Ein leichtes Klopfen oder Hämmern rhythmisiert eine kurze Abfolge aufblitzender Bilder. Ein Mann (Aris Servetalis) schlägt mit seinem Kopf gegen die Wand. Dann sitzt er verloren auf dem Sofa, blickt in einen großen Spiegel und starrt zugleich ins Leere seiner in dämmriges Licht getauchten Wohnung. In den Radio-Nachrichten ist von einer mysteriösen Krankheit die Rede, die den Betroffenen die Erinnerung und damit die Identität raubt. Draußen blockiert ein Auto die Straße. Sein Fahrer sitzt auf dem Gehsteig und kann sich nicht daran erinnern, der Verursacher des Staus zu sein. Derweil befindet sich der Namenlose des Anfangs auf dem Weg zum Blumenhändler. Später, es ist bereits dunkel, sitzt er in einem Bus, schläft bis zur Endstation, ohne sein Ziel zu kennen oder sich daran zu erinnern. Die orangefarbenen Lichter der Straßenlaternen bilden eine Abfolge illuminierender Reflexe. Dann befindet sich der große, bärtige und stille Mann in einem Krankenwagen, der in einen Tunnel fährt. Weil er keine Papiere bei sich trägt, gilt er fortan als ein Patient ohne Identität, nach dem niemand sucht.
„Viele leiden an Amnesie“, sagt die betreuende Ärztin, die den Namenlosen mit der Nummer 14842 registriert und sein Portrait auf einem Polaroidfoto dokumentiert. Nach einer Reihe von Gedächtnistests, die merkwürdig skurril und altmodisch anmuten, diagnostizieren die Ärzte einen Erinnerungsverlust, der offensichtlich selektiv ist. Denn der Namenlose, der gerne Äpfel isst, kann sich zwar nicht an seine Herkunft erinnern, seine Sprache, sein Denken, bestimmte Gewohnheiten und Fähigkeiten scheinen aber nicht beeinträchtigt. Trotzdem empfiehlt ihm die Ärztin eine spezielle Therapie, die ihm zu einer neuen Identität verhelfen soll. Denn: „Ein Alltag ohne Identität ist schwierig.“ „Erlerne dein Leben“, lautet der Titel des Programms, das zwar nicht die Erinnerung zurückbringe, aber Erfahrungen für einen Neuanfang im Leben ermögliche. Ausgestattet mit einer Wohnung, mit Kleidern und Geld, folgt der Namenlose fortan den Instruktionen einer Audiokassette. Die alltäglichen Aufgaben und Mutproben, die ihm gestellt werden und die auch auf seine soziale Reintegration zielen, soll er mit Polaroidfotos festhalten.
Christos Nikou inszeniert in seinem eigenwilligen Spielfilmdebüt „Apples“ („Mia“) eine analoge Welt. In unterkühlten, fahlen Bildern im Format 4:3 und mit einem reduzierten Setting entwirft er in Korrespondenz zu den Aufgaben seines Protagonisten eine episodische Struktur, die sehr konzentriert und mit lakonischem Erzählduktus eine Reihe ebenso absurder wie komischer Szenen vorführt. Diese reichen vom Fahrrad- und Autofahren über eine Verkleidungsparty bis zum Nachtclubbesuch. Als Schüler der Greek Weird Wave, die sich um den Regisseur Giorgos Lanthimos gebildet hat, folgt Nikou mit seiner teils surreal anmutenden Versuchsanordnung weder einer konventionellen Dramaturgie noch der Logik des Erzählkinos. Mit seiner melancholischen, als Allegorie auf unsere Zeit (und letztlich auch auf die digitalen Speichermedien) verstandenen Reflexion über die Funktionsweise des Gedächtnisses untersucht der griechische Filmemacher, inwieweit Gefühle unser Erinnerungsvermögen beeinflussen.
Ist der namenlose Held seines bemerkenswerten Films vielleicht auf der Flucht vor sich selbst und seinen negativen Erinnerungen an sein früheres Leben? Verdrängt er durch die Flucht ins Vergessen einen Schmerz? Und braucht es die Wiedererinnerung, um weiterleben zu können? Wiederholt er etwa sein altes Leben, um zu einem Neuanfang zu gelangen? Wenn der Protagonist am Ende des Films in seine alte Wohnung zurückfindet, ist er den Antworten auf diese Fragen zumindest ein Stück weit näher gekommen.