An einem schönen Morgen

(FR/DE 2022; Regie: Mia Hansen-Løve)

Was bleibt, ist die Liebe

Der Film beginnt an einem hellen Sommertag mit einer verschlossenen Tür. Auf der einen Seite davon steht Sandra (Léa Seydoux), die Einlass begehrt; auf der anderen ihr Vater Georg Kienzler (Pascal Greggory), der es lange nicht schafft, die Tür zu öffnen. Denn der ehemalige Philosophie-Professor, der sein Leben dem Denken und den Büchern gewidmet hat, leidet unter dem sogenannten Benson-Syndrom, einer seltenen neurophysiologischen Krankheit, die bewirkt, dass er zunehmend vergesslich wird, seine visuelle Wahrnehmung gestört ist und er allmählich das Bewusstsein verliert. In den helleren Momenten seines fortschreitenden Verlöschens gewinnt sein scheinbar unlogisches Reden einen flirrenden poetischen Sinn. Einmal sagt er, er wähne sich in der Krankheit gefangen und fühle einen Abgrund; es gebe keinen Anfang und kein Ende, etwas fehle. Angstzustände begleiten den Verlust seiner kognitiven und sensorischen Fähigkeiten. Weil Georg in diesem Zustand nicht mehr länger allein leben kann, sucht Sandra zusammen mit anderen Familienmitgliedern für ihn einen Heimplatz, was sich als schwierige Odyssee gestaltet und ein bezeichnendes Licht auf die Mängel unserer Sozialgemeinschaft und ihrer Systeme wirft.

„Alle Wege sind offen“, zitiert Sandra eingangs die Reiseschriftstellerin Annemarie Schwarzenbach. Sie selbst wird allerdings als früh verwitwete, alleinerziehende Mutter einer kleinen Tochter namens Linn (Camille Leban Martins) von allen Seiten beansprucht. Als Übersetzerin und Dolmetscherin arbeitet die attraktive Enddreißigerin in allen möglichen Bereichen, was streiflichtartig ins Bild gesetzt wird. Als Singlefrau, die seit Jahren keine Beziehung mehr eingegangen ist und die mit Linn in einer kleinen Dachwohnung lebt, hat sie das Gefühl, ihr Liebesleben liege hinter ihr. Das ändert sich, als sie ihrem früheren Freund Clément (Melvil Poupaud) begegnet und ein leidenschaftliches Liebesverhältnis mit ihm eingeht. Da der begehrenswerte Kosmochemiker verheiratet ist, einen kleinen Sohn hat und außerdem viel reist, ist die Beziehung allerdings von einem ständigen Hin und Her, von Hoffnung und Enttäuschung geprägt.

Die französische Regisseurin Mia Hansen-Løve, die in ihrem neuen Film „An einem schönen Morgen“ („Un beau martin“) einmal mehr eigene Erfahrungen verarbeitet hat, konzentriert in ihrer beanspruchten Heldin zwei gegensätzliche Gefühlsbewegungen. In den Begegnungen mit ihrem kranken Vater, von dem sie sich allmählich löst, erlebt sie Trauer und Abschied; in ihrer zunächst unsicheren und bedrohten Liebe zu Clément wächst hingegen zugleich die Zuversicht für einen Neuanfang. Das emotionale Bindeglied zwischen diesen kontrastierenden Empfinden ist jeweils die liebevolle Sorge um den anderen. „Love will remain“, heißt es entsprechend im Abspannsong. Außerdem situiert Mia Hansen-Løve ihren Film über ein schweres Thema in einem sommerlich leichten, von warmen Farben geprägten Paris, zu dessen Schauplätzen nicht nur triste Pflegeheime gehören, sondern auch helle Plätze und schattige Parks. Mit ihrem typisch dynamischen Stil und schnellen Szenenwechseln verknüpft sie ohne die sonst üblichen dramatischen Zuspitzungen die unterschiedlichen Lebenswelten. Der erzählerische Bogen des Films verbindet schließlich die verschlossene Tür des Anfang mit dem weiten, offenen Blick über die Stadtlandschaft von Paris.

An einem schönen Morgen
(Un beau matin)
Frankreich, Deutschland 2022 - 112 min.
Regie: Mia Hansen-Løve - Drehbuch: Mia Hansen-Løve - Produktion: Philippe Martin, Gerhard Meixner, Roman Paul, David Thion - Bildgestaltung: Denis Lenoir - Montage: Marion Monnier - Verleih: Weltkino - FSK: ab 12 - Besetzung: Léa Seydoux, Pascal Greggory, Melvil Poupaud, Nicole Garcia, Sarah Le Picard
Kinostart (D): 08.12.2022

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt13482828/
Foto: © Weltkino