„Das unklare Bild ist etwas, was mich fasziniert“

von Wolfgang Nierlin


Im Film „Bis ans Ende der Nacht“, der Anleihen nimmt beim Film Noir und beim Melodram, begeben sich ein Polizist und eine Transfrau als verdeckte Ermittler auf die Spur eines Online-Drogendealers und werden dabei von ihrer früheren Liebesbeziehung eingeholt. Ein Gespräch mit dem Regisseur Christoph Hochhäusler über die Faszination für das Genrekino, das dunkle Spiegelkabinett der Liebe sowie den ästhetischen Mehrwert einer artifiziellen Bildsprache.

„Bis ans Ende der Nacht“, der Titel deines Films, ist sehr poetisch und weckt vielfache, auch literarische Assoziationen. Was verbindest du mit ihm?

Ich wollte einen Titel, der eine Dauer beschreibt, aber auch ein Ende. Ich hatte zunächst einen mehr statischen Titel im Sinn, aber weil die Erzählung des Films einen Bogen nachvollzieht, sollte auch der Titel zu etwas hinführen, zu einem Morgen, zu einem Erwachen. Etwas geht zu Ende und etwas Neues kann beginnen.

Du verknüpfst die Themen deiner Filme oft sehr deutlich mit Formen des Genrekinos. Woher kommt dieses Interesse?

Zunächst einmal habe ich selbst Spaß daran, so etwas zu sehen. Zum anderen glaube ich, dass es im Publikum eine Ressource dafür gibt. Wenn man Genrekino macht, kann man damit rechnen, dass jemand aufgrund seines Vorwissens mitspielt beziehungsweise mitarbeitet. Das ist etwas, was ich mir vom Zuschauer wünsche.

Bezogen auf deinen aktuellen Film: Welche Vorbilder oder Referenzen hattest du im Sinn?

Mir ist tatsächlich der Film Noir sehr nahe, bei dem die Kategorien von Gut und Böse stark ins Schwimmen geraten und Identitäten fluider werden; etwa in „Out of the past“ („Goldenes Gift“) von Jacques Tourneur, „Whirlpool“ („Frau am Abgrund“) von Otto Preminger oder „Police“ („Der Bulle von Paris“) von Maurice Pialat. Dabei spricht mich vor allem das Gefühl an, im Dickicht der Stadt verloren zu sein. Jean-Pierre Melville wiederum ist ein Gott für mich. Aber mein aktueller Film hat weniger von ihm als mein nächster.

Neben dem Film Noir bezieht sich „Bis ans Ende der Nacht“ auch sehr stark auf das Melodram. Wie hast du diese beiden Genres gewichtet?

Ich würde sage, es handelt sich um eine melodramatische Liebesgeschichte oder auch ein Krimimelodram. Der Schwerpunkt ist das Dilemma einer umkämpften Liebesgeschichte, die durch den Rahmen des Genres unter Druck und Hitze gesetzt wird. Beides sollte verschmelzen wie in einem dunklen Spiegelkabinett, wo man sich den Kopf stößt. Der Film sollte deshalb unübersichtlich sein. Der Zuschauer wird hineingeworfen und muss sich orientieren. Immer wieder öffnen sich neue Türen oder man stößt auf Wände, die dann doch keine sind. In diesem Sinne sollten die Reflexionen und Brechungen der Bilder wie Störungen wirken.

Welches Problem haben Robert und Leni in ihrer Beziehung?

Das Problem kennen wir alle: Man verliebt sich in das Bild, das man sich von jemandem gemacht hat, aber das reale Gegenüber ist anders. So will Leni als diejenige gesehen werden, die sie wirklich ist; dagegen verteidigt Robert das Bild, das er gerne haben möchte. Er hat den Mann geliebt, der Leni vor der Transition vom Mann zur Frau war. Dieses Dilemma fand ich interessant, weil es Tendenzen sichtbar macht, die in jeder Liebesbeziehung eine Rolle spielen.

In diesem Zusammenhang sind die Selbstinszenierungen der Figuren, ihr Spiel mit scheinbarer Echtheit und täuschenden Rollen interessant. Gibt es also für sie ein richtiges Leben im falschen?

Alle Figuren haben mindestens zwei Identitäten. Die Frage ist deshalb tatsächlich: Kann man im falschen Leben näher an dem sein, was man ist? Ironischerweise weiß Leni am genauesten, wer sie ist und wo sie hin will, während sich die anderen in sich selbst täuschen.

Im Film gibt es eine Frage, die das Verhältnis von Freiheit und Gefangenschaft, Lüge und Wahrheit reflektiert. So sagt Robert zu Leni, die im Gefängnis war und jetzt eine Fußfessel trägt: „Du bist nicht draußen, deine Zelle ist nur ein bisschen größer.“

Die Frage ist, ob man, existentialistisch gesprochen,überhaupt „draußen“ sein kann. So gibt es zumindest Momente, in denen Robert in seinem falschen Leben näher bei sich ist; aber das kann er nicht leben. Wenn wir also im falschen Leben bei uns sind, ist das tragisch.

Ästhetisch besticht dein Film durch eine sehr artifizielle Bildsprache. Dabei scheint die Kamera von Reinhold Vorschneider manchmal geradezu ein Eigenleben zu führen. Was für ein Interesse steht hinter diesem visuellen Konzept und wie würdest du sein Verhältnis zum Inhalt beschreiben?

Der Film stellt immer wieder seine Gemachtheit aus. Das korrespondiert mit den konstruierten Identitäten der Figuren. Viele Grenzen, die wir im Film oder auch im Leben erfahren, sind hergestellt. Gerade die Form ermöglicht es, darüber zu reflektieren. Diesbezüglich ist der Anfang des Films wie ein weißes Blatt. Die Polizei konstruiert diese Wohnung und ihre Vergangenheit für die verdeckte Ermittlung. Gleichzeitig sehen wir, wie sie gebaut wird. So kommen wir nach und nach in der Fiktion an. In den üblichen Konventionen der Bildsprache gibt es eine Ideologie des entscheidenden oder wesentlichen Augenblicks, hergestellt durch eine unsichtbare Inszenierung. Das macht mich misstrauisch. Dagegen finde ich eine scheinbar unabhängige Kamera faszinierend. Der Suspense für den Zuschauer besteht dann darin, das zu erkennen, was wichtig ist für die Szene. Denn zum Teil sehen wir gerade das nicht, sondern nur das, was davor oder danach passiert. Dadurch entsteht eine Dialektik gegenüber der gefilmten Performance oder der Realität dieser Performance. Meine Hoffnung wäre, dass das die Aufmerksamkeit schärft und dass man Lust hat auf dieses Spiel mit Formen. Der Film ist diesbezüglich sehr ornamental, fast barock. Die Konventionen Hollywoods zielen dagegen auf die unsichtbare Kamera und den unsichtbaren Schnitt, damit die Manipulation perfekt gelingt und der Zuschauer sich in den Film versenkt. In meinem Film gibt es ständig Begrenzungen, die man als beklemmend empfinden kann. Darin spiegelt sich direkt die Geschichte des Films, die auch das Verhältnis von Gezeigtem und Verschwiegenem thematisiert, das wiederum unsere Projektionen provoziert. Das unklare Bild ist etwas, was mich sehr fasziniert.

Welche Ideen stehen hinter deiner Wahl deutschsprachiger Populärmusik, etwa von Heidi Brühl sowie von Esther und Abi Ofarim?

Ich hatte das Gefühl, dass der Film eine Ebene des absoluten Gefühls braucht. Es sollten große Gefühlsräume entstehen, die zugleich einen Kontrast oder Abstand markieren. Das Gefühl, das man leben kann und das Gefühl, das man leben will. Dazwischen gibt es immer diesen Abgrund. Es hat mich bewegt, dass die Deutschen, die als emotional kühl gelten, so wahnsinnig emotionale Musik hören, wenn man ihnen nicht dabei zuschaut. Diesen Kontrast fand ich interessant. Dadurch entsteht eine beinahe operettenhafte Ebene des Kommentars. Manchmal ist es vielleicht so, dass man auf der Dialogebene nicht alles versteht, aber durch die Musik trotzdem weiß, worum es geht.

Foto: © Grandfilm