All the Beauty and the Bloodshed

(USA 2022; Regie: Laura Poitra)

Kampf gegen Stigmatisierung

Es sei leicht, sein Leben in eine Geschichte zu verwandeln, sagt Nan Goldin. Schwieriger und wichtiger sei es aber, die dem Körper eingeschriebenen Erinnerungen daran zu bewahren. In Laura Poitras‘ preisgekröntem Film „All the Beauty and the Bloodshed“ erinnert sich die 1953 geborene Fotokünstlerin an ihr Leben, an Lieben, Freunde, Süchte und Kämpfe. Sechs Kapitel gliedern diese sehr persönlichen Erinnerungen, die Nan Goldin mit rauer, brüchiger Stimme aus dem Off spricht, während ihre Erzählung von einer Tonbildschau ihrer Arbeiten und von Undergroundfilmen über ihre subkulturelle Community begleitet werden. Daraus resultiert eine unmittelbare Nähe zu ihrem Leben, das gewissermaßen mit der starken Intimität ihrer Fotos verschmilzt. Nachdem sie bereits als Jugendliche der Enge ihres Vorstadt-Elternhauses entfliehen kann, taucht sie lustvoll und mit einem großen Freiheitsdrang ein in jenes Milieu von sexuellen Außenseitern und künstlerischen Randexistenzen, die sich zwischen Autonomie und Abhängigkeit bewegen.

In den Fotos zur „Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“ hat Goldin diese von Sex, Drogen und Abweichung gekennzeichnete Szene ebenso lustvoll wie schmerzlich porträtiert. Für die Fotografin waren diese Bilder ein Mittel, sich künstlerisch zu finden und als Mensch zu behaupten. Zugleich sind ihr die Fotos Schutz vor der Angst und Sublimierung unterdrückter Sehnsüchte. Leben und Kunst fallen bei Nan Goldin, die sich zeitweise prostituiert und drogensüchtig ist, in eins. Als in den 1980er Jahren Aids die Szene erschüttert und viele ihrer Freunde tötet, wird Goldin einerseits zur trauernden Chronistin; andererseits muss sie schmerzlich erfahren, wie Ausgrenzung und Stigmatisierung zu einer verfehlten Politik führen. Hier wiederholt sich auf gesellschaftlicher Ebene eine traumatische Erfahrung, die sie im familiären Rahmen seit ihrer Kindheit begleitet: Damals hatte sich ihre geliebte ältere Schwester Barbara, die angeblich psychisch krank war, im Alter von 18 Jahren das Leben genommen.

In Laura Poitras‘ vielschichtigem Film fungiert dieser persönliche Schicksalsschlag als grundlegende Erfahrung von Unterdrückung und Abhängigkeit. Diese spiegelt sich schließlich auch in einer weiteren gewichtigen, parallel gesetzten Erzählung des Films: Poitras dokumentiert darin ab 2018 – und damit auf dem Höhepunkt der sogenannten Opioidkrise – Nan Goldins öffentlichkeitswirksamen Kampf gegen den Pharmakonzern der einflussreichen Milliardärsfamilie Sackler. Nach einer Operation selbst abhängig geworden von dem stark süchtig machenden Schmerzmittel Oxyconktin, dem nach Schätzungen über eine halbe Million Menschen zum Opfer gefallen sind, startet Goldin mit ihrer Gruppe P.A.I.N. Aktionen in Museen. Denn die Sacklers sind bedeutende Mäzene und Sponsoren der Kunst. Als politische Aktivistin klagt die Künstlerin also ihre eigenen Förderer an und erringt im Verlauf dieses Prozesses zusammen mit ihren Freunden mehr als nur symbolische Erfolge. In Laura Poitras‘ sehenswertem, zwischen Gegensätzen und Widersprüchen ausgespanntem Film erhalten die Ausgegrenzten schließlich zumindest einen Teil ihrer Würde zurück.

All the Beauty and the Bloodshed
USA 2022 - 117 min.
Regie: Laura Poitra - Produktion: Howard Gertler, John Lyons, Nan Goldin, Yoni Golijov, Laura Poitras - Bildgestaltung: Nan Goldin - Montage: Amy Foote, Joe Bini, Brian A. Kates - Musik: Soundwalk Collective - Verleih: Plaion Pictures - FSK: ab 12 - Besetzung: -
Kinostart (D): 25.05.2023

DVD-Starttermin (D): 24.08.2023

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt21374850/
Foto: © Plaion Pictures