Piaffe

(D 2022; Regie: Ann Oren)

Sexuelles Erwachen

„Die Welt der Farne“, ihr stilles, wildes Wuchern nach ihrer Selbstbefruchtung, entfaltet sich unter der schwerfälligen Mechanik eines Kaiserpanoramas gewissermaßen auf einer Guckkastenbühne. Hier imaginiert der voyeuristische Blick des Botanikers Novak (Sebastian Rudolph) sein erotisches Verhältnis zu den geheimnisvollen Pflanzen. Zugleich begegnen seine Augen an diesem präkinematographischen Ort der scheuen Eva (Simone Bucio), die ihre Blicke allerdings abwendet. Denn die junge Frau repräsentiert die Welt des Hörens. Als Geräuschemacherin vertritt sie ihre ältere Schwester Zara (Simon(e) Jaikiriuma Paetau), die nach einem Nervenzusammenbruch in der Psychiatrie gelandet ist. Eva soll einen Werbeclip für das Beruhigungsmittel „Equili“ synchronisieren, indem sie die Töne für ein auf der Stelle trabendes Pferd herstellt. Nach der Kunstgangart dieser Pferdedressur hat die Videokünstlerin Ann Oren wiederum ihr Langfilmdebüt „Piaffe“ benannt.

Die ersten Ergebnisse stellen den gnadenlos fordernden Werbeproduzenten allerdings nicht zufrieden. Auch sonst erlebt die unsicher und schüchtern wirkende Eva vor allem Ablehnung und Zurückweisung. Bis sie sich immer mehr in ihre Arbeit mit den Geräuschen vertieft und mit einem ganzen Arsenal von natürlichen Utensilien die Bewegungen und Geräusche des Pferdes nachahmt. Ihre Identifizierung mit dem dressierten Tier geht dabei so weit, dass ihr im Verlauf dieser Beschäftigung allmählich ein Schweif aus dem Steißbein wächst, der zum erotischen Fetisch und Signal wird. Immer deutlicher gewinnt Eva dabei ein sexuelles Selbstbewusstsein. Je mehr sie sich mit mimetischem Hufschlag und lustvoll benutztem Zaumzeug dressiert, desto genauer trifft sie die Töne. Evas entgrenztes, geschlechtsübergreifendes Erwachen findet in dem Botaniker schließlich ihr Gegenüber und einen schweigsamen Komplizen im erotischen Spiel mit Fesselung und Schweif.

Ann Oren erfindet für den Verwandlungs- und Selbstfindungsprozess ihrer Protagonistin eine phantastische, grenzüberschreitenden Sexualität zwischen Mensch und Tier, Pflanzen und Dingen. Dabei ist ihr ruhiger, sorgsam erzählter und in warmes Licht getauchter Film, der auf 16mm gedreht wurde, zugleich eine Hommage an die analoge Welt mit ihrer Haptik und Materialität. Dafür braucht es kaum Dialoge. Stattdessen entfalten die Geräusche einen Echoraum für erotische Phantasien. Rot, Blau und Grün werden dabei zu den dominierenden Farben der Lust. Wenn Eva ihren zukünftigen Gespielen im Botanischen Garten mit eindeutigen Avancen aufsucht, betritt sie ihr Paradies des Begehrens; und wenn sie schließlich mit ihrem „Techno-Piaffe-Tanz“ allein die Tanzfläche der Disco erobert, ist sie ganz bei sich angekommen.

Piaffe
Deutschland 2022 - 86 min.
Regie: Ann Oren - Drehbuch: Ann Oren, Thais Guisasola - Produktion: Kristof Gerega, Sophie Ahrens, Fabian Altenried - Bildgestaltung: Carlos Vasquez - Montage: Ann Oren, Haim Tabakman - Musik: Daniela Lunelli - Verleih: Salzgeber - FSK: ab 16 - Besetzung: Simone Bucio, Sebastian Rudolph, Bjørn Melhus, Simon(e) Jaikiriuma Paetau, Lea Draeger, Josef Ostendorf
Kinostart (D): 04.05.2023

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt21226876/
Foto: © Salzgeber