Saint Omer

(FR 2022; Regie: Alice Diop)

Geschichte einer Unsichtbaren

Die Schriftstellerin Rama Fall (Kayije Kagame) wird von einem Albtraum geweckt: In einer dunklen Nacht, in der man nur das Rauschen des Meeres hört, trägt eine Mutter ihr Kind zu einem Strand, um es der steigenden Flut zu überlassen. Diese Tat hat sich im November 2013 in dem nordfranzösischen Badeort Berck-sur-Mer tatsächlich ereignet und große öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Eine aus dem Senegal stammende Frau hatte auf diese Weise ihre 15 Monate alte Tochter „dem Meer übergeben“, wie sie später sagen wird, und war damit zur Mörderin geworden, ohne ihre Tat selbst zu verstehen. Unter dem Arbeitstitel „Der Schiffbruch der Medea“ möchte Rama, die ebenfalls senegalesische Wurzeln hat, den Fall dokumentieren, um sich dem, was sich dem Verstehen entzieht, anzunähern. Sie fährt deshalb mit dem Zug nach Saint-Omer, um den mehrtägigen Prozess zu verfolgen.

Zuvor sieht man Rama aber zuerst als Literaturlehrerin, die in einem Hörsaal einen Dokumentarfilm über jene öffentlich erniedrigten Frauen zeigt, die nach dem 2. Weltkrieg den Franzosen als sogenannte „horizontale Kollaborateurinnen“ galten. Die (geschorene) Frau als „Objekt der Schande“ sei zugleich ein „Subjekt im Zustand der Gnade“, zitiert Rama die Schriftstellerin Marguerite Duras aus ihrem Drehbuch zu Alain Resnais‘ „Hiroshima, mon amour“. Im Gerichtssaal, wo Alice Diops tief beeindruckender Film „Saint Omer“ fortan hauptsächlich spielt, trifft dieses Bild einer ambivalenten Weiblichkeit auf einen Lebenslauf, der eine Vielzahl von Widersprüchen in sich vereint. Während die 36-jährige Angeklagte Laurence Coly (Guslagie Malanda) von ihrer Kindheit im Senegal, von ihrer Einsamkeit als Philosophie-Studentin in Frankreich und von ihrer Liebesbeziehung zu einem über 30 Jahre älteren Bildhauer erzählt, entfaltet sich ein unheilvolles Geflecht aus Erwartungsdruck, kulturellen Prägungen und Unterschieden sowie materiellen Abhängigkeiten. Am Ende wird Laurence sagen, sie habe sich zunehmend ausgenutzt und entfremdet gefühlt und sei schließlich zu einem „Opfer von Hexerei“ geworden: „Ich war in einem schwarzen Loch.“

Alice Diop gestaltet die angespannte Atmosphäre ihres zwischen dokumentarischer Genauigkeit und fiktiven Elementen changierenden Films mit konzentrierter Aufmerksamkeit. Gerade aus der Reduktion und aus den Ellipsen spricht ausführlich das Unsagbare. Zusammen mit ihrer Kamerafrau Claire Mathon kultiviert die französische Regisseurin eine Ästhetik der Abwesenheit, in der die Sprecherinnen immer wieder dem Bild entzogen sind und dadurch einen ungewöhnlichen Resonanzraum aus sich überlagernden Stimmen und Schweigen eröffnen. Als „Geschichte einer Phantomfrau“, die zunehmend unsichtbarer geworden sei, wird die Anwältin (Aurélia Petit) den Fall ihrer Mandantin beschreiben und in ihrem bewegenden Plädoyer auf „Chimären“ verweisen, die nicht nur Mutter und Kind, sondern alle Frauen verbinde. Selbst schwanger und in einer problematischen Mutterbeziehung gefangen, wird sich Rama im Verlauf des Prozesses immer stärker mit der Angeklagten identifizieren, die in einem Verweis auf Pasolinis „Medea“ zu einer mythischen Figur wird. Trotzdem eröffnet sich für Rama am Ende ein Weg aus den „schrecklichen menschlichen Mustern“.

Saint Omer
Frankreich 2022 - 123 min.
Regie: Alice Diop - Drehbuch: Alice Diop, Amrita David, Marie N'Diaye - Produktion: Toufik Ayadi, Christophe Barral - Bildgestaltung: Claire Mathon - Montage: Amrita David - Verleih: Grandfilm - FSK: ab 12 - Besetzung: Kayije Kagame, Guslagie Malanda, Valérie Dréville, Aurélia Petit
Kinostart (D): 09.03.2023

DVD-Starttermin (D): 08.09.2023

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt15376894/
Foto: © Grandfilm