Blog Archives: 2017

Water

(CAN 2005, Regie: Deepa Mehta)

Ghandi-Regenschirme
von Andreas Thomas

Wer hat wen geschlagen? Natürlich mal wieder der Mann die Frau. Diesmal in Indien und zwar als bis in die Gegenwart reichender Dauerzustand. – Schlimm genug, wenn kleine Mädchen mit …

Wer hat wen geschlagen? Natürlich mal wieder der Mann die Frau. Diesmal in Indien und zwar als bis in die Gegenwart reichender Dauerzustand. – Schlimm genug, wenn kleine Mädchen mit alten Männern verheiratet werden. Aber falls der Gatte stirbt, was im Fall der Chuyia im Film „Wasser“ bereits in ihrem neunten Lebensjahr geschieht, fühlt sich seine Familie nicht mehr für die Witwe verantwortlich und sie wird einem speziellen Ashram überstellt, einem Haus, in dem hinduistische Witwen den Rest ihres Lebens in Armut und Entsagung verbringen müssen.

Auch dass sich manche von ihnen, um die Ashram-Kasse aufzustocken, inoffiziell prostituieren dürfen, wirft kein besseres Licht aufs honorige indische Partriarchat, und wenn sich selbiges auch kleine Kinder wie Chuyia zum Zeitvertreib ins Bett holt, dann scheints ja zu klappen mit der idealen Verquickung von männlicher Rücksichtslosigkeit, Macht und der Instrumentalisierung religiöser Dogmen für männliche Interessen,- der Mann und die Religion: eine unheilige Allianz, die allerorten funktioniert hat und funktioniert. Wo, wenn nicht in den großen Weltreligionen, war – und ist noch – Frauenfeindlichkeit am tiefsten und effektivsten verankert?

Deepa Mehta, die von hinduistischen Fundamentalisten mit Morddrohungen versehene Regisseurin von „Water“, schlägt einen Weg ein, den auch andere Regisseurinnen beschreiten: Den eines geringeren Widerstandes, der sich in diesem Fall manifestiert durch Anleihen beim Schicksalsroman: Eine niedliche und freche Kindwitwe, eine alte Witwe, die sich niedlicherweise nach Süßigkeiten sehnt, eine bildschöne Witwe im besten Heiratsalter, zur Prostitution verdammt, des weiteren: einen gut aussehenden, bebrillten Ghandi-Anhänger, der nicht nur, wie Ghandi, Jurist ist, sondern auch mit dem berühmten Ghandi-Regenschirm spazieren geht und sich in die bildschöne Witwe verliebt; (sein Vater hat sich von ihren Fähigkeiten aber auch schon regelmäßig überzeugen können, was ihm dann doch den Spaß verdirbt), schließlich dann Klischee-Ghandi selbst, der einen eigens für ihn auf einem Bahnhof errichteten Thron erklimmt, nur um einen einzigen Satz zu wiederholen („Früher habe ich daran geglaubt, dass Gott die Wahrheit ist, heute glaube ich, dass die Wahrheit Gott ist“), den das komplette Hinterhof-Indien sowieso schon von ihm kennt und jede Menge (feminines) Ganges-Wasser und Wassermetaphorik, alles dies Überzeugungsmittel, mit denen Mehta offenbar den steinernen Patriarchen des neuzeitlichen Indiens erweichen will, aber jeden veritablen Menschenrechtler beschämen muss, da die blanken Fakten ja wirklich schon genug aussagen.

„Water“ ist, nicht nur, weil er einen aktuellen Missstand ins Jahr 1938 verlegt, auch, weil er meint, zu Herze gehen zu müssen, indem er eine Soße aus Musik und pittoresker Nostalgie-Folklore mit reizenden unglücklichen Kindern und hübschen unglücklichen Frauen vermengt (und implizit das Schicksal langweiliger unglücklicher Kinder und hässlicher unglücklicher Frauen hintanstellt), ein eher schwacher, zu wenig aggressiver Film geworden, der mit abgemildert bollywoodesken Methoden Aufklärungsarbeit leisten will. In Indien konnte er so tatsächlich ein großes Geschrei auslösen, aber in Deutschland wird er vorwiegend international interessierten Beamten ergreifende und bestürzende Schicksale aus einem geheimnisvollen Land bieten – also ihnen ihre gepflegte, kulturell wertvolle Abendunterhaltung sichern, nicht wahr?

Die März Akte

(D 1985, Regie: Peter Gehrig)

Nachrichten aus dem Kulturbetrieb
von Sven Jachmann

Wo er recht hat, hat er recht. Verlagsarbeit ist langweilig, folglich kann ein Verlagsporträt nur so spannend wie sein Verleger ausfallen, dachte sich März-Inhaber Jörg Schröder und also weiter: Was …

Wo er recht hat, hat er recht. Verlagsarbeit ist langweilig, folglich kann ein Verlagsporträt nur so spannend wie sein Verleger ausfallen, dachte sich März-Inhaber Jörg Schröder und also weiter: Was tun? Eine Rahmenhandlung schaffen, die dem chronischen Skandalon, das dem Post 68er-Familienbetrieb anhaftet, den gebührenden Platz verschafft. Drum spielt Horst Tomayer, darstellend bekannt aus dem ersten Otto-Film und Tagebücher verbreitend aus Konkret, den Betriebsprüfer, der, unwissend und unbedarft wie wohl die meisten Zuschauer dieser aus öffentlichen Geldern finanzierten Produktion des Bayerischen Rundfunks, in der hessischen Provinz über Rechnungsbeträge und Steuererklärungen in die Parallelwelt des und eines linken Kulturbetriebs eintauchen muss und davon auch nicht völlig unbeeindruckt bleibt.

Jörg Schröder spielt Jörg Schröder und darf spontan auf den komplett improvisierenden Tomayer und das vorgeführte Interviewmaterial einstiger Wegbegleiter reagieren. Und das sind derer nicht wenig: Henryk M. Broder, Karl Dietrich Wolff, Klaus G. Saur, Mathias Bröckers, Uve Schmidt und einige mehr prüfen ihren Erinnerungshaushalt. Zwischendurch ist auch mal ein Daniel Cohn-Bendit zu sehen, der als Interviewpartner zwar nicht vorgesehen, durch penetrantes Wortabschneiden dann aber doch noch einer geworden war. Die Montage zeigt, wie gegensätzlich diese Erinnerungen beschaffen sein können. Den Rest erledigt redselig, aufbrausend, sarkastisch, aber durchaus nicht unhöflich Schröder in Eigenregie, und auch hier sorgt die Montage dafür, dass er das letzte Wort behalten soll.

März, das ist wohl der symptomatischste Versuch, die Uneinheitlichkeit als Mehrebenen-Analyse, als Einheitlichkeit widerständischer Kultur zu propagieren. Da war eben nichts ohne das andere zu denken. Brinkmanns »Acid Anthologie«, Robert Crumbs »Headcomix«, Gunter Schmidts »Das große DerDieDas« bis hin zum obskuren Astrologieführer oder, noch weiter weg, aber ziemlich nah dran, der Zweitverlag Olympia Press, dessen pornographischen Lizenztitel wiederum dem Überleben des März-Verlags zugute kamen. Die Corporate Identity bot dann eben das stets gelb-schwarze oder gelb-rote Titelbild oder eben das Ziel, jedes Milieu innerhalb des Milieus im Verlagsprogramm berücksichtigt zu wissen, gegen jedes Dogma, oftmals auch gegen jede verlegerische Vernunft, zumindest aber mit Esprit.

Die März Akte, das ist dann weniger die Geschichte des Aufstiegs und Niedergangs eines einstmals unumgänglichen linken Kleinverlags, es ist vielmehr die Fortsetzung des von Schröder so beständig initiierten Mythos Schröder: idealistisch gegen Feuilletonmuff verlegend, fast immer an der Schwelle zur Selbstausbeutung, dabei aber immer lauter schreiend und schreibend als die anderen, nachträglich dann doch vorausreitend, auch wenn sich dabei die Parameter des Kulturbetriebs verschoben haben mögen. Wer heute Popliteratur denkt, denkt Adoleszenz-Hochnäsigkeit im (meist nicht mal) Secondhand-Nadelstreifen, aber ganz sicher nicht Rolf Dieter Brinkmann und Bernhard Vesper.

Der Film indes stellt sich gern in die Dienste seiner Figur und macht aus seinem Duktus keinen Hehl. Lektorengespräche mit aufstrebenden Jungautoren sind offensichtlich gefaket, kurz vor Schluss liegt Schröder, ganz armer Poet, mit echten 39,5 Grad Fieber im Bett, gezwungen, der Rezitation eines Betriebsprüfergedichts vom sanft geläuterten Horst Tomayer zu lauschen, beide können sich das Lachen nicht verkneifen. Das mag auf der einen Seite unverhohlene Kolportage sein, es ist aber auch ein herrlich klatschdurchtränkter Einblick in die Mechanismen und Strukturen bundesrepublikanischer Kulturschickeria, dessen Essenz ist – im Zeitalter der digitalen Bohème mehr denn je -, dass Idealismus kaum ohne Selbstausbeutung, Selbstausbeutung sehr wohl aber ohne Glamour, wunderbar und immer noch gültig für heutige Verhältnisse anwendbar ist.

Zur DVD von absolut Medien:

Eine Fernsehproduktion aus dem Jahre 1985 wird selbstredend nicht dafür genutzt werden, das digitale Medium neu zu erfinden, zumal diese Edition leider ohnehin bloß eine kleine Käuferschar finden wird. Wirkt das Bild an manchen Stellen schon recht abgenutzt und poltert der Ton überaus blechern daher, so reicht doch allein die Freude am Wissen daran, daß auch dieses Kleinod das analoge Zeitalter hinter sich gelassen hat. Zumal die Extras den Film hervorragend ergänzen: Im Gespräch mit Mathias Bröcker läßt das Verlegerpaar die Zeit nach dem Film Revue passieren, und im 20seitigen Booklet, ein langer Auszug aus der 38. Ausgabe von »Schröder erzählt«, blickt selbiger nochmals ausführlich und originär auf die Produktionsgeschichte zurück.

Beruf: Neonazi

(D 1993, Regie: Winfried Bonengel)

Verdeckte Ermittlung
von Sven Jachmann

Nach seinen ersten Aufführungen 1993 provozierte Bonengels Dokumentarfilm um den jungen Münchener Neonazi Eward Althans einen veritablen Skandal: Es hagelte Verisse von Spiegel bis Konkret, Ignatz Bubis, damals Vorsitzender des …

Nach seinen ersten Aufführungen 1993 provozierte Bonengels Dokumentarfilm um den jungen Münchener Neonazi Eward Althans einen veritablen Skandal: Es hagelte Verisse von Spiegel bis Konkret, Ignatz Bubis, damals Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, forderte ein Verbot, die hessische Innenministerin Evelies Mayer gar die Rückzahlung des Förderungsgeldes und im Dezember selbigen Jahres erfolgte eine kurzzeitige Beschlagnahmung. Die Anklagepunkte waren relativ identisch: Zu wenig Distanz zur portraitierten Figur führe unter Umständen zur Identifikation und böte so Althans ein gern in Beschlag genommenes Forum zur Verbreitung seiner Ansichten und Glorifizierung seiner Person.

Bonengel verzichtet gänzlich auf einen belehrenden oder kontextualisierenden Kommentar, lässt von den Eltern bis Ernst Zündel alle wegweisenden Personen im Leben Althans’ zu Wort kommen und verschafft durch dieses Mittel überhaupt erst das, was ein Dokumentarfilm, der ein bisschen mehr möchte, als dem Rechtsextremismus gutwillig und voll überschäumender Entrüstung auf die Finger zu klopfen oder vielmehr: durch Dämonisierung seines Gegenstands in erster Linie die moralischen Prämissen der Macher in den Mittelpunkt zu rücken, dem Thema eine angemessene, wie abstoßende Sperrigkeit. Eine unmittelbare, regelrecht forcierte Reaktion auf das Gezeigte wäre wohl Reflexion. So viel sollte klar sein: Wer in Althans’ Reden, bspw. seine vor sichtlich beschämtem Publikum vorgetragene Leugnung der Shoah inmitten der Gaskammern von Auschwitz-Birkenau, einen verführerischen Kern ausgemacht zu haben glaubt, sollte vornehmlich seine Birne einer selbstkritischen Neubewertung unterziehen und anständig genug sein, dem nächsten Aufstand der Anständigen durch ein paar zackig deklamierte Reden aus dem Arsenal des Nazijargons einen anständigen Prüfstein feilzubieten.

Der ausbleibende Kommentar suggeriert keine insgeheime, wenn auch unfreiwillige Komplizenschaft, sondern er ermöglicht einen unzensierten und schon deshalb wesentlich wahrhaftigeren Einblick in das Schaffen eines auf höchstem Niveau organisierten Neonazikaders, als es das strukturell eingeschränkte Fernsehfeature, mit seinen politisch kritischen Nachfragen und didaktischem Wankelmut, je erreichen könnte. Mal ungeachtet dessen, dass kritische Stimmen in dem Film durchaus zu hören sind. Der besagten Rede inmitten Birkenaus folgt etwa die Auseinandersetzung mit einem ansässigen Besucher, dessen ausländische Herkunft ihn jedoch als den Archetyp des couragierten, aus der Geschichte geläutert hervorgegangenen Musterdeutschen, wie er so gerne imaginiert wird, schlicht disqualifiziert. Es ist es lohnenswert, diese Szene näher zu beleuchten, denn sie bietet einen aufschlussreichen Einblick in die Methode eines Althans. ‚You are rude‘ entgegnet er dem bemitleidenswerten Kontrahenten, als dieser sich anschickt, in Althans’ gewaltigen Wortschwall zu intervenieren und ihn des Ortes verwiesen sehen möchte. ‚Sie verbrennen andere Menschen, wenn sie nicht ihrer Meinung sind.‘ Ein plumpes, stets anzutreffendes Verfahren der Umkehrung, mit dessen Hilfe, durch den Rekurs auf universell geltende Prinzipien wie dem der Meinungsfreiheit, ein Schlupfloch gesucht wird, um der Analye zu entgehen und die krude Ideologie hoffähig zu machen. Durch Aufklärung antiaufklärerisch zu wirken, hat sich als eminent erfolgreiches Mittel in rechten Kreisen etabliert, und wie gezielt es zum Einsatz kommt, zeigt der Film in zahlreichen Sequenzen mit gnadenloser Schärfe.

Im Anschluss an das Gespräch sehen wir Althans einige Minuten vor dem Eingang wartend. ‚So viele Tiere hier.‘ Lautes Fliegensummen. ‚Ekelig … sollte man alle vergasen.‘ Sarkastisches Grinsen. ‚Diese Läuse … Flugläuse … müssten ausgerottet werden.‘ Und Abtritt (an wen das gerichtet war, ist angesichts des vorausgegangenen Streitgesprächs nicht schwer zu erschließen). Diese Szene fasst mustergültig das gesamte Prinzip der Auschwitzleugnung zusammen: Das Wissen von der Vergasung wird nicht trotzig negiert, sondern bloß zeitweise suspendiert. Es ist positiv konnotiert und seine Leugnung fungiert lediglich als Chiffre, mit deren Hilfe sich unverblümt sagen lässt, dass man diesen Vorgang wiederholt wissen will. Solcherart Kampfansagen finden sich zuhauf in dem Film und sie sind deshalb so unverfälscht zu sehen, weil Bonengel es gewagt hat, seinen Gegenstand ernst zu nehmen. Auf diesem Wege ist ihm ein Einblick in die faschistische Szene gelungen, den ansonsten bloß noch verdeckte Ermittler haben dürften. Schon deshalb, und weil die wenigsten von uns in Bereichen dieser Berufssparte tätig sein dürften, ist „Beruf: Neonazi‘ ein nicht genug zu lobendes Zeitdokument. Was die zensorischen Anfechtungen betrifft, so offenbaren sich hier die ganze Ohnmacht und Verdrängungsarbeit, die die Fragen nach dem Umgang und der Erklärung des einstigen Nationalsozialismus und heutigen Rechtsextremismus seit je her begleiten.

So beschämend, wie die Besucher im KZ auf einen wie Althans reagieren, nämlich beschämt, schweigend und ausweichend, so hilflos, wie dessen Eltern mit simplen, in der Kindheit ansetzenden Psychologisierungsversuchen (‚Er hat ja schon immer nach Aufmerksamkeit gesucht‘) ihren zutiefst liberalen Habitus unterstreichen, so unscheinbar, wie er sich in seiner modischen, ganz und gar nicht als Nazioutfit zu identifizierenden Popperkluft durch die Mitte der Gesellschaft bewegt, so beschämend, hilflos und unscheinbar konstruiert diese zur höchsten Verdrängungsleistung fähige Gesellschaft den Diskurs um mögliche Prävention und Vergangenheitsbearbeitung, nämlich Leugnen bis der Arzt kommt. Und wenn man heute hören muss, dass auch blonde und blauäugige Deutsche in gewissen Milieus mit Fressepolieren zu rechnen haben und rassistische Gewalttaten gar keine sein können, weil den Tätern eine etwaige Mitgliedschaft zu irgendeiner noch so unbedeutenden Aktivistenorganisation nur schwer nachzuweisen ist, dann bekommt auch der letzte Zweifler auf dem Tablett geliefert, dass vom großen Tisch der Entschuldigungsstrategien immer noch die größten Brocken weitergereicht werden.

Still Walking

(J 2008, Regie: Hirokazu Kore-eda)

Die Ruhe vor und nach dem Sturm, der nicht kam
von Louis Vazquez

Wenn im Film oder auf der Theaterbühne verschiedene Generationen einer Familie zusammenkommen, anlässlich einer Feier oder eines Jahrestags, dann ist in der Regel mit dem Schlimmsten zu rechnen: Alte Versäumnisse, …

Wenn im Film oder auf der Theaterbühne verschiedene Generationen einer Familie zusammenkommen, anlässlich einer Feier oder eines Jahrestags, dann ist in der Regel mit dem Schlimmsten zu rechnen: Alte Versäumnisse, ungelöste Spannungen, dunkle Geheimnisse gelangen an die Oberfläche. Die Situation eskaliert, und hinterher ist nichts mehr wie es war. In „Still Walking“ ist es so ähnlich und doch ganz anders, denn erstens gibt es nicht den einen großen Eklat, der die vermeintliche Idylle zerstört, sondern viele kleine Brüche, die sich langsam zum dichten Netz entwickeln, und zweitens bleibt letztlich alles beim Alten. Nichts ändert sich. Und das macht es umso schwerer erträglich.

Einmal im Jahr im Sommer treffen sich die Yokoyamas, um eines Toten zu gedenken: Der älteste Sohn Junpei ist vor 15 Jahren im Meer ertrunken, als er einen fremden Jungen rettete und mit seinem eigenen Leben zahlte. Mit ihm starb die Hoffnung des Vaters Shohei auf einen Nachfolger, der seine Arztpraxis übernehmen und ihn mit Stolz erfüllen würde. Aus Shohei wurde durch den Schicksalsschlag ein verbitterter alter Mann, der für seinen anderen Sohn, den inzwischen 40jährigen Kunstrestaurator Ryota, nur Verachtung übrig zu haben scheint. Ryota verheimlicht vor seinen Eltern, dass er zurzeit gar keine Stelle hat. Schlimm genug für die, dass er eine verwitwete Frau geheiratet hat, welche einen zehnjährigen Jungen mit in die Ehe bringt. Da Ryota die Distanz zum Elternhaus sucht und so schnell wie möglich mit seiner Familie wieder abreisen will, scheint es seiner Schwester Chinami zu obliegen, in absehbarer Zeit mit ihrer eigenen Familie zurück zu den Eltern ziehen, um sie im Alter zu unterstützen.

Der starrköpfige Shohei scheint zunächst im Zentrum der Konflikte zu stehen und für die Spannungen verantwortlich zu sein. Doch bald zeigt sich, dass es noch mehr enttäuschte Erwartungen gibt, dass längst schon niemand mehr kompromissbereit ist und nicht nur Vater und Sohn sich gegenseitig etwas vormachen. Regisseur Hirokazu Kore-eda, auch für Drehbuch und Schnitt verantwortlich, erweist sich als äußerst genauer Beobachter des Alltags und des Zwischenmenschlichen. Nicht zu Unrecht wird sein Name bisweilen in einem Atemzug mit den großen japanischen Filmemachern Kurosawa und Ozu genannt. „Still Walking“ ist ein trügerisch ruhiger Film mit kontemplativen Momenten, der in keinem Moment langweilt. Kore-edas große Stärke ist dabei die Mise-en-Scène, in seinen langen, statischen Einstellungen wirkt nichts dramatisiert oder überinszeniert. Ihre Spannung gewinnen sie aus den Figuren und den oft kleinen Gesten der großartigen Schauspieler, so dass man eine dramatische Inszenierung im besten Sinn erlebt – gut getroffen, unaufgeregt und trotzdem schonungslos, mit einer Art präziser Beiläufigkeit.

Kore-eda, der in der fiktiven Geschichte eigene autobiografische Erfahrungen und Versäumnisse im Verhältnis zu seinen mittlerweile verstorbenen Eltern aufarbeiten will, setzt konsequent auf Ambivalenzen, so dass sein Film unversöhnlicher gerät, als man zwischenzeitlich erwarten könnte. Immer wieder ergeben sich Möglichkeiten, neu anzufangen, neue Vertrauensverhältnisse einzugehen, doch jedes Mal wird die Chance vertan, denn jeder pflegt seinen verletzten Stolz. Dabei wünscht man den Figuren nur Gutes, weil sie letztlich liebenswert geraten und in ihrer Zerrissenheit nachvollziehbar sind. Dennoch machen sie sich das Leben zur Hölle oder zumindest schwerer als nötig. Später, als einige Familienmitglieder am Meer stehen, steckt dort ein Schiff im Sand fest. Manchmal sind die Dinge eben festgefahren, und man muss es, zumal im Rückblick, akzeptieren. Aus der Erinnerung, auch davon erzählt Kore-eda, verschwinden die schönen Momente bald genauso wie die schlechten. Tröstlich ist das nicht unbedingt.

„Still Walking“ wurde bereits 2008 fertig gestellt, und es ist erfreulich, dass der Film jetzt doch noch auf der großen Leinwand zu sehen sein wird. Zu wünschen wäre das auch Kore-edas neuestem Film, dem grotesken, bösen Märchen „Air Doll“. Es handelt von einer naturgetreuen Sex-Puppe, die lebendig wird, sich unter die Menschen begibt und bei einem Job in einer Videothek Freundschaft, Zuneigung und die Liebe entdeckt. Ob es ihr schlussendlich besser ergeht als den Mitgliedern der Familie Yokoyama? Rechnen Sie besser nicht damit.

Au Revoir Taipeh

(TW / D / USA 2009, Regie: Arvin Chen )

Uns bleibt immer Taipeh
von Harald Mühlbeyer

Kai sitzt mit gebrochenem Herzen in Taipeh. Seine Freundin ist in Paris, und so lernt er allabendlich in der Buchhandlung Französisch per Lautschrift und sehnt sich in die weite Welt, …

Kai sitzt mit gebrochenem Herzen in Taipeh. Seine Freundin ist in Paris, und so lernt er allabendlich in der Buchhandlung Französisch per Lautschrift und sehnt sich in die weite Welt, in die Arme seiner Geliebten. Paris als der große Sehnsuchtsort der Liebe bestimmt sein Denken und Handeln, von Taipeh erwartet er nichts, auch nicht von der netten Buchhändlerin Susie. Wie Kai die Realität nicht sieht und in seinen Illusionen schwelgt, macht einen Teil des Witzes von „Aur Revoir Taipeh“ aus: das Gute liegt so nah, doch er will in die Ferne schweifen, sieht gar nicht, dass seine Freundin in Frankreich nichts mehr von ihm wissen will, und wie freundlich Susie ist … Soweit die Ausgangslage für eine schöne romantische Komödie; doch Regisseur Arvin Chen hat in seinem Debüt noch viel mehr zu bieten.

Um Geld für ein Flugticket zu erhalten, lässt Kai sich auf einen Kurierdienst für einen alternden Gangster ein, und in dieser Nacht häufen sich die absonderlichen Ereignisse. Er trifft auf Susie, muss sich gegen grell orange gekleidete Möchtegerngangster wehren, wird von einem trotteligen Polizisten mit Liebeskummer verfolgt, sein bester Freund wird entführt; zwischendurch muss er auch noch bei der Nudelküche seiner Eltern vorbeischauen. Die romantic comedy wird zur Gangsterkomödie, zur Kriminalfarce: Skurrile Gestalten treffen in dieser Nacht aufeinander, und keiner ist das, was er sein möchte: die jungen Gangster freuen sich über die Pistolen in ihrer Hand, zeigen sich aber bei ihren Folterversuchen besorgt, ob’s denn weh getan hat. Kais Freund, ein langer Lulatsch, freundet sich mit seinen Entführern an; der Polizist will seine Beziehungsprobleme lösen und muss dabei noch seinen Dienst tun; der alte Gangster will eigentlich nur einen Altersruhesitz für sich. Und Kai, der so gerne nach Paris will, lernt seine Stadt Taipeh und seine Buchhändlerin Susie ganz neu kennen.

Arvin Chen ist in den USA aufgewachsen und erst als Erwachsener nach Taipeh zurückgekehrt, der Film wurde international coproduziert, Wim Wenders ist als Ausführender Produzent mit an Bord, Paris wird als großer Ort der Sehnsucht etabliert. Aber eigentlich ist dies einfach eine Liebeserklärung an Taipeh, an die romantischen Geheimnisse der Stadt, wie sie nur im Film vorkommen können. Erstaunlich ist die Souveränität, mit der Chen seinen Erstling inszeniert, wie er die Dramaturgie dieser Nacht beherrscht, wie er die Genres mischt, wie er das Filmdesign immer ein bisschen zuviel gestaltet, um einen leicht skurrilen Effekt zu erreichen, welch genaues Gespür er für komisches Timing hat: wenn einer der Gangster per Telefon die wüstesten Drohungen ausstößt, was er mit seiner Geisel anstellen wird, und sein Opfer zugleich mit freundlichen Gesten beschwichtigt …

Unterlegt ist der Film mit leichten, tänzerischen Jazzmelodien, die sich perfekt einfügen in den bunten, bizarren, überaus komischen und durch und durch romantischen Film: einmal, um sich vor den Verfolgern zu verstecken, schließen sich Kai und Susie einer nächtlichen Tanzgruppe im Park an, und nein: Das ist nicht nur Tarnung, wie sie sich da im Rhythmus bewegen, das ist die große Leichtigkeit des Daseins, des Beieinanderseins, des Filmseins, das Chen zelebriert.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Vergissmichnicht

(F 2010, Regie: Yann Samuell )

Briefe aus der eigenen Kindheit
von Harald Mühlbeyer

Sophie Marceau spielt die toughe Karrierefrau Margaret, die ihren Beruf zum Lebensinhalt gemacht hat. Sie ist mit einem Kollegen zusammen, aber richtige Liebe ist das nicht: sie treffen sich weniger …

Sophie Marceau spielt die toughe Karrierefrau Margaret, die ihren Beruf zum Lebensinhalt gemacht hat. Sie ist mit einem Kollegen zusammen, aber richtige Liebe ist das nicht: sie treffen sich weniger in ihrer Wohnung als bei irgendwelchen Meetings, bei denen es um Prozentpunkte geht und um Wertschöpfung und um die Frage nach Profit auf Kosten der Sicherheit bei dem Atomkraftwerk, das sie für die Chinesen planen. Margaret ist in dieser Welt ganz bei sich, ganz mit sich im Reinen: hier kriegt sie, was sie will, Anerkennung, Erfolg, viel Geld.

Margaret erhält an ihrem 40. Geburtstag den Brief eines Kindes: „Eins kann ich dir sagen: Du bist im blödesten Alter deines Lebens. Ich bin heute 7 Jahre alt geworden und ab jetzt im Alter der Vernunft!“ Und deshalb gibt die Siebenjährige der 40jährigen Ratschläge, Tipps für das, was im Leben wichtig ist; über eine Zeitbrücke von 33 Jahren hinweg. Denn Marguerite, die die Briefe schreibt, ist das jüngere Ich von Margaret, die die Briefe empfängt. Marguerite hat als Kind Briefe an sich als Erwachsene geschrieben, ein Notar hat sie aufbewahrt und leitet sie weisungsgemäß nun, zum Geburtstag, weiter. Dicke Umschläge sind das, vollgestopft mit buntem Mädchenzeug, und vollgestopft mit Anweisungen für ein Leben, wie es sein soll. Das bringt Margaret gehörig durcheinander.

Denn natürlich ist die Lebenssicht ihres siebenjährigen Ichs konträr zu den Werten, die sie jetzt für wichtig erachtet, und schnell wird klar, dass dieser Film von Yann Samuel ein Plädoyer ist für das bessere Leben, das wir als Kinder führten, als Papierflieger, Pfützen und Löchergraben wichtiger waren als Profitmaximierung, Effizienz und Gewinnprognosen. Ein unverhohlen romantisches Märchen ist dieser Film, sichtlich an Jeunets „Fabelhafter Welt der Amélie“ angelehnt – etwa an der Nebengeschichte, in der der Gartenzwerg glücksstiftende Grüße aus aller Welt sendet.

Das ist herzerwärmend märchenhaft, lustig und emotional; das Problem ist, dass der Film spätestens dann zu süßlich wird, als Margaret gemäß den Marguerite-Briefen bei einem Geschäftsessen ein Abendessen ganz aus Schokolade bestellt. Denn mehr als die ohnehin schon recht deutliche Botschaft, dass Geruhsamkeit, kindliche Vorstellungskraft und Fantasie, Einklang mit sich selbst, ursprüngliche Unschuld den Menschen ausmachen und supergut sind, kommt nicht mehr. So wie die Siebenjährige wird auch der pensionierte Notar als Mentor für ein besseres Leben dargestellt; für ein solches findet der Film entsprechende gutmeinende Kitschbilder: Löcher graben in Afrika, damit die armen Negerkinder Brunnenwasser bekommen.

Eins bringt der Film aber treffend und plausibel auf den Punkt: aus den parallelen Geschichten um die 40jährige Margaret und die siebenjährige Marguerite arbeitet Samuel genau heraus, wie und warum es zur Wandlung des Kindes in eine Erwachsene, zur Veränderung der Lebenssicht und Werte kam: Armut und Einsamkeit lassen Marguerite aus Vernunftgründen – in diesem Zeitalter steckt sie ja drin – zum Schluss kommen, dass Reichtum und Erfolg im Leben zählen. Der Film plädiert für die Rückumkehrung dieses Beschlusses: ein an sich richtiges Ziel, das mit falschen, sentimentalen, kitschigen, letztlich verlogenen Bildern erzählt wird.

Ich sehe den Mann deiner Träume

(USA / ESP 2010, Regie: Woody Allen)

Das Universum expandiert immer noch
von Louis Vazquez

In vielen Filmen von Woody Allen machen die Protagonisten aus ihrer Abneigung gegen Rockmusik keinen Hehl, wohl durchaus stellvertretend für den Filmemacher selbst. Ein bisschen ironisch ist das schon, hat …

In vielen Filmen von Woody Allen machen die Protagonisten aus ihrer Abneigung gegen Rockmusik keinen Hehl, wohl durchaus stellvertretend für den Filmemacher selbst. Ein bisschen ironisch ist das schon, hat Allens Werk doch ziemlich viel gemein mit beispielsweise dem der New Yorker Punkrock-Band The Ramones. So wie die Punkrocker ihre drei oder vier Akkorde fleißig neu sortierten, um unzählige zweiminütige Songs in die Welt zu schicken, so reorganisiert auch Allen seit geraumer Zeit immer wieder ähnliche Motive und Figurenkonstellationen und behandelt altbekannte Themen, je nach Auslegung obsessiv, routiniert oder gelangweilt. Weil er seit inzwischen mehr als vier Jahrzehnten schreibt und Regie führt und im Jahrestakt Filme dreht, lassen die wiederkehrenden Elemente jeden neuen Film wie einen alten Freund erscheinen, der einmal im Jahr auf ein paar Büchsen Bier oder, hier passender, eine Flasche Wein vorbeischaut. Wenn man Allens repetitivem Schaffen wohlgesonnen ist, freut man sich über den Besuch, obwohl freilich nicht jeder einen perfekten Abend bedeutet. Manche Abende zehren etwas zu bemüht von der Vergangenheit, und man hätte sich vielleicht eine längere Pause gewünscht, um sich wieder mehr zu sagen zu haben. Andere dagegen lassen fast völlig vergessen, wie wenig Zeit vergangen ist und erinnern an das erste Kennenlernen.

„Ich sehe den Mann deiner Träume“ jedenfalls, der an Allens 75. Geburtstag in die deutschen Kinos kommt, ist mal wieder ziemlich gut geworden und weckt Erinnerungen an seinen großen Ensemblefilm „Hannah und ihre Schwestern“. Es geht natürlich um Beziehungen und die dazugehörigen Trennungen, um Torschlusspanik und das verzweifelte Streben nach dem Glück oder zumindest dem, was danach aussieht, weil das Gras auf der anderen Seite des Flusses immer so viel grüner zu sein scheint. Etwas aber muss passieren, weil der Zug irgendwann endgültig abgefahren ist und dann jener „tall, dark stranger“ kommt, von dem im Originaltitel die Rede ist und dem jeder Mensch eines Tages begegnen muss. Alfie, der sein Älterwerden nicht wahrhaben will, hat sich wegen eines jungen Callgirls nach 40 Jahren Ehe von Helena getrennt. Die ist mit den Nerven am Ende und nach einem gescheiterten Selbstmordversuch auf die Prophezeiungen einer Wahrsagerin angewiesen, um ihr Leben halbwegs in den Griff zu bekommen. Ihre Tochter Sally glaubt zwar nicht an Weissagungen, unterstützt die Mutter aber, denn sie weiß, wie gut ihr die esoterischen Sitzungen tun. Sally selbst hat Probleme mit ihrem Mann Roy, einem Schriftsteller, der seit einem ersten Achtungserfolg nichts mehr zustande bringt. Unzufrieden mit der Gesamtsituation verguckt sich Roy prompt in die schöne Nachbarin und spinnt einen kühnen Betrugsplan, während seine Frau Gefühle für ihren verheirateten Chef entwickelt.

Woody Allens neuer Film präsentiert das Ernste und das Komische mit jener Leichtigkeit, die seine besten Filme auszeichnete und die der Regisseur mit „Vicky Cristina Barcelona“ wieder gefunden zu haben scheint. Obwohl vor fünf Jahren ausgerechnet „Match Point“ nach einer längeren Durststrecke wieder ein Erfolg bei Kritik und Publikum war – eine Quasi-Neuauflage des ungleich vielschichtigeren „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“ aus dem Jahr 1989 –, funktionierten Allens Krimi- und Thrillerplots mit Ausnahme von „Verbrechen …“ selten wirklich gut, weil sie im Vergleich zu anderen Genrestücken zu reißbrettartig waren – siehe etwa „Scoop“ oder „Cassandras Traum“. Allens neuer existenzialistischer Tragikomödie dagegen, in der es nicht um Mord und Totschlag, sondern um eher alltägliche Sinnkrisen geht, gelingt auf herausragende Weise die Balance zwischen Überzeichnung und Figurentiefe. Wie Allens Charaktere sich verrennen, um jemanden zu beeindrucken und / oder ihre Selbstachtung wiederzuerlangen, das ist einerseits äußerst amüsant, andererseits aber auch todtraurig. Dass beides funktioniert, ist einer selbst für Woody-Allen-Verhältnisse herausragenden Schauspielerriege zu verdanken, wobei eher unbekannte Entdeckungen wie Lucy Punch und Newcomer wie Freida Pinto sich keineswegs hinter etablierten Stars wie Naomi Watts, Anthony Hopkins oder Josh Brolin verstecken müssen.

Nur damit keine falschen Vorstellungen aufkommen: Versöhnliches kann man von Woody Allen wohl nicht mehr erwarten, und „Ich sehe den Mann deiner Träume“ ist sicherlich kein Feel-Good-Movie geworden. Das Leben ist einfach ein zu böser Witz, und der Drehbuchautor Allen, das lässt er sich nicht nehmen, muss ihn besonders perfide erzählen. Ein wenig erinnert er dabei an die Coens, die in „A Serious Man“ mit biestiger Freude und ohne Gnade einen Protagonisten vorführten, dem sein Leben völlig entgleitet. Erfolg und Glück sind nicht unbedingt gerecht verteilt, wie schon Boris Gruschenko in „Die letzte Nacht des Boris Gruschenko“ (1975) erfahren musste. Und vielleicht, so legt Allen nah, werden in diesem rein zufälligen Chaos ja auch nur die Verblendeten wirklich glücklich, die eben nicht alles hinterfragen müssen.

An dieser Stelle könnte eine protestierende Stimme sich erheben: Das sei nun aber doch wirklich nichts Neues, alles schon mal da gewesen und ein Beweis für fehlende Inspiration. Und ob ein rahmendes Shakespeare-Zitat auf die Bedeutungslosigkeit der Existenz hinweist oder ein kleiner Junge Angst vor einem expandierenden Universum hat, das mache doch wohl keinen großen Unterschied. Macht es aber. Denn wenn man ein Ramones-Album hört, ist man selten enttäuscht darüber, dass es keine Streichinstrumente gibt, selbst wenn es ein spätes Album ist. Und noch immer ist es unglaublich schade, dass die Ramones keine neuen Songs mehr veröffentlichen, auch wenn sie angeblich nie wieder so gut waren wie am Anfang. Was man übrigens jederzeit bestreiten könnte.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Monsters

(GB 2010, Regie: Gareth Edwards)

It’s All About Love
von Louis Vazquez

Unabhängiges Filmemachen erfordert nicht nur Hingabe, sondern ein gerüttelt Maß an Selbstausbeutung – und eine nicht geringe Zahl von Mitstreitern, die sich ebenfalls bereitwillig ausbeuten lassen. Wenn Spielfilm-Debütanten dann auch …

Unabhängiges Filmemachen erfordert nicht nur Hingabe, sondern ein gerüttelt Maß an Selbstausbeutung – und eine nicht geringe Zahl von Mitstreitern, die sich ebenfalls bereitwillig ausbeuten lassen. Wenn Spielfilm-Debütanten dann auch noch einen Science-Fiction- oder Horrorstoff umsetzen wollen, werden die Probleme umso größer, denn diese Genres erfordern aufwändige Set-Pieces und Spezialeffekte. So bleibt jungen Genre-Filmemachern eigentlich nichts anderes übrig, als ungewöhnliche Herangehensweisen zu finden und auf Effekte so weit wie möglich zu verzichten. Ein pseudodokumentarischer Ansatz wie in „The Blair Witch Project“ bietet sich dann besonders an, aber auch ein verschachtelter Zeitreiseplot, wie beispielsweise Shane Carruths angeblich für nur 7000 $ realisierter Film „Primer“ zeigt. Der britische Filmemacher Gareth Edwards hat nun eine sehr eigene Möglichkeit gefunden, sogar gleich einen richtigen Monsterfilm zu drehen. Ähnlich wie im (viel höher budgetierten) Hollywood-Spektakel „Cloverfield“ erzählt er eine Geschichte aus der Froschperspektive, beschränkt sich auf den Erfahrungshorizont seiner eher durchschnittlichen, hilflosen Protagonisten und erzählt letztlich zwar genregemäß von ihrer Flucht durch eine von Monstern bedrohte Welt, legt den Schwerpunkt aber auf eine stimmungsvolle Liebesgeschichte und exotische, vorgefundene Schauplätze. Die sporadisch eingestreuten Spezialeffekte hat Trickexperte Edwards selbst an seinem Rechner entworfen. Die Kameraarbeit hat er auch gleich übernommen.

Sechs Jahre bevor die Filmhandlung einsetzt, ist eine Sonde der NASA bei ihrer Rückkehr von einem Jupitermond über Mittelamerika zerbrochen. Dabei wurde außerirdisches Leben freigesetzt, und hundert Meter hohe, tintenfischartige Wesen bevölkern jetzt weite Teile Mexikos. In stundenlangen Gefechten werden sie vom US-Militär mit Raketen und Giftgas bekämpft. Der Fotograf Andrew Kaulder (Scoot McNairy) hofft, vor Ort rare und einträgliche Fotos von lebendigen Außerirdischen machen zu können, doch sein Verleger macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Dessen Tochter Samantha (Whitney Able) liegt nämlich verletzt in einem mexikanischen Krankenhaus. Kaulder soll sie nun im Auftrag seines Chefs in Sicherheit bringen, das heißt: auf schnellstem Weg in die USA geleiten. Sam und Kaulder, die Tochter aus gutem Hause und der zynische, sensationshungrige Fotograf, können sich zunächst nicht besonders gut leiden. Ihre Zwangsgemeinschaft soll eigentlich nur von kurzer Dauer sein, denn die USA wollen die Grenze zu Mexiko abriegeln, deshalb ist Eile geboten. Aus Sicherheitsgründen wurde bereits eine gewaltige Mauer errichtet. Die letzte Fähre fährt aber schließlich ohne Sam ab, und deshalb bleibt den beiden Flüchtlingen nur der mühsame, gefährliche Weg übers Festland, durch die „Infizierte Zone“.

„Monsters“ beginnt mit verwackelten Bildern einer Schlacht, die gleich in mehrfacher Hinsicht auf eine falsche Fährte führen, denn mit der hektischen Handkamera-Ästhetik vieler Low-Budget-Horrorfilme (die ja nicht erst seit „Cloverfield“ längst im Mainstream angekommen ist) hat „Monsters“ rein gar nichts zu tun. Stattdessen entwickelt sich der Film zum atmosphärischen, gemächlich dahin fließenden Roadmovie, das in manchen Momenten hinsichtlich seiner Motive an Werner Herzogs Bilder aus Südamerika denken lässt. Mit einem fünfköpfigen Team, seinen beiden Hauptdarstellern und nur dem Grundriss eines Drehbuchs, ohne ausgearbeitete Dialoge, drehte Edwards an Schauplätzen in Guatemala, Belize und Mexiko. Alle weiteren Darsteller des Films, und das ist in manchen Fällen kaum zu glauben, sind Einheimische, die mehr oder weniger spontan zur Mitarbeit überredet werden konnten und deren improvisierter Text sich frei an den Vorgaben des Filmemachers orientiert. Diese Integration von Menschen und Landschaften in den Plot ist ziemlich beeindruckend. Edwards gelingen fantastische Bilder einer Reise, die per Lastwagen, Eisenbahn, Boot und zu Fuß übers Land und durch den Dschungel führt. Die Horrorelemente werden nur punktuell und sehr zurückgenommen eingesetzt. Eine Monsterbegegnung etwa spielt sich in fast völliger Dunkelheit ab, beinahe ausschließlich vermittelt durch die Tonebene – ein klassischer Kniff. Meist sind Trümmer, Lichter und die allgegenwärtigen Helikopter die einzigen Indikatoren für die Bedrohung. Dieser Minimalismus funktioniert über weite Strecken so gut, dass Edwards später sogar ziemlich deutlich Spielbergs „Jurassic Park“ und „Krieg der Welten“ zitieren kann, ohne dass es besonders stören würde.

Man möchte nicht aufhören, den Minimalismus des Films, seine Atmosphäre, seine Unaufgeregtheit zu loben – Schwächen gibt es trotzdem. Die beiden Hauptfiguren sind nicht sonderlich originell oder vielschichtig geraten, und die aufkeimende Zuneigung zwischen ihnen wird nicht unbedingt nachvollziehbar. Vor allem ihr konfrontativer Beginn, der schließlich zum Verpassen der Fähre führt, wirkt arg konstruiert. Bei der sonst vorherrschenden Leichtigkeit der Inszenierung fällt das umso mehr auf. Es wird nicht viel motiviert oder durchpsychologisiert, sondern nur angedeutet, und das ist wohl Absicht. In vielen Fällen funktioniert das sehr gut, etwa wenn Sam und Kaulder heimliche Telefonate nach Hause führen, bei denen deutlich wird, dass dort nicht alles rund läuft. Doch insgesamt täuschen die pointierten Dialoge ein bisschen darüber hinweg, dass gar nicht so viel passiert zwischen den beiden – und es manchmal sogar ein bisschen banal zugeht. Auch andere inhaltliche Aspekte werden in „Monsters“ leider nur wenig ausgearbeitet, was offensichtlich den Drehbedingungen und der daraus resultierenden episodischen Dramaturgie geschuldet ist. Die Entwicklung Kaulders etwa vom sensationshungrigen zum ethischen Fotografen, der das Leid schließlich doch nicht abbildet, als er es endlich findet, vollzieht sich letztlich nur in einem Schritt. Und auch die viel versprechende, ironische Ausgangssituation, dass nun ausgerechnet zwei durchaus wohlhabende Amerikaner über die Grenze in die USA flüchten und sich dabei in die Abhängigkeit von Schleusern begeben müssen, wird nach dem Feilschen um den Preis für die letzte Fähre nur noch wenig vertieft und führt nicht mehr zu Konflikten.

Doch möglicherweise wollte Edwards das alles gar nicht, sondern einfach eine kleine, poetische Liebesgeschichte mit Tentakelmonstern erzählen, und dann soll es eben so sein. Und weil er ja doch vieles anders macht als üblich und unter widrigen Bedingungen stimmungsvolle Geschichten erzählen kann, sollte man vielleicht nicht zu sehr an seinem Debüt rumkritteln, sondern dessen Stärken loben und gespannt sein, wohin Gareth Edwards’ Reise noch führt.

Last Night

(USA / F 2010, Regie: Massy Tadjedin)

Geschlechterkrampf
von Harald Mühlbeyer

Keira Knightley ist aus schlechter Laune heraus total sauer, weil Gatte Sam Worthington mit einer Kollegin geredet hat: die immerhin ist Eva Mendes, und ja: vielleicht war es auch ein …

Keira Knightley ist aus schlechter Laune heraus total sauer, weil Gatte Sam Worthington mit einer Kollegin geredet hat: die immerhin ist Eva Mendes, und ja: vielleicht war es auch ein Flirt. Aber hey: immerhin ist sie Keira Knightley, da muss sie doch nicht zickig sein!

Regisseurin Massy Tadjedin zeigt sie, Joanna, am Rande des Nervenzusammenbruchs, die eifersüchtig einen Streit vom Zaun bricht: offenbar ist sie unzufrieden mit der allgemeinen Situation. Die Ursache dafür beleuchtet Tadjedin nicht so richtig, dafür zeigt sie die weiche Seite von Sam Worthington als Michael, der es diesmal nicht mit digitalen Monstern zu tun hat, sondern mit zwei Frauen. Brav entschuldigt er sich dafür, dass seine Frau ihn angeschrien und grundlos verdächtigt hat. Und auch im weiteren Verlauf wird er im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht weit weniger souverän agieren wie vor Green Screen. Denn Eva Mendes als Laura baggert mächtig, als sie zusammen auf Geschäftsreise sind, und setzt alles daran, ihn zu verführen. Joanna, allein zuhaus, trifft derweil einen alten Freund, eine verflossene Liebe wieder, Franzose noch dazu, und dieser Alex ist natürlich charmant und eine Versuchung …

Cutterin Susan E. Morse ist Woody-Allen-Veteranin, und sie setzt ihre ganze Kunst ein, um aus den beiden parallelen Handlungen in einer Nacht an verschiedenen Orten etwas Flottes, Interessantes herauszuholen. Nicht nur schneidet sie geschickt von New York nach Philadelphia, von der Nacht zwischen Joanna und Alex zu der zwischen Michael und Laura; auch innerhalb der beiden Stränge gibt es immer wieder ein paar Montageeffekte wie Jump Cuts oder Flash Forwards, die das Geradlinige, Dahinfließende aufbrechen. Was aber auch nicht viel daran ändert, dass der Inhalt im Seichten bleibt.

Es wird viel geredet; aber nicht mit intellektueller Schärfe und intelligentem Witz wie bei Woody Allen, sondern recht banal über Untreue, Liebe, vergangene Entscheidungen und künftige Möglichkeiten. Wobei vor allem die Frauen, wenn man es gutwillig umschreiben will, Stärke zeigen; anders betrachtet aber auch ziemlich aus dem Moment heraus agieren, irrational und launisch. Joanna liebt ihren alten Freund Alex eigentlich, macht ihm den ganzen Abend über Hoffnungen, stößt ihn aber auch immer wieder schroff zurück. Laura weiß zwar, wie schlimm es sich anfühlt, wenn der Partner untreu ist, versucht aber mit allen Mitteln, den verheirateten Michael ins Bett zu bekommen. Nein: das ist kein sehr sympathisches Verhalten, und wenn Tadjedin dem Handeln ihrer Filmfrauen mit unverhohlener Zuneigung zusieht, ist fraglich, ob sie wirklich merkt, von wem sie da erzählt: von zickigen Frauen, die antriebslose Männer zu ihren Opfern machen.

Still Walking

(J 2008, Regie: Hirokazu Kore-eda)

Dingsymbol Schmetterling
von Ekkehard Knörer

Wenn in einer der ersten Einstellungen von Hirokazu Kore-edas keineswegs neuestem Film “Still Walking” ein Zug durch das Bild fährt, versteht man gleich: Hier ist Ozu nicht fern, denn in …

Wenn in einer der ersten Einstellungen von Hirokazu Kore-edas keineswegs neuestem Film “Still Walking” ein Zug durch das Bild fährt, versteht man gleich: Hier ist Ozu nicht fern, denn in niemandes Filmen, Tony Scott nicht ausgenommen, fahren so viele Züge durchs Bild wie durch die Ozus. Rot ist der Zug und darin sitzt ein Mann, Ryo, der mit seiner Frau Yukari und seinem Sohn zu seinen Eltern unterwegs ist. Die Frau hat ihn nach dem Tod ihres ersten Mannes geheiratet, der Sohn ist nicht seiner und mit dieser Art von Patchwork-Verhältnissen sind die Eltern, das erfährt man wenig später, alles andere als einverstanden. Sie haben sehr konservative Ansichten, äußern sie gerne rücksichtslos und leben in einem Städtchen am Meer nicht fern von Yokohama. Das Haus liegt auf einem Hügel, man muss viele Stufen die Treppen hinaufgehen aus der Stadt, was alle im Film recht häufig und mühevoll tun. Nichts fällt ganz leicht in “Still Walking”.

Die Reise hat einen traurigen Anlass. Alljährlich begeht man den Todestag des ältesten Sohns bzw. Bruders. Ryo hat eine Schwester, die mit ihrem Ehemann und der Tochter ebenfalls anwesend ist. Der älteste Sohn starb als Held: Er hat einen Jugendlichen vor dem Tod beim Ertrinken gerettet. Zu den ausgesucht finsteren Gemeinheiten, auf die sich die Eltern, nun um die Siebzig, bestens verstehen, gehört es, den nun jungen Mann, der dem Sohn sein Leben verdankt wie dieser jenem den Tod, am Todestag zu sich zu laden. Er ist ein Loser und die Familie macht fast keinen Hehl daraus, dass sie ihn verachten, dass er nach ihrer Ansicht den Tod des Edleren mitnichten wert war. Auch Ryo, aus dessen Perspektive der Film mehr oder minder erzählt ist, bleibt unter den Erwartungen seiner Eltern, ist Kunstrestaurator und derzeit arbeitslos, lügt aber seinen Eltern aus Furcht vor ihrer Verachtung etwas von Chagall oder van Gogh vor.

Nur zum Schein ist “Still Walking” ein sanfter Film, das verbindet ihn zunächst mit dem oft schneidend scharfen Ozu. Die Stiche und Verletzungen, die man sich in der Familie mal mit offenem Visier, mal hinter des anderen Rücken, zuzufügen versteht, zeigt er schonungslos. Woran es allerdings fehlt, ist Ozus – oder überhaupt: – inszenatorische Stringenz. Abgesehen vom ausgesucht präzise, fast über-kadrierten “Maboroshi”, bevorzugt Kore-eda lässige Formen, ordnet das Geschehen mit nach Möglichkeit nicht spürbarer Hand. Es ist bei ihm Luft zwischen den Worten, zwischen den Bildern, manchmal etwas zu viel.

Und in “Still Walking” eher zum Schein. Es handelt sich nämlich um einen sehr genau beobachtenden und vor allem um einen Geste für Geste und Wort für Wort und Szene für Szene sehr präzise gemachten und in seinen Untermarkierungen schon wieder überdeutlichen Film. Auf das Geheimnis um den älteren Sohn steuert die Geschichte mit dramaturgischer Ausgetüfteltheit ebenso zu wie bestimmte Motive sehr gezielt angespielt und wieder aufgegriffen und dann zu einem runden Abschluss gebracht werden; die Frage des Einzugs der Tochter ins Haus nur zum Beispiel. Auch von den Figuren macht sich das Drehbuch stets einen Begriff, dessen Nähe zum Klischee durch die scheinbare Luftigkeit der Inszenierung verschleiert wird, ohne dass wirklich eine Vertiefung gelingt.

Das arg aufdringliche Flattern eines Schmetterlings als Dingsymbol durch die Kapitel ist darum weniger eine lässliche Übertreibung als der Kern des Problems, das dieser Film, so schön er ist, hat. So präzise und aufmerksam er im Detail gelingt, so zurückgenommen er immer wieder auch ist, so wenig wagt sich Kore-eda zuletzt doch ins Offene. Das Bittersüße seiner Ambivalenzen wird eher ausgestellt, als dass er wirklich darauf vertraute, eine seiner Figuren etwas anderes sein oder werden zu lassen, als das, was er sich, als er sie erfand, zu ihr so gedacht hat. Aus Mangel an ästhetischem Mut läuft “Still Walking” zuletzt auf kaum mehr als die konservative Botschaft hinaus, dass das Leben nunmal so ist, wie es ist. Die Schärfe, den Schmerz, ja, die Verzweiflung, die eine solche Erkenntnis fürs einzelne Leben in Ozus Filmen stets bedeutet, ersetzt Kore-eda am enttäuschenden Ende durch einen allzu glatten Schluss aus dem Off und eine Versöhnlichkeit, die das zuvor Gezeigte kaum nahelegt.

Die Hölle von Henri-Georges Clouzot

(F 2009, Regie: Serge Bromberg, Ruxandra Medrea )

Ein Film, der niemals war
von Harald Mühlbeyer

„Die Hölle von Henri-Georges Clouzot“: Einen doppeldeutigen Titel trägt dieser Film über einen Film, der nicht sein sollte. Im Sommer 1964 drehte Henri-Georges Clouzot irgendwo in der Auvergne einen neuen …

„Die Hölle von Henri-Georges Clouzot“: Einen doppeldeutigen Titel trägt dieser Film über einen Film, der nicht sein sollte. Im Sommer 1964 drehte Henri-Georges Clouzot irgendwo in der Auvergne einen neuen Film, genannt „L’Enfer“, „Die Hölle“. Clouzot war der gefeierte Starregisseur Frankreichs. Er konnte sich aussuchen, was er machen wollte, konnte sich Besetzung und Crew nach Gusto zusammenstellen, und er verfügte über unerschöpfliche Mittel: Das amerikanische Columbia-Studio hatte ihm ein unbegrenztes Budget zugesagt. Ein entsprechend großer, wegweisender, revolutionärer Film sollte „L’Enfer“ werden; er geriet zu einem teuflischen Desaster, das mit depressivem Hauptdarsteller und einem Herzinfarkt des Regisseurs endete.

Was vom Filme übrigblieb: 185 Dosen, 14 Stunden belichteter Film ohne Ton, im Besitz der Versicherungsgesellschaften, die für den Drehabbruch bezahlt hatten. Nun – weil er Clouzots Witwe Ines in einem steckengebliebenen Aufzug beschwatzt hatte – konnte der französische Filmhistoriker Serge Bromberg „L’Enfer“ wiederbeleben; weniger als Arzt denn als eine Art Frankenstein, der sein Wesen aus den fragmentarischen Filmszenen zusammenstückelt und zugleich von Entstehung und Untergang des Projektes erzählt.

„L’Enfer“ sollte ein Eifersuchtspsychodrama werden, besetzt mit Serge Reggiani und Romy Schneider, in dem sich ein Ehemann immer tiefer in neurotische, schizophrene Wahnideen verstrickt. Zusammen führen sie ein Hotel an einem See, im Hintergrund ein Viadukt – doch Ruhe findet der Geist von Reggiani nie. Gedanken von Untreue, Promiskuität und Liebesverlust bohren sich in seinen Verstand. Eine einfache Geschichte eigentlich; doch wie den Wahnsinn darstellen? Und hier beginnt schon der Wahnsinn der „Hölle“.

Schon im Vorfeld, noch ohne Schauspieler, führte Clouzot monatelang unendliche Kameratests durch, scheinbar wahllos wurden neue optische Effekte ausprobiert, Inspiration gesucht bei der modernen, avantgardistischen kinetischen Kunst mit irremachenden, die Perspektive auflösenden Gemälden und Skulpturen, bei Tonkünstlern mit verzerrten, verdrehten Geräuschen. Geld und Zeit waren ja reichlich vorhanden und natürlich auch die Handwerker an der Kamera, die halluzinierende Bildeffekte, Spiegelungen, Lichtverwirrungen, kaleidoskopische Drehungen und Dopplungen kreierten. Wochenlang wurden dann die Darsteller – Schneider, Reggiani, Dany Carrel und Jean-Claude Bercq – herangezogen für Szenen, die im Wahnsinn spielen, in merkwürdigen Farben beleuchtet, visuell gedoppelt, halbiert, auf den Kopf gestellt, bizarr geschminkt, auf nackte Körper sind Formen und Farben projiziert… Delierierende Traumbilder en masse, von denen stets unklar bleibt, wie Clouzot das in die Handlung eines Filmes der Klasse Erzählkino integrieren sollte.

Neben diesen optischen Trickaufnahmen wurden in der Auvergne, wo sich See, Hotel und Viadukt idealtypisch fanden, Außenaufnahmen gedreht, im Gegensatz zu den Wahnbildern in Schwarzweiß, und darunter sind grandiose Sequenzen, wie sie nur Clouzot, der sezierende Chirurg menschlicher Psyche, finden konnte. Selbst aus den recht unzusammenhängend gedrehten Szenen geht noch die klare Filmsprache, die psychologische Genauigkeit, die dramaturgische Zwangsläufigkeit hervor. Wie Romy Schneider auf dem See Wasserski fährt, während ihr Mann im Hintergrund am Ufer nebenher läuft – so wie sich sein Verstand verrannt hat…

Bromberg rekonstruiert die Handlung anhand der vorhandenen Szenen. Zugleich ist seine Dokumentation ein Making of, mit Interviews mit den damals Beteiligten, mit Fotos und Filmaufnahmen hinter den Kulissen; und ebenso ist „L’Enfer d’Henri-Georges Clouzot“ sozusagen mit Audiokommentar ausgestattet, mit der begleitenden, einordnenden Stimme Brombergs. Sein Film vereinigt also zugleich all die Tugenden, die man auf DVDs nicht mehr missen möchte, wodurch in 90 Minuten ein umfassender, multiperspektivischer Blick auf Clouzots Film möglich ist.

Dazu bietet die DVD von Kinowelt Extras, die den originalen „L’Enfer“ ebenso wie „L’Enfer d’Henri-Georges Clouzot“ ergänzen: ein Interview mit Bromberg, in dem er von seiner Begeisterung für das Projekt, von Materialsichtung und -auswahl spricht. Und ein einstündiges Feature mit erweiterten Interviews der Beteiligten und zusätzlichen Originalszenen, die den eigentlichen Film nicht doppeln, sondern tatsächlich weitere Einsichten bieten: ein nachträgliches Making of des nie fertiggestellten Filmes, das dessen fragmentarische Rekonstruktion vertieft.

Wirklich interessant ist die Beigabe von Clouzots letztem Film, „Seine Gefangene“ / „La Prisionnère“ von 1968, in dem er auf die für „L’Enfer“ entwickelten Stilismen zurückgreift, was optische Tricks angeht. Der Film selbst ist kein Clouzot-Meisterwerk, wiewohl in seiner Erforschung der Zwänge der menschlichen Psyche durchaus sehenswert: eine verkorkste, tragische Liebesgeschichte, in der eine Frau sich aus Liebe in ein ehebrecherisches, unterwürfiges Verhältnis zu einem Sadisten begibt – im Grunde eine Geschichte wie die von Steven Shainbergs „Secretary“ (2002), mit Maggie Gyllenhall und James Spader, nur ins Tragische gewendet. Der Film spielt im Milieu der Avantgardekunst, der betrogene Ehemann ist Künstler, der Film zeigt einige Kunstwerke zeitgenössischer Künstler. Und er spielt mit optischen Illusionen, zeigt den Parallax-Effekt beim Zukneifen eines Auges oder eine Zugfahrt, die zum Rausch vorbeirasender Bilder wird. Doch erst am Ende begreift man, was Clouzot mit „L’Enfer“ vorhatte, mit all den Wahn-Aufnahmen, mit denen er sich und seine Schauspieler malträtierte: In einer minutenlangen Traum-Deliriums-Halluzinations-Wahnsinnssequenz verliert sich die gequält Liebende in Imaginationsbildern, und es wird klar, dass aus „L’Enfer“, unter besseren Voraussetzungen, eben doch ein Meisterwerk hätte werden können. Auch wenn alles so disparat und willkürlich scheint.

Plug & Pray

(D 2010, Regie: Jens Schanze)

Über die Verschmelzung von Mensch und Maschine
von Wolfgang Nierlin

Angeblich hat schon Aristoteles über einen künstlichen Gehilfen des Menschen nachgedacht. Doch erst die Computertechnologie des 20. Jahrhunderts hat diesen utopischen Menschheitstraum in seiner Mischung aus Faszination und Schrecken in …

Angeblich hat schon Aristoteles über einen künstlichen Gehilfen des Menschen nachgedacht. Doch erst die Computertechnologie des 20. Jahrhunderts hat diesen utopischen Menschheitstraum in seiner Mischung aus Faszination und Schrecken in greifbare Nähe gerückt. Die virtuellen Welten der Sciencefiction und die realen Forschungen der mad scientists inspirieren sich dabei gegenseitig. Jens Schanze hat für seinen Dokumentarfilm „Plug & Pray“ jene futuristischen Laboratorien in Japan, den USA, in Italien und Deutschland aufgesucht, wo mit Nachdruck und Ehrgeiz an der Verschmelzung von Mensch und Maschine gebastelt wird. Was in den euphorisierten Visionen der einen jedoch als Grenzüberschreitung zu einem „neuen Menschen“ erscheint, ist für die anderen purer Ausdruck von Größenwahn und menschlicher Hybris.

Zu den prominentesten und schärfsten Kritikern solch technologischer Allmachtphantasien gehört der 1923 in Berlin geborene Joseph Weizenbaum. Selbst Computerspezialist und Pionier bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz hat sich der Forscher, der lange Zeit am Massachusetts Institute of Technology lehrte, Ende der 1960er Jahre unter dem Eindruck der Bürgerrechtsbewegung und des Vietnam-Krieges in kritischer Distanz zu seinem Fach positioniert. Einerseits ist er damit sich selbst zum Widerspruch geworden; andererseits hat er mit seinem Umdenken engagiert die ethische Dimension in den Diskurs um humanoide Roboter implementiert. Während seine Kollegen also dabei sind, den „neuen Menschen“ zu konstruieren, beharrt Weizenbaum auf einem Menschenbild, in dessen Zentrum die individuelle Entwicklung des Menschen sowie sein subjektiver und freier Wille stehen.

Im parallelen Aufbau von Schanzes Film ergeben sich so immer wieder wechselseitige Kommentierungen. Zum Beispiel wenn der italienische Forscher Giorgio Metta ein lernfähiges künstliches System vorstellt, der Japaner Hiroshi Ishiguro an der Konstruktion eines Roboters arbeitet, der eine möglichst hohe Menschenähnlichkeit aufweisen soll, oder wenn Nano-Technologen, die mit der Kreuzung von Informatik, Chemie und Biologie beschäftigt sind, davon schwärmen, „intelligente Zellen“ zu bauen. Der Traum von ewiger Jugend und Unsterblichkeit wird von diesen Wissenschaftlern ganz offen und voller Optimismus geträumt. Als Korrektiv dazu fungiert Joseph Weizenbaums Nachdenken über den Tod als „Service“ und sein wiederholt gezeigtes Eintauchen in die Musik von Händel, Schubert und Bach. Der Antagonismus von Geist und Materie, von Natur und zivilisatorischer Entfremdung, aber auch seine ganz andere Überwindung durch Kunst findet sich in diesen Passagen des Films angedeutet.

Der letzte schöne Herbsttag

(D 2010, Regie: Ralf Westhoff)

Unterdurchschnittlich glückliches Zweier-Team
von Wolfgang Nierlin

„Sind wir ein Paar oder eine Affäre?“ Leo und Claire bilden wohl am ehesten „ein Zweier-Team“, das sich über die Unterschiede seiner Partner definiert. Beide sind Mitte dreißig, leben in …

„Sind wir ein Paar oder eine Affäre?“ Leo und Claire bilden wohl am ehesten „ein Zweier-Team“, das sich über die Unterschiede seiner Partner definiert. Beide sind Mitte dreißig, leben in München und versuchen herauszufinden, wie das mit der Liebe im Leben so geht. Doch während die romantisch veranlagte Power-Frau Claire (Julia Koschitz), die ihre Hypochondrie mit Yoga bekämpft, sich in der Liebe nach Bestätigung und Verschmelzung sehnt, ist dem emotional reservierten Öko-Freak Leo (Felix Hellmann), der mit seinen Gedanken meist woanders ist, zu viel Nähe eher peinlich. Immer deutlicher fühlt sich Claire deshalb „unterdurchschnittlich glücklich“, gar wie „ein verlorener Stern im All“, was Leo zwar in der eigenen, verdrängten Unzufriedenheit widergespiegelt findet, aber kaum in sein Handeln integriert. Dass die gefühlte Verschiedenheit vor allem eine Frage der Perspektive ist, behauptet Ralf Westhoff in seiner Beziehungskomödie „Der letzte schöne Herbsttag“.

Er habe ganz bewusst einen Gegenentwurf zu seinem ersten, das konsumorientierte Liebesleben der Single-Generation beobachtenden Film „Shoppen“ drehen wollen, sagt Regisseur Ralf Westhoff im Presseheft zum Film. Nicht die prinzipielle Austauschbarkeit der Partner stehe dieses Mal im Mittelpunkt, sondern die stetige Beziehungsarbeit und das Bemühen, den jeweils anderen zu verstehen. Dabei habe er versucht, die üblichen Rollenklischees zu vermeiden. Auch bekennt sich Westhoff zur Künstlichkeit seines Films, der durch seine Figurenzeichnung und eine „offene Struktur“ keine plane Realitätsabbildung verfolge, sondern mehr der Beschreibung eines Lebensgefühls verpflichtet sei. Der Preis dafür ist allerdings, dass in seinem (eher nicht-narrativen) Film vom Leben selbst und seinen realen Bedingungen fast nichts vorkommt.

Die Höhen und Tiefen von Westhoffs Liebesgeschichte werden hingegen vor allem durch die in ausführlichen Monologen und Dialogen evozierte Gefühlslage der Protagonisten vermittelt. Verbal mitgeteilte Empfindungen, unterstützt durch ein die psychologische und schrullige Seite der Charakter-Typen betonendes overacting, dominieren deshalb das Bild. Wo dieses – wie in den vielen Dialogen – visuelle Dynamik entfalten soll, verliert es durch eine clip-artige Montage an ästhetischer Stringenz. So erzielt der Film seine komödiantische Wirkung zum einen durch einen forcierten Sprachwitz (der dann doch nicht ganz frei ist von der Reproduktion typischer Geschlechterrollen), zum anderen durch jene mit dokumentarischem Gestus und an einen imaginären Fragesteller gerichteten Selbstauskünfte der beiden gestressten Hauptfiguren, deren jeweilige subjektive Sicht auf sich selbst und den anderen, verschränkt durch eine alternierende Montage, die Differenzen und Fehleinschätzungen zwischen den Beziehungskriegern erst bemerkbar macht. Und so passen die beiden zwar nicht richtig zusammen, gehören aber doch irgendwie zueinander, weil am vorherbestimmten Ende dieser Geschichte vor allem der Glaube an die Liebe und ein guter Wille zählen.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Somewhere

(USA 2010, Regie: Sofia Coppola)

Brennende Langeweile
von Ulrich Kriest

Ein schwarzer Ferrari. Dreht seine Runden. Irgendwo im Nirgendwo. Dreht seine Runden. Eine Kameraeinstellung. Das Fahrzeug fährt vorbei und hinten sieht man es dann noch einmal durch den Bildausschnitt rauschen. …

Ein schwarzer Ferrari. Dreht seine Runden. Irgendwo im Nirgendwo. Dreht seine Runden. Eine Kameraeinstellung. Das Fahrzeug fährt vorbei und hinten sieht man es dann noch einmal durch den Bildausschnitt rauschen. Toll! New Hollywood. Später steigt der Fahrer aus und geht zu Fuß weiter. Der Mann sieht hinreißend knuffig aus, heißt Johnny Marco und ist ein Hollywood-Star, kein ganz großer, aber immerhin. Johnny Marco logiert im legendären Hotel Chateau Marmont und hat zwischen den Dreharbeiten nicht allzu viele Verpflichtungen. Manchmal lässt er sich etwas gehen, fängt früher als sonst mit dem Trinken an, manchmal lässt er Puppen für sich tanzen, manchmal muss er kurz nach Italien, wo ihm im Rahmen einer knallbunten Fernsehshow ein Preis überreicht wird. Auch dann tanzen spärlich bekleidete Puppen um ihn herum. Dann noch schnell ein Foto-Shooting und ein schräges Interview. Könnte immer so weitergehen, weil Stephen Dorff den Johnny Marco spielt, was dem dramaturgischen Minimalismus des Films ein Augenzwinkern verleiht.

Dann taucht plötzlich Cleo auf, die elfjährige Tochter aus einer gescheiterten Beziehung, die jetzt ein paar Tage lang Johnny Marcos Alltag teilt. Jetzt hängt man eben zu zweit ab, isst Eiscreme, läuft Schlittschuh, macht Gitarren-Wettbewerbe – und manchmal, ganz selten, könnte man meinen, dass Johnny Marco sein Leben vor der Tochter etwas peinlich ist. Aber nur ganz selten. Denn „Somewhere“ ist der neue, vierte Film von Sofia Coppola, der vor Jahren mit „Lost in Translation“ ein Hit gelang, welcher von einem Mann erzählte, der in einem Hotel lebte und von einer viel jüngeren Frau ein wenig aus seiner melancholischen Lethargie gerissen, besser: sanft gedrängt wurde. Damals gab es noch Karaoke statt Gitarren-Wettbewerb. Danach drehte Sofia Coppola einen sehr schönen Film über ein junge Frau, die in ein sehr großes Hotel einzieht, in dem es nicht viel Privatsphäre, aber tolle Parties gibt. In „Somewhere“ kommt Johnny Marco einmal abends in sein Hotelzimmer und dort findet gerade eine Party statt. Johnny Marco feiert ein bisschen mit und legt sich dann nebenan ins Bett. So geht der Film. Cleo kommt, Cleo geht. Ins Ferienlager. Und man sitzt im Kino und sieht etwas gelangweilt nicht sonderlich aufregenden Menschen dabei zu, wie sie sich langweilen. Kann man machen, muss man aber nicht.

Aber weil der Filmkritiker ja nun nicht von Langeweile reden darf, muss etwas Sinn her. Sinn-Krise. Leider spielt Sofia Coppola da nicht mit. Denn sie ist allein an Oberflächen interessiert, nicht etwa an einer Haltung zu diesen Oberflächen. Weshalb sie auch nicht viel Interessantes zu erzählen hat, über ihren Film nicht und auch sonst nicht. Nein, autobiografisch sei ihr Film nicht, obwohl sie irgendwie schon … so von früher, als Vater Francis Ford Coppola noch im Chateau Marmont … und dann ja auch nach Italien … aber nein, autobiografisch ist das hier nicht, obwohl sie natürlich diese ganze Szene sehr gut kennt … Und Münchener Filmkritiker, die mit den Hollywood-Stars gewissermaßen auf Augenhöhe verkehren und Sofia Coppola für die bedeutendste Filmemacherin ihrer Generation mindestens halten, die bestätigen gerne aus erster Hand, dass es echt so ist, das Leben in Hollywood, wenn man drehfrei hat. Wissen sie genau, weil irgendwie ja selbst Teil davon. Und Filmkritiker, die nicht ganz so nah dran sind an Sofia oder Francis Ford, aber auch schon mal vor Ort waren, erzählen einfach davon, wie man vom Santa Monica Boulevard zum Chateau Marmont gelangt, erzählen ein paar Anekdoten aus der Geschichte der legendären Absteige, erzählen von Vater und Tochter Coppola, um nicht von Langeweile erzählen zu müssen.

So bleibt hier alles im Vagen, bis man sich selbst ein wenig wie Johnny Marco fühlt. Aber, keine Sorge, in „Somewhere“ schwingt tatsächlich so einiges mit. Irgendwo.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Live aus Peepli – Irgendwo in Indien

(IN 2009, Regie: Anusha Rivzi)

Sprödes Schlachtopfer
von Ekkehard Knörer

Peepli ist ein Dorf in der indischen Provinz. Ein etwas trunksüchtiger Mann namens Natha und sein keineswegs tüchtigerer Bruder Budhia kehren mit eingezogenem Schwanz vom Amt zur Familie zurück: Haus …

Peepli ist ein Dorf in der indischen Provinz. Ein etwas trunksüchtiger Mann namens Natha und sein keineswegs tüchtigerer Bruder Budhia kehren mit eingezogenem Schwanz vom Amt zur Familie zurück: Haus und Grundstück sind in einer Verzweiflungstat verpfändet. Ausweglos wäre die Lage, hätte nicht Budhia die rettende Idee: Für die Familien von Bauern, die Selbstmord begehen, gibt der Staat als Nothilfe Geld. Natha lässt sich davon überzeugen, sein Suizid wäre deshalb eine gute Idee. Nur hat er das Pech oder das Glück – jedenfalls ist es etwas, das über ihn dann hereinbricht -, dass das Fernsehen Wind von seinem Vorhaben bekommt. Peepli wird überrannt von Medienvertretern, die hier eine Story wittern, die dem Zuschauer sehr zu Herzen geht.

Dies die Prämisse. Was in ihr steckt, holt “Live aus Peepli”, das Spielfilmdebüt der Regisseurin Anusha Rizvi, aus ihr raus. Vorgeführt werden die Mechanismen des Quotenerfolgs, für den ein spektakulärer Fall wie der Nathas sorgt, nicht jedoch ein zu Tode geschufteter Mann in der Grube. Natha selbst hat von Anfang bis Ende keine Kontrolle über das, was und wie ihm geschieht. Ein Opferlamm, das sich allerdings etwas spröde zeigt auf dem Weg zur ihm zugedachten Opferung auf der Schlachtbank. Zuhause allerdings sitzen ihm die Frau und der Bruder und vor allem die bettlägerig-schreiwütige Mutter im Genick.

Mehr als das Erwartbare entwinden Buch und Film der Prämisse freilich auch nicht. Auf allen Bollywood-Glamour, auf Gesang und Tanz, wenn auch nicht auf viel Musik auf dem Soundtrack, wird verzichtet. Heraus kommt dennoch kein Film, der an das herausragende indische Sozialkino der Sechziger anschließt, sondern eher international kompatibler Arthouse-Mainstream. Erstaunlich erdig und fäkalienfroh dreckig immerhin ist die Sprache der Dialoge. Etwas wie der komische Höhepunkt dann passenderweise der Moment, in dem das Fernsehen nach Nathas Verschwinden ein zurückgelassenes Häuflein Scheiße sehr genau unter die Lupe nimmt. Die große Beachtung, die der Film findet, verdankt sich nicht zuletzt dem Mann, der ihn produziert hat: Superstar Aamir Khan. Mitspielen allerdings im teils vor Ort aus den Laien gecasteten Ensemble tut er nicht. Für die Auslands-Oscar-Nominierung hat es trotzdem gereicht.

Der letzte schöne Herbsttag

(D 2010, Regie: Ralf Westhoff)

Unterdurchschnittlich? Unterirdisch!
von Ulrich Kriest

„Und deine Inseln der Unruhe werden Festland. Du sitzt am Tisch für vier und starrst an die Tapete. Es ist Musik aus der Fabrik und will mit dir beten. Aber …

„Und deine Inseln der Unruhe werden Festland. Du sitzt am Tisch für vier und starrst an die Tapete. Es ist Musik aus der Fabrik und will mit dir beten. Aber jeder Satz bleibt hängen bei allein, allein, allein.“

– Tele, „Wunder in Briefen“ –

Kennen Sie den schon? Warum gehen Männer so gern in den Elektro-Markt? Weil sie dort alles anfassen dürfen, ohne eine gescheuert zu bekommen! Wuhahaha! Ist allerdings nicht von mir, ist von Mario Barth. Könnte aber auch von diesem Hirschhausen sein. Oder gefühlt Hunderten anderer sogenannter Comedians. Oder von Caveman, dem Sprachrohr narzisstischen Schwachsinns im erfolgreichen Einmann-Theaterstück gleichen Titels. Oder von Ralf Westhoff, der sich nach der gar nicht üblen Speed-Dating-Komödie „Shoppen“ erneut des offenbar in bestimmten Kreisen immergrünen Themas „Warum Männer und Frauen einfach nicht zusammen können“ angenommen hat.

Sie wissen schon: Er Jäger, sie, gähn, Sammlerin und so weiter und so fort. Ging es in „Shoppen“ noch um Paarbildung gemäß der herrschenden ökonomischen Ratio, so geht Westhoff jetzt entschieden einen Schritt weiter und illustriert die Grabenkämpfe innerhalb einer Beziehung, die schon bessere, vielleicht aber auch noch nie gute Tage sah. Und das geht so: Studentin Claire und Umweltaktivist Leo, beide um die 30, sind seit zwei Jahren ein Paar, obwohl Claire sich als „unterdurchschnittlich glücklich“ empfindet und sie von Leo wissen will, ob sie denn eine Affäre oder eine Beziehung haben.

Viel gemeinsam haben sie jedenfalls nicht: Sie mag Sex laut und häufig, er findet schon leisen Sex überschätzt. Sie will immer diskutieren, er eher nicht. Sie schickt lange romantische SMS, er weiß, dass Rilke besser dichten konnte. Sie ist patent, er introvertiert. Sie ist Hypochonderin, er isst Geflügel auch mal roh. Sie macht Yoga, er geht wandern. Die größte Gemeinsamkeit: beide verfügen über sehr viel freie Zeit, die sie komplett in Beziehungsarbeit investieren, mit der wir hier zugemüllt werden.

Dazu greift Westhoff auf einen gut eingeführten Trick aus „Shoppen“ zurück und lässt die Darsteller in halbnahen Einstellungen direkt in die Kamera sprechen. Wie bei einem Interview-Film besteht „Der letzte schöne Herbsttag“ aus einer Abfolge von Talking Heads. Die Montage ist zügig und sowohl die Dialoge der wenigen Szenen mit Spielhandlung (die den Interviews quasi als Beweisstücke beigestellt werden) als auch die Monologe sind brachial auf beifallheischende Pointe oder Kalenderspruch-Sentenz gearbeitet, was den Film ungeheuer selbstgefällig und geschwätzig macht.

Da sagt dann sie schon mal allen Ernstes: „Ich bin ein verlorener Stern im All, und ich brauche dich um mich rum. Aber ich hab Angst, dass meine Anziehungskraft nicht reicht. Und dann muss ich wieder alleine durchs All fliegen. Davor fürchte ich mich.“ Herr im Himmel! Hier kreist buchstäblich alles um die regressiv vor sich hin mäandernden Beziehungsprobleme zweier Nervensägen, die sich fast schon zwanghaft weigern, erwachsen zu werden.

Felix Hellmann, der Leo spielt, gefällt sich zudem augenrollend und nuschelnd in bei „Stromberg“ abgeguckten Manierismen. Ärgerlicher ist eigentlich nur noch das reaktionäre Frauenbild, das diese Ausgeburt der Kleinkunsthölle transportiert. Die emanzipierte Sammlerin mit der niedlichen Kurzhaarfrisur und den bunten Strumpfhosen hätte jetzt gerne den raubeinigen Jäger zum Anlehnen zurück. Sie will auf Händen getragen werden. Irre komisch, oder? Claire, die sich einmal beschwert, dass ihr Zeitungen nicht weiterhelfen, wenn sie wissen will, wie das Leben funktioniert, möchte man mit Tele zurufen: „Du gehst auf die Ämter und willst dich beschweren, aber da ist niemand mehr da, die sind zuhause und feiern Feierabend.“

5150 Elm’s Way

(CAN 2009, Regie: Éric Tessier)

Schach dem Killer
von Oliver Nöding

In Stefan Zweigs „Schachnovelle“ ist ein Buch mit berühmten Schachpartien die einzige Ablenkung für den monatelang von den Nazis festgehaltenen Arzt Dr. B., der erst akribisch jede einzelne der im …

In Stefan Zweigs „Schachnovelle“ ist ein Buch mit berühmten Schachpartien die einzige Ablenkung für den monatelang von den Nazis festgehaltenen Arzt Dr. B., der erst akribisch jede einzelne der im Buch dokumentierten Partien memoriert, bevor er schließlich beginnt, im Kopf gegen sich selbst zu spielen und dabei eine „Schachvergiftung“ erleidet, eine akute Spaltung seiner Persönlichkeit. – Ganz Ähnliches widerfährt dem Protagonisten von Éric Tessiers „5150 Elm’s Way“: Seine einzige Chance einem Soziopathen zu entkommen, besteht darin, ihn im Schachspiel zu besiegen.

Yannick Bérubé (Marc-André Grondin) möchte eigentlich nur seinen neuen Wohnort erkunden, als er mit dem Fahrrad stürzt und sich verletzt. Auf der Suche nach Hilfe trifft er den Taxifahrer Jacques Beaulieu (Normand D’Amour), der zunächst etwas abweisend reagiert. Wenig später weiß Yannick warum: Beaulieu ist ein Mörder, dem nach seiner Enttarnung nichts anderes übrig bleibt, als den jungen Mann einzusperren. Für den beginnt eine mehrmonatige Tortur: Familienvater Beaulieu ist ein religiöser Fundamentalist, der es sich zum Ziel gesetzt hat, Sünder zu bestrafen, und dabei die volle Unterstützung nicht nur seiner braven Gattin Maude (Sonia Vachon), sondern auch seiner höchst aggressiven Tochter Michelle (Myléne St-Sauveur) genießt, die seine Mission irgendwann fortsetzen soll. Die Legitimität dieser Mission begründet Beaulieu wiederum mit seiner Unfehlbarkeit im Schachspiel und geht mit Yannick einen Handel ein: Wenn es diesem gelingt, ihn zu schlagen, wird er freigelassen. Yannicks Ehrgeiz ist geweckt, fieberhaft übt er, um seinen Peiniger zu besiegen. Doch der verfolgt mit dem Wettkampf einen ganz eigenen Plan …

Tessier begibt sich mit „5150 Elm’s Way“ zunächst auf das Terrain des in den letzten Jahren populären Terrorfilms, in dem das Grauen mit brutaler Vehemenz in den Alltag der Protagonisten einbricht und vor allem körperliche Pein für diese nach sich zieht: Seine Exposition ist kurz, der Umschwung zum Horrorfilm erfolgt abrupt, das Haus der Beaulieus steht mit seinen schummrig-schmutzigen Erdtönen in krassem Kontrast zum draußen herrschenden Sonnenschein, christliche Devotionalien unterstreichen die Atmosphäre verdrängter Schuld und körperliche Gewalt ist immer mit Schmerzen, Blut und Geschrei verbunden. Was Tessiers Film von Vorbildern wie „High Tension“, „The Hills Have Eyes“ (2007) oder „Frontier(s)“ unterscheidet, ist der Verzicht auf deren karikatureske Überzeichnung der Schurkenfiguren: Statt degenerierter Kinder, deformierter Kannibalen und Opas in Naziuniform findet man mit den Beaulieus eine Mörderfamilie vor, die nun tatsächlich ganz im Schoß der Bürgerlichkeit aufgehoben ist und deren Krankheit sich nicht äußerlich zeigt. Und so wie Tessier also den Blick von den Körpern ab- und den inneren Prozessen seiner Figuren zuwendet, so verwandelt sich sein Terrorfilm in einen Psychothriller, dem weniger an Gewaltdarstellung als an Gewaltauflösung, weniger an einer Breitseite gegen das Spießertum als vielmehr an der Suche nach den Ursprüngen von Beaulieus moralischem Fundamentalismus gelegen ist. Und dafür kommt ihm das Schachmotiv überaus gelegen.

Schach gilt nicht nur als das populärste Brettspiel der Welt, sondern auch als das komplexeste. Die Zahl möglicher Spielzüge und Spielvarianten geht gegen unendlich, sodass es für den Erfolg entscheidend ist, die Zugmöglichkeiten des Gegners zu erkennen, seine tatsächlichen Züge zu antizipieren und dieses Wissen wiederum in die eigene Taktik einfließen zu lassen. Diese Komplexität hat Schach nicht nur den Ruf des „Königs aller Spiele“ eingebracht, sie hat auch den Mythos begründet, dass ein guter Schachspieler auch den Anforderungen des Lebens besser gewachsen sei. Kurz gesagt: Schach ist auf 64 Felder und 32 Figuren eingedampftes Leben. Diesem Glauben hängt auch Beaulieu an: Weil er jeden Zug Yannicks präzise vorhersagen kann und daher förmlich unbesiegbar ist, folgert er daraus, auch in der Realität unfehlbar zu sein. Und wenn er unfehlbar ist, dann ist er auch im Recht, wenn er Menschen als Sünder stempelt und für ihre Taten bestraft. Die einzige Möglichkeit, ihn umzustimmen, ist es, ihm diese eine Niederlage zuzufügen. Doch je fieberhafter Yannick daran arbeitet, umso tiefer stürzt er selbst in die Psychose, die schon Stefan Zweigs Dr. B. in der „Schachnovelle“ ereilt und die – ein Standard des Serienmörderfilms – man für Tessiers Film mit Friedrich Nietzsche wie folgt beschreiben könnte: „Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“

„5150 Elm’s Way“ ist zwar fest im Genrekino verwurzelt und sollte insofern als Genrefilm rezipiert werden, doch scheut er sich nicht davor, eigene, neue Wege zu gehen. Die eher ungewöhnliche Mischung aus Körperhorror und Psychothriller funktioniert ausgezeichnet, weil beide Aspekte in Tessiers Inszenierung miteinander in Beziehung treten wie die Spieler einer Schachpartie. Das Schachmotiv ist natürlich der Clou des sauber inszenierten und gut gespielten Films, der die oft anstrengende Hysterie des Terrorfilms ebenso zu vermeiden weiß wie allzu abgegriffene Klischees, weil er Körper und Geist auf engstem Raum zusammenbringt, den großen Konflikt im Kleinen spiegelt. Und dass Tessier diese Pointierung in seiner makabren Finalenthüllung noch einmal zu überbieten weiß, ohne dabei in die Plottwist-Falle zu laufen, lässt für zukünftige Filme von ihm noch einiges erhoffen.

My Son, My Son, What Have Ye Done

(USA / D 2009, Regie: Werner Herzog)

Brad und wie er die Welt sieht
von Louis Vazquez

Werner Herzogs Filme finden in Deutschland eigentlich nur noch auf Festivals statt, wenn der Regisseur nicht gerade Abel Ferraras „Bad Lieutenant“ neu interpretiert und sich dabei in einem äußerst populären …

Werner Herzogs Filme finden in Deutschland eigentlich nur noch auf Festivals statt, wenn der Regisseur nicht gerade Abel Ferraras „Bad Lieutenant“ neu interpretiert und sich dabei in einem äußerst populären Genre bewegt. Doch reguläre Kinostarts gibt es selten. „My Son, My Son, What Have Ye Done“ ist eine sehr kleine Produktion, die man sich in Deutschland entsprechend auf dem kleinen Bildschirm anschauen muss, obwohl sie Größeres verdient hätte. Selten wurde eine Tragödie mit so viel Lust und Humor erzählt. Als ausführender Produzent stand Herzog diesmal David Lynch zur Seite, und das ist eine Verbindung, die in mancher Hinsicht so folgerichtig scheint, dass es verwunderlich ist, dass sie nicht eher zu Stande kam, handelt es sich doch in beiden Fällen um bevorzugt unabhängig agierende Regisseure, deren Erzählweisen das Irrationale ganz und gar nicht fremd ist. Hinzu kommt eine gewisse Exzentrik, die den Filmemachern in manchen Momenten eine beängstigende Ähnlichkeit zu ihren obsessiven Protagonisten beschert – rein äußerlich freilich, um nichts Verrücktes zu unterstellen.

Brad McCullum reiht sich nahtlos ein in die entsprechende herzogsche Figurentradition. Er ist nicht mehr derselbe, seit er aus – ausgerechnet! – Peru zurückgekommen ist. Dort hatte er eine schicksalhafte Eingebung und überlebte als einziger eine Kanu-Tour, weil er das Unglück ahnte und gar nicht erst teilnahm. Jetzt hat Brad, der sich auserwählt fühlen muss, Gottes vermeintliches Abbild auf einer Haferflockenpackung entdeckt, seine dominante Mutter mit einem Schwert umgebracht und sich mit zwei zunächst unbekannten Geiseln in einem Haus verbarrikadiert. Ein Eliteteam rückt an und positioniert sich, um zu verhandeln und die Geiseln zu befreien. Während alle die nächsten Schritte abwarten, tritt eine Art Schwebezustand ein. Der Film zeigt nicht, was im Haus passiert, und weil ein Haus Sinnbild für den Geisteszustand eines Menschen sein kann, bleibt auch Brads Innenleben ein Geheimnis. Es wird kein psychologisches Erklärstück inszeniert. Stattdessen erzählen Rückblenden im Zuge der Ermittlungen Brads Geschichte. Seine Verlobte Ingrid spricht mit einem Detective von der Mordkommission, später kommt ein befreundeter Theaterregisseur hinzu und ergänzt weitere Details: Brad arbeitete mit ihm an einer Aufführung von Aischylos’ „Orestie“ und sollte die Hauptrolle spielen – bis er die Figur des Muttermörders plötzlich allzu fanatisch auszufüllen begann.

Dass „My Son, My Son, What Have Ye Done“ auf einer wahren Begebenheit basiert und Originalzitate und Anekdoten verwendet, muss man schon wissen, denn man sieht es dem Film nicht an. Er wirkt weder wie ein Bio-Picture noch funktioniert er als klassischer Psychothriller. Vielmehr arbeitet er, wie die Beteiligten es erwarten lassen, mit Verfremdungsmechanismen, die das Geschehen oft ins Bizarre und Komische abgleiten lassen, ohne allerdings die existenzielle Tragik des Stoffs zu verraten. Immer wieder friert das Bild ein, indem die Schauspieler in ihrer Position verharren, während die Kamera weiterläuft. Durch diese surrealen Verzögerungen, manchmal in langsamen Schwenks, wird alles mit vermeintlichem Sinngehalt aufgeladen – und vergleichbar ist ja auch die Wahrnehmung Brads, der plötzlich zwanghaft einer Bestimmung folgt: Alles bedeutet etwas. Eine weitere Szene gewinnt durch das Herzog-typische Guerilla-Filmemachen eine besondere Qualität. Die Kamera ist am Protagonisten befestigt und fokussiert sein Gesicht, während er sich durch eine Menschenmenge bewegt – eigentlich eine konventionelle Art, Wahnsinn filmisch zu inszenieren. Doch Herzog hat die Szene mal eben ohne Genehmigung mit einem kleinen Team in Westchina gedreht. Die irritierten Blicke der Menschen auf den Schauspieler und direkt in die Kamera sind echt und machen Brads Paranoia gut nachvollziehbar.

Herzogs Ensemble legt eine seltene Spielfreude an den Tag, befördert durch die szenische Arbeitsweise von Herzog und seinem Kameramann Peter Zeitlinger, in der es wenige Zwischenschnitte gibt. Herzog und Lynch, der Realitätsverlust des manischen Künstlers und der Horror der bonbonbunten Suburbia, passen gut zusammen. „Manchmal habe ich das Gefühl, David Lynchs und meine Filme reden nicht miteinander, sondern sie tanzen manchmal miteinander“, sagt Herzog im Audiokommentar über das Verhältnis der beiden Oeuvres. Manchmal ist es ein intimer Tango, möchte man ergänzen. Manchmal aber auch ein anarchischer Pogo. Der Tanztee jedenfalls darf gerne häufiger stattfinden.

I Am Love

(IT 2009, Regie: Luca Guadagnino)

Style and Substance
von Harald Steinwender

Über Jahrzehnte wurde das italienische Nachkriegskino weltweit für seine visuelle Opulenz bewundert. Luchino Viscontis erlesene Ausstattung, Federico Fellinis überbordende Bildimagination und Sergio Leones barocker Ikonoklasmus haben, um nur drei Beispiele …

Über Jahrzehnte wurde das italienische Nachkriegskino weltweit für seine visuelle Opulenz bewundert. Luchino Viscontis erlesene Ausstattung, Federico Fellinis überbordende Bildimagination und Sergio Leones barocker Ikonoklasmus haben, um nur drei Beispiele zu nennen, die Filmgeschichte geprägt, Kameramänner wie Vittorio Storaro, Tonino Delli Colli und Giuseppe Rotunno uns neu sehen gelehrt. Die Bildermacht des italienischen Kinos gründete zum Einen auf den exzellenten Kameramännern und Technikern der italienischen Filmindustrie, zum Anderen auf der Bevorzugung des Bildes gegenüber der Tonspur, die sich etwa in der lange Zeit bevorzugten Arbeitsweise italienischer Filmteams ohne direkten Ton niedergeschlagen hatte. Hier bedeuteten die Bilder – wie im Stummfilm – noch alles.

Seit einigen Jahren scheint das darbende italienische Kino das große Erbe seiner Kameramänner und Regisseure vergessen zu haben. Nur wenige Ausnahmen erinnern an die Meisterschaft vergangener Jahrzehnte, etwa die ironisch-unterkühlten Filme des Neapolitaners Paolo Sorrentino („Le conseguenze dell’amore“; 2004 und „Il Divo“; 2008) oder die des Sizilianers Giuseppe Tornatore („La Sconosciuta“ / „Die Unbekannte“; 2006). Nur sehr wenige dieser Filme haben es überhaupt in die deutschen Programmkinos geschafft. Da ist es umso erfreulicher, dass mit Luca Guadagninos meisterlichem „I Am Love“ („Io sono l’amore“) endlich wieder eine dieser selten gewordenen Ausnahmen auch bei uns zu sehen ist.

„I Am Love“ ist zunächst einmal ein Melodram: die Geschichte der Russin Emma (Tilda Swinton), die in die fiktive Mailänder Textildynastie der Recchis eingeheiratet hat. Die Recchis sind Kriegsgewinnler, die in der Zeit des italienischen Faschismus ihr Vermögen gemacht haben. Nun leben sie in einem goldenen Käfig, in den auch Emma, einem Statussymbol gleich, gesperrt ist. Auch für die Recchis gilt die Maxime des Fürsten aus Viscontis (bzw. Giuseppe Tomasi di Lampedusas) „Der Leopard“, dass die Dinge sich wandeln müssen, damit alles bleibt, wie es ist. Nur spielen diesmal die Frauen nicht mit, denn nachdem Emma erfahren hat, dass ihre Tochter (Alba Rohrwacher) sich in eine Frau verliebt hat und unbeirrt von den gesellschaftlichen Konventionen ihren Weg geht, lässt auch sie sich auf eine leidenschaftliche Affäre mit dem unorthodoxen Koch Antonio (Edoardo Gabbriellini) ein. Dabei kommt es zur familiären Katastrophe, die für Emma auch die Chance auf einen Neuanfang bietet.

Luca Guadagnino positioniert seine Erzählung durch Thema, opernhaft-melodramatischen Erzählgestus und Verweise, wie die Besetzung des Visconti-Veteranen Gabriele Ferzettis in der Tradition von Viscontis großen Familienstudien. Aber mehr noch sind es die durchkomponierten Bilder, mit denen Guadagnino Viscontis Werk fortführt. Hier wie dort ist der vermeintliche Ästhetizismus der Bilder kein hohler Selbstzweck, sondern integral für das Verständnis der erstarrten Rituale und Herrschaftstechniken des Großbürgertums. Die zentrale Liebesgeschichte ist in diesem Rahmen das Signum des Untergangs einer längst überkommenen Welt.

Der Regisseur und sein Kameramann Yorick Le Saux, der zuletzt Olivier Assayas‘ ausuferndes Terroristen-Biopic ‚Carlos – Der Schakal‘ fotografierte, richten höchst artifizielle Bildtableaus von berückender Schönheit ein, deren Brillanz nur umso deutlicher die innere Leere der Protagonisten herausstreicht. Dabei inszeniert Guardagnino seinen Film wie einen Lehrfilm für angehende Kameramänner und lässt keine Stilisierung aus: sehr lange und sehr kurze Brennweiten ebenso wie extreme Auf- und Untersichten; Bildmetaphern und eine Lichtsetzung, die durch Scheinwerferspots einzelne Figuren akzentuiert und aus dem Ensemble herausgreift; Matchcuts, komplexe Plansequenzen und ausgreifende Kranfahrten, die den filmischen Raum in einen Fluss versetzen; pointierte Montagesequenzen und schnelle Zooms, die ihn fragmentieren und zersetzen. Die Innenräume werden durch erlesenes Dekor in warmen Farbtönen bestimmt und die Kontrastierung von Komplementärfarben: in einem in oranges Licht getauchten Raum funkeln die grünen Weingläser wie Smaragde, die rothaarige Tilda Swinton tritt im königsblauen Abendkleid auf. Die Außenaufnahmen dagegen sind geprägt durch stahlgraue Stadtimpressionen aus Mailand, San Remo, London, die durch die Betonung geometrischer Muster beinahe abstrakt wirken. Zeugnisse der Industrialisierung – endlose Raster von Beton und Stahl, verschraubte Wendeltreppen, Glasfronten und Gitter, Hochhäuser, von der Kamera eingefangen wie kristalline Gewächse aus Stein – stehen in Untersicht erfassten Kirchen und barocken Fassaden gegenüber. So entsteht eine Welt der scharf abgegrenzten Gegensätze: Alt und Neu, Innen und Außen, Schein und Sein. Und dazwischen: ein Garten Eden, ein sommerlicher Naturraum, in dem Swintons Emma auf die primären Wahrnehmungen zurückgeworfen wird – sehen, riechen, fühlen, schmecken – und darüber die Liebe wiederentdeckt.

Der melodramatische Gestus von Guardagninos Film mag vielleicht etwas zu forciert wirken. Doch darüber hinaus gibt es viel zu sehen in „I Am Love“, und vor allem, neu sehen zu lernen. Und das bedeutet hier – und für eine neue Generation von Kinozuschauern – zurück geführt zu werden zu den Meistern der 1960er und 70er Jahre: zu Vittorio Storaros Kameraarbeit für Bernardo Bertolucci und Luigi Bazzoni und zu Armando Nannuzzis und Giuseppe Rotunnos Arbeiten für Visconti. „I Am Love“ ist gleichermaßen Melodram und boshafter Kommentar zum italienischen Bürgertum wie ein sensuelles Erlebnis.

The Crazies – Fürchte deinen Nächsten

(USA 2010, Regie: Breck Eisner)

Dawn of the Crazies?
von Louis Vazquez

Vielleicht muss man es sich einfach noch mal vergegenwärtigen: „Remake“ heißt zunächst einmal nur „wieder machen“ und meint vor allem Geld. Das gilt selbst dann, wenn das Original ein finanziell …

Vielleicht muss man es sich einfach noch mal vergegenwärtigen: „Remake“ heißt zunächst einmal nur „wieder machen“ und meint vor allem Geld. Das gilt selbst dann, wenn das Original ein finanziell eher erfolgloser Film war. „Remake“ bedeutet eben nicht zwangsläufig, die Essenz eines einstmals spannenden Stoffs auf ihre aktuelle Relevanz hin zu überprüfen und für die Gegenwart zu adaptieren – oder auch nur an „moderne Sehgewohnheiten“ anzupassen. Die zahlreichen Remakes und „Reboots“ der letzten Zeit legen davon ein meist trauriges Zeugnis ab.

Dass George Andrew Romeros „The Crazies“ aus dem Jahr 1973 nun ein Remake erfahren hat, dürfte vor allem daran liegen, dass die originären Zombiestoffe des Regisseurs in den letzten Jahren bereits offiziell neu inszeniert worden sind und somit fürs erste als Erfolg versprechendes Quellmaterial ausfallen. Denn sie sind es vor allem, die das Horrorkino entscheidend geprägt und zu Nachahmungen, Hommagen und Parodien angeregt haben. „The Crazies“ aber erinnert mit seinen durch ein Virus verrückt und gewalttätig gewordenen Menschenmassen hier und da auch ein wenig an Zombiehorden und weckt vergleichbare Assoziationen von Endzeit und Apokalypse. Es war deshalb wohl das Ziel, mit dem Remake dieses Films dem Subgenre des Zombiefilms (der ja inzwischen ohnehin oft „Infizierte“ meint) so nahe wie möglich zu kommen, denn alles, was „The Crazies“ seinerzeit zum eigenständigen, höchst subversiven und noch heute interessanten B-Picture machte, wurde im Zuge der Adaption ziemlich konsequent zugunsten einer uninspirierten Horrorinszenierung über Bord geworfen.

„The Crazies“ erzählt vom Ausbruch eines biologischen Kampfstoffs in einer amerikanischen Kleinstadt. Das Virus gelangt bei einem Flugzeugabsturz ins Grundwasser, führt innerhalb weniger Tage zum Wahnsinn und lässt die Menschen Amok laufen. Ein Gegenmittel gibt es nicht, und das Militär greift so brutal wie dilettantisch ein, um eine Ausbreitung der Seuche zu verhindern. In Romeros Original versucht eine Gruppe von internierten Einwohnern, angeführt von zwei Feuerwehrmännern, die als Soldaten in Vietnam waren, die Militärblockade zu durchbrechen. Das Vorhaben scheitert. Selbst heute ist das zynische Ende von Romeros Film nur schwer erträglich: Die schwangere Freundin des Helden, inzwischen erkrankt, stirbt in seinen Armen, er selbst wird von den anonymen Soldaten mit ihren Gasmasken und den weißen Schutzanzügen wieder gefangen genommen und mit den Infizierten eingepfercht, obwohl er offensichtlich immun gegen das Virus ist. Die Zeit für einen Bluttest aber will sich niemand nehmen, denn Kranke werden längst offiziell als Feinde betrachtet. Derweil ist das Virus bereits in der nächsten, größeren Stadt angekommen.

Romeros Abgesang auf die Armee und das staatliche Krisenmanagement ist deutlich als Reaktion auf den Vietnamkrieg zu verstehen. Die große Leistung seines Films ist, dass er über die persönliche Ebene der Protagonisten hinausweist und analytisch die Zusammenhänge zeigt, die diese Tragödien verursachen: die Fehlentscheidungen der Militärführung, die Konflikte mit lokalen Politikern und Polizisten, marodierende Soldaten, die Machtlosigkeit der Wissenschaftler, die unter den gegebenen Umständen nicht helfen können. Einem seiner Ex-Soldaten legt Romero die Worte in den Mund: „The army ain’t nobody’s friend, man. We know – we’ve been in.” Die nicht gerade subtile Dekonstruktion eines inkompetenten Machtapparats und seiner brutalen Vollzugsorgane ist New Hollywood par excellence – provozierend und radikal bis hin zum Finale. In Breck Eisners Hochglanz-Remake ist davon leider wenig übrig, obwohl Romero selbst als ausführender Produzent beteiligt war.

„The Crazies“ will in der neuen Version ohne die Perspektive des Militärs und der Wissenschaftler auskommen und konzentriert sich stattdessen ganz auf seine neuen Hauptfiguren, Sheriff David Dutten (Timothy Olyphant), dessen schwangere Frau Judy (Radha Mitchell) und den Deputy Russel (Joe Anderson). Allein diese Verschiebung des Fokus und der Identifikation ausgerechnet auf die gesetzlichen Vertreter von Recht und Ordnung verkennt die Intention des Originals. Und während Romero das Setting innerhalb von fünf Minuten etablierte, um es für seine grausame Versuchsanordnung zu nutzen, lässt das Drehbuch des Remakes die Helden durch ihre eingeschränkte Perspektive lange darüber im Unklaren, was genau passiert – im Gegensatz zum genreaffinen Zuschauer.

Während Romeros Original den Kern des Konflikts klar zwischen den internierten Einwohnern und den anonymen Soldaten verortet – selbst die Infizierten gehen meist gegen das Militär vor und wirken dabei wie eine skurrile Bürgerwehr –, bemüht sich das Remake um Standardsituationen des Horrorfilms, in denen fast immer die Infizierten, nicht die Soldaten, zur Bedrohung für die Heldengruppe werden. Mit ihren blutunterlaufenen Augen und den hervortretenden Adern werden sie dabei kaum anders eingesetzt als Zombies. Die im Original so verstörende Beiläufigkeit, wenn etwa eine strickende alte Frau plötzlich lächelnd eine Nadel als tödliche Waffe benutzte und sich dann wieder hinsetzte, als sei nichts geschehen, weicht im Remake einer animalischen, klassisch-monströsen Zielstrebigkeit der Infizierten und übertriebenen Situationen: Es müssen eben gleich der infizierte Pathologe mit der Knochensäge und der Slasher mit der Mistgabel kommen. Die einzige Szene, in der die Flüchtenden tatsächlich mit Soldaten konfrontiert werden, beinhaltet sogleich eine Relativierung. Sie nehmen einen der Soldaten gefangen, demaskieren ihn (d.h. geben ihm ein Gesicht) und verschonen ihn schließlich gegen das Versprechen, sie nicht zu verraten. Denn der junge Mann hat mitten in der Kampfhandlung ein Einsehen und korrigiert seinen Einsatzplan: „Ich bin nicht gekommen, um unbewaffnete Zivilisten zu erschießen.“ Man kann Romeros Original seine Plakativität zum Vorwurf machen, aber im sich so subtil gebenden Remake wirken derlei Phrasen umso lächerlicher. Alles Subversive wird gnadenlos geglättet, goutierbar gemacht und der Stoff so seines Potenzials beraubt. Dass die Helden am Ende mit Zeugnissen eines Massakers konfrontiert werden, dessen visuelle Umsetzung gleich die krassesten Erinnerungen an Deportationen wecken muss, macht die nicht einmal halbherzige Angelegenheit kaum besser. Die oberflächliche Splatter-Gewalt freilich wird klischeehaft zugespitzt und tut ja inzwischen niemandem mehr wirklich weh.

Es ist also offensichtlich, dass die Neufassung von „The Crazies“ zuvörderst etwas ganz anderes im Sinn hat als eine Neuformulierung ätzender Kritik: die zahlreichen Fans von Zack Snyders Remake von „Dawn of the Dead“ (2004), einer interessanten und ziemlich populären Neuinterpretation von Romeros Zombieklassiker. Eisners Musikauswahl verweist direkt auf diesen Vorläufer, denn Snyder begann seinen Film mit dem Song „The Man Comes Around“ von Johnny Cash. Er begleitete die Bilder vom Untergang der Zivilisation, und das ergab Sinn, denn mit „the man“ ist der Tod gemeint. Eisner nun unterlegt die Bilder der Kleinstadtidylle mit Cashs Interpretation von „We’ll meet again“, dem Song, der das Finale von Kubricks „Dr. Strangelove“ begleitete. Wirklich viel Sinn ergibt das, selbst im Vorgriff auf die Auflösung des Films, aber nicht. Zwar lässt auch Eisner die Bombe hochgehen, aber nicht als zynische Schlusspointe, die allen Bemühungen ein Ende setzt, und seien sie noch so redlich (wie etwa in Dan O’Bannons konsequenter Hommage „The Return of the Living Dead“ aus dem Jahr 1985), sondern als bloßes Spektakel, dem die Helden zu guter Letzt auch noch entgehen, denn ihr Truck besteht offenbar aus dem selben Material wie der Kühlschrank, der Indiana Jones in seinem letzten Abenteuer aus einer ähnlichen Situation rettete.

Am Ende bleibt ein Film, der auf oberflächliche Weise zu unterhalten vermag, der aber mit „The Crazies“ letztlich ebenso viel oder wenig gemein hat wie mit Wolfgang Petersens „Outbreak“. Vielleicht muss man Milde walten lassen und darf von Remakes einfach nicht mehr so viel erwarten. Aber wo sollte das hinführen?

Carlos – Der Schakal

(F / D 2010, Regie: Olivier Assayas)

Popstar und Ich-AG in Sachen Terror
von Ulrich Kriest

Olivier Assayas‘ ausladende Geschichtslektion zerstört den Post-68er-Mythos vom revolutionären Subjekt. Wer in den 1970er Jahren mit Olympia-Attentat, Bombenanschlägen, Bewegung 2. Juni und Lorenz-Entführung, Bommi Baumanns „Wie alles anfing“, RAF und …

Olivier Assayas‘ ausladende Geschichtslektion zerstört den Post-68er-Mythos vom revolutionären Subjekt.

Wer in den 1970er Jahren mit Olympia-Attentat, Bombenanschlägen, Bewegung 2. Juni und Lorenz-Entführung, Bommi Baumanns „Wie alles anfing“, RAF und Schleyer-Ermordung, Mogadischu, Rasterfahndung, Hausdurchsuchungen, gesteigertem Fahndungsdruck und Toten in Stammheim aufwuchs, dem wird gewiss der „Spiegel“-Titel vom Juli 1976 in Erinnerung geblieben sein, als ein pausbäckiger Mann mit Sonnenbrille und dicken Koteletten zum „meistgesuchten Mann der Welt“ ausgerufen wurde. Die Rede ist von dem in Venezuela geborenen Ilich Ramirez Sanchez, genannt „Carlos“, der zwischen 1970 und seiner spektakulären Verhaftung 1994 im Sudan als internationaler Strippenzieher des Terrorismus galt: nicht zu fassen, aber fast ein Pop-Star.

Der bekannte französische Autorenfilmer Olivier Assayas („Irma Vep“, „Demonlover“) und sein Drehbuchautor Dan Franck haben sich jetzt in einer kompetent recherchierten und mustergültig umgesetzten Zeitreise auf eine Spurensuche begeben und dabei eine Geschichte des internationalen Terrorismus rekonstruiert, die desillusionierender nicht sein könnte. „Carlos – Der Schakal“, eigentlich als Mini-Serie fürs französische Fernsehen konzipiert, kommt in zwei unterschiedlichen Fassungen in die Kinos: Die kürzere Fassung dauert 190 Minuten und ist eigentlich nur denjenigen zu empfehlen, die die längere Fassung bereits gesehen haben, weil sich der Film fast schon hermetisch an einen Kreis von Insidern richtet. Figuren werden nicht vorgestellt; ganze Episoden wurden gnadenlos gekürzt. Die längere Fassung allerdings, die in einigen auswählten Kinos zu sehen sein wird, dauert 333 Minuten, wurde in Cannes mit lang andauernden Standing Ovations gefeiert und lohnt buchstäblich jede Sekunde. Gerade weil Assayas und Franck ihrer ausladenden, multilingualen Geschichtsrekonstruktion einige blinde Flecken des Fiktiven und Widersprüchlichen zugestehen, verfallen sie nicht auf den Fehler von Eichinger/Edel, die bei „Der Baader Meinhof Komplex“ nie über das oberflächliche, sinnentleerte Nachstellen von Action-Szenen und Medienbildern hinausgelangten.

„Carlos – Der Schakal“ beginnt 1973 mit dem erfolgreichen Bombenattentat auf Mohamed Boudia, den Leiter der Pariser Vertretung der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP). Carlos (sensationell körperbetont gespielt von Edgar Ramirez), der sich im Sommer 1970 der PFLP angeschlossen hat und auch bereits militärische Erfahrungen sammelte, will die Nachfolge Boudias antreten und reist nach Beirut, um bei Wadi Haddad, dem Mitbegründer der PFLP vorzusprechen. In der Folgezeit entwirft der Film ein buntes Szenario mit einigen mehr oder weniger gescheiterten Anschlägen, Polizistenmorden und lateinamerikanischer Revolutionsfolklore nebst entsprechendem Jargon, den Carlos souverän beherrscht. Er träumt von einem international operierenden Netzwerk des bewaffneten Kampfes und vereinigt Kaltblütigkeit beim Morden mit dem Charme eines Jet Set-Playboys und Womanizers. Die Filmemacher holen ein paar längst vergessene Kapriolen der Militanz aus dem Fundus der Geschichte, unterfüttert, vermittelt und kommentiert mit reichlich dokumentarischem Material.

Wer erinnert sich noch an die japanische Rote Armee Fraktion? Wer kann sich heute noch vorstellen, dass man noch 1975 Panzerfaustanschläge auf eine startende „El Al“-Maschine in Orly von der Besucher-Plattform aus ausführte? Als der Anschlag misslingt und eine geparkte jugoslawische Maschine zerstört, rennt Carlos zur Telefonzelle, um immerhin die Verantwortung für den missglückten Anschlag zu übernehmen, muss allerdings seitens der Presseagentur erfahren, dass bereits militante Kroaten die Verantwortung übernommen haben. Wenn, was recht häufig passiert, ein Anschlag misslingt, gibt es immer die recht unproblematische Option Geiselnahme, Verhandlung, Absetzen per Flugzeug in den Nahen Osten. Funktioniert fast immer. Carlos‘ große Stunde schlägt im Dezember 1975 beim Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien, bei dem Saddam Hussein die Fäden gezogen haben soll. Dieser Überfall, der eigentlich ein spektakulär getarnter Auftragsmord gewesen sein soll, ist ein gut einstündiger Film im Film, zeigt er doch exemplarisch, wie der Strippenzieher des Terrors schnell zum Spielball widerstreitender Interessen und auch sehr flexibler Koalitionen im Nahen Osten wird.

Einerseits geriert sich Carlos wie ein Popstar in Che-Camouflage, andererseits ist er doch nur exekutierendes Organ bei von Geheimdiensten unterschiedlichster Provenienz initiierten Händeln, die noch unübersichtlicher werden, weil auch der bewaffnete Widerstand in eine Vielzahl von Interessen aufgespalten ist. Später, bei Wadi Haddad in Ungnade gefallen, wird Carlos dann vom Macho-Soldaten zum Macho-Söldner, der immer wieder neue Deckung findet: mal in Syrien, mal in Bukarest, mal in Ost-Berlin, später in Amman und Khartum. Er mutiert zum Handlungsreisenden in Sachen Terror, arbeitet mit Mitgliedern der lustvoll grotesk gezeichneten Revolutionären Zellen aus Frankfurt zusammen, investiert viel Mühe auf den Mordanschlag auf den ägyptischen Staatspräsidenten Sadat, der dann doch von jemand anderem exekutiert wird. Mit dem Ende des Kalten Krieges wird die Situation des international Gesuchten prekär; schließlich ist der Sudan die letzte Station, wo zeitgleich Osama Bin Laden eine modernere Version des international operierenden Terrorismus auf den Weg bringt. Am Ende ist Carlos allen lästig geworden und wird als Relikt einer vergangenen Epoche fallengelassen.

Wer nach dem Sehen von „Carlos“ noch immer glaubt, es habe gewissermaßen autonome Terroranschläge ohne Instrumentalisierung und Infiltration seitens der Geheimdienste gegeben, ist naiv. Das sollte auch beim gegenwärtig stattfindenden Verfahren in der Mordsache Buback zu denken geben. Zwar nur eine Randnotiz wert, aber dennoch nicht uninteressant ist Assayas‘ Zeichnung der aus der Bundesrepublik stammenden Militanten, für die er (und offenbar auch Carlos selbst) nur sehr wenig Sympathie hegt. Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann, die entscheidend am Schisma der Neuen Linken, an der Selektion der Juden auf dem Flugplatz von Entebbe beteiligt waren, bleiben merkwürdig unscharf gezeichnete Befehlsempfänger und Lebeleute. Hans-Joachim Klein, der beim Überfall in Wien schwer verletzt wurde, gerät als Aussteiger recht unkritisch zur moralischen Instanz des Films. Besonders schlimm sind allerdings die darstellerischen Leistungen von Julia Hummer als psychotische Killerin Gabriele Kröcher-Tiedemann, Alexander Scheers extrem manierierte Zeichnung von Johannes Weinrich als Trottel und Spießer und Nora von Waldstetten, der zu Magdalena Kopp wenig mehr als ein lasziver Blick einfällt. Auf Seiten der deutschen Fraktion gerät Assayas‘ faszinierende Rekonstruktion einer von der Geschichte hinweggefegten geopolitisch-ideologischen Landschaft, fast zur boshaften Satire, deren Elend es durchaus mit Schlöndorffs „Die Stille nach dem Schuss“ aufnehmen, tja, kann oder muss.

(Die folgende Punktwertung gilt für die lange Version des Films)

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Machete

(USA 2010, Regie: Robert Rodriguez, Ethan Maniquis )

Mexploitation
von Harald Steinwender

Machete Cortez ist tough as nails, bad to the bone, kurz: a motherfucker as bad as they come. Er ist alles andere als schön, zumindest im herkömmlichen Sinn. Sein Gesicht …

Machete Cortez ist tough as nails, bad to the bone, kurz: a motherfucker as bad as they come. Er ist alles andere als schön, zumindest im herkömmlichen Sinn. Sein Gesicht ist runzelig und pockennarbig wie eine Mondlandschaft, sein Köper bullig und massiv, seine langen ungebändigten Haare ölig, im Gesicht thront ein schwarzer Walrossbart. Danny Trejo spielt diesen Machete – ein archetypischer Bad-guy-Darsteller, dessen reales Leben ihn für solche Rollen zu prädestinieren scheint: schon in jungen Jahren drogenabhängig und kleinkriminell, insgesamt elf Jahre im Knast, u.a. in San Quentin für Drogendelikte und bewaffneten Raub, bevor er als Schauspieler zu sich und weg von der Straße fand.

Trejos Machete ist eine besondere Sorte Held. Kein Ritter in weißer Rüstung wie Antonio Banderas in Robert Rodriguez’ „Desperado“ (1995), der beim Showdown in einem weißen Blitz verschwindet und nach dem Shootout daraus als Sieger wiedergeboren hervortritt. Auch keine sympathische halbe Portion wie Carlos Gallardo in Rodriguez’ Debüt „El Mariachi“ (1992), seinem besten Film neben der TV-Produktion „Bad Boys Never Die“ („Roadracers“; 1994). Machete ist eher schon ein Held wie Marv (Mickey Rourke) in „Sin City“ und näher an den düsteren Comic-Universen Frank Millers, die zwischen Pop-Faschismus („300“) oder Post-hardboiled-Noir („Sin City“) oszillieren. Hier sind tumbe Fleischberge die Antihelden, die sich in Huren mit goldenem Herzen verlieben, ihre Gegner in Stücke schießen und Pädophile mit bloßen Fäusten kastrieren.

Wie diese Helden hat der Mexikaner Machete nicht nur den Körper einer Comicfigur, sondern agiert und reagiert auch wie eine. Ganz zu Beginn macht er mit Messer und Knarren eine halbe Armee nieder, schlägt Köpfe ab, trennt Torsi in der Mitte entzwei; hackt, sticht und metzelt. Dann findet er die Damsel in Distress, wuchtet die fast gänzlich nackte, kichernde Frau über die Schulter, nur um kurz darauf in einem ruhigen Moment von ihr beinahe entmannt zu werden. Die Wunde wird im Lauf des Films nicht mehr thematisiert, ähnlich wie der angeschossene Machete später einfach durch ein rohes Ei unter seinem Krankenlager wieder gesund wird – etwas, das Regie/Drehbuch einfach ohne weitere Erläuterung so im Film stehen lassen (Santería möglicherweise?). Auch sonst legt „Machete“ ein erfrischend realitätsfernes (und oft: rüdes) Verhältnis zum menschlichen Körper und seinen Fähigkeiten an den Tag. Da schlitzt unser Held etwa einen Gegner auf, greift sich die Gedärme und verwendet sie als Rettungsleine, als er aus dem Fenster springt, um sich ein Stockwerk tiefer durch eine weitere Scheibe in das nächste Zimmer zu schwingen.

Der Plot ist gegenüber solch absurden Kabinettstückchen nebenrangig und gewollt lustlos zusammengeleimt aus den Versatzstücken des Trash- und Exploitationkinos. Das wiederum ist ganz konsequent, liegt mit „Machete“ doch der filmhistorisch bislang einmalige Fall eines Films vor, der einen gefakten Trailer zur Vorlage hat. Diese ungewöhnliche Genese reicht vier Jahre zurück, zu Rodriguez‘ und Quentin Tarantinos Gemeinschaftsprojekt „Grind House“ (2007). Als sich die beiden Buddies aufmachten, ihr Double bill zu inszenieren, baten sie Filmemacher, dafür falsche, absichtlich trashige Trailer beizusteuern. Diese Trailer waren dann tatsächlich das Beste an dem Doppelprogramm (und bei uns natürlich nicht im Kino zu sehen): Eli Roth lieferte den schmierigen Trailer zu dem Slasher „Thanksgiving“ ab, Rob Zombie den irrwitzigen Sadiconazista „Werewolf Women of the S.S.“ und Edgar Wright eine Lucio-Fulci-Hommage namens „Don’t“. Von Rodriguez selbst kam „Machete“, dessen Langfassung nun also vorliegt.

An der Grundidee und dem Plot des Trailers hat sich hin zum abendfüllenden Spielfilm kaum etwas geändert: ein einsamer Wolf – Alleinstellungsmerkmal: Messerkämpfer mit Präferenz für Macheten – wird von politisch rechtsgerichteten Verschwörern als Sündenbock benutzt, verliert seine Familie und muss zusammen mit seinem Bruder (Cheech Marin, die eine Hälfte des dauerbekifften Duos „Cheech und Chong“ als schrotflintenbewaffneter Priester) und mexikanischen Immigranten gegen die fiesen Ausbeuter antreten, um Rache zu nehmen. Hinzu kommen Jessica Alba als gutwillige Immigrationsbeamtin und Michelle Rodriguez als Revolutionärin, ein von Don Johnson gespielter rechtsradikaler Sheriff, Steven Seagal als sadistischer Drogenzar und Robert De Niro als irrer Präsidentschaftskandidat – gewissermaßen die Kehrseite seiner „Taxi Driver“-Rolle als verhinderter Politikerattentäter. Das Ergebnis ist so kurzweilig wie der damalige Trailer, nur eben länger. Und dass Rodriguez mit den richtigen Leuten sympathisiert – Immigranten und Deklassierten – und zumindest filmisch mit den echten Bad Guys aufräumt – den korrupten Bullen, Ausbeutern und Pushern – und in seinem Trashfilm am Ende sogar noch eine soziale Revolte unterbringt, das versöhnt doch mit einigem. Ansonsten ist „Machete“ ein 1-A-Mexploitation-Flick, inklusive Santo-Kürzestauftritt, und allem, was dazu gehört: reichlich lustvoll zelebrierte Klischees sowie Sex, Gewalt und gute Laune. Nicht mehr, nicht weniger. Mit einem Sixpack und ein paar Freunden ist das Ganze ein Höllenspaß. Alleine oder für einen Pärchenabend womöglich untragbar.

Nichts ist besser als gar nichts

(D 2010, Regie: Jan Peters)

Stricken am löchrigen Pulli
von Louis Vazquez

Mehrere Reinigungskräfte putzen gemeinsam ein ziemlich großes Objekt, doch die Kamera ist zu nah dran, um zu erkennen, was es ist. Dann fährt sie zurück, das Bild öffnet sich, und …

Mehrere Reinigungskräfte putzen gemeinsam ein ziemlich großes Objekt, doch die Kamera ist zu nah dran, um zu erkennen, was es ist. Dann fährt sie zurück, das Bild öffnet sich, und während das Objekt zu leuchten beginnt, geht auch dem Zuschauer ein Licht auf. Die ziemlich witzige erste Einstellung von „Nichts ist besser als gar nichts“ ermöglicht einen überraschenden Blick auf eine vielleicht alltägliche, aber selten wirklich wahrgenommene Tätigkeit im Außendienst des Gebäudereinigungsbetriebs. Und irgendwie verdichtet dieser schöne Einstieg sogar das, was der folgende Dokumentarfilm für den Zuschauer leistet, eine Schärfung des Blicks fürs Alltägliche.

Der Aufhänger des Films ist fiktional: Als Jan seine Freundin am Flughafen verabschiedet hat, weil sie für sechs Wochen an den Amazonas reist, stellt er fest, dass seine Geldbörse noch in ihrem Handgepäck sein muss – Bargeld, Karte, alles weg. Was ihm bleibt, sind der Schlüssel zur Wohnung der Freundin, in der zumindest etwas Essbares wartet, und die noch gültige Gruppenkarte für den öffentlichen Nahverkehr. Inspiriert von einem Punk und weil er dringend Geld braucht, bietet Jan schließlich wildfremden Menschen an, sie günstig auf seiner Fahrkarte mitreisen zu lassen. Und hier beginnt das dokumentarische Experiment über die Arbeit eines „freien Reisebegleiters“, dem sich Filmemacher Jan Peters bereits zum zweiten Mal widmet. Schon 2007 sorgte er für Aufsehen mit seinem Kurzfilm „Wie ich ein freier Reisebegleiter wurde“, in dem er das Konzept erstmals vorstellte – freilich mit anderen Zufalls-Protagonisten und noch mit einer etwas experimentelleren Bildgestaltung. Peters hatte danach allerdings den Eindruck, das Potential seiner Idee sei damit noch nicht erschöpft. Deshalb macht er sich in „Nichts ist besser als gar nichts“ erneut zum Stellvertreter der abstiegsbedrohten Mittelschicht, interviewt Zufallsbekanntschaften und begibt sich mit seinem Kameramann Marcus Winterbauer in die Welt der Kleinstunternehmer, Obdachlosenzeitungsverkäufer und Flaschensammler, auf der Suche nach dem „4. Arbeitsmarkt“, und er stößt auf ganz unterschiedliche Konzepte, mit dem Mangel und dem Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben umzugehen.

Ein Ein-Euro-Jobber etwa arbeitet an einem Projekt mit, das den Teilnehmern die Imkerei vermittelt. Begründet wurde es von einer Gruppe freier Künstler, die herausfanden, dass der grotesk geringe Betrag, der sich jährlich durch die Honigernte erwirtschaften lässt, immerhin in etwa ihren jährlichen Einnahmen durch die Kunst entspricht. Allerdings sei die Arbeit mit den Bienen ziemlich befriedigend, beziehungsweise, im Fachterminus, erzeuge eine unglaubliche „job satisfaction“. Einer von Jans ersten Kunden als freier Reisebegleiter ist prompt ein Unternehmensberater, der sich für seine Form der Existenzgründung begeistert und Verbesserungsvorschläge macht, um mehr Mitfahrer zu akquirieren und die Einträglichkeit des neuen Jobs zu maximieren. Das Angebot unter dem Motto „Sei fit, fahr mit“ wird also immer weiter optimiert: Jan verbessert die Kundenansprache, feilt an der Corporate Identity, nimmt bei ausbleibendem Erfolg verzweifelt eine Diversifizierung der Produktpalette vor – und verzettelt sich, wie die nackten Zahlen belegen. Am Ende seines Projekts steht eine äußerst unbefriedigende Rentabilitätsrechnung.

Begleitet von der neugierigen, ironisch reflektierenden Voiceover des Filmemachers führt eine Situation federleicht zur nächsten. Jan erarbeitet sich Stammgäste und dringt tiefer in deren Geschichten vor. Ohne belehrende Kommentare oder forcierte Gefühligkeit werden verschiedene Lebensentwürfe vorgestellt und Menschen, die sich ebenfalls mit der Zukunft der Arbeit beschäftigen. So etwa Susanne Wiest, die Initiatorin der Petition für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Sie fragt, ein schönes Bild nutzend, ob es nicht besser sei, einen ganz neuen Pullover zu stricken, wenn doch alle ohnehin nur mit dem Stopfen von Löchern beschäftigt seien. Der hilfsbereite Unternehmensberater Maik Wagner wiederum arbeitet im Zweitjob als Lehrer für schwer integrierbare Jugendliche. Jan besucht seine Klasse und beobachtet Maik bei der Arbeit. Es besteht kein Zweifel: Die Jugendlichen besitzen außergewöhnliche Talente. Bloß entsprechen die nicht den normierten Anforderungen der Gesellschaft.

„Nichts ist besser als gar nichts“ ist kein Film, der sein Thema, wie es immer heißt, „erschöpfend“ behandeln wollte oder könnte, aber genau das ist gut so. Und wie so oft, wenn ein Film etwas wirklich Wichtiges zu erzählen hat, ist er nur in ausgewählten Kinos zu sehen.

Rachel

(F / B 2009, Regie: Simone Bitton)

Propaganda der guten Absicht
von Sven Jachmann

„Israelkritik“ weiß von sich selbst am besten, dass sie es nur gut meint. Dadurch immunisiert sie sich gegen Einwände. Werden die dennoch erhoben, fühlt sie sich gegeißelt und einem imaginierten …

„Israelkritik“ weiß von sich selbst am besten, dass sie es nur gut meint. Dadurch immunisiert sie sich gegen Einwände. Werden die dennoch erhoben, fühlt sie sich gegeißelt und einem imaginierten Diktat des Tabus unterworfen. Darüber jammert sie sodann in den auflagenstärksten Zeitungen und zu den besten Sendezeiten so lange, bis ihr endlich in Gestalt unzähliger Auszeichnungen, die der Kulturbetrieb eben bereit hält, der flächendeckend beklagte Maulkorb geadelt wird. An diesem Dilemma leidet nicht bloß die stets vor Kühnheit zitternde Prominenz vom Schlage eines, sagen wir, Martin Walsers, Norman Finkelsteins oder Noam Chomskys. Auch kleinere Fische sind der omnipotenten Knute des Philosemitismus ausgeliefert und deswegen genötigt, Sprachcodes zu entwickeln, die ihre freundlichen Absichten umso vehementer unterstreichen.

Die Regisseurin Simone Bitton beispielsweise verfolgt mit ihrem Dokumentarfilm „Rachel“ hehre Ziele. Eigentlich möchte sie vom Todesfall der 23-jährigen amerikanischen Friedensaktivistin Rachel Corrie erzählen, die im März 2003 im Gazastreifen unmittelbar an der Grenze zu Ägypten ums Leben kam. Bei dem Versuch, zusammen mit einer Handvoll Mitglieder der Organisation ISM durch gewaltlosen Widerstand den Abriss palästinensischer Wohnhäuser zu verhindern, erfasste sie der Bulldozer. Der Fall kursierte in den israelischen und internationalen Medien und wurde schnell ad acta gelegt. Bleibt die Frage bestehen, ob es sich um einen Unfall oder Absicht handelte. Dies klärt nun in investigativer Manier Bittons Film. Zumindest wird das behauptet. Dazu begibt sie sich an den Schauplatz, filmt in langen Einstellungen die Ruinen der Region, montiert Videoaufnahmen, Fotos und Dokumente zu all den Stimmen, die postum das Geschehen rekonstruieren und den Menschen Rachel konturieren sollen: Ärzte, Militärsprecher, Freunde, Mitaktivisten, Augenzeugen, Soldaten, Lehrer, die Eltern. Das Credo lautet distanzlose Distanz, und eine Agenda ist in den Bildern explizit formuliert: Liest der oberbefehlshabende Kommandant seinen Abschlussbericht, in dem er zu dem Schluss kommt, dass es sich um eine Unfall gehandelt habe, sehen wir minutenlang einen Bulldozer während einer Testfahrt; spricht ein palästinensischer Apotheker am Tatort über das, was er damals beobachtete, bewegt sich die Kamera langsam zur angrenzenden Mauer. Nach Erste-Hilfe-Maßnahmen alarmierte er übers Handy einen befreundeten Arzt: „The jews have killed our friend Rachel Corrie.“ Nicht nur in den Bildern ist die politische Agenda explizit formuliert.

Agitation ist Ehrensache, der Tod hingegen ein Martyrium, politisch wie biographisch. Im Presseheft erklärt Bitton ihre zentrale Motivation: „Am wichtigsten war mir, dass Rachel Corrie im Alter von 23 Jahren gestorben ist und ich 53 Jahre alt bin; ich trauere um meine Jugend. In Rachel Corrie sehe ich sowohl die junge Frau, die ich selbst einmal war, als auch die Tochter, die ich gern gehabt hätte.“ So starb Rachel Corrie also für den geschundenen Familienroman und die verlorene Jugend Bittons. Alles weitere erledigt ein aufklärerischer Impetus, der vor jeder Aufklärung auf der Suche nach einer Märtyrerin ist. Sein Subjekt, Rachel Corrie, ist ihm dabei so lang wichtig, wie es sich als repräsentatives Opfer der Macht des reuelosen Besatzers eignet. Darum lesen die Eltern E-Mails ihrer Tochter vor und dürfen ansonsten schweigen. Darum gibt es keinen eliminatorischen Antisemitismus, keine Hamas und keine Selbstmordattentate, in diesem verwüsteten Gazastreifen, weder in den Bildern noch in den Gesprächen. Darum antwortet ein junger linker palästinensischer Widerständler auf die Frage nach den Gründen seines Engagements, dass er die Kämpfe im Warschauer Ghettos verstehe, die Menschen hätten keine Hoffnung gehabt, aber er verstehe, warum sie es taten.

Im Abspann rappt ein früherer Mitaktivist über Rachel Corrie: „She had to come to stop the tanks, that were built, bought and brought by her brothers, the yanks – an american citizen with palestinen blood.” Eine endgültige Klärung der Faktenlage kann der Film nicht bieten. Aber das ist kein formales Manko, sondern kühl kalkulierte Folge programmatischer Agitation. „Wenn sie nicht gestorben wäre, hätte sie ihre Reinheit und Unschuld verloren? Hätte sie sie einer pragmatischen Haltung oder der Realität geopfert?‘, fragt sich Bitton im Presseheft. So ist sie eben, die Propaganda der guten Absicht: unschuldig bis aufs Blut und noch reiner als ihre Opfer, die sie für den Beweis ihrer Unschuld pragmatisch zu Kronzeugen degradiert.

Das Deutsche Kettensägenmassaker

(D 1990, Regie: Christoph Schlingensief)

Es geht um die Wurst
von Harald Mühlbeyer

Schlingensief saß vor dem Fernseher und konnte es nicht so richtig fassen: Mauerfall und Einheitstaumel, Trabis und Bananen, „Wir sind das Volk“, der Bundespräsident und die Nationalhymne: das seien verlogene, …

Schlingensief saß vor dem Fernseher und konnte es nicht so richtig fassen: Mauerfall und Einheitstaumel, Trabis und Bananen, „Wir sind das Volk“, der Bundespräsident und die Nationalhymne: das seien verlogene, geheuchelte Bilder, großer Murks, so erklärt er es im Interview. Und sie waren die Inspiration für seinen wohl bekanntesten Film. Als zweite Inspiration dienten ihm „Texas Chainsaw Massacre“ und vor allem dessen Fortsetzung, der spiele auf einem Jahrmarkt und sei angefüllt mit doppeldeutigen Bildern, so Schlingensief.

Innerhalb von zwei Wochen stand das Drehbuch, dann drehte er auch schon mit seiner üblichen Clique auf einem gerade verlassenen Stahlgelände bei Duisburg. Drei Wochen nach dem 3. Oktober 1990 war der Film fertig, auf den Hofer Filmtagen Ende Oktober fand die Premiere statt, Ende November war Kinostart: „Das Deutsche Kettensägenmassaker“ war der erste Schlingensief-Film, der richtig gut ankam.

Ja: Der Film ist publikumsaffin. Ein Horrorfilm mit Splatter, Blut und Gliedmaßen, also ein Underground-Genre-Produkt voller Tabubrüche. So fährt der Film als blinder Passagier auf dem Kultzug von Tobe Hoopers Texas-Massaker mit, er ist zugleich Parodie, Hommage und Remake. Zudem, und hier wird der Film fürs Feuilleton interessant, ist er aktuelle Satire auf den Einheitsrausch, auf überbordenden Jubel und Trubel im Wahn der Wiedervereinigung, auf die Verschlingung des Ostens durch den Westen. Und natürlich ist es ein echter Schlingensief, der Rausch und Wahn, Brüllen und Hysterie zusammenpackt als Film, ein undurchdringliches Chaos, das überhaupt nicht mehr in einer eindeutigen Weise interpretiert werden kann.

Das ist Schlingensiefs Methode: aktuelle Diskurse zusammenzupressen, mit Assoziationen, mit medialen oder geschichtlichen Bildern anzureichern, und das dann in einen Zustand permanenter Überdrehtheit zu überführen, schnell und dilettantisch hingerotzt einerseits, andererseits stilisiert und überhöht und mit großem Bewusstsein für gesellschaftliche vibrations und dafür, wie sie sich wirkungsvoll als Exzess präsentieren lassen.

Mit Mordlust und Sexperversionen zeigt Schlingensief das von allen Zwängen befreite Es – und zwar nicht nur einseitig, als Wahnsinn einer Hinterwäldlerfamilie, nein: alle sind von Irrsinn befallen, Ossis und Wessis, Männer und Frauen, Mörder und Opfer, auch die Politiker, die er in dokumentarischen Aufnahmen zu Anfang zeigt, die ganze Riege der Mächtigen mit Kohl, Weizsäcker, Brandt etc. Und diesen allseitigen Wahnsinn inszeniert Schlingensief möglichst schnell und möglichst laut. Der Film ist also auch ein Überfall auf den Zuschauer, ein Angriff aufs Publikum. Schlingensief packt die Wirklichkeit, durchmischt sie, wringt sie aus, dampft sie ein, presst sie zusammen, bis sie Kunst wird. Und haut sie dann dem Publikum um die Ohren. Brutal-Trash und Politmetapher, hysterischer Exzess und grotesk-überzogene Ambivalenz der Deutungsmöglichkeiten, dazu bissiger, böser Witz, der den ganzen Film durchzieht: Unter dem Schlagwort „Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst“ verwurstet Schlingensief in der Tat alles, was ihm unter die Finger und in den Kopf kommt; und zeigt damit, wo in dieser Gesellschaft überall Gammelfleisch rumliegt.

Nun hat die Filmgalerie 451 – die ohnehin alle Schlingensief-Filme im Programm hat – das „Deutsche Kettensägenmassaker“ neu aufgelegt, in der Premium-Edition RedLine. Darin enthalten ist nicht nur der Film, sondern auch das gesamte Interview „Christoph Schlingensief und seine Filme“, das Filmgalerie-Chef Frieder Schlaich 2002 mit Schlingensief führte. Darin berichtet Schlingensief ausführlich von seinem filmischen Schaffen, von den Anfängen mit acht Jahren bis zu „Die 120 Tagen von Bottrop“. Da Schlingensief gern lang und klug monologisiert, vermischen sich dabei Anekdoten mit Analysen, Abrechnungen mit Kritikern und Auseinandersetzungen mit der eigenen Arbeitsweise.
Außerdem enthält die Doppel-DVD Schnittreste – die aber weitgehend lediglich alternative Takes dessen sind, was schon im Hauptfilm zu sehen gewesen war – und einen bisher unveröffentlichten Kurzfilm, „My Wife in 5“ von 1985, mit fünf szenischen Fantasien über eine kleine Liebesgeschichte, unterlegt mit woanders geklauten Tönen und Musiken: als Weihnachtsgeschichte, als Bohème-Drama, als Märchen, als Sissifilm.

Eigentlich sollte die DVD zum 50. Geburtstag Schlingensiefs herauskommen; jetzt wurde sie zu seinem Requiem: Wir begehen den 20. Jahrestag der deutschen Einheit, und Schlingensief ist tot. Eine Schweigeminute allerdings ist kaum angebracht, eher lautes, irres Lachen während des „Deutschen Kettensägenmassakers“.

Kinshasa Symphony

(D 2010, Regie: Claus Wischmann, Martin Baer)

„Singen ist zweimal Beten“
von Wolfgang Nierlin

Ein Orchester, besetzt mit ausschließlich schwarzen Musikern, probt unter freiem Himmel den Gefangenenchor aus Verdis „Nabucco“. Während einer der Bratschisten damit beschäftigt ist, einen kaputten Scheinwerfer zu reparieren, schweift die …

Ein Orchester, besetzt mit ausschließlich schwarzen Musikern, probt unter freiem Himmel den Gefangenenchor aus Verdis „Nabucco“. Während einer der Bratschisten damit beschäftigt ist, einen kaputten Scheinwerfer zu reparieren, schweift die Kamera immer wieder ab, um die chaotische Geschäftigkeit der kongolesischen Metropole Kinshasa abzubilden. Der Kontrast zwischen dem ästhetischen Tun der Musiker und den mit Müll übersäten Straßen könnte kaum größer sein. Doch geht es in dem Dokumentarfilm „Kinshasa Symphony“ von Claus Wischmann und Martin Baer keinesfalls um die Darstellung einander ausschließender Welten. Vielmehr betonen die beiden Filmemacher mit ihrer Montage die Gleichzeitigkeit kultureller Phänomene und dabei vor allem das Dennoch einer musikalischen Aktivität, die in Zentralafrika vielfach Befremden auslöst und einem widrigen Alltag buchstäblich abgerungen ist.

Denn die Mitglieder des ziemlich einzigartigen, seit fünfzehn Jahren bestehenden Orchestre Symphonique Kimbanguiste sind überwiegend Amateure und Autodidakten, die tagsüber in ihren Berufen arbeiten. Müde und hungrig fehlt ihnen am Abend oftmals einfach die Konzentration, um sich auf die strapaziöse Einstudierung von Beethovens 9. Sinfonie einzulassen, auch wenn der Musik des deutschen Komponisten ein „afrikanischer Rhythmus“ bescheinigt wird. Neben der schweißtreibenden Probearbeit unter der Leitung des Dirigenten Armand Diangienda, einem Enkel des kongolesischen Religionsstifters Simon Kimbangu, dokumentieren Wischmann und Baer anhand von Einzelporträts vor allem den schwierigen Alltag der Musiker. Wie bei den Proben ist hier viel Improvisation und Durchhaltevermögen gefragt. Dabei dient die Musik auch als Vehikel, den allgegenwärtigen Nöten zu trotzen und persönliche Probleme zu vergessen.

„Singen ist zweimal Beten“, sagt einer der Musiker über diese Freude an der Musik. „Kinshasa Symphony“ erzählt gewissermaßen die entbehrungsreiche Erfolgsgeschichte dazu, kommt jedoch über die teils arrangierte, teils schwelgerische Bebilderung der Gegensätze kaum hinaus. In ausgesuchten Bildern beschwören die Regisseure immer wieder die Schönheit inmitten von Chaos und Dreck, bleiben dabei aber zu oft an der exotisch reizvollen Oberfläche haften. Das wirkt in den Wiederholungen mitunter ausgestellt, plakativ und redundant. So fehlt dem Film „Kinshasa Symphony“ über weite Strecken eine soziale, politische und auch historische Vertiefung. Was hingegen beeindruckt, sind viele Ansichten eines ungewöhnlichen musikalischen Projekts, seiner hoffungsvollen Mitwirkenden sowie die Faszination über eine fremde Mentalität; und nicht zu vergessen: ein wunderbar gejazzter Ravelscher „Bolero“.

Goethe!

(D 2010, Regie: Philipp Stölzl)

Mit „wahrer Kunst“ gegen den Schwulst der Zeit
von Wolfgang Nierlin

Dichtung und Wahrheit liegen ziemlich weit auseinander in Philipp Stölzls mit Ausrufezeichen versehenem Film „Goethe!“ über den genialischen Dichter als junger Mann. Als Idee und dramaturgisches Movens einigermaßen strapaziert, produziert …

Dichtung und Wahrheit liegen ziemlich weit auseinander in Philipp Stölzls mit Ausrufezeichen versehenem Film „Goethe!“ über den genialischen Dichter als junger Mann. Als Idee und dramaturgisches Movens einigermaßen strapaziert, produziert die daraus abgeleitete künstlerische Freiheit reinsten Kintopp. Das zeigt schon der Anfang des vergnüglichen Unterhaltungsfilms, wenn der 23-jährige Studiosus und Heißsporn mit wehenden Fahnen und wenig Sachkenntnis durch das Jura-Examen rasselt. Unter seinen Straßburger Kommilitonen heißt es deshalb von ihm, er trinke viel und rede wenig. Tolldreistes, jugendliches Ungestüm und eine mit großer, provozierender Geste vorgetragene Lebendigkeit kennzeichnen die von Alexander Fehling gespielte Figur. Die virtuose, tempogeladene Inszenierung vermittelt darüber ihre Version des Sturm und Drang. Mit Leidenschaft geht es gegen die Vernunft, mit überschwänglichem Wollen gegen die verstaubten Konventionen und mit „wahrer Kunst“ gegen den Schwulst der Zeit.

Vom strengen Herrn Vater, der das „lächerliche Geschreibsel“ des hitzköpfigen Poeten für sein Scheitern verantwortlich macht, wird der aufmüpfige Sohn daraufhin ans Reichskammergericht nach Wetzlar „strafversetzt“. Stölzl benutzt den Topos vom verkannten Genie, das seine innere Berufung gegen widrige Umstände behaupten muss, um Goethes künstlerische Erweckung als paradigmatische Erzählung ins Kinobild zu setzen. Und dazu gehört in diesem Fall die unglückliche, verzehrende Liebe zu einer Frau, die einem anderen versprochen ist. Charlotte Buff (Miriam Stein) heißt die Angebetete und Seelenverwandte aus kinderreicher Familie, die mit modernem Selbstbewusstsein auftritt und letztlich die familiäre Pflicht über die Neigung des Herzens stellt. Ihr Lieblingsdrama ist Lessings „Emilia Galotti“, während Goethe ihr mit Versen aus seinem Gedicht „Willkommen und Abschied“ seine Liebe gesteht: „Ganz war mein Herz an deiner Seite/Und jeder Atemzug für dich.“

Philipp Stölzl inszeniert das Aufkeimen und kurze Blühen dieser Liebesleidenschaft vor romantischer Kulisse und versieht ihr Scheitern wiederum mit Zügen tragischer Ironie, die bis ins Komische reichen. Das schlägt sich vor allem in der Zeichnung von Goethes Gegenspieler und Vorgesetztem, dem Gerichtsrat Kestner (Moritz Bleibtreu), nieder. Man dürfe nicht zu lange Warten beim Jagen, sagt dieser und entlarvt dabei auf ebenso unfreiwillige wie ironische Weise sein eigenes, kaum selbstverdientes Liebesglück. Goethes schicksalhaftes Liebesunglück hingegen, gespiegelt am Freitod seines Kollegen Wilhelm Jerusalem (Volker Bruch), dient dem angehenden Dichter als Modell für die Kunst und insbesondere als Vorlage und Inspirationsquelle für seinen Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“.

Philipp Stölzl beansprucht für sein turbulent-schwungvolles, völlig unverkrampftes Biopic gewissermaßen jene größtmögliche künstlerische Freiheit, die er seinem Protagonisten an prominenter Stelle in den Mund legt, um das besondere Verhältnis von Leben und Kunst auf den Punkt zu bringen: „Es ist mehr als Wahrheit, es ist Dichtung.“ So wird Charlottes Liebesverzicht schließlich zum Motor für Goethes Dichterwerdung stilisiert, während der frisch gebackene Poet, eben noch inhaftiert, bei seiner Ankunft in Frankfurt zum stürmisch gefeierten Popstar mutiert.

Kleinstatthelden

(D 2009, Regie: Marc Schaumburg)

Die Liebe ein Yes-Törtchen
von Sven Jachmann

Eine der schwerwiegendsten Erfahrungen, die man im Lebensabschnitt Adoleszenz machen kann, ist sicher, dass das Leben Fallstricke und Momente bereithält, die unkontrollierbar sind. Darin steckt das Potential für ausgemachte Krisen, …

Eine der schwerwiegendsten Erfahrungen, die man im Lebensabschnitt Adoleszenz machen kann, ist sicher, dass das Leben Fallstricke und Momente bereithält, die unkontrollierbar sind. Darin steckt das Potential für ausgemachte Krisen, weil Träume und Ziele sich letztlich nur im Kompromiss oder überhaupt nicht mehr realisieren lassen. Darauf kann man reagieren: mit Ignoranz, Weltflucht, Eskapismus und Exzess, mit Süchten, Zynismus, Selbstekel oder Leugnen. Diese Modelle sind allesamt in „Kleinstatthelden“ vertreten. Aber nicht eines davon ist ausgereift genug, als dass es dem Film zu seiner penetranten Absicht, melancholisches und zugleich komödiantisches Generationenportrait der entscheidungsgeplagten Mittzwanziger zu sein, Beistand leisten könnte. Er beginnt und endet im Vollsuff. Dazwischen gibt es eine Katharsis, und deswegen wandelt sich der anfängliche Alkoholrausch schließlich in glückliche Liebestrunkenheit. Dazwischen wiederum gibt es die domestizierte Illusion des nicht gelebten Lebens zu sehen, die sich jedoch, so wird sich zeigen, ziemlich leicht unter Kontrolle bringen lässt.

Den roten Faden bildet Janosch (Jonas Baeck), ein erfolgloser Musiker Anfang 20, den es zurück in seine Heimatstadt Lüdenscheid verschlägt. Die Exposition markiert seine Sinneskrise. Als er, von der schwer und allein durchzechten Nacht nach einem, so scheint es, erfolglosen Auftritt sichtbar gezeichnet, am nächsten Morgen in seinem Bulli von der lebensfrohen Lina (Nadine Salomon), seiner vergessenen Mitfahrgelegenheit nach Lüdenscheid, geweckt wird, braucht es nur wenige Minuten, bis eine Faszination zwischen den beiden behauptet wird. Die bricht allerdings nach einem Streit während einer Autopanne jäh ab. Der Duktus ist betont heiter: Setzen sich beide von den Strapazen entnervt vor das Auto, fallen Sekunden später Stoßstange und Radkappe ab. Tritt Lina wutentbrannt die Fahrertür zu, um sich zum Trampen abzusetzen, wird sie vom Gewicht ihres Rucksacks armerudernd zu Boden gerissen. Aber die Komödie soll eine tragische sein. Nach Linas Verschwinden singt Janosch mit der Akustikgitarre „You’re in the Army now“, bis das befreundete Paar Dirk (Felix Meyer) und Tanja (Tabea Tarbiat) als Abschleppdienst eintrifft. Ein frohes Wiedersehen, Anstoßen mit Bier, Fragen, was so in den Jahren passiert ist. Janosch lügt, dass ihn der Oasis-Produzent entdeckt habe. Es folgt ungläubiges Schweigen, aber umgekehrt ist der Befund auch nicht besser. Dirk echauffiert sich über einen einstigen Kifferfreund, der nun nur noch mit der Freundin spazieren geht. Prompt folgt die unwirsch abgewiegelte Reaktion Tanjas, selbiges auch des Öfteren zu vermissen. Wir lernen, hier hadern die Charaktere mit ihren uneingestandenen Lebenslügen. Klischees werden nicht umschifft, sondern zum Programm erkoren: Das Ensemble wird u.a. ergänzt von Markus (Philipp Milbrandt), einen lethargischen Kiffer im Trainingsanzug, der pfundweise Schokolade futtert und deswegen in irrsinnigen Gesprächen seine rege Verdauung erklären muss; ebenso von Janoschs Eltern, deren Ehe bedrohlich wankt, weil sie sich füreinander, gefangen in ihrem spätbürgerlich Habitus, nicht interessieren. Beides, Eheprobleme und Bürgertum, erkennt man beispielsweise daran, dass sie sogar nach einem Familienstreit die Stühle ordentlich an den Esszimmertisch rücken. Nach dem Krach im Elternhaus trifft sich Janosch mit allen alten Freunden am Badesee. Auch Lina wird wieder darunter sein.

Dass sich der Film für die Nöte seiner Figuren nur insoweit interessiert, als er sie zu Platzhaltern des irgendwie nötigen Dramas eindampft, evoziert bereits der abstruse (im Spiel meist durch heilloses overacting gelöste) Wechsel zwischen Zote und Ängsten. Erst werden auf der Strandparty traumatische Entjungferungserfahrungen offenbart und im direkten Anschluss durch die wüste Zugabe eines Cunnilingus-Erlebnisses, bei dem eine versehentlich herausgepresste Kackwurst die zentrale Rolle spielt, desavouiert. Tragik und drastischer Humor liegen schließlich dicht beieinander, lautet wohl die brachial runtergebrochene Lehre aus der Schule Kevin Smiths. Dafür opfert Regisseur Schaumburg jede Empathie, gleichfalls auch jeden Widerspruch. Die Figuren bleiben Typen oder sidekicks, sollen aber trotzdem als Flickwerk im Panoptikum der schwierigen Identitätssuche fungieren. Einzig Janosch und Lina erhalten so etwas wie rudimentäre Konturen – nämlich dass Janosch unverschuldet bei einem Autounfall einen siebenjährigen Jungen tötete und Lina in ihr stets bei sich geführtes Notizbuch romantische Geschichten schreibt. Eine trägt sie Janosch im Kino vor, in welches die zwei nachts einbrechen. Darin ersehnt sie ein Yes-Törtchen als ultimativen Liebesbeweis.

Danach folgt der Eklat, aus dem eine Moral destilliert wird, so zuckersüß wie ein ‚Liebe ist …-Kalender‘. Alle Paare, auch die Eltern, verkrachen sich in der Nacht der Entscheidungen, werden aber, bis auf die Eltern, wieder zusammenfinden; den jungen Leuten bleibt die Chance, so zeigt es eine Parallelmontage, die Fehler der alten Generation zu umgehen. Alle eingestandenen und nicht eingestandenen existenziellen Krisen gerinnen zum Surrogat falscher, geleugneter oder vernachlässigter Liebe. Am deutlichsten bei Janosch, dem ein alter Mann mit der mahnenden Geschichte seiner seit 40 Jahren verlorenen Liebe auf einer Bahnhofsbank endlich die Augen öffnet. Beseelt rennt er mit einem Yes-Törtchen über die Lüdenscheider Straßen, während Lina verträumt in ihrem Notizbuch vermerkt: Die Liebe ist wie ein Netz, in dem sich Herzen verfangen wie Fische. Ironisch ist daran leider nichts. Jenes hohe Lied der Liebe, in der jedes Unrecht, jede Bitterkeit und alle Tragik eingeschmolzen sind, wenn sich denn bloß redlich um sie bemüht wird, verbreitet hier seine falschen Strophen und strickt noch aus dem Scheitern an der eigenen Existenz ein Gewebe des Begehrens, weil es das Scheitern lediglich als selbstverschuldet verstanden wissen will. Alles andere würde sich bei einem Film, der nach den Mechanismen der entleerten Liebe sucht, nur in viel zu komplizierte, ziemlich harmoniefreie Widersprüche verzetteln. Besser, es bleibt eine Frage der richtigen Einstellung.

Gainsbourg – Der Mann, der die Frauen liebte

(F / USA 2009, Regie: Joann Sfar)

Treibgut der Liebe
von Wolfgang Nierlin

Gerahmt wird der Film „Gainsbourg“ von zwei bekenntnishaften Leitsätzen seines Regisseurs Joann Sfar, der in Frankreich ein bekannter Comic-Autor ist. „Gainsbourg übertrifft die Realität. Seine Lügen sind mir wichtiger als …

Gerahmt wird der Film „Gainsbourg“ von zwei bekenntnishaften Leitsätzen seines Regisseurs Joann Sfar, der in Frankreich ein bekannter Comic-Autor ist. „Gainsbourg übertrifft die Realität. Seine Lügen sind mir wichtiger als seine Wahrheiten“, heißt es zu Beginn des Abspanns, was wie eine nachgeschobene Rechtfertigung des ästhetischen Verfahrens anmutet. Doch schon am Anfang des Films erklärt Sfar, im Folgenden „eine Geschichte“ (un conte) zu erzählen, also vielleicht sogar ein Märchen. Und wie zur Bekräftigung seines filmischen Konzepts lässt er gleich im gezeichneten Vorspann seinen Titelhelden mit rauchenden Fischen durchs Meer tauchen, nur um ihn später im Pariser Nachtleben wieder auftauchen zu lassen. Bald darauf gesellt sich ein animiertes Über-Ich an seine Seite, das als „Große Fresse“ apostrophiert wird und ihn in schwierigen Entscheidungen antreibt. Joann Sfars sehr subjektives Biopic über den berühmten Chansonnier und Bohemien entfaltet sich zwischen Phantasie und Wirklichkeit, in überladenen Dekors und im künstlichen Spiel mit Zitaten.

Das bewirkt eine gewisse Distanz und Abstraktion, die in Spannung gesetzt ist zu Serge Gainsbourgs amouröser Biographie. Diese spannt einen Bilderbogen der Liebe, auf dessen Seiten so prominente Künstlerinnen wie Juliette Gréco, Brigitte Bardot und Jane Birkin auftreten, die den sensiblen Charmeur, der die Malerei zugunsten der Musik aufgibt, zur Kunst verführen. Als Musen inspirieren sie seine Lieder, als Liebhaberinnen stillen sie seine übergroße Liebesbedürftigkeit. Diese zieht sich leitmotivisch durch den Film und grundiert bereits Lucien Ginsburgs jüdische Kindheit in Paris während der deutschen Okkupation. Verstärkt wird seine Verletzlichkeit durch sein Aussehen und durch häuslichen Ärger, den er jedoch mit offenem Widerstand gegenüber dem Vater pariert. Selbstbewusst und mit einem Anflug von Genialität reift der kettenrauchende, zudem trinkende Gainsbourg zum kalkulierten Provokateur, zum großen Frauenverführer und schließlich zur tragischen Figur.

Deren wiederholte Fluchten vor sich selbst und vor der ersehnten Liebe führen immer wieder zu selbstzerstörerischen Abstürzen, die letztlich ungreifbar bleiben. So erscheint Gainsbourg als eine Art Treibgut der Liebe, das ohne Richtung und Ziel an unmarkierten Stellen strandet. „Das Leben ist ein Zufall, der den Bestimmungen zuwider läuft“, sagt der Sänger-Poet einmal im Film. Joann Sfar hat diese Maxime seiner ersten Regie-Arbeit anverwandelt.

Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt

(USA 2010, Regie: Edgar Wright)

Wow, wow und wow!
von Ulrich Kriest

Übrigens, Jason Schwartzman, dessen sanfte Melancholie in „Darjeeling Unlimited“ in Erinnerung blieb, dessen lässige Stimme „Der fantastische Mr. Fox“ bereicherte, hat eine Band mit dem originellen Namen Coconut Records. Wobei, …

Übrigens, Jason Schwartzman, dessen sanfte Melancholie in „Darjeeling Unlimited“ in Erinnerung blieb, dessen lässige Stimme „Der fantastische Mr. Fox“ bereicherte, hat eine Band mit dem originellen Namen Coconut Records. Wobei, Band ist vielleicht übertrieben, denn Coconut Records ist ein echtes Soloprojekt. Zwei Alben und eine Handvoll weitere Songs haben Coconut Records bislang eingespielt, darunter ein paar echte Perlen wie „West Coast“. Warum ich das erzähle? Weil Jason Schwartzman in „Scott Pilgrim gegen die Welt“ gewissermaßen den Gipfel der Opulenz darstellt: als Gideon Graves aka G-Man fungiert er als Zielgrade, als Level 7 eines Karneval der Liebe. Und dass die Produzenten von „Scott Pilgrim“ hierfür Jason Schwartzman besetzen, zeugt von einer Kennerschaft in Sachen Pop, die den gesamten Film auszeichnet und weit über die Masse des üblichen Entertainment erhebt.

Tatsächlich ist dieser Film, basierend auf der originellen Comic-Vorlage von Bryan Lee O’Malley, der Pop-Film des Jahres! Es ist der Film, der Christopher Nolans Angeber-Film „Inception“ tatsächlich schon jetzt ziemlich alt aussehen lässt. „Scott Pilgrim“ weiß einen Kult-Comic über Pop-Musik, Computerspiele, Nerd-Kultur und große Liebe derart in Laufbilder zu übersetzen, dass man für fast zwei Stunden hingerissen glaubt, das Kino habe wenn schon keine Zukunft so doch zumindest eine Gegenwart im emphatischen Sinne, nämlich als Kunstform, die unterschiedlichste Medien-Realitäten souverän zu synthetisieren versteht. Suchte man verzweifelt ein Haar in der Suppe, wäre dies allein die Tatsache, dass Ramona Flowers vielleicht ein, zwei teuflische Ex-Lover zu viel hat. Doch dazu später! Filmemacher Edgar Wright, dem wir dies Feuerwerk an Ideen zu verdanken haben, fiel bislang durch Genre-Parodien wie „Shaun of the Dead“ und „Hot Fuzz“ auf. Hier allerdings wird nicht länger parodiert, sondern auf Augenhöhe schwungvoll und ideenreich mit der Comic-Vorlage gearbeitet – und zwar durchaus auch im bewussten Rückgriff auf die Pop-Heroen Frank Tashlin und Richard Lester.

Worum geht es? Scott Pilgrim, gespielt von Michael Cera („Superbad“, „Juno“) ist ein Slacker mit Anorak und hübscher Slacker-Frisur. Er hat keinen Job, ist Bassist der wenig erfolgreichen Indie-Band mit dem schön daher gestotterten Namen Sex Bob-omb, hat mit Knives Chau recht uncool eine viel zu junge Freundin, die aber sowohl Sex Bob-omb als auch deren Bassisten für das Coolste der Welt hält. Scott hat aktuell nicht einmal eine eigene Wohnung, geschweige denn ein eigenes Bett, weshalb er im Wortsinne unter die Decke seines besten schwulen Freundes Wallace Wells schlüpfen muss. Der ist nicht nur ein Ironiker vor dem Herrn, sondern zudem ein Genie darin, Scotts Schwester Stacy über dessen Leben in Echtzeit zu informieren. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Sex Bob-omb nehmen an einem Band-Wettbewerb teil, dessen Sieger eine Begegnung mit dem Superproduzenten G-Man winkt. Gleichzeitig träumt Scott von einem Mädchen mit eigenwilliger Frisur und lernt auf einer Party Ramona Flowers (zum Verlieben: Mary Elisabeth Wiinstead) kennen, die das Mädchen seiner Träume ist. Wenn Scott Ramona »haben« will, muss es der Schlaks mit ihren sieben teuflischen Ex-Lovern aufnehmen. In der Herzensnot verwandelt sich der Nerd in einen Martial Arts-Actionhelden. Jeder Ex-Lover ist ein neues Spiel, ein neues Level auf dem Weg zu Ramonas Herz. Tatsächlich handelt es sich bei „Scott Pilgrim“ um eine romantische Komödie, allerdings konsequent erzählt aus der Perspektive eines Helden, der mit Comics, Pop-Musik, Fernsehen und Computerspielen sozialisiert wurde und erzählt für Zuschauer, die dies mit dem Helden teilen. Am Set, so steht zu lesen, kursierte das Wort von „Hughes Fu“, um den Stilwillen des Films auf den Punkt zu bringen: Man kombiniere die Coming of Age-Klassiker eines John Hughes („Ferris macht blau“) mit den Kampfszenen aus „Kung-Fu“. Das trifft es aber nur partiell, weil die Figuren, abgesehen von Knives Chau, älter sind als das übliche Hughes-Personal. Vielleicht sollte man hier an Joachim Triers „Auf Anfang: Reprise“ erinnern? Symbolisches wird hier wortwörtlich visualisiert. Gleitet Ramona durch die Straßen, schmilzt der Schnee unter ihrem Board. Herzen fliegen durch die Luft. Computerspiel-Historie von Pacman bis Super Mario gibt es gratis dazu – aufpassen! Das fängt schon extrem früh im Film an!

Die Idee, dass man sich als Frischverliebter mit ihren Erinnerungen an ihre Ex-Lover messen lassen muss, ist gar nicht so verquer. Und die Erzählhaltung, so Edgar Wright, soll dem Auftrumpfen und Übertreiben der Altersgruppe entsprechen. Leuchtet ein. So verwandeln sich Action-Sequenzen unvermittelt in Musical-Szenen mit eingeblendeten Lachern wie bei einer Sitcom. Geräusche schwirren als Worte durch das Filmbild, das gerne in mehrere Split-Screens aufgeteilt wird. Das Tempo stimmt, die Dialoge sind vorzüglich gearbeitet – und die Filmmusik trumpft sehr geschmackvoll und insiderhaft mit einem Mix von Dan the Automator über Broken Social Scene und The Flying Burrito Brothers bis hin zu T. Rex („Whatever happened to the Teenage Dream“) und Holy Fuck auf. So haben wir es hier mit dem schönsten und frischesten Pop-Liebesfilm seit „Vergiss mein nicht“ von Michel Gondry zu tun. Und der ist immerhin auch schon wieder sechs Jahre alt.

Ondine – Das Mädchen aus dem Meer

(IRL 2009, Regie: Neil Jordan)

Once Upon a Time in Contemporary Ireland …
von Harald Steinwender

Es war einmal ein Fischersmann, der fuhr jeden Tag aufs Meer hinaus. Er war ein stiller, einsamer Mann, der sich allein und auf See am wohlsten fühlte. Als er eines …

Es war einmal ein Fischersmann, der fuhr jeden Tag aufs Meer hinaus. Er war ein stiller, einsamer Mann, der sich allein und auf See am wohlsten fühlte. Als er eines Tages sein Netz einholte, da fand er dort statt einem Fisch eine junge, bildschöne Frau. Sein Fang hatte keinen Namen und keine Erinnerung an sein früheres Leben und so wählten sie gemeinsam den Namen Ondine. Und da die Frau, die aus dem Meer kam, scheu war, scheuer noch als der Fischersmann, und andere Menschen fürchtete, blieb sie bei dem Fischer, der schnell Gefallen an ihr fand. Bald nahm er die Frau aus dem Meer mit auf See und wenn sie für ihn in ihrer fremden Sprache sang, dann blieben seine Netze nicht mehr leer, sondern waren mit Hummer und Lachsen gefüllt. Bald wollte der Fischersmann seine neue Begleiterin nicht mehr missen und auch seine Tochter, die an einer schrecklichen Krankheit litt, gewann die Frau aus dem Meer lieb. Doch die Frau aus dem Meer war keine Meerjungfrau, sondern eine ganz normale Frau mit einer nicht ganz normalen Vergangenheit. Und so kam es, dass eines Tages ein Mann ganz in Schwarz aus einem fernen Land tief im Osten Europas in das kleine Fischerdorf kam, um die Frau aus dem Meer zu suchen. Und nun musste unser Fischer all seinen Mut zusammennehmen, um die Dämonen der Vergangenheit zu besiegen, seine Tochter zu heilen und seine neue Familie zu beschützen. Und als der Fischer und seine neue Frau handelten, da besudelten sie ihre Hände mit Blut. Denn mit jeder guten Fügung kam auch ein Schicksalsschlag über sie.

Neil Jordan ist kein Regisseur der eindeutigen Genrezuordungen. Schon „Angel“ („Straße der Angst“), sein Regiedebüt von 1982, war eine wüste Mischung aus Thriller, Melodram und Selbstjustizfilm. „The Company of Wolves“ („Die Zeit der Wölfe“), Jordans zwei Jahre darauf entstandenes Meisterwerk, bündelte eine Auswahl der feministischen Märchenerzählungen der britischen Schriftstellerin Angela Carter, kreuzte sie mit dem Horrorfilm und rahmte alles durch den erotisierten Fiebertraum eines pubertierenden Mädchens. Auch „The Crying Game“ (1992), Jordans größter kommerzieller Erfolg neben „Interview with the Vampire“ (1994) changierte zwischen Politthriller, Liebesfilm und Melodram, nicht ohne einen Gendertwist in der Mitte des Films unterzubringen, der vielen Zuschauern den Boden unter den Füßen wegzog.

Auch mit seinem neuesten Werk, dem 16. Spielfilm in 28 höchst produktiven Jahren, verweigert sich Jordan jeder Eingrenzung durch Genreregeln. Der komplett in Irland, u.a. auf Bere Island an der Westküste des County Cork gedrehte Film beginnt als märchenhafter Liebesfilm mit mythologischen Bezügen – von Meerjungfrauen, Nixen, Nymphen und Selkies bis zu Monstren aus Rumänien reicht die Motivkette. Auch die Namen der Protagonisten sind „sprechende Namen“: Ondine (Alicja Bachleda-Curuś) erweist sich als eine (heilige?) Johanna, unser Fischer Syracuse (Colin Farrell) firmiert im Dorf als „Circus, the Clown“. Und nach der halben Laufzeit wechselt Jordan schleichend die Tonlage, hin zum Thriller, um dann unerwartet mit einer märchenhaften Volte zu schließen.

Christopher Doyle, der höchst begabte Kameramann von Wong Kar-wei, taucht den Film in kalte Grün- und Blautöne, benetzt mit fahlblauem Licht Nebel und Dunst, ganz so, als ob die Geschichte der falschen Ondine und ihres Fischersmann sich unter Wasser abspielt. Auch Colin Farrell gibt sich redlich Mühe, den traurigen Syracuse glaubhaft zu verkörpern – mit Schlabberklamotten, Dreitagebart, langen, fettigen Haaren und reichlich Mut zur Verwahrlosung. Aber es sind die nur wenig bekannten weiblichen Darstellerinnen, die diesen Film tragen: Die 11-jährige Debütantin Alison Barry als Syracuses an den Rollstuhl gefesselte Tochter, und insbesondere die mit Farrell seit 2009 verheiratete polnische Schauspielerin Alicja Bachleda-Curuś, die mit Anmut und Natürlichkeit überzeugt. Stephen Rea, Jordans Stammschauspieler seit seinem ersten Film, ist ebenfalls bezaubernd als gequälter Dorfpriester, der mangels Alternativen als Publikum für Syracuses wöchentliche Anonyme-Alkoholiker-Treffen herhalten muss, dessen spiritueller Rat jedoch nie gefragt ist.

Woran liegt es dann, dass „Ondine“ letztlich doch ein wenig enttäuscht? Vielleicht daran, dass Jordan sich zu sehr bemüht, einen auch für eine breites Publikum kompatiblen Film zu inszenieren, indem er die durchaus vorhandenen Ecken und Kanten des Stoffs abschmirgelt. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: ein schlechter Film ist „Ondine“ gewiss nicht, eigentlich sogar ein ziemlich guter. Aber gemessen an Jordans besten Filmen – „The Company of Wolves“, „The Crying Game“, „The End of the Affair“ („Das Ende einer Affäre“; 1999) – ist er doch nur gutes Mittelmaß. Was doppelt schade ist, da der Writer/Director/Producer Jordan nach dem unsäglich reaktionären „The Brave One“ („Die Fremde in Dir“; 2007) endlich wieder bei einer Produktion alle Fäden selbst in der Hand hielt. Aber zum Herbstanfang ist „Ondine“ gewiss ein Film, der sich bestens für einen verregneten Kinoabend eignet.

Guru – Bhagwan, his secretary & his bodyguard

(CH 2010, Regie: Sabine Gisiger, Beat Häner)

Schatten im Paradies des freien, wilden Lebens
von Wolfgang Nierlin

Die Faszination und einstige Bewunderung der beiden Schüler für ihren früheren Lehrer Bhagwan Shree Rajneesh ist noch immer spürbar. Der Schotte Hugh Milne und die Inderin Sheela Birnstiel folgen Anfang …

Die Faszination und einstige Bewunderung der beiden Schüler für ihren früheren Lehrer Bhagwan Shree Rajneesh ist noch immer spürbar. Der Schotte Hugh Milne und die Inderin Sheela Birnstiel folgen Anfang der 1970er Jahre dem Ruf und der Verführungskraft des „Göttlichen“ in seinen Ashram nach Poona, wo sich ab 1974 die berühmte Bhagwan-Kommune entwickelt. Während Milne in dem charismatischen Guru und Philosophieprofessor einen spirituellen Ersatzvater findet, ist die 21-jährige Sheela von einer tiefen Liebe zu dem legendären Meister erfüllt, dessen Ausstrahlung und Menschenkenntnis überwältigend gewesen sein müssen. Mit seiner Abwehr des Materialismus und seiner Betonung des inneren, spirituellen Lebens habe er der Welt ein Beispiel gegeben, sagt Sheela und beschreibt die Kommune als ein Paradies des freien, wilden Lebens. Sie sei zur richtigen Zeit und mit den richtigen Menschen am richtigen Ort gewesen. Und Hugh Milne spricht gar von einem „ekstatischen Gefühl des Heimkommens“.

In Sabine Gisigers und Beat Häners beeindruckendem Dokumentarfilm „Guru – Bhagwan, his secretary & his bodyguard“, der sein exklusives Material konzentriert und genau präsentiert, sind die beiden ehemaligen Bhagwan-Jünger Kronzeugen der religiösen Bewegung. Während Milne bald zum Leibwächter des Sektenführers wird, avanciert Birnstiel allmählich zu dessen persönlicher Sekretärin. Quasi im Zentrum der Macht werden sie Zeugen vom Aufblühen und Scheitern einer Utopie. Auf der Suche nach ihrer wahren Identität erleben sie zunächst die beglückende, bewusstseinserweiternde Erfahrung einer befreiten Sexualität und die Liebe zu einem geheiligten Leben. Doch nach der Übersiedlung und Neugründung der Kommune auf der „Big Muddy Ranch“ im US-Bundesstaat Oregon, wo Anfang der achtziger Jahre das Neo-Sannyasin-Zentrum Rajneeshpuram entsteht, erfahren sie zugleich die allmähliche Pervertierung ihrer Ideale in einem System, das zunehmend totalitäre Züge annimmt und schließlich auseinander bricht.

Geschickt verschränken die beiden Schweizer Dokumentaristen in ihrem Film die Aussagen und Perspektiven der titelgebenden Interviewpartner mit seltenen historischen Filmaufnahmen. Im Spiegel ihrer persönlichen Lebensberichte entsteht so zugleich das Porträt einer spirituellen Bewegung und ihres Meisters. Dabei wird zum einen der experimentierfreudige Erfahrungshunger einer Generation spürbar, die sich tantrischem Sex und kollektiven Ekstasen hingab; zum anderen untersuchen Gisiger und Häner aber auch die Gründe für das Scheitern einer utopischen Lebensgemeinschaft, die in einer Art gruppendynamischem Prozess fast zwangsläufig hierarchische Strukturen ausbildete und schließlich an inneren Machtkämpfen zugrunde ging.

Swastika

(GB 1973, Regie: Philippe Mora)

Kein Knopp zum Abschalten
von Andreas Thomas

Adolf Hitler hätte diesen Film gemocht, wenigstens zu 98 Prozent. Denn in 98 Prozent des Films spielt er die unbestrittene Hauptrolle. Die „Swastika“ (Sanskrit: „Das Heilbringende“), das titelgebende Hakenkreuz, aber …

Adolf Hitler hätte diesen Film gemocht, wenigstens zu 98 Prozent. Denn in 98 Prozent des Films spielt er die unbestrittene Hauptrolle. Die „Swastika“ (Sanskrit: „Das Heilbringende“), das titelgebende Hakenkreuz, aber ist noch häufiger zu sehen als er. Zuerst als Schlüssel zur wahren deutschen Heimat: Tanzend, kreiselnd, schwankend, grünlich schimmernd fliegt es heran, mit Wagnerklängen, durch einen Spielzeugsternenhimmel und wir fliegen durch es hindurch, hinab in die schöne Welt des 1000jährigen Reiches, was des Heiles voll ist und keine Not mehr kennt, seit ein Freund und Führer sich seiner angenommen hat.

Welch Paradies eines einigen deutschen Vaterlandes es doch gab, ein Miteinander ordentlicher, tüchtiger, gesunder Deutscher unter dem allgegenwärtigen Hakenkreuz, ganz gleich, ob es Arbeiter oder Landmänner, Schmiede oder Dichter oder Bildhauer oder Denker oder Soldaten oder Mädels oder Mütter waren, alle lebten in Eintracht, der Film mit Originalaufnahmen belegt es, in Eintracht miteinander in den schönen historischen und den quirligen großen Städten auf dem Weg in eine neue Zeit, so wie auch auf dem fruchtbaren und schönen Land, beseelt von nur einem Wunsch: Deutschland mit Fleiß und Disziplin zu dienen, was hieß, dem einzigen zu dienen, der Deutschland aus dem Sumpf heraus geholt hat.

Ein glückliches Deutschland zeigt der Film „Swastika“, ein Deutschland, dessen Welt heil ist, ein Land, in dem jeder seinen Platz und seine Bestimmung hat, ein Land, das, wenn es sich seiner Tugenden besinnt, es zu Größe und Wohlstand bringen kann. Das Glückszentrum des Landes ist – Beethovens Neunte, dirigiert von Furtwängler, bebildert mit Szenen erregter Menschenmassen belegt es – der Eine, der je näher er kommt, immer wogendere Stürme von Begeisterung entfacht. Die steif gereckten Arme fängt er auf, angewinkelten Arms, ein Orgasmusspender für Zehntausende, in seinem Gesicht das reine, gerührte Strahlen eines Kindes!

Der Skandal, den der Film „Swastika“ 1973 bei den Filmfestspielen in Cannes auslöste und der den Abbruch der Vorführung zur Folge hatte, rührte, so wurde später gemutmaßt, vor allem von den erst kurz davor entdeckten privat gedrehten, stummen Farbfilmaufnahmen auf dem Obersalzberg her, in denen man Hitler mit Eva Braun sowie hochrangigen Politikern und ihren Frauen und Kindern beim Kaffeetrinken und Plaudern auf der Terrasse mit Alpenpanorama nebst den Hunden Stasi und Blondie begutachten konnte und die nachträglich mit Hilfe von Lippenlesern synchronisiert worden waren. Szenen mit einem eher profanen, ungelenken Hitler, die vom Mythos eines bösen, dämonischen Führers nicht mehr viel übrig lassen.

Der Skandal von „Swastika“ aber liegt eher in der Tatsache, dass zwischen den, durch die Regisseure Philippe Mora und Lutz Becker kreativ verdichteten und überhöhten, Propagandafilmen mit ihrem inszeniert charismatischen Hitler (denn aus Wochenschauen und Nazipropaganda-Filmen ist der überwiegende Teil des Films zusammengesetzt) und dem kleinbürgerlichen Idyll des „Führers daheim“ kein wirklicher Bruch markiert ist, sondern dass der Film (ganz im Geiste seiner Vor-Bilder) die Geschichte des Dritten Reiches mit der Privatfigur Hitler „gleichschaltet“; und das auf eine denkbar naive Weise. Scheint am Obersalzberg die Sonne, paradiert die Große Deutsche Kunstausstellung mit ihrem Kitsch und Pomp durch die Straßen Münchens, ziehen Gewitterwolken über den Bergen auf, muss es leider Krieg geben … Das Dritte Reich als Schicksal des Führers, der Führer als Schicksal Deutschlands.

Eine Zumutung ist der Film vermutlich erst deshalb, weil er den Geist der Nazi-Propaganda affirmativ fortschreibt und in seinem Rausch und Fanatismus auf die Spitze führt, nicht nur ohne jeden kritischen und distanzierenden Kommentar, sondern, im Gegenteil, mit allen Mitteln der dramatischen Steigerung durch Bild- und Toncollagen. „Swastika“ lässt uns ganz allein mit Hitler und seiner Ideologie. Mehr noch, er benutzt die mediale Erfahrung und das filmtechnische Instrumentarium der Nachkriegsjahre, um das Ganze zu verstärken. Kein Guido Knopp erklärt uns, wie die Bilder lügen. 93 Minuten lang müssen wir uns dem „Faszinosum“ des deutschen Faschismus entgegen stemmen. (Allein der Gebrauch dieses Worts in Bezug auf das „3. Reich“ hat mal einem Bundestagspräsidenten den Job gekostet.) Das strengt an, wenn man nicht spüren will, dass auch man selbst hätte empfänglich dafür sein können.

Das Verfahren der Aneignung und der Aufblähung dieses reinen Nazidrecks, der aus dem kitschigen Klischee der Idylle von Heimat und Volk heraus (unentnazifiziert weiter geführt in den Heimatfilmen der 50er Jahre) die Mobilmachung (zunächst gegen die Juden im Land mit ihren „parasitären Absichten“, daraus folgend: Kristallnacht etc., dann gegen den Rest der Welt, von wo aus sie gegen „uns“ vorgehen) folgert, dieses Verfahren der naiven Verstärkung der Original-Ästhetik ist vielleicht das tauglichste, wenn es darum geht, die innere Logik ihrer Manipulation zu begreifen und zu untersuchen, nicht nur welchem Druck sondern auch welchem Sog die Deutschen der dreißiger und vierziger Jahre ausgesetzt waren.

Die Verführungskunst der Nazipropaganda erscheint uns als unheimlich, vielleicht ausgerechnet deshalb, weil wir sie zu wenig kennen, weil eine offene, unzensierte Auseinandersetzung mit ihr bis heute erschwert wird: Z.B. darf der Film „Jud Süss“ nur in Ausnahmefällen und unter bestimmten Auflagen aufgeführt werden, gerade so, als sei die darin transportierte Ideologie immer noch zu stark und verführerisch für den demokratisch sozialisierten Nachkriegsmenschen.

Ein Film wie „Swastika“, der (sicherlich aus ähnlichen Gründen wie „Jud Süss“) 37 Jahre lang geächtet und ignoriert wurde, kann als ähnlich wertvoll eingeschätzt werden wie Claude Lanzmanns „Shoah“, denn wo letzterer (der Film wird übrigens auch oft genug selbst von Juden gemieden, da er selbst geschaffene, idealisierende Mythen untergräbt) das Berichten über die Judenvernichtung der ungefilterten Zeugenschaft weniger überlebender Opfer überlässt, überlässt „Swastika“-Regisseur Philippe Mora uns ohne Anleitung das potenzierte Gedanken- und Gefühlsfutter der Verbrecher für das Volk der „willigen Vollstrecker“. Mit beiden Filmen müssen wir alleine umgehen, sie gehören zu wenigen zu dieser Thematik, die sich bewusst an mündige Menschen richten.

Kennzeichen Kohl

(D 2009, Regie: Jean Boué )

Privates Glück mit Fahnenstange
von Wolfgang Nierlin

„Wenn Helmut Kohl uns die Einheit gebracht hat, was hat dann die Einheit Helmut Kohl gebracht?“, lautet die leicht kryptische Frage, die neben anderen Jean Boués Dokumentarfilm „Kennzeichen Kohl“ zugrunde …

„Wenn Helmut Kohl uns die Einheit gebracht hat, was hat dann die Einheit Helmut Kohl gebracht?“, lautet die leicht kryptische Frage, die neben anderen Jean Boués Dokumentarfilm „Kennzeichen Kohl“ zugrunde liegt. Stellvertretend für die bundesrepublikanische Befindlichkeit zwanzig Jahre nach der Wende, porträtiert der Filmemacher fünf Namensvetter des Altbundeskanzlers aus Ost und West. Entlang ihrer individuellen Biographien, in denen politische und gesellschaftliche Umbrüche markante Einschnitte bilden, entsteht dabei nicht nur eine deutsche Mentalitätsgeschichte, sondern auch ein soziales Bild und Psychogramm persönlicher Glücksvorstellungen. Erstaunlicherweise ist dieses trotz vieler Begrenzungen und Widrigkeiten von einer hohen Zufriedenheit gekennzeichnet.

Heimat und Familie, berufliche Sicherheit und Hobbys spielen dabei eine wesentliche Rolle. Vor allem der aus Oberschlesien stammende Helmut Kohl, der es nicht leiden konnte, von den Polen „Kol“ genannt zu werden, ist stolz auf seine deutsche Identität. Seit dem Dezember 1989 wohnt er mit seiner Frau am Jellinekplatz auf dem Heidelberger Emmertsgrund. Angekommen ohne Habe, hat sich das ebenso strebsame wie genügsame Paar nach und nach sein kleines Glück erwirtschaftet, zu dem auch ein Mercedes gehört sowie ein Gartenhäuschen mit Fahnenstange, an der Kohl die deutsche Flagge hisst. Dagegen scheinen bei seinen Namensvettern in Sachsen die Veränderungen nach dem Systemwechsel weniger bruchlos: Während Helmut Kohl aus Wolfen dem allmählichen Verschwinden seiner als Heimat empfundenen Plattenbausiedlung nachtrauert, sagt der Gastwirt aus der Friedrich-Engels-Straße in Crimmitschau: „Bis zur Wende lief es sehr gut, danach nur noch gut.“

So verdichtet Jean Boué den subjektiven Blick und die persönlichen Auskünfte der Porträtierten in einer durchgehenden Parallelmontage zu einer Art Deutschlandbild. Daneben ist sein aufschlussreicher Film aber auch das intime Dokument eines „Deutschland privat“, seiner kulturellen Eigenheiten und deren Ausprägungen im normalen Alltagsleben. Jenseits politischer Zeitläufte ist es vor allem das private Glück in der Familie, das die durchgängige Lebenszufriedenheit der Porträtierten ausmacht. Nur einmal, beim rheinland-pfälzischen Helmut Kohl aus dem kleinen Dorf Lorscheid, mischen sich leise Zweifel und ein Hauch von Desillusionierung in die gepflegte Ordnung, deren Routine der arbeitsame Familienvater oft als zu oberflächlich empfindet. Intensiver zu leben, nehme er sich immer wieder zum Jahreswechsel vor. Doch ebenso regelmäßig würden diese guten Vorsätze vom Alltagstrott einkassiert.

Der Eissturm

(USA 1997, Regie: Ang Lee)

Die emotionale Vergletscherung in der amerikanischen Vorstadt
von Malte Krüger

Wenn ein zerstörerischer Eissturm das Herz eines 15-jährigen Bügersohns erwärmt, dann stimmt etwas nicht. Der taiwanische Regisseur Ang Lee zeigt in seinem bewegenden Familiendrama „Der Eissturm“, woran das liegt: Es …

Wenn ein zerstörerischer Eissturm das Herz eines 15-jährigen Bügersohns erwärmt, dann stimmt etwas nicht. Der taiwanische Regisseur Ang Lee zeigt in seinem bewegenden Familiendrama „Der Eissturm“, woran das liegt: Es ist die bürgerliche Kleinfamilie, deren Mythos, Schutzraum der Wärme und der Liebe zu sein, nicht mehr funktioniert. Stattdessen gleich sie einem Ort der Selbstvernichtung.

Lee zeigt den Verfall zweier Mittelklassefamilien: die Hoods und die Carvers aus New Canaan in Connecticut. Doch New Canaan ist nicht das neue Gelobte Land. Zwar mögen dort Milch und Honig fließen, trotzdem ist es ein Ort, in dem sich tödliche Langeweile ausgebreitet hat, die Menschen nach Liebe hungern und emotionaler Apathie verfallen sind. Denn die Carvers und die Hoods sind gefangen in der Wohlstandsfalle der postindustriellen Konsumgesellschaft.
Da ist zum Beispiel der Familienvater Ben Hood. Er ist frustriert von der Eintönigkeit seines Jobs und von seiner unterkühlten Ehefrau. Deshalb tröstet er sich mit der Nachbarin Janey Carver. Doch Janeys Interesse erlahmt auch schon wieder, kaum dass ihre Affäre richtig begonnen hat. Gleichzeitig flieht Bens Frau Elena zum Ausgleich der trostlosen Gefühlskälte in ihrer Ehe in die Innerlichkeit und liest Bücher über das Sein und das Nichts und die Faszination der Weiblichkeit. Jim Carver dagegen, Janeys Ehemann, bekommt während seiner vielen Geschäftsreisen von all dem nichts mit. Als wollten sie bereits die Welt der Erwachsenen simulieren, werden auch die Kinder zu Opfern dieser bürgerlichen Wohlstandpest: Wie ihre Eltern sucht die 14-jährige Wendy Hood nach Gefühlen und verführt zu diesem Zweck die beiden minderjährigen Carver-Söhne, Mickey und Sandy. Dabei nimmt sie keine Rücksicht darauf, ob sie einen oder beide verletzen könnte. Hauptsache sie fühlt irgendetwas. Ohnehin sind Mickey und Sandy eine zweifelhafte Wahl. Denn Mickey hat sich längst in die abstrakte Welt der geometrischen Räume und Moleküle zurückgezogen. Und Sandy lebt seinen ungebremsten Zerstörungstrieb aus, indem er Modellflugzeuge explodieren lässt, die er gerade erst gebaut hat. Einzig Paul Hood bewahrt sich als Internatsschüler eine Außenperspektive und vermag deshalb, die emotional vergletscherten Beziehungen in seiner Familie zu reflektieren.

Lee kleidet diese Familienmisere in das ikonographische Gewand der frühen siebziger Jahre und rekonstruiert deren Warenwelt sehr detailliert und mit respektvollem Blick. Er ruft ein Jahrzehnt wach, in dem nach den gesellschaftlichen Umbrüchen der sechziger Jahre der rebellische Geist von „Easy Rider“, der Studentenunruhen in Berkeley oder der Bürgerrechtsbewegungen verflogen ist. Stattdessen legen sich das Vietnam-Trauma und die Watergate-Affäre über das Land. Die Farbdramaturgie deutet diese unsichtbare Last an, mit den milden Pastelltönen der Inneneinrichtungen, dem schmutzigen Beige der Kostüme und dem spröden Braun der Herbstlandschaften. Rebellion pulsiert allenfalls noch in Wendy. Doch ihre politischen Kampfsprüche sind eher motiviert als privater Aufstand gegen ihre Eltern, die Praxis bleibt ihnen abhanden. Die Erwachsenen dagegen sind vor allem mit ihren Egoismen beschäftigt. Sollten sie je Träume von einer besseren Welt gehabt haben, dann sind sie zerplatzt. Vielmehr üben sie sich in kontrollierten Partnertauschspielen, die als Errungenschaft der sexuellen Revolution in New Canaan ein gesellschaftliches Ereignis sind. Erst der Tod Mickey Carvers bietet eine kleine Chance zur Einkehr. Allerdings nur für die Hoods. Vor allem Ben lernt am Schluss wieder sich zu bescheiden und dankbar dafür zu sein, was er hat. Durch diese wiederentdeckten Tugenden gelingt den Hoods zumindest für den Moment die Wiedervereinigung. Doch es bleibt offen, ob sie die eigentliche Herausforderung stemmen können, den neu gefundenen Zusammenhalt zu bewahren.

Ang Lees Sozialdrama weckt Zweifel daran, ob die Liberalisierung der amerikanischen Gesellschaft in den siebziger Jahren ein Erfolgsmodell gewesen ist. Zumal wie im Film die Keimzellen und die moralische Basis der Gesellschaft, die bürgerlichen Familien, dabei sind, sich selbst zu zerstören. Dabei schwingt der zarte Hinweis mit, dass sich diese Neigung zur Selbstzerstörung nicht allein auf die amerikanische Gesellschaft der siebziger Jahre beschränkt. Denn Paul Hood liefert die These einer Familientheorie, die über die Grenzen des Films hinaus auf bürgerliche Familien aller Zeitalter verweist: „Die Familie ist so etwas wie die Antimaterie von einem selbst“, behauptet Paul. „Deine Familie ist das Nichts aus dem Du kommst, und auch der Ort, an den Du zurückkehrst, wenn Du stirbst. Und das ist das Paradoxe: Je mehr man hineingezogen wird, desto tiefer dringt man ins Nichts.“

L.A. Zombie

(USA / F 2010, Regie: Bruce La Bruce)

Re-make / Re-model
von Ulrich Kriest

Eine kleine Skandalisierung weht dem neuen Film von Bruce LaBruce voraus, durch die man sich allerdings nicht in Aufregung versetzen lassen sollte. Nachdem selbst Altmeister George A. Romero mit „Survival …

Eine kleine Skandalisierung weht dem neuen Film von Bruce LaBruce voraus, durch die man sich allerdings nicht in Aufregung versetzen lassen sollte. Nachdem selbst Altmeister George A. Romero mit „Survival of the Dead“ nur mehr ein müder Ausflug in Western-Archetypen gelungen und aktuelle, reaktionäre Post-Apokalypse-Filme wie „The Road“ wieder auf fragwürdige Familien-Tableaus setzen, braucht es wohl einen Trash-Afficionado wie Bruce LaBruce, um das Zombie-Subgenre, nun ja, am Leben zu halten. Nachdem der Filmemacher mit „Otto; or, Up with Dead People“ einen erstaunlich komplexen und referenzreichen Pop-Kosmos entworfen hat, folgt nun mit „L.A. Zombie“ gar die Genre-Kontrafaktur, die das Objekt zum Subjekt macht und damit eine Studie in Melancholie abliefert. Aber mit den Mitteln einer minimalistischen, latent surrealistischen arte povera.

Waren die Untoten bislang zumeist nur ein dramaturgisches Mittel, um bestimmte soziologische Thesen über soziales Verhalten zu formulieren und zu überprüfen, so macht LaBruce hier den Zombie gewissermaßen zum tapsigen Beobachter einer gewalttätigen Gesellschaft, deren Parias an den Rändern der Städte und in zubetonierten Abwasserkanälen lebt. „L.A. Zombie“ beginnt am Meer und endet auf dem Friedhof (ein hübscher Einfall nicht nur in Bezug auf das Genre, sondern auch ein trefflicher Reflex auf post-apokalyptische Utopien; vgl. „The Road“), wo sich der Zombie-Protagonist schließlich an einem frischen Grab müht. Auf dem Grabstein steht „Law“. Was dem Film seinen schlechten Ruf eingebracht hat und ihn zum Festival-Skandal in Melbourne und auch in Locarno werden ließ, ist nicht seine Nähe zum Musikclip, auch nicht seine zeitweise famose Optik und auch nicht der interessante, ganz nicht zum Genre, aber zur Melancholie dieses Films passende Score von Mikael Karlsson und Philippe Breson, sondern in der Tat die kruden Akte der Nekrophilie. Denn der Zombie von Bruce LaBruce giert nicht kannibalistisch nach Fleisch, sondern nach Sex. Und zwar mit Toten. Und insofern hat er ziemliches Glück gehabt, dass er nahe Los Angeles den Fluten des Pazifik entstieg, denn in der Westküsten-Metropole ist der Mensch noch des Menschen Wolf und die Toten liegen auf der Straße herum.

Nun bekümmert sich der Zombie auf eigentümliche Weise um die Toten, die nach der Penetration als Untote weiterleben – und für die Lebenden eigentlich keine Gefahr darstellen. Wobei wir darüber allerdings nur Vermutungen anstellen können, denn »das Soziale« bleibt bei LaBruce konsequent ausgespart, weil der Film aus der Perspektive des Zombie-Protagonisten erzählt ist. So muss man versuchen, die sparsamen Informationen dieses No-budget-Films hochzurechnen: Die Gewalt geht hier vom Menschen aus, während der Zombie als Erlöser erscheint. Weil der Erlöser aber das Leben genau dort mittels eines Penis‘ von durchaus beachtlichem Format einhaucht, wo es den Körper verlassen hat, gerät die ganze Geschichte etwas unappetitlich. Hier wird sozusagen nicht der Finger in die offene Wunde gesteckt. Was aber bei einem Splatterfilm durchaus noch zum guten Ton gehört.

Zusammengefasst produziert expliziter, schwuler, nekrophiler Sex aber vielleicht für den Mainstream-Zuschauer tatsächlich ein paar visuelle Tabubrüche zu viel, was aber in dem sehr überschaubaren Segment, das Bruce LaBruce mit seinen Filmen bedient, keine Probleme bereiten sollte. Ein anderes Problem könnte die sich rasch einstellende Langeweile sein, denn letztlich wiederholt der Film sich schnell in einer ironischen Abfolge des Immergleichen. Mal sorgt ein grausiger Autounfall für ein Opfer, mal eine Auseinandersetzung unter Geschäftsleuten, mal wird eine Leiche aus einen Auto geworfen, mal findet ein Massaker in einer schicken Galerie statt, mal kam ein Obdachloser ums Leben – stets fließt sehr viel Blut. In der Galerieszene sogar so viel, dass man versucht ist, an Action Painting mit Kunstblut zu denken.

Wenn der Zombie schließlich am Grab des Gesetzes in der Erde wühlt, erinnert er sich kurz an die Stationen seiner Reise, an die Toten, die er ins untote Dasein überführt hat – und dann geschieht etwas sehr Menschliches, dessen Sentimentalität wohl auch George A. Romero sehr gut gefallen würde: der Zombie vergießt ein paar Tränen. Bleibt zu fragen, inwieweit diese Tränen im Angesicht dessen, was einmal das Gesetz war, eher als politischer oder psychoanalytischer Kommentar zu lesen sind. Bruce LaBruce lässt in seiner variations- und dialogarmen, mal extrem kruden, mal lustvollen, mal sanft ironischen, dann wieder hochästhetischen Drift durch das Elend viele Fragen offen. Pornografisch mag der Film nur einer Minderheit mit nekrophilen Neigungen erscheinen, Trash aber sieht entschieden anders aus. Und so anrührend still wie „L.A. Zombie“ (trotz allem!) ist, war auch schon lange kein Film dieses Genres mehr.

The Social Network

(USA 2010, Regie: David Fincher)

Citizen Nerd
von Harald Steinwender

David Fincher ist erwachsen geworden. Bislang war der Filmemacher, der in den 1980er Jahren bezeichnenderweise als Videoclipregisseur und Trickfilmzeichner für Blockbuster wie „Rückkehr der Jedi-Ritter“ und „Die unendliche Geschichte“ angefangen …

David Fincher ist erwachsen geworden. Bislang war der Filmemacher, der in den 1980er Jahren bezeichnenderweise als Videoclipregisseur und Trickfilmzeichner für Blockbuster wie „Rückkehr der Jedi-Ritter“ und „Die unendliche Geschichte“ angefangen hatte, vornehmlich als höchst begabter Ästhet aufgefallen; als jemand, der einen guten Effekt, sei es dramaturgischer oder visueller Art, so sehr zu schätzen wusste, dass seine Filme zwar äußerlich perfekt, doch inhaltlich mitunter etwas gehaltlos wirkten. „Seven“ (1995) und „Fight Club“ (1999), beide auf ihre Weise hervorragende Filme, ergingen sich in Schock- und Zerfallsbildern – wir erinnern uns: in dem einen Film regnet es 6/7 der Laufzeit, der andere ist vornehmlich in grün-gelben Verwesungsfarben gehalten und beginnt mit einer langen Kamerafahrt durch das Gehirn des Protagonisten, rasant an Neuronen und Synapsen entlang, bis die entfesselte Kamera aus einer Schweißpore herausschießt und wir mitten im Film angekommen sind (genauer: am Endpunkt der Handlung, von der aus der Film in Rückblenden erzählt wird). „The Game“ (1997) und „Panic Room“ (2002) waren Konzeptfilme, exzellent inszenierte Fingerübungen, die jeweils auf einer konsequent durchgespielten Idee basierten. Einige der technischen Kabinettstücke, die Fincher in diesen Filmen unterbrachte, etwa die Plansequenz in „Panic Room“, die eine ‚unmögliche’ Kamerafahrt durch den Henkel einer Kaffeekanne beinhaltete, sind auch heute noch eindrucksvolle set pieces. Und „The Curious Case of Benjamin Button“ (2008), der Film über ein als Greis geborenes Kind, das über den Lauf des Films in seinem sich stetig verjüngenden Körper zum alten Mann regrediert, war schließlich ein einziger Spezialeffekt, in dem Brad Pitt in der Titelrolle lediglich für ein paar Sequenzen ohne seinen digital nachbearbeiteten Körper zu sehen war. In dem Retro-Thriller „Zodiac“ (2007) standen dann erstmals die Figuren im Zentrum. Aber erst in „The Social Network“ verkneift sich der Regisseur all die technischen Sperenzchen, die seine bisherigen Filme auszeichneten, stellt sein virtuoses technisches Talent in den Hintergrund, ganz in den Dienst des Plots und der Figuren. Da wirkt es fast wie ein Hohn, dass der hier von Jesse Eisenberg verkörperte Facebook-Erfinder Mark Zuckerberg ähnlich wie Charles Foster Kane in Orson Welles’ „Citizen Kane“ eine Art leeres Zentrum ist.

Eisenbergs Mark Zuckerberg ist ein Nerd; ein sozial inkompetenter, völlig egozentrierter Computerfreak, der ein massives Problem mit Frauen und Autoritäten hat. Ganz zu Beginn des Films macht seine Freundin Erica (Rooney Mara) mit dem schlaksigen Harvardstudenten Schluss, sie kann Eisenbergs Ignoranz nicht mehr ertragen. Und da Mark ein begnadeter Hacker ist, rächt er sich gleich an der ganzen weiblichen Studentenschaft und konstruiert eine Website, auf der er wild die aus dem Netz gestohlenen Bilder von Kommilitoninnen einstellt und sie von der Webgemeinde auf Attraktivität hin bewerten lässt. Während er dafür in Sekundenschnelle die Computernetze verschiedener Universitäten kapert, füttert er parallel sein Blog und unterhält sich mit seinen Mitbewohnern. Bald darauf hat das Wunderkind wegen des enormen Erfolgs seiner sexistischen Spaßguerillaaktion nicht nur Ärger mit der Universitätsverwaltung, sondern auch einen neuen Job: für zwei reiche Schnösel ein Online-Studentennetzwerk zu konstruieren. Daraus wird bald „The Facebook“, später einfach nur „Facebook“ getauft, und Zuckerberg zum heute jüngsten lebenden Milliardär (geschätztes Privatvermögen derzeit: 6,9 Mrd. US-Dollar).

Doch was diesen widersprüchlichen Charakter, den die US-Filmplakate mit dem illustren Dreiklang „Punk – Genius – Billionaire“ vorstellten, im Innersten antreibt, das bleibt offen. Dass er seine ersten Finanziers, die Winklevoss-Brüder (2 x Arnie Hammer), mit dem Facebook-Projekt über den Tisch zieht, um stellvertretend zwei privilegierte Oberschichtschnösel zu demütigen (wie deren Anwälte suggerieren), ist gewissermaßen die Klassenkampf-Lesart von Zuckerbergs Aufstieg. Vielleicht handelt er aber auch aus reiner Ignoranz, ist ganz das seiner Idee verfallene Genie, das seine Umwelt nicht mehr wahrnimmt, in Badeschlappen durch den Schnee stapft und im Wesentlichen von Pizza und Cola lebt und seine Studentenbude kaum mehr verlässt. Oder vielleicht ist er einfach nur geldgierig, erkennt das Potential der Idee, bootet schließlich sogar seinen besten Freund Eduardo Saverin (Andrew Garfield) aus, den er fallen lässt, um statt Millionen Milliarden zu verdienen. Oder aber das alles, die ganze Handlung des Films, ist Resultat einer Ersatzhandlung, mit der der junge Mann auf die Zurückweisung durch seine Freundin reagiert – die „Citizen Kane“-Variante, wenn man so will, mit Erica als Zuckerbergs Rosebud. Eine eindeutige Antwort bietet Fincher nicht. Letztlich bleibt es den Zuschauern überlassen, sich einen Reim auf die Motivation des Protagonisten zu machen. Nur sonderlich sympathisch ist er nicht. Schon über den Trailer hat Fincher einen Frauenchor legen lassen, der eine Version von Radioheads „Creep“ singt. Der echte Zuckerberg jedenfalls nahm Finchers Film sehr ernst und hat eine 100-Millionen-Spende für Bildungsinstitutionen angekündigt. Auch eine Möglichkeit, der negativen Publicity zu begegnen, die ihm „The Social Network“ verschafft hat, ähnlich wie „Citizen Kane“ 70 Jahre zuvor dem Pressezaren William Randolph Hearst.

Wie „Citizen Kane“, der verdeckt eine reale Biografie thematisierte und eine Ära mit ihren Umbrüchen in der Medienlandschaft porträtierte, changiert der in Rückblenden erzählte „The Social Network“ zwischen den Genres, mischt Courtroom-Drama und Biopic, bringt ein wenig Melo und Thriller ein, hat manchmal etwas von einer Teenagerkomödie, dann wieder von einer Gesellschaftsparabel. Obendrein ist er wie alle Fincherfilme bislang natürlich wunderschön fotografiert (Kamera: Jeff Cronenweth), eröffnet mit einer stilvollen Titelsequenz (mit Anklängen an diejenige aus „Panic Room“) und kommt in seinen gedämpften braun-orange Farbtönen so edel wie ein Tropenholztisch in einer mehrere hundert Jahre alten Universitätsbücherei daher. Der Schnitt ist meisterlich, die Filmmusik von Trent Reznor (Nine Inch Nails) und Atticus Ross gleichsam brillant. Kurz: technisch ist der Film ausgezeichnet, so gut wie nur wenige dieses Jahr. Aber diesmal drängt sich diese Brillanz nicht so sehr in den Vordergrund wie in den früheren Filmen Finchers, ein durchschnittlicher Kinogänger mag sie vielleicht einfach übersehen. Es ist ein wenig, also ob der Regisseur verstanden hat, dass er nicht mehr protzen muss, sich nicht mehr durch Kraftmeierei einen Ruf schaffen muss. Und das ist gut so: „The Social Network“ ist einer von Finchers besten Filmen geworden. Es ist allerdings fast ein wenig paradox, dass er dazu den Film mit seinem bislang unreifsten Protagonisten inszenieren musste.

The Road

(USA 2009, Regie: John Hillcoat)

Die Moral des Ausnahmezustands
von Sven Jachmann

Im Kino kommen die Bilder der Postapokalypse (und es gab sie in den letzten Jahren in mannigfaltigen Formen zu sehen) fast nie ohne einen Restfunken humanistischer oder reaktionärer Hoffnung aus: …

Im Kino kommen die Bilder der Postapokalypse (und es gab sie in den letzten Jahren in mannigfaltigen Formen zu sehen) fast nie ohne einen Restfunken humanistischer oder reaktionärer Hoffnung aus: auf Zivilisationen, die sich irgendwo neu formieren, auf lebenswerte Orte, die sich hinter dem Schutt verbergen, auf die Heilkraft der Wissenschaften, die vom gegenwärtigen Elend Erlösung versprechen oder auf neu justierte Kultur, die wenigstens mit Anstand durch die Trümmer leitet (und in jüngeren Produktionen, nicht nur bei Roland Emmerich, so unverfroren religiös daherkommt, dass man meint, sie benötigten den ganzen Zerstörungsapparat nur deshalb, um dem Christentum einen zweiten, hoffentlich erfolgreicheren Run zu wünschen).

Kurz gesagt: Ohne die Aussicht auf irgendeinen Sinn, der das Überleben legitimiert, scheint jeder Schritt durch die zivilisatorische Wüste hinfällig. Das ist in John Hillcoats kongenialer Verfilmung des gleichnamigen, Pulitzerpreis-geadelten Romans von Cormac McCarthy (dessen Prosa zuletzt dank der Coen Brüder in „No Country for Old Men‘ eine bemerkenswerte Filmumsetzung erhielt) ein wenig anders. Hier ist das Überleben bereits das verlängerte Sterben, wenn der Vater (Viggo Mortensen) mit seinem Sohn Nordamerika Richtung Süden durchquert und ihm angesichts der weltweiten, farblosen Ödnis, die weder Pflanzen noch Tiere beherbergt, auch nicht so recht erklären kann, weswegen das Dasein noch lohnt. Vor zehn Jahren ereignete sich eine globale Katastrophe, der Sohn (Kodi Smit-McPhee) kam erst nach ihr zur Welt. Die Mutter (Charlize Theron) entschied sich nach der Geburt für den Suizid, zeigt eine Rückblende. Es gab keinen überraschenden Fund, regungslos wurde von ihr die Selbstmordabsicht kommuniziert, bevor sie sich in den Wald zum Sterben begab. Auch das Flehen des Mannes wenigstens noch einen Tag zu warten, hielt sie nicht ab.

Die Frage nach der Sozietät, dem moralisch integren Verhalten in einer Welt, in der die wenigen marodierenden Menschen aus Verzweiflung zu Kannibalen werden, wird schnell zum jede Sequenz implizit mitbestimmenden Leitmotiv. Bereits nach zehn Minuten muss der Vater seinem Sohn lakonisch erklären, dass die aufgeknüpften Toten in einer Scheune ganz sicher nicht ermordet wurden. Die anschließenden Gespräche über den Sinn und Unsinn des Überlebens gleichen einem paradoxen Generationenkonflikt: Der Vater verzweifelt ob seiner Erinnerungen an die präapokalyptische Zeit und gleicht sein Handeln den Bedingungen des Elends an; der Sohn besitzt keine Erinnerungen, kann aber das mordende Treiben der „bösen Menschen“ nicht verstehen, zumal die good guys nur wenige Schritte von den bad guys trennen. Survival of the fittest bedeutet hier nicht, heroisch und moralisch zugleich mit der edleren Grobschlächtigkeit den zivilisatorischen Kollaps zu überstehen, sondern beständig die Frage zu verhandeln, wie ein Leben ohne Humanität überhaupt funktionieren soll. Wenn der Vater vor- und fürsorglich seinem Sohn erklärt, wie ihre Pistole, die nur noch zwei Patronen fasst, benutzt wird, dann dient diese Instruktion nicht der Selbstverteidigung. Was die postapokalyptische Welt bereit hält, ist ein buchstäbliches Vegetieren unter dem Diktat der toten Erde. Der Boden spuckt Feuer, immer wieder entwurzeln sich abgestorbene Bäume, der graue Himmel lässt nur ein dumpfes Licht auf die von Ascheflocken und verrosteten Autowracks übersäten Straßen. Dazwischen vollzieht sich auf unspektakuläre und verstörend tumbe Weise die Reise durch ein ergrautes Land. Die Dramaturgie ist geknüpft an das Fortbewegen: Was die Zwei in den Süden zieht, wissen sie selber nicht, und die Konfrontationen mit feindlichen Menschen sind bedrückend, aber aus erzählerischer und quantitativer Sicht eher Randerscheinungen. Im Nichts geschieht nicht viel. Die Bilder erzählen nichts von der Kontemplation des Untergangs, jedoch alles von der Errettung der Moral in einer auch sozial ausgelöschten Welt. Selten zuvor kam Nihilismus in einem Film pietätvoller daher.

Diese Kritik erschien gekürzt zuerst in: Konkret 10/2010

Miral

(F / ISR / IT / IND 2010, Regie: Julian Schnabel)

… bis die Zionisten kamen
von Janis El-Bira

Am Anfang von Julian Schnabels „Miral“ steht das Idyll: In einem Palästina, von dem der Zuschauer glauben soll, dass es noch nicht identisch ist mit der Topographie des „Nahostkonflikts“, feiern …

Am Anfang von Julian Schnabels „Miral“ steht das Idyll: In einem Palästina, von dem der Zuschauer glauben soll, dass es noch nicht identisch ist mit der Topographie des „Nahostkonflikts“, feiern Christen, Juden und Muslime ein Weihnachtsfest, das alles kulturell-religiös Trennende verwischen möchte. Um den Weihnachtsbaum tanzt man ausgelassen zu arabischer Musik und die Hausherrin, dargestellt von Vanessa Redgrave als Repräsentantin eines kosmopolitisch-postideologischen Großbürgertums am Rande seines Verschwindens, begrüßt ihre Freunde aller Herkunft und Religion.

Doch dann lässt Schnabel die Zionisten über die vermeintlich paradiesischen Zustände herfallen: Archivbilder von der Gründungserklärung Israels werden gezeigt, Schiffe legen in Palästina an, Menschen strömen von Bord, die Stimme David Ben Gurions schallt im Hintergrund. Das Schwarzweiß des Einspielers will Authentizität suggerieren und stellt sich gleichzeitig in den schärfstmöglichen Kontrast zur rosig-sonnendurchfluteten Ästhetik der heiteren Einleitung. Es sagt: Hier kommen die Zionisten aus dem Grau-in-Grau der Realgeschichte und vor ihnen flieht alles Licht der Utopie. Oder: Der Spielfilm flieht die Archivbilder und schuld an allem sind die Zionisten.

Mag die gedankliche Schlichtheit dieser Einleitung auch noch so peinlich, ihre Form auch noch so billig sein, Schnabels anschließender Versuch, seinen Spielfilm quasi „zurückschlagen“ zu lassen, übertrifft sie regelrecht: Basierend auf einem Roman Rula Jebreals, der Lebensgefährtin des Regisseurs, nimmt „Miral“ die Perspektiven vierer palästinensischer Frauen ein, die sich auf unterschiedliche (und unterschiedlich aggressive) Art gegen die Unterdrückung stemmen, mit der wie eine Heilige porträtierten Kinderheimleiterin Hind Husseini und der Terroristin Fatima als vielleicht extremste Pole. Irgendwo dazwischen stehen Nadia, die als junges Mädchen vor der häuslichen Gewalt flieht, und schließlich die Titelheldin, Miral, Nadias Tochter: Nach dem Tod ihrer Mutter gibt ihr tiefreligiöser Vater sie in das Kinderheim Husseinis, wo sie eine umfassende Schulbildung erhält, welche sie anschließend als Lehrerin auf dem Höhepunkt der Ersten Intifada in die Krisengebiete bringen wird. Hier erlebt sie das brutale Durchgreifen der israelischen Streitkräfte und verliebt sich – natürlich – auf verhängnisvolle Weise in einen jungen militanten Freiheitskämpfer.

Über all dem weht für Julian Schnabel auf ostentativste Art das große Banner eines Friedensappells: Jenen will er den Film widmen, heißt es im Abspann, die unerschütterlich an eine friedliche Lösung des Konflikts glauben. Wer „Miral“ mit offenen Augen anschaut, wird sich die nämlichen ob des zuvor Gezeigten spätestens hier verwundert reiben. Denn die größte Rache, die der Spielfilm an den Archivbildern des Anfangs letztlich nimmt, ist, dass er Israel offenkundig in diesem tristen Geschichtsgrau vergessen möchte: Israel findet in „Miral“ schlichtweg nicht statt. Hier zeigt sich nur das Leiden des palästinensischen Volkes, dem irgendwo außerhalb der Ränder des Filmbildes ein übermächtiger Feind gegenübersteht, der zwar ab und an mit Panzern wirkmächtig durchs Bild rollt und von bornierten Holzköpfen in Uniform repräsentiert wird, dem darüber hinaus jedoch beinahe jedes Menschenantlitz verwehrt bleibt.

Auf unangenehme Weise zeigt sich Schnabels utopistischer Feldzug gegen die Wirklichkeit auch in dem puren Kitsch, der seinen Film durchzieht. Der palästinensische Widerstand ist hier ein Fest der leuchtendsten Farben, in dem bildschöne junge Menschen untereinander fast ausschließlich in makellosem Englisch kommunizieren und ein weiblicher Bollywood-Star der Intifada ein Gesicht mit gezupften Augenbrauen schenkt. So geschmacklos und von Herzen schlecht ist das, dass man beinahe an der Ernsthaftigkeit des ganzen Unterfangens zweifeln möchte – aber natürlich ist das alles sehr aufrichtig gemeint. Ein Film wie dieser mag sowohl das reale Israel, das kein Schwarzweißfilm ist, ignorieren, als auch die Beschaffenheit des Konflikts im Nahen Osten auf Freiheitskämpferromantik im Taschenbuchformat eindämpfen können. Die Geschichte kann es zum Glück nicht.

Berlin: Hasenheide

(D 2010, Regie: Nana A.T. Rebhan)

Beißende Papageien und Sperma im Planschbecken
von Sven Jachmann

Er ist ein kurzes, bewegtes und bewegendes Pamphlet gegen die mediale Alarmstimmung. „Berlin: Hasenheide“ heißt der komplett eigenfinanzierte Dokumentarfilm von Nana A.T. Rebhan. Die Kamera flaniert durch den titelgebenden Ort …

Er ist ein kurzes, bewegtes und bewegendes Pamphlet gegen die mediale Alarmstimmung. „Berlin: Hasenheide“ heißt der komplett eigenfinanzierte Dokumentarfilm von Nana A.T. Rebhan. Die Kamera flaniert durch den titelgebenden Ort in Neukölln, der breitenwirksam als Drogenumschlagsplatz in bitterbösen Verruf geraten ist. Kein Wunder also, dass der rund 45 Hektar fassende Landschaftspark von Boulevardblättern bereits sogar zur No-Go-Area deklariert wurde. Die Stigmatisierung unliebsamer Regionen als soziale Brennpunkte dient ja nicht bloß als Kennzeichen einer vermeintlichen Gefahr. Sie will zugleich semantisch vergessen lassen, dass dort das Antlitz des Kapitalismus seinen humanistischen Schleier verliert und sein Wahn nicht einzig abstrakte Statistiken produziert. Besser also, man hält sich schon zur Bewahrung der eigenen Mythologie der mentalen Gemütlichkeit von solchen Orten fern. Für die eigene körperliche Unversehrtheit scheint es ohnehin ratsamer.

In fast schon investigativ-journalistischer Manier begab sich Rebhan dennoch fast zwei Jahre in die Gefahrenzone quasi direkt vor ihrer Haustür, ausgestattet mit der kleinsten filmischen Einheit, einer Handkamera und einem Ton-Mann. Was sie findet, ist die unaufgeregte Koexistenz mannigfaltiger und konträrer Lebensentwürfe: eine Gruppe afrikanischer Fußballspieler, die in Ermangelung eines Schiedsrichters seit Jahren ihre Matches in permanenten Streitgesprächen klären; zotige Nudisten, die sich fragen, was gegen Sperma im eigens mitgebrachten Planschbecken zu tun sei, einen Mann, der seine fünf Papageien im gleichfarbigen T-Shirt auf dem Lenker seines Fahrrads ausfährt, exzentrische Hundebesitzerinnen, die sich typologisch zwischen schnodderig-hippiesk und verarmten Adel bewegen, einen Pulk gestandener türkischer Männer, die unter einer Baumkrone den Platz tagtäglich zum gemeinschaftlichen Wohnzimmer umfunktionieren, sich Konzerte geben und einen fast handzahmen Falken mit Fleisch füttern.

Die Bilder variieren zwischen stiller Beobachtung und dezentem Nachfragen, oftmals begleitet von einem skurrilen, nie bösartigen Humor. Wenn sich ein schüchterner Nudist rührig mit einer Sprühflasche benetzt, während die Clique zehn Meter weiter im Planschbecken tobt. Wenn sich die alte Hundehalterfrage „Beißt der?“ hier an einen Papageienbesitzer richtet. Wenn die Knigge-geschulte Hundebesitzerin den mondänen Charakter ihres Windhundes rühmt, während der einen Rivalen nach kurzem Beschnuppern anblafft oder sich zu ihrer schamerfüllten Irritation für dessen Genitalien interessiert. Die Programmatik liegt auf der Hand: ein Tableau zu zeichnen, das die vielgestaltigen Lebensentwürfe vereint. Das mag in seiner unbekümmerten Präsentation montierter Zufriedenheit auf den ersten Blick arglos wirken.

Aber die Bilder sind gleichzeitig beflügelt von einer impliziten Politik. Immer wieder ist die Rede von Armut, von Hartz IV, von den Konstanten des Alltags. An diesen Stellen wird manifest, dass da Spielformen der Eroberung des urbanen Raumes existieren und zwar nicht zum Zwecke, sondern trotz der Reproduktionsarbeiten, die täglich abgetrotzt werden. Dann wird der kollektive Müßiggang auf der Hasenheide zum Politikum und schmiegt sich heimlich an die diskursiven Vorgaben postindustrieller Ideologien, die den Mensch zum eigenverantwortlichen Träger seiner Arbeitskraft erklären. „Berlin: Hasenheide“ kehrt diese Mythologie eher um. Wie soll sich auch rational erklären lassen, warum ein Mann seine Papageien auf dem Fahrrad ausführt? Dass dies alles unter den Maßgaben einer Bildproduktion von unten zu sehen ist, liegt aber nicht bloß an der Schieflage der medial unterschlagenen anderen Hasenheide, die der Film korrigieren möchte. Die Harmonie besitzt auch einen melancholischen Unterton. Die Aufnahmen endeten 2008. Dank der rasanten Gentrifizierung rund um Neukölln könnten die Bilder schneller historisiert sein, als ein Planschbecken mit Wasser gefüllt ist.

Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben

(THAI / GB / D / F / ESP 2010, Regie: Apichatpong Weerasethakul)

Sehen Hören
von Ulrich Kriest

Sagt ein Kollege beim Verlassen des Kinossaals: „Na ja, dafür bin ich wohl nicht Buddhist genug!“ Sagt die Begleiterin: „Wenn ich gewusst hätte, in was für einen Film du mich …

Sagt ein Kollege beim Verlassen des Kinossaals: „Na ja, dafür bin ich wohl nicht Buddhist genug!“ Sagt die Begleiterin: „Wenn ich gewusst hätte, in was für einen Film du mich schleppst, wäre ich lieber shoppen gegangen!“ Sagt die Redakteurin der Tageszeitung: „Beschränken sie sich auf ein, zwei Schauspielernamen, die kennt hier doch eh kein Mensch!“ Der Filmkritiker-Kollege der Tageszeitung, der aus Cannes berichtete, hatte sich im Laufe der Woche seine Favoriten zusammengeschrieben. Als die Goldene Palme schließlich überraschend an „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“ ging, war er beleidigt. So beleidigt, dass sein retrospektiver Kommentar zum Festival 2010 ganz ohne den Namen des Gewinners auskam: Apichatpong Weerasethakul. Cristina Nord hat in einem Text zur Filmkritik in „Revolver“ #14 ähnliche Dinge berichtet. Vor Jahren! Von Kollegen, die nicht mehr bereit sind, sich auf nicht-narrative Filmlogiken einzulassen. Von Redakteuren, die keine Lust mehr haben, Filme jenseits des Mainstreams zu vermitteln. Apichatpong Weerasethakul. Immer wieder der running gag, wie man lernte, diesen Namen unfallfrei auszusprechen. Wer will, darf auch „Joe“ zu ihm sagen. Ist das lustig?

Der Vorteil des Schreibens für ein Filmmagazin gegenüber dem Schreiben für eine Tageszeitung ist, dass hier jetzt der klinkenputzende Staubsaugervertreter ausfällt. Ich muss hier nicht umständlich erklären, wer Apichatpong Weerasethakul ist, muss nicht seine Filmografie rekapitulieren, muss nicht schreiben, dass der Thailänder nicht nur ein Architekturstudium, sondern zudem einen Abschluss am Art Institute von Chicago im Fachbereich Film gemacht hat. Hallo? In Chicago! Ich muss nicht die Preise aufzählen, die er mit seinen Filmen in den vergangenen Jahren auf renommierten Festivals errungen hat. Cannes! Nicht schreiben, dass wir es hier nicht mit einem wunderlichen Exoten zu tun haben, sondern sehr wahrscheinlich mit dem wichtigsten Filmemacher des vergangenen Jahrzehnts. Jedenfalls, wenn wir von Festivalöffentlichkeiten und der Schnittstelle zwischen Kunstbetrieb und Film sprechen.

Kunstbetrieb und Film. „Uncle Boonmee“ ist ein nachgetragenes Modul der Installation „Primitive“, die 2009 auch im Münchener Haus der Kunst zu sehen war. Dort waren andere Aspekte eines Arbeitszusammenhangs zu sehen, darunter der vorausweisende Film „A letter to Uncle Boonmee“. Das Haus der Kunst zählt nun auch zu den Geldgebern des Kinofilms „Uncle Boonmee“; die Liste der Co-Produzenten ist lang. Der Film und sein Arbeitszusammenhang wurden inspiriert von einem Buch, das von Uncle Boonmee erzählt, dem es gelang, durch Meditation Bilder seiner früheren Leben zurückzurufen. Die dann wie ein Kinofilm abliefen, betont der Filmemacher. Es geht in „Uncle Boonmee“ ums Sterben, um Seelenwanderungen zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen, um Geister, die aus dem Dschungel treten und sich an den Tisch setzen. In Szene gesetzt allerdings an einem konkreten Ort, dem Grenzgebiet zu Laos, wo zwei Jahrzehnte ein Klima politischer Unterdrückung und Gewalt herrschte. Im Film erzählt Uncle Boonmee einmal, dass sein Leiden die Strafe dafür sei, dass er so viele Kommunisten umgebracht habe. Zugleich betont Apichatpong im Presseheft zum Film, dass der Film durchaus zahlreiche autobiografische Momente enthalte und zudem durch bestimmte Motive und die Auswahl der Darsteller auch mit seinen anderen Filmen intertextuell vernetzt sei. Muss man das wissen, um „Uncle Boonmee“ zu verstehen? Muss man „Uncle Boonmee“ »verstehen«? Ist nicht das Kino immer schon ein privilegierter Ort gewesen, um einen Blick auf fremde Lebenswelten zu werfen? Oder sich von einem fremden Blick auf Dinge lenken zu lassen, die man so vielleicht noch nicht wahrgenommen hat. Hat der türkische Film „Bal – Honig“ nicht gerade zu einer Reise in die Wälder der türkischen Schwarzmeerküste eingeladen? Ging nicht die Reise mit „Birdwatchers“ vor gar nicht allzu langer Zeit den Amazonas hinauf? Wann kommt man schon einmal in ein entlegenes Andendorf wie in „Madeinusa“ von Claudia Llosa? Geht es im Kino nicht immer auch um Seh-Erfahrungen?

Und jetzt also Thailand, an der Grenze zu Laos. Uncle Boonmee, schwer nierenkrank, ist zum Sterben nach Hause gekommen. Seine letzten Tage will er im Kreise von Verwandten und Freunden verbringen, betreut wird er von Tong, einem Laoten von der anderen Seite des Mekong. Der Film sammelt eher Impressionen als dass er erzählt. Mal folgt die Kamera einem Büffel, der in den Dschungel hineinläuft und wieder eingefangen werden muss; mal sehen wir komische Szenen über Verständigungsprobleme. Eines Abends, im Zwielicht, sitzt plötzlich der Geist von Boonmees verstorbener Frau am Tisch und erzählt vom Jenseits. Nein, es gebe keine Gegen-Gemeinschaft der Geister, erzählt sie. Die Geister hängen eher an den Lebenden denn an ihresgleichen. Was für die Liebenden bedeutet, dass es kein Wiedersehen nach dem Tode gibt. „Der Himmel wird überschätzt“, sagt der Geist der Toten. Sie muss es wissen. Plötzlich sitzt der verschollene Sohn am Tisch. Der fotografierte einst einen Affengeist, folgte diesem in den Dschungel, paarte sich mit dem Affengeist und wurde selbst einer. Affengeister haben empfindliche Augen, man löscht besser das Licht, wenn man mit ihnen am Tisch sitzt. All dies findet verblüffend selbstverständlich statt, unspektakulär. „Uncle Boonmee“ handelt von Grenzen und ihren Übergängen, von Schwellen, die man überschreitet. Hell, dunkel, Dämmerung, dazu der Sound des Dschungels, das satte, undurchdringliche Grün. Wer hier auf logische Anschlüsse vertraut, verliert schnell die Orientierung – aber nicht die bannende Faszination, was es hier alles zu sehen und hören gibt. Und zu schmecken, denn auch der Honig, den Boonmees Schwägerin aus Tamarinde produziert, ist süßsauer. Wird gesagt. Und schließlich öffnen sich die Transiträume auch noch zwischen Gegenwart und Geschichte, wenn eine ältliche Prinzessin an einen Wasserfall kommt, im Wasser ihr junges, schönes Gesicht (wieder-)sieht, ins Wasser steigt, sich ihrer Kleider und ihres Schmucks entledigt und Sex mit einem Wels hat, der vielleicht die Reinkarnation eines früheren Geliebten ist. Vielleicht. Möglicherweise. Und dann ist da noch die Reihe von Standfotos junger Soldaten, denen sich ein Affengeist beigesellt hat. Gruppenfoto mit Affengeist.

Wo solcherart alles im Fluss ist, trifft dies auch auf den Tonfall des Films selbst zu, der mal geheimnisvoll, mal still beobachtend, nie wertend und kommentierend und ab und an durchaus komisch ist. Und der sich für den Schluss eine abenteuerliche Volte aufgespart hat, die ganz leichthin und naiv gemacht ist, aber staunen macht über die Möglichkeiten, die das Kino noch hat. Jenseits des konventionellen Erzählens. Man wünschte sich diesen Film zwei, drei Stunden länger.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Die Entbehrlichen

(D 2009, Regie: Andreas Arnstedt)

Entbehrlich
von Harald Mühlbeyer

Es gibt durchaus Positives an diesem Film, wenn man etwas großzügig sucht und dabei wohlwollend ist. Schöne assoziative Montageeinfälle etwa, die zwischen verschiedenen, achronologisch erzählten Zeitebenen vermitteln und dem Film …

Es gibt durchaus Positives an diesem Film, wenn man etwas großzügig sucht und dabei wohlwollend ist. Schöne assoziative Montageeinfälle etwa, die zwischen verschiedenen, achronologisch erzählten Zeitebenen vermitteln und dem Film einen gewissen verbindenden Flow verleihen. Oder die Tatsache, dass heute offenbar tatsächlich noch einer Zeitung liest und von einer Reportage ganz betroffen ist, so dass er darüber dringend einen Film nach dieser wahren Begebenheit machen möchte, um sich mitzuteilen.

Damit hat es sich aber dann auch schon. Weil man einen Film inszenieren ja auch können muss, weil man von dem, was man mitteilen möchte, auch etwas verstehen muss; mehr zumindest, als man sich bei Wikipedia anlesen kann. Andreas Arnstedt hat aber, das muss man leider sagen, anscheinend wenig Ahnung von dem, was er beschreibt. Es ist die Geschichte der sozial prekären Familie Weiss: Die Mutter ist Alkoholikerin und in der Klinik, der Vater arbeitslos, aufbrausend und irgendwann tot, was Sohn Jacob nach außen hin verschweigt; er lebt fortan mit dem Vater, der tot hinterm Sofa liegt, allein in der Wohnung. Das harte Hartz IV-Milieu in Berlin, wo die Eltern die Klassenfahrt nicht zahlen können (oder wollen), wo cholerische Anfälle und Alkoholismus Alltag sind, wo einen Toten keiner vermisst: Daraus hätte man durchaus eine Art filmische Bestandsaufnahme der neuen Armut in Deutschland gestalten können, doch Arnstedt geht voll rein in den Betroffenheitskitsch, ins Klischee, lässt nichts aus – Neonazis und Gammelfleisch, Traum vom Superstar-Dasein und fehlende Kompetenz im Umgang mit Geld. Auch die andere Seite wird gänzlich karikaturesk gezeichnet, die Welt der Reichen, wo die schnöseligen Snobs die aufgebaute Fassade von der Familienidylle nur mühsam aufrechterhalten können.

Diese eindimensionale, völlig banalisierte Sicht auf die Zustände wäre an sich schon genug, um das Milieu zu denunzieren, mehr als es ein Sarrazin mit 1000 Büchern über die dumme Unterschicht je könnte. Dazu kommt aber noch Dilettantismus in Schauspielerführung, Dialogen, Inszenierung und Dramaturgie. Gut: es ist dies Arnstedts Debütfilm; doch leider kann man von nichts, was in dem Film vorkommt, sicher sein, dass es konzeptionell so geplant war, ob das jetzt so sein sollte oder ob der reine Zufall auf dem Regiestuhl Platz genommen hat. Nicht mal aus an sich guten Schauspielern wie André Hennike kann Arnstedt etwas rausholen, und Jacob-Darsteller Oskar Bökelmann kann sich unglücklich schätzen, für sein Darstellerdebüt in einem solchen Film untergekommen zu sein, der ihm den Karrierestart verstolpert.

Einen Trost gibt es: Spätestens, wenn Mathieu Carrière als irrer Alter mit Weltkriegs-Wahn auftaucht, der seine Gartenzwerge als Hitlerarmee ausstaffiert hat und in NS-Propagandafloskeln spricht, kann man sich getrost in die Metaebene des Lachens begeben. Und wenn dann am Ende des Films des Vaters Selbstmord durch den Strang gezeigt wird und der Sohn dies verhindern will, indem er sich unten dran hängt, ist der Höhepunkt der unfreiwilligen Komik erreicht.

Bin ich zu ungerecht? Irren sich tatsächlich all die internationalen Festivals von Hof und Saarbrücken, Brasilien und USA, Irland, China und Mexiko, die auch mitunter Preise für „Die Entbehrlichen“ vergaben? Sie können es ja selbst herausfinden; Sie sind gewarnt.

Das Sandmännchen – Abenteuer im Traumland

(D / F 2010, Regie: Sinem Sakaoglu, Jesper Moeller)

Sandmann, lieber Sandmann
von Harald Mühlbeyer

Ein kleiner Junge, Miko, wird ins Traumland geschleust, um dort dem Schurken Habumar etwas wegzunehmen: den Traumsand des Sandmännchens nämlich, den der Bösewicht dem Sandmännchen gestohlen hat, um ihn in …

Ein kleiner Junge, Miko, wird ins Traumland geschleust, um dort dem Schurken Habumar etwas wegzunehmen: den Traumsand des Sandmännchens nämlich, den der Bösewicht dem Sandmännchen gestohlen hat, um ihn in Alptraumsand zu verwandeln. Miko muss durch verschiedene Traumebenen reisen, durch verschiedene Traumlandschaften, in denen alles versammelt ist, was Kinder je einmal geträumt haben, und er erlebt unter ständiger Gefahr ein fantastisches Abenteuer – eigentlich ist der Sandmännchenfilm so etwas wie eine Kinderversion von „Inception“.

Die Regisseure Sinem Sakaoglu und Jesper Moeller erschaffen fantastische Traumlandschaften in diesem Puppenanimationsfilm, eine Schokohasenlandschaft, eine Stadt mit Spielzeug- und Musikinstrumentbewohnern, auf dem Marktplatz ein Huhnbrunnen, der Seifenblasen produziert; die Bandenmitglieder des bösen Habumar sind bissige Mensch-ärgere-dich-nicht-Figuren, auf der Landstraße stehen zwei große Teddybären, die seilspringen, im Kirschblütenwald tauchen Fische auf, die das Kaperfahrt-Lied singen, und der Sandmann hat ein Zauberauto, das auf Sprungbeinen hüpfen kann, das zu Hubschrauber, Eisenbahn oder Schiff werden kann. Habumar ist ein böser Wirbelsturm, der es auf die süßen Träume der Kinder abgesehen hat: er ist ein wirklich interessanter Bösewicht, kindgerecht genug, um keine bösen Nächte zu erzeugen, aber auch unheimlich und spannungsheischend genug, um den Film nicht in allzu glatte und seichte Schönewelt-Unterhaltung gleiten zu lassen. Die Zielgruppe ist schließlich das Sandmännchen-Publikum des Fernsehens; und sie wird ihre Freude haben an diesem ersten nachmittagfüllenden Kinofilm.

Außer der Hauptfigur hat der Film wenig mit den allabendlichen kurzen Sandmann-Gutenachtgeschichten zu tun: Das Sandmännchen selbst steht im Mittelpunkt der Handlung, ist nicht nur ritueller Teil der Rahmenhandlung. Wichtigste Neuerung dabei: die Sandmännchenfigur spricht. Volker Lechtenbrink leiht ihr seine tiefe Stimme – das soll Alter und Weisheit des Sandmannes ausdrücken, widerspricht aber etwas dessen trotz weißem Haar und langem Bart jugendlich-frischem Aussehen. Aber das ist ein nebensächliches Detail – ebenso, wie dass die Realfilm-Sequenzen recht dilettantisch aussehen (gemessen am Standard „normaler“ Kinoproduktionen, die nicht zuallererst einmal Puppentrickfilme sind), oder dass der Fortgang der Geschichte mitunter etwas zu willkürlich erscheint, was nicht mehr mit einer intendierten sprunghaften Traumlogik erklärt werden kann. Oder dass das Schlafschaf Nepomuk, das Miko und den Sandmann begleitet, auf die Dauer die erwachsene Aufsichtsperson doch etwas nervt: Seine Konzeption scheint an Jar Jar Bings orientiert zu sein, nun ja: das erzeugt billige Lacher bei den Kleinen. Die Großen werden dafür mit der Freud-Parodie einer Wiener Schnecke entschädigt, die sich in tiefsinnig-sinnlosen Traumdeutungen ergeht.

„Das Sandmännchen – Abenteuer im Traumland“ ist lustig, spannend, zielgruppengerecht, ohne dass es den Erwachsenen langweilen würde: und von daher genau richtig als Kinderfilm. Und ein gutes Aushängeschild für die deutsche Animationsfilmindustrie.

Im Schatten

(D 2010, Regie: Thomas Arslan)

Die kalte Mechanik des Verbrechens
von Wolfgang Nierlin

Ins diffuse Dämmerlicht der Großstadt prasselt Regen, dessen Geräuschkulisse fast alles zum Verstummen bringt. Unwirtlich und kalt ist die Atmosphäre, von grauer Transparenz die Szenerie. Wie hinter Schleiern bewegt sich …

Ins diffuse Dämmerlicht der Großstadt prasselt Regen, dessen Geräuschkulisse fast alles zum Verstummen bringt. Unwirtlich und kalt ist die Atmosphäre, von grauer Transparenz die Szenerie. Wie hinter Schleiern bewegt sich ein Mann, immer lauernd und ein Versteck suchend, durch das Halbdunkel fahler, anonymer Räume, die sich nur vorübergehend dem Privaten öffnen: Straßen, Garagen, wechselnde Hotels und Parkplätze kennzeichnen diese Passagen durchs Nirgendwo. Trojan (Mišel Matičević), ein Berliner Berufsverbrecher und schweigsamer Einzelgänger, ist „wieder draußen“ und bald darauf steckt er wieder im alten Gefüge, von allen Seiten gesucht und gejagt. Weil er bei einem früheren Auftraggeber und Bandenchef Schulden eintreibt, muss er sich den Nachstellungen zweier Killer erwehren. Daneben gerät er ins Visier eines alten Bekannten namens Renee Meyer (Uwe Bohm), der als korrupter Polizist und bad cop „auf eigene Rechnung“ arbeitet. Und schließlich ist er dabei, mit seiner früheren Pflichtverteidigerin Dora Hillmann (Karoline Eichhorn) einen neuen Coup, den Überfall auf einen Geldtransporter, vorzubereiten.

Thomas Arslan beschreibt in seinem neuen Film „Im Schatten“ eine dunkle, hermetische Welt des Verbrechens, die wie abgetrennt von der Alltagswirklichkeit erscheint und deren kühle Mechanik keine Emotionen zulässt. Diese folgt eigenen Regeln und Gesetzen, wobei Trojans Professionalität, sein rationales Abwägen der Risiken bei schwierigen Entscheidungen geradezu geschäftsmäßige Züge trägt. Wie in den Filmen des französischen Krimispezialisten Jean-Pierre Melville ist dieses „Berufsethos“ Teil einer Welt, in der die Grenze zwischen Gut und Böse, Gesetz und Verbrechen verwischt ist. Minutiös und genau, sachlich und schnörkellos inszeniert Arslan die kriminelle Arbeit seines Helden, die damit verbundenen zeitlichen Abläufe, die Geduld der Verfolger und die kalte, erschreckend präzise Gewalt, die sich in einer Mischung aus Reflex und Kalkül entlädt.

„Im Schatten“ zeichnet die zielgerichteten Bewegungen durch eine Stadtlandschaft auf; dabei erfüllt er als Film die Genre-Codes und findet zugleich einen eigenen, spannungsreichen Ton. Sein verlorener, nicht unsympathischer Held, der zwischen allen Fronten agiert, ist zum Scheitern verurteilt. Trojan verkörpert einen modernen, existentialistischen Sisyphos, dessen Arbeit vergeblich ist und dessen ephemerer Profit wie in einer Art Nullsummenspiel sinnlos zerrinnt. Als einsamer Verfolgter bleibt er auf seiner Reise durch die Nacht mit vager Hoffnung in einem negativen Kreislauf unerlöst gefangen.

Link zum Interview mit Regisseur Thomas Arslan

Banksy – Exit Through the Gift Shop

(USA / GB 2010, Regie: Banksy)

'The words of the prophets are written on the subway walls'
von Harald Mühlbeyer

Auf jeden Fall ist dies ein Film über Street Art. Über öffentliche Kunst in verschiedenen Formen, als Graffiti, Plakatierung, Schablonendruck, Installation, Skulptur, hineingestellt in den öffentlichen Raum, subversiv, illegal, vandalisierend. …

Auf jeden Fall ist dies ein Film über Street Art. Über öffentliche Kunst in verschiedenen Formen, als Graffiti, Plakatierung, Schablonendruck, Installation, Skulptur, hineingestellt in den öffentlichen Raum, subversiv, illegal, vandalisierend. Ein Film über die größte Counterculture-Bewegung seit Punk, wie es im Film heißt, über ihre Künstler mit merkwürdigen Pseudonymen wie Swoof, Borf, Buffmonster, Space Invader oder Banksy.

Wahrscheinlich ist dies ein Film von Banksy, dem mysteriösen Engländer, dem berüchtigten Künstler, dem Guru der Street-Art-Subkultur – dessen Identität keiner kennt, der im Film nur aus dem Schatten heraus und mit verzerrter Stimme auftritt; der sich selbst ein Denkmal setzt mit diesem Film, mit dieser Selbststilisierung.

Möglicherweise ist die Story, die der Film in Form einer Dokumentation erzählt, wahr: Dass ein Franzose in L.A. namens Thierry Guetta mit ausgeprägter Kameraobsession ca. 1999 in den Genuss kam, beobachtender Teilnehmer der Street-Art-Szene zu werden, dass er die ganzen Aktionen auf Video aufnahm, sich mit den Großen der Szene anfreundete und schließlich auf den geheimnisvollen Banksy traf, der ihn in seinen Freundeskreis aufnahm. Den er filmen durfte, trotz der ostentativen Geheimniskrämerei, wobei er das Videomaterial mehr als dilettantisch bearbeitete, woraufhin er 2008 in L.A. selbst zum Street-Artist wurde, mit betont kommerziellem Anspruch freilich, wodurch er die Kunst denunzierte und bedeutungslos machte.

Vielleicht aber ist dieser Plot-Aufhänger nur ein Fake, alles gestellt, um damit eine verdrehte, aber authentische Sicht in die Bewegung zu geben, die sich dabei mit der Aura des Geheimnisvollen umgibt, des Wahrhaftigen, des Unkommerziellen, des reinen Kunstwillens gegen jede Hindernisse – immerhin ist ja alles illegal, was da geschaffen wird. Vielleicht will Banksy mit seinem Film auf hintergründige Weise einen Diskurs führen über Kunst und Kommerz, über Kopie und Original, über Wahrhaftigkeit der Kreativität und Verrat durch Banalisierung.

Eventuell ist der Film aber auch Teil eines Zickenkrieges innerhalb der Szene, mit dem Banksy, der Londoner, den LA-Street-Art-Newcomer Mr. Brainwash a.k.a. Thierry Guetta als dilettantischen Leerkörper denunziert, als reinen Geschäftemacher, der nichts in der Birne hat, völlig inkompetent ist, mit freilich glücklichem Händchen für den richtigen Zeitpunkt, um mit seinem rein epigonischem Werk, das ans Plagiatorische grenzt, Millionen zu scheffeln.

Laut Presseheft ist der Film eine „hintergründige Satire über die Mechanismen von Kunst und Kommerz. Was zunächst ein lustiger Pannenfilm mit Szenepotential zu sein scheint, offenbart sich formal und inhaltlich als intelligentes Spiel um Inszenierung und Realität […], das die letztlich unlösbare Frage nach der Kunst im Zeitalter von Copy & Paste auf völlig neue Art stellt.“ Wobei die vorletzte Seite des Pressematerials herausgerissen wurde – ein Marketinggag um die eventuellen Geheimnisse, die auf dieser Seite standen und nicht offenbart werden sollen?

Man kann nicht recht schlau werden aus dem Film: um deutliche Satire zu sein, sind die Gags – ein tollpatschiger Thierry – zu subtil, zu plausibel eingebaut. Um eine echte Geschichte zu erzählen, ist es auf die Dauer von 87 Minuten etwas langweilig. Immerhin: die unaufgelöste Multivalenz, die Unauflöslichkeit der wahren Intentionen des Films, verhindert genau dies. Und: den Einblick in die Street-Art-Subkultur und die Dokumentation vieler Kunstwerke – deren Lebenszeit ja nur wenige Stunden bis zu ihrer amtlichen Entfernung dauert –, diesen primären Anspruch des Films erfüllt „Exit Through the Gift Shop“ ganz eindeutig.

Rückkehr ans Meer

(F 2009, Regie: François Ozon)

Mutter werden ist nicht schwer, Mutter sein ...
von Ulrich Kriest

Manchmal scheint es ratsam, sich ohne allzu viele Vorinformationen ins Kino zu setzen und sich vom Film auf eine Reise mitnehmen zu lassen. So zum Beispiel vom neuen Film von …

Manchmal scheint es ratsam, sich ohne allzu viele Vorinformationen ins Kino zu setzen und sich vom Film auf eine Reise mitnehmen zu lassen. So zum Beispiel vom neuen Film von Francois Ozon, der im Original so schlicht wie präzise „Le refuge“ heißt. Er erzählt eine Novelle in Kleistscher Manier, berichtet von einer unerhörten Begebenheit. Es beginnt im Elend, das von Reichtum kündet. Der Dealer bringt neuen Stoff zum nicht mehr ganz jungen Paar, das sich in einer Pariser Wohnung von ungeheurer Größe »eingerichtet« hat. Louis ist ein Sohn aus bestem Hause, während die Herkunft seiner Geliebten Mousse ungeklärt bleibt, aber von Louis‘ Familie offenbar als Mesalliance gewertet wird. Nun, ein paar Minuten später hat sich Louis den goldenen Schuss gesetzt – und Mousse überlebt, obgleich sie den gleichen Stoff geschossen hat.

Im Krankenhaus erfährt sie, die Trauernde und Süchtige, dass sie schwanger ist. Louis‘ Mutter macht Mousse bei der Trauerfeier, auf der sie sich ohnehin wie eine Fremde bewegt, unmissverständlich klar, dass Nachwuchs von Louis nicht erwünscht ist. Es wirkt fast als Bockigkeit, dass Mousse sich entschließt, das Kind zur Welt zu bringen. Sie zieht sich in ein kleines Haus an der Atlantikküste zurück; der Gärtner Serge unterstützt sie im Alltag mit Besorgungen. Hatte Francois Ozon bislang alle Segel in Richtung Melodram gesetzt, so wechselt er jetzt radikal den Kurs und liefert eine sehr lässige Sommergeschichte á la Rohmer. Louis‘ jüngerer Bruder Paul, der bereits während der Trauerfeier sensibles Verständnis für die Trauernde gezeigt hatte, kommt zu Besuch. Mousse begrüßt ihn reserviert bis abweisend. Doch Paul ist charmant – und schwul. So wie Serge. Gemeinsam verbringt das Trio viel Zeit zusammen und Mousse, von der wir eigentlich nur sehr wenig wissen, schärft ihren Blick auf die Dinge, der ihr in der Drogenhöhle, die sie mit Louis teilte, abhanden gekommen war.

Ozon erzählt diese Geschichte von der Wiedergewinnung der Welt mit der gebotenen Distanz. Dabei geht es ihm jedoch gerade nicht um eine Ode an das Glück der Mutterschaft, wie sie in trivialeren Filmen angestimmt würde. Eher als beim Ungeborenen ist Mousse mit den Gedanken noch bei Louis, trinkt Methadon wie Hustensaft. So schwer es ihr fällt, eine Beziehung zum Kind zu entwickeln, so leicht scheint dies anderen zu fallen. Als Paul einmal eine Kirche besucht, entgeht ihm nicht, dass es dort nicht nur einen Marienaltar, sondern auch einen Josefsaltar gibt. Gerade einmal 90 Minuten dauert „Rückkehr ans Meer“ und es ist schon erstaunlich, welchen Weg Ozon hier zwischen Tod, Trauer, Geburt und Glück, zwischen Hoffnungslosigkeit und Zukunftsperspektive zurücklegt – ohne auf eine Botschaft zuzusteuern.

Es mag sein, dass man das in seiner Lakonie dann doch überraschende Ende als Anklang einer sexualpolitischen Utopie interpretieren kann. Doch mindestens so sehr handelt der Film vom neugierig-faszinierten Blick der Kamera auf den Körper, den Bauch einer Schwangeren. So legt man gemeinsam mit Mousse und Paul eine erstaunliche Reise zurück, wiewohl der Film das Flair einer sommerlich-entspannten Zeitverschwendung atmet. „Rückkehr ans Meer“ ist im Oeuvre Ozons wohl eher ein schnell hingeworfenes Nebenwerk, das Resultat einer günstigen Gelegenheit; dass es in seiner Gediegenheit und Profiliertheit dennoch überzeugt, belegt den Rang dieses mutig aufs Existentielle zielenden Filmemachers.

Ponyo – Das große Abenteuer am Meer

(JAP 2008, Regie: Hayao Miyazaki)

Fisch-Freundschaft
von Harald Mühlbeyer

Ponyo: so nennt der fünfjährige Sosuke den kleinen Goldfisch, den er am Strand findet. Ponyo, das Fischchen, wird seine Freundin, er kümmert sich um sie, nimmt sie im Eimer mit …

Ponyo: so nennt der fünfjährige Sosuke den kleinen Goldfisch, den er am Strand findet. Ponyo, das Fischchen, wird seine Freundin, er kümmert sich um sie, nimmt sie im Eimer mit in den Kindergarten – und sie liebt ihn zurück, so sehr, dass sie sich in ein Mädchen verwandelt, um bei Sosuke sein zu können.
Sosuke lebt bei seiner Mutter in einem Haus auf einer Klippe über dem Dorf – der Vater ist oft unterwegs, er ist Kapitän eines Dampfers. Abends blinkt Sosuke per Scheinwerfer einen Morse-Gruß an den Vater; und die Mutter, genervt wegen dessen Abwesenheit, schickt ihm auch eine Botschaft: I-D-I-O-T.
Das Goldfischmädchen Ponyo lebt unter Wasser, behütet von Fujimoto, einem Mann im Meer, der sich von den Menschen abgewandt hat, die die Bedeutung von Natur und Mythen nicht mehr kennen. Er lebt in einem Unterwasserboot, umgeben von einer Luftblase, wo er sich um die Meeresbewohner kümmert. Er gebietet über die Mächte des Wassers, und er holt Ponyo wieder zurück nach ihrem ersten Ausflug an Land, zu Sosuke.
Ponyos Mutter ist eine Göttin, Kannon, die für Sanftheit und Mitgefühl steht – von ihr hat Ponyo ihre Zaubermacht und ihre Fähigkeit zur freundschaftlichen Liebe zu einem Menschenkind.

„Ponyo“ ist wohl Hayao Miyazakis bisher größte Annäherung an einen reinen Kinderfilm (wir lassen seine Mitarbeit an „Heidi“ mal außen vor). Die menschliche Hauptfigur, der fünfjährige Sosuke, entspricht ziemlich genau der Basis-Zielgruppe, die Geschichte, die Konflikte sind kindgerecht aufbereitet, alles spielt sich ganz in der Erlebniswelt eines Kindes statt. Und andererseits ist dies ein höchst komplexer Film, der damit auch dem erwachsenen Publikum nicht nur gute Unterhaltung, sondern ein großes und wertvolles Erlebnis beschert. Allein schon dadurch, dass er die Welt eines Kindes nicht kindlich zeichnet, sondern als komplizierten und vielschichtigen Erfahrungskosmos, in dem buchstäblich alles möglich ist.

Dramaturgisch beginnt „Ponyo“ durchaus anspruchsvoll – und überaus faszinierend: Ein Mensch mit wilden Haaren in einer Luftglocke um ein Unterwasserboot kümmert sich um allerhand Meeresbewohner: so bezaubernd wie rätselhaft ist das, und Miyazaki sieht gar kein Bedürfnis, irgendetwas zu erklären. Vielmehr verfolgt er einen kleinen Goldfisch mit Menschengesicht, der ans Ufer schwimmt und dort dem Jungen Sosuke begegnet, und das scheint nun wieder eine ganz andere Handlung zu sein. Nur nebenbei, erst lange in den Film hinein, offenbart sich das Geheimnis um den seltsamen Menschen namens Fujimoto, der da im Meer lebt, der über Wellen und Fische gebietet und der, wenn er an Land geht, sich stets mit einer Pumpvorrichtung feucht halten muss. Er ist Ponyos Vater, ein Mensch, der sich fürs Meer und für die Tiere entschieden hat, gegen die Menschheit mit ihrem Dreck, mit Gift und Chemie – die Ökologie war Miyazaki schon immer ein Anliegen, am deutlichsten Wohl in „Prinzessin Mononoke“ von 1997.

Das Miteinander, die Umschlingungen von Mensch und Natur, Mensch und Göttern, Mensch und Mythen, Mensch und Fantasie sind Miyazakis Themen in „Ponyo“, und Teil dieser Agenda ist auch das Handgemachte, das sein Film niemals verleugnet. Auf traditionelle Art ist dies ein Zeichentrickfilm – und das tut wirklich gut bei all der Technisierung, die Computeranimation und 3D-Produktion in den letzten Jahren durchgemacht hat. Und welch grandiose Bilder er findet für diesen Film, von ungewöhnlichen, staunenswerten Unterwasserwelten, von urzeitlichen Fischen, die in einer Explosion des Lebens neu entstehen, von einem langanhaltenden, wellentosenden Sturm, der das Land überschwemmt, bei dem sich die Sphären von Wind und Wellen, von Wasser und Fischen auflösen; so wie sich auch nie ganz entscheiden lässt, was Luftblase unter Wasser und was Wasserblase an Land ist.

Die Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit von dem, was uns gegensätzlich erscheint, darauf will Miyazaki hinaus. Aber vor allem ist „Ponyo“ ein fantastisches Abenteuer, eine witzig erzählte Geschichte von Freundschaft, die sich ganz auf ihr kindliches Publikum einlässt, die auch familiäre Probleme nie außen vor lässt – die hektische Mutter von Sosuke mit ihrem höchst rasanten Fahrstil, der Zorn von Ponyos Vater, der nur ihr Bestes will. Ein Film, den wirklicher Zauber umhüllt.

Der Karski-Bericht

(F 2010, Regie: Claude Lanzmann)

Jenseits des Vorstellbaren
von Janis El-Bira

Zwei Tage lang hatte Claude Lanzmann den „Kurier“ des Warschauer Ghettos und Augenzeugen der Massenermordung der polnischen Juden, Jan Karski, 1978 in seinem Haus in Washington interviewt. Karski wurde zu …

Zwei Tage lang hatte Claude Lanzmann den „Kurier“ des Warschauer Ghettos und Augenzeugen der Massenermordung der polnischen Juden, Jan Karski, 1978 in seinem Haus in Washington interviewt. Karski wurde zu einer der wichtigsten und ausführlichsten Stimmen in Lanzmanns einzigartiger „oral history“, die als „Shoah“ 1986 zu einem über neunstündigen Film wurde. Beinahe fünfzig Minuten lang erzählte Karski damals noch einmal seine Geschichte, die er seit seinem schon 1944 erschienenen Buch, „Story of a Secret State“, der „Nachwelt“, den Überlebenden und den Tätern immer wieder erzählt hatte: Von seiner Zeit in der polnischen Heimatarmee, seiner Funktion als Kurier zwischen dem polnischen Widerstand und der Exilregierung in London und davon, wie er ins Warschauer Ghetto und ins Konzentrationslager Izbica (das er wahrscheinlich irrtümlicherweise für Belzec hielt) eingeschleust wurde. Er berichtet von dem Grauen, das er sah, von der Bestialität jenseits des Denkbaren. Und Karski sah, um zu berichten. Er ist womöglich, ja wahrscheinlich sogar der einzige Mensch, der freiwillig in einem Konzentrationslager untertauchte, mit dem Vorsatz, der Welt Bericht zu erstatten, Zeugnis abzulegen. Jenes Zeugnis – an sich schon die Ausnahme, denn wer von der Shoah Zeugnis ablegen konnte und kann, der war und ist eine Ausnahme gegenüber der „Regel“ des Mordens und Sterbens – ist bei Karski nicht nur ein überaus ungewöhnliches, sondern zugleich ein tragisches.

Denn wo „Shoah“ seinen Bericht wiedergab, ist „Der Karski-Bericht“, ein Film über das Berichten selbst: Lanzmann hatte sich, das führt er in einem off-Kommentar zu Beginn des „Karski-Reports“ aus, beim Schnitt von „Shoah“ aus künstlerischen Gründen gegen die Verwendung der Materialien des zweiten Interviewtages entschieden, die Karskis Zusammentreffen mit den Führern der westlichen Welt, insbesondere mit Theodore Roosevelt, zum Gegenstand hatten. Insofern ist „Der Karski-Bericht“ eine Art ausführliche, nachträgliche Fußnote zu „Shoah“, bestehend aus den damals nicht verwendeten Passagen des Gesprächs. Karski erzählt hier, selten von Lanzmann durch Nachfragen unterbrochen, wie er darum rang, Roosevelt und dem Supreme Court-Richter Felix Frankfurter das Schicksal der polnischen Juden darlegen zu können. Wo Roosevelt Karski ausweichend antwortete und offenkundig lieber über Militärisches und Fragen der Reparationsleistungen an Polen sprechen wollte, gibt Frankfurter ihm eine deutliche Entgegnung: Er glaubt ihm nicht, ohne gleichzeitig behaupten zu wollen, Karski lüge. Er könne es sich nur nicht vorstellen; weder „Herz, noch Verstand“ würden es ihm erlauben, diesen Ausführungen Glauben zu schenken.

Es ist hier, dass dem „Der Karski-Bericht“ eine Bedeutung noch jenseits der Frage „Hätten die Juden gerettet werden können?“ zuwächst: Im Nicht-Glauben an den geschilderten Horror, gegen den sich alles in Felix Frankfurter gesträubt haben muss, findet die These vom Zivilisationsbruch bezeichnend Gestalt. Niemals zuvor war in diesem Maße die Vorstellung von dem einen Menschengeschlecht derart verstümmelt, ja vielleicht vernichtet worden. Als Film über ein im wahrsten Sinne „unglaubliches“ Zeugnis, das vielleicht angehört, aber nie ganz verstanden werden kann, ist „Der Karski-Bericht“ zugleich ein Spätwerk Claude Lanzmanns, das emblematisch und erschreckend zugleich auch für die Lebensleistung dieses Filmemachers stehen mag.

Zur DVD: Nach einer TV-Ausstrahlung auf Arte im Jahr 2010 erschien „Der Karski-Bericht“ ausschließlich als Teil der Claude Lanzmann-Gesamtausgabe erstmals auf DVD. absolut Medien präsentiert den Film nun auch separat als Einzel-Disc.

12 Monate Deutschland

(D 2010, Regie: Eva Wolf)

Nesthocker und Spiegelleser
von Sven Jachmann

Ein Film als ethnographische Reise: In ihrem Dokumentarfilm portraitiert Eva Wolf vier AustauschschülerInnen, die zwölf Monate bei Gastfamilien in Deutschland verbringen. Was sie zunächst eint, sind die teilweise verheerenden Sprachbarrieren, …

Ein Film als ethnographische Reise: In ihrem Dokumentarfilm portraitiert Eva Wolf vier AustauschschülerInnen, die zwölf Monate bei Gastfamilien in Deutschland verbringen. Was sie zunächst eint, sind die teilweise verheerenden Sprachbarrieren, welche auch zuvörderst dafür verantwortlich sind, die sich schnell abzeichnenden Konflikte und Missverständnisse als Ausdruck kultureller Differenzen zu deuten. Als vorher nicht abzusehender dramaturgischer Kniff tritt später hinzu, dass alle Vier ihre Gastfamilien wechseln werden, die einen mehr, die anderen weniger freiwillig.

Die individuellen Charaktere sind schnell skizziert: Kwasi kommt aus einer Millionenstadt Ghanas und landet im 2000-Seelen-Kaff Rastenberg in Thüringen. Schon aus überbordender Langeweile scheint es ihm ein geheimes Vergnügen zu bereiten, das strenge Regelwerk des neunköpfigen, streng gläubigen Familienkreises konfrontativ auf Flexibilität zu prüfen. Constanza aus Chile trifft es noch ärger: In ihrer Familie eines 200-Einwohner-Dorfes in Sachsen-Anhalt spricht niemand Englisch und Constanzas Vorstellung vom geselligen familiären Zusammenleben weicht schnell einem tristen Alltag, der von PC und TV diktiert wird. Bei Eduardo aus Venezuela hingegen hält sich die Enttäuschung in Grenzen: Schüchtern und recht phlegmatisch gewöhnt er sich schnell ans Hamburger Stadtleben, verbleibt im kleinen Kreis weiterer Austauschschüler, nutzt den neuen Wohnraum als Rebellionsakt gegen seinen konservativen Vater und lässt sich die Haare wachsen – zum Leidwesen seiner sicher grünsympathisierenden Gastfamilie. Dort liest man den Spiegel, grinst stets aufgeschlossen, erwartet hohe Integrationsmotivationen und hält große Stücke auf Literatur. Eduardos Lustlosigkeit, seine Zeit mit der Lektüre eines deutschsprachigen Buches zu verbringen, gleicht da schon einem doppelten Affront. Die Amerikanerin Nairika zu guter Letzt verschlägt es nach Berlin Neukölln zu einer alleinerziehenden, in ihrem Alltagsverhalten dezent pathologisch anmutenden Mutter, die sich mit den Abnabelungsprozessen ihres 18jährigen Sohnes gut stellt. Auch hier wird die mangelnde Geselligkeit später zu Problemen führen.

Genau besehen portraitiert Wolf die vier ProtagonistInnen eher beiläufig. Der Film setzt an mit ihrer Ankunft in Deutschland und arrangiert sie eher als roten Faden, der durch die familiären Lebenswelten geleitet. Wenigen Interviewsequenzen stehen Bilder einer teilnehmenden Beobachtung gegenüber. Wolf tritt nicht als Akteurin, sondern höchstens als Fragestellende hinter der Kamera auf. Im Zentrum steht deutlich die Konfrontation mit dem Fremden, die die innere Dynamik der Mikroeinheit Familie auf den Prüfstand stellt. Selten jedenfalls sieht man in einem Film so viel hektisches Gesichtsgefummel und Kommunikationen, in denen sich die Gesprächspartner nicht in die Augen schauen. Um besagte Dynamiken scheint es jedenfalls tendenziell schlecht bestellt. Da werden starre Regeln aufgestellt, die gelten, „weil es eben so ist“, Brotscheiben sollten nicht zu dick vom Laib abgeschnitten werden oder zur situationsgebundenen Sprachbarriere gesellt sich direkt die habitualisierte Ratlosigkeit wie bei Constanza, die frustriert beobachtet – einer der tragikomischen Höhepunkte und ein wirklich glänzender Glücksfall einer Szene zudem -, wie sich der kollektive Stoizismus im Familienleben kultiviert: Wenn der Vater den Computerspiel zockenden Sohn zu Tisch bittet, sich schweigend gemächlich zum PC-Tisch bewegt, dem Sohn das Spielpad abnimmt und sodann selber weiterspielt, während die junge Tochter am Wohnzimmertisch zum Handheld greift, dann hätte kein Interview dieses Sinnbild kommunikativen Leerlaufs besser einfangen können.

So entspinnt sich im weiteren Verlauf ein Panorama lebensweltlicher Gemeinschaften. Ein Bruch zeichnet sich stets an jenen Stellen ab, wo sich die unterschiedlichen Vorstellungen von Familie entfernen und sich anhand der frustrierenden Erlebnisse aller vier AustauschschülerInnen zeigt, wie unverrückbar diese Modelle auf Neues reagieren. Es ist schon ein recht trister, wenn auch vergnüglicher Blick in bundesrepublikanische Realitäten, dessen Verlauf zumindest noch eine beruhigende Wendung findet: In Gestalt der getauschten Gastfamilien wartet tatsächlich auf alle Vier noch ein happy end. Woher sollten sie auch wissen, dass bereits 12 Monate Deutschland zu viel sein können, um die Bestrafung als Erfahrung schönzureden?

Fish Tank

(GB 2009, Regie: Andrea Arnold)

Ein hakenschlagender Film
von Ulrich Kriest

Hui, solch pittoreske Milieus kennt man hierzulande ja nur von RTL2 oder, wenn es zu spät ist, von der „Vermischtes“-Seite der Tageszeitung – und natürlich aus dem Kino, wenn das …

Hui, solch pittoreske Milieus kennt man hierzulande ja nur von RTL2 oder, wenn es zu spät ist, von der „Vermischtes“-Seite der Tageszeitung – und natürlich aus dem Kino, wenn das nächsten Kitchen-Sink-Drama durchgereicht wurde. Made in Britain. Mia (Katie Jarvis), 15 Jahre alt, läuft durch ihre trostlose Siedlung wie ein offenes Rasiermesser. Sie pöbelt, schlägt zu, trägt Tonnen von Wut in sich. Die Schule hat sie bereits hinter sich. Manchmal bricht sie in eine leerstehende Wohnung ein, um durch ein paar Tanz-Moves einzustudieren. Wir hören jetzt Nas mit „Life’s a bitch“ – und sieht man diese Lebensverhältnisse mit ihrer aufdringlich das Elend wegschminkenden Farbenpracht, dann glaubt man Nas jedes herausgepresste Wort.

Zunächst wundert man sich noch, woher diese Göre ihre Energie hat, doch dann lernt man ihre Familie (oder das, was davon übrig ist) kennen. Bei Mias noch recht junger Mutter (Kierston Wareing) ist die Wut auf die Verhältnisse bereits in Alkoholismus und einem Interesse an schmierigen Fummelparties umgeschlagen. Mias kleine Schwester ist auch so ein Herzchen, das immerhin zu Protokoll gibt, dass Mia die letzte sein werde, die sie beim Amoklauf erschieße. Weil sie sie so gern habe. Es ist ein herzerfrischender Rap, den die Filmemacherin Andrea Arnold („Red Road“) hier fast schon dokumentarisch festgehalten hat – als sei’s ein Film von Mike Leigh mit etwas Poesie als Dreigabe. In der Nachbarschaft steht ein angekettetes Pferd, das Mia wiederholt zu befreien versucht, was den jugendlichen Besitzern gar nicht passt. Das Pferd wird diesen Film nicht überleben. Gerade als man meint, man könne irgendwie absehen, was hier gleich geschieht, öffnet sich plötzlich eine Tür und Licht und Wärme strömen in den „Fishtank“.

Mias Mutter hat einen neuen Lover, der ein Alien zu sein scheint: Connor (Michael Fassbender) hört zu, weil er offenbar ein ehrliches Interesse an seinem Gegenüber hat. Er verfügt sogar über Ironie und Humor. Im Gegensatz zum bislang dominanten HipHop kommt jetzt klassischer Soul in den Film. Und etwas Reggae. Angesichts von so viel offenbar ehrlich gemeinter Empathie ist Mia erst sprachlos, doch dann öffnet sich das Mädchen und fasst Vertrauen. Die Annäherung zwischen der Tochter und dem Freund der Mutter mündet um ein Haar in Sozialkitsch nebst erwartbaren Eifersuchtsszenen, doch dann trinkt Connor eines Abends ein paar Bier zuviel und schläft mit Mia. Am nächsten Tag ist er verschwunden, doch Mia spürt ihn auf und entdeckt, dass sie bislang nur einen Teil der Persönlichkeit Connors kennenlernen durfte und reagiert fassungslos.

In diesen perspektivlosen Verhältnissen lauert hinter einem dünnen Firnis aus Selbstbezogenheit und Gleichgültigkeit immer die Option der Gewalt. Auf der Zielgeraden spielt der Film so überzeugend mit dieser Option, dass der Fortgang der Handlung ein ums andere Mal überrascht. Es läuft alles auf eine spektakuläre Explosion der Gewalt hinaus – was die bestehenden Verhältnisse untermauern würde. Weil man solche Geschichten ja zu kennen glaubt. In diesen letzten Minuten entwickelt der Film eine ganz erstaunliche rhythmische Wucht, wechselt permanent zwischen Macht- und Ohnmachtserfahrungen, blickt in dunkle Abgründe und verweigert dann doch das Spektakuläre, aber auch das Versöhnliche. Am Ende führt Mias Weg nach Wales – und für die Verhältnisse, die „Fishtank“ vorführt, ist Wales schon fast das Ende des Regenbogens. Großes, sozialkritisches Kino mit Wut, Wucht und etwas Herz am rechten Fleck. Ob es von der Hauptdarstellerin Katie Jarvis, die Andrea Arnold von der Straße wegcastete, als sie sich mit ihrem Freund stritt, eine weitere Performance geben wird, ist ungewiss. Sie wurde mit 16 Mutter. Wie im Film.

Piranha 3D

(USA 2010, Regie: Alexandre Aja)

When history bytes back …
von Stefan Höltgen

Dass sich der französische Regisseur Alexandre Aja nach seinem gleichsam fulminanten wie verstörenden Erstlingswerk „Haute Tension“ (2003) gleich in zweierlei Hinsicht hin zum amerikanischen Mainstream bewegt hat, ist gleichermaßen produktiv …

Dass sich der französische Regisseur Alexandre Aja nach seinem gleichsam fulminanten wie verstörenden Erstlingswerk „Haute Tension“ (2003) gleich in zweierlei Hinsicht hin zum amerikanischen Mainstream bewegt hat, ist gleichermaßen produktiv wie erfreulich. Zum einen sind seine nach „Haute Tension“ entstandenen Werke oftmals Remakes gewesen, zum anderen sind sie durch (nicht nur aber durchaus auch finanziell) solide Produktion ausgezeichnet. Im Fall des Remakes vom Joe-Dante-Fisch-Horrorfilm „Piranha“, den dieser 1978 zugleich als Kopie wie als Persiflage auf Spielbergs „Jaws“ (1974) angelegt hatte, zeigt sich der ganze intellektuelle Trickreichtum Ajas.

Denn anders als bei Dante sind Ajas Killerfische nicht das Ergebnis genetischer Tierversuche zum Zwecke der biologischen Kriegsführung – die neuen Piranhas sind eine ausgestorben geglaubte Gattung, die durch ein Erdbeben aus einem unterirdischen See an einen „oberflächlichen“ See gelangt, der alljährlich zum Ziel partyhungriger Studenten wird, die dort ihr „Spring Break“ bei reichlich Alkohol, Drogen und Sex feiern. Als der halb aufgefressene Kadaver eines Fischers (gespielt von „Jaws“-Darsteller Richard Dreyfuss) an den Seestrand gespült wird, sind die ortsansässige Polizistin (Elisabeth Shue) und ihr Deputy (Ving Rhames) vorgewarnt und versuchen die Badegäste vom Baden abzuhalten. Gleichzeitig erleiden die drei Kinder der Polizistin auf dem Piranha-verseuchten See Schiffbruch, weswegen sie sich noch besonders mit der Rettung beeilen muss.

Was als allzu chauvinistischer, Brüste und Hintern in Großaufnahme und Zeitlupe vorführender „Sexklamauk goes Horrorflic“ beginnt – und man fragt sich zwischenzeitlich wirklich, ob sich Aja ideologisch verritten haben könnte –, gerät, nachdem der Piranhaschwarm die Menschenmeute erreicht hat, zu einem der blutigsten Exzesse der Splatterfilmgeschichte. Angesichts der detaillierten Zerstörung junger menschlicher Körper und der schon mehr als sarkastischen Inszenierung von Gewalt und Schmerz wird man als Zuschauer recht brutal daran erinnert, wer diesen Film gedreht hat und dass es sich hier offenbar um eine als Destruktion getarnte Dekonstruktion handelt. Dekonstruiert wird von Ajas „Piranha“(s) zugleich die Genre-Geschichte des 70er/80er-Jahre Tierhorrorfilms, wie die Körperinszenierung neuerer Horrorfilme. Die Piranhas zerfasern die aufpolierte Schönheit ihrer Opfer, die zuvor doch bloß Oberfläche sein wollten und zeigen im Wortsinne, was in ihnen steckt. Das sind neben Knochen, Muskeln, Sehen und viel Blut auch Implantate aus Silikon, die Aja zynisch an der Kamera vorbei in Zeitlupe durch Wasser schweben lässt.

Der 3D-Effekt, der in den Film nachträglich eingebracht wurde, leistet für dieses Projekt ganze Arbeit: Das Bild geht vielschichtig in die Raumtiefe als dass Ereignisse aus ihm heraus in den Kinoraum ragen würden. Das Wasser, das von Beginn des Films an als bedrohlicher und mysteriöser Raum inszeniert wird, erhält durch diese räumliche Schichtung schnell den Charakter eines intermediären Raums, eines Mediums, durch das sich die Killerfische als Dingsymbole der Vergangenheit auf die Gegenwart zubewegen. Diese Gegenwart ist nicht nur die des Party-Strandes, sondern auch die der Filmgeschichte. Die Piranhas verkörpern ein Sinnbild von „Remake“ und zeigen, dass die Filmstoffe der Vergangenheit über durchaus so scharfe Zähne verfügen, dass sie die Images heutiger Genreproduktion aufs Leichteste zu sezieren im Stande sind.

Jud Süß – Film ohne Gewissen

(D 2010, Regie: Oskar Roehler)

Willkommen in der Wohlfühldiktatur!
von Ulrich Kriest

Einerseits ist die Geschichte ja ganz einfach. Man kann sich durchaus selbst einen Eindruck der Produktionsumstände zum inkriminierte NS-Propagandafilm „Jud Süß“ von 1940 machen, wenn man sich dafür interessiert. Es …

Einerseits ist die Geschichte ja ganz einfach. Man kann sich durchaus selbst einen Eindruck der Produktionsumstände zum inkriminierte NS-Propagandafilm „Jud Süß“ von 1940 machen, wenn man sich dafür interessiert. Es gibt Literatur zum Thema, die im Übrigen auch hoch differenziert all jene Positionen spiegelt, die jetzt auch bei der Gespensterdebatte um Oskar Roehlers Film „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ durch die Feuilletons wandert. Es gibt Verurteilungen Harlans (nicht zuletzt durch dessen Sohn Thomas, der einmal gesagt hat, wenn man als Künstler merkt, dass die eigene Kunst zum Mordwerkzeug taugt, gebe es keine Alternative zum Aufhören) und Versuche, ihn zu exkulpieren, indem man seine Melodramen gegen seine Propagandafilme ausspielte oder auch – im Stile der Totalitarismustheorie – Harlans Filme gegen die von Eisenstein ausspielte. Interessanter schienen jedoch diejenigen Ansätze, die versuchten, die Gemeinsamkeiten zwischen den Melodramen und den Propagandafilmen im Melodramatischen zu suchen. Und hier kommt Oskar Roehler ins Spiel, dem es ja gelungen ist, auf den Spuren Fassbinders oder auch Schlingensiefs („Mutters Maske“) die Form des Melodrams durch Trivialisierung und Theatralisierung aufzuheizen, was Filme wie „Suck my Dick“ oder „Agnes und seine Brüder“ ziemlich einzig in der deutschen Filmlandschaft dastehen lässt.

Laut Presseheft wurde Roehler als Regisseur für „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ gerade deshalb ausgewählt. Sagt der Co-Produzent: „Der Hauch von Wahnsinn, der seine Filme durchweht, ist für dieses Thema genau richtig. Sonst würde man in der Angst ersticken, bloß nichts falsch zu machen.“ Womit wir beim Thema wären. Scheiden sich doch nicht nur in der Kritik die Geister darüber, womit wir es bei „Jud Süß-Film ohne Gewissen“ zu tun haben. Sondern auch die Macher haben durchaus unterschiedliche Perspektiven auf ihr Projekt. Wo der eine Produzent „Wahnsinn“ sieht, rühmt der andere Roehlers „kristallklare und beinharte Analyse deutschen Lebens“. Und weiter geht‘s mit dem Vorbehaltsfilm „Jud Süß“ von 1940, der ja eigentlich seit Jahrzehnten nur in geschlossenen Vorstellungen mit Einführung zu sehen sein sollte, aber problemlos im Netz zu sehen ist. Ist der Film ein Mythos? Unsichtbar? Manche Kritiker schreiben jetzt, Harlans Film sei ein primitives, triviales Machwerk. Roehler sieht die Sache anders: „Ich war sehr überrascht. Ich hatte etwas anderes erwartet. Ich hatte mir den Film wesentlich plumper vorgestellt und erlebte plötzlich, wie gekonnt er mit Emotionen spielt, wie genau er besetzt ist, wie wirkungsvoll die Musik eingesetzt wurde. Veit Harlan schuf eine perfekte Illusion, man könnte seinen Film völlig durchgehen lassen als eine Geschichte, die in den reichen Salons spielt und wo der Bösewicht zufällig ein Jude ist. Wie beispielsweise in ‚Oliver Twist‘ von Charles Dickens oder in Gustav Freytags ‚Soll und Haben‘. Das alles ist aber nicht entscheidend. Das zentrale Problem des Films ist, dass er von Anfang an Bestandteil einer perfiden Strategie war. Ein Rad im Getriebe des Holocaust.“

Man könnte in dieser Äußerung ein ambivalentes Verhältnis Roehlers zum historischen Film erkennen: die Anerkennung eines ziemlich durchtriebenen und funktionierenden Melodrams, das durch die Zeitläufte politisiert und mörderisch wurde. Fassen wir jetzt mal kurz zusammen: „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ ist ein SPIELfilm, ein fiktives Making of des Harlanschen „Jud Süß“ nebst einen biografischen Weiterungen, zentriert um die Figur des Hauptdarstellers Ferdinand Marian, für den diese Hauptrolle die „Rolle seines Lebens“ werden sollte. Aber Marian wollte diese Rolle nicht – und auch von Harlan selbst ist überliefert, dass er lieber einen anderen Stoff verfilmt hätte. Aber Goebbels hatte die Vorstellung von einem antisemitischen Film, der auch als künstlerisch wertvoll durchgeht. Eine Antwort des Nationalsozialismus auf die bewunderten Filme der Amerikaner und der Russen. Und deshalb arbeitete mit, wer damals Rang und Namen hatte: Heinrich George, Eugen Klöpfer, Kristina Söderbaum, Hilde von Stolz, Albert Florath, Otto Hunte etc. Und eben auch Ferdinand Marian, der von Goebbels zwar „mit einigem Nachhelfen“ (Goebbels-Tagebuch) überredet werden musste, der aber als Frauenschwarm galt und sich als Verführer in Filmen wie „La Habanera“ und – nach „Jud Süß“ – in „Romanze in Moll“ profiliert hatte.

Sieht man Marian in Harlans „Jud Süß“, so hat auch hier seine Rolle als Verführer-Rolle angelegt, wodurch sein Spiel etwas Mephistophelisches bekommt. Genau diese Dimension entzieht Roehler in seinem Film Marian und zeigt ihn als politisch desinteressierten, hilflosen, nicht sonderlich intelligenten, eitlen und jederzeit promisken Hallodri, der nicht aus moralischen Gründen das Rollenangebot zurückweisen möchte, sondern eher, weil er einen Image-Schaden befürchtet. In Interviews hat Roehler betont, ihm sei es darum gegangen, die Tragik der Figur zu zeigen. Einer Figur, die sich auf ein Spiel einlässt, das ein paar Nummern zu groß für sie sei. Dieser Ansatz hat es allerdings nicht in den Film geschafft, der keiner seiner Figuren die Größe für Tragik zugesteht. Hier gibt es lauter eitle, mitunter unbedarfte Menschen, die es sich im Schatten der Macht gutgehen lassen! Menschen, die sich irgendwie durchlavieren wollen nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ Und vor allem gibt es Künstler, die sich eingerichtet haben in den Verhältnissen, die mitspielen, aus Eitelkeit, Karrieregeilheit, Dummheit, Zynismus, aber gerne mit Hang zur pathetischen Geste. Wobei zwischen all diesen Dingen nicht sonderlich geschieden wird, weil die Grenzen fließend sind. Roehler zeigt all dies holzschnittartig, als knallige Kolportage aus tausendmal gesehenen Bildern, Szenen und Konstellationen.

Und das Resultat ist dann doch erstaunlich doppelbödig und bemerkenswert riskant. Denn es kann ja nicht einfach als ausgemacht gelten, dass sich der Untertitel „Film ohne Gewissen“ nur auf den Harlan-Film von 1940 bezieht. Was bedeutet es aber, wenn man einen Film über einen Film dreht, bei dem einst die Nazis die Creme de la creme der in Deutschland gebliebenen Schauspieler einsetzten – und man selbst tut es dem Film nach – und besetzt all die Schauspieler, die Bernd Eichinger auch immer auswählt, wenn er den „Untergang“ oder den „Baader Meinhof Komplex“ drehen will. Man kann nur staunen, wie gnadenlos Roehler mit dem Typus des „Schauspielers“ ins Gericht geht, wie auch Goebbels kurzerhand in einer der schönsten Szenen des Films zum (verhinderten?) Schauspieler und Bonvivant erklärt wird, wie mühelos der Film Geschichte und Gegenwart in Beziehung setzt. Hier kocht jeder sein eigenes Süppchen, pocht auf Privilegien – und als es einmal darum geht, dass jemand einen befreundeten Juden retten will (nicht etwa alle Juden), fällt Goebbels dem Bittsteller ins Wort: Jeder kenne schließlich einen netten Juden und – ratzfatz – plötzlich hätte man 80 Millionen netter Juden am Hals. 80 Millionen?! Darf man sich jetzt daran erinnert fühlen, dass die Goldenen Zitronen nach dem Mauerfall mal mit dem Song „80 Millionen Hooligans“ einen kleinen Underground-Hit hatten? Nimmt man solche Spreng-Sätze und addiert den dumpf-mörderischen Ausdruck in den Gesichtern der jungen deutschen Soldaten im Frontkino hinzu, dann muss man schon sagen: Roehlers Film ist schon sehr angewidert von den Menschen, die er hier porträtiert, und explizit deutschenfeindlich. Was der Original – „Jud Süß“ von 1940 – zumindest aus heutiger Perspektive in seinen Pogrom-Szenen übrigens auch schon war. (Nur zur Erinnerung: Der Jude als Verführer der Frauen und Kinder spukt schon sehr früh in den Köpfen der braven Stuttgarter Bürger herum. Von der fast schon komischen Keuschheit der Ehe zwischen dem Schreiber und der Tochter Sturms nicht zu reden. Es scheint, als benötige der temperamentvolle Jüngling all seine Energie für seine antisemitischen Ressentiments.) Der Tanz auf dem Vulkan speist sich aus eklatantem Menschenhass, Minderwertigkeitskomplexen und Impotenz. Ungleich stärker als um Moral kreist „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ um sexuelles Begehren – und zwar auf allen Ebenen. So wie Harlans „Jud Süß“ um die Verführung der Söderbaum zentriert ist (und der Aufstand gegen den Juden Oppenheimer aus der Erfahrung der Impotenz der Stuttgarter Bürger erwächst), so ist Roehlers Film geradezu eine Choreografie der Geilheit. Weshalb die häufig als geschmacklos kritisierte Szene vom Fick beim Luftangriff, bei der die arische Ehefrau des SS-Mannes, der im Osten den Holocaust abwickelt, den Schauspieler Marian dazu anhält, noch einmal die Rolle des Jud Süß Oppenheimer zu spielen, auch der Moment, an dem die sexuellen Energien des Films zusammenkommen. Hier ist Roehler ganz nah bei Pasolini und Schlingensief – und bei unserer Gegenwart.

Man hat Roehlers Film ein paar (durchaus vermeidbare) historische Fehler und Zuspitzungen vorgehalten, aber worauf gründet denn die Annahme, hier werde ein historischer Stoff »authentisch« rekonstruiert. (Man denke nur an die pointiert melodramatische Zuspitzung von Marians Tochter, die aus der Schule die „neuen“ Werte und das Horst Wessel-Lied mit nach Hause bringt und ihre »liberalen« Eltern sprachlos macht!) „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ erzählt von der psychischen Disposition des Mitmachens, erzählt von Sexualität und Entfremdung, von Masken und Fehl-Haltungen, von Karrieregeilheit und Selbstekel beim Blick in den Spiegel. Im Presseheft zum Film findet sich ein Statement des Produzenten Franz Novotny, das sich liest, als ginge es um Berlin Mitte, obwohl es um das „Leben in der Wohlfühldiktatur“ gehen soll: „Denn das Leben in der Spaßgesellschaft der 30er sah ganz anders aus, als wir es wahrhaben wollen: Smarte urbane Menschen suchen Vergnügen, Mercedesfahren ist auf den breiten Chausseen ein Heidenspaß, die Restaurants sind ein Genuss, die Mädels werfen sich einem an den Hals, es ist einfach berauschend als erfolgreicher, junger Aufsteiger in dieser deutschen Stadt Berlin zu leben. Wir sind beim Film! Wir können Karriere machen, Hitler und Goebbels geben uns die Chance! Dafür nimmt man einiges in Kauf, Kleinigkeiten wohl, bei denen man wegsehen kann. Das bisschen Uniform, das mit den Juden, das gibt sich wieder. (…) Wir nehmen die Korrektur vor: Es war pfiffig und angenehm, sich zu den passiven und den aktiven Befürwortern des Systems zählen zu können. Man hat sich‘s bis weit zum Untergang sehr gut gehen lassen.“ Man wüsste allzu gerne, ob die Schauspieler, die hier ihre opportunistischen Vorgänger mit Verve bei ihrer Arbeit und in ihrer Freizeit zu porträtieren wussten, zumindest ahnten, auf welches böse Spiel sie sich eingelassen haben.

Wie man es dreht und wendet: man kommt bei diesem Film aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Man staunt über die Boshaftigkeit und die Verachtung, die der Film über Bande seinen eigenen Darstellern entgegenbringt. Man staunt über Kritiken, die nichts Besseres zu tun haben, als dem Film seine historischen Fehler vorzuhalten und darüber seine Qualitäten übersehen, so als müsste das Schmuddelkind Roehler in die Schranken gewiesen werden, wenn es ums Seriöse geht. Deutsche Geschichte ist hierzulande eben Chefsache – und der Chef zeigt uns, wie es wirklich zuging in deutschen Landen, die Menschen hinter den Monstern. Und dann liest man die etwas verzagten, mal defensiven, mal offensiven, mal hadernden Statements und Interviews der Filmemacher, vom Regisseur, vom Drehbuchautor, von den Produzenten, von den Schauspielern und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier jeder an seinem eigenen Film gearbeitet hat, dass jeder Beteiligte eine andere Sicht der Dinge hat. Und das ist ja nun fast wieder wie bei „Jud Süß“, dem Original von 1940, der, wie Veit Harlan in „Im Schatten meiner Filme“ behauptet hat, den erbitterten Kampf eines Juden wider den grassierenden Antisemitismus zeige.

Der letzte Exorzismus

(USA / F 2010, Regie: Daniel Stamm)

Southern Gothic for the Digital Age
von Harald Steinwender

Jesus selbst sei ein Exorzist gewesen, erklärt der charismatische Prediger Cotton Marcus (Patrick Fabian) dem Filmteam, das sich aufgemacht hat, einen modernen Dämonenaustreiber zu porträtieren. Doch Marcus, einst ein eifernder …

Jesus selbst sei ein Exorzist gewesen, erklärt der charismatische Prediger Cotton Marcus (Patrick Fabian) dem Filmteam, das sich aufgemacht hat, einen modernen Dämonenaustreiber zu porträtieren. Doch Marcus, einst ein eifernder evangelikaler Priester und noch immer praktizierender Exorzist, glaubt schon lange nicht mehr an den Teufel. Exorzismen betrachtet er eher als einen Gemeindedienst, das letztmögliche Mittel, wenn Schulmedizin und Psychiatrie nicht mehr helfen. Nebenbei sind sie eine gute Einkommensquelle für den Prediger. Und so sind seine Exorzismen allesamt Scharlatanerie, bei der geschickt platzierte Drähte, Soundeffekte und theatralische Mimik zum Einsatz kommen. Meist reicht das aus, den oder die „Besessene“ zur Räson zu bringen, gewissermaßen als spirituelles Placebo. Nun aber will der Priester aus dem Geschäft aussteigen. Ein fehlgeschlagener Exorzismus an einem autistischen Jungen hat ihn endgültig vom Glauben an sein Tun abgebracht. Nur einen allerletzten Exorzismus will er noch durchführen, dem Dokumentarteam zuliebe, und dabei alle seine Tricks aufdecken. Dass es dieser letzte Exorzismus in sich haben wird, daran zweifelt niemand, der mehr als einen Horrorfilm gesehen hat.

Also fahren Marcus und das Filmteam nach Louisiana, Mississippi, in den tiefsten Süden; dahin, wo die Menschen noch etwas anders ticken, in vernuscheltem Singsang sprechen und schon vor Katrina die Armut groß und der Glaube noch stärker war. Ein weißer Farmer (Louis Herthum) hat um Hilfe gebeten: seine bislang lammfromme Teenagertochter (Ashley Bell) schlachtet im Schlaf sein Vieh und bekommt von ihrem Kruzifix Ausschlag. So etwas muss ja mit dem Teufel zugehen. Der Weg zu der abgelegenen Farm – und abgelegen sind Farmen in dieser Sorte Film immer – ist gepflastert mit bösen Omen: fast verwittert wirkt die Landschaft, die an den Autoscheiben vorbeizieht, die Menschen, die die Besucher nach dem Weg fragen, bestenfalls seltsam, ein rothaariger Teenager wirft gleich fauliges Obst gegen die Heckscheibe, dem Soundeffekt sei Dank der erste Schock des Films. Auf der Farm wird das Team schnell mit einer Situation konfrontiert, von der bis zuletzt unklar bleibt, ob sie Resultat religiösen Wahns, familiärer Gewalt oder ganz reales Teufelswerk ist (oder gar etwas von allem).

Bis zum bitteren Ende wird das alles konsequent durch die Kameras des Filmteams gezeigt – verwackelt, mit Aussetzern und Sprüngen, irritierenden Schwenks, kurz: allem, was Unmittelbarkeit suggeriert. Wenn innerhalb der Handlung die Aufnahmen abgebrochen werden, bleibt auch im Kino die Leinwand schwarz bzw. die Handlung setzt eine Ellipse später wieder ein. Wer das Material allerdings geschnitten haben und für den großartigen Sound verantwortlich sein soll, bleibt unbeantwortet. So könnte man „Der letzte Exorzismus“ als „Mockumentary“ oder Fakedoku aus „found footage“ beschreiben.

Das ist natürlich eine alles andere als neue Idee. Spätestens nachdem „The Blair Witch Project“ (1999) dank geschicktem viralen Marketing unverschämt viel Geld in die Kassen des kleinen Artisan-Studios gespielt hatte, war klar, dass die Mischung aus verwackelt-unscharfen Kamerabildern, digitalen Dropouts und allerlei esoterisch-mystischem Brimborium nicht der einzige Vertreter seiner Art bleiben würde. Neben dem unvermeidlichen Sequel „Book of Shadows: Blair Witch 2“ (2000) folgten, mehr oder weniger deutlich an der Vorgabe orientiert, der spanische Beitrag „[REC]“ (2007), aus den USA „Paranormal Activity“ (2007) und „Cloverfield“ (2008), zuletzt die Fortsetzungen „[REC] 2“ (2009) und – fertig gestellt, aber noch nicht gestartet – „Paranormal Activity 2“ (2010). Selbst solide Genreware wie Zack Snyders „Dawn of the Dead“-Remake (2004), Neil Marshalls origineller „The Decent“ (2005) und George A. Romeros „Diary of the Dead“ (2007) kam nicht mehr ohne Sequenzen aus, in denen die Protagonisten nicht wenigstens sporadisch das Geschehen selbst filmten und in deren Folge uns dann das meist grünstichige Gekrissel als Realismus verkauft wurde. Im Rückblick gelang es eigentlich nur Neill Blomkamp im fulminanten Auftakt seiner Anti-Rassismus-Satire „District 9“ (2009), der Idee der Fake-Dokumentation noch einmal neuen Reiz abzugewinnen.

Jenseits des pseudorealistischen Mehrwerts bietet die subjektive, vermeintlich von den Protagonisten selbst geführte Kamera im Kino das Versprechen einer neuen Unmittelbarkeit. Die Mockumentary, also der gänzlich gefälschte Dokumentarfilm, ist der zumindest potentiell subversive Endpunkt dieser Tendenz. Dass viele dieser Filme sich jedoch mit Aberglaube, Satanismus und Geistern beschäftigen, kurz: mit allem, was Paranoiker und Esoteriker begeistert, verwundert nicht. Die paranoide Vorstellung, dass nichts ist, was es scheint, lebt gerade von den gefälschten oder unscharfen „Beweisen“ angeblicher übernatürlicher Aktivitäten – sei es nun die Teufelsfratze, die in Fotografien der Rauchschwaden über den Twin Towers am 11. September zu sehen ist, die Schnappschüsse des toten Michael Jackson, der in seiner Neverland-Villa wandelt oder überbelichtete Bilder von Geistern. Der an Phantasie schwache Geist benötigt „Beweise“ gleich einem Talisman, egal wie offensichtlich falsch sie sind. Was für den Spiritismus der Jahrhundertwende die Fotografie war, erfüllt heute für das mit dem Okkulten beschäftigte Kino die Digitalkamera – als unmittelbarer Signifikant von Realismus und Authentizität.

Warum also sollte man sich einen weiteren Film ansehen, der sich dieser Stilmittel bedient und obendrein offenbar an William Friedkins reaktionärem Über-Horrorfilm „The Exorcist“ angelehnt ist? Ganz einfach, weil „Der letzte Exorzismus“ ein überraschend effektiver, mit reichlich schwarzem Humor versehener kleiner Genrebastard ist, der eher an die Traditionen des sleazig-trashigen 70er-Jahre-Kinos anschließt als an allzu prätentiöses Bekehrungskino à la Friedkin. In seiner Konsequenz erinnert Daniel Stamms Film dabei an Ti Wests ausgezeichnetem Retro-Horror „The House of the Devil“ (2009). Und im Gegensatz zu seinen ebenfalls nach Hollywood ausgewanderten Kollegen Marcus Nispel und Christian Alvart gelingt es dem in Hamburg geborenen Stamm, trotz – nicht aufgrund – des falschen dokumentarischen Gestus so etwas wie eine höhere Glaubwürdigkeit zu erzeugen. Das liegt vor allem an den ausgezeichneten Schauspielern, dem authentischen Südstaatensetting und daran, dass der Film sehr geschickt schon im ersten Akt innerdiegetisch seinen eigenen „Fake“-Charakter thematisiert, wenn der vermeintliche Exorzist sich mit entwaffnender Offenheit als begabter Scharlatan outet. Auch das geringe Budget – „Der letzte Exorzismus“ hat gerade einmal 1,8 Millionen Dollar gekostet, aber allein in den USA bereits über 40 Millionen eingespielt – trug zu einer dramaturgischen Begrenzung aufs Nötigste bei, was dem Film sehr zu Gute kommt.

Wer also nach dem eher lauen Horrorsommer und vor dem Start von Alexandre Ajas grotesk-großartiger 3D-Schlachtplatte „Piranha 3D“ Lust auf ein gelungenes Genrestück hat, der sollte Daniel Stamms veritablem Terrorfilm eine Chance geben. Im Idealfall allerdings in der englischen Originalfassung. Der eingedeutschte Trailer lässt in Bezug auf die Synchronisation leider Schlimmstes vermuten. Und wie erklärt schon der falsche Exorzist dem Filmteam in „Der letzte Exorzismus“: Der Sound ist immens wichtig für das Gelingen einer guten Show.

Männertrip

(USA 2010, Regie: Nicholas Stoller)

72 Stunden mit dem Rockstar-Es
von Joachim Schätz

Aldous Snow ist eine amerikanische Phantasie vom britischen Rockstar: ein Knäuel aus Dandy, Partytier und Drama-Queen, gesegnet mit einem nasalen Zungenschlag, der in gleichem Maß Souveränität und Weggetretenheit markiert. Der …

Aldous Snow ist eine amerikanische Phantasie vom britischen Rockstar: ein Knäuel aus Dandy, Partytier und Drama-Queen, gesegnet mit einem nasalen Zungenschlag, der in gleichem Maß Souveränität und Weggetretenheit markiert. Der gockelhafte Stadionrockgott in hautengen Lederhosen ist drogensüchtig und einsam, aber trotz aller Neigung zu Selbstzerstörung und -mitleid eben kein tragisch verglühender Hendrix-, Morrison- oder Joplin-Komet, sondern: good, clean dirty fun. („British motherfuckers never die“, wie ein sehr lebhafter P. Diddy hier einmal poetisch, wenn auch pophistorisch verkürzt anmerkt.)

Seinen ersten Auftritt absolvierte der spindeldürre Lead-Sänger der fiktionalen Band „Infant Sorrow“ 2008 in der von Comedy-Mogul Judd Apatow produzierten Beziehungskomödie „Forgetting Sarah Marshall“: Dort war Snow – dem der britische Komiker Russell Brand Manierismen und Garderobe leiht – Nebenbuhler des Helden: Als solcher durfte er sich, wie das im Planetensystem Apatow üblich ist, von der Karikatur zum Charakter entfalten, ohne seine Lächerlichkeit preiszugeben. Nicholas Stoller, Apatow-Schüler und Regisseur von „Forgetting Sarah Marshall“, hat Aldous Snow nun mit „Get Him to the Greek“ (zu deutsch: „Männertrip“) in das Zentrum einer eigenen Komödie gestellt – und dabei seine Signifikanz für den Apatow-Erzählkosmos entscheidend verschoben.

Statt den schrulligen Exoten am Bildrand zu geben, personifiziert Brand hier quasi in Reinform jenes hedonistische Es, mit dem Apatows Bubenkomödien stets kokettieren, um dann doch verantwortungsbewusst im Schoß mittelständischer Familienwerte zu landen. Für Aldous Snow gibt es, im Gegensatz zur „40-Year-Old Virgin“ Andy oder den Teenagern in „Superbad“, keinen Ausweg in monogame Zweisamkeit. Die Frage von „Männertrip“ lautet: Was passiert, wenn das Rockstar-Es eine Apatow-Komödie hijackt, und wo schlägt das biedere Über-Ich zurück? Die Versuchsanordung ist als Buddy-Reisedrama angelegt: Der Musiklabel-Mitarbeiter Aaron Green (Jonah Hill) soll Snow binnen 72 Stunden von London zu einem Comeback-Konzert nach Los Angeles bringen. Der Auftrag von Aarons Vorgesetztem Sergio (P. Diddy) ist widersprüchlich: Snow soll möglichst nüchtern durch seine PR-Boxenstops getrieben werden, wenn nötig gilt es ihn aber durch gemeinsame Ausschweifungen bei Laune halten. Und da das Drehbuch in einer tollpatschigen Geste vor Aarons Abreise schnell noch seine Freundin abserviert (aber sicherheitshalber nur so halb), darf er auch ohne moralische Krise Groupie-Sex haben.

Das Experiment verläuft, komödiantisch wie ideologisch, eher ernüchternd: Ohne die Spannung mit Moralcodes und Romantikformeln eines US-amerikanischen Mittelstands-Mainstreams verflacht der Bubenspaß aus Drogenkonsum und Bimbo-Sex zu übersteuerten Sketches. Aldous Snows Exzesse werden dabei zwar als gelebter Alltag anerkannt. Aber wenn gegen Ende deviantes Begehren in eine Paarbeziehung jenseits des Rockgötterhimmels einzusickern droht, dann zieht der Film die Notbremse. Und zwar so unvermittelt, dass man den Ruck spürt.

Die seltsame Unwucht von „Männertrip“ hat freilich noch andere Ursachen: Das Showbiz-Milieu bietet reichlich Gelegenheit für Gastauftritte (endlich Metallica-Drummer Lars Ulrich und Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman im selben Film!), entzieht den zahlreichen Popkultur-Scherzchen aber jeden alltagsnahen Resonanzraum. Und das gelassene Ensembleblödeln, das andere Apatow-Filme auszeichnete, kann sich in der gehetzten Countdown-Struktur kaum mehr entfalten. Nur wenn der Film nach Las Vegas reist, nicht erst seit „Knocked Up“ die US-Hauptstadt männlicher Sehnsucht wie Hysterie, findet der schrille Tonfall seine eigene Integrität: In einer Slapstick-Sequenz, an der Schauspieler-Altspatz Colm Meaney, ein Drogencocktail und eine mit Fell tapezierte Wand wesentlichen Anteil haben, macht der Film endlich ernst mit seiner Vulgarität. Für diese fünf Minuten schaut dann sogar Stollers klobige Mise-en-scène aus, als wäre sie Teil der Komik.

Der siebente Kontinent

(AT 1989, Regie: Michael Haneke)

Der Terror des geregelten Lebens
von Wolfgang Nierlin

Das Leben ist unter Verschluss in Michael Hanekes verstörend konsequentem Film „Der siebente Kontinent“, dem ersten Teil seiner Trilogie über „emotionale Vergletscherung“. Bereits die Eröffnungssequenz in der Autowaschanlage, ein wiederkehrendes …

Das Leben ist unter Verschluss in Michael Hanekes verstörend konsequentem Film „Der siebente Kontinent“, dem ersten Teil seiner Trilogie über „emotionale Vergletscherung“. Bereits die Eröffnungssequenz in der Autowaschanlage, ein wiederkehrendes Motiv in dem repetitiv gebauten Werk, liefert diesbezüglich Bilder eines klaustrophobischen Eingeschlossenseins. Die Dialektik zwischen Innen- und Außenraum markiert die im Folgenden thematisierte Differenz zwischen gesellschaftlicher Funktionstüchtigkeit und innerer Leere, in der die Figuren gefangen sind. Die Windschutzscheibe mit ihrer verwischten Transparenz fungiert dabei als eine Art zweite Leinwand und Projektionsfläche für die subjektiven Blicke der Autoinsassen: Einem in Sprachlosigkeit erstarrten Paar, dessen Schweigen von der bedrohlichen Geräuschkulisse der Autowaschanlage kontrastiert wird. „Welcome to Australia“ verkündet schließlich ein Werbeplakat am Ende des Waschvorgangs und schenkt dem Filmtitel zugleich das zentrale Sehnsuchtsbild.

Dann, mit Beginn des nach Jahreszahlen in drei Teile gegliederten Films, wird die dreiköpfige Familie vorgestellt, wobei die Gesichter der Protagonisten lange ausgespart bleiben. Genauer gesagt, ist es also eher die Symptomstruktur mechanischer, täglich wiederkehrender Handlungen und Verrichtungen, die in Detailaufnahmen vorgeführt und seziert werden. Diese ebenso rigorose Abstraktion wie brutal verdichtende Reduktion gibt dem Ausschnitt eine emblematische Bedeutung. Vom pünktlichen Signal des Radioweckers, der – es ist das Jahr 1987 – Kriegsnachrichten aus dem Irak bringt, über die Ordnung der Zahnbürsten im Bad bis zum elektrisch gesteuerten Garagentor, das sich wie ein Sargdeckel oder eine Bunkertür öffnet, entsteht so ein Terror des geregelten Lebens. Die bewusst kalt und steril ins Bild gesetzte Mechanik der Lebenszusammenhänge lässt kein Außerhalb zu, kaum ein Atmen. Und auch die anvisierte Freiheit des Zuschauers ist in diesen gelenkten Blicken eingeschlossen.

Haneke sagt, er zeige, ohne zu erklären. Tatsächlich betreibt sein Film, der den auf einem wahren Fall basierenden kollektiven Selbstmord einer Familie protokolliert, keine Ursachenforschung. Und doch erzeugt die Struktur des Films mit seinen abrupten Zäsuren, die in wenig entlastendem Schwarzfilm münden, selbst jenen Alptraum, von dem hier die Rede ist. Zwischen der Wahrnehmung einer unerträglich gewordenen Existenz und einer akribisch geplanten Tat, die sich von der Abschottung über eine gründlich durchgeführte Zerstörungsorgie bis zur kalkulierten Selbsttötung erstreckt, liegt jedoch die Reflexion. Deren Aussparung in Hanekes Film, also der fehlende innere Blick der Figuren auf sich selbst, macht diese zu Marionetten eines künstlerischen Konstrukts, das seine emotionalen Wirkungen zwar nicht verfehlt, aber mit der Unfreiheit der Figuren auch noch die mögliche Freiheit des Zuschauers opfert.

Pianomania

(D / AT 2009, Regie: Lilian Franck, Robert Cibis)

0,4 mm Highbrow
von Andreas Thomas

„Wollen Sie wissen, wie schwer Musik ist? Dann heben Sie doch mal ein Klavier hoch!“ Nein, solch schlechte Scherze macht Stefan Knüpfer, der Meisterstimmer und Cheftechniker der Pianofirma Steinway & …

„Wollen Sie wissen, wie schwer Musik ist? Dann heben Sie doch mal ein Klavier hoch!“ Nein, solch schlechte Scherze macht Stefan Knüpfer, der Meisterstimmer und Cheftechniker der Pianofirma Steinway & Sons nicht, er klemmt stattdessen eine Violine als Ersatzbein unter den Flügel und alles wundert sich, dass die nicht kurzerhand einknickt. Knüpfer ist ein klein bisschen verrückt und deshalb auch der Held des Dokumentarfilms „Pianomania‘. „Piano“, weil es hier um Klaviere, Klavierstimmer und Klavierspieler geht, und „Mania‘, weil ja Wahnsinn und Genie bekanntlich dicht bei einander liegen und weil vereinzelte Symptome für beides bei dem begnadeten Handwerker sowie den von ihm betreuten Stars (ein freundlicher Alfred Brendel , ein lebhafter Lang Lang, ein klangsensibler Pierre-Laurent Aimard) nicht immer und nicht ganz von der Hand zu weisen sind.

Am „speziellsten“, wie Knüpfer es bezeichnet, fallen die Wünsche von Aimard aus: Für die Aufnahmen seiner Intonationen der Bach’schen „Kunst der Fuge“ wünscht er für jede einzelne Fuge einen anders präparierten Klang, einmal Klavichord, einmal Cembalo, einmal Orgel – aber alles auf dem gleichen Flügel! Knüpfer verbringt also die Spielpausen mit Klopfen, Schrauben, Zupfen, Oberton verstärken, Oberton dämpfen, die Hämmereinstellungen, die Dämpfer, verstellen, die Stimmung verändern, so lange, bis Aimard nicht mehr sagt: „Sehr schön. Aber eine Frage noch …“, ein Satz, dem mindestens 12 Überstunden folgen könnten. „Für mich ist das keine Qual, für mich ist das eine wissenschaftliche Erfahrung“ sagt Knüpfer, und sein Blick zuckt dabei ein klein wenig angespannt.

Ausschließlich von Abenteuern dieser Art berichtet „Pianomania“, von der Arbeit des wohl bestbezahlten Klavierstimmers des Planeten, von der Manie, den perfekten Klang zu finden, vom bedingungslosen Dienst am Künstler, also dem Dienst an der Kunst selbst. Von dieser Prämisse gehen alle gleichermaßen unhinterfragt aus: Musiker, technischer Ausstatter und Kamerateam. Im Film „Pianomania“ versammelt sich eine etablierte Elite der Hochkultur E-Musik und die etablierteste Company des Klavierbaus, um dezent ihre Wichtigkeit für den Kulturbetrieb zu demonstrieren, sprich: das Quäntchen High-Brow, das es braucht, um sich von dem Rest der Menschheit zu unterscheiden, muss bei so viel gesellschaftlicher Akzeptanz nicht höher sein als die fehlende Breite der falsch gelieferten Flügel-Hämmerchen, also etwa 0,3 bis 0,4 Millimeter.

Sicherlich muss man Respekt haben vor der Leistung dieser Musiker und auch besagter Aimard im Film glänzt durch seine virtuose Bachinterpretation – so wie auch Knüpfer durch sein überaus feines Gehör und seine Kunst der Feinabstimmung. Vom kleinsten Saitenzupfen bei der Stimmung bis zum Konzertmitschnitt, jeder Ton im Film wurde mittels eines aufwändigen Aufnahmeverfahrens in Dolby Surround-Qualität und auf bis zu 90 Tonspuren aufgezeichnet, und gerade hier verbirgt sich vielleicht, worin die besagte Pianomania auch besteht: Nicht nur in der Pflege der Kunst des Musizierens, sondern im Dienst des perfekten Klangs, als wäre Kunst zur Hälfte schon eine Frage der High Tech. Aber so viel gibt Stefan Knüpfer selbst zu: „Ein bisschen neurotisch bin ich auch. Wenn mir der Klang eines Klaviers im Radio oder auf CD nicht gefällt, dann muss ich abschalten.“

„Pianomania“ ist ein interessanter Film über die zeitgenössische Auffassung des ‚Klassischen‘ Klaviertraktaments, aber auch generell über die so genannte Ernste Musik, die als ein wichtiger Bestandteil bildungsbürgerlicher Kultur seit Jahrhunderten ein in ihren Bestandteilen und Ritualen, unberührt von jeglichen anderen, neueren Musiken, welche nicht das Prädikat „E“ besitzen, nahezu unverändertes Eigenleben führen kann. Die klassische Musikkultur hat sich viel weniger als alle anderen Kunstformen durch die Moderne beeinflussen lassen. Dadurch fehlen ihr, im Gegensatz zu etwa neuer künstlerischer Popmusik, Berührungspunkte mit der Gegenwart. Trotzdem gilt sie und gelten ihre Protagonisten immer noch weithin als die ultimativen Bewahrer und Pfleger dessen, was landläufig Musik genannt wird. Der Film „Pianomania“ wäre vielleicht nicht entstanden, wenn er diese Prämisse hinterfragen wollte, und dennoch zeigt er die merkwürdig isolierte Welt, die den Rahmen für die Entstehung dieser Kulturform bildet, und ihre „speziellen“ Bewohner. Auch die pittoresken, rhythmisch und stimmungsvoll der Musik unterlegten, stilistisch ein wenig an Musikmessenwerbung erinnernden Bilder von Wien belegen das Einvernehmen mit dem Gezeigten und zeugen von Dankbarkeit gegenüber den Partnern, u.a. dem Verband Deutscher Musikschulen, der Stadt Wien und der Firma Steinway & Sons.

Bal – Honig

(TÜR / D 2010, Regie: Semih Kaplanoglu)

Unvergessene Zukunft
von Ekkehard Knörer

Rückwärts gehend und der Zukunft dabei in Erinnerung zugewandt erzählt Semih Kaplanoglu in drei Filmen von einem Mann namens Yusuf. Wir lernen ihn kennen (“Yumurta”) als unglücklichen Mann um die …

Rückwärts gehend und der Zukunft dabei in Erinnerung zugewandt erzählt Semih Kaplanoglu in drei Filmen von einem Mann namens Yusuf. Wir lernen ihn kennen (“Yumurta”) als unglücklichen Mann um die vierzig. Er ist Lyriker, hat einen Band mit dem Titel “Bal” veröffentlicht, scheint eher erfolglos und betreibt einen Buchladen in Istanbul. Dann stirbt seine Mutter und er kehrt zurück in das Dorf seiner Kindheit. In “Süt” ist er zwanzig und schreibt Gedichte und wir sehen, wie eine Frau kopfüber am Baum hängend eine Schlange ausspuckt und erfahren, warum Yusuf die Milch, die dem Film seinen Titel gibt, hasst. “Bal”, der Film, der nun anläuft, der Film, der in diesem Jahr nicht völlig zu unrecht den Goldenen Bären gewann, ist das Porträt des späteren Dichters als Kind.

Nicht weniger als ein beinahe vorsprachliches Weltverhältnis stellt der Film dar, und zeigt dann, wie das Kind fast gegen seinen Willen zur Sprache kommt als symbolischer Ordnung. Er zeigt aber auch, und darin, wie er es zeigt, liegt seine Größe, wie ein sinnlicher Weltbezug aussieht und darstellbar sein kann und wie man um seine (notwendige) Verlierbarkeit und seinen Verlust trauern kann, ohne sich dabei auf eine regressives Verhältnis zum Verlorenen und zur nur in der Erinnerung (die “Bal” ist) wiederzugewinnenden Zeit einzulassen. So also staunt man darüber, wie der Film Yusuf in ein flüsternd symbiotisches Verhältnis zum Vater und zur Natur setzt; dem Vater, der in den Wipfeln der Bäume in der nordöstlichen Türkei Honig gewinnt; der Natur, die waldreich ein Leben voller Entbehrungen umfängt. Nun aber sterben die Bienen und es gerät, gleich zu Beginn schon, der Vater in mehr als prekäre Lage hoch im Baum.

Der Sohn träumt von der Natur und sitzt in der Schule und kann lange nur stottern, wenn er vorlesen soll. Der Sohn fängt in der schönsten Szene des Films den Mond, oder versucht es, der auf der Wasseroberfläche in einem Eimer als Spiegelung schimmert. Viel Zeit nimmt sich, viel Zeit schenkt uns und seinem Helden der Film für Momente wie diese. Man kann die einzelnen, oft dunklen, oft lang dauernden Einstellungen ohne jede Musik (die nur ganz falsch in diesen Kosmos eindringen könnte) eigentlich nur als Kompositionen bezeichnen: Zeitbilder, die sich entfalten, ohne dass viel geschieht. Im Interview erklärt der Regisseur Semih Kaplanoglu seine Arbeitsweise, die viel mit Geduld, Sorgfalt und Genauigkeit zu tun hat, eine Arbeitsweise, die dazu führt, dass die Dreharbeiten seiner Filme in der Regel gut doppelt so lang dauern, wie es heute nicht nur in der Türkei üblich ist:

“Wenn ich einen Drehbuchentwurf fertig habe, wähle ich Location und Cast. Dann aber überarbeite ich das Drehbuch noch einmal gründlich. Darauf zeichne ich ein Storyboard, wo ich für jede einzelne Szene die Bilder im Detail zeichne. Vor Ort spreche ich mit dem Kameramann über die Auflösung. Ich glaube, es kommt letztlich darauf an, mein Zeitempfinden mit dem Rhythmus der Schauspieler und dem Tempo der Natur zu verbinden. Wenn das gelingt, gibt es eigentlich keinen großen Unterschied mehr zwischen dem Aussagewert eines Astes und einer Schauspielerin. Es geht mir nicht um einen Bildvordergrund oder einen Bildhintergrund, sondern um ein komplexes kompositorisches Ganzes, eine Harmonie der einzelnen Elemente.“ (Aus einem Interview, das ich im Juni in Berlin mit dem Regisseur geführt habe.)

Der Gefahr, auf diese Weise eine Art Manufactum-Version des Arthouse-Kinos zu produzieren, entging Kaplanoglu in früheren Filmen nicht immer. Und ein Teil seines Erfolges mag damit zu tun haben, dass manch einer nichts anderes als den Zug konservativer Zivilisationskritik in seinen Filmen erkennt. Das ist jedoch nur die eine Seite einer Beschreibung unserer Gegenwart, die um das Ambivalenzverhältnis des Fortschritts zu den Traditionen weiß, denen dieser entstammt. In “Bal” (dem eindeutig stärksten Film der Trilogie) gelingt es Kaplanoglu, den Zwischenzustand eines Kindes still zu beschwören und den Verlust seiner fast sprach- und jedenfalls schriftlosen Welt in bezwingende Bilder zu bannen. Zum Abschluss dieses merkwürdig invertierten Bildungsromans geht der Blick in der Erinnerung rückwärts und doch bleibt in der Vergegenwärtigung einer Kindheit die zukünftige Entwicklung des Helden als unvergessenes dialektisches Gegenbild stets präsent.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Humpday

(USA 2009, Regie: Lynn Shelton)

Männerfreundschaft ist keine Männerliebe. Oder doch?
von Harald Mühlbeyer

Ben, gehobener Mittelstand, der den Weg der familiären Sicherheit gegangen ist; und Andrew, der als weltenbummelnder Möchtegernkünstler stets seiner Freiheit gefrönt hat: diese beiden Freunde, die das Leben kennen, die …

Ben, gehobener Mittelstand, der den Weg der familiären Sicherheit gegangen ist; und Andrew, der als weltenbummelnder Möchtegernkünstler stets seiner Freiheit gefrönt hat: diese beiden Freunde, die das Leben kennen, die einander kennen und sich selbst, entwickeln einen wagemutigen Plan, so kühn, dass sie all ihre Courage zusammennehmen müssen, um überhaupt zu verstehen, wie sie damit umgehen sollen.

Zuvor war Andrew in Bens trautes Heim geplatzt. Ben ist häuslich, ein liebender Ehemann, der mit seiner Frau kräftig am Projekt Nachwuchs arbeitet – der erwünschten Krönung ihrer Kleinstadtidylle. Andrew ist ein Globetrotter, ein Freigeist, der immer und überall dabei ist, sich in der Underground-Kunstszene rumtreibt, durch Marokko und Südamerika als Backpacker unterwegs war: einer, der sein freakiges Bohemien-Dasein offensiv zelebriert. Ein Zusammenprall der Gegensätze ist es, als Andrew eines Nachts bei Ben vor der Haustür steht. Aber selbstverständlich darf er dort unterkommen, schließlich waren sie im College die besten Freunde; auch wenn sich ihre Lebenswege weit voneinander entfernt haben.

Mit Andrew kommt ein Element der Freiheit in Bens Spießerleben; und nicht nur, dass Ben am Abend darauf ein lange geplantes romantisches Abendessen verpasst, ärgert seine Frau. An diesem Abend gleitet Ben in eine Welt hinab, die er nicht kannte: Andrew hat schnell die örtliche Künstlerszene ausgemacht, jetzt feiern sie Party: „It’s a place called Dionysos, and they’re not kidding.“ Hier, in alkohol- und drogenumschwängerter Nacht, in libertinärer Atmosphäre, reift ihr verrücktes Vorhaben: für das Humpfest, ein regionales Porn-Art-Festival, wollen Ben und Andrew ein eigenes Projekt entwickeln: einen Amateur-Schwulenporno mit dem Clou, dass sie beide als Darsteller hetero sind. Ein Porno als Manifest ihrer nicht-sexuellen Freundschaft – das muss ja wohl wirkliche Kunst sein!

Regisseurin Lynn Shelton ist ganz genau in der Charakterisierung ihrer Figuren, die nie ins Karikatureske abgleiten. Vielmehr setzt genau in dieser absoluten Gegensätzlichkeit einer Freundschaft die Dynamik ein: Ben, der Spießer, sehnt sich heimlich nach dem Geruch von Freiheit und Abenteuer, und Andrew, der free bird, sucht eigentlich ein Nest, etwas Festes, an das er sich halten kann. Auf der Schiene dieser Männerfreundschaft funktioniert Sheltons Film wunderbar – und nein, natürlich sind die beiden strikte Heteros, ganz klar. Aber wie soll man das anderen erklären, wenn man vorhat, einen Männerfick zu filmen? Wie soll sich Ben vor seiner Frau rechtfertigen? Wird ihre Freundschaft bestehen bleiben, wenn zuviel Körperlichkeit aufkommt? Mehr zumindest, als bei einem männlichen Sport wie Basketball erlaubt ist, auch wenn der ebenfalls dazu führen kann, dass sich zwei Freunde ineinandergeklammert über den Rasen wälzen, zur Verwunderung der Nachbarskinder…

Das ist eine Beziehungskiste mit viel Komikpotential, das mit gutem Timing und guten Darstellern gut ausgeschöpft wird – es geht natürlich um die Männlichkeit, um die Frage, wie schwul man eigentlich ist, wenn man sich für hetero hält; und ob eine Abweichung von der Norm eigentlich so schlimm ist.
Und vielleicht ist es das, was dem Film selbst fehlt: ein wenig mehr Unkonventionalität, ein wenig mehr Wagemut hätte man sich gewünscht. Natürlich ist dies ein Independent-Film, und eine Komödie, die sich einigermaßen ernsthaft mit Fragen der Grenzen des eigenen, festgefügten Heterokosmos auseinandersetzt, ist im Mainstream eigentlich nicht so recht zu finden. Aber „Humpday“ besteht eben trotz allem aus den Feelgood-Elementen der Hollywood-Studiokomödie: Freundschaft versus Liebe, Lügen und Missverständnisse, das Aufeinanderprallen verschiedener Lebensgefühle, warmherzige Figurenzeichnungen, das sich Öffnen für den Lebenspartner und den Freund, an denen man neue Seiten entdeckt, eine stetige Gewissheit von so etwas wie einem Happy End. Zwar wirkt die Prämisse unkonventionell: ein Schwulenporno von Heteromännern fürs Porno-Kunst-Festival. Aber das ist nur der Katalysator für eine Buddy-Geschichte, bei der am Ende, beim Höhepunkt, die Freunde dann doch den Schwanz einziehen. Was irgendwie auch Shelton in ihrer zu gefälligen, zuwenig eigentümlichen Inszenierung tut.

Black Death

(GB / D 2010, Regie: Christopher Smith)

Mittelalter, dystopisch gelesen
von Sven Jachmann

Seit jeher werden die kinematographischen Bilder der (Post-)Apokalypse von einer bestenfalls ambivalenten Erlösermystik begleitet. Das war bereits bei „The Omega Man“ oder vielen Katastrophenfilmen der 70er der Fall und ist …

Seit jeher werden die kinematographischen Bilder der (Post-)Apokalypse von einer bestenfalls ambivalenten Erlösermystik begleitet. Das war bereits bei „The Omega Man“ oder vielen Katastrophenfilmen der 70er der Fall und ist motivisch auch in zeitgenössischen Produktionen wie „I am Legend“, „The Book of Eli“ oder „2012“ mehr oder weniger augenscheinlich erhalten geblieben. Die kargen, aschfahlen Aufnahmen in „Black Death“ hingegen binden die Apokalypse unmittelbar an den Historismus – sie staffieren die Pest im England des Jahres 1348. Eine reale Katastrophe lässt natürlich nur begrenzt Spielraum für Ideenexperimente zu. Aber obwohl Christopher Smith in seiner vierten Regiearbeit alle Weichen zunächst in Richtung mysteriöser Mittelalterhorror lenkt, erzählt er letztlich von einer Welt im Angesicht ihres Niedergangs, der umso bedrohlicher wirkt, desto mehr unser gegenwärtiger Blick um die Ursachen der Pest weiß.

Denn was der junge Mönch Osmund (Eddie Redmayne) und der Ritter Ulric (Sean Bean) samt seiner Gefolgschaft auf ihrer Reise präsentiert wird, ist der Ausnahmezustand. Vom Bischof ausgesandt, um das mutmaßlich teuflische Treiben eines Dorfes inmitten der Wälder, das vom schwarzen Tod verschont blieb, aufzuklären, streifen sie marodierende Banden, Scheiterhaufen errichtende Bauern und sich selbst kasteiende Büßertrupps. Von der Seuche und den Kämpfen immer stärker dezimiert, erreichen sie schließlich das geheimnisvolle Dorf, das auf den ersten Blick als trügerisches Idyll einem sonderbaren Utopia ähnelt. Unter der Schirmherrschaft der Heilerin Langiva (Carice van Houten), deren Mann einst von Kreuzrittern getötet wurde, hat man sich hier tatsächlich einem obskuren heidnischen Brauchtum verschrieben. Die Konfrontation der Glaubenssysteme indes folgt den Prämissen der Sinnstiftung: die alte Ordnung droht zu zerbrechen und für den Ausbruch der Pest lässt sich kein Verantwortlicher finden. Die Erosion aller Gewissheiten und der letztlich folgenlose Kampf um die richtige Erklärung dieser Erosion gleichen strukturell den apokalyptischen Erzählungen.

Dies gilt auch für den zunächst metaphysisch anmutenden Teil des Plots. Denn Langiva besitzt keinerlei heilende Kräfte, sondern sinnt in Gestalt eines völlig weltlich grundierten Antichristianismus auf Rache. Ihr gegenüber verhält sich die christlich beauftragte Söldnergruppe wie Vertreter des gleichen und ebenso ratlosen Machtprinzips (das ausgerechnet im friedliebenden, auf die Unantastbarkeit der menschlichen Unschuld setzenden Osmund eine grausige Pointe erhält). Zentrum aber bildet die Deutungshoheit über eine Welt, die ihrem Verfall preisgegeben ist. Drum ist es auch völlig zweitrangig, ob Smith die Hexenverbrennung im Sinne der historical correctness rund hundert Jahre zu früh datiert: Was als mystery story beginnt, wird durch Rückgriff auf eine vordergründige Religionskritik zu einer handfesten, universalen Dystopie formuliert, an der wohl am meisten verstört, dass sie für die Anatomie der menschlichen Destruktivität kein Zukunftsszenario mehr benötigt, sondern bloß aus ihrer realen Geschichte zu schöpfen braucht.

Die Gezeichneten

(D 1922, Regie: Carl Theodor Dreyer)

Der russische Bauer, grau wie die Erde, schrecklich, wenn er sich erhebt
von Klaus Kreimeier

Zwischen 1918 und 1964 hat Carl Theodor Dreyer, außer Dokumentarfilmen im Auftrag der dänischen Regierung, 14 Filme gedreht, davon nur sechs in seiner dänischen Heimat, jeweils drei in Schweden und …

Zwischen 1918 und 1964 hat Carl Theodor Dreyer, außer Dokumentarfilmen im Auftrag der dänischen Regierung, 14 Filme gedreht, davon nur sechs in seiner dänischen Heimat, jeweils drei in Schweden und Deutschland, einen in Norwegen, sein „chef-d’œvre“ ‚La Passion de Jeanne d’Arc‘ in Frankreich. Geschäftlich gesehen, produzierte er, alles in allem, eine Kette allenfalls mäßiger Erfolge; das erklärt, warum dieses Werk so schmal ist und die Zeit zwischen den Filmen oft so lang. Stets muss er sich um die Finanzierung Sorgen machen, nach kleinen Firmen oder Mäzenen Ausschau halten, die ihr Interesse verlieren, wenn ein Film nicht sein Geld eingespielt hat. Die Produzenten, mit denen er es zu tun bekommt, sagen ihm nach, er sei ein extravaganter, halsstarriger Typ. So wenig wie Georg Wilhelm Pabst hat Dreyer ein in sich geschlossenes „Gesamtwerk“ hinterlassen, vielmehr mit sehr unterschiedlichen Genres experimentiert: mit dem historischen Drama und dem psychologischen Kammerspiel, dem aktuellen „Zeitbild“ und dem Vampirfilm. Frieda Grafe schrieb über Dreyers in Berlin gedrehten Kammerspielfilm ‚Michael‘ (1924), dies sei „ein deutscher Film, weil es ein Studiofilm ist, in dem die Enteignung des klassischen Raums sich ankündigt.“

In der Tat ist zwischen 1920 und 1930 der Studiofilm, Marke Ufa, ein deutsches Medienprodukt, das teilweise sogar auf den ausländischen Märkten reüssiert. Auch Dreyers Film ‚Die Gezeichneten‘ von 1921/22, produziert von der kleinen Firma Primus, ist ein Studiofilm, sieht aber nicht wie ein deutscher Film aus. Studios repräsentieren nationale Kinematografien, aber sie verfügen auch über je eigene technische, räumliche, nicht zuletzt ökonomische Bedingungen, die wiederum das Produktdesign mit bestimmen.

Über die Primus-Film GmbH in Berlin ist wenig in Erfahrung zu bringen. Filmtitel aus ihrem Studio sind aus der Zeit zwischen 1920 und 1929 überliefert, so dass anzunehmen ist, dass sie zu den vielen kleinen und mittelgroßen Firmen gehörte, die in Deutschland aus der Film- und Kino-Hochkonjunktur des 1. Weltkriegs hervorgegangen waren. Nach 1918 arbeiteten neben Asta Nielsen zahlreiche dänische Filmkünstler und Kameraleute in Deutschland. Die medienhistorisch so produktive dänisch-deutsche Film-connection aus der Zeit vor 1914 war noch lebendig, es gab entsprechende Seilschaften, und Dreyer war nach seinen ersten drei in Dänemark und Schweden entstandenen Filmen kein Unbekannter mehr.

Als Vorlage für „Die Gezeichneten‘ benutzt er einen dänischen Roman, „Elsker hverandre“ von Aage Madelung, der antisemitische Pogrome im vorrevolutionären Russland in den Jahren zwischen 1900 und 1905 behandelt. Für Dreyer sind die politische Lage in Russland und die russische Kultur ein fremder Stoff, auch mit dem Thema des Antisemitismus hatte er sich bisher noch nicht befasst. Aber er ist neugierig und wendet Zeit, Geduld und intensive Arbeit auf, um sich mit beidem vertraut zu machen.

Berlin ist Anfang der 20er Jahre eine internationale Medienstadt. Hier leben russische Schriftsteller, Künstler, Schauspieler und Intellektuelle jeglicher Couleur; es gibt russische Theater, Zeitungen und Verlage – und ungezählte Emigranten, darunter Juden, die vor den Pogromen, Demokraten, die vor der Zarenherrschaft und Zaristen, die vor den Bolschewiki geflüchtet waren. Dreyer sucht ihre Nähe; er sitzt mit ihnen, so berichten seine Biographen Jean und Dale D. Drum, in ihren Cafés, lauscht ihren Erzählungen und Liedern, will so viel wie möglich über Kultur und Lebensweise im vorrevolutionären Russland erfahren. Er sammelt Bücher und Fotografien, um sich ein Bild von russischer Architektur, dem Alltag auf dem russischen Dorf und russischen Landschaften zu machen.

Madelungs Roman ist die Basis für das Handlungsgerüst des geplanten Films; darüber hinaus betreibt Dreyer oral history und nutzt eine Vielzahl von Medien, um das Gerüst mit Anschauung zu füllen. Sein Ziel ist ein Höchstmaß an filmischem Realismus. Aus der äußerst komplexen, mehrschichtigen, vielfach verzweigten Handlungsstruktur des Romans soll ein eingängiger, die Menschen anrührender und ergreifender Film entstehen. Dreyer baut ein kleines Heer aus russischen und jüdischen Komparsen und Laiendarstellern auf; dabei geht es ihm ausdrücklich um die Vermeidung von Professionalität. Für die Hauptrollen engagiert er Schauspieler aus fünf Ländern, darunter frühere Stars des Moskauer Künstler-Theaters, Repräsentanten eines spezifischen Realismus, des Bühnenrealismus Stanislawskijscher Prägung.
Die Filmhandlung verdeutlicht die Schwierigkeiten, vor denen Dreyer stand, als er aus dem komplexen Roman ein schlankes Drehbuch machen wollte. Eine kleine Stadt am Dnjepr nach der Jahrhundertwende; revolutionäre Umtriebe erschüttern das Land; ihre Urheber bleiben im Film unklar, nur ein Zwischentitel vermittelt die politische Stimmung des Jahres 1905: „unter dem strahlenden Banner der Freiheit“ versammelt sich die Jugend des Landes, Bauern und Arbeiter sollen im Kampf für ihre Rechte zusammenstehen. Eine junge Jüdin, Hanne-Liebe, besucht ein christlich-orthoxes Gymnasium, wird jedoch von der Schule gewiesen, als ein früherer Jugendfreund, Fedja, Sohn eines reichen Kaufmanns, sie wegen ihrer Liebesaffäre mit dem Studenten Sascha denunziert. Vergeblich versucht ihre Familie, Hanne schnell unter die Haube zu bringen – sie flüchtet nach Sankt Petersburg zu ihrem Bruder Jakow, einem Anwalt, der mit einer Aristokratin verheiratet und zum christlichen Glauben übergetreten ist, um in seinem Beruf arbeiten zu können. Jakow bringt seine Schwester im Haus eines Freundes unter, da seine Frau sich weigert, Hanne-Liebe aufzunehmen.
Im zweiten Teil des Films rücken die politischen Konflikte im Vorfeld der Revolution von 1905 in den Vordergrund. Hanne trifft in Sankt Petersburg ihren Studenten Sascha wieder; er wurde inzwischen von einem zwielichtigen Agitator, Rylowitsch, in einen revolutionären Zirkel eingeführt. Jakow, der Anwalt, entlarvt Rylowitsch als Agenten der zaristischen Geheimpolizei. Bei einem oppositionellen Treffen wird Sascha verhaftet, Hanne wird in ihren Heimatort ausgewiesen. Rylowitsch rät der Regierung, von der revolutionären Gefahr durch Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung abzulenken – eine Intrige, die nicht zwingend erscheint und im Film nicht schlüssig erklärt wird. Rylowitsch zieht nun als Mönch durch das Land und wiegelt, sehr erfolgreich, die Bauern gegen die jüdische Minderheit auf.
Im dritten Teil spitzt sich die revolutionäre Situation zu, gleichzeitig schlägt die Pogromstimmung in Gewalt um. In Sankt Petersburg werden die politischen Gefangenen entlassen, auch Sascha kommt frei. Als Jakow in seine Heimatstadt fährt, um seine todkranke Mutter und seine Schwester Hanne zu besuchen, gerät er in eine gefährliche, antisemitisch aufgeheizte Situation. Die Proklamation des Zaren zu den bürgerlichen Freiheiten begeistert die Bauern; gleichzeitig schüren Fedjas Vater, der Kaufmann Suchowerski, und Fedja selbst den Hass gegen die Juden, stacheln die Menschen zu gewaltsamen Aktionen und zum Sturm auf das jüdische Viertel an. Im Tumult wird Jakow von Rylowitsch erschossen. Fedja versucht, Hanne-Liebe zu vergewaltigen. Sascha, der etwas unvermittelt wieder auf der Bildfläche erscheint, rettet Hanne und erschießt Fedja. Hanne und Sascha fliehen aus der Stadt und brechen gemeinsam in eine ungewisse Zukunft auf.
Der Wucht des Stoffes sucht Dreyer durch Authentizität, durch einen nachgerade fotografischen Realismus Herr zu werden. Auf einem Freigelände in Berlin-Lankwitz lässt er eine russische Ghetto-Landschaft aus dem Boden stampfen, ein Ambiente, das den legendären, teilweise gleichzeitig entstehenden Monumentalfilmen Joe Mays und ihren Außen-Sets in Berlin-Weißensee etwas Entscheidendes voraus hat: Dreyer kann sich auf die Berichte, Erinnerungen, Dokumente, Fotografien zahlloser Augenzeugen stützen, eben jener Emigranten, die er um sich geschart hat – sie sind ja nicht nur aus einem Land, sondern, aus sehr unterschiedlichen Gründen, auch aus ihrer Epoche emigriert: sie haben einer Zeit, die politisch und kulturell noch dem 19. Jahrhundert angehört, den Rücken gekehrt und sind in der westlichen Moderne, der Medien-Moderne des 20. Jahrhunderts angekommen. Sie sind es, die Dreyer in Fragen der Bauten, des Dekors, der Kostüme und Requisiten bis in die Details beraten.
Unter ihnen sind viele Juden, die Dreyer in Nebenrollen und als Komparsen einsetzt; die Oktoberrevolution hat sie aus Russland vertrieben und heimatlos gemacht. Andere kommen aus Polen und Galizien und bewohnen jetzt, wie Jean und Dale Drum schreiben, „die wachsenden jüdischen Quartiere im Berliner Norden, wo sie sich gegen das moderne Deutschland abschirmen und die ihnen vertrauten Lebensweisen aus den alten Zeiten pflegen.“ Einige von ihnen haben nie zuvor eine Filmkamera gesehen oder von der Existenz des neuen Mediums gehört.
Auch die weibliche Hauptfigur, Hanne-Liebe, will Dreyer ursprünglich mit einer Laiendarstellerin besetzen, entscheidet sich aber für eine russische Gräfin, Polina Piekowskaja vom Moskauer Korsha-Theater. Angeblich entkam sie der Hinrichtung durch die Bolschewiki, weil dem Erschießungskommando die Munition ausgegangen war. Aus der Stanislawskij-Schule am Künstlertheater kommt der Pole Ryszard Boleslawski, der den Bösewicht Fedja spielt, ebenso Wladimir Gaidarow, Darsteller des Jakow. ‚Die Gezeichneten‘ ist sein erster in Deutschland produzierter Film, sehr bald wird Gaidarow in Murnaus ‚Brennendem Acker‘, in ‚Tragödie der Liebe‘, ‚Manon Lescaut‘ und etlichen anderen deutschen Stummfilmen Karriere machen. Ein klassisches Emigrantenschicksal wiederum bringt der Darsteller des reichen Kaufmanns Suchowerski mit: Duwan-Torzow – er war in der Zarenzeit ein millionenschwerer Hotel- und Theaterbesitzer und ist nun heilfroh, dass er beim deutschen Film ein paar Reichsmark pro Tag verdienen kann.
Die Filmstory weist einige Bruchlinien und Ungereimtheiten auf, die schon manchen zeitgenössischen Rezensenten Schwierigkeiten bereiten. Sie sind nicht zuletzt auf die Stoffmasse des Romans zurückzuführen, die Dreyer teils reduzieren, teils neu organisieren muss. Dabei gelingt es ihm, die Geschichte Hanne-Liebes und ihrer Familie einerseits, die politische Entwicklung im Jahre 1905 andererseits in einer Parallelführung stringent zu verbinden: die revolutionäre Situation in Russland ist nicht nur „Hintergrund“ eines Melodramas, vielmehr entwickelt sich das melodramatische Geschehen um Einzelschicksale aus der sozialen und politischen Dynamik heraus. Die Parallelführung als Bauprinzip im Makrobereich des Films verdichtet sich zu Parallelmontagen in der Mikrostruktur einzelner Szenen, in denen die Einflüsse von Griffith ebenso wie des dänischen Sozialdramas vor 1914 wiederzufinden sind.
Innerhalb dieser insgesamt klaren Struktur ‚verheddert’ sich Dreyer jedoch gelegentlich in Details; es gibt zahlreiche, sehr umständlich erzählte Nebenhandlungen, in denen Randfiguren unvermittelt zu Hauptgestalten werden, um alsbald wieder zu verschwinden. Episoden ‚ufern aus’ und gewinnen unnötig ein eigenes Gewicht – etwa wenn Fedja Hanne und Sascha denunziert oder Hanne innerhalb der jüdischen Gemeinde verheiratet werden soll. Zwischen den vielen Charakteren unter den Kleindarstellern und Komparsen einerseits und den Stars andererseits waltet eine eigentümliche Diskrepanz; ebenso zwischen den Massenszenen und den kammerspielartigen Auftritten der Hauptfiguren. Allerdings gelten hier ästhetische Urteile nur mit einem grundsätzlichen Vorbehalt: Dreyers Film war ursprünglich um einiges länger als die mit Hilfe der Moskauer Gosfilm, des Dänischen Filminstituts und der Cinémathèque Toulouse wieder entdeckte und restaurierte Fassung von 95 Minuten, die 2008 auf der Berlinale aufgeführt wurde.
Dreyer selbst sagt 1920: „Die besten amerikanischen Filme haben drei wesentliche Elemente gebracht: die Naheinstellung, die Ausarbeitung der Typen und den Realismus.“ In der Tat sind es Nah- und Großaufnahmen, mit denen Dreyer die Verdichtungen des Films herstellt, sein inneres Zentrum konstruiert. Wenn im Stummfilm Nahaufnahmen oder close-ups auftauchen, wird gern an Griffith erinnert, mit dem die Filmkunst angeblich ihren Anfang nahm. Dabei hat Griffith die close-up-Aufnahme nicht „erfunden“ – er hat jedoch schon vor 1914 die Vielfalt ihrer Verwendungsmöglichkeiten entdeckt. Dreyer zeigt, dass die Entwicklung weitergegangen ist. Er benutzt zwar noch die altmodisch wirkende kreisförmige Kaschierung, aber die Groß- und Naheinstellungen sind bei ihm Träger der Handlung, Instanzen dessen, was in einer Szene geschieht.
In diesem Film gibt es eine Episode, die wie ein kleines, in sich abgeschlossenes road movie funktioniert. Jakow, der Anwalt, ein Mann aus der Stadt, der sich vom Glauben seiner jüdischen Ahnen losgesagt hat, um in seinem Beruf arbeiten zu können und gesellschaftliche Anerkennung zu erringen (sein Vater hat ihn darum auf dem Sterbebett verflucht) – dieser Jakow fährt auf seiner Reise in die kleine Stadt am Dnjepr in einem bäuerlichen Pferdegespann über Land. Auf einem Dorf kommt er mit der Landbevölkerung in Berührung. In einer Kneipe wird er Zeuge eines Krakowiak-Tanzes, an dessen Ende der junge Tänzer tot zusammenbricht.
Man kann diese Episode in unterschiedlicher Weise lesen. Zunächst enthält sie einen direkten Bezug zur Geschichte und zum Schicksal Jakows, der sich auf einer Reise in seine Heimat befindet, zu seinem Elternhaus, wo seine Schwester Hanne und seine todkranke Mutter auf ihn warten. Das Erschrecken in seinem Gesicht ist so zu deuten, dass er im Tod des Krakowiaktänzers sein eigenes Schicksal vorgezeichnet sieht. Sein Leben ist in Unordnung geraten, seitdem ihn die Ankunft Hannes in St. Petersburg an seine Ursprünge erinnert hat. Der Fluch seines Vaters verfolgt ihn bis in seine Träume, seine Ehe mit einer Christin aus dem Adelsstand ist im Begriff zu zerbrechen.
Eine andere Lesart ist diese: Die Begegnung mit „Mütterchen Russland“ ereilt Jakow als Schock. Die uralte bäuerliche Kultur Russlands, auf die sich Zaren, Popen und Revolutionäre berufen, ist elend und zu Tode erkrankt. Im Land herrscht Progromstimmung. Was als Folklore erscheint, wird sich bald in Gewalt entladen. Jakow steht als Fremder der Kultur seines eigenen Landes gegenüber.
Dreyer hat viel getan, um diese Kultur anschaulich zu machen – aber er will kein harmonieseliges Vertrauen zu ihr stiften, auch ihm bleibt sie fremd. Er will uns ihre Sinnlichkeit näher bringen, dabei aber die Ferne bestehen lassen, aus der wir sie anschauen.

‚Die Gezeichneten‘ ist, nicht zuletzt, ein Klassendrama mit unerwarteten Konstellationen. Wir haben auf der einen Seite die bedrohte jüdische Intelligenz, repräsentiert durch Jakow und seine Schwester, und die bürgerlich-liberale Opposition, die sich in den Petersburger Salons trifft. Auf der anderen Seite: das Volk, sinnlich, kraftvoll – und unberechenbar, verführbar und zur Gewalt bereit. Am Anfang des Films erzählt ein Schriftinsert von einem Bojaren, der mit seinem Pferd über einen schweren Stein setzen will, obwohl ihm davon abgeraten wurde. Natürlich stürzt er mit seinem Pferd, und wir lesen den Satz: „Denn dieser Stein war der russische Bauer, grau wie die Erde, langsam und schwer zu lenken, aber schrecklich, wenn er sich erhebt.“

In Dreyers Film sind auch die Erzählungen jener russischen Emigranten eingegangen, die vor dem revolutionären Terror nach 1917 geflüchtet sind. Antisemitische Pogrome gab es in Russland sowohl 1905 als auch nach der Oktoberrevolution. Und in dem Maße, wie sich die zaristische Ochrana, was ihre Methoden betrifft, relativ bruchlos in die Tscheka, dann in die GPU und den NKWD verwandelte, spiegeln sich in einer Gestalt wie Rylowitsch, der als Agent der zaristischen Geheimpolizei die Bauern gegen die Juden aufhetzt, auch die Erfahrungen der bürgerlichen und jüdischen Emigranten mit den bolschewistischen Agitatoren wider.

Dreyers Film steht auch hier – was die Vorstellungswelt betrifft, die sich um die Oktoberrevolution herum gebildet hat – in einem aktuellen Medienkontext, der zu Beginn der 20er Jahre von Augenzeugenberichten, Zeitungsreportagen, Fotografien, Karikaturen, aber auch von Romanen und allen erdenklichen Formen der Kolportage gebildet wird. In diesem Medienensemble ist Dreyers „stilistische Flexibilität“, die seine Biographen etwas erstaunt notieren, vielleicht weniger überraschend. ‚Die Gezeichneten‘, schreiben sie, seien der einzige Film in Dreyers Werk, dessen Stil als „sozialer Realismus“ zu bezeichnen sei. Und, etwas waghalsig: er sei nahezu dokumentarisch, ja von einer „camera vérité“-Qualität, ein Vorgriff auf die Montagefilme der Russen und die Theorien Eisensteins. Das sind stilkundliche Zuordnungen, die sich nachvollziehen lassen, wenn man die lange, mit Gewalt aufgeladene Progromszene am Ende des Films berücksichtigt. Mit besonderer Intensität hat Dreyer daran gearbeitet, das Schicksal seiner Protagonisten aus dem politischen und sozialen Geschehen zu entwickeln, den Kampf und das Sterben Einzelner mit den Bewegungen der Masse zu verschränken. Daraus entstand ein Montage-Konzept – 1921 ! –, das in der Tat jede Bewunderung verdient.

Dreyer kommt gar nicht daran vorbei, die Aktualität seines Themas zu sehen – „the ‚now’ aspects of the film“, wie seine Biographen schreiben, die bedrängende Gegenwärtigkeit des Rassismus: gerade auch in Deutschland, wo er seinen Film produziert. Die Weimarer Republik ist 1921 noch jung, noch hat die Demokratie zahlreiche Verfechter, die Republik ist noch nicht verloren. Aber es irritiert, wie auch die Medien des aufgeklärten, liberalen und demokratischen Lagers die Gefahr des Antisemitismus behandeln – zum Beispiel die anspruchsvolle Filmkritik, bezogen auf Dreyers Film: „Das Problem dieses Films ist ein uraltes, doch ewig neues: der Kampf zweier Rassen, hier der jüdischen und der russischen. (…) Bei diesem durch Fanatismus mancherlei Art scharf gemachten Daseins- und Vernichtungskampf entfalten sich alle niedrigen sowohl wie alle höheren Triebe der Menschen, die letzten Vorhänge vor den Urinstinkten, den grauenhaften und erhabenen, werden aufgegriffen.“

So der anonyme Autor im „Film-Kurier“ am 24. Februar 1922. Es bedarf gar nicht der Kenntnis der weiteren Entwicklung, um mit aller Vorsicht anzumerken, dass diese seltsame Rhetorik im Februar 1922 bestürzend unangemessen war. Genau vier Monate später wird, auf dem Höhepunkt antisemitischer Kampagnen im ganzen Reich, Außenminister Walther Rathenau von der rechtsextremen Organisation Consul ermordet. Die Redeweise des Kritikers im „Film-Kurier“ ist die sprachliche Form des Rückzugs in jene erhabenen Werte, mit deren Hilfe große Teile des deutschen Bürgertums vor 1933 ihre Wahrnehmungsverweigerung kultivierten. Noch war die Republik ein offenes Terrain – der Kampf für und gegen Demokratie, Toleranz und Menschenrechte wurde vehement in den Medien ausgetragen. Aber das Erstarken eines nationalistischen Rassismus‘ und Antisemitismus‘ war schwerlich zu übersehen. Dreyers Film bezog wie kein anderer deutscher Film in dieser Frage eine deutliche Position. Es mag ein Zufall gewesen sein, fehlendes Marketing oder vielleicht das Genre-Problem, angesiedelt zwischen ‚high melodrama’ und ‚great film’ – jedenfalls ist festzuhalten, dass sich nach der Berliner Premiere im Februar 1922 seine Spur in den Kinos, dann auch in den Annalen allmählich verliert.

Zarte Parasiten

(D 2009, Regie: Christian Becker, Oliver Schwabe)

Manieristische Exerzitien
von Ulrich Kriest

Aus zahllosen Filmen haben wir gelernt, dass man besser nicht mit den Dingen dealt, von denen man selbst abhängig ist. Diese Erfahrung müssen auch Jakob und Manu machen, die sich …

Aus zahllosen Filmen haben wir gelernt, dass man besser nicht mit den Dingen dealt, von denen man selbst abhängig ist. Diese Erfahrung müssen auch Jakob und Manu machen, die sich mit alternativen Dienstleistungen über Wasser halten. Sie bieten Aufmerksamkeit und Nähe gegen eine gewisse Entlohnung. Wobei in diesem Film leider nie ganz klar wird, wie die Geschäfte abgewickelt werden, weil die gleichfalls für das Drehbuch zeichnenden Filmemacher Christian Becker und Oliver Schwabe („Egoshooter“) genau diesen Punkt ausgespart haben.

Wir erleben das Ruppig-Unschöne einer Geschäftsbeziehung, wenn Jakob und Manu nach einem gemeinsam in der Disco verbrachten Abend einem jungen Mann unmissverständlich klar machen, dass aus einer erbrachten Dienstleistung keine weiteren Ansprüche erwachsen. Später sieht man, wie Manu einer älteren Dame ihre Aufmerksamkeit schenkt, deren Hand hält, vor ihren Augen tanzt, sich Geschichten erzählen lässt, Arbeiten im fremden Haushalt erledigt. Dieser Arbeitsplatz, von dem wir nicht erfahren, wie er etabliert wurde, wird später im Film sehr plötzlich verloren gehen – und dann haben Manu und Jakob ein Problem mit der Polizei. Doch dafür interessiert sich der Film nicht. Ins Zentrum rückt er stattdessen den Versuch Jacobs, sich einem älteren Ehepaar als Ersatzsohn anzudienen.

Auch hier spart der Film entscheidende Dinge aus, weshalb es zur ersten Begegnung zwischen Jakob und Martin ausgerechnet auf einem Segelflugplatz kommt. Mühelos stellt Jakob den Kontakt her, manipuliert Martin von Beginn an und scheint das doch nicht mit kriminellen Hintergedanken zu tun. Martin und Claudia haben ihren Sohn verloren; das Paar ist in Trauer erstarrt. Hier wählt Jakob seinen Einstieg, hat es bei Martin aber ungleich einfacher als bei Claudia. Was als „Job“ beginnt, wird für Jakob bald zur verführerischen Chance: er beginnt sich wohlzufühlen als Teil einer Kleinfamilie. Manu beobachtet Jakobs Entfremdung vom gemeinsamen Lebensmodell mit Unbehagen und beginnt um ihre Beziehung zu kämpfen. Manu und Jakob sind aus dem System herausgefallen, wenn sie nicht ihrer Arbeit nachgehen, campieren sie unter freiem Himmel im Wald, duschen in öffentlichen Bädern. Man wüsste nun allzu gerne, ob die beiden ihr Lebensmodell in Reaktion oder als Konsequenz ihres Ausstiegs entworfen haben. Immerhin scheint Jakob selbst eine erstaunliche Sehnsucht nach emotionaler Geborgenheit mit sich herumzutragen, während Manu länger tough bleibt.

Man möchte es fast ironisch nennen: da hat man jahrelang für eine Emanzipation deutscher Filme von der Fernsehspiel-Ästhetik plädiert, wo jeder Konflikt, jede psychologische Tiefe in Dialog überführt wird, hat sich stark gemacht für Filme von Petzold, Schanelec, Köhler & Co. – und wird jetzt mit einer jüngeren Generation von Filmemachern konfrontiert, die alles, was man an der sogenannten „Berliner Schule“ zu schätzen gelernt hat, kurzerhand zum Manierismus umbiegt. Becker und Schwabe hatten eine gute Idee, deren Tragfähigkeit sie aber offenbar nicht vertrauten, weshalb sie alles in der Schwebe und im Dunkeln halten. Die Kamera ist nah bei den Gesichtern der Darsteller, findet dort aber nichts, weil man nicht gewusst hat, wonach man sucht. Die Dialoge sind hölzern und denkbar weit entfernt von einer Alltagssprache. Der Film gibt sich realistisch, will aber eine gewisse surreale Gespensterhaftigkeit nicht aufgeben, die hierzulande etwas zu sehr in Mode gekommen ist. Was als Inkonsequenz wiederum die gute Ausgangsidee beschädigt, die etwas mehr soziologisches Unterfutter und Präzision gebräucht hätte. Diese Anstrengung haben die Filmemacher gescheut, so dass ihr Film nicht recht vom Fleck kommt und in seiner Lustlosigkeit rasch ermüdet. Bei einem Film, der sich der Kommunikation mit dem Zuschauer cool verweigert, können auch 87 Minuten eine Ewigkeit sein.

The Expendables

(USA 2010, Regie: Sylvester Stallone )

Guys on a Mission
von Harald Steinwender

Mit dem Kino verhält es sich ähnlich wie mit der Mode: früher oder später kommt alles zurück. Jede alte Masche wird ausgegraben, jeder Stil neu aufgelegt, dabei freilich den Koordinaten …

Mit dem Kino verhält es sich ähnlich wie mit der Mode: früher oder später kommt alles zurück. Jede alte Masche wird ausgegraben, jeder Stil neu aufgelegt, dabei freilich den Koordinaten zeitgenössischer Befindlichkeit angepasst. Die Sechziger und Siebziger erlebten ihr Revival mit mehr oder weniger gelungenen Remakes von ehemaligen Blockbustern wie „Ocean’s Eleven“ (1960/2001), „The Italian Job“ (1969/2003), „The Longest Yard“ (1974/2005). Jetzt sind offenbar die Achtziger dran. Ganz oben auf der Retro-Welle schwimmt Sylvester Stallone, der mit „Rocky Balboa“ (2006) und „John Rambo“ (2009) Filmkritik kürzlich seine erfolgreichsten Filmserien recycelt hat. Mit beiden Filmen gelang dem heute 64-jährigen nach den glücklosen Neunzigern und dem Abstieg ins Direct-to-DVD-Segment der Videotheken ein unerwartetes Comeback.

„The Expendables“ ist Stallones Versuch, mit einem High Concept-Film das stumpfe Guys-on-a-Mission-Subgenre der Achtziger als Sommerblockbuster neu zu beleben, also die Ära, der wir solche ‚Meisterwerke’ wie Joseph Zitos „Missing in Action“ (1984), Mark L. Lesters „Phantom-Kommando“ („Commando“; 1985) und Menahem Golans „Delta Force“ (1986) zu verdanken haben. Stallone hat dazu eine Ensemble-Cast aus ehemaligen und gegenwärtigen A- und B-Stars des Actionfilms zusammengetrommelt, die sich durchaus sehen lässt: den aus den „Transporter“- und „Crank“-Filmen bekannten Briten Jason Statham, den chinesischen Martial-Arts-Star Jet Li, der u.a. mit Tsui Harks „Once Upon a Time in China“-Serie (1991ff.) reüssierte sowie Terry Crews („Gamer“) und den Wrestler Randy Couture. In Nebenrollen treten der Hüne Dolph Lundgren („Red Scorpion“ und „Punisher“; 1989) und der notorische Overactor Eric Roberts auf, beide zuletzt vornehmlich in Videotheken-B-Ware zu sehen. Auch Mickey Rourke, Walter Hills ehemaliger „Johnny Handsome“ (1989), der als „The Wrestler“ Filmkritik vor zwei Jahren eine fulminante Rückkehr auf die große Leinwand erleben durfte, spielt eine kleine Rolle. Und in einem amüsanten Cameo frozzeln sich Arnold Schwarzenegger und Bruce Willis an. Die Hauptrolle hat sich Stallone, der auch als Kodrehbuchautor und Regisseur fungiert, freilich selbst auf den Leib geschrieben.

Der Plot, der problemlos auf einen Bierdeckel passt, nutzt die vertrauten Versatzstücke des Achtziger-Jahre-Actionkinos: muskelgestählte Protagonisten, körperbetonte Action, großkalibrige Waffen, lärmende Maschinen – Motorräder, Autos, Flugzeuge –, schöne Frauen in Not, Prä-CGI- Benzin-Explosionen, eindimensionale Charaktere, die sich in grimmig dreinblickende Schurken und ebenso grimmige Helden teilen, ein fiktiver südamerikanischer Folterstaat, den die Protagonisten zu Klump schießen und sprengen dürfen, dumme Machosprüche, Männerbündelei, Schwulenwitze und die obligatorischen One-liner – kurz: alles, was ein Zuschauer mit dem emotionalen Reifegrad eines 14-Jährigen von einem Film erwartet. Die eigentliche Frage ist, ob so etwas heute noch ansatzweise im Kino funktioniert? Die Einspielergebnisse in den USA sprechen dafür, 35 Millionen US-Dollar am Startwochenende. Aber als Film lahmt das schlampig inszenierte Flickwerk deutlich.

Das Hauptproblem von „The Expendables“ liegt in Stallones Unfähigkeit, den filmischen Raum in der Montage zu konstruieren. Wie viele Autos sind eigentlich an einer Verfolgungsjagd beteiligt? Wie viele Gegner treten in einem Shoot-out gegen die Helden an, wie viele von ihnen sterben? Wer befindet sich überhaupt in einer Actionsequenz an welcher Stelle im Raum? Wer sich Stallones Testosteronorgie ansieht, kann man solche Fragen nur mit viel Phantasie beantworten. Die Montage geht mit dem Filmmaterial um, wie die Helden mit ihren Gegnern; sie verarbeitet alles zu Kleinholz, ohne Sinn und Verstand. Guten Actionregisseuren, sagen wir einmal Sam Peckinpah oder Robert Aldrich, gelang es immer, den Zuschauer selbst im Schnittstakkato eines Showdowns mit höchster Konzentration durchs Chaos zu leiten, selbst wenn das Ziel der Inszenierung die Evozierung vom Chaos einer unüberschaubaren Schlacht war. In den Actionsequenzen von „The Expendables“ dagegen verliert sich jede Ordnung des Materials, was umso augenfälliger ist, da der halbe Film aus solchen Ballereinen besteht, in denen die Schnittfrequenz oft unter die Ein-Sekunden-Grenze gleitet und ein Teil der Einstellungen obendrein mit verwackelter Handkamera gefilmt ist.

Zudem geht den Film fast jegliche Ironie ab, was die durch den Plot nicht einmal alibihaft legitimierte Gewalt gänzlich selbstzweckhaft wirken lässt. Stallones halbes dreckiges Dutzend bringt das ,kreative Töten’ zu einem neuen Höhepunkt: Die Gegner werden zerstückelt, erstochen, zu blutigem Brei geschossen, erwürgt, erschlagen etc., ganz in der mit „John Rambo“ erprobten Manier. Schon in der Exposition, für sich selbst eine Art Miniatur des ganzen Films, zerplatzt ein somalischer Pirat buchstäblich. Später werden dann 40 Mann von Stathams und Stallones Figuren aus einem Flugzeug heraus mit Kerosin übergossen und eingeäschert. „Good Job“, brummelt Stallone danach.

An dieser Sequenz lässt sich gut der Unterschied zu einem anderen, zu seiner Zeit heftig umstrittenen Kommando-Film festmachen, den Stallone durchaus zitiert: Robert Aldrichs „Das Dreckige Dutzend“ von 1967. Den ambivalenten Höhepunkt von Aldrichs Weltkriegsfilm bildete eine Sequenz, in der die unwilligen Soldaten eine Gruppe von deutschen Offizieren massakriert, die in einem Luftschutzbunker mit Zivilisten zusammengepfercht sind. Der Keller wird von den lachenden US-Soldaten mit Benzin getränkt. Danach läuft Jim Brown, all-American-hero und nationaler Football-Star, einen homerun über den Vorplatz des Chateaus, Handgranaten in die Lüftungsschlitze werfend, um so die Eingeschlossenen, Frauen und Kinder inklusive, in Flammen zu setzen. Auschwitz und Vietnam, Krematorium und Napalm, Baseball und Krieg, alles in einer Einstellung, das war 1967, zur Zeit der Eskalation des Vietnamkriegs, eine heftige Provokation, mit der Aldrich den Mythos vom ehrbaren Krieg vollständig unterminierte und die Identifikation mit seinen Protagonisten nachhaltig erschütterte. Bei Stallone dagegen ist eine ähnliche Sequenz nur eine große Gaudi und Ausweis der Männlichkeit der Protagonisten, ganz unreflektiert und naiv. Man mag einwenden, dass mit Eric Roberts’ hinterhältigem Ex-CIA-Mann eine Figur auftritt, die das von der Bush-Administration verteidigte Waterboarding anwenden lässt. Andererseits gewinnen die von der CIA angeheuerten Expendables zumindest metaphorisch diesmal die Invasion der Schweinebucht. Auch ideologisch steckt der Film noch tief in den Achtzigern.

Erstaunlich ist allenfalls, wie düster Stallones Film ausgefallen ist – nicht nur in Bezug auf seine Ironiefreiheit und die hyperreale Gewaltdarstellung, sondern ganz unmittelbar das Visuelle betreffend. Schon die Eingangssequenz ist so düster und mit so starkem Seitenlicht inszeniert, sie könnte aus einem Film Noir stammen. Stallones Kameramann Jeffrey Kimballs kontrastreiche Bilder, in denen die Protagonisten von Schatten verschluckt werden, wirken mitunter, als ob wir in einem Film von Clint Eastwood wären. Und wenn es mal nicht knallt und scheppert, dann dominieren übernahe Großaufnahmen von Gesichtern die Leinwand. Man kann sich das Ergebnis in etwa wie einen Leone-Film ohne Epik und Pathos und Stil vorstellen. Mitunter wird die Glorifizierung penetrant. So zieht einer der Helden (Statham) aus, um einen Frauenschläger zu vermöbeln – noch so eine Achtziger-Jahre-Standardszene – und bevor er den ersten Schlag landet, erfasst ihn die Kamera, von hinten ausgeleuchtet, in ein geradezu himmlisches Licht getaucht, um seinen Kopf eine Aureole. Im Zentrum aber steht der zeitlose Stallone-Körper: tätowiert und absurd muskulös ist der Anabolika-gestählte Hardbody, mit Adern auf Armen und Torso, dick wie Blindschleichen, grollender Stimme und mit Schmuck behängt wie ein Weihnachtsbaum. Einzig Statham lässt Stallone neben sich Konturen entwickeln, wohlweislich als Sidekick. Jet Li dagegen ist völlig verschwendet in dem Film. Die einzige Schauspielerszene darf Mickey Rourke absolvieren, der das Unfassbare in diesem Mackerfilm macht: Er weint. So sind in diesem Film tatsächlich fast alle ,expendable’, bis auf den Actor-Director-Writer Stallone. Die eigentliche Ironie des Films aber ist, dass er in Deutschland nur für Erwachsene freigegeben wurde, obwohl doch nur 16-jährige hier ihren Spaß haben dürften.

Orly

(D / F 2010, Regie: Angela Schanelec)

Selbstbegegnung im öffentlichen Raum
von Wolfgang Nierlin

Die Spannung zwischen öffentlichem Raum und privatem Leben, zwischen Anonymität und individuellem Schicksal kennzeichnet Angela Schanelecs neuen Film „Orly“. Der titelgebende Pariser Flughafen, zentraler Schauplatz und Nicht-Ort zugleich, fungiert dabei …

Die Spannung zwischen öffentlichem Raum und privatem Leben, zwischen Anonymität und individuellem Schicksal kennzeichnet Angela Schanelecs neuen Film „Orly“. Der titelgebende Pariser Flughafen, zentraler Schauplatz und Nicht-Ort zugleich, fungiert dabei als Passage: Eine raum-zeitlich verdichtete Durchgangsstation flüchtiger Blicke und Begegnungen, wo im unablässigen Kommen und Gehen die Vergänglichkeit selbst zum Thema wird. Zwischen Abschied und Ankunft kreuzen sich Wege, gibt es kurze Annäherungen zwischen Fremden und unmögliche Sehnsüchte. Das Ganze und seine Teile befinden sich hier in permanenter Bewegung und Veränderung. Aus diesem Geflecht löst Angela Schanelec scheinbar absichtslos einzelne Figuren und setzt sie zueinander in Beziehung. So zufällig wie dies geschieht, so fragmentarisch bleibt die Beschreibung ihrer Existenzen. Die Enden der Geschichten verlieren sich jeweils von beiden Seiten im Unbekannten, Vergangenheit und Zukunft sind ungewiss.

„Wenn man jemandem begegnet, begegnet man sich selbst“, sagt Juliette (Natacha Régnier). Für sie, die auf ihren Rückflug nach Montréal wartet, wird der Musikproduzent Vincent (Bruno Todeschini) zum Katalysator einer solchen Selbstbegegnung, die den Anderen braucht. Mit ungewöhnlicher Offenheit sprechen die beiden Fremden über die Zufälle ihres Lebens, über ihre Familien und die Sehnsucht nach einem Zuhause. Dabei entsteht eine starke intime Nähe, die einen Kontrast bildet zur anonymen Situation inmitten des öffentlichen, nicht identifizierbaren Stimmengewirrs. Oder auch zu den Kommunikationsdefiziten der anderen, paarweise auftretenden Figuren, deren Vertrautheit kein Verstehen garantiert, ja geradezu von einem Gefühl der Entfremdung umfangen ist. So scheinen die intimen Geständnisse einer von Mireille Perrier gespielten Mutter und ihrem Sohn, beide unterwegs zur Beerdigung des Familienvaters, die Distanz zwischen ihnen eher noch zu verstärken.

Dagegen schleicht sich bei dem jugendlichen deutschen Paar dieser mögliche Entfremdungsprozess eher als unmerkliche Störung in die vermeintlich harmonische Geborgenheit des gemeinsamen Reisens. Eine Vorübergehende (Maren Eggert) erregt die Aufmerksamkeit des jungen Mannes und lenkt ihn gedanklich von seiner Freundin ab. Man kann in seiner versteckten Unruhe und der von ihr angetriebenen Suche nach der Entschwundenen die Untreue des Augenblicks förmlich spüren. Wenn er sie später mehr unbewusst denn absichtlich auf einem seiner Fotos wiederfindet, wirkt das wie eine Ironie des Abbilds gegenüber der Wirklichkeit. Als würde das Bild die wahren Momente der Erinnerung nicht nur beglaubigen und speichern, sondern selbst finden.

Bedingt wird dieses Finden durch Absichtslosigkeit und Abstand, was – ergänzt durch den Faktor Zeit – auch Angela Schanelecs filmästhetische Prinzipien sind. Ihre Bilder wahren eine diskrete Distanz, die zum Einen dem Sujet innewohnt, zum Anderen dem Film seinen Atem, dem Spiel seinen Raum schenkt. Nicht zuletzt darin erweist sich „Orly“ als ein Film, der die Aufmerksamkeit auf das Detail lenkt und seine Schönheit in der bewussten Konzentration auf das scheinbar Beiläufige findet.

Mademoiselle Chambon

(F 2009, Regie: Stéphane Brizé)

Eine Sprache der Blicke
von Wolfgang Nierlin

Das Gewicht der sozialen Herkunft wiegt schwer in Stéphane Brizés berührendem Liebesfilm „Mademoiselle Chambon“; und es zwingt die Figuren in eine lange, stabile Familientradition. Wenn sich der wortkarge Maurer Jean …

Das Gewicht der sozialen Herkunft wiegt schwer in Stéphane Brizés berührendem Liebesfilm „Mademoiselle Chambon“; und es zwingt die Figuren in eine lange, stabile Familientradition. Wenn sich der wortkarge Maurer Jean (Vincent Lindon) in die titelgebende Aushilfslehrerin Véronique (Sandrine Kiberlain) verliebt, so liegt darin eine Vorbedeutung des späteren Gefühlsdilemmas. Doch zunächst spricht ein bescheidenes, harmonisches Familienglück aus den Bildern eines ausgewogenen, vertrauten Alltags. Jean arbeitet mit gewohnter Routine auf dem Bau, seine Frau Anne Marie (Aure Atika) bedient den Sammelhefter in einer Buchbinderei. Und beim gemeinsamen Familienpicknick brüten die Eltern mit angestrengtem Ernst und gutem Willen über den Hausaufgaben ihres kleinen Sohnes Jérémy (Arthur Le Houérou). In ruhigen, konzentrierten CinemaScope-Bildern und mit verhaltenem Tonfall erzählt Brizé vom einfachen Leben und Arbeiten in einer südfranzösischen Kleinstadt.

Die Metapher vom Hausbau, über den Jean auf Einladung der Lehrerin vor der Klasse seines Sohnes spricht, bildet das dramaturgische Scharnier für eine Liebesgeschichte, die den scheinbaren Gewissheiten der Protagonisten die Macht verwirrend ungeahnter Gefühle entgegensetzt. Der ganz innerliche Resonanzraum aus zärtlichen Blicken, unausgesprochenen Empfindungen und stiller Sehnsucht ist dabei ebenso reich wie intensiv. Stéphane Brizé akzentuiert diese ungewisse Spannung einer unmöglichen, leiderfüllten Liebe, indem er die in Sprachlosigkeit gefangenen Gefühle und Körper in eine vieldeutige Sprache der Blicke übersetzt. „Ich versuche, etwas sehr Unsichtbares einzufangen, etwas, das sich zwischen den Wörtern versteckt, in der Stille und im Zögern“, sagt der französische Regisseur. Die unbestimmte Bewegung der Liebe hat dabei die Musik als ihre Verbündete. Immer wieder sitzen die Figuren versunken in Gedanken an den jeweils Anderen. Die unmöglichen Entscheidungen, die in diesem Schweigen wachsen, gewähren nur kleine Fluchten.

Ruhr

(D 2009, Regie: James Benning)

Heiter bis wolkig
von Ekkehard Knörer

Einen Film wie “Ruhr” hat James Benning, wenngleich man die Signatur des Regisseurs von der ersten Sekunde an nicht verkennen kann, noch nicht gedreht. Zum einen hat er für diese …

Einen Film wie “Ruhr” hat James Benning, wenngleich man die Signatur des Regisseurs von der ersten Sekunde an nicht verkennen kann, noch nicht gedreht. Zum einen hat er für diese Einladungs- und Auftragsarbeit den amerikanischen Kontinent erstmals verlassen, auf dem er bislang seine Kamera in die kreuz und in die quer, in den Städten und auf dem Land, vor Himmeln, Zügen, Vorbeifahrenden und Vorbeispazierenden, vor Seen und Menschen in immer neuen Variationen platziert hat. Mal rein dokumentarisch, mal mit Anflügen von Inszenierung, mal streng, mal verspielt in der Form, mal im-, mal explizit aus dem Off kommentiert: immer aber interessiert an dem, was die Kamera, wenn man sie erst da und dann dort, immer gezielt, hinstellt, zeigen kann von der Gegenwart der USA und dem, was sich in dieser Gegenwart von der Vergangenheit zeigt.

Nun aber stellt er die Kamera im Ruhrgebiet auf. Die filmische Wahrnehmungsform namens “Benning” nimmt Aufenthalt in einer anderen Sphäre. Zunächst wie gehabt. Der Aufenthalt in einem Benning-Bild ist immer zugleich Bewegtform von Fotografie, Festhalten voranschreitender Wirklichkeit und vergehender Zeit. Und der Aufenthalt ist auch, weil das Bild minutenlang dauert, Aufhalt von Weitergang. So lang währt jedes Bild im Benningfilm, dass man sich einrichten muss, mit Auge und Ohr und auch dem Zeitsinn. Das Auge spaziert, ob es will oder nicht, durch das Bild, so wie Augen für gewöhnlich nur durch stehende Bilder spazieren, solche, die man in Museen findet, seien es Gemälde oder Fotografien. Also Bild eins, “Ruhr”, ein Tunnel. Die Kamera steht links zwischen einem Bürgersteig und der Fahrbahn, am Rand. Man sieht nicht weit, bald geht der Tunnel, der von einem sehr uneinheitlich gescheckten Grau ist, um die Ecke. Auf der Fahrbahn als dessen Begrenzung ein weißer Streifen. Der findet sich, spektakulär geradezu, gespiegelt durch eine leuchtende Neonlichtspur an der Ecke. Die ist gezackt, wie etwas von Liebeskind.

Dies Licht ist gewiss der zentrale Attraktor des Bilds. Man blickt nur dann, wenn ein Auto kommt, oder auf dem Gehsteig ein Radler, oder wenn der Wind mit halblautem Geräusch etwas Metallisches über die Fahrbahn weht, mit Sicherheit nicht dorthin. Nach einer Weile, nach der Zeiteinheit von, sagen wir, zwei oder drei Benning, fallen einem vielleicht die Staubfetzen auf, die neben der Lichtspur sich leise bewegen. Sie sind etwas im Bild, das erst die Dauer des Aufenthalts und des Aufhalts sichtbar macht. Dass man derlei Dinge, die nichts weiter bedeuten, mit durch die Dauer notgedrungen aktivierten Sinnen wahrnimmt, ist die Sorte Detailgewinn, die einem ein Benningfilm immer auch schenkt.

Aus der Arbeitswelt, die fast menschenlos ist (zwei Figuren gehen einmal hinten durchs Bild), berichtet Einstellung Nummer zwei. Wieder natürlich bleibt die Kamera unbewegt. Wieder natürlich dauert das Bild. Beobachtet wird hier aber nicht die Beliebigkeit eines Verkehrs, sondern die Wiederkehr eines geregelten Ablaufs: glühendes Metall schiebt sich in mittlerer Raumebene ins Bild und wird von einer massiven Hebe- und Transportapparatur in Richtung Kamera gehievt. In der vorderen Bildebene werden die abgekühlten Metallstangen mittels gezackter Hochrunterapparatur von links nach rechts bewegt. In diesem Bild halten sich die Abstraktion, in deren Richtung Bennings Filme immer auch zielen, und die Konkretion einer historisch gesättigten Situation (Schwerindustrie, Produktion), die Waage.

Danach ein Naturbild, wie es scheint. Vor Himmel Geäst und Waldesruhe – bis ein Flugzeug, gerade gestartet, mit großem Krach durchs Bild zieht. Das wiederholt sich. Es folgt eine Einstellung voller Menschen: eine Moschee (in Duisburg-Marxloh, wie der Abspann verrät). Arabisch betet der Imam, die Menge kniet, dann steht sie auf und man sieht vor allem, weil die Kamera halbhoch steht, die Mittelpartien von Männern im Bild. Dann ein Mann, der ein seltsam auf einer Kiesfläche in der Landschaft frei hingestelltes Graffitibild von einer Wand fräst. (“Bramme für das Ruhrgebiet”, erklärt der Abspann – wie genau sich die Fräsarbeit zur seit 1998 stehenden Bramme von Richard Serra verhält, ist mir leider unklar. Man muss aber auch nicht jedes von Bennings Bildern bis in die historisch-geografische Letztauflösung hinein verfolgen.) Darauf noch eine Einstellung in einer Wohngegend, Klaviermusik perlt, Hund wird Gassi geführt, im Hintergrund sieht man gelegentlich einen Zug auf Hochbahngleisen. Weiter nichts und Teil eins ist vorbei.

Teil zwei macht dann eine weitere Konsequenz von James Bennings Neuanfang klar. Selbstverständlich hat man zuvor schon deutlich gesehen, dass er erstmals die 16mm-Kamera, das Fetisch-Aufzeichnungsobjekt mehr als einer Avantgardefilmergeneration, gegen die Digitalkamera ausgetauscht hat. Ganz andere Schärfen sind das im Detail – und im Ganzen kornlose, glattere, ein gutes Stück in Richtung Videoinstallation gerückte Bilder. Benning hat einen Schritt vom Kino auf die Kunst zu getan, ob er will oder nicht: der Kontext, aus dem man solche Videobilder zu kennen glaubt, lässt kaum eine andere Assoziation zu. Die andere technische Verfasstheit hat außerdem eine nicht nur den Bildern in ihrer visuellen Anmutung ablesbare, sondern eine weitere, stark ins Ästhetische durchschlagende Folge: Die Einstellung ist aus ihrer Begrenzug auf die einzelne Filmrolle befreit. Jedes einzelne statische Bewegtbild kann nun potenziell, nun, nicht ewig, aber doch stundenlang dauern. Ein Aufenthalt und ein Aufhalt von ganz anderer Qualität.

Für Teil zwei von “Ruhr” nutzt Benning das weidlich. Eine ganze Stunde lang sieht man hier nämlich ein einziges Bild. Ein turmartiger Schornstein vor Himmel, heiter bis wolkig, erkennbar ist nicht, zu welchem Gebäude der Turm gehört; er ist mithin stark abstrahiert, am ehesten schließt das an an “Ten Skies”, Bennings Wolkenfilm in zehn Einstellungen. Hier aber eben nur eine. Es ist schon etwas los, denn der Schornstein ist aktiv, stößt Rauch aus, der sich zu Wolken formt, auch seitwärts sind Klappen angebracht und das ganze qualmt manchmal, als stünde das Innere flammenlos in Feuer. Dazu ertönt periodisch ein Sirenengeräusch und es wird dämmrig und Nacht. So schleicht sich durchaus eine Art Narration auch in dieses Bild – wie eben überhaupt jede Form von Relationierung noch jeden Benning-Film und jedes Benning-Bild affiziert hat: Etwas gerät in Bewegung, in andere Kontexte, Einstellungen antworten aufeinander (selbst, wenn es der Regisseur so gar nicht vorsah), im Bild selbst entwickelt sich etwas, nimmt einen Fortgang trotz oder wegen des Aufhalts. Kein Benning-Film ist nur eine Serie von bewegtfotografischen Einstellungen, jeder ist doch auch, weil er montiert ist, ein von den Konsequenzen von Montage nie ganz lösbarer Film. Die Stunde mit dem Kokerei-Turm, die die zweite Hälfte von “Ruhr” ausmacht, ist dennoch ein Härtetest und die Stelle, an der mancher dem Regisseur noch so gewogene Betrachter dann vielleicht doch die Geduld verliert. Ich jedenfalls hatte vom Turm, da mochte er noch so schön wolken vor sich verdüsterndem Hintergrund, nach recht kurzer, lang werdender Weile, ja, ich geb’s zu, wirklich genug.

Mary & Max – oder: Schrumpfen Schafe, wenn es regnet?

(AUS 2009, Regie: Adam Elliot)

Interkontinentales Bündnis
von Sven Jachmann

Es könnte sich auch um gestandene Charaktere eines Mike Leigh-Films handeln: Mary und Max – zwei Außenseiter, verbunden durch eine skurrile Brieffreundschaft, die ihrem tristen Alltag ein Minimum an Glanz …

Es könnte sich auch um gestandene Charaktere eines Mike Leigh-Films handeln: Mary und Max – zwei Außenseiter, verbunden durch eine skurrile Brieffreundschaft, die ihrem tristen Alltag ein Minimum an Glanz verschafft. Mary Daisy Dinkle, eine achtjährige Schülerin aus einem Melbourner Vorort, hat die Adresse von Max Jerry Horowitz, einem übergewichtigen, atheistischen Juden aus New York, zufällig im Telefonbuch entdeckt und möchte eigentlich nur von ihm wissen, ob in Amerika die Babys in Biergläsern geboren werden, so wie sie es von ihrer Mutter gehört hat. Ansonsten ist Marys Leben die diesseitige Hölle: ihre Mutter ist kettenrauchende Alkoholikerin, der Vater widmet sich in seiner Freizeit der Präparation von Vögeln, sie besitzt keine Freunde, wird in der Schule sowohl von Mitschülern als auch Lehrern verhöhnt, ist unglücklich in den Nachbarsjungen verliebt und im Großen und Ganzen so hilflos sonderbar wie Heather Matarazzo in Todd Solondz‘ „Welcome to the Dollhouse“.

Ihre gesamte Umgebung scheint dem mentalen Verfall preisgegeben, und da hat sie in Max ein gleichwertiges, erwachsenes Pendant gefunden: Der 44jährige leidet am Asperger Syndrom, welches dem Autismusspektrum zugerechnet wird, und laboriert zudem an zahlreichen Zwangsneurosen, d.h. alles, was die gewohnte Struktur verlässt, bedeutet ihm enormen Stress, und das kann der ablebende Goldfisch, der Tod seiner fast blinden Nachbarin oder eine problematische Frage aus Marys Briefen sein. Doch was die Zwei eint, ist die eingeschränkte Sicht auf die grausige Realität um sie herum und wie sie es durch ihren letztlich Jahrzehnte währenden Kontakt schaffen, ihr kurze, wenn auch meist recht aberwitzige Momente des Glücks abzutrotzen. Das leistet bereits die kontrastierende Bildebene: Das monotone, vorstädtische Braun Melbournes und das deprimierende Grau des urbanen Raums werden vornehmlich durch die Accessoires, die die beiden sich per Post zukommen lassen, akzentuiert. Trotzdem hat die Gegenwart noch ein paar grausige Trümpfe in der Hand, zu denen nicht nur der Tod von Marys Eltern und Max‘ fast einjähriger Psychatrieaufenthalt zählen …

Nun handelt es sich indes nicht um eine Arbeit Mike Leighs, sondern um Adam Elliots Langfilmdebüt, der bereits mit seinem Frühwerk „Harvey Krumpet“, das einer Blaupause zu „Mary & Max“ gleicht, einen Oscar als bester animierter Kurzfilm gewann. Wären die Figuren nicht aus Plastilin, würde sich die Kamera nicht mit solcher Eleganz durch die Knetmassewelten bewegen, der Film und sein abgründiges Sujet ließen sich kaum goutieren. So aber entfaltet sich, trotz aller Tristesse, das immer warmherzige, teils groteske, teils schwarzhumorige Portrait zweier vereinsamter Charaktere, dessen Witz wie Anteilnahme sich aus den gleichen Bedingungen speisen, nämlich ihrem fragmentierten Blick auf die Welt um sie herum. Das Sammelsurium aus Süchtigen, Depressiven, Agoraphobikern und Egozentrikern wird vor allem in einen physischen Humor übersetzt, nicht in bösartige Pointen. Bei handfesten Interaktionen hingegen bleibt das Lachen oft im Halse stecken, weil den Figuren nur ambivalent begegnet werden kann – sie bemerken einfach zu selten, wie viel Tragik sie ausgesetzt sind. Die Arglosigkeit in ihrem Handeln ist also Segen und Fluch, für die Figuren und für den Zuschauer ebenso. Dieser Eindruck erhöht sich noch dank des voice over-Erzählers, dessen allwissender, nonchalanter und gleichfalls beruhigender Tonfall selbst den düstersten Situationen eine durchaus heitere Note zuführt. Und so verbinden sich in der Erzählung konsequent zwei disparate Elemente: der harte Realismus eines Mike Leigh mit seiner Vorliebe für zwangsgestrandete Outsider, die notgedrungen an einer asozialen Welt scheitern müssen und die plastilingeronnene Stop Motion-Anarchie der Aardman Company – eine wirklich betörende Symbiose.

Defamation

(ISR / DK / USA / AT 2009, Regie: Yoav Shamir )

Wehret den Anfängen
von Janis El-Bira

„Defamation“, preisgekrönt auf diversen Festivals und mit vielen positiven Kritiken bedacht, ist ein Film mit besten Absichten: Sein israelischer Regisseur, Yoav Shamir, macht sich zu Beginn als Personifikation der reinen …

„Defamation“, preisgekrönt auf diversen Festivals und mit vielen positiven Kritiken bedacht, ist ein Film mit besten Absichten: Sein israelischer Regisseur, Yoav Shamir, macht sich zu Beginn als Personifikation der reinen Naivität mit seiner Handkamera und begleitet von putziger Musik auf den Weg, um wortwörtlich den Antisemitismus zu suchen. Er sei ihm selbst schließlich nie begegnet und wundere sich, dass er dennoch so allgegenwärtig sei. Gut neunzig Minuten später, am Ende der Reise, werden wir sehen, wie eine Schulklasse aus Israel die ehemaligen Konzentrationslager von Auschwitz und Majdanek besucht und einige der Schüler beim Anblick der dort ausgestellten Schuhe tausender Häftlinge und Ermordeter in Tränen ausbrechen. Ein Mädchen wird dort, überwältigt von seinen Gefühlen, sagen, dass es den Feinden des jüdischen Volkes und Israels bis auf den heutigen Tag den Tod wünsche und Regisseur Shamir wird seine Hoffnung ausdrücken, dass diese vergangenheitszugewandte Kultur des Todes und der Schrecken eines Tages einem offenen und problemorientierten Blick für die Zukunft (gemeint ist freilich der Nahostkonflikt) weichen werde. Mit einem klugen, einem großartigen Bild schließt der Film: ein sich ankündigender Sonnenaufgang, in den schwarz-drohend, aber dennoch klein die Stacheldrahtzäune des ehemaligen Konzentrationslagers hineinragen.

Einen weiten Weg ist der Wanderer mit der Kamera also bis hierhin gegangen. Nicht nur räumlich, sondern auch thematisch: Von der Suche nach Zeichen des Antisemitismus im Alltag ist er unvermeidlich beim Nahostkonflikt angelangt und gibt uns schließlich noch eine Lektion in Erinnerungskultur und Vergangenheitsbewältigung obendrein. So weit, so gut, möchte man denken und wenn man gar nicht erst anfangen will mit der in Deutschland spätestens seit dem Historikerstreit der 1980er-Jahre auf breiter Front geführten „Schlussstrichdebatte“, dann könnte man in der Tat von einer nicht unsinnigen Meinung des Regisseurs sprechen. Etwas zu kurz gedacht vielleicht, alles etwas knapp, aber sicherlich nicht verwerflich. Es liegen jedoch zwischen Anfang und Ende der Reise rund neunzig Minuten Film, während derer beim Betrachter die Augen und Ohren immer größer werden – ein Zustand, der sich schließlich in ungläubiges Staunen steigern wird.

Denn mit dem Moment, da der Film vermittels der Kommentare des Regisseurs und seiner zahlreichen, gegen- und ineinander geschnittenen Interviews zu „sprechen“ anfängt, beginnt man sich stark zu wundern, ob die hier ostentativ zur Schau gestellte Naivität des Unterfangens eine authentische ist. Gleich zu Beginn der Reise trifft Shamir im New Yorker Büro der Anti-Defamation League (ADL) ein, wo der oft streitbare Präsident der Organisation, Abraham Foxman, zu einer zentralen und den Film durchziehenden Figur wird. Foxman und seine Kollegen weisen Shamir auf eine Reihe von antisemitischen Vorfällen der vergangenen Wochen hin, die sich – in der Darstellung des Films – als wenig handfest herausstellen. Ein Polizist bezeichnet eine jüdische Beerdigung als „jewish shit“: eine Bagatelle. Ein Schulbus mit jüdischen Kindern soll mit Steinen beworfen worden sein: in Wahrheit wohl alles weniger drastisch, als gedacht. Ein New Yorker Rabbi wird sagen, dass er Leuten misstraue, die ihr Geld mit dem Vorwurf des Antisemitismus verdienten und dass die ADL in vielen Gegenden mindestens so viel Schaden angerichtet habe, wie sie hilfreich gewesen sei. In einer dieser Gegenden wird dann ein Mann auf der Straße ausführlich und nur unter moderatem Widerspruch des Regisseurs über die „Protokolle der Weisen von Zion“ sprechen dürfen und auch erklären, dass er sich als Schwarzer bisweilen gerade von den Juden im Viertel bedroht fühle. Und schließlich wird dort auch Uri Avnery im Rahmen einer Konferenz in Israel vor dem Regisseur sitzen und das aussprechen, was – und dessen war man sich bis zu diesem Zeitpunkt mit immer größerem Unbehagen gewahr geworden – der Film uns doch eigentlich schon eine ganze Weile lang suggerieren wollte: Der Antisemitismus ist eine Erfindung der Juden. Avnery sagt das so. Wörtlich (zumindest, wenn die englischen Untertitel sein Hebräisch korrekt wiedergeben) und vor laufender Kamera. Joseph Goebbels‘ berüchtigtem „Mimikry“-Aufsatz von 1941, in dem auch beschrieben wird, wie Moskauer Juden Meldungen über Gräueltaten erfänden und Londoner Juden diese bereitwillig fortspännen, wird hier, fast siebzig Jahre nach seinem Erscheinen, Genüge getan.

Man möchte diese Äußerung in Avnerys Fall als Gedankenlosigkeit eines verdienten, sehr alten Mannes abtun. Allein, man schafft es nicht ganz, und Shamirs Film könnte diese Nachsicht auch deshalb schon nicht entlasten, weil rund um jenes Zitat die Ernährer des „Neuen Antisemitismus“ permanent wortreich durchs Bild laufen: Da sind die amerikanischen Professoren John Mearsheimer und Stephen Walt, deren Buch, „The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy“, die alte Geschichte vom übergroßen Einfluss der Juden auf die Schaltzentralen der Macht für das US-Außenministerium stark machen will, und da ist auch Norman Finkelstein, der inzwischen wie ein armer Irrer durch die Korridore seines Appartementhauses rennt, aus Provokationslust den Hitlergruß in die Kamera zeigt, in einer einzigen schrillen Schreierei Abraham Foxman als „schlimmer als Hitler“ bezeichnet und auch ansonsten allerhand wirres Zeug redet. Man muss es dem Film da schon fast zugute halten, dass er Finkelstein am Ende nicht vollständig auf den Leim geht – eine reichlich große Plattform gibt er ihm dennoch.

Dass Yoah Shamir bei seiner Suche nach dem Antisemitismus gar nicht in die Welt hätte hinausziehen, sondern lediglich einmal in der virtuellen Realität von YouTube die Kommentare zu nahezu jedem x-beliebigen Video hätte lesen müssen, das sich auch nur entfernt mit Juden, dem Staat Israel oder dem Nahost-Konflikt beschäftigt, würde man ihm im Verlaufe des Films gerne manches Mal sagen. Dort, wo noch immer alle alles sagen und fast alles zeigen dürfen, hätte er auch die Videos von den Anti-Israel-Demonstrationen in Deutschland aus dem vergangenen Jahr gefunden, auf denen von „Tod Israel“, über die Schlachtrufe der Hamas, bis hin zu expliziten Morddrohungen gegenüber Juden und tätlichen Angriffen auf Menschen mit israelischen Flaggen alles dabei gewesen ist, was Shamir gerne auf den New Yorker Straßen gefunden hätte. Diesem Film aber ist in seiner manipulativen Montage, seiner verlogenen Naivität und seinen Interviews, denen man ihr Zurechtgestutztsein an allen Enden ansieht, eine Ästhetik der Relativierung, vielleicht gar der Leugnung inhärent, die ihn in jeder Hinsicht disqualifiziert.

Die Liebe der Kinder

(D 2009, Regie: Franz Müller)

Liebe, überkreuz
von Harald Mühlbeyer

Er ist Baumschneider, sie Bibliothekarin. Er hackt Äste ab und spielt einmal die Woche Fußball, sie schreibt an einem Werk über einen längst vergessenen Biologen des 19. Jahrhunderts. Sie lernen …

Er ist Baumschneider, sie Bibliothekarin. Er hackt Äste ab und spielt einmal die Woche Fußball, sie schreibt an einem Werk über einen längst vergessenen Biologen des 19. Jahrhunderts. Sie lernen sich im Chat kennen und treffen sich zum ersten Mal an einer Autobahnraststätte. An einem Ort, an dem man nicht bleiben möchte.
Bald zieht Maren bei Robert ein; und mit ihr ihr Sohn Daniel, der sich nach den Vorstellungen der Eltern mit Roberts Tochter Mira anfreunden soll. Vier müssen sich zusammenraufen, das ist nicht ganz einfach: „Du schneidest Bäume ab?“, fragt Maren Robert, „ich dachte, du bist Biologe.“ Man ist halt nicht immer das, was man sein will, aber vielleicht kann ja doch Liebe entstehen, auch bei Menschen, die erstmal weit voneinander weg stehen.

Marens Leben ist voll von Literatur, und bei Robert stecken in den Buchhüllen Videokassetten. Aber dafür ist er schon wieder rührend in seiner schüchternen Unsicherheit, aus der heraus er aber doch hartnäckige Zielstrebigkeit entwickelt: Er will Maren bei sich haben. Und sie bleibt. Und sie lieben sich.

Franz Müller, der vor Jahren den wunderbaren, hingetupften, improvisierten und witzig-starken „Science Fiction“ gedreht hat, beschäftigt sich hier mit der Liebe, in eigentlich ganz einfacher Form: Mann und Frau begegnen sich, und irgendetwas entsteht daraus. Mit selbstverständlicher Leichtigkeit inszeniert er diesen Film, der sich auf seine vier Hauptpersonen konzentriert und sie in ihrem Alltag abfängt – und der zugleich mit großem Stilwillen erzählt ist, mit genauer Psychologie und souveränem Timing. Sprich: mit der Kunst, wegzulassen, elliptisch zu erzählen.

Denn dann macht Maren eines Tages die Kinderzimmertür auf, und Mira und Daniel, die Teenager, liegen nackt unter einer Decke. Während die Eltern sich in ihre innigen Beziehung eingelebt haben, hat sich unbemerkt etwas Neues entwickelt, bei den Kindern: und damit wird es plötzlich kompliziert, mit dieser Doppelung der Liebe. Und auf reizvolle, unaufdringliche Art überkreuzen sich die Liebesgeschichten. Während Maren sich von Robert entfernt, streben die Kinder mehr und mehr zueinander; und irgendwann stellt sich auch die Frage, wer denn nun reif genug ist für die Liebe. Während Robert in emotionaler Unbeholfenheit seine Gefühle nicht auszudrücken vermag, wirken die Jungmädchenträume und -poesien seiner Tochter Mira plötzlich wie aufrichtige Apotheosen wahrer Liebe. Während Maren sich von ihrem Lektor hofieren lässt und damit Robert verletzt, hängt sich Daniel selbstvergessen, glückgebadet an seine Mira, und beide träumen den romantischen Traum von der Ferne, von der Autarkie des Liebesglücks, der wahr werden könnte. Aber vielleicht ist das auch nur jugendlicher Trotz, der auf das Beziehungsaufundab der Eltern reagiert? Jeder pflanzt im anderen Vorstellungen, die er dann nicht erfüllen kann: mit Lebenserfahrung hat Liebe jedenfalls nichts zu tun.

Müller gelingt es, Subtilität und Dynamik zu verschränken, aus seinen Porträts von Liebenden ergibt sich ein Spannungsfeld des Beziehungsgeflechtes. Liebe ist wie eine Wasserstoffbombe, heißt es einmal. Wenn sich zwei Teilchen verschmelzen und dabei unheimliche Energie freisetzen, dann strahlen sie, und dann ist es vorbei.

The Happiest Girl in the World

(RUM / NED 2009, Regie: Radu Jude)

Teilwissend
von Andreas Thomas

Von einem „neuen“, einem „jungen“ rumänischen Kino“ ist in den letzten Jahren die Rede, die „New York Times“ ersann gar den blumigen Begriff einer „neuen Welle am Schwarzen Meer“. Was …

Von einem „neuen“, einem „jungen“ rumänischen Kino“ ist in den letzten Jahren die Rede, die „New York Times“ ersann gar den blumigen Begriff einer „neuen Welle am Schwarzen Meer“. Was allemal spätestens seit dem Cannes-Sieger-Film „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“ von Cristian Mungiu auffällt, ist, dass in Rumänien in den letzten Jahren interessante Filme von verschiedenen Regisseuren gemacht wurden.

Ob dem Kind gleich wieder einer dieser sich immer so ähnelnden Namen gegeben werden muss, ist fraglich. Unbestritten ist, dass das derzeitige rumänische Kino ein modernes Kino ist, verwandt etwa mit dem modernen iranischen Kino, dem amerikanischen (Kelly Reichardt) oder den Filmen der „Berliner Schule“, in denen sie nicht zu programmatisch aufs Erstarrte, Erfrorene, aufs stille (Welt-)Bild der Stagnation hinaus wollte, aber dennoch nah an Wirklichkeiten bleiben, wie vielleicht in den Filmen von Henner Winckler oder Ulrich Köhler.

Als Versuche, mit Mitteln des Realismus die Wirklichkeit zu erfassen oder abzubilden, so könnte man die neuen rumänischen Filme beschreiben. Mittels eines narrativen Realismus, der eingedenk ist, und skeptisch angesichts seiner selektiven Eigenschaft. Es beschreibt (filmt) in diesen Filmen sozusagen ein allwissender Erzähler, der seiner Allwissenheit misstraut und sich selbst hinterfragt, weil er eben doch nicht weiß, ob die wichtigeren Bilder, Daten, Geschichten hinter der nächsten Ecke lauern.

Im Film „The Happiest Girl in the World“ von Radu Jude gibt es dafür ein schönes Beispiel: Delia, ein Teenager, sitzt, zurechtgemacht und geschminkt und gelangweilt in der Bildmitte, wartend am Rand eines Brunnens. Da geht ein gebückter alter Mann am Stock von links ins Bild hinein, vor ihr entlang und in dem Augenblick, als er das Bildzentrum nach rechts hin verlässt, überlegt es sich die Kamera und stellt plötzlich einen Passanten ins Zentrum des Bildes und damit ins narrative Zentrum des Films: Die Kamera lässt kurz das Mädchen Mädchen sein und folgt dem Mann einen Augenblick lang nach rechts, das Mädchen verschwindet aus dem Bildkader am linken Bildrand und dann schwenkt die Kamera, als wäre nichts gewesen, wieder zurück auf sie. Delia selbst hat den Mann nicht beachtet und er wird für ihre private Geschichte keinerlei Bedeutung haben und doch ist er für ein paar Momente von einer Randfigur zu einer Hauptfigur des Films geworden.

Solche kleinen, eher unauffälligen Momente machen „The Happiest Girl in the World“ zu einem ungewöhnlichen Film leiser Irritationen, wenn er auch vordergründig eine überschaubare und klar strukturierte Handlung präsentiert. Mit großer Sorgfalt und großartigen Darstellern wird darin von einem besonderen Tag im Leben Delias erzählt. Sie hat bei einem Preisausschreiben einer Saftfirma den ersten Preis, einen flotten Kleinwagen, gewonnen. Um den Preis entgegen zu nehmen, reist sie an einem heißen Sommertag mit ihren Eltern vom Land nach Bukarest. Doch bevor sie den Wagen ihr eigen nennen darf, muss sie für einen Werbespot jener Saftfirma posieren, vor der Kamera im Wagen sitzen, einen langen Schluck trinken und verkünden, dass sie das „glücklichste Mädchen der Welt“ sei, weil ihr die Saftfirma diesen schönen Gewinn ermöglicht habe. Delia aber muss sich sehr anstrengen, glücklich auszusehen, denn ihre Eltern erheben Anspruch auf den Geldwert des Wagens, als temporäre Rückforderung der elterlichen Investition in Delias junges Dasein, als Startkredit, genauer gesagt, für die Gründung eines kleinen ländlichen Hotelbetriebs. Mit einer traurigen Delia zieht sich der Dreh hin, und ich werde hier nichts Weiteres verraten, denn die Spannung im Film gebietet es, gesteigert zu werden.

Anhand dieser privaten Gemengelage erstellt Regisseur Radu Jude ein unangestrengtes und unpathetisches Bild von einem aktuellen Rumänien, dessen Erblast der Ceaușescu-Arä noch spürbar ist, für das aber auch die Wohltaten der freien Marktwirtschaft zunächst kaum mehr als schöne und durchschaubare Versprechungen bleiben. Eigentlich keine der daran beteiligten Personen nimmt die Dreharbeiten und den Inhalt des doch sehr naiven und altmodischen Werbe-Filmchens in irgendeiner Weise ernst – und so kontrastiert der Film die Illusion der schönen neuen Warenwelt mit denen, die das Spiel, zum Schein und aus taktischen Gründen, mitspielen, soweit es geht.

„The Happiest Girl in the World“ ist ein schöner Film, der es schafft, anhand einer kleinen Geschichte komisch und ernst und ironisch und zugleich – und das ist seine größte Qualität – ein bisschen irritierend über die Situation eines ganzen Landes zu berichten.

Liebe Mauer

(D 2009, Regie: Peter Timm)

Fantastische Subversivität
von Dietrich Kuhlbrodt

„Meier“, eine Mauerkomödie der anderen Art (1986), und „Liebe Mauer“, eine Mauer-Love-Story der bekannten Art (2009), beides gedreht von Peter Timm („Go Trabi go“) mit 23 Jahren Abstand. „Liebe Mauer“ …

„Meier“, eine Mauerkomödie der anderen Art (1986), und „Liebe Mauer“, eine Mauer-Love-Story der bekannten Art (2009), beides gedreht von Peter Timm („Go Trabi go“) mit 23 Jahren Abstand. „Liebe Mauer“ wird am 27.08.2010 auf DVD und Blu-ray erscheinen und das hamburger Kino 3001 zeigt demnächst beide Filme im täglichen Wechsel. Machen wir uns den Spaß, vergleichen wir sie.

„Meier“, produziert drei Jahre vor der Wende in der BRD. Demgemäß ist keine Aufarbeitung zu befürchten. Regisseur Peter Timm, geboren in der DDR, ausgewiesen 1970, hält sich an das, was er beschreiben und verarschen und lieben kann. Ja, er hat was übrig für die DDR, genauer für die Menschen, die dort arbeiten und leben und fantastische Subversivität entwickeln, um was zu produzieren. „Meier“ ist auch ein Arbeiterfilm. Und es gibt ihn, den Meier. Er führt eine Tapezierbrigade an. Mit seinen Kumpeln kommt er bestens klar. Spaß haben! Westberlin verlassen und zur Hauptstadt der DDR rübermachen! Das haut alle Klischees von den Fluchtfilmen um. „Meier“ räumt mit den festgezurrten Zonibildern in unserem Kopf auf.

Brigadier Meier also verschafft sich einen Westpass und damit den täglichen Zutritt durch die Mauer und zurück. Wie das mit dem Pass geht, braucht keine Worte, die entsprechende Szene überzeugt dialogfrei im Flughafen-WC Berlin-Schönefeld. Weiter stellt sich nicht die Frage, warum Meier den Pass nicht zur Flucht nutzt. Denn wir sehen, wiederum total überzeugend, wie er die tägliche Einreise zur Einfuhr westberliner Rauhfasertapeten nutzt, professionell und zum Lob des Sozialismus. Rauhfaser ist der Knüller in Ostberlin. Parteifunktionäre scharwenzeln um ihn herum. Der Staatsratvorsitzende Honecker persönlich dekoriert ihn als Held der Arbeit. Eine absurd konsequente, hoch komische Szene.

Der Film lebt von irrwitzigen Gags, zu denen der Auftritt von Dieter Hildebrand als Kellner im HO-Fischrestaurant zählt, und von detailreichen Beobachtungen und grotesken Wendungen. Es wird gelacht und getrunken, allerdings durchaus auf Kosten der Funktionäre, die wie gesagt liebevoll verarscht werden. Ja, es lebe die DDR oder genauer: so lebt es sich in der DDR. 1986. Damals war „Meier“ ein Film gegen den Strich gebürstet und damit zum Wiedererkennen, authentisch, ganz Gegenwart, einzigartig, bejubelt. Jetzt also 23 Jahre danach „Meier“ neu austesten!

„Liebe Mauer“ von 2009. Peter Timm fordert den Vergleich heraus. Die Mauer, jetzt historisch, nostalgisch, ein repräsentativer Film unter vielen, die sich Mauerfall und Wende widmen.
Im wohlbekannten Jahr 1989 steht sie noch, die Mauer. Franzi, frisch in Westberlin, geht im Osten einkaufen, weil das billiger ist. Die übervollen Tüten knallen ihr beim Grenzübergang hin. Grenzpolizist Sascha missachtet die Dienstvorschriften. Er hilft ihr beim Einsammeln und Auffegen. Es folgt eine Liebesgeschichte, in die sich bald Stasi, CIA und West-Staatsschutz einmischen. Werden die Liebenden trotzdem zu einander kommen? Der 9. November 1989 wird es richten.

Ja, das Plot ist vorhersehbar. Zwischen dem ersten Timm-Film von 1986 und dem neuen von 2009 sind in den Medien fleißig Klischees produziert worden, und Timm ist jetzt dabei. Geschenkt auch die Geheimdienstklamotte. Spaß macht sie trotzdem. Buhmänner sind zum Ausbuhen da. Liebende zum Lieben. Okay? Warum darf ein Film nicht auch mal naiv daherkommen? Denn das ist doch das Thema, die arglose, schüchterne Begegnung von Ost und West, sympathisch, schön beobachtet, endend in den großen Emotionen am Tag des Mauerfalls.

Ja, so war es damals, erzählt uns Märchenonkel Peter Timm. Und Märchen will man immer wieder hören. Sie sind was fürs Gemüt.

Ausgequetscht

(USA 2009, Regie: Mike Judge)

In der Fabrik mit Waylon Jennings
von Joachim Schätz

Unter den Blödheitsforschern der jüngeren US-Komödie ist Mike Judge der Sozialrealist: Schon die von Judge in den 90er Jahren kreierten und gesprochenen Fernsehkinder „Beavis and Butt-Head“ waren nicht bloß überlebensgroße …

Unter den Blödheitsforschern der jüngeren US-Komödie ist Mike Judge der Sozialrealist: Schon die von Judge in den 90er Jahren kreierten und gesprochenen Fernsehkinder „Beavis and Butt-Head“ waren nicht bloß überlebensgroße Embleme einer ganzen Dumpfbackenkultur (wie Ben Stillers „Zoolander“ oder Will Ferrells „Anchorman“ Ron Burgundy), sondern zugleich sehr konkrete Repräsentanten einer suburbanen Proll-Jugend angehender Modernisierungsverlierer. Judges Nachfolgeprojekt, die langlebige Animationssitcom „King of the Hill“, baute in ihren Schilderungen aus dem Leben eines Einfaltspinsel-Patriarchen im Gegensatz zum Sendeplatz-Nachbarn „The Simpsons“ mehr auf texanisches Lokalkolorit und milieufundierte Charakterkomik als auf all-american Universalität und Themenhumor. Und mit „Alles Routine“ („Office Space“, 1999) schuf der studierte Physiker einen ätzend detailgenauen Lagebericht aus den Niederungen des Bürolebens, noch bevor „The Office“ oder gar „Mad Men“ Schreibtische und Besprechungszimmer zurück in die Popkultur holten.

Auch „Ausgequetscht“ (im Original: „Extract“), der in den USA am Labor Day des vergangenen Jahres in die Kinos kam, zeigt sich durchlässiger für Mittelstandswirklichkeiten als das derzeit etwa im Sonnensystem Judd Apatow möglich scheint: Hauptschauplatz des Films ist nicht die WG-Couch, sondern die Fabrik, und Vergesellschaftung wie Habitusbildung vollziehen sich hier gleichermaßen entlang sozialer und ökonomischer Hierarchien wie popkultureller Präferenzen. Ein Detail, das Bände spricht: Wenn Self-Made-Aromafabrikant Joel (Jason Bateman) die attraktive neue Aushilfskraft im Gespräch unter Männern als „working-class looking“ beschreibt, dann weiß sein Gegenüber gleich, was der hormongestaute Kleinunternehmer meint: sie sehe wie eine Schlampe aus.

Mit Joel ist diesmal nicht, wie in „Office Space“, eine Bürodrohne, sondern ein Boss die geplagte Hauptfigur. Wer die Galerie zänkischer, selbstsüchtiger und ignoranter Arbeitskräfte, mit denen Joel sich herumschlagen muss, für filmgewordenes „Unterschicht“-Ressentiment halten will, muss aber ausblenden, dass in „Ausgequetscht“ zumindest Idiotie alle Klassen transzendiert. Da kommt auch der Chef nicht aus: Weil Joel mit besagter neuer Fließbandarbeiterin, Cindy (Mila Kunis), eine Affäre beginnen will, aber ein schlechtes Gewissen hat, heuert er für seine gelangweilte Gattin Suzie (Kristen Wiig) heimlich einen Gigolo (toll: Dustin Milligan) an. Unterdessen heckt die betrügerische Cindy eine existenzbedrohende Klage gegen Joels Fabrik aus.

Ein wenig gemahnt die mäandernde Dramaturgie von „Ausgequetscht“ an eine geführte Bustour durch die Demütigungen kleinstädtischer Upper-Middle-Class-Existenz (Zu Ihrer Linken sehen Sie jetzt den aufdringlichen Rotary-Arsch-Nachbarn!). Nach der furiosen High Concept-Komik von Judges Verblödungsdystopie „Idiocracy“ (2006) wirkt dieses sauber gefilmte Purgatorium zuerst einmal erstaunlich zurückgenommen und zerfleddert: wie ein Serienpilot, der übereifrig Spuren für ein, zwei Staffeln auslegt.

Gerade im Verknüpfen mehrerer disparater Handlungsfäden zu einem kompakten Eineinhalbstünder beweist „Ausgequetscht“ aber rare Souveränität. Manche Gags und Karikaturen werden breit und repetitiv ausgequetscht – etwa der fulminante Auftritt von „Kiss“-Monster Gene Simmons als vulgärer Staranwalt –, doch der Film ruht sich nie im Auffädeln von Sketches aus, sondern peilt zielstrebig einen melancholischen Tonfall an. Dazu gehört, dass er sich mitunter an überraschenden Stellen entschließt, seinen Figuren Eigeninitiative zuzugestehen. Schon wie Ben Affleck als Joels tumber Barkeeper-Kumpel Pointen sammelt, ohne dass er sich mehr als in seinen Heldenrollen zum Affen machen müsste, ist in dieser Hinsicht signifikant. (Man vergleiche das einmal mit den eh lustigen, aber seltsam anbiedernden Karnevalsauftritten von Brad Pitt in „Burn After Reading“ oder Tom Cruise in „Tropic Thunder“.)

„Who were you thinking of / when we were making love last night?“, fragt gegen Ende – nach einer weiteren Verschiebung im Beziehungsgeflecht – einer der Country-Songs, die den Soundtrack dominieren. Und etwa zu dem Zeitpunkt ist mir aufgegangen, wie stark die abwegigen, besoffenen, aber durchwegs ernst gemeinten shaggy dog stories dieses Films übers Lieben, Arbeiten und Betrügen einem bestimmten Countrysong-Duktus nachempfunden sind (ähnlich wie die HipHop-Tracks in „Office Space“ schon mehrdeutiges Programm waren). „Ausgequetscht“ hat von Waylon Jennings mehr begriffen als „Crazy Heart“. Und dank Kristen Wiigs famoser Darstellung der Gattin Suzie – wie diese Frau Gesichtsausdrücke zerkauen kann! – wird man eine ergreifendere Eheballade im aktuelleren Amikino lange suchen müssen. Dass der Film den deutschen Sprachraum erst auf DVD erreicht, ist schade, überrascht bei einer Arbeit von derart diskreter Qualität aber nicht weiter.

Zur DVD: Englischsprachige Untertitel wären angenehm gewesen. Die Extras – eine (kurze) geschnittene Szenen, ein paar (minimal) erweiterte Szenen, ein nettes 11-minütiges Making Of-Featurette – gehen nicht über Pflichtübungen hinaus und tragen wenig Erkenntnisförderndes zur Methode Judge bei. Was sollte auch einem Film hinzuzufügen sein, der das Extrakt schon im (Original-)Titel trägt?

Giravolte – Freewheeling in Roma

(I 2001, Regie: Carola Spadoni)

Frottierendes Movere
von Andreas Thomas

Ein anarchierendes, frei flottierendes Parlare, ein frottierendes Movere durch ein schmutziges Rom der Straße ist der Film „Giravolte“, und darin eine Liebeserklärung an die Stadt, ein Cinemascope-Film bewusst eingebunden in …

Ein anarchierendes, frei flottierendes Parlare, ein frottierendes Movere durch ein schmutziges Rom der Straße ist der Film „Giravolte“, und darin eine Liebeserklärung an die Stadt, ein Cinemascope-Film bewusst eingebunden in die Geschichte des italienischen Kinos und dazu eine Verortung in der Berlusconi-Ära, der mittleren, muss dazu gesagt werden, denn obwohl der Film erst jetzt, 2010, in die deutschen Kinos kommt, gibt es ihn schon seit 2001. Gedreht Ende der Neunziger, ist er also sogar noch ein Vor-11. September-Film, was in Bezug auf das anhaltende Berlusconi-Italien womöglich keinen großen Unterschied bedeutet.

Wenn die meisten Geschichten im Leben nur nachträgliche Interpretationen sind und in Wahrheit unabgeschlossene Bruchstücke komplexerer Zusammenhänge, dann folgt „Giravolte“ eben dieser Prämisse, indem er einen Tag im Leben des Mittfünfzigers Victor Cavallo als Koinzidenz zufälliger Begegnungen erzählt. Drei Akte, mit jeweils verschiedenen filmischen Mitteln inszeniert.

Im ersten, dem freiesten Akt, erlaubt sich die Regisseurin das Aufbrechen der zeitlichen Abfolge: Das hitzige und wortreiche Mittagsmahl Victors mit vier Männern unter einer Brücke am Tiber wird immer wieder gestört durch Sequenzen eines versuchten Selbstmordes und einer Rettung. Unaufhörlich kreist die Kamera um die Männer, die dubiose Theorien um magische Steine entwickeln, in springenden Schnitten dazwischen ein weinendes Mädchen, das dem Selbstmörder befiehlt, sich nicht aus dem Leben davon zu machen.

Der zweite, weitgehend improvisierte, Akt begleitet Victor zum Flohmarkt, auf dem er Flyer verteilt, mit denen er sich als Kandidat für die Bürgermeisterwahl vorstellt, sein Wahlkampfmotto: „Löse die Zeit auf in Gelächter“. Flohmarktsgeplänkel im dokumentarischen Stil, im wörtlichen Sinn auf Augenhöhe mit den Besuchern, den Käufern und Verkäufern, deren Gespräche über ihre Videos und Bücher nebenbei zu kulturkritischen Statements geraten.

Den Ausklang bildet der ganz andere dritte Akt, ein klar inszeniertes, witzig-skurriles Kammerspiel in einer Kneipe, in welcher Victor auf ausgesuchte Typen trifft: darunter eine ältere Prostituierte, die aussieht wie ein Relikt des klassischen italienischen Films, ein Polizist, ein junger Musiker, ein gestrandetes amerikanisches Pärchen. Eine kurzzeitige Ordnung, die die Nacht und der Alkohol bereit hält – und eine Regie, die an Filmen von Fellini, des Neorealismus und, so scheints, auch an Filmen des frühen Jim Jarmusch geschult ist.

Wir haben vieles zugleich im Film „Giravolte“: Ein stilistisches Patchwork, auch was die musikalischen Elemente vom Jazz zu Trance betrifft, unterlegt wird der Ton oft von einem fiktiven Radiosender, der unentwegt merkwürdige Nachrichten sendet („Beschlagnahmung schadhafter DNA zwischen Albanien und dem Kosovo“), und viele parallele, sich streifende, abgebrochene Geschichten des individuellen Überlebenskampfes, von denen die des Victor sicherlich nicht die dramatischste ist, der aber, ganz nach dem von Marcel Duchamp übernommenen Motto des Films: „Die Energie der Seitenblicke nutzen“, als Zentrum dieses angenehm unkonventionellen, im besten Sinne italienischen Werkes und als unbeugsam vitaler Zeuge eines gebeutelten Italiens beste Dienste leistet.

8. Wonderland

(F 2008, Regie: Nicolas Alberny, Jean Mach)

Nicht mehr anrufen! Dies ist eine Wiederholung!
von Ulrich Kriest

„Unsere ganze Weisheit besteht aus Vorurteilen. All unsere Bräuche sind nur Knechtung, Bedrängnis und Zwang. Der bürgerliche Mensch wird geboren und stirbt in der Sklaverei. Den Neugeborenen näht man in …

„Unsere ganze Weisheit besteht aus Vorurteilen. All unsere Bräuche sind nur Knechtung, Bedrängnis und Zwang. Der bürgerliche Mensch wird geboren und stirbt in der Sklaverei. Den Neugeborenen näht man in ein Wickelband, den Toten nagelt man in einen Sarg. Sein Leben lang liegt der Mensch in den Ketten unserer Institutionen.“ Bis zu Jean-Jacques Rousseau zurück führt mindestens das babylonische Sprachgewirr von „8. Wonderland“, einem Film, der mit bescheidenen ökonomischen wie auch intellektuellen Mitteln eine soziale Utopie entwirft, die sich vorzüglich aus recyceltem Material speist.

Ein global vernetztes Kollektiv hat im Internet einen virtuellen Staat gegründet, um mit kleinen, subversiven Aktionen Sand ins Getriebe der Mächtigen zu streuen. Anfangs bewegen sich diese Aktionen noch auf dem politischen Niveau von Schülerstreichen, wenn etwa Kondomautomaten im Vatikan installiert werden oder ein gewitzter Dolmetscher einen Atomdeal zwischen Russland und dem Iran vereitelt. Lustig auch die Idee, millionenschwere Fussballstars zu entführen und sie in Sweatshops zu sperren, wo sie ihre Vertragspartner billig arbeiten lassen.

In einer Art Schnelldurchlauf bietet der Film von Nicolas Alberny und Jean Mach häppchenweise Illustrationen von bestimmten Theoremen der politischen Philosophie, der Demokratietheorie und der Aporien des herrschaftsfreien Diskurses, in die sich recht zügig Omnipotenz-Phantasien und die alte Idee der revolutionären Aufhebung der Gewaltenteilung mischen. Am Ende steht dann Selbstermächtigung von allen Seiten, aber überrascht das irgendwen? All dies gerät äußerst holzschnittartig in einer Montage aus inszenierten Diskussionen von Talking Heads der Bewohner von 8. Wonderland und nachgestellter Medienrealität. Der Film ist derart wortlastig, dass man wohl eher von einem bebilderten Hörspiel sprechen sollte. Lustig auch, dass man den Ureinwohnern von 8. Wonderland – bevor der Hype beginnt! – ihre zutiefst humanistische Empathie buchstäblich an den Stimmen abhört: so viel Freundlichkeit und Nettigkeit und Toleranz! Je erfolgreicher die Bewohner von 8. Wonderland aus der Virtualität heraus agieren, desto labiler erweist sich das Konstrukt des virtuellen Staatswesens für Anfechtungen und Instrumentalisierungen. Ein Mann namens John McClane gibt sich als Führer von 8. Wonderland aus und kocht später mit erstaunlicher Chuzpe doch nur sein eigenes Süppchen. Doch die Geste, nun selbst einen Repräsentanten des virtuellen Staates als Gegen-Stimme in die Öffentlichkeit zu schicken, bleibt hilflos und wirft die Frage nach der notwendigen Prpfessionalisierung der politischen Klasse auf.

Rousseau, Kant, Marx, Max Stirner, Bakunin, Lenin, Bloch, Max Weber, Jürgen Habermas – da müssen die Bewohner von 8. Wonderland im Schweinsgalopp noch einmal durch – säuberlich werden ideologische Positionen aus der Abstellkammer der Geschichte noch einmal durchmustert. Weil die Lernprozesse hier ihren Ausgang in einer eher naturwüchsigen Protesthaltung, einem gewissen Unbehagen am status quo nehmen, mag der Erkenntnisprozess der Bewohner von 8. Wonderland immens sein, für den Zuschauer im Kinosaal ist er eher quälend, sprunghaft und kontingent. So erleben wir eine polyphone Bewegung von der Graswurzelrevolte über eine Gegenkultur bis hin zur Institutionalisierung der Bewegung und der abschließenden Selbstdestruktion. Dass die Bewegung selbst einen Lernprozess in Bewegung gesetzt hat, der das Scheitern als Erfahrung überlebt und nachwirkt, bleibt der etwas naive Ausblick eines sicher sehr gut gemeinten Films, dessen karger Mehrwert im Kinosaal allerdings bitter abgerungen sein will.

Distanz

(D 2009, Regie: Thomas Sieben)

Warum läuft Herr B. Amok?
von Janis El-Bira

Viele Male teilt der Zuschauer in „Distanz“ den Weg der Hauptfigur Daniel Bauer durch Berlin. Der Blick ist dabei der eines Verfolgens, nicht des Begleitens: Auf Schulterhöhe klebt die Perspektive …

Viele Male teilt der Zuschauer in „Distanz“ den Weg der Hauptfigur Daniel Bauer durch Berlin. Der Blick ist dabei der eines Verfolgens, nicht des Begleitens: Auf Schulterhöhe klebt die Perspektive an Daniels Rücken und Nacken, links wie rechts fluten Passanten, Autos und Straßenzüge vorbei. In dieser beunruhigenden Komposition scheint die Figur sich selbst zu beobachten, treibt sich gleichsam vor sich selber her und gleitet gesichtslos durch die Stadt, die an einem Ich vorbeifliegt, das nicht mehr identisch mit sich selber scheint.

Diese oft unbestritten eindrucksvollen Ergebnisse einer sehr ernsthaften Formsuche sind das eine Gesicht von Thomas Siebens Langfilmdebüt, das vergangenes Jahr die „Perspektive Deutsches Kino“ auf der Berlinale eröffnet hatte. Das andere ist gleichwohl das eines hoch- und auch überambitionierten Abschlussfilms (was „Distanz“ nicht ist). Schon der Plot kann nurmehr als eine Art Versuchsanordnung beschrieben werden:

Daniel ist ein stiller, introvertierter Arbeiter im Botanischen Garten Berlins, wo er mit seiner Schubkarre umherfährt, ab und an etwas aus- oder eingräbt, vorrangig aber das Herbstlaub zusammenkehrt. Seine Kollegen dort sind Idioten wie aus dem Bilderbuch: Solche, die ihn ausschließlich beim Nachnamen, Bauer, rufen und ihr grobes Männlichkeitsgebahren untereinander noch potenzieren, sobald eine Frau auch nur aus der Ferne sichtbar wird. Eine solche ist Jana: Mit dem (rein akustisch) wunderbar doppeldeutigen Satz „Sind sie kaputt?“ kommt sie erstmals auf Daniel zu, als dieser gerade einige verkümmerte Pflanzen betrachtet. Jana, die in der Verwaltung des Botanischen Gartens arbeitet, wird sich natürlich verlieben und ihre Liebe wird nichts weniger als die einer Heiligen (oder wahlweise: einer Blinden) sein: Bedingungslos, schützend und opfernd. Daniel, der durch diese Liebe gerettet werden soll, steht unterdessen auf der Autobahnbrücke und wirft stetig immer größere Steine auf die vorbeifahrenden Autos. Schnell wird er durch ein Zufallsgeschehen, das man wohl schlicht absurd nennen muss, auch an eine Schusswaffe gelangen und im Görlitzer Park zeigt sich so alsbald, dass der Tod ein Meister aus dem Gewächshaus sein kann.

Man wolle nicht psychologisieren, nichts erklären, heißt es von Seiten des Regisseurs – obgleich der Pressemappe zum Film paradoxerweise ein kurzer Informationstext über „schizoide Persönlichkeitsstörungen“ mitsamt einer Symptomatik in sieben Punkten beigefügt ist. Lässt man alle Pathologie und Ätiologie beiseite, bleibt für einen Film die Frage, wie ein (zeitlich gedehnter) Amoklauf gezeigt werden kann, ohne in erklärende, deutende Muster zu verfallen. Gus Van Sants „Elephant“ hat vor Jahren diese Frage mit einer radikalen Stilisierung gleichermaßen erschreckend wie erhellend beantwortet: Wo das Töten zum Ballett wird, zur hochartifiziellen „Aufführung“ am Ende einer Vorbereitung, in der brutale Videospiele, Waffengeprotze und Zärtlichkeit unter jungen Männern kommentarlos nebeneinander stehen, da tut sich hinter allen Deutungsansätzen nur noch das weiße Rauschen einer nicht beantwortbaren Frage auf.

„Distanz“ hat diesen Mut letztlich nicht: Daniel ist von Anfang an ein isolierter Sonderling in einer weitgehend erkalteten Umwelt und der Film traut ihm in den ihm zugeschriebenen Bildern das „Ausrasten“ in jedem Moment zu. Er umgibt ihn mit einer bis zur Sterilität aufgeräumten Wohnung, in der er abends kerzengerade auf dem Sofa sitzt und bewegungslos auf einen Fernseher starrt. Ein Film über die Toskana läuft hier, die für ihn zum Sehnsuchtsort wird. Dass diese Figur hierbei dann doch mehr als einmal ein wenig wie der Irre vom Boulevardtheater wirkt, liegt auch an Hauptdarsteller Ken Duken, der den Beginn des „Durchdrehens“ und Tötens stets durch einen besonders starren und ins Nichts gehenden Blick so markiert, als sei es die mitternächtliche Verwandlung eines Werwolfs. Es ist den Szenen des Näherkommens mit jener liebesblinden Jana zu verdanken, dass Daniel nicht gänzlich zum Klischee wird: Franziska Weisz‘ Jana ist – allem in diese Frauenrolle eingeschriebenen Bürgerlichen, Reaktionären, Mütterlichen und Opfernden zum Trotz – eine lebendige und authentische Provokation für Dukens Manieriertheiten.

Dabei wäre es ausgerechnet das Manierierte selbst gewesen, das den Film beinahe zu seinen Gunsten hätte wanken lassen: Denn inmitten der Tristesse der blaugrauen Farbgebung sind es gerade die Blutfontänen von Daniels rasiermesserscharf die Schädel seiner Opfer durchschlagenden Kopfschüsse, die derart unvermittelt und dabei so filigran und kunstvoll in der Luft zerstäuben, dass „Distanz“ in einigen wenigen Momenten ein beunruhigend instabiles Zentrum bekommt: eine schwarze, bizarre Komik. Mit ihr weiß der Film nicht so recht etwas anzufangen, obwohl sie – alle Psychologisierungen zynisch erstickend – der Figur Daniel und ihrer „Krankheit“ so ganz und gar angemessen wäre. Stattdessen rettet man sich einmal mehr ins Tragische und mag das eigene, irre flackernde Lachen lieber nicht hören.

Das A-Team – Der Film

(USA 2010, Regie: Joe Carnahan)

Kommt ein Panzer geflogen
von Thomas Groh

Stürzt ein Panzer vom Himmel runter, hängen ein paar Fallschirme dran, sind ein paar Irakveteranen drin. Kaum eine Besprechung von “Das A-Team” kommt ohne Hinweis auf diese sehr bizarre Sequenz …

Stürzt ein Panzer vom Himmel runter, hängen ein paar Fallschirme dran, sind ein paar Irakveteranen drin. Kaum eine Besprechung von “Das A-Team” kommt ohne Hinweis auf diese sehr bizarre Sequenz aus, so auch diese nicht. Es ist ja auch zu schön: Da zerlegt’s einen Jumbojet in luftigster Höhe unter viel Getöse und unseren vier, aus der gleichnamigen 80er-Serie bestens bekannten Helden gelingt die Flucht in kaum dafür geeignetem Gerät. Montage, Irrsinn, Freudenquell: Die “Panzerszene”, wie man sie vermutlich fürderhin nennen wird, dürfte als fröhlicher Bullshit jüngeren Produktionsdatums zumindest mittelfristig in die Filmgeschichte eingehen.

Vom Rest zwischen den Attraktionsinseln (sehr schön geraten ist auch der Showdown, in dem eine Frachtcontainer-Avalanche ein ganzes Hafendock unter sich begräbt) kann man das freilich kaum behaupten: Von den fast zwei Stunden Spielzeit wird wenig Zeit auf ehrlich kindischen Überwältigungskäse verwendet, sehr viel aber auf die “A-Team-Textur”. Wie jede andere “Kultserie” auch, zeichnet sich “Das A-Team” (die Serie jetzt) durch eine Vielzahl von Codes und Insiderwitzen aus: B.A. Baracus hat panische Flugangst, Hannibal raucht Zigarren, die Liebe zu funktionierenden Plänen wird ostentativ deklamiert, unwahrscheinliches Kampfgerät gebastelt und das Wichtigste: Beim “A-Team” wird nicht gestorben, sondern allenfalls auch nach viel Geballer unter einigem Husten Staub von den Klamotten geklopft (offensichtlich eine Strategie, um in den familienkompatiblen, also ökonomisch viel versprechenden Sendeslots zu landen, was eine sehr eigene Form der “Gewaltverherrlichung” schafft, nach der freilich keine der dafür zuständigen Instanzen kräht). Bei Wikipedia kann man das alles nachlesen und der große Haufen Drehbuchautoren, die der Film in “development hell” verschlissen hat, war offensichtlich damit bemüht, viel bei Wikipedia nachzuschauen, um sich im Anschluss Gedanken darüber zu machen, wie man nun welches ‚A-Team-Detail‘ wo unterbringen könnte.

Und das bedingt eine kaum erquickliche Zwischenposition: Einerseits ist da – Stichwort Panzer – der Wille zum Kinoirrsinn ohne weiteres zu spüren, andererseits soll das aber auch nicht überhand nehmen. McG, nun wahrlich kein großer Cineast, hat vor einigen Jahren mit seinen “Drei Engel für Charlie”-Filmen vorgemacht, wie es anders geht: Mit den Vorgaben der Vorlage ging man dort eher lax um, dafür wurde der Kino- und Bildrahmen in einer wilden Aneinanderreihung höchst unwahrscheinlicher Wendungen minutenweise gesprengt – Blockbuster-Kino trifft auf Avantgarde-Ästhetik und verflucht viel gute Laune. “Das A-Team” hingegen ist versessen aufs Richtigmachen und schlägt gerade deshalb fehl: Ist es wirklich interessant, wie sich die vier Jungs getroffen haben (in der mexikanischen Wüste bei der Konfrontation mit recht mafiösen Mexikanern)? Ist es wirklich interessant, dass das A-Team – in der Serie ein Haufen von der Militärpolizei gesuchter Vietnamveteranen – im Irakkrieg als Eliteeinheit zusammengeschweißt wurde? Dass es bei einem Einsatz – irgendwas mit US-Falschgeld in der Irakwüste – ordentlich gelinkt und ins Gefängnis gebracht wurde? Und dass es nach einem Ausbruch nun versucht, a) die eigene Unschuld unter Beweis zu stellen, und b) Schaden von den USA abzuwenden? Ich finde: Nein. Ich hätte mir mehr Panzer, die vom Himmel fallen, gewünscht.

Männer im Wasser

(D / S 2008, Regie: Måns Herngren )

Schwebende Schwäne
von Wolfgang Nierlin

Die Diskrepanz zwischen sportlichem Sein und sportlichem Bewusstsein sowie die fast schon heilige Allianz zwischen Leibesübungen und Patriotismus sind ausgeprägt in Måns Herngrens Filmkomödie „Männer im Wasser“. Bereits der dynamisch …

Die Diskrepanz zwischen sportlichem Sein und sportlichem Bewusstsein sowie die fast schon heilige Allianz zwischen Leibesübungen und Patriotismus sind ausgeprägt in Måns Herngrens Filmkomödie „Männer im Wasser“. Bereits der dynamisch montierte Vorspann, der als geraffte Exposition funktioniert, gibt diesbezüglich umfassend Auskunft: Fredriks traditionsbewusstes Hockey-Team, eine in Nostalgie an bessere Zeiten schwelgende Hobby-Mannschaft von Mittvierzigern, wird gegenüber den Hockey-Damen zurückgestuft und verliert das Trainingslokal. Doch der gekündigte Redakteur, der mit Sport sowohl seine Arbeitslosigkeit als auch seine gescheiterte Ehe kompensiert, entwickelt bald schon eine ungewöhnliche Alternative. Nach einem feuchtfröhlichen Junggesellenabschied mit spaßigem Wasserballett will der engagierte Fredrik aus seinen Kumpels Synchronschwimmer formen. Aus Gaudi wird Ernst mit einem ehrgeizigen Ziel: die Weltmeisterschaft in Berlin.

Auf dem Weg zum Erfolg sind natürlich einige Hindernisse zu überwinden und Rückschläge zu verkraften, was dem Drama seine retardierenden Momente und dem Lustspiel seine Pointen beschert. Denn: „Nur durch Niederlagen kann man sich weiter entwickeln.“ Was Fredrik einmal tröstend zu seiner 17-jährigen Tochter Sara sagt, gilt natürlich auch für ihn selbst. Und so erzählt Herngren in der Folge auch von der zögerlichen Annäherung zwischen Vater und Tochter und davon, wie sich die beiden ergänzen. Sara, selbst Synchronschwimmerin seit ihrer Kindheit, avanciert zum Coach der Männertruppe, die sich fortan „Die Schwäne“ nennt und auf dem Wasser das Schweben übt. Weil die Kunst und Ästhetik dieser Sportart dabei sehr körperlich ist, erzählt der schwedische Regisseur mit Humor und visuellem Witz gleich noch von „umgekehrter Geschlechterdiskriminierung“, falschem Männerstolz und unterdrückter, bald überwundener Homophobie; vor allem aber von Männerfreundschaft und Solidarität.

Die Hummel

(D 2010, Regie: Sebastian Stern)

In den Mühlen des Kapitalismus
von Andreas Thomas

Dass der Kapitalismus ein dem Menschsein und -bleiben einigermaßen unwirtliches Environment abgibt, das fällt immer wieder gerne auch Filmregisseuren auf. Es scheint gar, der Kapitalismus als filmisch vorgeformter Topos sei …

Dass der Kapitalismus ein dem Menschsein und -bleiben einigermaßen unwirtliches Environment abgibt, das fällt immer wieder gerne auch Filmregisseuren auf. Es scheint gar, der Kapitalismus als filmisch vorgeformter Topos sei inzwischen ein willkommenes Hintergrundböses für das eine oder andere Stück Arthouse-Kino, wie etwa das Genre: Lakonischer Film, welches wiederum oftmals verhilft: zum Schmunzeln, zum Nachdenken, und hinterher zum Weitermachen – im Kapitalismus.

Im lakonischen Film „Die Hummel“ wird aufgehört mit dem Weitermachen, und das gleich doppelt. Ein Geschäftsreisender in Sachen Naturkosmetikprodukte namens Pit Handlos, den Jürgen Tonkel als mimisch reduziertes Unglück in Menschengestalt spielt, und die in ihrem Job fehlbesetzte Dame an der Reklamationstheke im Elektrokaufhaus, Christiane, die Inka Friedrich mit feinsensiblen Blicken ausstattet, treffen sich nach Jahren wieder und erkennen, dass sie sich selbst belügen – nicht zuletzt, weil der Kapitalismus das so braucht. Pit, so die an eine Sekte erinnernde Firmentaktik, muss seinen „warmen Markt“ aktivieren, sprich, seine Jugendfreundinnen zu einem Glas Wein einladen, mit ihnen über „den Festplatz, damals “ sprechen, ihnen zuhören, ihnen das Gefühl geben, ein Freund zu sein und dann seinen Produktkoffer öffnen. Im Normalfall führt Pit Kundinnengespräche dieser Art mit mehr oder weniger Eleganz und Erfolg, im Idealfall rekrutiert er die Kundin gleich selbst zur Mitarbeiterin – nur bei Christiane will ihm das nicht so leicht von der Hand gehen. Wie das bloß kommen mag? Eben: Weil Liebe und Kapitalismus nicht zusammen passen. Wir wissen das, weil der lakonische Film das weiß, und weil es den schon seit bald 30 Jahren gibt.

Das Genre, das sich Regisseur Sebastian Stern für seine Abschlussarbeit an der Filmhochschule ausgesucht hat, ist natürlich nicht das neueste, aber auch das schlimmste nicht, und, wenn man es einigermaßen einfallsreich bedient, einen Kinoabend wert. Stern ist die Umsetzung seiner Ideen gelungen, weil er welche hat: Sein schön und detailgenau ausgestatteter Film verfügt über gute Typisierungen mit passenden Darstellern (jede Figur besitzt eine ihr angemessene Glaubwürdigkeit), einen weitgehend unaufdringlichen, häufig trockenen, Humor und eine leicht angeschrägte Geschichte aus der Welt des kleinen Bürgers in der niederbayerischen Kleinstadt. Perlen, wie der Mini-Dialog zwischen Vater und Sohn, dem „Gruftie“: „Was ist eigentlich so toll an diesem Gruftzeugs?“ – „Das ist halt unsere Art von Lebensfreude“ – schmücken einen Film, dessen erste Hälfte schön und straff und auf den Punkt geschnitten ist, dessen Auflösung im letzten Viertel aber auch ein wenig vorhersehbar ist. Die Freiheit, die sich die beiden Protagonisten schließlich schleppend erarbeitet haben, wirkt fast zu total, so dass man danken möchte, für die Katharsis, die einem das Kinostück schenkte und morgen lieber weitermachen – in den Mühlen des Kapitalismus.

Sobibor – 14. Oktober 1943, 16 Uhr

(F 2001, Regie: Claude Lanzmann)

Auschwitz ist jetzt
von Andreas Thomas

‚Es gibt zwar eine große Anzahl von Museen, Denk- und Mahnmalen. Die aber dienen dem Vergessen ebenso wie der Erinnerung. Sie verwalten die Erinnerung, die zur toten Materie wird. Meine …

‚Es gibt zwar eine große Anzahl von Museen, Denk- und Mahnmalen. Die aber dienen dem Vergessen ebenso wie der Erinnerung. Sie verwalten die Erinnerung, die zur toten Materie wird. Meine Filme sind Gegenmittel dazu.‘ – Claude Lanzmann

Selten wohl hat ein Regisseur seine eigene Arbeit so treffend in Worte gefasst, selten aber auch lagen Intention, Werk und dessen Wirkung so dicht beieinander, wie im Fall der Dokumentarfilme Claude Lanzmanns. Sein monumentales Hauptwerk ‚Shoah‘, ausschließlich aus Interviews von Überlebenden und Zeugen der Vernichtungslager, KZ’s oder Ghettos während der NS-Zeit bestehend, zeigte 1985, worum es Lanzmann ging: Um die Erinnerung durch Sprache, durch Erzählung, entgegen aller weithin bekannter Daten, Fakten, Bildern und entgegen einer ‚Ikonographie des Grauens‘ (Seeßlen), die den Umgang mit dem Grauen dadurch zu erleichtern tendieren, indem sie es in einer Sammlung von Begrifflichkeiten, also als etwas medial und faktisch (Fotografiertes, Aktenkundiges, Registriertes) aber dadurch auch vermeintlich tatsächlich Begriffenes darstellen. Die Filme Lanzmanns suchen das Grauen und das Überleben des Grauens nicht in den Archiven und Museen, sondern in der Gegenwart von Orten und Personen. In den Kamerafahrten durch die grasüberwucherte Lade-Rampe von Auschwitz-Birkenau und in den Worten und Gesichtern der Menschen, für die das Grauen nach 1945 nicht nur noch ein Teil ihrer Vergangenheit war, sondern das sie bis zu ihrem Tode nicht loslassen wird.

Auf der anderen Seite gibt es die Gesichter und Berichte der Täter, Zuarbeiter und Dulder, derer, die auch nach 1945 nicht aufgehört haben, wegzusehen, zu verharmlosen, sich ihrer Mitverantwortung zu entziehen, das Grauen zu verdrängen. Dazwischen immer Claude Lanzmann, mit seinen bohrenden Fragen: ‚Wie war es genau? Was haben Sie gesehen? Was ist geschehen? Was haben Sie gefühlt, gedacht? Was haben Sie getan? ‚

In den intensivsten Momenten von ‚Shoah‘ meint man, Lanzmann wünschte sich aus ganzer Kraft, dass alles ungeschehen gemacht würde, als sei eine Rettung der Opfer, eine Umkehrung der Ereignisse noch immer möglich, ganz so, als würde Auschwitz heute noch passieren. Und tatsächlich ist ja Auschwitz – und dessen Möglichkeit – nie abgeschlossen, solange seine Realität (das heißt auch seine Enstehungsbedingungen) nicht im Bewusstsein der folgenden Generationen angekommen ist. Lanzmann ist also nicht nur ein Erinnerer – aber vor allem ist er kein Förderer einer therapeutischen, einer zur Heilung führenden Trauerarbeit. Im Gegenteil: Er zeigt die Wunden und zeigt uns die Werkzeuge, mit denen sie jederzeit erneut gerissen werden können, die Ignoranz und die Flucht vor der persönlichen Verantwortung, nicht zu reden vom kranken, rassistischen Wahn.

Weil nun der Film „Shoah“ mit konsequentester Bereitschaft in den fürchterlichen Kern der Botschaft der Vernichtungslager hineinführen sollte, „die Radikalität des Todes, die Radikalität der Vernichtung, die Unentrinnbarkeit von alledem“, wie Lanzmann es nennt, hätten die Geschichten eines Aufstands, einer Flucht, oder des Entkommens einiger Weniger von dieser Wahrheit abgelenkt.

Aber es gab unter den 350 Stunden Film-Material, das sich bei den Dreharbeiten zu „Shoah“ angesammelt hatte, auch den Bericht des Yehuda Lerner von dem einzigen gelungenen jüdischen Aufstand, im Vernichtungslager Sobibor, und das Interview mit einem Delegierten des Internationalen Roten Kreuzes Maurice Rossel, dem einzigen Außenstehenden, der offiziell das Konzentrationslager in Auschwitz-Birkenau besuchen konnte und das „Vorzeige-Ghetto“ Theresienstadt besichtigen durfte.

Aus diesen Interviews hat Lanzmann zwei eigenständige Filme gemacht: „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ und „Ein Lebender geht vorbei“. Eigenständige Filme, weil sie sich nicht problemlos in „Shoah“ integrieren ließen, aber gleichwohl als wichtige Ergänzungen zu verstehen waren („Nebenfluss“ von ‚Shoah’“ nennt Lanzmann seinen „Sobibor“-Film), als exemplarische Momente der von Lanzmann unermüdlich wiederholten Frage, was der Einzelne hätte tun können, hier also ob und wie Widerstand in den Lagern hätte möglich sein können oder ob die Weltöffentlichkeit schon früher von der deutschen Praxis der Vernichtungslager und Ghettos hätte wissen können.

„Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ liegt ein 1979 geführtes Interview mit Yehuda Lerner zugrunde, dem es schon vor seiner Internierung in Sobibor gelungen war, als damals sechzehnjähriger Junge aus acht verschiedenen Konzentrationslagern zu auszubrechen. Lerners Schilderungen werden mit in der Gegenwart gedrehten Bildern der Stationen auf der Odyssee seiner Deportationen erweitert, wieder ein Beispiel für die Kunst Lanzmanns, das Vergangene und doch nicht Abgeschlossene in der Gegenwart aufzusuchen. Die Erzählung dann vom Aufstand selbst ist von einer derartigen Präsenz, dass man meint, dessen unmittelbarer Zeuge zu sein. Mehr über „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ können Sie hier lesen.

„Ein Lebender geht vorbei“ (fertig gestellt: 1997) zeigt ein Gespräch zwischen Lanzmann und dem Schweizer Maurice Rossel, welcher als einziger Delegierter des Internationalen Roten Kreuzes die Gelegenheit hatte, vom Lagerleiter in Auschwitz empfangen zu werden und Teile des KZs Auschwitz besichtigen zu können sowie Theresienstadt zu besuchen. Rossel, der Lanzmann ursprünglich nicht empfangen wollte, wurde mit der für Lanzmann charakteristischen und dem Sujet überaus angemessenen Art am Ende der Dreharbeiten zu „Shoah“ 1979 überraschend in seinem Haus aufgesucht und zu diesem Interview überredet, welches, wie man sieht, er unvorbereitet und widerwillig gibt. Rossel beschreibt, wie er ohne große Probleme und mit jugendlicher Unbefangenheit allein mit dem Auto nach Auschwitz gelangte und dort vom freundlichen Lagerkommandanten (dessen Name ihm entfallen ist) empfangen wurde, sogar eine kurze Besichtigung von Teilen des Konzentrationslagers unternehmen durfte („für den Krieg normale Verhältnisse“), und wie er Theresienstadt, „eine normale mittlere Kleinstadt“ (Rossel), besuchte. Dieser Besichtigung gingen tatsächlich wochenlange Vorbereitungen voraus, sie war eine groß angelegte Inszenierung (von einem „Potemkinschen Ghetto“ war später die Rede), von der sich Rossel in jeder Hinsicht täuschen ließ. Erschreckend an beiden Berichten ist, obwohl schlimm genug, weniger der Fakt der Täuschung, als Rossels bis 1979 ungeminderte Überzeugung, er hätte wirklich nichts bemerken können; vor allem aber seine offenbar fehlende nachträgliche Erschütterung darüber. Kein Anflug des Selbstzweifels scheint Rossel zu berühren, statt dessen spricht er in einer penetrant distanzierten Art stets von „Israeliten“, während Lanzmann, der Jude, stets von den „Juden“ spricht. Erst als Lanzmann ihn emphatisch und umfassend vor der laufenden Kamera mit den schrecklichen Daten und Zahlen dessen konfrontiert, was er hätte zumindest erahnen können, sehen wir einen anderen, nicht mehr selbstgefälligen Rossel, jemanden, der mit seiner eigenen Verantwortung konfrontiert wird.

Während „Shoah“ von der fürchterlichen Totalität der Todesmaschinerie der Nazis handelt, sind die Filme „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ und „Ein Lebender geht vorbei“ leidenschaftliche Dokumente der Möglichkeiten des Einschreitens, hier eines geglückten Widerstands und dort eines verantwortungslosen Wegsehens – da, wo eine internationale Öffentlichkeit hätte hergestellt werden können und müssen -, hier eine deklarierte Feier der Aufstands und dort eine vehemente Anklage, beides nachhaltige Appelle an die individuelle Verantwortlichkeit – am Ende auch die des Zuschauers.

Ich selber habe erst vor kurzem „Shoah“ komplett gesehen und sah – noch ganz in dessen Hoffnungslosigkeit und ohnmächtiger Wut befangen – den Film „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ mit einem Gefühl veritabler Erleichterung und Genugtuung, mit einem Gefühl vollzogener Gerechtigkeit. Yehuda Lerner, der vorher nicht einer Fliege etwas zu Leide getan hatte, „empfand es als Ehre, den Schädel des Deutschen mit einer Axt in zwei Hälften zu spalten“. Den Filmen Claude Lanzmanns ist es zu verdanken, dass wir dieses Ehrgefühl gründlich verstehen können.

Mammuth

( 2010, Regie: Gustave de Kervern, Benoît Delépine)

Tour de Farce
von Harald Mühlbeyer

Im Schlachthof arbeitet er, teilt Schweinehälften. Dick ist er, lange, blondierte Haare hat er, alt ist er, mit 60 wird er jetzt ins Rentenalter entlassen: es ist Gérard Depardieu, bei …

Im Schlachthof arbeitet er, teilt Schweinehälften. Dick ist er, lange, blondierte Haare hat er, alt ist er, mit 60 wird er jetzt ins Rentenalter entlassen: es ist Gérard Depardieu, bei dem nicht nur die Haartracht ungewöhnlich erscheint in diesem Film. Er spielt einen Dummling, einen ungehobelten Klotz, einen sanften Riesen. Dies sei die Rolle, die ihm am meisten entspreche, hat Depardieu auf der Berlinale gesagt, so sei er in Wirklichkeit, so sehe er sich selbst: auf dem Motorrad unterwegs, angetan mit einem langen Männerrock, irgendwo zwischen Kaftan, Talar und Schamanenkleid. Benoît Delépine und Gustave Kervern inszenieren ihn ein bisschen wie den „Wrestler“ von Aronofsky, er ist ebenso verloren mit seinem Leben; nur dass er nicht aus Anabolika-Muskeln besteht, sondern aus schwabbeligem Fett.

Depardieus Figur Serge, genannt Mammuth, ist unterwegs durch Frankreich auf seinem alten Münch-Mammut-Motorrad von 1973, auf der Reise in eine Vergangenheit, in der er auch schon nie wirklich zur Gesellschaft dazugehörte. Gelegenheitsjob hier, Gelegenheitsjob da, meist schwarz: da ist es schwierig, all die erforderlichen Belege für die Rentenansprüche aufzubringen. Und eigentlich interessiert es Mammuth auch nicht sonderlich, mehr und mehr gibt er sich dem Fahren, dem Draußen-Sein hin: das Daheimsitzen mit dem 2000er-Puzzle, das er zum Renteneintritt geschenkt bekommen hat, das Einkaufen, das Nichts-zu-tun-haben hat ihm eh gestunken. Ja: er entwickelt jetzt so was wie Persönlichkeit, einen eigenen Willen. Wenn man so will. Wenn man bei diesem Film überhaupt von Entwicklung sprechen kann.

Vielmehr reihen Delépine und Kervern Szenen aneinander, Szenen, die weniger von der Handlung als vom großen Ganzen des Films her aufeinander aufbauen. Anders als in ihrem vorherigen Film „Louise Hires a Contract Killer“ geht es hier nicht um eine – wenn auch verdreht vorgebrachte und grotesk dargestellte – wirkliche, handgreifliche politische Aussage wie das Killen von Bonzen, denen die Arbeiter egal sind; hier geht es um ein Lebensgefühl, um ein Leben, das nie wirklich, von sich aus, geführt wurde. Da trifft Mammuth einen Metallsucher mit Metalldetektor am Strand, der ganz offenbar nichts mit sich anzufangen weiß und sich dennoch eine genaue Philosophie, eine Methode des Schatzsuchens, der nie erreichbaren Utopie zusammengebastelt hat. Und plötzlich wird klar, was für ein Ding Mammuth selbst da eigentlich die ganze Zeit im Rucksack rumgetragen hat. Er trifft alte Bekannte, die ihn mehr oder weniger direkt abblitzen lassen; er übernachtet auf einer Bushaltestelle und muss kleine Kinder ertragen: Mama, da liegt ein stinkender Mann! Sollen wir die Polizei rufen?

Durch den Film spukt zudem Isabelle Adjani, sie war Serges Geliebte und ist auf dem Motorrad umgekommen – ein weiteres Trauma, das sein verkümmertes Leben bestimmt hat, das ihn stets begleitet: immer wieder steht sie da, blutüberströmt und wunderschön…

Am Ende findet Serge so etwas wie Erlösung, indem sich der ohnehin rudimentäre Handlungsfortgang vollends verzettelt. Er will seinen Bruder besuchen, findet aber nur seine Nichte vor, die sich Miss Ming nennt und von der Künstlerin Miss Ming gespielt wird. Naive, faszinierende Kunstwerke stellt sie zusammen und in ihrem Garten aus, Statuen, zusammengekloppt aus Fundstücken, Gebilde, die direkt ihrem Denken entstammen; wobei sie stets als einfach gestrickt, ja: etwas debil dargestellt ist, außer wenn es um ihre eigenwillige künstlerische Ausdruckskraft geht. Bei ihr findet Mammuth so etwas wie Ruhe; und sein ungefähr gleichaltriger Cousin ist auch da, mit ihm legt er sich ins Bett, und wie damals, vor 45 Jahren, wichsen sie sich gegenseitig.

Das ist eines dieser vielen unvergesslichen Szenen des Films, die in ihrer skurrilen Absurdität das Leben von Serge präzise beschreiben, sein Lebensgefühl in wenigen Kameraeinstellungen genau ausdrücken. Lange vorher haben wir ihn einmal beobachtet, mit zwei ausgestreckten Fingern am Fenster, und wir wissen nicht, was er tut, bis ein Auto vorbeifährt… Am Ende, da entfaltet er sich, da geht er tatsächlich ein bisschen aus sich heraus, aus dem unterdrückten Leben, das er bisher geführt hat; hat er vielleicht tatsächlich was gelernt auf dieser Reise durch sein Leben, durch den Film?

Ernst Jandl: Vom Öffnen und Schließen des Mundes. Frankfurter Poetikvorlesungen 1984/1985

( 1984, Regie: Rolf Quenzel, Wilfried F. Schoeller)

'Ein Lyriker ohne eigene Sprache'
von Andreas Thomas

Er sei das „traurige Beispiel eines Lyrikers ohne eigene Sprache“ begründete Verleger Siegfried Unseld im Jahr 1966 seine Ablehnung einer Publikation von Ernst Jandls Gedichten im Suhrkamp Verlag. Am 6. …

Er sei das „traurige Beispiel eines Lyrikers ohne eigene Sprache“ begründete Verleger Siegfried Unseld im Jahr 1966 seine Ablehnung einer Publikation von Ernst Jandls Gedichten im Suhrkamp Verlag. Am 6. 11. 1984 sitzt derselbe Siegfried Unseld begeistert in der ersten Reihe bei den Frankfurter Poetikvorlesungen, als Jandl ihm, vom Podium aus referierend, immerhin beinahe zwanzig Jahre später, erregt zurückgibt: „Ja, ich bin ein Lyriker ohne eigene Sprache, denn diese Sprache, die deutsche, wie jede andere übrigens […], gehört nicht dem Lyriker, nicht dem Dichter, nicht dem Schriftsteller, sondern allen, die in dieser und jener, jeglicher, Sprache, leben.“

„Das Röcheln der Mona Lisa“ ist jener zweite Teil der fünf Jandl-Vorlesungen betitelt, und der Untertitel (Die heruntergekommene Sprache) deutet an, worum es bei Jandl unter Anderem geht, darum, sich Sprache vom Leib zu halten, sie zu zerkleinern, um der (aller Menschen dieser) Sprache auf den Grund gehen zu können, ohne durch sie zu Grunde zu gehen, und um das Aufzeigen von etwas in der Sprache enthaltenen, von dem man vorher nicht wusste, dass es es überhaupt gibt.

Als Ernst Jandl, sechzigjährig, in Frankfurt seine fünfteilige Vorlesung „Vom Öffnen und Schließen des Mundes“ hielt, hatte er schon ein Leben voller, sich mitunter anscheinend widersprechender, revolutionärer, skurriler, sprachwitziger Schaffensphasen hinter sich, und er war an einem Punkt angelangt, an dem er – schon lange waren seine Gedichte in den Kanon der Deutschbücher aufgenommen – so bekannt war, dass er weder Freunde gewinnen musste noch Feinde provozieren konnte; so sehr ihm das vielleicht gefallen hätte .

Jandl wusste also genau, dass das Publikum wusste, wovon er sprach, wenn er über sich sprach, aber wenn er seine Bezugspunkte aufzählte, Hugo Ball, Kurt Schwitters, Dadaisten also, neben Bert Brecht, neben Christian Morgenstern, August Stramm, dem Expressionisten, dann wusste das Publikum noch mehr als vorher, dass nämlich Jandl kein komisches Unikum war, sondern ein bewusst selbstreflektierendes Glied einer Literaturtradition, die er in Bezug etwa auf die Konkrete Poesie bedroht sah. Anrührend und aufrührerisch ist der Moment, wenn er das Publikum dazu auffordert, ja geradezu darum bittet, selbst Gedichte zu schreiben, „weil das letzte Lautgedicht noch nicht geschrieben ist!“

Jandl wusste, wovon er sprach, und er wusste, wie Sprache und besonders wie Sprechen funktioniert. So ist seine Vorlesung ein Wechselbad von sprachlicher Analyse und abrupt hereinbrechender, lebhafter praktischer Umsetzung. Eine Analyse Jandlscher Art, die es mit jeder „seriösen“ Sprachwissenschaft aufnehmen kann. Jandl, promovierter Anglist und Germanist, Gymnasiallehrer zum Einen, und Dichter und begnadeter „Performer“, wie Dieter Bohlen es nennen würde, seiner Gedichte zum Anderen, bei den Frankfurter Vorlesungen konnte er zwei Vermächtnisse abliefern, eines der Literaturgeschichte und sein eigenes, als jemand, der durch, mit und in Literatur lebte.

Und natürlich besaß Jandl eine unverwechselbare, eigene Sprache, aber vor allem einen eigenen Ton: Niemand konnte und kann Jandl so vortragen, wie Jandl selbst.

Bei absolut Medien, als Teil der Edition filmedition suhrkamp, ist die fünfteilige Vorlesungsreihe „Das Öffnen und Schließen des Mundes“ von Ernst Jandl am 17.7.2010, also zehn Jahre nach Jandls Tod und 25 Jahre nach ihrer Aufzeichnung durch den Hessischen Rundfunk, auf zwei DVDs für 29,90 €, versehen mit einem umfangreichen Booklet, erschienen.

Rocksteady – The Roots of Reggae

(CH / CAN 2009, Regie: Stascha Bader)

Long Time No See
von Andreas Thomas

Der Reggae ist weithin bekannt, Ska ist ein stehender Begriff, aber was, zum Rastafari, ist denn nun Rocksteady? Der Schweizer Dokumentarfilmer Stascha Bader bringt uns den leider ausgestorbenen jamaicanischen Musikstil …

Der Reggae ist weithin bekannt, Ska ist ein stehender Begriff, aber was, zum Rastafari, ist denn nun Rocksteady?
Der Schweizer Dokumentarfilmer Stascha Bader bringt uns den leider ausgestorbenen jamaicanischen Musikstil der sechziger Jahre mit seinem dokumentarischen Film „Rocksteady – The Roots of Reggae“ näher, indem er seine überall in der Welt verstreuten Protagonisten nach über vierzig Jahren zurück nach Jamaica einlädt und sie zu Recording Sessions versammelt: ein herzliches Wiedersehen alter Freunde und Pioniere des jamaicanischen Stils. „How you‘re doin? Long time no see!“ Darunter Musiker, die zusammen noch, inspiriert vom Rhythm and Blues, vom Mento, der ursprünglicheren jamaicanischen Popmusik, und den Anfängen der Soul-Musik der Endfünfziger, den Ska erfanden, diese Identität stiftende, vitale Tanzmusik im Off-Beat und Up tempo-Stil, den Kingstoner Soundtrack der 1962 erlangten Unabhängigkeit von Großbritannien.

Gemeinsam erinnern sich die freundlichen älteren Damen und Herren an die „romantische“ Zeit, in der Jamaica daraufhin erblühte, in der es wenig materielle Nöte und viele Gründe zum Feiern gab – und einen Anlass, nämlich die Hitzewelle von 1966, die treibende Unruhe des Ska zu drosseln, um jener neuen kollektiv empfundenen Gelassenheit Ausdruck verleihen und verlangsamt tanzen zu können.

Rocksteady also hieß das kaum bekannte Bindeglied zwischen Ska und Reggae, dazu gehörten Namen wie z.B. The Tamlins, Stranger Cole, Marcia Griffith und schon auch Reggae-Ikonen wie Sly Dunbar oder Rita und Bob Marley. Evergreens wie „The Tide is High“, „No No No (You Don’t Love Me)“ oder das Original des bei uns in den siebziger Jahren von den entsetzlichen Boney M. zur Idiotenhymne zersungene „The Rivers of Babylon“ stammen aus dieser Zeit.

Naturgemäß gestaltete es sich schwierig, im Jahr 2009 noch die wichtigsten maßgeblichen Musiker zusammen zu bekommen, ein Wettlauf gegen die Zeit, so der Regisseur im Presseheft. Im Film aber schweigt und überlässt er dem gelegentlich lückenhaften Erinnerungsvermögen der noch lebenden Legenden allein das Wort – und ihren „spontanen“ Begegnungen das Bild, Reunionen vor schöner Landschaft und pittoreskem Verfall, die in ihrer gutgelaunten Exaltiertheit auf die Dauer doch ein wenig inszeniert wirken. Dabei erfährt man über die Geschichte dieser Musik und dieses Landes kaum mehr als dieses: Auf Jamaica gab es eben jene harmonische kurze Phase, Mitte der Sechziger, dann zogen immer mehr junge Leute vom Land in die Stadt, um Arbeit zu suchen, ohne sie zu finden, es entstand eine neue Armut, etwa im Ghetto Trenchtown, die Kriminalität und Gewalt auf den Straßen Jamaicas wuchsen an, der neue Begriff „Rude Boy“ für „Gangster“ wurde geprägt und fand Einlass in die Texte des Rocksteady. Den positiven Vibrationen mischten sich kritische Untertöne bei und die Politisierung des Rocksteady läutete nach bereits 2 Jahren sein Ende ein.

Die erweiterten politischen und sozialen Kontexte bleiben rudimentär und sind sogar, je nach Erzähler, widersprüchlich. Dafür aber zeigt uns Rita Marley die Küche, in der sie ihren ersten Sex mit Bob hatte und ein netter Mann mit Mütze, namens Stranger Cole, berichtet von dem mystischen Tag, als der äthiopische Kaiser Haile Selassie 1966 Jamaica besuchte, für die Anhänger der Rastafari-Religion also der Messias aus der „Offenbarung“; was es nun mit den Rastas auf sich hat, warum ihr Glaube ein maßgeblicher Bestandteil jamaikanischer Musik ist, verrät der Film nicht.

Lose Enden also um die gern wiederholte Kernaussage herum, dass Rocksteady doch die herzlichste Musik war, die Jamaica hervorgebracht hat. Dabei kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Rocksteady-Helden ein bisschen müde geworden sind, entweder weil ihre Stimmen nach all den Jahren in New York, Kanada, London, brüchig geworden sind, oder weil der Musikrichtung Rocksteady, eventuell nicht ganz grundlos, nur eine knapp begrenzte Dauer beschieden war. Dieser Eindruck aber könnte auch von den im Film völlig fehlenden Originalaufnahmen aus den Sechzigern herrühren, von deren „Frische und Direktheit“ (Rita Marley) bei den vorwiegend im Sitzen praktizierten Live-Sessions leider nicht immer übermäßig viel übrig geblieben ist. Ausnahmen sind der energiegeladene Derrick Morgan oder der großartige U-Roy, einer der ersten „Toaster“ (nennen Sie es ruhig: Rapper) der Weltgeschichte, von den Anfängen des Ska bis heute musikalisch aktiv.

Dann aber ertappt man sich heimlich dabei, doch lieber ein bisschen Bob Marley hören (und sehen) zu wollen oder die Skatalites oder gar die Specials, also ein bisschen weniger Frieden und ein bisschen mehr „Soul Rebel“, doch von Ska oder Reggae handelt der durchaus gemütliche und freundliche und absolut marihuanafreie Film über die durchaus gemütliche und freundliche Musik des Rocksteady leider eben nicht.

Renn, wenn du kannst

(D 2010, Regie: Dietrich Brüggemann)

Porno ist das neue Geil
von Ulrich Kriest

Gleich zu Beginn dieser Tragikomödie wird das sehr umfangreiche Manuskript einer Magisterarbeit, der man offenbar keine Träne nachweinen muss, aus dem Fenster einer Duisburger Hochhauswohnung geradezu ejakuliert und fasst ein …

Gleich zu Beginn dieser Tragikomödie wird das sehr umfangreiche Manuskript einer Magisterarbeit, der man offenbar keine Träne nachweinen muss, aus dem Fenster einer Duisburger Hochhauswohnung geradezu ejakuliert und fasst ein paar Themen von „Renn, wenn du kannst“ in ein kräftiges Bild: Erwachsenwerden, Selbstentfremdung, Behinderung und Sexualität. Und so großzügig, wie sich die Blätter des Manuskripts über das Stadtgebiet von Duisburg verteilen, so großzügig geht der nun folgende Film mit seinen zumeist gelungenen Einfällen und seinem forcierten Sprachwitz um.

Benjamin, dem hier die Magisterarbeit abhanden kommt, ist kein besonders einnehmender Zeitgenosse. Seit einem Autounfall, der ihn vor sieben Jahren querschnittsgelähmt zum Rolli-Fahrer machte und seiner Freundin das Leben kostete, lebt er seine Misanthropie mit Wonne und auf das Unterhaltsamste aus, piesackt seine Zivildienstleistenden, seine Mutter und ist auch sonst nicht auf den Mund gefallen. Robert Gwisdek liefert hier nach „13 Semester“ bereits die zweite brillante Performance binnen weniger Monate ab und ist nur manchmal etwas zu grob in der Wahl seiner Mittel. Seit einiger Zeit beobachtet Benjamin Annika (Anna Brüggemann, die auch am Drehbuch mitgeschrieben hat), die Cellistin, die zuverlässig pünktlich an seinem Hochhaus vorbeifährt. Christian (Jacob Matschenz), mit dem sie kollidiert, ist Benjamins neuer Zivi, den so schnell nichts aus der Ruhe bringt. Die menage a trios, die aus diesen unverhofften Begegnungen resultiert, bewegt sich in der Folge auf halber Strecke zwischen „Jules und Jim“ und „Absolute Giganten“. Sprich: Annika, hochbegabt, aber als Musikerin von Versagensängsten geplagt, ist eher der Buddy als der Lover. Christian, für den der Zivildienst eine Zwischenstation auf dem Weg zum Medizinstudium ist, ist zu sorglos und selbstbewusst, um sich von Benjamin auf dessen übliche Art „ankacken“ zu lassen.

Nachdem sich der Film eine kurze Zeit an Benjamins rabenschwarzem Blick aufs Leben und die Menschen gelabt hat, schwungvoll Szene auf Szene mit funkelnden und teilweise überraschenden Dialogpointen hat folgen lassen, wird es Zeit für ein wenig Tiefgang. Während Benjamin früh konstatiert, dass das Leben die kleine Gruppe in alle Himmelsrichtungen zerstreuen wird, träumt man sich dennoch etwas Stillstand herbei, um in dieser Konstellation seine Sehnsüchte ausleben zu können – und sei es nur für eine kurze Zeit. Dass in Gemeinschaft mit Benjamin keine Normalität zu haben ist, dass man sich keinen Illusionen hingeben sollte, dass seine Behinderung nicht reversibel ist, dass jeder im Umgang mit Behinderungen lernen muss, wo Tabus gebrochen werden müssen oder können und dass es dafür keine allgemein verbindlichen Regeln gibt – all diese individuellen Lernprozesse zeigt „Renn, wenn du kannst“ mit viel Humor, aber auch mit Gespür für die Realität und die Verzweiflung, die sich hinter Benjamins Zynismus verbirgt.

Nach „Neun Szenen“ hat der junge Filmemacher Dietrich Brüggemann mit „Renn, wenn du kannst“ bereits zum zweiten Mal den Publikumspreis beim Festival des deutschen Films in Ludwigshafen gewonnen – und „Renn, wenn du kannst“ ist erst sein zweiter Spielfilm. Im Gespräch hat er entschieden verneint, dass es sich bei „Renn, wenn du kannst“ um einen »Behindertenfilm« handele, vielmehr beschreibe der Film „eine Konstellation, die auch für Menschen ohne sichtbare Behinderung interessant“ sei. Benjamin sei eben kein typischer Behinderter, kein Stellvertreter einer besonderen Gattung Mensch, sondern „Renn, wenn du kannst“ erzähle eine Geschichte, in der ein Beteiligter eben im Rollstuhl sitze. Es geht hier vielmehr um das mitunter schmerzhafte Synchronisieren des eigenen Selbstverständnisses mit den Möglichkeiten der Realität und den pragmatischen Umgang mit eigenen Defiziten. Das mag in Benjamins Fall besonders schmerzhaft sein, ist aber durchaus verallgemeinerbar, wie Brüggemann ausführt: „Wir leben in einer Zeit, in der wir umgeben sind von gerne auch digital hergestellten Bildern des Ideals vom perfekten Körper, dem wir alle nicht genügen. Ein Mensch mit einer Behinderung spürt diese Diskrepanz vielleicht nur in der verschärften Form.“

Wie dem auch sei: Am Schluss, als alle ihre Pläne geschmiedet haben, sitzt das Trio noch einmal auf Benjamins Balkon und träumt davon, dass die Klimakatastrophe ihnen weitere Entscheidungen abnimmt. Darauf, der Film hat es gezeigt, sollte man nicht bauen.

Link zum Interview mit Regisseur Dietrich Brüggemann

Moon

(GB 2009, Regie: Duncan Jones)

Bilder von der Erde vom Mond
von Stefan Höltgen

Die Reise zum Mond ist eines der am häufigsten aufgegriffenen Motive der Science-Fiction-Filmgeschichte. Man könnte sagen, dass das Genre mit Georges Méliès‘ „Le voyage dans la lune“ (1902) sogar seinen …

Die Reise zum Mond ist eines der am häufigsten aufgegriffenen Motive der Science-Fiction-Filmgeschichte. Man könnte sagen, dass das Genre mit Georges Méliès‘ „Le voyage dans la lune“ (1902) sogar seinen Beginn genommen hat. Dass unser Trabant so häufig zum Gegenstand kultureller (nicht nur filmischer) Fiktionalisierungen geworden ist, hat sicherlich auch mit der Sehnsucht zu tun, die die Menschen ergreift, wenn sie den Mond sehen, der so nah und doch so unerreichbar fern ist. Insofern erscheint es nicht unplausibel, dass die realen Mondfahrten zu einem gewissen Teil auf fiktional „getriggert“ gewesen sein mögen. Aber auch jetzt, wo der Mond längst von Menschen erreicht ist, hat er als Projektionsfläche für utopische Wunschträume nicht ausgedient. Das zeigt Duncan Jones in seinem Regiedebüt „Moon“ – und er zeigt auch, dass jede Utopie, wie der Mond selbst, eine dunkle Rückseite besitzt.

In Jones‘ Film ist die Menschheit dank eines ausschließlich auf dem Mond vorkommenden Erzes von allen Energieproblemen befreit. Dieses Erz wird automatisch abgebaut und regelmäßig zur Erde transportiert. Lediglich ein Mann muss in der lunaren Station Dienst schieben und kontrollieren, ob alles seinen richtigen Ablauf hat. Sam Bell (Sam Rockwell) hat diese Aufgabe übernommen und seine einige Monate dauernde „Schicht“ ist nun fast vorüber. Er freut sich bereits auf die Rückreise zur Erde und zu seiner Familie. Bei einem Ausflug zu einem der Abbau-Einheiten passiert jedoch ein Unfall, bei dem Sam scheinbar stirbt. Als er kurze Zeit darauf überrascht in der Station aufwacht, sieht er sich einem anderen Mann gegenübergestellt, der genauso aussieht wie Sam und von sich behauptet, Sam Bell zu sein. Was genau geschehen ist, woher der seltsame „Fremde“ (bzw. Gleiche) kommt: Das ist der dystopische Gegenstand des Films.

Duncan Jones‘ Debütfilm erzählt seine Geschichte in ruhigen Bildern und noch ruhigeren Tönen (die kongeniale Musik von Clint Mansell leistet mit ihren repetitiven Motiven einiges zum Gelingen des Films) – zeitweise fühlt man sich an Kubricks „2001“ erinnert. Und es ist möglich, dass solche Assoziationen nicht ungewollt sind, denn hier wie dort soll sich hinter der Fassade der schönen neuen Technikwelt ein Abgrund auftun, der sich erst aus den nicht-antizipierten Folgen technischer Entwicklung ergibt. In „Moon“ sind es gleich mehrere solcher Technologien, die gleichermaßen Segen und Fluch der Menschheit darstellen. Dass diese Technologien im Modus des Science Fiction sozusagen auf den Mond verfrachtet werden, also in das utopische Szenario schlechthin, offenbart den warnenden Aspekt im Film: So wie der Mond gleichzeitig erreichbar und unerreichbar ist, sind es auch die in „Moon“ beschriebenen Technologien. Sie zu besitzen eröffnet Möglichkeitsräume, die bislang uneinsehbar sind – außer durch die Science Fiction, im Wortsinne verstanden. Der Blick zum Mond, zumal medial vermittelt, offenbart sich also wieder einmal vor allem als ein Blick auf die Erde.

Eine Karte der Klänge von Tokio

(ESP 2009, Regie: Isabel Coixet)

Schnüffelgeräusche auf dem iPod
von Janis El-Bira

Georges Bataille hat einmal formuliert, dass wohl kein Kunstliebhaber eine Leinwand so sehr verehren könne wie der Fetischist einen Schuh. In diesem „harten“, materialistischen Fetischismus bleibt das begehrte Objekt bezugslos, …

Georges Bataille hat einmal formuliert, dass wohl kein Kunstliebhaber eine Leinwand so sehr verehren könne wie der Fetischist einen Schuh. In diesem „harten“, materialistischen Fetischismus bleibt das begehrte Objekt bezugslos, verselbständigt sich als „Gebrauchsgegenstand“. Wer es als Kunst „einrahmen“ will, stellt diesen Bezug wieder her, entzieht es dem Besessenen und verschiebt so den Fetisch bis zur Auflösung.

Isabel Coixets neuer Film, „Eine Karte der Klänge von Tokio“, zeigt Figuren, die auf die eine oder andere Art von unterschiedlichen Fetischen durchwirkt werden. Gleich in der Eröffnungssequenz wird der Zuschauer Zeuge eines „falschen“, gerahmten Fetischs: Im Zuge eines Geschäftsessens sitzt der japanische Unternehmer Nagara in Tokio mit westlichen Partnern beisammen, die begeistert Sushi von nackten Frauenkörpern verzehren. Die als „Nyotaimori“ bekannte – und entgegen der reichlich exotisierend gaffenden Filmbilder wohl nur höchst selten in Japan öffentlich anzutreffende – sitophile Spielart erscheint hier transponiert als kulturelle Eigenart, als „Spezialität“, der kaum noch eine sexuelle Komponente anhaftet.

Durchaus anders verhält sich dies beim Personenkarussell, das nach dem abrupten Ende des Dinners eingeführt wird. Die Katastrophe: Nagara erfährt, dass seine Tochter Midori sich das Leben genommen hat. Ihrem von ihm verhassten Freund, dem Spanier David, wünscht er daraufhin im ganz wörtlichen Sinne den Tod. David, ein Weinhändler, ist ein eher schmieriger Typ, der nicht viele Worte braucht, um klarzumachen, dass er jetzt gerne ein Stundenhotel aufsuchen möchte. Sergi López gibt diesen klotzig-grobschlächtigen Mann, der im Kauderwelsch zwischen gebrochenem Englisch und ein wenig Japanisch seinen breiten Körper durch den Film schiebt, mit bemerkenswert anrührender Glaubwürdigkeit. Ihm begegnet Ryu, eine wie aus Porzellan geschaffene, schweigsame Schönheit, die nachts auf Tokios gigantischem Tsukiji-Fischmarkt das Blut von den Tischen spült und tagsüber – man ahnt es ja fast – als Auftragskillerin arbeitet. In letzterer Profession wird sie von Nagaras jungem Begleiter Ishida – selbst die tote Midori unglücklich liebend – auf Davids Leben angesetzt.

Und dann ist da noch der namenlose ältere Freund Ryus, der den Film erzählt und dessen eigener leiser Fetisch ihn zwar nicht glücklich, doch zumindest lebendig durch die Tokioter Nächte trägt: Er sammelt die Geräusche der Metropole in Gestalt von Tonaufnahmen. Für das Radio und Fernsehsendungen sei das, behauptet er, aber in Wahrheit schläft er abends natürlich ein mit seinem iPod in den Ohren und Ryus geräuschvollem Schnüffeln an einer Suppe auf Endlosschleife. Aus der Ferne ist er auch dabei, wenn David mit Ryu in einem Stundenhotel genau jene Sexpraktiken vollziehen wird, wie einst mit Midori am selben Ort. Während bei David und Ryu der Fetisch in emotionale Verbundenheit und die Geschichte folgerichtig ins Tragische, Blutige kippt, bleibt dem Erzähler dagegen seine rettende Objektbesessenheit: Atemgeräusche, Schritte, Schlürfen.

An der Selbstzerstörungskraft der „falschen“ Fetische verliert Coixet aber abseits vom opernhaft Tragischen nahezu jedes Interesse: Ihre Figuren werden uns mit der Dauer des Films immer mehr als kauzige Schicksalsgenossen in der zufallsgefügten Geschichte einer skurril-melancholischen amour fou verkauft und nicht als jene trauernden Besessenen, die sie sind. Wo Hitchcocks größter und von Coixet mehr als einmal referierter Wiedergänger- und Fetischfilm, „Vertigo“, noch in der völligen Agonie der Glockenturmszene schloss, rutscht man hier in die bürgerliche Sofabequemlichkeit eines plötzlichen Kleinfamilienidylls ab. Überaus zynisch ist das vielleicht, wenn es Ironie sein will; schlicht verlogen, wenn nicht.

Europa

(DK / S / D / F 1990, Regie: Lars von Trier)

Die Rückkehr des Verschollenen
von Andreas Thomas

Lars von Trier hat’s mit den Klassikern. In „Dogville“ (2004), dem Teil 1 seiner „Amerika-Trilogie“, bediente er sich des brechtschen Verfremdungseffektes, in „Europa“ (1990), dem 3. Teil der „Europa-Trilogie“, kreierte …

Lars von Trier hat’s mit den Klassikern. In „Dogville“ (2004), dem Teil 1 seiner „Amerika-Trilogie“, bediente er sich des brechtschen Verfremdungseffektes, in „Europa“ (1990), dem 3. Teil der „Europa-Trilogie“, kreierte er ein kafkaeskes Nachkriegsdeutschland. Nicht zufällig erinnert der Titel an Kafkas Romanfragment „Amerika“ („Der Verschollene“), denn wo sich Kafkas ‚Verschollener‘ Karl Roßmann in den merkwürdigen modernen Ordnungssystemen „Amerikas‘ verirrte, da ergeht es Leopold Kessler in Lars von Triers absurd-düsterem „Europa‘ kaum anders. Triers cineastisches Kabinettstück, gedreht 1990, kommt am 21. Juli 2005 erneut in die Kinos.

Am Anfang ist die Stimme des Erzählers, der uns zum monoton-rythmischen Fluss unterwärts weggleitender Eisenbahnschwellen hypnotisiert und einstimmt: „Wenn ich bis zehn gezählt habe, wirst du in Europa sein.“ Bei „Zehn“ tritt der Protagonist ins Bild. Leopold Kessler ist statt unserer im Film „Europa“ angekommen. Oder wir mit ihm. Eine unverhohlenere Nötigung zur Identifikation ist kaum vorstellbar. Aber sie ist effektiv. Der Erzähler hat uns schon ganz hinein gezogen in seine Geschichte.

„Aus New York mit dem Schiff‘ sei Leopold angereist, wird ihm – und uns – eingesprochen; er hat also den umgekehrten Weg des „Verschollenen‘ hinter sich, „um ein Zeichen zu setzen“. Er will als Amerikaner den Deutschen im Herbst 1945 „etwas Freundlichkeit zeigen“ und „die Welt ein wenig menschlicher machen‘. Zu diesem Zweck möchte er (ausgerechnet) Schlafwagenschaffner bei „Zentropa‘ werden. „Zentropa“ ist die deutsche Bahngesellschaft, die vor und im 2. Weltkrieg Transporte von Passagieren, Waffen, Vieh und Sondertransporte, wie die von Juden ermöglichte, und sich danach auf Schlafwagen verlegt hat. Katharina Hartmann, die Tochter des Firmeneigners, verführt Leo zur Heirat mit ihr und versucht ihn auf ihre Seite zu bringen, die Seite des Revanchismus, die der letzten aufrechten Deutschen, die sich „Die Werwölfe“ nennen.

In Frankfurt/Main, Deutschland, Europa, herrscht andauernde Nacht. Die Deutschen leben in einem Zustand zwischen Apathie und Geschäftigkeit. Was sie wach macht, ist das Befolgen und Einhalten akribisch-absurder Regeln. Heilig im Deutschland der Ruinen ist die Wiederherstellung des Betriebs, der Eisenbahn, die Wiederaufnahme blinder Betriebsamkeit, Gehorsamkeit: Das Wichtigste ist, dass die Räder (wieder) rollen: Hunderte ausgemergelter Menschen, Sklaven der Maschine, schleppen eine Lokomotive mit Seilen aus einer Halle. Eine Schlüsselszene und Metapher für die Moderne, angelehnt an Langs „Metropolis‘ und Chaplins „Moderne Zeiten‘. „Amerika‘ trifft auf „Europa‘. Karl kehrt zurück als Leo. Auch das Kino nahm seinen Anfang in Europa, führte in die USA und kehrte mit der Siegermacht zurück – und „Europa‘ ist auch ein Film über das Kino.

Das Ensemble „Europas‘ wirkt mitunter wie ein Who-is-Who des deutschen Autorenkinos der siebziger Jahre: Urgestein Eddie Constantine, bekannt als FBI-Agent Lemmy Caution, als alter Mann in seinem vorletzten Film und Fassbinder-Schauspieler, wie auch Udo Kier oder Barbara Sukowa („Lola‘). Der amerikanische Idealist Kessler (deutscher Abstammung) wird gespielt vom Taucherass Jean-Marc Barr, bekannt aus Bessons „Im Rausch der Tiefe‘. Als Leos Onkel sehen wir Ernst Hugo Järegård, der vor seinem Tod noch zu verdienter Berühmtheit gelangte als göttlich misanthropischer Dr. Helmer in von Triers „Geister‘. In einer Nebenrolle erscheint Lars von Trier himself: ein Jude, dem die Haare nach dem KZ kaum wieder auf Streichholzlänge wachsen konnten. Ein armes Schwein, kein Befreiter. Nicht zuletzt mimt Dietrich Kuhlbrodt, Schauspieler, Filmkritiker (und Co-Herausgeber der filmzentrale!), im echten Nachkriegsdeutschland als Oberstaatsanwalt Verfolger von Naziverbrechern, den Zuginspektor, der Leopold Kessler in dessen Aufgaben bei „Zentropa‘ einweist.

Bezüge, wohin das Auge reicht: Darsteller als Verweise an die deutsche Kinogeschichte, alles pars pro toto: Wenn von Trier eine liebevoll aufgebaute, wie ein Uhrwerk laufende Modelleisenbahnanlage ins Spiel bringt, veranschaulicht er das allzudeutsche Märklin-Ideal. Wichtiger als ihr Sinn ist das Funktionieren der Ordnung. Kafka meets Germany, oder umgekehrt.

Irgendwann platzt Leopold angesichts des absurden, deutschen, europäischen, modernen Vorschriftendschungels der Kragen, und das ist lustig und für einen Augenblick befreiend: „Ich hab das Gefühl, seit ich hier bin, haben mich alle nur fürchterlich angeschissen – jetzt bin ich an der Reihe, jetzt sag‘ ich mal was …‘ Dann fehlen ihm die Worte.

Der Deutsche als Ordnungswesen wird im Film zur Karikatur, und die Karikatur zum Paradigma europäischen Seins erhoben. Das ist vermessen und deshalb irritierend, weil der Film vor Stilzitaten wimmelt und als Patchwork der Genres Nachkriegsfilm (maßgeblich: die Krupp-Familie aus Viscontis „Die Verdammten‘), Melodram, Thriller, mit demonstrativen Anleihen beim Expressionismus, bei Eisenstein, bei Hitchcock seine auktoriale Autonomie dauernd unterminiert. Dezidiert postmodern, darin vergleichbar höchstens mit Lynchs „Wild at Heart“, ist „Europa“.

Weitgehend in einem ranzigen Schwarzweiß gedreht, bedient sich der Film partiell der Farbe, wenn es sentimental oder blutig wird, der Verfremdung durch übergroße Hintergrundprojektionen – und des Schockeffekts, wenn in „Waggons, von deren Existenz du keine Ahnung hattest‘ (die landläufige Antwort der Deutschen 1945 auf die Frage nach Konzentrationslagern) bis auf die Knochen ausgehungerte Sträflinge auftauchen. In diesem Zug namens „Nachkriegsdeutschland“ fährt das KZ noch mit, als habe es nie eine „Befreiung“ gegeben.

Triers Deutschland mit seinen gleichgeschalteten Vollstreckern und Sklaven – ob vor oder nach dem Krieg – mit seinen Vernichtungsmaschinen und dem Holocaust, als dessen logistischer Höchstleistung, verdichtet sich so zur finsteren Vollendung der modernen Welt. Auch nicht nach der Katastrophe, nach dem ultimativen Verbrechen ist in diesem Deutschland irgend jemand lernfähig. Gerade ein naiver Leopold, der es mit allen nur gut meint, kann sich den normativen Zwängen von Zentropa-Europa nicht entziehen. Jede seiner Handlungen ist zwangsläufig parteiisch und wird sofort ausgenutzt. Er wird schuldlos schuldig, er hat keine Wahl – so wenig wie sein Vorgänger Karl in Kafkas „Amerika‘. Das Sein in „Europa‘ ist schiere Determination, und der Erzähler entpuppt sich als „Determinator‘, als ein böser Gott. Nur ein Weg führt aus diesem verlorenen Europa heraus, der durch den Tod. Aus dem Schlafwagenschaffner wird ein „Schläfer‘: „Am Morgen hat der Schläfer endlich Ruhe gefunden – am Grunde des Meeres …‘ Für die Schlusssequenz musste Barr sehr lange die Luft anhalten.

„Europa‘ war von Triers letzter hochartifizieller, streng durchkonzipierter Film, bevor er sich mit „Breaking the Waves‘ oder „Idioten“ den Schauspielern, der Improvisation und der Handkamera zuwandte. „Europa“, das opulente Werk eines Cineasten für Cineasten, sollte man im Kino sehen, solange sich die Gelegenheit bietet.

A Serious Man

( 2009, Regie: Ethan Coen, Joel Coen)

Im Trüben fischen
von Daniel Szczotkowski

Eine jüdische Gemeinde im mittleren Westen der Vereinigten Staaten. Dass gerade Summer of Love ist, lässt sich lediglich in Larry Gopniks erotischen Träumen von der heißen Nachbarin erahnen, und mithilfe …

Eine jüdische Gemeinde im mittleren Westen der Vereinigten Staaten. Dass gerade Summer of Love ist, lässt sich lediglich in Larry Gopniks erotischen Träumen von der heißen Nachbarin erahnen, und mithilfe von Jefferson Airplane, die gerade „Somebody to love“ aus ihrer legendären „Surrealistic Pillow“-LP auskoppeln. Larry ist Physikprofessor und Jude. Ein bisschen Lieben und Geliebtwerden könnte wahrlich nicht schaden, denn alles, was über ihn hereinbrechen kann, bricht plötzlich über ihn herein: Zunächst nur ein dreister Bestechungsversuch eines durchfallenden Schülers; dann eine Denunziation, welche die bevorstehende Festanstellung gefährdet; später ein Anwalt, der einen Herzinfarkt in seiner Gegenwart erleidet. Sowieso immer Sohn und Tochter, die dem Vater nach Feierabend sofort pubertierend entgegenbranden. Und bald auch ein Get. Ein Was? Eine rituelle Scheidung.

Was betreiben die Coens hier? Labsal an der Marterung eines unschuldigen Mannes („Ich habe nichts getan!“)? Es wäre nicht der erste bitterböse, coensche Schabernack dieser Art. Doch so geballt hat es kaum eine ihrer Figuren je getroffen, nicht einmal den jüdischen Autoren Barton Fink, obschon die Coen-Brüder diesen immerhin durch nichts weniger als die (Hollywood-)Hölle schickten. Was hat Larry Gopnik den Coens getan, er hat doch gar nichts gemacht? Gewiss, es herrschte bei den Coens schon immer ein dezentes Playing-God-Syndrom. Sie verwickeln einen Münzen werfenden Bolzenschussgerätepsychopathen in einen Autounfall und lassen ihn davonkommen. Sie töten einfach sinnlos einen strunzknuffeligen Brad Pitt (Wer traut sich das schon?) oder einen nicht weniger drolligen Steve Buscemi (den in „The Big Lebowski“ wohlgemerkt). Und sie lassen es gerne wie einen dummen Zufall aussehen. Seit ihrem Debüt schon werden Coen-Figuren Opfer von wendigen, unverwechselbaren Drehbüchern, deren Windschnittigkeit sich von unglücklichen Verwechselungen, Verknotungen und Verkettungen nährt. Larry Gopnik, dem hier nun alles widerfährt, ist der erste, der sich seiner Schöpfer zu erwehren versucht: Warum ich?, sprach’s und hinterfragte das Coen-Prinzip, die Relativität des Zufalls.

Es sind dabei natürlich immer noch die Coens selbst, die Larry Gopnik sein Aufbegehren auf den Leib geschrieben haben. Jene Selbstreferentialität speist sich aber alleine schon aus dem Umstand, dass „A Serious Man“ in einem derart kauzigen und mikroskopisch kleinen Milieu spielt, in dem die Filmemacher selbst aufwuchsen. Im Vorgänger war die Selbstironie noch weitaus unpersönlicher. „Burn After Reading“ umklammerte eine Geschichte, die sich am Ende genüsslich an der Zelebrierung ihrer eigenen Sinnlosigkeit ergötzt. Der Fokus verließ das CIA-Gebäude per Vogelperspektive so, wie er gekommen war, Richtung All, von dem aus selbst das größte Chaos auf Erden längst seine Bedeutung verlor. Die Heisenberg’sche Unschärferelation, Larry Gopnik lehrt sie auch, erwies den Coens nach „The Man Who Wasn’t There“ abermals ihren Dienst zur Abstraktion. Je genauer wir hinsehen, desto unschärfer wird das betrachtete Bild oder mit Larrys Worten: Was wirklich geschieht, können wir nie wirklich wissen.

Neben dem Selbstbezug impliziert dies nun auch vor allem einen theologisch-philosophischen Überbau. Ich habe doch gar nichts getan, stellt nur ein Leidender demjenigen gegenüber klar, der ihn leiden lässt. Wie Hiob sich an Gott wandte, wendet Larry sich an Haschem, an „ihn“, dessen Namen im orthodoxen Judentum nicht ausgesprochen wird. Doch Gott antwortet nicht. „Der Boss hat nicht immer Recht, aber er bleibt doch der Boss“, weiß Larrys Frömmigkeit über Haschem zu sagen. Selbst der Hilferuf, gerichtet an die Rabbiner und der skurrile Durchlauf durch ihre Hierarchie scheint den Zutritt zu einer Erkenntnis zu verwehren, angesichts der schier aberwitzigen Allgemeinplätze, die ihre Ratschläge darstellen. Der erste, Jungrabbi Scott: Erweitere die Perspektive! Und zeigt auf den wundersamen Parkplatz vor dem Fenster. Der zweite, Rabbi Nachtner: Tischt jedem die Geschichte eines Zahnarztes auf, der eines Tages auf der hinteren Seite der unteren Vorderzähne eines Patienten eine mysteriöse hebräische Gravur entdeckt: „Hilf mir!“ steht im Gebiss des Gois geschrieben. Was bedeutet das bloß? Wie kommen die Zeichen dorthin? Wer hat sie eingraviert? Lakonische rabbinische Pointe: „Wir wissen es nicht, ist doch egal“. Beim dritten und vermeintlich weisesten Rabbiner, Rabbi Marshak, findet Larry nicht einmal mehr Gehör. Der ist mit Jefferson Airplane beschäftigt. Der Türhüter, der den Eingang zur Erleuchtung endgültig schließt.

Um trotzdem weiterzukommen, eine Essenz aus dem Ganzen zu ziehen, helfen vielleicht doch die Ratschläge der Weisen. Eventuell ein bisschen an der Fernsehantenne auf dem Dach drehen, damit das Bild endlich schärfer wird. Kehren wir Heisenberg also einfach mal um und erweitern die Perspektive. Je weiter wir uns entfernen, desto besser können wir vielleicht verstehen: Ganz am Anfang war das Bewusstsein, die Ursuppe der Selbsterkenntnis. Die Beschäftigung mit seiner Existenz brachte den Menschen mitunter zu Urknall und Evolutionstheorie und, lange vor diesen Erklärungsgebäuden der Wissenschaft, auf den Schöpfungsgedanken – und die Religion. Sie „schöpft“ Kultur- und Wertvorstellungen, Bräuche und Riten, Weltbild und Lebensanschauung, bestimmt von einer Hinneigung zum Überweltlichen. Der jüdische Mikrokosmos bleibt darum in „A Serious Man“ immer auch eine Metapher für die makrokosmische Sinnsuche. Auseinandersetzen müssen sich die Religionen alle mit der Theodizee und dem Umstand, dass auch den Rechtschaffenen, die „gar nichts getan haben“, die Last des Leidens per se nicht abgenommen werden kann. Die Akzeptanz dessen, eine Bürde, die selbst gottesfürchtige Männer wie Larry (ver)zweifeln lässt. Ein Ringen mit Gott, ohne ihn aber aufzugeben.

So detailreich die Coens jedoch ins jüdische Brauchtum eindringen, sie wahren paradoxerweise stets eine gewisse Distanz und Unbefangenheit. Vieles und nichts lässt sich in dem Film sehen. Die Unbegreiflichkeit Gottes. Ein Gottesbeweis, ein Gegenbeweis. Sinnbilder wie die Zahnmetapher allerdings tendieren zu einer geradezu nihilistischen Deutung. Die Gravur im Gebiss? Verdinglichung des Sinnlosen. Allenthalben uns umgebende mutmaßliche Zeichen und seien sie noch so sonderbar? Bedeutende Bedeutungslosigkeit. Die Coens scheinen nicht an Vorsehung und das Überweltliche zu glauben. Das Coen-Prinzip macht diesen Gedanken eigentlich unmöglich. Dies erinnert übrigens sehr an Woody Allens „Match Point“ und das Weltbild vom Tennisnetzroller: Eine Unwägbarkeit entscheidet, auf welche Seite der Ball fällt und ob sich das Blatt zum Guten wendet. Die einen haben diesmal Glück, die anderen Pech gehabt, ohne dass es eine kosmische Gerechtigkeit interessieren würde.

Daraus ließe sich natürlich eine Religionskritik entwickeln. Ungerechtigkeit auf der Welt und ausbleibende göttliche Kommunikation wie Wunder – das sind urtypische Argumente der Agnostiker und Atheisten, der Nährboden des rationalen Zweiflers. Mitnichten verschweigt der Film deshalb die Lesart, Synagoge, Jom Kippur oder Bar Mitzwa im Speziellen sowie Tempel, Feste und Rituale im Allgemeinen als Bestandteile zu betrachten, die eine Religion zu einem einzigen großen Artefakt abbilden. Eine Ideologie, ein Gewand, um Aberglauben ein Dach über dem Kopf zu geben und unter ihrer Dogmatik eine Gemeinschaft aufzubauen. Die Neutralität der Coens beschwichtigt jedoch auch wieder und man hört sie noch im gleichen Atemzuge daher regelrecht hinzufügen: „Aber wenn Ihr trotzdem glaubt, ist das auch okay.“

Schließlich weiß auch die Naturwissenschaft als diametrale Weltanschauung die Antworten auf die Fragen nach unserer Existenz, nach der Welt und was sie im Innersten zusammenhält, nicht gänzlich zu beantworten. Larry als frommer Physikprofessor steht genau zwischen den Stühlen. Ausgerechnet die Physik, jene Disziplin, die sich eine Weltformel zu finden erkühnt. Dass jedoch auch sie nicht für alles eine absolute Erklärung finden kann, allegorisiert neben Heisenbergs Unschärfe auch Schrödingers Katze. Die lehrt Larry ebenfalls. Ist die Katze tot oder ist sie nicht tot? Sein oder Nichtsein? Riesige Teleskope richten wir beispielsweise ins All auf viele Lichtjahre von uns entfernte Objekte, in der Hoffnung, schärfer zu sehen und den Ursprung des Universums und damit auch die menschliche Existenz zu erklären. Doch wir wissen im Grunde gar nichts, wir haben nur Theorien. Manchmal wissen wir noch nicht einmal, wie morgen das Wetter wird.

In diesem Konflikt der Weltbilder spielt vor allem die Frage nach einer Bedeutung des Seins letztlich eine Rolle. Fügung und Zufall lassen sich nur schwerlich vereinbaren, wenn das Göttliche nicht gerade selbst eine Münze wirft. Lenkt unser Tun eine höhere Kraft, dann kann ihm nicht der Sinn abgesprochen werden. Geschähe aber alles nur infolge beliebiger Kollisionen naturwissenschaftlicher Atome in Raum und Zeit und die Religion stellte nur einen Kult dar, welchen Sinn bei aller Vergänglichkeit der menschlichen Existenz hätte dieselbige dann eigentlich?

Schicksal oder bloßer Zufall, der zeitgleiche Autounfall von Larry und dem hinterlistigen Sy Ableman? Wissen wir nicht. Ist doch vielleicht auch egal. Hauptsache, wir sind uns des doppelten Bodens gewiss, der den Film pflastert. Die Bedeutung der Bilder befindet sich stets in einer Schrödingerischen Schwebe. Etwa wird Larry kurz nach dem Unfall von einem Plattenclub angerufen, der ihm im Rahmen eines Abonnements Santanas „Abraxas“-Album andreht. „Die Scheibe geht Ihnen automatisch zu.“ – „Aber ich habe doch gar nichts getan.“ – „Ja. Sie müssen nichts tun.“ Dabei birgt Abraxas zugleich als „höchstes Urwesen“ einen geradezu blasphemischen Angriff auf Larrys jüdischen Glauben. Vielleicht kann nur der Schwebezustand erklären, dass eine LP mit solchem Titel, eigentlich nämlich erst drei Jahre später im Jahr 1970 erschienen, sich über die Zeit hinwegzusetzen vermag.

Und was es jetzt mit dem Dibbuk im Prolog auf sich hat? Was weiß ich. Wenn es denn überhaupt einer ist! Gar die Credits sind sich uneinig hinsichtlich dieses vermeintlichen jüdischen Dämons und setzen ein Fragezeichen hinter Fyvush Finkels Rolle. Hier wird wohl bereits die Unbestimmtheit der Dinge in jüdisch-mythologischer Tracht verhandelt. Dibbuk ja oder nein. Verfluchung ja oder nein. Vielleicht ist der Dibbuk auch Schrödingers Katze. Und ist Sy Ableman, das Gespenst, das Larry in seinen Träumen heimsucht, auch ein Dibbuk? Wir können nur spekulieren. Auch wissen wir nicht mit Bestimmtheit, ob am Ende nicht doch alles gut wird; unter den Gesetzen der Natur ein Tornado entstand oder Gott sich „aus seinem Gewittersturm“ (Hiob 38) an Larry wenden und vom duldsamen Ertragen seines Leidens erlösen wird. Wir wissen nur, dass wir nichts wissen.

Hier findet sich eine weitere Kritik zu ‚A Serious Man‘.

Eraserhead

( 1977, Regie: David Lynch)

Die Geburt des Monsters aus dem Geist der Industrialisierung
von Andreas Thomas

Henrys Frau hat schlechte Eigenschaften. Sie hat Tics, belegt zwei Drittel des schmalen Bettes und das Schlimmste: Sie hat mit Henry ein Baby. David Lynchs Erstling ist bald ein Vierteljahrhundert …

Henrys Frau hat schlechte Eigenschaften. Sie hat Tics, belegt zwei Drittel des schmalen Bettes und das Schlimmste: Sie hat mit Henry ein Baby. David Lynchs Erstling ist bald ein Vierteljahrhundert alt, aber bis heute lässt allein das Wort „Eraserhead' das Herz des wahren Cineasten höher schlagen.„Eraserhead' war 1977 noch kenntnisreiche Neugestaltung (z.B. surrealistischer) filmischer Vorgaben und schon die Zukunft künstlerischen Kinos, aber es ist doch erstaunlich, wie einzigartig der Film immer noch geblieben ist. Falls Atmosphäre zu schaffen eine der höchsten Künste des Kinos ist, dann ist „Eraserhead' eines der größten filmischen Kunstwerke. Lynch, der Beschwörer des Unbewussten, hat mit nur 20 000 Dollar eine wirklich ganz eigene Welt kreiert und 'nur' fünf Jahre dafür gebraucht.

Henry Spencer, ein Drucker mit Dauerurlaub, wohnt in einem abbruchreifen, dunklen Arbeiterwohnsilo, in einer permanenten Nacht und in einer Gegend, in der Maschinengrollen und Dauerunwetter Anheimelnderes, wie etwa Vogelgezwitscher oder selbst Autolärm ersetzt haben. Vielleicht könnte er gleichmütig weiterleben in seinem Zimmer mit Sicht auf eine Backsteinmauer, würde nicht das Schicksal in Form einer Einladung zu Mary und ihren Eltern anklopfen. Henry hat ihr Foto noch, aber er hat es zerrissen, weil sie ihn verließ. Was er erfahren wird? Er weiß es eigentlich schon, denn Henry hat Zugang zu einer Hyperrealität. Wir waren gleich zu Beginn Zeugen seines Traums von einer überdimensionalen Spermatozoe, die Henrys geöffnetem Mund entspringt, ihren Auftrag erfüllt und in die Eizelle fällt, wie in einen Brunnen. Wir konnten verfolgen, wie im Inneren eines kahlen, mit Kratern bedeckten Himmelskörpers ein aussätziger, degenerierter Gott den Hebel kippt und sein unabänderliches Gesetz vollzieht: Die Initiierung des ewig wiederkehrenden Wunders neuen Lebens. Wir waren Zeugen einer Zeugung.

Bei Marys Eltern verrät auch gleich eine Hundemutter mit schmatzend saugenden Welpen, worauf die Veranstaltung hinaus läuft. Nach einem makabren Abendessen mit (laut Marys Vater) 'synthetischen Hühnchen', die, als Henry sie tranchiert, beginnen mit den Schenkeln zu wackeln und aus ihrer Mitte stark zu bluten (die Assoziation zu Monatsblutungen ist unvermeidlich), bekommt die Mutter einen hysterischen Anfall und entfernt sich, während das Gesicht des Vaters zu einem Dauergrinsen erstarrrt ist. Als die Mutter halbwegs gefasst wiederkehrt (und kurz nachdem sie sich Henry sexuell genähert hat), wird Henry aufgeklärt: Mary hat ein Baby bekommen – nur weiß man noch nicht genau, ob es wirklich ein Baby ist … Da auf jeden Fall Handlungsbedarf besteht, muss Henry Mary ehelichen (die Hochzeit wird nicht gezeigt) und Mutter und 'Kind' ziehen bei ihm ein.

Very Special Effects

Ein bis heute gut behütetes Geheimnis ist, was für die Verkörperung des unheimlichen kleinen Geschöpfs benutzt wurde. Es sieht sehr nach einem tierischen Fötuskopf aus, dessen dürrer Hals aus einer Art Dauerwindel, einem in Mullbinden gewickelten arm- und beinlosen Leib ragt. Mit seiner glitschigen Haut, den rollenden Augen, und dem schmatzendem, spuckendem Maul (incl. Zunge) wirkt es so überzeugend lebendig und organisch, dass etwa Spielbergs wesentlich kostspieligere „E.T.'-Kreatur (1982) sich dagegen harmlos und als nur 'gut gemacht' ausnimmt.

Zunächst versucht Henry die Vaterrolle zu akzeptieren. Er kümmert sich um seine Post (einen merkwürdigen kleinen Wurm, den er, vor Mary versteckt, in einer Art heiligem Schrein aufbewahrt), und beobachtet Mary gerührt, während sie das Baby füttert. Es wird (wie während des ganzen Films) kaum gesprochen. Neben ihm im Bett liegend, weist Mary einen (einzigen) Annäherungsversuch Henrys zurück. Als schließlich das Baby beginnt, immer ausdauernder zu weinen, flieht sie zu ihren Eltern und lässt Henry mit dem Kind allein.

Das Kind bekommt Fieber und Ausschlag; Henry stellt einen Luftbefeuchter auf die Kommode, wo es auf einem Kissen liegt und röchelt. Immer wenn Henry versucht, den Raum zu verlassen (um nach Post zu sehen – anscheinend haben jene postalischen Würmer für ihn zentrale Bedeutung), beginnt das Baby zu schreien, so dass er sich stattdessen resigniert aufs Bett legt.

Zwischen drei Frauen

Da entdeckt er die 'Frau hinter der Heizung'. Henry sieht, wenn er lange hinter den Heizkörper schaut, eine kleine Bühne, auf der jetzt eine gleichzeitig naiv und starr lächelnde blonde Tänzerin in weißem Kleid mit erkennbar aus Knetmasse modellierten Halbkugelwangen staksig mit kleinen Tanzschritten umherspaziert. Neben ihr auf den Boden fallen mehrere (Henry und uns vom Anfang her bekannte) aalgrosse Spermien, deren dabei spritzend berstende Köpfe sie lustvoll zertritt. Als Henry wieder erwacht, ist Mary zurückgekehrt. Sie liegt zähneknirschend in unruhigem Schlaf neben ihm. Zu seinem Entsetzen findet er unter ihrer Decke wiederum Spermatozoen. Panisch zerrt er sie wie leblose Schlangen offenbar direkt aus ihrer Vagina und wirft sie gegen die Wand, an der sie zerplatzen. In diesem Moment erwacht der kleine Wurm im sich von selber öffnenden Schrein zum Leben. Er ringelt sich, tänzelt und pfeift dabei eigentümlich. Im Dunkel seines aufgerissenen Mauls sehen wir wieder Henry in seinem Raum sitzen; Mary ist verschwunden.

Es klopft, Henry öffnet und aus dem Dunkel tritt seine laszive Nachbarin, deren begehrliche Blicke ihn schon vorher irritiert haben. Unter dem Vorwand sich ausgesperrt zu haben, verführt sie den ängstlichen, aber willigen Henry, der dem Baby den Mund zuhält, um sie nicht abzuschrecken. Das Bett wird buchstäblich zu einem Sündenpfuhl, in dem beide versinken. Der Akt führt zu einer Auflösung, die Auflösung zu einem schwarzen 'Nichts', in dem die Nachbarin allein bleibt und sie statt Henry nur noch seinen 'Kraterplaneten' taumeln sieht.

Manufaktur der Amnesie

Henry ist zur gleichen Zeit dem Ziel seiner Träume nahe gerückt. In Großaufnahme sehen wir jetzt die 'Heizungsfrau' ein Lied vom Himmel singen: 'In heaven everything is fine – you‘ve got your good things and I‘ve got mine.' Auf einmal ist Henry bei ihr, steigt zu ihr auf die Bühne, sie erwartet ihn, aber gerade als er sie berühren will, verschwindet sie und der pockennarbige Gott erscheint kurz an ihrer Stelle. Als auch er nicht mehr da ist, kommt eine Art Erdklumpen mit einem dürren blattlosen Strauch auf Rädern auf die Bühne gerollt, Henry ist sichtlich beängstigt, sein Kopf wird von einem phallischen Etwas aus seinem Inneren vom Rumpf gestossen und auf den Boden der Bühne geschleudert, der Erdklumpen beginnt zu bluten, aus Henrys Hemdkragen lugt nun der Kopf des Monsterbabys, das zu schreien beginnt. Henrys Kopf wird plötzlich von der Blutlache verschluckt, knallt auf eine Strasse, wo er von einem Jungen gefunden wird. Der Junge trägt ihn in eine dubiose Werkstatt, in der 'eraserheads', also Radiergummiköpfe für Beistifte hergestellt werden. Mit einem Hohlbohrer wird Henrys Gehirn stabförmig ausgebohrt, der Stab wird mit einer Maschine zerteilt und auf Bleistifte gepflanzt. Nach einem Radiertest wird der Junge bezahlt. Die Radierspäne fliegen, und – Henry erwacht in seinem Bett.

Das Baby ist immer noch auf der Kommode und lacht schadenfroh. Als Henry ein Geräusch auf dem Flur hört, sieht er nach und sieht die Nachbarin mit einem schmierig grinsenden Mann nachhause kommen, ihr selbst wiederum erscheint anstelle von Henrys Kopf der Kopf des Babys. Wieder allein in seinem Appartement nimmt Henry eine Schere und beginnt die Binde um den Babykörper aufzuschneiden. Das Baby windet sich. Aus dem aufgeschnittenen Verband dringen Innereien und Henry sticht ins Herz. Das Baby spuckt Blut, verendet, aus seinem Inneren quillt eine schaumige Masse, die Steckdose sprüht Funken, die Lampe brummt, flackert und erlischt. Das Monster ist tot. Der Planet erscheint wieder und die Kruste bricht auf, er ist innen hohl. Hinter Henrys Kopf wirbeln Radierspäne. Im Inneren des Planeten: Der Mann im Planeten (Gott), der vergeblich versucht den Hebel umzulegen. Der Hebel klemmt und wieder sprühen Funken. Alles wird hell, und Henry ist bei der Frau hinter der Heizung, sie umarmen sich, und der Film ist zu Ende.

Eine Bewusstseinsgeschichte?

„Eraserhead' ist ein Mosaik, das ohne die Intuition des Zuschauers nicht zusammengesetzt werden kann, und die Vielfalt der dabei individuell entstehenden Gesamtbilder ist bei „Eraserhead' wahrscheinlich größer als bei den meisten späteren Lynch-Filmen. „Eraserhead' ist auch in seinen 'normalsten' Szenen immer schon ein reines Traumszenario. Und es gibt mindestens noch drei Parallelrealitäten, die sich auf die 'normale' Ebene beziehen. Alles zusammen lässt sich wie verschiedene Bewusstseinsebenen eines Menschen zu einer komplexen 'Bewusstseins-Geschichte' desselben zusammenfügen. Aber zu welcher?

Der, was die Inhalte seiner Filme betrifft, verschwiegene Lynch ('Ich liebe die Vorstellung, dass etwas für unterschiedliche Leute unterschiedliche Bedeutung haben kann.') hat selbst folgenden Hinweis gegeben (und damit angedeutet, dass die Geschichte für ihn gleichwohl ein Rätsel mit einer bestimmten Lösung ist): 'Es passieren gewisse Dinge in der (Prolog-) Sequenz, die der Schlüssel zum Rest sind.'

Gehen wir jetzt einmal davon aus, dass obige Deutung der Anfangssequenz mehr oder weniger zutrifft, handelt es sich dabei also um einen Zeugungsvorgang, erschließt sich Stück für Stück folgende (vorsichtige) Lesart:

Henrys Leben befindet sich zwischen zwei Polen: Dem, was er sich erhofft, und dem, was er als Welt vorfindet. Sein Hauptproblem ist sein eigenes Kind, weil es ihn in jeder Hinsicht einschränkt und weil es mönströs und zumindest befremdlich für ihn ist. Das Kind steht auch für die Verbindung zu Mary, die (ohne Liebe von ihrer Seite) eine Zwangsehe ist, ein Sicheinrichtenmüssen in einer freudlosen Welt. Die freudlose Welt findet sich generell als düstere Außen-und Innenkulisse wieder. Und die Ehe und Familie, als Institutionen freudloser Zweckmäßigkeit, werden in den absurden Typisierungen von Marys Eltern (und der Großmutter, die reglos auf einem Stuhl sitzt) gespiegelt: Hier hat schon bis zur neurotisch verzerrten Erstarrung seine Rolle gespielt, und Henry ahnt, dass ihm das Gleiche bevorsteht.

Die 'Pille' und 'Eraserhead'

Henrys Wunschtraum (ein geheimnisvolles Hilfsmittel zu dessen Verwirklichung ist der Wurm) ist die Vereinigung mit der Traumfrau hinter der Heizung. Sie verheißt ihm eine freie Welt, in der alles schön ist,- und in der es keine Befruchtungen (also weder bedrohliche (Miss-)Geburten noch deren bedrohliche Schwester: die Zwangsehe) mehr gibt, denn sie weiß, wie sie gezielt Spermien töten kann (Wenige Jahre nach Einführung der Antibabypille ist diese erste relativ zuverlässige Verhütungsmethode für Lynchs Film vielleicht von nicht geringer Bedeutung gewesen). Im Gegensatz zur frustrierten, spröden und hausbackenen Mary lächelt sie freundlich – und gleichwohl hausbacken. Henry muss jedoch, bevor er sie gewinnen kann, Prüfungen bestehen, die ihm eher zustoßen, als dass er sie aktiv meistert, bis auf die letzte, wichtigste. Henry ist eher ein Abenteurer des Unbewussten, sein Abenteuer ist sein Träumen.

Henrys anderer, verdrängter und feuchter Wunschtraum ist die Verführung durch die Nachbarin, aber sie hat mit Mary gemeinsam, dass sie ihn nicht liebt. Nach dem Geschlechtsakt mit ihr versucht er zur Heizungsfrau zu gelangen. Doch nun stellt sich sein Hauptgegner, sein privater Dämon, der Schöpfer seiner widrigen Umstände, der 'Mann vom Planeten' in den Weg und entweder ist er es, der Henry köpft, oder das Baby. Das Baby ist jedenfalls nun das, was für ihn denkt und aus seinem Anzug guckt, während seine eigene Gehirnmasse nur noch der Auslöschung dient. Das Gehirn als Instrument zum Ausradieren des Wortes und der Erinnerung – eine exakte Umkehrung seiner herkömmlichen Funktion. Das Radieren einerseits als Tod und Verlöschen der Identität, andererseits als Befreiung von einer Identität, die Henry in Ketten gehalten hat.

Erst nach diesem Traum (und nach Henrys Enttäuschung, die Nachbarin mit einem anderen zu finden) ist es ihm möglich, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Er zerschneidet die Windeln und entdeckt die endgültige Monstrosität des Babys, und nachdem er es als Lüge entlarvt hat -es ist ja nun wirklich alles andere als ein menschliches Wesen-, kann er sich von ihm befreien, indem er es tötet. Aber mit diesem Schritt entlarvt er auch den Hebelsteller, den Gott, der im Planeten sitzt, dessen Weltenplan der obszönen Sinnlosigkeit überführt ist. Durch den Kindsmord hat Henry gleichzeitig die Schöpfungsmaschinerie zerstört. Gottes Gesetze, seine Hebel, funktionieren nicht mehr, und Henry ist frei. Der Vereinigung mit der geliebten Heizungsfrau steht nichts mehr im Wege.

Das Unbewusste als Filmplot

„Eraserhead' ist ein Film über eine Emanzipation und ich glaube, er ist einer der persönlichsten Filme Lynchs. Lynch selbst hat zugegeben, dass er vieles mit Henry gemeinsam hat, und wenn wir Henry bei seinem Tagtraum beobachten, in dem ihm die Heizungsfrau erscheint, vollziehen wir genau das nach, was Lynch selber (der während der langen Dreharbeiten wegen Geldmangels selbst in Henrys Filmzimmer gewohnt hatte) angesichts der Heizung phantasierte. An diesem Beispiel können wir uns ein Bild darüber machen, wie Lynch seine phantastischen und absurden Filmideen zu gewinnen pflegt. Er bezieht seine (filmischen) Ideen und Vorstellungen aus Tagträumereien, aus freiem Assoziiieren, und Henrys Vorgehensweise ist exakt dieselbe. Um sein Problem zu lösen braucht Henry jene parallelen Bilder und Symbole, ohne sie würde er in seiner grauen, bedrohlichen und frustrierenden Realität gefangen bleiben. Er schafft Beziehungen zwischen den Ereignissen und seiner Imagination, und allein mit ihrer Hilfe kann er die Dinge in ihrer für ihn wirklichen und gänzlichen Bedeutung erkennen, und verändern, bzw. sich von ihnen befreien.

Die Umstände, dass der junge Lynch zur Entstehungszeit von „Eraserhead' gerade geheiratet hatte, Vater eines gehandicapten Kindes geworden war und sich während der Dreharbeiten von seiner Frau getrennt hatte, waren für die Entstehung des Films sicher nicht ohne Einfluss. Das Schöne an „Eraserhead' ist aber, dass dieser Film nicht nur eine persönliche, private Problematik abdeckt, sondern dass er quasi unbegrenzt und universell einsetzbar ist. „Eraserhead' skizziert, in einer erweiterten Perspektive, z.B. auch generell den Konflikt eines kreativen Menschen, der die für seine Kreativität notwendige Unabhängigkeit durch Ehe und Familie bedroht sieht und er malt ein düsteres Bild von den (subjektiven) Schrecknissen einer zu frühen Vater- oder Mutterschaft (Statt des eigenen Kopfes regiert das Baby über einen).

Maschine, Atom und Mutation

Aber wenn wir es ganz groß haben wollen, dann ist „Eraserhead' auch ein (von Frederick Elmes in magischem Schwarzweiß gedrehter) Film über eine unheimliche und menschenfeindliche Welt, deren Ästhetik sich aus der Epoche bedient, welche unseren Planeten während der letzten zwei Jahrhunderte am nachhaltigsten geprägt hat, der Industrialisierung. 'Eraserhead' wirkt, als wäre seine Zeit im düster-kapitalistischen England des 19. Jahrhunderts steckengeblieben (der Mensch wird restlos ausgebeutet, selbst Henrys Gehirn wird maschinell zu einem materiellen (!) Produkt verarbeitet), aber die Stürme und Unwetter (die nur akustisch wahrnehmbar sind und dennoch den Film dominieren) und die ewige Nacht erwecken den Eindruck einer vorher gegangenen atomaren Katastrophe (an Henrys Wand hängt ein Foto von einem Atompilz). Henry lebt offenbar in einer Postapokalypse, die selbst den zum Maschinisten degradierten Gott einer mechanistisch-industriellen Welt nicht verschont hat: Armselig und strahlenverseucht hockt er in einer Fabrikruine und herrscht über einen kahlen, toten Planeten. (Im ganzen Film übrigens gibt es kein Blatt und die Hähnchen sind synthetisch.) Natürlich ist Henrys Baby eine radioaktive Mutation. Das 'Baby' ist das End(zeit)produkt einer langen Kette der Technologisierung (wenn man es weiterspinnen will, bis zur Gentechnologisierung), und „Eraserhead' ist nicht weniger als eine kurze, präzise komprimierte Geschichte der monströsen Moderne,- unter anderem …

„Eraserhead' ist komisch, tragisch, kulturkritisch, surrealistisch, ein Stummfilm mit Ton, und/oder ein Horrorfilm. Es hängt vom Betrachter und seiner Tagesform ab. Interpretieren Sie mit, und bitte FÜHLEN Sie diesen Film! Schon lange ist „Eraserhead' Kult, aber vor allem ist „Eraserhead' ein Meisterwerk,- ganz egal, was ich Ihnen einreden will …

Kiss & Kill

( 2010, Regie: Robert Luketic )

Der Spion, der mich liebte
von Harald Mühlbeyer

So ist das: oft merkt man erst nach der Hochzeit, wen man da eigentlich geheiratet hat, und dann wird einem der Boden unter den Füßen weggezogen, sprich: nichts ist mehr …

So ist das: oft merkt man erst nach der Hochzeit, wen man da eigentlich geheiratet hat, und dann wird einem der Boden unter den Füßen weggezogen, sprich: nichts ist mehr sicher. Dabei war Jen immer ganz bürgerlich, hat sich immer ans Normale gehalten, an das Übliche. Weil sie nicht Bungeespringen wollte, ist ihre vorherige Beziehung den Bach runter gegangen. Sie schlägt halt nach ihrem Vater, der fanatisch auf Sicherheit bedacht ist – Tom Selleck in einer „Meet the Parents“-De Niro-Rolle.

Und dann trifft sie auf Spencer, jung, muskulös und halbnackt mit ihr im Fahrstuhl. Er baggert sie an, sie verabreden sich – und Spencer schwimmt rüber zu einer Jacht, darauf ein Hubschrauber, an dem befestigt er eine Bombe, erledigt noch schnell ein, zwei Bösewichter und ist schon wieder der ganz normale Riviera-Urlauber… Spencer ist Top-Spion mit Killerlizenz, eine junge Bond-Variante, und er lebt auch das Bond-Luxusleben, Sportwagen, schöne Frauen, exotische Einsatzorte. Auch Jen ist wahrscheinlich erstmal nur eine seiner Eskapaden, doch beim Date stottert er ganz schön rum, seine smarte Selbstsicherheit geht flöten: er ist verliebt. Er steigt aus. Er wählt das bürgerliche Leben mit Jen.

Jen weiß nichts von seiner Vergangenheit. Nein: Wie in jeder romantic comedy à la Hollywood erforscht sie zwar ständig ihre Gefühle, holt sich Ratschläge bevorzugt von einer sexbesessenen Freundin (die in Spencers pornosüchtigem Kollegen ihr männliches Pendant hat), doch an ihrer Liebe zweifelt sie nicht. Bis sie heimkommt und ihren Mann in einen tödlichen Messerfight verstrickt sieht. Gerade noch Furzwitze auf der Couch, und schon ist das Haus verwüstet – ab diesem Zeitpunkt hat der Film zu sich gefunden, ergeht sich in Verfolgungsjagden, Schießereien, tödlichen Prügelszenen und lässt zugleich ein Ehedrama ablaufen, das sich fast mit „Mr. & Mrs. Smith“ messen kann – nur dass hier nicht beide Ehepartner Killer sind, sondern dass die Unschuld auf die Tötungsmaschine trifft.

Plötzlich fehlt es an Sicherheit, wie sie einem normalen Paar zuteil wird, wenn es sich niederlässt. Jens normales, bürgerliches Leben würde es ohne Killeragenten wie uns nicht geben, sagt Spencers Boss einmal; und drei Jahre später sind es Freunde, Kollegen, Nachbarn, die es auf Spencer und Jen abgesehen haben. Jeder könnte ein Killer sein, überall lauern sie: auf der Couch, hinter einer Ecke mit MG, im Lieferwagen, im Büro oder im Supermarkt. Überall und jederzeit kann Unvorhergesehenes passieren, es gibt eine Menge Tote, oft genug einfallsreich abgemurkst von Spencer, dem Profi. Dazu kommt die Vertrauenskrise bei Jen, die nicht mehr weiß, woran sie ist, die erkennen muss, dass sie drei Jahre lang mit einer Lüge zusammengelebt hat. Und dabei hat’s auch noch woanders an Sicherheit gefehlt: Jen ist schwanger, und die tödlichen Angriffe sind die große Prüfung für Ehe und Elternschaft. Immer wieder setzt der Film die Ehe und das Töten parallel: Wie viele waren es eigentlich, fragt Jen einmal, mitten auf dem Schlachtfeld nach wilder Verfolgung über eine Baustelle, und seine Antwort, 15, könnte in etwas anderem Zusammenhang auch die Anzahl seiner Affären bedeuten.

Es ist eben nicht nur das verflixte 7. Jahr, auch zum dritten Ehejubiläum kann Vertrauen erodieren, kann sich Routine eingeschlichen haben. Gut, wenn dann ein paar Schläfer aktiviert werden, wenn die Kugeln fliegen und die Gegend in Trümmer gelegt wird: einen besseren Anlass für einen Trust Circle, bei dem jeder ehrlich seine Karten auf den Tisch legt, kann es nicht geben: der Grundstein für einen liebevollen Neuanfang.

Querschläger

( , Regie: )

Volltreffer
von Johannes Binotto

„Querschläger“ – der Titel ist wohl auch als selbstreflexiver Kommentar über die Genese dieses Comics zu lesen, wobei das französische Orginal „Bulles perdues“ sogar noch etwas treffender ist: Verlorene Kugeln, …

Querschläger“ – der Titel ist wohl auch als selbstreflexiver Kommentar über die Genese dieses Comics zu lesen, wobei das französische Orginal „Bulles perdues“ sogar noch etwas treffender ist: Verlorene Kugeln, die etwas anderes treffen als das anvisierte Ziel. Tatsächlich basiert Querschläger auf einem nicht-realisierten, verlorenen Drehbuch des amerikanischen Regisseurs Walter Hill, das nun nicht als Film, sondern als Bildergeschichte auf Papier verwirklicht wurde. Hill hatte für seinem letzten Film „Bullet to the Head“ die dreiteilige französische Comicreihe „Du plomb dans la tête“ adaptiert und war in dem Zusammenhang mit deren Autor Matz (eigentlich Alexis Nolent) zusammengetroffen. Dieser hatte die Regie-Legende gefragt, ob er über nicht realisierte Stoffe verfüge, die sich für eine Comic-Adaption eignen würden. Hill, selber seit Jahren ein Comic-Enthusiast, bot ihm aus seiner Sammlung die Geschichte um den Gangster Roy Nash und dessen blutige Jagd nach der Hoffnung. Das Resultat, ist nun auch auf 120 Seiten zu genießen. Beispiel für eine schöne Verkehrung: wo sich sonst das zeitgenössische amerikanische Kino beim Comic bedient, macht hier der Comic, was Hollywood sich nicht mehr zutraut.

Ob es dieses Wissen um die Entstehungsgeschichte ist, dass man glaubt, dem Comic seine filmische Herkunft zu erkennen? Immer wieder rücken einzelne Panels Details ins Bild, so wie in den Großaufnahmen eines Film: eine Hand, die zur Waffe greift, die Grammophonnadel auf der Platte. Und dann immer wieder jene Panels auf, welche sich über die ganze Breite der Seite ziehen: Cinemascope-Bilder. Sie zeigen den einsame Held in den dunklen Strassen der Großstadt, den Hut ins Gesicht gezogen oder ein verlassenes Westernstädtchen im Staub der Prärie. So entsteht das große Pathos dieser Gangstermoritat. In manchen Aussichten sieht es aus, als würden die Figuren vor Fotografien stehen, ein Eindruck wie man ihn von den Rückprojektionen aus den Filmen der 1940er kennt. Wenn zum Schluss Nashs Gegenspieler mit seinen vier Revolvermännern auf den Salon zuschreitet, in dem der finale Showdown stattfinden wird, zitieren die Bilder nicht zuletzt Walter Hills eigenen Western „The Long Riders“.

Koloriert hat der Zeichner Jef (eigentlich Jean-François Martinez) seine Bilder in dunstigen Farben, grad so, als läge über allen Räumen ein leichter Schleier: Nebel, Staub, Zigarettenrauch und Pulverdampf. Es sind Klischees, ohne Zweifel. Aber gerade über sie zapft der Comic das visuelle Gedächtnis seiner Leser an. Unweigerlich hat man als Leser und Betrachter das vage Gefühl, diese Geschichte bereits zu kennen. Der neue Comic wirkt bereits wie ein alter Klassiker, dessen Handlungsmuster uns vertraut sind: Der knallharte Gangster Roy Nash lässt sich aus dem Knast holen, um den Preis, dass er für die Bosse einige alte Rechnungen begleicht. Daneben aber verfolgt der Killer seine eigene Mission. Das leichte Mädchen Lena, die einzige Frau, die ihm je etwas bedeutete, will er finden und aus dem Sumpf der Unterwelt retten. Wir ahnen schon bald, wie übel dies alles herauskommen wird.

Virtuos ist „Querschläger“ denn auch weniger, weil er seine Geschichte besonders originell, als vielmehr weil er sie so konsequent erzählt. So wie Hills Filme sich nicht am aktuellen Zeitgeist, sondern an der Tradition der maverick directors von Raoul Walsh bis Sam Fuller orientieren, ist auch sein Comic im Stile alter hard boiled Romane verfasst: brutal und lakonisch. Großartige Figuren, wie etwa der schweigsame Ex-Boxer Panama Kid, den man Roy Nash als Fahrer mitgibt, werden in nur wenigen kurzen Bildern vollends plastisch. Gerne hätte man mehr über jene auffälligen Narben um seine Augen gewusst und was hinter seinem stoischen Gesicht wohl vor sich geht. Umso bitterer sein Ende. Statt eines großen Abgangs nur ein Tableau vom Grund des Hafenbeckens: Panama Kid mit Beton an den Füssen, zwischen anderen verrottenden Leichen. So macht der Comic kurzen Prozess und zelebriert zugleich Atmosphäre. Der schnell und heftig explodierenden Gewalt werden nicht mehr Bilder gewidmet, als dem langen Warten darauf, dass sie sich ereignen möge. Die Stimmung hüllt uns ein.

Irritierend ist allenfalls die Art und Weise, wie der Protagonist gezeichnet ist, mit einer auffällig femininen Physiognomie, die Augen immer schwarz umrandet, wie mit Mascara. Eher Transvestit als harter Kerl. Und doch passt dieser queere Touch nicht schlecht zu dem Killer, der eigentlich die sentimentalste aller Figuren ist. An Sex hingegen scheint Nash nicht interessiert, selbst dann, wenn sich die Frauen ihm anbieten. Und auch seine Retterfantasie gegenüber Lena scheint nicht erotisch motiviert, sondern ist eher der Versuch, einen letzten Rest Unschuld zu retten in dieser verkommenen Welt, vergeblich. So ist Nashs Haltung die, welche aus dem ganzen Comic spricht: melancholische Nostalgie. Das Leben gleitet ihm durch die Finger und dazu passt denn auch, dass man Nash aus dem Gefängnis schmuggelte, indem man ihn als angebliche Leiche in einen Sarg nagelte. Als lebender Toter ist er fortan dazu verdammt, weiterzumachen, auch wenn er all das verloren hat, wofür zu leben sich überhaupt lohnt. Am Ende sitzt er in seinem Hotelzimmer, wie anfangs in der Zelle. Mit nichts in der Tasche, außer Erinnerungen.

Uns freilich ist das nicht genug. Wir warten auf den nächsten Band. Walter Hills Kino geht weiter, als Comic vielleicht noch gelungener als auf der Leinwand. Der ins fremde Medium abgelenkte Querschläger hat ins Schwarze getroffen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Filmbulletin

Walter Hill, Matz, Jef: „Querschläger“
Aus dem Französischen von Tanja Krämling, Splitter Verlag, Bielefeld 2015, 128 Seiten, 24,80 Euro

diabolischer sommer

Ein diabolischer Sommer

( , Regie: )

Der Blick im Rückspiegel
von Johannes Binotto

Nach ihrem Meisterwerk „Souvenirs de l’empire de l’atome“ (dt.: Das Imperium des Atoms, erschienen bei Carlsen) von 2013 durfte man gespannt sein auf die nächste Zusammenarbeit zwischen dem Szenaristen Thierry …

Nach ihrem Meisterwerk „Souvenirs de l’empire de l’atome“ (dt.: Das Imperium des Atoms, erschienen bei Carlsen) von 2013 durfte man gespannt sein auf die nächste Zusammenarbeit zwischen dem Szenaristen Thierry Smolderen und dem Zeichner Alexandre Clérisse. Und wie schon in ihrem Vorgänger ist auch dieser neue Comic-Roman „L’été diabolik“ (dt. Ein diabolischer Sommer, ebenfalls Carlsen) eine Hommage und zugleich zeitgenössische Revision der Bildwelten vergangener Popkultur. Im „Imperium des Atoms“ hatten die Science-Fiction-Träume aus Kioskromanen der Fünfziger Jahre und deren melancholische Hintergrundgeschichte den Anlass gegeben, hier nun wird in den Erinnerungen an die delirierenden Pulp-Comics der Sechziger Jahre um maskierte Schurken und deren düsterer Erotik geschwelgt. Allen voran ist es natürlich (und wie die merkwürdige Schreibweise des französischen Titels bereits klar macht) Diabolik, der böse Held aus den italienischen Comics der beiden Schwestern Angela und Luciana Giussani, der als teuflischer Schutzpatron über dem Geschehen thront und dessen hypnotischer Blick einem schon vom Cover des Comic-Bandes entgegenstarrt. Der Blick wird einen auch später nicht loslassen. „Ein Mann schaut in den Rückspiegel seines Autos und sieht in jenem Wagen, der ihn verfolgt, die Augen des maskierten Diabolik hinter dem Steuer“ – mit dieser Vision, so sagt der Autor Thierry Smolderen, hat alles angefangen, eine Vision, die ihm dann später auch in Mario Bavas psychedelischer Diabolik-Verfilmung von 1968 wiederbegegnet ist.

Rückspiegelungen – darum geht es, im konkreten wie übertragenen Sinn und auf allen Ebenen. Nicht nur dass der „L’été diabolik“ Rückschau auf die Comics der Sechziger hält, auch seine Geschichte ist die einer konstanten Revision: „Combien de fois ai-je passé cette journée en revue depuis l’été 67…“ – damit setzt die Erzählung des Protagonisten Antoine Lafarge ein. Sein Bericht ist eine Erzählung im Rückspiegel, en revue, in Erinnerung an die Geschichte eines fatalen, teuflischen Sommers voll von verbrecherischer Lust und Angst. Es ist der Sommer, in dem Antoine die eigene Sexualität erkundet und die Abgründe der anderen Personen. Ein Sommer, in dem man sich selbst und alles andere neu gespiegelt sah. Rückspiegelung über Rückspiegelung. Und auch diese retrospektive Erzählung selbst wird später in einem Epilog erneut der Revision unterzogen und mit ihr schließlich alles, was Antoine über diesen Sommer, über sich und seine Familie zu wissen glaubte. Diese Frage nach der Familie und der ungewissen, in Revisionen sich auflösender, Genealogie stellt hinter den grellen Maskeraden einer rasanten Kriminal- und Sexgeschichte denn auch das heimliche Zentrum dieser Rückspiegelungsgeschichte dar. Jenseits aller explosiver Action geht es auch, und vielleicht vor allem, um eine recht alltägliche und ziemlich traurige Geschichte von Vätern und Söhnen und deren rätselhaften Verhältnissen. Das findet sich übrigens auch im Geschöpf Diabolik verkörpert: als Mann ohne Gesicht, der in seinen Abenteuern laufend die Identität wechseln kann, ist er zugleich auch frei von allen familiären Zusammenhängen. Diabolik hat keine Eltern und keine Kinder, kennt keinen Anfang und kein Ende, keine Jugend und kein Alter. Diabolik ist da – so wie der Trieb bei Freud, der weder Zeit noch Negation kennt. Doch zugleich hat das Triebwesen Diabolik freilich eine ganze Reihe von Vätern, wie auch Thierry Smolderen im Nachwort von „L’été diabolik“ hinweist. Natürlich ist Diabolik ein Nachfahre von Fantômas und Arsène Lupin und von all den maskierten Helden der US-Comics. „Die leere Maske des Phantoms springt problemlos von Kontinent zu Kontinent“, schreibt Smolderen. Genealogie entpuppt sich als Vererbung einer Verkleidung. Darum kann Diabolik niemals sterben: weil er nur eine Maske ist, die man sich überziehen kann. Die Haut wird zur Substanz.

Auch die sagenhaften Zeichnungen von Alexandre Clérisse in diesem Band sind solche Maskenhäute – flächig und ohne Tiefe, in denen man sich gerade deswegen so komplett verlieren kann. Jede Seite und jedes Panel ist für sich schon ein wunderbarer Druck, den man ausschneiden, an die Wand hängen und immer wieder betrachten möchte. Da kann es einem passieren, dass man den Faden der Handlung verliert, weil man einzig dem Genuss der Bilder nachgeht. Wer sich so in der Betrachtung der untiefen Bilder versucht, macht es wohl genau richtig. Zum Trieb, den Diabolik verkörpert, gehört ja schließlich auch, vom Pfad einer zielgerichteten Lektüre abschweifen zu können. Der Trieb ist nicht kohärent, er diffundiert. Er geht in alle Richtungen. Auf manchen Seiten zeichnet Clérisse wie die Figuren sich durch ihre extravaganten Häuser bewegen als ein einziges großes Bild. Die Architektur wird in der Zeichnung zum Escher-Raum, wo oben und unten, hinten und vorne nicht mehr recht aufgehen. Der gezeichnete Raum ein verdrehtes Labyrinth. Und wenn in der Mitte des Bandes, im Zusammenhang mit Antoines ersten LSD-Erfahrungen, die Bilder vollends zu delirieren beginnen, die Panels wabern und der Text in Kaugummischrift aufgeblasen wird, dann steigert das nur ins Extrem, wie es einem auch auf den anderen Buchseiten gehen kann. Selbst wenn man nichts vom Text verstehen würde und nur die Bilder bewundert, hat man schon mehr als genug mitbekommen. Ähnlich, wie man auch die alten Diabolik-Comics bewundern kann, ohne ein einziges Wort Italienisch zu sprechen.

Die Bilder illustrieren nicht, so wenig wie der Text die Bilder beschreibt. Die Bilder erzählen mit, anders und in Spiegelungen, die man zu entdecken hat. Wenn Antoines Vater sich ein Glas Wasser füllt und damit nach oben in sein Zimmer geht, erkennen wir das Motiv des leuchtenden Glases in seiner Hand auf der dunklen Treppe wieder als jenes giftige Glas Milch in Alfred Hitchcocks „Suspicion“ und der Mann mit der Kamera, der den Attentäter auf dem Hügel filmt, erkennen wir früher als er sich selbst als Abraham Zapruder. So nehmen die Bilder vorweg, was Antoines Bericht wieder wird revidieren müssen und umgekehrt. So wie man nach vorne in einen Rückspiegel schaut, der vor meinen Augen zeigt, was hinter meinem Rücken passiert. Wahrlich ein diabolischer Genuss.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Filmbulletin

Thierry Smolderen, Alexandre Clérisse: „Ein diabolischer Sommer“
Carlsen, Hamburg 2016, 128 Seiten, 24,99 Euro

(Alle Bilder: © Carlsen Verlag)

Vertrag Gott

Ein Vertrag mit Gott

( , Regie: )

Wiedersehen mit einem Klassiker
von Sven Jachmann

Will Eisner ist US-amerikanische Comicgeschichte. Mit seiner 1940 gestarteten Serie „The Spirit“ befand er sich an der Schaltstelle zwischen formaler Experimentierfreude und avancierter Pulperzählung. Seine von Film Noir inspirierten Settings …

Will Eisner ist US-amerikanische Comicgeschichte. Mit seiner 1940 gestarteten Serie „The Spirit“ befand er sich an der Schaltstelle zwischen formaler Experimentierfreude und avancierter Pulperzählung. Seine von Film Noir inspirierten Settings legten die ersten Weichen zur Modernisierung des Superheldengenres. Erst spät veröffentlichte der 1917 geborene die erzähltheoretischen Basiswerke „Comics & Sequential Art“ (1985) und „Graphic Storytelling“ (1995) (beide sind unter dem Titel „Comics als erzählende Kunst: Grundlagen und Prinzipien“ als Neuausgabe von Carlsen für den Juni angekündigt). Sie deklinierten Eisners Agenda des grafischen Erzählens durch. 2005 starb er.

Nun bringt Carlsen seine Mietshausgeschichten „Ein Vertrag mit Gott“ neu als Softcover im Graphic Novel Paperback-Segment heraus. Er schuf sie in den 1970er-Jahren. Es sind Milieustudien der Subalternen, speziell des migrantisch-jüdisch-amerikanischen Milieus im New York der 1920er- bis 1950er-Jahre, mit denen er außerdem erstmals den Begriff Graphic Novel lancieren sollte.

Der vorliegende Band versammelt die drei Alben „Ein Vertrag mit Gott“, „Lebenskraft“ und „Dropsie Avenue“, die, neben der autobiografischen Erzählung „Zum Herzen des Sturms“ und seiner Auseinandersetzung mit dem modern-antisemitischen Urmythos, der Protokolle der Weisen von Zion, in „Das Komplott“, Eisners Hauptwerk bilden. Das Vorwort aus Eisners Feder und eine umfangreiche Werkbetrachtung von Andreas C. Knigge geben der Edition überdies einen angemessen bibliophilen Anstrich.

Ihrer Struktur nach sind die Geschichten Novellen. In allen vier Erzählungen aus „Ein Vertrag mit Gott“, die in der Bronx der 30er-Jahre angesiedelt sind, zwingt eine unerhörte Begebenheit die Figuren in eine Notlage, aus der sie sich nicht mehr befreien können: Ein Rabbi, dessen Tochter gestorben ist, wendet sich traumatisiert vom Glauben ab und zerbricht an der Realität der Immobiliensyndikate; ein arbeitsloser, aber talentierter Straßensänger erweckt in einer abgehalfterten Operndiva die Hoffnungen auf ein gemeinsames Comeback und geht an seinem Alkoholismus zugrunde; ein mürrischer, einsamer Hausmeister wird von einem Kind in den Suizid getrieben; eine Gruppe von Pärchen schafft es während des Urlaubs nicht, die Hemmungen der Bürgerlichkeit abzulegen, und kehrt entsprechend desillusioniert in den Bronx-Alltag zurück.

Ein moralisierender Duktus fehlt. Aber stets ist klar, dass das Leid der Figuren stellvertretend im Kleinen abbildet, was sie im Großen zur Ohnmacht zwingt. Eisner erzählt von überflüssigen Menschen, die im Bewusstsein ihrer Austauschbarkeit jeden Anflug der Revolte hilflos gegen sich selbst richten. Die Geschichten sind ambivalent, uneindeutig ist die Schuld für die oftmals grausigen Taten. In der größtenteils wortlosen Geschichte „Der Super“ um einen Hausmeister etwa begegnet uns dieser zunächst als grobschlächtiges Ekel, der einen fragenden Mieter aggressiv einschüchtert.

Für das Gefühl der Beklemmung braucht Eisner kein Dekor, lediglich ein paar Striche symbolisieren die Wand, an die er den Mieter drängt. Nachdem der Hausmeister später von einem diebischen Mädchen in den Hinterhof gelockt wird, um von den empörten Anwohnern fälschlich als Triebtäter identifiziert zu werden, nimmt die Architektur der Gebäude erdrückende Formen an. Nur wenige Striche skizzieren seine Verzweiflung und die Entscheidung zum Selbstmord – die ganze Universalität des Leids im schwarzweißen, karikaturesken Strich, Kongruenz aus Form und Inhalt.

Die Art, wie durch die Verweigerung alles visuell Pompösen und plotimmanent Eindeutigen umso präziser der Leserblick auf die Gewalt des Lebens gerichtet wird, bietet ein perfektes Studium darin, wie einzigartig die Bildsprache des Comics die abgründigsten Themen zu kommunizieren weiß.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz

Will Eisner: Ein Vertrag mit Gott
Aus dem Englischen von Carl Weissner und Matthias Wieland, Carlsen, Hamburg 2017, 528 Seiten, 19,99 Euro

(Alle Bilder: © Carlsen Verlag)

Die Präsidentin

( , Regie: )

Frontbericht
von Sven Jachmann

Ein Comic als Brandbrief? Ja, das funktioniert. In ihrer Graphic Novel „Die Präsidentin“ nutzen der Historiker Francois Durpaire und der Comiczeichner Farid Boudjellal die Realität als dystopische Folie und entwerfen …

Ein Comic als Brandbrief? Ja, das funktioniert. In ihrer Graphic Novel „Die Präsidentin“ nutzen der Historiker Francois Durpaire und der Comiczeichner Farid Boudjellal die Realität als dystopische Folie und entwerfen ein Modell, das Frankreich und Europa blühen könnte, sollte Marine Le Pen 2017, ausgestattet mit dem höchsten parlamentarischen Amt qua regulärem Wahlerfolg, im Élysée-Palast regieren.

Und wie es einer guten Science-Fiction-Erzählung geziemt, ist das beängstigend, weil exakt analysierte politische Entwicklungen der Gegenwart nicht nur kontrafaktisch weitergedacht werden – es genügt schon die Vorstellung, wie die Rechten mit den realen Werkzeugen politischer Macht, die ihnen die Verfassung bietet, hantieren. Dafür orientiert sich Durpaire ganz einfach am Parteiprogramm des Front National und entwickelt einen Crash-Kurs „FN-Regierung in 100 Tagen“: EU-Austritt, digitale Überwachung, Beseitigung des Verfassungsgerichts, mediale Gleichschaltung durch Subventionsstopps und Diskreditierung von Journalisten, rassistische Arbeitsmarktpolitik, noch mehr Abschiebungen. Mit den altbekannten Folgen: Inflation, mehr Arbeitslosigkeit, Armut und enthemmte Aggression in der Bevölkerung. Wie autoritäre Polizeistaaten jener Provenienz entstehen, kann man bereits in Polen, Ungarn, Russland oder der Türkei verfolgen.

Auch dass die Graphic Novel beim Brexit richtig lag, ist weitaus mehr als zufällig geglückte Prophezeiung: Durpaire arbeitet heraus, dass Demokratien gegen sich selbst ausgehebelt werden können, und die daraus erwachsende rechte Herrschaft droht, sie ein für allemal, nicht bloß für vier Jahre, abzuschaffen.

Dieses alarmierende Urteil können weder die statischen Zeichnungen noch die arg zwanghafte Rahmenhandlung um eine Résistance-Kämpferin und deren Enkelkinder, die als generationenübergreifende Repräsentanten der gegenwärtigen Spannbreite der Linken stellvertretend den Front National über sich ergehen lassen müssen, nivellieren. Ja, selbst ein vorwortender Ulrich Wickert nimmt sich da als gebührend vor sich hinwickerndes Mahnmal aus.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

Francois Durpaire (Szenario), Farid Boudjellal (Zeichnungen): Die Präsidentin
Aus dem Französischen von Edmund Jacoby.
Verlag Jacoby & Stuart, Berlin 2016, 160 Seiten, 19,95 Euro

(Alle Bilder: © Jacoby & Stuart)

„Hier werden Menschen täglich beleidigt oder angegriffen“

( , Regie: )


von Jürgen Kiontke

Zack Adesina hat mit „Brexit Hate“ eine Kurzdokumentation über die Auswirkungen des britischen Referendums für einen EU-Austritt auf die Migranten in Großbritannien gedreht. Jürgen Kiontke: Sie haben einen Dokumentarfilm über …

Zack Adesina hat mit „Brexit Hate“ eine Kurzdokumentation über die Auswirkungen des britischen Referendums für einen EU-Austritt auf die Migranten in Großbritannien gedreht.

Jürgen Kiontke: Sie haben einen Dokumentarfilm über die Folgen des Brexit-Votums in Großbritannien gedreht, insbesondere über die Auswirkungen auf Arbeitsmigranten aus Osteuropa. Wie ist es dieser Gruppe seit dem EU-Referendum ergangen?
Der kurze Dokumentarfilm, den ich für die BBC gedreht habe, heißt „Brexit Hate“. Darin geht es vor allem um die zahlreichen Osteuropäer, die seit dem Brexit-Votum aus London weggezogen sind oder nun planen, London zu verlassen. Eine der eindrucksvollsten Charaktere ist eine Frau, die seit vielen Jahren in Großbritannien lebt, arbeitet und Steuern zahlt. Sie sagt, dass sie sich seit dem Volksentscheid für den Austritt aus der Europäischen Union von dem Land, in dem sie lebt, zurückgewiesen fühlt. „Es ist so, als würde man eines Morgens aufwachen und feststellen, dass die beste Freundin einem plötzlich und ohne Erklärung dem Rücken gekehrt hat. Ich kann nicht aufhören zu weinen.“
Diese Aussage zeigt deutlich, dass viele Osteuropäer, in den vergangenen 20 Jahren nicht nur wegen der Arbeit gekommen sind. Sie haben hier tiefe Wurzeln geschlagen, sind eng mit Briten befreundet, haben hier Familien gegründet. Und plötzlich fühlen sie sich in nicht mehr sicher, ihr Status ist ungewiss. Die Folge sind Furcht, Misstrauen und Wut. Ich versuche in dem Film, diese emotionale Zerrissenheit aufzuzeigen.

Was war für Sie der konkrete Auslöser für diesen Film?
Das Filmkonzept entstand eigentlich schon lange vor dem EU-Referendum. Bereits seit einigen Jahren konnte ich beobachten, dass mein Land sich unter der polierten und stillen Oberfläche langsam veränderte. Eine seltsame Art von Nationalismus hat sich in Großbritannien breitgemacht, teils aufgrund sozialer Ungleichheiten und stark befeuert durch das rechte wie auch das linke politische Spektrum: ein Nationalismus, der auf Separatismus statt Einheit setzt. Das ist der Grund, weshalb wir nun an dem Punkt sind, dass manche Leute stolz auf ihren offenen Rassismus gegenüber Osteuropäern sind. Und es ist auch der Grund, warum einige nationale Zeitungen Anti-EU-Schlagzeilen drucken, die selten auf Fakten basieren. All dies kam in Verbindung mit dem Brexit-Votum ans Licht, und da dachte ich mir, jetzt ist die richtige Zeit für den Film, jetzt muss gezeigt werden, wie sich all dies auf Migranten auswirkt und weshalb sie dem Vereinigten Königreich den Rücken kehren und in andere Länder gehen, in denen sie sich gewürdigt und sicherer fühlen.

Sind denn seit Juni 2016 mehr rassistische Übergriffe auf Migrantinnen und Migranten verübt worden? Können Sie dazu etwas sagen?
Mit dem EU-Referendum hat die Zahl der von der englischen und walisischen Polizei aufgenommenen Haßverbechen stark: zugenommen: Insgesamt wurden in den beiden Wochen vor der Volksabstimmung und am Tag des Referendums, dem 23. Juni, gut 1.500 rassistisch oder religiös motivierte Straftaten begangen – ein Anstieg zum Vorjahreszeitraum um ca. 41 Prozent. In unserem Land gibt es Menschen, die täglich beleidigt, eingeschüchtert und manchmal sogar tätlich angegriffen werden.

Gibt es bestimmte Gruppen, die besonders ins Visier genommen werden?
Jede Person, die erkennbar anders und möglicherweise wie ein Migrant aussieht, könnte derzeit das Ziel solcher Attacken werden. Im Juni letzte Jahres wurde in den britischen Medien über eine ältere deutsche Frau berichtet, die seit 43 Jahren in Großbritannien lebt und nun traumatisiert ist, nachdem sie Opfer eines fremdenfeindlichen Übergriffs wurde – ihre Haustür wurde mit Hundekot beworfen und ihr wurde gesagt, sie solle nach Deutschland zurückgehen. Im Oktober war ein muslimisches Mädchen in einem Londoner Bus von einem Mann angegriffen worden, der „Brexit“ gerufen haben soll.
Eine Umfrage hat ergeben, dass zwölf Prozent der im Vereinigten Königreich lebenden polnischen Staatsangehörigen nach dem Brexit-Votum mit feindseligen Haltungen konfrontiert wurden. Der Hass scheint sich gegen alle möglichen Migrantengruppen zu richten.

Wen treffen die Aggressionen noch?
Es gibt keine offiziellen Berichte über Vorfälle von Hasskriminalität in Verbindung mit Brexit gegen Personen, die nicht Migranten sind. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es in dieser Hinsicht kein Problem gibt. Beispielsweise berichten LGBTI-Gruppen über mehr Angstgefühle und Angriffe seit dem Brexit-Votum, und die Geschichte hat uns gelehrt, dass Fremdenfeindlichkeit leicht außer Kontrolle gerät. Heute werden Migranten verfolgt, morgen wendet man sich gegen eine andere Gruppe – und was kommt dann?

Wer sind die Verantwortlichen, und wie reagieren Polizei, Justiz und Medien auf solche Taten?
In den Zeitungen geht es hauptsächlich um Rowdys, die Migranten auf der Straße angreifen; um Jugendliche, die Personen mit ausländischem Akzent oder ausländischer Erscheinung anpöbeln. Fremdenfeindlichkeit beschränkt sich jedoch nicht nur auf öffentliche Plätze und sichtbare Vorfälle. So gibt es kaum Statistiken zu dem gutbürgerlichen Geschäftsinhaber, der keine polnischen Arbeiterinnen oder Arbeiter anstellen möchte, oder zu der Cafébesitzerin, die sich weigert, einen indischen Kunden zu bedienen. Und doch gibt es viele Einzelbeispiele, die darauf hindeuten, dass sich solche Vorfälle täglich ereignen.

Gab es auch britische Staatsangehörige mit Migrationshintergrund, die für den Brexit gestimmt haben? Und wenn ja, warum?
Eine der Eigentümlichkeiten des EU-Referendums war die hohe Zahl an schwarzen und asiatischen Briten, die für den Austritt aus der EU gestimmt haben. Manche befürchten, von den osteuropäischen Migranten verdrängt zu werden, die sich in jüngster Zeit niedergelassen haben. Vor dem Referendum wurden an die Besucher der East-London-Moschee in Whitechapel Flyer verteilt und E-Mails verschickt, in denen Muslime aufgefordert wurden, für den Austritt aus der EU zu stimmen, um „sicherzustellen, dass die örtlichen osteuropäischen Gemeinschaften von Christen und Katholiken nicht noch stärker werden“. Viele haben eingeräumt, dieser entzweienden Rhetorik nachgegeben zu haben und es nun zu bereuen.

Wie steht die Regierung zu den Menschenrechten?
Den Behörden scheint die Zunahme von Rassismus ernsthaft Kopfzerbrechen zu bereiten. Der neue muslimische Bürgermeister von London hat eine Nulltoleranzpolitik gegen jeden Versuch der gesellschaftlichen Spaltung verkündet, und laut Polizeibehörde von Greater London hat sich die Anzahl der Festnahmen für hate crimes – Verbrechen aus rassistischen Motiven – seit dem Referendum um 75 Prozent erhöht.
Doch schlussendlich basiert der Schutz vor Hassverbrechen im heutigen Großbritannien auf dem existierenden Menschenrechtsrahmen: dem Schutz der Menschenwürde und der Gleichbehandlung aller. Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union ist der Schutz dieser Rechte jedoch möglicherweise gefährdet.
Was mir Sorgen bereitet, ist dass einige Brexit-Befürworter in der Politik sogar die Idee vorgebracht haben, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte den Rücken zu kehren. Allerdings wären solche Schritte mit sehr komplexen Prozessen verbunden und würden bei dem Teil der Bevölkerung, der diese Schutzgarantien für nicht verhandelbar hält, auf heftigen Widerstand treffen.

Gibt es soziale Kräfte oder Bewegungen zum Schutz der Migranten?
In den vergangenen Monaten gab es zahlreiche Demonstrationen gegen den Brexit und die damit einhergehende fremdenfeindliche Rhetorik. Dieser Widerstand wird hauptsächlich von den „Millennials“ angeführt, der jungen Generation. Junge Leute engagieren sich jetzt stärker politisch.

Wie haben Sie abgestimmt: für oder gegen den Brexit?
Ich habe für den Verbleib in der EU gestimmt, weil mein geliebtes Großbritannien ein weltoffenes Land ist. Ich bin in Großbritannien geboren und afrikanischer Abstammung. Meine Adoptiveltern sind weiß und britisch. Ich war mit Kindern aus Frankreich, Schweden, Deutschland und Indien in der Schule. Jetzt, als Erwachsener, habe ich Freunde in London, die aus aller Welt kommen. Das ist das Großbritannien, mit dem ich mich identifiziere, denn ich bin der Überzeugung, dass Diversität unser Land besser, stärker, sicherer und reicher macht. Und unsere Mitgliedschaft in der EU ist dafür unerlässlich.

Wirkt sich der Brexit-Prozess auch auf Ihr Leben und Ihre Arbeit als Journalist aus?
Die Brexit-Entscheidung hat mich dazu angespornt, noch mehr als vorher mit der Kamera aufzuzeigen, wie stark das persönliche Leben der Menschen von der Politik bestimmt wird. Und zu unterstreichen, wie sehr die politischen Entscheidungen, die uns oft so fern erscheinen, im ganz alltäglichen Leben große Furcht oder bestimmte Machtstrukturen hervorbringen können.

Dieses Interview ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal

Das Kino Matías Pinieros

( , Regie: )

Shakespeares Frauen zwischen Buenos Aires und New York
von Nicolai Bühnemann

Am Anfang – Mitte der Nuller – Jahre wollte Matías Piñeiro, 1982 ín Buenos Aires geboren und an der dortigen Universidad del Cine ausgebildet, eigentlich einen Kurzfilm drehen. Bei der …

Am Anfang – Mitte der Nuller – Jahre wollte Matías Piñeiro, 1982 ín Buenos Aires geboren und an der dortigen Universidad del Cine ausgebildet, eigentlich einen Kurzfilm drehen. Bei der Arbeit dazu stellte er beim Noten machen mit einem befreundeten Filmemacher fest, dass seine Ideen genug Material für einen Langfilm boten. Aus Kostengründen auf 16mm und in Schwarz-weiß gedreht ist der Film, der so entstand, „El hombre robado“ (zu Deutsch: „Der gestohlene Mann“), einer jener Debütfilme, in denen das ganze folgende Werk, der ganze eigene Kosmos des Filmemachers, schon angelegt ist – ohne dass im Folgenden deshalb nur das ewig Gleiche wiederholt werden würde.

Das Kino Piñeros, so erfahren wir schon hier, ist ein Kino der Frauen, die sich wortgewandt, flinkzüngig und in breitem Argentinisch (Piñeiros Kino ist natürlich auch eines der Sprache) über ihre Studien und ihre Beziehungen austauschen, die Zigaretten rauchen und Erdbeeren essen. Es ist ein bibliophiles Kino, was sich schon in der Anlage des Films offenbart, der maßgeblich von Texten des argentinischen Autoren und Politikers Domingo Faustino Sarmiento beeinflusst ist und die Kapitel aus dessen „Campaña en el ejercito grande“ („Feldzug in der großen Armee“), als Zwischentitel nutzt und sich darin fortsetzt, dass die Figuren oftmals mit Büchern hantieren, in Buchhandlungen stöbern, Texte auswendig lernen und rezitieren, ja, an einer Stelle sich sogar Inspirationen für einen Brief, um eine Beziehung zu beenden bei Sarmiento holen, was ein gutes Beispiel dafür ist, wie sich Kunst und Leben hier durchdringen. Es ist ein Kino der Irrungen und Wirrungen in dicht geknüpften Beziehungsgeflechten, in denen die Monogamie eigentlich kaum noch eine Rolle spielt.

Mit Piñeiro lernen wir in „El hombre robado“ auch ein maßgeblich aus FreundInnen bestehendes Team kennen, das uns in seinem weiteren Werk immer wieder begegnen wird: die Schauspielerinnen María Villar, Julia Martínez Rubio oder Romina Paula, der Kameramann Fernando Lockett, der erstere oft nah an ihren Gesichtern filmt und damit die Nähe des Films zu den Protagonistinnen, aber auch deren ganz eigene Schönheit unterstreicht.

In dem Folgefilm „Todos mienten“ von 2009 ist der Titel Programm: Alle lügen. Nicht nur alle Figuren, sondern etwa auch die Zwischentitel, die den Film in kurze Kapitel unterteilen, und irgendwann in der Mitte mit Shakespeare verkünden: „Ende gut, alles gut“. Das nimmt bizarre Formen an, wenn Villar eine Schockstarre über eine lange Zeit vortäuscht (aus der sie wie im Märchen nur ein besonders leidenschaftlicher Kuss erwecken kann), ein spanischer Akzent fingiert wird oder Bilder von einer Person gemalt, aber einer anderen signiert werden, wobei der Zwischentitel in dieser Sequenz auf Orson Welles „F for Fake“ anspielt: „F como verdadero“ („f wie wahrhaftig“). Piñeiro schaltet sich mit seiner Reflexion über Wahrheit und Lüge, mannigfache Täuschungen und Fälschungen in einen Dikurs über die Wahrheit der Filmbilder ein, der genauso alt wie der Film selbst ist, und seine Extreme findet in den polemischen Zuspitzungen von Godard, der behauptete, dass Film Wahrheit 24 mal in der Sekunde sei bzw. De Palma, der dem entgegenhielt, dass die Kamera 24 mal in der Sekunde lüge. Das Konzept der Wahrheit selbst wird durch eine Welt, in der alle SchauspielerInnen sind, Rollen spielen und dabei manchmal empfindlich übertreiben, overacten, auf eine harte Probe gestellt und gerade dadurch entwickelt Piñeiro etwas, das im Kino selten geworden ist: Wahrhaftigkeit.

2010 begann der Filmemacher mit „Rosalinda“ ein Projekt, das sich bis in die Gegenwart zieht, über nunmehr vier Filme, denen noch einige weitere folgen sollen, und die sich lose an Komödien von Shakespeare anlehnen. Schon der Titel des vierzigminütigen Films, der noch näher an „As you like it“ ist als seine Nachfolger an den jeweils zugrundeliegenden Texten, was sich schon darin zeigt, dass große Dialogpassagen des Werkes und in Teilen auch dessen Handlung übernommen werden, bezeugt, dass Piñeiros Interesse vor allem den Frauenfiguren des viktorianischen Dramatikers gilt.
Schon in dieser in der ersten Hälfte „treuesten“ Adaption wird die Illusion mannigfaltig gebrochen, dadurch, dass die Figuren etwa direkt aus dem Text vorlesen, ihn teilweise auch nicht auswendig können und sich verhaspeln. Die folgenden drei Filme, „Viola“ (2012), „La princesa de Francia“ („Die Prinzessin von Frankreich“, 2014), sowie der bislang letzte „Hermia & Helena“ (2016) lassen sich noch mehr Freiheit im Umgang mit den Texten, stellen diese noch weiter aus, indem sie die ProtagonistInnen, eifrig Kunst- und Kulturschaffende in den Mittzwanzigern bis Mittdreißigern, direkt mit den Stücken arbeiten lassen, an die ihre Figuren angelehnt sind: In „La princesa de Francia“ geht es um eine Radioadaption von „Love’s Labour’s Lost“, in „Hermia & Helena“ arbeitet die Protagonistin an einer Übersetzung von „A Midsummer Night’s Dream“ ins Spanische. Das spiegelt auch die Bilingualität des Films, der der erste ist, den Piñeiro teilweise außerhalb von Buenos Aires drehte, nämlich in New York, wo er seit 2011 auch lebt.

In „La princesa de Francia“ steht im Mittelpunkt des verworrenen Beziehungsgeflechts, das hier schon durch die wie in einem Theaterstück zu Beginn eingeblendete Auflistung der Dramatis Personae unterstrichen wird, ein Mann. Víctor steht zwischen „Freundin, Ex-Freundin, Geliebter, seiner besten und der vielleicht zukünftigen Freundin“ (Arsenal-Programmheft). Das zeigt, dass Piñeiro sich nicht wiederholt, wohl aber die Wiederholung und Variation zum Stilprinzip erhebt, das vielen seiner Filme schon durch das Auswendiglernen von Texten buchstäblich eingeschrieben ist.

In Deutschland blieb der Filmemacher, dessen Werke immerhin unter anderem schon auf den Festivals von Lorcano und Toronto liefen, bislang relativ unbeachtet, lediglich „Viola“ wurde im Forum der Berlinale gezeigt. Da ist es schön, dass das Arsenal nun durch eine Retrospektive die Möglichkeit gab alle seine Filme, die ja so vielfach miteinander verzahnt sind und zueinander in Kommunikation stehen, auf der großen Leinwand zu sehen, noch dazu am ersten Wochenende in Anwesenheit des sehr gesprächigen Filmemachers, mit dem die Werke ausführlich diskutiert werden konnten.

Die von Lockett mit viel Gespür für kleine Details fotografierten und von Piñeiro mit eben so viel Gespür für ein Millieu, das dem seinigen sicherlich nicht unähnlich ist, geschrieben und inszenierten Filme lassen Realität und Illusion, Kunst und Leben, Liebe und Begehren immer neue Allianzen und Zerwürfnisse eingehen, und sind damit ohne sich jemals irgendeinem Realismus zu verschreiben verdammt dicht am Leben, denn: „All the world’s a stage, and all the men and women merely players“.

Magische Momente 37

( , Regie: )

Tagebuch einer Verlorenen
von Klaus Kreimeier

Louise Brooks als Thymian: ein stilvolles Engelsantlitz vor einem Samtvorhang, zentral im Bild. Im Gegenschuss: die Bordellmutter (Martha von Kossatzky), sie präsentiert der jungen Frau ein schwarzes, spitzenbesetztes Kleid, lässt …

Louise Brooks als Thymian: ein stilvolles Engelsantlitz vor einem Samtvorhang, zentral im Bild. Im Gegenschuss: die Bordellmutter (Martha von Kossatzky), sie präsentiert der jungen Frau ein schwarzes, spitzenbesetztes Kleid, lässt es verführerisch durch ihre Hände gleiten. Über Thymians zuvor ernstes Gesicht fliegt ein Lächeln. Es ist eine der vielen Kleidergeschichten, die Georg Wilhelm Pabst in seinen frühen Filmen erzählt. In „Tagebuch einer Verlorenen“ (D 1929) sind es Skizzen aus dem Leben einer immer wieder umkostümierten, zuerst in die Uniform einer Erziehungsanstalt gesteckten, dann als Edelnutte drapierten und zuletzt in die „schlichte Eleganz“ einer Dame der besseren Gesellschaft gehüllten Frau. Wechselnde Milieus und Schauplätze, stets aber verweben und verwickeln sich das Private und das Öffentliche, geht es um verborgene Motive, um Accessoirs und außengelenktes Verhalten.

Thymian, die Neue, wird eingekleidet. Kamerabewegungen und Beleuchtung tauchen die Szene in flimmernde Transparenz, erlauben Blicke durch eine Glastür in den Nebenraum, in dem die männliche Klientel sich vor einigen Mädchen in Positur wirft. Andere werden auf Thymian aufmerksam, nähern sich, bewundern mit ihr (die der Kamera jetzt den Rücken zukehrt) das teure Gewand, das die Matrone noch immer hochhält. Lauter Mädchenrücken bilden plötzlich eine Art „spanischer Wand“, schirmen die Gruppe um Thymian gegen die Blicke der aufmerksam gewordenen Kundschaft hinter der Glastür ab, lassen aber auch uns, die Zuschauer, „außen vor“. Pabst inszeniert das Widerspiel von Öffentlich und Privat auf engstem Raum. Ein Spiel mit dem Sehen – mit dem Vorzeigen und Verbergen des zum Sehen bestimmten Gegenstands – nimmt seinen Lauf.

Die Herren drängeln; sie versuchen, über die Schultern der Mädchen etwas zu erspähen und bilden so, für den Zuschauer, eine zweite Sichtsperre aus Männerrücken. Ein älterer Herr mit Glatze versucht, gebückt zwischen den Hüften zweier Mädchen hindurchkriechend, Zugang zum unsichtbaren Zentrum des Geschehens zu erlangen. Vergebens: ein großer Federfächer schiebt sich, bildfüllend, vor sein Gesicht. Dem Zuschauer vermittelt diese „komische Nummer“ nur, dass auch ein anderer nicht sehen darf, was er selbst nicht wahrnehmen kann. Erst in der folgenden Einstellung öffnet sich das Gewimmel neugieriger Damen und Herren wie ein Vorhang: Man tritt applaudierend einige Schritte zurück und gibt damit auch der Kamera, also dem Blick des Zuschauers im Kino, die Sicht auf Thymian und die lächelnde Matrone frei. Die Zereremonie ist beendet, die „Neue“ ist auf das niedlichste verpuppt, die Anwesenden sind verzückt, gleich wird der Sekt in den Kelchen schäumen.

Darf der (männliche) Kinozuschauer zu Beginn der Szene hoffen, als intimer Beobachter eines weiblichen Ritus ins Vertrauen gezogen zu werden, so sieht er sich im weiteren Verlauf zum gewöhnlichen Bordellbesucher degradiert. Pabst inszeniert die Verpuppung der Frau als Entlarvung des merkantil-männlichen Blicks: jenes taxierenden Blicks, der mit dem Kleid den Körper, mit dem Körper dessen Käuflichkeit assoziiert. Eine Studie des Voyeurismus, die Marktverhältnisse aufdeckt. Die Erörterung der Geschlechterbeziehungen unter dem Druck der Ökonomie verlagert sich auf die Ebene eines listigen Spiels, das die Kamera und eine äußerst präzise Montage mit den männlich disponierten Erwartungen treiben. Pabst, schreibt Louise Brooks fast ein halbes Jahrhundert später, sei ein Regisseur der „gewitzten Perversität“ gewesen, mit einer Neigung zum Ballett.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin.

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Der Fährmann

( , Regie: )

Die Suche nach dem Paradies in der Postapokalypse
von Bernd Kronsbein

In fast jeder postapokalyptischen Welt gibt es irgendwo das Paradies, einen mythisch-mystischen Sehnsuchtsort, zu dem manch einer der letzten Überlebenden in der Hoffnung aufbricht, dort ein besseres Leben zu finden. …

In fast jeder postapokalyptischen Welt gibt es irgendwo das Paradies, einen mythisch-mystischen Sehnsuchtsort, zu dem manch einer der letzten Überlebenden in der Hoffnung aufbricht, dort ein besseres Leben zu finden. Meist gibt es diesen Ort gar nicht oder er entpuppt sich als tödliche Falle, aber das gehört zum Motiv quasi dazu.

Interessanterweise gibt es diesen Ort in der langlebigen postapokalyptischen Comicserie „Jeremiah“ nicht, die der Belgier Hermann (Huppen) seit über dreißig Jahren schreibt und zeichnet und die es mittlerweile auf sagenhafte 34 Bände gebracht hat. Und dabei hätte die Welt, in der der Titelheld und sein Kumpel Kurdy unterwegs sind, ihn doch bitter nötig, ist sie doch zersetzt von Stadtstaaten, die von miesen Typen aller Couleur tyrannisiert werden. Bis das Duo auftaucht, sich die Sache nicht mit ansehen kann und zumindest für den Moment für Ruhe sorgt. Und dann lakonisch weiterzieht.

Das Fehlen eines Paradieses in „Jeremiah“ scheint Hermanns Sohn Yves H. keine Ruhe gelassen zu haben, der mittlerweile bei jedem zweiten Album seines Vaters als Szenarist fungiert. Und nachdem die beiden erst kürzlich den großartigen Rachethriller „Old Pa Anderson“ vorgelegt haben, kommt nun „Der Fährmann“ (Erko-Verlag), ein Band, der durchaus als „Spin-Off“ von „Jeremiah“ verstanden werden kann. Im Geiste sowieso, aber auch, weil auf Seite 2 ein ziemlich prägnantes Bild auftaucht, das in mancherlei Hinsicht stellvertretend für die postapokalyptische Welt von Hermann steht. Und ja, im Schatten der zerstörten Monobahn sitzt ein Typ mit Feder am Helm, der ohne Zweifel Kurdy ist, der prollige Kumpan Jeremiahs.

Aber mehr als diese Hommage – oder diesen Gastauftritt, ganz wie man will – gibt es nicht. Ansonsten steht „Der Fährmann“ ganz für sich und begleitet ein anderes Duo, Sam und Samantha, auf der Suche nach jenem diffusen Paradies in einer desolaten Landschaft nach dem Untergang der Zivilisation. Sie wissen nicht viel darüber und der Weg dahin ist teuer.

Man ahnt schnell, dass das nicht gut ausgehen kann und die Huppens geben sich auch keine Mühe, das zu verschleiern. Aber in dieser Welt ist selbst das kleinste bisschen Hoffnung besser als gar keine, aber selbst das kleinste bisschen Hoffnung ist bestenfalls trügerisch, schlimmstenfalls eine Lüge. Und so nimmt die Geschichte ihren unerbittlichen Verlauf und nimmt zunehmend surreale Züge an. Dass hier Realität und Wahn, Traum und Albtraum, Leben und Tod längst nicht mehr zu trennen sind, illustrieren die ständig wechselnden Farben und Formen des Himmels, unter dem die Figuren eine klassische Tragödie ausspielen.

Bis am Ende alle Farben weichen.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: Comic.de

Yves H. (Text), Hermann (Zeichnungen): Der Fährmann
Erko-Verlag, Wuppertal 2016, 56 Seiten, 14,95 Euro

In God We Trust

( , Regie: )

Gleitmittel Vatikan
von Sven Jachmann

Dieser Comic wird Christen zur Weißglut treiben, Atheisten glücklich machen. Linken wird er das Herz öffnen, Rechten im besten Fall ein paar Infarkte bescheren. Elegante Bildererzähler in der Nachfolge Will …

Dieser Comic wird Christen zur Weißglut treiben, Atheisten glücklich machen. Linken wird er das Herz öffnen, Rechten im besten Fall ein paar Infarkte bescheren. Elegante Bildererzähler in der Nachfolge Will Eisners wünscht man sich allerorten, aber das schmutzige Erbe eines Robert Crumb wird derzeit nur verhalten gepflegt. Doch wer sich sorgt, dass dem Comicgenre im Zuge der großen Graphic- Novel-Sause Wut, Witz und Punkrock ausgetrieben werden, dem dürfte „In God We Trust“ die Angst ein wenig nehmen.

Winshluss erzählt auf knapp 100 Seiten die Geschichte des Alten wie Neuen Testaments neu. Klingt erst einmal langweilig, und 2009 trat Crumb höchstselbst mit Genesis den Beweis an, dass ein solches Vorhaben ordentlich in die Hose gehen kann, wenn einzig Ehrfurcht vor biblischen Metaphern den Zeichenstift führt – Kunst für Büchertische auf Kirchentagen.

Dort wird „In God We Trust“ niemals ausliegen, denn obgleich die Aufmachung mit Goldprägedruck und Lesebändchen im edlen Hardcover vollendet schwergewichtig daherkommt, wartet im Innern die brachiale Mogelpackung. Das war schon bei Winshluss’ 2009 veröffentlichter Groteske „Pinocchio“ (leider der einzigen weiteren deutschen Übersetzung seines mittlerweile zweistelligen Werks) der Fall und wurde vom Betrieb sogar honoriert: Auf dem Angoulême-Festival wurde das Buch als bestes Album ausgezeichnet, also mit dem Comic-Oscar, in Deutschland folgte in Erlangen der Max-und-Moritz-Preis für die beste internationale Veröffentlichung, der Comic-Globe.

Schön, dass sich der Künstler davon nicht domestizieren ließ, sondern in „In God We Trust“ sintflutartig einen Kotzeteppich über den christlichen Aberglauben ausbreitet. Das beginnt bereits mit der Dürer-Variation auf dem Schmutztitel: zwei abgehackte Hände, die zum Gebet geformt sind.

Auf der ersten Seite heißt uns der Erzähler willkommen: St. Franky, ein dem Bier erlegener Mönch und nunmehriger Engel, der die Episoden einleitet und dabei immer besoffener wird. Schon auf der zweiten Seite folgt das formatfüllende Bildnis Gottes: ein dicker, haariger, nur mit hautengem Slip bestückter Kerl (auf dem Sack prangt die Aufschrift God) mit langer Matte und Bart, Typus Bauarbeiter mit Metal-Affinität. Glückselig hüpft er von Wolke zu Wolke und bejubelt sich selbst: „Ha! Ha! Ha! Ich bin der große Weltenschöpfer!“ Selbstmitleid ist ihm nicht fremd, sei es, wenn er hypernervös Maria zu becircen versucht oder seine Depressionen auf Tequila, Pilzen und Koks wegquatscht („Am liebsten hätte ich ja Musik gemacht …“). Das Ganze leitet St. Franky so ein: „Viele von euch wollen mehr erfahren über die Begegnung von Gott und Maria … Dazu habe ich jede Menge SMS bekommen. Und auch welche, die anfragen, ob Gott ein Rechter ist … Das geht euch aber nichts an!“

Der Tonfall wird bleiben, nicht jedoch der Stil. Episodisch arbeitet sich Winshluss an den Höhepunkten des Bibeltextes ab – Schöpfungsgeschichte, Adam und Eva, Kreuzigung Jesu, Tag des Jüngsten Gerichts und so weiter – und passt die Zeichnungen dem jeweiligen Format an. Das sind mal Werbeanzeigen oder Detektivgeschichten, Fünfziger-Jahre-Monsterparanoia-Movies oder Superheldenparodien (God vs. Superman!). Seine alternativen Geschichtsschreibungen sind in puncto Ideenvielfalt nicht minder originell als das Original: Vielleicht lässt sich die Auferstehung Jesu mittels der beiden Römer erklären, die, statt seine Grabstätte zu verschließen und zu bewachen, lieber saufen gegangen sind, woraufhin ein Bär Jesus’ Überreste fraß und ein zufällig des Weges strauchelnder Bettler namens José den traumatisierten und deswegen leichtgläubigen Jüngern ein geeigneter Ersatz war („Hallo Jungs, ich heiße José und bin obdachlos.“ – „JESUS!?!“). Zwischendurch informiert eine Werbeanzeige: „Die Wege des Herrn sind unergründlich … die der Chorknaben allerdings nicht! Optimale Penetration bei größter Diskretion: Gleitmittel Vatikan!“ Eine weitere preist „Das Leiden Christi“ an: das präzise Modell des heiligen Kreuzes zum Selberbauen. Während sich zwei Kinder blutig ans Kreuz schlagen, frohlocken die Eltern im Hintergrund: „Sieh doch, Schatz. Sind sie nicht süß?! … Sollen wir noch eine dritte Nummer schieben …?“

So begrüßenswert die Institutionalisierung des Comics auch ist, weil sie langfristig möglicherweise mehr als nur einer Handvoll Künstler/innen ein regelmäßiges Einkommen ermöglicht, so vorhersehbar ist auch, dass eine großangelegte Leck-mich-Attitüde wie die Winshluss’ an den Hochschulen, die nun mal das Trainingscenter für den Markt sind, keine Chance hat. Gottlob wird selbiger noch nicht in Gänze von Weh und Weihe der Controller gesteuert.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 8/2016

Winshluss: In God We Trust
Aus dem Französischen von Uli Pröfrock.
Avant Verlag, Berlin 2016, 104 Seiten, 29,95 Euro

(Alle Bilder: © Avant Verlag)

Tief im Westen tanzt der Kongress

( , Regie: )

Notizen zu Film & Musik
von Ulrich Kriest

  Schwarz-weiße Bilder. Ein Musikvideo. Der Name der Band: Stabil Elite. Der Name des Songs: „Spumante“. Was macht denn Bibiana Beglau in Athen? Offensichtlich ziemlich genervt und zudem noch im …

 

Schwarz-weiße Bilder. Ein Musikvideo. Der Name der Band: Stabil Elite. Der Name des Songs: „Spumante“. Was macht denn Bibiana Beglau in Athen? Offensichtlich ziemlich genervt und zudem noch im schweren dunklen Wollmantel und groß dimensionierter Sonnenbrille unpassend gekleidet und mit falschem Schuhwerk ausgestattet, erklimmt sie die von Touristen okkupierte Baustelle namens Akropolis, während der Sänger der jungen Düsseldorfer Elektro-Pop-Band Stabil Elite sich zu E-Piano-Akkorden, Handclaps und federndem Rhythmus darüber wundert, dass die Diplomaten noch da sind: „Ein Stückchen Inklusion, ein Trinkspruch im Garten.“ Ein bärtiger, untersetzter Mann scheint Beglau zu folgen, während im Refrain des Songs jetzt von einem Gläschen Spumante auf einem Kongress die Rede ist. Gesungen auf italienisch! Während des folgenden Saxophon-Solos (!) blättert die namenlose Frau in einem alten Buch über die Antike und die griechische Mythologie, zwischen Seiten finden sich getrocknete Gräser und Blüten. Als nach zweieinhalb Minuten die Musik plötzlich abgeblendet wird, erhält der Zuschauer die Gelegenheit, Fetzen eines Telefonats zu belauschen: „Na, die hängen überall rum. Auf den Parkbänken, vor allem am Strand, da macht es überhaupt keinen Spaß mehr, lang zu gehen. (…) Natürlich interessiert ihn das nicht. Der macht das, Quatsch!, der macht das, weil sein Vater damals im Auswärtigen Amt ein hohes Tier war. Der hat ihn da irgendwie reingeschubst. (…) Der hasst Brüssel!“ Während die Musik jetzt wieder hochgezogen wird, sieht man Beglau ein Eis essen und dabei mit dem Effekt spielen, dass man bei gehörigen Außentemperaturen jetzt richtig fauchen kann. Wie ein Drache? Der Song „Spumante“ endet mit einer Totale über die Metropole Athen.

Es folgt ein irrwitziges Zwischenspiel ohne Musik. Es ist Abend, die Frau und der Mann, der offenbar als einheimischer Begleiter (oder Leibwächter?) fungiert, sitzen in einem Straßen-Café. Der Mann hat gerade mit dem Ehemann der Frau telefoniert und teilt mit, dass sich der Aufenthalt in Athen um zwei oder drei Tage verlängern wird. Die Frau, rauchend, reagiert ennuiert: „Es ist so sinnlos. Ich habe doch eine Verabredung. Ich will nicht hierbleiben! Das ist bescheuert. Why all the people come here? It makes no sense. Here is nothing.“ Und dann erzählt sie ihrem Begleiter von der alten Sage aus Griechenland, vom Lethetrank, der die Flüchtlinge, die übers Mittelmeer kommen, alles vergessen lässt, weshalb es doch eine gute Idee wäre, wenn die Flüchtlinge nach ihrer Ankunft erst einmal griechische Kultur lernen. Also: Sirtaki. Sie könnten Geld verdienen, wenn sie auf der Straße tanzen. Eine gute Idee: die Sprache lernen und auf der Straße tanzen. Die Frau ist ganz begeistert von ihrem Plan. Da war doch dieser alte Schwarzweiß-Film: „Alexis Sorbas“. „So, that´s your culture!“ Der Begleiter bewahrt die Fassung, verabschiedet sich „for a second“ und begibt sich ins Innere des Cafés, wo offenbar ein Fußballspiel übertragen wird. Die Frau bleibt am Tisch zurück. Rauchend und trinkend, während jetzt erneut Musik einsetzt: Synthesizer und Keyboards. Titel des Songs: „Alles wird gut“. Es beginnt mit einer Autofahrt durch Athen. Schlagzeugeinsatz: „Da waren die Berge, da war das Meer. Da war das Land – und am Ende war es das wert. Was sind schon 1000 Tage für einen Vollzug. Alles wird gut.“ Dazu sieht man die Frau durch die Stadt streifen, kurz eine Katze jagen, am Meer stehen – und schließlich, als die Dunkelheit hereinbricht, auf ihre Idee vom Sirtaki zurückkommen. Dazu wieder ein Saxophon-Solo.

Zwei perfekte Popsongs mit offenkundigen 1980er- und Yacht-Rock-Referenzen. Regie beim Videoclip führte der bekannte Film- und Werbefilm-Regisseur Jan Bonny („Gegenüber“; „Polizeiruf 110 – Der Tod macht Engel aus uns allen“), der mit den Mitgliedern von Stabil Elite über diverse Arbeits- und Bekanntschaftsverhältnisse in der Düsseldorfer Kunstszene verbandelt ist. 2016 gewann Bonny bei den Oberhausener Kurzfilmtagen für sein Musikvideo zu „Boogiemann“ von Olli Schulz den „MuVi-Online-Publikumspreis“. Auch sehr sehenswert.

Die Band Stabil Elite ist bekannt dafür, dass sie mit sehr offenen, bestenfalls andeutenden Texten arbeitet. Als man die Zusammenarbeit mit Bonny begann, wurde über mögliche unterschiedliche Formate diskutiert, auch über ein Performance-Video. Die Idee, das Musikvideo mit Bibiana Beglau in Athen zu drehen, hatte schließlich der Filmemacher. Was im Musikstück nur angedeutet wird, nämlich die Existenz einer Parallelgesellschaft der internationalen Diplomatie und ihrer Familienangehörigen, wird durch das Musikvideo auf recht humorvolle Weise zugespitzt und vereindeutigt. Der mit der Krise verbundene Krisen-Tourismus taucht sonst im öffentlichen Diskurs nicht auf. Der Film, der teurer aussieht als er war, ist also wesentlich deutlicher, unmissverständlicher und auch forciert komischer als das Musikstück, das die Grundlage gewesen ist. 16357 Aufrufe bei YouTube, 90 Likes, 2 Dislikes. Vor nicht allzu langer Zeit veröffentlichten Stabil Elite ein neues Musikvideo zu ihrem Album „Spumante“, wieder mit Bibiana Beglau, wieder unter der Regie von Jan Bonny. „Tief im Westen“ ist eine Mischung aus Electro-Afro-Beats und dem Keyboard-Intro von Stevie Wonders „I just called to say“, also eine ziemlich scharfe Mischung zu den Textzeilen „Dort, wo der Hochmut wohnt, tief im Westen. Ich geb mein letztes Hemd, gib mir dein Bestes!“, was natürlich ironisch Grönemeyer ins intertextuelle Spiel zwingt. Die Bilder dazu sind ungleich geheimnisvoller ausgefallen als beim Vorgänger. Bislang haben 4708 User das YouTube-Video aufgerufen. 33 Likes. Wie verhält sich der Aufwand der Kunst zu ihrer öffentlichen Resonanz? Und wie lange ist das (noch) durchzuhalten?

* * *

Und gleich noch ein Beispiel für interkulturelle Selbstermächtigung. Als der Filmemacher und PETA-Aktivist Eli Roth vor ein paar Jahren mit „The Green Inferno“ dem Trash-Genre des Kannibalen-Films eine zwar gehörig auf den Magen schlagende Hommage verpasste, aber auf den üblichen Tier-Snuff-Porno-Quatsch verzichtete, kam der Film nicht über Leinwände des Fantasy Film Fests hinaus. Wohl wissend um den Reiz, dass die Klassiker des Genres wie „Cannibal Holocaust“ von Komponisten wie Riz Ortolani eine Filmmusik verpasst bekamen, deren süßlich-hypnotische Mischung aus Easy Listening, Exotica und Psychedelia in krassem, aber stets reizvollen Gegensatz zur Drastik der Bilder stand, haben die Stuttgarter Genre- und Musik-Connaisseure Christian Bluthardt (a.k.a. Cristiano Sangueduro) und Ivy Pop (a.k.a. Ivana Cristina Carereccia) unter dem Nome de plume Mondo Sague nun hingebungsvoll und kenntnisreich einen exemplarischen wie essentiellen Soundtrack zum Klassiker „L´Isola dei Dannati“ (1978) gebastelt. Da der Film den Nachteil hat, niemals gedreht worden zu sein, müssen Songtitel wie „In Doccia con Laura“, „Non Siamo Soli“ oder „La Castrazione di Frank“ die Bilder ersetzen. Das Ganze erscheint auf Vinyl mit schöner Cover-Gestaltung (Hallo, Ursula Andress!) und beiliegendem Filmplakat beim einschlägigen Kennerlabel „Allscore“ in Stoccarda.

Stabil Elite: Spumante (Italic Records)
Mondo Sangue: L´Isola dei Dannati (Allscore)

Die besten Filme des Jahres 2016

( , Regie: )


von

Die 20 Lieblingsfilme 2016 unserer Kritiker/innen: 1. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 897 2. Wild (R: Nicolette Krebitz) 494 3. Cemetery Of Splendour (R: A. Weerasethakul) 365 4. The Hateful …

Die 20 Lieblingsfilme 2016 unserer Kritiker/innen:
1. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 897
2. Wild (R: Nicolette Krebitz) 494
3. Cemetery Of Splendour (R: A. Weerasethakul) 365
4. The Hateful Eight (R: Quentin Tarantino) 302
5. The Lobster (R: Yorgos Lanthimos) 261
6. The Big Short (R: Adam McKay) 260
7. Arrival (R: Denis Villeneuve) 258
8. Right Now, Wrong Then (R: Hong Sang-soo) 256
9. Paterson (R: Jim Jarmusch) 215
10. Wiener Dog (R: Todd Solondz) 187
11. Zoomania (R: B. Howard, R. Moore, J. Bush) 187
12. Vor der Morgenröte (R: Maria Schrader) 186
13. The Revenant (R: Alejandro González Iñárritu) 186
14. L’Avenir (R: Mia Hansen-Love) 184
15. Son Of Saul (R: László Nemes Jeles) 184
16. The Whispering Star (R: Sion Sono) 182
17. American Honey (R: Andrea Arnold) 181
18. Captain Fantastic (R: Matt Ross) 179
19. Hail, Caesar! (R: Ethan Coen, Joel Coen) 175
20. Marketa Lazarova (R: Frantisek Vlacil) 171

* * *

Ricardo Brunn
1. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 98/100
2. Alles andere zeigt die Zeit (D 2015, R: A. Voigt) 96/100
3. Cemetery Of Splendour (R: A. Weerasethakul) 92/100
4. Vor der Morgenröte (R: Maria Schrader) 91/100
5. The Neon Demon (R: Nicolas W. Refn) 88/100
6. Dieses Sommergefühl (R: Mikhael Hers) 85/100
7. Arrival (R: Denis Villeneuve) 83/100
8. Wild (R: Nicolette Krebitz) 81/100
9. Der Wert des Menschen (R: Stéphane Brizé) 75/100
10. Mikro & Sprit (R: Michel Gondry) 71/100

Carsten Happe
1. Raum (R: Lenny Abrahamson) 87
2. American Honey (R: Andrea Arnold) 85
3. Captain Fantastic (R: Matt Ross) 84
4. Rogue One: A Star Wars Story (R: G. Edwards) 82
5. Arrival (R: Denis Villeneuve) 80
6. The Nice Guys (R: Shane Black) 79
7. Midnight Special (R: Jeff Nichols) 77
8. 10 Cloverfield Lane (R: Dan Trachtenberg) 75
9. Wild (R: Nicolette Krebitz) 74
10. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 72

Marit Hofmann
1. The Lobster (R: Yorgos Lanthimos) 97
2. American Honey (R: Andrea Arnold) 96
3. Cemetery Of Splendour (R: A. Weerasethakul) 95
4. Sonita (R: Rokhsareh Ghaemmaghami) 94
5. Chevalier (R: Athina R. Tsangari) 93
6. Les Sauteurs (R: A. B. Sidibé, E. Wagner, M. Siebert) 92
7. Gestrandet (R: Lisei Caspers) 90
8. Safari (R: Ulrich Seidl) 85
9. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 84
10. Nocturnal Animals (R: Tom Ford) 79

Sven Jachmann
1. The Big Short (R: Adam McKay) 90
2. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 90
3. Der Bunker (R: Nikias Chryssos) 85
4. The Lobster (R: Yorgos Lanthimos) 85
5. Raving Iran (R: Susanne Regina Meures) 80
6. The Witch (R: Robert Eggers) 80
7. Wild (R: Nicolette Krebitz) 80
8. Wiener Dog (R: Todd Solondz) 75
9. The Hateful Eight (R: Quentin Tarantino) 70
10. Der Nachtmahr (R: Akiz) 70

Jürgen Kiontke
1. Théo und Hugo (R: O. Ducastel, J. Martineau) 95
2. Saint Amour (R: B. Delépine, G. Kervern) 90
3. Grüße aus Fukushima (R: Doris Dörrie) 85
4. National Bird (R: Sonia Kennebeck) 80
5. Monsieur Chocolat (R: Roschdy Zem) 75
6. The True Cost – Der Preis der Mode (R: A. Morgan) 70
7. Sonita (R: R. Ghaemmaghami) 65
8. Urmila (R: Susan Gluth) 60
9. Sumé – The Sound of a Revolution (R: Inuk S. Hoegh) 55
10. Colonia Dignidad (R: F. Gallenberger) 50

Ekkehard Knörer (in „Cargo“)
1. Cemetery Of Splendour (R: A. Weerasethakul) 93
2. L’Avenir (R: Mia Hansen-Love) 89
3. Bella e perduta (R: Pietro Marcello) 89
4. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 87
5. Die Geträumten (R: Ruth Beckermann) 86
6. Salt and Fire (R: Werner Herzog) 83
7. Right Now, Wrong Then (R: Hong Sang-soo) 82
8. Marketa Lazarova (R: Frantisek Vlacil) 81
9. The Big Short (R: Adam McKay) 80
10. Hail, Caesar! (R: Ethan Coen, Joel Coen) 80

Ulrich Kriest
1. L’Avenir (R: Mia Hansen-Love) 95
2. Overgames (R: Lutz Dammbeck) 94
3. Wild (R: Nicolette Krebitz) 93
4. Louder than Bombs (R: Joachim Trier) 90
5. Son Of Saul (R: László Nemes Jeles) 85
6. Paterson (R: Jim Jarmusch) 84
7. Die Prüfung (R: Till Harms) 81
8. Love & Friendship (R: Whit Stillman) 80
9. Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte (R: C. Belz) 72
10. Alipato – The Brief Life of an Ember (R: Khavn) 70

Außerdem: 11. The Forbidden Room (R: Guy Maddin, Evan Johnson) 65, 12. Wiener Dog (R: Todd Solondz) 63, 13. The Assassin (R: Hou Hsiao-hsien) 61, 14. Tschick (R: Fatih Akin) 60, 15. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 60

Top 10 2016 (Dokumentar-/Essayfilm): Overgames, Die Prüfung, Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte, Cahier africain, Landstück, Feuer bewahren – Nicht Asche anbeten, Heart of a Dog, Safari, Im Strahl der Sonne, Wer ist Oda Jaune?

Wolfgang Nierlin
1. Das unbekannte Mädchen (R: J.-P. und Luc Dardenne) 98
2. Paterson (R: Jim Jarmusch) 95
3. Vor der Morgenröte (R: Maria Schrader) 95
4. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 95
5. Der Wert des Menschen (R: Stéphane Brizé) 92
6. Wiener Dog (R: Todd Solondz) 92
7. Schneider vs. Bax (R: Alex van Warmerdam) 92
8. Im Schatten der Frauen (R: Philippe Garrel) 90
9. Right Now, Wrong Then (R: Hong Sang-soo) 90
10. Heart of a dog (R: Laurie Anderson) 85

Julia Olbrich
1. Zoomania (R: B. Howard, R. Moore, J. Bush) 100
2. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 100
3. Vaiana (R: Ron Clements, John Musker) 90
4. Spotlight (R: Tom McCarthy) 80
5. Findet Dorie (R: A. Stanton, A. MacLane) 77
6. Willkommen bei den Hartmanns (R: S. Verhoeven) 75
7. Dope (R: Rick Famuyiwa) 75
8. How to be single (R: Christian Ditter) 75
9. Sausage Party (R: G. Tiernan, C. Vernon) 70
10. Freeheld (R: Peter Sollett) 65

Manfred Riepe
1. The Whispering Star (R: Sion Sono) 100
2. The Big Short (R: Adam McKay) 90
3. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 80
4. Frantz (R: Francois Ozon) 70
5. Julieta (R: Pedro Almodóvar) 60
6. Café Belgica (R: Felix Van Groeningen) 50
7. Hail, Caesar! (R: Ethan Coen, Joel Coen) 40
8. Spotlight (R: Tom McCarthy) 30
9. Wiener Dog (R: Todd Solondz) 20
10. Raum (R: Lenny Abrahamson) 10

Michael Schleeh
1. Baahubali (R: S.S. Rajamouli) 92
2. The Hateful Eight (R: Quentin Tarantino) 90
3. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 88
4, Wild (R: Nicolette Krebitz) 86
5. The Revenant (R: Alejandro G. Iñárritu) 85
6. Cemetery Of Splendour (R: A. Weerasethakul) 85
7. Right Now, Wrong Then (R: Hong Sang-soo) 84
8. Sweet Bean (R: Naomi Kawase) 83
9. The Whispering Star (R: Sion Sono) 82
10. The Assassin (R: Hou Hsiao-hsien) 80

Harald Steinwender
1. Son of Saul (R: László Nemes) 99
2. Die Hände meiner Mutter (R: Florian Eichinger) 99
3. Arrival (R: Denis Villeneuve) 95
4. Captain Fantastic (R: Matt Ross) 95
5. Marketa Lazarová (R: Frantisek Vlacil) 90
6. Green Room (R: Jeremy Saulnier) 90
7. The Revenant (R: Alejandro G. Iñárritu) 85
8. The Hateful Eight (R: Quentin Tarantino) 85
9. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 85
10. The Neon Demon (R: Nicolas W. Refn) 80

Andreas Thomas
1. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 90
2. Zoomania (R: B. Howard, R. Moore, J. Bush) 87
3. Wild (R: Nicolette Krebitz) 80
4. The Hateful Eight (R: Quentin Tarantino) 57
5. Hail, Caesar! (R: Ethan Coen, Joel Coen) 55
6. Paterson (R: Jim Jarmusch) 36
7. The Revenant (R: Alejandro G. Iñárritu) 16
8. N/A
9. N/A
10. N/A