Für die Vielen – Die Arbeitskammer Wien

(AT 2022; Regie: Constantin Wulff)

Gerechtigkeit für immer

Hinter den vielen Fensterscheiben des wuchtigen, langen Gebäudes herrschen emsiges Treiben und ein konzentrierter Austausch. Die Wiener Arbeiterkammer (AK) mit ihren 700 Angestellten ist seit hundert Jahren Anlaufstelle für Rat- und Hilfesuchende aus der Arbeitswelt. Hier werden arbeitsrechtliche Fragen geklärt, säumige Lohnzahlungen eingefordert, Klagen über unfaire Arbeitsbedingungen eingereicht oder auch Hilfen bei Krankheitsfällen aufgezeigt. Die Anliegens sind so vielfältig wie die Menschen, die sich zu Beginn von Constantin Wulffs Dokumentarfilm „Für die Vielen“ an der Anmeldung der sozialen Einrichtung im schnellen Wechsel einfinden. Oft haben sie schlecht bezahlte Jobs, sind von Entlassung bedroht oder werden von ihren zwielichtigen Arbeitgebern betrogen. Dahinter verbergen sich Schicksale von Menschen, die unter prekären Bedingungen leben müssen und kaum Mittel haben, ihre Rechte einzufordern.

„Hier lebt die Gerechtigkeit“, heißt es einmal über die traditionsreiche Organisation, in deren Foyer eine große, rote Faust als Symbol der Arbeiterbewegung die Besucher begrüßt und die international ziemlich einmalig ist. Neben der konkreten Beratung und praktischen Hilfe beschäftigt man sich hier anlässlich des Jubiläums mit der eigenen Geschichte, plant eine Kampagne mittels eines modernen Imagefilms und liefert wissenschaftliche Expertisen für die politische Arbeit. Wulff beobachtet Teamsitzungen, in denen angeregt Argumente ausgetauscht werden, er dokumentiert eine Ausstellungseröffnung, eine Veranstaltung für Schüler zu Praktikumsfragen oder auch einen Auftritt des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty. Aus all diesen Initiativen und Maßnahmen, ihrem Wechsel aus praktischer und theoretischer Arbeit, die oft auch sprachliche Hürden zu überwinden hat, spricht ein hohes Maß an Solidarität.

Constantin Wulff filmt das wie der US-amerikanische Dokumentarist Frederick Wiseman im Stil des Direct Cinema als teilnehmender Beobachter, der auf Off-Kommentare, Interviews, dramatisierende Musik sowie Soundeffekte oder gar nachgestellte Szenen verzichtet. Das verleiht seinem Film „Für die Vielen“ den Charakter nüchterner, konzentrierter Sachlichkeit und lädt ihn auf mit konkreter Wirklichkeit, die der österreichische Filmemacher mit ergebnisoffenem Blick begleitet. Das ist auch nötig, als im Frühjahr 2020 die Corona-Pandemie zunächst für Verunsicherung, dann für ein verändertes Beratungsprozedere und umstrukturierte Arbeitsabläufe sorgt. Bilder leerer Flure und Büros beherrschen kurzzeitig die Szene. Daneben macht die Krise aber auch latente oder schon ältere Probleme der Arbeitswelt neu bewusst. Am Schluss vermittelt eine Montage von Stadtansichten eine Ahnung jener vielen unbekannten Schicksale, die Wulffs informativer Film zuvor zumindest in Ausschnitten greifbar gemacht hat.

Für die Vielen – Die Arbeitskammer Wien
Österreich 2022 - 120 min.
Regie: Constantin Wulff - Drehbuch: Constantin Wulff - Produktion: Johannes Holzhausen, Johannes Rosenberger, Constantin Wulff - Bildgestaltung: Johannes Hammel, Michael Schindegger - Montage: Dieter Pichler - Verleih: Navigator Film - Besetzung: -
Kinostart (D): 27.04.2023

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt17544346/
Foto: © Navigator Film