm gelangten.

Verhoeven erzählt die Ereignisse ihrer Karriere nach. Der Musikproduzent Frank Farian (Matthias Schweighöfer), ein begnadeter Performer tiefschwarzer Gesangsparts bis in die tiefsten Bässe hinein, aber vielleicht als weißer Provinzler nicht mit der richtigen Physiognomie ausgestattet, hat ein verblüffend gut funktionierendes Geschäftsmodell entwickelt: Er lädt Gesangsprofis für seinen Mix aus Philly-Sound und Disco ins Studio. Auf die Bühne stellt er jedoch Tänzer, die Playback singen. Bei der Formation Boney M. hat das bestens geklappt, der Tänzer Bobby Farrell brummt nicht selbst, es ist die Stimme Farians, die zu hören ist. Immerhin singen zwei Sängerinnen selbst.

© Leonine Distribution

Farian hat eine Weile als Koch gearbeitet und ist nach kurzer, aber erfolgreicher Gesangskarriere ins Produzentenlager gewechselt. Dabei wagt er Dinge, von denen er selbst weiß, dass er damit zu weit geht. Playback ist vielleicht noch bei Auftritten in Fernsehshows akzeptiert, aber als Dauerlösung? Auch mit der Urheberschaft nimmt Farian es nicht immer so genau. Das hat er sich von Elvis und anderen Stars abgeschaut. Im Rock werden traditionelle Blues-Weisen gecovert, was das Zeug hält. Bei Milli Vanilli legt Farian noch eins drauf. Die Gesangsproben sind nicht zufriedenstellend, die dünnen Stimmen der beiden werden deshalb von älteren Vollprofis im Studio ersetzt. Rob und Fab werden dazu verdammt, sich selbst zu imitieren. Der Song „Girl You Know It’s True“, Auskoppelung aus dem gleichnamigen Album von 1989, wurde ungefragt vom DJ-Team Numarx übernommen (wie viele andere Zeitzeugen haben Numarx Verhoeven beraten und auch die Musikrechte für den Film freigegeben).

Ende der achtziger Jahre geht die Musikbranche durch die Decke, die Genrevielfalt sprengt jedes Radioprogramm – man hört und feiert Madonna, Billy Ocean, Erasure, im Untergrund die Neubauten; demnächst Eurodance, Techno und Nirvana. MTV liefert die Bilder zum Sound, Musikfernsehen ist das neue Nachrichtenformat. Eine Szene im Film deu­tet es an: Da konkurriert der Golfkriegsbericht mit dem Musikvideo. Und über allem stehen Superstars wie Michael Jackson, dessen Manager sich für Milli Vanilli zu interessieren beginnt und Kanäle in die USA öffnet.

Milli Vanilli sind international erfolgreich, bald winkt den beiden ­sogar ein Grammy. Wie kommt’s? „People listen with their eyes“, vermuten die US-Plattenfirmenbosse, die sich nicht einig werden, was sie da zu hören kriegen. Ist es Soul? Disco? Irgendwas? Konsens ist: Rob und Fab sind das exotische Boy-Band-Angebot für junge weiße Frauen, da redet keiner groß drumrum. Die beiden bekommen Englischunterricht, damit sie in den USA zumindest Interviews geben können – und ein Gesangslehrer übt auch singen mit ihnen, wenn sie von den Drogen ausnahmsweise mal nicht hackedicht sind. Insbesondere Rob kommt mit dem Luxusleben in Los Angeles nicht so ganz klar. Die schmerzliche Vergangenheit des von deutschen Kleinbürgern adoptierten Sohns eines US-amerikanischen Soldaten und einer deutschen Tänzerin holt ihn ein. Ausbeutung ist scheiße, aber wenn sie mit viel Geld kompensiert wird, auch ganz nett. Im offenen Ferrari auf dem Hollywood Boulevard wehen die Haare besonders schön. Sie mögen Eintagsfliegen sein, aber sie fliegen erste Klasse; Betrug am Fan hin oder her. Rob Pilatus wird die Geschichte jedoch das Leben kosten, er kommt nie wieder von den Drogen los. Der Film soll auch ein Andenken an den 1998 Verstorbenen sein. Fab erweist sich als der Weisere der beiden, er hat schon begonnen, sich ein Leben außerhalb der Band aufzubauen.

© Leonine Distribution

Farian wird im Film von einem erfreulich humorlosen Matthias Schweighöfer dargestellt – der ist in seinen selbstgedrehten Filmen oft eine Zumutung, in eng konzipierten Rollen aber durchaus stark. In Verhoevens Film ist er eher eine Randfigur, aber in kongenialem Zusammenspiel mit seiner Assistentin und Bandnamensgeberin Milli (Bella Dayne). Im Zentrum stehen – im deutschen Kino wahrscheinlich ein Novum – die zwei People-of-Colour-Nichtsänger, die die Bandkarriere des Duos verkörpern.

Ob als bescheiden bezahlter Tänzer in der Münchner Disco „P1“ oder als schuldbewusst herumschleichender Ausbildungsabbrecher im Ein­zelhandel (Rob), ob als eher nachdenklicher Künstler, der die Musik ernst nehmen will (Fab), oder als Drogenkonsument und Opfer rassistischer Polizisten in den USA (beide): Die Kameraführung unterstreicht und fördert die Leinwandpräsenz der beiden, erzählt mit Nahaufnahmen der Gesichter zuweilen wortlos vom verrückten Aufstieg zweier überforderter Jungstars.

Der Schwindel fliegt durch eine banale technische Panne auf. Bei einem ihrer Auftritte bleibt die Platte im Refrain hängen. Nach der zehnten Wiederholung flüchten sie von der Bühne. Mit dem Popskandal haben Milli Vanilli das ganze schöne Konzept der Authentizität in der Kunst auf die Probe gestellt. Und es zeigt sich: Nur mit Fake geht es nicht, zumindest nicht in den USA. Nach entsprechenden Klagen muss den Plattenkäufern das Geld zurückerstattet werden. In Deutschland regen sich weit weniger Leute übers Playback-Singen auf. So what? Wer ist denn nun das Mutterland der Popmusik?

Es folgt, was noch in jedem Musikfilm seinen Platz hat: Absturz, Schadenersatzforderungen, (noch mehr) Drogen. So weit, so erwartbar. Dass die Geschichte dennoch gut rüberkommt, dafür sorgen die Darsteller Tijan Njie und Elan Ben Ali. Insbesondere Njie spielt seine ganz besonderen Filmerfahrungen aus. Jahrelang war er in der Soap „Alles was zählt“ zu sehen, bis er durch Formate wie „Let’s Dance“ tourte. Wahrscheinlich ist das ein gutes Training.

Auch die bedrückenden Szenen sind gelungen, etwa wenn Rob mit seiner Stiefmutter darüber debattiert, warum er seine Ausbildung nicht fortsetzt, oder mit seiner Stiefschwester spricht, die zur einzigen emotionalen Verbindung außerhalb der Popwelt geworden ist. Ganz ­besonders gelungen ist die Szene, in der sein falscher Vater enttarnt wird. Erzählt durch schnelle Überblendungen ist sie ein ebensolches Glanzstück der Regie wie die Geschichte mit den Haaren.

Verhoeven macht diese Episode der Popgeschichte – eine Tragödie wie auch eine Farce – dank der Bestbesetzung bis in die kleinste Nebenrolle zu einem einfallsreich erzählten Film, der zudem Rassismus wie Klassismus so geschickt thematisiert, dass seine Hauptfiguren nie zu Nebendarstellern werden. Ja, wahrscheinlich macht er daraus sogar gutes Kino.

Diese Kritik erschien zuerst in: Jungle World 51/2023

Im letzten Sommer

(FR 2023, Regie: Catherine Breillat)

Ekstatisches Fallen
von Wolfgang Nierlin

Anne (Léa Drucker) ist Anwältin und verteidigt minderjährige Missbrauchsopfer. Wenn sie zu Beginn von Catherine Breillats neuem Film „Im letzten Sommer“ („L’été dernier“), der als Remake der dänisch-schwedischen Produktion „Königin“ …

Anne (Léa Drucker) ist Anwältin und verteidigt minderjährige Missbrauchsopfer. Wenn sie zu Beginn von Catherine Breillats neuem Film „Im letzten Sommer“ („L’été dernier“), der als Remake der dänisch-schwedischen Produktion „Königin“ entstand, eine vergewaltigte, völlig traumatisierte Teenagerin befragt, zeigt ihr Gesicht Strenge und Entschlossenheit. Distanz und Empathie, Berufliches und Privates halten sich bei ihr die Waage. Die französische Regisseurin und ihre renommierte Kamerafrau Jeanne Lapoirie filmen die Gesichter frontal und in langen Naheinstellungen. Die attraktive, immer elegante Anne lebt mit Pierre (Olivier Rabourdin), einem gestressten Unternehmer und liebevollen Ehemann, auf einem großzügigen, idyllisch gelegenen Anwesen am Stadtrand von Paris. Da Anne, bedingt durch eine Abtreibung, keine Kinder bekommen kann, haben sie die Schwestern Angéla und Séréna adoptiert. Mit Théo (Samuel Kircher), Pierres jugendlichem Sohn aus einer früheren Beziehung, der bislang in Genf lebte, kommt bald ein neuer Mitbewohner hinzu.

Der hübsche und schon ziemlich selbstbewusste 17-Jährige ist ein schwieriger, aggressiver Junge, der sich der Integration in die Familie verweigert, gleichzeitig aber noch ganz kindlich mit den beiden kleinen Schwestern spielt. Als Anne entdeckt, dass Théo ins eigene Elternhaus eingebrochen ist und ihn damit konfrontiert, entsteht zwischen den beiden ein verschworenes Einvernehmen, aus dem bald mehr wird. Der Junge, der einmal prahlt, Gefühle seien nicht sein „Ding“, verliebt sich in seine Stiefmutter. Anne, in sexueller Hinsicht selbst ein gebranntes Kind, lässt sich wider besseres Wissen und gegen alle Vorsicht darauf ein. Wenn sich die beiden zum ersten Mal und sehr lange küssen, filmt Breillat das sehr nah und intim. Neben jugendlicher Unschuld und Selbstvergessenheit geht es der Filmemacherin auch in den folgenden Liebesszenen vor allem um ein Gefühl der Entgrenzung und um eine Ekstase, die die Liebenden in einem romantischen Sinn verwandelt.

Einmal spricht Anne, die ein bisschen zu viel trinkt, von ihrer Angst vor dem Verschwinden als von einer Versuchung, sich fallen zu lassen. In diesem lustvollen Fallen verklärt sich das sexuelle Begehren zur Erlösung. Der „kleine Tod“, ablesbar an den entrückten Blicken fahler Gesichter, wird zur transzendenten Erfahrung. Als Anne in ihrer Not vor Entdeckung die Beziehung abrupt beendet, rechnet sie zunächst nicht mit der Liebeskrankheit des jugendlichen Geliebten. Als dessen Besessenheit schließlich durchbricht, kommt es zu einer verstörenden Konfrontation der Beteiligten. Eingeführt als Vertreterin der Wahrheit, die „keine halben Sachen“ macht, wird Anne zur unerbittlichen, ja kaltblütigen Verteidigern der Familie; als könne nur eine wiederhergestellte Ordnung das Dilemma ihres ekstatischen Fallens aufhalten oder den Sturz abmildern.

Im toten Winkel

(DE 2023, Regie: Ayse Polat)

Geister der Vergangenheit
von Wolfgang Nierlin

Wenn zu Beginn des Films Figuren, die zunächst nur im Off zu hören sind, in die Unschärfe des Bildes treten, deutet sich mit der Irritation zugleich eine Doppelbödigkeit an. Offensichtlich …

Wenn zu Beginn des Films Figuren, die zunächst nur im Off zu hören sind, in die Unschärfe des Bildes treten, deutet sich mit der Irritation zugleich eine Doppelbödigkeit an. Offensichtlich wird gerade eine Szene für einen Dokumentarfilm eingerichtet, sodass im Folgenden nicht immer sofort klar zu unterscheiden ist, wo der objektive Film beginnt und der subjektive Film-im-Film aufhört. Ein weiterer, leicht versteckter Kamerablick, der sich zunächst nicht zuordnen lässt, kommt hinzu und macht die filmische Wahrnehmung noch komplizierter. Offensichtlich werden die Dreharbeiten des kleinen deutschen Filmteams im äußersten Nordosten der Türkei überwacht. Immer wieder taucht ein geheimnisvoller schwarzer SUV auf, während sich die Dokumentarfilmer und ihre kurdische Dolmetscherin in ein abgelegenes Dorf begeben, um eine Mutter über ihren 26 Jahre zuvor entführten und seither verschwundenen Sohn zu befragen. Deren Ritual, immer wieder die Lieblingssuppe des Verschwundenen zu kochen, drückt zugleich die stille, aber vermutlich vergebliche Hoffnung auf seine Rückkehr aus.

Wie die Traumata der Vergangenheit in der Gegenwart weiterwirken und die Erinnerung an das Erlittene ebenso schmerzlich wie tröstlich sein kann, wird durch die Geschichte dieser kurdischen Mutter vermittelt. In ihrem multiperspektivischen und sehr vielschichtigen Film „Im toten Winkel“ beschäftigt sich die deutsch-türkische Regisseurin Ayşe Polat diesmal aber vor allem auch mit einem blinden Fleck der türkischen Geschichte und jenen Tätern, die mitunter selbst zu Opfern werden. Im zweiten Kapitel des in drei Teile gegliederten Films begleiten wir nämlich die türkischen Geheimpolizisten Zafer (Ahmet Varlı) und Hasan (Mutallip Müjdeci) bei ihrer schmutzigen Überwachungsarbeit potentieller kurdischer Oppositioneller. Dabei schrecken sie weder vor Folter noch vor Mord zurück. Die tiefsitzenden, teils in Familien wurzelnden Strukturen ihres illegalen Tuns tragen mafiöse Züge und werden doch staatlich gedeckt. Als plötzlich der kurdische Menschenrechtsanwalt verschwindet, der den Dokumentarfilmern ein Interview geben wollte, spitzen sich die Ereignisse zu.

In seinem dritten Kapitel zeigt Ayşe Polats höchst spannender Paranoia-Thriller, der ständig die Perspektiven, Bildmedien und Formate zwischen Beobachtern und Beobachteten wechselt, wie sich das System der Überwachung selbst zerstört beziehungsweise seine Kinder frisst. Im toten, nicht einsehbaren Winkel einer verdrängten Geschichte wachsen die Geister der Unruhe. Der obsessive Observierer Zafer wird selbst überwacht. Und die bildlichen Beweise werden ihm zeitnah auf sein Handy zugespielt, worauf er zunehmend nervös und panisch reagiert. Schließlich aber ist es seine kleine Tochter Melek (Çağla Yurgo), die als Zeugin des Schreckens und als mysteriöse Seherin mit unheimlich durchdringendem Blick die verdrängten Traumata in die Gegenwart projiziert. Indem Polat die zeitlich parallelen Ereignisse, die zunächst fragmentarisch erscheinen, durch den Wechsel der Perspektiven verknüpft, wir das vom Filmtitel implizierte Unsichtbare immer deutlicher und erschreckender sichtbar. So wie die kurdische Mutter im Ritual das Andenken an ihren Sohn wachhält, richtet sich Polats filmische Erzählung eindringlich gegen das Vergessen.

Lola

(IE/FR 2023, Regie: Andrew Legge)

Ein anderer Weltkrieg
von Jürgen Kiontke

Erinnerst du dich an morgen? Die Schwester Thomasina und Martha alias Thom und Mars lieben David Bowies Ziggy-Stardust-Perfomance in den 1970er-Jahren, singen in der Badewanne laut dessen Hit „Major Tom“ …

Erinnerst du dich an morgen? Die Schwester Thomasina und Martha alias Thom und Mars lieben David Bowies Ziggy-Stardust-Perfomance in den 1970er-Jahren, singen in der Badewanne laut dessen Hit „Major Tom“ mit. Schön und gut. Die Sache ist aber die: Die beiden Schwestern leben im London des Jahres 1941, David Bowie gibt es – zumindest in der Form – noch gar nicht: Der Musiker wird erst 1947 geboren.

Wie kommt’s also? Der Vater der beiden, ein Erfinder, hat den in einem alten großen Haus wohnenden jungen, naturwissenschaftlich hochbegabten Frauen einen Apparat namens „Lola“ (nach dem Namen der Mutter) vermacht. Du stellst das Datum in der Zukunft ein und schon gibt es elektronische Übertragungen aller Art aus dieser Zeit zu hören und zu sehen. Wie das im Einzelnen vor sich geht, wird zwar immer mal erklärt, aber so genau muss man es auch nicht wissen; Schrödingers Katze geht es in Andrew Legges innovativem Schwarzweißfilm „Lola“ jedenfalls prima.

Der Blick in die Zukunft wird ernst, als sich das Militär einschaltet. Täglich fliegen die Deutschen Bombenangriffe auf Englands Hauptstadt, Thom und Mars warnen die Bevölkerung punktgenau, aber anonym, sie kennen den Kriegsfunk vom nächsten Tag. Die Schwestern werden entdeckt und treten in den Dienst der militärischen Abwehr und des Antifaschismus. Schon bald haben sie Erfolge – für die schnell mal andere gefeiert werden. Für Fehlentwicklungen dürfen sie dann aber wieder geradestehen. Denn leider hat der gute Wille unerwünschte Nebenwirkungen, verhindert man das eine Gräuel, entsteht womöglich ein anderes, noch größeres. Der Zweite Weltkrieg nimmt einen anderen Ausgang, den man mit Sicherheit nicht geplant hat…

Geschickt wird hier mit den Möglichkeiten einer unmöglichen Beeinflussung der Gegenwart durch den Blick in kommende Zeiten gespielt. Der Film, der deutlich optische Anleihen nimmt an Wochenschauen und wissenschaftskritischen Filmen der Vor- und Nachkriegszeit, ist mit 80 Minuten Dauer nicht nur recht kurz, sondern auch immens kurzweilig und stellt durchaus Kernfragen der politischen Philosophie: Wie viele Menschen darf man opfern, um eine noch größere Anzahl zu retten? Sind alle Mittel, über die man verfügt, einzusetzen? Dass das gut gemeinte Engagement ins krasseste Gegenteil kippt, gibt dem Film zudem eine tragische wie bissig-satirische Note. „Lola“ ist stilistisch und ironisch hochkomprimiertes Kino. Filmkunst.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Lola“.

Diese Kritik erschien zuerst am 13.12.2023 auf: links-bewegt.de

Little Fugitive – Der kleine Ausreißer

(USA 1953, Regie: Ruth Orkin, Morris Engel, Ray Ashley)

Kleine Fluchten, große Freuden
von Wolfgang Nierlin

Der kleine Joey (Richie Andrusco) sitzt mal wieder allein auf dem Gehweg vor den Backsteinhäusern des New Yorker Stadtteils Brooklyn und malt Pferde mit langen Mähnen. Eigentlich würde der 7-Jährige …

Der kleine Joey (Richie Andrusco) sitzt mal wieder allein auf dem Gehweg vor den Backsteinhäusern des New Yorker Stadtteils Brooklyn und malt Pferde mit langen Mähnen. Eigentlich würde der 7-Jährige gerne mit seinem älteren, gerade 12 Jahre alt gewordenen Bruder Lennie (Richard Brewster) und dessen Freunden Charly und Harry spielen, doch die Großen veräppeln den Kleinen, nehmen ihn in ihren Spielen nicht ernst oder schließen ihn aus. Joey trägt einen Revolvergürtel, liebt Pferde und wäre gerne ein Cowboy, während Lennie ein Baseballfan ist und immer seine Mundharmonika bei sich hat. Die beiden haben keinen Vater mehr. Und als ihre Mutter für zwei Tage die kranke Oma besuchen muss, sind sie plötzlich auf sich allein gestellt. Lennie sei jetzt der „Mann im Haus“ und habe die Verantwortung, sagt die Mutter (Winifred Cushing). Doch Lennie und seine Kumpels, die jetzt auf ihren geplanten Ausflug nach Coney Isalnd verzichten müssen, spielen aus lauter Übermut dem kleinen Joey einen üblen Streich.

„Little Fugitive – Der kleine Ausreißer“ ist ein ebenso origineller wie bezaubernder Kinderfilm des Schriftstellers Ray Ashley, des Kameramanns Morris Engel und der Fotografin Ruth Orkin aus dem Jahre 1953, der nach seiner Wiederentdeckung jetzt erneut in die Kinos kommt. Die in erlesenen Schwarzweißbildern, an Originalschauplätzen und mit Laiendarstellern gedrehte Independentproduktion, die das unabhängige Kino und die französische Nouvelle Vague inspiriert hat, folgt dem kleinen Helden bei seinen Abenteuern auf Coney Isalnd. Weil er fälschlicherweise glaubt, im hinterhältigen Spiel seinen Bruder erschossen zu haben, flieht er aus Angst vor der Polizei und mit Schuldgefühlen in den großen Vergnügungspark am Atlantik. Mutig und entschlossen sucht Joey seinen Spaß in den diversen Fahrgeschäften, entwickelt Ehrgeiz beim Büchsenwerfen und lernt von einem Gleichaltrigen, wie man durch das Sammeln von Pfandflaschen Geld fürs Ponyreiten verdient. Immer wieder zeigt sich der Junge erfinderisch und hartnäckig. Enttäuschungen und Rückschläge pariert er mit dem Glück kleiner Siege.

Sehr liebevoll und empathisch schildern die Filmemacher aus kindlicher Perspektive das Erleben des Jungen. Daneben blicken sie durch dessen Augen auf die Erwachsenenwelt und das sommerliche Strandleben. So besitzen viele Szenen, die fast ausnahmslos draußen spielen und nur wenige Dialoge benötigen, eine geradezu dokumentarische Anmutung. Das macht den Film fast nebenbei zu einem wichtigen Zeitbild. Durch wiederkehrende, genau gesetzte Motive, einen fantasievollen Plot, geschickte dramatische Zuspitzungen und eine teils raffende, augenzwinkernde Montage kreiert das Regie-Trio zugleich einen spannenden Spielfilm, dessen Ende natürlich sehr gewitzt und versöhnlich ist. Der Weg dorthin bietet allerdings für den unerschrockenen Joey viele lehrreiche Erfahrungen und für das Publikum außerdem visuelle Überraschungen.

Eileen

(USA 2023, Regie: William Oldroyd)

Die eigene Wahrheit annehmen
von Wolfgang Nierlin

Ein ungestilltes Verlangen nach Liebe, Zuneigung und Sex lastet auf der jungen Eileen Dunlop (Thomasin McKenzie). Heimlich beobachtet sie Liebespaare und befriedigt sich selbst. In der Jugendstrafanstalt Moorhead, wo sie …

Ein ungestilltes Verlangen nach Liebe, Zuneigung und Sex lastet auf der jungen Eileen Dunlop (Thomasin McKenzie). Heimlich beobachtet sie Liebespaare und befriedigt sich selbst. In der Jugendstrafanstalt Moorhead, wo sie als Mädchen für alles arbeitet, fantasiert die 24-Jährige vom Sex mit einem jungen Gefängniswärter. Diese Visionen und Tagträume, zu denen in der Folge auch Mord- und Selbstmordfantasien gehören, fließen übergangslos in die Handlung des realen Geschehens ein. Seit dem Tod der Mutter lebt Eileen mit ihrem trunksüchtigen Vater, einem arbeitslosen Ex-Cop, zusammen. Dieser lässt kein gutes Haar an seiner Tochter, demütigt sie immer wieder und prophezeit ihr gar, erst als Mörderin den Schritt in ein eigenes Leben zu finden. „Du bist einfach nur da“, sagt er mitleidlos, um Eileen die Belanglosigkeit ihrer Existenz vor Augen zu führen.

In William Oldroyds Film „Eileen“, einer Adaption von Ottessa Moshfeghs gleichnamigem Roman, sind die Gefängnisse allgegenwärtig. Die nasse Kälte eines farblosen Winters in einem Provinzkaff von Massachusetts sowie ein ebenso spießiges wie autoritäres zwischenmenschliches Klima im Neuengland der 1950er Jahre bestimmen Eileens Gefühl einer ausweglosen Enge und einer deprimierenden Perspektivlosigkeit. Das ändert sich, als die neue Gefängnispsychologin auf der Szene erscheint. Rebecca Saint John (Anne Hathaway) bringt Farben in die graue Eintönigkeit. Sie fährt einen roten Cadillac, ist blond wie Marilyn Monroe, trägt elegante Kostüme und bewegt sich wie ein Filmstar. Der Kontrast zur düsteren Gefängniswelt könnte nicht größer sein. Rebecca ist eine Erscheinung und ein Fremdkörper in einer lebensfeindlichen Umgebung: feminin, selbstbewusst, schlagfertig und unkonventionell. Eileen ist von ihr augenblicklich fasziniert und verliebt sich in sie.

Rebecca vermittelt der Jüngeren ein Gefühl von Freiheit und Geborgenheit. Auch als promovierte Psychologin arbeitet sie gegen autoritäre Engstirnigkeit und den Muff überkommener Traditionen. Einmal sagt sie zu Eileen, man müsse die Menschen dazu befreien, ihre eigene Wahrheit anzunehmen. Bis hierher erzählt William Oldroyd sorgsam und genau eine abgründige Coming-of-Age-Geschichte über eine junge Frau auf ihrem Weg in die Selbständigkeit. Rebecca fungiert gewissermaßen als Katalysator für diesen Aufbruch. Die etwas abrupte und auch unglaubwürdige Wendung zum Psychothriller gegen Ende des Films hätte es dafür nicht gebraucht. Zwar spitzt dieser unvermittelte Plot-Twist die dunklen Aspekte einer tendenziell lebensfeindlichen und übergriffigen Umwelt zu und führt Eileens vorherige Gewaltfantasien zu einem schlüssigen und befreienden Ende; er nimmt den Figuren – besonders Rebeccca – aber auch ihre Glaubwürdigkeit und Aura.

Munch

(NO 2023, Regie: Henrik Martin Dahlsbakken)

Malen am Rande des Abgrunds
von Wolfgang Nierlin

Die Exposition mit den wechselnden Portraits, auf denen die Dargestellten nachdenklich in sich selbst zu blicken scheinen, verweist bereits auf die fragmentarische Struktur dieses Films. Henrik Martin Dahlsbakken erzählt sein …

Die Exposition mit den wechselnden Portraits, auf denen die Dargestellten nachdenklich in sich selbst zu blicken scheinen, verweist bereits auf die fragmentarische Struktur dieses Films. Henrik Martin Dahlsbakken erzählt sein Biopic über den norwegischen Maler Edvard Munch (1863-1944) in vier Episoden, die sich vier klar umrissenen Lebensabschnitten, mithin Ereignissen in der Biografie des bedeutenden Expressionisten widmen. Diese sind wiederum motivisch miteinander verwoben und erhellen sich so in der wechselseitigen Spiegelung gegenseitig. Für die Darstellung dieser vier Lebensalter hat der norwegische Regisseur entsprechend drei verschiedene Schauspieler und eine Schauspielerin engagiert. Außerdem hat er jede der Episoden, die jeweils in sich verdichtet und abgeschlossen sind, stilistisch anders gestaltet sowie durch grafische und dokumentarische Elemente das Spielfilmformat erweitert.

Im Mittelpunkt von Dahlsbakkens Interesse steht der Zusammenhang von Munchs krisenhaften Erfahrungen und deren kreativem Niederschlag in seiner Kunst. Familiäre Hintergründe und biografische Details werden dabei nur angedeutet oder aber vorausgesetzt. Auch die malerische Arbeit selbst bleibt bewusst unterbelichtet. Stattdessen fokussiert der Film auf Ereignisse, die den Maler „an den Rand des Abgrunds“ führen, wie es einmal heißt. Diese existentielle Konfrontation versteht der innerlich zerrissene Künstler zugleich als seine Berufung. Sein Malen, das diesen tiefsitzenden Kummer angesichts von Krankheit, Leiden und Tod zum Ausdruck bringt, wird ihm zum eigentlichen Sinn. Und seine Kunst ist das Mittel, um – so sein Psychiater über das Kennzeichen des Genies – sein seelisches Ungleichgewicht zu erkunden. Beim Malen fühle er sich vollständig.

Diese Einblicke in sein Seelenleben gewährt der 45-jährige Munch (Ola G. Furuseth) dem Psychiater Daniel Jacobson, der sich mit der „Anatomie des Genies“ beschäftigt. Nach einem psychischen Zusammenbruch, nicht zuletzt durch massiven Alkoholkonsum verursacht, wird der Künstler 1908 in dessen Kopenhagener Klinik eingewiesen. Das Bild ist jetzt schwarzweiß, quadratisch und eng, die Perspektiven sind verschoben, die Welt verkehrt. Munch sagt: „Meine Seele besteht aus zwei Wildvögeln, die in verschiedene Richtungen zerren.“

Zuvor hatte er sich als junger Mann in der luftigen, farbigen, fast schwebend inszenierten Sommerfrische unglücklich in die verheiratete Milly Thaulow verliebt, sich zur Melancholie bekannt und eine heftige Gefühlskrise erlebt. In der frei und unkonventionell gestalteten Berlin-Episode des Jahres 1892, die allerdings in der Gegenwart spielt, nimmt seine Verzweiflung noch zu, als seine geplante Ausstellung abgesagt und er für seine Kunst angefeindet wird. In einer intensiven Rede am Rande eines Discobesuchs verteidigt er seine Kunst als lebendigen Ausdruck gegen alle Sicherheit, gegen Stabilität und Konformismus. Die Rahmenhandlung zeigt ihn schließlich (gespielt von Anne Krigsvoll) als alten, einsamen Mann inmitten seiner unzähligen und, so Munch, unvollendeten Werke, wie er sich gegen die Nazis verwahrt und sich an den frühen Verlust geliebter Familienmitglieder erinnert: „Mein Blut ist versetzt mit Krankheit und Angst.“

Lola

(IE/FR 2023, Regie: Andrew Legge)

Alternative Wirklichkeiten
von Wolfgang Nierlin

Die Bilder sind schwarzweiß, verregnet und grobkörnig. Angeblich wurde der 16mm-Film, der wohl im Jahre 1941 entstand, erst vor kurzem im Keller eines Landhauses der Grafschaft Sussex gefunden. Zusammengesetzt aus …

Die Bilder sind schwarzweiß, verregnet und grobkörnig. Angeblich wurde der 16mm-Film, der wohl im Jahre 1941 entstand, erst vor kurzem im Keller eines Landhauses der Grafschaft Sussex gefunden. Zusammengesetzt aus privaten Filmaufnahmen und historischen Dokumenten, könnte man meinen, es handle sich um Found-Footage-Material, das die Off-Erzählerin an eine gewisse Thom adressiert. Tatsächlich sehen wir aber eine phantasievolle Mockumentary über eine alternative Geschichtsschreibung. Martha „Mars“ Hanbury (Stefanie Martini), aus deren Perspektive der Film hauptsächlich gedreht ist, hat das Material für ihre Schwester Thomasina „Thom“ (Emma Appleton) montiert, um die Geschichte, von der sie im Folgenden erzählt, rückgängig zu machen. Die Kunst, als überaus trick- und erfindungsreiche Kreation verstanden, soll also einmal mehr das Leben retten.

Ende der 1930er Jahre leben die beiden verwaisten Hanbury-Schwestern auf ihrem idyllischen Landsitz und basteln mit kreativem Eifer an einem Apparat, der Funk- und Fernsehwellen aus der Zukunft empfangen soll, wovon sie sich „magische Möglichkeiten“, aber auch eine neue Einnahmequelle erhoffen. Die beiden jungen Frauen sind schön, überaus selbstbewusst und emanzipiert. Während die burschikose Thom die wissenschaftliche Seite des Projekts vertritt, möchte die romantisch veranlagte Mars „die Schönheit der Welt offenbaren“. Als das Experiment schließlich gelingt, flimmert ausgerechnet David Bowie mit seinem Hit „Space Oddity“ über den Bildschirm. Auf den Namen „Lola“ getauft, wird die Maschine im 2. Weltkrieg aber zugleich zur militärischen Waffe, die als Frühwarnsystem hilft, Menschenleben zu retten. Bald darauf wird „der Engel von Portobello“ (so ihre Kennzeichnung in den Wochenschauen) vom Geheimdienstagenten Holloway (Rory Fleck Byrne) enttarnt und für die Spionage eingespannt.

Die Idee, Zukünftiges vorauszusehen, um die Gegenwart zu beeinflussen, ist nicht ganz neu. In Andrew Legges originellem, ästhetisch reizvollem Film „Lola“ dient sie unter anderem der Frage, ob die Zukunft vielleicht nur eine Fiktion ist, die sich manipulieren und in eine andere Wirklichkeit überführen lässt. Der irische Regisseur spielt mit den Paradoxien der Zeit, wenn er Martha sagen lässt: „Erinnere dich an morgen.“ Oder: „Die Zukunft ist eine dunkle Erinnerung.“ In der Realität der beiden Schwestern, die durch die Anwesenheit des in Martha verliebten Holloway bald bohèmehafte Züge annimmt, spitzen sich die Ereignisse nach einem „Fehler“ allerdings auf turbulente Weise zu. Andrew Legge interessiert sich dabei aber weniger für erzählerische Stringenz oder gar politische Implikationen. Sein Film, gedreht mit alten Objektiven, ist vielmehr ein eher unterkühltes künstliches Spiel mit den spekulativen Möglichkeiten des Mediums. Alles, was echt sein könnte, also Menschen, ihre Gefühle und dramatischen Verwicklungen, fügt sich in diesem Konzeptfilm zu einem ebenso schönen wie folgenlosen Arrangement.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Lola“.

Holy Shit

(DE 2023, Regie: Rubén Abruña)

Goldgrube
von Jürgen Kiontke

Einen überaus flotten Dokumentarfilm hat Regisseur Rubén Abruña mit „Holy Shit“ herausgebracht. Der Stoff ist im wahrsten Sinne warm: Es geht um menschliche Fäkalien und ihre mögliche und praktische Verwendung …

Einen überaus flotten Dokumentarfilm hat Regisseur Rubén Abruña mit „Holy Shit“ herausgebracht. Der Stoff ist im wahrsten Sinne warm: Es geht um menschliche Fäkalien und ihre mögliche und praktische Verwendung bei der Nahrungsmittel- bzw. Stromproduktion. Die Kläranlagen, so Abruña und die von ihm befragten Experten rund um den Globus, seien mit Exkrementen heutzutage reichlich überfordert. Der Trick: Wasserklosetts abschaffen, Trockentoiletten einführen.

Biologische Rückstände werden heute in die Flüsse und Meere gespült, wo sie für fleißig Algenwachstum und Schwermetallablagerungen sorgen. Die Folge: immer mehr Todeszonen in den Ozeanen, in denen gar nichts mehr lebt. Das Zeug sammeln, Sägespäne drauf und kompostieren ist hingegen der Clou. Innerhalb von vier Wochen wird mit reichlich Einsatz hart arbeitender Regenwürmer hervorragender Humus produziert, der sich auf den Feldern gut macht. Oder man düngt gleich die Felder mit dem Menschenkot. Schadstoffe sind auf diese Weise Fehlanzeige.

Abruña porträtiert die „Poop Pirates“ in Uganda, die mit ihrer Aufklärungsarbeit („So macht ihr aus Scheiße Gold“) den Menschen beibringen, wie sie Fäkalien in Dünger verwandeln. Das mache aus der Klotonne eine Goldgrube – und Afrika zum Zentrum des Getreideanbaus, da sind sich die Piraten sicher.

Im ländlichen Schweden besucht der Filmemacher jenen Ingenieur, der schon vor Jahrzehnten die Trockentoilette erfand, die aus Urin Dünger herstellt. Sie ist zumindest auf einigen Autobahnraststätten im Einsatz. In Hamburg und Genf erklären ihm die Genossen kommunaler Wohngruppen ihre dezentralen Kläranlagen, die autonom und ohne Anschluss an die Kanalisation arbeiten und Strom für die Heizung liefern.

„Holy Shit“ ist eine abwechslungsreiche, informative und manchmal vielleicht auch eine euphorische Umwelterzählung. Und im Wesen grundsätzlich revolutionär: Die Interviewpartner erklären durchaus öfters, wie sie mit den Interessen der Manager herkömmlicher Abwasserentsorgung zu kämpfen haben – oder sogar aus Forschungseinrichtungen geflogen sind.

Beim diesjährigen NaturfilmFestival machte „Holy Shit“ sowohl den ersten Platz für den besten Film als auch die Publikumsauszeichnung klar. Aus der Jury-Begründung: „Man ahnt, wie viel Zeit in die Recherche geflossen ist. Wie schmal der Grat war, zwischen dem heiteren Ton, den der Film gefunden hat – und billigen Witzchen, die sich anböten. Aber das allein ist es nicht. Es sind auch die Menschen, denen wir begegnen, die den Film so unfassbar gut machen. Männer und Frauen, die mutig und frei von Konventionen forschen und handeln.“ Sie eine die Vision, aus vermeintlichem Dreck das Beste an und für die Erde herauszuholen. Ihre Begeisterung steckt an.

Diese Kritik erschien zuerst am 30.11.2023 auf: links-bewegt.de

Wie wilde Tiere

(FR/ES 2022, Regie: Rodrigo Sorogoyen)

Unmöglicher Sehnsuchtsort
von Wolfgang Nierlin

„Damit sie in Freiheit leben können, fesseln die Aloitadores die Bestas mit ihren Körpern, um sie zu scheren und zu markieren“, steht als Motto über dem Film. Gemeint sind jene …

„Damit sie in Freiheit leben können, fesseln die Aloitadores die Bestas mit ihren Körpern, um sie zu scheren und zu markieren“, steht als Motto über dem Film. Gemeint sind jene galicischen Kämpfer, die alljährlich beim traditionellen Fest „Rapa das bestas“ wilde Pferde aus den Bergen in die Dörfer treiben, um sie dort zu scheren und mit einem Zeichen zu versehen. Die mutigen Männer stürzen sich dabei mit ihrer puren Körperkraft auf die Tiere, um sie in einer Mischung aus Kampf und Umarmung niederzuringen. Der spanische Regisseur Rodrigo Sorogoyen zeigt zu Beginn seines beeindruckenden Films „Wie wilde Tiere“ diesen gefährlichen Brauch in Zeitlupe. Die Kraft der Körper im fast ausgeglichenen Kampf mit den Pferden wird durch diese Überhöhung zum ästhetischen Ereignis. Zugleich ist damit ein Motiv gesetzt, das in einer späteren Szene des Films in pervertierter Form wiederkehrt. Allerdings ist dann nicht mehr die Freiheit, sondern deren Auslöschung das Ziel.

„Wie wilde Tiere“ beginnt wie ein Western. In der Kneipe eines entlegenen galicischen Bergdorfes gleitet die Kamera in gemessenen Bewegungen durch das verrauchte Halbdunkel zwischen den gegerbten Gesichtern der Domino spielenden Männer. Es wird hitzig diskutiert und gestichelt. Spannungen liegen in der dunstigen Luft. Der einheimische Wortführer Xan (Luis Zahera) hetzt gegen Antoine (Denis Ménochet), der als Franzose als Außenseiter und Fremder gilt. Zusammen mit seiner Frau Olga (Marina Foïs) ist er in die Gegend gezogen, damit sie sich auf einem alten Gehöft ihren Traum von einem einfachen, naturverbundenen Leben erfüllen können. Mit alternativem Landbau und der Renovierung baufälliger Häuser wollen sie die von starker Abwanderung betroffene Region wieder aufwerten. Doch die alteingesessenen Dörfler hoffen auf einen Park mit Windrädern, der ihnen durch den Verkauf von Grundstücken eine neue Perspektive eröffnen soll.

Darüber kommt es zum ebenso unerbittlichen wie unversöhnlichen Streit, wobei sich der Western allmählich zu einem bedrohlichen Psychothriller wandelt. In äußerst spannenden und intensiven Rededuellen prallen die Gegensätze und Interessen aufeinander. Während sich Xan und sein Bruder Lorenzo (Diego Anido) auf ihre ererbten Rechte als Einheimische berufen und ihr existentielles Überleben davon abhängig machen, verteidigt Antoine die Werte und Ideale seines Aussteigertraums. Paradoxerweise schützt er mit diesem jene Traditionen, die die Dörfler bereit sind, selbstvergessen aufzugeben. Den sich gewalttätig zuspitzenden Konflikt, für den es weder eine Lösung noch eine Annäherung gibt, kontrastiert Rodrigo Sorogoyen mit poetischen Momenten einer magischen Naturbetrachtung: Mit ausgedehnten Waldspaziergängen des bedrohten Protagonisten, seinen Blicken in stille Täler, einem Bad im kalten Gebirgsfluss oder der verzauberten Begegnung mit einer Gruppe von wilden Pferden. Die Natur wird in diesen Szenen zu einem nahen und zugleich fernen, vielleicht sogar unmöglichen Sehnsuchtsort.

Die Sirene

(FR/DE/LU/BE 2023, Regie: Sepideh Farsi)

Arche des Friedens
von Wolfgang Nierlin

Von einem Augenblick auf den anderen verfinstert sich der strahlend blaue Himmel über der südiranischen Hafenstadt Abadan. Omid und seine Freunde spielen gerade Fußball, als im Hintergrund des Bildes heftige …

Von einem Augenblick auf den anderen verfinstert sich der strahlend blaue Himmel über der südiranischen Hafenstadt Abadan. Omid und seine Freunde spielen gerade Fußball, als im Hintergrund des Bildes heftige Explosionen Tod und Zerstörung bringen. Feuer, Rauch und Staubsäulen legen sich über die matten, sandigen Sommerfarben der von Palmen gesäumten Ölstadt am Schatt al-Arab. Im September 1980 beschießt der Irak sein Nachbarland, was zu einem acht Jahre andauernden Krieg mit Tausenden von Toten führen wird. Iranische Freiwillige eilen zur Front. Unter ihnen ist auch Omids älterer Bruder Abed. Während die Mutter des Teenagers mit den kleineren Kindern überhastet die Stadt verlässt, bleibt Omid bei seinem eigensinnigen Großvater Baba Saleh auf dem idyllischen, so friedlich anmutenden Familienanwesen mit dem Palmenhain. Er kümmert sich um seinen Kampfhahn Shir Khân und repariert das Motorrad seines verstorbenen Vaters, der einst zur See gefahren ist. Als sein Freund Farshid im Bombenhagel mit dem Auto verunglückt und schwer verletzt wird, übernimmt Omid dessen Lieferservice.

Inmitten von zunehmender Zerstörung und Chaos schildert Sepideh Farsi in ihrem beeindruckenden Animationsfilm „Die Sirene“ den Überlebenskampf ihres jugendlichen Helden und die Leiden der Zivilbevölkerung. Die Drastik des Krieges und die Absurditäten, die er mit sich bringt, stehen dabei in einem merkwürdigen Kontrast zum illusionslosen Gleichmut der Menschen, denen Omid beim Ausliefern begegnet und die unerschütterlich bestrebt sind, an ihrem gewohnten Leben festzuhalten. Auf seinen Fahrten lernt der Motorradkurier unter anderen die gleichaltrige Pari und ihre Mutter Elaheh kennen, eine berühmte Sängerin mit Berufsverbot, die als „Nachtigall des Morgenlandes“ über Grenzen hinweg einen legendären Ruf genießt. Außerdem trifft Omid auf die Priester einer armenischen Kirche, auf einen griechischen Fotografen und auf einen Katzen liebenden Ingenieur. Sie alle führen mehr oder weniger ein geheimes Leben in ihren selbst geschaffenen Refugien.

Der autobiographisch inspirierte Film, dessen orientalisch-märchenhafte Farbigkeit immer wieder von den Verwüstungen der Detonationen verdunkelt wird, überrascht durch dynamische Perspektivwechsel, die dem inneren Stillstand der Figuren eine äußere Dramatik entgegensetzen. Aufgrund der wiederkehrenden Stationen von Omids rasanten Fahrten durch die Stadt ist „Die Sirene“ auch eine Art Roadmovie, gezeichnet in klaren Linien und in großen Kinobildern fotografiert. Als sich die Belagerung der Stadt zuspitzt, beschließt Omid, das alte, reparaturbedürftige Frachtschiff seines Vaters flottzumachen, um sich und seine neuen Freunde zu retten. Bis diese Arche des Friedens schließlich ablegen kann, sind allerdings noch einige Hindernisse zu überwinden. Sepideh Farsi zeigt die Solidarität und den Zusammenhalt derjenigen, die die Hoffnung nicht aufgeben und die bereit sind, auch über kulturelle Grenzen hinweg einander zu helfen; und die schließlich doch noch den Mut fassen, ihr altes, vom Krieg gestohlenes Leben zurückzulassen, um zu neuen Ufern aufzubrechen.

Priscilla

(USA/IT 2023, Regie: Sofia Coppola)

Gefangen im süßen Nichts
von Wolfgang Nierlin

Als Priscilla Beaulieu (Cailee Spaeny) 1959 im hessischen Bad Nauheim den zehn Jahre älteren Elvis Presley kennenlernt, ist sie 14 Jahre alt und entsprechend schüchtern und zurückhaltend. Ihr auf Etikette …

Als Priscilla Beaulieu (Cailee Spaeny) 1959 im hessischen Bad Nauheim den zehn Jahre älteren Elvis Presley kennenlernt, ist sie 14 Jahre alt und entsprechend schüchtern und zurückhaltend. Ihr auf Etikette achtender Vater dient als Offizier in der US-Armee und Elvis, der in den Staaten bereits ein Rock ’n‘ Roll-Star ist, leistet seinen Militärdienst ab. Der hochgewachsene Musiker und das kleine Schulmädchen bilden auch äußerlich einen Kontrast. Bei einer Party singt Elivs, sich selbst am Klavier begleitend, „Heartbreak Hotel“ und Priscilla himmelt ihn an. Überraschend nahbar, witzig und sympathisch, hat der Star in intimen Momenten zugleich eine nachdenkliche, fast kindlich scheue Art. Er leidet unter dem Tod seiner Mutter und hat wie Priscilla starkes Heimweh. Seine Vorstellung einer romantischen Liebe wird offensichtlich von einem Mutter-Komplex bestimmt und hat sowohl eine besitzergreifende als auch eine schutzbedürftige Seite. Mit seiner neuen Freundin besucht er schließlich den Bogart-Film „Beat the devil“ („Schach dem Teufel“) von John Huston.

Sofia Coppolas Film „Priscilla“ nimmt allerdings einen Perspektivwechsel vor und stellt ihre Titelheldin ins Zentrum. Dieses Interesse fügt sich nahtlos in ihr bisheriges Oeuvre ein, das von mehr oder weniger gefangenen Mädchen und Frauen handelt. Doch noch oder gerade die physische und thematische Abwesenheit des Stars erzeugt Reflexe und determiniert das Leben der Heldin. „Bleib wie du bist“, lautet einer von Elvis‘ Abschiedssätzen, der Priscilla auf ein „braves“, weitgehend höriges und folgsames „Mädchen“ reduziert. Als die junge, noch schulpflichtige Frau 1961 mit einer mühsam ihren Eltern abgerungenen Erlaubnis schließlich zu Elvis nach Memphis in Tennessee ziehen darf, wo der Superstar auf seinem Anwesen Graceland mit seiner Entourage einen hedonistischen Lebensstil pflegt, prallen Welten aufeinander. Priscilla landet geradewegs in einem goldenen Käfig. Als schönes Accessoire einer scheinbar heilen Welt, überdies von ihrem väterlichen Gebieter modelliert und eingekleidet, muss sie ihre Bedürfnisse, ja ihre Persönlichkeit zurückstellen. Für ihren zunehmend aggressiver werdenden Freund gibt es nur ein Entweder-oder.

Der Film beginnt mit einer Großaufnahme von Priscillas nackten Füßen, die in einem tiefen, flauschigen Teppich versinken, mit rot lackierten Nägeln, Lippenstift und falschen Wimpern. Die Signale angeblicher Weiblichkeit und ihre erhoffte Wirkmacht scheinen tief verwurzelt im Bewusstsein jener auf Äußerlichkeiten konditionierten Frauen, zu deren von Männern geformtem Glück offensichtlich nur noch ein paar Klunker und ein bisschen Glitzer nötig sind. Priscilla ist eingesperrt in einem süßen Nichts aus Konsum und Langeweile. „Du hast doch alles, was eine Frau sich wünscht“, sagt Elvis einmal zu ihr. Dabei hat sie fast nichts, was ihr „ein eigenes Leben“ jenseits unterdrückter Gefühle und verleugneter Bedürfnisse erlauben würde. Bis die junge Frau, mittlerweile verheiratet und Mutter einer kleinen Tochter, doch noch den Aus- und Aufbruch wagt.

Perfect Days

(JP 2023, Regie: Wim Wenders)

Poesie des Alltäglichen
von Wolfgang Nierlin

Mit der dunkel leuchtenden Morgendämmerung über der Skyline von Tokio beginnt auch für Hirayama (Kōji Yakusho) der Tag. Wie immer faltet er seinen Futon zusammen, verrichtet seine Morgentoilette, benetzt sorgsam …

Mit der dunkel leuchtenden Morgendämmerung über der Skyline von Tokio beginnt auch für Hirayama (Kōji Yakusho) der Tag. Wie immer faltet er seinen Futon zusammen, verrichtet seine Morgentoilette, benetzt sorgsam seine Pflanzen, verlässt seine baufällige Behausung abseits in einem Hinterhof und macht sich in einem Kleinbus auf den Weg zur Arbeit. Hirayamas klar strukturierten Tage ähneln sich. Die Abläufe sind minutiös und akribisch eingeübt. Alles hat seinen Platz und seine Ordnung. Selbst die alten Rocksongs von Lou Reed, den Animals, Otis Redding oder auch Van Morrison, die ihn, von Audiokassetten abgespielt, auf seinen Fahrten begleiten, scheinen einer gewohnten Dramaturgie zu folgen. Hirayama ist ein schon älterer, offensichtlich alleinstehender und sehr schweigsamer Mann, der mit präzisen Handgriffen, genau und gewissenhaft öffentliche Toilettenanlagen reinigt. Dabei scheint er in sich selbst zu ruhen. Diskret und hilfsbereit agiert er fast unbemerkt am Rande der Gesellschaft. Selbst gegenüber seinem jungen, wenig zuverlässigen Mitarbeiter Takashi (Tokio Emoto) reagiert er mit Milde und Nachsicht.

Mit dem eigenbrötlerischen Helden aus seinem neuen Film „Perfect Days“ scheint Wim Wenders an Figuren und Motive seines Frühwerks anzuknüpfen. Dazu passt auch, dass Hirayama nicht nur gerne Rockmusik der 1960er- und 70er-Jahre hört, sondern antiquarisch erworbene Bücher – etwa von William Faulkner und Patricia Highsmith – liest. Außerdem fotografiert er bei seinen Mittagspausen in einem lauschigen Park das Licht- und Schattenspiel in den Baumkronen, wovon er dann nachts in Schwarzweiß träumt. Sein Sinn für Schönheit und für die Poesie des Alltäglichen abseits der lauten, digitalen Welt, seine Zurückgezogenheit und Milde machen ihn zu einem Geistesverwandten des dichtenden Busfahrers in Jim Jarmuschs Film „Paterson“. Nach Feierabend sucht er dann eine Badeanstalt auf und geht anschließend in einer Geschäftspassage essen. Mit den Fahrten durch die Stadt, den Streiflichtern auf Architektur und Natur weckt Wenders wiederum Erinnerungen an seine Roadmovies.

Mehrere Ereignisse durchbrechen Hirayamas tägliche Routine und vermitteln eine Ahnung davon, dass es in seinem Leben möglicherweise einen gravierenden Bruch oder Einschnitt gegeben haben muss. Verstohlene Blicke im Park, der Austausch kleiner Zettelbotschaften in einer der Toilettenanlagen sowie der Liebeskummer seines Mitarbeiters rütteln an Hirayamas Gewohnheiten. Als eines Tages jedoch völlig unerwartet seine jugendliche Nichte Niko (Arisa Nakano), die von zu Hause ausgerissen ist, vor der Tür steht, werden seine unterdrückten väterlichen Gefühle geweckt. Hirayama, der sich jetzt rücksichtsvoll kurzzeitig um das Mädchen kümmert, hat wohl selbst kein gutes Verhältnis zu seinem Vater und seiner offensichtlich wohlhabenden Familie. „Auf dieser Welt gibt es viele Welten. Manche scheinen vorhanden zu sein, sind es aber nicht“, sagt er zu Niko. Dabei steht sein ausdrucksstarkes Gesicht, verstärkt durch das fast quadratische Bildformat, im Mittelpunkt dieses schönen Films. Wenn dieses Gesicht mit seinem selbstgewissen Lächeln am Ende einmal mehr mit warmem Licht beleuchtet wird, beginnt mit dem neuen Morgen ein neuer Tag und vielleicht ein neues Leben, wie es im Schlusslied heißt.

Elaha

(DE 2023, Regie: Milena Aboyan)

Emanzipatorisches Aufbegehren
von Jürgen Kiontke

Je näher ihre arrangierte Hochzeit mit Nasim rückt, desto unwilliger reagiert die 22-jährige Elaha auf die Anforderungen, die ihre kurdische Community an sie stellt. Sie soll als Jungfrau in die …

Je näher ihre arrangierte Hochzeit mit Nasim rückt, desto unwilliger reagiert die 22-jährige Elaha auf die Anforderungen, die ihre kurdische Community an sie stellt. Sie soll als Jungfrau in die Ehe gehen, aber da sie schon sexuell aktiv war, wird das nichts. Freundinnen und ältere Bekannte raten zu medizinischen Eingriffen, mit der die „Unschuld“ wiederhergestellt werden soll. Oder zu praktischeren Verfahren: Soll sie doch einfach eine Phiole Blut mit ins Hochzeitsbett nehmen.

Aber Elaha sagt: „Ich bin kein Produkt, das man überprüfen kann!“ Sie gerät zwischen die Fronten, ist selbst gespalten: Sie will sich immer weniger Traditionen beugen, die sie für überkommen hält. „Bist du die Frau, die du sein willst?“, hat ihre Lehrerin die gute Schülerin einmal gefragt, die nun einen Minijob in der Reinigung angetreten hat – nicht zuletzt, um an Geld für die chirurgische Rekonstruktion ihres Hymens zu kommen. Auf der anderen Seite steht die Familie: Nichts läge der jungen Frau ferner, als den Eltern und Geschwistern zu schaden, und der Ansehensverlust wäre ein echter Makel. Anders als erwartet verhält sich dabei ihr Verlobter Nasim, der immerhin differenzierte Ansichten zum Thema Zusammenleben hat.

In ihrem ersten Langfilm zeichnet Milena Aboyan ein komplexes Bild ihrer Protagonistin. Die Welt ist nicht dieselbe wie seit Jahrhunderten, das steht für Elaha und ihre Freundinnen fest. Aber einen neuen Fixpunkt haben die jungen Frauen auch noch nicht gefunden. Nur eines ist Elaha gegen alle Widerstände von außen und innen klar: Die Deutungshoheit über ihren eigenen Körper will sie niemand anderem überlassen.

Schauspielerin Bayan Layla legt ihre Filmfigur Elaha so vielschichtig an wie Regisseurin Aboyan den ganzen Film. Sie changiert zwischen schüchterner Wäschereiarbeiterin und selbstbestimmt-emanzipierter junger Frau, zwischen angepasster Braut und aufmüpfigem Twen. Ein schöner und sehenswerter Film, der Preise abräumt, wo er hinkommt.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Elaha“.

Diese Kritik erschien zuerst am 15.11.2023 auf: links-bewegt.de

Elaha

(DE 2023, Regie: Milena Aboyan)

Über den Graben springen
von Wolfgang Nierlin

Eigentlich ist die junge Elaha (Bayan Layla) eine fröhliche, lebenslustige Frau. Eingangs sieht man sie bei einem Fest ihrer kurdischen Familie ausgelassen tanzen. Bis sie von ihrer Mutter (Derya Durmaz) …

Eigentlich ist die junge Elaha (Bayan Layla) eine fröhliche, lebenslustige Frau. Eingangs sieht man sie bei einem Fest ihrer kurdischen Familie ausgelassen tanzen. Bis sie von ihrer Mutter (Derya Durmaz) mit der Aufforderung, sich zurückzuhalten, zur Ordnung gerufen wird. Ein Gefühl des Unbehagens schleicht sich ein, das noch verstärkt wird, als sich zeigt, dass Elaha vielfachen familiären Zwängen unterworfen ist. Diese kollidieren immer wieder mit ihrem ganz normalen Freiheitsstreben als Frau und dem Bedürfnis individueller Selbstverwirklichung. Dabei ist die 22-Jährige, die noch zwei jüngere Geschwister hat, überaus hilfsbereit und engagiert. Sie arbeitet als Minijobberin in der Textilreinigungsfirma einer Verwandten, absolviert nebenher ein Bewerbungstraining und unterstützt ihre Familie. Obwohl sie sich mit ihrer Community und Kultur verbunden fühlt, leidet sie unter deren rigiden Regeln und Moralvorstellungen. Elaha lebt in einem Zwiespalt.

Zu Beginn von Milena Aboyans sehenswertem Film „Elaha“ blickt die Titelheldin nachdenklich, fast schmerzlich zum Zuschauer, als suche sie in der Durchbrechung der vierten Wand nach einem Zeugen oder Verbündeten. Dabei verstärkt das fast quadratische Bildformat die Enge, in der sie lebt. Diese wird zugespitzt durch die geplante Verheiratung mit dem ebenfalls kurdischen Friseur Nasim (Armin Wahedi), der von einem patriarchalischen Weltbild geprägt ist und von seiner zukünftigen Frau erwartet, sich in die traditionelle Rolle als Mutter und Hausfrau zu fügen. Bezeichnend für sein Verständnis einer Partnerschaft ist der Satz: „Ich gebe dir alle Freiheiten. Ich will nur, dass du auf mich hörst.“ Diese Freiheiten hat sich Elaha längst selbst genommen, denn sie ist, wie man das von ihr eigentlich erwartet, nicht mehr „rein“ und unberührt. Und das zwingt sie zu Ausflüchten, Lügen und Heimlichkeiten. Nun sucht sie verzweifelt Mittel und Wege, um ihre Jungfräulichkeit wiederherzustellen.

Begleitet und unterstützt wird sie dabei von ihrer Dozentin Stella (Hadnet Tesfai), der sie sich nach langem Zögern allmählich anvertraut. „Bist du die Frau, die du sein willst?“, fragt die einfühlsame Lehrerin, die selbst schwanger ist. Zerrissen zwischen den Anforderungen ihrer Familie und ihrem Bedürfnis nach Selbstbestimmung findet Elaha trotz aller Widersprüche und Rückschläge mutig ihren Weg. Durch die intime und empathische Inszenierung kommen wir ihr dabei ganz nah. Milena Aboyan hat ihren realistischen, intensiven Film über eine kämpferische Frau, der als Abschlussarbeit an der Filmakademie in Ludwigsburg entstand, an Originalschauplätzen im Raum Stuttgart gedreht. Elahas Gespaltenheit zwischen den Kulturen wird schließlich auch durch ihre Zweisprachigkeit vermittelt. Ihr heimlicher Freund, ein lebensverneinender Einzelgänger, fordert sie schließlich auf, indem er ihr eine symbolische Geschichte erzählt, ihren Schwebezustand zu verlassen und „über den Graben zu springen“.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Elaha“.

How to have Sex

(GB 2023, Regie: Molly Manning Walker)

Versteckte Gefühle
von Wolfgang Nierlin

„The best holidays ever“, versprechen sich die Freundinnen Tara, Skye und Em bei ihrer Ankunft in der Ferien- und Partystadt Malia auf Kreta. Dabei wirken die drei jugendlichen Mädchen ziemlich …

„The best holidays ever“, versprechen sich die Freundinnen Tara, Skye und Em bei ihrer Ankunft in der Ferien- und Partystadt Malia auf Kreta. Dabei wirken die drei jugendlichen Mädchen ziemlich aufgekratzt, übermütig und überdreht. Sie wollen Spaß haben und hoffen auf Sex. Dafür geben sie sich erwachsener als sie sind. Angestrengt, fast zwanghaft sind sie bemüht, ihre Unsicherheit und mangelnde Erfahrung mit allerlei Albernheiten zu überspielen und dabei fortgesetzt Banalitäten auszutauschen. Der Schein bestimmt ihr Bewusstsein und umhüllt sie wie zum Schutz mit Äußerlichkeiten. Und doch gibt es immer wieder auch Momente, in denen die Fassade eines aufgesetzten Enthusiasmus bröckelt und echte Gefühle der Freude oder aber der Verletzlichkeit auftauchen. Doch meistens werden diese zerrieben im Spannungsfeld zwischen individuellem Geltungsbedürfnis und sozialem Gruppendruck.

Die britische Regisseurin Molly Manning Walker, die ihren Debütfilm „How to have sex“ auf der Grundlage eigener Jugenderfahrungen entwickelt hat, beobachtet das selbstvergessene Treiben der drei jungen Frauen sehr genau und mit langem Atem. Dabei taucht die Handkamera des Kanadiers Nicolas Canniccioni mit dokumentarischem Gespür ein in die wüsten, von Alkohol enthemmten Partyexzesse der vergnügungssüchtigen Jugend. Sehr nah und intim registriert sie die ritualisierten Abstürze im Dauersuff, die alle echten Sehnsüchte und Bedürfnisse wegzuspülen scheinen. Vor allem Tara (Mia McKenna-Bruce) hofft auf ihre sexuelle Initiation. Doch die wenigen vertraulichen Begegnungen mit dem gleichaltrigen Badger (Shaun Thomas), der ihren Wunsch möglicherweise aufrichtig teilt, werden immer wieder von der Dynamik der Umstände torpediert. Und so landet sie schließlich eher unfreiwillig und zufällig in den Armen eines Jungen, der selbst von seinen Kumpels als „absouter Albtraum“ bezeichnet wird. Lust- und teilnahmslos und mit eher wenig Einverständnis erlebt Tara so ihr erstes Mal.

Vor dem Hintergrund dieser unguten, enttäuschenden Erfahrung bekommt Taras vermeintlich toughe Fassade aus dicker Schminke und angestrengter guter Laune merkliche Risse. „Let’s get fucked up!“, spornt sie mit großer Klappe sich und ihre Freundinnen an. Doch diese Großspurigkeit steht in deutlichem Kontrast zu ihrem billigen „Angel“-Halskettchen und verletzten Gefühlen, die sich nur noch mühsam verstecken oder unterdrücken lassen. Immer häufiger steht Tara, die sich benutzt und missachtet fühlt, gedankenverloren neben sich, was Manning Walker durch eine Unterbrechung der akustischen Dauerberieselung vermittelt. Außerdem stellt sie eine Nähe zu Tara her, indem sie deren zentrales Erlebnis in einer Rückblende erzählt, die das Publikum gewissermaßen mit einem Wissensvorsprung gegenüber den Figuren in das Geschehen „einweiht“.

Taras unfreiwilliges, zunehmend nachdenkliches Innehalten macht schließlich und vor allem eine gestörte Kommunikation und Sprachlosigkeit zwischen den Jugendlichen sichtbar. Trotzdem deuten der Schluss und Romys Abspannsong auf eine Anteilnahme, die zeigt, dass die Heldin trotz allem nicht allein ist: „You don’t have to be strong / Don’t go through it all alone“.

Miss Holocaust Survivor

(DE 2022, Regie: Radek Wegrzyn)

Wirklich eine letzte Generation
von Jürgen Kiontke

Einen Wettbewerb der besonderen Art lernen die Zuschauer in Radek Wegrzyns Dokumentarfilm „Miss Holocaust Survivor“ kennen. Die hochbetagten Mitbewohnerinnen einer Wohnanlage für Holocaust-Überlebende – sie sind zwischen 77 und 95 …

Einen Wettbewerb der besonderen Art lernen die Zuschauer in Radek Wegrzyns Dokumentarfilm „Miss Holocaust Survivor“ kennen. Die hochbetagten Mitbewohnerinnen einer Wohnanlage für Holocaust-Überlebende – sie sind zwischen 77 und 95 Jahre alt – nehmen in Haifa an diesem außergewöhnlichen Wettbewerb teil. Schöne Kleider, Schmuck, Makeup: Alles sieht aus wie bei einem traditionellen Schönheitswettbewerb. Hier aber stehen die Persönlichkeiten im Mittelpunkt. Sie alle eint, dass sie der letzten Generation der Holocaustüberlebenden angehören. Im Film kommen die Teilnehmerinnen ausgiebig zu Wort, berichten vom Schrecken der Kindheit, wie sie den Nazis entkommen und sich nach dem Zweiten Weltkrieg Existenzen aufbauen konnten.

Rita Kasimow-Brown, eine der Protagonistinnen, berichtet, wie sie monatelang mit der Familie in Waldhöhlen hausten, bevor sie fliehen konnte. Szenisch werden diese Momente nacherzählt. Viele verloren ihre Angehörigen, kamen als Waisen in die USA und nach Israel. Das Leben, sagt sie, hätte sie einmal in einer Filmszene gut zusammengefasst erlebet, es sei im Kino bei Wim Wenders‘ „Himmel über Berlin“ gewesen, in der die Engel die Welt betrachten. „In dieser Welt gibt es Schmerz, das habe ich nicht vergessen. Engel haben keine Schmerzen. Ich verstehe nicht, warum Menschen leiden müssen.“

Auch Tova Ringer ist der Nazi-Hölle entkommen. Nun kämpft sie mit dem Alter, wie sie berichtet. Ihre Teilnahme an dem Wettbewerb sieht sie als Ringen mit sich selbst, mit dem Leben und seinem Ende.

Der turnusmäßig stattfindende Wettbewerb steht durchaus in der Kritik – warum denn nur Holocaust-Opfer daran teilnehmen könnten, ob hier Menschen nicht ausgestellt werden. Auch die Teilnehmerinnen hadern immer wieder mit ihrer Rolle in einer Inszenierung, die sie zu vereinnahmen drohe. Am Ende jedoch stehen sie stolz auf der Bühne vor Hunderten Zuschauern und der Weltpresse. Und nicht zuletzt hier wird klar, dass dieser Wettkampf eine Möglichkeit bietet, Geschichte zu transportieren. In einem Film, der Mut und Stärke auf die Leinwand bringt.

Diese Kritik erschien zuerst am 08.11.2023 auf: links-bewegt.de

The Quiet Girl

(IE 2023, Regie: Colm Bairéad)

Wortlose Nähe
von Wolfgang Nierlin

Cáit (Catherine Clinch) hat sich vor den anderen, die nach ihr rufen und suchen, im hohen Gras versteckt. Sie entzieht sich, als wolle sie sich unsichtbar machen und ihre Gefühle …

Cáit (Catherine Clinch) hat sich vor den anderen, die nach ihr rufen und suchen, im hohen Gras versteckt. Sie entzieht sich, als wolle sie sich unsichtbar machen und ihre Gefühle für sich behalten. Das etwa 9-jährige Mädchen ist eine schweigsame, sensible Außenseiterin in einer engen, rauen Welt. Zu Beginn der 1980er Jahre lebt sie zusammen mit mehreren Geschwistern auf einem entlegenen Bauernhof im ostirischen County Wicklow. Die Umgangsformen sind grob, die Familie hat wenig Geld. Während die erneut schwangere Mutter überfordert und verbittert wirkt, bleibt der Vater, der außerdem trinkt und spielt, gleichgültig und lieblos. Die zurückhaltende Cáit leidet still unter diesen Umständen. Sehr genau beobachtet sie diese merkwürdig fremde und unbehagliche Erwachsenenwelt, in die sie unfreiwillig eingesperrt ist. Colm Bairéad akzentuiert in seinem beeindruckenden Film „The Quiet Girl“ diese erlebte Enge durch ein fast quadratisches Bildformat, als gäbe es kein Außerhalb davon. Das bewirkt zugleich eine Konzentration auf die Perspektive und den Erfahrungsraum der kleinen Heldin.

Um die Familie zu entlasten, wird Cáit in den Sommerferien zu Verwandten auf einen drei Autostunden entfernten Bauernhof bei Waterford an der südöstlichen Küste geschickt. Hier ist alles anders. Der stattliche, ordentliche Hof und das große, saubere Haus bilden einen Kontrast zu Cáits verwahrlostem, zerrüttetem Elternhaus. Umsichtig und mit Empathie wird das Kind von ihrer Gastmutter Eibhlín (Carry Crowley) und ihrem zunächst distanziert wirkenden Ehemann Seán (Andrew Bennett) aufgenommen. Die beiden scheinen keine eigenen Kinder zu haben. Umso liebevoller und fürsorglicher kümmert sich vor allem Eibhlín um das verschüchterte Mädchen, das sich immer mehr öffnet und aufblüht. „Dir hat nur ein bisschen Aufmerksamkeit gefehlt“, sagt die Ruhe und Erfahrung ausstrahlende Pflegemutter, während sie sorgsam ihr Schutzbefohlenes zur Mithilfe im Haushalt anregt. Und auch zwischen Cáit und Seán kommt es durch kleine Gesten der Zuneigung allmählich zu einer Annäherung.

Je mehr sich die Figuren füreinander öffnen, desto deutlicher nähern sie sich einem schmerzlichen Punkt in der Vergangenheit. Dabei scheinen sie sich wortlos zu verstehen. Immer wieder wird Cáits empfindsame und zugleich begrenzte Perspektive, ablesbar an ihrem ruhigen Gesicht, zum Resonanzraum für Unausgesprochenes und leidvoll Erfahrenes. Während sie wächst und reift, indem sie ein neues Leben kennenlernt, verarbeitet das schon ältere Ehepaar ein Trauma. In der ruhigen, ländlichen Atmosphäre, umgeben von schattigen Bäumen und dem milden Licht einer friedlichen Natur, wird das Schweigen zum Einverständnis. Cáit erfährt Liebe und Geborgenheit, ihre Gasteltern werden zu ihrer Ersatzfamilie. Colm Bairéads ruhig, zurückhaltend und in Andeutungen erzählter Film, der auf Claire Keegans Erzählung „Foster“ („Das dritte Licht“) basiert, entwickelt in seinem Verlauf einen starken emotionalen Sog. Dieser kulminiert auf bewegende Weise in einem von Cáit vielfach eingeübten Lauf, der schließlich nicht nur für das Mädchen ebenso befreiend wie kathartisch wirkt.

Breaking Social

(SW 2023, Regie: Fredrik Gertten)

Die Spur des Geldes
von Jürgen Kiontke

Geld, da ist sich der Filmemacher Fredrik Gertten sicher, geht gern dahin, wo schon welches ist. In seinem Dokumentarfilm „Breaking Social“ will er diese Bewegung nachverfolgen. Der Film handelt vom …

Geld, da ist sich der Filmemacher Fredrik Gertten sicher, geht gern dahin, wo schon welches ist. In seinem Dokumentarfilm „Breaking Social“ will er diese Bewegung nachverfolgen. Der Film handelt vom Vermögen der Superreichen, von Menschen wie Amazon-Gründer Jeff Bezos und anderen Einkommensmilliardären, die ein Heer von kreativen Anlageberatern beschäftigen können, um Steuerforderungen gar nicht erst aufkommen zu lassen, die ihre Mittel in tollen Stiftungsmodellen sortieren und ansonsten auf jedem Erdteil Land, Häuser und Yachten besitzen. Bezos reicht sogar nicht mal das, er fliegt von seinen Online-Kaufhaus-Umsätzen auch schon mal Richtung Weltall und glaubt ernsthaft, so versichern Weggefährten, das nütze der Menschheit.

Wie die Umverteilung von unten nach oben funktioniert, erklären Autorinnen und Journalisten mit Spezialgebiet Reichtumsakkumulation in diesem Film. Wie etwa Sarah Chayes, die dieses Anhäufen jahrelang in Afghanistan miterleben durfte, oder auch Peter S. Goodman, der Bücher über das Weltwirtschaftsforum und andere Cliquenwirtschaften veröffentlicht hat.

Es geht aber auch um Maßnahmen gegen die Ausplünderung von Mensch und Natur. Als Beispiel dient hier Chile, wo die junge Generation in der näheren Vergangenheit gegen das alte Geld aufbegehrte, insbesondere im Kampf für eine neue Verfassung, der dann verloren ging. Das funktioniert natürlich nicht ohne die üblichen heroisierenden Bilder von Demonstrationen und Tanzperformances, na okay.

Richtig interessant wird der Film aber bei einem europäischen Thema: So wird die Ermordung der maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia beleuchtet, die über die Verwicklung maltesischer Regierungsmitglieder in Geldschiebereien und andere illegale Aktivitäten schrieb. Angehörige und Aktivisten kommen zu Wort und erläutern Galizia Recherchen.

Und auch dies ist selten dokumentiert: Der Kommunikationsspezialist Sven Hughes berichtet über seine zurückliegende Arbeit bei einer Agentur, die dafür sorgt, dass Auftraggeber aus der Politik bei Wahlen wie von selbst in die Regierung kommen.

„Ich wollte verstehen, wie die Superreichen, die Geldmaximierer, die Kontrolle über den Großteil des politischen und wirtschaftlichen Lebens erlangt haben, auch in traditionell stabilen Demokratien“, sagt Regisseur Gertten. Der Hang der besseren Gesellschaft zur Geldmacherei ist ihm eine zerstörerische Kraft, die das Zusammenleben massiv bedroht.

Diese Kritik erschien zuerst am 26.10.2023 auf: links-bewegt.de

Ein ganzes Leben

(DE/AT 2023, Regie: Hans Steinbichler)

Vom Tod umfangen
von Wolfgang Nierlin

„Was soll ich mit dem Kerl?“, schimpft der Bergbauer Hubert Kranzstocker (Andreas Lust) bei der Ankunft seines etwa 8-jährigen verwaisten Ziehsohnes Andreas (Ivan Gustafik) auf dem entlegenen Hof in den …

„Was soll ich mit dem Kerl?“, schimpft der Bergbauer Hubert Kranzstocker (Andreas Lust) bei der Ankunft seines etwa 8-jährigen verwaisten Ziehsohnes Andreas (Ivan Gustafik) auf dem entlegenen Hof in den Alpen. Die Fahrt dorthin auf einem Pferdewagen, aus subjektiver Perspektive aufgenommen, bedeutet für den schweigsamen Jungen mit dem ernsten, aufrechten Blick der Eintritt in eine neue, fremde Welt voller Entbehrungen und Schmerzen. Offensichtlich verstoßen und nicht gewollt, wird das als „Bankert“ verschriene Kind fortan von seinem schroffen, mitleidlosen Herrn als billige Arbeitskraft ausgebeutet und körperlich schwer misshandelt. Dabei paaren sich auf unselige Weise raue Umgangsformen und eine gewohnheitsmäßige Frömmigkeit. Abgesondert vom verwitweten Familienvater und seinen vier leiblichen Kindern, muss Andreas beim Essen in einer dunklen Ecke sitzen. Nur die alte Großmutter und Haushälterin (Marianne Sägebrecht) kümmert sich liebevoll um den Jungen und bringt ihm sogar das Lesen bei.

Zum Alleinsein in fremden, unwirtlichen Verhältnissen kommt mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges der Tod. Andreas Egger (Stefan Gorski) ist jetzt ein junger, starker Mann, der sich nicht hat brechen lassen und der sich weiteren Züchtigungen widersetzt: „Wenn du mich schlägst, bring ich dich um.“ Zwei Söhne des Bauern sowie die gute Ahnl sind gestorben, weshalb Andreas vom Militärdienst freigestellt wird. „Der Tod gebiert gar nichts, der Tod ist die kalte Frau“, sagt der alte, kranke Ziegenhirte, den Andreas eines Tages vergeblich zu retten versucht. Jetzt unabhängig von seinem brutalen Gebieter, verdingt sich der introvertierte Außenseiter als Tagelöhner und Holzmacher, bis er schließlich eine kleine Berghütte erwerben kann. Hier erlebt er ein kurzes, bescheidenes, aber gleichwohl flüchtiges Glück, das von seiner tiefen, scheuen Liebe zu Marie (Julia Franz Richter) geprägt ist. Die beiden reden wenig; umso tiefer und gedehnter sind ihre Blicke. Doch dann folgen weitere, harte Schicksalsschläge. Andreas zieht in den Zweiten Weltkrieg und kehrt als fast Vergessener aus sowjetischer Gefangenschaft zurück.

Wieder trifft er auf eine veränderte Welt. Mit dem Bau der Seilbahn haben Elektrizität und Tourismus Einzug in das Tal gehalten. Hans Steinbichlers Verfilmung von Robert Seethalers Erfolgsroman „Ein ganzes Leben“ spiegelt diese Umwälzungen an der so schwierigen, entbehrungsreichen Lebensgeschichte seines Protagonisten. Dessen fortwährender Überlebenskampf mit seinen Verlusten steht zur relativen Ahnungslosigkeit der Nachgeborenen in einem ebenso krassen Kontrast wie die Schönheit der weitgehend idyllischen Berglandschaft zu den Härten des Lebens. Vom Tod umfangen, hält Andreas an seiner Liebe fest und verliert dabei trotz aller Unbill nie das Staunen. Nicht immer gelingt es Hans Steinbichler in seinem avancierten Heimatfilm, die Balance zwischen „reinem Glück“, schwelgerischer Romantik und herben Verlusten zu halten. Zwischen Stille und Pathos, dramatischen Erlebnissen und kleinem Glück wird der Held dieser ungewöhnlichen Lebensgeschichte schließlich zum altersweisen Mann: „Ich habe niemanden, aber ich habe alles, was ich brauche. Ich weiß nicht, wo ich hergekommen bin oder hingehe.“

Tótem

(MX/FR/DK 2023, Regie: Lila Avilés)

Feier der Liebe
von Wolfgang Nierlin

Die heimliche Heldin dieses Films ist die etwa 7 Jahre alte Sol (Naíma Sentíes). Zu Beginn sieht man sie zusammen mit ihrer Mutter Lucía (Iazua Larios) auf einer öffentlichen Toilette …

Die heimliche Heldin dieses Films ist die etwa 7 Jahre alte Sol (Naíma Sentíes). Zu Beginn sieht man sie zusammen mit ihrer Mutter Lucía (Iazua Larios) auf einer öffentlichen Toilette singen und herumalbern. Während das Mädchen vergeblich das Klo besetzt hält, pinkelt seine Mutter in ihrer Not ins Waschbecken. Die beiden sind unterwegs zu Sols todkrankem Vater Tona (Mateo García Elizondo), einem noch jungen Maler, der an diesem Tag Geburtstag hat. Dieser soll im großen Rahmen mit der verzweigten Familie und mit Freunden gefeiert werden. Sol will sich dafür als Clown mit bunter Afro-Perücke und roter Nase verkleiden. Doch ist die frühreife Sol, die sich für Tiere und die Erdgeschichte interessiert, ein ernstes Kind, das existentielle Fragen stellt und ahnt, dass sein Vater sterben wird. Dieser schenkt ihr später am Tag zur Erinnerung ein selbst gemaltes Tierbild und sagt: „Manchmal kann man Dinge, die man liebt, nicht sehen.“ Die Ahnung des Verlusts liegt in Sols Blick.

Lila Avilés‘ Film „Tótem“, der in einem eng begrenzten raum-zeitlichen Kontinuum angesiedelt ist, bewegt sich nach und nach von einer Figur zur anderen, um in einem fließenden Prozess einen familiären Mikrokosmos entstehen zu lassen. Aus der Vielstimmigkeit des Figurenensembles mit seinen wechselnden Perspektiven resultiert wiederum eine Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Begebenheiten und Stimmungen. Diese umfassen sowohl Freude und Lebendigkeit als auch Schmerz und Trauer. In einem völlig unspektakulären, naturalistischen Stil portraitiert Lila Avilés eine mexikanische Großfamilie und die Vorbereitungen zu Tonas Geburtstag. Zärtlich und intim nimmt ihr Film daran Anteil. Dabei richtet Avilés ihr Augenmerk immer wieder auf die Gesichter der Figuren, wodurch eine Nähe entsteht, die durch das fast quadratische Bildformat noch verstärkt wird.

Während der schwer beeinträchtigte und leidende Tona lange Zeit in seinem Zimmer bleibt, wo er von der Pflegerin Cruz (Teresita Sánchez) liebevoll versorgt wird, streift Sol durchs Haus und beobachtet die Erwachsenen bei ihren Beschäftigungen. Eine Geisterbeschwörerin, von Sols Tante Alejandra (Marisol Gasé) beauftragt, soll die schlechten Energien vertreiben. Ihr Großvater, ein Psychotherapeut, kümmert sich um einen Bonsai und empfängt eine Klientin mit Eheproblemen. Tante Nuri (Montserrat Marañón) wiederum bäckt zusammen mit ihrer kleinen Tochter Esther eine Geburtstagstorte, die zunächst anbrennt und in Flammen aufgeht. Später am Abend wird auch eine Himmelslaterne beim Aufsteigen verglühen. Vitalität und Vergänglichkeit, Werden und Vergehen sind in Lila Avilés‘ stillem und berührendem Film eng miteinander verbunden. Vor allem ist „Tótem“ aber eine nachdenkliche Hommage an die Kraft der Liebe,sowie eine Feier der fürsorglichen Beziehungen innerhalb einer Familie.

Anatomie eines Falls

(FR 2023, Regie: Justine Triet)

Fiktionen der Wahrheit
von Wolfgang Nierlin

In einem Chalet der französischen Alpen ist die Studentin Zoé Solidor (Camille Rutherford) für ein Interview mit der deutschen Schriftstellerin Sandra Voyter (Sandra Hüller) verabredet. Die junge Frau plant eine …

In einem Chalet der französischen Alpen ist die Studentin Zoé Solidor (Camille Rutherford) für ein Interview mit der deutschen Schriftstellerin Sandra Voyter (Sandra Hüller) verabredet. Die junge Frau plant eine Arbeit über Erzählkunst. „Kann man nur über Dinge schreiben, die man erlebt hat?“, fragt Zoé. Doch die offensichtlich angetrunkene Autorin weicht immer wieder aus. Außerdem wird das Gespräch durch laute Musik gestört, die Sandras Ehemann Samuel Maleski (Samuel Theis) bei seinen nicht minder geräuschvollen Renovierungsarbeiten im Dachstuhl hört. Als die beiden Frauen das Interview schließlich einvernehmlich abbrechen, verlässt gerade der 11-jährige Daniel (Milo Machado Graner) mit seinem Hund Snoop das Haus für einen Spaziergang. Der sensible Sohn des Künstlerpaares ist seit einem Unfall sehbehindert. Als er zum Haus zurückkehrt, findet er seinen Vater tot im Schnee. Die Musik schallt noch immer durch die jetzt leeren Räume; und für ein paar Augenblicke wechselt die Kamera in die Perspektive des Hundes.

Wechselnde Perspektiven, ein vielschichtiger und wendungsreicher Plot sowie der Facettenreichtum komplizierter Gefühle kennzeichnen Justine Triets preisgekrönten Film „Anatomie eines Falls“ (Cannes, Goldene Palme). Dieser entwickelt sich vom vertrackten Gerichtsfilm zu einem schonungslosen, sehr intimen Beziehungsdrama, in dem nicht zuletzt auch der Zusammenhang von Leben und Kunst diskutiert wird. Denn das überaus spannende Ringen um Wahrheit spiegelt nicht nur verschiedene Interessenkonflikte, sondern produziert offensichtlich Fiktionen, die sich den Beteiligten, vor allem aber der bald angeklagten Schriftstellerin entziehen. Da Samuels „Fall“ beziehungsweise Sturz nicht nach einem Unfall aussieht und ein Selbstmord zunächst unwahrscheinlich erscheint, wird das Unglück von Sandras freundschaftlich verbundenem Anwalt Vincent Renzi (Swann Arlaud) als „verdächtiger Todesfall“ eingestuft. Als nach einem Jahr der Ermittlungen die Verhandlung beginnt, sieht sich Sandra in der Rolle der Hauptverdächtigen einem höchst scharfzüngigen Staatsanwalt (Antoine Reinartz) gegenüber.

„Ich bin kein Monster“, sagt diese einmal. Und sie weist wiederholt auf die Differenz zwischen angeblich objektiven Tatsachen und der von ihr subjektiv erlebten Realität hin. Justine Triet konfrontiert in ihrem beziehungsreichen Film über eine schwierige Wahrheitsfindung im weiten Feld von Vermutungen und Hypothesen immer wieder die Unschärfe objektiver Begriffe mit der Wahrheit von Emotionen. Dafür erhellt sie nicht nur die Hintergründe einer traumatisierten Familie, sondern vor allem die zunehmend aggressiveren Konflikte eines Ehe- und Künstlerpaares in vertauschten Rollen. Denn Samuel, der sich aufgrund von Schuldgefühlen sehr um Daniel kümmert, fühlt sich von seiner erfolgreicheren Frau ausgebeutet und sieht sich deshalb als Opfer und Verlierer. Es ist schließlich die Sensibilität des aufmerksamen Kindes an der Schwelle zur Reife, die nicht nur einen Weg zur Wahrheit weist, sondern auf intime Weise auch eine gegenseitige Heilung ermöglicht.

Die Theorie von Allem

(DE/AT/CH 2023, Regie: Timm Kröger)

Risse in der Realität
von Wolfgang Nierlin

Als der 44-jährige Physiker und Autor Johannes Leinert (Jan Bülow) im Jahre 1974 in einem Hamburger Fernsehstudio sein Buch „Die Theorie von Allem“ vorstellen möchte, stößt er auf Unverständnis und …

Als der 44-jährige Physiker und Autor Johannes Leinert (Jan Bülow) im Jahre 1974 in einem Hamburger Fernsehstudio sein Buch „Die Theorie von Allem“ vorstellen möchte, stößt er auf Unverständnis und Spott. Sein Werk über Multiversen und die geheime Weltformel sei kein Science-Fiction-Roman, sondern verarbeite autobiographische Erlebnisse. Er stelle darin die Frage nach der Möglichkeit paralleler, gleichzeitig existierender Welten: „In welcher Welt leben wir?“, fragt sich der Forscher, bevor er hastig und genervt die Live-Sendung verlässt. Dabei wirkt der Außenseiter wie ein Fremder, er fühlt sich unbehaglich und nervös, innerlich zerrüttet und angegriffen. Johannes Leinert bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen unverstandenem, leidendem Genie und Wahnsinn.

Nach diesem farbigen Prolog im TV-Format wechselt Timm Kröger mit seinem Film „Die Theorie von Allem“ Zeit und Ort der Handlung und damit auch in die harten Kontraste einer sehr stilisierten Schwarzweißfotografie. Zusammen mit seinem Doktorvater Julius Strathen (Hanns Zischler) fährt Johannes 1962 durch eine weite Schneelandschaft zu einem Physiker-Kongress in den Schweizer Alpen, wo das Cinemascope-Format zur relativen Abgeschlossenheit des abgeschiedenen Berghotels einen weiteren Kontrast setzt. Als der iranische Hauptredner seine Teilnahme absagt, rätselhafte Unglücksfälle beziehungsweise Morde geschehen und überdies eine merkwürdige Hautkrankheit ausbricht, ist die illustre Gesellschaft tatsächlich bald noch mehr isoliert. Immer häufiger und deutlicher korrespondieren Johannes‘ spekulativen, von Strathen misstrauisch und ablehnend kommentierten Studien mit seinen eigenen Erlebnissen. Was er träumend geschaut hat, hält er für eine lediglich noch zu beweisende Wirklichkeit. Besonders seine Begegnung mit der geheimnisvollen Pianistin Karin (Olivia Ross), die nahezu seherische Fähigkeiten besitzt und die er aus einem anderen Leben zu kennen meint, scheint seine Thesen zu bestärken.

Mit mysteriösen, konstant voranschreitenden Verrätselungen konstruiert Timm Kröger in seinem referentiellen Mysterythriller-Amalgam eine bedrohliche Atmosphäre mit einem tendenziell bedeutungsschwangeren, (philosophisch) wenig aussagekräftigen Überbau. Zwischen den korrespondierenden und interagierenden Welten und Zeiten, in denen sich Ereignisse spiegeln, seltsam umkehren oder zu wiederholen scheinen, entstehen, hervorgerufen durch physikalisch „spontane Anomalien“, „Risse in der Realität“, die das Raum-Zeit-Kontinuum infrage stellen.

Die inneren und äußeren Konflikte, die dabei ausbrechen, werden von Diego Ramos Rodríguez‘ ziemlich dramatisch-bombastischem Score unterstrichen, der mit seinen filmmusikalischen und spätromantischen Anleihen deutlich und absichtlich aus der Zeit fällt und dabei fast ein Eigenleben führt. Ständige Gewitter, der Gegensatz von unten und oben, das Motiv des Eingeschlossenseins, die Nachwirkungen traumatischer Kriegserlebnisse, das Rätsel alternativer Realitäten sowie eine sich andeutende Liebesgeschichte zwischen einem verrückten Wissenschaftler und einem Geist der Vergangenheit lassen den Film motivisch überdeterminiert und thematisch disparat erscheinen. Selbst die überraschende, plötzlich erzähltechnisch raffende Wendung in die Perspektive eines Off-Erzählers (vermutlich diejenige des Buchautors Johannes) versagt sich am Ende einer „Lösung“ und huldigt stattdessen dem Konjunktiv des Was-wäre-Wenn.

White Angel – Das Ende von Marinka

(DE 2023, Regie: Arndt Gintel)

Chronologie der Zerstörung
von Wolfgang Nierlin

Die Einwohner der kleinen ostukrainischen Stadt Marinka nennen das Rettungsteam mit dem hellen Kleintransporter „White Angel“. Nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges sind die beiden Sanitäter Vasyl Pipa, der eigentlich …

Die Einwohner der kleinen ostukrainischen Stadt Marinka nennen das Rettungsteam mit dem hellen Kleintransporter „White Angel“. Nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges sind die beiden Sanitäter Vasyl Pipa, der eigentlich Polizist ist, und sein Fahrer Rustam Lukumsky in der Region Donezk unterwegs, um Menschen, die noch in ihren Kellern ausharren, zu evakuieren, Verletzte ins Krankenhaus zu bringen und Tote zu bergen. Mit einer Helmkamera, die sehr nahe und subjektive Bilder aufnimmt, dokumentiert Vasyl Pipa die Fahrten und Ereignisse im Zeitraum zwischen Frühjahr und Herbst 2022, um, wie er sagt, Verbrechen zu bezeugen und Beweismittel zu sammeln. Ergänzt werdend diese Aufnahmen durch Interviews mit Beteiligten und betroffenen Opfern, die über ihre leidvollen Erfahrungen und Gefühle sprechen. Geführt hat diese der deutsche Investigativjournalist und Kriegsreporter Arndt Ginzel im Frühjahr 2023 für seinen Film „White Angel – Das Ende von Marinka“.

Dabei entsteht eine enge Verbindung zwischen den überlieferten Bildern und den schmerzlichen Berichten der Zeugen, die aus der Rückschau auf die Ereignisse blicken. Traumatische Erlebnisse, eine plötzlich zerstörte Normalität, der psychische Dauerstress in unmittelbarer Nähe zur Front und vor allem die Schwierigkeit, Haus und Habe zurückzulassen, sind die bestimmenden Themen. „Wir leben so lange, wie es das Schicksal erlaubt“, sagen mit fatalistischem Unterton die einen, die nicht gehen wollen, obwohl die Lage immer gefährlicher wird. Andere haben Gottvertrauen und stemmen sich mit letztem Mut gegen die Bedrohung. Die Retter müssen deshalb oft schwierige und resolute Überzeugungsarbeit leisten und gestehen, dabei ebenso Mitleid wie Unverständnis zu empfinden. Für sie ist das Handeln angesichts der Not und trotz Lebensgefahr aber auch eine menschliche Pflicht. Der Film zeigt, wie der zunächst ungewohnte Umgang mit Leid unausweichlich zu einer notwendigen Routine führt.

Eingebettet sind die persönlichen Leiderfahrungen der Evakuierten, aber auch der Retter in die Chronologie einer fortschreitenden Zerstörung des ländlich geprägten Ortes, aus dem alles Lebendige allmählich verschwindet und sich der „Geruch des Todes“ ausbreitet. „Marinka scheint in der Erde zu versinken“, sagt Vasyl Pipa angesichts einer sich immer weiter ausdehnenden Wüste aus Schutt und Asche, zu der die Frühjahrsblüte der verbliebenen Baum- und Pflanzenreste in einem bizarren Kontrast steht. Mit dem Verschwinden des Ortes, so die Angst seiner ehemaligen Bewohner, scheinen auch die Erinnerungen an die Vergangenheit zu verlöschen. Nach „sechs Monaten in der Hölle“ wird die brennende orthodoxe Kirche inmitten eines wüsten, von schweren Wolken verdunkelten Ruinenfeldes schließlich zum Symbol des Untergangs. Trotzdem halten einige der Geretteten an der vielleicht unmöglichen Hoffnung fest, irgendwann in ihre Heimatstadt zurückkehren zu können, um diese neu aufzubauen.

Anselm – Das Rauschen der Zeit

(DE 2023, Regie: Wim Wenders)

Das Chaos begrenzen
von Wolfgang Nierlin

Die Skulptur eines verwaisten Kleids liegt schwer und wie erstarrt in einer Landschaft, über der langsam die Sonne aufgeht. Wie getrocknete Lava ergießt sich seine ausladende Schleppe über kalte, farblose …

Die Skulptur eines verwaisten Kleids liegt schwer und wie erstarrt in einer Landschaft, über der langsam die Sonne aufgeht. Wie getrocknete Lava ergießt sich seine ausladende Schleppe über kalte, farblose Steine. Schwerer Atem und Naturgeräusche sind zu hören, während die Kamera in fließenden Bewegungen weitere Kleid-Skulpturen umkreist, die vereinzelt wie Fremdkörper in einer ausgebleichten Natur stehen; oder in einem gläsernen Gewächshaus versammelt sind, wo ihre „Köpfe“ aus Himmelskörpern, Backsteinen und geöffneten Büchern bestehen und wildes Stacheldrahtgewirr einen Haarschopf bildet. Dann erscheint hinter einer der Scheiben der Schatten des Künstlers Anselm Kiefer. Ein Zitat kommt ins Bild: „Wir mögen die Namenlosen und Vergessenen sein, aber wir vergessen nicht.“ Der 1945 in Donaueschingen geborene Maler und Skulpteur beschäftigt sich in seinen Werken immer wieder mit den Wunden und langen Schatten einer verdrängten deutschen Geschichte.

Der gleichaltrige Filmemacher Wim Wenders nähert sich in seinem 3D-Film „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ diesem großen, raumgreifenden Werk auf intuitive und sehr bedächtige Weise. Die behutsamen Kamerabewegungen des Bildgestalters Franz Lustig nehmen dabei stets das Verhältnis der oft riesigen Objekte und der überdimensionalen Gemälde zum umgebenden Raum in den Blick. Der Film ist deshalb – trotz einiger Archivmaterialien, Zitate und Spielszenen – auch weniger biographisches Künstlerportrait, sondern vielmehr eine filmpoetische Annäherung an ein großartiges Werk und die Orte seiner Entstehung, die im Grunde auch Lebensstationen sind. So arbeitet Anselm Kiefer von Beginn der 1970er Jahre bis Anfang der 90er in mehreren Ateliers, darunter auch eine ehemalige Ziegelei, im Odenwald bei Walldürn und in Buchen, bevor er in das südfranzösische Barjac umzieht. Dort entstehen auf dem ausgedehnten Areal einer stillgelegten Seidenspinnerei eine Vielzahl von Bauten und unterirdischen Gängen mit Krypten. Wenders filmt diese Orte mit ihren Werken, indem er sie für sich selbst sprechen lässt.

Daneben zeigt er den Künstler bei der Arbeit an seiner aktuellen Wirkungsstätte, einer gigantischen Lagerhalle in Croissy bei Paris. Hier radelt Kiefer pfeifend über das Areal zwischen mächtigen Materialregalen und Gemälden hindurch, arbeitet mit Hilfe einer Hebebühne an den meterhohen Leinwänden oder mit diversen Assistenten, wenn es darum geht, Blei zu gießen oder mit Feuer und Wasser auf seinen Gemälden Aschespuren zu erzeugen. Der Schutt zerbombter Nachkriegsstädte und Heideggers „Haus des Seins“, Celans „Todesfuge“ und Heideggers sich in einem Gemäldezyklus verdunkelndes Hirn werden zu Signaturen des Unbegreiflichen. Dagegen und gegen das Vergessen setzt Kiefer immer wieder die Auseinandersetzung mit den Mythen, die – wie auch die Kunst – ein Erkennen jenseits eines rationalen Begreifens ermöglichen. Trotzdem fühlt sich der Künstler, für den Sein und Nichts untrennbar verbunden sind, „überhaupt nicht angekommen“, sondern „auf dem Weg“. Eine Szene zeigt ihn als Seiltänzer, der mühsam versucht, die Balance zu halten. Letztlich gehe es in seiner überdimensionalen, eine ganz eigene Welt erschaffenden Kunst darum, das Chaos der Existenz zu begrenzen, es gewissermaßen durch einen Rahmen einzufrieden.

Auf der Kippe

(DE 2023, Regie: Britt Beyer)

Das Ende der Kohle
von Jürgen Kiontke

Der Kohleausstieg ist beschlossen, die Lausitz wird umstrukturiert. Zumindest sehen so die politischen Pläne aus. Die Region, die vom Braunkohleabbau ganz sprichwörtlich geprägt ist, soll umgebaut werden, weg vom Tagebau …

Der Kohleausstieg ist beschlossen, die Lausitz wird umstrukturiert. Zumindest sehen so die politischen Pläne aus. Die Region, die vom Braunkohleabbau ganz sprichwörtlich geprägt ist, soll umgebaut werden, weg vom Tagebau hin zu irgendwas mit Zukunft. Denn die Kohle, bisher Grundlage der Stromproduktion, wird nicht mehr benötigt in der kommenden Nachhaltigkeitsrepublik, auch wenn die Zahlen derzeit was ganz anderes sagen: Weil Erdgas teuer geworden ist und die Atomkraftwerke abgeschaltet wurden, laufen die Kohleturbinen ganz anders als geplant auf Hochtouren.

Dennoch: 2030 soll Schluss sein mit der Kohleförderung rund um Cottbus. Wie sich der Wandel bereits ankündigt, ist das Thema von Britt Beyers Dokumentarfilm „Auf der Kippe“. Im Zentrum stehen Menschen, die bisher mit der Kohle gelebt und gearbeitet haben und sich demnächst was anderes suchen sollen.

Der Oberbürgermeister der Stadt Weißwasser, Torsten Pötsch, gibt sich alle Mühe, Pläne für die Zukunft zu entwerfen. In alten Fabrikgebäuden sieht er Konzertsäle, in leerstehenden Wohnsiedlungen vielleicht Vororte von Berlin, bis der Investor doch wieder abspringt. So eine Transformation gelingt nicht von heute auf morgen. Müßig zu sagen, welche politischen Parteien im sächsisch-brandenburgischen Grenzgebiet die Umfragen anführen.

Silke Butzlaff ist Baggerführerin im Tagebau Welzow Süd und weiß zu berichten, dass das mindestens die zweite große Desindustrialisierung der Lausitz wird. Gleich nach der Wende hat es die Glasindustrie in der Region erwischt, viele Menschen sind schon damals weggezogen.

Umweltaktivistin Rebekka Schwarzbach sieht jetzt schon Probleme in der Renaturierung der Landschaft durch den Braunkohlekonzern, die wohl darin bestehen wird, die Braunkohlegruben mit Wasser volllaufen zu lassen, das gar nicht da ist.

Und dann kommt noch Lars Katzmarek zu Wort, Ausbilder, Betriebsrat, Rapper. Er glaubt nicht an die vielen Versprechungen. Seine Mutter hat ihren Job im Bergbau verloren, sagt er, obwohl doch moderne Arbeit allerorten versprochen wurde. „Gebt uns eine Zukunft, gebt uns ’ne Perspektive… Kompetenzen vorhanden, die Fachkräfte sind hier“, singt der Gewerkschafter. „Lars, es war schön, mit dir zu arbeiten, aber ich muss leider meine Koffer packen und gehen“, verkünden ihm seine jüngeren Kollegen.

Regisseurin Beyer gelingt ein informatives, sehenswertes (wenn auch aufgrund grauslicher Klarinetten-Untermalung nicht unbedingt immer hörenswertes) Porträt dieser einstmals gefragten Industrieregion, allerdings in Form eines Abgesangs. Ein Blick hinein in die Abwicklung vermeintlich alter Industrien, mit allem, was dranhängt.

Diese Kritik erschien zuerst am 11.10.2023 auf: links-bewegt.de

Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste

(CH/AT/DE/LU 2023, Regie: Margarethe von Trotta)

Gang durch die Nacht zum Licht
von Wolfgang Nierlin

Der Film beginnt mit einem Albtraum: Die Kamera folgt einer jungen, verstörten Frau in einen langen, dunklen Gang, an dessen Ende immer dringlicher ein Telefon schrillt. Als sie den Hörer …

Der Film beginnt mit einem Albtraum: Die Kamera folgt einer jungen, verstörten Frau in einen langen, dunklen Gang, an dessen Ende immer dringlicher ein Telefon schrillt. Als sie den Hörer endlich abnehmen kann, schallt ihr ein unheimliches Lachen entgegen. Dann schreckt sie auf im Bett eines in gleißende Helle getauchten Krankenzimmers, was in einem harten Kontrast steht zur Schwärze des Traums. Sie angelt sich eine Zigarette, tritt ans Fenster und kollabiert kurz darauf. Einem Psychiater erklärt sie: „Frauen sind ermordet worden.“ Und sie erzählt von einem Traum, in dem sie von einem Hund namens „Max“ angefallen wurde. Die Frau heißt Ingeborg Bachmann, was man zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß. Der gleichnamige Film von Margarethe von Trotta, der eine Krankengeschichte erzählt, trägt außerdem den Untertitel „Reise in die Wüste“. Dieser Sehnsuchtsort der Stille und Weite wird für die Dichterin zum Synonym für Heilung und Befreiung.

Doch zunächst erzählt das formal überraschend offene Biopic von der ersten Begegnung zwischen der gefeierten österreichischen Lyrikerin (Vicky Krieps) und dem aufstrebenden Schweizer Schriftsteller Max Frisch (Ronald Zehrfeld) anlässlich der Premiere seines Stückes „Biedermann und die Brandstifter“ 1958 in Paris. Der Film, der sich dabei und im Folgenden mit detaillierten biographischen Informationen zurückhält, setzt viel Wissen voraus. Bezogen auf die anvisierte Allgemeingültigkeit und Aktualität der Geschichte ist das vielleicht ein Vorteil; zur Erhellung der weiblichen Künstlervita trägt das eher weniger bei. Überhaupt bleiben Ingeborg Bachmanns Werk und ihr Schaffen weitgehend ausgespart. Stattdessen konzentriert sich Margarethe von Trotta auf die markanten Stationen einer vier Jahre lang dauernden Liebesgeschichte, die trotz geistiger Verbundenheit zunehmend toxische Züge annimmt. Denn Max Frisch, der aus der „Versteinerung“ seines alten Lebens ausbrechen möchte, reagiert zunehmend besitzergreifend und eifersüchtig auf den Freiheits- und Vergnügungsdrang der umschwärmten Dichterin. Dabei fällt er immer wieder in traditionelle Geschlechterrollen zurück.

Der großteils malerische Film selbst scheint in einigen Szenen dieses Verhalten zu legitimieren, wenn er Ingeborg Bachmann in einer Kinder liebenden Mutterrolle oder als begehrenswerte Schöne inmitten von Männerrunden zeigt. Andererseits wird dadurch ihr Status als Außenseiterin deutlich, die ihre künstlerische Berufung nicht mit einem konventionellen Beziehungsleben in Einklang bringen kann. Zwar zieht sie zu Frisch nach Zürich, kann dort aber nicht richtig arbeiten und fühlt sich von dem Kollegen als „Studienobjekt“ ausgebeutet. Zum heiteren, lichtvollen Gegenort wird ihr deshalb Italien, wo sie mit dem homosexuellen Komponisten Heinz Werner Henze am Libretto der Oper „Der Prinz von Homburg“ nach Heinrich von Kleists Drama arbeitet und Giuseppe Ungaretti übersetzt. Rom, wo sie lange lebt, vermittelt ihr ein „geistiges Heimatgefühl“, das sie auffängt und hält. Doch erst ihre Reise in die ägyptische Wüste, angeregt durch den jungen Wiener Schriftsteller Adolf Opel (Tobias Resch), der sie auch begleitet, wird zu ihrer „Erlösung“. „Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein…“, heißt es in einem ihrer Gedichte. Margarethe von Trotta erzählt die fragmentierte, auf wesentliche Episoden konzentrierte Geschichte einer Befreiung als assoziatives Wechselspiel zwischen Dunkelheit und Licht, schmerzlicher Todessehnsucht und vorläufiger Genesung.

Burning Days

(TR 2022, Regie: Emin Alper)

Zwischen den Fronten
von Wolfgang Nierlin

Ein riesiges, ausgetrocknetes Erdloch inmitten einer weiten Landschaft öffnet sich den Blicken der Betrachter. Am Kraterrand stehen sehr klein und verloren zwei Menschen, eine Richterin und ein Staatsanwalt, wie wir …

Ein riesiges, ausgetrocknetes Erdloch inmitten einer weiten Landschaft öffnet sich den Blicken der Betrachter. Am Kraterrand stehen sehr klein und verloren zwei Menschen, eine Richterin und ein Staatsanwalt, wie wir später erfahren. Emre (Selahattin Pacali), so sein Name, ist jung und neu an diesem Ort irgendwo in der türkischen Provinz, deren topographischen und geologischen Parameter in Emin Alpers spannendem Film „Burning Days“ zu Sinnbildern werden. Wenn sich Emre in seinem Auto durch die weite, staubige Landschaft bewegt, die am Horizont von hohen Bergen gesäumt wird, ist er allein und isoliert. Die Totale aus der Vogelperspektive vermittelt außerdem ein Gefühl der Ungewissheit. Als der Fremde in den fiktiven Ort Yaniklar einfährt, hört er Gewehrschüsse. Eine Blutspur zieht sich durch die Straßen, weil Jäger ein getötetes Wildschwein, an ein Auto gebunden, hinter sich her schleifen. Später klingelt ein junger Mann an Emres Tür, um in der alten Wohnung Rattengift auszulegen.

Die realen Gegebenheiten und Ereignisse, die Alper in der Exposition seines sehr kalkulierten Politthrillers versammelt, besitzen zugleich eine symbolische Ebene, die unterschwellig ein bedrohliches Potential entfaltet. Ein Anwalt, zugleich Sohn des Bürgermeisters, und ein grinsender Zahnarzt statten Emre ihren Antrittsbesuch ab, um die Wildschweinjagd und die eigentlich verbotenen Schüsse auf offener Straße zu verharmlosen. Die von Anspielungen und falschen Höflichkeiten, von Unausgesprochenem und schwelenden Konflikten getragene Kommunikation macht bald klar, dass die guten Vorsätze des idealistischen Staatsdieners hier auf die Traditionen und ungeschriebenen Gesetze alteingesessener Honratioren treffen, die sich wenig veränderungswillig zeigen. Vielmehr bilden diese eine eigene, korrupte Macht im Staat, die mit zwielichtigen Methoden ein Netz aus Lügen und Intrigen spinnt und dabei auch vor kriminellen Taten nicht zurückschreckt. Zu diesem Klüngel einer provinziellen Machtelite gehören außerdem der sich im Wahlkampfmodus befindende Bürgermeister, die opportunistische Richterin und ein angeblich oppositioneller Journalist.

Als bei einem feuchtfröhlichen Fest im Haus des Bürgermeisters, zu dem auch Emre eingeladen ist, eine junge Roma-Frau brutal vergewaltigt wird, gerät der sonst so selbstbewusst und gewissenhaft wirkende Staatsanwalt zwischen die Fronten. Weil er zum Zeitpunkt der Tat stark alkoholisiert war, ist seine Erinnerung lückenhaft. In kurzen Flashbacks auf das unklare Geschehen, vor allem aber in doppelbödigen, hervorragend gespielten Dialogsequenzen inszeniert Emin Alper ein permanentes Klima des Uneindeutigen und der Verunsicherung. Um seinen Ruf besorgt, steht Emre bald selbst im Zentrum von Gerüchten.

Während er in den vier Kapiteln des Films Verhaftungen veranlasst und Ermittlungen anstrengt, die außerdem mit der lokalen Wasserknappheit und mysteriösen Sinklöchern assoziiert sind, erhält er kompromittierende Botschaften und versteckte Drohungen. Schließlich wird er in einem fulminanten Finale selbst zum Verfolgten. Sein Scheitern an den eigenen Ansprüchen in Bezug auf Wahrheit und Gerechtigkeit zeigt die Gräben innerhalb einer Gesellschaft, deren korrupte Strukturen in ihrer Mischung aus überlieferten Privilegien und egoistischem Machtwillen unentwirrbar erscheinen.

Total Trust

(NL/DE 2023, Regie: Jialing Zhang)

Wie Tiere im Käfig
von Wolfgang Nierlin

Eine gewaltige Hochhauslandschaft wird illuminiert von farbigem Licht und hellen Strahlen. Über dem Stadion beleuchtet ein gigantisches Feuerwerk den nächtlichen Himmel, auf den ein Laser die Symbole des „Sozialismus mit …

Eine gewaltige Hochhauslandschaft wird illuminiert von farbigem Licht und hellen Strahlen. Über dem Stadion beleuchtet ein gigantisches Feuerwerk den nächtlichen Himmel, auf den ein Laser die Symbole des „Sozialismus mit chinesischen Werten“ projiziert. Die Kommunistische Partei feiert ihr 100. Jubiläum und die Errungenschaft, China zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt gemacht zu haben. Sicherheit, Zufriedenheit und politische Stabilität seien garantiert, müssten aber nicht nur gegen ausländische Feinde, sondern auch gegen die Gefahren im eigenen Land verteidigt werden. Nicht zuletzt deshalb gibt es im Reich der Mitte schon seit vielen Jahren ein immer umfangreicher und rigider werdendes Überwachungs- und Kontrollsystem, mit dem Daten gesammelt und die „Zuverlässigkeit“ des Bürgers überprüft wird. Zu dieser „Smart Technology“ gehören Gesichtserkennungskameras im öffentlichen Raum, die „Emotionsanalyse“ in Schulen oder auch das sogenannte „Sharp Eyes Project“, bei dem die Bilder von Überwachungskameras über das Fernsehen ausgestrahlt werden.

Jialing Zhang zeigt in ihrem zum Teil heimlich gedrehten Film „Total Trust“ die erschreckenden Ausmaße dieser bereits sehr weit fortgeschrittenen Überwachungstechnologie, die immer tiefer in die Privatsphäre der Menschen eindringt und dadurch deren Verhalten normiert und steuert. Bilder gleichförmiger Einheitsarchitekturen korrespondieren äußerlich mit dieser Entindividualisierung. Tatsächlich kontrollieren sich die Bürger unter den Bedingungen riesiger Datensammlungen immer häufiger gegenseitig. Das wiederum wird gefördert durch ein Programm namens „Social Credit Scoring“: Pluspunkte erhält, wer sich regelkonform verhält; bestraft werden diejenigen, die davon abweichen, auch wenn sie eigentlich nur ganz normal ihre Arbeit tun oder versuchen, grundlegende Rechte zu verteidigen.

Zu diesen vermeintlichen „Abweichlern“, deren Fälle in „Total Trust“ thematisiert und dokumentiert werden, gehören zwei Anwälte und eine Journalistin. „Heute ist Schreiben ein Verbrechen“, sagt Sophia Xuequin Huang, die mit ihrer Arbeit im Zuge der MeToo-Debatte ins Visier des Überwachungsstaates geriet und sich mittlerweile wie „ein Tier im Käfig“ fühlt. Der Anwalt Weiping Chang, der sie verteidigte und ansonsten Mandanten in Entschädigungsverfahren oder bei Diskriminierung am Arbeitsplatz vertritt, wurde wegen „Anstiftung zum Umsturz“ verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Ebenso erging es Quanzhang Wang, der sich für die Rechte der Bürger einsetzt.

Die chinesische, in den USA lebende Filmemacherin begleitet vor allem den Kampf der auf sich gestellten Frauen in einem beschwerlichen Alltag voller Hürden und Einschränkungen, die immer mehr zu einer „verinnerlichten Zensur“ führen. Dabei setzt Jialing Zhang teils fragwürdige „dokumentarische“ Mittel ein, indem sie Emotionen inszeniert und damit in gewisser Weise instrumentalisiert; was gerade bei diesem nicht zuletzt „medialen“ Thema problematisch ist. Auch bleiben viele Fragen bezüglich ihrer filmischen Quellen und der jeweiligen Drehsituation offen, da diese nicht unwesentlich Ereignisse modelliert. Trotzdem ist „Total Trust“ ein wichtiger Film über die aktuelle Brisanz einer beunruhigend voranschreitenden Überwachungsgesellschaft, deren Gefahren auch westlichen Demokratien drohen könnten.

Rose – Eine unvergessliche Reise nach Paris

(DK 2022, Regie: Niels Arden Oplev)

Schönheit des Anderssein
von Wolfgang Nierlin

Gedankenverloren und mit stierem Blick kämmt sich eine Frau mittleren Alters die Haare. Ihr inneres Auge sieht Bilder einer fernen Vergangenheit, die unscharf und in Zeitlupe vorbeihuschen. Manchmal hört sie …

Gedankenverloren und mit stierem Blick kämmt sich eine Frau mittleren Alters die Haare. Ihr inneres Auge sieht Bilder einer fernen Vergangenheit, die unscharf und in Zeitlupe vorbeihuschen. Manchmal hört sie auch Stimmen, die ihr Befehle geben. Ängstlich und geduckt, zieht sie sich dann vor der Welt zurück. Inger (Sofie Gråbøl) ist schizophren und lebt in einer psychiatrischen Einrichtung an einem dänischen Ort am Meer. Seit einem Aufenthalt in Paris, wo sie im Alter von 17 Jahren in einen älteren, verheirateten Mann verliebt war, leidet sie an einer gespaltenen Persönlichkeit und weiß nicht mehr, wer sie wirklich ist. Dabei kommuniziert sie klar, offen und direkt. Inger spielt Klavier, singt Chansons, spricht Französisch und ist literarisch gebildet. Wenn sie zu ihrer liebevollen, sehr zugewandten Schwester Ellen (Lene Maria Christensen) sagt: „Ich will dich erwürgen!“, meint sie das Gegenteil. Doch das versteht man erst später.

Im Herbst des Jahres 1997 – der tödliche Autounfall von Prinzessin Diana ist gerade Gegenstand der Nachrichten – unternehmen Ellen und ihr Mann Vagn (Anders W. Berthelsen) zusammen mit Inger eine Reise nach Paris. Diese wird für die hypersensible Heldin zu einer Fahrt in die Vergangenheit, in die sich immer wieder Traumbilder und Visionen mischen. Zusammen mit einer kleinen Gruppe macht man sich in einem Reisebus auf den Weg. Bald kommt es zu Konflikten und zu emotionalem Stress, weil ein mitreisender Schulleiter, der keine Abweichungen beziehungsweise Störung der „normalen“ Ordnung erträgt, sich gegenüber Inger immer wieder misstrauisch und feindselig verhält. Ganz anders begegnet dessen 12-jähriger Sohn Christian (Luca Reichardt Ben Coker) der psychisch kranken Frau. Neugierig stellt er Fragen, hilft ihr – zum Leidwesen der Mitreisenden – an einer Autobahnraststätte einen toten Igel zu begraben und wird später in Paris gar zu Ingers Komplizen auf der Suche nach ihrem früheren Liebhaber.

Er habe einen „Film über die Schönheit des Andersseins“ machen wollen, sagt der dänische Regisseur Niels Arden Oplev. Tatsächlich basiert sein berührendes Roadmovie „Rose – Eine unvergessliche Reise nach Paris“ auf wahren Begebenheiten und ist einer Geschichte seiner beiden Schwestern nachempfunden. Zur innigen Beziehung der Geschwister kommt Ingers enge Mutterbindung, die trotz räumlicher Distanz wiederholt dynamische Konflikte auslöst. In den Teils humorvollen Begegnungen mit der französischen Kultur, etwa beim Essen im Restaurant oder bei diversen Museumsbesuchen, ergreift zur Überraschung der Mitreisenden immer wieder Inger die Initiative und zeigt so ihre Talente. So entsteht allmählich ein verständnisvolles Miteinander unter den Reisenden, das von gegenseitiger Hilfe bestimmt ist. Trotzdem bleibt Inger auf ihrem Weg zu sich und ihrer vergangenen Liebesgeschichte unberechenbar und gefährdet. In Oplevs von einem sehr humanen Geist getragenen Film wird sie aber stets von anderen Menschen aufgefangen.

Vergiss Meyn nicht

(DE 2023, Regie: Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl, Jens Mühlhoff)

Ein Dokumentarfilm als Andenken
von Jürgen Kiontke

2018 besetzten Klimaaktivisten den Hambacher Wald, der rasch zum Symbol des Widerstands gegen Politik und Wirtschaft wurde. Der jahrhundertealte Wald sollte für die Braunkohlegewinnung abgebaggert werden. Schnell avancierte die Besetzung …

2018 besetzten Klimaaktivisten den Hambacher Wald, der rasch zum Symbol des Widerstands gegen Politik und Wirtschaft wurde. Der jahrhundertealte Wald sollte für die Braunkohlegewinnung abgebaggert werden. Schnell avancierte die Besetzung zum Symbol des Widerstandes gegen eine umweltfeindliche Industriepolitik. Im Zuge eines der größten Polizeieinsätze des Landes Nordrhein-Westfalen sollte das Gelände geräumt werden, es kam zu erbitterten Kämpfen zwischen Besetzern und Polizei.

Steffen Meyn war mittendrin dabei. Der junge Fotograf und Filmemacher hatte sich in dem Camp einquartiert, das Leben dort dokumentiert, unter anderem mit einer 360-Grald-Helmkamera. Viele Stunden Filmmaterial sind so entstanden. Die Räumung aber überlebte er nicht. Er stürzte – ungesichert – aus 15 Metern ab und starb.

Jahre danach sichten Meyns‘ Freunde Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff seine Arbeiten, führen weitere Interviews mit Menschen, die damals involviert waren, und bringen einen gut geschnittenen Dokumentarfilm als Andenken an Steffen Meyn heraus. Die Geschichte des Kampfes um den Hambacher Wald wird nachgezeichnet, aber auch der Klimaaktivismus insgesamt einer Kritik unterzogen: Welche Ziele lassen sich erreichen? Welche Risiken soll man eingehen? Die Politiker hätten den Unfall nicht einfach übergehen können, sagen die Filmemacher. Sie hätten aber Meyns Tod als Beispiel für die Gefahr, die von der Besetzung ausginge, instrumentalisiert. Einem Teil der Besetzer wiederum hätte der Vorfall dazu gedient, zeigen zu können, dass das System über Leichen gehe: „In jeder Facette des Widerstands finden sich neue Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen.“

Ein kluger Blick auf die Klimaproteste – den es ohne das umfangreiche Filmmaterial Steffen Meyns nicht gäbe.

Diese Kritik erschien zuerst am 21.09.2023 auf: links-bewegt.de

Millennium Mambo

(TW 2001, Regie: Hou Hsiao-Hsien)

Existenzielle Verlorenheit
von Wolfgang Nierlin

Wie in Trance bewegt sich eine junge Frau in Zeitlupe und mit wehendem Haar durch den langen Gang einer Unterführung. Immer wieder wendet sie den Kopf zurück zur Kamera, die …

Wie in Trance bewegt sich eine junge Frau in Zeitlupe und mit wehendem Haar durch den langen Gang einer Unterführung. Immer wieder wendet sie den Kopf zurück zur Kamera, die ihr folgt, und damit zum Zuschauer. Ihr sinnlicher Blick durchbricht die vierte Wand und vermittelt im Verbund mit einem hypnotischen Beat ein Gefühl von Ekstase und Befreiung. Dieses wird jedoch sofort in eine Spannung aus Abhängigkeit und Gefangenschaft überführt, als eine Off-Erzählerin aus der nicht allzu fernen Zukunft der Erzählzeit zehn Jahre zurückblickt auf das Jahr 2001 und damit auf die Jahrtausendwende. „Millennium Mambo“ lautet entsprechend der Titel des Films, der seine rauschhafte Heldin Vicky (Shu Qi) in eine toxische, destruktive Beziehung setzt zu ihrem ebenso eifersüchtigen wie besitzergreifenden Freund Hao-Hao (Tuan Chun-hao). Als „Fluch“ beschreibt die Erzählerin Vickys Abhängigkeit, die sie immer wieder zwinge, zu dem gestörten jungen Mann zurückzukehren, der seine Zeit mit Drogen, Videospielen und Technomusik füllt.

Hou Hsiao-Hsien imprägniert seinen hypnotischen Film von Anfang an mit einer Atmosphäre existentieller Verlorenheit. Seine hedonistischen Figuren leben nach dem Lustprinzip, lassen sich treiben und haben keine Perspektive für ihr Leben, das immer wieder feststeckt in Frust, Gleichgültigkeit und Langeweile. Eine gestörte Kommunikation, latente Unwilligkeit und immer wieder ausbrechende Aggressionen kennzeichnen das Verhältnis der trübsinnigen, kettenrauchenden Schönen und des eifersüchtigen Kontrollfreaks. Die räumliche Enge ihrer kleinen Wohnung in Taipeh, wohin Vicky bereits im Jugendalter aus Keelung aufgebrochen ist, spitzt die klaustrophobische, tendenziell konfrontative Gefühlslage noch zu. Dabei konzentriert sich Hou Hsiao-Hsien auf die Gesichter und Körper im Vordergrund und lässt die Hintergründe unscharf und diffus erscheinen. Seine szenische Regie dehnt dabei in langen Einstellungen, die durch behutsame Schwenks dynamisiert werden, die Zeit, sodass alle Bewegungen mit ihren Leidenschaften letztlich nur einen traurigen Stillstand markieren.

Dabei sind die Bilder der einzelnen Episoden der retrospektiven Off-Erzählung nachgelagert, ohne deren Vorgaben genau oder vollständig zu erfüllen. Im Kontrast zur Beziehungsgefangenschaft beschwört Hou Hsiao-Hsien die Entgrenzung im Rausch, im Tanz und in der Musik. „Millennium Mambo“ ist insofern ein Film der Nacht und der dunklen Farbigkeit, die sich in Rot- und Blautönen gegen das Licht stemmt, als gelte es, das Vergehen der Zeit aufzuhalten und die Vergänglichkeit für lange, neonfunkelnde Augenblicke zu suspendieren. Der taiwanesische Meisterregisseur übersetzt dieses Lebensgefühl in die visuell herausragend komponierte Spannung dialektischer Bilder zwischen Enge und Aufbruch. „Wir kommen aus unterschiedlichen Welten. Wie sollen wir uns da jemals verstehen?“, sagt Hao-Hao wiederholt zu Vicky. Es ist schließlich der sanfte Gangster Jack (Jack Kao), der sich um die abstürzende Vicky kümmert und mit seiner Zuwendung trotz aller Unwägbarkeiten hilft, ihr Leben vielleicht doch noch „in Ordnung zu bringen“.

Sieben Winter in Teheran

(D/FR 2023, Regie: Steffi Niderzoll)

In der Todeszelle
von Jürgen Kiontke

„Jin, Jiyan, Azadî“ – Frau, Leben, Freiheit – lautet ein kurdischer Slogan, der von der iranischen Protestbewegung übernommen wurde. Wenn Frauen nicht frei sind, ist es niemand. Wie eng die …

„Jin, Jiyan, Azadî“ – Frau, Leben, Freiheit – lautet ein kurdischer Slogan, der von der iranischen Protestbewegung übernommen wurde. Wenn Frauen nicht frei sind, ist es niemand. Wie eng die Begriffe miteinander verwoben sind, dafür steht auch der Fall der Studentin Reyhaneh Jabbari: Im Jahr 2007 hatte sie in Notwehr einen Mann getötet, der sie vergewaltigen wollte. Ein Gericht verurteilte sie daraufhin zur Hinrichtung am Galgen. Die Familie des Toten hätte sie verschonen können, aber entschied nach iranischem Recht, dass das Todesurteil an ihr vollstreckt werden soll.

Sieben Jahre saß die junge Frau in der Todeszelle eines Teheraner Gefängnisses. Ihre Familie kämpfte um ihr Leben, bis sie selbst unter Druck der Behörden geriet. Die Mutter Shole Pakravan emigrierte nach Deutschland, ihre beiden anderen Töchter ebenfalls, dem Vater Fereydoon Jabbari wird bis heute die Ausreise verweigert.

Trotz weltweiter Kampagnen, in deren Verlauf sich unter anderem die Vereinten Nationen für Reyhaneh Jabbari einsetzten und 200.000 Menschen eine entsprechende Petition zur Aufhebung des Todesurteils unterzeichneten, wurde sie hingerichtet. Dabei wies der Prozess einige Unregelmäßigkeiten auf: Verweigerung eines Rechtsbeistandes, Unterschlagung von Beweismaterial, Auswechslung des Richters.

Nun rollt Regisseurin Steffi Niederzoll den Fall noch einmal auf. In ihrem hochaktuellen Dokumentarfilmdebüt „Sieben Winter in Teheran“ berichtet sie anhand von unveröffentlichtem Filmmaterial aus dem Kreise der Familie wie auch einer Filmemachergruppe aus Teheran vom Schicksal Jabbaris. Aus ihren Briefen wird rezitiert, Mitgefangene kommen zu Wort. Ein wichtiger Film – und nichts für schwache Nerven, da mit zum Teil mit drastischen Szenen: etwa wenn die Mutter von ihrer Tochter am Telefon erfährt, dass sie nun zur Hinrichtung abtransportiert wird.

Im Interview mit Pakravan, die seit Jahren als prominente Kämpferin gegen die Todesstrafe agiert, werden Parallelen zwischen dem Gerichtsverfahren damals und den vielen gegenwärtigen Prozessen im Iran gezogen. Hunderte Menschen, die an den Protesten gegen die iranische Regierung im Zuge der Tötung von Jina Mahsa Amini teilnahmen – einer jungen Frau, die im letzten Jahr zunächst wegen Verstoß gegen das Hijab-Gesetz festgenommen wurde und dann auf einer Polizeistation zu Tode kam –, wurden ebenfalls mit der Höchststrafe belegt und exekutiert.

Diese Kritik erschien zuerst am 14.09.2023 auf: links-bewegt.de

Oskar Fischinger – Musik für die Augen

(D 2023, Regie: Harald Pulch)

Tönende Ornamente, tanzende Formen
von Wolfgang Nierlin

Lange bevor in den Werbeclips von Lucky Strike smarte Glimmstängel kleine, hintersinnige Sketche erzählten, ließ der Filmpionier Oskar Fischinger (1900–1967) bereits in den 1930er Jahren die Zigaretten tanzen. In seinem …

Lange bevor in den Werbeclips von Lucky Strike smarte Glimmstängel kleine, hintersinnige Sketche erzählten, ließ der Filmpionier Oskar Fischinger (1900–1967) bereits in den 1930er Jahren die Zigaretten tanzen. In seinem sehr beliebten „Zigarettenfilm“ „Muratti greift ein“, einem Reklametrailer für die gleichnamige Firma, choreographiert „der Zauberer der Friedrichstraße“ zur Musik von Josef Bayers „Die Puppenfee“ ein Ballett aus animierten Kippen. Die Verbindung von Rhythmus und Film, vor allem mit, aber auch ohne Musik, beschäftigen den bedeutenden Vertreter des absoluten Films aber bereits seit seinen künstlerischen Anfängen in den zwanziger Jahren. In diversen, ungemein einfallsreichen und fantasievollen „Studien“ werden aus einfachen Strichen die Flügelschläge von Vögeln oder Wellen des Meeres, geometrische Figuren reiben sich aneinander oder gehen Verbindungen ein, und runde, kreisende Formen verschmelzen miteinander. Diese oft verspielten Bewegungen synchronisiert der erfinderische Avantgardist und Vorläufer der Musikvideos zu meist klassischer Musik.

In ihrem sehr informativen und aufschlussreichen Film „Oskar Fischinger – Musik für die Augen“ dokumentieren Harald Pulch und Ralf Ott nun den künstlerischen Werdegang und Lebensweg des Experimentalfilmers, der zeitlebens um Unabhängigkeit bemüht war. Sie tun das, indem sie sehr konzentriert und mit verdichteten Mitteln der weitgehend chronologischen Erzählung von Fischingers jüngerer Ehefrau und Mitarbeiterin Elfriede Fischinger (1910–1999) folgen, die Pulch für ein langes Interview im Jahre 1993 im kalifornischen Long Beach besuchte. Die hochbetagte Frau erweist sich als höchst vitale, auskunftsfreudige und dabei völlig uneitle Zeitzeugin, die ihre klaren Erinnerungen zu brillanten Erzählungen über die Entstehungsbedingungen von Fischingers Kunst formt. Dabei gewährt sie nicht nur Einblicke in dessen Trickfilmwerkstatt, sondern erzählt auch, wie Fischingers Ideen oft von alltäglichen Begebenheiten inspiriert wurden. Veranschaulicht und ergänzt werden diese Werkstattberichte wiederum durch die entsprechenden Animationsfilme.

Daneben thematisieren die Filmemacher in einzelnen Kapiteln anhand von Fischingers bewegtem Lebensweg dessen fortwährendes Ringen um künstlerische Freiheit, das von Geldsorgen und Existenznöten begleitet ist. Angeregt von Walther Ruttmanns „Lichtspielen“ kann Fischinger am Beginn seiner Karriere nach einer Zwischenstation in München beim Animationsfilmer Louis Seel (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Maler), wo er an den satirischen „Bilderbogen“-Filmen mitarbeitet, ab 1927 zunächst in Berlin Fuß fassen. Hier realisiert er unter anderem Trickfilmsequenzen für Fritz Langs „Frau im Mond“ und Victor Jansens „Das Blaue vom Himmel“. Außerdem experimentiert er für den Reklamefilm „Kreise“ (1933) und für die bei der Biennale in Venedig prämierte „Komposition in Blau“ (1934/35) mit Farbe. Doch die zunehmend kunstfeindliche Stimmung in Nazi-Deutschland veranlassen ihn, zusätzlich angelockt durch ein Angebot der Paramount Pictures, 1936 zusammen mit seiner Frau in die USA zu emigrieren.

Sein Selbstverständnis als „Katalyst“ und „Idealist“ führt allerdings immer wieder zu Konflikten mit seinen Arbeitgebern und zu Kündigungen. Über seine ernüchternden Erfahrungen bei Disney, wo er eine Zeit lang am Film „Fantasia“ mitarbeitet und einem Knebelvertrag unterworfen ist, wird er später sagen: „Kein wirkliches Kunstwerk kann mit der Arbeitsweise entstehen, die im Disney-Studio üblich ist.“ Und so zieht sich Fischinger schließlich trotz eines Guggenheim-Stipendiums „vom Bewegtbild zum Standbild“ – so einer der gliedernden Zwischentitel – zurück und malt seine „tönenden Ornamente“ in Öl.

Music for Black Pigeons

(DK 2022, Regie: Jørgen Leth, Andreas Koefoed)

Suche nach einem inneren Gleichgewicht
von Wolfgang Nierlin

Ruhig, meditativ und sehr introvertiert klingen die Kompositionen des dänischen Jazzgitarristen Jakob Bro. Es ist eine Art balladesker Seelenmusik voller Stimmungen und Atmosphäre, die einen „spirituellen Flow“ erzeugt und die …

Ruhig, meditativ und sehr introvertiert klingen die Kompositionen des dänischen Jazzgitarristen Jakob Bro. Es ist eine Art balladesker Seelenmusik voller Stimmungen und Atmosphäre, die einen „spirituellen Flow“ erzeugt und die Bro in wechselnden Besetzungen realisiert. Dabei haben ihn die Dokumentarfilmer Jørgen Leth und Andreas Koefoed über einen Zeitraum von 14 Jahren begleitet. Bei Aufnahmesessions in New York, Kopenhagen und Lugano gewähren sie mit ihrem Film „Music for Black Pigeons“ nicht nur Einblicke in die Entstehungsprozesse von Jakob Bros Musik und das energetische Zusammenspiel der freundschaftlich verbundenen Musiker, sondern auch in deren Leben und Denken. Lose strukturiert, aber formal und inhaltlich klar ausgerichtet, entstehen dabei mehrere spannende Einzelporträts. Der hochbetagte, ziemlich humorvolle Altsaxophonist Lee Konitz, der zu Beginn sagt, für ihn sei alles Inspiration, erzählt einmal, wie sich zu Bros Musik schwarze Tauben vor dem Fenster seiner New Yorker Wohnung versammelt haben.

Diese Geschichte hat wiederum den poetischen Titel des Films inspiriert, der nicht nur dem an Covid verstorbenen Lee Konitz gewidmet ist, sondern ebenso im Gedenken an Paul Motian, Tomasz Stańko und Jon Christensen entstand. Die Zerbrechlichkeit des Lebens, aber auch die Aufhebung der Gegensätze, Spannungen und Unterschiede in der Musik und vor allem beim improvisierenden Musizieren sind dann auch die Themen sowohl der Stücke als auch einiger Statements. So beschreibt etwa der Saxophonist Mark Turner sein Spiel als „Suche nach einem Zuhause“ und nach einer Mitte, wobei diese Suchbewegung kreisförmig von außen nach innen verlaufe. Während es für den dänischen Trompeter Palle Mikkelborg darum geht, beim Musikmachen den Lebenssinn zu erfahren, sucht der Kontrabassist Thomas Morgan nach einer Balance, einem inneren Gleichgewicht.

Der scheue, in New York ansässige Musiker ist es dann auch, der am längsten nach Worten ringt, um seine Gefühle beim Musikmachen zu beschreiben und das sprachlich nicht Fassbare der Musik zu verbalisieren. Die Stille wird in diesen Passagen des Films ungemein spannend und bedeutsam. ECM-Produzent Manfred Eicher wird später sagen, dass Pausen in der Musik nicht nur verrieten, „wo man hin will“, sondern auch, woher man komme. Und für den Schlagzeuger Andrew Cyrille ist Musik sowieso Kommunikation ohne Worte, mit der man auch, so Saxophonist Joe Lovano sowie die japanische Perkussionistin Midori Takada mit den Geistern der Verstorbenen in Verbindung trete. Dass bei solch transzendenter musikalischer Verständigung weder eingeübte Muster noch Perfektion, sondern eher das Unbestimmte von Stimmungen wichtig ist, bekräftigen sowohl Morgan als auch der feinfühlige Gitarrist Bill Frisell. Und so haben sich auch die dänischen Filmemacher bei ihrer Dokumentation nicht von vorgefassten Plänen oder der Suche nach „konkreten Antworten“ leiten lassen, sondern von dem, was im Laufe eines Prozesses passiert und schließlich durch die Summe der Teile zu Zusammenhängen führt.

The Equalizer 3 – The Final Chapter

(USA 2023, Regie: Antoine Fuqua)

Do the right thing, Equalizer: Lass es sein
von Drehli Robnik

Wer sonst zieht so schön die Ober- über die Unterlippe, wenn er ein zu belehrendes Gegenüber mustert? Wer sonst kratzt sich so graziös am meist glatzigen Haupt, um dadurch einen …

Wer sonst zieht so schön die Ober- über die Unterlippe, wenn er ein zu belehrendes Gegenüber mustert? Wer sonst kratzt sich so graziös am meist glatzigen Haupt, um dadurch einen Anflug von Zweifel auszudrücken? Zweifel nämlich an der eigenen Rolle als einer, der sieht, der streng erzieht, mitunter auch straft.

Die genannten Gesichtsgesten zählen zu Denzel Washingtons durchgängig bewährten Schauspiel-Manierismen, und die fusioniert er mit den Marotten des Rächers, den er im „Equalizer“-Franchise darstellt; in „Equalizer 3“ zum nunmehr (womöglich) letzten Mal. Da wird wieder die Serviette zum Teeritual gefaltet; da werden allsehenden Auges sämtliche Details einer Situation erfasst, die kurz erstarrt, ehe sie sich in einem Gewaltausbruch auflöst; da wird die Stoppuhr gestellt, um diesen seitens des Ex-CIA-Agenten souverän absolvierten Brutal-Exzess zu timen.

Mit Stammregisseur Antoine Fuqua – einem vielfilmenden Action-Routinier und bekennendem Fan von Akira Kurosawas Kinoklassikern über die zum Gesellschaftsbetrieb quer stehende Ethik der Samurais (siehe auch seine Version von „The Magnificent Seven“) – legt Washington seit 2014 reichlich gravitas in eine Pseudophilosophie vom Ringen ums Gute. Das Gute wäre ja, philosophisch wie politisch, die gesellschaftliche Gleichheit, die equality. Die „Equalizer“-Erfolgsthriller (vage zurückgehend auf eine Mid-Eighties-TV-Serie, deren Protagonist weiß und im Erscheinungsbild noch pensi-mäßiger war) verstehen das Gute jedoch nur aus der Warte einer herrschaftlichen Strafmoral, hinter deren Engagement für „ausgleichende Gerechtigkeit“, für equalizing, einiges an Ressentiment gegenüber der Niedrigkeit der Menschen und ihrer Alltage steckt. Also feiern die Filme Selbstjustiz, kreative Messernutzung, auch mal Folter, wenn’s denn nützt – und tun das im Pathos patriarchaler Autorität, die wohlmeinend und multiethnisch offen auftritt, die aber vor allem Jüngere ständig auf ihre subalternen Plätze verweist. Die halbwegs intakte Zielgruppenbindung älterer Kinopublika an „Equalizer“-Filme müssen wir uns (anders als bei der „John Wick“-Serie) zum Teil wohl so vorstellen wie die von Leuten, die ab Mitte der 1960er Jahre in knorrige John Wayne-Filme gegangen sind. Zum Teil – weil Wayne eine Ikone des White America war und nie Malcolm X verkörpert hat.

Dies ist ein Abschiedsfilm (oder eben doch nicht, weil in den USA überraschend erfolgreich – und de-aging könnte das Übrige bewirken). „Equalizer 3“ will viel, wackelt im Stil, ist dadurch skurril und gerade insofern nicht ganz ohne Reiz. In einem camorrageplagten Amalfiküsten-Dorf, in einem Tourismus-Klischee-Panorama, setzt Washington sich endgültig zur Ruhe und schnell noch eine lokale Jungmänner-Gang matt. Dass er das mit 70 Lenzen schafft – nämlich wirklich, wie auch auf dem Filmplakat, im Sitzen bzw. nach einer fast tödlichen Verletzung am Stock gehend –, weiters die Bruchstücke eines CIA-Krimis (mit Dakota Fanning in der hier weniger als sonst forcierten Rolle des jungen Menschen, der mit equalizender Lebensweisheit überhäuft wird) sowie die Anleihen an katholische Folklore, samt einer Doppelprozession (einmal mit Marienstatue, einmal parallel dazu mit krepierendem Mafiaboss), all das geht, hinkt, durch; irgendwie. Dass aber ein Schwarzer Neuankömmling im Land der Regierung Meloni wieder Law and Order etabliert, dies zumal im Kampf gegen Gangster, deren Büro eine Mussolini-Büste ziert, und dass er dabei als Teetrinker zum Cappuccino-Genießer und als loyaler US-Bürger zum Fan von italienischem Regionalfußball bekehrt wird, sodass Denzel inmitten von Tifosi über den Kirchplatz tänzelt – das ist höchst selbstwidersprüchlich und insofern dann doch etwas zu viel vom erzwungenen Guten.

Diese Besprechung saß zuerst in Kurzfassung in der Wiener Stadtzeitschrift Falter.

Le Mali 70

(D 2022, Regie: Markus CM Schmidt)

Musik als Mittel der Verständigung
von Wolfgang Nierlin

„Es gab eine Zeit, als malische Big Bands den Soundtrack zur neugewonnenen Unabhängigkeit lieferten“, heißt es zu Beginn von Markus CM Schmidts Musikdokumentation „Le Mali 70“. Das war vor allem …

„Es gab eine Zeit, als malische Big Bands den Soundtrack zur neugewonnenen Unabhängigkeit lieferten“, heißt es zu Beginn von Markus CM Schmidts Musikdokumentation „Le Mali 70“. Das war vor allem in den 1960er Jahren, als sich in dem westafrikanischen Land lokale Musiktraditionen mit kubanischen Rhythmen, Lieder der Dogon und Tuareg mit funkigem Bläsersound der Karibikinsel verbanden. Afrojazz oder Afrobeat nannte sich diese rhythmisch vertrackte, energiegeladene Fusion-Musik, die neben einem virtuosen Gesang auch Raum für instrumentale Improvisationen ließ. Mystère Jazz de Tombouctou, Kanaga de Mopti, Super Bitons de Ségou oder auch Rail Band Bamako nannten sich diese Bands oft mit Bezug auf ihren Heimatort. Die Platten, die damals entstanden, sind heute eine maßgebliche Inspirationsquelle für das Berliner Musikerkollektiv Omniversal Earkestra, das sich seit zehn Jahren diesem speziellen afrokubanischen Sound verschrieben hat.

Um ihre musikalische Leidenschaft zu vertiefen und etwas über die Hintergründe des Afrojazz zu erfahren, begeben sich die Musiker der deutschen Big Band im Januar 2010 auf eine Reise durch Mali. Ihre Route ist dabei nicht nur Spurensuche und musikalischer Trip, sondern sie ermöglicht vor allem die Begegnung und den Austausch mit den damaligen Protagonisten der Szene. Zu ihnen gehören etwa Jimmy Soubeiga, Mouneissa Tandina, Sory Bamba, Cheik Tidiane Seck und Salif Keïta. Mit ihnen proben die Musiker des Omniversal Earkestra, wobei immer wieder über Rhythmen und Bläsereinsätze gefachsimpelt wird. „Ihr müsst tanzen. Nicht tanzen ist nicht gut“, sagt einer der malischen Meister. Es kommt zu gemeinsamen Auftritten und schließlich zu einer Plattenaufnahme in Salif Keïtas Moffon-Studio in Bamako. Daneben erkunden die Berliner Musiker die damaligen Schauplätze in ihrem heutigen Zustand und erfahren dabei etwas über die Ursprünge der Liedtexte und ihre Wurzeln im Alltag der Menschen. Nur eine Fahrt nach Timbuktu bleibt aufgrund der angespannten Sicherheitslage tabu.

Man erfährt nicht viel über die aktuelle und vergangene Politik des Landes. Auch in Bezug auf die Ursprünge und Besonderheiten des Afrojazz bleibt vieles unterbelichtet oder nur angedeutet. Stattdessen konzentriert sich Markus CM Schmidt, von wenigem Archivmaterial unterbrochen, mit seiner beobachtenden Kamera und unter Verzicht auf einen Kommentar auf die Dynamik der gemeinsamen Proben und Auftritte. Insofern gibt es nicht nur viel zu hören, sondern es vermittelt sich in diesen Passagen auch ein sehr lebendiger Prozess des musikalischen Austauschs. „Glaub nicht, du kennst jemand, wenn du nicht mit ihm zusammengearbeitet hast“, heißt es in einem der Songs. In diesem Sinne und auf der mit vielfältigen Impressionen und Begegnungen aufwartenden Fahrt durch das Land wird die Musik schließlich zum grenzüberschreitenden Mittel des kulturellen Austauschs und der Verständigung.

Auf der Adamant

(FR/JP 2022, Regie: Nicolas Philibert)

Oase der Menschlichkeit
von Wolfgang Nierlin

Der Auftakt des Films ist wie ein fulminantes Statement: Leidenschaftlich und aus Leibeskräften singt ein Mann mittleren Alters den Song „La bombe humaine“ (Die menschliche Bombe) der französischen Rockband Téléphone: …

Der Auftakt des Films ist wie ein fulminantes Statement: Leidenschaftlich und aus Leibeskräften singt ein Mann mittleren Alters den Song „La bombe humaine“ (Die menschliche Bombe) der französischen Rockband Téléphone: „Ich bin ein Elektron im Protonenhagel.“ Der psychisch kranke François Gozlan, Sohn des Regisseurs Gérard Gozlan, gehört zu einer Gruppe von Patienten, die mehr oder weniger regelmäßig das Klinikschiff „Adamant“ aufsuchen, eine psychiatrische Tageseinrichtung am rechten Seine-Ufer in Paris. Während auf den Straßen und Brücken drumherum der Alltagsverkehr rollt und Frachtschiffe mit schwerer Last vorbeiziehen, wirkt das anheimelnde, phantasievoll gestaltete Holzschiff wie eine geschützte, sanft schaukelnde Oase der Ruhe. Seit Juli 2010 in Betrieb, wurde die psychiatrische Anlaufstelle, die zu einem Kliniknetzwerk gehört, einst gemeinschaftlich von Architekten, Psychologen und Patienten konzipiert. Unabhängig von Alter, Geschlecht und Herkunft können Betroffene hier zusammenkommen.

Der renommierte französische Dokumentarfilmer Nicolas Philibert, der hierzulande mit seinem Film „Sein und Haben“ (2002) bekannt geworden ist, hat nun in seinem preisgekrönten neuen Film „Auf der Adamant“ (Goldener Bär der Berlinale) dieser ungewöhnlichen Einrichtung ein aufschlussreiches Porträt gewidmet. Ohne Kommentar beobachtet er die Treffen in den diversen Workshops, die hier überwiegend künstlerisch ausgerichtet sind. So gibt es beispielsweise Mal- und Fotokurse, einen Filmclub namens „Travelling“, der sein 10-jähriges Jubiläum vorbereitet, und eine Bibliothek mit Schreibwerkstatt. Es wird musiziert, gesungen und getanzt, genäht und gekocht. Der Film dokumentiert aber auch Gesprächssituationen und Selbstauskünfte der Klienten, ohne jedoch ihre jeweiligen Krankheitsbilder zu erläutern oder gar zu „problematisieren“. Vielmehr vermittelt Philibert eine Gleichrangigkeit der Beziehungen zwischen Teilnehmern und Therapeuten und integriert sich und sein kleines Team auch selbst in dieses demokratische Gefüge.

Im geschützten Raum des Bootes sprechen „labile Menschen“ über ihre Ängste, über „negative Schwingungen“ und Stimmen in ihrem Kopf, über Isolation und Einsamkeit. „Ich habe meine Freiheit verloren“, sagt eine Frau. „Geisteskranke haben keine Familie“, meint ein anderer Besucher. Es geht um Assoziationen, die von Bildern und Menschen ausgelöst werden, und um notwendige Medikamente, die dabei helfen, nicht durchzudrehen. Marc Nauciel singt auf berührende Weise „Personne n’est parfait“ (Niemand ist perfekt); und die Vielfachbegabung Frédéric Brieur, der malt, schreibt und Musik macht, wähnt in sich Inkarnationen tragischer Künstlergestalten wie van Gogh und Jim Morrison. Für sein Porträt eines ebenso widerständigen wie „utopischen Orts der Menschlichkeit“ lässt sich Nicolas Philibert von Zufällen, guten Gelegenheiten und überraschenden Details leiten. So entsteht unvoreingenommen eine Nähe zu Menschen, ihrer Würde und zu ihren kreativen Potentialen, die Selbstwirksamkeit befördern und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Darin spiegelt sich zugleich – und nicht zuletzt als Korrektiv – ganz allgemein unser Menschsein.

Talk to Me

(AU 2022, Regie: Danny Philippou, Michael Philippou)

Sommer-Challenge: Handerlhalt-Horror
von Drehli Robnik

Zum heutigen Teen-Horror-Repertoire gehören Filme, in denen junge Leute ein Objekt finden, das ihnen alle möglichen Wünsche erfüllt: Sie müssen sich dafür dem jeweiligen Dingsbums – oft ist es eine …

Zum heutigen Teen-Horror-Repertoire gehören Filme, in denen junge Leute ein Objekt finden, das ihnen alle möglichen Wünsche erfüllt: Sie müssen sich dafür dem jeweiligen Dingsbums – oft ist es eine Art Medium: Polaroid-Kamera, Zauberkasterl, Ouija-Board – allerdings rückhaltlos rituell hingeben. Darauf folgt dann erwartungsgemäß die Übererfüllung der Wünsche mit schaurigen Kollateralschäden und jeder Menge Katzenjammer.

So ist es auch im australischen Melancholiegrusler „Talk to Me“: Eine weiße Hand – ob Gips-Zierrat (so sieht sie aus) oder einbalsamierter Leichenteil (so heißt es), ist egal – wird einer multiethnischen jungen Clique zur Partydroge. Wer nämlich diese Hand für einige Sekunden hält, sieht ramponierte Tote vor sich, die auf Zuruf eine Minute lang von den zur Mutprobe Angetretenen Besitz ergreifen. Das ist trippig für die Jeweiligen – und eine Mordsgaudi für jene rundum, die sie dabei mit ihren Telefonkameras filmen und ohne erkennbaren Abnutzungseffekt schadenfreudig kichern. Eh klar sind manche von ihnen irgendwann sehr traurig, weil Kontakt mit toter Mutter und viel unaufgearbeiteter intergenerationaler Schmerz, na so was!

Der Habitus von High School- oder College-Anfangs-Kids ist in anderen Filmen nur ein Hintergrund für bizarre Todesserien – hier rückt er nun (for better or for worse) in den Vordergrund: Ein prägnant als schizophren herausgearbeitetes Wechselspiel zwischen Apathie (Herumhängen am Handy) und boshafter Euphorie (Herumfilmen mit Handy), das in eine etwas ausgestellte Verletztheit als ostentativ authentische Existenzweise mündet. Im Misch-Diskurs zwischen Kritik und PR wird „Talk to Me“ dafür – und für das Auftauchen im Dialog von Jargonwörtern, an denen Leute wie ich erkennen (sollen), dass hier echte Jugendliche so reden wie echte Jugendliche – als irgendwie echt gelobt. Wird schon so sein. Jedenfalls treiben nicht Kiffen, Sex oder Nerd-Wissen (wie einst in „Halloween“ oder „Scream“), sondern Verlust und Trauma hier zarte Seelen und Körper um. Sie halten Handys und sehen sich; sie halten die Hand, sehen Tote und halten es nicht mehr aus. Don’t Fear the Reaper.

Das ist gut gespielt (vor allem von Sophie Wilde in der Hauptrolle) und eh gepflegt inszeniert, von dem australischen Online-Content-Providing-Scherzkeks-Duo Danny & Michael Philippou, die das Machen eines Horrorfilms eingestandenermaßen als etwas sehen, das einfach getan gehört, sei’s als Karriere-Move oder als eine Challenge, die zum Gaudium der Peergroup absolviert sein will, oder wo ist der Unterschied… Viel musst du ja eh nicht tun, der Film ist kurz, der Cast ansehnlich, die schöne lange Eröffnungsszene könnte aus „It Follows“ stammen, das Grinse-Sujet auf dem Plakat aus „Smile“. (Siehst du es auch so?) Außerdem trägt man heuer A24 und vulnerability, und was herauskommt, ist hohl (wie die Hand), aber hip.

Diese Besprechung erschien zuerst in handschriftlicher Fassung im Rahmen einer karriereboostenden Filmkritik-Challenge und dann in Kurzfassung in der Wiener Stadtzeitschrift Falter.

Past Lives

(FR/KR 2023, Regie: Celine Song)

Zwischen Zufall und Notwendigkeit
von Wolfgang Nierlin

Die 12-jährige Na Young ist ein kluges und ehrgeiziges Mädchen. Auf dem gemeinsamen Heimweg mit ihrem gleichaltrigen Schulfreund Hae Sung hat sie Tränen in den Augen, weil in der letzten …

Die 12-jährige Na Young ist ein kluges und ehrgeiziges Mädchen. Auf dem gemeinsamen Heimweg mit ihrem gleichaltrigen Schulfreund Hae Sung hat sie Tränen in den Augen, weil in der letzten Klassenarbeit ausnahmsweise nicht sie, sondern er die beste Note geschrieben hat. Die scheue, selbstverständliche Freundschaft der beiden Kinder, die nur in wenigen Szenen und tiefen Blicken behauptet wird, bedeutet vor allem dem zurückhaltenden Jungen mehr. Einmal, auf der Heimfahrt vom Spielplatz, halten sie sich geschwisterlich die Hände. Kurz darauf kommt es zu einem stummen, verstockten Abschied, denn die Eltern von Na Young, die beide als Künstler tätig sind, wollen mit ungewisser Perspektive nach Kanada auswandern. Der Grund dafür bleibt unklar. Doch die Mutter erklärt einmal bedeutungsschwanger: „Wenn man etwas zurücklässt, entsteht Platz für Neues.“ Celine Songs Film „Past lives“ („In einem anderen Leben“) handelt auch davon, wie die Vergangenheit die Gegenwart einholt und sich nicht einfach abschütteln lässt.

12 Jahre später befindet sich Na Young tatsächlich in einem neuen Leben: Sie heißt jetzt Nora Moon (Greta Lee), wohnt in New York und gilt als vielversprechende Dramatikerin, weil sie schicke Sätze schreibt. Doch auch über diesen Lebensabschnitt wird kaum etwas erzählt. Stattdessen meldet sich unerwartet Hae Sung (Teo Yoo) aus Südkorea, der angeblich schon länger nach Nora sucht, weil er sie seit der gemeinsamen Kindheit schmerzlich vermisst. Nach seinem Armeedienst hat er Maschinenbau studiert, ist aber offensichtlich Single geblieben. Das erfährt man über eine arg kursorische Internetkommunikation, deren Parallelmontage nur eine oberflächliche Bebilderung bietet und die Gewichte außerdem ungleich verteilt. Dann entscheidet sich Nora gegen ihre Gefühle und bricht den Kontakt abrupt ab. Später wird Hae Sung über ihre berufliche Zielstrebigkeit, der alles Private untergeordnet ist, sagen, sie habe immer alles machen, alles haben wollen.

Der Determinismus und die Zwangsläufigkeit, die daraus sprechen, werden in „Past lives“ kontrastiert von der Idee der schicksalhaften Fügung, bei der Seelenverwandte, die sich aus einem früheren Leben kennen, füreinander bestimmt sind. Die Gegenwart wäre in diesem Sinne also von der Vergangenheit geprägt. Zwar heiratet Nora ihren Schriftstellerkollegen Arthur (John Magaro), den sie in einer Künstlerresidenz von Montauk kennenlernt, doch in einem weiteren Zeitsprung von 12 Jahren wird sie in einem selbstverständlich verregneten New York von ihrem Kindheitsfreund besucht. In langen Gesprächen und noch längeren Blicken zwischen Nora und Hae Sung werden die Möglichkeitsformen eines nicht gelebten Lebens durchdekliniert und die Anteile des Zufalls erwogen. Dabei werden auch die besonderen Bedingungen von Migranten gestreift, die in der neuen Heimat immer auch Fremde geblieben sind und weiterhin in ihrer Muttersprache träumen.

Die südkoreanisch-kanadische Dramatikerin Celine Song erzählt die unausgesprochene, schwelende Liebesgeschichte ihres stimmungsvollen Debütfilms, der von eigenen Erlebnissen inspiriert ist, in einer ausgewogenen Mischung aus Nähe und Distanz. Der Akzent liegt dabei auf langen, behutsam inszenierten Dialogen, in denen das Schweigen und die Blicke beredt sind und die befangenen Gefühle nur mühsam unterdrückt werden können. Bevorzugt vor pittoresken Manhattan-Ansichten inszeniert, scheut die Regisseurin weder bildliche Klischees noch die Statik einer auf der Stelle tretenden, kaum greifbaren und wenig realitätshaltigen Erzählung. So besticht „Past lives“ allenfalls durch die subtile Ausdehnung eines ebenso schmerzlichen wie vergeblichen Gefühls, das ideell unterfüttert wird mit Überlegungen zur Frage, ob das Leben von Zufällen oder Notwendigkeiten bestimmt wird.

Fallende Blätter

(FI 2023, Regie: Aki Kaurismäki)

Einsam in einer kalten Welt
von Wolfgang Nierlin

Auf dem Laufband der Supermarktkasse stapeln sich riesige Fleischmassen. Währenddessen ist Ansa (Alma Pöysti) an den Regalen damit beschäftigt, unter dem stieren Blick eines Security-Mitarbeiters neue Produkte auszuzeichnen und Waren …

Auf dem Laufband der Supermarktkasse stapeln sich riesige Fleischmassen. Währenddessen ist Ansa (Alma Pöysti) an den Regalen damit beschäftigt, unter dem stieren Blick eines Security-Mitarbeiters neue Produkte auszuzeichnen und Waren mit überschrittenem Ablaufdatum zu „entsorgen“. Als sie einmal einem Bedürftigen erlaubt, abgelaufene Lebensmittel mitzunehmen und selbst ein vakuumiertes Brötchen einsteckt, wird sie denunziert, vom Chef zur Rede gestellt und kurzerhand entlassen. „Zeit ist Geld“, hält ihr der Betreiber eines überteuerten Internetcafés entgegen, als sich Ansa dort online auf Stellensuche begibt. Und als sie schließlich ihren neuen Job als Spülkraft in dem von trostlosen Trinkern frequentierten „California Pub“ antritt, macht der zwielichtige Boss keinen Hehl daraus, dass er ihre Arbeitskraft hemmungslos ausbeutet. Für Ansa ist die Spelunke indes nur ein weiterer Zwischenstopp auf dem Weg zum nächsten mehr oder weniger üblen Job.

Auch in seinem neuen illusionslosen Film „Fallende Blätter“ widmet sich Aki Kaurismäki in der für ihn typischen Mischung aus Melancholie, Tristesse und trockenem Humor den Außenseitern und Verlierern am Rande der Gesellschaft. Zu ihnen gehört auch Holappa (Jussi Vatanen), der seine staubige Arbeit auf dem Bau regelmäßig mit Alkohol hinunterspült und deshalb ebenfalls gefeuert wird. Dazu verliert er auch noch sein Bett in einer schäbigen Arbeiterbaracke. Einmal erklärt er seinem Kollegen den Circulus vituosus, in dem er sich befindet: „Ich bin deprimiert, weil ich so viel trinke; und ich trinke so viel, weil ich deprimiert bin.“ Darüber ist er einsam geworden, was ihn aber nicht zu stören scheint. Auch Ansa ist einsam, wenn sie abends allein und freudlos in ihrer kleinen Wohnung sitzt und wieder einmal die Radionachrichten ausstellt, als diese die neuesten Horrormeldungen aus dem Ukrainekrieg senden.

Natürlich lässt der finnische Regisseur auch diesmal seine traurigen Helden nicht ohne Hoffnung und schickt sie auf die wechselseitige Suche nach dem jeweils anderen. In der Logik von Kaurismäkis einmal mehr sehr lakonisch und statisch erzählten Liebesgeschichte, für die es nicht viele Worte braucht, es aber umso mehr sprechende Bilder gibt, bleibt das nicht ohne Rückschläge und absurde Verfehlungen. Die Begegnungen, die zufällig oder geplant dazu führen, finden statt in Cafés, an einer Bushaltestelle oder auch in jenem Filmkunsttheater namens „Ritz“, wo die beiden Jim Jarmuschs Zombie-Satire „The dead don’t die“ sehen. Außerdem wird die Handlung begleitet und kommentiert von einer Reihe finnischer Tangos und wehmütiger Schlager, in denen die Liebessehnsucht und der Schmerz über vergebliche Gefühle besungen werden. Selbstverständlich huldigt Kaurismäki in seiner sehr kunstvoll und genau komponierten Tragikomödie auch diesmal dem Stummfilm – und zwar nicht nur stilistisch. Vor allem aber inszeniert er mit gedeckter Farbigkeit ein ebenso unwahrscheinliches wie romantisches Liebesmärchen gegen die Kälte des Kapitalismus, gegen (patriarchale) Ausbeutung und Krieg.

Forever Young

(FR 2022, Regie: Valeria Bruni Tedeschi)

Theater des Lebens
von Wolfgang Nierlin

Von Anfang an sind die Grenzen zwischen Leben und Theater aufgehoben und die Übergänge fließend. In Valeria Bruni Tedeschis autobiographisch inspiriertem Film „Forever young“ („Les amandiers“) beginnt dieser permanente Austausch, …

Von Anfang an sind die Grenzen zwischen Leben und Theater aufgehoben und die Übergänge fließend. In Valeria Bruni Tedeschis autobiographisch inspiriertem Film „Forever young“ („Les amandiers“) beginnt dieser permanente Austausch, der die Spielenden ebenso körperlich wie seelisch herausfordert und zur Selbstentblößung zwingt, mit einem Vorspiel. Angehende Schauspielschüler/innen bewerben sich in kurzen Spielszenen und sich daran anschließenden Motivationsgesprächen an der Schule des angesehenen Théâtre des Amandiers in Paris-Nanterre, das von Patrice Chereau (Louis Garrel) und Pierre Romans (Micha Lescot) geleitet wird. Exzessiv und exhibitionistisch zeigt sich dabei die junge Stella (Nadia Tereszkiewicz) in der Rolle von Sartres „Ehrbaren Dirne“. Danach im Gespräch sagt die offensichtlich aus wohlhabendem Elternhaus stammende Studentin, sie habe Angst, ihre Jugend zu verschwenden und fürchte sich vor dem Nichts. Eine andere Kandidatin bemerkt, dass für sie die Worte aus der Theaterliteratur als Schutzwall dienen.

Dass das Theater, um wahrhaftig zu sein, die Beglaubigung durch das Leben braucht, ist die von Chéreau mit Autorität und Strenge vertretene ästhetische Position. Die teils übergriffige Ausbeutung der Gefühle geht damit Hand in Hand. Dabei interessiert sich der fordernde Theaterregisseur, der mit den hungrigen Studentinnen und Studenten Anton Tschechows „Platonow“ einstudiert, vor allem für den Prozess der Arbeit. Chéreau will das echte Leben auf die Bühne bringen und bedient sich dafür hemmungslos der Gefühle und Erlebnisse anderer. Gleich zu Beginn heißt es einmal, auf dem Theater müsse man das Leben gegen das Schauspiel eintauschen und dabei verrückt und traurig werden.

Trotzdem ist „Les amandiers“ weder primär ein Portrait Chéreaus noch eine Reflexion über die Doppelbödigkeit des Theaters. Valeria Bruni Tedeschi, die ihren Ensemblefilm in warmen Farben und mit einer vitalen, atmenden Körnigkeit aufgenommen hat, evoziert vielmehr das künstlerische Milieu und den gesellschaftlichen Zeitgeist Mitte der 1980er Jahre sowie die leidenschaftlichen Erlebnisse ihrer junge Protagonisten. Die Liebeskämpfe und Leiden, überschwänglichen Hoffnungen und tiefen Enttäuschungen spiegeln sich dabei besonders in der schwierigen Liebesbeziehung zwischen Stella und dem drogensüchtigen Etienne (Sofiane Bennacer). Während die Proben voranschreiten, in der Gruppe eine panische, nur allzu berechtigte Angst vor Aids grassiert und in den Nachrichten von der Atomreaktor-Katastrophe in Tschernobyl berichtet wird, spitzt sich deren fragiles Verhältnis unheilvoll zu. Doch Valeria Bruni Tedeschi entlässt ihr Alter Ego Stella nicht ohne einen Trost, der direkt aus der Fähigkeit zum Schauspielen kommt.

Motherland

(NO/SE/UA 2023, Regie: Alexander Mihalkovich, Hanna Badziaka)

Das Land der Soldatenmütter
von Jürgen Kiontke

Selbstmord soll ihr Sohn begangen haben, so die offizielle Mitteilung, die Svetlana erhält. Der Junge war zum Wehrdienst eingezogen worden, und den hat er nicht überlebt. „Mein Sohn ist kein …

Selbstmord soll ihr Sohn begangen haben, so die offizielle Mitteilung, die Svetlana erhält. Der Junge war zum Wehrdienst eingezogen worden, und den hat er nicht überlebt. „Mein Sohn ist kein Selbstmörder“, sagt Svetlana. Als sie den Leichnam sehen konnte, habe sie bemerkt, dass der Körper voller Blutergüsse gewesen sei. Svetlana ist sich sicher: Ihr Sohn ist Opfer der „Herrschaft der Großväter“ geworden, eines Systems, in dem ältere Armeeangehörige jüngere quälen – und das manchmal mit tödlichem Ausgang.

„Motherland“ heißt der traurige Dokumentarfilm der belarussischen Regisseure Hanna Badziaka und Alexander Michalkowitsch. Das „Land der Mütter“ interpretieren sie dabei auf denkbar drastische Weise: Sie begleiten Svetlana auf ihrer Reise zu anderen Eltern, die ihr Kind im Dienst der Armee verloren. Gemeinsam schreiben sie Eingaben an das Verteidigungsministerium, wollen Aufklärung, was den Söhnen widerfahren ist.

Ihr zweiter Protagonist ist Nikita, der gerade zum Wehrdienst eingezogen wurde. Auch er erlebt unwürdige Zustände, viele seiner Freunde sind bereits vor dem Dienst geflohen. Mit einer Sache hat der junge Mann, der durchaus hinter seinem Land steht, nicht gerechnet: Als es 2020 zu Protesten gegen den Präsidenten Aleksandr Lukaschenko kommt, weil es zu Unregelmäßigkeiten bei seiner Wiederwahl gekommen sein soll, wird die Armee beauftragt, für Ordnung zu sorgen. Nikita wird schlecht bei dem Gedanken, auf die Demonstranten schießen zu müssen – nicht zuletzt, weil auch Freunde von ihm darunter sein könnten. Neulich waren sie noch zusammen auf einem Rave!

Auch unter den jungen Protestteilnehmern hören sich die Filmemacher um. Sie berichten von Übergriffen durch die Ordnungskräfte, dass Menschen zu Tode gekommen sind, sprechen von Prügel und schlimmen Haftbedingungen. Badziaka und Michalkowitsch halten mit ihrer Kamera voll drauf auf Belarus – das Land ihrer Mütter zeigt sich dabei nicht von der besten Seite.

Diese Kritik erschien zuerst am 12.08.2023 auf: links-bewegt.de

L’amour du monde – Sehnsucht nach der Welt

(FR/PT/CH 2023, Regie: Jenna Hasse)

Kleine Fluchten
von Wolfgang Nierlin

In den Sommerferien beginnt die 14-jährige Margaux (Clarisse Moussa) mit einem Praktikum in einem Kinderheim am Genfersee. Ihre Ankunft ist von Turbulenzen begleitet, denn ein kleines, etwa 7 Jahre altes …

In den Sommerferien beginnt die 14-jährige Margaux (Clarisse Moussa) mit einem Praktikum in einem Kinderheim am Genfersee. Ihre Ankunft ist von Turbulenzen begleitet, denn ein kleines, etwa 7 Jahre altes Mädchens namens Juliette (Esin Demircan) wehrt sich schreiend und mit Händen und Füßen gegen die Erzieher. Die verstörende Szene kontrastiert mit dem stillen und verträumten Wesen der Schülerin, die gerade ihr Schuljahr nicht geschafft hat, gelangweilt wirkt und eigentlich lieber etwas anderes machen würde. Denn ihre Freundinnen posten Bilder aus dem Italien-Urlaub, und Margaux selbst sehnt sich nach der Ferne. Mit einem gefakten Foto sendet sie „Grüße aus dem Paradies“ zurück. Trotzdem entsteht bald eine verhaltene, fast wortlose und zunehmend verschworene Beziehung zwischen der scheuen Teenagerin und der wütenden, hyperaktiven Juliette, die sich vernachlässigt fühlt. Ihre Mutter ist gestorben und der unzuverlässige Vater kümmert sich kaum.

Diese Einsamkeit, durch die Abwesenheit der Eltern verursacht, verbindet die beiden Mädchen. Denn Margaux‘ Eltern scheinen getrennt zu sein, weshalb sie bei ihrem Vater in einem Hotel von Aubonne lebt. Dieser hat allerdings nur Augen für seine Geliebte, sodass Margaux sich selbst überlassen bleibt. Gemeinsam mit der ebenso eigensinnigen wie neugierigen Juliette unternimmt sie Streifzüge entlang des bewaldeten Seeufers. Dabei lernen sie den jungen Fischer Joël (Marc Oosterhoff) kennen, der, weil seine Mutter gestorben ist, von Indonesien in die Romandie zurückgekehrt ist. Zwischen persönlichen Rückzügen und kleinen Fluchten in die Natur bilden die Kinder bald eine temporäre Schicksalsgemeinschaft, die sich den alltäglichen Zumutungen entzieht. Wenn die drei zusammen sind, scheint die Zeit stillzustehen. Dann treiben sie auf dem Rücken ruhig im Wasser oder erfahren beim gemeinsamen Fischen ein unbeschwertes, glückliches Zusammensein, dessen Selbstverständnis kaum Worte braucht.

Die junge Filmemacherin Jenna Hasse hat sich für ihr stimmungsvolles, atmosphärisch dichtes Spielfilmdebüt „L’amour du monde – Sehnsucht nach der Welt“ vom gleichnamigen Romantitel des waadtländischen Schriftstellers Charles Ferdinand Ramuz inspirieren lassen und zitiert eingangs aus dessen 1925 erschienenem Buch: „Wie konnten wir nur so leben und mit so wenig zufrieden sein; wie konnten wir so klein leben, wo doch alles so groß ist und es so viel gibt?“ Einmal schleicht sich Margaux ins Kino Rex, wo G. W. Pabsts Abenteuerfilm „L’Atlantide“ (1932) läuft; ein anderes Mal gestaltet sie mit ihrem Körper ein Schattenspiel. Zwischen einem imaginierten Anderswo und aufkeimender Liebessehnsucht, zwischen Wunsch und Wirklichkeit treiben die jugendlichen Helden in Jenna Hasses ruhig und unspektakulär erzähltem Coming-of-Age-Film durch die Ungewissheiten ihrer noch jungen Leben. Dabei finden sie vorübergehend Halt in den stillen Refugien ihres verschworenen Zusammenseins.

Black Box

(D 2023, Regie: Aslı Özge)

Unsicherheit macht paranoid
von Jürgen Kiontke

In Berlin zu Zeiten der Gentrifizierung: Im Hinterhof eines leicht maroden Mietshauses gehen unheimliche Dinge vor sich. Nicht nur, dass der Haupteigentümer einen Container samt Architekten in den Hinterhof platziert …

In Berlin zu Zeiten der Gentrifizierung: Im Hinterhof eines leicht maroden Mietshauses gehen unheimliche Dinge vor sich. Nicht nur, dass der Haupteigentümer einen Container samt Architekten in den Hinterhof platziert hat, der über das „Bauprojekt“ informiert, nein, nun kommt auch noch die Polizei. Die Straße wird abgesperrt, die Anwohner werden in ihre Wohnungen verwiesen. Einen Grund dafür erfährt man – erst mal und eine ganze Weile danach – nicht. Wer ein dringendes Vorstellungsgespräch hat, guckt heute in die Röhre – so etwas geht doch längst auch am Computer, war bei Corona auch so, rät der Hauptkommissar. Es soll Hinweise auf terroristische Aktivitäten geben. Von wem, das bleibt in diesem Film wie so vieles unklar. Nicht umsonst heißt Aslı Özges Mietshauspsychogramm „Black Box“ – es kommt nichts raus und nichts rein.

Der Reihe nach werden die Bewohner mit ihren Problemen und Sichtweisen vorgestellt. Wenn man das Haus nicht verlassen kann, beschäftigt man sich schon mal mit dem Nachbarn. Warum fährt die da ein Auto, das ihr nicht gehört? Warum hat der Typ oben rechts keinen Namen auf dem Klingelschild stehen? Du bist doch mit mir verheiratet, warum sagst du mir erst jetzt, dass du unsere Kohle an der Börse verzockt hast? Mit der Zeit nehmen die Ängste überhand: Immer noch weiß niemand genaues, weiter geht es auch nicht mit irgendwas und über allem kreist unablässig der Helikopter…

Regisseurin Özge lässt ihren erfahrenen Cast – u. a. Christian Berkel und Anne Ratte Polle – schön paranoid frei drehen. In „Black Box“ reflektieren sie über die Dinge, die die letzten Jahre durchaus an der Tagesordnung waren. Von Seuchenpolitik über Wohnungsverlust bis zu bürgerkriegsähnlicher Kneipenräumung reicht das Spektrum locker. Es dauert nicht lang, dann tendieren die ersten zu radikalen Einschätzungen und Lösungen der Situation. Allen gemein ist: Sie fürchten sich, weil sich ihr Umfeld ungewohnt verändert hat.

Mit der Zunahme von Unsicherheit würden unsere Gesellschaften immer verängstigter, sagt Özge. Dies führt zu einer zunehmenden Polarisierung und zu einem erstarkenden Nationalismus. „Im Gegensatz zu dem, was uns die Regierungen weismachen wollen, kommt die Gefahr in diesem Film, genau wie im wirklichen Leben, vielleicht nicht von außen, sondern von innen, von uns selbst.“ Ob das stimmt, kann jetzt gern im Kino überprüft werden.

Diese Kritik erschien zuerst am 10.08.2023 auf: links-bewegt.de

Barbie

(USA/GB 2023, Regie: Greta Gerwig)

Riss in der Kontinuität
von Wolfgang Nierlin

In der Exposition von Greta Gerwigs Film „Barbie“ dient die Referenz an die berühmte „Dawn of Man“-Sequenz aus Stanley Kubricks Science-Fiction-Klassiker „2001: Odyssee im Weltraum“ für einen ungewöhnlichen Zeit- und …

In der Exposition von Greta Gerwigs Film „Barbie“ dient die Referenz an die berühmte „Dawn of Man“-Sequenz aus Stanley Kubricks Science-Fiction-Klassiker „2001: Odyssee im Weltraum“ für einen ungewöhnlichen Zeit- und Quantensprung: Aus der gewöhnlichen Handpuppe, mit der Mädchen von jeher ihre spätere Mutterrolle einüben, wird der in Rosa strahlende Mädchentraum Barbie, ein verkaufsträchtiges Hochglanzprodukt mit übertriebenen weiblichen Körpermaßen und angeblich feministischer Botschaft; und aus der Steinwüste einer grauen Vorzeit ersteht das bunt glitzernde „Barbieland“ als Repräsentation einer idealen Frauenwelt, deren Perfektion natürlich ebenso utopisch wie verlogen ist. Die Projektionsfläche für die traumhafte Erfüllung des Unerfüllbaren besteht folgerichtig aus kitschigen Farben und runden Formen ohne räumliche Tiefe: ein fast mechanisches Räderwerk aus Plastik, Sperrholz und Pappe, das jedem Ding und jeder Puppe einen idealen Platz zuweist. Wo sich nichts verändert, ist alles ebenso heil wie steril.

Sorglos und selbstbewusst, unabhängig und befreit von der Mutterrolle bewegt sich die unablässig lächelnde Barbie durch dieses paradiesische Universum aus Traumhäusern und sonnigen Stränden in der ewig gleichen Abfolge perfekter Tage. „Frauen können alles sein“, sagt Barbie (Margot Robbie) mit feministischer Stoßrichtung. Doch tatsächlich ist ihre Welt unter der Konsumhülle leer, und Leben wird hier nur simuliert. Dazu passt auch die strikte Geschlechtertrennung, denn Begehren und Sex sind in diesem aseptischen Vakuum nicht vorgesehen. Die Männer sind nurmehr Schmachtende, vollständig abhängig von der Gunst der Angebeteten. „Ich existiere nur in der Wärme deines Blickes“, formuliert einmal Ken (Ryan Gosling) überaus poetisch mit Bezug auf sein aussichtsloses Schicksal gegenüber Barbie. Doch dann kommt es plötzlich zu einem „Riss in der Kontinuität“. Weil Barbie an Tod und Vergänglichkeit denkt, erfährt sie Irritationen, körperliche Veränderungen und Fehlfunktionen. Die Schönheit von „Barbieland“ ist nicht mehr makellos; und um den „Riss in der Membran“ zu reparieren, reisen Barbie und Ken auf der Suche nach der Ursache in die „reale Welt“.

© Warner Bros. Pictures

Greta Gerwig inszeniert diese Passagen, in denen gegensätzliche Welten, Lebensmodelle und Geschlechterrollen aufeinanderprallen, als Cultur-Clash-Komödie mit philosophischen Untertönen, geistreichen Dialogen, augenzwinkernden Zitaten und vielen witzigen Details. Daneben blickt sie selbstironisch auf die eigene Filmproduktion, die in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Spielzeughersteller Mattel entstand, und nimmt einen Teil des Rummels, der darauf folgte, gewissermaßen selbstreferentiell vorweg. Das verleiht dieser vielschichtigen und poppigen Realverfilmung der ideologisch aufgeladenen Spielzeugpuppenwelt, angesiedelt zwischen divergierenden Lebensanschauungen, einem ewigen, vielfach gebrochenen Geschlechterkampf und Anspielungen auf aktuelle Krisen, geradezu postmoderne Züge. Zwar erscheint der teils komplizierte Plot mit seinem konfliktreichen und permanentem Hin und Her etwas überfrachtet, doch Tanz und Gesangseinlagen, die nicht zuletzt an die farbigen Musicals von Jacques Demy erinnern, gleichen das wieder aus.

Während die „stereotypische Barbie“ in der echten Welt schließlich ihre notwendige Verletzlichkeit und das Leben als einen Prozess der Veränderung entdeckt, erwacht in Ken der Macho-Mann, der nach seiner Rückkehr nach „Barbieland“ dieses in ein patriarchalisches Kendom-Land transformiert. Das provoziert wiederum einen Geschlechterkrieg mit Kompromissen und einem ewig ungewissen Ausgang. Dass es dabei nicht nur um weibliche Emanzipation, sondern auch um die Identitätskrise des Mannes geht, stimmt zumindest tröstlich. Dass die Welt der Puppen letztlich nur ein defizitäres Modell für das echte Leben sein kann, mag als selbstverständlich erscheinen. Der schwierige Übertritt ins Unperfekte des Veränderlichen ist es weit weniger.

Jeder schreibt für sich allein

(DE 2023, Regie: Dominik Graf)

Das Virus des Faschismus
von Wolfgang Nierlin

In der Rahmenhandlung des Films untersucht der amerikanische Psychiater Douglas M. Kelley mit Hilfe des Rorschachtests die Psyche von Nazi-Verbrechern. Die von der zerfließenden Tinte und ihren zufälligen Mustern ausgelösten …

In der Rahmenhandlung des Films untersucht der amerikanische Psychiater Douglas M. Kelley mit Hilfe des Rorschachtests die Psyche von Nazi-Verbrechern. Die von der zerfließenden Tinte und ihren zufälligen Mustern ausgelösten Assoziationen sollen die Suche nach dem Bösen im Menschen befördern. Zwischen einer Verhaltensstörung und übertriebener Anpassungsleistung liegt vielleicht nur ein schmaler Grat. Das lässt sich wiederum übertragen auf das Verhalten des Einzelnen in diktatorischen Unrechtssystemen. Wie ein roter Faden zieht sich deshalb – auch auf der formalen Ebene – die Frage der Perspektive durch Dominik Grafs neuen Film „Jeder schreibt für sich allein“, der sich mit dem Verhalten deutscher „Schriftsteller im Nationalsozialismus“ beschäftigt. Als Grundlage und Wegweiser dienen ihm und seinem Co-Regisseur Felix von Boehm dabei Anatol Regniers gleichnamiges Buch. Der 1945 in einer prominenten Künstlerfamilie geborene Schriftsteller und Musiker versucht darin eine Erinnerungsgeschichte zu schreiben, die nicht vom Ende her und aus der Rückschau urteilt, sondern die unmittelbare Wirklichkeit gewissermaßen aus der Innenperspektive der betroffenen Schriftsteller zu erfassen sucht.

Da es sich bei dieser Rekonstruktion nur um Bruchstücke und Splitter einer vergangenen Realität handeln kann, sind dem Projekt von vornherein also Ambivalenzen, Relativitäten und mögliche Widersprüche eingeschrieben. Die Filmemacher konzentrieren sich in der Folge auf schriftliche Zeugnisse aus Büchern und Archiven, die sie mit filmischen Dokumenten, Ortsbegehungen, Spielszenen (aus Filmen) und aktuellen Interviews in Beziehung setzen. In der ersten Hälfte des fast dreistündigen Films stehen vor allem die widersprüchlichen Biographien von Gottfried Benn, Erich Kästner, Jochen Klepper und Hans Fallada im Mittelpunkt, die zwischen Anpassung und Rückzug ins Private changieren und dabei sehr unterschiedliche Facetten annehmen. Verteidigt etwa Benn in seiner Rede „Der neue Staat und die Intellektuellen“ und in seinem Aufsatz „Züchtung“ zunächst noch das „Hervortreten eines neuen biologischen Typs“, gerät er später selbst ins Visier der Machthaber. Während Erich Kästner wiederum mit ironischer Distanz und „depressivem Trotz“ den Weg in die Melancholie und ins unauffällige Mittun wählt, wie der Kunsthistoriker Florian Illies meint, zieht sich der verkrachte Schriftsteller Fallada in ein mecklenburgisches Dorf zurück und schreibt dort Romane, die sehr erfolgreich werden.

Der Begriff der sogenannten „inneren Emigration“ wird anhand dieser Beispiele einer kritischen Prüfung unterzogen. Immer wieder stellt sich dabei die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik, Werk und Autor. Kann man ein guter Schriftsteller und zugleich Nazi sein? Bei den Autoren Hanns Johst und Will Vesper, beides Apologeten des Regimes, scheint der Fall eines „Pakts mit dem Teufel“ (so die Kunstkritikerin Julia Voss mit Blick auf die Rolle Benns) eindeutiger zu liegen. Vespers Sohn Bernward wird später in seinem experimentellen Buch „Die Reise“ dem „Virus des Faschismus“ auf ganz eigene Weise nachspüren. „Wie sicher kann ein Mensch sich seiner selbst sein?“ Dieser von der Publizistin Carola Stern geprägte Satz zieht sich als Mahnung vor vorschnellen Urteilen durch diesen ebenso komplexen wie differenzierten Film.

Passages

(FR/DE 2023, Regie: Ira Sachs)

Verwirrende Liebesunordnung
von Wolfgang Nierlin

Zwischen Fiktion und Spiel im Spiel geht Tomas (Franz Rogowski) ziemlich nervös und aufgeregt hin und her, während Kameraschwenks seinen hektischen Bewegungen folgen. Der junge Regisseur, der aus Deutschland stammt …

Zwischen Fiktion und Spiel im Spiel geht Tomas (Franz Rogowski) ziemlich nervös und aufgeregt hin und her, während Kameraschwenks seinen hektischen Bewegungen folgen. Der junge Regisseur, der aus Deutschland stammt (und vielleicht deshalb wahlweise Fahrrad oder einen BMW fährt), leitet Dreharbeiten in historischem Dekor und ist unzufrieden mit dem Spiel seiner Darsteller. Ständig muss er die Aufnahmen unterbrechen. Dabei wechselt die Sprache ebenso unstet zwischen Englisch und Französisch. Erst später bei der Abschlussparty zum beendeten Filmdreh wird klar, dass Tomas seit mehreren Jahren in Paris lebt und arbeitet. Verheiratet ist er mit dem eher ruhigen und zurückhaltenden Grafikdesigner Martin (Ben Whishaw), der einen Gegenpol zum impulsiven, mehr spontanen Filmregisseur bildet. Als Tomas beim Tanzen der Grundschullehrerin Agathe (Adèle Exarchopoulos) näherkommt, die gerade ihren Freund verlassen hat, entwickelt sich zwischen den beiden bald eine leidenschaftliche Liebesbeziehung.

„Ich hatte Sex mit einer Frau“, gesteht Tomas am nächsten Morgen seinem Mann und erhofft sich von ihm nicht nur Verständnis für seine neue, aufregende Erfahrung, sondern auch brüderlichen Gefühlsbeistand. Zwar reagiert der verletzte Martin zunächst liebevoll und einfühlsam, doch das gemeinsame Wochenende im Landhaus bestätigt nur die Distanz. Tomas folgt seinen Gefühlen und zieht zu Agathe, die von ihm schwanger ist; und Martin lässt sich auf eine Beziehung mit dem Schriftsteller Amad (Erwan Kepoa Falé) ein, worauf Tomas wiederum mit Eifersucht reagiert. „Ich bin verwirrt“, sagt er, der spontan und fast unschuldig seinen Gefühlen folgt, diese aber nicht in Einklang bringen kann mit der Lebensrealität oder mit seinem vielleicht utopischen Beziehungsexperiment, das er in dieser schmerzhaften Dreiecksgeschichte anstrebt. In seinem ständigen Hin und Her wirkt Tomas wie ein Verlorener, der sich nicht entscheiden kann und ohne Arg andere verletzt, während er sich förmlich abstrampelt.

Vielleicht sieht man ihn in Ira Sachs‘ mittlerweile achtem Film „Passages“, der einen Übergang oder Zwischenzustand beschreibt, deshalb immer wieder unterwegs auf dem Fahrrad zwischen Orten und Menschen. Seine emotionale Instabilität, die eine energiegeladene Vorwärtsbewegung erzeugt und auch an seinem verwegenen Kleidungsstil ablesbar ist, irritiert immer wieder das labile Beziehungsgefüge und führt zu vielleicht unverständlichen Abzweigungen. Der amerikanische Regisseur überführt dieses unstete Begehren in eine elliptische Erzählstruktur mit einer Vorliebe für symmetrische Figurenkonstellationen. Angesiedelt im Künstlermilieu, überrascht sein in warmes Licht getauchter Film durch emotionale Aufrichtigkeit und eine sensibel gestaltete Intimität der Figuren untereinander. Sehr konzentriert, realistisch und genau erzählt Ira Sachs von komplizierten Gefühlen, die unweigerlich zu einer anderen, diverseren Liebesordnung führen. Trotzdem bleibt am Ende des Tages, wie es in dem von Carrie Jacobs-Bond (in einem ganz anderen Zusammenhang) geschriebenen Lied „A perfect day“ heißt, jeder allein mit seinen Gedanken und Erinnerungen zurück.

Im Herzen jung

(FR/BL 2021, Regie: Carine Tardieu)

Liebe gegen Begrenzungen
von Wolfgang Nierlin

Pierre Escande (Melvil Poupaud) kommt aus der nächtlichen Unschärfe eines langen Krankenhausflurs. Der gutaussehende, sympathische Arzt und Onkologe arbeitet in einer Lyoner Klinik und hat gerade Bereitschaftsdienst. In dieser Nacht …

Pierre Escande (Melvil Poupaud) kommt aus der nächtlichen Unschärfe eines langen Krankenhausflurs. Der gutaussehende, sympathische Arzt und Onkologe arbeitet in einer Lyoner Klinik und hat gerade Bereitschaftsdienst. In dieser Nacht kümmert er sich aufmerksam und engagiert um eine todkranke Patientin. Deren beste Freundin ist die Architektin Shauna Loszinsky (Fanny Ardant). Angesichts des Unausweichlichen fühlt sie Angst und Sorge. Pierre versucht, sie zu beruhigen: Noch atmeten sie alle drei die gleiche Luft. Die Hoffnung, so lange es geht, am Leben festzuhalten, verbindet die Figuren und ihre Schicksale. Für einen kurzen Moment werden sie umhüllt von einem warmen, bläulichen Licht, das sich über die Stille der nächtlichen Einsamkeit legt. Pierre und Shauna verlieben sich in dieser Ausnahmesituation ineinander, ohne es zu wissen. Doch erst 15 Jahre später werden sie sich in Irland in einem Haus am Meer wiedersehen.

Was hier beginnt, von anfänglichem Zögern begleitet und von Unsicherheiten und gesellschaftlichen Tabus umstellt, ist die leidenschaftliche Liebesgeschichte zwischen einer 71-jährigen Frau und einem über zwanzig Jahre jüngeren Mann. Waren zu Beginn von Carine Tardieus Film „Im Herzen jung“ („Les jeunes amants“), der auf einer Idee und Script-Vorlage der verstorbenen Regisseurin Sólveig Anspach basiert, isolierende Räume und labyrinthische Gänge dominierend, so öffnet sich nun der Raum und die Dunkelheit weicht einem zögerlichen Licht. Pierre bewegt sich in der Folge zwischen Lyon und Paris, zwischen Gefühl und Verstand, vor allem aber zwischen seiner Familie und einer Geliebten, die ihrem unverhofften Glück nicht traut. Weil Pierre aufrichtig und ehrlich ist, kommt es bald zu einem heftigen Konflikt mit seiner Frau Jeanne (Cécile de France). Doch auch Shauna leidet unter einer Liebe, der keine Zukunft beschieden zu sein scheint.

Carine Tardieus ebenso ökonomisch wie behutsam und genau erzählte Liebesgeschichte besticht durch ausgefeilte Bilder, gute Dialoge und souveränes Schauspiel. Vor allem aber bleibt die differenzierte Darstellung der sich allmählich entfaltenden Konflikte immer nachvollziehbar. Dabei weitet die französische Regisseurin den Blick außerdem auf die Beziehungsnöte von Nebenfiguren, die gewissermaßen einen Resonanzraum für die allgemeine Sehnsucht nach Liebe bilden. Für Carine Tardieu spiegelt sich in diesem Begehren der Wunsch nach Lebendigkeit angesichts der vergehenden Zeit sowie die Notwenigkeit, sich von Begrenzungen zu befreien. Ihre Protagonisten, beide von Verlust und Trauer gezeichnet, müssen deshalb lernen, ihre bis dato unterdrückten Gefühle zu leben, um in einem schmerzhaften Prozess zu sich und zum anderen zu finden.

Die Purpursegel

(FR/IT/DE 2022, Regie: Pietro Marcello)

Gegen die Entzauberung der Welt
von Wolfgang Nierlin

Eine lange Kolonne von Kriegsheimkehrern erinnert an das Ende des 1. Weltkrieges. Müde und stumm gehen die Soldaten durch die weite Landschaft, die herbstlich anmutet und fern in der Zeit, …

Eine lange Kolonne von Kriegsheimkehrern erinnert an das Ende des 1. Weltkrieges. Müde und stumm gehen die Soldaten durch die weite Landschaft, die herbstlich anmutet und fern in der Zeit, was durch eine blasse, neblige Farbigkeit verstärkt wird. Tatsächlich handelt es sich um historische Aufnahmen, die Pietro Marcello hier und an anderen Stellen seines neuen Films „Die Purpursegel“ („L’envol“) nahtlos in die Spielhandlung einfügt. Denn schon wechselt die Szene zu Raphaël (Raphaël Thiéry), der mit schwerem, hinkendem Gang ebenfalls in sein kleines Dorf in der Picardie zurückkehrt, wo die Kinder noch Krieg spielen und die Bevölkerung Mangel leidet. Hier muss der große, schwere Mann mit den groben Gesichtszügen und den kräftigen Händen von der sorgsamen Nachbarin Adeline (Noémie Lvovsky) erfahren, dass seine junge Frau Marie gestorben ist. Deren Tochter Juliette, noch ein Baby, wird von Adeline nun in die Obhut des Vaters übergeben. Dieser sitzt am nächsten Tag auf dem Gräberfeld des Friedhofs zwischen schiefen, schmucklosen Kreuzen und spielt wehmütig Akkordeon.

Dass Maries Erkältungstod eine Vergewaltigung durch den Dorfwirt vorausging, wird in der Folge Raphaëls von unterdrückten Rachegefühlen imprägnierten Außenseiterstatus unter den rauen Dörflern verhärten. Schweigsam und zurückgezogen beginnt der handwerklich und musisch begabte Mann mit Holz zu arbeiten, und zwar zunächst als Angestellter im Schiffsbau, später als selbständiger Kunsthandwerker, der Spielzeug herstellt. Der Kontrast zwischen dem massigen Mann und der feinen Geschicklichkeit seiner Hände bestimmt auch das zärtlich innige Verhältnis zwischen dem Vater und seiner heranwachsenden Tochter. Juliette (Juliette Jouan) entwickelt sich im Lauf der Zeit nämlich zu einer schönen jungen, musikalisch begabten Frau, die Gedichte zu Liedern vertont und sich frei entfalten kann. Marcello betont hier die emanzipatorische und solidarische Kraft einer zusammengewürfelten Ersatzfamilie, zu der neben Adeline noch die Familie des Schmieds gehört. Zusammen bilden sie einen Gegenpol zu den Anfeindungen der Dorfgemeinschaft.

In seiner freien Adaption von Alexander Grins literarischen Vorlage geht es Pietro Marcello erneut um die Darstellung einer nahezu archaischen ländlichen Welt, die Mühen des einfachen Lebens und den Zauber der Natur, während die Vorzeichen des modernen Wandels zugleich vom allmählichen Verschwinden dieser Welt künden. Der körnige, mit dokumentarischen Mitteln gestaltete Realismus seines ebenso beeindruckenden wie bewegenden Films ist selbst Zeugnis eines Beharrungsvermögens wider den Zeitgeist. Aber auch mit der romantischen Figur Juliettes, die von der Liebe und von fernen Ländern träumt und dabei von den Prophezeiungen einer alten Zauberin (Yolande Moreau) bestärkt wird, evoziert Pietro Marcellos poetischer Film eine magische Gegenwelt. Elemente des Märchens und des Musicals sind deshalb ganz selbstverständlich Teil dieser magischen Ordnung, in der Juliette gegen die machtvolle Wiederholung des Schicksals und für ein selbstbestimmtes Liebesglück kämpft.

Insidious: The Red Door

(USA/CA 2023, Regie: Patrick Wilson)

Erinnert euch! Findet euch! Schreckt euch!
von Drehli Robnik

Dieser Kinosommer ist mit Abschieden gepflastert: Indiana Jones tritt ab, Ethan Hunt beginnt seinen Sechsstundenabgang, das DC-Universum wird demnächst rebootet, und ob sich nach dem diesjährigen Eberhoferkrimi noch ein zehnter …

Dieser Kinosommer ist mit Abschieden gepflastert: Indiana Jones tritt ab, Ethan Hunt beginnt seinen Sechsstundenabgang, das DC-Universum wird demnächst rebootet, und ob sich nach dem diesjährigen Eberhoferkrimi noch ein zehnter ausgehen wird, oder ob auch dieses Universum zum Rebooting muss, das weiß nur die Inflation.

Auch das „Insidious“-Horror-Franchise sagt zum Abschied leise Servus. Viele wussten ja vielleicht gar nicht, dass es überhaupt noch da war; ist doch „Insidious: The Red Door“ nun der späte Nachklapp zu den vier Filmen der von 2011 bis 2018 höchst erfolgreichen Spuk-Schocker-Reihe. Zwischenzeitlich hatte die Gruselkinoschmiede Blumhouse in Erwägung gezogen, einen Mashup zweier Zehnerjahre-Horror- nun ja: Universen anzupeilen, nämlich zwischen den „Insidious“- und „Sinister“-Reihen (letzteres war die mit den rituellen Familien-Suiziden auf alten Homemovies) unter dem Titel „Insinister“. (Vielleicht hätten ja noch die Fusionstitel „Insister“, „Sinidious“, „Sinnlous“ oder „Insiderwitzious“ zur Auswahl gestanden. Aber die wirklich durchschlagenden Film-Kernfusionstitel schreibt ohnehin der folgsame Nachvollzug halblustiger Marketing-Ideen durch den Meme-Betrieb, und insofern hätte es ja „Insidenheimer“ heißen müssen, um wirklich bruhahadasglaubstdunicht.) (Oder „Geröllheimer“, wie der alte GenX-Witz sagt.)

Zurück aber zu „Insidious 5“, der – viel einfallsreicher als ein bloßer Nummerzusatz – „Insidious: The Red Door“ titelt. Weil im Film nämlich eine Tür, und die ist… genau. Portal, ganz normal, zwischen den Welten, da musst du durch. Wobei die markenzeichenhaft düstere, in den Schwarztönen und Kamerafahrten so markante Inszenierung von unheimlichen Wohn-Innenräumen in den frühen Beiträgen dieses Franchise nun einem Fokus auf den endlos aufgeblähten Innenraum der mittelständischen Normpsyche gewichen ist, und letztere leidet derzeit rundum medial besonders einprägsam. Der „Insidious“-Nachklapp-Film hält also Rückschau auf spukende Familienseelenqual: was bisher geschah, quasi. Und so wird manch alte Szene neu bespielt, umperspektiviert (meta, Oida!). Dazu setzt es viel Drama – laut Plot-Prämisse durch Amnesie-Hypnose bewirkt – um das Problem, ob man sich eh noch erinnern kann: an all die hier aufgewärmten großen Momente eines mittleren Horror-Franchise, an all seine Jumpscares und Visionen, an Tiny Tims „Tiptoe Through the Tulips“, eiernd auf einem Kinder-Plattenspieler, an Dads wutrasende Besessenheit, die immer schon aussah wie ganz normale Männergewalt im gemeinsamen Haushalt (damals hieß so was noch „Beziehungsdrama“ oder „Familientragödie“), und an seine Problembeziehung zum Sohn (Ty Simpkins, Jahrgang 2001, wuchs mit dieser Rolle auf wie Putzi Lutz). (Diesen Putzi-Witz verstehen nur Leute, die mit der seit 1999 im österreichischen Reklamefernsehen eingesetzten und konstant gleich besetzten Familie Putz vom Möbelhaus XXXLutz vertraut sind, das für seinen Werbeauftritt in diesem Artikel 1 Million Schilling bezahlt hat. Danke. So macht Online-Filmkritik wieder Spaß.)

© Sony Pictures

Den Vater spielt wie immer Patrick Wilson, der ansonsten auch als Parapsychologiepatriarch im nach wie vor zugkräftigen „Conjuring“-Spukhorror-Universum fungiert; in „Insidious: The Black Window“ – Scherz! – führt er nun auch Regie, und da gelingen ihm einige Gustostückerl in Sachen wenig Licht (z. B. die Klaustro-Szene in der Computertomografie-Röhre) und Spielereien nach Art „Now you see it, now you don’t“. Echt fiese Kompositionen, wirklich gut. Und Lin Shaye, nunmehr 80, spielt wieder die Spiritistin und gibt lebensweisen Rat; ihr Anblick ist ein Repertoire-Motiv im neueren Horrorkino, eine Scream Queen – vielmehr: ein Gute-Gruselfee-Typus –, die erst mit Ende sechzig zum Dienst antrat (und also im Unterschied zu Jamie Lee Curtis immer schon betagt war und wohl noch länger als sie auf einen Nebenrollen-Oscar warten muss).

So viel Rückblick: Der fragile Sohn – er besucht nunmehr das College und kuriert dort seine Traumata in der scheuen Liebe zu einer toughen comic relief-Kommilitonin, sowie im Kunstunterricht: „Zeig mir beim Malen deine Dämonen!“ etc. –, er verkörpert in der Fiktion, was der Film uns als Publikum anmutet, nämlich ein wehmütiges Anknüpfen an Coming-of-Age-Erinnerungen. Ja, das waren noch Zeiten, damals – vor zehn Jahren! In der verklärenden Retrospektion scheint es, als hätten wir uns in den good old Zehnerjahren nur vor Filmen fürchten müssen. Als hätten viele, die heute selbst bald Eltern werden (Rose Byrne spielt hier auch wieder mit und streitet mit Patrick Wilson wie in einem Scheidungsdrama von Noah Baumbach, nur kürzer), sozusagen ihre glückliche Kindheit und Jugend mit der jährlichen Dosis „Insidious“ verbracht. Solch ein durcharbeitender Rückblick erfolgt hier in Form von Horror, der Horror erfolgt hier (wie in jedem gefühlt dritten Film heute) in Form eines Ringens um Heilung und mental health, und all dies erfolgt mit erstaunlichem Kassenerfolg in der weltweiten Performance. Das also bedeutet „Psychotherapie als Kassenleistung“.

Dieser Text erschien zuerst als nächtliche Vision und dann in gekürzter Fassung in der Wiener Stadtzeitung Falter.

Brother’s Keeper

(TR/RO 2021, Regie: Ferit Karahan)

Die Schule als Abbild des Systems
von Jürgen Kiontke

Die Schule ist abgelegen, es ist Winter: Im Internat im anatolischen Bergland unterrichten türkische Lehrer kurdische Schüler, die durch besondere Leistungen aufgefallen sind, es herrschen äußerst rigide Regeln. Jetzt das: …

Die Schule ist abgelegen, es ist Winter: Im Internat im anatolischen Bergland unterrichten türkische Lehrer kurdische Schüler, die durch besondere Leistungen aufgefallen sind, es herrschen äußerst rigide Regeln. Jetzt das: Die Jungen haben sich beim Waschen gestritten, daraufhin dürfen sie nur eiskaltes Wasser benutzen. Der zarte Memo spürt, wie er krank wird, er friert. Der 12-Jährige bittet seinen Freund Yusuf, mit bei ihm im Bett schlafen zu dürfen. Yusuf traut sich nicht, es könnte gefährliches Gerede geben. Am nächsten Tag geht es Memo schlecht, er muss dem Unterricht fernbleiben. Die Heizung fällt aus, Memos Fieber steigt, bald ist er nicht mehr ansprechbar. Die Lehrer schieben sich gegenseitig die Schuld zu.

Der Fall macht das Schulsystem offenbar. Niemand kümmert sich um die Nöte der Jungen, die Lehrer sind frustrierte Typen, sie hassen es, hier ohne Anbindung im Hinterland zu arbeiten. Es herrscht Drill – und politisch bedingter Druck: Kurdistan gibt es in dieser Schule nicht, das heißt Ostanatolien. Das Internat ist auch eine Umerziehungsanstalt.

Als die Schulleitung erkennt, wie brisant Memos Erkrankung werden könnte, zeigen sich die Mängel der Infrastruktur, bedingt durch eigene Willkür: Der Schulbus ist in Küchendingen unterwegs, es muss Käse für den Direktor besorgt werden. Das einzige Internatsauto ist aus Schlamperei sowieso nicht fahrtüchtig. Bald liegt Memo im Koma, keiner hilft… Die Schule – ein Systemfehler.

Regisseur Ferit Karahan verarbeitet im gemeinsam mit Gülistan Acet geschriebenen Drehbuch seine eigenen Erfahrungen als Kind in ähnlichen Schulen. Einerseits eröffnen diese die Möglichkeit der Bildung, andererseits dominiert rigider Nationalismus den Unterricht. Es herrscht Beklemmung. „Angst ist das Hauptthema“, sagt Karahan, „mit dem ich mich in meinen Filmen beschäftige“. Beziehungen unter solchen Bedingungen seien über die Maßen brüchig; um zu überleben, seien die Menschen täglich gezwungen zu lügen. Gefühle, Gesundheit und Sicherheit der Schüler spielen hier nicht die größte Rolle. Karahans Film ist ein Nachrichtenkanal aus der Welt autoritärer Erziehung.

Diese Kritik erschien zuerst am 19.07.2023 auf: links-bewegt.de

Aurora – Star wider Willen

(AM/DE/LT 2022, Regie: Inna Sahakyan)

Albtraumhafte Geschichte einer Flucht
von Wolfgang Nierlin

Eine alte Frau entrollt ein altes, gemaltes Filmplakat, auf dem sie selbst als junges Mädchen zu sehen ist und das den Stummfilm „Auctions of souls“ („Auktion der Seelen“) aka „Ravished …

Eine alte Frau entrollt ein altes, gemaltes Filmplakat, auf dem sie selbst als junges Mädchen zu sehen ist und das den Stummfilm „Auctions of souls“ („Auktion der Seelen“) aka „Ravished Armenia“ („Geschändetes Armenien“) von Oscar Apfel annonciert. Begleitet von der Off-Erzählung, blendet der Film dann über ins Jahr 1919, um Archivbilder von der Premiere und Ausschnitte aus dem Film zu zeigen, von dem nur etwa 18 Minuten erhalten sind. Zu sehen sind Bilder von Vertreibung und Flucht, von schrecklichen Gräueltaten und Tod. Gegenwart, Erinnerung und Vergangenheit gehen ineinander über. Die leidvolle Erfahrung kehrt als Trauma zurück. Und Aurora Mardiganian (1901–1994), die zur Zeit der Dreharbeiten 17 Jahre alt war und sich selbst als 14-jähriges Flüchtlingsmädchen spielt, sagt: „Ich war gar keine Schauspielerin. Das im Film war nicht gespielt. Es war meine eigene Geschichte.“

Diese ebenso unglaubliche wie wahre Überlebensgeschichte voller Gewalt und Tod beginnt im Frühling 1915 in Chmshkatzag, einem kleinen Ort im Westen Armeniens, der damals zum Osmanischen Reich gehört. Hier wird Arshaluys Mardigian im Jahre 1901 als Tochter eines wohlhabenden Seidenherstellers geboren. Das aufgeweckte Mädchen hat noch sieben Geschwister (der älteste Bruder lebt allerdings in Amerika), was durch ein Familienfoto dokumentiert wird. Zu Beginn ihres Animationsfilms „Aurora – Star wider Willen“ („Aurora’s sunrise“), in den Interviews mit der betagten Zeitzeugin, Archivmaterial sowie Szenen aus dem verschollenen Stummfilm kunstvoll eingearbeitet sind, beschreibt die armenische Regisseurin Inna Sahakyan eine idyllische, fast heile Welt der Kindheit. Diese erscheint in aquarellierten Landschaften und in zarten, hellen Pastelltönen eines glücklichen Miteinanders in der Großfamilie. Im schönen Garten des elterlichen Hauses führen die Kinder kleine Theaterstücke auf und Arshaluys lernt Schwimmen, was ihr später von Nutzen sein wird.

Diese heile Welt wird jäh zerstört, als die Jungtürken im Schatten des 1. Weltkrieges mit der systematischen Vertreibung und Ermordung des armenischen Volkes beginnen. Männer und Priester werden getötet, Häuser geplündert und gebrandschatzt, Frauen und Kinder auf Todesmärschen in die syrische Wüste getrieben. Es kommt zu Vergewaltigungen und willkürlichen Gewaltexzessen. Auf ihrer albtraumhaften Odyssee verliert Arshaluys fast ihre komplette Familie, sie wird mehrfach entführt und verkauft, findet aber auch immer wieder freundliche Helfer.

Der Film illustriert die furchtbaren Geschehnisse von Auroras autobiographischer Erzählung, die sie nach ihrer geglückten Flucht in die USA mit Hilfe des Journalisten Henry Gates zunächst in Fortsetzungen aufschreibt und publiziert, in ebenso drastischen wie realistischen Bildern. Dabei dient die Animation als wirkungsvolles Mittel, um zwischen emotionaler Nähe und Distanz zum Schrecken zu vermitteln. Daneben stehen Flashbacks, in denen unter dem Eindruck der Gewalt die Symbole einer glücklichen Kindheit schmerzlich pervertiert werden. Nach Stationen in Erzurum, Tiflis, St. Petersburg und Oslo erreicht die jugendliche Heldin auf abenteuerlichen Wegen 1918 schließlich New York. Der besagte dreistündige Film, der in Hollywood nach ihrer Geschichte gedreht wird, führt schließlich zu einer landesweiten, sehr erfolgreichen Spendenkampagne für armenische Waisenkinder. Am Ende aber steht Auroras Forderung nach Anerkennung für erlittenes Leid und nach – zumindest moralischer – Gerechtigkeit für ihr Volk.

Der Film ist noch bis zum 24.07.2023 in der Arte-Mediathek zu sehen.

Mission: Impossible Dead Reckoning – Teil 1

(USA 2023, Regie: Christopher McQuarrie)

Verlässlichkeit! Was sonst ist die Mission eines Action-Blockbusters?
von Drehli Robnik

Ausatmen, Einatmen: Es gab einmal den Vergleich des klassischen handlungsorientierten Kinofilms – Western oder andere „Reise-intensive“ Filme (kolonial, eh klar) – mit einem atmenden Körper, der sich in einem Rhythmus …

Ausatmen, Einatmen: Es gab einmal den Vergleich des klassischen handlungsorientierten Kinofilms – Western oder andere „Reise-intensive“ Filme (kolonial, eh klar) – mit einem atmenden Körper, der sich in einem Rhythmus von Sich-Ausbreiten und Sich-Zusammenziehen dahinbewegt. Davon bietet Tom Cruises „Mission: Impossible“-Franchise, das heute einen dauerhaft einprägsamen Inbegriff von Actionkino verkörpert, ein Zerrbild: mehr Hecheln als Atmen – und das Ausdehnen und Zusammenziehen ritualisiert im Wechsel von weitem Naturraum (rundherum nur Gebirge) und vernetzter Infosphäre (rundherum nur Daten), von durchraster Totalaufnahme und Knopf im Ohr, von Tourismusmetropole als Verfolgungsjagdrevier und verschlossenem Innenraum als Druckkammer bizarrer Choreografien (letzteres mustergültig im Hängen von der Decke einer Datenspeicherkammer im „Mission: Impossible“-Debütfilm von 1996; oder in der Unterwasser-Security-Schleuse im 2015er-Film; oder in der beengten Schlägerei zu dritt in der Herrentoilette im vorigen, 2018 veröffentlichten Film).

Auch Cruises Lebenszeit dehnt sich aus (beim Dreh des neuen Films war er 59), dafür wird sein Repertoire enger: Er macht seit Jahren nur noch Selbstbeweis-Aufgüsse wie das üble „Top Gun“-Reboot oder eben das „Mission: Impossible“-Franchise (das seit 2015 ein Stamm-Regisseur und -Co-Autor, Christopher McQuarrie, betreut). Und das Franchise wird immer länger, ist nunmehr fast ein Vierteljahrhundert alt (mit einer Vorgeschichte zurück zu jenem Maskenball von einer Spionage-Thriller-Serie aus den Mid-Sixties, von der Lalo Schifrins weird getaktetes Musik-Thema und der Titel stammen; auf Synchrondeutsch damals „Kobra, übernehmen Sie!“ – hat sich für die Kinofilme zum Glück nicht durchgesetzt); und auch in den einzelnen Folgen dehnt es sich immer mehr aus, sodass das Finale „Mission: Impossible Dead Reckoning“, nominell Teil 7 und 8, auf zwei knappe Dreistünder und zwei Sommer verteilt ist – aber die Zeit, die für Actionszenen bleibt, scheint sich zusammenzuziehen. Oder andersrum gesagt: War es bei fast allen „Mission: Impossible“-Filmen immer „besonders gleichgültig“, was für eine Art Massenvernichtungs-Formel oder Weltverbesserungs-Waffe wem abgeluchst werden muss, wodurch also die geheimdienstlichen und Terror-Sekten-Ränkespiele motiviert sind, so scheint diesmal leider genau darauf der Fokus des Films zu liegen. Sprich: „Mission: Impossible Dead Reckoning“ (der Titel hat sicher irgendwas zu bedeuten) krankt an zu viel Plot. Es gibt zu wenig Action und zu viele ominös flüsternde Gruppengespräche (speaking of „Atmen“) – und in denen muss immer irgendeine offene Rechnung, irgendein Rachetrieb, irgendein Gefühl, dass die Zeiten künftig anders sein werden, als sie es früher waren (Einsichten dieses Kalibers werden diesmal besonders oft durch verkniffene Lippen gepresst), muss all das sorgfältig kleingekaut werden, als wär dies auch nur ein ganz normaler Superheld*innenfilm und nicht eine Action-Ikone.

© Paramount Pictures

Wobei aber und immerhin: Das Intro mit einem russischem U-Boot (wohl als ein Ort, auf den Teil 2 der Abschiedstour zurückkommen wird), der Showdown mit Springerei in von der Brücke stürzenden Zugwaggons, das fetzt schon ein wenig, ebenso die car chase im possierlichen gelben Kleinauto in Rom. Cruise ist da am Steuer per Handschelle an Neuzugang Hayley Atwell gekettet, und sie zanken recht rum, wer da jetzt lenkt und wie und was. Das ist lustig. Aber es ruft, eben gerade mit der Handschelle, den Direktvergleich mit ähnlichen Pärchen-auf-der-Flucht-Situationen in Action-Reise-Krimis von Herrn Hitchcock vor 70, 80, 90 Jahren ins Gedächtnis – von „The Thirty-Nine Steps“ (1935) bis „North by Northwest“ (1959), der sozusagen der letzte Halt vor der James-Bond-Film-Formel war, mit der ja heute noch „Mission: Impossible“ rivalisiert –, und dieser Vergleich fällt schmerzlich, wehmütig aus. Denn: Da ist bei Cruise doch wenig an Spiel mit Objekten, seien sie ein Symbol-Ding oder ein Fetisch-Toy; vielmehr ist die Handschelle hier Teil und Insignie des umfassenden Programms „Bindung“, aufgeladen mit den Werten Loyalität und Verlässlichkeit, und all das wird von Cruises Ethan Hunt hier (und auch schon im vorigen Film) breit verkündet. Und da aber in „Dead Reckoning“ Figuren äußerst schematisch beseitigt (Rebecca Fergusons Ilsa) oder heruntergestuft werden (Ving Rhames‘ Luther), da hier also – auch wenn der wie immer besonders unlustige Franchise-Regular Simon Pegg (der war mal echt gut!) (in anderen Filmen) irgendwas von wegen seine friends seien ihm das Wichtigste daherredet – die Loyalität keineswegs dem Personal gilt, meint das ultimativ unsere Bindung, und zwar an die verlässliche Marke Cruise.

Wie ein braver alter Verbrenner springt er immer wieder an – Tom-Tom-Tom-Tom-Tom! – und tut seinen Dienst. Verweigert hat er nie. Das ist Ideologie in Aktion/Action – Trauma heißt hier auch nur Antrieb: Auf good old Tom Cruise können (sollen) wir uns halt verlassen; verbissen und technologieoffen macht er weiter im Abnützungskrieg gegen den Kinopublikumsschwund. Stunts D.I.Y., na super! (Ich dachte, Belmondo ist tot.) Einst grinste er mit Flatterhaar, jetzt ruft er „I won’t let you down!“. Er predigt (zumal beim salbungsvollen Rekrutieren eines Neuzugangs in die Church of IMF, besonders doof, lang und redselig). Man möchte fast sagen: Er missioniert. Diese Art ist eigentlich unmöglich! Aber: So heißt ja der Film.

Diese Besprechung erschien zuerst in Kurzform in der Zeitschrift Falter und wird sich innerhalb von zehn Sekunden selbst zerstören.

Gehen und Bleiben

(DE 2023, Regie: Volker Koepp)

Notwendige Erinnerungen
von Wolfgang Nierlin

Ein ruhiger Kameraschwenk übers Meer mit seiner fernen Horizontlinie mündet in der Liedzeile „Blue as blue can be“, die aus dem Außenlautsprecher eines Kleinbusses dröhnt. Auch wenn Countrysänger Smiley Maxedon …

Ein ruhiger Kameraschwenk übers Meer mit seiner fernen Horizontlinie mündet in der Liedzeile „Blue as blue can be“, die aus dem Außenlautsprecher eines Kleinbusses dröhnt. Auch wenn Countrysänger Smiley Maxedon darin seinen Liebesschmerz besingt, ist diese Reminiszenz dem Schriftsteller Uwe Johnson gewidmet, der hier, im englischen Sheerness on Sea auf der Isle of Sheppey, ab 1974 bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1984 gelebt hat und einmal schrieb: „Und überdies erwies uns die See einige Augenblicke lang die Höflichkeit, so blau zu sein, wie blau nur sein kann.“ Das Meer als facettenreiches Bindeglied führt entsprechend die filmische Spurensuche des renommierten Dokumentaristen Volker Koepp von Johnsons pommerschem Geburtsort Cammin an der Ostsee ins unweit gelegene Anklam, wo dieser einen Teil seiner Kindheit verbracht hat. In seinem neuen Film „Gehen und Bleiben“ trifft Koepp hier zunächst auf die gebürtige Anklamerin und Schriftstellerin Judith Zander, die vermutet, dass nur aus der Distanz die Heimat zu einem Sehnsuchtsort werden könne.

Nach seinem Aufbruch in den Westen, wo Uwe Johnson nach seinem Germanistikstudium ab 1959 zunächst in Westberlin, später in New York und in besagtem Sheerness lebte, blickte er für sein Schreiben aus der Entfernung auf Geschichte und Gegenwart seines Herkunftslandes. Dass die Nachwirkungen der Kriege gerade auch angesichts des gegenwärtigen in der Ukraine noch immer nicht vorbei seien, ist gewissermaßen eine These des Films, die sich wiederum mit Johnsons Schreiben gegen das Vergessen verbindet. Auf seiner Reise durch die Fluss- und Seenlandschaft Mecklenburg-Vorpommerns zwischen Anklam, Güstrow und dem Fischland lässt Koepp deshalb Menschen zu Wort kommen, die sich an die schweren Kriegs- und Nachkriegsjahre, an Tod und Vertreibung erinnern. Dazu liest der Schauspieler Peter Kurth, der aus Goldberg bei Güstrow stammt, aus den Werken Johnsons.

Volker Koepps gewohnt ruhiger, nachdenklicher Film ist aber mehr als ein konventionelles Schriftstellerportrait. Zwar trifft er Menschen, die Johnson kannten und sich an ihn erinnern, die dabei aber immer auch über sich selbst, über Orte, Landschaften und von eigene Erfahrungen erzählen. In dieser Mischung aus historischen Fakten, persönlichen Erinnerungen, Assoziationen und Zitaten entsteht eine Art Doppelportrait durch Zeit und Raum, das neben dem Schriftsteller immer auch von mehr oder weniger bekannten anderen Menschen handelt; so gibt etwa auch der in Nossendorf lebende Filmemacher Hans-Jürgen Syberberg Auskunft. Das mutmaßlich Nebensächliche, Beiläufige oder auch Abschweifende, das damit korrespondiert, hat in den Filmen Volker Koepps Methode. Kein überflüssiger Schnitt stört den Zeitfluss, während die Zeitzeugen sprechen sowie Alltägliches, Zufälliges und scheinbar Banales in den Film einfließen, der damit auch wiederholt auf seine Gemachtheit verweist. So entsteht schließlich auch eine besonders vertrauensvolle Nähe, die Neugier weckt, den Blick auf das Entfernte schärft und die aktuelle Dringlichkeit notwendiger Erinnerung unterstreicht.

Alma & Oskar

(AT/DE/CH/CZ 2022, Regie: Dieter Berner)

Im Klischeesumpf
von Wolfgang Nierlin

1911 probt Gustav Mahler (Marcello De Nardo) in New York. Seine junge Frau Alma (Emily Cox), die selbst musikalische Ambitionen hegt und komponieren möchte, assistiert ihm genervt. Dann öffnet der …

1911 probt Gustav Mahler (Marcello De Nardo) in New York. Seine junge Frau Alma (Emily Cox), die selbst musikalische Ambitionen hegt und komponieren möchte, assistiert ihm genervt. Dann öffnet der herzschwache Komponist einen Liebesbrief, der zwar an ihn adressiert, aber an seine Frau gerichtet ist und vom Architekten Walter Gropius (Anton von Lucke) stammt. Es kommt zu einem Streit, in dessen kurzem Verlauf Alma Mahler schlagwortartig sagt, sie fühle sich vernachlässigt, wolle leben und begehre den Körper des Jüngeren. Außerdem träume sie davon, Komponistin zu sein. Geballter weiblicher Lebenshunger trifft hier auf ängstliche Eifersucht und ungeordnetes Begehren auf die Sorge um geordnete Lebensbahnen. Vier Monate später stirbt Mahler in Wien und ein junger, geheimnisvoller Maler namens Oskar Kokoschka (Valentin Postlmayr) fertigt seine Totenmaske. Als er sich dabei in die Handfläche schneidet, leckt die Witwe zumindest in ihrer Fantasie Blut.

So holzschnittartig gerafft und plakativ erzählt Dieter Berner nach dem Buch „Die Windsbraut“ von Hilde Berger die leidenschaftliche Amour fou zwischen „Alma & Oskar“, wie der kumpelhafte Titel des flotten, in bewegten Einstellungen inszenierten Films lautet. Denn schon kurz darauf entbrennt der Maler mit dem bohrenden Blick und der Gabe zur Seelenschau in heftige Liebe zur freigeistig und unabhängig gezeichneten Alma Mahler, die sich gerne, so sagt sie selbst, mit Genies umgibt. Er malt ihr Portrait in der Pose der „Olympia“, hat rasenden Sex mit ihr im Atelier und reagiert auf die anderen Liebschaften der Angebeteten mit besessener Eifersucht: „Ich dulde keine Götter neben mir.“ Ähnlich überhöht und klischeehaft ist entsprechend seine eigenwillige, unbequeme Künstlernatur charakterisiert. Wie so oft in oberflächlichen Filmen sind auch in „Alma & Oskar“ Arbeit, Künstlergespräche sowie Alltägliches nur Behauptung und Vorwand für Liebeskämpfe und Gefühlsausbrüche.

Daneben erheben Berner und Berger mit ihrem Künstlerfilm aber zugleich und vor allem den Anspruch, in der Charakterisierung von Alma Mahler eine fortschrittliche, sexuell freizügige und künstlerisch kreative Frau zu zeigen, die sich selbstbewusst gegen den herrschenden Zeitgeist behauptet. Doch zwischen Anpassung ans bürgerliche Leben und dem Willen zur Unabhängigkeit legt sich immer wieder der Schatten ihres verstorbenen Mannes über ihre eigenen Ambitionen. So probt sie etwa zusammen mit dem Dirigenten Bruno Walter (Mehmet Ateşçi) für die Uraufführung von Mahlers nachgelassener 9. Sinfonie. Ihre Sehnsucht nach Ruhm und Anerkennung führt schließlich zum Konflikt mit Kokoschka und zu einer nicht ganz klaren Entzweiung. Doch weil der sich sehr heutig gebende, diverse Hintergrundinformationen aussparende Film „Alma & Oskar“ in der Beziehung seiner Protagonisten vor allem ein Liebesbegehren zeigen will, das sich mutig der Angst vor dem Leben entgegenstellt, sind die beiden zumindest ideell und in der Logik dieser Anekdote auf ewig vereint.

Unser Fluss… Unser Himmel

(GB/DE/FR/KW 2021, Regie: Maysoon Pachachi)

Kampf um Normalität
von Jürgen Kiontke

Bagdad, im Winter 2006. Drei Jahre ist es her, dass die von den USA angeführten Truppen in den Irak einmarschiert sind. Und wie sieht es nun aus? Gewalt von Islamisten, …

Bagdad, im Winter 2006. Drei Jahre ist es her, dass die von den USA angeführten Truppen in den Irak einmarschiert sind. Und wie sieht es nun aus? Gewalt von Islamisten, nächtliche Ausgangssperren. Stromausfall. Was als Befreiung von einer Diktatur proklamiert wurde, führt zu neuen Missständen.

Die irakische Regisseurin und Drehbuchautorin Maysoon Pachachi führt das Publikum in ihrem neuen Film „Unser Fluss… Unser Himmel“ zurück in den Irak nach dem Krieg, nach Saddam Hussein. Am Beispiel einer kleinen Nachbarschaft von Menschen unterschiedlicher Religion und Herkunft zeigt sie, wie sich das Leben nun anfühlt.

Trotz Anschlägen, Leid und Elend. Die Menschen kämpfen um Normalität und Nähe, lachen und ziehen ihre Kinder groß. Welche Zukunft werden sie dort haben? Das fragt sich auch Sara, einst gefeierte Lyrikerin, nun alleinerziehende Mutter und Autorin ohne Text. Alles, denkt Sara, was sie schreiben würde, müsste Lüge sein: Kriegshorror und Traumata sorgen bei ihr für die Schreibblockade. Sie fährt mit ihrer Tochter über den Tigris und rekapituliert ihr Leben, Chancen und Aufgaben für sich und das Kind.

Zukunft ist ein großes Stichwort, Flucht eine dauerpräsente Überlegung. Erst ein Treffen mit ihrem ehemaligen Literaturdozenten lässt sie zu neuen Erkenntnissen kommen. Der Lehrer erinnert sie daran, welch großes Talent sie besitzt. Wäre es nicht besser, sich über das Schreiben das Land – metaphorisch „Fluss und Himmel“-, den Tigris und ganz Bagdad wieder anzueignen?

Regisseurin Pachachi erschafft mit der Geschichte Saras elegische Bilder einer zerstörten Stadt, in der trotz allen Übels die Menschlichkeit erhalten blieb. Sie berichtet von den Versuchen, eine schwierige Gegenwart in etwas anderes zu verwandeln – und seien es Gedichte. Der Versuch, so die Botschaft, lohnt sich immer. Gerade jetzt sei es wichtig, von individuellem Widerstand und Hoffnung im Nahen Osten zu erzählen, „wo so viele Menschen es immer noch schaffen, als Menschen miteinander solidarisch zu sein“, sagt die Regisseurin.

Diese Kritik erschien zuerst am 06.07.2023 auf: links-bewegt.de

Mit Liebe und Entschlossenheit

(FR 2022, Regie: Claire Denis)

Zweischneidiges Begehren
von Wolfgang Nierlin

Vom Liebesglück am Meer erzählen die ersten, wortlosen Bilder des Films, die von einer leicht sentimentalen Musik begleitet werden. Während sich das Licht auf den kräuselnden Wellen bricht, bewegen sich …

Vom Liebesglück am Meer erzählen die ersten, wortlosen Bilder des Films, die von einer leicht sentimentalen Musik begleitet werden. Während sich das Licht auf den kräuselnden Wellen bricht, bewegen sich Sara (Juliette Binoche) und Jean (Vincent Lindon) unter einem blauen Himmel durch das kniehohe Wasser. Man spürt ihre tiefe, zärtliche Vertrautheit, wenn sie sich berühren, umarmen oder an den Händen halten. So fühlt sich eine Liebe an, die nahezu körperlich spürbar wird. Dafür inszeniert Claire Denis in ihrem neuen Film „Mit Liebe und Entschlossenheit“ zusammen mit ihrem Kameramann Eric Gautier eine feine Balance zwischen intimer Nähe und Distanz. Seit neun Jahren sind die beiden ein Paar. Doch wenn sie aus dem Urlaub in ihre helle Pariser Wohnung mit den offenen Türen zurückkehren, wo sie sich in den großen Balkonfenstern ineinander spiegeln, liegt im stillen Einverständnis ihrer Blicke zugleich der Schatten eines zögerlichen Lauerns.

Dass zwischen dem sommerlichen Meer und der Ankunft in der herbstlichen Wohnung die Fahrt erst durch einen langen, dunklen Metro-Schacht geht, verweist bereits auf die bevorstehende Krise. Nur wenig und auch nur in Andeutungen erfährt man über Sara, die als Radiojournalistin arbeitet, und über den früheren Rugbyspieler Jean, der offensichtlich einen Gefängnisaufenthalt hinter sich hat. Ihre Geschichten wirken zwar fort, doch Claire Denis, die hier einen Roman der französischen Schriftstellerin Christine Angot adaptiert hat, interessiert sich mehr für die Ablagerungen, Spuren und Gesten in der Gegenwart. Dann sagt Sara eines Tages zu Jean: „Die Vergangenheit ist zurückgekommen.“ Und damit meint sie ihren früheren Geliebten François (Grégoire Colin), der auch mit Jean befreundet ist und der zusammen mit diesem eine Agentur zur Vermittlung von Rugbyspielern eröffnen will. Die tatsächliche Arbeit der beiden bleibt im Folgenden aber eher abstrakt und nebulös.

Saras wiedererwachtes Begehren, das fortan mit Widersprüchen und Halbwahrheiten jongliert und dabei das Offensichtliche nur halbherzig verdrängt, wird geradezu zu einem physischen Schmerz. Sie registriert an sich „Liebe, Angst schlaflose Nächte, das Telefon neben dem Bett und das Gefühl, feucht zu werden“. Und Jean, der sich verletzt fühlt, reagiert zunächst mit Eifersucht: „Es gibt Wunden, die nie verheilen.“ Mit intimen Blicken widmet sich die französische Regisseurin erneut der Sprache der Körper, ihrem Glück und ihren Wunden. Wo die Worte lügen und sich in sinnlosen Streitereien verheddern, geraten die Körper aneinander. Das ist ebenso menschlich wie erschreckend. Parallel zu diesen schonungslosen Szenen einer Paarbeziehung erzählt Denis von Jeans orientierungslosem 15-jährigen Sohn Marcus (Issa Perica), der bei seiner Oma Nelly (Bulle Ogier) in Vitry lebt und mit seiner Herkunft hadert. Doch das bleibt als Reminiszenz an Denis‘ frühere Beschäftigung mit dem Erbe des Kolonialismus nur eine Randnotiz. Auch wenn sich Jean mit seinem Sohn darin trifft, für sich und ihn ein eigenes Leben zu fordern; bevor die Tindersticks schließlich „Both sides of the blade“ singen.

Indiana Jones und das Rad des Schicksals

(USA 2023, Regie: James Mangold)

Aale müssen mit: Sentimentale Zeitreise zu den Pflichtstationen eines Franchise
von Drehli Robnik

„Yesterday belongs to us!“ sagt gegen Ende des Films ein Altnazi-Archäologe (Mads Mikkelsen, etwas vergeben als Schurke besetzt), als ihm das Zurückreisen in die Zeit zu glücken scheint. Über Zeitliches, …

„Yesterday belongs to us!“ sagt gegen Ende des Films ein Altnazi-Archäologe (Mads Mikkelsen, etwas vergeben als Schurke besetzt), als ihm das Zurückreisen in die Zeit zu glücken scheint. Über Zeitliches, Vergangenes, hatte davor schon der Held dieses Films, vielmehr: dessen Darsteller Harrison Ford, einen starken Sager zu bieten; auf die Frage, ob nach seinem fünften, definitiv finalen Kino-Einsatz als Indiana Jones noch weitere Filme mit diesem Abenteuer-Archäologen denkbar wären, antwortete Ford: Ganz sicherlich nicht – „When I’m gone, he’s gone.“

Wenn Ford fort ist… Der Schauspieler mit der immer noch angenehmen Stimme und den mittlerweile enormen Ohrläppchen ist achtzig Jahre alt. Damit ist er ungefähr so alt wie – nun, nicht wie Indiana Jones, aber wie dessen Vorbilder. Er ist zirka so alt wie z. B. „Gunga Din“ (1939, mit Cary Grant im Tropenhelm-Haudrauf-Modus), einem Blueprint des zweiten Indiana Jones-Films (dem mit dem „Temple of Doom“, 1984) und wie generell jene Art von Old-Hollywood-Abenteuer-Exotismus, der dem Indy-Franchise als Inspiration und Revamping-Referenz diente, als es in den frühen 1980ern begann. Damals noch ohne Indy im Titel: „Raiders of the Lost Ark“ hieß sein Filmdebüt; die ark, die hebräische Bundeslade, fand sich 1981 verschämt umgetitelt in „Jäger des verlorenen Schatzes“ im Synchrondeutsch der Nach-Nazi-Länder. Teenies wie ich (und Millionen andere jung und alt) amüsierten sich über vorschriftsmäßig augenzwinkernde Action nach Art von Stationenlauf-Games (all die Schatzkammer-Todesfallen!) vor kolonialen Kulissen. Manche Leute sagten angesichts all dessen ein mysteriöses Wort, das mit P begann und mit „ostmodern“ endete. Hinzu kam die Ahnung, dass Indys lakonisches Erschießen und beherztes Herumkommandieren von Menschen mit Turban, Schleier oder nichtweißer ethnischer Identifizierung rassistisch war. Gar so anders verhält sich das nun in „Indiana Jones and the Dial of Destiny“ vulgo „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“ auch nicht.

© Walt Disney

Dieses Rad drehte – erstmals bei einem Indiana-Jones-Film – nicht Steven Spielberg, sondern James Mangold. Die movie brats von damals – Spielberg und der Indy-Mit-Erfinder George Lucas – verhielten sich ihren vierzig Jahre alten Vorbildern aus Hollywoods schwarzweißen Studiodschungeln gegenüber frech; am frechsten allerdings gegenüber den dazwischen, in den Nachkriegsjahrzehnten, eingetretenen Krisen kolonialer und patriarchaler Herrschaft und ihrer Imaginarien: Diese Brüche galten den jungen Blockbuster-Designern als bloße Abstandsmarkierung, über die hinweg sich auf einen westlichen Kino-Kindheitserinnerungsbestand zugreifen ließ, ganz im Sinn eines augenzwinkernd auftrumpfenden „Yesterday belongs to us!“. Mangold hingegen – ein Regisseur, der sich mit dem Johnny Cash-Biopic „Walk the Line“, mit der Rennfahrer-Hagiografie „Ford v Ferrari“ („Le Mans 66 – Gegen jede Chance“) sowie ambivalenter mit „Logan“ als Denkmalspfleger alter Heldenlegenden eingeführt hat – ist Teil eines umgekehrten Verhältnisses zum Gestern: He makes us belong to yesterday. Demütig unterwirft er sich und sein Publikum einer Vergangenheit, der noch einmal Ehre erwiesen wird. Ehrung heißt hier: mit allen gebotenen, nichts weniger als vorschriftsmäßigen, Streicheleinheiten an Ironie. Mangold geht mit den Indiana-Jones-Erinnerungsbeständen aus der Reagan-Ära so um, als würde er heilige Texte rezitieren. Und was am Beginn des 1969 spielenden Haupt-Plots des Films passend mit dem Beatles-Song als eine „Magical Mystery Tour“ angekündigt wird, gerät zur Abschiedstournee, die – wenn auch flott – noch einmal alles abklappert.

Es gibt, was es geben muss, weil es das in den ersten drei Indiana-Jones-Filmen schon gab (der mit dem „Crystal Skull“ und Indys Sohn von 2008 gilt ja, obwohl er seine Momente hat, als Flop). Nämlich: Zug-Kletterei-Action mit Grußgeste an „Indiana Jones and the Last Crusade“ – und mit einem de-aged Ford – als anno 1944 spielender Auftakt; Phoebe Waller-Bridge als verbal wie artistisch engagierte, recht lustige Sidekick; Archimedes‘ Zeitreise-Tools (das titelgebende Schicksalsrad) als zu plündernden Schatz; Mathematik-Mystik als Pendant zu den Schätze hinterlassenden Religionen der Vorgängerfilme (Judentum 1981, Hinduismus 1984, Christentum 1989, Anbetung allwissender Aliens mit Kristallschädel-Datennetzwerk 2008). Weiters gibt es: Aale, wo einst Schlangen waren; Nazis, wo einst Nazis waren; einen marokkanischen Buben als Reminiszenz zum lokalen Helferlein Short Round von 1984 (dessen damals 12-jähriger Darsteller Ke Huy Quan bekam unlängst den Nebenrollen-Oscar); eine in den Ablauf reingeschriebene Schwarze CIA-Agentin als Wink an die Wokeness, der letztere beleidigt. Es gibt zweimal kurz Herrn Sallah, fünfmal kurz Rückspiegel in Verfolgungsjagden, fünzigmal lang das Fanfare-Thema. „Fan, fahre mit!“ fordert die Marschmusik. (Noch mehr als sonst wird in Autos rumgerast: Harrison Ford v Ferrari) Es hilft beim Mögen, das von Kindheit an schon gesehen zu haben. Und: Sentimental geht allemal. Im Liebesdialog am Ende – ehe Indy für die Rückkehr ins Eheglück ostentativ seinen Hut braucht (seine unverzichtbare Peitsche, Signatur der Rückbindung an Kolonialherrenmythologie, ja wohl doch nicht) – wird wie anno ’81 gefragt, wo’s denn nicht wehtut. Was willst du mehr? Du willst nicht mehr.

Eine Kurzfassung dieser Besprechung erschien zuerst in: Falter 26/2023.

Before, Now & Then

(ID 2023, Regie: Kamila Andini)

Geheimnisvolle Haarknoten
von Marit Hofmann

„Er soll ein Kommunist sein? Unmöglich, er ist doch so ein feiner Kerl!“ Im Klatsch und Tratsch der feinen Gesellschaft, die in der Villa von Nanas zweitem Ehemann verkehrt, wird …

„Er soll ein Kommunist sein? Unmöglich, er ist doch so ein feiner Kerl!“ Im Klatsch und Tratsch der feinen Gesellschaft, die in der Villa von Nanas zweitem Ehemann verkehrt, wird es an dieser Stelle ein einziges Mal explizit politisch. Der antikommunistische Putsch mit anschließenden Massenmorden im Indonesien der 60er Jahre, bei dem Nana ihren ersten Mann, ihren Vater und ihr Kind verliert, schwingt als Hintergrund im indonesischen Spielfilm „Before, Now & Then“ stets mit, kommt aber nie direkt zur Sprache.

Ein kurzer Prolog aus dem „Before“ zeigt Nanas panische Flucht, und unvermittelt eingestreute Albtraumsequenzen und Flashbacks unterbrechen die Handlung im „Now“. Das ist konsequent, denn so wie dieser Teil der indonesischen Geschichte nicht aufgearbeitet ist (Joshua Oppenheimers schockierende Dokumentarfilme „The Act of Killing“ erzählen davon), ist Politik in dieser immer noch „sehr patriarchalischen Welt“, wie Regisseurin Kamila Andini sagt, für Frauen tabu – erst recht für Frauen wie Nana, die in die Ehe mit einem Großgrundbesitzer flüchtete, um einer Zwangsheirat mit einem Anführer der Mörder ihres Vaters zu entgehen.

Während der „unseren Müttern und Ahninnen von den Sundainseln“ gewidmete und in sundanesischer Sprache gedrehte Film nicht zuletzt wegen der Zensur in ihrem Land einiges an Wissen zum historischen und politischen Hintergrund voraussetzt, verpackt die indonesische Regisseurin bisweilen Informationen zu Nanas persönlicher Vorgeschichte etwas zu direkt in Dialoge. Etwa wenn Nana zu ihrem zweiten Mann sagt: „Du hast mich gerettet. Wir sind jetzt fünf Jahre verheiratet.“

Nana führt die Farmgeschäfte und leitet Bedienstete an, dennoch scheint er sie vor allem als Bestandteil der ästhetisch ansprechenden Dekoration wahrzunehmen, für die sie im Haushalt sorgt und mit der die wohlkomponierten Bilder in gedeckten Farben der kaum beweglichen Kamera korrespondieren. Melancholische Streichmusik, die viele Filmkritiker*innen an die Stimmung aus Wong Kar-wais „In the Mood for Love“ denken lässt, deutet neben Nanas stoischer Miene darauf hin, dass sich hinter der sichtbaren Ordnung unterdrückte Bedürfnisse und Gefühle, Unruhe und Unglück verbergen. Die Nachbarinnen kontrollieren sich gegenseitig und achten auch auf die Aufzucht des Nachwuchses, die weitgehend an Angestellte oder Pflegemütter ausgelagert ist: „Eine Frau aus gutem Hause bringt artige Kinder zur Welt.“

Ihre Geheimnisse bewahrten die Frauen in ihren Haarknoten, verrät Nana in einem der seltenen vertraulichen Momente ihrer Tochter. In langen sinnlichen Sequenzen, die für den Internettrend der meditativ-entspannenden ASMR-Videos zweckentfremdet werden könnten, sieht man Nana langsam ihre Haare bürsten oder die ihres Gatten färben. Nanas Überlebensstrategie, die mitanzusehen wehtut: „Ich bin geschmeidig wie Wasser, ich passe mich an.“ Erst im „Then“, einem kurzen Epilog, wird Nana ihre Haare offen tragen.

Nanas Ausweg aus dem goldenen Käfig orientiert sich an der Biografie der Mutter von Jais Darga, der ausführenden Produzentin des Films. Während sie zunächst still darunter leidet, dass ihr reicher Gatte eine Geliebte hat, verbündet sich Nana schließlich mit dieser. „Sie sind beide Opfer der Situation und der Zeit, aber die Gesellschaft der anderen ist das, was sie brauchen, um dieses Gefühl der Stärke und Befreiung zu gewinnen“, erläutert Andini. „Diese Art von Stärke … muss von einer anderen Frau kommen.“ Es ist befreiend zu sehen, wie Nana beim gemeinsamen Bad im Fluss aus ihrer zurückgenommenen Rolle fällt. Ihr Heil und ihre Zukunft findet sie dann allerdings, mit dem Segen des Großgrundbesitzers, im Wiedersehen mit ihrem verschollen geglaubten ersten Mann. Es ist noch ein weiter Weg für die Frauen in Indonesien.

Diese Kritik erschien zuerst am 28.06.2023 in: ND

20.000 Arten von Bienen

(ES 2023, Regie: Estibaliz Urresola Solaguren)

Suche nach Identität
von Wolfgang Nierlin

Ohne Hinführung oder erläuternde Exposition versetzt uns Estibaliz Urresola Solaguren in ihrem preisgekrönten Spielfilmdebüt „20.000 Arten von Bienen“ mitten hinein in die Turbulenzen und Streitereien einer baskischen Familie und ihres …

Ohne Hinführung oder erläuternde Exposition versetzt uns Estibaliz Urresola Solaguren in ihrem preisgekrönten Spielfilmdebüt „20.000 Arten von Bienen“ mitten hinein in die Turbulenzen und Streitereien einer baskischen Familie und ihres spannungsreichen Beziehungsgefüges. Das macht zunächst die Orientierung schwer und verhindert eine allzu schnelle Identifizierung und Festlegung der Figuren. Die Benennung durch Namen und die Zuschreibung einer Geschlechtsidentität stehen folglich auch im fluiden Zentrum des Films, der sich auf verschiedenen Ebenen mit Fragen der kulturellen, überlieferten und politischen Zugehörigkeit beschäftigt und so sein Thema nach verschiedenen Seiten ausweitet. Dabei verzichtet die spanische, 1984 in Bilbao geborene Regisseurin auf eine konventionelle Spannungsdramaturgie, um stattdessen mit einem sozialrealistischen Stil den schwierigen Alltag einer Familie zu beobachten, die im französischsprachigen Teil des Baskenlandes lebt, aber zu Beginn für einen mehrtägigen Besuch in die spanische Grenzregion reist.

Ganz nah ist die Kamera immer wieder beim 8-jährigen Aitor (Sofía Otero), der von allen Cocó gerufen wird, aber seinen Spitznamen nicht mag und seinen Geburtsnamen ablehnt. Der kindliche Held mit den mandelförmigen Augen, den langen Haaren und den bunt lackierten Fingernägeln fühlt sich nämlich auch im Spiel mehr zu Mädchen hingezogen, was sein familiäres Umfeld zunehmend irritiert. Unsicher und oft wütend, schämt er sich für seine Bedürfnisse und reagiert mit Abwehr und Angst, wenn er mit seinem „Problem“ konfrontiert wird. Aitor alias Cocó, der irgendwann den von der gleichnamigen Heiligen übernommenen Namen Lucía für sich entdeckt, fragt: „Warum bin ich so?“ Und gegenüber seiner Mutter Ane (Patricia López Arnaiz) bekundet er eine grundsätzliche Verunsicherung in Bezug auf seine Identität: „Wieso weißt du, wer du bist und ich nicht?“ Während im baskischen Heimatort der Großmutter mit unaufdringlicher Symbolik das Johannisfeuer entzündet, eine Taufe vorbereitet und eine Skulptur des Täufers gesucht wird, spitzt sich die Identitätskrise des Jungen zu.

Eingebunden ist diese kindliche Selbstsuche in ein verzweigtes Geflecht von Traditionen, religiösen Prägungen, familiären Konflikten zwischen Müttern und ihren Kindern sowie dem Streben einer Frau nach Unabhängigkeit und künstlerischer Selbstbestimmung. Die mehrfache Mutter Ane, die immer angespannt und gestresst wirkt, arbeitet nämlich als Bildhauerin, die sich in diesem Metier aber nur schwer vom Erbe ihres übermächtigen Vaters lösen kann. Im Formen von Skulpturen korrespondiert ihre Suche nach einer künstlerischen Identität also auch mit der Selbstfindung ihres Kindes. Als metaphorische Klammer zwischen individuellem Streben und familiärer Gemeinschaft fungieren wiederum die titelgebenden Bienen, die das Verschiedene zur Einheit integrieren. In Urresola Solagurens Film und in der mehrsprachigen Wirklichkeit der Basken ist mit diesen heiligen Tieren eine reichhaltige Tradition verbunden, die schließlich nicht nur zur Vorstellung einer Transzendenz führt, sondern auch Aitor im Übergang zu Lucía eine innere Gewissheit vermittelt. Schließlich, so wird einmal gesagt, reiche der Glaube weiter, als das Auge sehen könne.

The Scars of Ali Boulala

(NO/SE 2021, Regie: Max Eriksson)

Unwiederbringliche Verluste
von Wolfgang Nierlin

Die inneren Narben seien schlimmer als äußere Blessuren, sagt der Skateboardfahrer Ali Boulala im Rückblick auf seine rauschhafte Jugendzeit. Im Spannungsfeld zwischen Aufstieg und Fall einer Legende bewegt sich entsprechend …

Die inneren Narben seien schlimmer als äußere Blessuren, sagt der Skateboardfahrer Ali Boulala im Rückblick auf seine rauschhafte Jugendzeit. Im Spannungsfeld zwischen Aufstieg und Fall einer Legende bewegt sich entsprechend Max Erikssons hauptsächlich aus Archivmaterial bestehender Dokumentarfilm „The Scars of Ali Boulala“, der über weite Strecken relativ abstandslos die Faszination für die Subkultur der jugendlichen Skater abbildet. Ungefiltert und ohne Erläuterung von Hintergründen oder gar einer Wertung taucht der Film ein in ein exzessives Leben auf der Überholspur und reproduziert dabei mittels Amateurvideos waghalsige Kunststücke, halsbrecherische Mutproben, übermütige Ausgelassenheit und den selbstzerstörerischen Drogenkonsum innerhalb der Szene. Daneben kommentieren Freunde, Weggefährten, Familienmitglieder sowie der Porträtierte selbst aus der Erinnerung das Geschehen.

1979 in einem Vorort von Stockholm als Sohn einer finnischen Mutter und eines algerischen Vaters geboren, zeigt Ali bereits als Heranwachsender ein enormes Talent auf dem Skateboard. Er übt wie ein Besessener, gewinnt Wettbewerbe und geht bereits mit 16 Jahren in die USA, wo ihn das Flip-Team unter Vertrag nimmt. Bald avanciert der gutaussehende, kreative und ziemlich wilde Junge zum Star in der Skater-Community von Huntington Beach. „Bezahlt fürs Nichtstun“, pflegen die Mitglieder der verrückten Clique unter zunehmendem Realitätsverlust einen „Rock ’n‘ Roll-Lifestyle. Selbstvergessen und unbedacht stürzen sie sich in ebenso alberne wie gefährliche Abenteuer und sind dabei meistens stoned oder besoffen. Ali und seine Freunde leben und geben sich wie Punks und sind zugleich weltweit unterwegs. Sie verschwenden ihre Jugend und sind dabei ganz bei sich selbst.

Der unendliche Spaß endet, als Ali und sein bester Freund Shane Cross im März 2007 in Australien einen schweren Motorradunfall haben, bei dem der 20-jährige Shane stirbt. Ali überlebt schwerverletzt und mit tiefen Schuldgefühlen. Weil er als Fahrer bei dem Unfall stark alkoholisiert war, muss er ins Gefängnis. Doch er empfindet schon sein Überleben als Strafe, weil er seinen schweren Gedanken nicht entfliehen kann. Aus dem heiteren, unbeschwerten Skater, der einst unter der kalifornischen Sonne kein Vergnügen ausgelassen hat, wird jetzt ein nachdenklicher, verloren wirkender Mann von trauriger Gestalt, der gezwungen ist, seine Leidenschaft aufzugeben. Zwar heiratet Ali im Oktober 2010 seine Freundin Amanda, doch das tragische Gefühl unwiederbringlicher Verluste bleibt. Selbst seine Erinnerungen entziehen sich ihm immer wieder. „You can’t put your arms around a memory“, lautet entsprechend der Titel des Abspannsongs.

Chevalier Noir

(FR/DE/IR 2022, Regie: Emad Aleebrahim Dehkordi)

Vermächtnis des Niedergangs
von Wolfgang Nierlin

Weil der junge Iman (Iman Sayad Berhani) seinen Schlüssel verloren hat, muss er mal wieder über die Dächer klettern, um in sein Elternhaus im Teheraner Stadtteil Shemroon zu gelangen. Dort …

Weil der junge Iman (Iman Sayad Berhani) seinen Schlüssel verloren hat, muss er mal wieder über die Dächer klettern, um in sein Elternhaus im Teheraner Stadtteil Shemroon zu gelangen. Dort lebt er zusammen mit seinem kranken Vater (Behzad Dorani) und seinem jüngeren Bruder Payar (Payar Allahyani), der guten Seele der Familie. Doch eigentlich ist der energiegeladene Iman in seinem schnellen Leben, in dem er mit Drogen dealt und selbst oft high ist, ständig in Bewegung. Die dynamische Kamera folgt ihm dabei aus nächster Nähe in langen Plansequenzen. Als er eines Nacht mit seinem Motorrad in voller Fahrt mit einem großen Vogel kollidiert und dabei stürzt, ist das ein schlechtes Vorzeichen auf seinem unsicheren Weg in zunehmend konfliktbeladene Beziehungen. Anderntags trifft sich die Familie am Grab der unlängst verstorbenen Mutter. In der Auseinandersetzung um ein Grundstück kommt es zu Spannungen. Offensichtlich zehrt die verarmte Familie von ihrem Erbe.

„Es ist alles ein Vermächtnis“, lautet das Motto des Films, das Emad Aleebrahim Dehkordi ganz ans Ende von „Chevalier Noir“ gestellt hat. Der in Iran und Frankreich lebende Regisseur beobachtet in seinem höchst spannenden Langfilmdebüt gesellschaftliche Umbrüche, indem er den Niedergang einer traditionell wohlhabenden Schicht mit dem hippen Lebensstil neureicher, konsumorientierter und nach Spaß gierender Emporkömmlinge konfrontiert. Dabei ermöglicht er ungewöhnliche, bislang so kaum gesehene Einblicke in das Milieu hedonistischer Partypeople fernab von Religionswächtern und staatlichen Restriktionen. Im Kontrast dazu thematisiert er aber auch die Verluste derjenigen, die vom modernistischen Fortschrittsgauben überrollt werden. Zu ihnen gehört etwa Imans drogensüchtiger Maler-Freund, der in einer verwahrlosten Villa mit Garten lebt und einmal sagt: „Wir können auch zusammen depressiv sein.“

Der wegen seiner illegalen Geschäfte gestresste und zunehmend aggressiver werdende Dealer wurde im Dauerstreit mit seinem Vater nämlich der Wohnung verwiesen. In Dehkordis fast klassischer Tragödie, die auch eine Brudergeschichte ist, wird ihm Payar, der in seiner Freizeit boxt und der mit seiner für einen Besuch aus Frankreich zurückgekehrten Nachbarin Hanna (Masoumeh Beygi) eine verstohlene Romanze erlebt, zum stetigen Halt und auf tragische Weise zum Stellvertreter. Doch bevor sich die Gewalt brutal entlädt, sieht sich Iman in einem Alptraum als Toter unter den Flügeln eines gefräßigen Aasgeiers. Neben solchen symbolischen, auf Mythen verweisenden Einsprengseln besticht „Chevalier Noir“ aber vor allem durch seinen direkten, unverstellten Alltagsrealismus, der ehrlich und minutiös eine parallele, fast geheime Welt jenseits der offiziellen beschreibt.

How to Blow Up a Pipeline

(USA 2022, Regie: Daniel Goldhaber)

Eine filmische Reflexion über aktivistische Umweltgruppen
von Jürgen Kiontke

Rowan, Logan, die optisch an Carola Rackete erinnernde Theo und ihre widerständigen Freunde haben genug von der fossilen Umweltverschmutzung. Da sich auf normalem Wege nichts tut in Sachen Bekämpfung des …

Rowan, Logan, die optisch an Carola Rackete erinnernde Theo und ihre widerständigen Freunde haben genug von der fossilen Umweltverschmutzung. Da sich auf normalem Wege nichts tut in Sachen Bekämpfung des Klimawandels, beschließen die jungen US-Amerikaner, das fossile System direkt anzugreifen. So steht es in Andreas Malms Buch „How to Blow Up a Pipeline“. Filmregisseur Daniel Goldhaber wollte die Klimaaktivisten nicht einfach zwischen den Buchdeckeln verstauben lassen und hat sie nun vor die Kamera geholt.

Die Folgen des Klimawandels werden immer gewaltiger, finden sie. Mit Auf-die-Straße-kleben haben sie es nicht. Sie wollen die Infrastruktur im Erdöl-Staat Texas direkt angreifen. Die Pipeline hochjagen und eine Riesensauerei veranstalten. „Wir müssen den Leuten Angst machen!“, schallt es durch die Plenum-Sitzung. Jeder der jungen Leute hat seine eigenen Beweggründe; sei es, dass die Farm, jahrzehntelang in Familienbesitz, enteignet wurde, weil sie dem Pipeline-Bau im Weg stand, sei es, wie bei Michael, dass sein Indianerstamm immer schon betrogen wurde. Und sogar eine Polizeispitzelin in Doppelagentenrolle ist dabei.

Nicht ohne Witz erzählt Goldhaber vom zum Teil dilettantischen Vorgehen der Aktivisten. Nicht jeder ist voll bei der Sache, und gerade Rowan und Logan ziehen gern mal eine Tüte durch oder nutzen jede freie Zeit für Amouröses. Nicht zu vergessen: Sie haben starke Gegner, stellen extrem gefährliche Sprengstoffe her und planen nicht weniger als einen terroristischen Anschlag auf kritische Infrastruktur. „Ihr müsst auch an die Arbeiter denken, die dann ihren Lebensunterhalt verlieren oder nicht mehr ins Krankenhaus kommen, wenn sie einen Unfall haben“, wendet Afroamerikanerin Alisha ein und findet wenig Gehör. Müßig zu erwähnen, dass die Person, die unterm Strich mit die schwerwiegendsten Blessuren bei der Aktion davontragen wird, an die Situation von Arbeitern erinnert und schwarze Hautfarbe trägt.

Wir gehen so weit, wie wir wollen, um das zu verhindern, was wir als das Schlimmste ansehen: Goldhabers Film zeigt, wo der Klimaprotest mal landen könnte, sympathisiert dabei stark mit seinen Figuren, ihrem Handeln als kleine, isolierte und zum Äußersten bereite Gruppe, lässt aber dabei durchaus Raum für Widersprüche.

Diese Kritik erschien zuerst am 12.06.2023 auf: links-bewegt.de

Piaffe

(D 2022, Regie: Ann Oren)

Sexuelles Erwachen
von Wolfgang Nierlin

„Die Welt der Farne“, ihr stilles, wildes Wuchern nach ihrer Selbstbefruchtung, entfaltet sich unter der schwerfälligen Mechanik eines Kaiserpanoramas gewissermaßen auf einer Guckkastenbühne. Hier imaginiert der voyeuristische Blick des Botanikers …

„Die Welt der Farne“, ihr stilles, wildes Wuchern nach ihrer Selbstbefruchtung, entfaltet sich unter der schwerfälligen Mechanik eines Kaiserpanoramas gewissermaßen auf einer Guckkastenbühne. Hier imaginiert der voyeuristische Blick des Botanikers Novak (Sebastian Rudolph) sein erotisches Verhältnis zu den geheimnisvollen Pflanzen. Zugleich begegnen seine Augen an diesem präkinematographischen Ort der scheuen Eva (Simone Bucio), die ihre Blicke allerdings abwendet. Denn die junge Frau repräsentiert die Welt des Hörens. Als Geräuschemacherin vertritt sie ihre ältere Schwester Zara (Simon(e) Jaikiriuma Paetau), die nach einem Nervenzusammenbruch in der Psychiatrie gelandet ist. Eva soll einen Werbeclip für das Beruhigungsmittel „Equili“ synchronisieren, indem sie die Töne für ein auf der Stelle trabendes Pferd herstellt. Nach der Kunstgangart dieser Pferdedressur hat die Videokünstlerin Ann Oren wiederum ihr Langfilmdebüt „Piaffe“ benannt.

Die ersten Ergebnisse stellen den gnadenlos fordernden Werbeproduzenten allerdings nicht zufrieden. Auch sonst erlebt die unsicher und schüchtern wirkende Eva vor allem Ablehnung und Zurückweisung. Bis sie sich immer mehr in ihre Arbeit mit den Geräuschen vertieft und mit einem ganzen Arsenal von natürlichen Utensilien die Bewegungen und Geräusche des Pferdes nachahmt. Ihre Identifizierung mit dem dressierten Tier geht dabei so weit, dass ihr im Verlauf dieser Beschäftigung allmählich ein Schweif aus dem Steißbein wächst, der zum erotischen Fetisch und Signal wird. Immer deutlicher gewinnt Eva dabei ein sexuelles Selbstbewusstsein. Je mehr sie sich mit mimetischem Hufschlag und lustvoll benutztem Zaumzeug dressiert, desto genauer trifft sie die Töne. Evas entgrenztes, geschlechtsübergreifendes Erwachen findet in dem Botaniker schließlich ihr Gegenüber und einen schweigsamen Komplizen im erotischen Spiel mit Fesselung und Schweif.

Ann Oren erfindet für den Verwandlungs- und Selbstfindungsprozess ihrer Protagonistin eine phantastische, grenzüberschreitenden Sexualität zwischen Mensch und Tier, Pflanzen und Dingen. Dabei ist ihr ruhiger, sorgsam erzählter und in warmes Licht getauchter Film, der auf 16mm gedreht wurde, zugleich eine Hommage an die analoge Welt mit ihrer Haptik und Materialität. Dafür braucht es kaum Dialoge. Stattdessen entfalten die Geräusche einen Echoraum für erotische Phantasien. Rot, Blau und Grün werden dabei zu den dominierenden Farben der Lust. Wenn Eva ihren zukünftigen Gespielen im Botanischen Garten mit eindeutigen Avancen aufsucht, betritt sie ihr Paradies des Begehrens; und wenn sie schließlich mit ihrem „Techno-Piaffe-Tanz“ allein die Tanzfläche der Disco erobert, ist sie ganz bei sich angekommen.

Bis ans Ende der Nacht

(D 2023, Regie: Christoph Hochhäusler)

Im falschen Leben gefangen
von Wolfgang Nierlin

Etwas fängt an, etwas beginnt neu, während in der durch die Montage zeitlich gerafften Exposition eine leere, helle, fast aseptisch weiße Wohnung renoviert und eingerichtet wird. Dazu legen sich große, …

Etwas fängt an, etwas beginnt neu, während in der durch die Montage zeitlich gerafften Exposition eine leere, helle, fast aseptisch weiße Wohnung renoviert und eingerichtet wird. Dazu legen sich große, gelbe Buchstaben über das kühle, kunstvolle Bild; und aus dem Off erklingt ein gefühliges Liebeslied aus vergangenen Zeiten, das nahtlos übergeht in eine Einweihungs- und Begrüßungsfeier, die von Robert Demant (Timocin Ziegler) und Leni Malinowski (Thea Ehre) gegeben wird. Die 25-jährige Transfrau, die bereits vor ihrer neuen Geschlechtsidentität mit dem homosexuellen Polizisten zusammen war, ist vorzeitig und unter Auflagen aus der Haft entlassen worden. Sie soll jetzt zusammen mit Robert verdeckt im Milieu eines Drogendealers ermitteln, für den sie früher gearbeitet hat und der seine illegalen Online-Geschäfte mit seiner Arbeit als Discobetreiber und Musikproduzent tarnt. Unter veränderten Vorzeichen und gefakten Bedingungen startet das Liebespaar also in ein neues, falsches Leben.

Entsprechend behauptet Christoph Hochhäuslers bemerkenswerter Film „Bis ans Ende der Nacht“ große, melodramatische Gefühle, gestaltet in artifiziellen, visuell ausgefeilten Bildern. Diese führen konsequent ins nächtliche Blau, in eine Schattenwelt des Undeutlichen sowie in ein schillerndes Wechselspiel aus Wahrheit und Lüge. Der renommierte Bildgestalter Reinhold Vorschneider etabliert für dieses Oszillieren zwischen Melodram und Film noir auf sehr elegante Weise ein stark dominierendes visuelles Konzept aus gestaffelten Räumen, sich überlagernden, ineinander spiegelnden Bildern sowie verschwimmender Grenzen zwischen innen und außen. Dadurch entstehen Verschiebungen und eine brillante Uneindeutigkeit, die sich mit der tastenden, neugierigen Erkundung von Räumen verbindet und mit der doppelt unsicheren Identität der beiden Protagonisten korrespondiert.

Denn der in Widersprüchen gefangene Robert hat nicht nur Probleme damit, seine noch immer heftige Liebe zu Leni mit ihrem neuen Selbstverständnis in Einklang zu bringen, sondern er zweifelt auch immer mehr an einem Job, der sein Doppelleben zunehmend infrage stellt und unmöglich macht. Als er und Leni sich schließlich bei einem Tanzkurs mit dem gesuchten Dealer Victor Arth (Michael Sideris) anfreunden, werden die Grenzen zwischen Liebe und Verrat immer durchlässiger. Fast scheint es, als fänden die Handelnden in ihrem schmerzlichen Hin und Her zwischen Nähe und Distanz zu einem wahreren, gewissermaßen zu ihrem eigentlichen Selbst. Und tatsächlich ist das Verbindende in Christoph Hochhäuslers vielschichtigem Film manchmal nur durch eine hauchdünne Scheibe getrennt; und das Trennende wird aufgehoben durch einen verbindenden Blick.

Hier gibt es ein Interview mit Christoph Hochhäusler zu „Bis ans Ende der Nacht“.

Picknick in Moria

(D 2022, Regie: Lina Luzyte)

Warten auf ein besseres Leben
von Wolfgang Nierlin

Ein vollbesetztes, motorisiertes Boot mit Flüchtlingen ist unterwegs in der Weite des Meeres. Ein anderes, von dem man glauben soll, es handle sich um dasselbe, legt kurz darauf an einem …

Ein vollbesetztes, motorisiertes Boot mit Flüchtlingen ist unterwegs in der Weite des Meeres. Ein anderes, von dem man glauben soll, es handle sich um dasselbe, legt kurz darauf an einem Ufer an, wo die Ankömmlinge von vermutlich Einheimischen beschimpft und angefeindet werden. Dann erklären Textinserts, dass Geflüchtete, die im Jahr 2020 auf der griechischen Insel Lesbos landen, nicht willkommen sind und Europa keine weiteren Asyl- und Schutzsuchende aufnehmen wolle. Das für 2.500 Menschen ausgelegte Flüchtlingslager Moria sei mit 13.000 Menschen heillos überfüllt. Bedingt durch lange, ungewisse Wartezeiten befänden sich diese, verstärkt durch unwürdige Lebensbedingungen, mithin in einer „Sackgasse“. Kurz darauf vermittelt ein geschmeidiger Drohnenflug der Kamera über Wege, Zelte und Wellblechhütten einen ersten Eindruck der Lagerrealität.

Der politische Zusammenhang, der mit den ersten, vermutlich aus verschiedenen Quellen stammenden Bildern von Lina Lužytės Film „Picknick in Moria“ („Blue Red Deport“) nahegelegt wird, ist ebenso klar wie manipulativ. Auch wenn das Anliegen berechtigt und dringlich erscheint, bleiben die dabei verwendeten, intransparenten filmischen Mittel fragwürdig und problematisch. Eine mangelhafte Kontextualisierung, fehlende oder nur angedeutete Hintergründe und ein leider nur oberflächlicher, teils plakativer Blick auf die Lagerrealität bestimmen auch den weiteren Verlauf des angeblich heimlich gedrehten Films. Dabei geht es ihm und seinem Protagonisten Talibshah Hosini um eine „Erkundung der Realität“. Der geflüchtete afghanische Filmemacher und Schauspieler arbeitet mit seiner Familie und Lagerinsassen nämlich gerade an einem Film, der die prekären Lebensbedingungen in dem Camp beschreiben und über die Gefühlslage der Geflüchteten aufklären soll.

Als Film-im-Film dokumentiert die litauische Regisseurin diese mitunter beschwerlichen Dreharbeiten. Die Übergänge zu den Szenen des Lageralltags sind dabei fließend. Daneben zeigt Lina Lužytė die Vorbereitungen des Drehs, bei denen Talib Hosini seinem Cast aus Laien die von eigenen Erlebnissen inspirierte Handlung erklärt. In Interviews und Selbstauskünften stellt er wiederum sich und seine Familie vor. Dabei erzählt er auch von den Gründen, die den kritischen Künstler, seine Frau Yasamin, vormals Betreiberin eines Schönheitssalons, und die drei kleinen Töchter dazu bewogen haben, unter den Drohgebärden der Taliban ihre Heimat zu verlassen; diese Gründe will er jetzt, unterstützt von einer Helferin, bei einer Anhörung geltend machen.

Das Familienportrait und die Impressionen von den primitiven, provisorischen Lebensbedingungen verbinden sich so inhaltlich mit den in Ausschnitten gezeigten Film-im-Film-Spielszenen, die ebenfalls inszeniert erscheinen und nicht frei sind von problematischen Übergriffen im Umgang Hosinis mit seiner ältesten Tochter. Die Botschaft des mitunter forsch und ungeduldig auftretenden Mannes ist dabei unmissverständlich: „Wir sind nach Europa gegangen, weil wir den Fortschritt wollten, aber gelandet sind wir in der Steinzeit“ und an einem „schmutzigen, unfreundlichen Ort“, wie die Tochter – tatsächlich oder in einer Spielszene? – ergänzt. Lina Lužytės relativ distanzloser, aber diskussionswürdiger Film solidarisiert sich mit dieser Aussage und wird so zum Sprachrohr für ein immer dringlicher werdendes Problem.

Orphea in Love

(D 2022, Regie: Axel Ranisch)

Vom Suchen und Finden der Liebe
von Wolfgang Nierlin

Im Off summt leitmotivisch eine Schmeißfliege, während sich Theaterblut über den Bühnenboden ergießt. Doch dort, wo der Film beginnt und endet und sich Leben und Tod verbinden, laufen die Bilder …

Im Off summt leitmotivisch eine Schmeißfliege, während sich Theaterblut über den Bühnenboden ergießt. Doch dort, wo der Film beginnt und endet und sich Leben und Tod verbinden, laufen die Bilder zunächst rückwärts in der Zeit. Was blutrot ist, wird wieder sauber und weiß. Der Tod hat nicht das letzte Wort. Und so können Leben und Liebe noch einmal beginnen. Axel Ranischs Opernfilm „Orphea in Love“, in dem die Geschlechterrollen des antiken Mythos vertauscht sind, wechselt fließend zwischen Traum und Wirklichkeit, Imagination und Inszenierung, wobei die beiden Protagonisten ihre Gefühle (füreinander) vor allem singend und tanzend ausdrücken.

Das beginnt schon im Callcenter, wo Nele (Mirjam Mesak) für ihr Studium jobbt und unter den kontrollierenden Blicken ihrer strengen Chefin (Christina Große) vergeblich versucht, ihre Quote zu erfüllen. Doch weil sie Geburtstag hat und außerdem von einem Kollegen angehimmelt wird, verwandelt sich das verschachtelte, in warmes Licht getauchte Großraumbüro unter den Klängen aus Puccinis Oper „La rondine“ kurzzeitig in eine Theaterbühne, auf der glückliche Mitarbeiter singen und tanzen. Neles Liebestraum wird aber erst wahr, als sie auf dem Weg zu ihrem Zweitjob als Garderobiere dem Taschendieb Kolya (Guido Badalamenti) begegnet, der am Stadtrand in einem Turm lebt. Als sie außerdem während der Aufführung der „Madame Butterfly“ spontan den Gesangspart der schwächelnde Titelheldin übernimmt, wird sie kurz darauf zusätzlich von dem zwielichtigen und selbstherrlichen Künstleragenten Höllbach (Heinz Pinkowski) mit einem Karriereangebot gelockt.

„Eines Tages sehen wir einen Rauchstreifen am Horizont“, singt Nele. Während sie und Kolya, getrieben von Sehnsucht und Verlangen, sich gegenseitig suchen und finden, verlieren und wieder vereinen, dabei auf erträumten Bühnen und in realen Unterführungen von fließenden, fast tanzenden Kamerabewegungen umhegt werden, öffnen sich in Axel Ranischs ebenso romantischer wie phantasievoller Opern-Revue Türen in die Vergangenheit. „Deine Stimme gegen sein Leben“, lautet Höllbachs perfides Angebot, bevor sich Nele auf den Weg in die Unterwelt begibt. Wird sie zugunsten der Liebe auf ihre Kunst verzichten? Muss sie etwa selbst noch eine alte Schuld abtragen? Axel Ranischs vielfach gebrochenes, zwischen Ernst und Humor changierendes Musical gibt die Antworten darauf, flankiert von viel Musik und einer Prise Selbstironie, natürlich auf den Brettern, die die Welt bedeuten.

Valeria is getting married

(IL/UA 2023, Regie: Michal Vinik)

Fremde Nähe
von Wolfgang Nierlin

Strömender Dauerregen geht nieder über Tel Aviv, als Christina (Lena Fraifeld) und ihr Mann Michael (Yakov Zada Daniel) zum Flughafen fahren, um Valeria (Dasha Tvoronovich) abzuholen. Die junge Ukrainerin, die …

Strömender Dauerregen geht nieder über Tel Aviv, als Christina (Lena Fraifeld) und ihr Mann Michael (Yakov Zada Daniel) zum Flughafen fahren, um Valeria (Dasha Tvoronovich) abzuholen. Die junge Ukrainerin, die außerdem Christinas jüngere Schwester ist, soll mit dem Israeli Eitan (Avraham Shalom Levi) verheiratet werden, den sie bislang nur vom Skypen her kennt. Vermittelt hat das Treffen wiederum der eifrig bemühte Michael, der für seine Dienste eine stattliche Provision kassiert. Doch schon bei der Ankunft in seiner Wohnung spürt man neben Unsicherheiten und einer allgemeinen Anspannung aller Beteiligten einen unverhohlenen Erwartungsdruck, dem die fremde junge Frau ausgesetzt ist. Dieser verstärkt sich schließlich noch, als der etwas unbeholfene, aber offensichtlich tatsächlich verliebt Eitan zum Essen eintrifft, das bald zum kommunikativen Minenfeld zwischen den Sprachen und unterschiedlichen Erwartungen wird.

Michal Vinik inszeniert in ihrem filmischen Kammerspiel „Valeria is getting married“ diese zunehmenden Verstimmungen und sprachlichen Parallelhandlungen, indem die agile Kamera mit Schärfenverlagerungen auf die wechselnden Figurenkonstellationen blickt. Dabei sucht sie immer wieder die Nähe zur Titelheldin, während sich die Blicke überkreuzen, die Erwartungen allmählich ins Übergriffige übergehen und draußen der Regen scheinbar noch zunimmt. Zwischen erhoffter Freiheit, verbunden mit der Sehnsucht nach einem besseren Leben, und einer sich abzeichnenden Abhängigkeit spitzt sich die angespannte Situation schließlich zu, als sich Valeria plötzlich im Badezimmer einschließt.

Schon das erste Bild des Films imaginiert diese Szene, die zugleich den dramatischen Höhepunkt bildet: Hinter der geriffelten, halbtransparenten Glasscheibe einer Tür erscheint verschwommen die Silhouette eines nicht identifizierbaren Menschen. Zwischen An- und Abwesenheit, Nähe und Ferne, innen und außen, Sprechen und Schweigen ist schließlich Valeria, der diese unscharfen Umrisse gehören, gefangen. Die israelische Regisseurin Michal Vinik benutzt diese Undeutlichkeit, in der sich die innere Zerrissenheit der Heldin spiegelt, um von Abhängigkeiten und einem prinzipiellen Ungleichgewicht in Beziehungen zu sprechen. Während das eine Drama unter Gewittergrollen seinen Lauf nimmt, deutet sich zugleich der Beginn eines anderen an.

Fucking Bornholm

(PL 2022, Regie: Anna Kazejak)

Unangenehme Wahrheiten
von Wolfgang Nierlin

Die Fahrt mit der Autofähre führt übers Meer zur dänischen Ostseeinsel Bornholm. Zwischen den beiden befreundeten Paaren, die sich im Bordrestaurant ironisch necken, belauern und miteinander frotzeln, ist die Stimmung …

Die Fahrt mit der Autofähre führt übers Meer zur dänischen Ostseeinsel Bornholm. Zwischen den beiden befreundeten Paaren, die sich im Bordrestaurant ironisch necken, belauern und miteinander frotzeln, ist die Stimmung ungezwungen und noch relativ unbekümmert. Ein gemeinsamer Campingurlaub in den Dünen soll Erholung und Entspannung bringen. Der Blick übers Meer geht in die Weite. Und wenn sich an der Anlegestelle des Zielortes schließlich die große Heckklappe der Fähre öffnet, wird der sich eröffnende Raum so hell und leer wie eine Tabula rasa. Diese wird in Anna Kazejaks tragikomischem Film „Fucking Bornholm“ im Folgenden beschrieben mit einer Feriengeschichte, die sich zu schmerzlichen Ehedramen ausweitet.

Die Verstimmung beginnt schon damit, dass der reservierte übliche Stellplatz bereits von einer anderen Familie belegt ist, was die beiden pragmatischen Männer der Neuankömmlinge zunächst sportlich nehmen. Während sich der geschiedene David (Grzegorz Damięcki) und seine deutlich jüngere Freundin Nina (Jaśmin Polak) im Gefühl einer frischen Verliebtheit offen und tolerant geben, vermittelt das unterschwellig angespannte Verhältnis zwischen den Ehepartnern Maja (Agnieszka Grochowska) und Hubert (Maciej Stuhr), die in Begleitung ihrer beiden minderjährigen Söhne sind, eheliche Ernüchterung und sexuelle Frustration. Als es nachts im Zelt der Kinder, in dem auch Davids etwa gleichaltriger Sohn schläft, zu einem verstörenden Übergriff kommt, der immer weitere Kreise zieht, spitzen sich die schwelenden Konflikte in den Beziehungen der Paare zu. Zwischen Selbstvorwürfen und der Schuldfrage fordert vor allem die sichtlich schockierte Maja, sich unangenehmen Wahrheiten zu stellen.

Die polnische Regisseurin Anna Kazejak verbindet diese ebenso schwierige wie spannungsreiche Aufklärung mit einem entlarvenden Blick auf die Geschlechterrollen und die emotionalen Zerrüttungen in langjährigen Beziehungen. In sorgsam komponierten, stimmungsvollen Bildern erzählt sie subtil und genau von verschwiegenen Verletzungen, die zu Brüchen führen und von einem überkommenen Rollenverständnis, das weibliche Sehnsüchte und Bedürfnisse noch immer unterdrückt. Dabei fühlt sich vor allem Maja in ihrer Mutterrolle gefangen; bis sie es schließlich doch wagt, einen Schritt in das unerschlossene Feld ihrer unerfüllten Träume zu unternehmen.

Nostalgia

(IT/FR 2022, Regie: Mario Martone)

Labyrinth der Erinnerung
von Wolfgang Nierlin

„Die Erkenntnis liegt in der Nostalgie. Wer nichts verloren hat, besitzt sie nicht“, wird zu Beginn des Films Pier Paolo Pasolini zitiert. Ein Mann mittleren Alters kehrt nach langer Abwesenheit …

„Die Erkenntnis liegt in der Nostalgie. Wer nichts verloren hat, besitzt sie nicht“, wird zu Beginn des Films Pier Paolo Pasolini zitiert. Ein Mann mittleren Alters kehrt nach langer Abwesenheit zurück nach Neapel. Wie ein Fremder bewegt er sich gemessenen Schrittes und mit aufmerksamem Blick durch die belebten Straßen und verwinkelten Gassen des alten Viertels Sanità. Vierzig Jahre lang hat Felice Lasco (Pierfrancesco Favino), der als Bauunternehmer in Kairo lebt, die Orte seiner Kindheit und wilden Jugend nicht gesehen. Merkwürdig vertraut erscheinen ihm diese bei seiner langsamen Annäherung. Nichts habe sich verändert, als seien die Zeit und mit ihr das Leben stehengeblieben. Und tatsächlich wirken die in Rückblenden und in einem anderen Bildformat eingestreuten Erinnerungen wie ein Abbild der Gegenwart. Nur die Tür zur elterlichen Wohnung bleibt zunächst verschlossen. Denn Felices alte Mutter Teresa (Aurora Quattrocchi), eine ehemalige Näherin, ist mittlerweile in einer anderen Wohnung des maroden Hauses untergebracht.

Fürsorglich und liebevoll kümmert sich der nachdenkliche Heimkehrer um seine gebrechliche, vernachlässigte Mutter, die noch einmal aufblüht und dann plötzlich stirbt. „Ab heute wird deine Mutter in dir leben. Heiße sie willkommen“, sagt der Priester Don Luigi (Francesco Di Leva) zum trauernden Sohn. In dem von der Camorra dominierten Viertel, das außerdem unter einer hohen Arbeitslosigkeit leidet, ist der Geistliche mit seiner Kirche ein Hort des Widerstands und der Integration. Don Luigi hält nicht nur flammende Reden gegen das organisierte Verbrechertum, sondern bietet den gefährdeten Jugendlichen in den Kirchenräumen ganz unkonventionell auch einen sicheren Rückzugs- und Gegenort. Bald und nach anfänglichen Widerständen gehört auch Felice zu seinen Schützlingen. Denn dieser wird geplagt von einer schweren Vergangenheit und der tiefen Freundschaft zu einem Mann namens Orest (Tommaso Ragno), der jetzt einer der berüchtigten Clan-Bosse ist.

In seinem atmosphärisch stimmungsvollen Film „Nostalgia“, einer Adaption des gleichnamigen Romans von Ermanno Rea, folgt der selbst aus Neapel stammende Film- und Theaterregisseur Mario Martone seinem melancholischen Helden durch die Labyrinthe der Stadt und der Erinnerung. Dabei taucht der Heimwehkranke langsam und sehr bewusst immer tiefer ein in eine unstillbare Sehnsucht, die ihn mit seiner Identität verbindet und zugleich zunehmend gefährdet. Verloren zwischen Vergangenheit und Gegenwart verirrt sich Felice in einem notwendigen, aber trügerischen Gefühl von Nähe und Vertrautheit. In einem getragenen Rhythmus und mit einer genauen, fast dokumentarisch anmutenden Milieuzeichnung erzählt Mario Martone von der Nostalgie eines Mannes, der in eine Heimat zurückkehren möchte, die ihn einst ausgestoßen hat und nun nicht mehr haben will. Felices Sehnsucht ist zugleich sein Schicksal.

Vor dem Morgengrauen

(FR 2007, Regie: Philippe Garrel)

Liebeskranke Gespenster
von Wolfgang Nierlin

Indem der junge Fotograf François (Louis Garrel) die verheiratete Schauspielerin Carole Weissman (Laura Smet) fotografiert, verliebt er sich in sie. Kunst und Liebe sind eins in Philippe Garrels Film mit …

Indem der junge Fotograf François (Louis Garrel) die verheiratete Schauspielerin Carole Weissman (Laura Smet) fotografiert, verliebt er sich in sie. Kunst und Liebe sind eins in Philippe Garrels Film mit dem poetischen Titel „Vor dem Morgengrauen“ („La frontière de l’aube“). Der Künstler ist hier ein Begehrender und ein romantischer Idealist, der seine Gefühle verabsolutiert. François beansprucht, „länger als immer“ zu lieben. „Wahre Liebe“ ist für ihn „mehr als eine Beziehung“, was für ihn bedeutet, mit und durch den andern zu leben. François ist aber auch ein Theoretiker der Liebe, der seinen Worten mehr traut als seinen Gefühlen und der im Zweifelsfall vor der Verantwortung flieht. Und das wiederum macht ihn anfällig für jene Schuldgefühle, die im Unterbewusstsein nisten, in der Stille wachsen und schließlich als Gespenster in die Wirklichkeit eintreten. Der Künstler als junger Mann ist in Garrels Film schließlich vor allem ein unangepasster Schwärmer, der sich in seinem emotionalen Bewegungsdrang ungern festlegen lässt.

Dagegen bewegt sich Caroles Liebeskrankheit zwischen Besessenheit und Wahnsinn, was sie ebenso geheimnisvoll wie unberechenbar macht. Sie wirkt unstet, psychisch labil und depressiv. Sie trinkt zu viel und hat schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie sagt: „Ich mache oft dumme Sachen.“ In der Liebe will sie mit dem Geliebten verschmelzen und dann verschwinden. Das Nichts scheint ihr näher zu sein als das Absolute. Ihre unstillbare Sehnsucht kann sich nur im Tod erfüllen. Im Leben ist Carole eine Verzweifelte, die zu François sagt: „Wenn du mir nicht vertraust, bin ich allein.“ Später, nach einem weiteren Selbstmordversuch, wird sie in einer psychiatrischen Klinik mit Elektroschocks behandelt, als wolle man ihr alles Begehren und jegliche Sehnsucht austreiben.

Diese Szenen wirken wie aus der Zeit gefallen, was durch die schwarzweiße Optik und die Verwendung von Kreisblenden (Kamera: William Lubtchansky) noch unterstrichen wird. Außerdem konzentriert sich Philippe Garrel auf eine überschaubare, in sich geschlossene Welt, um die sich zwischen Anziehung und Abstoßung bewegenden Liebeskranken zu inszenieren. Jenseits von ihnen und ihren Konflikten ist das Leben diffus und abstrakt. Selbst die Räume taugen kaum zur Wiedererkennbarkeit. Sie sind karg, spartanisch und kaum möbliert. Die wiederkehrenden Mansardenzimmer fungieren in Garrels Werk als Topoi unsteter, vorübergehender und prekärer Lebensverhältnisse. In ihnen wohnen Außenseiter und Künstler, die ihren Nonkonformismus mit Einsamkeit bezahlen. Ihnen widmet Garell mit seinem Film eine von Melancholie grundierte, traurig-schöne Hommage: „Wir sind das schlafende Volk. Diejenigen, die Geschichte machen, sind in der Überzahl.“

Der Film ist bis zum 30.06.2023 als TV-Erstaufführung in der Arte-Mediathek abrufbar.

Ramba Zamba

(D 2023, Regie: Sobo Swobodnik)

"Wir tanzen durch den Kiez"
von Jürgen Kiontke

Moritz ist voll Schlamm. Und das hat seinen Grund: Er spielt den Golem, den Mann aus Lehm. Der ist die zentrale Figur im neuen Stück des RambaZamba-Theaters, eines Projektes von …

Moritz ist voll Schlamm. Und das hat seinen Grund: Er spielt den Golem, den Mann aus Lehm. Der ist die zentrale Figur im neuen Stück des RambaZamba-Theaters, eines Projektes von und mit Behinderten. Das inklusive Theater hat seine feste Spielstätte auf dem Gelände der Kulturbrauerei in Berlin Prenzlauer Berg, und neben dem Golem schon x Stücke auf die Bretter gebracht. Es wurde 1990 von den Regisseuren Gisela Höhne und Klaus Erforth gegründet.

Mittlerweile umfasst das Ensemble rund 30 Personen. Ziel war und ist es, „ein Theater zu machen, das süchtig macht, unterhaltsam ist, zugänglich und menschlich bleibt“, wie der jetzige Intendant Jacob Höhne sagt. Man sei offen für sämtliche Spielarten der Kunst und habe dabei immer den einzigartigen Ausdruck der Darsteller*innen im Blick. In den Worten des Schauspielers Jonas Sippel: „Wir tanzen durch den Kiez.“

Entlang der Proben zum „Golem“ wird der Alltag in dieser außergewöhnlichen Spielstätte erzählt, wo die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung Realität ist und mit bis zu 100 Vorstellungen im Jahr ihren künstlerischen Aus- wie Eindruck findet.

Die Praxis, Menschen mit einer Behinderung nicht zu verstecken, sondern in ihren künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten zu fördern, war dem für innovative Filmarbeit bekannten Regisseur Sobo Swobodnik Grund genug, zum 30-jährigen Bestehen einen Dokumentarfilm über diese Bühne zu drehen. „Ramba Zamba“ soll nicht nur ein Film über Inklusion, Diversität, Integration und Partizipation sein, der die Darsteller*innen porträtiert und bei Proben und Auftritten begleitet, er will selbst Kunstprojekt sein, an dem exemplarisch abzulesen ist, wie das Zusammenspiel von Menschen mit und ohne Behinderung funktioniert. Handlung und Ablauf werden weitgehend von den Protagonisten selbst gestaltet, gern mit der Handkamera, damit bekommt ihr Blick auf die Wirklichkeit Raum. Eine experimentelle Versuchsanordnung, „bei der der integrative und inklusive Ansatz auch in den filmischen Prozess mit integriert wird“, sagt Swobodnik über seinen sehenswerten Film.

Diese Kritik erschien zuerst am 11.05.2023 auf: links-bewegt.de

All the Beauty and the Bloodshed

(USA 2022, Regie: Laura Poitra)

Kampf gegen Stigmatisierung
von Wolfgang Nierlin

Es sei leicht, sein Leben in eine Geschichte zu verwandeln, sagt Nan Goldin. Schwieriger und wichtiger sei es aber, die dem Körper eingeschriebenen Erinnerungen daran zu bewahren. In Laura Poitras‘ …

Es sei leicht, sein Leben in eine Geschichte zu verwandeln, sagt Nan Goldin. Schwieriger und wichtiger sei es aber, die dem Körper eingeschriebenen Erinnerungen daran zu bewahren. In Laura Poitras‘ preisgekröntem Film „All the Beauty and the Bloodshed“ erinnert sich die 1953 geborene Fotokünstlerin an ihr Leben, an Lieben, Freunde, Süchte und Kämpfe. Sechs Kapitel gliedern diese sehr persönlichen Erinnerungen, die Nan Goldin mit rauer, brüchiger Stimme aus dem Off spricht, während ihre Erzählung von einer Tonbildschau ihrer Arbeiten und von Undergroundfilmen über ihre subkulturelle Community begleitet werden. Daraus resultiert eine unmittelbare Nähe zu ihrem Leben, das gewissermaßen mit der starken Intimität ihrer Fotos verschmilzt. Nachdem sie bereits als Jugendliche der Enge ihres Vorstadt-Elternhauses entfliehen kann, taucht sie lustvoll und mit einem großen Freiheitsdrang ein in jenes Milieu von sexuellen Außenseitern und künstlerischen Randexistenzen, die sich zwischen Autonomie und Abhängigkeit bewegen.

In den Fotos zur „Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“ hat Goldin diese von Sex, Drogen und Abweichung gekennzeichnete Szene ebenso lustvoll wie schmerzlich porträtiert. Für die Fotografin waren diese Bilder ein Mittel, sich künstlerisch zu finden und als Mensch zu behaupten. Zugleich sind ihr die Fotos Schutz vor der Angst und Sublimierung unterdrückter Sehnsüchte. Leben und Kunst fallen bei Nan Goldin, die sich zeitweise prostituiert und drogensüchtig ist, in eins. Als in den 1980er Jahren Aids die Szene erschüttert und viele ihrer Freunde tötet, wird Goldin einerseits zur trauernden Chronistin; andererseits muss sie schmerzlich erfahren, wie Ausgrenzung und Stigmatisierung zu einer verfehlten Politik führen. Hier wiederholt sich auf gesellschaftlicher Ebene eine traumatische Erfahrung, die sie im familiären Rahmen seit ihrer Kindheit begleitet: Damals hatte sich ihre geliebte ältere Schwester Barbara, die angeblich psychisch krank war, im Alter von 18 Jahren das Leben genommen.

In Laura Poitras‘ vielschichtigem Film fungiert dieser persönliche Schicksalsschlag als grundlegende Erfahrung von Unterdrückung und Abhängigkeit. Diese spiegelt sich schließlich auch in einer weiteren gewichtigen, parallel gesetzten Erzählung des Films: Poitras dokumentiert darin ab 2018 – und damit auf dem Höhepunkt der sogenannten Opioidkrise – Nan Goldins öffentlichkeitswirksamen Kampf gegen den Pharmakonzern der einflussreichen Milliardärsfamilie Sackler. Nach einer Operation selbst abhängig geworden von dem stark süchtig machenden Schmerzmittel Oxyconktin, dem nach Schätzungen über eine halbe Million Menschen zum Opfer gefallen sind, startet Goldin mit ihrer Gruppe P.A.I.N. Aktionen in Museen. Denn die Sacklers sind bedeutende Mäzene und Sponsoren der Kunst. Als politische Aktivistin klagt die Künstlerin also ihre eigenen Förderer an und erringt im Verlauf dieses Prozesses zusammen mit ihren Freunden mehr als nur symbolische Erfolge. In Laura Poitras‘ sehenswertem, zwischen Gegensätzen und Widersprüchen ausgespanntem Film erhalten die Ausgegrenzten schließlich zumindest einen Teil ihrer Würde zurück.

Sparta

(AT/FR/DE 2022, Regie: Ulrich Seidl)

Trübe Welt
von Wolfgang Nierlin

Eine Gruppe alter Menschen, zum Blick des Betrachters frontal aufgereiht in Rollstühlen, intoniert mit brüchiger Stimmkraft das Lied „So ein Tag, so wunderschön wie heute“. Wie seinen vorhergehenden Film „Rimini“ …

Eine Gruppe alter Menschen, zum Blick des Betrachters frontal aufgereiht in Rollstühlen, intoniert mit brüchiger Stimmkraft das Lied „So ein Tag, so wunderschön wie heute“. Wie seinen vorhergehenden Film „Rimini“ eröffnet Ulrich Seidl auch „Sparta“, den zweiten Teil seines filmischen Diptychons über zwei ungleiche Brüder, mit dieser Szene in einem Seniorenheim. Und es liegt erneut im Urteil des Betrachters, ob er diese problematische Darstellungsform ausgestellten Leids als mitfühlend oder einfach nur als zynisch empfindet. Auch die Szenen mit dem Heiminsassen Ekkehart (Hans-Michael Rehberg in seiner letzten Rolle) sind ein Déjà-vu. Nur wird der demente Alt-Nazi, der verloren durch die Gänge irrt und alte Kampflieder summt, diesmal nicht vom abgehalfterten Schlagersänger Richie Bravo besucht, sondern von dessen verdruckstem Bruder Ewald Scholz (Georg Friedrich). Dieser schiebt den Vater auf den Friedhof, um ihn mit der Urne seiner kürzlich verstorbenen Frau abzulichten.

Dann fährt Ewald nach Rumänien, wo er in der Schaltzentrale einer großen, von außen marode ausschauenden Fabrik in offensichtlich leitender Position arbeitet. Um was es dabei geht, bleibt unklar. Ewald hat auch eine junge rumänische Freundin, die er bald heiraten will. Doch weil es mit dem Sex nicht klappt und beide darüber frustriert sind, packt Ewald eines Tages wortlos seinen Koffer. Parallel dazu deutet der Film an, dass sich der Mittvierziger offensichtlich stärker zu kleinen Jungs hingezogen fühlt. Immer wieder sucht er Spielplätze auf und mischt sich zunächst auf scheue Art in Kinderspiele ein. Ewald sehnt sich nach einer Nähe, die er sich zugleich verbietet. Er leidet, weil er sein pädophiles Begehren unterdrückt. Das scheint sich zu ändern, als er im Sommer in der baufälligen Schule eines entlegenen Dorfes ein Judo-Camp für Kinder errichtet, die sich dort bald wohler fühlen als in ihren zerrütteten Elternhäusern. Kurz darauf deutet sich eine ebenso schüchterne wie zärtliche Liebe zwischen Ewald und einem der Jungen an.

Dass der Protagonist ganz selbstverständlich fremde Höfe und Häuser betritt, seine „Sparta“ betitelte Festung zusammen mit den Kindern errichtet und dabei kaum behelligt oder befragt wird, mutet wie manches andere merkwürdig unplausibel an. Zumal Ulrich Seidls zweifelhafte Wirklichkeitserforschung neben der üblichen Improvisation mit Laienspielern noch deutlicher dokumentarische Mittel einsetzt. Zwar inszeniert er noch immer mit einer gewissen Schaulust seine berüchtigten Tableaus der Hässlichkeit, aber die Schnittfrequenz, verbunden mit einem flüssigen Handkamerastil, ist deutlich erhöht. Im grauen, rauen und kaputten Ambiente finden gegensätzliche Außenseiter an einem selbstgewählten Zufluchtsort zu einer Gemeinschaft zusammen und – ungeachtet abstruser Plot-Twists – zu einer Geborgenheit. Ulrich Seidls Helden sehnen sich trotz aller Widersprüche auch in „Sparta“ nach einem „Paradies: Liebe“. Doch auch diesmal lässt die Vertreibung daraus nicht lange auf sich warten: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“, erklingt deshalb erneut zum Schluss der Anfang aus Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“.