Gehen und Bleiben

(DE 2023; Regie: Volker Koepp)

Notwendige Erinnerungen

Ein ruhiger Kameraschwenk übers Meer mit seiner fernen Horizontlinie mündet in der Liedzeile „Blue as blue can be“, die aus dem Außenlautsprecher eines Kleinbusses dröhnt. Auch wenn Countrysänger Smiley Maxedon darin seinen Liebesschmerz besingt, ist diese Reminiszenz dem Schriftsteller Uwe Johnson gewidmet, der hier, im englischen Sheerness on Sea auf der Isle of Sheppey, ab 1974 bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1984 gelebt hat und einmal schrieb: „Und überdies erwies uns die See einige Augenblicke lang die Höflichkeit, so blau zu sein, wie blau nur sein kann.“ Das Meer als facettenreiches Bindeglied führt entsprechend die filmische Spurensuche des renommierten Dokumentaristen Volker Koepp von Johnsons pommerschem Geburtsort Cammin an der Ostsee ins unweit gelegene Anklam, wo dieser einen Teil seiner Kindheit verbracht hat. In seinem neuen Film „Gehen und Bleiben“ trifft Koepp hier zunächst auf die gebürtige Anklamerin und Schriftstellerin Judith Zander, die vermutet, dass nur aus der Distanz die Heimat zu einem Sehnsuchtsort werden könne.

Nach seinem Aufbruch in den Westen, wo Uwe Johnson nach seinem Germanistikstudium ab 1959 zunächst in Westberlin, später in New York und in besagtem Sheerness lebte, blickte er für sein Schreiben aus der Entfernung auf Geschichte und Gegenwart seines Herkunftslandes. Dass die Nachwirkungen der Kriege gerade auch angesichts des gegenwärtigen in der Ukraine noch immer nicht vorbei seien, ist gewissermaßen eine These des Films, die sich wiederum mit Johnsons Schreiben gegen das Vergessen verbindet. Auf seiner Reise durch die Fluss- und Seenlandschaft Mecklenburg-Vorpommerns zwischen Anklam, Güstrow und dem Fischland lässt Koepp deshalb Menschen zu Wort kommen, die sich an die schweren Kriegs- und Nachkriegsjahre, an Tod und Vertreibung erinnern. Dazu liest der Schauspieler Peter Kurth, der aus Goldberg bei Güstrow stammt, aus den Werken Johnsons.

Volker Koepps gewohnt ruhiger, nachdenklicher Film ist aber mehr als ein konventionelles Schriftstellerportrait. Zwar trifft er Menschen, die Johnson kannten und sich an ihn erinnern, die dabei aber immer auch über sich selbst, über Orte, Landschaften und von eigene Erfahrungen erzählen. In dieser Mischung aus historischen Fakten, persönlichen Erinnerungen, Assoziationen und Zitaten entsteht eine Art Doppelportrait durch Zeit und Raum, das neben dem Schriftsteller immer auch von mehr oder weniger bekannten anderen Menschen handelt; so gibt etwa auch der in Nossendorf lebende Filmemacher Hans-Jürgen Syberberg Auskunft. Das mutmaßlich Nebensächliche, Beiläufige oder auch Abschweifende, das damit korrespondiert, hat in den Filmen Volker Koepps Methode. Kein überflüssiger Schnitt stört den Zeitfluss, während die Zeitzeugen sprechen sowie Alltägliches, Zufälliges und scheinbar Banales in den Film einfließen, der damit auch wiederholt auf seine Gemachtheit verweist. So entsteht schließlich auch eine besonders vertrauensvolle Nähe, die Neugier weckt, den Blick auf das Entfernte schärft und die aktuelle Dringlichkeit notwendiger Erinnerung unterstreicht.

Gehen und Bleiben
Deutschland 2023 - 178 min.
Regie: Volker Koepp - Drehbuch: Barbara Frankenstein - Produktion: Jana Cisar, Günter Thimm - Bildgestaltung: Uwe Mann - Montage: Christoph Krüger - Verleih: Salzgeber - Besetzung: -
Kinostart (D): 20.07.2023

DVD-Starttermin (D): 01.02.2024

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt26345019/
Foto: © Salzgeber