Archiv der Kategorie: Filmkritik

Music

(DE/FR/GR/RS 2022, Regie: Angela Schanelec)

Der Klang des Schmerzes
von Marit Hofmann

„Sag mir mehr darüber“, verlangt Iro (Agathe Bonitzer), als sie am Telefon erfährt, dass ihr Ex getötet wurde. Diese Worte sprechen der Zuschauerin aus dem Herzen. Über weite Strecken hat …

„Sag mir mehr darüber“, verlangt Iro (Agathe Bonitzer), als sie am Telefon erfährt, dass ihr Ex getötet wurde. Diese Worte sprechen der Zuschauerin aus dem Herzen. Über weite Strecken hat die für ihre so hermetischen wie eigensinnigen Filme bekannte Angela Schanelec in „Music“ bis zu diesem Telefonat konsequent auf gesprochene Sprache nahezu verzichtet. Die Zuschauerin lechzt nach Erklärungen. Während andere deutsche Regisseur*innen auf enervierende Weise noch für die Begriffstutzigsten alles auserzählen, deutet die originellste Vertreterin der Berliner Schule nur an und lässt die Bilder ihrer starren Kamera und die sparsame Mimik ihrer Darsteller*innen sprechen: lange Einstellungen, lange Blicke.

Am Anfang ist Nebel über den Bergen, irgendwann ein Donnerhall – und es ist zunächst nur eine Ahnung: Hier sind wir mitten in einer Katastrophe. Es verschlägt dem Film und seinen Protagonist*innen die Sprache. „Es ging darum, Bilder für Vorgänge zu finden, für die es meiner Meinung nach keine Worte gibt. Unser Leben ist voll von missglückter Verständigung“, sagt Schanelec dazu. „Bei Spielfilmen habe ich oft den Eindruck, es wird etwas gezeigt, damit es auch geglaubt wird. Das ist mir fremd. Für mich liegt in der Auslassung erst die Chance, zu erzählen.“

Und das treibt sie diesmal auf die Spitze. Noch mehr als in ihren früheren Filmen, versucht die Zuschauerin sich mühevoll einen Reim aus dem Geschehen zu machen und ohne den Hinweis aus Pressemappe und Filmplakat „frei nach dem Ödipus-Mythos“ wäre ich womöglich gar nicht auf diesen Pfad gelangt, zumal (mutmaßlicher) Vater und Sohn in Schanelecs griechischer Tragödienvariation gleich alt wirken.

Erst durch das Telefonat geht Iro und der Zuschauerin nachträglich ein Licht auf: Ihr neuer Partner Jon (Aliocha Schneider) hat seinen Vorgänger im Impuls getötet. Während Iro an ihrer Erkenntnis zerbricht, begnadigt Schanelec ihren Ödipus und lässt ihn im wahrsten Sinne im Dunkeln tappen. Zwar landet Jon zunächst im Gefängnis, wo er Iro und seine Liebe zur Musik kennenlernt, zwar verliert er Iro wieder und erblindet nach und nach – doch durch die Entdeckung des eigenen Gesangstalents wird ihm Erlösung zuteil.

© Grandfilm

Jon kehrt ins gesellschaftliche Leben zurück und avanciert vom Findelkind in den griechischen Bergen zum Berliner Berufsmusiker, dessen Falsettgesang den Film in sphärische Höhen gleiten lässt. Die titelgebende Musik gibt es nie aus dem Off, sondern als Bestandteil der Handlung und sie rettet Leben: Barockmusik vom Rekorder im Knast und von Jon selbst gesungene Klänge (Filmmusik: Doug Tielli) – die Musik nimmt als Ausdruck des Unbewussten am Ende so viel Raum im Film ein, dass sich hier die beiden Kunstformen vermischen. „Ich scheue die Musik, weil sie schnell überwältigt“, räumt Schanelec im Interview ein. „Jetzt gab es durch den Schmerz einen Grund, eine Notwendigkeit für die Musik.“

Eine Ödipus-Aufführung von Sophokles hatte die junge Angela Schanelec offenbar so nachhaltig beeindruckt, dass sie nun, Jahrzehnte später, diese verrätselte und traumschöne filmische Variation des Mythos vorlegen musste und dabei die Zuschauerin den eigenen Assoziationen überlässt. Während ich, um mitzukommen, mein mythologisches Halbwissen zusammenkratzte, fiel mir auf, dass ich selbst mit Sophokles’ Ödipus Musik verknüpfe, aber in gänzlich anderer Weise.

Mein Lateinlehrer, ein promovierter Altphilologe, der gern mit Pschychotricks arbeitete, die Schultheater-AG leitete und von seinen Jünger*innen verehrt wurde, bat mich in seiner Inszenierung des „Ödipus“, Klarinette zu spielen. Ein angehender Komponist von unserer Schule würde die Musik schreiben und habe gesagt, er brauche unbedingt eine Klarinette. Ich versuchte, ihn abzuwimmeln. Aber Dr. B. sah mir eindringlich in die Augen und sprach den unheilvollen Satz: „Du weißt, dass ich auf dich angewiesen bin.“ So verbrachte ich einen Großteil meiner Freizeit mit Musik- und Theaterproben und begleitete zusammen mit einer Querflötistin Sophokles’ Chor mit Zwölftonklängen. Nach der Premiere kam ich mit dem Komponisten ins Gespräch. Warum er eigentlich eine Klarinette wollte. „Eine Klarinette? Ich habe dem B. gesagt, er soll einfach gucken, welche Instrumente er auftreiben kann.“ Erst durch „Music“ bin ich auf die Idee gekommen, was ich Dr. B. hätte antworten sollen: „Warum lassen Sie Ödipus nicht einfach selber singen?“

Diese Kritik erschien zuerst am 04.05.2023 in: ND

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Music“.

Für die Vielen – Die Arbeitskammer Wien

(AT 2022, Regie: Constantin Wulff)

Gerechtigkeit für immer
von Wolfgang Nierlin

Hinter den vielen Fensterscheiben des wuchtigen, langen Gebäudes herrschen emsiges Treiben und ein konzentrierter Austausch. Die Wiener Arbeiterkammer (AK) mit ihren 700 Angestellten ist seit hundert Jahren Anlaufstelle für Rat- …

Hinter den vielen Fensterscheiben des wuchtigen, langen Gebäudes herrschen emsiges Treiben und ein konzentrierter Austausch. Die Wiener Arbeiterkammer (AK) mit ihren 700 Angestellten ist seit hundert Jahren Anlaufstelle für Rat- und Hilfesuchende aus der Arbeitswelt. Hier werden arbeitsrechtliche Fragen geklärt, säumige Lohnzahlungen eingefordert, Klagen über unfaire Arbeitsbedingungen eingereicht oder auch Hilfen bei Krankheitsfällen aufgezeigt. Die Anliegens sind so vielfältig wie die Menschen, die sich zu Beginn von Constantin Wulffs Dokumentarfilm „Für die Vielen“ an der Anmeldung der sozialen Einrichtung im schnellen Wechsel einfinden. Oft haben sie schlecht bezahlte Jobs, sind von Entlassung bedroht oder werden von ihren zwielichtigen Arbeitgebern betrogen. Dahinter verbergen sich Schicksale von Menschen, die unter prekären Bedingungen leben müssen und kaum Mittel haben, ihre Rechte einzufordern.

„Hier lebt die Gerechtigkeit“, heißt es einmal über die traditionsreiche Organisation, in deren Foyer eine große, rote Faust als Symbol der Arbeiterbewegung die Besucher begrüßt und die international ziemlich einmalig ist. Neben der konkreten Beratung und praktischen Hilfe beschäftigt man sich hier anlässlich des Jubiläums mit der eigenen Geschichte, plant eine Kampagne mittels eines modernen Imagefilms und liefert wissenschaftliche Expertisen für die politische Arbeit. Wulff beobachtet Teamsitzungen, in denen angeregt Argumente ausgetauscht werden, er dokumentiert eine Ausstellungseröffnung, eine Veranstaltung für Schüler zu Praktikumsfragen oder auch einen Auftritt des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty. Aus all diesen Initiativen und Maßnahmen, ihrem Wechsel aus praktischer und theoretischer Arbeit, die oft auch sprachliche Hürden zu überwinden hat, spricht ein hohes Maß an Solidarität.

Constantin Wulff filmt das wie der US-amerikanische Dokumentarist Frederick Wiseman im Stil des Direct Cinema als teilnehmender Beobachter, der auf Off-Kommentare, Interviews, dramatisierende Musik sowie Soundeffekte oder gar nachgestellte Szenen verzichtet. Das verleiht seinem Film „Für die Vielen“ den Charakter nüchterner, konzentrierter Sachlichkeit und lädt ihn auf mit konkreter Wirklichkeit, die der österreichische Filmemacher mit ergebnisoffenem Blick begleitet. Das ist auch nötig, als im Frühjahr 2020 die Corona-Pandemie zunächst für Verunsicherung, dann für ein verändertes Beratungsprozedere und umstrukturierte Arbeitsabläufe sorgt. Bilder leerer Flure und Büros beherrschen kurzzeitig die Szene. Daneben macht die Krise aber auch latente oder schon ältere Probleme der Arbeitswelt neu bewusst. Am Schluss vermittelt eine Montage von Stadtansichten eine Ahnung jener vielen unbekannten Schicksale, die Wulffs informativer Film zuvor zumindest in Ausschnitten greifbar gemacht hat.

The Whale

(USA 2023, Regie: Darren Aronosky)

Das enge Leben
von Jürgen Kiontke

Kino der härteren Gangart bietet „The Whale“ des Ausnahmeregisseurs Darren Aronofsky. Mit Filmen wie „The Wrestler“ und „Black Swan“ inszenierte er mit Hollywoodstars rabiate Körperlichkeit als Kinoereignis. An diese Filme …

Kino der härteren Gangart bietet „The Whale“ des Ausnahmeregisseurs Darren Aronofsky. Mit Filmen wie „The Wrestler“ und „Black Swan“ inszenierte er mit Hollywoodstars rabiate Körperlichkeit als Kinoereignis.

An diese Filme schließt er nun mit einem Werk an, das auf einem erfolgreichen Theaterstück beruht, dessen Hauptfigur mit über 200 Kilo schwerst adipös ist. Charlie, dargestellt von – in diesem Fall kann man in der Tat von Hollywood-Schwergewicht sprechen – Brendan Fraser im Fatsuit, hat eine traumatische Biografie, die er zum Anlass nimmt, sich extrem zu vernachlässigen. Unablässig stopft er Chips und Schokoriegel in sich rein, lässt den Pizzadienst täglich doppelt anfahren und stapelt das Essen übereinander. Als durchaus feinsinniger Literaturdozent analysiert er online mit seinen Studenten Hermann Melvilles epochales Werk „Moby Dick“, in dem der aggressive Walfänger Ahab den weißen Wal jagt. Welch bedrückende Geschichte, sagen die Studenten. Charlie erkennt sich indes selbst in Wal und Ahab als eine Person. Als vom Leben lädierte Figur, die letztlich sich selbst zur Strecke bringt.

Die „Moby Dick“-Thematik ist äußerst kunstvoll ins Skript gewoben. Charlie hat vor Jahren ohne Rücksicht auf Verluste seine Familie verlassen, um mit einem Studenten eine Beziehung zu führen, der bald darauf starb. Der Freund war in einer radikalen Christensekte aufgewachsen, konnte seine Lebensführung nicht mit den erlernten religiösen Dogmen in Einklang bringen. Immer wieder wird Charlie von einem Wanderprediger ebenjener Provenienz aufgesucht, die seinen Lebenspartner zur Strecke brachte.

Charlie weiß, dass sein übermäßiger Nahrungsmittel-Konsum – Stichpunkte: Bluthochdruck, Herzinsuffizienz u. a. – irgendwann seinen eigenen Tod bedeuten wird. Vorher aber will er wieder mit seiner Familie in Kontakt treten. Nicht einfach: Seine Ex-Frau Mary hängt an der Flasche, Tochter Ellie ist eine Jugendliche voller Gewaltgefühle.

Aronofskys Film: Einerseits eine Reflexion über Lebensgewohnheiten manch Durchschnittsamerikaners voller schlechtem, aber extrem kalorienreichem Plastikfutter und ohne Krankenversicherung, andererseits komplexes Familiendrama, zusammengeführt auf der recht begrenzten Fläche eines Wohnzimmer-Sofas.

Schauspieler Brandon Fraser glänzt sicher in einer perfekten Maskerade als Schwergewichtiger auf engstem Raum, keine Frage. Und doch bleibt dieses Werk unter seinen Möglichkeiten, besteht es in der zweiten Hälfte aus reichlich Weinen und Umarmen und erzählerischem Herumstehen. Dramaturgische Stringenz war Aronofskys Ding zwar noch nie, hier aber liefert er die visuell ehrlichen Momente, die den Film hätten ausmachen können, oft eher nicht, vielleicht um dem Vorwurf des Voyeurismus auszuweichen. Welche Schwierigkeiten Charlies Dasein mit sich bringt, wird oft nur angedeutet. Der Regisseur vermeidet allzu drastischer Darstellung; übrig bleibt letztlich ein jugendfreies Familiendrama. Aber das ist auch echt ‘ne Geschmackssache, vielleicht ist der Film genau richtig so, indem er bei manchen Dingen eben in Andeutungen verbleibt. „The Whale“ dürfte jedenfalls eines der spektakulärsten Kinoereignisse des Jahres sein.

Diese Kritik erschien zuerst am 25.04.2023 auf: links-bewegt.de

Vamos a la playa

(D 2023, Regie: Bettina Blümner)

Das Ungleichgewicht der Liebe
von Wolfgang Nierlin

„Machen wir jetzt eine Gruppenreise?“, fragt der schon ungeduldig vor dem Flughafen wartende Benjamin (Leonard Scheicher) seine verspätet eintreffende Freundin Katharina (Victoria Schulz). Denn diese hat für den Trip nach …

„Machen wir jetzt eine Gruppenreise?“, fragt der schon ungeduldig vor dem Flughafen wartende Benjamin (Leonard Scheicher) seine verspätet eintreffende Freundin Katharina (Victoria Schulz). Denn diese hat für den Trip nach Kuba spontan noch Judith (Maya Unger) eingeladen. Der reiche Papa zahle alles, beruhigt die ziemlich unbekümmerte und abenteuerlustige Katharina die Gemüter. Für ihn sollen sie auch ihren auf Kuba abgetauchten Bruder Wanja (Jakub Gierszal) aufspüren, der dort an seiner Masterarbeit über Seekühe arbeitet und sich seit langem nicht mehr gemeldet hat. Warum das so ist und warum der gewissenhafte und pflichtbewusste Benjamin den Auftrag ernster nimmt als die Tochter des Auftraggebers, lässt sich nur erahnen. Denn Bettina Blümner interessiert sich in ihrem diesbezüglich wenig entwickelten Plot ihres Films „Vamos a la playa“ mehr für die Beziehungs- und Liebeswirren ihrer jungen Protagonisten. Und so wird die Suche nach dem Verschwundenen eher zu einem Vorwand.

Sie wolle keine Beziehung führen, in der sie sich – so wie ihre Mutter – abhängig und bevormundet fühle, sagt Judith einmal zu Benjamin. Dieser verliebt sich zögerlich in die junge, selbstbewusste Frau, ist aber zu kontrolliert und angepasst, um den günstigen Zeitpunkt für ein intimes Geständnis zu nutzen. Stattdessen entwickelt Judith Gefühle für den Salsa-Tänzer Ignacio (Eugenio Torroella Ramos), der aus einer armen Familie stammt. Soziale und kulturelle Unterschiede, vor allem aber das enorme Wohlstandgefälle zwischen Touristen und Einheimischen deutet der Film in einigen Streiflichtern an. Gespiegelt werden die ungleichen Verhältnisse aber vor allem in der materialistischen Einstellung und dem Machtgebaren Katharinas, die vor allem nach Sex sucht, bereit ist, dafür zu zahlen und doch nur Enttäuschungen erlebt. Sie reproduziert gewissermaßen das von ihr verachtete Verhalten ihres Vaters.

„Was ist ein guter Orgasmus?“, fragt sich Katharina in einem ihrer Selbstgespräche, die sie mit ihrem Smartphone aufzeichnet. Diese zeitgeistigen Selbstbekundungen, die als dokumentarische Einsprengsel lose und eher unmotiviert über den Film verteilt sind, haben aber kaum einen Mehrwert in Bezug auf die Charakterisierung der Figuren. Gegliedert durch die zeitliche Angabe der einzelnen Tage, die sich schließlich zu drei Wochen summieren, tritt die Suche trotz räumlicher Veränderungen auf der Stelle. Wanjas plötzliches Auftauchen in der Stadt Trinidad gegen Ende der dünnen Handlung erscheint dann eher zufällig und hat auch keine besonderen Konsequenzen, obwohl bekannt wird, dass sein Vater schwer erkrankt ist. Diverse Ungereimtheiten in den nur oberflächlich skizzierten Familienbeziehungen legen nahe, dass der Fokus des um Authentizität bemühten und gut gespielten Films auf etwas anderes gerichtet ist, und zwar auf das Ungleichgewicht der Liebe im Spannungsfeld sozialer Differenzen. Nur leider mangelt es diesem traditionsreichen Thema in der vorliegenden Bearbeitung an Stringenz und Vertiefung.

Schulen dieser Welt

(FR 2021, Regie: Emilie Thérond)

Die Kraft der Bildung
von Jürgen Kiontke

Ob im Nomadenlager inmitten von Sibiriens Schneemassen, im stickigen Buschland von Burkina Faso oder auf Booten in den überfluteten Gebieten Bangladeschs: Überall leben Kinder, die was lernen sollen. Dafür braucht …

Ob im Nomadenlager inmitten von Sibiriens Schneemassen, im stickigen Buschland von Burkina Faso oder auf Booten in den überfluteten Gebieten Bangladeschs: Überall leben Kinder, die was lernen sollen. Dafür braucht es Lehrkräfte, die weite Wege und ungewöhnliches Gelände nicht scheuen. Regisseurin Émilie Thérond hat nun drei von ihnen in ihrem neuen Film „Schulen der Welt“ begleitet. Svetlana Vassileva, Sandrine Zongo und Taslima Akter unterrichten an schwer zugänglichen Orten, haben nichtsdestotrotz mit schwierigen Schülern und Eltern zu tun. Sie haben nicht mal Kollegen oder ein Schulgebäude, sprich, sie arbeiten unter erschwerten Bedingungen. Sie eint ihre Berufsauffassung: Kindern Bildung zu vermitteln – egal wo!

Akter zum Beispiel unterrichtet in Bangladeschs Schwemmland Kinder, deren Eltern lieber sähen, dass sie zu Hause helfen würden und nicht irgendwelche Flausen in den Kopf gesetzt bekommen, wie etwa arbeiten oder gar studieren zu gehen. Sie arbeitet auf einem abgewrackten Kahn, der zum Schulschiff umgerüstet wurde. Mit bescheidensten Mitteln bringt sie ihren Schülerinnen Lesen und Schreiben bei, verhindert Minderjährigen-Ehen, stiftet Frieden. Vassileva dagegen ist mit dem Motorschlitten schon mal 200 Kilometer in der Tundra unterwegs, um unwilligen Kindern Einzelunterricht zu geben. Und Zongo lässt ihre Familie zurück, um auf dem Land in der Provinzschule zu arbeiten.

Vor der Kamera kommen Lehrerinnen, Eltern und Schüler zu Wort. Ein Kaleidoskop von Bildung ohne große Systeme, die allein vom Einsatz der Lehrkräfte lebt. Das Thema Bildung war und ist durchaus Thema im Kino – sei es „Herr Bachmann und seine Klasse“, der 2021 auf der Berlinale und anschließend preisgekrönt im Kino lief, oder demnächst am 4. Mai auch „Das Lehrerzimmer“ von lker Çatak, eine Reflexion über den Druck, der auf den Lehrkräften liegt. Allerdings fehlt beiden der Drive, den Théronds überaus flott gedrehte Dokumentation an den Tag legt: Der Lehrer Bachmann hat für die Selbstdarstellung seiner Arbeit in einer Unterstützungsklasse von Migranten, die schlecht oder noch gar nicht Deutsch sprechen, immerhin dreieinhalb Stunden Zeit, das zunächst ambitionierte „Lehrerzimmer“-Drama versackt unverständlicherweise im Slapstick.

Die „Schulen dieser Welt“ kommt ohne Witzchen aus, sind aber ganz und gar nicht witzlos. Und jedenfalls absolut sehenswert.

Diese Kritik erschien zuerst am 19.04.2023 auf: links-bewegt.de

Die Gewerkschafterin

(DE/FR 2022, Regie: Jean-Paul Salomé)

Mutige Kämpferin
von Wolfgang Nierlin

Im Keller ihres Hauses sitzt am 17. Dezember 2012 seit Stunden eine an Händen und Füßen gefesselte Frau. Ihr Kopf steckt in einem Sack, ihr Mund ist geknebelt. Außerdem hat …

Im Keller ihres Hauses sitzt am 17. Dezember 2012 seit Stunden eine an Händen und Füßen gefesselte Frau. Ihr Kopf steckt in einem Sack, ihr Mund ist geknebelt. Außerdem hat der maskierte Täter, der die Gewerkschaftsführerin Maureen Kearney (Isabelle Huppert) überfallen hat, mit einem Messer ein großes „A“ auf ihren Bauch geritzt und danach das Tatwerkzeug mit dem Griff voran in ihre Vagina eingeführt. Seit vielen Jahren setzt sich Kearney für die Interessen von Arbeitenden in der französischen Atomindustrie ein. Allein beim führenden Kraftwerkbauer Areva vertritt sie als Vorsitzende des Betriebsrates 50.000 Beschäftigte. Verstört und traumatisiert muss sich die sonst mutige und leidenschaftliche Kämpferin für Arbeitnehmerrechte demütigenden Fragen und gynäkologischen Untersuchungen unterziehen und dabei immer deutlicher erfahren, dass ihr mit zunehmendem Misstrauen begegnet wird. Bald steht sie im Fadenkreuz der polizeilichen, ziemlich übergriffigen Ermittlungen, die aus dem Opfer eine Verdächtige machen.

Chronologisch strukturiert durch Zeit- und Ortsangaben erzählt Jean-Paul Salomé in seinem nach einem authentischen Fall entstandenen Film „Die Gewerkschafterin“ („La syndicaliste“) zunächst die Vorgeschichte. Als bei Areva die Konzernchefin Anne Lauvergeon (Marina Foïs) entlassen und durch den ehrgeizigen Choleriker Luc Oursel (Yvan Attal) ersetzt wird, verliert Maureen Kearney nicht nur eine loyale Partnerin, sondern der Umgangston und die Bandagen werden zunehmend härter. Der machtbewusste Oursel erträgt offensichtlich keinen weiblichen Widerspruch. Die Lage spitzt sich schließlich zu, als Kearney von einem Informanten mit dem bezeichnenden Namen Tirésias erfährt, dass der angeschlagene Konzern an einen chinesischen Konkurrenten verkauft werden soll und dadurch viele Arbeitsplätze bedroht wären. Ihr Weg führt sie deshalb zu hochrangigen Politikern. Gleichzeitig erhält sie anonyme Anrufe und wird wiederholt auch körperlich bedroht.

Jean-Paul Salomé inszeniert diese Passagen und die polizeilichen Ermittlungen durch den Kommissar Nicolas Brémont (Pierre Deladonchamps) als spannenden Polit- und Verschwörungsthriller zwischen Aufklärung und Paranoia. Dabei findet er in den Architekturen repräsentativer Gebäude sowie in großen, hellen Räumen jene Bilder männlicher Macht und eines korrupten Wohlstands, denen sich die Protagonistin, schwankend zwischen Beharrlichkeit und Fragilität, entgegenstellt. Während die wirtschaftlichen Zusammenhänge im Hintergrund weitgehend ausgespart bleiben, konzentriert sich der französische Regisseur auf den Kampf einer zutiefst verletzten Frau, die offensichtlich nicht in das übliche Opferschema passt und deshalb kriminalisiert wird. Die sich über mehrere Jahre hinziehenden rechtlichen Auseinandersetzungen, die der Film dokumentiert, zeigen aber auch und vor allem die Stärke einer Frau, die in immer neuen Anläufen für ihr Recht streitet.

Roter Himmel

(D 2023, Regie: Christian Petzold)

Das Leichte und das Schwere
von Wolfgang Nierlin

„In my mind, love’s gonna make us blind“, singen die Wallners aus dem Off, während ein Auto durch ein Waldstück mehr gleitet als fährt. Die vorbeiziehenden, im Autofenster gespiegelten Baumreihen, …

„In my mind, love’s gonna make us blind“, singen die Wallners aus dem Off, während ein Auto durch ein Waldstück mehr gleitet als fährt. Die vorbeiziehenden, im Autofenster gespiegelten Baumreihen, die sich auf das schläfrige Gesicht eines jungen Mannes legen, verbinden sich mit den schwebenden Sounds der Musik zu einer traumverlorenen Atmosphäre. Diese endet jäh, als das Fahrzeug plötzlich mit einer Panne liegenbleibt und die beiden Freunde Felix (Langston Uibel) und Leon (Thomas Schubert) die letzten Kilometer zum idyllischen Ferienhaus an der Ostsee zu Fuß mit dem schweren Gepäck zurücklegen müssen. Es ist dies der bezeichnende Auftakt einer ganzen Reihe unvorhergesehener Bedingungsänderungen und nicht geplanter Situationen, die von den Ankömmlingen eine Anpassungsleistung verlangen. Denn bei ihrer Ankunft müssen sie feststellen, dass das Haus schon belegt ist und sie also nicht allein sein werden. In den Zimmern herrscht Unordnung, eines davon ist schon belegt und so müssen sich die beiden jungen Männer das andere teilen.

Lange bleibt die hübsche Nadja (Paula Beer) fast ein Phantom. Bevor sie die Szene betritt und sichtbar wird, ist sie zum Leidwesen der anderen nur zu hören, wenn sie nachts beim Liebesspiel mit dem Rettungsschwimmer Devid (Enno Trebs) stöhnt. Vor allem der stets mürrische und angeödete Leon, der als angehender Schriftsteller an seinem zweiten Roman arbeitet und sich unentwegt allen anderen möglichen Aktivitäten verweigert, fühlt sich gestört, reagiert distanziert und abweisend. Während er wichtigtuerisch Schreibarbeit simuliert und dabei das Leben der anderen beobachtet, genießen diese die Freiheit eines unbeschwerten Sommers am Meer. Insgeheim eifersüchtig, missgünstig und nicht frei von Vorurteilen kreist Leon um sich selbst und versäumt dabei sich, die anderen und das Leben. Er leidet darunter, ausgeschlossen zu sein, und tut alles dafür, diesen Status gegen seine eigentlichen Gefühle aufrechtzuerhalten. Liebe macht eben blind. Doch die Flammen der Waldbrände, die nachts den Himmel rötlich färben und sich immer bedrohlicher nähern, sind bald nicht mehr zu übersehen.

Sehr spielerisch, mit überraschenden Wendungen und subtilen Zwischentönen inszeniert Christian Petzold in seinem neuen Film „Roter Himmel“ die Entwicklungsgeschichte eines jungen, unsicheren und von Selbstzweifeln geplagten Mannes, der gezwungen wird, sein mühsam geschaffenes und kultiviertes Selbstbild neu zu hinterfragen und dabei auf die anderen zuzugehen. Besonders als Leons Verleger (Matthias Brandt) eintrifft, nach und nach die Biographien und Identitäten der andern sichtbar werden und ein tragisches Unglück die Beziehungen überschattet, wird Leons unfreiwillige Häutung zum schmerzlichen Prozess. Trotzdem gelingt es Petzold auf filmisch feinfühlige Weise eine wunderbare Balance zwischen Leichtem und Schwerem zu halten und dabei ganz selbstverständlich auch das Verhältnis von Leben und Kunst zu thematisieren. Denn nach diesem Sommer einer blinden Selbstkonfrontation wird der verloren erscheinende Held seine Erlebnisse in einem neuen Roman verarbeiten.

Die Kairo Verschwörung

(SW/FR/FI 2022, Regie: Tarik Saleh)

Das zweischneidige Schwert der Macht
von Wolfgang Nierlin

Als am Horizont die Sonne über dem Meer aufsteigt, kehren Adam (Tawfeek Barhom) und sein Vater vom Fischfang zurück. Weil ihre Mutter gestorben ist, erledigen die drei Brüder alle Haushaltsaufgaben, …

Als am Horizont die Sonne über dem Meer aufsteigt, kehren Adam (Tawfeek Barhom) und sein Vater vom Fischfang zurück. Weil ihre Mutter gestorben ist, erledigen die drei Brüder alle Haushaltsaufgaben, während die väterliche Autorität unmissverständlich Gehorsam und Zusammenhalt einfordert. Die Welt ist überschaubar geordnet in dem kleinen ägyptischen Küstenort, wo der Imam als moralische Instanz, als Religionsführer und als Ratgeber in Lebensfragen fungiert. Er ist es auch, der eines Tages dem jungen Adam einen Brief der Azahr-Universität aushändigt. Darin wird dem Fischersohn mitgeteilt, dass er zum Studium an die altehrwürdige Bildungseinrichtung aufgenommen werde. Diese gilt nicht nur als „Leuchtturm der islamischen Wissenschaften“, sondern auch als Zentrum des sunnitischen Glaubens. Und weil Adam seine Begabung von Gott erhalten habe, gibt auch der Vater dem Studierwunsch seines Sohnes den Segen.

Nach einer langen Busfahrt, die im Verkehrschaos von Kairo mündet, führt Adams Weg in eine davon abgetrennte, faszinierend neue Welt, wo Studieren und Wohnen, religiöse Unterweisung und Leben untrennbar miteinander verwoben sind. In der Abgeschiedenheit dieses Mittelpunkts, umgeben von Büchern und versunken in Gebeten wachsen das Wissen und der Glaube. „Vergiss nicht, wo du herkommst“, hatte Adams Vater beim Abschied gesagt. Jetzt, in der Enge des Schlafsaals, wird der angehende Student von einem Kommilitonen mit einem dazu gegensätzlichen Satz begrüßt: „Wer du bist, spielt keine Rolle, sondern nur, wer du sein willst.“ Bald darauf wird der bodenständige, zurückhaltende Adam von diesen Worten auf völlig unerwartete Weise eingeholt. Denn als unerwartet der Großimam stirbt, wird der gelehrige Schüler plötzlich in eine Rolle gezwungen, die bei ihm Unsicherheit, Misstrauen und Angst auslöst. In Gestalt von Oberst Ibrahim (Fares Fares) streckt nämlich der staatliche Geheimdienst seine mächtigen Hände aus, um den unerfahrenen Studenten für eine schmutzige Intrige zu gewinnen.

Zwar vermittelt Tarik Saleh in seinem Film „Die Kairo Verschwörung“ zunächst eindrückliche Bilder einer weitgehend unbekannten „Gelehrtenrepublik“, samt ihren Räumen und Ritualen; sein Hauptinteresse gilt aber den Machtkämpfen im Innern einer traditionsreichen Institution im Spannungsfeld zwischen staatlicher Einflussnahme und religiöser Autonomie, zwischen weltlichem und geistlichem Leben. Weil der Staat die Nachfolge des Imam manipulieren möchte, wird Adam als möglicher Spion rekrutiert und von Ibrahim durch Überwachung, Erpressung und politische Indoktrination gefügig gemacht. Immer tiefer wird der unschuldige „boy from heaven“, als den ihn der Originaltitel des Films apostrophiert, von der dunklen Seite der Macht zwischen die rivalisierenden ideologischen Fronten gezogen.

Im schier undurchschaubaren Dickicht der Interessen wird er zum Verräter und zum Spielball, bewahrt sich aber durch seine intellektuelle Stärke und moralische Integrität doch einen Rest von Unabhängigkeit. Tarik Saleh bettet Adams Verlust der Unschuld, seine heldenhafte Rolle als gewissenhafter Vermittler und seine schlussendliche Rückkehr zu den Wurzeln in einen spannenden und erhellenden Politthriller. Dieser gewährt Einblick hinter die dicken Mauern einer einflussreichen Institution und mündet in der Erkenntnis: „Die Macht ist ein zweischneidiges Schwert. Man kann sich leicht selbst daran schneiden.“

Victim

(SK/CZ/DE 2023, Regie: Michal Blaško)

Moralisches Dilemma
von Wolfgang Nierlin

Ein Bus steht im Stau. Es ist dunkel, nass und kalt. Weil die mitreisende Ukrainerin Irina (Vita Smachelynk) sehr in Eile ist, steigt sie kurzerhand in diesem unwirtlichen Nirgendwo aus, …

Ein Bus steht im Stau. Es ist dunkel, nass und kalt. Weil die mitreisende Ukrainerin Irina (Vita Smachelynk) sehr in Eile ist, steigt sie kurzerhand in diesem unwirtlichen Nirgendwo aus, um nach einer anderen Mitfahrgelegenheit zu suchen. Die Handkamera folgt ihr dabei in einer langen Einstellung aus subjektiver Perspektive und gibt damit die sozialrealistische Tonlage von Michal Blaškos Film „Victim“ vor. Dann sieht man die besorgte junge Mutter am Krankenhausbett ihres minderjährigen Sohnes Igor (Gleb Kuchuk), der schwerverletzt eingeliefert wurde und operiert werden musste. Angeblich wurde er von mehreren gleichaltrigen Jungs aus der Nachbarschaft verprügelt, die in der tschechischen Kleinstadt zur Minderheit einer Roma-Community gehören. Die Hochhaussiedlung, in der die beiden gesellschaftlichen Randgruppen aufeinandertreffen, gehört zu einem sozialen Brennpunkt. Irina, die offensichtlich nicht zum ersten Mal Ärger mit ihrer Nachbarschaft hat, ist stark und willens, sich und ihren Sohn zu verteidigen.

Diese Details werden nach und nach erzählt und fügen sich erst allmählich zu einem zunehmend widersprüchlichen Bild. Ein Kriminalkommissar namens Novotný (Igor Chmela) ermittelt wegen schwerer Körperverletzung. Oder handelt es sich womöglich um einen Unfall, den der Junge aus Scham zu kaschieren versucht, weil er im Übermut einem Mädchen imponieren wollte? Bald hat der Zuschauer gegenüber anderen Figuren einen Wissensvorsprung und wird damit zum Komplizen von Mutter und Sohn. Die alleinerziehende Irina, die in einem Einwanderer-Wohnheim als Reinigungskraft arbeitet und einen Sprachkurs absolviert, befindet sich offenbar in einer prekären Lage. Seit Jahren bemüht sie sich vergeblich um die tschechische Staatsbürgerschaft, die ihr außerdem dabei helfen soll, zusammen mit einer Freundin einen Frisiersalon zu eröffnen.

Der slowakische Regisseur Michal Blaško entfaltet in seinem mit Genre-Elementen angereicherten Sozialdrama „Victim“ ein dichtes Geflecht aus Wahrheit und Lüge, gegenseitigen Abhängigkeiten und Vorurteilen. Dabei führt er seine unter vielfachen Einflüssen und Einflüsterungen stehende Protagonistin, die zugleich als Vehikel für die Darstellung gesellschaftlicher Einflussnahme fungiert, sukzessive in ein tiefes moralisches Dilemma, das entfernt an ähnliche Konfliktlagen in den Filmen der Brüder Dardenne oder auch in denjenigen des Iraners Asghar Farhadi erinnert. Diese missliche Lage, die aus der Dynamik einmal getroffener Entscheidungen und aus dem Zwang der Umstände resultiert, spitzt sich noch zu, als der smarte, sich tolerant gebende Rechtsnationale Selský (Viktor Zavadil) im Verbund mit der Presse den Fall für seine politischen Zwecke zu instrumentalisieren versucht. Zwischen mühsam unterdrückten Schuldgefühlen und einem natürlichen, sehr menschlichen Gerechtigkeitsempfinden versucht sich Irina gegen subtile Manipulationen und Erpressungen zu wehren. Ihr Engagement zielt immer deutlicher auf Wiedergutmachung. Einmal sagt sie zu Igor: „Das Wichtigste ist jetzt, dass wir nicht zu viel reden.“

Der Gymnasiast

(FR 2022, Regie: Christophe Honoré)

Das Verlorene wiederfinden
von Wolfgang Nierlin

Hinter der spiegelnden Autofensterscheibe vermischen sich die Konturen von Lucas‘ (Paul Kircher) Gesicht mit den herbstlichen Farben der vorbeiziehenden Landschaft. Seit dem plötzlichen Unfalltod seines Vaters (Christophe Honoré) fühlt sich …

Hinter der spiegelnden Autofensterscheibe vermischen sich die Konturen von Lucas‘ (Paul Kircher) Gesicht mit den herbstlichen Farben der vorbeiziehenden Landschaft. Seit dem plötzlichen Unfalltod seines Vaters (Christophe Honoré) fühlt sich der 17-jährige Internatsschüler desorientiert und hilflos. Aus dem Off erzählt er von seiner Angst und einer tiefen Verunsicherung. Wenn der mädchenhaft hübsche Junge dann im Bild ist, scheint er zu einem unsichtbaren Gegenüber, vielleicht zu einem Therapeuten zu sprechen. „Mein Leben ist zu einem wilden Tier geworden“, bekennt Lucas, der eigentlich eher sensibel und zärtlich wirkt. Nach der unheilvollen Nachricht erleidet er einen Nervenzusammenbruch und gerät außerdem in einen heftigen Streit mit seinem älteren Bruder Quentin (Vincent Lacoste), während seine Mutter (Juliette Binoche) und die Familie unter Schock stehen. Auch sein Freund Oscar (Adrien Casse) kann ihm nicht aus der Verstörung helfen. Er wolle sich allein „ein neues Schicksal suchen“, sagt Lucas.

Als ihn Quentin, der in Paris als Künstler lebt, in einer Geste der Versöhnung für eine Woche zu sich einlädt, keimt in dem innerlich zerrissenen Jungen eine neue Lust am Leben. Lucas verlässt Chambéry, wo die umgebenden Berge der französischen Alpen deutliche Grenzen setzen, um sich mit seinen widerstreitenden, impulsiven Gefühlen im Großstadtdschungel zu verlieren. Überhastet und unkontrolliert stürzt er sich in Abenteuer. Ziemlich schnell verliebt er sich in Quentins älteren Mitbewohner Lilio (Erwan Kepoa Falé), einen unglücklichen Maler, der sich prostituiert, bleibt aber einsam. Auf ein anonymes Sex-Date folgt im gewagt provozierenden Gegenschnitt das Gespräch mit einem Priester, in dem es um die Hoffnung geht, etwas Verlorenes wiederzufinden.

Lucas‘ innere Zerrissenheit auf der Suche nach Liebe und einem neuen Halt erzeugt immer wieder zeitliche Verschiebungen und Risse in der Chronologie, in die sich auch Albträume mischen. In seinem melancholischen Film „Der Gymnasiast“ übersetzt Christophe Honoré, der selbst früh seinen Vater verloren hat und sich insofern auf eigene Erfahrungen bezieht, die innere Unruhe seines Helden in eine fiebrige Ästhetik. In unruhigen, bewegten Bildern sucht er die Nähe zu den Gefühlen seiner Figuren, folgt ihren intensiven seelischen Erschütterungen und emotionalen Ausbrüchen. Lucas‘ chaotisch erscheinende Auseinandersetzung mit Verlust und Trauer, die in einem heftigen Absturz schließlich zu scheitern droht, ist trotz ihrer Instabilität und Zerbrechlichkeit ein markanter Schritt ins Leben, ein Übergang zu etwas anderem, was wiederum durch wiederholte Tunnelfahrten visualisiert wird. Es gehe darum, „wie man eine Tragödie in eine fröhliche Form der Trauer verwandelt“, hat Christophe Honoré über seinen Film gesagt.

Music

(DE/FR/GR/RS 2022, Regie: Angela Schanelec)

Poesie des Ungesagten
von Wolfgang Nierlin

Im dunklen Rauschen des Windes treiben dichte Nebelschwaden über eine Gebirgslandschaft und verhüllen das ätherische Bild. Dann zerreißt ein plötzlicher Donnerschlag, der wie aus dem Nichts kommt, die dumpf tönende …

Im dunklen Rauschen des Windes treiben dichte Nebelschwaden über eine Gebirgslandschaft und verhüllen das ätherische Bild. Dann zerreißt ein plötzlicher Donnerschlag, der wie aus dem Nichts kommt, die dumpf tönende Stille und führt ins Dämmerlicht eines beginnenden Tages. Ein Mann trägt bergaufwärts eine Frau über Steine und Geröll. Deren herzzerreißende Schreie künden von einer Niederkunft. Am darauffolgenden Morgen finden Sanitäter den Mann auf dem felsigen Untergrund zwischen Bienenstöcken. Von der Frau fehlt jede Spur. Schließlich wird in einem niederen, steinernen Ziegenstall der Säugling gefunden und geborgen.

Schon die ersten, meist aus der Distanz aufgenommenen Bilder aus Angela Schanelecs neuem Film „Music“ eröffnen einen mythologischen Raum, belebt von statischen Figuren, symbolischen Handlungen und vagen, unausgesprochenen Bedeutungen. In langen, unverbundenen Einstellungen gewinnen Räume und die sinnliche Natur einer südlichen Landschaft an Gewicht. Dazwischen betonen kurze Schnitte auf Details die sorgsame Arbeit der Hände, die Körperlichkeit der Dinge oder nicht weiter ausgedrückte Gefühle. Denn die meist schweigenden Figuren sind weder Träger psychologischer Charaktere noch primär über ihre rudimentären Handlungen zu verstehen. Ihr „Spiel“ aus starrer Mimik, statischer Präsenz und wenigen Gesten ähnelt vielmehr einem Ritual, das auf das „Erscheinen“ einer Bedeutung vertraut. Dieser ungreifbare, gewissermaßen transzendente Gehalt resultiert aus der sehr stilisierten, theatralischen Mechanik der Ereignisse und korrespondiert außerdem mit einer elliptischen Erzählstruktur. Deren Auslassungen beschwören ähnlich wie in den Filmen Robert Bressons eine Poesie des Ungesagten.

Was dann tatsächlich, aber jenseits einer realistischen Erzählung gezeigt wird, ist, so die Vorinformation, vom Ödipus-Mythos inspiriert. Demnach tötet der thebanische Königssohn unwissentlich seinen Vater, schläft mit seiner Mutter und blendet sich, als er seine schicksalhafte Schuld erkennt. Auch Jon (Aliocha Schneider), der an seinen „Schwellfüßen“ erkennbare Ödipus aus Angela Schanelecs „Nicht-Tragödie“, wird durch eine unglückliche Tat zum Mörder und landet deshalb im Gefängnis. Dort verliebt sich die Wärterin Iro (Agathe Bonitzer) in den Gefangenen. Sie pflegt seine wunden Füße und heilt seinen Schmerz mit Musik. Doch dann, Jahre nachdem sie ein Paar und Eltern geworden sind, heißt es in einem der ausführlich dargebotenen barocken Lieder: „Die Freuden der Liebe / Sie währen nur einen Augenblick / Das Herzens Leid dafür ein Leben lang“. Iro wird sich von einer Klippe stürzen, Jon daraufhin zunehmend sein Augenlicht verlieren. Doch in „Music“ geht es weniger um Schuld und die Determination des Menschen nach dem ewigen Ratschluss der Götter, sondern um die heilende Kraft der Kunst angesichts einer leidvollen Existenz.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Music“.

Sara Mardini – Gegen den Strom

(Deutschland 2022, Regie: Charly Wai Feldman)

Angeklagt
von Jürgen Kiontke

Sara Mardini ist Flüchtlingshelferin, sie selbst ist 2015 mit ihrer Schwester Yusra aus Syrien geflohen. Spektakulär war die Überfahrt nach Griechenland, deren Umstände die beiden berühmt machen sollte: Gemeinsam springen …

Sara Mardini ist Flüchtlingshelferin, sie selbst ist 2015 mit ihrer Schwester Yusra aus Syrien geflohen. Spektakulär war die Überfahrt nach Griechenland, deren Umstände die beiden berühmt machen sollte: Gemeinsam springen die Schwestern nach Ausfall des Schiffsmotors ins Wasser, ziehen das Schlauchboot drei Stunden lang.

Die Rettungstat kommt nicht von ungefähr: Sara und Yusra stammen aus einer Familie von Sportler*innen in Syrien. Beide sind Leistungsschwimmerinnen. Yusra nimmt bald in einem Geflüchteten-Team an den Olympischen Spielen teil.

Bei Sara hinterlässt die Flucht andere Spuren. Sie engagiert sich im griechischen Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos und betreibt aktiv Fluchthilfe. Menschen, die das gleiche Schicksal haben wie sie, muss man unterstützen, sagt sie. Das kann kein Verbrechen sein. Die griechischen Behörden sehen das anders. Im Jahr 2018 wird sie von der Polizei verhaftet. Sie sitzt in Untersuchungshaft, der Vorwurf: Schleusertätigkeit, Geldwäsche und Betrug und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Mit ihr sind 23 weitere Menschen angeklagt, darunter der Rettungsschwimmer Seán Binder.

Im Verfahren werden viele Mängel in der Anklageerhebung und in der Prozessführung offenbar. Unter anderem, weil ein Anwalt angeklagt wird, müssen die Fälle vor einem übergeordneten Gericht verhandelt werden. Bald werden geringere Anklagepunkte auch fallengelassen. Bestehen bleibt jedoch der Verdacht, schwere Straftaten begangen zu haben. Seit Beginn dieses Jahres wird verhandelt. Kurioserweise darf Mardini nicht vor Gericht erscheinen, die griechischen Behörden haben sie ausgewiesen. Mardini und ihre Familie leben mittlerweile in Deutschland.

Regisseurin Charly Wai Feldman erzählt die Geschichte der beiden Schwestern in ihrem facettenreichen Dokumentarfilm „Gegen den Strom“ nach. Vier Jahre hat sie Sara begleitet. Neben ausführlichen Interviews, in denen die Schwestern und viele weitere Protagonisten der Flüchtlingshilfe zu Wort kommen, beleuchtet der sehenswerte Film die Situation auf den Fluchtrouten Europas.

Diese Kritik erschien zuerst am 21.03.2023 auf: links-bewegt.de

Inside

(GB/DE/BE/CH/GR 2022, Regie: Vasilis Katsoupis)

Essentieller Überlebenskampf
von Wolfgang Nierlin

Das hochmoderne, von exquisiten Möbeln, Kunstobjekten und Gemälden „bevölkerte“ Luxusloft liegt im oberen Stockwerk eines Hochhauses von New York. Dicht gedrängt stehen die Wolkenkratzer mit ihren spiegelnden Fassaden und bilden …

Das hochmoderne, von exquisiten Möbeln, Kunstobjekten und Gemälden „bevölkerte“ Luxusloft liegt im oberen Stockwerk eines Hochhauses von New York. Dicht gedrängt stehen die Wolkenkratzer mit ihren spiegelnden Fassaden und bilden dabei enge Straßenschluchten, die wie Labyrinthe oder Fluchtwege aussehen. Die weite und helle Transparenz des Apartments mit seinen offenen Räumen kontrastiert diese abgezirkelte städtische Außenwelt. Mit Hilfe eines Hackers, der über einen Code die Alarmanlage für wenige Minuten ausschalten kann, ist der Kunstdieb Nemo (Willem Dafoe) in die verwaiste Wohnung eingedrungen, um mehrere Gemälde von Egon Schiele zu stehlen. Als er so schnell wie er eingedrungen ist, den Schauplatz des Verbrechens wieder verlassen möchte, blockiert das Sicherungssystem die massive Holztür. Eine ohrenbetäubend laute Alarmanlage wird ausgelöst. Durch einen panischen Eingriff in die Elektronik gelingt es dem Einbrecher zwar, diese zu deaktivieren, doch dadurch gerät fortan die Klimaanlage außer Kontrolle. Hitze und Kälte, Hunger und Durst ausgesetzt, sitzt Nemo in der Falle eines modernen Systems, das für ihn zum Hochsicherheitsgefängnis wird.

In seinem Spielfilmdebüt „Inside“ zeigt der griechische Regisseur Vasilis Katsoupis diese unfreiwillige Isolation als gnadenlosen Überlebenskampf. Während Nemo zunächst rudimentäre Ausbruchsversuche unternimmt, muss er feststellen, dass die Wohnung nicht nur in allen Teilen und Belangen massiv verschlossen ist, sondern außer ein paar Konserven, Alkoholika und Hundefutter keine Nahrungsmittel im Vorrat hat. Außerdem wurde durch die komplizierte Haustechnik die Wasser- und Gaszufuhr gesperrt. Nur die von Zeit zu Zeit aktivierte Pflanzenbewässerungsanlage spendet Wasser, das von Nemo gierig in Behältern aufgefangen wird. Eine verletzte, flugunfähige Taube vor einem der Panoramafenster spiegelt Nemos Gefangenschaft ebenso wie jene Fotografie, die Passagiere auf einer Fluggasttreppe zeigt, die im Nirgendwo endet. Die lange Dauer der Isolation lässt sich ablesen an der zunehmenden Verwahrlosung der Wohnung, die bald wie ein Schlachtfeld aussieht, sowie an den psychischen Beeinträchtigungen des Helden, der von Halluzinationen heimgesucht wird. Daneben charakterisiert eine einseitige Durchlässigkeit die Dialektik von innen und außen; denn durch Überwachungskameras kann Nemo zwar Bruchstücke der nahen Außenwelt sehen, bleibt dabei selbst jedoch für andere unsichtbar.

In einem seiner Albträume, in denen Nemo an einer Vernissage des von ihm bestohlenen Kunstsammlers teilnimmt, sagt er den Satz: „Ich bin eine Insel.“ Die Idee eines Inseldaseins, das Kunst zum einzigen Überlebensmittel erhebt, rahmt und durchdringt den Film und seine zahlreichen Spiegelungen. Denn der Held beginnt nicht nur, in ein Skizzenbuch zu zeichnen und Wände zu bemalen, sondern er errichtet aus Möbeln und Gegenständen ein hohes Gerüst, das ihm über ein Oberlicht die Flucht ermöglichen soll. Diese Konstruktion ähnelt zunehmend einer Skulptur, während Nemo gleichzeitig damit beschäftigt ist, Werkzeuge herzustellen. In einer alten Schrift liest er etwas über die Überwindung der Gegensätze durch die enge Verbundenheit von Körper und Seele sowie über die transformative, ewige Kraft von Energie. In Vasilis Katsoupis‘ reduziertem, auf elementare Lebensfunktionen konzentriertem Film gelingt dem Gefangenen diese sowohl geistige als auch körperliche Überschreitung durch Kunst hin zu einer Transzendenz. Angesichts einer „umgeformten“ beziehungsweise in Chaos verwandelten Wohnung konstatiert er: „Letzten Endes gibt es keine Schöpfung ohne Zerstörung.“

Das Blau des Kaftans

(FR/MA/BE/DK 2022, Regie: Maryam Touzani)

Plädoyer für die Freiheit der Gefühle
von Wolfgang Nierlin

Langsam und bedächtig gleitet die Kamera über eine lange, sanft fließende Stoffbahn aus blauer Seide. Hände prüfen die Dichte und Weichheit des Gewebes und vermitteln ein Gefühl für die Haptik …

Langsam und bedächtig gleitet die Kamera über eine lange, sanft fließende Stoffbahn aus blauer Seide. Hände prüfen die Dichte und Weichheit des Gewebes und vermitteln ein Gefühl für die Haptik des Stoffes. Für Halim (Saleh Bakri) und Mina (Loubna Azabal), die in der Medina der marokkanischen Küstenstadt Salé eine Kaftan-Schneiderei betreiben, gehört die Wahl guter Stoffe zum Alltag. Während der stille und zurückhaltende Schneider geduldig und konzentriert seinem traditionsreichen Handwerk nachgeht, kümmert sich die resolute Mina selbstbewusst und bestimmt um die überwiegend weibliche, ebenso launische wie wählerischen Kundschaft. Deren Sinn für die traditionelle Schneiderkunst ist begrenzt. Und so schwebt über der Faszination für das alte, auf Dauer und Beständigkeit ausgerichtete Handwerk zugleich das melancholische Bedauern über seine Vergänglichkeit. Denn längst ersetzen vielerorts „schnellere“ Maschinen das diffizile Handwerk des Schneiders, dessen Wissen immer mehr verloren geht.

In Maryam Touzanis preigekröntem Film „Das Blau des Kaftans“, der auch eine Hommage an das traditionelle Handwerk ist, heißt es einmal: „Ein Kaftan muss denjenigen, der ihn trägt, überleben. Ein Kaftan hält der Zeit stand.“ Von diesem Geist der Unvergänglichkeit ist auch Halims neuer Lehrling Youssef (Ayoub Missioui) beseelt, der seit früher Kindheit auf sich allein gestellt ist und sich ebenso bemüht wie strebsam seinen Aufgaben widmet. Während Mina mit einiger Skepsis auf den attraktiven jungen Mann blickt, spiegelt sich in Halims Augen ein verstecktes Begehren. Denn der schweigsame Schneider ist homosexuell und hat im Hamam regelmäßig Sex mit Männern. Seine liebevolle, zärtlich Ehe mit Mina scheint davon aber unberührt. Doch dann kommen sich Halim und Youssef, beide auf ihre Art Waisenkinder, in scheuen Blicken und verschämten Berührungen allmählich näher, ohne ihre Gefühle füreinander auszusprechen.

Maryam Touzani inszeniert diese wortlose Intimität in vielen Naheinstellungen auf Gesichter, Blicke und Hände. Im langsamen, ruhigen Erzählfluss ihrer von warmem Licht beleuchteten Bilder entsteht der Mikrokosmos eines unspektakulären Alltags, der sich stetig wiederholt und doch unwiderruflich ändert. Denn während bei Halim neue, ungekannte Gefühle erwachen, vertiefen sich in Sorge und Verbundenheit seine alten für Mina, als deren schwere Krankheit unheilbar zurückkehrt. Fortan pflegt und begleitet Halim seine Frau, die für ihn stets ein „Fels“ war und die noch im Leid Augenblicke findet, das Leben zu feiern und dem Unvermeidlichen ihren Witz entgegenzusetzen. Während die beiden Schneider mit ihrer Arbeit ans Krankenbett wechseln, entsteht eine vertrauensvolle Gemeinschaft und Ersatzfamilie. In diesem geschützten Raum des offenen Miteinanders werden sowohl Geständnisse als auch Verzeihen möglich. Subtil und Anteil nehmend formuliert Maryam Touzani in ihrem zutiefst humanistischen Film vor diesem Hintergrund ein Plädoyer für Freiheit und den Mut, zu lieben.

Hier gibt es ein Interview mit Regisseurin Maryam Touzani.

The Five Devils

(FR 2022, Regie: Léa Mysius)

Verschattete Identität
von Wolfgang Nierlin

Die mysteriösen Sounds der Exposition sowie die schreienden, in Tränen aufgelösten Mädchen, hinter denen ein Haus lichterloh in Flammen steht, verheißen nichts Gutes. Trotzdem scheint in dem kleinen, im Schatten …

Die mysteriösen Sounds der Exposition sowie die schreienden, in Tränen aufgelösten Mädchen, hinter denen ein Haus lichterloh in Flammen steht, verheißen nichts Gutes. Trotzdem scheint in dem kleinen, im Schatten der französischen Alpen liegenden Ort zunächst alles seinen gewöhnlichen Gang zu gehen. Die junge Schwimmlehrerin Joanne (Adèle Exarchopoulos), ehemals Schönheitskönigin der Rhône-Alpes-Region, wie ein Poster verrät, leitet eine Aquajogging-Gruppe und kümmert sich nebenbei und ein bisschen halbherzig um ihre etwa 10-jährige, ziemlich aufgeweckte Tochter Vicky (Sally Dramé). Dabei wirkt Joanne merkwürdig unausgeglichen und reizbar, als würde sie etwas bedrücken. Nach der Arbeit geht die Außenseiterin, die offensichtlich nur wenige soziale Kontakte hat, regelmäßig in einem kalten Bergsee schwimmen. Ihr Element ist das Wasser und die ihr zugeordnete Farbe das Blau. Dieses steht in einer Spannung zum Rot, das mit ihrem Mann Jimmy (Moustapha Mbengue) assoziiert ist, einem aus dem Senegal stammenden Feuerwehrmann. Seit zehn Jahren sind die beiden verheiratet, doch ihre Ehe scheint erkaltet zu sein.

Die dunklen Schatten einer schweren, zunächst nicht näher bestimmten Vergangenheit scheinen auf den Figuren zu lasten. In Léa Mysius‘ mit fantastischen Elementen angereichertem Liebesfilm „The Five Devils“ („Les cing diables“) gelingt es Vicky, in diese emotional aufgewühlte Zeit vor ihrer Geburt einzudringen. Begabt mit einem außerordentlichen Geruchssinn, mit dem sie Menschen identifiziert und sich im Raum orientiert, stößt die kleine, neugierige und sehr kluge Sammlerin von Düften auf einen scharfen Geruch, der sie bewusstlos macht und in die Vergangenheit katapultiert. Dort wird sie, die für fast alle anderen unsichtbar bleibt, zur Zeugin von Liebeswirren zwischen Joanne und Jimmys geheimnisvoller jüngerer Schwester Julia (Swala Emati), aber auch zwischen ihrem späteren Vater und der impulsiven Nadine (Daphné Patakia). Und sie reagiert in der Gegenwart der Handlung, in der nach zehn Jahren Julia plötzlich wieder auftaucht und – auch in der kleinen Gemeinde – für allgemeine Unruhe sorgt, ziemlich eifersüchtig. Einmal fragt Vicky ihre Mutter: „Hast du mich geliebt, bevor ich existiert habe?“

Mit fließenden Kamerabewegungen und einem fluiden, durchlässigen Stil wechselt Léa Mysius die Zeiten und webt dabei ein dichtes, magisches Gewebe aus Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Vision. Erst langsam, dann immer dringlicher drängen die früheren Konflikte und Geheimnisse in das aktuelle Geschehen und damit in Vickys Bewusstsein. Außerdem muss sich das ungewöhnliche Mädchen, das wegen seiner Hautfarbe und eines mächtigen Afrolooks gehänselt und angefeindet wird, gegen Diskriminierung wehren. Wenn wiederum Joannes Vater (Patrick Bouchitey), Julia als „Lesben-Pyromanin“ verunglimpft, wird klar, dass es in „The Five Devils“ neben der Abwehr des Fremden auch um sexuelle Ausgrenzung geht. Im Zentrum des magischen Geschehens, das mit diversen Zeichen und Symbolen aufgeladen ist, steht aber Vickys Suche nach dem Ursprung ihrer Identität und das damit einhergehende unstillbare Verlangen, sich der Liebe ihrer Eltern zu versichern.

Der vermessene Mensch

(D 2022, Regie: Lars Kraume)

Täterblicke
von Jürgen Kiontke

Ethnologie ist das Fach der Stunde am Ende des 19. Jahrhunderts. Und Alexander, der junge Völkerforscher, ist fest entschlossen, seinen Vater, der auf demselben Gebiet tätig war, zu toppen. Im …

Ethnologie ist das Fach der Stunde am Ende des 19. Jahrhunderts. Und Alexander, der junge Völkerforscher, ist fest entschlossen, seinen Vater, der auf demselben Gebiet tätig war, zu toppen. Im Hörsaal ist er bereits der Chef, stellt sich sogar hin und wieder gegen die Theorien seiner Vorgesetzten, wenn auch nicht zu laut.

In Mode ist gerade das Schädelvermessen von Bewohnern neudeutscher Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent. Es dient der Zementierung der vermeintlichen Höherstellung und Vorherrschaft der weißen „Rasse“, insbesondere der deutschen natürlich. Aus jeder Ritze der Universität quillt der Überlegenheitsanspruch, der vor Ort dann militärisch durchgesetzt wird.

Alexander ist durchaus angewidert von der pseudo-wissenschaftlichen Herangehensweise der Kollegen. Er will sie widerlegen, versucht, ihre Fehler nachzuweisen. Bei der großen Völkerausstellung in Berlin – bei der genau das passiert: Es werden „Völker“ ausgestellt wie Tiere im Zoo – lernt er Kezia kennen. Sie ist Dolmetscherin einer Delegation von Nama und Herero, die unter falschem Vorwand nach Deutschland gelockt wurden und nun zur Teilnahme an der „Völkerschau“ gezwungen werden.

Kurz nach der Abreise der Delegierten beginnt in „Deutsch-Südwestafrika“ der Aufstand gegen die deutsche Kolonialmacht. Zugleich reist Alexander als ethnologischer Experte im Schutz der Armee durch das ganze Land, um Knochenmaterial für deutsche Forschungsprojekte einzusammeln. Und sucht dabei auch nach Kezia. Er gerät zwischen die Fronten der Kämpfenden, findet heraus, dass Konzentrationslager aufgebaut werden, und wird gewahr, dass hier ein Vernichtungskrieg im Gange ist, in dessen Folge viele Herero den Tod in der Wüste finden.

Lars Kraume hat mit „Der vermessene Mensch“ einen intensiven Film über ein wichtiges Thema gedreht. Das Drehbuch ist in Zusammenarbeit mit der Schauspielerin und Darstellerin der Kezia, Girley Charlene Jazama, entstanden. Kezia glänzt allerdings mehr durch ihre Abwesenheit im Film. Faszinosum, exotistisches Sehnsuchtsziel – ihre Rolle bleibt klein. Gezeigt wird immer die Sicht des deutschen Forschers, der, wenn auch widerständig, eine schier überzentrale Figur ist, die doch alles mitmacht.

Damit verschiebt sich der Fokus völlig weg von den Opfern hin zum Blick des Täters. Man erfährt zwar jeden Gedanken Alexanders, aber nur wenig über die Herero. Das ist umso enttäuschender, als sie zu Beginn des Films noch präsenter sind als durchaus politische Subjekte. Kurz: Die Einwohner Namibias sind nur Staffage für die Entwicklung der Hauptfigur.

Man habe schlichtweg keine Aufzeichnungen über die Herero und Nama und habe ihre Geschichte während des Aufstandes daher auch in größerem Rahmen fiktionalisieren wollen, sagt Kraume. Im Ergebnis gibt es jedoch nun nicht eine einzige tragende Rolle auf ihrer Seite. Ob das wirklich nicht anders ging?

Ein überraschender und intelligenter Twist zum Ende hin kündigt bereits die kommenden geschichtlichen Ereignisse an und weist auf die historische Vorreiterrolle der biologistischen Wissenschaft der Jahrhundertwende für den Nationalsozialismus. Fazit: prima Thema, zweifelhafte Umsetzung.

Diese Kritik erschien zuerst am 15.03.2023 auf: links-bewegt.de

Erica Jong – Breaking the Wall

(CH 2022, Regie: Kaspar Kasics)

Emanzipation durch Schreiben
von Wolfgang Nierlin

Am 4. April 2020 sind die Straßen und Häuserschluchten von New York City leer und verlassen. Die großflächigen Reklamen an den Wänden der Hochhäuser wirken irgendwie verloren und noch sinnloser …

Am 4. April 2020 sind die Straßen und Häuserschluchten von New York City leer und verlassen. Die großflächigen Reklamen an den Wänden der Hochhäuser wirken irgendwie verloren und noch sinnloser als sonst. Eine unheimliche Stille liegt über der Stadt. In diese Abwesenheit hinein sagt eine Stimme am Telefon: „Es ist einfach verrückt. Wie in Albert Camus‘ Roman ‚Die Pest‘.“ Die berühmte Schriftstellerin Erica Jong beschreibt gegenüber dem Filmemacher Kaspar Kasics ihr „Gefühl der Isolation“, das sich unter den Bedingungen des Covid-Lockdowns gewissermaßen verdoppelt. Der Schweizer Regisseur am anderen Ende der Leitung, der vom unerschütterlichen Selbstbewusstsein der Autorin und Feministin beeindruckt ist, fragt sich wiederum, wie es mit den im Februar begonnenen Dreharbeiten weitergehen soll. Sein Film „Erica Jong – Breaking the Wall“ findet in den wiederholten Bildern der leeren Großstadtstraßen gewissermaßen einen Resonanzraum für die Selbstauskünfte der Schriftstellerin. Erst Monate später, ablesbar auch am Wechsel der Jahreszeiten, beleben sich die Straßen wieder mit Menschen.

Es ist nicht leicht auszumachen, ob die vielen Gespräche und Familienszenen aus Jongs geschmackvoller, mit vielen Büchern und Kunstobjekten eingerichteter Wohnung noch vor oder nach dem Lockdown dokumentiert wurden. Sie gewähren jedenfalls einen sehr intimen und persönlichen Einblick in den Arbeitsalltag, das Leben und die Gedankenwelt der streitbaren Schriftstellerin, die von ihrem Schreibtisch aus einen Panoramablick über die Skyline von New York genießt. Hier arbeitet die am 26. März 1942 in eine jüdische Künstlerfamilie geborene Jong zusammen mit einer Assistentin gerade an ihren Memoiren. Andere Szenen zeigen sie mit ihren Enkelkindern, ihrem vierten Ehemann Ken Burrows, mit dem sie seit rund dreißig Jahren glücklich verheiratet ist, bei gymnastischen Übungen mit einem privaten Fitnesscoach oder auch bei einer Party. Im gedanklichen Mittelpunkt des Films stehen allerdings ihre Überlegungen zur weiblichen Selbstbestimmung und wie diese Niederschlag in ihren Büchern gefunden haben.

Vor allem ihr skandalumwitterter Erfolgsroman „Angst vorm Fliegen“, mit dem Erica Jong 1973 debütierte und in dem sie auch Erfahrungen aus ihrer Zeit in Heidelberg (1966 bis 1969) verarbeitet hat, wird zum stetigen Bezugspunkt. Während ihr der befreundete Schriftsteller Henry Miller bestätigt, sie habe mit diesem Roman die Frauen befreit und setze sich für sie ein, spricht sie in TV-Talkshows über weibliche Kreativität und über das sexuelle Begehren von Frauen, deren Gleichberechtigung nur schleppend vorangehe. „Ich wollte die Welt verändern“, sagt sie einmal mit einem Anflug von Ernüchterung. Trotzdem gibt sie, die als „Stimme des Feminismus“ gilt, den Kampf nicht verloren. Gerade im Schreiben erschaffe die Phantasie das Leben neu und erzeuge damit auch die Ahnung einer anderen Wirklichkeit. Worte verändern Menschen, ist die Schriftstellerin überzeugt. Nur indem man die Wahrheit über das Leben erzähle, gelange man zur Freiheit. Um diesem „utopischen Traum“ näher zu kommen, hat Erica Jong in ihrer Heimatstadt ein Schreibzentrum für junge Frauen gegründet.

Rebellinnen – Fotografie. Underground. DDR

(D 2022, Regie: Pamela Meyer-Arndt)

Kunst gegen die Auslöschung
von Wolfgang Nierlin

An ihrem langen Ende werden die Haare einer jungen Frau mit einer Schnur umwickelt und schließlich gespannt, als hingen sie an Zügeln. Je stärker ihr Kopf in eine Richtung zieht, …

An ihrem langen Ende werden die Haare einer jungen Frau mit einer Schnur umwickelt und schließlich gespannt, als hingen sie an Zügeln. Je stärker ihr Kopf in eine Richtung zieht, desto schmerzhafter wirkt die Gegenkraft desjenigen, der die Schnur hält. Es sei gut, wenn es spürbar wird, dass die gehemmte, eingeschränkte Bewegung „ein bisschen quält“, sagt die Fotografin Gabriele Stötzer über ihre Performance, mit der sie visualisiert, wie ein Mensch an seine Vergangenheit gebunden ist. In besonderer Weise gilt dies nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihre Kolleginnen Cornelia Schleime und Tina Bara. Sie alle stammen aus der DDR und widersetzten sich als Künstlerinnen staatlichen Schikanen und Repressionen. In ihrem Dreifachportrait „Rebellinnen – Fotografie. Underground. DDR“ widmet sich Pamela Meyer-Arndt in Interviews, vor allem aber anhand vieler Fotos und einiger Super-8-Filme dem beeindruckenden Werk der Künstlerinnen in seiner jeweiligen engen Verflechtung mit dem Leben.

Während Tina Bara (Jahrgang 1962) in ihren auf Kommunikation und Austausch zielenden Fotos den staatlichen Druck als „Katalysator“ versteht, weil er Gegendruck erzwinge und im Hinblick auf das Ausloten von Grenzen erfinderisch mache, erlebt die 1953 geborene Cornelia Schleime die Reglementierung und Unterdrückung ihrer künstlerischen Entfaltungsmöglichkeiten vor allem als eine Form des Eingeschlossenseins. Ihre performativen Fotos zeigen entsprechend immer wieder mit Schnüren geknebelte Frauenköpfe und eingewickelte, gewissermaßen mumifizierte, erstarrte und zur Bewegungsunfähigkeit gezwungene Körper. Von den Offiziellen als „Müllkunst“ diffamiert, folgen Cornelia Schleimes Arbeiten einem erweiterten Kunstbegriff, den sie mit lustvoller Sinnlichkeit und kreativer Freizügigkeit jenseits einer planen Konzeptkunst mit ihrem eigenen Leben beglaubigt. Auffallend oft rückt sowohl bei ihr als auch bei den anderen beiden Künstlerinnen neben dem Gesicht der nackte weibliche Körper in den Mittelpunkt. Seine ausgestellte Verletzlichkeit wird so zu einem Akt des Widerstands.

Ungeschützte Nacktheit, die Nähe zum Schmerz, eingewickelte Körper und scheinbar „blutende“ Augen spielen auch in den Fotografien und subversiven Filmen der ebenfalls 1953 geborenen Gabriele Stötzer eine irritierende Rolle. Als sie mit ihrer Unterschrift gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann protestiert, landet sie im Gefängnis, wo sie im Chor der für sie Schreienden eine besondere Form weiblicher Nähe und Solidarität erlebt. Dann, nach ihrer Entlassung, verstummt sie zunächst, bewahrt sich aber ihre Widerständigkeit und weigert sich, aufzugeben oder gar zu gehen. Zu zeigen, „wir sind da“, wird bei ihr zum Fanal einer „Kunst gegen die Auslöschung“. Während ihre Kolleginnen mehr oder weniger unfreiwillig in den Westen gehen, wird für Stötzer das bewusste Bleiben zum Credo. Leben und Kunst sind auch bei ihr untrennbar miteinander verwoben. In ihrem Experimentalfilm „…hab ich euch nicht glänzend amüsiert?“ wird die Endlosschleife des titelgebenden Satzes zu einer bitteren, verstörenden Litanei.

Saint Omer

(FR 2022, Regie: Alice Diop)

Geschichte einer Unsichtbaren
von Wolfgang Nierlin

Die Schriftstellerin Rama Fall (Kayije Kagame) wird von einem Albtraum geweckt: In einer dunklen Nacht, in der man nur das Rauschen des Meeres hört, trägt eine Mutter ihr Kind zu …

Die Schriftstellerin Rama Fall (Kayije Kagame) wird von einem Albtraum geweckt: In einer dunklen Nacht, in der man nur das Rauschen des Meeres hört, trägt eine Mutter ihr Kind zu einem Strand, um es der steigenden Flut zu überlassen. Diese Tat hat sich im November 2013 in dem nordfranzösischen Badeort Berck-sur-Mer tatsächlich ereignet und große öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Eine aus dem Senegal stammende Frau hatte auf diese Weise ihre 15 Monate alte Tochter „dem Meer übergeben“, wie sie später sagen wird, und war damit zur Mörderin geworden, ohne ihre Tat selbst zu verstehen. Unter dem Arbeitstitel „Der Schiffbruch der Medea“ möchte Rama, die ebenfalls senegalesische Wurzeln hat, den Fall dokumentieren, um sich dem, was sich dem Verstehen entzieht, anzunähern. Sie fährt deshalb mit dem Zug nach Saint-Omer, um den mehrtägigen Prozess zu verfolgen.

Zuvor sieht man Rama aber zuerst als Literaturlehrerin, die in einem Hörsaal einen Dokumentarfilm über jene öffentlich erniedrigten Frauen zeigt, die nach dem 2. Weltkrieg den Franzosen als sogenannte „horizontale Kollaborateurinnen“ galten. Die (geschorene) Frau als „Objekt der Schande“ sei zugleich ein „Subjekt im Zustand der Gnade“, zitiert Rama die Schriftstellerin Marguerite Duras aus ihrem Drehbuch zu Alain Resnais‘ „Hiroshima, mon amour“. Im Gerichtssaal, wo Alice Diops tief beeindruckender Film „Saint Omer“ fortan hauptsächlich spielt, trifft dieses Bild einer ambivalenten Weiblichkeit auf einen Lebenslauf, der eine Vielzahl von Widersprüchen in sich vereint. Während die 36-jährige Angeklagte Laurence Coly (Guslagie Malanda) von ihrer Kindheit im Senegal, von ihrer Einsamkeit als Philosophie-Studentin in Frankreich und von ihrer Liebesbeziehung zu einem über 30 Jahre älteren Bildhauer erzählt, entfaltet sich ein unheilvolles Geflecht aus Erwartungsdruck, kulturellen Prägungen und Unterschieden sowie materiellen Abhängigkeiten. Am Ende wird Laurence sagen, sie habe sich zunehmend ausgenutzt und entfremdet gefühlt und sei schließlich zu einem „Opfer von Hexerei“ geworden: „Ich war in einem schwarzen Loch.“

Alice Diop gestaltet die angespannte Atmosphäre ihres zwischen dokumentarischer Genauigkeit und fiktiven Elementen changierenden Films mit konzentrierter Aufmerksamkeit. Gerade aus der Reduktion und aus den Ellipsen spricht ausführlich das Unsagbare. Zusammen mit ihrer Kamerafrau Claire Mathon kultiviert die französische Regisseurin eine Ästhetik der Abwesenheit, in der die Sprecherinnen immer wieder dem Bild entzogen sind und dadurch einen ungewöhnlichen Resonanzraum aus sich überlagernden Stimmen und Schweigen eröffnen. Als „Geschichte einer Phantomfrau“, die zunehmend unsichtbarer geworden sei, wird die Anwältin (Aurélia Petit) den Fall ihrer Mandantin beschreiben und in ihrem bewegenden Plädoyer auf „Chimären“ verweisen, die nicht nur Mutter und Kind, sondern alle Frauen verbinde. Selbst schwanger und in einer problematischen Mutterbeziehung gefangen, wird sich Rama im Verlauf des Prozesses immer stärker mit der Angeklagten identifizieren, die in einem Verweis auf Pasolinis „Medea“ zu einer mythischen Figur wird. Trotzdem eröffnet sich für Rama am Ende ein Weg aus den „schrecklichen menschlichen Mustern“.

Teheran Tabu

(D/AT 2016, Regie: Ali Soozandeh)

Falsche Ordnung
von Wolfgang Nierlin

Nichts ist so, wie es scheint. Hinter den Masken liegen Abgründe. Im Untergrund tobt das Leben. Und die Fassaden dienen der Bestätigung einer falschen Ordnung. In Ali Soozandehs Animationsfilm „Teheran …

Nichts ist so, wie es scheint. Hinter den Masken liegen Abgründe. Im Untergrund tobt das Leben. Und die Fassaden dienen der Bestätigung einer falschen Ordnung. In Ali Soozandehs Animationsfilm „Teheran Tabu“, der mit dem Rotoskopie-Verfahren hergestellt wurde, also auf Realfilmaufnahmen mit Schauspielern basiert, herrscht ein permanentes Gegeneinander. Misstrauen und Hass, Lügen und Korruption bestimmen die Beziehungen der Menschen, während die Staatsmedien zum „Schutz vor fremden Kulturen“ angebliche „islamische Werte“ und daraus resultierende Regeln verbreiten. Deren Einhaltung wird allerdings nicht nur von der Polizei, sondern auch von den Betroffenen selbst überwacht und kontrolliert. Unter der religiös begründeten staatlichen Repression wird jeder zum Beobachter des anderen und damit zum möglichen Denunzianten. Die sich auf diese Weise potenzierende Unfreiheit legt sich wiederum wie ein Netz über die Beziehungen und zeigt sich am markantesten in der systematischen Unterdrückung und Benachteiligung von Frauen.

„Unordnung ist eine Form von Ordnung, an die wir uns gewöhnt haben“, sagt etwa Sara (Zar Amir Ebrahimi). Die attraktive Literaturlehrerin ist mit einem Bankangestellten verheiratet und nach zwei angeblichen Fehlgeburten erneut schwanger. Sie möchte arbeiten, was ihr Mann aber nicht erlaubt. Stattdessen muss sie sich um die Schwiegereltern kümmern. Als die resolute Pari (Elmira Rafizadeh) mit ihrem 5-jährigen stummen Sohn Elias (Bilal Yasar) in das Hochhaus mit dem weiten Blick über die Stadtlandschaft einzieht, entsteht zögerlich ein freundschaftliches Band weiblicher Solidarität. Weil ihr Mann wegen eines Drogendelikts im Gefängnis sitzt, prostituiert sich Pari, um für sich und das Kind sorgen zu können. Und weil ihr der Richter (Hasan Ali Mete) die nötigen Scheidungspapiere verweigert, lässt sie sich auf einen Sex-Deal mit ihm ein. Der junge Musikstudent Babak (Arash Marandi) wiederum hat unter Drogeneinfluss bei einer geheimen Party die vorgeblich verlobte Donya (Negar Mona Alizadeh) entjungfert. Jetzt soll er Geld auftreiben, damit das Hymen operativ wieder hergestellt werden kann.

Die lose verknüpften, als „short cuts“ erzählten Episoden enthüllen eine dicht gefügte Welt der Parallelitäten und eine alle Lebensbereiche durchdringende Doppelmoral. Der wiederholte Blick über die Skyline der Millionenstadt und damit auf die vielen anderen ähnlichen Schicksale verweist auf das Exemplarische der Geschichten, deren Verdichtung freilich nicht frei ist von Typisierungen und Zuspitzungen. Mit einem sehr dynamischen Erzähltempo und einer unerwartet unverblümten Sprache zeichnet der im deutschen Exil lebende Iraner Ali Soozandeh ein düsteres Gesellschaftsbild und entlarvt dabei die mehr oder weniger aufgezwungenen Lügen. Vor allem der kleine Elias wird zum stummen Beobachter und Zeugen des widersprüchlichen Treibens und der Heuchelei. Wie sehr das unhintergehbare Geflecht aus Abhängigkeiten einen selbstverleugnenden Anpassungsdruck erzeugt, verdeutlichen in „Teheran Tabu“ schließlich die wechselnden farbigen Hintergründe, die ein Fotograf je nach Anlass und Zweck für seine Porträtfotos bereithält. Sind diese für staatliche Behörden gedacht, wählt er konsequent eine dunkle Folie aus.

Der Film ist noch bis zum 14.03.2023 in der Arte-Mediathek zu sehen.

Return to Dust

(CHN 2022, Regie: Ruijun Li)

Fortschreitende Entwurzelung
von Wolfgang Nierlin

Die rechteckige Öffnung in der Wand aus dunkelbraunem Lehm ist wie ein Fenster in eine andere Welt und zugleich wie ein Rahmen, der diese begrenzt. Das gerahmte dunkle Loch ist …

Die rechteckige Öffnung in der Wand aus dunkelbraunem Lehm ist wie ein Fenster in eine andere Welt und zugleich wie ein Rahmen, der diese begrenzt. Das gerahmte dunkle Loch ist aber auch ein Bild im Bild. Der Mist aus dem Eselstall wird durch diese Öffnung von drinnen nach draußen befördert. Youtie (Renlin Wu), der diese Arbeit verrichtet, kommt erst später ins Bild. Mitglieder seiner Familie rufen ihn, der nur „Bruder vier“ genannt wird, aus dem Off zum Essen. Leichter Schneefall begleitet die Schritte des schweigsamen, von harter körperlicher Arbeit etwas gebeugten Mannes. Ohne ihn zu fragen, wird für Youtie eine Ehe arrangiert. Der gutmütige Außenseiter soll eine andere schweigsame Außenseiterin heiraten: Guiying (Hai Qing) wurde in ihrer Kindheit misshandelt und leidet seitdem unter körperlichen Einschränkungen. Wenn die beiden kurz darauf von einem Fotografen für ein Hochzeitbild arrangiert werden, sitzen sie wie zwei Fremde nebeneinander.

Der von einem ruhigen Erzählrhythmus getragene Film „Return to Dust“ von Li Ruijun handelt zunächst von der zögerlichen, sehr behutsamen Annäherung zweier Menschen, ihrem zärtlichen Miteinander und ihrer wortlosen Liebe. Eingebunden ist ihre Geschichte, die im kleinbäuerlichen Milieu der Provinz Gansu im nordwestlichen China angesiedelt ist, in die Mühen einer harten körperlichen Arbeit unter ärmlichem, kargen Lebensbedingungen. In genauen Bildern, die eine schöne Ausgewogenheit zwischen Naturalismus und Poesie vermitteln, zeigt Li, der selbst in dieser Gegend am Rande zur Wüste Gobi aufgewachsen ist, nahezu archaische Lebensformen. Im Wechsel der Jahreszeiten bestellen Youtie und Guiying die Felder, ernten die Ähren und mahlen das Korn; sie ziehen Küken groß, stellen Lehmziegel her und bauen daraus ein Haus. Unterstützt werden sie dabei von einem treuen Esel. „Alles kommt aus der Erde“, sagt Youtie, der seine bescheidene, sorgsame Lebensführung als direkten Austausch mit der Natur versteht.

Wiederholt formuliert der selbstgenügsame, ehrliche Bauer, der sich außerdem geduldig um seine Frau kümmert, solche Einsichten in die existentiellen Grundlagen des Lebens und dessen Bestimmungen. Der Film begleitet dieses Wissen mit einer unaufdringlichen Symbolik und der Metapher einer fortschreitenden Entwurzelung. Die Protagonisten werden nämlich – sprichwörtlich bis aufs Blut – von der neureichen Obrigkeit nicht nur vielfach übervorteilt, ausgebeutet und ausgenutzt, sondern immer wieder enteignet und umgesiedelt, bis auch ihr neues Eigenheim, mit Geduld und Liebe mühevoll gebaut, zur Disposition steht. Youtie erträgt das alles stoisch und widerstandslos. Und er, der von seiner Frau als „ein guter Mensch“ apostrophiert wird, bleibt trotz allem solidarisch und gewissenhaft. Seine sukzessive Vertreibung in ein für ihn unmögliches Leben ähnelt dem Schicksal jener ins Bild rückenden Schwalbennester, die mit jedem abgerissenen Haus ein Stück ihres Lebensraumes einbüßen.

Wo ist Anne Frank

(BE/LU/FR/NL/IL 2021, Regie: Ari Folman)

Der Geist aus den Buchstaben
von Wolfgang Nierlin

Über den Straßen von Amsterdam tobt ein heftiger Gewittersturm mit Starkregen. Helle Blitze zucken aus einem dunklen, schwarzgrau gefärbten Himmel, während der Sturmwind ein rotes, kleines Iglu-Zelt mit sich fortreißt, …

Über den Straßen von Amsterdam tobt ein heftiger Gewittersturm mit Starkregen. Helle Blitze zucken aus einem dunklen, schwarzgrau gefärbten Himmel, während der Sturmwind ein rotes, kleines Iglu-Zelt mit sich fortreißt, in dem eine Flüchtlingsfamilie bis dato notdürftig einen Unterschlupf auf dem Gehweg vor dem Anne-Frank-Haus gefunden hat. Im Museum wiederum zerspringt das Glas einer Vitrine, in der Anne Franks berühmtes Tagebuch ausgestellt ist. Ähnlich dem Geist aus der Flasche und wie von Zauberhand berührt, verflüssigen sich die handgeschriebenen Buchstaben, steigen in dünnen, feinen Fäden auf, um auf leichte, zeichnerische Art eine Figur zu formen. Dabei handelt es sich um eine Materialisierung von Kitty, jener imaginären Freundin, an die Anne Frank einst ihre Briefe gerichtet hat. Diese schreibt sie nach ihrem 13. Geburtstag, den sie am 12. Juni 1942 mit ihrer Familie feiert, in ihr Tagebuch mit dem rot-weiß karierten Einband. Kurz darauf bezieht die jüdische Familie, die Jahre zuvor aus Deutschland geflohen ist, ihr Versteck in einem Hinterhaus, wo sie vor dem Zugriff durch die Nazis zunächst sicher ist.

Ari Folman wählt für seinen vielschichtigen Animationsfilm „Wo ist Anne Frank“ diesen ungewöhnlichen Einstieg, um durch einen Perspektivwechsel einen neuen und zugleich aktualisierten Blick auf die berühmte Geschichte zu werfen. Denn Kitty entsteigt dem Tagebuch, um sich auf die Suche nach ihrer Schöpferin zu begeben und dabei Annes Geschichte bis zu ihrem traurigen Ende zu erzählen. Dafür wechselt der phantasievoll animierte Film permanent die Zeitebenen zwischen einer sehr farbigen Vergangenheit und einer winterlich grauen Gegenwart. Während Kitty innerhalb des Museums für die Besucher unsichtbar bleibt, wird sie draußen auf den Straßen und zugefrorenen Grachten der Stadt als jetzt sichtbare „Diebin“ des Tagebuchs zur Verfolgten, was der Film für rasante Verfolgungsjagden nutzt. Als Alter Ego und als Gegenüber von Anne erzählt sie einerseits von den Sorgen und Nöten des selbstbewussten Mädchens in ihrem Versteck, andererseits entfaltet sich um die Hauptfigur Kitty in den Passagen der Gegenwart eine eigene Geschichte.

Darin folgt das als warmherzig, klug und mutig charakterisierte Mädchen nicht nur dem bitteren Weg Anne Franks ins Verderben durch die Nazis, die hier als schwarz gewandete Sensenmänner unter einem blutroten Himmel gezeichnet werden. Denn außerdem verliebt sich die lebenslustige Kitty in den gewieften Taschendieb Peter, mit dem sie diverse Abenteuer besteht, und freundet sich zugleich mit dem Flüchtlingsmädchen Awa aus Mali an. Dem israelischen Regisseur und Drehbuchautor Ari Folman, der selbst in einer Familie von Holocaust-Überlebenden aufgewachsen ist, geht es in der Adaption der gleichnamigen Graphic Novel, die das Gegenstück zum zuvor veröffentlichten „Graphic Diary“ bildet, um die Kontinuität von Vertreibung, Flucht und Ausschließung. Gegen die Kommerzialisierung der Gedenkkultur etabliert er, einfühlsam und von einem humanistischen Geist beseelt, eine jugendliche Heldin, die mit dem Wissen aus der Vergangenheit für eine bessere Gegenwart kämpft und sich dabei mutig für das Bleiberecht verfolgter und geflüchteter Menschen einsetzt. Anne Franks Tagebuch wird ihr dabei gleich in mehrfacher Hinsicht zur Hilfe. Kitty gewinnt ein eigens Leben und bleibt letztlich doch Phantasie eines außergewöhnlichen Mädchens.

Höchstens vier Wochen

(DE 2023, Regie: Jonas Alter)

Arbeitskämpfe lohnen sich
von Jürgen Kiontke

„Höchstens vier Wochen“ sollte der Krankenhausstreik 2022 in NRW dauern. Es wurden elf. Jonas Alter war von Anfang an dabei und hat einen beeindruckenden Film über den längsten Arbeitskampf im …

„Höchstens vier Wochen“ sollte der Krankenhausstreik 2022 in NRW dauern. Es wurden elf. Jonas Alter war von Anfang an dabei und hat einen beeindruckenden Film über den längsten Arbeitskampf im deutschen Gesundheitssystem gedreht.

Dominik sagt: „Ich arbeite in der Sterbebegleitung. Ich habe keine Zeit für die Sterbenden und ihre Angehörigen.“ Carola sagt: „Ich muss ständig einspringen. Ob per Mail, WhatsApp oder Anruf: Die Klinik lässt einen nicht in Ruhe.“ Und für Kira ist klar, dass die Klinikleitung vor das Arbeitsgericht zieht, um einen Streik zu verhindern. „Mit diesem Vertrauensbruch haben wir gerechnet.“

Die drei sind die Hauptdarsteller*innen in Jonas Alters dramaturgisch prima gebautem Dokumentarfilm „Höchstens vier Wochen.“ Er handelt vom größten Streik im deutschen Gesundheitssystem im Frühjahr 2022, der 79 Tage dauerte. Die Beteiligten hatten damit gerechnet, dass in „höchstens vier Wochen“ alles vorüber sei.

Aus dem Nichts ist dieser Arbeitskampf beim besten Willen nicht entstanden. Seit Ende der 1990er-Jahre wird am System der Krankenhäuser in Deutschland herumgebastelt. Gewinnträchtige Privatisierungen wie Massenentlassungen von Pflegekräften gehörten zum Instrumentarium, um das deutsche Gesundheitssystem zumindest für Investoren profitabel zu machen; vor allem durch das Konzept der Fallpauschalen, mit denen die Krankenhäuser einen festen Satz für bestimmte Behandlungen bekommen, was zu reiner Gewinnorientierung, zu Arbeitsverdichtung, Stress auf den Stationen und Fachkräfteflucht aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen geführt hat.

Die Beschäftigten der Unikliniken in Nordrhein-Westfalen wollten sich das zu Beginn des Jahres 2022 nicht mehr länger bieten lassen, gemeinsam kämpften sie mit gewerkschaftlicher Unterstützung nicht für mehr Lohn, sondern erstmals für mehr Personal. Sie forderten vor allem Entlastung. Es war ein Streik für ein besseres Gesundheitssystem und für eine bessere Versorgung – denn die Unterbesetzung von z. B. Rettungsstellen kann zu Todesfällen führen. Mehr als einmal erwähnen die Mitarbeiter*innen in Alters Film, dass gerade mal eine Pflegekraft pro Schicht in der Notaufnahme arbeitet – ein fahrlässiger Personalschlüssel, der Leben kosten kann. Es ging um genug Zeit, den Job richtig zu machen, genug Zeit, um nicht vor Arbeit verrückt zu werden.

Alter ist überall mit der Kamera dabei: bei Streikaktionen, Betriebsversammlungen, vor dem Arbeitsgericht, das die Uniklinikleitung Bonn bemühte. Deren Sprecher versucht zu begründen, warum man die Gerichte anrief. Die Einlassungen überzeugten die Pflegekräfte nicht – und auch nicht die Richterin. Am Schluss kam dann tatsächlich der Tarifvertrag Entlastung zustande, er enthält Bestimmungen zum Zeitmanagement, Belastungsausgleich, bessere Bedingungen für Auszubildende und dual Studierende. Vor allem wird die Einhaltung der Bestimmungen kontrolliert.

Ein mitreißendes Stück Dokumentarfilm darüber, dass sich Engagement immer lohnt. Es ist die erste Arbeit des jungen Regisseurs. So kann er gerne weitermachen!

Diese Kritik erschien zuerst am 17.02.2023 auf: links-bewegt.de

Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber

(RU/DE/FR/CH 2021, Regie: Kirill Serebrennikow)

Deformierte Wirklichkeit
von Wolfgang Nierlin

Ein Winterabend in der russischen Stadt Jekaterinburg. In einem Linienbus herrscht drangvolle Enge. Während sich eine korpulente, weihnachtlich verkleidete Schaffnerin mit blonden Zöpfen durch die Menge der verhärmten Fahrgäste schiebt …

Ein Winterabend in der russischen Stadt Jekaterinburg. In einem Linienbus herrscht drangvolle Enge. Während sich eine korpulente, weihnachtlich verkleidete Schaffnerin mit blonden Zöpfen durch die Menge der verhärmten Fahrgäste schiebt und nach den Fahrscheinen verlangt, wird gezetert, geschimpft und gestritten. Unaufhörlich geht es gegeneinander und gegen andere, gegen eine unfähige Regierung und gegen die Fremden im Land. Inmitten der üblen Flüche und hitzigen Wortgefechte steht fiebernd, hustend und schwitzend der Titelheld aus Kirill Serebrennikows Film „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“, der wiederum auf einem Roman seines Landsmannes Alexei Salnikow basiert. Dann wird der schweigsame Petrow (Semjon Sersin) plötzlich von zwei Schergen des Inlandsgeheimdienstes FSB aus dem Bus gezogen und zu einem Erschießungskommando abkommandiert, an dem er willenlos und wie im Wahn teilnimmt. Die Opfer des nicht näher erläuterten Massakers wirken auffällig vornehm und sind gut gekleidet.

Kirill Serebrennikow, der auch als Theater- und Opernregisseur bekannt ist, filmt diese Szenen und den Schauplatzwechsel in einer langen, fließenden Plansequenz, sodass der Zuschauer nicht gleich erkennt, dass sich hier Realität und Fiebertraum ohne filmische Schnitte vermischen. Dieses ästhetische Prinzip bestimmt auch im Folgenden den zweieinhalbstündigen Film, der in einer Art delirierenden Revue ein ebenso groteskes wie hartes Bild der russischen Gesellschaft zeichnet. Dabei wechselt er oft ununterscheidbar zwischen Realität und diversen Visionen, zwischen einer schwarzweißen Vergangenheit und einer farbigen Gegenwart. Zwischen den brutalen Gewaltausbrüchen und den Tötungsphantasien von Petrows Frau (Tschulpan Chamatowa) wiederum scheint noch eine dünne, trennende Realitätsgrenze zu verlaufen. Aber kann sich der Held, der seine nächtliche Fahrt im Leichenwagen seines besoffenen Kumpels Igor (Juri Kolokolnikow) fortsetzt, sicher sein, dass er einem erfolglos schriftstellernden Freund nicht tatsächlich beim Suizid geholfen hat?

Eben war Petrow nämlich noch eine homosexuelle Figur aus einer Erzählung des Schriftstellers. Und er selbst zeichnet Comics, in denen er seine Erlebnisse verarbeitet. Während sein ebenfalls erkrankter kleiner Sohn trotz hohen Fiebers an einem bizarren Neujahrsfest mit der Schneejungfrau teilnehmen möchte, bewegt sich der schonungslos überdrehte Film, der fest in Kälte und Dunkelheit, Chaos und Anarchie verankert ist, immer tiefer hinein in einen nicht endenden Alptraum. Einmal heißt es in einem Lied mit sarkastischem Unterton: „Oh wunderbares Leben, lehre mich heller zu brennen.“ Dass in den Wirren aus Suff und Fieber irgendwann eine Schwangerschaft zur Disposition steht, korrespondiert gewissermaßen mit jener „auferstandenen“ und danach verschwundenen Leiche, die am Ende durchnässt einen Bus besteigt. Offensichtlich gibt es in „Petrov’s Flu“ keinen Ausweg aus dem surreal-wahnhaften Kreislauf einer absurd deformierten, moralisch verkommenen Wirklichkeit.

Bigger Than Us

(FR 2021, Regie: Flore Vasseur)

Weltweiter Aktivismus
von Jürgen Kiontke

Seitdem Melati laufen kann, engagiert sie sich gegen die Plastikschwemme in ihrem Heimatland Indonesien. Vom Müll hat sie die Nase gestrichen voll. Gemeinsam mit ihrer Schwester hat sie die Initiative …

Seitdem Melati laufen kann, engagiert sie sich gegen die Plastikschwemme in ihrem Heimatland Indonesien. Vom Müll hat sie die Nase gestrichen voll. Gemeinsam mit ihrer Schwester hat sie die Initiative „Ban the Plastic Bags“ ins Leben gerufen. Ihre Arbeit brachte sie sogar schon nach New York, dort hielt sie vor den Delegierten der Vereinten Nationen eine Rede. Ihre Devise: Eine bessere Welt ist möglich!

Heute ist Melati 18 Jahre alt und schaut schon auf eine langjährige politische Praxis zurück. Gemeinsam mit einem Filmteam macht sie sich für den mitreißenden Dokumentarfilm „Bigger Than Us“ auf zu anderen Aktivisten, die sich von Kindesbeinen an für eine Sache engagieren. Sie will wissen: Was treibt die denn zu Höchstleistungen an?

Fantasievoll und verschachtelt erzählt, führt sie ihre Reise zur Flüchtlingshelferin Mary auf die griechische Insel Lesbos. Der schildert sie Begegnungen mit den Menschen, die sie bisher getroffen hat. Fünf junge Leute vom Libanon über Afrika bis Brasilien werden vorgestellt, die besondere soziale Projekte nicht nur gegründet haben, sondern auch erfolgreich weiterführen.

Memory stellt sich früh gegen die Tradition der Zwangsehe in ihrem Land Malawi. Dazu gekommen ist sie vor allem aus persönlicher Betroffenheit, sollte sie doch bereits als Kind verheiratet werden. Sie schafft es, im Parlament gehört zu werden, und erreicht, dass die Mindestaltersgrenze für Hochzeiten von 15 auf 18 Jahre angehoben wird. Auch bei Mohamed hat das Engagement nicht zuletzt private Auslöser. Als Kind flüchtete er aus Syrien in den Libanon, fand, dass die Menschen in den Flüchtlingslagern nur vor sich hindämmern. „Du vergisst dort, was Zeit ist“, sagt er. Er gründete eine Schule, in der heute 200 Kinder unterrichtet werden. Und Rene? Das Kind aus der Favela in Rio de Janeiro war die Berichte der Medien über seine Nachbarschaft leid, es ging immer nur um Drogen und Gewalt. Um die Informationslage zu verbessern, gründete er eine Kinder-Favela-Zeitung, deren Chefredakteur er heute ist und die monatlich erscheint.

Die junge Winnie baute eine Initiative für saubere Landwirtschaft in Uganda auf; heute ist diese eine Kooperative, die von Bürgerkriegsflüchtlingen aus den Nachbarländern betrieben wird. Und der indigene Rapper Xiuhtezcatl hat den US-Bundesstaat Colorado verklagt, weil dessen Regierung zu faul sei, etwas an der desolaten Umweltsituation zu ändern. Colorado ist bekannt für seine Fracking-Industrie und deren Auswirkungen auf Mensch und Natur. Das Gas, das mit dieser Technik aus dem Boden gepresst wird, landet auch gern mal im Trinkwasser, wie der junge Aktivist eindrucksvoll an der Spüle seiner Mutter demonstriert. Einmal den Hahn aufgedreht, kann er den Output mit dem Feuerzeug anzünden.

Die Leute, die hier für etwas kämpfen, das größer ist als wir, du oder ich, setzen sich für Menschenrechte ein, für den Zugang zu guter Nahrung, zu Bildung. Sie streiten für Meinungsfreiheit und soziale Gerechtigkeit.

Diese Kritik erschien zuerst am 15.02.2023 auf: links-bewegt.de

Das Salz der Tränen

(FR 2020, Regie: Philippe Garrel)

Erziehung des Herzens
von Wolfgang Nierlin

Aus erhöhter Perspektive blickt die Kamera auf zwei junge Menschen, die, durch eine leere Straße getrennt, einander gegenüberstehen und auf einen Bus warten. Ihre Beziehung wird zunächst durch diese räumliche …

Aus erhöhter Perspektive blickt die Kamera auf zwei junge Menschen, die, durch eine leere Straße getrennt, einander gegenüberstehen und auf einen Bus warten. Ihre Beziehung wird zunächst durch diese räumliche Distanz definiert, bevor sie erst durch verstohlene Blicke, dann durch das Überqueren der Straße aufgehoben wird. Der etwa 20-jährige Luc (Logann Antuofermo), der neu ist in Paris, fragt an der Vororthaltestelle Djemila (Oulaya Amamra) nach dem Weg. Die erste Begegnung der beiden ist vorsichtig tastend, zögerlich, fast scheu. Kaum ein Wort wird während ihrer gemeinsamen Busfahrt gewechselt. Nur sehr langsam überwinden die beiden ihre Distanz. Der schüchternen Annäherung folgt eine Verabredung zum Spaziergang. Während Djemila als Arbeiterin gerade eine schulische Pause überbrückt, ist der angehende Tischler Luc aus einem kleinen Provinzort angereist, um an der Kunstgewerbeschule École Boulle die Aufnahmeprüfung abzulegen. Sein Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt geht einher mit der Erziehung des Herzens.

In mehreren zeitlichen Abschnitten, die jeweils mit Ortswechseln und neuen Begegnungen verbunden sind, erzählt der 1948 geborene Philippe Garrel in seinem Film „Das Salz der Tränen“ („Le sel des larmes“) von Lucs ziemlich flatterhaften Éducation sentimentale. Dabei liegt das Interesse des französischen Regisseurs, der seinen Film zusammen mit dem renommierten Kameramann Renato Berta erneut in Schwarzweiß und in einem zeitlosen Ambiente aufgenommen hat, weniger auf einer durchgehenden Geschichte, sondern vielmehr im Szenischen und im einzelnen Bild. Die Beziehungen der Figuren im Raum, Orte als Ansammlung von Ideen, von subjektiven Obsessionen, unterbewussten Träumen und Erinnerungen sowie eine unverkennbar Faszination für das Schöne lassen die mögliche Kohärenz des Plots und der Dialoge mitunter zurücktreten.

Philippe Garrels romantischer, fast schwärmerischer Film folgt der Logik der Poesie und ist geradezu unschuldig gegenüber filmischen Konventionen. Wo es Handlung zu überbrücken gilt, meldet sich aus dem Off ein Erzähler kurz zu Wort. Stimmungsvolle Klaviermusik von Jean-Louis Aubert setzt eine melancholische Grundnote. Garrels poetischer Realismus macht seinen Film ebenso gegenwärtig wie überzeitlich.

„Ich vergesse dich nicht“, sagt Luc bei seinem Abschied von Djemila. Zurück in seinem Heimatort, thematisiert der Film zunächst die enge Beziehung des Protagonisten zu seinem alten Vater (André Wilms), der eine Tischler-Werkstatt betreibt, etwas ernüchtert auf die mögliche Zukunft seines Handwerks blickt („Nomaden brauchen keine Möbel.“) und seinen Sohn allein aufgezogen hat. Als Luc eine Zusage für die Aufnahme an der École Boulle erhält, wird klar, dass er mit Beginn seines Studiums auch einen nicht realisierten Traum seines Vaters lebt.

Doch zunächst gerät Luc in weitere Liebeswirren, als er seine schöne frühere Schulfreundin Geneviève (Louise Chevillotte) trifft und diese nach einer leidenschaftlich intensiven Romanze schwanger wird. Der bis dato unentschieden und wankelmütig erscheinende Held lässt daraufhin unumwunden seine Freundin sitzen, um sich seiner beruflichen Zukunft zu widmen. Ohne Arbeit und finanzielle Mittel, jung, unerfahren und am Beginn eines neuen Lebensabschnittes sagt Luc, er sei noch nicht bereit für Vaterschaft und Ehe. Diese ebenso plötzliche wie harte Entschiedenheit, die vom Erzähler knapp als feige Flucht vor der Verantwortung gedeutet wird, wirft ein neues Licht auf den so unzuverlässigen, suchenden und sich selbst ungewissen Helden.

Einmal sagt Geneviève zu ihm: „Du liebst mich – im Moment.“ Dieser Satz mit Gedankenstrich trifft ziemlich genau Lucs vorläufiges Handeln, das noch keinem bestimmten oder gewissen Begriff von Liebe folgt und auf eine „ebenbürtige“ Gefährtin hofft. Auch nach seiner Rückkehr nach Paris, wo er sich auf ein ziemlich gewagtes Liebesexperiment mit der abenteuerlustigen Betsy (Souheila Yacoub) und ihrem Kumpel Paco (Martin Mesnier) einlässt, bleiben seine Beziehungen unstet und von melancholischer Einsamkeit grundiert. Fast scheint es, als sei sein Los, den Wert des Verlorenen nur immer erst und mit vergeblichem Bedauern im Nachhinein ermessen zu können.

Am 20.2.2023 erfolgt die Erstausstrahlung auf Arte, bis zum 21.3.2023 wird der Film in der Arte-Mediathek erhältlich sein.

Luanas Schwur

(AL/DE 2021, Regie: Bujar Alimani)

Unvollständige Befreiung
von Wolfgang Nierlin

Das Spiel, mit dem der Film beginnt und endet und das insofern die Zeiten überdauert, ist eigentlich ein Nullsummenspiel. Es dient der puren kindlichen Lust und Freude, ist reines Spiel. …

Das Spiel, mit dem der Film beginnt und endet und das insofern die Zeiten überdauert, ist eigentlich ein Nullsummenspiel. Es dient der puren kindlichen Lust und Freude, ist reines Spiel. Trotzdem gibt es Verlierer und Gewinner, wenn es darum geht, möglichst schnell eine große, bauchige Flasche mit Wasser zu füllen und dieses dann wieder in den Fluss zu schütten. Und weil in der Gewinner-Mannschaft ein Mädchen mitspielt, das angeblich nicht mitspielen darf, entzündet sich sofort ein Streit. Dieser eskaliert, als sich ein Junge namens Agim einmischt, um die hübsche Luana (Shkurte Sylejmani) zu verteidigen. Denn der Sohn aus einer Akademikerfamilie gilt in dem entlegenen Bergdorf im Norden Albaniens als Fremder, der nicht dazugehört. In dieser Eröffnungsszene, die 1958 spielt und in der die beiden jugendlichen Helden etwa 14 Jahre alt sind, finden sich also zwei Außenseiter, die sich fortan heimlich treffen. Zugleich etabliert Bujar Alimani in seinem epischen, mit folkloristischer Schönheit imprägnierten Film „Luanas Schwur“ damit ein konfliktreiches Spannungsfeld zwischen Tradition und kommunistischem Regime, zwischen religiösen Regeln und aufoktroyiertem Atheismus.

Eigentlich ist das Buch von Jack London, mit dem Agim seiner Freundin Luana Lesen lehrt und sie zugleich zum Träumen bringt, verboten. In der idyllischen Ruhe einer malerischen, weiten Gebirgslandschaft wachsen freundschaftlich und zärtlich die Gefühle der beiden füreinander. Doch ihre stille, manchmal etwas zu schwelgerisch inszenierte Vertrautheit erfährt ein jähes Ende, als die Macht der Tradition mit ihren ehernen Gesetzen ihr Recht unmissverständlich einfordert. Gegen ihre Gefühle wird Luana dem jungen Flamur, der aus einer befreundeten Familie stammt, versprochen. „Ein Versprechen gilt als Gesetz“, wird ihr beschieden. Und dieses Gesetz ist Teil des Kanun, eines mittelalterlichen Verhaltenskodex, der hier noch immer das Zusammenleben regelt. „Damit wir nicht wie Tiere sind“, sagt Luanas Vater und ergänzt: „Wir brauchen die Regeln, sie machen uns zu Menschen, egal wie grausam sie uns erscheinen mögen.“

Nach einem Zeitsprung ins Jahr 1968, in dem endlich die Hochzeit stattfinden soll, entspinnt sich aus dem klassischen Drama über eine unerlaubte Liebe schließlich eine spannende Rachegeschichte mit tragischer Note. Sehr deutlich und dadurch mitunter etwas zu zugespitzt setzt der albanische Regisseur ein patriarchales System in Szene, das Frauen in eine untergeordnete, dienende Rolle zwingt, während die Männer über deren Lebensschicksal entscheiden. Als nach einem tragischen Zwischenfall mit dem überheblichen und brutalen Heißsporn Flamur Luanas Vater getötet wird, beschließt die junge Frau (jetzt von Rina Krasniqi gespielt), eine sogenannte „Schwurjungfrau“ (Burrnesha) zu werden, fortan als Mann zu leben und als neues Familienoberhaupt das Erbe ihres Vaters anzutreten. Und das wiederum bedeutet nach den überlieferten archaischen Gesetzen zunächst und vor allem, Blutrache zu üben. Kein Weg führe daran vorbei. Und so entfaltet „Luanas Schwur“ zwischen schicksalhafter Determination und weiblicher Selbstermächtigung die Geschichte einer wehmütig grundierten Befreiung, die unter den Bedingungen der Gefangenschaft allerdings nur unvollständig sein kann.

Return to Seoul

(BE/DE/FR/QA 2022, Regie: Davy Chou)

Fremde Identitäten
von Wolfgang Nierlin

Eigentlich ist Freddie der maskulin klingende Kosename von Frédérique Benoît. Allerdings wurde die 25-jährige Französin einst als Yeon-hee in Südkorea geboren, bevor sie Mitte der 1990er Jahre zur Adoption freigegeben …

Eigentlich ist Freddie der maskulin klingende Kosename von Frédérique Benoît. Allerdings wurde die 25-jährige Französin einst als Yeon-hee in Südkorea geboren, bevor sie Mitte der 1990er Jahre zur Adoption freigegeben wurde. Jetzt steht Freddie (Park Ji-min) mit wunderlichem Blick in einem Seouler Gästehaus vor der höflichen, etwa gleichaltrigen Rezeptionistin Tena (Guka Han). Die beiden sprechen ganz selbstverständlich Französisch. Doch Freddies direkte, ungezwungene Art, die sich auf teils konfrontative Weise den ortsüblichen Gepflogenheiten und kulturellen Konventionen verweigert, stößt spätestens am Abend beim gemeinsamen Restaurantbesuch auf Irritationen und Unverständnis. Sie erklärt, was es heißt, „vom Blatt zu spielen“: „Viele Zeichen sehen wir, ohne sie zu kennen.“ Und definiert kurzerhand Situationen mit ihrem erlernten Zeichenvokabular um, indem sie im übertragenen Sinne spontan auf Neues reagiert. Kulturelle Differenz und sprachliche Verständigungsschwierigkeiten wiegen in Davy Chous Film „Return to Seoul“ umso stärker, je mehr sich die Protagonistin mit ihrer Herkunft und damit ihrer Identität beschäftigt.

Dabei will Freddie angeblich nur für zwei Wochen eher plan- und ziellos Ferien machen, ohne nach ihren biologischen Eltern zu forschen. Doch dann geht sie doch zum Adoptionszentrum Hammond, das vor allem nach dem Koreakrieg viele Kinder und Waisen ins Ausland vermittelte. Während Freddies leibliche Mutter zunächst einen Kontakt ablehnt, kommt es zu einer Begegnung mit dem Vater, den sie zusammen mit Tena an einem Wochenende in der Küstenstadt Gunsan besucht. Der Weg dorthin führt über einen langen Fahrdamm, der sich in der Weite zu verlieren scheint. „Folgsam“ und „freundlich“ bedeute ihr koreanischer Name, hatte bereits die Vermittlerin auf dem Amt übersetzt. Und an andere Stelle werden Freddies Gesichtszüge als „rein koreanisch“ beschrieben. Die in Frankreich sozialisierte junge Frau wehrt sich gegen solche Zuschreibungen und Integrationsversuche und blockt zugleich die emotionalen Avancen und „Übergriffe“ des Vaters ab, der sein Kind einst aus wirtschaftlicher Not zur Adoption freigab.

Wenn Freddie einmal unter der Dusche steht, wirkt das, als würde der Wasserstrahl alle Konflikte von ihr abwaschen. Tatsächlich fühlt sie sich allein. „I never needed anybody“, heißt es in einem Song, bevor Freddie wild und ganz für sich tanzt. „Du bist ein sehr trauriger Mensch“, sagt Tena zu ihr, die verloren und doch auch bei sich ist. Dann vergeht Zeit in Davy Chous melancholischem Film über eine schmerzliche Selbstsuche zwischen den Kulturen. Denn Freddie kehrt in den nächsten acht Jahren wiederholt nach Seoul zurück, taucht ein in die queere, freizügige, ja rauschhafte Künstlerszene und hat eine Affäre mit dem älteren französische Waffenhändler André (Louis-Do De Lencquesaing). Davy Chous Inszenierung ist immer nah bei seiner Heldin und ihrer inneren Zerrissenheit. Behutsam und geduldig begleitet der französische Regisseur kambodschanischer Herkunft den widersprüchlichen Prozess ihrer Annäherung an eine fremde Identität. Wenn Freddie am Ende ein Stück von J. S. Bach tastend „vom Blatt spielt“, verwandeln sich die unbekannten Zeichen der Notenschrift spontan in etwas Vertrautes.

Die Frau im Nebel

(KR 2022, Regie: Park Chan-wook)

Das Rätselspiel der Liebe
von Wolfgang Nierlin

Die abrupten ersten Schnitte und Szenenwechsel mit ihren überlappenden Dialogen deuten bereits darauf hin, dass Park Chan-wook in seinem neuen Film „Die Frau im Nebel“ die übliche raum-zeitliche Logik außer …

Die abrupten ersten Schnitte und Szenenwechsel mit ihren überlappenden Dialogen deuten bereits darauf hin, dass Park Chan-wook in seinem neuen Film „Die Frau im Nebel“ die übliche raum-zeitliche Logik außer Kraft setzt. Sein assoziativ verdichtetes, sehr schnelles und komplexes Erzählen, mit dem er den Ermittlungen des smarten Polizeikommissars Jang Hae-joon (Park Hae-il) folgt, vermischt wie in einem halbwachen Zustand permanent Realität, Imagination und Traum. Sprunghaft wie ein Comic etabliert der gefeierte südkoreanische Regisseur ein kunstvoll gestaltetes Vexierspiel aus Verdoppelungen, Spiegelungen und scheinbaren Nebensächlichkeiten, die jedoch Puzzleteile einer engen motivischen Verzahnung sind. Paradoxien, ein skurriler Humor, eine artifizielle Bildsprache und angeblich bedeutsame Zeichen erweisen sich zugleich als manipulatives postmodernes Spiel, mit dem Park den Inhalt einer ästhetischen Strategie unterordnet und den Zuschauer in Haft nimmt.

Die Suspendierung des raum-zeitlichen Kontinuums passt wiederum ganz gut zu einem Kommissar, der unter Schlaflosigkeit leidet und deshalb zum besessenen Observierer geworden ist. Außerdem führt er eine Wochenendbeziehung mit seiner Ehefrau Jung-an (Lee Jung-hyun), die als Wissenschaftlerin in Ipo lebt, während Hae-joon in Busan arbeitet. Dort begegnet er im Zuge von Ermittlungen der ebenso schönen wie geheimnisvollen Witwe Song Seo-rae (Tang Wei), die eben ihren Mann bei einem Unfall verloren hat. Oder war der Sturz des Bergsteigers ein Suizid, gar ein Mord? Der eifrige, von ungelösten Fällen umstellte Polizist ermittelt in alle Richtungen und kommt dabei sehr schnell der überraschend nüchternen Seo-rae näher. Diese ist einst aus China geflohen und arbeitet nun als sorgsame Krankenschwester in einem Altenpflegeheim. Hae-joon verliebt sich in die kühle Femme fatale und verliert dabei seine berufsmäßige Objektivität und Neutralität aus dem Blick. In der Folge verbessert sich allerdings zunehmend die Qualität seines Schlafes.

Obwohl der von gegensätzlichen Gefühlen gelenkte Polizist der mysteriösen Witwe den Mord nachweisen kann, schließt er den Fall als Tat eines Selbstmörders ab. „Er ist gestorben, wie er es sich gewünscht hat“, sagt Seo-rae. Ein Jahr später – die beiden sind mittlerweile getrennt – wird sich das Morden an einem anderen Ort und unter anderen Vorzeichen wiederholen. Park Chan-wook konstruiert in seinem melodramatischen Neo-Noir ein ebenso schillerndes wie vieldeutiges Spiel mit Zeichen. Solange ein Fall nicht gelöst ist, kommt Hae-joon nicht zur Ruhe. Seo-rae wiederum strebt und verlangt danach, für den Ermittler ein ungelöster Fall zu werden, um ihm in ihrer Liebe nahe zu sein. Sie tötet, weil sie liebt. Morde sind für sie ein Vehikel, um von Hae-joon „als Verdächtige“ behandelt zu werden. Parks elaboriertes filmisches Rätselspiel zeigt Liebesbesessene, die sich verfehlen müssen, weil ihre leidenschaftliche Obsession nur in Gegensätzen zueinander findet.

Der Geschmack der kleinen Dinge

(JA/FR 2022, Regie: Slony Sow)

Herzensgüte als Geschmacksverstärker
von Wolfgang Nierlin

Das Leben ist eine holprige Parallelmontage aus konfusen Korrespondenzen, Entsprechungen und Zufällen. Zumindest gilt das für Slony Sows kitschigen Selbstfindungsfilm „Der Geschmack der kleinen Dinge“ („Umami“), der zu viel auf …

Das Leben ist eine holprige Parallelmontage aus konfusen Korrespondenzen, Entsprechungen und Zufällen. Zumindest gilt das für Slony Sows kitschigen Selbstfindungsfilm „Der Geschmack der kleinen Dinge“ („Umami“), der zu viel auf einmal will und deshalb hohldreht. Bevor jedoch das, was der pseudopoetische Film an überbordenden Handlungselementen und angeblichen Lebensweisheiten mäßig lustig aufschichtet, sich in leerem Wohlgefallen auflöst, muss sich Starschauspieler Gérard Depardieu erst noch in der Rolle eines stark übergewichtigen Spitzenkochs vom tristen Frankreich in ein winterlich verschneites Japan wuchten. Denn dort, in der kleinen Ramen-Küche eines früheren Kontrahenten, wird er nicht nur endlich die geheimnisvolle, titelgebende Geschmacksnote „entziffern“, sondern auch das zu lange verdrängte Familien- und Lebensglück finden.

Denn Gabriel Carvin wird zu Beginn auf seinem herrschaftlichen Anwesen zwar medienwirksam der dritte Kristallstern für seine Kochkunst verliehen, doch den Geschmack an seinem Leben hat er längst verloren. Seine Frau Louise (Sandrine Bonnaire) betrügt ihn mit einem einflussreichen Restaurantkritiker und sein ältester Sohn scheint ein wenig würdiger oder geeigneter Nachfolger zu sein. Die Lebensmüdigkeit, die bei Carvin im Vollrausch zu einem Herzinfarkt führt, teilt er übrigens mit einer jungen Japanerin namens Mai (Sumire), deren nicht minder abstruse Geschichte im Wechsel erzählt wird. Nach diesem dramatischen gesundheitlichen Weckruf, der zusätzlich befeuert wird durch die esoterische Hypnose-Philosophie eines befreundeten Austernfischers (Pierre Richard) („Eine Perle vertreibt den Ärger.“), begibt sich der gepeinigte Koch überstürzt und orientierungslos auf die Reise nach Japan.

„Ich komme zurück, nachdem ich ein altes Hirngespinst vertrieben habe“, gibt sich der Berserker zuversichtlich, um dann stets mürrisch und gewohnt herrisch im weißen Bademantel durch Schnee und fremdes Terrain zu stampfen. Bevor jedoch die zwei Welten, die hier aufeinanderprallen, wie zu Beginn des Films von einem zunächst obskuren, merkwürdigerweise allwissenden Off-Erzähler versprochen wird, sich vereinen, gibt es noch einige mehr oder weniger skurrile Witzchen aus der Klamottenkiste kultureller und sprachlicher Clashs; wobei die deutsche Synchronisation für zusätzliche Irritationen sorgt. „Warum will man den Mond, wenn man die Sterne hat?“, wird ein französisches Chanson zitiert, bevor der unglückliche Held seinen Bademantel gegen einen Kimono tauscht und schließlich, „umami“ erschmeckend, die „Herzensgüte als Geschmacksverstärker“ entdeckt. Das dramaturgische Wirrwarr des Films schafft es zugleich, auch alle anderen Neben- und Parallelhandlungen einem glücklichen Ende zuzuführen.

Close

(BE/FR/NL 2022, Regie: Lukas Dhont)

Vertreibung aus dem Paradies
von Wolfgang Nierlin

Im Dunkeln eines geheimen Verstecks flüstern sich zwei Jungen gegenseitig Mut zu und versichern sich ihres Zusammenhalts vor den draußen lauernden Angreifern. Dann wagen die beiden 13-Jährigen den Ausbruch und …

Im Dunkeln eines geheimen Verstecks flüstern sich zwei Jungen gegenseitig Mut zu und versichern sich ihres Zusammenhalts vor den draußen lauernden Angreifern. Dann wagen die beiden 13-Jährigen den Ausbruch und rennen in einem wilden, energiegeladenen Lauf ihren Verfolgern einfach davon. Es geht durch einen lichten Wald, über sonnendurchflutete Wiesen und durch die leuchtenden Farben eines Blumenfeldes. Die unbändige Kraft der jungen Körper verbindet sich mit der Freiheit des Sommers und einer ländlichen Idylle. Léo (Eden Dambrine) und Rémi (Gustav de Waele) „sind beste Freunde im Sinne von Brüdern“, wie einer der beiden einmal sagt. In ihren noch kindlichen Spielen imaginieren sie gefährliche Abenteuer, die sie zu unzertrennlichen Verbündeten zusammenschweißen. Sie teilen ihre Phantasien und Träume und sind ganz selbstverständlich Teil der jeweils anderen Familie, wenn sie beispielsweise zusammen übernachten.

Die Vertreibung aus dem Paradies beginnt nach den Sommerferien, als Léo und Rémi aufs Gymnasium wechseln und ihre bis dato unschuldige und zärtliche Freundschaft von Mitschülern angefeindet wird. Plötzlich werden die beiden hübschen Jungs als „Paar“ gesehen und mit homophoben Sprüchen gehänselt. Um diesen Verdacht zu entkräften und nicht ausgegrenzt zu werden, geht Léo auf Distanz zu seinem Freund und schließt sich einer Eishockeymannschaft an. Deren harter, männlicher Drill steht in einem starken Kontrast zu den unschuldigen Kinderspielen. Ein heftiger, wortloser Ringkampf zwischen Léo und Rémi besiegelt schließlich das schmerzliche Ende ihrer Freundschaft. Als der seelisch verletzte Rémi kurz darauf bei einem Klassenausflug ans Meer fehlt, nimmt die Geschichte eine tragische Wendung. Der Verlust seines Freundes löst wiederum bei Léo Schuldgefühle aus, die er durch intensives Eishockeytraining verdrängt.

Schon in seinem gefeierten Spielfilmdebüt „Girl“ hat der belgische Regisseur Lukas Dhont die Arbeit der Körper und ihren energetischen Ausdruck zwischen Abwehr, Schutz und Zerbrechlichkeit in den Mittelpunkt gestellt. Auch in seinem neuen, preisgekrönten Film „Close“ dominiert die Sprache der Körper gegenüber einer allgemeinen Sprachlosigkeit. Ihre Bewegungen verdichten Energie und wandeln sie auch in einem übertragenen Sinn um. Eine symbolische Erzählebene korrespondiert deshalb permanent mit einer Geschichte, die einen psychischen Zustand beschreibt und ihren Blick auf das traumatische Innenleben der Figuren richtet. Die Konzentration auf Gesichter und einen minimalen Plot wird dabei in eine Beziehung gesetzt zum Zyklus der Jahreszeiten und des Lebens. Blumen werden auf der Farm von Léos Eltern gepflückt und neu gepflanzt. Ein Prozess der Heilung setzt ein, als sich Léo beim Spiel den Arm bricht. Und wenn Rémis Mutter auf einer Entbindungsstation arbeitet, symbolisiert das auch die Hoffnung auf Vergebung und einen möglichen Neubeginn.

Apples

(GR/PL/SI 2020, Regie: Christos Nikous)

Zwischen Vergessen und Erinnern
von Wolfgang Nierlin

Ein leichtes Klopfen oder Hämmern rhythmisiert eine kurze Abfolge aufblitzender Bilder. Ein Mann (Aris Servetalis) schlägt mit seinem Kopf gegen die Wand. Dann sitzt er verloren auf dem Sofa, blickt …

Ein leichtes Klopfen oder Hämmern rhythmisiert eine kurze Abfolge aufblitzender Bilder. Ein Mann (Aris Servetalis) schlägt mit seinem Kopf gegen die Wand. Dann sitzt er verloren auf dem Sofa, blickt in einen großen Spiegel und starrt zugleich ins Leere seiner in dämmriges Licht getauchten Wohnung. In den Radio-Nachrichten ist von einer mysteriösen Krankheit die Rede, die den Betroffenen die Erinnerung und damit die Identität raubt. Draußen blockiert ein Auto die Straße. Sein Fahrer sitzt auf dem Gehsteig und kann sich nicht daran erinnern, der Verursacher des Staus zu sein. Derweil befindet sich der Namenlose des Anfangs auf dem Weg zum Blumenhändler. Später, es ist bereits dunkel, sitzt er in einem Bus, schläft bis zur Endstation, ohne sein Ziel zu kennen oder sich daran zu erinnern. Die orangefarbenen Lichter der Straßenlaternen bilden eine Abfolge illuminierender Reflexe. Dann befindet sich der große, bärtige und stille Mann in einem Krankenwagen, der in einen Tunnel fährt. Weil er keine Papiere bei sich trägt, gilt er fortan als ein Patient ohne Identität, nach dem niemand sucht.

„Viele leiden an Amnesie“, sagt die betreuende Ärztin, die den Namenlosen mit der Nummer 14842 registriert und sein Portrait auf einem Polaroidfoto dokumentiert. Nach einer Reihe von Gedächtnistests, die merkwürdig skurril und altmodisch anmuten, diagnostizieren die Ärzte einen Erinnerungsverlust, der offensichtlich selektiv ist. Denn der Namenlose, der gerne Äpfel isst, kann sich zwar nicht an seine Herkunft erinnern, seine Sprache, sein Denken, bestimmte Gewohnheiten und Fähigkeiten scheinen aber nicht beeinträchtigt. Trotzdem empfiehlt ihm die Ärztin eine spezielle Therapie, die ihm zu einer neuen Identität verhelfen soll. Denn: „Ein Alltag ohne Identität ist schwierig.“ „Erlerne dein Leben“, lautet der Titel des Programms, das zwar nicht die Erinnerung zurückbringe, aber Erfahrungen für einen Neuanfang im Leben ermögliche. Ausgestattet mit einer Wohnung, mit Kleidern und Geld, folgt der Namenlose fortan den Instruktionen einer Audiokassette. Die alltäglichen Aufgaben und Mutproben, die ihm gestellt werden und die auch auf seine soziale Reintegration zielen, soll er mit Polaroidfotos festhalten.

Christos Nikou inszeniert in seinem eigenwilligen Spielfilmdebüt „Apples“ („Mia“) eine analoge Welt. In unterkühlten, fahlen Bildern im Format 4:3 und mit einem reduzierten Setting entwirft er in Korrespondenz zu den Aufgaben seines Protagonisten eine episodische Struktur, die sehr konzentriert und mit lakonischem Erzählduktus eine Reihe ebenso absurder wie komischer Szenen vorführt. Diese reichen vom Fahrrad- und Autofahren über eine Verkleidungsparty bis zum Nachtclubbesuch. Als Schüler der Greek Weird Wave, die sich um den Regisseur Giorgos Lanthimos gebildet hat, folgt Nikou mit seiner teils surreal anmutenden Versuchsanordnung weder einer konventionellen Dramaturgie noch der Logik des Erzählkinos. Mit seiner melancholischen, als Allegorie auf unsere Zeit (und letztlich auch auf die digitalen Speichermedien) verstandenen Reflexion über die Funktionsweise des Gedächtnisses untersucht der griechische Filmemacher, inwieweit Gefühle unser Erinnerungsvermögen beeinflussen.

Ist der namenlose Held seines bemerkenswerten Films vielleicht auf der Flucht vor sich selbst und seinen negativen Erinnerungen an sein früheres Leben? Verdrängt er durch die Flucht ins Vergessen einen Schmerz? Und braucht es die Wiedererinnerung, um weiterleben zu können? Wiederholt er etwa sein altes Leben, um zu einem Neuanfang zu gelangen? Wenn der Protagonist am Ende des Films in seine alte Wohnung zurückfindet, ist er den Antworten auf diese Fragen zumindest ein Stück weit näher gekommen.

Midwives

(CA/DE/MM 2022, Regie: Snow Hnin Ei Hlaing)

Schwer umkämpftes Gebiet
von Jürgen Kiontke

Zwei Hebammen stehen im Mittelpunkt von Snow Hnin Ei Hlaings Dokumentarfilm „Midwives“. Ihr Einsatzort: das Siedlungsgebiet der verfolgten Rohingya-Minderheit in Myanmar. Sechs Jahre hat Regisseurin Snow Hnin Ei Hlaings, die …

Zwei Hebammen stehen im Mittelpunkt von Snow Hnin Ei Hlaings Dokumentarfilm „Midwives“. Ihr Einsatzort: das Siedlungsgebiet der verfolgten Rohingya-Minderheit in Myanmar. Sechs Jahre hat Regisseurin Snow Hnin Ei Hlaings, die unter anderem in Baden-Württemberg studiert hat, an ihrem Film „Midwives“ (Geburtshelferinnen) gearbeitet. Da ist Hla, Buddhistin und Inhaberin einer provisorischen Geburtsklinik. Und Nyo Nyo, Muslima und gelernte Hebamme, sie arbeitet bei Hla als Assistentin und Übersetzerin. Die Religionsangabe spielt deswegen eine Rolle, weil die beiden Frauen Kindern in einer umkämpften Region auf die Welt helfen. Sie leben im Rakhaing-Staat in Myanmar, dem Siedlungsgebiet der Rohingya-Minderheit. Die gehört derzeit zu denen am meisten verfolgten Volksgruppen auf der Welt. Weil Rohingya-Kämpfer 2016 mehrere Anschläge auf Polizeistationen verübten, rückte die Armee an, um die Menschen aus Myanmar gewaltsam zu vertreiben. Hunderttausende flüchteten ins benachbarte Bangladesch und leben dort nun in provisorischen Lagern.

Die Verbliebenen haben mit der Feindseligkeit der ansässigen buddhistischen Bevölkerung zu kämpfen. Hla und Nyo Nyo sind da mittendrin in den Ereignissen, die Konflikte spiegeln sich täglich im Alltag. Und ihre Zusammenarbeit ist alles andere als harmonisch, was dieser Dokumentation durchaus eine rabiate Note verleiht. Besonders Hla überschüttet Patientinnen und Personal den ganzen Tag mit Verwünschungen und Flüchen. Aber sie ist die Einzige in der Gegend, die sich überhaupt auf Geburtshilfe versteht und eine entsprechende Praxis betreibt. Nyo Nyo kann sich denn auch gut eine eigene Filiale vorstellen; ein Vorhaben, das während der jahrelangen Dreharbeiten durchaus Form annimmt.

Filme aus Myanmar sind nicht gerade häufig, „Midwives“ nimmt sich auch die Zeit, Land und Leute zu filmen. Von bedrohlichen Demonstrationen bis hin zu unfassbaren Naturaufnahmen ist hier einiges dabei, und wie im Vorbeigehen fängt die Kamera auch Aktionen des Militärs Myanmars ein – sicher kein ungefährliches Unterfangen. Ein absolut sehenswerter Film!

Diese Kritik erschien zuerst am 25.01.2023 auf: links-bewegt.de

Daniel Richter

(D 2022, Regie: Pepe Danquart)

Zwischen Kunst und Kommerz
von Wolfgang Nierlin

„Warum machen wir diesen Film und warum jetzt?“, fragt Pepe Danquart gleich zu Beginn aus dem Off den Künstler Daniel Richter, als hätte dieser selbst das filmische Portrait über ihn …

„Warum machen wir diesen Film und warum jetzt?“, fragt Pepe Danquart gleich zu Beginn aus dem Off den Künstler Daniel Richter, als hätte dieser selbst das filmische Portrait über ihn in Auftrag gegeben. Die Antwort des eloquenten Malers fällt etwas sprunghaft und ungeordnet aus. Jenseits eines planen Künstlerportraits solle der Film sicht- und überprüfbar machen, was eine bestimmte Form von Kunst auf verschiedenen Ebenen leiste, und zwar sowohl in Bezug auf ihre Herstellung als auch im Hinblick auf ihre Vermarktung. Warum sich das Medium Film für dieses bilanzierende Dokumentieren besonders eignet, bleibt etwas unklar, denn Richter selbst weist auf die Differenz zwischen seinen Bildern und ihrer filmischen Abbildung hin. Allerdings scheint ihn auch jenes mediale Bild zu interessieren, das als Selbstinszenierung Auskunft darüber gibt, wie er selber „funktioniere“.

Der Filmemacher Pepe Danquart nimmt den international erfolgreichen Maler Daniel Richter diesbezüglich jedenfalls beim Wort und zeigt ihn vor allem und ausführlich bei der Arbeit in seinem Berliner Atelier. Auf großen Leinwänden entwickelt der Künstler mit dem Spachtel Farbflächen, die er mit der Hand verwischt und dann mit geschwungenen Linien konturiert. Die Formen, die dabei entstehen machen grotesk verzerrte menschliche Körper erahnbar. Figuratives und Abstraktes, das zu Beginn seiner Karriere Richters überbordend detailreichen Bilder dominierte, verbinden sich so zu Geschichten, die sich auf politische Weise beispielsweise mit Krieg und Unterdrückung, Flucht und Migration beschäftigen. Aus wenigen biographischen Angaben erfahren wir, dass der 1962 geborene Richter vor seinem Kunststudium in der Hamburger Hausbesetzerszene aktiv war und – inspiriert von der Populärkultur und den Massenmedien – zunächst Konzertplakate und Plattencover für Punkbands entwarf.

Von hier her rührt auch der Widerspruch zwischen Kunst und Kommerz, dem Pepe Danquarts in Cinemascope gedrehter Film „Daniel Richter“ in zweiter Hinsicht auf der Spur ist: „Wie politisch kann ein Künstler in einem Umfeld des kapitalistischen Luxuswarenhandels sein?“ Er begleitet den Maler zu Empfängen, zu Vernissagen in New York und Paris und zeigt Auktionen, bei denen dessen Bilder zu hohen Preisen versteigert werden. Zwar bleibt Richter als Teil des Systems in diesen Widersprüchen gefangen, nutzt sie aber produktiv, indem er seine Bilder „politisiert“ und auch als Persönlichkeit erfrischend unkonventionell, ungezwungen und reflektiert bleibt. In etlichen Szenen geben befreundete Künstler, zum Beispiel Jonathan Meese und Tal R, sowie Sammler und Galeristen auf teils witzige Weise Auskunft über Daniel Richter und sein stilistisch vielgestaltiges Werk. Daneben ist es aber vor allem der Portraitierte selbst, der in dem motivisch eher locker und ausschnitthaft gegliederten Film mal launisch, mal konzentriert über seine Kunst spricht und seine Arbeitsweise erklärt.

Meinen Hass bekommt ihr nicht

(FR/DE/BE 2022, Regie: Kilian Riedhof)

Kokon aus Schmerz und Trauer
von Wolfgang Nierlin

Paris, 13. November 2015. Für die Familie Leiris beginnt ein Tag wie jeder andere. Während warme Sonnenstrahlen ins eheliche Schlafzimmer fallen und Antoine (Pierre Deladonchamps) gerade im Begriff ist, zärtlich …

Paris, 13. November 2015. Für die Familie Leiris beginnt ein Tag wie jeder andere. Während warme Sonnenstrahlen ins eheliche Schlafzimmer fallen und Antoine (Pierre Deladonchamps) gerade im Begriff ist, zärtlich seine Frau Hélène (Camélia Jordana) zu liebkosen, springt der kleine, etwa eineinhalb Jahre alte Melvil (Zoé Iorio) lärmend aufs Bett. Die junge Familie ist sicht- und hörbar gestresst. Doch das ist die Normalität eines mit kleinen Konflikten und liebevollen Neckereien angereicherten Alltags, in dem Antoine, der sich als Autor gerade an einem Buch versucht, die Rolle des Hausmanns übernommen hat und Hélène als Visagistin arbeitet. Kilian Riedhof blickt in seinem Film „Meinen Hass bekommt ihr nicht“, einer Adaption von Antoine Leiris‘ gleichnamigem, auf Tatsachen basierendem Erfahrungsbericht, mit Humor und Wohlwollen auf die Probleme heutiger Großstadteltern zwischen Rollentausch, Kita-Betrieb und Bio-Ernährung. Wenn Hélène am Abend vergnügt mit ihrem Freund Bruno (Yannick Choirat) ins Konzert der Eagles of Death Metal in den Musikclub Bataclan geht, ist das auch ein Statement für einen freien, unabhängigen Lebensstil.

Das mörderische Attentat, das dort stattfindet und dem Hélène neben vielen anderen zum Opfer fällt, ist gerade auf die Zerstörung dieser Werte aus. Der Film vermittelt die schrecklichen Geschehnisse indirekt über Antoine, der erst am späten Abend vom islamistischen Terror erfährt, der die französische Hauptstadt erschüttert. Besorgte Kurznachrichten von Freunden, Blaulicht und Polizeisirenen sowie erste Fernsehnachrichten erfüllen Antoine zunehmend mit Angst und Sorge um seine Frau. In Panik und mit unerträglicher Ungewissheit macht er sich in der Nacht auf die Suche nach ihr. Eine erfolglose Odyssee durch Krankenhäuser und das Chaos der Stadt beginnt. Doch erst zwei Tage später, während sich eine unheimliche Stille über die Straßen legt, erfährt er von ihrem Tod. Bruno überlebt verletzt und traumatisiert. Präsident François Hollande spricht im TV in einer ersten Reaktion von einer „Kriegserklärung“ der Terroristen.

Im Folgenden konzentriert sich Kilian Riedhof fast ausschließlich auf das innere Erleben seines Protagonisten, auf seine Anfälle von Verzweiflung und tiefer Trauer über den schmerzlichen Verlust sowie auf seine kreisenden Gedanken, die kaum einen Fortschritt zulassen. In seinen psychischen Ausnahmezustand brechen immer wieder Erinnerungen und Visionen an seine Frau ein. Die Inszenierung findet dafür Bilder einer tranceartigen Zwischenwelt und eines labilen Bewusstseins. Naheinstellungen, räumliche Begrenztheit und schwebende Zeitlupen akzentuieren diese Intimität.

Zwischen unterdrückter Wut und Panikattacken schreibt Antoine jenen titelgebenden Facebook-Eintrag, der weltweit geteilt wird und schließlich auf der Titelseite von Le Monde landet. Der seelisch Versehrte verbietet sich Hass und Rachegedanken, um die Logik des Terrors zu durchbrechen und um zu einem irgendwie „normalen Leben“ zurückzufinden. Halt und Zuversicht geben ihm seine Familie, Freunde und die Bedürftigkeit seines kleinen Sohnes. Doch trotz Phasen der Besänftigung und des Trostes bleibt am Ende – versinnbildlicht im Blick auf den in einer Hängematte liegenden Antoine – ein Schwanken, ein Warten ohne festen Grund, ein Hoffen auf etwas Neues.

Eine Revolution – Aufstand der Gelbwesten

(FR 2022, Regie: Emmanuel Gras)

Kurz aber heftig
von Jürgen Kiontke

Im Oktober 2018 erschüttern die „Gelbwesten“ Frankreich. Die Regierung von Präsident Emmanuel Macron hat höhere Spritpreise in der Pipeline. Aus dem gleichen Rohr wird mit Steuererhöhungen gefeuert. Obendrein soll es …

Im Oktober 2018 erschüttern die „Gelbwesten“ Frankreich. Die Regierung von Präsident Emmanuel Macron hat höhere Spritpreise in der Pipeline. Aus dem gleichen Rohr wird mit Steuererhöhungen gefeuert. Obendrein soll es ein Tempolimit auf der Landstraße geben. Dort fährt, wer wenig Geld hat und doch irgendwohin muss. Französische Autobahnen sind mautpflichtig. Vor allem Tempolimit und Sprit lassen die Volksseele heiß laufen. Eine Protestwelle überzieht das ganze Land, auf der Straße die prekäre untere französische Mittelschicht. Die weiß nicht, wie sie über die Runden kommen soll.

Die Aktivisten postieren sich an den Straßen in den Kreisverkehrsrondellen, hier rollen die Wagen mit den Berufstätigen langsamer, hier werden sie angesprochen. Ihre leuchtenden Sicherheitswesten geben der Protestbewegung ihren Namen: „Mouvement des Gilets jaunes“, die Gelbwesten. Gleichzeitig läuft eine Online-Petition. Gefordert werden 40 Einzelposten, von Mindestlohn und Renten bis zur Wiedereinführung der gerade abgeschafften Vermögenssteuer ist alles dabei. Mobilisiert – und das sehr schlagkräftig – wird über die sozialen Medien.

Es ist eine kurze, harte Zeit des Protests, und Regisseur Emmanuel Gras war mittendrin dabei. In Chartres, einem Vorort von Paris, filmt er täglich Agnès, Benoît, Nathalie und Allan. Sie sind wütend, sie kommen von unten, sind Pflegerinnen und ehemalige Obdachlose. Sie berichten von Armut, Schikane auf dem Arbeitsamt, Alkoholismus. Gras‘ Film „Eine Revolution – Der Aufstand der Gelbwesten“ berichtet detailgenau über Protestmethoden, Ziele und die nicht zu knappen inneren Widersprüche der Bewegung. An keiner Stelle gibt er Wertungen ab und bietet genau deshalb eine solide Diskussionsgrundlage über Für und Wider der Proteste.

Denn die Gelbwesten nehmen eine gefährliche Entwicklung. Sie sind keine einheitliche, in Politik geübte NGO, sondern mehr oder weniger durch die Ereignisse zusammengewürfelte Menschen, die es nicht mehr hören können, dass, kaum dass der neue Präsident in Amt und Würden ist, die Rente gekürzt werden soll. Klimaschutz? Bezahlt die Unterschicht.

Mit wenigen Zugeständnissen, knallharter Polizeiarbeit, mit Tränengas und großer Hilfe des rechtsextremen Rassemblement National, der die Proteste vereinnahmt, werden die Gelbwesten ganz schnell zerlegt. Zu 44 Prozent sollen sie für die Rechtsextremen bei den Wahlen zum EU-Parlament 2019 gestimmt haben, das Bild des von Demonstranten und Einsatzkräften zerhauenen Prachtboulevards, des Champs Élysées, tat sein Übriges. Eine linke Alternative schien nur kurz auf, auch grenzübergreifend. Der Vorstand der Partei Die Linke in Deutschland solidarisierte sich zu Beginn noch mit den Protesten – das Anliegen sei berechtigt. Doch der damalige Linke-Vorsitzende Bernd Riexinger hatte sich bereits zuvor ob des rechten Potenzials skeptisch geäußert.

Und heute? Spricht man allenfalls in Anekdoten von den Gelbwesten. Regisseur Gras hat sie nicht vergessen und ruft sie ins Gedächtnis. Er porträtiert in seinem Film gekonnt und in bester Dokumentarfilm-Manier eine ganze Protestbewegung in 100 Minuten. Chapeau!

Diese Kritik erschien zuerst am 12.01.2023 auf: links-bewegt.de

Unruh

(CH 2022, Regie: Cyril Schäublin)

Aufstand gegen die Fiktionen der Zeit
von Wolfgang Nierlin

Die erzählerische, filmsyntaktische und bildkompositorische Nebenordnung bestimmt diesen ästhetisch eigenwilligen Film, der gegen alle möglichen Hierarchien und Eindeutigkeiten arbeitet beziehungsweise gemacht ist. Was in den gestaffelten Bildern von Cyril Schäublins …

Die erzählerische, filmsyntaktische und bildkompositorische Nebenordnung bestimmt diesen ästhetisch eigenwilligen Film, der gegen alle möglichen Hierarchien und Eindeutigkeiten arbeitet beziehungsweise gemacht ist. Was in den gestaffelten Bildern von Cyril Schäublins vielgelobtem Film „Unruh“ geschieht, negiert alles Dramatische zugunsten von Pluralität, Vielstimmigkeit und Mehrsprachigkeit. Was in ihnen an Figuren, Dingen und Begebenheiten arrangiert ist, flieht alles Zentrale. Das kann irritieren und die Identifikation erschweren. Denn währen der Raum dieser statischen Tableaux vivants die Bilder dominiert, rücken die Handelnden an ihre Ränder, von wo aus die Dialoge wie ein konstantes, fast beiläufiges Gemurmel in den Vordergrund drängen. Die Ordnung der Bilder und Töne folgt hier also einer eigenen Logik und erzeugt dadurch eine Wirklichkeit, die einen Kontrapunkt setzt zur vorgeblichen Realität des historischen Stoffes. Nur die Details der Uhrmacherarbeit, die oft in Großaufnahmen gezeigt wird, scheint in ihrer dokumentarischen Qualität dieses Konzept zu kontrastieren.

Angesiedelt im Jahr 1877 in einem Tal des Schweizer Jura, wo die Uhrmacher-Manufakturen aufblühen, beleuchtet Cyril Schäublin in Streiflichtern und nur scheinbar fast absichtslos das damit einhergehende Erstarken der anarchistischen Bewegung. Der organisierte und komponierte Anarchismus der parataktischen filmischen Form hat also eine inhaltliche Entsprechung. Der russische Geograph Pjotr Kropotkin (Alexei Evstratov) trifft in Saint-Imier ein, um eine „anarchistische Karte“ zu erstellen und wird dabei vom antiautoritären Geist der ausgebeuteten, überwiegend weiblichen Arbeiterschaft inspiriert. Dabei lernt er als eher stiller Beobachter auch die junge Anarchistin Josephine Gräbli (Clara Gostynski) kennen, die als sogenannte „Regleuse“ bei ihrer feinmechanischen Arbeit für die titelgebende Unruh, das Herzstück der Uhr und damit für ihr Schwingsystem, verantwortlich ist. Woraus sich wiederum eine schöne Doppeldeutigkeit und Korrespondenz zu den konspirativen Umtrieben der anarchistischen Bewegung ergibt.

Nach seinem Debüt „Dene wos guet geit“ (2017) interessiert sich der Schweizer Regisseur in seinem zweiten Langfilm allerdings nicht für zwischenmenschliche Beziehungen, ihre daraus resultierenden möglichen Konflikte oder dramatische Handlungsverläufe, sondern vielmehr für die kapitalistischen Mythen und Fiktionen, die den Zusammenhang von Arbeit und Zeit bis in die aktuelle Gegenwart bestimmen. So zeigt sein Film, wie Arbeitsleistung kontrolliert, gemessen, in der Folge Produktion gesteigert und jeweils in eine zahlenmäßige Relation zur Entlohnung gesetzt wird. Die dadurch ermöglichte Abtragung von Steuerschulden korreliert wiederum mit der Berechtigung, an Wahlen teilzunehmen. Geschäfte, die sich angeblich aus ihrer Beziehung zur Zeit herleiten (beispielsweise die aufkommende Photographie) und ein Patriotismus, der sich auf markante Daten der Geschichte (hier die Schlacht bei Murten) beruft, sind weitere Aspekte der Zeitmessung, ihrer Synchronisierung und politischen Instrumentalisierung. Dagegen opponieren mit stiller Beharrlichkeit, Solidarität und ganz unaufgeregter, nahezu unmerklicher Verweigerung die Anarchisten.

Holy Spider

(DK/DE/FR/SE 2022, Regie: Ali Abbasi)

Anerkannter Mord
von Jürgen Kiontke

Sie nehmen Drogen und sorgen für unzüchtiges Verhalten: Prostituierte haben in der öffentlichen Wahrnehmung des Iran einen denkbar schlechten Leumund. Männer suchen sie auf, klar, aber wollen nichts mit ihnen …

Sie nehmen Drogen und sorgen für unzüchtiges Verhalten: Prostituierte haben in der öffentlichen Wahrnehmung des Iran einen denkbar schlechten Leumund. Männer suchen sie auf, klar, aber wollen nichts mit ihnen zu tun haben. Bigotterie ist der Boden der Moral.

Als der „Spinnenmörder“ seine Mordserie unter Prostituierten beginnt, kann er sich zumindest des heimlichen Beifalls sicher sein. Er befreie nun einmal „die Straßen vom Dreck“, verrichte die Arbeit Gottes. Er mordet in seiner Wohnung, wenn seine Familie nicht da ist. Dabei tritt er plakativ dreist auf und ruft sogar bei Zeitungen an, um die Stelle durchzugeben, wo sich die Leiche befindet – die er vorher in aller Öffentlichkeit auf dem Motorrad durch die Stadt gefahren hat.

Die Polizei? Macht zunächst Dienst nach Vorschrift, bis eine Sondereinheit ermittelt. Nur die engagierte Journalistin Rahimi veröffentlicht kontinuierlich Artikel über ihre Recherchen zu dem Fall und kollidiert immer wieder mit einer der von Männern vorgegebenen Regeln. Nicht nur das: Der Täter wird alsbald sogar als Held gefeiert. Er sei ein Kämpfer des Dschihad gegen die Zügellosigkeit.

Die junge Journalistin nimmt das gesellschaftliche Klima wahr, aber es interessiert sie nicht. Konsequent geht sie ihrer Arbeit nach, auch noch, als der Polizeichef sie unter Druck setzt und belästigt. Sie recherchiert weiter, obwohl sie beleidigt, bekämpft und bedroht wird.

„Holy Spider“ setzt dem unerschrockenen Journalismus ein Denkmal. Ein Plädoyer, nicht lockerzulassen, egal, wie die Umstände sind. Der Plot hat einen realen Hintergrund. Regisseur Ali Abbasi nimmt in seinem Spielfilm Bezug auf eine reale Mordserie im Iran Anfang der 2000er-Jahre. Der Täter Saeed Hanaei ermordete in Maschhad innerhalb zweier Jahre 16 Frauen mit ihren eigenen Kopftüchern; wie eine Spinne ihre Beute einwebe, befand die Presse.

Abbasi konzipiert den einfachen Handwerker als einen Täter, der sich berechtigt fühlt, im Sinne einer gesellschaftlichen Ordnung zu handeln, wie er sie wahrnimmt. Ein Vollstrecker mit moralischem Auftrag. Die Frauen hätten die Sittenlosigkeit in seine Nachbarschaft gebracht, seine Familie sei bedroht worden, sagt er vor Gericht.

© Alamode Film

Abbasi hat einen intelligenten und packenden Thriller aus dem Stoff gemacht. „Meine Absicht war es nicht, einen Serienmörderfilm zu drehen“, sagt der Regisseur. Er habe vielmehr einen Film über eine „Serienmörder-Gesellschaft“ machen wollen. „Holy Spider“ thematisiere den tief verwurzelter Hass auf Frauen, der nicht unbedingt religiös oder politisch motiviert sei, sondern einen kulturellen Ursprung habe. Insofern wirkt der Film wie ein direkter Kommentar zu den derzeitigen Ereignissen im Iran, den Demonstrationen und Polizeiaktionen, Protesten und Hinrichtungen, die nach dem Tod der jungen Frau Jina Mahsa Amini auf einer Polizeistation im September des letzten Jahres begannen. Die Behörden hatten sie festgenommen, weil sie ihr Kopftuch nicht ordnungsgemäß getragen haben soll. Nach der Festnahme fiel sie ins Koma und verstarb bald darauf in einer Klinik. Der Frauenhass zeige sich in der Geschichte des Saaed ungefiltert, sagt Abbasi über seinen Film, „in seiner reinsten Form“. Er wolle dies aus verschiedene Perspektiven zeigen, in einem Panorama der iranischen Gesellschaft.

Aber „Holy Spider“ handelt nicht nur spannungsreich davon, wie Rahimi den Mörder überführt, indem sie als Lockvogel agiert, er thematisiert auch auf sehr ungewöhnliche Art das Thema Todesstrafe. Saeed wird aufgrund eindeutiger Beweise schnell überführt; zudem prahlt er vor Gericht mit seinen Taten. Der Richter spricht – ganz entgegen dem ersten Eindruck – entschieden schnell das Todesurteil. Im Gefängnis aber sichert man ihm zu, der Prozess sei nur Komödie. Auf dem Weg zum Galgen werde man ihm die Flucht ermöglichen.

Erst als Saaed die Schlinge um den Hals spürt, ist ihm klar, dass dies sein Ende sein wird. Ist er Opfer seiner selbst? Er hat 16 Menschen auf dem Gewissen, welche Gefühle hat nun die Zuschauer*in? Findet sie die Todesstrafe gerecht? Hinterfragt sie ihre eigenen Einstellungen? Aus einem lange zurückliegenden Kriminalfall gelingt es Abassi, mit einem hervorragend spielenden Ensemble tiefergehende Fragen nach Recht und Gerechtigkeit aufzuwerfen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in: Amnesty Journal 01/23

Passagiere der Nacht

(FR 2022, Regie: Mikhaël Hers)

Alles weichgezeichnet
von Marit Hofmann

Ins Kino gehe sie vor allem, wenn es draußen kalt sei, sagt Talulah. Doch diesen guten Grund kann Regisseur und Drehbuchautor Mikhaël Hers nicht so stehenlassen. Dort, ergänzt die Achtzehnjährige, …

Ins Kino gehe sie vor allem, wenn es draußen kalt sei, sagt Talulah. Doch diesen guten Grund kann Regisseur und Drehbuchautor Mikhaël Hers nicht so stehenlassen. Dort, ergänzt die Achtzehnjährige, könne man sich so gut selbst verlieren, das mache „etwas mit einem“. Das wohnungslose Junkiemädchen ist angefixt von der in „Passagiere der Nacht“ viel beschworenen Magie des Kinos – insbesondere von Eric Rohmers „Vollmondnächten“, in die sie sich irrtümlich schleicht (eigentlich wollte sie „Gremlins“ sehen). So fasziniert ist Talulah von Rohmers Comédie d’amour, dass sie bald darauf die Nachricht vom frühen Tod der Hauptdarstellerin Pascale Ogier kalt erwischt.

Talulah, gespielt von Noée Abita, die Ogier auffällig ähnelt, ist eine der titelgebenden Passagiere der Nacht – jene ruhelosen Seelen, mit denen Emmanuelle „Die Stimme“ Béart als einfühlsame Moderatorin in ihrer nächtlichen Radiosendung ins Gespräch kommt. Unterstützt wird sie von der alleinerziehenden Elisabeth (die Ikone Charlotte Gainsbourg ungeschminkt als „eine von uns“), die, nach überstandener Krebserkrankung von ihrem Mann verlassen, hier den dringend benötigten Job findet. Die Sympathieträgerin verguckt sich (mütterlich) in Talulah und quartiert sie in ihrer Rohmerschen Kulissen entlehnten Pariser Hochhauswohnung ein. Woraufhin auch ihr Sohn, Dichter in spe, Gefühle für die mysteriöse Schöne, die immer wieder abtaucht, entwickelt.

Die Adoptivfamilie nimmt Talulah nicht nur arg symbolisch beim gemeinsamen Tanz zu Joe Dassins Chanson-Klassiker „Et si tu n’existait pas“ in ihrer Mitte auf, sie hilft ihr auch mal eben durch den Drogenentzug. Weniger vorzeigbare Seiten der Sucht und der Stadt (mehrmals muss der angestrahlte Eiffelturm herhalten) stören nur das romantische Genrebild. „Ich denke oft an die Momente, die wir gemeinsam erlebt haben, sie sind wie Geschenke“, schreibt Talulah in einem Abschiedsbrief. Das Kino, in dem sie nun jobbt, ist zu ihrer Rettung geworden.

In diese „éducation sentimentale in zwei Lebensabschnitten“ – Mutter und Sohn begeben sich auf die Suche nach Liebe und Berufung – hat Hers Archivaufnahmen aus dem Paris der Achtziger, die „dem restlichen Film Realität“ verleihen sollen, elegant eingewoben: zu Beginn die nicht lange anhaltende Aufbruchstimmung auf den Straßen, als der Sozialist François Mitterand 1981 Präsident wurde, später Alltagsszenen, etwa Passagiere in der Metro, einer davon Rohmers Nouvelle-Vague-Kollege Jacques Rivette.

Was für die Bilder gilt, die Hers durch Filter weicher gemacht hat, gilt ganz bewusst auch für die Geschichte. „Meine Filme sind nicht konfliktlastig“, räumt Nostalgiker Hers ein. „In diesem Film lieben sich meine Figuren, sie helfen sich gegenseitig, passen aufeinander auf. Ich mag dieses Wohlwollen und die Großzügigkeit, die der Stoff ist, aus dem Filmheld*innen gemacht sind.“ Da hat sein Vorbild Rohmer deutlich mehr Ambivalenz und analytische Tiefe zu bieten.

Sollte sich eine Obdachlose in die Nachmittagsvorstellung von »Passagiere der Nacht« verirren, kann man nur hoffen, dass das Kino gut geheizt ist.

Diese Kritik erschien zuerst am 04.01.2023 in: ND

Annie Ernaux – Die Super-8 Jahre

(FR 2022, Regie: Annie Ernaux, David Ernaux-Briot)

Überschreibung der Bilder
von Marit Hofmann

Eine Super-8-Kamera war 1972 „das ultimative Wunschobjekt“ für Annie Ernaux und ihren Ehemann Philippe. Als „Neuankömmlinge in der Bourgeoisie“ – er bekam nach seinem Studium eine hohe Stelle in der …

Eine Super-8-Kamera war 1972 „das ultimative Wunschobjekt“ für Annie Ernaux und ihren Ehemann Philippe. Als „Neuankömmlinge in der Bourgeoisie“ – er bekam nach seinem Studium eine hohe Stelle in der Verwaltung der ostfranzösischen Stadt Annecy, sie unterrichtete an der Oberschule – war es ihnen möglich, sich diesen Wunsch zu erfüllen. Die Bilder, die in den kommenden neun Jahren bis zur Trennung des Paares entstanden, hat hauptsächlich der Ehemann gefilmt. Annie Ernaux überließ ihm, wie sie offenbart, „ohne Widerstand die Rolle“ des Filmenden, „aus Angst, etwas an dem damals sehr teuren Equipment kaputtzumachen“. Wenn sie „die Kamera nahm, dann nur, um ihn zu filmen. Er posiert furchtbar!“

Aus heutiger Sicht mag erstaunen, dass die feministische Literatin, die gerade den Nobelpreis gewonnen hat, damals in einer Beziehung mit einer „sehr geschlechtsspezifischen Aufteilung“ lebte, obwohl sich beide als Linke verstanden. Doch gerade diesen Widerspruch – ihre private Erfahrung, die viel über das kollektive Rollenverständnis und die politische Beschränktheit der Zeit aussagt – arbeitet sie in ihrer Literatur auf.

Die ersten Aufnahmen, die der Familienvater macht, zeigen Frau und Kinder beim Heimkommen aus Schule und Supermarkt. Sie reagieren ratlos, verharren und lachen verlegen in die Kamera. Annie Ernaux beschreibt die Szene als ein von ihrem Mann konzipiertes „Happening“, das mit der Kamera in ihr Familienleben kam, freudvoll, aber auch von einer Art Gewalt geprägt.

Nach der Trennung hat Philippe Ernaux die Kamera behalten und seiner Exfrau die Filmrollen überlassen. Sohn David Ernaux-Briot wollte die Aufnahmen nun ursprünglich als private Erinnerung für seine Kinder mit Kommentaren der Beteiligten unterlegen, bis seine Mutter und er merkten, dass sie es hier nicht nur mit einem Familienarchiv zu tun hatten, sondern auch mit einem „Zeugnis für die Zeit, den Lebensstil und die Bestrebungen einer Gesellschaftsschicht im Jahrzehnt nach 1968“ (Annie Ernaux). 

© Film Kino Text

Erst durch den gewohnt klar ausformulierten Voice-over-Kommentar der Schriftstellerin bekommen die Bilder der gut einstündigen, vom Sohn geschnittenen Super-8-Collage allerdings etwas Fesselndes, ja, der anspruchsvolle Text absorbiert bisweilen die Aufmerksamkeit, zumal in der untertitelten Fassung, in der der deutsche Verleih das französische Original dankenswerterweise ins Kino bringt. Dadurch, dass ihr Kommentar nicht beschreibend hinter die Aufnahmen zurücktritt, sondern sich ihnen gegenüber behauptet, überschreibt Annie Ernaux die Bilder ihres einem Krebsleiden erlegenen Ex-Mannes im wahrsten Sinne des Wortes mit ihrer Perspektive, entlarvt den männlichen Blick und kleinfamiliäre Zwänge und erobert sich so die Regie zurück.

Ernaux, zu deren Verständnis von Linkssein leider auch gehört, Aufrufe der antisemitischen Israel-Boykott-Bewegung BDS zu unterschreiben, verband mit ihrem Mann der Drang, statt „wie Idioten am Strand“ zu liegen, politische Reisen zu unternehmen – nach Albanien oder nach Chile zu Salvador Allende. Die Kamera bekommt dann, jenseits des Festhaltens von Familienfeierstereotypen und Fortschritten der Kinder, eine historische Reportagefunktion und erzählt von den Utopien, von denen ihre Besitzer*innen träumten.

Annie Ernaux’ stets kitteltragende Mutter, die zeitweise bei der Familie wohnte, „repräsentierte die tägliche Präsenz der Welt meiner Herkunft aus der Arbeiterklasse in dem intellektuellen, bürgerlichen Zuhause, das ich mit meinem Mann geschaffen hatte“.

Die Entstehungszeit der Bilder ist noch aus anderen Gründen für Ernaux wichtig: Es war ihr Einstieg ins Schreiben, das sie damals heimlich neben den beruflichen und familiären Pflichten verfolgte und das die Kamera kaum einfängt. Mit ihren ersten Veröffentlichungen ging der „unvermeidliche Prozess des Endes meiner Ehe“ einher. In den letzten Aufnahmen sind keine Menschen mehr zu sehen, sondern Impressionen vom Garten.

Was für Ernaux’ Literatur gilt, gilt auch für diesen Film. Die „Ethnologin ihrer selbst“ stellt ihr individuelles Erleben in einen kollektiven Zusammenhang und macht es fruchtbar für eine universelle Gesellschaftskritik. Dass die Schriftstellerin dem alten Medium etwas Neues abzugewinnen weiß, erklärt sie ganz kokett so: „Der Vorteil für mich ist, dass es stille Bilder sind, in denen mir niemand widerspricht.“

Diese Kritik erschien zuerst am 28.12.2022 auf: ND

Verlorene Illusionen

(FR 2021, Regie: Xavier Giannoli)

Ausverkauf der Ideale
von Wolfgang Nierlin

Inmitten einer weiten, von der Sonne beschienenen Landschaft liegt ein junger Dichter im Gras und huldigt, mit Notizbuch und Tinte ausgestattet, dem Ideal der Kunst. Der 20-jährige Lucien Chardon (Benjamin …

Inmitten einer weiten, von der Sonne beschienenen Landschaft liegt ein junger Dichter im Gras und huldigt, mit Notizbuch und Tinte ausgestattet, dem Ideal der Kunst. Der 20-jährige Lucien Chardon (Benjamin Voisin) ist mittellos und verwaist. Sein Auskommen hat er in der Druckerei seines Schwagers. Und als Poet, der sich nach dem Namen seiner verstorbenen, aus verarmtem Landadel stammenden Mutter de Rubempré nennt, besingt er als schwärmerisch Liebender die Schönheit. Gerichtet sind seine Verse vor allem an seine Gönnerin und ältere Geliebte Louise de Bargeton (Cécile de France), eine Baronin mit Schloss, die von ihrem hauptsächlich der Jagd frönenden Mann gelangweilt ist. Als ihre Affäre ruchbar wird, fliehen die beiden Liebenden von der westfranzösischen Stadt Angoulême aus ins geschäftige Paris.

In der Provinz verkannt, ergeht es dem Dichter in der pulsierenden Metropole kaum besser. Nach einem kostspieligen Opernbesuch ist nicht nur sein Erspartes verbraucht, sondern auch sein zweifelhafter Ruf lädiert. In der Restaurationszeit der 1820er-Jahre herrscht zwar einerseits überall Aufbruch und gesellschaftliche Modernisierung; andererseits behauptet die alte aristokratische Ordnung weiterhin ihre angestammten Rechte. Die feine Pariser Gesellschaft erkennt mit ihren elaborierten Distinktionsmerkmalen sehr schnell den unerfahrenen Neuankömmling und sein windiges Gebaren und verweigert ihm die Aufnahme in den Zirkel aus oberflächlichem Maskenspiel und schönem Schein. Unter den darbenden Glückssuchern der progressiven Hauptstadt findet Lucien durch das Zusammentreffen mit dem zweifelhaften Journalisten und kiffenden Hallodri Étienne Lousteau (Vincent Lacoste) aber bald ein neues Betätigungsfeld: Die auf Kontroverse und Krawall gebürstete Sensationspresse, die ihre Speerspitze auf die Royalisten gerichtet hat, wird zu seinem neuen Metier.

In eleganten Bildern, mit einem flüssigen Stil und in einer leicht ironisch-satirischen Überzeichnung porträtiert Xavier Giannoli in seiner filmischen Adaption des zweiten („Ein großer Mann aus der Provinz in Paris“ betitelten) Teils von Honoré de Balzacs dreiteiligem Roman „Verlorene Illusionen“ die gesellschaftlichen Gegensätze. Die manipulative „Armee der Presse“, die mit Sensationsjournalismus Meinung macht und damit eine „neue Aristokratie des Geldes“ befördert, steht dabei gegen das Selbstverständnis des alten Adels. Sich bewusst, in dem von effektvollen Falschnachrichten orchestrierten Pressespektakel nur eine Marionette zu sein, erklärt Étienne: „Wir werden alles für wahr halten, was wahrscheinlich ist.“ Indem Lucien in seinem Hunger nach Anerkennung bei diesem schmutzigen Spiel zunehmend federführend mittut, gerät er als Emporkömmling nicht nur zwischen die Fronten, sondern er verrät auch seine künstlerischen Ideale und literarischen Ambitionen.

Ein Korrektiv dazu bildet nicht nur seine Liebe zu der Schauspielerin Coralie (Salomé Dewaels), sondern vor allem seine Begegnung mit dem Schriftsteller und zeitweise Kontrahenten Nathan D’Anastazio (Xavier Dolan). Dieser erweist sich nicht nur als Verteidiger von Luciens Idealen, sondern auch als auktorialer Off-Erzähler, der in Balzacs Worten dem Scheitern des zwiespältigen und für ihn rätselhaften Antihelden nachspürt. Als dieser am Ende dieses Sittengemäldes, das sich in Teilen auch als aktuelle Zeitdiagnose verstehen lässt, ernüchtert in die Provinz zurückkehrt, heißt es, er müsse „aufhören zu hoffen und anfangen, zu leben“. Dass dies keine leichte Aufgabe ist äußert der Erzähler abschließend in einer persönlichen Note: „Ich denke an diejenigen, die nach der Enttäuschung etwas in sich selbst finden müssen.“

Triangle of Sadness

(SE/USA/FR/GB/GR 2022, Regie: Ruben Östlund)

Mechanismen der Macht
von Wolfgang Nierlin

Schönheit ist eine Währung. Beim Casting einer Modeagentur, für das sich lauter junge, gutaussehende, halbnackte Männer versammelt haben, kommt es außerdem darauf an, flexibel und anpassungsfähig zu sein. Dabei bestimmt …

Schönheit ist eine Währung. Beim Casting einer Modeagentur, für das sich lauter junge, gutaussehende, halbnackte Männer versammelt haben, kommt es außerdem darauf an, flexibel und anpassungsfähig zu sein. Dabei bestimmt das Image einer Marke die Passform, in die sich die makellosen Körper bereitwillig pressen lassen. Was die Models im Wettbewerb der Attraktionen verkaufen, ist eine Rolle, die vor allem am sozialen Status des potenziellen Kunden orientiert ist. Bei seiner Vorstellung wird das Männermodel Carl (Harris Dickinson) vom mehrköpfigen Gremium aufgefordert, bei seinem Walk einem inneren, imaginierten Rhythmus zu folgen. Mode sei Ausdruck einer inneren Haltung, die es zu vermitteln gelte. Außerdem rät man Carl, seine „trinagle of sadness“, also seine Sorgenfalte auf der Stirn, zu entspannen. Offensichtlich ist Carl nicht glatt, geschmeidig und formbar genug, um seine Rolle im Verkaufsspiel zu erfüllen.

In Ruben Östlunds preisgekröntem Film „Triangle of Sadness“, einer teils grellen Satire über die Macht des Geldes und die Mechanismen der Macht, ist Carl überdies der Mann, der ganz bildlich seinen privilegierten Platz in der ersten Reihe verliert, während seine schöne Freundin Yaya (Charlbi Dean) auf dem Laufsteg gefeiert wird. „Jeder ist gleich“, lautet das Motto der Show. Und gerade darum geht es Carl, wenn er beim Bezahlen einer Restaurant-Rechnung mit Yaya über Geschlechterrollen diskutiert. Zwar verdienen weibliche Models in Umkehrung der sonst üblichen Verdienstordnung mehr als ihre männlichen Kollegen; im gesellschaftlichen Rollenspiel wird dem Mann aber noch immer der Part des großzügigen Bezahlers zugewiesen. Als scharf beobachtete, analytische Versuchsanordnung ist das eine typische Östlund-Szene, mit der der schwedische Regisseur menschliche Verhaltensweisen seziert und in eine Inszenierung zwischen Nähe und Distanz übersetzt.

Ausführlicher noch kommt diese auf biologischen und soziologischen Parametern fußende Laborsituation im zweiten und dritten Teil des Films zum Tragen, der zunächst auf einer Luxusjacht, dann auf einer Insel spielt. Die hier versammelte Gesellschaft von Reichen definiert die sozialen Hierarchien mit ihren Grenzen und ihrem Machtgefälle. Während die willigen Servicekräfte mit der Aussicht auf hohe Trinkgelder motiviert werden, scheint die Unterordnung des Putzpersonals eine Selbstverständlichkeit zu sein. Dagegen herrschen unter den zahlungskräftigen Reisenden Langeweile, launische Spleens und pure Dekadenz. Ein russischer Oligarch (Zlatko Burić), der mit Düngemitteln handelt, bezeichnet sich selbstironisch als „König der Scheiße“ und liefert sich mit dem stets betrunkenen Kapitän (Woody Harrelson) einmal bei stürmischem Seegang ein bitterböses Zitate-Duell, bei dem die ideologischen Grenzen zwischen Kapitalismus und Kommunismus auf ebenso desillusionierende wie zynische Weise verwischt werden.

Einmal fordert die gelangweilte Oligarchen-Gattin (Sunnyi Melles) das Personal zu einem Rollentausch auf, was für Unruhe, Verunsicherung und einigen Irritationen sorgt. Als nach einem Angriff von Piraten das Kreuzfahrtschiff sinkt und sich einige Überlebende auf eine scheinbar verlassene Insel retten können, wird aus dem zuvor diktierten Spiel Ernst, weil plötzlich tatsächlich die angestammten Rollen und Hierarchien getauscht werden. In eng verzahnten Details und wie unter einem Brennglas untersucht Östlund dabei jene basalen Mechanismen und sozialen Verhaltensweisen zwischen Geben und Nehmen, die Machtstreben und Ausbeutung angeblich legitimieren.

Eo

(PL/GB/IT 2022, Regie: Jerzy Skolimowski)

Das missbrauchte Tier
von Wolfgang Nierlin

Am Anfang steht eine Erweckung: Im roten Stroboskoplicht einer Zirkusmanege richtet sich Eo unter dem zärtlichen Flüstern und Streicheln der Artistin Kassandra (Sandra Drzymalska) auf. Titelheld Eo ist ein sardischer …

Am Anfang steht eine Erweckung: Im roten Stroboskoplicht einer Zirkusmanege richtet sich Eo unter dem zärtlichen Flüstern und Streicheln der Artistin Kassandra (Sandra Drzymalska) auf. Titelheld Eo ist ein sardischer Esel, der hier buchstäblich zum Leben erwacht. In Jerzy Skolimowskis „Eo“ markiert diese geheimnisvolle Szene den Auftakt zu einer abenteuerlichen Lebensreise, die mehr Sorgen und Leid als Freuden kennt. Wie in Robert Bressons Film „Zum Beispiel Balthasar“ aus dem Jahre 1966 ist auch der Esel in Skolimowskis Hommage an das berühmte Vorbild ein ausgebeutetes, missbrauchtes und misshandeltes Tier. Doch spiegelt sich in ihm nicht primär das existentielle Leid aller Kreaturen, sondern eine prinzipielle Differenz zwischen Tier und Mensch, Natur und Zivilisation. Diese unterstreicht Skolimowskis poetischer Film auch visuell, wenn er in beeindruckenden, teils surrealen Bildern das von Menschen Gemachte dem Naturgegebenen gegenüberstellt und dadurch auch eine sehr zeitgemäße politische Dimension gewinnt.

Bei aller scheinbaren „Vermenschlichung“, die vielleicht nur auf unseren Projektionen basiert, ist Eo, der Esel, vor allem ein in sich ruhender, geduldig Distanz wahrender Außenseiter und Fremder, der eigensinnig seine Wege geht und offensichtlich misstrauisch und reserviert das mitunter lächerliche, teils als Karikatur gezeichnete Treiben der Menschen beobachtet. Immer wieder richtet sich die Kamera auf seine großen, dunklen Augen, die rätselhaft und undurchdringlich bleiben. Was sieht, denkt und fühlt Eo?, scheint der Film zu fragen, während er einen melancholischen, einsamen Esel zeigt, der unverkennbar auf liebevolle Zuwendung reagiert und Trennungsschmerz empfindet. Der polnische Regie-Altmeister Jerzy Skolimowski versucht sich an einer Innensicht, indem er immer wieder in die subjektive Perspektive des Tieres wechselt, dessen Erinnerungen und Träume visualisiert und mit den Augen des Tieres auf die Welt blickt.

Diese Welt ist für den verstoßenen Esel auf seiner Lebensreise eine Abfolge von Freiheit und Gefangenschaft, die nicht zuletzt auf menschliche Widersprüche und Absurditäten hindeutet. So sorgt ein neues Tierschutzgesetz gegen Dressur zunächst dafür, dass Eo konfisziert wird; aber Zucht, Abrichtung und Ausbeutung begegnen ihm auch auf einem Pferdehof, in einem Feriencamp für Kinder oder als unfreiwilliges Maskottchen für eine Fußballmannschaft, die samt Esel für die Verlierer zum Feindbild und damit zur Zielscheibe eines gewalttätigen Übergriffs wird, dem auch Eo zum Opfer fällt.

Freiheit hingegen erlebt Eo bei seinen wiederholten Ausbrüchen, die ihn bei Nacht einmal durch einen von Tieren magisch belebten Wald führen, wo er zwar einerseits Gefahren ausgesetzt ist, sich andererseits aber unter seinesgleichen bewegt. Als in der Morgendämmerung unter sinfonisch zugespitzten Klängen geradezu majestätisch ein Windrad auftaucht, ist die Unfreiheit der Zivilisation nicht mehr fern. Einmal blickt Eo, während er selbst in einem Transporter gefangen ist, spiegelbildlich auf einen vorbeifahrenden Wagen mit eingepferchten Schweinen; ein anderes Mal wird sein letztlich trauriger Weg von einer Herde galoppierender, in Zeitlupe gefilmter Wildpferde begleitet und kontrastiert. Die greifbare Unschuld des Tieres und das ihm aufgezwungene Unrecht markieren in ihrer Diskrepanz sein tragisches Schicksal.

Ein Triumph

(FR 2022, Regie: Emmanuel Courcol)

Warten auf das Ende der Haft
von Jürgen Kiontke

Etienne hat fertig: Mit der Tochter liegt er im Streit, mit der Ex-Frau sowieso. Gute Rollen bekommt der Schauspieler schon länger nicht mehr angeboten, dafür aber jetzt dann doch was …

Etienne hat fertig: Mit der Tochter liegt er im Streit, mit der Ex-Frau sowieso. Gute Rollen bekommt der Schauspieler schon länger nicht mehr angeboten, dafür aber jetzt dann doch was ganz Besonderes: Er soll die Theater-AG im Knast übernehmen. Das passt: So wie er auf das Ende der Arbeitslosigkeit wartet, sehnen sich die Strafgefangenen nach dem Ende ihrer Haft. Und die Gefängnisdirektorin Ariane wird sich im Lauf der Geschichte manchmal nach dem Ende der Theater-AG umsehen, die ihr viel Scherereien einbringt.

Welches Stück würde sich hier besser anbieten als Samuel Becketts „Warten auf Godot“, ein Stück, das schon im Titel verheißt, was alle Beteiligten in den Knochen haben? „Ein Triumph“ müsste her, ein erfolgreiches Programm, mit dem die Knackis sehen, dass sie doch zu was gut sind, denkt Anstalts-Chefin Ariane. Das denkt auch der Regisseur, das denken auch die Diebe, Räuber und Totschläger, aus denen das Ensemble besteht. Und so beginnen die Proben.

Regisseur Emmanuel Courcol dreht in seinem Film eine reale Geschichte nach. 1985 inszenierte der schwedische Schauspieler und Regisseur Jan Jönson mit den Insassen des Hochsicherheitsgefängnisses Kumla das Stück. Am Tag nach der öffentlichen Premiere in Göteborg verschwanden fünf seiner Schauspieler spurlos. Das Stück konnte er im Alleingang aufführen. Mit Beckett soll ihn dann eine Freundschaft verbunden haben – Jönson inszenierte später „Warten auf Godot“ erneut in den USA – passend in der Strafanstalt von San Quentin in Kalifornien.

Courcol verlagert die Ereignisse nach Frankreich, mit lockerer Hand inszeniert er die Erlebnisse der Theatertruppe, angereichert mit Blicken auf die sozialen und juristischen Eckdaten des französischen Staatswesens. Einmal mehr erzählt das französische Kino mit reichlich Humor und Herz von Not, Arbeitsmarkt und sozialer Spaltung.

Becketts bekanntestes Stück im Rahmen eines Sozialisierungsprogramms? Es ist die Paradedisziplin für jeden, der schon mal ein Gefängnis von innen gesehen hat: An einer Landstraße hängen die Protagonisten Estragon und Wladimir rum, um auf einen Unbekannten namens Godot zu warten. Den Grund der Verabredung erinnern sie nicht; sie wissen auch nicht, ob und wann Godot kommen wird. Ja, nicht mal, wer oder was Godot ist. Ein Klassiker der Weltliteratur, was Wunder.

Aufs Warten verstehen sich die vermeintlich und echten schweren Jungs Moussa, Kamel, Patrick, Jordan und Alex. Energie und Intensität ihres Spiels übertragen sich schnell aufs Kinopublikum in diesem Stück-im Stück-Film. Der Schluss – so vorhersehbar wie dennoch überraschend. Etienne wird jedenfalls die Rolle seines Lebens spielen. Courcol: „Ich möchte keine verzweifelten Filme machen, auch wenn sie von einer düsteren Realität handeln.“ Das ist ihm prima gelungen.

Diese Kritik erschien zuerst am 15.12.2022 auf: links-bewegt.de

To the Ends of the Earth

(JA/UZ/QA 2019, Regie: Kiyoshi Kurosawa)

In der Fremde
von Wolfgang Nierlin

Die Differenz zwischen Sein und Schein grundiert diesen Film motivisch auf verschiedenen Ebenen. Das Bildmedium Film mit seiner vorgetäuschten Wirklichkeit ist selbst besonders dafür geeignet. Wenn die japanische TV-Reporterin Yoko …

Die Differenz zwischen Sein und Schein grundiert diesen Film motivisch auf verschiedenen Ebenen. Das Bildmedium Film mit seiner vorgetäuschten Wirklichkeit ist selbst besonders dafür geeignet. Wenn die japanische TV-Reporterin Yoko (Atsuko Maeda) mit ihrem kleinen, ehrgeizigen Fimteam durch Usbekistan reist, um an markanten Schauplätzen einen touristischen Imagefilm zu drehen, wird sie immer wieder von der Diskrepanz zwischen der vorgefundenen und der dargestellten Realität eingeholt. Am Aydarsee hofft man vergeblich darauf, den mythischen Fisch Bramul filmen zu können; in Samarkand testet sie nur widerwillig ein schwer verdauliches Nationalgericht; und in einem Vergnügungspark lässt sie sich pflichtbewusst und unter großer Leidensbereitschaft von einer „Horror-Schaukel“ durch die Luft wirbeln. Stets macht Yoko dabei gute Miene zum bösen Spiel. Einmal kauf das Filmteam einen Ziegenbock, um ihn in einer weiten Landschaft in eine fragwürdige Freiheit zu entlassen.

Nichts will so richtig funktionieren, überall gibt es Hindernisse und der genervte Regisseur ist unzufrieden. Yoko glaubt gar, sie habe kein Glück. Dabei wird immer deutlicher, dass der Riss durch sie selbst geht. Ihre gutgelaunten Auftritte stehen in einem Kontrast zu ihrem introvertierten, zerbrechlichen Wesen. Noch schwerer wiegt ihr Fremdheitsgefühl, das sie auf ihren ausgedehnten Spaziergängen durch Basars und dunkle Gassen fortwährend begleitet und das sich zur Angst steigert. Umstellt wird ihr orientierungsloses Unterwegssein von fremden Blicken, vermeintlichen Gefahren und sehr dominanten Sprach-und Verständigungsproblemen, die Yoko letztlich einsam machen und sie auf sich selbst zurückwerfen. In der Konfrontation mit einer fremden Kultur und Mentalität erlebt sie eine tiefgreifende Verunsicherung. Yoko, die Textnachrichten an ihren Freund in Tokio schickt, hat in der Fremde Angst, sich zu öffnen. Einmal sagt ein Usbeke: „Wenn wir nicht miteinander reden, können wir einander nicht kennenlernen.“

Der japanische Regisseur Kiyoshi Kurosawa macht diese doppelte Fremdheitserfahrung seiner Protagonistin zum Ausdruck einer tiefen Identitätskrise. Einmal sagt Yoko zu einem Kollegen: „Ich glaube, ich entferne mich von dem, was ich wirklich machen will.“ Denn eigentlich träumt sie davon, Musical-Sängerin zu werden. In einer magischen Sequenz, die im labyrinthischen Navoi Theater von Taschkent spielt, erlebt sie diesbezüglich eine Vision, in der sie sich bei einem imaginierten Auftritt selbst dabei zusieht, wie sie eine japanische Version von Edith Piafs Chanson „Hymne à l’amour“ singt. Die Ahnung eines möglichen anderen Lebens steigt dabei in ihr auf. Doch das „Blau der Unendlichkeit“ mit seinem Versprechen auf eine ewige, alles überwindende Liebe, wovon Yoko auf ihrem Weg zu sich selbst inbrünstig singt, muss erst noch vor einem irdischen Feuer gerettet werden. Und auch hier scheint sich der Satz eines Usbeken zu bewahrheiten: „Das Glück belohnt uns alle gleich.“

Die stillen Trabanten

(D 2022, Regie: Thomas Stuber)

Sehnsucht nach Nähe
von Wolfgang Nierlin

Der Prolog von Thomas Stubers Literaturverfilmung „Die stillen Trabanten“ spielt auf dem freien Feld in der schweißtreibenden Hitze eines windigen Sommertags. Eine Gruppe von Landschaftspflegern, angeführt von dem Vorarbeiter Hans …

Der Prolog von Thomas Stubers Literaturverfilmung „Die stillen Trabanten“ spielt auf dem freien Feld in der schweißtreibenden Hitze eines windigen Sommertags. Eine Gruppe von Landschaftspflegern, angeführt von dem Vorarbeiter Hans (Peter Kurth), entdeckt eine Gruppe von Flüchtlingen, unter denen eine Mutter ihr totes Kind beweint. Heimatlosigkeit und Fremde, Schutzbedürftigkeit und Anteilnahme werden in dieser Szene wortlos angesprochen und zugleich für die drei nachfolgenden Episoden des Films, die auf Erzählungen von Clemens Meyer basieren, etabliert. Eine lose Verbindung ergibt sich außerdem durch diverse Figuren, die hier unbemerkt ihre Prägung erhalten und die in einer späteren Geschichte vom Rand in den Mittelpunkt treten. Allerdings vermeidet die episodische Struktur des Films ein Zentrum. Angesiedelt im Umfeld des Leipziger Hauptbahnhofes, unter seinen Rand- und Nachtgestalten, akzentuiert Stuber eher das Transitorische und Flüchtige. Dabei beschäftigen sich alle Geschichten mit Einsamkeit und der Sehnsucht nach Nähe.

Im alternierenden Modus der Erzählung gilt dies zunächst für die Reinigungsfrau Christa (Martina Gedeck), die Züge putzt, für angebliche „Nachlässigkeiten“ gerügt wird und allabendlich nach getaner Arbeit in der Bahnhofskneipe dem Cognac zuspricht. Bis sie die offensichtlich ähnlich einsame Friseurin Birgitt (Nastassja Kinski) kennenlernt, die sich wiederum mit Sekt tröstet. Allmählich entwickelt sich zwischen den beiden eine zärtliche Beziehung. Kleine, fast unmerkliche Gesten und Zeichen vermitteln dabei ihre unterdrückten Gefühle. Ihr vorsichtiges, verdruckstes Sprechen am Rande des Schweigens zeigt wiederum ihre Unsicherheit und Angst vor Verletzung. Allerdings steckt in ihren knappen, vernuschelten und oft im Flüsterton gehauchten Dialogen auch ein gehöriges Maß an Kindlichkeit und Naivität, die ihre schüchterne Reserviertheit manchmal einfach nur banal erscheinen lassen.

In eine triste, meist nächtliche Atmosphäre getaucht, gilt diese merkwürdig gekünstelte Verhaltenheit auch für die anderen verlorenen Seelen des Episodenfilms, der langsam und streckenweise leider auch zäh das die Figuren verbindende Thema umkreist. Während sich Wachmann Erik (Charlie Hübner) mit empfindsamem Beschützerinstinkt um die geflüchtete Ukrainerin Marika (Irina Starsehnbaum) kümmert, die in einem Ausländerwohnheim lebt, verliebt sich Imbiss-Betreiber Jens (Albrecht Schuch) in die ziemlich labile Konvertitin Aischa (Lilith Stangenberg), die im selben Stockwerk eines Hochhauses wohnt wie er. Sie sagt, ihr Mann Hamed (Adel Bencherif), der sich gerade mit Jens anfreundet, und der Islam hätten ihr Halt gegeben. Sie habe, die Schönheit wiedergefunden.

Das bleibt, wie vieles andere in diesem Film der zögerlichen Andeutungen und raunenden Bedeutungen, allerdings nur Behauptung. Offensichtlicher hingegen ist die subtile, gewissermaßen väterliche Dominanz der Männer im Verhältnis der Geschlechter. Trotz gegenteiliger Behauptung („Du bist stark und schön.“) spekuliert diese auf die vermeintliche Schwäche der Frauen. Das kann dann auch vom utopischen, selbstermächtigenden und überdies leicht kitschigen Schlussbild eines blühenden Kirschbaumes nicht mehr entkräftet werden.

Ennio Morricone – Der Maestro

(Italien 2022, Regie: Giuseppe Tornatore)

Rache am Western
von Wolfgang Nierlin

Das Metronom gibt in dieser filmischen Musiker-Biographie den Takt vor, und zwar mit einer ziemlich hohen Schlagzahl. Zweieinhalb Stunden lang hetzt der renommierte italienische Regisseur Giuseppe Tornatore in seinem ausschweifenden …

Das Metronom gibt in dieser filmischen Musiker-Biographie den Takt vor, und zwar mit einer ziemlich hohen Schlagzahl. Zweieinhalb Stunden lang hetzt der renommierte italienische Regisseur Giuseppe Tornatore in seinem ausschweifenden und zugleich pingelig detaillierten Dokumentarfilm „Ennio Morricone – Der Maestro“ durch das lange Leben, aber mehr noch durch das umfangreiche Werk seines Landsmannes und Freundes. Zwar präzise montiert, entsteht dabei eine hochtourige, chronologisch angelegte Schnipsel-Ästhetik aus „sprechenden Köpfen“, Konzertaufnahmen und einem Interview mit Morricone selbst. Alle möglichen Filmregisseure und Musiker verneigen sich in kurzen Statements mit viel Lob vor dem Portraitierten und setzen so den nahezu hagiographischen Rahmen für Tornatores überschwängliche Hommage. Er sei „rätselhaft“, „ernst“, „er selbst und zugleich ein anderer“ gewesen, heißt es da etwa. „Eine Legende“, „ein eigenartiger Mann“ und „eine Ausnahme“ befinden andere, um Morricones Besonderheit hervorzuheben. Und am Ende wird dem Geehrten gar ein Ewigkeitsstatus zugesprochen: „Der Gott der Musik spricht durch ihn.“

Dabei hat jenseits dieser Elogen und Überhöhungen für den eher zurückhaltenden und sehr emotionalen Ennio Morricone (1928-2020) die musikalische Karriere bescheiden angefangen. Vom Trompete spielenden Vater gezwungen, in dessen Fußstapfen zu treten, verdingt er sich zunächst als Unterhaltungsmusiker und Arrangeur von Schlagermusik, der er bereits seinen eigenwilligen Stempel aufdrückt. Denn dazwischen liegt ein Kompositionsstudium bei Gottfredo Petrassi und die Beschäftigung mit der zeitgenössischen Neuen Musik, der er u. a. 1958 während eines Aufenthaltes bei den Darmstädter Ferienkursen begegnet. Diese Spannweite und Spannung zwischen Tradition und Moderne kennzeichnet auch sein Werk und findet seine erste charakteristische Ausprägung in der sogenannten „Dollar-Trilogie“ seines früheren Schulkameraden Sergio Leone Mitte der 1960er-Jahre. Dessen ebenso eigenwilligen wie einflussreichen Italowestern prägt er nicht nur mit seiner melodischen Signatur, sondern auch durch seine Verwendung von Geräuschen, die so zu einem Stück der Musique concrète werden.

In seinen Scores zu Filmen von Elio Petri, Liliana Cavani und dem Giallo-Meister Dario Argento spitzt Morricone diese experimentelle Seite teils durch Improvisation noch zu. Daneben finden sich unter seinen über 500 Filmmusiken auch dezidiert orchestrale Werke, die in den Filmen von Bernardo Bertolucci („1900“), Gillo Pontecorvo („Schlacht um Algier“), Roland Joffé („Mission“) und Terrence Malick („In der Glut des Südens“) zu eigenen Erzählungen werden. Der sehr produktive „Erfinder der Filmmusik“ sagt dazu: „Filmmusik muss für sich allein stehen, wenn sie dem Film dienen soll.“ Erst spät wird diese Eigenständigkeit von den traditionellen Klassikkomponisten anerkannt und gewürdigt. Für Morricone, der auch über 100 Werke jenseits seiner Arbeit für Kino geschrieben hat, war das eine Genugtuung, denn er litt zeitlebens unter Minderwertigkeitskomplexen und Schuldgefühlen. Auch in Hollywood brauchte es lange, bevor man dem Avantgardisten erst den Ehrenoscar (2007) und im Jahr 2016 schließlich für den Score zu Quentin Tarantinos Film „The Hateful 8“ noch einen „regulären“ Oscar verlieh. Ennio Morricone, der beim Komponieren stets nach etwas Unbekanntem suchte, schrieb mit dieser Musik laut eigener Aussage übrigens seine „Rache am Western“; womit er einmal mehr seinen lebenslangen Konflikt zwischen den Genres und Sparten zum Ausdruck brachte.

Stille Post

(D 2021, Regie: Florian Hoffmann)

Denkmal für Videoaktivismus
von Jürgen Kiontke

Es ist das Jahr 2015, Lehrer Khalil lebt schon lange in Deutschland. Mit seiner kurdischen Vergangenheit hat er abgeschlossen – oberflächlich. Eltern und Schwester sind vor langer Zeit im Krieg …

Es ist das Jahr 2015, Lehrer Khalil lebt schon lange in Deutschland. Mit seiner kurdischen Vergangenheit hat er abgeschlossen – oberflächlich. Eltern und Schwester sind vor langer Zeit im Krieg getötet worden. Doch nun, so scheint‘s, entpuppt sich dies als Irrtum. Die Familienmitglieder haben ihren Tod vorgetäuscht, um in den Kampf zurückzukehren und die türkische Armee zu täuschen. Zumindest seine Schwester sei am Leben, berichtet Khalils Bekannter Hamid, der in Diensten des Widerstandes steht. Sie soll Videoaktivistin sein. Wenn Khalil ihre Filmaufnahmen vom Einrücken der türkischen Armee in die Stadt Cizre, wo sie die vermeintlichen kurdischen Terroristen bekämpfen will, ins deutsche Fernsehen einschleust, kann er ein Wiedersehen arrangieren.

Khalils Partnerin ist die junge Journalistin Leyla. Sie arbeitet in einer Nachrichtenagentur und sucht ein Thema für ihren ersten eigenen, investigativen Beitrag. Warum nicht das Material aus Kurdistan von Übergriffen der Armee gegen die Zivilbevölkerung nutzen? Die Frage ist nicht rhetorisch, denn die Aufnahmen sind ein bisschen dröge und Kurdistan interessiert in Deutschland nicht wirklich. Daher legen die beiden eine neue Tonspur unter das Material. Das wirkt gleich ganz anders und der Krieg findet ja auch tatsächlich statt.

Tags drauf läuft das Video dann auch in der „Tagesschau“, ist die News des Tages. Und Khalil, der sich aus allem raushalten wollte, sieht sich plötzlich selbst als Teilnehmer eines Krieges, der sogar in seinem Klassenzimmer tobt. Kinder mit türkischem und kurdischem Background verprügeln sich bereits gegenseitig. Und überhaupt: Gibt es die Schwester wirklich oder war alles nur Täuschung?

Florian Hoffmanns Film „Stille Post“ handelt zwar zunächst von der Produktion von Sensationen in der Medienwelt und reflektiert so die Gesetze des TV-Marktes. Andererseits setzt er Videoaktivisten in jenen Kriegsgebieten ein Denkmal, in dem Vertreter etablierte Medien gar nicht mehr arbeiten können. Hoffmann verarbeitet in seinem Abschlussfilm für die Filmhochschule eigene Erlebnisse. Er selbst ist im betreffenden Zeitraum in Kurdistan gewesen, brachte Videomaterial mit, das auf wenig Interesse stieß. 79 Tage dauerte der Ausnahmezustand in Cizre. „Ich fand eine zerstörte Stadt vor und sprach mit traumatisierten Einwohnern. Zugleich sicherte ich die Videos, die die Bewohner von Cizre heimlich mit ihren Handys gedreht hatten und die Angriffe und Menschenrechtsverletzungen während der Ausgangssperre belegten“, sagt er.

Eine intelligente, wenn auch wenig gefällige filmische Reflexion über Menschen im Krieg und die Rolle der Medien. Der Film hat bereits viele Auszeichnungen bei verschiedenen Festivals gewonnen. Politisches Kino eines politischen Filmkünstlers, von dem sicher noch einiges zu sehen sein wird.

Diese Kritik erschien zuerst am 08.12.2022 auf: links-bewegt.de

An einem schönen Morgen

(FR/DE 2022, Regie: Mia Hansen-Løve)

Was bleibt, ist die Liebe
von Wolfgang Nierlin

Der Film beginnt an einem hellen Sommertag mit einer verschlossenen Tür. Auf der einen Seite davon steht Sandra (Léa Seydoux), die Einlass begehrt; auf der anderen ihr Vater Georg Kienzler …

Der Film beginnt an einem hellen Sommertag mit einer verschlossenen Tür. Auf der einen Seite davon steht Sandra (Léa Seydoux), die Einlass begehrt; auf der anderen ihr Vater Georg Kienzler (Pascal Greggory), der es lange nicht schafft, die Tür zu öffnen. Denn der ehemalige Philosophie-Professor, der sein Leben dem Denken und den Büchern gewidmet hat, leidet unter dem sogenannten Benson-Syndrom, einer seltenen neurophysiologischen Krankheit, die bewirkt, dass er zunehmend vergesslich wird, seine visuelle Wahrnehmung gestört ist und er allmählich das Bewusstsein verliert. In den helleren Momenten seines fortschreitenden Verlöschens gewinnt sein scheinbar unlogisches Reden einen flirrenden poetischen Sinn. Einmal sagt er, er wähne sich in der Krankheit gefangen und fühle einen Abgrund; es gebe keinen Anfang und kein Ende, etwas fehle. Angstzustände begleiten den Verlust seiner kognitiven und sensorischen Fähigkeiten. Weil Georg in diesem Zustand nicht mehr länger allein leben kann, sucht Sandra zusammen mit anderen Familienmitgliedern für ihn einen Heimplatz, was sich als schwierige Odyssee gestaltet und ein bezeichnendes Licht auf die Mängel unserer Sozialgemeinschaft und ihrer Systeme wirft.

„Alle Wege sind offen“, zitiert Sandra eingangs die Reiseschriftstellerin Annemarie Schwarzenbach. Sie selbst wird allerdings als früh verwitwete, alleinerziehende Mutter einer kleinen Tochter namens Linn (Camille Leban Martins) von allen Seiten beansprucht. Als Übersetzerin und Dolmetscherin arbeitet die attraktive Enddreißigerin in allen möglichen Bereichen, was streiflichtartig ins Bild gesetzt wird. Als Singlefrau, die seit Jahren keine Beziehung mehr eingegangen ist und die mit Linn in einer kleinen Dachwohnung lebt, hat sie das Gefühl, ihr Liebesleben liege hinter ihr. Das ändert sich, als sie ihrem früheren Freund Clément (Melvil Poupaud) begegnet und ein leidenschaftliches Liebesverhältnis mit ihm eingeht. Da der begehrenswerte Kosmochemiker verheiratet ist, einen kleinen Sohn hat und außerdem viel reist, ist die Beziehung allerdings von einem ständigen Hin und Her, von Hoffnung und Enttäuschung geprägt.

Die französische Regisseurin Mia Hansen-Løve, die in ihrem neuen Film „An einem schönen Morgen“ („Un beau martin“) einmal mehr eigene Erfahrungen verarbeitet hat, konzentriert in ihrer beanspruchten Heldin zwei gegensätzliche Gefühlsbewegungen. In den Begegnungen mit ihrem kranken Vater, von dem sie sich allmählich löst, erlebt sie Trauer und Abschied; in ihrer zunächst unsicheren und bedrohten Liebe zu Clément wächst hingegen zugleich die Zuversicht für einen Neuanfang. Das emotionale Bindeglied zwischen diesen kontrastierenden Empfinden ist jeweils die liebevolle Sorge um den anderen. „Love will remain“, heißt es entsprechend im Abspannsong. Außerdem situiert Mia Hansen-Løve ihren Film über ein schweres Thema in einem sommerlich leichten, von warmen Farben geprägten Paris, zu dessen Schauplätzen nicht nur triste Pflegeheime gehören, sondern auch helle Plätze und schattige Parks. Mit ihrem typisch dynamischen Stil und schnellen Szenenwechseln verknüpft sie ohne die sonst üblichen dramatischen Zuspitzungen die unterschiedlichen Lebenswelten. Der erzählerische Bogen des Films verbindet schließlich die verschlossene Tür des Anfang mit dem weiten, offenen Blick über die Stadtlandschaft von Paris.

Aftersun

(GB/USA 2022, Regie: Charlotte Wells)

Dunkle Schatten der Schwermut
von Wolfgang Nierlin

Der Film wird gerahmt von einem Video, das nicht gleich als solches identifizierbar ist. Ein junges Mädchen befragt darin einen Mann zu seinem Alter, während es ihn filmt. Dann springen …

Der Film wird gerahmt von einem Video, das nicht gleich als solches identifizierbar ist. Ein junges Mädchen befragt darin einen Mann zu seinem Alter, während es ihn filmt. Dann springen die Bilder im Schnelldurchlauf der Spulfunktion, werden immer wieder unterbrochen vom Gesicht einer tanzenden Frau, bleiben schließlich eingefroren. Dieser doppelte subjektive Blick gehört Sophie Patterson, die als 11-Jährige (Frankie Corio) ihren Vater im gemeinsamen Türkei-Urlaub filmt und sich viele Jahre später als Erwachsene (Celia Rowlson-Hall) daran erinnert. Der Urlaubsfilm mit seinen aufgezeichneten Spielereien und Albernheiten, mit seinen sowohl banalen als auch ernsten Momenten wird dabei zum Medium der Erinnerung, das Verlorenes vergegenwärtigt und bewahrt.

Als Sophie und ihr noch junger, 30-jähriger Vater Calum (Paul Mescal) nach einer nächtlichen Busfahrt in ihrem Hotel in Ölüdeniz an der Ägäis ankommen, fehlt zunächst ein Bett. Im All-inclusive-Resort sind die beiden offensichtlich Gäste zweiter Klasse. Calum, der getrennt von seiner Familie lebt, hat wenig Geld und Perspektive. Aber das wird von Charlotte Wells in ihrem beeindruckenden Spielfilmdebüt „Aftersun“ nur in Andeutungen und eher beiläufig erzählt. Während die Tage vergehen und die ziemlich aufgeweckte Sophie zusammen mit ihrem leicht melancholischen, aber immer wieder antreibenden Vater einigen Spaß bei Wasserspielen, trägem Nichtstun und Ausflügen hat, legt sich sanft ein dunkler Schatten der Schwermut über die Szenerie.

Der stets aufmerksame und fürsorgliche Calum trägt offensichtlich einen Schmerz mit sich, den er vor Sophie verbirgt. Eine unglückliche Kindheit, eine früh gescheiterte Beziehung, Einsamkeit und sein Umzug von Schottland nach England geben dezente Hinweise auf eine wohl auch finanziell prekäre Existenz. Seine Beschäftigung mit Tai-Chi, Meditation und die Lektüre der schottischen Dichterin und Filmemacherin Margaret Tait zeigen seine vielleicht vergeblichen Mühen um inneren Ausgleich. Derweil freundet sich Sophie vorsichtig mit einem gleichaltrigen Jungen an. Während sie wächst und Erfahrungen macht, scheint ihrem Vater das Leben zu viel zu werden. Fast bitter oder ernüchternd wirkt im Kontrast dazu seine Aufmunterung an Sophie, sie könne so sein, wie sie wolle.

Charlotte Wells forciert nichts in ihrem ruhigen, atmosphärisch dichten Film, der Ende der 1990er Jahre spielt. Sehr subtil und mit intimen Blicken erzählt sie eine zärtliche Vater-Tochter-Geschichte, die von einer existentiellen Krise grundiert wird. Dabei lenkt sie durch langsame Zooms, Schärfenverlagerungen und Spiegelbilder die Aufmerksamkeit immer wieder auf unmerkliche Details und deren mögliche Bedeutung. Der wiederholte Blick auf Gleitschirmflieger über der Bucht vermittelt die Ahnung einer ebenso möglichen wie unmöglichen Freiheit. Um trotz räumlicher Trennung ihre Verbundenheit mit dem Vater auszudrücken, äußert Sophie einmal: „Es ist schön, dass man von verschiedenen Orten aus denselben Himmel sieht.“

Medusa

(BRA 2021, Regie: Anita Rocha da Silveira)

Dämon der Befreiung
von Wolfgang Nierlin

Augen schauen uns an. Der Blick füllt die Leinwand und durchbricht die Vierte Wand. In Anita Rocha da Silveiras filmischer Dystopie „Medusa“ wird er mehrmals wiederkehren unter stets anderen Vorzeichen. …

Augen schauen uns an. Der Blick füllt die Leinwand und durchbricht die Vierte Wand. In Anita Rocha da Silveiras filmischer Dystopie „Medusa“ wird er mehrmals wiederkehren unter stets anderen Vorzeichen. Es ist ein Blick, der begehrt, der Angst und Misstrauen ausdrückt, der Fragen stellt und schließlich die Gewissheit einer Befreiung vermittelt. Denn „Medusa“ ist auch eine emanzipative Coming-of-Age-Geschichte, getaucht in neonfarbenes Rot und Grün und eingehüllt von einer tiefen Dunkelheit. Sie spielt in Brasilien in einer nicht näher definierten Zeit. Eine parallele Welt aus Zeichen und Symbolen evoziert eine geheimnisvolle, kunstvoll gestaltete Aura, in die sich zunehmend Albträume und Halluzinationen mischen. Dabei trifft nicht zuletzt eine krisenhafte Gesellschaft auf die Kraft der alten Mythen.

Die junge Mariana (Mari Oliveira) gehört zu einer Gruppe junger Frauen, die nachts durch die Straßen zieht, um in christlicher Mission und mit Gewalt vermeintliche Sünderinnen zu „bekehren“. Im fundamentalistisch-evangelikalen Weltbild dieser Gemeinschaft ist kein Platz für emanzipierte, homosexuelle oder gar promiskuitive Frauen. Ihre Gottesdienste, geleitet von einem charismatischen Prediger, tragen deutlich sektiererische und faschistoide Züge. „Wachen und Beten“, lautet der an Wänden plakatierte Slogan der Gemeinde, deren Mitglieder unter den indoktrinierenden Reden des manipulativen Anführers mit einem seligen Lächeln in eine Art Trance fallen. Alles Weltliche, Sündige und Böse, angeblich ein Merkmal dieser Endzeit, soll ausgetrieben werden. Eine Wehrsportgruppe junger, kämpferischer Männer, die zugleich um heiratswillige Frauen werben, ergänzt die radikale Sekte.

Ihr Gründungsmythos fußt auf der Bestrafung einer angeblich besonders unzüchtigen Sünderin namens Melissa, deren schönes Gesicht einst von einer „Heiligen“ mit Feuer entstellt wurde und die seither verschwunden ist. Als Mariana bei einem nächtlichen Einsatz selbst mit einem langen Schnitt im Gesicht verletzt wird und daraufhin ihre Arbeit bei einem Schönheitschirurgen verliert, beginnt sie, nach Melissa zu suchen. Zweifel an den Praktiken der Sekte und eine zunehmende Identifikation mit dem Opfer führen sie als Pflegerin in eine Klinik. Dort, versteckt in einem Wald, sind ausschließlich Koma-Patienten untergebracht. In einer somnambul-zwischenweltlichen Atmosphäre, die an die Krankenstation in Apichatpong Weerasethakuls Film „Cemetery of Splendour“ erinnert, erlebt Mariana allmählich eine Verwandlung. Diese fühlt sich für sie zunächst an wie eine Besessenheit, lässt sich aber, assoziiert mit dem wiederkehrenden Bild eines Abflussbeckens, als eine andere Art der Reinigung und des nicht zuletzt sexuellen Erwachens verstehen. Dieses kulminiert schließlich in einem ansteckenden Schrei der Befreiung.

Sonne

(AT 2022, Regie: Kurdwin Ayub)

Normalität der Belanglosigkeiten
von Wolfgang Nierlin

Drei junge Frauen albern herum, machen Blödsinn. Sie verkleiden sich, spielen Rollen und werfen sich für Fotos in Pose. Sie verschleiern sich und finden das sexy. Schließlich singen sie zum …

Drei junge Frauen albern herum, machen Blödsinn. Sie verkleiden sich, spielen Rollen und werfen sich für Fotos in Pose. Sie verschleiern sich und finden das sexy. Schließlich singen sie zum Playback des R.E.M.-Klassikers „Losing my religion“ und performen dazu im Hidschab. Das Handy-Video, das dabei entsteht, verbreitet sich bald im Internet und sorgt für Gesprächsstoff in den Communities. Machen sich die aus einem Wiener Vorort stammenden drei Freundinnen, die kurz vor dem Abitur stehen, hier etwa lustig über verschleierte Frauen und die islamische Kultur? Oder handelt es sich nur um einen arglosen, unbedachten Spaß beziehungsweise um ein Spiel mit Zeichen, wie es auf den Kanälen der Internet-Generation üblich ist? Zumindest bei Yesmin (Melina Benli) trifft das Video auch einen empfindlichen Nerv ihrer Identität. Denn ihre kurdische Familie stammt aus dem Irak. Zwar gibt sich ihr Vater Omar (Omar Ayub) liberal und tolerant, aber ihre gläubige, konservativ eingestellte Mutter Awini (Awini Barwari) empfindet das Video als respektlos.

Abrupt, unvermittelt und sehr gegenwärtig geht es zu in Kurdwin Ayubs Spielfilmdebüt „Sonne“. Die Ästhetik ihres mit Laien besetzten Films orientiert sich an den dokumentarischen Formaten und formalen Spielereien sozialer Medien und Plattformen und erinnert mit ihrer vorgeblichen Authentizität an das Reality-TV früherer Jahre. Ständig wechselt der disparate Bilderstrom zwischen Handy-Inhalten, Online-Plattformen und semidokumentarischem Realfilm. Alles, was auf der Handlungsebene geschieht, wird audiovisuell dokumentiert und geteilt. Das Surfen auf der Oberfläche der Belanglosigkeiten ist dabei so dominant, dass dadurch zwar eine zweite Realitätsebene entsteht, die angeblichen Identitätskonflikte aber ziemlich unterbelichtet bleiben. Im szenischen Overkill einer inflationären Bilderproduktion verflüchtigen sich mögliche Handlung, Dramaturgie und vorgeblicher Inhalt. Dafür entsteht ein mehr oder weniger aufschlussreiches Portait einer Jugend, die sich über mediale Banalitäten und einen unkritischen, von der Regisseurin offensichtlich affirmativ geteilten Medienkonsum definiert.

Entsprechend verliert sich auch Kurdwin Ayubs viel gelobter Film in den oberflächlichen Phänomenen jugendlichen Erlebens. Zwar haben „die drei fleißigen Mädchen“, zu denen noch Bella (Law Wallner) und Nati (Maya Wopienka) gehören, Auftritte bei traditionellen kurdischen Feiern, doch das führt weder zu Diskussionen noch zu einem Zusammenhang. In einer nicht näher definierten Talkshow erklären die selbstbewussten Protagonistinnen, dass sie mit den „richtigen Dingen“ „junge Mädchen inspirieren“ und dabei „Hoffnung und Stärke“ vermitteln wollen. Leider ist davon im medialen Chaos von Ayubs Film selbst wenig zu spüren. Allenfalls ihr sporadischer Blick auf das konfliktreiche Innenleben von Yesmins Familie, in der die Eltern permanent streiten, der jüngere Bruder auf Abwege gerät und die Mutter unter traumatischen Erfahrungen leidet, lässt erahnen, wie schwierig der Spagat zwischen kulturellen Traditionen und digitaler Moderne ist. Was dabei „normal“ sei, wie der Vater einmal meint, ist längst nicht klar. Und so sorgt die Regisseurin, die selbst in einer kurdischen Familie in Wien aufgewachsen ist, zwar für die sehr unterschiedlichen Selbstermächtigungen ihrer Heldinnen. Deren Motive und Motivationen bleiben aber eher konfus und unentwickelt.

Call Jane

(USA 2022, Regie: Phyllis Nagy)

Kampf gegen die Abtreibungsgesetze
von Jürgen Kiontke

Als Joy (Elizabeth Banks), die zentrale Figur in Phyllis Nagys Spielfilm „Call Jane“, vor dem Verwaltungsrat des Krankenhauses sitzt, traut sie ihren Ohren nicht. Es wird über sie gesprochen, nicht …

Als Joy (Elizabeth Banks), die zentrale Figur in Phyllis Nagys Spielfilm „Call Jane“, vor dem Verwaltungsrat des Krankenhauses sitzt, traut sie ihren Ohren nicht. Es wird über sie gesprochen, nicht mit ihr. Außer ihr nur Männer im Raum.
Der Gegenstand des Nicht-Gesprächs: ein möglicher Schwangerschaftsabbruch Joys. Denn die junge Frau erwartet ein Kind und die Ärzte haben festgestellt, dass Schwangerschaft und Geburt für Joy aufgrund einer Herzerkrankung tödlich ausgehen könnten. Die qualmende Runde mittelalter weißer Männer ficht das nicht an. Das Kind sei die Hauptsache, die Mutter ein besserer Gebärautomat. Hier wird nicht weniger als ein Todesurteil ausgesprochen.

Es ist das Jahr 1968 in Chicago. Draußen läuft sich die Linke bei Protesten warm – gegen Krieg, gegen die restriktiven Regeln der Gesellschaft. Joy, bereits Mutter eines Kindes, lebt in einer klassischen Hausfrauenehe. Der gesellschaftliche Aufbruch spielt sich woanders ab. Auf ihrer Suche nach Hilfe rät ihr der Anwalt, sie möge auf unzurechnungsfähig machen: „Wenn Sie zwei Psychiater überzeugen können, wegen der Schwangerschaft selbstmordgefährdet zu sein, darf man ihnen die Abtreibung nicht verwehren.“ Bald darauf sieht man Joy auf der Liege, wie sie mit dem Therapeuten über die Vor- und Nachteile einer Selbsthinrichtung mittels einer Schrotflinte diskutiert.

Dass es so nicht weitergeht, ist ihr schnell klar. Durch Zufall erfährt sie von einer Gruppe namens „Jane Collective“, die in Schwierigkeit geratenen Frauen wie Joy Hilfe verspricht. Der Kontakt mit den feministischen Aktivistinnen soll ihr Leben verändern.

„Call Jane“ erzählt die Ereignisse rund um diese im Untergrund agierende Gruppe am Beispiel der Joy nach. Die Aktivitäten ihrer Mitglieder beschränken sich dabei nicht auf das Thema Abtreibung, sie wollen auf gesellschaftliche Gerechtigkeit hinaus. „Was machen wir als nächstes: Gleichberechtigung? Gleicher Lohn?“ heißt es an einer Stelle. In ihrer persönlichen Notlage wird der bis dahin unpolitischen Hauptfigur klar, unter welchen Bedingungen sie lebt. Frauen hatten zu der Zeit kein Recht, über ihren eigenen Körper zu bestimmen. Erst der Urteilsspruch des US-Supreme Courts, des obersten Gerichts der USA, aus dem Jahr 1973 legalisierte die Abtreibung (der Fall „Roe gegen Wade“) in den USA grundsätzlich. Bis dahin hatte das Untergrundkollektiv der „Janes“ fast 12.000 Abtreibungen organisiert.

Für die Frauen war der Weg über die „Janes“ nicht leicht, wie der Film eindrücklich zeigt. Ärzte, deren Approbation nicht unbedingt an der Wand hängt, nehmen den Eingriff für viel Geld in düsteren Hotelzimmern vor, in denen die Farbe von der Decke bröselt. Nachdem auch Joy die Operation durchlebt hat, will sie für Verbesserungen sorgen. „Der Eingriff dauert 20 Minuten, das können wir selbst“, erklärt sie der engagierten „Call Jane“-Chefin Virginia (Sigourney Weaver).

„Call Jane“ erzählt von der politischen Bewusstwerdung eines jungen Menschen, der an gesellschaftliche Grenzen stößt. Der Film verzichtet auf plakative Härten, oft steht die farbenfrohe und liebevoll rekonstruierte 60er-Jahre-Bonbon-Welt in Kontrast zu den Ereignissen. Den Schauspielerinnen gelingt dennoch ein überzeugendes Drama. Sie sei der Überzeugung, „dass man ernste Themen am besten mit einem Hauch von Leichtigkeit“ vermittele, sagt Regisseurin Phyllis Nagy.

Die Arbeit der „Janes“ ist 50 Jahre nach dem Ende der Gruppe aktueller, als sich das viele Menschen in den USA wünschen. Im Juni 2022 hob der Supreme Court das Urteil „Roe gegen Wade“ mit knappem Votum auf und bestätigte die Rechtsgültigkeit von Anti-Abtreibungsgesetzen in Staaten wie Mississippi. US-Präsident Joe Biden kritisierte das Urteil, es mache die USA „zum Außenseiter unter den entwickelten Nationen der Welt“. Es drohen Verhältnisse wie in längst vergangenen Zeiten – mit illegalen Schwangerschaftsabbrüchen oder weiten, teuren Reisen in andere Länder. Amnesty International rief in der Vergangenheit dazu auf, in der US-Hauptstadt Washington für das Recht auf sichere und legale Schwangerschaftsabbrüche zu protestieren. „Mit seinem Urteil hat der Supreme Court Millionen Menschen den sicheren und legalen Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch genommen“, sagt die Expertin für Geschlechtergerechtigkeit bei Amnesty International in Deutschland, Katharina Masoud.

Der Film „Call Jane“ gibt hier die Möglichkeit, über die Wahlfreiheit von Frauen, über ihre Autonomie nachzudenken. Der Film sei Ausdruck einer sich ständig weiterentwickelnden Debatte, von der sie aufrichtig hoffe, „dass wir sie noch lange nach der Premiere des Films weiterführen“, hofft Regisseurin Nagy.

Diese Kritik erschien zuerst in: Amnesty Journal

In der Nacht des 12.

(FR/BE 2022, Regie: Dominik Moll)

Die Schuld der Männer
von Wolfgang Nierlin

In der Nacht des 12. Oktober 2016 wird die 21-jährige Clara Royer (Lulu Cotton-Frapier) auf dem Heimweg überfallen, mit Spiritus übergossen und angezündet. Am nächsten Tag findet man ihren halb …

In der Nacht des 12. Oktober 2016 wird die 21-jährige Clara Royer (Lulu Cotton-Frapier) auf dem Heimweg überfallen, mit Spiritus übergossen und angezündet. Am nächsten Tag findet man ihren halb verkohlten Leichnam. Etwa zwanzig Prozent der circa 800 Mordfälle, die jedes Jahr in Frankreich geschehen, bleiben ungelöst, heißt es zu Beginn von Dominik Molls neuem Film „In der Nacht des 12.“ („La nuit du 12“), der sich auf einen wahren, ungelösten Fall bezieht. Die Autorin Pauline Guéna hat diesen neben anderen in einem Buch über Polizeiarbeit dokumentiert. Gerade der Charakter des Rätselhaften und Unaufgelösten hat wiederum den deutsch-französischen Regisseur dazu inspiriert diese Leerstelle als Beweggrund und Katalysator zu nehmen, um sie mit anderen Themen und Motiven zu besetzen. Zugleich bildet sie das Zentrum eines Unbehagens, das den Chefermittler Yohan (Bastien Bouillon) umtreibt, beunruhigt und letztlich verändert.

Von Paris in die französischen Alpen um Grenoble verlegt, zeigt der Film sehr genau und detailliert die polizeilichen Ermittlungen; zum Beispiel die Arbeit der Spurensicherung, intensive Befragungen, die Praxis der Telefonüberwachung und das Abfassen von Berichten. Die Art der Tötung lässt vielleicht Rückschlüsse auf das Motiv des Täters zu, spekulieren die Polizisten. Zugleich erzählt Moll von schwierigen Momenten, von Stress, Rückschlägen und Konflikten unter den mit dem Fall betrauten Kollegen. Seine ebenso präzise wie spannende Beobachtung des Polizeialltags steht damit in einer Traditionslinie mit Werken von Maurice Pialat („Der Bulle von Paris“), Bertrand Tavernier („Auf offener Straße“), Xavier Beauvois („Eine fatale Entscheidung“) und Arnaud Desplechin („Im Schatten von Roubaix“). Als „komischen Job“ bezeichnet einmal Yohans frustrierter, unter Eheproblemen leidender und außerdem der französischen Literatur zugeneigter Kollege Marceau (Bouli Lanners) ihr Tun: Hoffnungen werden immer wieder enttäuscht; falsche Spuren münden regelmäßig im Misserfolg.

Nicht nur die Vermischung von polizeilicher Arbeit und privaten Problemen, sondern vor allem der Fall selbst lenkt den Blick dezidiert auf die grundsätzliche Beziehung zwischen den Geschlechtern. Die männliche Dominanz sowohl bei Gewaltverbrechen als auch unter denjenigen, die diese aufklären, spiegelt sich im Mord an einer jungen Frau, die als „unkompliziertes Mädchen“ galt, sich leicht verliebte und offensichtlich viele sexuelle Beziehungen hatte; auch mit zu Gewalt neigenden „bad boys“. Der Film berührt hier ein Tabu, weil dem Opfer, das wir nur aus den Erzählungen anderer kennenlernen, von den Ermittelnden unterschwellig eine Mitschuld an seinem grausamen Schicksal gegeben wird. Doch Claras beste Freundin Nanie (Pauline Serieys) weist diese Unterstellung vehement zurück: „Clara wurde ermordet, weil sie ein Mädchen war.“ Und später heißt es einmal: „Alle Männer haben Clara umgebracht.“

Im Gewand des Polizeifilms verhandelt Dominik Moll auf eindringliche Weise gesellschaftliche Fragen und blickt dabei besonders auf die Beziehung zwischen Männern und Frauen. Vor allem aber begleitet er den Entwicklungsprozess seines ebenso schweigsamen wie melancholischen Helden, der es mit vielen Verdächtigen zu tun hat, aber keinen Täter findet. Trotzdem führt der ungelöste Fall bei ihm zu neuen Einsichten und einem anderen Blick aufs Leben. Der allein lebende Yohan, der auf einem Rennrad nachts seinen Stress auf einsamen Runden in einem Velodrom abbaut, wird schließlich den Kreis verlassen, um die Höhen jener Berge zu erklimmen, die im Tal die Sicht begrenzen.

König hört auf

(D 2022, Regie: Tilman König)

Kanzel Culture
von Jürgen Kiontke

„Halt die Klappe! Einfach mal die Schnauze halten!“ Lothar König kann ganz schön unwirsch werden, wenn ihm was nicht in den Kram passt. Gerade kämpft er mit einem Campingkocher – …

„Halt die Klappe! Einfach mal die Schnauze halten!“ Lothar König kann ganz schön unwirsch werden, wenn ihm was nicht in den Kram passt. Gerade kämpft er mit einem Campingkocher – und nicht nur der spurt nicht wie er soll.

Ebenso schnell beruhigt der Mann sich aber wieder. König dürfte nach Martin Luther der berühmteste Priester im Osten Deutschlands sein. Der Jenaer Jugendpfarrer hat sogar Prozesse über sich ergehen lassen müssen. 2011 wurde er wegen des Verdachts auf „schweren aufwieglerischen Landfriedensbruch“ von der Staatsanwaltschaft Dresden angeklagt. Welcher Geistliche kann das von sich behaupten? Im Prozess stimmten Aussagen nicht überein, entlastende Beweismittel waren auf einmal nicht bei den Akten.

Mit seinem VW-Bus (dem „Lauti“) hatte König damals an einer Gegendemonstration in Dresden teilgenommen. 3.000 Neonazis waren zum Jahrestag der Luftangriffe auf Dresden in die Innenstadt gekommen. Angeblich rief König zu Gewalt auf und fuhr Leute an. Erst 2014 wurde die Anklage mithilfe von bis dahin zurückgehaltenem Videomaterial entkräftet. Gleichzeitig erhielt der Pfarrer, ein Bundesland weiter, den Demokratiepreis von Thüringen und den Jenaer Preis für Zivilcourage – Deutschland schizophren!

Keine Antifa-Demo, die der Mann ausließ, Rückzug war für ihn bisher keine Option. Bis jetzt: Denn König, der 29 Jahre lang die Junge Gemeinde Jena geleitet hat, ist nun in Rente. „König hört auf“ lautet denn auch der Titel des Dokumentarfilms, der sein Wirken würdigt, aber auch einen ungeschönten Blick auf den prominenten und streitbaren Geistlichen wirft.

Was Wunder, hat den Film doch sein Sohn, der Filmemacher Tilman König gedreht. Der lässt den Vater auch mal ruppig auftreten, gern im Disput mit seiner nicht weniger kämpferischen Tochter Katharina König-Preuß, die für Die Linke im Thüringer Landtag sitzt. Voll drauf halten ist hier Programm. König-Sohn sagt über seinen Film: „Ich bin sehr dankbar für das entgegengebrachte Vertrauen und hoffe, bei den Zuschauern des Films zumindest Irritation hervorzurufen.“

Der Film enthält viele Szenen aus Jugendzentren und von Punkkonzerten, von den neunziger Jahren bis heute. Und auch Bilder aus DDR-Zeiten, wo der streitbare Mann schon bei Stasi und SED aneckte. Im Zentrum steht jedoch immer wieder Königs Wirken gegen die grassierende Nazi-Szene Ostdeutschlands, der er sich immer wieder entgegenstellt, Demos organisiert, Podien besetzt, dafür kämpft, dass insbesondere die Jugend nicht in den Rechtsextremismus abdriftet. Früh hat König vor der Gefahr des NSU-Terrors gewarnt, er kennt Rechtsextremistin Beate Zschäpe noch von Gegendemonstrationen. Und wurde wie andere Mitglieder seiner Familie Opfer von rechten Gewalttaten. Eine tiefe Narbe in seinem Gesicht kündet von einem solchen Angriff. Kaum denkbar, dass König in seinem Engagement nachlässt.

„Von Adorno stammt der Satz: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Ich sage: Doch das gibt es. Irgendwas, und wenn alles noch so schiefläuft, ist immer gut“, beschreibt er seine Lebenshaltung. Und wie sollte es auch für jemanden wie König ein falsches Leben geben?

Der mitreißende Film geht ab 17. November auf Tour, bei einigen Aufführungen wird Lothar König zugegen sein.

Diese Kritik erschien zuerst am 17.11.2022 auf: links-bewegt.de

Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen

(D 2022, Regie: Claudia Müller)

Konsequent antifaschistisch
von Jürgen Kiontke

Wenn man in Mürzzuschlag nach einem Ort sucht, der der Schriftstellerin Elfriede Jelinek gewidmet ist, sucht man ihn vergeblich. Mindestens ist er extrem gut versteckt. Der Geburtsort der Nobelpreisträgerin in …

Wenn man in Mürzzuschlag nach einem Ort sucht, der der Schriftstellerin Elfriede Jelinek gewidmet ist, sucht man ihn vergeblich. Mindestens ist er extrem gut versteckt. Der Geburtsort der Nobelpreisträgerin in der Steiermark geht wenig hausieren mit seinem berühmten Stadtkind. Vielleicht kein Wunder: Jelinek trägt neben dem berühmten Preis viele weitere Ehrungen mit sich herum. „Vaterlandsverräterin“, „Schmutzfink“ sind die gängigsten – und dann wohl die schlimmste: „Kommunistin“. Und während ihre Theaterstücke in der Hauptstadt Österreich und weltweit aufgeführt werden, erfuhr sie anderswo im Land Beschimpfungen.

Ihr Werk ist das einer originäre Literatin, wie es nicht viele gibt. Zu Beginn ihrer Karriere wartet Jelinek mit völlig neuer Sprache und einem provokanten Stil auf. In konsequenter Kleinschrift spielt sie in ihren Romanen Situationen tief empfundener Unterdrückung und Ungleichheit durch. „Wir sind Lockvögel, Baby“, „Michael“, „Die Klavierspielerin“, „Die Liebhaberinnen“, hier tritt eine völlig neue Kunst auf die Bühne. Herrschaftsverhältnisse der kapitalistischen Art: Eltern gegen Kinder, Mann gegen Frau, Fabrikbesitzer gegen Arbeiterklasse bearbeitet sie kritisch und parabelhaft in Spielsituationen. Und ist dabei unfassbar witzig.

Humor ist jedoch leider etwas, was ihrem Werk mit der Zeit abhanden kam. Vielleicht kein Wunder: Seitdem sie den Literatur-Nobelpreis erhielt, nahmen die Angriffe auf sie maßlos zu. Der Vorwurf: Mit ihren „Nestbeschmutzungen“ mache sie Weltkarriere. Doppelt übel nahm man ihr vor allem, dass sie immer wieder auf die Verstrickungen des prominenten österreichischen Personals, das sich das Nest so hübsch eingerichtet hat, mit dem Nationalsozialismus aufmerksam gemacht hat.

Dass sie heute sehr zurückgezogen lebt, hat damit zu tun. Der Regisseurin Claudia Müller ist es zu verdanken, dass Jelinek einen Blick in ihre Lebenswelt zulässt. „Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ heißt Müllers Dokumentarfilm, der stark an der Arbeit Jelineks ansetzt, um dann die Familiengeschichte nachzuzeichnen. Die Mutter aus dem Großbürgertum, der Vater ein jüdischer Chemiker mit starkem Hang zur Arbeiterbewegung, der später schwer erkrankte und in der Psychiatrie verstarb. Mutter Olga trimmte ihre Tochter auf Erfolgskurs, und zwar in der Musik: Elfriede Jelinek ist ausgebildete Organistin und spielt noch einige andere Instrumente. Eine Konzertprobe an der Kirchenorgel zeugt von ihrem Können.

Schreiben sei das einzige gewesen, wo die Mutter keine Aktien drin gehabt hätte, sprich Karrierepläne für die Tochter, erzählt die Schriftstellerin. Es wurde Jelineks ultimativer Rückzugsort. Vielschichtig, assoziativ, komplex, musikalisch fließend, feministisch – und konsequent antifaschistisch – das sind die Attribute ihres Stils, in dem sie Gedichte, Romane, Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher und, ja auch: Filmkritiken verfasst. Schauspieler wie Martin Wuttke und Sophie Rois rezitieren aus dem umfangreichen Werk. Ein prima Film!

Diese Kritik erschien zuerst am 10.11.2022 auf: links-bewegt.de

Menschliche Dinge

(FR 2021, Regie: Yvan Attal)

Schwierige Wahrheitssuche
von Wolfgang Nierlin

Eine Hülle aus Stärke und Ansehen umgibt die Pariser Familie Farel mit Wohlstand und Sicherheit. Schon die Nennung des Namens wirkt wie ein Signal für selbstverständliche Privilegien. In einer Parallelmontage …

Eine Hülle aus Stärke und Ansehen umgibt die Pariser Familie Farel mit Wohlstand und Sicherheit. Schon die Nennung des Namens wirkt wie ein Signal für selbstverständliche Privilegien. In einer Parallelmontage werden ihre Mitglieder zu Beginn von Yvan Attals Film „Menschliche Dinge“ („Les choses humaines“), einer Adaption des gleichnamigen Romans von Karine Tuil, vorgestellt und charakterisiert. Wenn der 22-jährige, ebenso gutaussehende wie intelligente Alexandre (Ben Attal), der an der kalifornischen Elite-Universität Stanford Bau- und Umwelttechnik studiert, am Flughafen eintrifft, wird er von einem Taxifahrer in Empfang genommen. In der äußerst geräumigen Wohnung seines Vaters Jean (Pierre Arditi), der als Fernsehjournalist arbeitet und zum Großoffizier der Ehrenlegion ernannt werden soll, führt eine Angestellte den Haushalt. Derweil ist Alexandres Mutter Claire (Charlotte Gainsbourg), eine bekannte Essayistin, in einem TV-Streitgespräch über Vergewaltigungsopfer zu sehen.

Elegante, in bläuliches Licht getauchte Cinemascope-Bilder von großzügigen, transparenten Räumen und glatten, spiegelnden Flächen kennzeichnen den äußeren Schein dieses großbürgerlichen Milieus und seiner sozialen Macht. Diese zeigt von Anfang an Risse: Die Eltern leben getrennt, haben wenig Zeit und stehen in ihren Berufen unter Druck; während sich Jean auf eine Affäre mit einer jungen Praktikantin einlässt, lebt Claire mittlerweile mit ihrem neuen Partner, dem Literaturprofessor Adam Wizman (Matthieu Kassovitz), zusammen, der aus einer orthodoxen jüdischen Familie stammt. Als sich dessen 17-jährige Tochter Mila (Suzanne Jouannet) und Alexandre an einem Familienabend kennenlernen und kurz darauf gemeinsam eine Party besuchen, kommt es zu einem verhängnisvollen Zwischenfall. Unter Alkohol- und Drogeneinfluss wird Mila von Alexandre verführt und vergewaltigt. So jedenfalls lautet die Anklage, die der mutmaßliche Täter vehement zurückweist, bis es schließlich zu einem öffentlichkeitswirksamen Prozess kommt.

Bevor zweieinhalb Jahre später die Gerichtsverhandlung stattfindet, in der sehr intensiv und detailliert die verschiedenen Positionen dargestellt werden, wechselt der Film in mehreren Kapiteln die Perspektiven. Dabei beleuchtet er auch das Herkunftsmilieu des Opfers, eine damit verbunden divergierende Sexualmoral, vor allem aber die Schwierigkeit, über eine Tat zu sprechen, die von Tabus und Scham umstellt ist. Während sich die Familien entzweien und an Reputation einbüßen, entfaltet Yvan Attal ein höchst vielschichtiges Gerichtsdrama klassischen Zuschnitts. In langen Plansequenzen wechseln sich Standpunkte und leidenschaftliche Plädoyers ab auf der Suche nach einer Wahrheit, die nicht eindeutig zu haben ist. Auch die auf 16mm gedrehten quasi-dokumentarischen Rückblenden auf den fraglichen Abend lassen bewusst eine Leerstelle offen.

Allerdings lässt der spannende und sehenswerte Film, dessen literarische Vorlage auf dem sogenannten „Stanford-Fall“ basiert, keinen Zweifel daran, dass eine toxische Mischung aus männlichem Überlegenheitsgefühl und sozialer Macht das in Frage stehende Verbrechen sehr wahrscheinlich machen; auch wenn es vor Gericht einmal heißt, es handle sich um „zwei Wahrnehmungen desselben Ereignisses“. Die Metoo-Debatte findet an diesem Beispiel jedenfalls viele Gründe für ihre weiterhin aktuelle Berechtigung.

Land of Dreams

(USA 2021, Regie: Shoja Azari, Shirin Neshat)

Land der Albträume
von Jürgen Kiontke

Die USA in naher Zukunft: Das Land hat seine Außengrenzen weitestgehend dicht gemacht. Wo die Behörden allerdings alles offen halten wollen, das ist bei denen, die in den Grenzen leben. …

Die USA in naher Zukunft: Das Land hat seine Außengrenzen weitestgehend dicht gemacht. Wo die Behörden allerdings alles offen halten wollen, das ist bei denen, die in den Grenzen leben. Die Regierungsbehörden stöbern sogar schon in den Träumen der Bürger*innen herum.

In ihrem neuen Spielfilm „Land of Dreams“ entwirft die New Yorker Künstlerin Shirin Neshat die Dystopie eines Staates, der wirklich alles kontrolliert – und zeigt zugleich, wie sich einzelne dieser Überwachung entziehen. Simin, die zentrale Figur des Films, mit den Eltern aus dem Iran eingewandert, als dies noch ging, ist im Außendienst eines „Zensusamtes“ tätig. Was erst einmal recht unverdächtig klingt, ist ein Kernbereich der Regierungsarbeit: Es geht darum, Gehirninhalte, genauer: die Träume auszuforschen. Die Interviewerin klopft für ihren Job an diverse Türen. Sie arbeitet als Protokollantin und lässt sich von den Bürger*innen deren Nächte schildern. Daraus erstellen die Behörden Überwachungsprofile. Eine Kommission wertet die Traumstatements aus. Nichts soll dem Zufall überlassen werden.

Simin ist eine Reisende, auf diese Weise kartografiert sie ihr Arbeitsgebiet, den mittleren Westen der USA. Die dramatische Grundanlage des Films fordert geradezu das Format des Roadmovie. Sie trifft eine Reihe skurriler wie abweisender oder verrückter Gestalten. Hoffnungen und Ängste in der Gegenwart der USA kommen deutlich zum Ausdruck. Ungefährlich ist der Job nicht immer, daher ist sie mit dem Aufpasser Alan unterwegs. Die Behörden rechnen jedoch nicht mit der Eigenwilligkeit der Beteiligten. Und auch Simin verarbeitet die Erfahrungen der ihr fremden Menschen mit ihren eigenen. Sie stellt die Träume auf Farsi vor der Kamera nach, teilt ihre Videos in den sozialen Medien.

Gibt es eine Grenze zwischen Traum und Realität? Hier ist sie auf jeden Fall nicht so dicht wie das US-Territorium nach außen. Überwachung und individuelle Freiheit kollidieren in vielerlei Weise. Neshat selbst sagt, sie habe in Vorbereitung des Films mit rund 200 Menschen Gespräche geführt, unterm Strich sei ein Kaleidoskop einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft entstanden. Enormer Reichtum und Ablehnung („So weit sind wir schon gekommen, Araber befragen Amerikaner.“) treffen auf krasse Armut – eine Betrachtung der Gegenwart aus nächster Zukunft.

„Land of Dreams“ ist dabei weniger analytisches denn assoziatives Kino – Neshat lässt die Bilder rauschen, setzt auf prägende Szenen. Wie etwa beim Besuch einer radikal-evangelikalen Sekte, deren Mitglieder in weißen Engelsgewändern und mit knallrot gefärbten Haaren um eine Greisin im Rollstuhl kreisen, die das Porträt ihres im Krieg verschollenen Enkels vor der US-Flagge im Arm hält. In diesem Land herrsche Gott, erklärt die Zeremonienmeisterin Simin. Ihr Kommentar: „Aus so einem Land komme ich auch.“

Ein eindrucksvoller Film, wenn auch alles andere als eingängig! In den Arbeiten Neshats – selbst 1957 im iranischen Qazvin geboren und seit geraumer Zeit Wahl-New Yorkerin – spielt die Kunst für das Streben nach individueller Freiheit, also ein zentrales menschenrechtliches Anliegen, eine große Rolle. Bereits ihr letzter Film „Auf der Suche nach Oum Kulthum“ (2018) über Ägyptens großen weiblichen Gesangsstar thematisiert diese Funktion künstlerischen Ausdrucks. Die Kunst bietet bei ihr das Potenzial, die Verhältnisse zu überwinden, indem man über sich selbst hinauswächst.

Daher stehen auch die Menschenrechte immer wieder im Zentrum ihres Schaffens. 2019 steuerte Neshat eine Arbeit ihrer Reihe „The Home of My Eyes“ der Grafikmappe „ART 19 – Box One“ bei. Ziel dieser Initiative ist es, mit dem Erlös der limitierten Kunstedition die Arbeit von Amnesty International für Menschenrechte zu unterstützen. Der Titel „Art 19“ steht dabei für den Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung“.

Diese Kritik erschien zuerst in: Amnesty Journal

Bis Freitag, Robinson

(FR 2022, Regie: Mitra Farahani)

Existentielle Traurigkeit, unauslöschliche Schönheit
von Wolfgang Nierlin

Die iranische Filmemacherin Mitra Farahani imaginiert einen Dialog zwischen zwei alten, bedeutenden Filmkünstlern, die sich nicht kennen, aber aufgrund ihres hohen Alters eine gemeinsame Vergangenheit teilen. „Ich bin eine Kraft …

Die iranische Filmemacherin Mitra Farahani imaginiert einen Dialog zwischen zwei alten, bedeutenden Filmkünstlern, die sich nicht kennen, aber aufgrund ihres hohen Alters eine gemeinsame Vergangenheit teilen. „Ich bin eine Kraft der Vergangenheit“, zitiert sie in ihrem dokumentarischen Filmessay „À vendredi, Robinson“ („Bis Freitag, Robinson“) deshalb Pier Paolo Pasolini. Später erklärt sie aus dem Off, die Prophezeiung eines indischen Wahrsagers auf einer Straße in Paris habe das Projekt angestoßen: „Sie werden Robinson treffen, er wird ihnen seine Worte schenken und es wird an einem Freitag passieren.“ Bei den beiden realen Inselbewohnern handelt es sich um den französisch-schweizer Filmemacher Jean-Luc Godard (geb. 1930) und um den iranischen Schriftsteller und Filmregisseur Ebrahim Golestan (geb. 1922). Vermittelt durch Farahani beginnen die beiden im Herbst 2014 eine Korrespondenz, die vielleicht ein Dialog ist. Diese findet via E-Mail statt. Immer freitags schickt JLG, der sich in der Folge mit Daniel Defoes Figur Freitag identifiziert eine Nachricht an den Robinson EG.

In einer Parallelmontage wechseln sich die beiden Insel-Schauplätze und ihre Bewohner ab, wobei Ähnlichkeiten und Unterschiede sichtbar werden. Während Godard seine mit Bildern, Filmen und Texten angereicherten Botschaften aus seinem kleinen, verwinkelten Haus in Rolle am Genfer See abschickt, antwortet ihm Golestan aus Wykehurst Palace, einem großen neogotischen Herrenhaus in Südengland, wo er seit 38 Jahren lebt. Räume, Flure, Treppen und Schatten werden zu visuellen Bindegliedern des kammerspielartigen Settings, während vor allem die Nachrichten Godards dem Empfänger immer wieder neue Rätsel aufgeben. Offensichtlich beeinflusst der Kino-Erneuerer mit seinen listigen, hintersinnigen Mails, die sich gewissermaßen zu einem (weiteren) Selbstportrait verdichten, auch die Ästhetik von Farahanis Film; was sich vor allem an der Montage von Bild und Ton, Musik und Zwischentiteln ablesen lässt.

Indem Godard den Sprachphilosophen Fritz Mauthner zitiert, beschreibt er sich von Anfang an als lebensmüde und einsam, als krank und in der Angst gefangen. Dabei beschäftigt ihn immer weiter die Differenz zwischen Sprache und Denken, die sich auch auf die (Un)möglichkeit bezieht, mit Wörtern und Bildern zu einer Darstellung der Wirklichkeit, zu einer Bedeutung oder einem Sinn zu kommen. Bei Godard geht diese sprach- und erkenntnistheoretische Skepsis aber nicht nur einher mit einem Zweifel an der Kunst und an den Möglichkeiten des Films („Das Kino stellt keine Fragen und gibt keine Antworten.“), sondern auch mit einer existentiellen Traurigkeit im Angesicht von Krankheit und Tod. Wiederholt zitiert er Elias Canetti: „Man ist nie traurig genug, um die Welt besser zu machen.“ Vor allem kommt er aber immer wieder auf den Schluss von Dashiell Hammetts letztem Roman „Der dünne Mann“ zurück, wonach alles „ziemlich unbefriedigend“ sei. Im Rückblick auf Godards selbstgewählten Tod im September dieses Jahres erscheinen diese Reflexionen wie eine Prophezeiung und zugleich wie ein Vermächtnis eines romantischen, nach dem Absoluten strebenden Sinnsuchers.

Auf den hochbetagten, aber vitalen Ebrahim Golestan, der sich mit seinem unerschütterlichen Optimismus fest und ganz selbstverständlich eingebunden fühlt in die geschichtlichen und kulturellen Traditionen, wirken Godards assoziativen, aus Fragmenten zusammengesetzten Botschaften zunächst befremdlich. Immer wieder rätselt er über Sinn und Bedeutung dieses Spiels, dessen Möglichkeiten vom Absender doch gerade fortgesetzt befragt und zugleich in Zweifel gezogen und dadurch gewissermaßen auch potenziert werden. Das postmoderne Bewusstsein Godards mit seiner Verzweiflung über eine zersplitterte, nicht fassbare Wirklichkeit trifft hier auf das Ganzheitsdenken eines Künstlers, der weder den Glauben an einen geschichtlichen Fortschritt noch die Hoffnung auf das Gute im Menschen aufzugeben bereit ist. Selbst in der Verwüstung findet Golestan, der den Freitod ablehnt, den Keim für ein neues, besseres Leben. Und auch der Tod der Schönheit, von Mitra Farahani mit traurigem Blick auf Godards angegriffene Gesundheit ins Spiel gebracht, schreckt ihn nicht: Die Quelle der Schönheit mag versiegen, doch ihr Gehalt werde weitergegeben und sich in anderen Formen zeigen.

Der Film ist vom 3.10. bis 8.12.2022 in der Arte-Mediathek zu sehen.

Rise up

(D 2022, Regie: Steffen Maurer, Marco Heinig, Luise Burchard)

Plädoyer für Engagement
von Jürgen Kiontke

Kali Akuno kämpft gegen den Rassismus in den USA – und gegen die Vereinzelung und Vereinsamung der Menschen. Zusammen mit seinen Mitstreitern versucht er, in seiner Kommune eine solidarische Ökonomie …

Kali Akuno kämpft gegen den Rassismus in den USA – und gegen die Vereinzelung und Vereinsamung der Menschen. Zusammen mit seinen Mitstreitern versucht er, in seiner Kommune eine solidarische Ökonomie zu implantieren.

Camila Cáceres sagt, ihr Heimatland Chile sei nicht viel mehr als eine Militärdiktatur mit WLAN. Ihr Ziel ist es, dort endlich Demokratie schaffen und am gleich die ganze Welt verändern – „da kriegt man Energie“.

Marlene Sonntag lebt für die kurdische Autonomie-Region Rojava in Nordostsyrien – besorgt Hilfsgüter, organisiert Strukturen. Ein gefährlicher Ort: Zunächst durch kurdische Einheiten von den Truppen des Islamischen Staats befreit, ist es seit Jahren immer wieder das Ziel türkischer Angriffe und Besetzungen.

Judith Braband, einige Jahre älter als die anderen, hat sich aktiv an der Demokratisierung der DDR versucht, saß dafür sogar ins Gefängnis. Zur Wendezeit war sie politisch sehr aktiv, u. a. als erste Geschäftsführerin der Vereinigten Linken in Deutschland. Sie zieht Bilanz ihrer politischen Kämpfe.

Shahida Issel war ANC-Aktivistin in Südafrika, hat ihr Leben dem Kampf gegen die Apartheid gewidmet. Auch sie schaut auf ein langes Engagement in außerparlamentarischen Kämpfen zurück.

Die fünf protesterfahrenen Menschen, die exemplarische soziale Kämpfe rund um die Erde repräsentieren, sind die Hauptdarsteller in dem Dokumentarfilm „Rise up“. Die Filmregisseure Marco Heinig, Steffen Maurer, Luise Burchard und Luca Vogel vom Video-Kollektiv „leftvision“ porträtieren sie für ihren zweiten Langfilm in ihrem Umfeld, mit ihren Ideen und Ansichten. „Heimgesucht von Albträumen auf der Suche nach Träumenden“, lautet das Filmmotto. Und darum geht es auch: Welche Befürchtungen und Hoffnungen haben Menschen, die sich in sozialen Auseinandersetzungen engagieren? Mit ihren Protagonisten begeben sich die Filmemacher auf die Suche nach Antworten auf die ökologischen, wirtschaftlichen Entwicklungen und in diesem Zusammenhang zunehmend autoritärer werdenden politischen Verhältnissen unserer Zeit. Ob feministischer Kampf in Südamerika, der Kampf um soziale Gerechtigkeit in Deutschland oder die ökonomische Emanzipation der afroamerikanischen US-Bürger, diese Beispiele sollen vor allem eine zeigen: Anders denken und handeln ist möglich. Auch wenn die Gegenangriffe brutal sind: Erfolge stellen sich immer wieder ein. „Wir leben in einem Zeitalter eingelöster Utopien“ – Verfechterinnen des Frauenwahlrechts sind früher auch ausgelacht worden“, heißt es im Film. „Rise up“, das mitgehende Plädoyer für das Denken einer besseren Welt, soll Kraft geben zu verändern.

Sozialer und politischer Kampf auf der Straße ist das Thema von Heinig, Maurer, Burchard und Vogel. 2018 haben sie „Hamburger Gitter“ in die Kinos gebracht, in dem es um die G20-Proteste in Hamburg 2017 ging. „Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, der Kollaps der Arbeiterbewegungen, all das hat politische Visionen geschwächt“, sagt Heinig. Ohne Visionen aber versage den Menschen der Mut – und Vorstellungen, wie es besser werden könne, verschwänden zunehmend aus dem Bewusstsein. „Es braucht die feste Überzeugung, dass eine bessere Zukunft möglich ist. Sie ist der Treibstoff aller großen Fortschritte, sie ist das, was auch uns antreibt.“

Diese Kritik erschien zuerst am 20.10.2022 auf: links-bewegt.de

Werner Herzog – Radical Dreamer

(D/USA 2022, Regie: Thomas von Steinaecker)

Visionär des Kinos
von Wolfgang Nierlin

„Ich träume nie“, gesteht Werner Herzog, während er unter dem tiefblauen Himmel Kaliforniens in seinem Auto eine von Palmen gesäumte Straße entlangfährt. Der deutsche Filmemacher, Schriftsteller und Abenteurer empfindet das …

„Ich träume nie“, gesteht Werner Herzog, während er unter dem tiefblauen Himmel Kaliforniens in seinem Auto eine von Palmen gesäumte Straße entlangfährt. Der deutsche Filmemacher, Schriftsteller und Abenteurer empfindet das durchaus als einen Mangel, den er dadurch kompensiere, dass er Geschichten erzähle, die wie Träume in uns schlummerten. Und weil der Weltensucher Herzog in seinen Spiel- und Dokumentarfilmen diese unmöglich erscheinenden Fantasien wirklich werden lässt, gilt er seinen Bewunderern und Weggefährten als „Visionär“ (V. Schlöndorff) und „mythische Figur“ (W. Wenders). Mit seiner „einzigartigen Sichtweise der Welt“ (R. Pattinson) mache er auf „hypnotische Weise“ (N. Kidman) „unmögliche Dinge möglich“ (J. Oppenheimer) und offenbar dadurch eine „ekstatische Wahrheit“ (C. Zhao).

Diese von Regisseuren und Schauspielern geäußerten Statements und ehrenden Superlative, die Thomas von Steinaecker in der Exposition seines Dokumentarfilms „Werner Herzog – Radical Dreamer“ relativ ungeordnet und abstandslos versammelt, zielen entsprechend auf eine Hommage. Weder kritisch noch analytisch unternimmt von Steinaecker einen materialreichen Streifzug durch Herzogs Leben und Werk, dem allerdings der rote Faden fehlt. Im schnellen Wechsel beliebig erscheinender Interview-Häppchen, Filmschnipsel, Kuriositäten und Ortsbegehungen bleibt vieles redundant oder nur streiflichtartig angerissen. Dabei beansprucht der Dokumentarfilmer, der auch als Schriftsteller arbeitet, offensichtlich selbst, eine unbekannte Realität sichtbar zu machen, wenn er eingangs ironisch angibt, der Film sei „nach einer wahren Begebenheit“ entstanden.

Ziemlich früh sagt der Portraitierte: „Alle meine Filme entstehen aus Schmerz. Das ist die Quelle. Daher kommen sie. Nicht aus Freude.“ Daraufhin besucht Thomas von Steinaecker das Dorf Sachrang an der Grenze zu Tirol, wo Herzog in den letzten Kriegsjahren mit seiner Mutter, zwei Brüdern und einer Schwester unter Entbehrungen aufwuchs. Er macht uns bekannt mit Herzogs „Seelenlandschaft“, seinem Traum vom Fliegen und seiner „Suche nach neuen Bildern“, die dann vor allem in den schwierigen Dreharbeiten zu „Aquirre, der Zorn Gottes“ und „Fitzcarraldo“ zu immer neuen Grenzverschiebungen ins Extreme, schier Unüberwindliche führen und in der wiederholten Zusammenarbeit mit dem unberechenbaren Klaus Kinski auch an menschliche Grenzen stößt. Wie und warum Werner Herzog dabei an eine Wahrheit rühre, die jenseits der Tatsachen liege, wird dadurch kaum verständlich. Dass der Extremfilmer in den darauffolgenden Jahren im Land der unbegrenzten Möglichkeiten zur Kultfigur avancierte, die gar die Zeichentrickserie „Die Simpsons“ inspirierte, erscheint allerdings geradezu plausibel.

Der Passfälscher

(DE/LU 2022, Regie: Maggie Peren)

Ein Schicksal im Nationalsozialismus
von Jürgen Kiontke

Wir befinden uns im Berlin des Jahres 1942. Der junge jüdische Grafiker Cioma Schönhaus wird von den Nationalsozialisten bedrängt, lässt sich aber nicht so schnell einschüchtern. Weil er einer sogenannten …

Wir befinden uns im Berlin des Jahres 1942. Der junge jüdische Grafiker Cioma Schönhaus wird von den Nationalsozialisten bedrängt, lässt sich aber nicht so schnell einschüchtern. Weil er einer sogenannten kriegswichtigen Arbeit nachgeht, hat man ihn noch nicht ins Konzentrationslager abtransportiert. Aber dann steht die Gestapo immer öfter bei ihm auf der Matte. Als es zu gefährlich wird – die Nachbarn tun ihr Übriges in Sachen Denunziation – tauchen er und sein Freund unter. Ein Anwalt rät ihm: „Erzählen Sie den Leuten, was sie hören wollen. Das macht der Führer auch.“

Diesem Rat folgt er. Aber Schönhaus verfügt auch über ein rares Talent: Er kann Pässe fälschen wie kein anderer. Vielen verhilft er zu Dokumenten für die Ausreise. Mit dieser Fähigkeit, unter einigen Pseudonymen und mit vielen guten Ideen gelingt es ihm, den Behörden ein ums andere Mal zu entgehen.

Maggie Perens Film „Der Passfälscher“ basiert auf einer echten Geschichte, erzählt von Schönhaus, der im Jahr 2015 verstarb, in seinem autobiografischen Bericht gleichen Titels. Geschätzt 7.000 Juden lebten zeitweise unerkannt während des Krieges in Berlin, aber nur wenige konnten bis Kriegsende durchhalten. Die Methoden der Nazi-Behörden waren dabei allzu effektiv. Schönhaus selbst schaffte es in die Schweiz als vermeintlicher Wehrmachtssoldat – stilecht mit falschem Wehrpass.

Peren verfilmt Schönhaus‘ Lebensgeschichte als Porträt eines schelmischen, charmanten Überlebenskünstlers, der sich durch die Ereignisse nicht erschüttern lässt. Das scheint manchmal nicht ganz überzeugend, dürfte der Nationalsozialismus als Quasi-Bühnenprospekt für eine zumindest in manchen Teilen als Köpenickiade daherkommende Aufführung nicht immer geeignet sein. Das Ganze ist als wenig spannendes Kammerspiel in düstereren Räumen unter Zuhilfenahme einer durchdringenden Filmmusik inszeniert. Das Ensemble spielt immerhin tapfer gegen diese bildarme Inneneinrichtung an.

Diese Kritik erschien zuerst am 17.10.2022 auf: links-bewegt.de

Die Schwalben von Kabul

(FR/LU/CH 2017, Regie: Zabou Breitman, Eléa Gobbé-Mévellec)

Mit den Mitteln des inneren Widerstands
von Wolfgang Nierlin

Aus dem Off dringen Straßengeräusche, Verkehrslärm und aufgeregtes Stimmengewirr. Verhüllte Frauen, kleine Marktstände und Ruinen bestimmen das Straßenbild. Vor allem aber sind es die patrouillierenden und marodierenden Banden der Taliban, …

Aus dem Off dringen Straßengeräusche, Verkehrslärm und aufgeregtes Stimmengewirr. Verhüllte Frauen, kleine Marktstände und Ruinen bestimmen das Straßenbild. Vor allem aber sind es die patrouillierenden und marodierenden Banden der Taliban, die im Sommer des Jahre 1998 die Szenerie in der afghanischen Hauptstadt Kabul beherrschen. Mit Gewalt und Schrecken drangsalieren und terrorisieren sie die Menschen. Kleinste Vergehen werden drakonisch bestraft, worunter besonders die Frauen leiden. Eine von ihnen wird wegen angeblicher Unzucht öffentlich gesteinigt, bis sie tot ist und sich das Blau ihrer Burka blutrot färbt. In dieser Atmosphäre aus Angst und Verzweiflung, Not und Unterdrückung ist der Roman „Die Schwalben von Kabul“ („Les Hirondelles de Kaboul“, 2002) des algerischen Schriftstellers mit dem Pseudonym Yasmina Khadra angesiedelt. Dieses Buch haben Zabou Breitman und Éléa Gobbé Mévellec unter dem gleichnamigen Titel für ihren Animationsfilm adaptiert, um von der Sehnsucht nach einer verbotenen Freiheit zu erzählen.

In luftig aquarellierten Bildern einer blassen Farbigkeit, deren Flächen in leichte Schatten auslaufen, sich dem ockerfarbenen Staub oder aber dem hellen Nichts annähern, entwickeln die beiden Filmemacherinnen eine parallele Erzählung. Mit einem leichten, starke Kontraste meidenden Pinselstrich schaffen sie Raum für subjektive Blicke auf Details und auf die Kargheit eines zerstörten Lebens, für markante Symbole und stimmungsvolle Stadtansichten. Die im Titel aufgerufenen Schwalben symbolisieren dabei die Ambivalenz zwischen realer Gefangenschaft und dem Traum, diese zu überwinden. Dieses Motiv spiegelt sich auch im vergitterten Gesichtsfeld der Burka (die in Afghanistan und im Film Tschadari genannt wird) und den in ein kaltes Nachtblau getauchten kahlen Gefängnisgängen, während die Ruinen der Universität und des Kinos als steinerne Zeugen einer zerstörten Kultur fungieren.

Mit beiden Orten sind die jungen Eheleute Mohsen und Zunaira verbunden, die sich mehr schlecht als recht in der inneren Emigration eingerichtet haben. Der Geschichtsabsolvent und die Malerin, die heimlich Popmusik hört, hoffen auf eine freiere Zukunft. Doch Mohsen ist nachdenklich und deprimiert und leidet außerdem an Schuldgefühlen, weil er gegen seinen Willen an besagter Steinigung teilgenommen hat. Als es zu einem tragischen Unglücksfall kommt und Zunaira daraufhin als eine zum Tode Verurteilte unschuldig inhaftiert wird, kreuzt sich ihre Geschichte mit derjenigen des Gefängnisaufsehers Atiq, einem ehemaligen Kämpfer der Taliban. Der versehrte Kriegsveteran leidet wiederum unter Schuldgefühlen gegenüber seiner schwerkranken Frau Mussarat und hadert zunehmend mit seiner Rolle in einem System, dessen Ideologie er nicht mehr versteht und dessen Doppelmoral er ablehnt. In seiner Gefangenen Zunaira sieht er ein Opfer, das es zu befreien gilt.

Es ist die relative Zuversicht der Frauen, mit der diese gegen die allgemeine Repression opponieren und ein Gegengewicht bilden zu den niedergedrückten, desillusionierten Männern. Ein alter Professor drückt das stellvertretend aus, wenn er sagt, man müsse „hier bleiben“ und „von innen heraus für seine tiefsten Werte kämpfen, um die Kinder des gemarterten Landes zu retten“. Um Leben, Liebe und Menschlichkeit zu vermitteln, hat er eine Art „Geheimschule“ gegründet. Immer wieder zeigt der sehr ökonomisch erzählte Film in feinen Nuancen den schmalen Grat zwischen öffentlicher Überwachung und klandestiner Solidarität, auf dem sich die unterdrückten Menschen fortwährend bewegen. Am ambivalenten Schluss des Films wird ausgerechnet die Burka, Sinnbild der Diskriminierung, zum Mittel der Tarnung und Täuschung; und damit auch zum widersprüchlichen Symbol der Befreiung.

Der Film wird am 20.10.2022 um 0:10 Uhr auf Arte erstausgestrahlt und ist außerdem bis zum 25.10. in der Mediathek zu sehen.

Belleville, belle et rebelle

(FR 2021, Regie: Daniela Abke)

Das Verschwundene bewahren
von Wolfgang Nierlin

„Besser schön und rebellisch als hässlich und langweilig“, lautet der kämpferische Wahlspruch, der Daniela Abkes Dokumentarfilm „Belleville, belle et rebelle“ den Titel gab. Zitiert wird er von der Sängerin Minelle …

„Besser schön und rebellisch als hässlich und langweilig“, lautet der kämpferische Wahlspruch, der Daniela Abkes Dokumentarfilm „Belleville, belle et rebelle“ den Titel gab. Zitiert wird er von der Sängerin Minelle Guy, die mit ihrem Akkordeon und einem Repertoire an alten Liedern im Restaurant „Le Vieux Belleville“ Gesangsabende veranstaltet. Dessen Besitzer Joseph Pantaleo öffnet morgens die Türen und Fenster zu seinem „Restaurant Musette“, das als Treffpunkt unterschiedlichster Quartier-Bewohner zum Spiegelbild des titelgebenden Pariser Stadtviertels Belleville, seiner Geschichte und seines rebellischen Geistes wird. „Vive la commune, 1871“ ist in eine Hauswand des geschichtsträchtigen Viertels im 20. Arrondissement geritzt, das traditionell von Einwanderern, Künstlern und Linken bevölkert wird.

Zu ihnen gehört auch der hochbetagte Maurer und baskische Anarchist Lucio Urtubia (1931-2020), der das Kulturzentrum „Espace Louise Michel“ in der Rue des Cascades leitet und noch immer angriffslustig und humorvoll seine Ideale verteidigt. „Anarchie ist der höchste Ausdruck der Ordnung“, steht auf einem Schild vor seiner Eingangstür. Zusammen mit dem Fremdenführer Olivier Loudin geht er über den nahen Friedhof Père Lachais, um die Gräber ehemaliger Mitglieder der Pariser Kommune zu besuchen. An der Ruhestätte von Jean-Baptiste Clément stimmen die beiden dessen Liebes- und Protestlied „Le temps des cerises“ an. Überhaupt wird in Daniela Akes in Schwarzweiß und Cinemascope gedrehtem Film viel gesungen, als versicherten sich die Menschen dadurch ihrer Geschichte, ihren Gefühlen und ihres Zusammenhalts.

Für den ebenfalls 1931 geborenen Erzieher, Filmemacher und Schriftsteller Robert Bober, der einst auch Assistent von François Truffaut war, ist in den Liedern das Verschwunden aufbewahrt. So sammelt er alte Liedblätter, daneben aber auch alte Fotografien, auf denen zu sehen ist, was heute durch Abriss und städtebauliche Neuordnung fehlt. Dabei erinnert Bober feinsinnig auch an jene Häuserzeilen, die einst dem Regisseur Jacques Becker für seinen Film „Goldhelm“ als Kulisse gedient haben. Auch der Wirt des „Vieux Belleville“ ist ein leidenschaftlicher Nostalgiker, der auf Fotografien von Robert Doisneau seinen Kindheitserinnerungen nachspürt und einen Maler beauftragt, auf den Wänden seines Lokals die früheren Straßenansichten zu verewigen. So wird Daniela Abkes vielstimmiges Portrait eines Stadtviertels nicht nur zur romantisch verklärten Hommage an linke Ideale, sondern zugleich zu einem Zeugnis der in Liedern, Geschichten und Fotografien bewahrten Erinnerung an eine verschwundene Zeit.

Horizont

(FR 2021, Regie: Emilie Carpentier)

Widerstand wird wieder hip
von Marit Hofmann

„La pollution – c’est nous!“, krähen die aufgedrehte Adja und ihre Party-Queens, als sie in einen Stau geraten, weil Umweltaktivist*innen die Straße blockieren. „Wir sind die Umweltverschmutzung!“ Auf die Instagram-affinen, …

„La pollution – c’est nous!“, krähen die aufgedrehte Adja und ihre Party-Queens, als sie in einen Stau geraten, weil Umweltaktivist*innen die Straße blockieren. „Wir sind die Umweltverschmutzung!“ Auf die Instagram-affinen, konsum- und feierfreudigen jungen Frauen wirken die engagierten Jugendlichen, darunter ihr Klassenkamerad Arthur, die in einem Vorort von Paris den Bau eines riesigen Freizeitparks und die Vertreibung der Bauern von diesem Gebiet verhindern wollen, „wie eine Sekte“. „Da haben unsere Eltern das Dorf verlassen, um weiterzukommen, und jetzt bringen die uns das Dorf zurück.“

Erst als das Haus ihrer Familie im Senegal vom steigenden Meeresspiegel bedroht ist, kommt Adja, die außerdem mit der Aussicht auf einen Pflegejob im Altersheim hadert, ins Grübeln. Dass sie auf der Suche nach sich selbst zur Aktivistin der Klima- und Umweltbewegung wird, erklärt der Film „Horizont“ allerdings vor allem damit, dass sie sich in Arthur verknallt und bei Besuchen in seiner Ökolandbau-Kommune mehr und mehr seine Beweggründe versteht.

Émilie Carpentier hat sich bei Filmworkshops, die sie in einem Nachbarschaftshaus südlich von Paris angeboten hat, in die „erfrischende Energie und Vorliebe für provokante Rhetorik … der Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ verknallt, denen sie den Film widmet und die ihren „Blick auf die französische Gesellschaft komplett“ verändert haben: „Ich, die ich nach der Vorgabe ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘ einer öffentlichen Schule aufgewachsen war, erkannte, dass dieses Motto nicht der Realität entsprach, in der sie lebten, dass die Ressourcen sich unterschieden, je nach Schule, Bezirk.“ Zwei ehemalige Workshop-Teilnehmerinnen, Assmar Abdillah und Dany Bomou, schreiben am Drehbuch von „Horizont“ mit.

Herausgekommen ist ein eher hölzernes Skript für einen Selbstverständigungsfilm der Fridays-for-future-Jugend, der allerdings auch Klassismus und Rassismus mit im Blick hat. Während sich Adja zunächst von den privilegierten weißen Hippies abgrenzt, solidarisieren sie sich mit ihr, als die Polizei die schwarze Mitstreiterin, die überraschend schnell zur Wortführerin mutiert, ins Visier nimmt.

Carpentiers Ehrgeiz, „die Banlieues anders zu betrachten, … nicht als heruntergekommenen, abgelehnten Stadtteil, sondern als Beginn der Landschaft, als Tor zur Natur“, setzt sich mit einer von oben gefilmten Verfolgungsjagd durch ein an die Stadt grenzendes Getreidefeld ins Bild. Die Kamera erlaubt sich manche Kapriolen und steht auch mal Kopf. In der Schlusseinstellung bilden „diese großartigen jungen Menschen“, wie Carpentier schwärmt, die „die kommende ökologische Katastrophe an den Rand des Nichts gedrängt“ hat, „eine energetische Linie, wie ein leuchtender Horizont für das Frankreich von morgen“.

„Horizont“ ist ein Film wie ein Demo-Soundtrack, platt agitierend, dabei dank der vielseitigen Hauptdarstellerin Tracy Gotoas und mit einem aufputschenden Popmix streckenweise mitreißend und nicht unsympathisch. Nichts dagegen, dass Widerstand wieder hip wird. Aber „Horizont“ – laut Carpentier „demütig … inspiriert“ von Jean-Luc Godards „Kindern von Marx und Coca-Cola“ – überzeugt allenfalls als Jugendfilm, wobei auch dieses Genre mehr Komplexität und Tiefe vertragen könnte.

Diese Kritik erschien zuerst am 6.10.2022 auf: ND

Rimini

(AT/FR/DE 2022, Regie: Ulrich Seidl)

Das Leben als Kneipp-Tour
von Wolfgang Nierlin

Frontal und aus der Distanz aufgenommen, blicken wir auf eine Gruppe alter Menschen, die, in gerader Linie aufgereiht, auf ihren Rollstühlen oder hinter ihren Rollatoren sitzen und mit gebrechlichen Stimmen …

Frontal und aus der Distanz aufgenommen, blicken wir auf eine Gruppe alter Menschen, die, in gerader Linie aufgereiht, auf ihren Rollstühlen oder hinter ihren Rollatoren sitzen und mit gebrechlichen Stimmen ein Lied singen: „So ein Tag, so wunderschön wie heute“. Das statische Bild wirkt in seiner Stilisierung kühl und sachlich, die darin arrangierten Figuren, vermutlich Laienspieler, wirken ausgestellt, fast vorgeführt; der umgebende leere Raum verstärkt die trostlose, deprimierende Atmosphäre, wobei der kontrastierende Text des angestimmten Liedes fast schon zynisch, zumindest aber ironisch verstanden werden kann oder muss. Vielleicht zeigt dieses Bild ganz allgemein die traurige Realität des Menschen und einen Alltag, der als wenig kinotauglich gilt. Die kalkulierte Inszenierung, die für die Filme des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl charakteristisch ist, spricht jedoch eine andere Sprache. Es fällt schwer, in den oft plakativ und überdeutlich mit schlechtem Geschmack und hässlicher Trivialität ausgestatteten Szenen empathische Züge aufzuspüren. Das Altenheim, in dem zu Beginn ein Bewohner vergeblich nach einem Ausgang sucht, heißt übrigens „Waldesruh“. Die Flure sind lang und kalt, die Türen verschlossen.

„Ach wie bald entschwinden frohe Stunden“, ist konsequenterweise dann auch die Liedzeile, mit der ostentativ die triste Geschichte über das traurige Leben eines abgehalfterten Schlagersängers ihren Ausgang nimmt. Nach der nicht minder trostlosen Bestattung seiner Mutter („Was bleibt, ist die Erinnerung und ein Dankeschön.“) reist Richie Bravo (Michael Thomas) zurück in sein Domizil im titelgebenden Rimini an der italienischen Adriaküste. Es ist Winter und neblig, es regnet und schneit sogar, die Strände sind leer und die Hotels verlassen. Nur afrikanische Flüchtlinge kauern da und dort demonstrativ im Sand oder auf Gehsteigen. Wenn Richie Bravo gerade nicht mehr oder weniger besoffen im Nerzmantel durch diese unwirtliche Szenerie stapft, bespaßt er mit seinen Herz-Schmerz-Schnulzen betagte Kaffeefahrttouristinnen, die sich damit wohlig ihre verlorenen Sehnsüchte und Träume in Erinnerung rufen. „Das Leben ist eine Kneipp-Tour“, behauptet der Animateur mit tiefem Blick und unwiderstehlichem Charme. Seinen Verehrerinnen will er mit „Amore mio“ „Hoffnung ins Herz“ setzen.

Dabei bräuchte der stets klamme Lebenskünstler selbst welche. Weil das Geld nicht reicht, bietet er ausgewählten Damen seine Liebesdienste an. Außerdem vermietet er seine mit Fan-Devotionalien bestückte Wohnung, während er selbst in einem spartanischen Hotelzimmer eincheckt. Als schließlich auch noch seine erwachsene Tochter Tessa (Tessa Göttlicher) mit Unterhaltsforderungen auftaucht, ist der findige Mogler Richie, der sich vielleicht selbst betrügt, aber alles vermutlich ganz ernst meint, nur fast im Arsch. Denn „immer wieder geht die Sonne auf“. Reumütig spielt der verkorkste Vater mit schmutzigem Sex und Suff seine letzte Karte aus. Denn natürlich sind in Ulrich Seidls gewohnt schonungslosem Film sämtliche Beziehungen auf den Tausch von Geld und zwischenmenschliche Abhängigkeitsverhältnisse gebaut. Dass dabei Richies Wohnung irgendwann zu einer Art Flüchtlingscamp mutiert, ist wohl weniger als Utopie denn als realpolitische Satire zu verstehen. Dass Hans-Michael Rehberg in seiner letzten Rolle als Richies dementer Altnazi-Vater am Ende mit brüchiger Stimme „Fremd bin ich eingezogen“ aus Schuberts „Winterreise“ haucht, spitzt diesen trostlosen Eindruck schließlich ins Existenzielle zu.

Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod

(D 2022, Regie: Cem Kaya)

Popgeschichte
von Jürgen Kiontke

Als in den 1960er Jahren die ersten sogenannten Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland kamen, brachten sie im Gepäck ihre Musik mit. Aus der traditionellen Ausrichtung wurde schnell ein Pop-Phänomen, …

Als in den 1960er Jahren die ersten sogenannten Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland kamen, brachten sie im Gepäck ihre Musik mit. Aus der traditionellen Ausrichtung wurde schnell ein Pop-Phänomen, das hauptsächlich auf Musikkassetten vertrieben wurde und erst später in das Heimatland Türkei zurückwirkte. Im neuen Land entstanden melancholische Musikstile wie die „Gurbetçi-Lieder“ (Lieder aus der Fremde). Yüksel Özkasap (die „Nachtigall von Köln“) oder Aşık Metin Türköz wurden viel gebuchte Musiker.

Ihnen folgten Künstler wie das Duo Derdiyoklar, Ozan Ata Canani oder Cem Karaca, die zu den eher folkloristischen Elementen der Musik eine gesellschaftskritische Textebene entwickelten: Trennung von den Angehörigen, schwere Schichtarbeit, schwierige Chefs, Arbeitsunfälle und nicht zuletzt ein oft ablehnendes Klima wurden thematisiert. Stoff für Songs gab es jede Menge.

Regisseur Cem Kaya setzt dieser Musik in seinem spektakulären Film „Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod“ ein Denkmal – nicht ohne zu betonen, dass dieser Pop eine kultureller Mischmaschine erster Güte war: Weil die Arbeiter aus allen Teilen der Türkei und darüber hinaus kamen, mussten etwa Hochzeitsmusiker auch viele Stile beherrschten, aus dem sie dann letztlich einen machten, der alle Facetten abdeckte. Konzertaufnahmen etwa von Derdiyoklar Ali machen dies deutlich; ein Multiinstrumentalist, der zur türkischen Musik auch arabische Stile und englischen Rockmusik addierte. In der Türkei gab es dafür allerdings durchaus Ärger, vor allem zu Zeiten der Militärdiktatur in den 1980er Jahren: Dort wurden die Künstler aus Deutschland bisweilen als Protestsänger einsortiert, und manch einer verbrachte dort sogar Zeit im Knast.

Der musikalische, politische – und nicht zu vergessen: äußerst kurzweilige – Rundgang durch sechs Jahrzehnte Musikgeschichte mit umwerfenden Konzertszenen und Interviews voller Wortwitz und Charme umreißt auch die Folgen politischer Ereignisse wie der Wiedervereinigung und die rassistischen Anschläge in ihrem Gefolge. Besser geht Dokumentar-Kino nicht.

Diese Kritik erschien zuerst am 29.09.2022 auf: links-bewegt.de

Peter von Kant

(FR 2022, Regie: François Ozon)

Hoffnungslos liebeskrank
von Wolfgang Nierlin

Köln 1972. Hinter einer breiten Fensterfront wird ein schwerer, roter Vorhang aufgezogen. Wie im Theater fällt der Blick auf eine Bühne, die aus einem geräumigen Wohnatelier besteht und mit flauschigen …

Köln 1972. Hinter einer breiten Fensterfront wird ein schwerer, roter Vorhang aufgezogen. Wie im Theater fällt der Blick auf eine Bühne, die aus einem geräumigen Wohnatelier besteht und mit flauschigen Teppichen, weinroten Tapeten und Reproduktionen des heiligen Sebastian ihre dunkle Künstlichkeit ausstellt. Von Schlaflosigkeit und Albträumen geplagt, beginnt hier der gefeierte Filmregisseur Peter von Kant (Denis Ménochet) seinen Tag, gehorsam unterstützt von seinem treuen Assistenten Karl (Stefan Crépon). Der Künstler ist ein getriebener Machtmensch, der exzessiv trinkt, raucht und kokst und die Menschen in seinem Umfeld hemmungslos manipuliert und ausbeutet. Das macht ihn ebenso stark wie einsam. Seit er sich von seinem langjährigen Geliebten Franz getrennt hat, werden seine Leiden noch ärger. „In jeder Liebesbeziehung gewinnt die Unzulänglichkeit“, sagt er zu seiner Muse Sidonie (Isabelle Adjani), die er einst zum Star gemacht hat. Jeder Mensch brauche andere Menschen, habe aber das Zusammensein nicht gelernt.

In seinem Kammerspiel „Peter von Kant“ hat der französische Regisseur François Ozon nach „Tropfen auf heiße Steine“ zum zweiten Mal einen Stoff seines verehrten Vorbildes Rainer Werner Fassbinder adaptiert. Unter vertauschten Geschlechterrollen und mit einem Wechsel ins Filmmilieu erzählt er noch einmal dessen Film und Theaterstück „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ (1972). Diese Umformung gibt Ozon zugleich die Möglichkeit, nicht nur vom Drama unerfüllter Liebe zu erzählen, sondern zugleich ein Künstlerportrait zu entwickeln, das unverkennbar Fassbinder meint. Im Spiegel dieser Widmung erforscht sich Ozon außerdem selbst, indem er die komplexen Wechselwirkungen zwischen Kunst und Leben dezidiert und sehr intensiv in den Mittelpunkt rückt.

Sein herrischer und auch gegenüber sich selbst rücksichtsloser Protagonist Peter von Kant ist nämlich ein Filmregisseur, der die Geschichten und Gefühle seiner Schauspieler rigoros vereinnahmt. Besonders deutlich wird das in einer Casting-Szene, die als Film-im-Film inszeniert ist und in der sich der Meisterregisseur die traurige Lebensgeschichte seines neuen Schwarms und Schutzbefohlenen Amir Ben Salem (Khalil Gharbia) erzählen lässt. Der 23-jährige ist schön, ahnungslos und unerfahren; er hat weder einen Plan noch ein Ziel. Und so verspricht ihm Peter von Kant, während er sich unsterblich in den jungen Mann verliebt, Amir zu einem Star aufzubauen und mit ihm die Welt zu erobern. „Tod ist heißer als Liebe“, heißt der in Anspielung auf einen Fassbinder-Titel veröffentlichte Film, mit dem das gelingt und der in Cannes gefeiert wird.

Nach einem Zeitsprung von neun Monaten sind damit aber auch die Kräfteverhältnisse umgedreht. Emotional abhängig und mit seinen obsessiven Gefühlen im Ungewissen gelassen, leidet Peter von Kant jetzt unter Eifersucht und einer unerwiderten Liebe. An seinem Geburtstag, mit einem weißen Anzug bekleidet, kehrt er schonungslos und impulsiv seine leidenschaftlichen Gefühle und inneren Kämpfe nach außen und gegen andere. Wie ein Berserker wütet er gegen seine Mutter (Hanna Schygulla), gegen seine Tochter (Aminthe Audiard) und gegen Sidonie, die ihn schmerzlich an den Widerspruch zwischen seinem Werk und seinem Leben erinnert und ihn in ihrer Abwehr als „größten Cineasten und menschliche Scheiße“ bezeichnet. Und so wird Peter von Kants Suche nach der „schönen, reinen Liebe“ desillusioniert, während noch einmal das Lied „Jeder tötet, was er liebt“ gespielt wird. Von der Mutter getröstet, allein und verlassen, ist der letzte Blick des Liebeskranken, hinaus ins Freie jenseits der Bühne, trotzdem nicht ohne Hoffnung.

Mittagsstunde

(D 2022, Regie: Lars Jessen)

Auf dem Dorf
von Jürgen Kiontke

Der 47-jährige Ingwer hat es geschafft: Dozent an der Kieler Uni, ein nettes Zusammenleben mit Frau und einem weiteren Mann, das ihn aber zusehends nervt, weil die beiden immer öfter …

Der 47-jährige Ingwer hat es geschafft: Dozent an der Kieler Uni, ein nettes Zusammenleben mit Frau und einem weiteren Mann, das ihn aber zusehends nervt, weil die beiden immer öfter an der Flasche hängen. Kurz: Sein Leben kotzt ihn gehörig an. Seit geraumer Zeit sucht er nach dem Sinn des ganzen, aber der will ihm dort einfach nicht begegnen.

Ingwer stammt vom Land, in seinem Heimatdorf Brinkebüll betreiben die Eltern den renovierungsbedürftigen Gasthof. Die „Olen“ kommen seit einiger Zeit nicht mehr allein klar: Mutter ist dement und verirrt sich täglich, wobei sie zu lebensgefährlichen Eingriffen in den Straßenverkehr neigt. Denn das Dorf steht nicht mehr für ein irgendwie geartetes Zusammenleben, sondern ist vor allem Durchfahrtsort für Schwertransporte. Und auch der Vater ist bald todgeweiht, kann sich kaum allein waschen. Gut, dass Ingwer noch Zivildienst absolviert hat.

Der Ort hat sich in den Jahren gewandelt: Draußen ist kaum einer zu sehen, die Jüngeren sind weggezogen, und wer von den Schulfreunden noch in Brinkebüll lebt, ist entweder schrullig oder bei der Line-Dance-Gruppe oder beides. Alte Kastanie? Weg. Erste Liebe? Unbekannt verzogen. Auf den Feldern wächst der Mais, Flüsse und Straßen sind begradigt, die Zugezogenen pendeln und schauen Heimkino. Ingwer muss sich hier zurechtfinden und seine alten Eltern mit ihm.

Regisseur Lars Jessen bringt dieses Szenario, das die Autorin Dörte Hansen in ihrem gleichnamigen Bestseller entworfen hat, nun mit Charly Hübner, der den Ingwer mit dem Gestus eines stehenden Sturmlaufs zwischen passiver Aggressivität und rührender Besorgtheit spielt, auf die Leinwand. Nicht nur die Entwicklung abseits liegender Dörfer wird nachgezeichnet, sondern auch das Verhältnis der Generationen neu vermessen. Da die hochbetagten Eltern, die ihr Leben mit Arbeit und Familie verbrachten, da der nun im unkonkreten Beziehungswirrwarr eigentlich alleinstehende Sohn, der sich mit der Einfachstrukturiertheit seiner Aufgabenstellung – der Pflege dieser Eltern – erstaunlich gut arrangiert. Denn die ist zwar klar definiert, wenn auch voller Mühen.

„Eine Kultur zu definieren, die von den Menschen, die diese Kultur gelebt haben, wahrscheinlich nicht einmal selbst als solche empfunden wird oder besser wurde“, sei die große Leistung Hansens gewesen, sagt Jessen. Mit einem gut ausgewählten Ensemble absolviert er die Aufgabe, dies zu visualisieren, bravourös.

Diese Kritik erschien zuerst am 22.09.2022 auf: links-bewegt.de

Komm mit mir in das Cinema – Die Gregors

(D 2022, Regie: Alice Agneskirchner)

Schlüsselfiguren der Filmvermittlung
von Wolfgang Nierlin

„Komm mit mir in das Cinema / Dort findet man, was einmal war: / Die Liebe!“, lauten die ersten Zeilen eines Gedichts von Else Lasker-Schüler, das Alice Agneskirchners umfangreichem Film …

„Komm mit mir in das Cinema / Dort findet man, was einmal war: / Die Liebe!“, lauten die ersten Zeilen eines Gedichts von Else Lasker-Schüler, das Alice Agneskirchners umfangreichem Film über „Die Gregors“ den Titel gab. Denn die mittlerweile hochbetagten Filmvermittler und passionierten Kinomacher Ulrich (geb. 1932) und Erika (geb. 1934) Gregor, die heute über sechzig Jahre miteinander verheiratet sind, begegneten sich einst im Wintersemester 1957/58 währen einer Vorführung des Stummfilmklassikers „Menschen am Sonntag“ (1930) im Audimax der Freien Universität Berlin. Damals leitete Ulrich Gregor im Anschluss an die Projektion die Diskussion des Studentischen Filmclubs, bei der die angriffslustige Erika durch ihre kritischen Einwände eine Kontroverse auslöste. Die beiden kamen sich näher und verbrachten irgendwann später ihre erste gemeinsame Nacht damit, die Untertitel für Jean Renoirs Film „La bête humaine“ (1938) zu erstellen.

Etwa 100.000 gesehene Filme später blicken die beiden Gregors gemeinsam auf ein arbeitsreiches Leben, auf zahlreiche Begegnungen mit bedeutenden Filmschaffenden und auf die Filmgeschichte zurück, was wiederum eng verzahnt ist mit der filmkulturellen Entwicklung im Nachkriegsdeutschland und der politischen Geschichte Berlins. Die Nachwirkungen des Nationalsozialismus und die Teilung Deutschlands ziehen sich in vielen Aspekten wie ein roter Faden durch den Film und berühren an verschiedenen Stellen auch biographische Erfahrungen der beiden Portraitierten. Die sowjetischen Filme „Ein Menschenschicksal“ (1959) von Sergej Bondardschuk und „Der gewöhnliche Faschismus“ (1965) von Michail Romm stehen dafür ebenso nachdrücklich und exemplarisch wie später Konrad Wolfs „Der geteilte Himmel“ (1964) und Claude Lanzmanns „Shoah (1985)“. Den Mittelpunkt von Alice Agneskirchners zweieinhalbstündigem Film bildet allerdings die filmkulturelle und sehr bewegte Pionierarbeit der beiden Cineasten, die 1963 den Verein Freunde der deutschen Kinemathek gründen und in der Akademie der Künste regelmäßig Filme vorführen.

Neben der Vermittlung filmhistorischen Grundlagenwissens zielt die Arbeit der Gregors vor allem auf den künstlerischen Wert des Films jenseits kommerzieller Aspekte. Sie wollen „Filme zeigen, die aus innerer Überzeugung gemacht werden, nicht aus Profitinteressen.“ Die Inbetriebnahme des nichtgewerblichen Kinos Arsenal, das ab 1970 zum Vorbild für die Gründung kommunaler Kinos wird und das „Lebenszentrum“ der kämpferischen Filmarbeiter bildet, sowie die Gründung des Internationalen Forums des jungen Films als Sektion der Berlinale bilden weitere markante Stationen ihres Lebenswerkes. Kommentiert werden diese von ehemaligen Mitarbeitern und Weggefährten, aber auch von etlichen Filmemachern wie zum Beispiel Wim Wenders, Jim Jarmusch, Alexander Kluge und Edgar Reitz sowie den Regisseurinnen Doris Dörrie, Jutta Brückner und Helke Sander. In ihren Aussagen, die mit Archivmaterial verschränkt werden, aber auch durch die Gespräche, die von Erika und Ulrich Gregor im Kino vor laufenden Filmen geführt werden, erweisen sich die Portraitierten als „Schlüsselfiguren“ (Wenders) bei der Vermittlung des wertvollen künstlerischen Films.

Verabredungen mit einem Dichter – Michael Krüger

(D 2022, Regie: Frank Wierke)

Leichter werden
von Wolfgang Nierlin

„Draußen lag unerwartet helles Licht / über dem See, und ein Wind kam auf, / der mich die Unterseite der Blätter sehen ließ.“ Diese ersten Zeilen sowie die nachfolgenden erscheinen …

„Draußen lag unerwartet helles Licht / über dem See, und ein Wind kam auf, / der mich die Unterseite der Blätter sehen ließ.“ Diese ersten Zeilen sowie die nachfolgenden erscheinen vor dem Hintergrund einer grau getönten Leinwand. Sie stammen von dem Dichter und Verleger Michael Krüger und geben den melancholisch gestimmten Grundton von Frank Wierkes Langzeitdokumentarfilm „Verabredungen mit einem Dichter“ vor. Zugleich liegt in diesen wenigen Worten das Forschende einer Poesie, die ihre Einsichten aus einer genauen Naturbeobachtung gewinnt. Lange und in Naheinstellung verharrt die Kamera auf dem Gesicht des Porträtierten, der ernst und mit angespannter, leicht lauernder Aufmerksamkeit den Zuschauer frontal anblickt. Stimmungsvoll, in schwindenden Nebel und diffuses Licht getaucht, rückt der Starnberger See ins Bild, von den Klängen einer Solovioline untermalt. Dann sagt der Dichter in leicht desillusioniertem Tonfall: „Es braucht hoffnungslos lange, bis man so ungefähr ahnt, wer man ist.“

Um etwas von dieser Identitätssuche und künstlerischen Selbstbefragung zu vermitteln und dabei vor allem die Persönlichkeit des bekannten Verlegers zu beleuchten, besucht Frank Wierke den Autor ab Dezember 2013 mehrmals über einen Zeitraum von etwa sechs Jahren bis zum Beginn der Corona-Pandemie. Der ruhige, genau gegliederte Film setzt ein kurz vor Michael Krügers Pensionierung und zeigt diesen an seinem Arbeitsplatz im Münchner Hanser Verlag, wo er über vielfältige Aufgaben und lange Arbeitstage spricht. Seine besondere Aufmerksamkeit und Faszination gilt allerdings dem alten Baum vor seinem Fenster, dessen lebendige Zeugenschaft für Krüger eine tröstliche Konstante bildet. Auch im Garten seines Privathauses sowie in der Hütte am See rücken Naturbetrachtungen in den Mittelpunkt. Viel gelernt hat der 1943 geborene Schriftsteller diesbezüglich von seinem Großvater, einem sächsischen Bauern. „Vielleicht brauchen wir nichts zu wünschen / vielleicht leben wir schon im Paradies“, heißt es unter der Überschrift „Im Wald“.

Im Ruhestand, der angesichts vieler Termine ziemlich unruhig ist, wolle er sich endlich seinen vielen angefangenen Projekten widmen, um bei der Vorbereitung auf das Lebensende leichter zu werden und „die Trümmer aus dem Kopf zu kriegen“. Zwischen den hohen Bücherregalen seiner geräumigen Arbeitsbibliothek denkt Krüger nach über seine intensive Lesepraxis, die anarchische Tätigkeit des Gedichteschreibens, über Philosophie und Natur und über den für ihn immer unverständlicher werdenden Sinn von Kunst. Angesichts von Krankheit und Tod fragt der Dichter aber vor allem nach dem, was bleibt. „Gedichte sind misstrauisch / sie behalten für sich, was gesagt werden muss“, heißt es unter dem Titel „Nachtrag Poetik“. Ist die Kunst also ein eher unzuverlässiger Ratgeber und ein eher ungeeignetes Erkenntnisinstrument? Bedingt durch eine schwerwiegende Krankheit, fühlt sich Michael Krüger zunehmend „aus sich selbst herausgedrängt“. Nachdenklich und ernüchtert stellt er schließlich fest: „Ich bin nicht geworden, der ich bin.“

Alle reden übers Wetter

(D 2022, Regie: Annika Pinske)

Zwischen allen Stühlen
von Wolfgang Nierlin

Clara (Anne Schäfer) ist eine Frau unter Einfluss. Die erste Einstellung zeigt die knapp 40-jährige Philosophie-Dozentin aus der Distanz beim Blick in einen Badezimmerspiegel, gerahmt von einer Tür. Die Konfrontation …

Clara (Anne Schäfer) ist eine Frau unter Einfluss. Die erste Einstellung zeigt die knapp 40-jährige Philosophie-Dozentin aus der Distanz beim Blick in einen Badezimmerspiegel, gerahmt von einer Tür. Die Konfrontation mit der eigenen Identität, das Ringen um weibliche Selbstbestimmung sowie die Auseinandersetzung mit einengenden Verhältnissen sind entsprechend die Themen von Annika Pinskes ambitioniertem Spielfilmdebüt „Alle reden übers Wetter“. Nicht umsonst beschäftigt sich die gestresste Doktorandin in ihrer Promotion mit Hegels Freiheitsbegriff; und in ihrem Utilitarismus-Seminar diskutiert sie mit ihren Studierenden Roy Lichtensteins Bild „Drowning Girl“. Immer unter Zeitdruck und permanent angespannt, führt Clara eine Art Doppelleben: Sie schläft mit einem Studenten, der mehr von ihr will als sie von ihm; sie wohnt in einer WG, während ihre 15-jährige Tochter Emma bei der Familie ihres Ex-Mannes lebt; vor allem aber ist sie darauf bedacht, im Akademikermilieu ihre soziale Herkunft zu verbergen.

Sehr genau beobachtet Annika Pinske gesellschaftliche Konventionen, soziale Verhaltensweisen und das Spiel mit Codes. Besonders deutlich wird das, wenn sie nach der ersten Hälfte des Films radikal den Schauplatz wechselt und das Berliner Bildungsbürgertum gegen Claras Herkunftsmilieu in der Mecklenburg-Vorpommerschen Provinz tauscht. Dorthin fährt die Protagonistin anlässlich des 60. Geburtstages ihrer Mutter Inge (Anne-Kathrin Gummich) und erlebt sich einmal mehr zwischen allen Stühlen. Die Kontraste zwischen dem bildungsfernen Milieu und ihrer akademischen Karriere, zwischen familiärer Verbundenheit und dem Anspruch auf ein unabhängiges, selbstbestimmtes Leben könnten kaum größer sein. Dazu kommt noch, dass Clara in ihrer Heimat auch von einem Teil ihrer Vergangenheit eingeholt wird.

„Niemand wird so wieder werden, so wie er mal war zuvor“, wird gleich eingangs ein Song der ostdeutschen Band Puhdys zitiert. In Claras unsicherer Identität, die sich nach allen Seiten abgrenzen und definieren muss, spiegelt sich schließlich auch das schwierige, von Vorurteilen umstelle Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen. In ihren gesellschaftlichen Rollen steht die innerlich zerrissene Heldin unter einem permanenten Anpassungsdruck. Sorgsam und nachvollziehbar vermittelt Anne Schäfer diesen Spagat zwischen Nähe und Distanz, Zugehörigkeit und Abgrenzung sowie die vielen Facetten, in denen Einsamkeit und Sprachlosigkeit dominieren. Wenn Clara gegen Ende des sehr sehenswerten, realistisch erzählten Films sagt, sie wolle sich nicht mehr erheben müssen, drückt das schließlich ein Einverständnis mit ihrer widersprüchlichen Identität und eine gewisse Versöhnung der Gegensätze aus.

Hive

(CH/AL/MKD/XK 2021, Regie: Blerta Basholli)

Plädoyer für das solidarische Wirtschaften
von Jürgen Kiontke

Fahrije wühlt in den Leichensäcken. Erneut sind die Überreste mehrerer Toter gefunden worden. Ob ihr Mann dieses Mal dabei ist? Seit Jahren wartet die Kosovarin, dass sie ein Lebenszeichen ihres …

Fahrije wühlt in den Leichensäcken. Erneut sind die Überreste mehrerer Toter gefunden worden. Ob ihr Mann dieses Mal dabei ist? Seit Jahren wartet die Kosovarin, dass sie ein Lebenszeichen ihres Ehemanns erhält, und wenn nicht das, dann wenigstens eine gesicherte Nachricht über seinen Tod. Bis jetzt gilt er seit Kriegsende als vermisst.

Doch nicht die Vergangenheit steht im Zentrum von Blerta Bashollis Spielfilm „Hive“, sondern die Gegenwart und Zukunft von Farije. Sie muss sich mit den Widrigkeiten einer erzkonservativen Umgebung herumschlagen, finanziert sich zunächst mit dem Verkauf von Bienenhonig, der sich aber wenig rentiert. Mit ihrem Nachbarinnen-Kollektiv – der Titel „Hive“, englisch Schwarm, unterstützt die Analogie – steigt sie um auf die Ajvar-Produktion. Die Paprikapaste soll dafür sorgen, dass sie alle ihr Auskommen finden. Aber erst mal den Führerschein machen!

Bald gründen die Frauen unter Fahrijes Ägide eine Genossenschaft, wobei ihr besonderes Verhandlungsgeschick und die Kochkünste der anderen von Vorteil sind. Das Zeug schmeckt lecker, und das spricht sich herum. Da kann die Dorf-, die eher eine Hassgemeinschaft ist, noch so intrigieren und das Projekt schlechtreden, der Erfolg macht sich bald bemerkbar.

Filme aus dem Kosovo sind extrem selten, noch seltener landen sie in deutschen Kinos. Blerta Basholli ist selbst im Kosovo geboren und aufgewachsen, flüchtete mit 16 Jahren nach Deutschland. 2011 kehrte sie dann zurück. Auf der Suche nach Stoff für ihren ersten Spielfilm wurde sie schnell fündig. Er ist von der wahren Lebensgeschichte der Fahrije Hotis inspiriert. Wie die Film-Fahrije hatte die Kosovo-Albanerin, die sich heute für Frauenrechte engagiert, ihren Mann vermisst gemeldet. Über zwei Jahrzehnte nach Kämpfen im Jahr 1998 ist der Status von rund 1.600 Personen immer noch ungeklärt.

Alsbald avancierte Hoti zur erfolgreichen Unternehmerin, in deren Betrieb hauptsächlich Frauen bzw. Witwen der Ajvar-Produktion nachgehen. Achtung, sitzen bleiben: Im Abspann gibt es Impressionen von der echten Genossenschaft. „Hive“ – ein rührendes Filmwerk, ein Plädoyer fürs solidarische Wirtschaften, das auf den Festivals die Preise abräumt.

Diese Kritik erschien zuerst am 08.09.2022 auf: links-bewegt.de

Das Glücksrad

(J 2021, Regie: Ryûsuke Hamaguchi)

Von der Magie des Zufalls
von Wolfgang Nierlin

Der japanische Filmemacher Ryusuke Hamaguchi interessiert sich für die Unberechenbarkeit des Lebens. In seinem dreiteiligen Episodenfilm „Das Glücksrad“ geht es deshalb um das Unvorhersehbare zufälliger Begegnungen, um die Folgen verpasster …

Der japanische Filmemacher Ryusuke Hamaguchi interessiert sich für die Unberechenbarkeit des Lebens. In seinem dreiteiligen Episodenfilm „Das Glücksrad“ geht es deshalb um das Unvorhersehbare zufälliger Begegnungen, um die Folgen verpasster Chancen und um unumkehrbare Veränderungen. Dabei erinnern seine wendungsreichen Geschichten über widersprüchliche Gefühle und komplizierte Beziehungen, die jeweils in langen Dialogszenen diskutiert werden, an die Werke von Eric Rohmer und Hong Sang-soo. Im Mittelpunkt der drei Teile von „Das Glücksrad“, die nur lose durch Klaviermusik von Robert Schumann („Kinderszenen“) miteinander verbunden sind, stehen Frauen mit ihrem Liebesbegehren und ihrer verzweifelten Suche nach Lebensglück.

Die Gefühlslagen und Beziehungskonstellationen sind stets verzwickt. In „Magie (oder noch weniger Verlässliches)“ erzählt die Maskenbildnerin Tsugumi während einer langen Taxifahrt ihrer besten Freundin Meiko, einem Fotomodell, von ihrem ersten, sehr vertraulichen Treffen mit einem jungen Innenarchitekten. Während sie von der Magie dieser Begegnung und der Erotik des Gesprächs schwärmt, ahnt sie nicht, dass Meiko den von der Liebe enttäuschten Mann als ihren früheren Freund identifiziert und ein neues Verlangen nach ihm verspürt, das zu widersprüchlichen Handlungen und Variationen unberechenbarer Gefühle führt: „Traust du dich, an etwas zu glauben, das noch weniger verlässlich ist als Magie?“ Und verletzt man zwangsläufig denjenigen, den man liebt?

Auch in der zweiten Episode „Bei offener Tür“ spielt die Erotik der Worte eine entscheidende Rolle. Die attraktive Nao setzt sie ein, um sich für ihren zynischen Liebhaber Sasaki an ihrem früheren Professor Segawa zu rächen, der gerade erfolgreich ein Buch veröffentlicht hat und den sie eigentlich bewundert. Dass letztlich gegen ihren Willen der Plan zu beider Nachteil „gelingt“, hat einmal mehr der Zufall zu verantworten. Dieser diktiert auch das Geschehen in der Episode „Noch einmal“, deren Ausgangspunkt ein Klassentreffen nach zwanzig Jahren ist. Die Zeit hat die Figuren, ihr Aussehen und ihr Leben verändert, sodass es zu Verwechslungen und Enttäuschungen, aber auch zu einem überraschenden Ausgleich, vielleicht sogar zu einer Heilung kommt.

Dass das gelingt, ist der Rolle der Kunst zu verdanken, die Ryusuke Hamguchi in seinem höchst originellen Film wiederholt thematisiert. So bewirkt im Schlussteil ein wechselseitiges Rollenspiel, dass sich die emotional verletzten Figuren zum Ungesagten ihrer einst verpassten Chancen und zu ihren unausgesprochenen Gefühlen bekennen. „Für die Sehnsucht nach jemandem kann man nichts“, heißt es einmal demgemäß. Hamaguchi erweist sich hier und an anderen Stellen seines Films, der immer wieder nach dem persönlichen Lebensglück fragt, als forschender Humanist. Ins Zentrum seiner Hoffnung hat er deshalb die Kraft und Ermutigung gestellt, die Menschen durch den freundlichen und aufmerksamen Zuspruch durch andere Menschen gewinnen.

Die Magnetischen

(FR/DE 2021, Regie: Vincent Maël Cardona)

Radio Kicks
von Wolfgang Nierlin

Die Hoffnung auf eine politische Zeitenwende zu Beginn eines neuen Jahrzehnts verbindet sich mit der Wahl des Sozialisten François Mitterand zum französischen Staatspräsidenten. Der allgemeine Jubel im Mai des Jahres …

Die Hoffnung auf eine politische Zeitenwende zu Beginn eines neuen Jahrzehnts verbindet sich mit der Wahl des Sozialisten François Mitterand zum französischen Staatspräsidenten. Der allgemeine Jubel im Mai des Jahres 1981, aufgenommen in hektischen Schwarzweißbildern, ist also groß, auch wenn nicht alle Anteil daran nehmen. Doch kurz darauf stirbt Bob Marley, und das ist zumindest für das ungleiche, aber musikverrückte Brüderpaar Jérôme und Philippe Bichon ein „böses Omen“. In ihrem Heimatort irgendwo in der französischen Provinz betreiben die beiden einen Piratensender, den sie in Anspielung auf einen früheren Namen ihrer Lieblingsband Joy Division „Radio Warsaw“ nennen. Vor allem der eloquente, rebellische Jérôme (Joseph Olivennes), der die unkonventionellen Programme sehr persönlich moderiert, identifiziert sich stark mit seinen popmusikalischen Helden der Postpunk-Ära, zu denen neben Ian Curtis auch Iggy Pop, die Band Caméra Silens oder auch Gang of Four gehören.

Dagegen bezeichnet sich der etwas jüngere, eher zurückhaltendere und introvertierte Philippe (Thimotée Robart) selbst als „Typ an den Reglern“. Der geschickte Techniker bastelt gerne im Handumdrehen experimentelle Bandschlaufen, interessiert sich weniger für Politik und ist heimlich in Jérômes Freundin Marianne (Marie Colomb) verliebt, eine junge Mutter, die in einem Friseursalon jobbt. Die Brüder wiederum arbeiten in der Autowerkstatt ihre Vaters (Philippe Frécon), der von seiner Frau verlassen wurde. Der aufsässige Jérôme, von einem unbändigen Freiheitsdrang beseelt, liegt mit ihm im Dauerclinch. Als Philippe nach unfreiwillig „erfolgreicher“ Musterung seinen Militärdienst in West-Berlin antreten muss, gewinnen die Beziehungen eine neue Dynamik und die Konflikte spitzen sich zu. Während Philippe, der durch die Vermittlung seines neu gewonnenen Freundes Édouard (Antoine Pelletier) bei einem britischen Sender arbeitet kann, selbstbewusster wird und wächst, stürzt sein Bruder in den beengten Verhältnissen ab.

Vincent Maël Cardona hat seinen ersten Langfilm, der aus der Perspektive von Philippe als Audiobrief aus dem Off an seinen Bruder erzählt wird, in diesem Spannungsfeld zwischen Stillstand und Aufbruch angesiedelt. Denn auf die politische Hoffnung folgt bald die Ernüchterung am Ende der Utopien. Zwar kehren in den ziemlich nostalgischen Film nach seiner Exposition bald die Farben ein, doch bleiben diese eher düster. Innerhalb seines melancholischen Generationenportraits interessiert sich Cardona auch mehr für die sich verhalten und zögerlich entwickelnde Liebesgeschichte zwischen Marianne und Philippe, der sein kreativ gestaltetes, vom Song „Teenage Kicks“ der Undertones unterstütztes Liebesgeständnis über den Äther schickt. Man spürt in diesen Passagen eine große Faszination für die Poesie und Haptik der untergegangenen analogen Welt und ihrer ästhetischen Praxis. Und so wird das Festhalten an den Idealen der Kunst, die spielerisch Distanzen überwindet, zur eigentlichen Utopie gegen Enge und Perspektivlosigkeit.

Voices from the Fire

(D/CZE 2021, Regie: Helen Simon)

Gegen die Zwangsprostitution
von Jürgen Kiontke

„Wir brauchen Geschichten, die unangenehm erscheinen. Sie tun weh, aber wenn sie gut erzählt werden, sind sie in der Lage, uns nachhaltig zu berühren“, sagt die Regisseurin Helen Simon. Mit …

„Wir brauchen Geschichten, die unangenehm erscheinen. Sie tun weh, aber wenn sie gut erzählt werden, sind sie in der Lage, uns nachhaltig zu berühren“, sagt die Regisseurin Helen Simon. Mit ihrem neuen Film „Voices from the Fire“ folgt sie dieser Devise. In ihrer Dokumentation nimmt sie die Prostitution weltweit in den Blick.

Der Film lässt Frauen zu Wort kommen, die bereits als Jugendliche dort hineingeraten sind; aufgrund von Armut, psychischem Druck, durch Gewalt. Sandra aus Deutschland, Grizelda aus Südafrika und Stepanka aus Tschechien geben Einblick in ihre Lebensgeschichten, ins illegale Geschäft mit jungen Frauen, die auf dem Strich landen, mit Drogen und Schlägen gefügig gemacht. Sie berichten aus einer brutalisierten Welt, der sie mit einer Portion Glück und Hilfe von außen entkommen konnten. Sie sehen sich als Überlebende in einem Krieg gegen die Menschlichkeit. Sandra studiert heute Jura und hält Vorträge zum Thema, ebenso Grizelda, die in Initiativen gegen Zwangsprostitution aktiv ist. Grizelda lebt dagegen zurückgezogen auf einem Bauernhof und ist gerade mit Familiengründung beschäftigt.

Simons Anliegen ist es, den Protagonistinnen und ihren Geschichten gerecht zu werden. Armut, Kolonialisierung, Diskriminierung, und Gewalterfahrungen machten den Nährboden aus, auf dem sich diese ausbeuterische Kraft überhaupt erst entfalten könne, sagt sie. Menschenhandel sei heute eines der lukrativsten Geschäfte in der Illegalität. Internationale Institutionen schätzen die Zahl der Menschen, die in solchem und anderem Sklavengewerbe, gefangen gehalten werden, auf bis zu 40 Millionen. Jenseits aller sozialer und geschichtlicher Hintergründe werde hier der Mensch an sich infrage gestellt.

Mit ihrem bemerkens- und sehenswerten Film macht sie auf diese Missstände eindrücklich aufmerksam.

Diese Kritik erschien zuerst am 25.08.2022 auf: links-bewegt.de

Moneyboys

(AT/FR/BE/TW 2021, Regie: C. B. Yi)

Schatten aus Liebe und Schuld
von Wolfgang Nierlin

Immer wenn in „Moneyboys“ von C. B. Yi ein neues Kapitel beginnt, gleitet die Kamera im sanften Flug über Wasser oder flache Gewässer, über ruhige Wellen, die Unmerkliches in Bewegung …

Immer wenn in „Moneyboys“ von C. B. Yi ein neues Kapitel beginnt, gleitet die Kamera im sanften Flug über Wasser oder flache Gewässer, über ruhige Wellen, die Unmerkliches in Bewegung bringen, verbergen oder auslöschen. Auch die Bilder dieses melancholischen Films öffnen sich schrittweise, werden aufgezogen wie Jalousien. So entstehen Zusammenhänge, Figuren- und Beziehungskonstellationen erst über Zeiten und Räume hinweg. In langen Plansequenzen, von Bildgestalter Jean-Louis Vialard oft aus der Hand gedreht, folgt der chinesisch-österreichische Filmemacher seinen Protagonisten, beobachtet sie ausführlich beim Karaoke-Singen in Bars, beim ausgelassenen Tanzen in Discos, in großen Essen-Szenen und beim Sex. Dabei vermitteln die Cinemascope-Bilder immer auch eine Unbestimmtheit. Die Konflikte, die von den Figuren verbal und körperlich ausgetragen werden, verweisen auf eine unsichere Identität, auf eine Suche irgendwo zwischen dem Alten und dem Neuen.

Fei (Kai Ko) und Xiaolai (Lin Zhengxi) arbeiten als Strichjungen beziehungsweise als Callboys in einer chinesischen Stadt. Die beiden jungen, hübschen Männer mit den offenen, freundlichen Gesichtern, die Lust und Begehren ausdrücken, sind aber auch ein Paar. Sie haben leidenschaftlichen Sex, kaufen zusammen Kleider und besuchen Bars. Doch Fei, der schüchterner und unsicherer wirkt, ist nicht frei von Schuldgefühlen. Weil er seine Familie auf dem Land finanziell unterstützt, ist er gegen den Rat seines Freundes auch bereit, einen potentiell gefährlichen Kunden zu besuchen, was schlecht ausgeht. Fei kehrt verletzt zurück und Xiaolai, der ihn daraufhin rächt, wird selbst zum Opfer der Gewalt. In einem Lied über Beijing hatten sie zuvor noch gesungen: „Hier suchen und verlieren wir uns.“ Nach einem Zeitsprung lebt Fei fünf Jahre später in einer anderen Stadt, in einer modernen Wohnung und in einer neuen Beziehung. Offensichtlich hat er es als „Moneyboy“ zu einigem Wohlstand gebracht. Doch dann holt ihn auf verschiedenen Ebenen die Vergangenheit ein.

Erst entpuppt sich ein Freier als Polizist, sodass Fei verhaftet wird, weil sein Gewerbe in China illegal ist. Dann, als er seine Familie in einer ländlichen Region besucht, gerät er aufgrund seiner verheimlichten Homosexualität in einen heftigen Streit mit einem Onkel. Auch emotional wird Fei zerrieben zwischen traditionellen Anforderungen und einem modernen Lebensgefühl, zwischen familiären Pflichten und einem individuellen Freiheitsbedürfnis. Seine Unentschlossenheit und innere Zerrissenheit spitzen sich noch zu, als der junge Long (Bai Yufan), ein früherer Kumpel aus seinem Heimatdorf, plötzlich bei ihm in der Stadt auftaucht und nicht nur ebenfalls den Erfolg und die vermeintliche Unabhängigkeit als „Moneyboy“ sucht, sondern sich außerdem heftig in Fei verliebt. Als dann plötzlich auch noch Xiaolai wie ein Schatten aus Liebe und Schuld von der Vergangenheit in die Gegenwart tritt, wird Fei vollends in ein Gefühlschaos gestürzt.

Feis melancholisches, dem Schicksal ergebenes Lebensgefühl unterlegt C. B. Yi, der seinen Film „Moneyboys“ in Taiwan gedreht hat, mit Klaviermusik von Chopin. Den langsamen Bewegungen einer Straßentänzerin folgt Fei wie in Trance. Wenn er an Opferzeremonien für die Verstorbenen seiner Familie teilnimmt, zeigt das eine Verbundenheit, die seine persönlichen Schuldgefühle zugleich vertieft. C. B. Yi blickt mit seinem eindrucksvollen Film auf eine zwischen unsicheren Werten ausgesetzte Generation, die sich verkauft, ohne wirklich Freiheit zu finden, während die komplizierten Liebesverhältnisse sowie das sexuelle Begehren von Schuld und Verboten umlagert sind und deshalb ein Doppelleben erzwingen. Die Utopie aus Schutz und Vertrauen ist dabei in einem neuen, patchworkartigen Bild der Familie aufgehoben. Die Keimzelle dafür bleibt allerdings das alte vom Glück der Zweisamkeit, wenn Feis Schwester beim Abschied zu ihrem Bruder sagt: „Wenn du die richtige Person findest, musst du sie gut festhalten.“

Nope

(USA 2022, Regie: Jordan Peele)

Das unmögliche Bild
von Wolfgang Nierlin

Der Sündenfall ist die Gier nach Berühmtheit, nach Sensationen und Spektakel sowie das Unvermögen, vor lauter Schaulust die Augen nicht abwenden zu können. Eine alttestamentarische Drohung schwebt deshalb über der …

Der Sündenfall ist die Gier nach Berühmtheit, nach Sensationen und Spektakel sowie das Unvermögen, vor lauter Schaulust die Augen nicht abwenden zu können. Eine alttestamentarische Drohung schwebt deshalb über der Szene, in der ein bluttriefender Affe namens Gordy, Star einer Familien-Serie, ein Fernsehstudio verwüstet und dabei zum brutalen Killer wird. Aus der harmlosen Fiktion einer Geburtstagsfeier ist ein reales Spektakel geworden: Der Amoklauf findet statt. Doch selbst vor der Vermarktung des Traumas schreckt die allgegenwärtige Unterhaltungsindustrie nicht zurück. Die Angst vor dem Untergang, auf den die Zuschauer gebannt blicken, wird zum medialen Geschäft. Jordan Peele zitiert deshalb zu Beginn seines Horrorfilms „Nope“ aus dem Buch des Propheten Nahum, wo es mit Blick auf die sündige Stadt Ninive heißt: „Ich werfe Unrat auf dich, schände dich und mache ein Schauspiel aus dir.“

Eingebunden ist diese Episode in eine größere Untergangserzählung. Auf einer weitläufigen Farm im kalifornischen Aqua Dulce, wo Pferde bezeichnenderweise für den Einsatz in Hollywoodfilmen trainiert werden, geschehen unerklärliche Dinge. Dabei kommt der Besitzer der Ranch ums Leben. Bald wird klar, dass sich die Gefahr oben, am Himmel, in einer scheinbar unbeweglichen Wolke versteckt und sich schließlich als Menschen fressendes Ufo-Monster entpuppt, das seine Opfer förmlich aufsaugt, frisst, verdaut und als Blutregen wieder ausspeit. Jordan Peele nimmt bei der Konstruktion dieses Zwitterwesens aus Tier und Maschine Anleihen bei den Tier-Horrorfilmen der 1950er Jahre. Sein Rückblick auf die Filmgeschichte besitzt allerdings noch weiter Facetten: Zum einen werden mit Eadweard Muybridges filmischer Inkunabel „Animal Locomotion“ aus dem Jahre 1887 die „schwarzen“ Anteile an der Geschichte des Kinos beschworen; zum anderen feiert „Nope“ die Beständigkeit der analogen Fotografie.

Die ungleichen Geschwister OJ (Daniel Kaluuya) und Emerald (Keke Palmer) Haywood, Kinder des getöteten Pferdezüchters, wollen dem tödlichen Himmelsphänomen nämlich auf den Grund gehen und aus dem „schlechten Wunder“ Kapital schlagen. Digitale Überwachungskameras, von einem jungen Mitstreiter namens Angel (Brandon Perea) installiert, sollen die bildlichen Beweise aufzeichnen und später für mediale Aufmerksamkeit und kommerziellen Erfolg sorgen. Doch das Ufo-Monster, selbst ein überdimensionales, alles verschlingendes Auge, erträgt keine fremden Blicke und wird gerade deshalb zur Gefahr. Das Schauen und die Gier nach Aufmerksamkeit haben also eine tödliche Kehrseite, die den Traum nach Berühmtheit in einen Albtraum verwandelt. Jordan Peele spielt mit der Dialektik dieser gegensätzlichen Blickrichtungen, um unserer Zeit des Medienkonsums und der Sensationskultur einen Spiegel vorzuhalten.

Der laute Frühling

(D 2022, Regie: Johanna Schellhagen)

Ausrottung per Wachstumsideologie
von Jürgen Kiontke

„Wir haben der Erde Schaden zugefügt. Das Klima ändert sich jetzt schon.“ Marcela Méndez Hernández von der Indigenen Bewegung in Mexiko weiß, wie sich Kapitalismus anfühlt. „Mehr Pipelines, mehr Öl“, …

„Wir haben der Erde Schaden zugefügt. Das Klima ändert sich jetzt schon.“ Marcela Méndez Hernández von der Indigenen Bewegung in Mexiko weiß, wie sich Kapitalismus anfühlt. „Mehr Pipelines, mehr Öl“, fasst sie ihre Erfahrungen mit der Systematik des Wachstums zusammen.

Die Jobbeschreibung des Kapitalismus sei es nun mal zu expandieren, heißt es in Johanna Schellhagens einstündigem Dokumentarfilm „Der laute Frühling“. Sie hat die Stimmen derjenigen rund um die Welt gesammelt, die sich mit Umweltzerstörung beschäftigen, dagegen protestieren, wie Hernández aktiv werden. Dabei schlägt sie einen Bogen zur Arbeitswelt. Schellhagen hat rund 20 Jahre mit der Kamera Arbeitskämpfe begleitet und erlebt, wie rücksichtslos Konzerne für die Interessen ihrer Eigner vorgehen, wenn es um Profite geht. Beim Thema Klima sieht sie dieselben Mechanismen am Werk. Ihre Schlussfolgerung: Die Klimabewegung kann nur erfolgreich sein, wenn sie sich mit der Arbeiterbewegung kurzschließt. Denn wer in der Produktion arbeite, könne auch ihre Mechanismen beeinflussen und auch auf die Art der Produkte einwirken.

Zu Wort kommen folglich Aktivisten von „Ende Gelände“ und Fridays for Future, die sich gegen fossile Energien wenden, aber auch Mitarbeiter von Amazon und aus Krankenhäusern. Daneben erfahren wir von Ökonomen und Ökologinnen einiges über die Funktionsweise der Wirtschaft, welchen Schaden und Nutzen sie anrichtet und was sich verbessern bzw. am besten abschaffen ließe.

Mit der Verbindung zwischen Kämpfen um die Arbeit und ums Klima konnten Aktivisten in manchen Ländern ausgiebig Erfahrungen machen, wie zum Beispiel Marco aus Argentinien: Öl- und andere Konzerne richten in ihrem Expansionsdrang solche Verwüstungen an, dass ganze Landstriche unbewohnbar werden. Wer sich dagegen auflehne, sagt Marco – und das habe er selbst erlebt -, werde massiv bedroht, wenn nicht angegriffen oder gar getötet, wie einige seiner Mitstreiter. Er musste fliehen. Abstecher zu den Revolten der letzten zehn Jahre und den damit gemachten Erfahrungen – zum Beispiel im Arabischen Frühling – runden das Bild ab.

Im zweiten Teil ihres Films entwirft Schellhagen ein hypothetisches Revolutions-Szenario im Stil einer Graphic Novel. Arbeiter haben Fabriken wie auch Investitionsruinen besetzt und zu Wohnraum umgebaut. Räte tagen; debattiert wird, welche Art des Wirtschaftens sinnvoll ist, welche Produkte wirklich gebraucht werden und wie man mit dem wichtigsten Wirtschaftszweig, der Landwirtschaft, umgeht. „Alle sollen nur drei Stunden arbeiten“, wie es ein Landarbeiter formuliert.

Vergesellschaftung ist hier der key. Dies sei ein Film über Leute, die den Kapitalismus loswerden wollen, auch wenn nicht immer klar sei, was stattdessen funktioniert, sagt Schellhagen. „Der Rest ist Organisation. Die Atmosphäre ist schön und festlich.“ Die Welt eine große Volxküche – so wird’s gemacht! Ein flotter engagierter Film voller Leute, die sich einem Gesellschaftsbild widersetzen, das „die eigene Ausrottung per Wachstumsideologie impliziert“.

Diese Kritik erschien zuerst am 02.08.2022 auf: links-bewegt.de

Unrecht und Widerstand

(D 2022, Regie: Peter Nestler)

Licht der Erinnerung
von Wolfgang Nierlin

Seit 2015 wird jedes Jahr am 2. August mit dem Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma an die systematische Ermordung einer Minderheit erinnert, die lange für dieses Recht auf Würde …

Seit 2015 wird jedes Jahr am 2. August mit dem Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma an die systematische Ermordung einer Minderheit erinnert, die lange für dieses Recht auf Würde und Anerkennung kämpfen musste. Als im vergangenen Jahr Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrates der Sinti und Roma, an der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau für sein langjähriges Engagement mit der bedeutenden Auszeichnung „Licht der Erinnerung“ geehrt wurde, lagen Schmerz und Genugtuung nahe beieinander. Denn Romani Rose hat selbst den Verlust von 13 Familienangehörigen zu beklagen, die von den Nazis ermordet wurden. Folgerichtig beginnt Peter Nestlers bewegender, sehr konzentrierter Film „Unrecht und Widerstand – Romani Rose und die Bürgerrechtsbewegung“ auf diesem „größten Friedhof für unsere Minderheit“, dessen Ausmaße mit einer Totale ins Bild gesetzt werden.

Diese Dimension der Vernichtung bildet gewissermaßen den stets präsenten Hintergrund, vor dem Rose in langen, ungeschnittenen Interviewsequenzen wesentliche Episoden aus seiner Familiengeschichte erzählt. So wird etwa sein Großvater Anton Rose, ein „Pionier des Kinos“, der in den 1920er Jahren mit seinem Wanderkino den Stummfilm in die Dörfer brachte, aus rassistischen Gründen 1936 aus der Reichsfilmkammer ausgeschlossen und später deportiert. Romani Roses Vater Oskar wiederum, der als guter Katholik vergeblich versucht, beim Münchner Kardinal Michael von Faulhaber den Schutz für die Minderheit zu erbitten, initiiert später die Befreiung seines Bruders Vinzenz aus dem KZ in Neckarelz. Dieser hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine schreckliche Odyssee durch mehrere Lager hinter sich. Peter Nestler ergänzt und vertieft diese Erinnerungen in einer genauen Montage mit Dokumenten aus Archiven sowie mit teils schockierenden Erfahrungsberichten von Zeitzeugen.

Wenn der renommierte Dokumentarfilmregisseur von einem verschlossenen Tor auf einen Wachturm und von dort auf eine Totale des Lagers in Auschwitz schneidet, thematisiert er in wenigen Bildern den Zusammenhang zwischen dem Sinti und Roma verweigerten Schutz und ihrer Vernichtung. Das Trauma der diskriminierenden Ausgrenzung sowie Ignoranz und Unrecht, dem die Minderheit weiterhin auch in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft ausgesetzt ist, bilden den zweiten Strang dieses wichtigen und sehr sehenswerten Films. In diesem Zusammenhang stehen auch das vielfältige Engagement und die Aktionen von Romani Rose und seinen bürgerrechtlichen Mitstreitern, die sich vehement gegen die Deutungsmacht der Täter über die Opfer wehren und damit auch gegen das Fortwirken von Diskriminierung und Missachtung, dem Sinti und Roma bis in die Gegenwart ausgesetzt sind. Schließlich, so formuliert es Frank Reuter von der Forschungsstelle Antiziganismus in Heidelberg, lassen sich diese Vorurteile nur überwinden, wenn man bereit sei, „die eigenen Ambivalenzen auszuhalten und nicht eine Gruppe von Menschen für unsere Ängste oder Sehnsüchte haftbar zu machen. Das ist nicht einfach. Das verlangt uns einiges ab.“

Info: Der Film ist in der Mediathek von 3sat bis zum 21.10.22 abrufbar. Außerdem steht dort ein weiterer Film von Peter Nestler zum Thema zur Verfügung: „Der offene Blick – Künstlerinnen und Künstler der Sinti und Roma“.

Men

(GB 2022, Regie: Alex Garland)

Albtraum im Paradies
von Wolfgang Nierlin

Das Drama der Schuld, das zu Beginn des Films in einem verhängnisvollen Ehestreit seinen Ausgang nimmt, ist in warmes, orangefarbenes Licht getaucht, das schon in ein später dominant werdendes Rot …

Das Drama der Schuld, das zu Beginn des Films in einem verhängnisvollen Ehestreit seinen Ausgang nimmt, ist in warmes, orangefarbenes Licht getaucht, das schon in ein später dominant werdendes Rot spielt. Es fällt durch die Scheiben einer Londoner Hochhauswohnung, deren Transparenz in ihrer Charakteristik zwischen Nähe und Distanz jenen schicksalhaften Augenblick einfriert, der für Harper (Jessie Buckley) zum Trauma wird und sie fortan verfolgt. Ihr Mann James (Paapa Essiedu) hat sich von einem der oberen Stockwerke in den Tod gestürzt. Sein verzerrter, aufgespießter Leichnam, der durch spätere Rückblenden in diese Vorgeschichte sichtbar wird, erinnert an das Bild eines Gekreuzigten, dessen Selbstopfer allerdings nicht erlöst, sondern auf die vermeintlich Schuldige, seine Frau, mit dem Vorwurf deutet, sie sei lieblos und egoistisch. Noch in seiner stilisierten Selbstzerstörung hält der besitzergreifende James seine Frau im Klammergriff, indem er ihr alle Verantwortung zuweist.

Um Abstand zu gewinnen, flieht Harper aufs Land in ein altes, traumhaft idyllisches Haus, dessen Wände rot und weiß gestrichen sind. Auf der Fahrt dorthin taucht sie ein in das tiefe Grün der Wiesen und Wälder, um schließlich einen sakralen, paradiesischen Raum zu betreten. Begleitet wird sie dabei von einem „Love Song“, der den Film rahmt und in dem es heißt: „Love is the opening door“. Für Harper öffnet sich hier jedoch die Tür zu ihren Traumata und Ängsten. Indem sie beim Eintritt in den Garten Eden von der „verbotenen Frucht“ isst, verwandelt sich ihr Aufenthalt in einen von inneren Dämonen bevölkerten Albtraum voller Schreckensvisionen. Dessen Ausstülpungen und Ausprägungen visualisiert Alex Garland in seinem doppeldeutigen Horrorthriller „Men“ in atemberaubend schockierenden Bildern.

Die Inkarnation von Harpers Ängsten ist ein Mann, der zwar seine Gestalten, seinen jeweiligen Habitus und seine Professionen zwischen leutseligem Hausverwalter, übergriffigem Pfarrer, einem misogynen, verrückten Gaukler oder auch einem gleichgültigen Polizisten wechselt, aber stets von demselben Darsteller Rory Kinnear gespielt wird. Ihm begegnet die immer verzweifelnder und panischer werdende junge Frau in dunklen Angst- und Echoräumen, vor ihm flieht sie in eine zunehmende Ausweglosigkeit. In den vielfältigen Gesichtern und Fratzen dieses Mannes spiegeln sich Macht, Bedrohung und besitzergreifende Gewalt als archetypische Grundmuster seines Wesens.

Alex Garland übersetzt das in kalkuliert verstörende Bilder der Gefahr und des Todes. Diese kulminieren schließlich in Szenen eines phantastisch-surrealen Body Horrors, in denen der Mann zu jenem Ungeheuer mutiert, das sich fortwährend neu gebiert. Garland spannt dabei einen Bogen bis zu den Mythen der Antike. Als Wiedergänger seiner selbst erscheint der kriegerische Mann mit seiner zerstörerischen Macht als ewig unerlöste, fast schon mitleiderregende Kreatur.

Der Sommer mit Anaïs

(FR 2021, Regie: Charline Bourgeois-Tacquet)

Leidenschaftlicher Lebenshunger
von Wolfgang Nierlin

Die junge, hübsche Anaïs (Anaïs Demoustier) ist ein Wirbelwind im Blumenkleid. Sie scheint keinen Stillstand zu kennen und ist immer in Bewegung. Hektisch und in permanenter Zeitnot zieht sie ihre …

Die junge, hübsche Anaïs (Anaïs Demoustier) ist ein Wirbelwind im Blumenkleid. Sie scheint keinen Stillstand zu kennen und ist immer in Bewegung. Hektisch und in permanenter Zeitnot zieht sie ihre Bahnen. Zu Beginn von Charline Bourgeois-Tacquets tempogeladenem Film „Der Sommer mit Anaïs“ („Les amours d’Anaïs“) eilt die Titelheldin vom Blumenhändler zu einem Termin mit ihrer Vermieterin, die wohl nicht ganz zufällig auch die Mutter von Anaïs‘ Freund Raoul (Christophe Montenez) ist. Die flatterhafte Literaturstudentin, die promoviert, wovon allerdings nicht viel zu bemerken ist, hat Mietschulden und findet natürlich Ausreden, um ihr besorgtes Gegenüber zu besänftigen. Denn außerdem redet sie ziemlich viel und schnell und zeigt sich dabei offen und distanzlos.

Es verwundert also nicht, dass die gehetzte Titelheldin ein eher chaotisches Beziehungs- und Liebesleben führt. Von Raoul, der ihr vorwirft, egoistisch zu sein, trennt sie sich kurzerhand nach einer Abtreibung. Und mit dem älteren Verleger Daniel (Denis Podalydès) lässt sie sich eher aus einer Laune heraus ein. Doch dann verliebt sie sich in das Bild seiner Lebensgefährtin Emilie (Valeria Bruni Tedeschi), einer 56-jährigen Schriftstellerin, mit der sich Anaïs sogleich identifiziert. Bei einem Literaturkongress in der Bretagne kommt es schließlich zur Begegnung zwischen den beiden Frauen, die bald von einem leidenschaftlichen Liebestaumel erfasst werden. Emilie ist fasziniert von Anaïs‘ Bestimmtheit, mit der diese ihr Verlangen lebt, und wird dabei selbst von einer unerwartet intensiven Lust überwältigt. Dabei trägt sie bezeichnenderweise ein blaues, Anaïs ebenso sinnfällig ein rotes Kleid.

Was der Schriftstellerin als „realitätsfremde“ Illusion erscheint, ist für die Jüngere nicht nur wahre Gewissheit, sondern vor allem ein Überlebenselixier. Denn mit ihrem steten Verlangen vertreibt oder bekämpft sie auch die Traurigkeit, die sie bei der Begegnung mit ihrer schwerkranken Mutter überfällt. Vielleicht ist ihre gesteigerte Aktivität auch ein Mittel, um vor den Schmerzen des Lebens zu fliehen. Und vielleicht spiegelt sich in ihrer Liebe zu Emilie auch ihre Sehnsucht nach der Mutter. In ihrem zwischen Komödie und Drama changierenden Liebesfilm folgt die französische Regisseurin in sehr dynamischen Plansequenzen und geistreichen Dialogen der ebenso sprunghaften wie selbstbewussten Heldin. Deren fordernder Lebenshunger wird wiederum durch Ellipsen verdichtet und in Referenzen an Werke von Marquerite Duras und John Cassavetes gespiegelt. Anaïs‘ Unbedingtheit wird dabei zum Ausdruck ihrer Selbstbehauptung sowie eines Reifeprozesses.

El Entusiasmo

(ESP 2018, Regie: Luis E. Herrero)

Eine linke Filmgeschichtsschreibung
von Jürgen Kiontke

„Wir waren wie eine große Empanada voll mit Verbotenem“, sagt die Aktivistin, die damals dabei war: Als Europas letzter faschistischer Diktator Francisco Franco im Jahr 1975 stirbt, explodiert das Leben …

„Wir waren wie eine große Empanada voll mit Verbotenem“, sagt die Aktivistin, die damals dabei war: Als Europas letzter faschistischer Diktator Francisco Franco im Jahr 1975 stirbt, explodiert das Leben in Spanien. Sein Tod beendet eine Ära der Angst und Unterdrückung, macht den Weg frei für eine erlebnishungrige Jugend, die einiges nachzuholen hat. An Leben, Demokratie und Freiheit. Nach Jahrzehnten der Reaktion kommen auch exilierte Kämpfer aus dem spanischen Bürgerkrieg wieder ins Land, in den Fabriken rumort es… Es herrscht der entusiasmo, die Begeisterung – und der Aufbruch ist generationenübergreifend. Der Übergang von der Diktatur ins Leben – die transición – schien vieles möglich zu machen.

Der Kulturwissenschaftler Luis E. Herrero zeichnet in seinem ersten Langfilm die Entwicklung der Ereignisse nach. Aber er orientiert sich nicht an der offiziellen Geschichtsschreibung. Im Zentrum von „El Entusiasmo“ stehen die Zeitzeugen aus dem Lager der Anarchisten und Syndikalisten und ihre Organisation, die unabhängige Gewerkschaft Confederación Nacional del Trabajo (CNT). Sie, die vor der Herrschaft Francos eine Rolle in der spanischen Gesellschaft gespielt hatte, erlebt Mitte der 1970er Jahre ihre Wiedergeburt im Großen.

Innerhalb kurzer Zeit wird aus einer kleinen Untergrund-Gruppierung eine Massenbewegung. „Wir hatten Dynamit im Herzen“, wie es im Film heißt: Versammlungen mit hunderttausenden Teilnehmern, libertäre Festtage, Streiks und antikapitalistischer Widerstand stehen auf dem Programm. Die weltweite 68er-Bewegung entfaltet ihre Wirkung in Spanien mit Verzögerung, dafür aber in allen Lebensbereichen: neue Bücher, neue Aktionsformen, neue Kunst und Gesellschaftstheorien – eine Explosion von Formen und Farben.

Herrero hat eine rasante, sehr sehenswerte, eine linke Filmgeschichte dieser Zeit gedreht. Die Interviews mit den Akteuren der CNT werden von Aufnahmen von Festivals, nächtlichen Debatten und Streikszenen flankiert. Analysiert wird aber auch der Niedergang der Bewegung durch staatliche Intervention und sogar inszenierte Anschläge.

Denn in der Phase dieses Umbruchs blieben die Anarchosyndikalisten letztlich unbeachtet, wurden von den politischen Parteien ausgekontert. Den Schwung der libertären Bewegung nahm man gerne mit, ihre politischen Forderungen aber nicht. Und oft blieben dieselben franquistischen Funktionäre im Amt, die schon in der Diktatur das Sagen hatten. Aber auch interne Auseinandersetzungen taten ihr Übriges. Es kam zur Spaltung und Gründung einer – allen Ernstes – zweiten CNT (ab 1989 CGT). Heute arbeiten die beiden Gruppierungen punktuell zumindest in Katalonien zusammen.

Der Film ist ohne Förderung entstanden, mit viel Engagement der Beteiligten. „Es wäre sehr kompliziert geworden, wenn wir nicht das Vertrauen derjenigen gehabt hätten, die die unzähligen historischen Materialien zur Verfügung gestellt haben, durch die der Film lebt“, sagt Herrero. „Und da sich alles verändert, Menschen und Dinge, kann das Betrachten der Vergangenheit nur dazu dienen, die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft besser zu meistern.“

Und die sind ja nicht kleiner geworden.

Diese Kritik erschien zuerst am 14.07.2022 auf: links-bewegt.de

Die Ruhelosen

(FR/BE/LU 2021, Regie: Joachim Lafosse)

Die Grenzen der Liebe
von Marit Hofmann

Am Anfang des Films könnte der Kontrast zu seinem Titel nicht größer sein. Eine Frau schlummert selig am Strand einer idyllischen Bucht der Côte d‹Azur. Vater und Sohn sind zusammen …

Am Anfang des Films könnte der Kontrast zu seinem Titel nicht größer sein. Eine Frau schlummert selig am Strand einer idyllischen Bucht der Côte d‹Azur. Vater und Sohn sind zusammen mit dem Motorboot rausgefahren. Doch schon nach wenigen Minuten kommt der Film nicht mehr zur Ruhe. Draußen auf dem Meer springt Vater Damien kurzerhand ins Wasser und ruft dem verdatterten Kind zu: „Du nimmst das Boot, ich schwimme zurück.“ Bahnt sich eine Katastrophe an? Das Kind schafft es allein zurück, wo die mittlerweile unruhig auf und ab tigernde Mutter wartet. Bis endlich auch der Vater heil eintrifft, vergeht eine gefühlte bange Ewigkeit.

Die Angst ist von nun an dauerpräsent. Damien ist bipolar, und die nächste psychotisch-größenwahnsinnige Phase kündigt sich an. Wenn er seine Tabletten nicht nimmt – warum auch, wenn er sich einfach großartig fühlt und nichts seinen kreativen Schub als Maler hemmen soll –, wird er unberechenbar und zur Gefahr für sich und seine Familie.

„Tatsächlich werden Menschen, die enge Beziehungen zu bipolaren Menschen haben, auch selbst ‚unruhig'“, sagt Joachim Lafosse. Der belgische Regisseur hat sich für „Die Ruhelosen“ von seinen Erfahrungen mit dem eigenen bipolaren Vater, einem Fotografen, der darauf spezialisiert war, Gemälde abzulichten, inspirieren lassen. Der Vater im Film ist Maler; der kunstaffine Schauspieler Damien Bonnard (die Hauptdarsteller tragen dieselben Vornamen wie ihre Figuren) hat die in „Die Ruhelosen“ entstehenden abstrakten Gemälde teils selbst zusammen mit dem belgischen Künstler Piet Raemdonck kreiert. Die Malerei ist neben dem von radikalen Kontrasten geprägten Schauspiel ein weiteres Element, das Damiens Seelenzustand, seine fragile Impulsivität, illustriert.

Der Film spielt zur Zeit der Corona-Pandemie, die die Kleinfamilie umso mehr isoliert; in einer manischen Phase mutiert Damien zum Maskenverweigerer, jede Beschränkung engt ihn ein. Zu unterscheiden, wo die Leidenschaft endet und wo der Wahn beginnt, ist auch für die Zuschauerin nicht immer leicht. Lässt sich seine Frau (Leïla Bekhti überzeugt durch subtil nuancenreiches Spiel) anfangs noch von Damiens Begeisterungsstürmen mitreißen und auf einen spontanen feurigen Tanz ein, gewinnen über die Spanne des Films Resignation und schließlich Trotz und Widerstand gegen ihre unfreiwillige Rolle als Bewacherin, Krankenschwester und Ersatzmutter die Oberhand. Die Liebe bleibt auf der Strecke. Ihre Ablehnung richtet sich auch gegen den Galeristen, der Damien mit Ausstellungsterminen unter Druck setzt und von der Produktivität seiner manisch-eruptiven Phasen profitiert.

Auf den Ausbruch und die von lauter Musik begleiteten fahrig wackelnden Bilder von Kameramann Jean-François Hensgens folgt auch filmisch der harte Kontrast: lähmende Stille. Nach Damiens gewaltsam herbeigeführter Zwangsunterbringung in einer Klinik kommt der zuvor ruhelose Berserker von Medikamenten benebelt als vollends erschlaffter Koloss zurück, der sich in diesem Zustand umso mehr als Belastung für seine Familie fühlt.

Doch Lafosse erzählt vor allem aus Sicht der Angehörigen. Auch der Sohn ist mit der Aufgabe, auf den eigenen Vater aufpassen zu müssen, überfordert und bekommt mehr mit, als er soll. Die verlogenen Erwachsenensätze „Alles wird gut“ und „Mach dir keine Sorgen“ sind mehr Hohn als Trost.

Lafosse beruft sich auf den Psychoanalytiker Roland Gori, der sagt, „dass eine Diagnose für Ärzte bestimmt ist und nicht für die Angehörigen eines Patienten. Sobald eine Diagnose gestellt ist, besteht nämlich die Gefahr, … dass jedes Verhalten, jede Veränderung oder jedes weitere Problem, das auftaucht, der Krankheit zugeschrieben wird. Ich erinnerte mich, dass in meiner Familie die Bipolarität meines Vaters manchmal ein sehr bequemer Sündenbock war“.

„Die Ruhelosen“ ist kein Betroffenheitsfilm, sondern soll „unsere Fähigkeiten und Grenzen in unserem Engagement für die Liebe“ hinterfragen. Ob Beziehungen extremen Belastungen standhalten, untersuchte Lafosse schon in früheren ähnlich quälenden Filmen wie „Die Ökonomie der Liebe“ (Originaltitel: „After Love“) mit sezierendem, aber empathischem Blick.

Den Ausgang der „Ruhelosen“ entwickelte der Regisseur am Ende der Dreharbeiten gemeinsam mit den beiden Hauptdarstellern.

Diese Kritik erschien zuerst am 14.07.2022 in: ND

Wie im echten Leben

(FR 2021, Regie: Emmanuel Carrère)

Undercover in der Putzkolonne
von Jürgen Kiontke

Erfolgsschriftstellerin Marianne (Juliette Binoche) hat genug auf den Vernissagen, Eröffnungsbällen und Empfängen des Pariser Kulturlebens rumgestanden. Jetzt nimmt sie sich mal was Richtiges vor. Michel Houellebecqs Nichthelden erleben ihre Talfahrten …

Erfolgsschriftstellerin Marianne (Juliette Binoche) hat genug auf den Vernissagen, Eröffnungsbällen und Empfängen des Pariser Kulturlebens rumgestanden. Jetzt nimmt sie sich mal was Richtiges vor. Michel Houellebecqs Nichthelden erleben ihre Talfahrten in der Provinz, Didier Eribon kehrt nach Reims zurück. Und Marianne? Zieht unerkannt, weil bestens ungeschminkt, ins nordfranzösische Caen. Statt Häppchen und Brut ab jetzt McDonald’s-Fritten und Arbeitslosenhilfe. Gleich gibt es was auf die Ohren, als sie in der Fallaufnahme des Arbeitsamtes aufschlägt: „Nein“, brüllt die Beraterin der Frau, die vor Marianne dran ist, ins Gesicht, „wir können Ihnen nichts mehr auszahlen!“ Womit Christèle, die junge, rabiate Mutter, die schnell mal die Kontrolle verliert, ihren drei Kindern den Hunger stillen soll, darauf gibt es keine Antwort. Erst der Sicherheitsdienst beendet die Keilerei.

Marianne recherchiert auf der Unterseite der französischen Gesellschaft: Arbeitslosenraten von 30 Prozent und mehr, deindustrialisierte Zonen, vielleicht gibt es gerade noch einen großen Arbeitgeber. In Mariannes Fall ist es die Zentrale der Putzkolonne: Nachts haben die Frauen nur wenig Zeit, um die Fähre nach England zu schrubben. Was sie dort vorfinden, nimmt ihnen mehr als einmal den Atem. Eine andere Arbeit findet sich nicht. Für Marianne ist es gerade recht, die anderen – die Migranten mit abgelaufener Aufenthaltsgenehmigung, die Single-Mütter, die jungen Leute ohne Schulabschluss – finden hier am Nordende des Albtraums der Europäischen Union wenig anderes.

Badezimmer durchwischen, Bettwäsche raus und rein, die Flure schick – die Kolonne läuft zum Hochleistungssport auf, für einen Stunden-Mindestlohn, der ständig unterlaufen wird. Zwei Stunden Anfahrt mit Bussen, die nicht immer kommen. Heiße enge Räume, einmal wird die Mannschaft sogar eingesperrt, fährt mit nach England, plündert immerhin mehrere Minibars und hat recht gute Laune. Der Spaß kommt jedenfalls nicht zu kurz.

© Neue Visionen

Regisseur Emmanuel Carrère – eigentlich selbst eher Autor und derzeit ungewöhnlicherweise stark im Gespräch wegen seines Buches „Yoga“, in dem er von seinem Leben mit einer bipolaren Störung berichtet – zeigt richtig viel Talent im Umgang mit seinen Darstellerinnen Hélène Lambert, Léa Carne, Emily Madeleine und anderen, bis auf Binoche meist Laiendarstellerinnen, im Auftreten ebenso überzeugend wie die Hollywood-Prominenz.

„Wie im echten Leben“ bringt das prekäre Leben mit intelligenter Zeichnung und einem guten Blick für Details auf die Leinwand. Das ist ein Film, der drastisch ist, aber niemals den Respekt vor seinem Sujet verliert – und auch nicht in schlechten Humor abkippt, wie dies wohl bei einem deutschen Film passierte, der sich fürs Fußvolk oft nur per Slapstick begeistern kann. (Wer es überprüfen will, mag sich „Liebesdings“ mit Elyas M’Barek anschauen (ab 7. Juli), in dem die Figuren aus dem Prekariat klassistisch gestrickt die meiste Zeit auf ihre schlechten Angewohnheiten reduziert werden.)

Neben der Handlung liefert das Skript von „Wie im echten Leben“ eine Reihe Informationen über Europas prekäre Arbeitswelt, speziell der Frauen. Und selbst den Ausstieg Mariannes aus der Zeitarbeiterklasse zeigt der Film überzeugend und an der Grenze zur Sentimentalität, die freilich nie überschritten wird: Mariannes Mitstreiterinnen können zwar eine Menge Dinge ab. Aber angelogen werden ist nicht so ihrs. Wie der Film aus dem Dilemma rauskommt, ist hart und herzlich gleichermaßen – mit Tendenz zum ersteren. Einer der besten Spielfilme dieses Jahr.

Diese Kritik erschien zuerst am 30.06.2022 auf: links-bewegt.de

France

(FR/DE/BE/IT 2021, Regie: Bruno Dumont)

Gefangen in Selbsttäuschungen
von Wolfgang Nierlin

Bevor der französische Präsident Emmanuel Macron seine große, mit Spannung erwartete Pressekonferenz beginnt, zeigt das erste Bild die über dem Élysée-Palast gehisste Trikolore. Sie solle den Staatschef mit einer Frage …

Bevor der französische Präsident Emmanuel Macron seine große, mit Spannung erwartete Pressekonferenz beginnt, zeigt das erste Bild die über dem Élysée-Palast gehisste Trikolore. Sie solle den Staatschef mit einer Frage nach der „rebellischen Instabilität der französischen Gesellschaft“ aufs Glatteis führen, rät die forsche und etwas vulgäre Assistentin Lou (Blanche Gardin) ihrer Chefin, der Starjournalistin France de Meurs (Léa Seydoux). Diese trägt für ihren angriffslustigen, provokanten Auftritt einen roten Mantel. „Du zeigst ihn nackt“, frohlockt Lu über Frances Coup, begleitet von obszönen Gesten. Dagegen ist die auffallende, oft wechselnde Kleidung von France ein Markenzeichen. Die Identität einer schillernden Medienvertreterin als Repräsentantin des öffentlichen Lebens wird in Bruno Dumonts neuem Film „France“ zum Spiegelbild eines krisenhaften Landes. Dabei spielen die medialen Inszenierungen im Spannungsfeld zwischen Wahrheit und Lüge, Fiktion und Realität eine besondere Rolle.

„Un regard sur le monde“ lautet der Titel von Frances umjubeltem TV-Magazin. Doch „ihr Blick auf die Welt“ ist nicht nur ein höchst „subjektiver“, wie die Journalistin selbst einmal über ihren Stil sagt, sondern vor allem ein höchst inszenierter. Das Sensationsheischende und das Skandalumwitterte dominieren den politischen Inhalt. Auch Bruno Dumont interessiert sich mehr für die Mechanismen des Medienbetriebs, der mit Fiktionen eine Wirklichkeit herstellt, die aus Täuschungen besteht und zugleich zum Abbild einer krisenhaften Gesellschaft wird. Dass diese ihre Gefährdungen nicht bemerkt, ist dabei ebenso beunruhigend wie Frances Selbstbetrug. Denn noch in ihren Abstürzen wähnt sich die Sensationsjournalistin auf einer „Mission“, ohne zu bemerken, dass sie selbst ein Werkzeug und Opfer ist.

Dass das ihr Unbewusstes lange vor ihr weiß, signalisieren ihre wiederholten Tränen. France weint über sich und über das, was sie tut; vor allem aber über ihr eigenes Bild und ihre öffentliche Berühmtheit. Als sie einen Verkehrsunfall mit eher marginalen Folgen verursacht, verdichten sich die Anzeichen einer Identitätskrise. France, für ihren Mann (Benjamin Biolay) und ihren kleinen Sohn längst nicht mehr erreichbar, nimmt eine Auszeit, um ihr „krankes Herz“ in einem Kurhotel in den verschneiten Bergen zu besänftigen. „Ich möchte unsichtbar sein“, beschreibt sie in einer Therapiesitzung ihren Wunsch nach Anonymität. Doch dann wird sie selbst betrogen und zum Opfer der Klatschpresse.

Der Zwang zur Wiederholung im Kreislauf des Unabänderlichen und die Gefangenschaft in der jeweiligen sozialen Klasse scheinen Dumonts hyperrealistische Gesellschaftsdiagnose zwischen Groteske und Melodram zu dominieren. Trotzdem schwingt in der ausgestellten Künstlichkeit gedehnter Szenen und den schwebenden Sounds von Christophe am Ende doch auch eine leichte Hoffnung auf das Menschliche eines erwachenden Bewusstseins mit.

Lieber Thomas

(D 2021, Regie: Andreas Kleinert)

Kino der Emphase
von Wolfgang Nierlin

Schon die ersten Bilder von Andreas Kleinerts Film „Lieber Thomas“ sowie die überdimensionalen, die Leinwand füllenden Credits (sonst eher in den Filmen Gaspar Noés zu besichtigen) signalisieren, etablieren und behaupten …

Schon die ersten Bilder von Andreas Kleinerts Film „Lieber Thomas“ sowie die überdimensionalen, die Leinwand füllenden Credits (sonst eher in den Filmen Gaspar Noés zu besichtigen) signalisieren, etablieren und behaupten ein Kino der Emphase und der Übertreibung. Mit großer filmischer Geste, überdeutlichen Unterstreichungen und pastoser Figuren-Zeichnung entwickelt der Regisseur ein bewusst lückenhaftes, von Unschärfen und Erfindungen gekennzeichnetes Biopic über den umstrittenen Schriftsteller Thomas Brasch (Jahrgang 1945), der in der DDR aufwächst und später im Westen lebt. Gegliedert nach Gedichtzeilen, die eine gewisse Widersprüchlichkeit und innere Zerrissenheit des umschwärmten Autors ausdrücken, folgt der Schwarzweißfilm einem Künstler, der mit sich und gegen eine repressive respektive ausbeutende Gesellschaft um Freiheit ringt. Die Darstellung einer exzessiven Künstlerexistenz, die sich hier weitgehend in Schreiben, Saufen und Vögeln erschöpft, bleibt allerdings ziemlich eindimensional und oberflächlich.

Das beginnt schon mit dem Internatsaufenthalt des kleinen Thomas, der sich als verträumter Junge gegen eine rigide, brutale Ordnung aus Zucht und Disziplin behaupten muss. Später, im Dramaturgie-Studium an der Filmhochschule Babelsberg, wird aus dem zum Schriftsteller berufenen jungen Mann (Albrecht Schuch) ein schlagfertiger Rebell mit Widerspruchsgeist, der von den Vertretern des Regimes kaum zu bändigen ist und der deshalb relegiert wird. Als er schließlich während des Prager Frühlings, ohne davon richtig überzeugt zu sein, zusammen mit seinen Freunden Flugblätter verteilt, kommt es zur offenen Konfrontation mit seinem Vater, einem ranghohen Kulturfunktionär, der den Sohn verrät. Haft, Zwangsarbeit als Fräser und die Ausweisung beziehungsweise Ausreise nach Westdeutschland im Jahre 1976 sind die gravierenden Folgen. Dass die ersehnte Freiheit auch dort weiterhin ein uneingelöstes Versprechen bleibt, muss der Verfemte schmerzlich erfahren.

Sowohl Braschs politischer Kampf als auch seine Literatur sind in Kleinerts Film – eine Ausnahme bildet die Beschäftigung mit dem schriftstellernden Mädchenmörder Brunke – merkwürdig unterbelichtet. Stattdessen konzentriert sich die Inszenierung mit einigen plakativen Schauwerten auf die Darstellung eines wüsten, wilden Künstlerlebens irgendwo zwischen Drogen, Sex und intensiven Schreibanfällen. Neben der Zeichnung einer hungrigen, kreativen Ost-Bohème bleiben vor allem Braschs Beziehungen zu diversen Frauen klischeehaft. Diese erscheinen vornehmlich als schöne, weitgehend konturlose Anhängsel eines auf seine Unabhängigkeit bestehenden Genies, das die hehren Ideale einer freien Liebe und einer ebenso freien Kunst postuliert und dabei auf jegliche Verantwortung pfeift.

Thomas Brasch, so gibt Kleinerts Film zu verstehen, will (gemäß der symbolischen Rahmenhandlung) hoch hinaus, schafft das, bedingt durch seinen frühen Tod im November 2001, aber nur zum Teil. Nur in den nahtlos in die Handlung eingeflochtenen Träumen, die mal aufsässige, widerständige und unversöhnliche, dann wieder friedliche, zärtliche und symbiotische Gegenwelten beschreiben, scheint zu gelingen, was dem widersprüchlichen Autor zeitlebens verwehrt blieb.

Wood – Der geraubte Wald

(AT/DE/ROU 2020, Regie: Michaela Kirst, Monica Lazurean-Gorgan, Ebba Sinzinger)

Kahlschlag
von Jürgen Kiontke

Ob in Sibirien, Rumänien oder Peru: In vielen Weltgegenden floriert der illegale Holzeinschlag. Der Dokumentarfilm „Der geraubte Wald“ macht auf den Umstand aufmerksam, dass – weit unter dem Radar der …

Ob in Sibirien, Rumänien oder Peru: In vielen Weltgegenden floriert der illegale Holzeinschlag. Der Dokumentarfilm „Der geraubte Wald“ macht auf den Umstand aufmerksam, dass – weit unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung und ganz entgegen allen Schutzmaßnahmen gegen den Klimawandel – der Holzhandel mit verbotenen Hölzern läuft wie geschmiert.

Im Zentrum steht Alexander von Bismarck, der seit Jahren die „Environmental Investigation Agency“ in Washington betreibt, eine NGO, die sich der Waldrettung verschrieben hat. Von Bismarcks Methoden erinnern dabei durchaus an einen Wirtschaftskrimi: Er wechselt Identität und Aussehen, benutzt versteckte Kameras und Mikros, um die Akteure des illegalen Holzhandels ans Licht zu bringen. Vor die Linse geraten ihm Waldarbeiter, die Manager eines österreichischen Holzkonzerns und führende Regierungsmitglieder.

Hier Abhilfe zu schaffen und den Bestand zu schützen, scheint fast unmöglich. Und es ist nicht immer nur der Regenwald – die Verbrechen geschehen durchaus auch in Europa: 48 Hektar sollen allein in Rumänien täglich abgeholzt werden. In Sibirien bedroht der Kahlschlag mittlerweile die letzten Rückzugsgebiete des Sibirischen Tigers – „dabei wollen wir nur Dielen“, wie es einer der Holzzwischenhändler formuliert. Ein Geschäft, das richtig auf die Knochen geht. Politiker werden eingeschüchtert oder geschmiert – das können sie sich aussuchen -; Umweltschützer und Förster einfach umgebracht.

Dieser Film will mit detektivischem Spürsinn politisches und öffentliches Bewusstsein schaffen – über die grausigen Folgen des Raubbaus in den Wäldern.

Diese Kritik erschien zuerst am 21.06.2022 auf: links-bewegt.de

Infos zu Terminen und On-Demand-Sichtungen: https://dergeraubtewald.de/im-kino

Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel

(FR/JP/DE/BE/IT/KH 2021, Regie: Arthur Harari)

Pflicht, zu überleben
von Wolfgang Nierlin

In der Rahmenhandlung des Films reist im Jahre 1973 ein junger japanischer Tourist auf die philippinische Insel Lubang, um den „letzten Soldaten des Krieges“ aufzuspüren. Dieser ist aus dem Off …

In der Rahmenhandlung des Films reist im Jahre 1973 ein junger japanischer Tourist auf die philippinische Insel Lubang, um den „letzten Soldaten des Krieges“ aufzuspüren. Dieser ist aus dem Off zu hören, während er seiner gefallenen Kameraden gedenkt: „Sie haben gesagt, wir kommen wieder.“ Onoda Hirō (Kanji Tsuda), der seit dreißig Jahren fernab der Zeitläufte im Dschungel lebt, ist ein Wartender und ein Überlebender. Mit seiner Treue zu Befehl und Vaterland ehrt er nicht nur die Vergessenen, sondern er demonstriert zugleich einen Gehorsam wider die Vernunft. Als der 22-jährige Onoda von seinem Vater in den Pazifikkrieg verabschiedet wird, beschwört ihn dieser: „Dein Körper ist dein Vaterland!“ Niemals dürfe dieser lebend in die Hände des Feindes fallen, weshalb der Vater dem Sohn zum Abschied einen Dolch schenkt. Doch der junge Leutnant gehört zu einer Spezialeinheit, deren Pflicht es ist, zu überleben: „Ihr habt nicht das Recht, zu sterben.“

Arthur Hararis epischer Film „Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel“, der auf einer wahren Geschichte basiert, folgt den Spuren seines aus der Zeit gefallenen Titelhelden über einen Zeitraum von dreißig Jahren. Geleitet wird er dabei von Onodas rudimentären Tagebuchaufzeichnungen sowie von einer Karte der Insel, die dieser über die Jahre erstellt. Obwohl der pflichtbewusste Offizier den „totalen Widerstand“ befiehlt, kommt es kaum zu einer Feindberührung. Vielmehr scheint er einer Strategie des Ausweichens zu folgen. Die Absurdität der Mission resultiert schließlich gerade aus der schier unumstößlichen Überlebenspflicht, die sich nach dem Ende der Kampfhandlungen gegen die historische Wahrheit und damit auch gegen die neue Wirklichkeit des eigenen Heimatlandes stellt.

Und so erzählt Hararis ebenso beeindruckender wie vielschichtiger Film auf einer zweiten Ebene vor allem vom Zusammenhalt und der Freundschaft unter den wenigen verbleibenden Männern, die nach und nach sterben oder die Truppe verlassen. Onodas eigensinnige Mission trägt dabei zunehmend Züge einer Realitätsflucht. Umgeben von einem überwältigend satten Grün, von den Geräuschen des Dschungels und der feuchten Atmosphäre langer, sinnlicher Regentage, deutet der „letzte Held“ die Wirklichkeit um. Er folgt damit dem Auftrag und Diktum seines ehemaligen Vorgesetzten: „In letzter Instanz ist jeder allein sein eigener Offizier.“ Nur derjenige, der den Befehl gegeben hat, kann ihn widerrufen.

Das starke Geschlecht

(D 2021, Regie: Jonas Rothlaender)

Manchmal schwach aufgestellt
von Jürgen Kiontke

Stress, Stress, Stress – das ist es, was heterosexuelle Männer im Kopf haben, wenn es um Sexualität geht. Zumindest wenn man den anonym bleibenden Interviewpartnern des Regisseurs Jonas Rothlaender glauben …

Stress, Stress, Stress – das ist es, was heterosexuelle Männer im Kopf haben, wenn es um Sexualität geht. Zumindest wenn man den anonym bleibenden Interviewpartnern des Regisseurs Jonas Rothlaender glauben darf, die er für seinen Film „Das starke Geschlecht – Männer reden über Sex“ vor die Kamera gesetzt hat. Jeweils zu Beginn eines Gesprächs übergibt er ihnen einen Text, mit dem sie sich auseinandersetzen sollen, ihre Meinung äußern. Anschließend können die Männer, geschätzt Ende 20 bis Ende 30 Jahre alt, mit ihren Vorstellungen loslegen. Was macht die ideale Partnerin aus? Wie muss sie handeln? Welche Erwartungen stellst du an dich selbst? Und nicht zuletzt: Wie entsteht Gewalt im sexuellen Kontext, wie stehst du dazu?

Viele der Antworten handeln von männlicher Dominanz. Ja, die Frauen erwarten von uns Männern, dass wir bestimmend sind, nicht lange rumeiern – Aktivität ist gefragt. Was machen derlei Konventionen mit der eigenen Sexualität und inwieweit formt die Fremdwahrnehmung den Umgang mit Schwächen und Emotionen?

Vor allem machen sie Druck. Wenn ich den Regeln, die es in meiner Vorstellung gibt, nicht Folge leiste, bin ich ein Versager – das bekunden Rothlaenders Interviewpartner nicht nur einmal. Besonders verrückt wird es, wenn es darum geht, wie die Partnerin zu sein hat. An Offenheit mangelt es hier nicht: Von Verständnis bis zu einem bestimmten Aussehen bis hin zur Form der Geschlechtsorgane ist alles dabei. Na, und wenn sich herausstellt, dass nicht alles perfekt ist? Auch dann fühlen sich einige der Männer als Loser, denn sie geben sich selbst dafür die Schuld, nicht die ideale Frau gefunden zu haben.

Als Zuschauer fühlt man mit den Protagonisten mit – und mit den nicht anwesenden Protagonistinnen auch. Die Szenen in Beziehungen, die sich aus den angesprochenen Haltungen ergeben, kann man sich sehr lebhaft vorstellen. Und das sind alles die Ottonormalverbraucher. Denken alle Männer so? Das müsste man eben rausfinden, sagt der Regisseur. Das Thema „männliche Identität“ beschäftige ihn schon lange, „da ich selber einfach schon sehr lange mit meiner gehadert habe“. Ausgangspunkt sei gewesen, dass fast jede Frau, die er kennt, sexuelle Belästigung oder gar sexualisierte Gewalt erlebt hat. Dabei seien ihm die „gesellschaftlichen Regeln“, die ganz schnell die eigenen sind, sehr klar gewesen. Rothlaender: „Passt du nicht in diese Schablone, dann bist du kein Mann.“ Na, dann eben nicht, möchte man ihm zurufen! Aus dieser Haltung diesen Dokumentarfilm gemacht zu haben, sich selbst der Technik Film zu bedienen, um sich seiner Einstellungen bewusst zu werden, verdient großes Lob, und den Sprechern sei Dank, dass sie offen reden, auch wenn an manchen Stellen gezielteres und weiterführendes Nachfragen möglich gewesen wäre, denn eine Reihe Themen der härteren Sorte kommen recht kurz: etwa Prostitution und Krankheit. Und Kindererziehung! Diversität sucht man ebenfalls eher vergebens.

Unmöglich aber ist es, sich diesen Film anzuschauen und nicht selbst ins Nachdenken zu kommen. Und das ist top! Rothlaender: „Mein Hauptziel ist, einen Dialog herzustellen und Leute zu einer Diskussion anzuregen. Das Interessante ist, dass die Zuschauenden in die unterschiedlichsten Gefühlslagen eintauchen.“

Diese Kritik erschien zuerst am 15.06.2022 auf: links-bewegt.de

Bettina

(DE 2022, Regie: Lutz Pehnert)

Das Leben als Zivilcourage
von Jürgen Kiontke

„Hoffnung haben beim Ertrinken/Nicht im Wohlstand zu versinken/Einen Feind zum Feinde machen/Solidarität mit Schwachen“: Lieder und Texte von Bettina Wegner stellen in Deutschland ein eigenes Genre dar. Wider Willen berühmt …

„Hoffnung haben beim Ertrinken/Nicht im Wohlstand zu versinken/Einen Feind zum Feinde machen/Solidarität mit Schwachen“: Lieder und Texte von Bettina Wegner stellen in Deutschland ein eigenes Genre dar. Wider Willen berühmt geworden mit ihrem Lied „Sind so kleine Hände“, das sich bis heute vor ihr Gesamtwerk schiebt, ist ihr Schaffen eine vertonte gesamtdeutsche Nachkriegsbiografie.

Regisseur Lutz Pehnert – nach Filmen über Alkoholiker-Brigaden, die DDR-Seefahrt und Osttheater mittlerweile so etwas wie der filmische Chronist ostdeutscher Geschichte – hat der Legende nun ein filmisches Denkmal gesetzt. „Bettina“ rekonstruiert anhand von Prozessakten, Archivaufnahmen und Live-Mitschnitten einer heutigen Probensession dieses spektakuläre Leben, das sich in mindestens zwei Ländern, vor Gericht und in Haftanstalten, zwischen mehreren Kindern, Ehemännern und einer Affäre mit Oskar Lafontaine abgespielt hat. Die Gitarrenschlaghand kaputt operiert. Die heute 74-jährige Kettenraucherin brilliert mit druckbaren Statements vor der Kamera, einer Philosophin am eigenen Leben.

Geboren am 4. November 1947 in Berlin-Lichterfelde, wächst Bettina Wegner im Ostberliner Bezirk Pankow auf, die Eltern, überzeugte Kommunisten, waren in den Ostteil der Stadt gezogen. Im Westen waren ihnen die Mieten zu teuer. Mit 12 Jahren eckte Bettina, die Aufmüpfige, an. Kurioserweise, weil sie Lobpreisungen auf den Genossen Stalin hatte verlauten lassen. Der war da aber gerade richtig out.

© Salzgeber

1964 Ausbildung zur Bibliotheksfacharbeiterin, dann Studium an der Schauspielschule in Berlin. 1965 nimmt sie am republikweiten Wettbewerb junger Talente teil, wird delegiert zu den Arbeiterfestspielen in Frankfurt/Oder. 1966 gehört sie zu den Mitbegründern des „Hootenanny-Klubs“, der von dem kanadischen Sänger Perry Friedman ins Leben gerufen wird, später geht aus ihm der „Oktoberklub“ hervor.

Nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakische Republik verteilt sie Flugblätter gegen die Intervention und wird verhaftet. Der Vorwurf: staatsfeindliche Hetze. Ihre Haftstrafe darf sie in der Produktion ableisten. Nach Heirat mit dem Schriftsteller Klaus Schlesinger landet sie in der Berliner Stadtbibliothek. Per Abendschule Abitur nachgeholt, jetzt schnell die Ausbildung zur Sängerin am Zentralen Studio für Unterhaltungskunst; staatlich geprüfte Liedermacherin. Sie tritt mit eigenen Liedern und lyrischen Texten auf.

Auch Wegner gerät Mitte der 1970er Jahre in den Strudel der Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermann. Wer dagegen protestiert, kriegt selber Ärger mit der Staatsmacht. Sie erhält Auftrittsverbot, darf paradoxerweise aber in Westdeutschland singen. 1983 verlässt sie die DDR. Mit ihrem Top-Hit „Kleine Hände“ erlangt sie schnell Berühmtheit, sogar ein gemeinsames Konzert mit Joan Baez gibt es. Mit Amnesty International engagierte sie sich jahrelang öffentlich gegen die Todesstrafe.

Nie ruhig sein: Bis heute weiß sie nicht, wie man den Mund hält, da ist dieser Film der ideale Transmissionsriemen für diese schlagfertige Frau. „Ich habe sofort zugesagt“, sagt sie, als man für den Film an sie herantrat. „Weil ich gedacht habe, das gibt sowieso nichts.“

Ihr Markenzeichen – pessimistische Grundhaltung bei guter Laune – hat sie bis heute beibehalten: Ja, sie habe Angst vor einem Krieg, sagt sie. Aber sie befinde sich „ja nun auf der Zielgeraden des Lebens“. Was solle da schon passieren.

Diese Kritik erschien zuerst am 30.05.2022 auf: links-bewegt.de

Vom Kriege

(FR 2008, Regie: Bertrand Bonello)

Auf der Suche nach Lebendigkeit
von Wolfgang Nierlin

„Wäre ich nicht Bob Dylan, wäre ich sicher auch davon überzeugt, dass Bob Dylan jede Menge Antworten hat“, lautet ein Zitat des Folksängers, das nicht von ungefähr als Motto über …

„Wäre ich nicht Bob Dylan, wäre ich sicher auch davon überzeugt, dass Bob Dylan jede Menge Antworten hat“, lautet ein Zitat des Folksängers, das nicht von ungefähr als Motto über Bertrand Bonellos Film „Vom Kriege“ („De la guerre“) aus dem Jahre 2008 steht. Denn darin befindet sich der Filmemacher Bertrand (Mathieu Amalric) als mutmaßliches Alter Ego des französischen Regisseurs und Musikers in einer sowohl existentiellen als auch künstlerischen Krise. Zu Beginn sieht man ihn beim Telefonieren mit seiner Freundin Louise (Clotilde Hesme) hinter der Scheibe eines Waschsalons, ohne ihn zu hören. Bertrands Distanz zu seinem Umfeld ist also eine doppelte und verweist zugleich auf seine persönliche Isolation, in der er allein ist mit seinen Fragen. Alles falle ihm schwer, sagt er, der das Leben sucht, ja von ihm überwältigt werden möchte und ihm doch ausweicht.

Bonello spiegelt diese autofiktionale Künstlerproblematik außerdem im neuen Filmprojekt seines Protagonisten, für das dieser in einem Beerdigungsinstitut recherchiert. „Es geht um jemanden, der viel an den Tod denkt“, beschreibt Bernard seinen noch jungen Helden, der das Gefühl habe, „nie da zu sein, wo er sein müsste.“ Für die Nacht erhält Bertrand vom Inhaber (Vincent Macaigne) die Erlaubnis, in dem Ausstellungsraum mit den Särgen bleiben zu dürfen. Als er sich in einen von diesen legt und sich der Sargdeckel unvermittelt schließt, erlebt er den Albtraum einer Gefangenschaft zwischen Leben und Tod, Wirklichkeit und Traum. Am darauffolgenden Morgen beschreibt der Filmemacher sein Schockerlebnis allerdings zugleich als genussvoll und ekstatisch, mithin als einen Zustand der Erhabenheit.

Um das durch diese Initiation ausgelöste „göttliche Gefühl“ wiederzufinden, entsagt Bertrand seinem bisherigen Leben und lässt sein privates und berufliches Umfeld hinter sich. Fortan sucht er nach der absoluten Gegenwärtigkeit einer reinen Existenz. Bonello zitiert dafür den gleichnamigen Film von David Cronenberg. Vor allem aber stellt er seinem Suchenden mit dem mysteriösen Charles (Guillaume Depardieu) einen Begleiter an die Seite, der ihn in die Landkommune einer Aussteiger-Sekte einführt. Deren zugewandte, charismatische Führerin Uma (Asia Argento) propagiert Genuss durch Entsagung sowie eine Freude, die sich nur dadurch erreichen lasse, dass man wie ein Krieger kämpfe. Bertrand Bonello hat seinen spirituellen Film deshalb lose nach Kapitelüberschriften aus dem titelgebenden Buch des preußischen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz gegliedert.

Schon darin zeigt sich das von disparaten Elementen besetzte Feld, auf dem Bonello zur Beschreibung eines krisenhaften Sinnverlustes eine Reihe von esoterischen, mythologischen und philosophischen Motiven versammelt hat. Diese wiederum sind verschränkt mit Selbstzitaten (etwa dem Film „Tiresias“, 2003) sowie Referenzen auf „Woyzeck“ und „Apocalypse Now“, Pasolini und Dylan. Im experimentellen, mit einfachen Mitteln gestalteten Setting entfaltet sich insofern eine anspielungsreiche, symbolische Handlung, die mitunter auch die Realitätsgrenze verwischt.

Nach Meditationsübungen, ritualisierten Kämpfen, Deprivationszuständen und ekstatischen Tänzen – einem Katalog suggestiver oder auch entgrenzender Praktiken, die Bonello nicht ohne Ironie inszeniert -, scheint Bertrand allmählich eine neue Stufe des Bewusstseins zu erreichen, auch wenn das banal oder komisch klingen mag: „Heute habe ich akzeptiert, dass ein gewöhnlicher Tag ein schöner ist.“ Doch selbst nach der akuten Krisenbewältigung ist sein utopisches Verlagen noch nicht gestillt. Dass Bertrands Weg zur individuellen Befreiung und zur Erfahrung von Transzendenz schließlich in einer Art Selbstapotheose kulminiert, scheint dann doch gewagt, wird durch Dylans Song „She belongs to me“ aber zugleich auf den Boden schillernder „Tatsachen“ zurückgeholt und damit abgemildert.

Der Film ist bis zum 31.10.2022 in der Arte-Mediathek verfügbar.

Flee

(DK/FR 2020, Regie: Jonas Poher Rasmussen)

Erinnerungen eines Geflüchteten
von Wolfgang Nierlin

Ein Zuhause sei für ihn ein Ort, an dem er sich in Sicherheit fühle und dauerhaft bleiben könne, sagt Amin Nawabi zu Jonas Poher Rasmussen. Der dänische Regisseur hat sich …

Ein Zuhause sei für ihn ein Ort, an dem er sich in Sicherheit fühle und dauerhaft bleiben könne, sagt Amin Nawabi zu Jonas Poher Rasmussen. Der dänische Regisseur hat sich mit seinem aus Afghanistan stammenden Freund zu einem langen Interview verabredet, in dem Amin von seiner traumatischen Flucht erzählt. Zwanzig Jahre lang konnte der mittlerweile 36-jährige Akademiker nicht darüber sprechen, musste er Geschichten erfinden, um sich vor seiner Angst zu schützen. Im Setting einer psychoanalytischen Sitzung, für deren Hintergrund der Interviewer das Muster eines orientalischen Teppichs wählt, stellt sich Amin in der Gegenwart des Films seinen Erinnerungen und damit der Wahrheit. Als Mittel der Distanzierung verwendet Jonas Poher Rasmussen, der selbst aus einer Künstlerfamilie ehemals geflüchteter Juden stammt, das Medium der Animation, das durch verschiedene Verfremdungstechniken zusätzlich gebrochen wird. So wechselt der Film immer wieder zwischen erzählter Gegenwart und erinnerter Vergangenheit, die wiederum durch historische Dokumentarfilmaufnahmen illustriert wird; außerdem verweist und zeigt der preisgekrönte Film „Flee“ seine eigene Inszeniertheit.

Auch die animierten Sequenzen weisen deutliche stilistische Unterschiede auf und kontrastieren damit das innere und äußere Erleben des Protagonisten. Während Amins Kindheit zu Beginn der 1980er Jahre in Kabul in lebendigen Farben und mit klar konturierten Figuren gezeichnet ist, erscheinen seine Ängste und Albträume als gesichtslose, verzerrte Schatten in Schwarzweiß, deren fragmentierten Bewegungen in wenigen Strichen über die Leinwand huschen. Das Ungreifbare und Verdrängte, das sich darin bedrohlich und schmerzhaft Bahn bricht und noch immer Amins Leben entscheidend bestimmt, ist Gegenstand des gewissermaßen „therapeutischen Interviews“. Durch seine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erhofft sich Amin, der als Postdoktorand zwischen Princeton in den USA und seinem Wohnort in Dänemark pendelt, auch eine Perspektive auf das Zusammenleben mit seinem Freund Kasper.

Doch bevor sich Amin in der Rahmenhandlung des Films endlich zu Kasper und einem gemeinsamen Domizil bekennen kann, durchlebt er noch einmal die Schrecken seiner Flucht. Schon unter den Kommunisten gerät seine bürgerliche, offensichtlich gut situierte Familie in Bedrängnis, muss dann aber überstürzt mit einem Reisevisum nach Moskau flüchten, als die Mudschaheddin Kabul erobern. Nach dem Zerfall der Sowjetunion herrschen dort Chaos, Mangel und Kriminalität, was der Film mit einer realistischen Zeichnung und historischem Bildmaterial wirklichkeitsnah erzählt. Schließlich ist Amins Familie gezwungen, sich zwischen Scheitern und Hoffen kriminellen Schleppern anzuvertrauen. Was der Heranwachsende dabei oft unter Todesangst erlebt, schildert der Film in den vielen Szenen, in denen die Flüchtenden diskriminiert, zurückgewiesen und abgelehnt werden. Als Amin schließlich als „unbegleiteter Minderjähriger“ 1995 Kopenhagen erreicht, findet seine äußere Odyssee zwar ein vorläufiges Ende; sein innerer Weg zu einem neuen Vertrauen geht allerdings weiter und führt schließlich zu Jonas Poher Rasmussens wichtigem Film „Flee“ sowie durch diesen hindurch.

„Flee“ läuft als Erstaufführung am 30.5.2022 um 20.15 im Arte TV und steht vom 23.5. bis 28.7. in der Arte Mediathek zur Verfügung.

Sundown

(MEX/SW/FR 2021, Regie: Michel Franco)

Die Zeit, die bleibt
von Wolfgang Nierlin

Vom wolkenlosen, blauen Himmel strahlt unerbittlich die Sonne. Das Licht bricht sich auf den Wasserflächen an einem Strand von Acapulco und in den Swimmingpools der Hotels. Unter der gleißenden Helligkeit …

Vom wolkenlosen, blauen Himmel strahlt unerbittlich die Sonne. Das Licht bricht sich auf den Wasserflächen an einem Strand von Acapulco und in den Swimmingpools der Hotels. Unter der gleißenden Helligkeit scheint sich die Linie des Horizonts ins Unendliche zu dehnen. Wo Himmel und Meer verschmelzen, wirkt die Zeit wie eine träge Masse, die sich in die Körper schleicht. Mehr dösend sowie von Alkohol und Tabletten benebelt, verbringt die Londoner Unternehmerfamilie Bennett ihre Ferientage in einem Luxushotel der mexikanischen Touristenstadt am Pazifik. Dass die beiden erwachsenen Kinder Alexa (Albertine Kotting McMillan) und Colin (Samuel Bottomley) zu Alice (Charlotte Gainsbourg) gehören und dass der schweigsame Neil (Tim Roth) der Bruder von Alice ist, wird erst nach und nach klar. Denn Michel Franco erzählt seinen Film „Sundown – Geheimnisse von Acapulco“ elliptisch, völlig schnörkellos und mit einem sehr sparsamen Informationsfluss; was wiederum mit der Sprachlosigkeit zwischen den Familienmitgliedern korrespondiert.

Eine untergründige, ungute Spannung grundiert das Geschehen aus Langeweile, Wellness und touristischem Zeitvertreib. Das Bild von den Fischen, die sich mit letztem Atem auf dem Trockenen winden, steht bezeichnenderweise am metaphorischen Anfang des Films. Die Gegenwart des Todes und die Zeit, die bleibt, von Francos traurig schönem Film in verschiedenen Facetten gespiegelt, bricht sich schließlich abrupt Bahn, als Alice vom Tod ihrer Mutter erfährt. Während sie mit den Kindern überstürzt abreist, bleibt Neil unter einem Vorwand zurück, als wolle er sich wie eine Art moderner Bartleby jeglicher Verantwortung oder Entscheidung entziehen und stattdessen es vorziehen, nicht zu handeln. Offensichtlich ohne Plan und Ziel checkt Neil in einem billigen Hotel ein, kappt seine Verbindungen und lässt sich treiben, indem er melancholisch und nachdenklich seine Tage Bier trinkend am Strand verbringt und bald darauf eine Beziehung mit der jungen Mexikanerin Berenice (Iazua Larios) eingeht.

Zwischen den beiden und ihren Körpern scheint es ein wortloses Einverständnis zu geben, denn Neil bleibt weiterhin passiv und stumm. Sein offensichtlicher Ausstieg aus dem gewohnten Alltag und einem nicht genauer definierten Leben folgt allerdings einem tiefer liegenden existentiellen Verzicht beziehungsweise einer lähmenden Verweigerung, die aus einem schicksalhaften Verhängnis kommt. Sehr genau beobachtet Michel Franco die schleppenden, geradezu hilflosen Schritte seines Helden in einer Umgebung beunruhigender sozialer Kontraste. Gewalt und die vielfältigen Formen von Ausbeutung und Prostitution sind hier allgegenwärtig. Als Neil irgendwann später auf sein Erbe verzichtet und Alice einem Attentat zum Opfer fällt, entsteht eine fatale Bewegung, die Neils Stillstand und der daraus resultierenden Schuld allerdings nichts anhaben kann. Seine traurige Selbstaufgabe, von surrealen Visionen, Angst und Schmerzen begleitet, kommt aus einem Schweigen, das letztlich absolut ist. Sein Nicht-Handeln ersehnt eine Freiheit, die sich in ihren Grenzen selbst verzehrt.

Was geschah mit Bus 670?

(MEX/ESP 2020, Regie: Fernanda Valadez)

Das Schicksal der Verschwundenen
von Jürgen Kiontke

Für Jesús ist es ein logischer Schritt, wie für so viele andere aus der jungen Generation Mexikos: Auf Jobsuche will er gehen, so sagt er es seiner Mutter. Und natürlich …

Für Jesús ist es ein logischer Schritt, wie für so viele andere aus der jungen Generation Mexikos: Auf Jobsuche will er gehen, so sagt er es seiner Mutter. Und natürlich über die Grenze in die USA, in den Bundesstaat Arizona. „Ich gehe zur Arbeit“, sagt er noch, dann ist er auch schon weg. Er nimmt den Bus 670, der ihn an die Grenze der USA bringen soll.

Mutter Magdalena macht sich Sorgen, vor allem ab jenem Zeitpunkt, wo sie gar nichts mehr von ihrem Kind hört. Sie weiß: Menschen verschwinden auf dieser Strecke, das ist sogar der Normalfall. Mexikos Grenzregion ist für Migranten ein äußerst gefährliches Pflaster. Sie werden von Banditen ausgeraubt – jungen Leuten wie sie selbst, die von Straßenraub und Geiselnahme leben. Oft machen sie kurzen Prozess, bringen ihre Opfer um, vernichten alle Spuren und verbrennen die Leichen. In jüngster Zeit wurden mehrere Massengräber entdeckt.

Der Spielfilm „Was geschah mit Bus 670?“ von Regisseurin Fernanda Valadez geht diesen Ereignissen nach. Im Zentrum immer die Mutter Magdalena und ihr vermisster Sohn Jesús – vielleicht sind beide nicht zufällig mit biblischen Namen versehen. Auch Jesús, so erwächst die Gewissheit, scheint ein Opfer geworden zu sein. Aber als Monate später die Leiche seines Freundes und Begleiters aufgefunden wird, macht sich Magdalena selbst auf die Suche, geht in Leichensammelstellen und fragt bei Polizeistationen nach.

Das Regiedebüt von Fernanda Valadez ist gelungen. Immer wieder geraten ihre zentralen Figuren in parabelhafte Zwickmühlen, immer wieder stellen sie sich die Frage, welchen Wert ein Leben in Angst und Armut hat. Und ob es überhaupt Sinn macht, in eine ohnehin miese Welt Kinder zu setzen, auf die ein schlimmes Leid wartet – oder gar womöglich selbst zum brutalisierten Täter werden. Valadez lässt den Zuschauer aber auch immer wieder innehalten, indem sie mit künstlerischer Bildsprache Pausen generiert: mit Unschärfen, Nachtaufnahmen und Tierszenen.

Ein Werk, das geschickt und sehr künstlerisch eine große Verzweiflung über die rabiat-kapitalistischen Verhältnisse vermittelt. Alltagsterror spielt darin immer eine Rolle, aber er darf nie im Zentrum stehen. „Ich wollte nicht, dass uns die Gewalt von der Suche nach dem Verschwundenen ablenkt“, sagt die Regisseurin.

Diese Kritik erschien zuerst am 21.02.2022 auf: links-bewegt.de

Der schlimmste Mensch der Welt

(NOR 2021, Regie: Joachim Trier)

Statistin des eigenen Lebens
von Wolfgang Nierlin

Die wechselnden Hintergrundfarben, mit denen die Vorspanntitel von Joachim Triers neuem Film „Der schlimmste Mensch der Welt“ unterlegt sind, weisen bereits auf die Unentschiedenheit seiner Protagonistin hin. Im kursorisch und …

Die wechselnden Hintergrundfarben, mit denen die Vorspanntitel von Joachim Triers neuem Film „Der schlimmste Mensch der Welt“ unterlegt sind, weisen bereits auf die Unentschiedenheit seiner Protagonistin hin. Im kursorisch und ziemlich rasant erzählten Prolog ist die junge Julie (Renate Reinsve) damit beschäftigt, ihre Studienfächer und Liebhaber zu wechseln, bis sie nach medizinischen, psychologischen und fotografischen Lerninhalten schließlich als knapp 30-jährige Verkäuferin in einer Buchhandlung landet. Julie ist auf der Suche nach sich selbst und nach einem Platz im Leben, was in einer Zeit schier unbegrenzter Möglichkeiten schwerer ist denn je; und sie unterdrückt ihre Unsicherheit mit stetig wiederkehrenden Fluchtbewegungen. Als sie schließlich den erfolgreichen Comic-Zeichner Aksel (Anders Danielsen Lie) kennenlernt, der allerdings fünfzehn Jahre älter ist, scheint sich ihr unstetes Leben auf den ersten Blick zu beruhigen.

Doch die Ungleichzeitigkeit ihrer mehr oder weniger schwankenden Lebensentwürfe zwischen Selbstverwirklichung und Erfahrungshunger holt die Protagonisten ein. Joachim Trier und sein langjähriger Ko-Autor Eskil Vogt haben für ihre sich über mehrere Jahre ausdehnende Geschichte eine dezidiert literarische Form gewählt. Fragmentarisch in zwölf Kapitel unterteilt und von einer Off-Erzählerin kommentiert, folgen wir der schwierigen Identitätssuche einer jungen Frau, ihren Krisen und ihrer Hoffnung, ihrer Trauer und ihren Freuden. Dabei erzeugt Joachim Triers Inszenierung eine sensible Spannung zwischen Leichtem und Schwerem. Denn irgendwann beschließt Julie, die sich als Statistin ihres eigenen Lebens fühlt, Aksel trotz ihrer Liebe zu ihm zu verlassen und stattdessen ihren Gefühlen zu Eivind (Herbert Nordrum) nachzugeben, den sie zuvor bei einer Hochzeitsfeier kennengelernt hat.

Wenn der Film in einer langen, bezaubernden Szene die Magie dieses Liebesglücks zeigt, steht die Zeit still, ist das Leben, das die Liebenden umgibt, eingefroren. Immer wieder überschreitet Joachim Triers intensive Inszenierung auf (alb)traumhaft schöne Weise die Grenzen von Raum und Zeit, etwa auf einem rauschhaften Trip mit psychoaktiven Pilzen. Das dabei zum Vorschein kommende Unterbewusste deutet zugleich auf das Verdrängte und Ungelöste in Julies Leben, das in den einzelnen Kapiteln sukzessive thematisiert wird. Neben den wiederkehrenden Fragen nach der beruflichen Zukunft, nach Mutterschaft und dem richtigen Lebenspartner, rückt auch Julies schwierige Beziehung zu ihrem Vater in den Fokus. Joachim Triers bewegender und mit viel Musik aufwartender Film, der den Abschluss seiner „Oslo-Trilogie“ bildet, weitet daneben auch den Blick auf den gesellschaftlichen Zeitgeist. Und er konfrontiert außerdem mit großer Einfühlsamkeit und menschlicher Anteilnahme seine Heldin, die entgegen dem selbstironischen Titel „ein verdammt guter Mensch“ ist, wie Aksel einmal sagt, mit äußerst schmerzlichen persönlichen Verlusten.

Desterro

(BR/PO/AR 2020, Regie: Maria Clara Escobar)

Haus in Flammen
von Wolfgang Nierlin

Der Blick auf Dachziegel ist mit einem zunächst undefinierbaren, kratzenden Geräusch unterlegt. Dann öffnet sich das Bild und integriert die Details in einen größeren Zusammenhang: Aus den Ziegeln wird das …

Der Blick auf Dachziegel ist mit einem zunächst undefinierbaren, kratzenden Geräusch unterlegt. Dann öffnet sich das Bild und integriert die Details in einen größeren Zusammenhang: Aus den Ziegeln wird das Dach eines Hauses, vor dem eine Kleinfamilie versammelt ist. Eltern beobachten einen kleinen Jungen, der mit Stützrädern Fahrrad fährt, als plötzlich Regen einsetzt. Der Vater zieht den Jungen unter das Dach, das Schutz bietet wie andererseits die Stützräder Sicherheit geben. Was auf der Bild-Ton-Ebene zunächst entkoppelt scheint, bildet im ideellen Setting des Familienkonstrukts eine Einheit. „Wir sind noch dieselben“, lautet die einerseits beruhigende Überschrift des ersten Kapitels von Maria Clara Escobars ästhetisch ungewöhnlichem Film „Desterro“. Der selbstverständliche, auf Identifikation zielende Status quo dieser Aussage beinhaltet andererseits aber auch eine Beunruhigung, denn wo sich nichts ändert, herrscht der Zwang zur Wiederholung, mithin Stillstand.

Die Routinen des Alltags mit seinen wiederkehrenden Abläufen und Ritualen inszeniert die brasilianische Filmemacherin und Lyrikerin als statische Ordnung der Dinge. Während die Künstler Laura (Carla Kinzo) und Israël (Otto Jr.), die seit acht Jahren unverheiratet ein Paar sind, morgens in ihrer Küche frühstücken und eine monotone Konversation pflegen, sehen wir eine Montage von Einrichtungsgegenständen. Was eben noch Schutzraum einer konventionellen Familienordnung war, spiegelt nun den Stillstand einer eingefrorenen Beziehung. Laura und Israël sind gefangen in Konventionen, die den Sinn der Existenz verdunkeln beziehungsweise diese auf Symptome reduzieren. Vor allem Laura, die desillusioniert, gelangweilt und depressiv wirkt, leidet unter dem Gleichmaß der Tage, einem verflüchtigten Sinn und uneinholbaren Verlusten. Wenn sie vom Ende der Welt spricht, steht ihre Lust am Untergang, dem sie gefasst begegnen will, im Gegensatz zu Israëls Veränderungs- und Behauptungswillen.

„Manchmal merkt man erst, dass man etwas hatte, wenn es wieder weggeht“, beschreibt die apathische Laura ihr Gefühl einer flüchtigen Existenz, die sich in Anpassungsleistungen und der Erfüllung von Funktionen erschöpft. Als Israël im dritten Kapitel, das auf das erste folgt, erfährt, dass Laura auf einer Busreise durch Argentinien plötzlich verstorben ist, tritt an die Stelle der Trauer eine komplizierte Bürokratie. „Lauras Körper“ lautet entsprechend die Kapitelüberschrift über einem Handlungsabschnitt, der sich vor allem mit den logistischen und finanziellen Details der Rückführung eines Leichnams beschäftigt. Die analytische Sachlichkeit und das Interesse für scheinbar unwichtige Details erzeugen in „Desterro“, was „Verbannung“ bedeutet, einen – trotz aller Statik – kontinuierlichen Strom der Nebenordnung. Das Ganze, Heile oder Bruchlose entzieht sich. Eine mitunter abschweifende Kamera, undefinierbare Geräusche, räumliche Unschärfe sowie angeschnittene Bilder spitzen Unsicherheit, Bedrohung und Irritation auf kunstvolle Weise zu. Immer scheint es ein paralleles Leben mit sich entziehenden Bedeutungen zu geben.

Im abschließenden zweiten Kapitel, das „Alles wird gut“ überschrieben ist und das Lauras lange, trostlose Busfahrt dokumentiert, wird diese Gleichzeitigkeit in die Pluralität verschiedener Geschichten überführt, die von Frauen erzählt werden. Diese berichten von ihren leidvollen Erfahrungen und blicken dabei direkt zum Zuschauer. In diesem Chor weiblicher Stimmen ist schließlich auch Lauras Schicksal aufgehoben und integriert. Ihr schweigsamer Sitznachbar und Mitfahrer Julio (Rômulo Braga) wird dabei zu ihrem letzten Begleiter.

Immer wieder lenkt Maria Clara Escobars artifizieller Erzählstil die Aufmerksamkeit in verschiedene Richtungen und überschreitet so die Grenzen eines nur scheinbar festgefügten Möglichkeitsraums. Dann gewinnt die Statik ihres Films eine mitunter ungeahnte Dynamik, löst sich die Starrheit der Figuren auf, etwa in einem rasanten, von energiegeladener Punkmusik angetriebenen Lauf, der an die „Modern Love“-Sequenz aus Leos Carax‘ Film „Mauvais Sang“ („Die Nacht ist jung“) erinnert, oder auch in einem wilden Tanz zu einem melancholischen Liebeslied. Am Schluss vereint das vieldeutige, assoziationsreich Filmbild Laura und Israël zu einer Pietà aus Liebe, Leben und Tod, während hinter ihnen eine Hütte in Flammen steht und es offensichtlich außer der Erinnerung fast nichts mehr zu retten gibt.

Glück auf einer Skala von 1 bis 10

(FR/CH 2021, Regie: Bernard Campan, Alexandre Jollien)

Nimm einen Hering
von Jürgen Kiontke

Sie haben etwas gemeinsam, wenn auch auf den ersten Blick nicht viel: Igor ist als Fahrradkurier für Biogemüse unterwegs. Louis fährt auch was: Der Beerdigungsgroßunternehmer sorgt im großen Stil – …

Sie haben etwas gemeinsam, wenn auch auf den ersten Blick nicht viel: Igor ist als Fahrradkurier für Biogemüse unterwegs. Louis fährt auch was: Der Beerdigungsgroßunternehmer sorgt im großen Stil – „Wir haben 800 Leichen am Tag“ – dafür, dass Verstorbene gut verpackt zu ihrer eigenen Beerdigung kommen. Als sich eines Tages der Weg der beiden kreuzt, wird Igor beinahe Kunde von Louis. Denn der räumt ihn souverän mit seinem Mercedes von der Straße. Igor landet verletzt im Graben.

Ein Unfall mit überraschenden Folgen. Denn Igor ist behindert, bei der Geburt hatte er sich in der Nabelschnur verheddert und zu wenig Luft bekommen. Sprach- wie Bewegungszentrum wurden in Mitleidenschaft gezogen. Nun ist er 37 Jahre alt und hadert mit seinen Einschränkungen und der Abhängigkeit von der Mutter. Seit Jahren hat er sich in die Philosophie versenkt, haut ein Zitat namhafter Denker nach dem anderen raus.

Louis, bei dem alles immer perfekt funktionieren muss – das Bestattungsinstitut des Vaters hat er zu einem profitablen Industriebetrieb ausgebaut -, fühlt sich durch die ständigen Invektiven des Unfallopfers in seinen Routinen gestört. Er will den jungen Mann im Krankenhaus abliefern, doch wird er ihn nicht mehr los. Der an seiner Einsamkeit leidende Igor ist sich sicher: Louis wird sein bester Kumpel und klammert sich an den älteren Herrn. Abschütteln geht nicht mehr. Höhepunkt wird eine gemeinsame Reise mitsamt einer abzuliefernden Leiche, in der sich abgedrehteste Ereignisse die Sarggriffe in die Hand geben. Beziehungen in jeder Art und Weise bilden das Thema ihrer Unterhaltungen, Besäufnisse, Abenteuer. Im Raum die großen Fragen: Was ist „normal“? Was macht zufrieden im Leben? Wie stehen wir zum eigenen Ableben?

Für den Film „Glück auf einer Skala von 1 bis 10“ haben sich zwei Ausnahme-Charaktere zusammengetan, die nicht nur gemeinsam das Drehbuch verantwortet, sondern auch Regie und Hauptrollen übernommen haben: Alexandre Jollien, der den Igor spielt, wurde mit zerebraler Lähmung geboren und hat sich als Autor philosophischer Bücher („Lob der Schwachheit“) einen Namen gemacht. Bernard Campan in der Rolle des Louis ist als Regisseur und Darsteller bekannt. Zusammen haben sie einen äußerst flotten Film gedreht, der sich einreiht in jene französischen Lebenswelten-Clash-Filme, die à la „Ziemlich beste Freunde“ spielerisch und dennoch nicht nur im Komödien-Modus Klassen- und Gesellschaftsschranken überschreiten.

Nicht jedes Klischee wird dabei elegant umschifft und nicht immer mag die Darstellung gelungen sein; an manchen Stellen wird es durchaus ruppig. Aber die beiden – und auch die anderen Schauspieler – gehen mit ihren nicht immer so perfekten Körpern richtig an die Grenze in diesem Film. „Wenn du ein Philosoph sein willst, nimm einen Hering und zieh ihn hinter dir her, während du durch die Stadt gehst“, zitiert Igor den Philosophen Diogenes, um auszudrücken, wie man mit den Urteilen anderer Menschen umgehen könne. Und setzt hinzu: „Der Vorteil ist, dass ich den Hering immer mit mir herumschleppe.“ Die Idee des Film: den Blick auf die Marginalität und den anderen zu verändern. Und dann auch noch obendrein die Sicht auf den Tod. Das gelingt hier über alle Maßen. Fazit: ein beeindruckendes filmisches Experiment!

Diese Kritik erschien zuerst am 05.05.2022 auf: links-bewegt.de

Sigmund Freud – Freud über Freud

(FR/AT 2020, Regie: David Tebou)

Dünner Firnis der Zivilisation
von Wolfgang Nierlin

In David Tebouls Schwarzweißfilm „Sigmund Freud – Freud über Freud“ sprechen die Dokumente. Im Off lesen wechselnde Sprecher aus Briefen, Selbstzeugnissen und Erinnerungen, die allerdings nicht nur vom Porträtierten (Johannes …

In David Tebouls Schwarzweißfilm „Sigmund Freud – Freud über Freud“ sprechen die Dokumente. Im Off lesen wechselnde Sprecher aus Briefen, Selbstzeugnissen und Erinnerungen, die allerdings nicht nur vom Porträtierten (Johannes Silberschneider) stammen, wie der unnötig umständliche deutsche Verleihtitel suggeriert, sondern auch von Weggefährten. Besonders Freuds Tochter Anna (Birgit Minichmayr), die den berühmten Begründer der Psychoanalyse zeitlebens begleitet, unterstützt und betreut hat, spielt eine prominente Rolle; aber auch Prinzessin Marie Bonaparte (Catherine Deneuve), die einige von Freuds Schriften ins Französische übersetzte und dem Juden bei seiner Flucht ins Londoner Exil half. Von ihr stammen auch einige private Filmaufnahmen, die den alten, schwerkranken Freud im Kreis seiner Familie zeigen. Auch alle anderen Bild- und Filmdokumente kommen her aus der Lebenszeit Freuds oder tragen deren visuelle Anmutung.

Um die Entwicklung von Freuds Denken nachzuzeichnen, folgt der Film ziemlich strikt den Lebensdaten des Psychoanalytikers von seiner Geburt 1856 im kleinen mährischen Ort Freiberg, über seine Ausbildungszeit und sein Wirken in Wien, bis zu seinem Tod 1939 in London. In der Verbindung von Bild und Ton wählt David Teboul dabei ein assoziatives Verfahren und folgt damit mitunter auch thematischen Nebenwegen, die er zugleich in die übergeordnete biographische Erzählung integriert. Diese verbindet persönliche Erlebnisse, Träume, Begegnungen, Freundschaften und historische Ereignisse bzw. Umwälzungen, um aus ihnen nicht zuletzt auch die Entwicklung psychoanalytischer Grundbegriffe herzuleiten.

Zwar rekurriert der Film dabei auch auf Freuds jüdische Herkunft, seine Faszination für biblische Geschichten, seine starke Mutterbindung und seine Begegnung mit dem französischen Arzt Jean Martin Charcot, dem „Hohepriester der Hysterie“, wodurch sein Weg zur „Traumdeutung“ entscheidende Impulse erhält. Doch seine Erforschung des Unbewussten mit seinen gegensätzlichen Triebstrukturen ist nicht nur ein Reflex auf die teilweise verdrängte sexuelle Bedingtheit des Menschen, sondern spiegelt auch die Erfahrung des Krieges mit seinen politischen und kulturellen Umwälzungen. „Bereite dich auf den Tod vor, um das Leben zu ertragen“, lautet Freuds pessimistisches Fazit im Hinblick auf den dünnen Firnis der Zivilisation. So zeigt Tebouls konzentriertes dokumentarisches Porträt nicht nur den psychoanalytischen Denker und die Stationen seiner wissenschaftlichen Entwicklung, sondern immer auch das Leid, die Bedürftigkeit und die Freuden des dahinter stehenden Menschen.