Archiv der Kategorie: Filmkritik

Workers

(D / ME 2013, Regie: José Luis Valle)

Versehrte Helden
von Wolfgang Nierlin

Die Spannung in den genau komponierten Bildern von José Luis Valles beachtlichem Spielfilmdebüt „Workers“ resultiert zum einen aus den vielfältigen Beziehungen zwischen den Bildelementen, zwischen Vorder- und Hintergrund; zum anderen …

Die Spannung in den genau komponierten Bildern von José Luis Valles beachtlichem Spielfilmdebüt „Workers“ resultiert zum einen aus den vielfältigen Beziehungen zwischen den Bildelementen, zwischen Vorder- und Hintergrund; zum anderen aus einem verzögerten Informationsfluss in den langen Einstellungen. Das gilt im Übrigen auch für den ganzen Film, dessen Zusammenhänge erst nach und nach sichtbar werden. Valles indirekter Erzählstil verlagert immer wieder die Aufmerksamkeit und bewirkt dadurch überraschende Wendungen. Sein unaufgeregter, lakonischer Tonfall unterstreicht überdies die Verlorenheit der Figuren in einem eintönigen, beschädigten Leben.

In zwei parallelen Handlungssträngen erzählt der Film von Rafael (Jesús Padilla) und Lidia (Susana Salazar), die vor vielen Jahren einmal ein Paar waren, bevor sie durch eine traumatische Erfahrung getrennt wurden. Jetzt steht der wortkarge Raumpfleger, der in einem Trailerpark wohnt, nach dreißig Arbeitsjahren kurz vor der Pension. Diese wird dem „Illegalen“ aus El Salvador in Mexiko aber verweigert. Auch Lidia, die seit 35 Jahren als Haushälterin in einer großen Luxusvilla am Meer von Tijuana arbeitet, kann nicht einfach in den Ruhestand gehen, als die reiche Señora stirbt. Vielmehr soll das gesamte Personal weiterhin der Haupterbin, einer Windhündin namens „Prinzessin“, zu Diensten sein.

Als Gefangene des alltäglichen Trotts in einem freudlosen Leben sinnen die Protagonisten insgeheim auf Rache, um sich ihr Recht zu verschaffen und ihre Würde zu wahren. „Mein Leben ist vorbei und ich hatte nie etwas“, sagt Lidia stellvertretend für ihre Kollegen einmal über die Erfahrung von Armut und Ausbeutung angesichts der vergehenden Zeit. Illusionslos und genau situiert Valle seine versehrten Helden überdies in der sie umgebenden Gesellschaft. Doch trotz aller existentiellen Tristesse gewährt er ihnen am Ende eine kleine subversive Utopie, vielleicht sogar einen späten Neubeginn.

Una Noche – Eine Nacht in Havanna

(GB / CU / USA 2012, Regie: Lucy Mulloy)

Schutzlose Körper
von Wolfgang Nierlin

Übermütig springen die Kinder und Jugendlichen von einer Mauer ins strahlend blaue Meer, hängen sich waghalsig auf ihren Fahrrädern an fahrende Autos oder tanzen auf der Straße. Lebenslust, Körperlichkeit und …

Übermütig springen die Kinder und Jugendlichen von einer Mauer ins strahlend blaue Meer, hängen sich waghalsig auf ihren Fahrrädern an fahrende Autos oder tanzen auf der Straße. Lebenslust, Körperlichkeit und Sex, eingefangen in einem unmittelbaren, dokumentarischen Stil, vermitteln etwas von den helleren Seiten der kubanischen Hauptstadt Havanna. In ihrem sinnlich-prallen Debütfilm „Una noche“ zeigt Lucy Mulloy aber auch die Schattenseiten der Wirklichkeit: Armut und heruntergekommene Wohnungen, Schwarzmarktgeschäfte und Tauschhandel, Prostitution und polizeiliche Überwachung. In den Fluchtbewegungen der Protagonisten erscheint Havanna immer wieder als kaputte, labyrinthische Stadtlandschaft voller Verstecke. Doch eine allgemeine Perspektivlosigkeit lastet über allem.

„Es gibt keine Veränderung“, sagt die junge Lila einmal aus dem Off. Dabei ist der Traum von einer anderen, hoffnungsvolleren Welt stets gegenwärtig und manchmal fast real zu greifen. Nachdenklich und melancholisch erzählt das Mädchen von sich und ihrem innig geliebten Zwillingsbruder Elio, der sich von ihr entfernt, als er dem gleichaltrigen Raúl begegnet. Die beiden arbeiten in einer Hotelküche und planen heimlich die Flucht in das nur 90 Meilen entfernte Miami. Während sie alte Autoschläuche, Bretter und einen Motor für ihr primitives Floß organisieren, erzählt Lucy Mulloy auch von familiären Konflikten, von schwierigen Entscheidungen und zarten Liebesbanden.

Nach einigen dramatischen Verwicklungen und Fluchten erscheint die gefährliche Überfahrt zunächst wie ein Endpunkt im Grenzenlosen. Zugleich wirkt die sehr spontane und improvisierte Unternehmung irgendwie unwirklich. Fast ohne Hilfsmittel begeben sich die drei Jugendlichen auf ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Dabei ist die Nähe ihrer nackten, schutzlosen Körper auf engstem Raum fast alles, was sie haben gegen die Weite des Meeres, das zugleich Fluch und Versprechen ist.

X-Men: Zukunft ist Vergangenheit

(USA 2014, Regie: Bryan Singer)

Schweben und schweben lassen (und ein Fläschchen Zeit)
von Drehli Robnik

Dieser Film bietet viel (manches davon durchaus wert, es anzunehmen). Zumal tut er das per Fusion zweier Zeitebenen der X-Men-Saga. Unter dem Titel 'X-Men: Days of Future Past' bzw. 'X-Men: …

Dieser Film bietet viel (manches davon durchaus wert, es anzunehmen). Zumal tut er das per Fusion zweier Zeitebenen der X-Men-Saga. Unter dem Titel 'X-Men: Days of Future Past' bzw. 'X-Men: Zukunft ist Vergangenheit' scheint die Zeit zunächst als großes Füllhorn zu fungieren, aus dem es Goodies regnet. Zwei Zeiten heißen dieser Logik zufolge eben zunächst: doppelt so viele Figuren!

Es treten also auf: ein zwergwüchsiger Mutantenhasser und Kampfroboterentwickler, des Weiteren das junge Ich jenes experimentierfreudigen Offiziers, der Wolverine sein Stahlskelett-Trauma verpasst hat bzw. haben wird, sowie der historische US-Präsident mit dem Franchise-adäquatem Schurkenstatus, Pfrnak im Gesicht und X im Namen – Nixon heißt er – im military-industrial-complex-Plot, der anno 1973 spielt (und zwar zunächst in Paris, bei den Verhandlungen, die das US-Engagement in Vietnam beenden).

Dann sind superheroische Akteur*innen im Spiel, die seit dem Abschluss der linear ablaufenden X-Men-Trilogie anno 2006 nicht mehr mit dabei waren, so etwa Halle Berry als Storm oder Anna Paquin als Rogue; ihr Ort ist ein düsteres, irgendwie billig dekoriert wirkendes Tempelgelände in China, wo der Zeitreise-Plot seinen Ausgang nimmt und der eine, weitaus schwächere Strang der ineinander montierten Showdowns stattfindet.

Relevanter allerdings ist das Auftreten von Regulars in Doppelbesetzung: Ian McKellen und Michael Fassbender als alter und junger Magneto, Patrick Stewart und James McAvoy als Professor Xavier im Zwiegespräch mit sich (und mit Stoppel- bzw. Vollbart). Überhaupt zählt in diesem Film die Kampfkunst der Überredung viel; und da zeigt sich vielleicht am deutlichsten, was es wert ist, dass hier mit Bryan Singer derjenige Regisseur tätig ist, der anno 2000 das X-Men-Kinofilm-Franchise begonnen hat (und der 2003 mit 'X-2' den vermutlich besten Film der Reihe vorgelegt hat; den besten neben 'X-Men First Class', mit dem 2011, in der Regie von Matt Vaughn, die zur Zeit der Kubakrise 1962 jungen Xavier, Mystique und Magneto eingeführt und die schmerzlichen Themen einer Herkunft aus dem Holocaust fortgeführt worden waren).

Singer brilliert in seiner dritten X-Men-Inszenierung weniger als Actionregisseur – das hat er eher bei den schwindelerregenden Fallhöhenspielen im Vorjahrs-Fantasyfilm 'Jack the Giant Slayer' getan – denn als einer, der auch an ausufernden Rededuellen noch deren handlungs- und selbstverhältnisethischen Gehalt herauszustellen vermag. (An diesem Punkt werden auch Kontinua mit älteren Singer-Filmen deutlich: Was sind 'The Usual Suspects' und vor allem der ins Mutantisch-Versehrte gequeerte Stauffenberg-Film 'Valkyrie – Operation Walküre' anderes als Dramen, in denen versucht wird, jemanden, zum Teil auch mittels eindrucksvoller Fingierungen, zu überreden?)

Alles läuft auf prekäre und riskante Konstruktionen und auf die Notwendigkeit zu, diese auszuhalten, einzuhalten, aufrecht zu erhalten – eben gerade in ihrer Unsicherheit, die Voraussetzung dafür ist, dass die Konstruktion nicht kollabiert: Ein Kollaps würde entweder durch Selbstzerstörung erfolgen (Xaviers zeitweise Verlotterung und Haartrachtverzottelung als Alkoholiker und Schmerzmittel-Junkie) oder, wahrscheinlicher, durch die Errichtung lückenlos fester Sozialgebäude, was die Verfolgung und Zerstörung der jeweils Störenden voraussetzt.

Im X-Men-Jargon heißt das: Vertraue der Bereitschaft der Anderen, dir zu vertrauen (auch wenn beides unsicher ist)! Akzeptiere Schmerz- und Schwebezustände anstelle totaler Sicherheit und Integrität. Neben dem mittlerweile zum Hollywood-Standard gewordenen Imperativ, sich dem eigenen Trauma zu stellen, gewinnt solches Ethos hier doch einige spannende Facetten, etwa anhand der X-Men-typischen Variationen auf Coming out-Themen, anhand Xaviers Entscheidung, seine menschlich gesunden Beine für sein mutantisches Netzwerkgehirn zu opfern, generell anhand der komplizierten Franktionierungen und kurzzeitig gegen gemeinsamen Außenfeinde konstellierten Bündnisse und sonstigen Zweck-Setzungen; da reißt es vor allem Mystique, vormals Raven, ziemlich herum. Jennifer Lawrence spielt diese Figur – 2000 bis 2006 von Rebecca Romijn als süffisanter blaubusiger Vamp angelegt – als veritable Leidensikone. (Naja, und Logan vulgo Wolverine, die überschätzteste und per Spinoffs im Kino am häufigsten präsente Figur der ganzen Saga, kommt auch viel vor, muss ja.)

Zeit ist hier also auch Spaltung, immer neue Zerteilung der Figuren in ihren Beziehungen zu sich und zueinander. Zeit ist aber auch, was rasch vergeht und dadurch Begehren in uns weckt – sei es als den Wunsch, Momente mögen länger dauern (was ja bedeutet, dass sie grade kurz genug sind), oder als Pop- und Stil-Nostalgie. Anders gesagt: Die regelrechte Botschaft, dass es gut ist, sich im Vorläufigen und Unreinen (im Mit-Sein mit nie restlos kalkulierbaren Anderen) aufzuhalten, und falsch, aufs Totale und Erfüllte zu zielen, die gilt auch für den Film selbst: 'X-Men: Days of Future Past' macht recht gute Figur in episodisch kurzen Einzelszenen (etwa wenn Magneto mit Schlapphut ins Pentagon geht, um sich seinen hinter Panzerglas gelagerten geliebten Helm und Körperpanzer zu holen) und in witzigen Detailmomenten – so etwa in der Auffächerung des Geschehens durch Wahrnehmungsapparate, die mit dead media-Retro-Gusto ausgestellt werden: Super8-Amateurkamera-Bilder; skulpturale TV-Monitor-Wände; ein Videorecorder, der alle drei (!) bundesweiten Fernsehprogramme gleichzeitig aufzeichnen kann; ein mit Schmalfilm-Screen ausgestatteter Proto-Laptop; eine Telefonzelle, Vorläuferin des cell phone.

Unförmig, banal und schlicht hässlich ist der Film hingegen im Ganzen und dort, wo er voll aufdreht: in den Holocaust-Analogien der vom Krieg gegen Kampfroboter verdüsterten Zukunfts-Rahmenhandlung (wie aus einem 'Terminator'-Ripoff), in den Action-Kloppereien (-Dögeleien, sagt die Ösi), in den animierten Fahrten ins Innere genetischer und robotischer Körper, überhaupt bei den straighten Rein-Raus-Quasi-Kamerabewegungen, sowie im triumphalen Gestus, die Zeit als große Offenheit (Vergangenheit als unbekannte neue Welt) und zugleich als das, was alle Wunden heilt, erscheinen zu lassen: Eh kriegt er sein Mädel am Ende halb wieder, der Wolverine, und rote Haare hat sie diesmal, und ihr eifersüchtiger Gemahl ist auch gleich mit Argusaugen dabei…

Wie gesagt: Nicht im Straighten und im Heilen findet dieser Film sein Glück, sondern in Schwebezuständen. Und die werden auch im physischen Sinn anschaulich: etwa wenn Magneto aufsteigt, um sogleich ein ganzes, gänzlich leeres Stahlbeton-Sportstadion vom Boden loszureißen und mit hoch zu nehmen (das dann, als Paraphrase auf den Ring des Pentagon und die im Film ausgiebig bildwirksame Frühsiebziger-Brutalismus-Architektur, als ringförmige Abschottung des Weißen Hauses dienen wird); oder wenn – und auch hierin hallt die irre White House-Szene vom Beginn von 'X-2' ebenso nach wie die in suspense hochgehobenen Kalter-Kriegs-Flotten oder die Hakenkreuzmünze im Zeitlupenflug in 'X-Men: First Class' – ein junger mutierter Pink Floyd-Fan mit etwas anachronistischer Varsity-Jacke und der Fähigkeit, Sekundenbruchteile zu seiner endlosen Zeit-Spielwiese auszudehnen, einen eingefrorenen Moment lang durch einen Raum im Pentagon saust und schwebt und die fast reglosen Menschlein und endlos dahinfliegenden Revolverkugeln neu arrangiert, während dazu Jim Croces zarte Ballade 'If I Had Time in a Bottle' erklingt.

Lügen macht erfinderisch

(USA 2009, Regie: Ricky Gervais, Matthew Robinson)

Lügen, 24 mal in der Sekunde
von Harald Steinwender

In einer Parallelwelt, in der die Menschheit nie die Fähigkeit zu lügen erlernt hat, vertrödelt der Drehbuchautor Mark Bellison (Ricky Gervais) sein ereignisloses Leben. Als Mark sich in die unnahbare …

In einer Parallelwelt, in der die Menschheit nie die Fähigkeit zu lügen erlernt hat, vertrödelt der Drehbuchautor Mark Bellison (Ricky Gervais) sein ereignisloses Leben. Als Mark sich in die unnahbare Anna (Jennifer Garner) verliebt und von seinem Arbeitgeber gefeuert wird, vollbringt er das Unmögliche: Er lügt. Rasch verschafft ihm seine neue Begabung Reichtum, ungeahnten Erfolg bei den Frauen und ein berufliches Alleinstellungsmerkmal, das ihn zum besten Drehbuchautor der Welt macht. Als er obendrein zum Religionsstifter wird, gerät Marks Leben endgültig aus den Fugen.

Wie sähe eine Welt aus, in der das Lügen gänzlich unbekannt ist? Im Großen und Ganzen kaum anders als unsere heutige Welt. Das zumindest behaupten Ricky Gervais („The Office“) und Matthew Robinson in ihrer gemeinsam inszenierten Fantasykomödie „The Invention of Lying” („Lügen macht erfinderisch“). Der wesentliche Unterschied: Der Umgangston ist deutlich rauer. Da ist es an der Tagesordnung, dass wildfremde Menschen dem Protagonisten unverlangt mitteilen, er sei fett und unsympathisch oder er selbst einem suizidalen Bekannten zum Selbstmord als einzigem Ausweg aus seiner Misere rät. Und noch etwas ist anders in dieser Welt: Ohne die Lüge gibt es keine Fiktion. So existiert das Kino einzig in der Form dröger Geschichtslektionen, die statisch abgefilmt von oberlehrerhaften Dozenten vorgetragen werden. Und Mark hat das Pech, ausgerechnet die Pestjahre des dunklen Mittelalters adaptieren zu müssen.

Mit skurrilen Ideen und voller selbstreflexiver und antiillusorischer Verweise auf die Film- und Fernsehindustrie eröffnet das Regisseursgespann Ricky Gervais und Matthew Robinson ihre sarkastische Fiktion. Doch leider stagniert die Komödie nach dieser fulminanten Exposition. Es gelingt den beiden Regiedebütanten nicht, ihre teils sehr amüsanten Einzelepisoden zu einer wirklich originellen und kohärenten Geschichte zu verbinden. Ein Regisseur wie Michel Gondry hätte die Ausgangsidee wohl genutzt, um eine verschrobene Welt mit den ihr eigenen Spielregeln zu erschaffen. „Lügen macht erfinderisch“ dagegen entwickelt sich bald zur vorhersehbaren romantischen Komödie, in der die Verkupplung des von Ricky Gervais und Jennifer Garner gespielten Paars den Dreh- und Angelpunkt des Plots bildet.

Überraschend bleiben allenfalls einige an Monty Pythons „Life of Brian“ („Das Leben des Brian“; 1979) geschulte absurd-subversive Tiefschläge gegen die monotheistischen Religionen. Daneben bietet „Lügen macht erfinderisch“ amüsante Gastauftritte von Schauspielerkollegen wie Rob Lowe, Philip Seymour Hoffman und Edward Norton, die sich, in der Maske teils bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet, zum Affen machen. Als weitgehend anspruchsloser Spaß bleibt die Komödie jedoch deutlich hinter ihrer fast philosophischen Prämisse zurück.

Diese Kritik ist zuerst erschienen auf www.br.de

Fall 39

(USA 2009, Regie: Christian Alvart)

Who Can Kill a Child?
von Harald Steinwender

Dem amerikanischen Horrorfilm sind die Ideen ausgegangen. Die Liste der offenen und verdeckten Remakes, der Sequels und Prequels, Relaunches und Updates bekannter Stoffe in den letzten Jahren ist endlos. Aus …

Dem amerikanischen Horrorfilm sind die Ideen ausgegangen. Die Liste der offenen und verdeckten Remakes, der Sequels und Prequels, Relaunches und Updates bekannter Stoffe in den letzten Jahren ist endlos. Aus der Masse der kulturindustriellen Kopien stechen als vergleichsweise originäre Spielart bestenfalls die oft als „torture porn“ abgeurteilten Varianten heraus, die „Hostel“-Filme von Eli Roth (2005/2007) oder die „Saw“-Reihe (2004-2010) etwa. Auf der Suche nach neuen Stoffen hat Hollywood auf asiatische und europäische Genreinnovatoren wie Ryûhei Kitamura („The Midnight Meat Train“; 2008) und Alexandre Aja („Mirrors“; 2008) zurückgegriffen. Mit Christian Alvart durfte sich nun auch ein deutscher Regisseur für die Paramount an einem Horrorfilm versuchen, die abgesehen von Marcus Nispels „Friday the 13th“-Remake von 2009 in den letzten Jahren kaum Genreproduktionen vorzuweisen hat.

Herausgekommen ist auch hier nur ein Potpourri bekannter Motive und mehr oder weniger gelungener Reminiszenzen als ein neuer Impuls für das Genre, das aktuell in Frankreich reüssiert. Wie in „The Omen“ („Das Omen“; 1976; Richard Donner) gibt es ein kleines Kind, süß anzusehen, doch todbringend für seine Bezugspersonen; das Thema der dämonischen Besessenheit ist u. a. in „The Exorcist“ („Der Exorzist“; 1973; William Friedkin), „Ringu“ („Ring“; 1998; Hideo Nakata) und seinen amerikanischen Remakes abgehandelt worden. Mit der Ermittler-Figur von Ian McShane (der großartige Al Swearengen aus der HBO-Serie „Deadwood“) werden Motive des Polizeifilms eingebracht, die Morde selbst sind als set-pieces mit Anklängen an die „Final Destination“-Reihe inszeniert. Und wenn die Kamera Hagen Bogdanskis, der u. a. „Das Leben der Anderen“ (2006; Florian Henckel von Donnersmarck) und „Die Unberührbare“ (2000; Oskar Roehler) fotografiert hat, das Haus einer Unterschichtfamilie erkundet, dann erscheinen die Innenräume wie in jedem x-beliebigen Backwood-Horrorfilm verwittert, mit den obligatorischen korrodierten Flächen, matter Patina, allerlei ungesundem Moder und verdächtigen Schrammen. So entsteht letztlich ein Flickwerk, das ästhetisch durch die Verwendung kalter, blaugrauer Farbtöne zusammengehalten wird, die durch den exzessiven Einsatz von Farbfiltern und durch das Setdesign nahezu alle filmischen Räume bestimmen. Schlaftabletten sind blau, Pappbecher in einer Nervenheilanstalt mit blauem Design bedruckt und Erbsen so blau-grün wie in Scorseses „The Aviator“ (2004). Manchmal wirken die Menschen wie bleiche Zierfische in einem überdimensionierten Aquarium. Und wenn die von Renée Zellweger gespielte Heldin ihr Haus in Brand setzt, dann rettet sie, was auch sonst, lieber ihren Goldfisch als ihr neues, teuflisches Adoptivkind.

Alvart hat früher das Filmmagazin X-TRO herausgegeben und nach seinem Debütfilm „Curiosity & the Cat“ (1999) mit „Antikörper“ (2005) einen deutschen Serienmörderthriller inszeniert. Fraglos kennt er sich mit der Geschichte des Genres aus. Aber ähnlich wie in „Antikörper“ bleibt hier vieles zu offensichtlich, zu durchschaubar, zu sehr auf den Effekt hin angelegt. „Antikörper“ versprach mit einem Dostojewski-Zitat am Anfang, der authentischen dörflichen Szenerie und guten Schauspielerleistungen existenziell Tiefgründiges, um letztlich als halbgare Variation von „The Silence of the Lambs“ („Das Schweigen der Lämmer“; 1991; Jonathan Demme) zu enttäuschen. Auch „Case 39“ erzählt im Kern einen für das Genre eigentlich ungewöhnlichen Stoff. Die Geschichte der Sozialarbeiterin Emily (Zellweger), die unerwartet zur alleinerziehenden Mutter wird, als sie die kleine Lillith (Jodelle Ferland) aufnimmt, ist in einem von teenage angst beherrschten Genre als Allegorie für die Überforderung einer alleinerziehenden Mutter nicht unbedingt ein Allerweltsstoff. Schnell entwickelt sich das kleine Mädchen zur veritablen häuslichen Tyrannin – Nomen est Omen: ein enfant fatal – und Freunde und Bekannte sterben auf mysteriöse Weise. Metaphorisch erzählt Alvart davon, wie der unfreiwilligen Mutter alle sozialen Kontakte wegbrechen, das Leben nur mehr an ihr vorbeirauscht, ganz wörtlich in den Szenen im Büro, in denen er Zeitraffer einsetzt. Bald erscheint jede im nervigen Singsang vorgetragene Bitte als Erpressung, eingeforderte Liebesbekundungen werden mit geheuchelten Notlügen beantwortet; am Ende steht Vereinzelung, häusliche Gewalt und Paranoia. Doch wenn Alvart dann diese Metaebene direkt thematisiert, indem er in Rückblenden von der unglücklichen Kindheit Emilys erzählt, dann vollzieht er keine Wendung zum psychologischen Horror. Es bleibt nur ein halbherziger Versuch und ein Wink mit dem Zaunpfahl für besonders begriffsstutzige Zuschauer. Was zur bösen Variante von „Rosemary’s Baby“ (1968; Roman Polanski) als Geschichte getrübter Wahrnehmung hätte werden können – und damit spielt der Regisseur mehrmals – geriert zum bierernsten Dämonenhorror. Dafür geht Alvart allerdings Sam Raimis irrwitzige Überdrehtheit ab, die selbst dem PG-13-Horrorfilm „Drag Me to Hell“ (2009) noch einen eigenen Reiz verlieh. Wenn erst einmal die Fratze des Dämons das Kindergesicht verzerrt, dann ist dem Stoff endgültig die Ambivalenz ausgetrieben. Wie viel unheimlicher war da doch Narciso Ibáñez Serradors „¿Quién puede matar a un niño?“ („Ein Kind zu töten…“; 1976), in dem wir netten, lachenden Nachbarskindern begegneten, die einen Alten einfach totschlagen und ihn dann aufzurren, um ihn mit einer Sichel bewehrt als Piñata zu verwenden. Aber die wilden 70er Jahre sind lange schon vorbei.

Was der Handlung an Tiefgang abgeht, versucht das Sounddesign mit Krawall und Dauerberieselung zu übertünchen. Immer wieder werden unerwartete Geräusche als akustische Schockmomente eingesetzt: ein Hund, der überraschend bellt; eine Hand, die urplötzlich an eine Scheibe klopft; ein Wecker, der losrasselt. Ein, zwei, vielleicht auch ein drittes Mal funktioniert das. Aber wieder und wieder den gleichen Effekt einzusetzen, bewirkt Gewöhnung und schließlich Langeweile. Einmal wird das Surround-Sounddesign effektiv eingesetzt: in einer gelungenen Szene, wohl eine Reminiszenz an „Candyman“ („Candymans Fluch“; 1992; Bernard Rose) und „The Believers“ („Das Ritual“; 1987; John Schlesinger), wenn Hornissen wütend surrend quer durch den Kinoraum rauschen und nachdrücklich zur Intensität des Terrors auf der Leinwand beitragen. Grundsätzlich aber fällt auf, wie überladen der Soundtrack ist; fast ununterbrochen klimpert, raunt oder dröhnt es. Wie viel drohender wäre da wenigstens einmal eine unerwartete Abwesenheit von Geräuschen, Musik und Atmo gewesen, statt ein weiteres Mal eine dämonische Macht gegen Türen anrennen oder Schlösser zerdreschen zu lassen, dass es nur so rumpelt und scheppert. Stilistisch erinnert der Film dabei an eine moderate Version dessen, was David Bordwell als Stil einer „intensivierten Kontinuität“ beschrieben hat: nicht eigentlich eine Abweichung vom klassischen, kausal-narrativen Stil Hollywoods, aber doch eine auffällige Dominanz von Großaufnahmen (hier als Teleeinstellungen der Protagonisten vor unscharfem Hintergrund) und scheinbar unmotivierter Kranfahrten und Aufsichten. Oder wie Mike Figgis es formulierte: „If somebody goes for a piss these days […] it’s usually a crane shot.“

Völlig verschenkt ist auch „Case 39“ nicht. Bogdanskis Kameraarbeit hat ihren Reiz, und letztlich ist der Film durchaus kurzweilig. Nur etwas Neues bekommt man nicht geboten. Aber vielleicht tut man Alvart auch unrecht, denn einige abrupte Momente lassen eine nicht ganz glückliche Produktionsgeschichte dieses Films vermuten, dessen Dreharbeiten bereits 2006 begonnen wurden. Warten wir einmal ab, denn mit „Pandorum“ hat Alvart bereits sein nächstes Projekt abgeschlossen.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Splatting Image, Nr. 79, September 2009

Godzilla

(USA / J 2014, Regie: Gareth Edwards)

Echse homo: Godzen-Dämmerung im Blackout-Blockbuster
von Drehli Robnik

Dieser „Godzilla“ hat zweierlei in großem Stil und in mehrerem Sinn: Monster und Blackouts. Der Monster hat er viele. Auch wenn man nicht groß auf die Fan-Expertise in Sachen der …

Dieser „Godzilla“ hat zweierlei in großem Stil und in mehrerem Sinn: Monster und Blackouts. Der Monster hat er viele. Auch wenn man nicht groß auf die Fan-Expertise in Sachen der vor genau sechzig Jahren gestarteten japanischen Riesenechsenfilmreihe zurückgreift (die zum Kinostart massiv in Umlauf gebracht wird) – in der medialen Erinnerung ist zumindest irgendwie präsent, dass es in diesen als kindisch geltenden fernöstlichen Produktionen oft mehrere Großgeschöpfe gab. Die befetzten sich zwischen Hochhausmodellen, und ihr Status gegenüber den Menschen war oft ambivalent: Tödlicher Feind? Heimlicher Freund? Destruktives Double? (Oder allzu verdiente Städtezertrümmerungsstrafe für böse Taten der alten, Augenklappe tragenden Kriegsherrengeneration wie in Inoshiro Hondas todernstem „Godzilla“ von 1954?)

2014 ist „Godzilla“ demonstrativ monströs: Der Film lässt die turmhohe Titelfigur gegen ein Rieseninsektenpärchen beim kernkraftbasierten – also „schnellen“ – Brüten antreten; er erweist japanischen, kunstvoll-klobigen Monster-Looks und Locations bis hin zu einem zeitversetzten Quasi-Fukushima Reverenz, und er liefert einige schlicht umwerfende Actionpanoramen mit bröckelnden Bauten oder einer Eisenbahnbrücke im nächtlichen Nebel zu Orchesterscore samt Drones und Fanfaren.

Eine weitaus kürzere Monstertradition führt zu „Monsters“, zu dem 2010 noch bescheiden gestarteten Debüt des britischen „Godzilla“-Regisseurs Gareth Edwards. „Monsters“ kam im Modus eines Liebes-Roadmovie durch eine alien-infected-zone in Mexiko daher und bezog sich in Bild- und Tonmotiven immer wieder auf „Apocalypse Now“, quasi als neokolonialer Reisefilm und insofern dunkles Schattenbild zur Traditionen des Flucht- und Dschungelfilms. (Ein Bilder-Komplex, den ‚Godzilla‘ immer wieder recht direkt ansteuert, sind die Knochenarchitektur-Designs des unlängst verstorbenen H.R. Giger in „Alien“.)

Vor allem aber warf Edwards‘ „Monsters“ – dessen Titel zu prägnant war, um nicht die Frage, wer gemeint ist, nahezulegen – einen skeptischen Blick gerade auf Grenzregimes und Notstandsverwaltungen, die beim „humanen“ Umgang mit unerwünschten – und, so zeigte sich, an sich harmlos verschmusten – Fremdexistenzen errichtet werden. Am Ende wurde das Liebesverhalten brünftiger Menschen und Monstren recht unverblümt analog gesetzt, als etwas, das jeweils von der bewaffneten Staatsmacht (und ihren Anti-Immigrationsmauern) brutal unterbunden wird.

Edwards‘ Hollywood-Einstand enthält nun Reste dieser Staatssicherheits-Kritik; er verrät viel vom Gespür des Regisseurs im Umgang mit bizarren Ruinen (zumal im Dschungel gestrandetem Kriegsgerät); er zeigt Schwärzungen nach Art von Geheimdienstakten in den Credits (die dann im Paranoia-Investigationsplot mit Bryan Cranston wiederhallen), versetzt übrigens die Anfänge von Godzillas Wiederauftauchen zurück zu den US-Atombombentests im Pazifik nach 1945 – nachdem Roland Emmerichs Hollywood-Godzilla-Film von 1998 vom Vorspann an rezenten französischen Kernwaffentests die Schuld gegeben hatte (dafür setzt Edwards‘ Vorgeschichte nun just 1999, im Jahr 1 nach Emmerichs Echse, ein); und schließlich zeigt der neue Godzilla viel US-Militär aller Waffengattungen im Großeinsatz. Mitunter kommt er da dem Echsenshooter-Gestus von Emmerichs Version (die vom Autor dieser Zeilen 1998 in der Wiener Zeitschrift Falter unter dem Titel „In Godzilla We Trust“ zu Recht verrissen wurde) zu nah. Dann wird, zumal seitens Ken Watanabe (in Japan ein Star), durch Sager mit ominösem Öko-Gleichgewichts-Pathos und Hiroshima-Vergleich eher unelegant gegengerudert.

Blackout heißt der stilistische Ausweg aus dieser ideologischen Unentschiedenheit. Um dem Handlungsschema ‚Tatmenschen vs. Volksfeind‘ zu entgehen, betont der in Japan, Honolulu, Nevada und San Francisco spielende Film seinen disaster movie-Aspekt: Tsunami, Super-GAU, Stromausfall (nicht in dieser Reihenfolge). Hinzu kommt die Art, wie Hauptfiguren jäh eliminiert und Szenen unerwartet per Schwarzblende abgebrochen oder durch die Optiken von Neben- bzw. ohnmächtigen Figuren aufgefächert werden: die Perspektiven kleiner Kinder hier, eines Schulbusfahrers dort, und immer wieder der in jedem Sinn gebrochene Blick des in ein vielstimmiges Ensemble eingebetteten Protagonisten. Der junge Mann betont, dass er sich mit Bomben nur deshalb auskennt, weil er für die US-Streitkräfte an deren Entsorgung und Entschärfung arbeitet. Gespielt wird er von Aaron Taylor-Johnson, dem hilfsbedürftigen Wannabe-Hero der „Kick-Ass“-Filme.

Zackig ist an dem immer wieder angenehm gemessen inszenierten Film letztlich nur der Rücken, den der Titelheld uns zukehrt (wie schon programmatisch auf dem Postersujet). Insgesamt präsentiert sich „Godzilla“ als der nicht allzu häufige Fall eines Blockbusters, der nicht nur malerisch ist (wie etwa Peter Jacksons unterschätzter „King Kong“), sondern oft regelrecht traumwandlerische Noten hat: frontaler Monsterauftritt in lang gehaltener, grauer Totaleinstellung mit roten Lampions im Vordergrund, dazu ein Ton auf dem Klavier; Fallschirmsoldaten im freien Fall, dies nicht als Bungeejump oder sonstiger Sport inszeniert (wie es etwa noch in Guillermo de Toros vorjähriger Japan-Monster-Hommage „Pacific Rim“ geschah), sondern als ein Dämmern vor einem Inferno, mit subjektivem Eigen-Atemhören und heulendem Ligeti-Score aus Kubricks „2001“, bevor wir in ein Soundloch fallen. Vieles hier ist gewagt und gewaltig.

Stereo

(D 2014, Regie: Maximilian Erlenwein)

Und du, mein Freund, bist der Böse …
von Harald Steinwender

Was ist eigentlich mit dem deutschen Kino los? Da hat man sich bequem in seinen Vorurteilen eingerichtet und ein für alle Mal beschlossen, dass die Deutschen einfach kein Genrekino können …

Was ist eigentlich mit dem deutschen Kino los? Da hat man sich bequem in seinen Vorurteilen eingerichtet und ein für alle Mal beschlossen, dass die Deutschen einfach kein Genrekino können (bzw. es nicht einmal mehr versuchen). Und dann begegnet einem mit Andreas Prochaskas „Das finstere Tal“ ein exzellenter deutsch-österreichischer Western, kurz darauf mit Jakob Lass‘ Mumblecore-Indiefilm „Love Steaks“ eine tatsächlich lustige Komödie – und nun mit Maximilian Erlenweins „Stereo“ auch noch ein Thriller, der sich ganz bewusst auf das Formelhafte des Genrefilms bezieht und wider Erwarten sowohl campy als auch effektiv ist.

Dabei fängt „Stereo“ scheinbar so vorhersehbar und fernsehfilmtauglich-seriös an: Jürgen Vogel spielt einen Motorradfan und Mechaniker, der die Großstadt Berlin hinter sich gelassen hat und nun in der brandenburgischen Provinz mit der etwas verhuschten alleinerziehenden Julia (Petra Schmidt-Schaller) zusammenlebt. Erik, von Vogel sehr physisch angelegt – verschwitzt, mit Glatze, knarzender schwarzer Lederjacke und Motoröl an Armen und im Gesicht, aber durch ein albernes „Halunke“-Tattoo als Softie unter harter Schale markiert – kümmert sich liebevoll um Julias Tochter und hat sich auch sonst gut in die kleinbürgerliche Idylle eingefügt. Doch, ach, unser Held hat einen Psychoknacks: Er sieht immer wieder einen merkwürdigen Mann im Kapuzenpulli, der ihn beobachtet. Hinzu kommt, dass auf der Straße dubiose Gestalten herumlungern, die sich bald als Roma-Gangster entpuppen, die – der Zwangscharakter kann es sich wohl nicht anders zurechthalluzinieren – flugs die blond-blauäugige Tochter Julias bedrohen. Der medial hysterisierte angebliche Kindsraub eines blonden Mädchens durch „Zigeuner“ im letzten Jahr wird hier also gleich mitverarbeitet.

Es kommt schließlich, wie es kommen muss: der mysteriöse Fremde im Kapuzenpulli (Moritz Bleibtreu, hier erstmals zusammen mit Jürgen Vogel gemeinsam in einem Film) erweist sich als Einbildung. Was nun aber zum Melodram mit Betroffenheitsbotschaft werden könnte, unterläuft Regisseur Maximilian Erlenwein gleich wieder, indem er die Handlung kurz darauf den nächsten Haken schlagen lässt und entschlossen in die Richtung schwarzer Humor wechselt. Denn Henry (Bleibtreu) gibt sich nicht mit der Funktion als ärgerliche bis potentiell gefährliche Halluzination zufrieden, sondern geriert sich im Folgenden als böses Alter Ego des Helden und versucht, diesen mit mephistophelischen Einflüsterungen zum Bösen zu verführen. Etwa: die nette, aber auch ziemlich normal-langweilige Freundin mal so richtig durchzuvögeln (ohne Vorspiel und Kuscheln danach, von hinten über dem Küchentisch zum Beispiel). Oder: die Ersatz-Kleinfamilie einfach zu verlassen und mit den dubiosen Gestalten, die Erik noch immer belagern und im Gegensatz zu Herrn Bleibtreu bedeutend realer sind, gemeinsame Sache zu machen und einen Mord zu begehen. Der Besuch beim Psychiater hilft auch nicht, bietet aber eine wunderbare Möglichkeit für Fabian Hinrichs, seine Rolle aus Doris Dörries „Alles inklusive“ ganz großartig zu variieren und eine weitere gnadenlos herablassende und bevormundende Arztfigur abzuliefern. Bald darauf kommt dann Georg Friedrich, der sowieso jeden Film veredelt, als tätowierter Oberlude und antisozialer Gangsterboss ins Spiel; Vogel und Bleibtreu wechseln zu dem schönen Satz: „Und du, mein Freund, bist der Böse…“, die Rollen – und der Film vollzieht beherzt die Volte ins endgültig Irreale: Twilight Zone Germany.

Von diesem Punkt aus könnte man Erlenweins Film nun rückblickend als den Versuch eines verunsicherten Familienvaters in der Midlife-Crisis lesen, sich eine Vergangenheit als ein ganz anderer zu erfinden, als betont männlicher und rücksichtsloser Mann, als Gangster; sich jedoch für diesen Tagtraum sogleich zu bestrafen, indem er seine Phantasie mit einer imaginierten tragischen Vergangenheit ausstattet. Oder aber man versteht „Stereo“ als Geschichte einer Psychose, ausgelöst durch ein Trauma, das sich ganz konkret im Erleben und Körper materialisiert (ähnlich etwa Cronenbergs Wutmutationen in „The Brood“ / „Die Brut“; 1979). Aber auch wenn solche Lesarten fraglos in Erlenweins Psychothriller angelegt sind, so möchte „Stereo“ doch letztlich von seinem Publikum als deftiger Ausflug ins Genrekino verstanden werden. Was alles andere als eine schlechte Herangehensweise ist.

Das Ergebnis jedenfalls ist technisch und ästhetisch elaboriert. Besonders hervorzuheben sind das wuchtige Sounddesign, der Elektro-Score von Enis Rotthoff und die eleganten Bilder des deutsch-vietnamesischen Kameramanns The Chau Ngo. Die Kamera ist in „Stereo“ sehr oft in Bewegung: Sie schweift und gleitet, umzirkelt und kreist, zitiert einmal sogar in einer direkten Referenz Michael Ballhaus‘ berühmten 360-Grad-Schwenk aus „Martha“ (1974). Mit solchen oft überdeutlich ausgestellten Stilmitteln erschafft Erlenwein eine dezidiert antinaturalistische Atmosphäre, durch die sich „Stereo“ zwischen den drastischen Traditionen des Exploitation-Kinos und den Kunstwelten des US-amerikanischen, europäischen und asiatischen Independent-Genrefilms verortet. Dabei arbeiten die Bilder, die mehr als einfach nur sehr gutes Handwerk sind, von Anfang an gegen die geweckten und bald hintertriebenen Erwartungen. Da wirkt ein 70er-Jahre-Camper inmitten der brandenburgischen Landschaft weniger wie ein Relikt der Vergangenheit als ein Brückenpfeiler hinüber in das Backwood-Americana von Tobe Hoopers Terrorfilm-Klassiker „The Texas Chain Saw Massacre“ („Blutgericht in Texas“; 1974). Wobei das hier evozierte Blutbad tatsächlich gegen Ende des Film eingelöst wird, als „Blutgericht in Brandenburg“ gewissermaßen, in einem heftigen letzten Akt, der sich in einem Club ereignet, der ebenso an die osteuropäischen Neon-Folterhöllen aus den „Hostel“-Filmen (2005-2011) erinnert wie er metaphorisch als Reise ins Innere funktioniert – des Körpers, der Psyche, der Vergangenheit, und vor allem: der Gewaltgeschichte des Protagonisten, die hier mit aller Macht an die Oberfläche drängt.

Visuell und thematisch bezieht sich Erlenwein dabei auf Vorbilder, die die Latte ziemlich hoch hängen: Da wäre Martin Scorseses „Amazing Stories“-TV-Episode „Mirror, Mirror“ (1986), „Mindfuck“-Filme wie David Finchers „Fight Club“ (1999) und David Cronenbergs „Spider“ (2002), ebenso Cronenbergs „A History of Violence“ (2005) und Chan-wook Parks „Oldboy“ (2003). Hinzu kommen Schnipsel und Momente aus unzähligen anderen Filmen, die für die filmische Sozialisation des Filmemachers offenbar prägend waren. Der Regisseur nennt in Interviews gerne Henry Kosters James-Stewart-Vehikel „Harvey“ („Mein Freund Harvey“; 1950). Aber da ist noch vieles mehr: Da gibt es etwa einen Mexican standoff, der an „Reservoir Dogs“ („Reservoir Dogs – Wilde Hunde“; 1992) erinnert. Oder Verwesungsfarben wie im Neo-Körperhorrorkino der letzten Dekade (Berlin erstickt hier geradezu in giftigsten gelb-grünen Farbfiltern). Visuelle Motive wie Aufsichten von nach innen gewundenen Treppenhäusern evozieren selbstbewusst die Bildwelten des klassischen Film Noir und des neoklassischen Paranoia-Kinos. Und wenn Moritz Vogel/Jürgen Bleibtreu sich zu pulsierenden Beats in eine Disco-Unterwelt begibt, um sich Friedrichs schmierigem Zuhälter entgegenzustellen und um seine Frau zu kämpfen, dann erinnert das bestimmt nicht zufällig an Christian Slaters psychotischen Elvis-Fan in Tony Scotts „True Romance“ (1993). Das wirklich Überraschende ist: dass das alles weder anmaßend noch epigonal wirkt. Es ist vor allem eine Verortung in einem generischen Referenzraum und gegenüber filmischen Vorbildern, die zu den stilprägenden Werken der letzten Jahre zählen. Und das ist letztlich auch ein Ausweis dafür, dass die Filmemacher etwas von ihrem Handwerk verstehen.

Im Namen des …

(PL 2013, Regie: Malgoska Szumowska)

Einsam am Arsch der Welt
von Ulrich Kriest

Hot Fun in the Summertime. Eine Gruppe Kinder und Jugendlicher vergnügt sich mit einem halbnackten Erwachsenen bei dümmlichen Macho-Imponier-Spielchen. Ein junger Mann, offenbar mit Behinderung, steht gutmütig lächelnd daneben. Plötzlich …

Hot Fun in the Summertime. Eine Gruppe Kinder und Jugendlicher vergnügt sich mit einem halbnackten Erwachsenen bei dümmlichen Macho-Imponier-Spielchen. Ein junger Mann, offenbar mit Behinderung, steht gutmütig lächelnd daneben. Plötzlich werden die Kinder ihm gegenüber erst ausfällig, dann schnell körperlich aggressiv. Er kann sich nicht wehren. Kurz darauf: halbnackte junge Männer beim Fußballspiel. Auch hier ist körperliche Gewalt im Spiel. Es wird geflucht, gepöbelt und geboxt. Männlichkeitsrituale, Hackordnungen. Eine unangenehme Atmosphäre: zum allgegenwärtigen Alkohol gesellt sich später auch noch ein nicht nur unterschwelliger Antisemitismus. Hier, wo der Film spielt, scheint Polen noch ein gutes Stück von der Moderne entfernt. Polen?

Einerseits ja, andererseits verweisen die Aufdrucke einiger Kleidungsstücke der Jugendlichen („Bulls“) und auch die prominent eingesetzte Musik der US-Indie-Rock-Band Band of Horses darauf, dass die Geschichte sehr wohl mit allgemein gültigem Anspruch auftritt. Der Priester Adam (schlicht großartig: Andrzej Chyra) und der Sozialarbeiter Michal leiten hier ein Camp für delinquente Jugendliche. Mit harter Hand und freundlich-ruhigem Verständnis. Good Cop und Bad Cop. Michal diszipliniert die Jungen mit harter Hand und Gebrüll, während Adam eher zurückhaltend am Rande steht und das Gespräch sucht. Er ist ein Beobachter, freundlich, aber immer etwas auf Distanz bedacht. Wenn gefeiert wird, bleibt Adam lieber nüchtern. Wer ihn aber beim Joggen beobachtet, könnte schon auf die Idee kommen, dass der Mann vor etwas davon läuft. Doch dagegen spricht vorerst seine gütige, freundliche Ausstrahlung, die ihn bei den Jugendlichen beliebt macht. Später im Film wird höheren Orts von den außerordentlichen pädagogischen Erfolgen Adams noch geschwärmt werden. Völlig uneitel sei er zudem.

Im Rahmen einer Predigt erzählt Adam, wie er einst zur Kirche fand. Es ist nicht die übliche Biografie des Ministranten, der anschließend Theologie studiert und in kirchlichen Kreisen verkehrt. Adam erzählt, dass er eines Tages, als er allein war, die Präsenz seines kurz zuvor verstorbenen Vaters derart substantiell erfuhr, dass er fortan bewusst in die Kirche ging. Er sei damals 21 Jahre alt gewesen und habe plötzlich gewusst, dass er sein Leben ändern müsse, um seine Seele zu retten. Ihm sei klar geworden, dass seine Selbstsucht ein Gefängnis gewesen sei und er sich daraus befreien müsse. So gäbe es in jedem Menschen einen Punkt, der unschuldig und frei von Sünde sei. Während dieser nachdenklichen, fast schon philosophischen Predigt scheint Adam in sich hinein zu horchen, um die richtigen Worte zu finden.

Die Kamera mustert derweil den Kirchenraum und registriert die Wirkung seiner Worte in den Gesichtern der Gläubigen. Ewa blickt versonnen, Michal dagegen scheint geradezu empört. Und dann ist da noch der junge Lukasz (Mateusz Kosciukiewicz), der mit seiner Familie in der Nähe wohnt, als Brandstifter auffällig geworden ist und deshalb als Heimschläfer zum Camp gehört. Er, selbst ein Außenseiter, begegnet Adams Worten mit unverhohlener Zärtlichkeit, ahnt eine Seelenverwandtschaft. Vielleicht ist ihm auch nur aufgefallen, dass Adam sagte: „Als ich allein war.“

Als die polnische Filmemacherin Malgorzata Szumowska („33 Szenen aus dem Leben“, „Das bessere Leben“) ihren Film im Wettbewerb der „Berlinale“ 2013 vorstellte, sagte sie in einem Interview: „Ich kann mir keinen einsameren Menschen vorstellen als einen Priester!“ Bevor der Priester und der Außenseiter sich füreinander öffnen, muss Adam sich noch der Avancen der Dorfschönheit Ewa (Maja Ostaszewska) erwehren, die nicht anders kann als die Versetzung Adams an den Arsch der Welt für eine Strafe zu halten. Doch wofür nur? Als sie ihn verführen will, konstatiert Adam matt: „Ich bin bereits vergeben.“ Überhaupt scheint die Sexualität eines Priesters ein Reizthema, Gegenstand schlüpfriger Imagination.

Kurz nach der Begegnung mit Ewa diskutieren ein paar Jungs über Adams Sexualität. Vielleicht denke der ja gar nicht ans Ficken, habe ganz andere Hobbies. Schließlich habe er ja sein Herz der Kirche gegeben. Okay, aber was ist mit dem Körper? Vielleicht ficke er ja die Hirsche, wenn er durch den Wald jogge. Gleich darauf nimmt Adam einem seiner Jugendlichen die Beichte ab. Grovy hat im Verlauf einer Party einen Fremden betrunken oral befriedigt und fürchtet nichts mehr als dass dies herauskommt. Adam weist ihn auf das Beichtgeheimnis hin und fordert ihn auf, jeden Tag eine Stunde zu joggen. Das sei wie ein Gebet.

Allmählich verliert Adam die Fassung, fällt aus seiner Rolle: „Glaubt ihr, Christus war an irgendetwas anderem interessiert, als an sich selbst?“, fragt er eine Gruppe von Jugendlichen, die ihn fassungslos und verunsichert anstarren. Mühsam nur macht er daraus dann noch einen Witz für Dummköpfe. Das „Outing“ steht dann als Menetekel an der Wand, rot hingesprayt. Es ist dann Michal, der einst das Priesterseminar verließ, weil er sich in Ewa verliebt hatte, der Adam beim Bischof denunziert.

Wer von der atmosphärischen Grundierung des Films ausgehend jetzt mit einer Wiedervorlage der „Jagdszenen in Niederbayern“ rechnet, wird allerdings gleich mehrfach überrascht werden. Als Adam und Lukasz einmal gemeinsam einen Markt besuchen, werden sie zwar durch kollektive Blicke stigmatisiert, aber gerade diese Blicke befreien Adam aus dem Gefängnis der steten Selbstverleugnung. Auf der Rückfahrt kann er sich Lukasz endlich öffnen und hingeben. Höchst atmosphärisch fügt Szumowska die einzelnen Puzzleteilchen aneinander, bis sich beinahe ein stimmiges Bild ergibt.

Filmischer Höhepunkt ist eine halluzinatorische Begegnung von Adam und Lukasz in einem sommerlichen Maisfeld, als es ihnen für Momente gelingt, die Gesellschaft um sich herum für kurze Zeit komplett auszublenden. Doch braucht es immer noch eine Figur, die die immanenten Widersprüche der Figuren zuspitzt und dynamisiert. Der geheimnisvolle Adrian (Tomasz Schuchardt), kräftig, mit blondierten Haaren, cool bis hin zur Arroganz, ist eine regelrechte Pasolini-Figur, ein dramaturgisches Scharnier, ein Schmiermittel. Adrian verfügt über ein Wissen, das ihn instinktiv Dinge durchschauen lässt. Und er offenbart dieses Wissen, indem er provozierende Blicke aussendet oder auf Blicke provozierend reagiert. Szumowska inszeniert den Kampf um den Blick als regelrechte Choreografie einer ménage à trois, wenn Adam aus dem Fenster dabei zuschaut, wie Adrian seinen Platz in der Rangordnung der Jugendgruppe durch Armdrücken bestimmt. Adrian blickt ihn dabei provozierend an, während Adam leicht amüsiert scheint. Es ist Lukasz, der in dieser Szene als Fensterputzer agiert, der Adam zunächst die Sicht nimmt, bevor er im Wortsinne für Durchblick sorgt. Die wortlose Rivalität zwischen Lukasz und Adrian kulminiert in einer handgreiflichen Auseinandersetzung, als Adrian öffentlich macht, dass Adam eine „alte Schwuchtel“ ist. Als er Hilfe sucht, findet er kein Gehör. Seiner Schwester, die im Ausland lebt, ist er zu betrunken – und ein Priester ist nicht zu sprechen, weil die Kirche gerade gereinigt wird. Wäre es nicht so furchtbar, man müsste lachen.

„Im Namen des …“, auf der Berlinale 2013 mit dem „Teddy-Award“ ausgezeichnet, hat in konservativen Kirchenkreisen Polens schon für Proteststürme gesorgt, dabei ist der Film als Kritik an der Kirche keinesfalls polemisch, sondern politisch eher zurückhaltend. Szumowska erzählt zunächst einmal ganz allgemein von der Sehnsucht des Menschen nach Zuwendung und erst in zweiter Linie am Beispiel der Einsamkeit im Zölibat. Der Film ist kein Pamphlet und auch kein Plädoyer, sondern eher eine Fallstudie über Gewaltstrukturen mit Anspruch auf Verallgemeinerung. Immer wieder findet der Film prägnante Bilder (Kamera: Michal Englert, der auch am Drehbuch mitgearbeitet hat) für Adams Einsamkeit, wenn sich die Kamera nach oben schraubt und ihn in der Natur isoliert zeigt.

Doch gerade seine Verzweiflung, sein Hadern, sein mühsames Ringen um die Selbstverleugnung verleiht ihm eine Verletzlichkeit, die sein Charisma als Priester ausmacht. Am Ende wird der Fall „Adam“ durchaus routiniert abgewickelt werden: der Priester wird ein weiteres Mal versetzt und bleibt als böses Gerücht seiner Gemeinde in Erinnerung. Doch Polen ist nicht allzu groß – und diesmal hat es nur noch zu 60 Kilometern gelangt. Eine Entfernung, die für Lukasz kein Problem darstellt. Doch der Film ist längst viel zu komplex in der ästhetischen Durchdringung seiner Problematik, um auf ein Happyend der Zweisamkeit hinauszulaufen. Vielmehr mündet er in einer Pointe, die aus dem Bildinventar des Horror-Genres stammt. Man könnte sagen, hier hat sich jemand ein Beispiel genommen. Aber man könnte auch sagen, hier wird ein Problem wider besseres Wissen auf Dauer gestellt.

Il Futuro – Eine Lumpengeschichte in Rom

(I / CL / D / ES 2013, Regie: Alicia Scherson)

Golden, radikal und schön
von Nicolai Bühnemann

Der Vorspann ist einer der schönsten, die ich seit langem gesehen habe. Ein gelber Fiat fährt eine Straße in den Bergen entlang. Die Sonne taucht den Fiat, die Straße, die …

Der Vorspann ist einer der schönsten, die ich seit langem gesehen habe. Ein gelber Fiat fährt eine Straße in den Bergen entlang. Die Sonne taucht den Fiat, die Straße, die Berge und den Himmel in golden-gleißendes Licht. Zu den goldenen Bildern vom Mann am Steuer, der eine Zigarette anzündet und sie der Frau auf dem Beifahrersitz gibt, dem Tuch der Frau, das golden aus dem Autofenster in der goldenen Luft weht, spricht die Stimme Manuela Martellis aus dem Off die ersten Sätze von Roberto Bolaños „Lumpenroman“: „Jetzt bin ich Mutter und auch eine verheiratete Frau, aber vor gar nicht langer Zeit war ich eine Kriminelle. Mein Bruder und ich hatten unsere Eltern verloren. In gewisser Weise rechtfertigt das alles. Wir hatten niemanden. Und das alles buchstäblich von heute auf morgen.“ Dann kommt der Titel auf uns zugeflogen: „Il futuro“ steht da, in goldenen Lettern, die aus der Vergangenheit des Kinos zu uns herüber zu leuchten scheinen (vielleicht aus einem peplum, einem jener Sandalenfilme, die in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern das Gros der italienischen Filmproduktion ausmachten und die in „Il futuro“ eine gewisse Rollen spielen werden).

Wenn das grell goldene Sonnenlicht den Titel vollständig aus dem Bild getilgt hat, ist der Blick frei auf einen grauen und ganz und gar gegenwärtigen Himmel. Von hier wandert die Kamera langsam über ein paar gesichtslose Wohnblocks, über die Autobahn zu einem Schrottplatz, wo die knapp zwanzigjährige Bianca (Manuela Martelli) und ihr etwas jüngerer Bruder (Luigi Ciardo) besichtigen, was von dem elterlichen Auto noch übrig ist. Aschgrau verkohlt ist das Auto, von dem Bianca meint, es müsse doch gelb sein. Ihr Bruder erklärt ihr, dass das durch den Zusammenstoß komme, der alles verändere, die Form, die Farbe, alles. Tomás heißt der Bruder im Film, der im Roman namenlos bleibt wie alle männlichen Figuren – bis auf eine, die so viele Namen hat, dass sie, mehr noch als die Namenlosigkeit der anderen Männer seine Identität nicht preisgibt, sondern eher hilft, sie zu verbergen.

Bianca und Tomás müssen sich nun alleine in der elterlichen Wohnung zurechtfinden. Zur Schule gehen sie bald nicht mehr. Bianca wäscht in einem Friseursalon Haare, Tomás putzt in einem Fitness-Studio. Von dort bringt er eines Nachmittags zwei Männer mit, die fortan bei ihnen wohnen werden, im Schlafzimmer der Eltern. Bianca schläft mit ihnen, mal mit dem einen, mal mit dem anderen. Gemeinsam mit dem Bruder entwerfen die beiden einen Plan, dessen Ausführung Bianca übernehmen soll. Es geht dabei um Maciste (Rutger Hauer), der einst als Schauspieler in pepla zum Star wurde und es als Bodybuilder bis zum Mister Universum brachte. Seit er bei einem Autounfall das Augenlicht verloren hat, lebt er vollkommen zurückgezogen in seinem riesigen Anwesen. Bianca soll ihm Gesellschaft leisten, Sex mit ihm haben – mit dem Ziel, den Tresor zu finden, in dem er, so glauben zumindest die beiden jungen Männer, seine verbleibenden Reichtümer versteckt.

Bolaños „Lumpenroman“ zu verfilmen, erscheint zunächst als eine denkbar undankbare Aufgabe. Hinter der Kleinheit dieses Büchleins (von der im spanischen Original-Titel der Diminutiv kündet: „Una novelita lumpen“) versteckt sich eine denkbar große Radikalität. Diese Radikalität besteht darin, den Bericht einer jungen Frau von allem zu befreien, was ihm von außen aufgepfropft erscheint. Entwicklungsroman, Coming-of-Age, Sozialdrama, die psychologische Erzählung von der Verarbeitung eines Traumas, die feministische Erzählung der Emanzipation einer jungen Frau, die sich in einer Männerwelt ihren Platz und ihre Unabhängigkeit erkämpft; all das muss wohl zwangsläufig mitgedacht werden, aber eben als etwas Abwesendes – wie die Eltern. Der „Lumpenroman“ ist ganz und gar Biancas Roman.

Das „Ich“, das vom ersten Satz des Romans an zu uns spricht, formiert sich doch erst nach und nach, während des Sprechens, es ist kein vorgefertigtes, sondern im ständigen Werden begriffen. Die radikale Subjektivität Biancas, die auf nichts weniger hinauswill als die Utopie eines Subjekts, das kein bürgerlich psychoanalytisches und kein normativ gegendertes ist, entsteht im Roman unter anderem durch die Entsubjektivierung der anderen-, der Männerfiguren. Über ihren ersten Eindruck von den beiden Männern berichtet die Ich-Erzählerin: „Der eine war Bologneser, der andere Libyer oder Marokkaner. Trotzdem sahen sie aus wie Zwillinge. Der gleiche Kopf, die gleiche Nase, die gleichen Augen. Sie erinnerten mich an eine Tonskulptur, die ich vor kurzem in einer Zeitschrift im Friseursalon gesehen hatte.“ Eine der nächtlichen Zusammenkünfte mit einem der beiden beschreibt sie mit den Worten: „An manchen Abenden (…) öffnete ich einem der Freunde meines Bruders die Tür, ließ aber das Licht aus und hielt die Augen geschlossen, denn unter keinen Umständen wollte ich wissen, wer von beiden mit mir schlief, und gab mich mechanisch hin und kam manchmal mehrmals hintereinander, worauf ich zuweilen mit heftigen, überraschenden Wutausbrüchen reagierte. Der Freund meines Bruders fragte mich dann, ob es mir nicht gut gehe, ob etwas mit mir sei, ob ich meine Tage kriegte, bevor er weiter redete und am Ende noch seine Identität verriet, erwiderte ich, er solle den Mund halten, oder machte Schscht, und er verstummte und vögelte wortlos weiter, so groß war die Überzeugungs- oder Überredungs- oder Ausredungskraft, die meine Worte mittlerweile besaßen.“

Es ist schwierig, diese Geschichte in Bildern zu erzählen. Die Geschichte einer Frau, die wird, von Männern, die verschwinden; einer Frau, die nur in dem Maße werden kann, wie die Männer um sie herum verschwinden. Die visuelle Abbildung hat etwas viel „Fertigeres“, „Kompletteres“ an sich als das geschriebene Wort, das durch diesen Umstand wesentlich geeigneter erscheint, bruchstückhaft von einer bruchstückhaften Biografie zu erzählen. Bianca, die Frau, die erst wird, hat im Film von Anfang an einen „fertigen“ Körper und ein Gesicht, während die Männer, die langsam verschwinden, ihre Körper und ihre Gesichter behalten.

Wie stellt sich die in Chile geborene Regisseurin Alicia Scherson, die auch das Drehbuch verfasste, dieser Aufgabe? Nun, zum Beispiel mit Bildern von Gesichtern, die in den Spiegelungen in Scheiben verschwimmen oder sich in Zigarettenrauch aufzulösen scheinen. Mit gleißend hellem und immer wieder golden scheinendem Licht. Mit einem sehr präzise beobachtenden Kamera-Blick, der eine Fülle winziger alltäglicher Details offenbart, die ihn aber mehr als Dinge an sich interessieren, in Hinblick auf ihr – irgendwie geheimnisvolles – Sein, als weil sich irgendwelche sozialen Realitäten von ihnen ablesen ließen. Mit teilweise recht langen und statischen Einstellungen, die mitunter von überwältigender Schönheit sind. Nur zwei Beispiele: In drei Einstellungen ist der Wohnblock zu sehen, in dem die Geschwister leben. Eigentlich denkbar trist mit der verrußten Fassade, den Sattelitenschüsseln und dem Gewusel von Fernsehantennen auf dem Dach, bekommen die Häuser vor dem Abendhimmel, an dem Wolken vorüberziehen, eine entrückte Schönheit, eine Würde, die mit gängiger Ghettoromantik nichts zu tun hat. In einer Szene sieht Bianca mit ihrem Bruder und den beiden Männern fern. Durch den Rahmen der Tür gefilmt, sieht man die vier jungen Menschen auf dem Sofa sitzen, die Fernsehbilder werden reflektiert durch einen Spiegel an der Wand hinter ihnen. Einer der jungen Männer isst eine Banane, ein anderer beantwortet die Fragen aus der Quizshow im Fernsehen, bevor die Kandidaten dort es tun. Als Bianca die Männer auffordert, leise zu sein, verstummen die Gespräche. Dass die Hierarchien nichts mit gängigen Sozialdramen-Familien-Hierarchien gemein haben, gibt dem Alltäglichen dieser Szene einen utopischen Anstrich, der weit jenseits eines jeden „Realismus“ liegt.

Schließlich ist da das wunderbare Zusammenspiel von Manuela Martelli und Rutger Hauer. Zwischen dem Mann, der nichts hat außer seiner Vergangenheit und der Frau, die nichts hat außer eine Zukunft, die ganz ihre sein wird, besteht von der ersten Szene an eine Verbindung, die Bianca zu den gleichaltrigen Männern niemals finden könnte. Dass die Dialoge zwischen ihnen in Englisch sind, während sie mit den anderen Männern Italienisch spricht, mag hiervon Zeugnis ablegen. Wenn er ihren ganzen Körper mit Öl einreibt, ist es wieder da, dieses golden glänzende Licht, das im Vorspann mit den Eltern mit der Vergangenheit assoziiert wurde. Hauer tut nichts, um der jungen Frau die „Show zu stehlen“. Überhaupt tut er nicht viel, außer präsent zu sein, als eine ständig im Verfall begriffene Männlichkeit, die er eher verkörpert als spielt. Wie insgesamt die Virilität in diesem Film eine sehr brüchige ist, deren heterosexuelle Performance beständig in den reinen Camp kippt – sei es in den alten Sandalenfilmen, die sich Bianca ansieht, sei es in einem Bodybuilding-Contest.

Dem entgegen steht der weibliche Körper, der wird, indem er sich seiner selbst und der eigenen Lust bewusst wird. Der sich nicht ausbeuten, nicht für männliche Pläne instrumentalisieren lässt. Eine Weiblichkeit, die weder „Zuhälter“ noch „Retter“ braucht. So leuchtet der Abendhimmel in der letzten Einstellung rötlich, ins Gelbgoldene spielend nur noch für Bianca.

Alicia Scherson hat aus Roberto Bolaños schön radikalem Büchlein einen radikal schönen Film gemacht.

„Il futuro“ wird am 28. Mai von good!movies / Real Fiction auf einer mal wieder auffallend schlichten DVD veröffentlicht. Darauf zu finden ist der Film in italienisch-englischem Original-Ton oder deutscher Synchronisation, zudem gibt es deutsche Untertitel und zwei Trailer. Auf weitere Extras und ein Wendecover muss man leider verzichten.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Wie haben Sie das gemacht? – Filme von Frauen aus fünf Jahrzehnten 1+2

(D 2014, Regie: (Herausgeberinnen) Bettina Schoeller-Bouju, Claudia Lenssen)

Die Ahnung der Freiheit
von Wolfgang Nierlin

„Wie haben Sie das gemacht?“, lautet der prosaische, etwas unscharfe Titel einer zweiteiligen DVD-Veröffentlichung, auf der mit einer Spieldauer von rund fünf Stunden 24 Kurzfilme „von Frauen aus fünf Jahrzehnten“ …

„Wie haben Sie das gemacht?“, lautet der prosaische, etwas unscharfe Titel einer zweiteiligen DVD-Veröffentlichung, auf der mit einer Spieldauer von rund fünf Stunden 24 Kurzfilme „von Frauen aus fünf Jahrzehnten“ versammelt sind. Dass dabei der Fokus auf Filmemacherinnen aus dem deutschsprachigen Raum liegt, bleibt der Titel schuldig. Dieser spielt natürlich auf Francois Truffauts berühmtes Interview-Buch mit Hitchcock an, was eigentlich wenig Sinn macht, denn hier „sprechen“ allein die Filme. Eher geht es um das Was als um das Wie, also um eine Bestandsaufnahme der vielfältigen Formen und Inhalte, um eine Rückschau, Sichtung und Sicherung weiblicher Filmarbeit der letzten fünfzig Jahre. Unter künstlerischen Gesichtspunkten erscheint das mitunter beliebig, auch wenn die beiden Herausgeberinnen Bettina Schoeller-Bouju und Claudia Lenssen das heterogene Material den beiden Teilen „Spielen und Dokumentieren“ sowie „Neue Formen“ zugeordnet haben, was nicht immer zwingend ist. Doch leider gibt es keine begleitenden Informationen, die etwa die Konzeption erläutern oder die Auswahl begründen würden. Auch zu den Filmen und ihren Macherinnen fehlen jegliche Angaben. Vermutlich wird die parallel erscheinende Buchveröffentlichung der beiden Herausgeberinnen diesen Mangel ausgleichen.

May Spils verspielt-anarchische Talentprobe „Das Portrait“ aus dem Jahre 1966 mit ihren provozierenden Bild- und Tonmontagen, den ironischen Überblendungen und dem poppig-bunten Look hätte man natürlich auch der Abteilung „Neue Formen“ zuordnen können. Andererseits gilt das auch umgekehrt, wenn man etwa den mehr „gespielten“ und „dokumentierenden“ Film „Umwege“ von Susanne Beyeler sieht. Hier folgen wir einer jungen Frau, die im Aufbruchsjahr 1968 ihrem Schweizer Elternhaus und der Schule den Rücken kehrt, um in einer Münchner Kommune unterzutauchen. Zwischen politischem Kampf, der Bevormundung durch ihren Freund und dem Wunsch nach Selbstbestimmung geht sie mutig ihren Weg der Emanzipation. Mit viel Zeitkolorit und authentischem Material inszeniert Beyeler eine ebenso aufklärerische wie augenzwinkernde Milieustudie.

In beiden genannten Filmen kann man Einflüsse Jean-Luc Godards entdecken. Ästhetik und Politik, oftmals autobiographisch gefärbt, sind auch die Eckpfeiler, zwischen denen das breite Spektrum der ausgewählten Arbeiten aufgefächert ist. Dabei kommt der sich ändernden Frauenrolle, dem weiblichen Selbstverständnis und dem Streiten für mehr Gleichberechtigung eine besondere Bedeutung zu. Mit dem semidokumentarischen Spielfilm „Für Frauen – 1. Kapitel“ hat Cristina Perincioli 1971 ein interessantes Experiment gewagt: „Dieser Film wurde von Verkäuferinnen und Hausfrauen gemacht“, heißt es zu Beginn dieses geradezu sozialistischen Lehrstücks, das vom revolutionären Zeitgeist erfüllt ist und mit plakativen Mitteln die von männlicher Unterdrückung bestimmte Lebens- und Arbeitssituation der (sich mehr oder weniger selbst spielenden) Frauen darstellt. Der teils witzige Agitpropfilm zeigt aber auch, wie die revoltierenden Frauen durch kämpferische Solidarität die Ausbeutungsverhältnisse verändern, gemäß dem Text des von der Band Ton Steine Scherben gesungenen Abspannliedes: „Alles verändert sich, wenn du es veränderst. Doch du kannst nicht gewinnen, solange du allein bist.“

Am ästhetischen Gegenpol dazu steht – neben anderen Arbeiten wie zum Beispiel dem experimentellen Dokumentarfilm „Färblein“ – Milena Gierkes intimes Frauenportrait „Volver“ (2009). Allein mit ihrer Super-8-Kamera und dem Objekt ihres (fotografischen) Begehrens – einer jungen, sommerlich leicht bekleideten, bald nackten Frau auf einem roten Sofa im Freien – filmt Gierke ganz ohne Ton, wie sich die Portraitierte ihre Nägel pflegt, diese rot lackiert, Musik hört, liest, Mate trinkt und raucht. Vor allem aber filmt sie in poetischen Detailansichten ihren fragmentierten Körper, das sinnliche Spiel von Licht und Schatten darauf und vermittelt dabei eine schwebend-erotische Atmosphäre, die von einem aufmerksamen, fast verliebten (Kamera)blick evoziert wird. „Volver“ ist eine ebenso sensible wie zärtliche Hommage an das Weibliche, ein romantisch-verträumtes Filmgedicht und zugleich die Ahnung der Freiheit.

Harms

(D 2013, Regie: Nikolai Müllerschön)

Ein Herz für alte Männer
von Nicolai Bühnemann

Der Gangster-Film ist im deutschen Gegenwartskino quasi nicht vorhanden. Die wenigen Versuche, hierzulande an internationale Vorbilder von Scorsese bis Kusturica, von den Coens bis Guy Ritchie anzuschließen, setzen meist vor …

Der Gangster-Film ist im deutschen Gegenwartskino quasi nicht vorhanden. Die wenigen Versuche, hierzulande an internationale Vorbilder von Scorsese bis Kusturica, von den Coens bis Guy Ritchie anzuschließen, setzen meist vor allem auf Härte, auf Drastik. Mit dem seit dem klassischen Film Noir im Genre beliebten fatalistischen Existenzialismus, unvermittelt direkter und exzessiver Gewalt und einem Hang zum Hartgekochten, Derben und politisch Unkorrekten (das über ein Sarrazin’sches „Das wird man doch noch sagen dürfen“ selten hinausgeht, oder auch nur: hinauswill), versuchten sich in der vergangenen Dekade zum Beispiel Regisseure wie Detlev Buck („Knallhart“) oder Yilmaz Arslan („Brudermord“) am Genre.

Schon mit den ersten Bildern von „Harms“, den Regisseur und Autor Nikolai Müllerschön und Hauptdarsteller Heiner Lauterbach ohne Fördergelder selbst produziert haben, ist klar, dass dieser Film da keine Ausnahme macht. Zunächst sehen wir eine Betonwand, dann das Close-Up einer Kakerlake, die eingefangen und in ein Glas gesperrt wird. Die eigentliche Handlung beginnt in einer klaustrophobischen Knast-Welt, die so knallhart ist, dass in ihr selbst eine Zahnbürste zur tödlichen Waffe wird. Sechzehn Jahre hat Harms (Heiner Lauterbach) gesessen, am nächsten Tag wird er entlassen. Sein verkniffenes Gesicht ziert ein üppiger Schnauzer, unter das rechte Auge hat er eine Träne tätowiert, auf den linken Arm ein Kreuz mit dem Wort „Faith“. Mit diesen äußeren Merkmalen korrespondieren eine Handvoll innere Eigenschaften: Treue, Loyalität, eine tiefe, stets spürbare, aber selbstverständlich nie ausgesprochene Traurigkeit ob des eigenen Scheiterns, der eigenen Antiquiertheit. (Und das Bild einer mafiösen Männlichkeit, das Lauterbach, der Aufhebung von Innen und Außen entsprechend, nicht darstellt, sondern verkörpert, ist tatsächlich so traurig antiquiert, dass man es sich ohne die unters Auge tätowierte Träne gar nicht vorstellen möchte.) In den 98 Filmminuten kann man sich vielleicht dies oder jenes über die Titelfigur zusammenreimen, erfahren tut man aber nicht mehr über ihn als in der ersten Szene im Gefängnis: Er ist ein Mann, der zu seinem Wort steht und für seine Freunde alles tun – nun, zumindest für sie töten und sterben – würde. Müllerschön und Lauterbach träumen vom Gangster als Figur in wenigen groben Strichen: ein Mann wie aus einem Stück geschnitzt. Fragt sich nur, was sie mit dieser Figur vorhaben.

Nun, zunächst einmal spulen sie einen gängigen Genre-Plot in wenigen groben Strichen herunter. Harms trifft draußen auf seine alten Kumpels und Komplizen. Mit ihnen beginnt er – wer hätte es gedacht? – bald das ganz große Ding zu planen: Einen Überfall auf die Bundesbank. Initiator der Aktion ist deren ehemaliger Vorstand, Menges (Axel Prahl), der – natürlich! – nicht nur gieriger und skrupelloser ist als die ganze Gangster-Gesellschaft zusammen, sondern sich letztendlich auch als brutaler herausstellt. So gerät der große Überfall – man hält‘s nicht für möglich! – zum großen Fiasko.

Der selige James Gandolfini sagte als Tony Soprano einst zu seiner Serien-Tochter, dass in der Welt da draußen vielleicht die 1990er seien, in seinem Haus aber sind immer noch die 1950er. In „The Sopranos“ ging es um die Kollision des so konstituierten Innen und Außen als Kollision verschiedener Epochen, verschiedener und – nur scheinbar? – unversöhnlicher Weltbilder und Wertsysteme wie Omerta und Psychotherapie. Das heißt auch, dass es in der Serie immer ein Außen zur Welt des Mafia-Bosses gibt, und die Handlung wird erst durch ein Verwischen der Grenze in Gang gesetzt: der Mafioso sucht sich Hilfe bei einer Therapeutin.

Für das Außen seiner Figur aber, für die Welt, die einen wie Harms vollständig abgehängt zu haben scheint, interessiert sich „Harms“ nicht wirklich. Folgerichtig führen die Milieustudien-Ambitionen, die Versuche, altbekannte Genre-Versatzstücke an die deutsche Gegenwartsrealität anzuschließen, ins Nichts. Am markantesten wohl, wenn sich Wettke (André Hennicke), einer von Harms Kompagnons, dessen Lieblingswort „Fotze“ ist, in einer – immerhin ziemlich komischen – Tirade gegen das Job Center ergeht. Aber auch was das unvermeidliche love interest des Protagonisten, die Prostituierte Jasmin (Valentina Sauca), anbelangt, die kaum mehr ist, als eine Aufwärmung des alten Klischees der Hure mit dem guten Herzen. Als Harms sie fragt, warum sie für den Sex mit ihm kein Geld nimmt, und sie nicht antworten will, wird er böse wegen diesem „Scheiß, den er nicht versteht“ – und den zu verstehen auch der Film keine ernsthaften Bemühungen unternimmt.

Das Prekäre am Gangster-Dasein, die nicht gerade fröhlich dreinblickenden, betagten Herren, die sich mit kleineren Geschäften über Wasser halten und ihre Zeit sonst mit „Risiko“ spielen zubringen, erinnert an „Donnie Brasco“. Ging es Mike Newell aber in seiner brillanten Satire um die Dekonstruktion eines glorifizierenden medialen Bildes des organisierten Verbrechens, darum, „die Familie“ als dysfunktionalste aller Familien zu zeigen, voller leerer Phrasen und anachronistischer Rituale, deren Mitglieder eigentlich ziemlich jämmerliche Witzfiguren sind – was sie aber nur umso gefährlicher macht –, zeichnet sich „Harms“ durch eine sonderbare Empathie für seine Figuren aus – hauptsächlich, aber beileibe nicht nur für den Protagonisten.

Am ehesten mag man dabei an Sam Peckinpah denken, auf dessen „The Wild Bunch“ dann auch zweimal relativ deutlich angespielt wird: in der einen Szene, in der Kinder einen Käfer quälen und dann, wenn die blutrünstigste der insgesamt nicht zimperlichen Action-Szenen eingeleitet wird, durch eine Reihe von Close-Ups der schallend lachenden Männergesichter. Natürlich erscheint das zunächst einmal alles furchtbar unsympathisch. Die Art, wie ein Welt- und Männerbild, das schon zu Peckinpahs Zeiten furchtbar unzeitgemäß war, einfach nur rekonstruiert wird (allerdings ohne die Reflexion über die eigene Unzeitgemäßheit und die formale und erzählerische Meisterschaft). Dass es in dem Film seiner Anlage nach nichts gibt, was sich der unentwegten hate speech seiner Männerfiguren gegen so ziemlich alles, was nicht deutsch, männlich und heterosexuell ist, widersetzen würde. Der Plot, der da, wo er nicht absolut altbekannt ist, sich von den Konventionen zu befreien sucht, nur umso berechnender wird. Trotzdem, ich kann mir nicht helfen: die schnörkellose effektive Inszenierung und die bedingungslose Liebe, die er seiner Hauptfigur entgegen bringt, machen ihn dann doch wieder auf recht sympathische Weise zu old school.
(Die Bemerkung, dass man von „Harms“ kaum erwarten sollte, dass er dem deutschen Gangsterfilm den Weg in die Zukunft weise, erübrigt sich wohl).

Gold

(D 2013, Regie: Thomas Arslan)

Wortkarg ins Ungewisse
von Michael Schleeh

Die deutsche Amerikaeinwanderin Emily Meyer (Nina Hoss) schließt sich im Jahr 1898 einem Goldsuchertreck an, der in den hohen Norden Kanadas zieht, um zu den sagenumwobenen Goldfeldern am Klondike River …

Die deutsche Amerikaeinwanderin Emily Meyer (Nina Hoss) schließt sich im Jahr 1898 einem Goldsuchertreck an, der in den hohen Norden Kanadas zieht, um zu den sagenumwobenen Goldfeldern am Klondike River zu gelangen. Obwohl ihnen mehrfach davon abgeraten wird, nehmen sie die Strapazen auf sich und versuchen ihr Glück – doch bald schon gibt es erste Rückschläge. Die raue Wildnis fordert ihren Tribut: Erst stehen gefährliche Flussüberquerungen an, dann bricht der Planwagen mit den Küchenutensilien zusammen, es folgt ein Schlangenbiss, Alkoholismus und Begehren, später die leider etwas allzu gerechte Bestrafung des Bösewichts durch die Bärenfalle. Einmal dann auch Wahnsinn. Es dauert also nicht lange, bis auch innerhalb der siebenköpfigen Gruppe die Konflikte ausbrechen müssen. Es ist natürlich auch die Erschöpfung, die der Gruppe zusetzt, ebenso wie die zunehmende Unsicherheit, ob das Unternehmen denn überhaupt gelingen könnte.

In Arslans Spätwestern ist zunächst einmal spannend, wie sich die Figuren innerhalb der Gruppe positionieren, welche Allianzen gebildet werden, wie die einzelnen Personen harmonieren. Schon früh gibt es ein erstes und erwartbares Gerangel um Emily, die alleinreisende Frau – Rosa Enskat, die Köchin (Maria Dietz), weiß mit souveränem, vielleicht auch neidischem Blick, dass hier nur Unheil entstehen kann. Gleichwohl hält sich der Film dann dahingehend zurück, er besinnt sich auf größere Konflikte. Und Emily weiß selbst sehr wohl, wie man sich die Männer vom Hals halten kann – und wie den Herren mit einem einzigen, kleinen Lächeln eine schlaflose Nacht zu bereiten ist. Überraschend, um wie viel komplexer und detaillierter das Spiel der Hoss hier dann doch ausfällt, nachdem man allerorten und vor allem in der Berichterstattung nach der Berlinale 2013 von der „eiskalten, reglosen Nina Hoss“ lesen konnte. Das ist Unfug, ganz großartig schlägt sie feinste, nuancierte Töne an.

Der Film strebt, anstatt auf ein Ziel hin, ins Ungewisse, ins Offene. Das mag schwer erträglich sein für viele, die unter einem geglückten Kunstwerk ein in sich geschlossenes Ganzes verstehen. Toll wie da Lars Rudolph ausreißt, sich in seiner größten Szene sinnbildlich und konkret zugleich die Kleider vom Leib reißt und davonrennt, hinein in seinen Wahnsinn oder sonst was – und einfach (aus dem Film) verschwindet. Man weiß nicht, wie ihm geschieht, und der Film sagt es einem nicht. Und: Lange Sequenzen von Landschaftsbildern takten diesen Film, geben ihm seinen Groove – Panoramen, Wälder, das Abendlicht, Berghänge und Flusstäler. Das war zwar alles schon mal da, aber selten so poetisch, atmosphärisch, dicht (Kamera: Patrick Orth). Hier muss man ein Stück weit ablassen können vom üblichen Diktat der Handlungsabfolge, wie man es vom herkömmlichen Erzählkino gewohnt ist. Man muss sich Zeit nehmen für die mäandernden Abschweifungen und die visuellen Reize, dann wird 'Gold' ganz groß.

Die DVD, bei good!movies / Piffl Medien erschienen, ist ausgezeichnet gelungen. Sehr schönes Cover, mit ausführlichem Booklet, das ein Interview mit Thomas Arslan als auch mit Nina Hoss beinhaltet, wie auch eine kurze historische Einführung zum „Klondike Goldrush“. Die Bildqualität des Films ist ausgezeichnet, der 96minütige Film strahlt förmlich aus dem Fernseher. Es sind deutsche wie englische Untertitel (zuschaltbar) verfügbar. Auf der DVD befinden sich ausnehmend lohnende Extras: ein Interview mit Arslan zum Topos Abenteuerfilm/Heldenfigur, ein Making Of, das seinen Namen verdient mit Impressionen vom Dreh sowie Vertiefung durch weitere Interviews einiger Beteiligter, ein „Recherche“-Film, der Arslans Team bei ersten Kanada-Aufenthalten begleitet, sowie ein kompletter Audiokommentar zum Film selbst. Außerdem eine Fülle weiterer Trailer. Eine ganz ausgezeichnete Veröffentlichung.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

20 Feet from Stardom

(USA 2013, Regie: Morgan Neville)

And the coloured girls go „doo doodoo ...“
von Ulrich Kriest

Wow! Wer ist „weiß“, wer „schwarz“? Wer vorne im Rampenlicht? Wer (fast) unsichtbar im Hintergrund? Der Boss kniet nieder, Ike agierte wie ein Zuhälter, Sting richtet Scheinwerfer, David holt Luther …

Wow! Wer ist „weiß“, wer „schwarz“? Wer vorne im Rampenlicht? Wer (fast) unsichtbar im Hintergrund? Der Boss kniet nieder, Ike agierte wie ein Zuhälter, Sting richtet Scheinwerfer, David holt Luther für sein Soul-Album ins Studio, Mick kann sich nicht vorstellen, immer nur „Ahhh“ und „Uhhh“ zu singen – und Phil war immer schon ein Asi. Die Rock- und Popgeschichte ist reich an Fußnoten und Anekdoten, die noch darauf warten, erzählt zu werden. Erzählt uns von der Working Band des „Motown“-Labels! Sucht nach Sixto Rodriguez! Wir würden gerne noch einmal die Geschichte von James Taylor und Carole King erzählt bekommen! Oder die Geschichte der Girl Group „The Blossoms“, die Ende der 1950er Jahre begannen, mit dem Pfund zu wuchern, das sie in der Kirche gelernt hatten. Call & Response! Sie waren „Dancer“ und keine „Reader“ wie die weißen Konkurrentinnen. Das sollte in der Folgezeit noch wichtig werden, als die ganzen jungen Musiker aus England in die USA kamen, die ihren Sound gerne „dunkel“ färben wollten und eine große Liebe zu Blues und Soul verspürten. Call & Response!

Erzählt uns die Geschichten von einigen der bekanntesten unbekanntesten Background-Sängerinnen, die bei einigen der bekanntesten Hits dabei waren, den Songs den Stempel ihrer Stimmen aufdrückten. „What’d I Say“, „Gimme Shelter“. „Young Americans“. „Walk On The Wild Side“. Der Filmemacher Morgan Neville richtet abendfüllend einen Blick auf die Künstler, die auf der Bühne in der zweiten Reihe stehen. Manchmal durchaus mit Absicht, manchmal gezwungenermaßen, nie grundlos. Denn den Sprung ins Rampenlicht, den muss man wagen und wollen, der ist nicht ganz ungefährlich und nicht notwendig eine Frage des Talents. Das glaubt man Mick Jagger, Sting oder auch Bruce Springsteen ohne zu zögern.

„20 Feet from Stardom“, die „Oscar“-prämierte Hochglanz-Musikdokumentation holt die unglaublichsten Sängerinnen und Sänger vor die Kamera, von denen man »noch nie« gehört hat, um gleich darauf klarzustellen, dass dem natürlich nicht so ist. Denn die ausgewählten Sängerinnen (und Sänger wie Luther Vandross) wie Darlene Love, Merry Clayton, Lisa Fischer, Claudia Lennear oder Judith Hill sind sämtlich so prominent, dass sich mit ihnen eine mit viel exquisitem Footage-Material angereicherte »oral history« der Pop-Musik erzählen lässt, garniert mit allerlei Ehrbekundungen der (weißen) Jungs aus der ersten Reihe. Hier wird einiges an Material und an Thesen und Einfällen zusammengetragen, um einen leichtgewichtigen und unterhaltsamen und schwer nostalgischen Ausflug in die Pop-Geschichte zu unternehmen, die nach Möglichkeit nicht in den Ruch von Cultural Studies-Seriosität geraten soll. Weshalb etwas schmutzige Wäsche gewaschen wird (Stichworte: Phil Spector, Ike Turner, „Brown Sugar“), die allerdings nach Möglichkeit weder politisch noch gender-theoretisch aufgeladen werden soll.

Tatsächlich, so wird sich zeigen, haben alle Porträtierten irgendwann im Laufe ihrer langen Karrieren einmal versucht, sich als Solisten zu entwerfen – und sind aus unterschiedlichsten Gründen gescheitert. Und auch wieder nicht, denn immerhin fand sich in den Archiven hinreichend Material, um die Karrieren fast lückenlos zu rekonstruieren. Je schwärzer die Pop-Musik wurde, desto wichtiger wurden die Backgroundsänger für die weißen Pop-Stars. Merry Clayton veredelt „Gimme Shelter“ der Rolling Stones und ist auch – Ironie der Geschichte! – auf „Sweet Home Alabama“ von Lynyrd Skynyrd zu hören, Luther Vandross auf David Bowies „Young Americans“ und Judith Hill arbeitet auf Augenhöhe mit Michael Jackson. Und schließlich agieren die beiden Backgroundsängerinnen der Talking Heads gar nicht mehr im Hintergrund, sondern teilen sich mit David Byrne das Bühnenzentrum und die Aufmerksamkeit des Publikums.

Man ist Teil des internationalen Rock’n‘Roll-Jet Set – und auch wieder nicht. Claudia »Brown Sugar« Lennears Weg führt von den Ikettes zu den Stones und von den Stones zum „Playboy“; Lisa Fischer gewinnt einen „Grammy“ – und schafft trotzdem keinen Absprung in die Solo-Karriere. Darlene Love hört einen ihrer alten Hits irgendwann im Radio, als sie gerade als Putzhilfe arbeitet. Doch die Dokumentation ist eben durchdrungen von US-amerikanischer Ideologie, weshalb es hier immer um das Wieder-Aufstehen nach der Niederlage geht – und deshalb endet der Weg von Darlene Love natürlich konsequent in der Rock’n‘Roll Hall of Fame. Erfolg oder Misserfolg – „Life’s what you make it!“ Roll another one!

Ich hätte noch zwei Anekdoten im Köcher. Und unerhörtes Material im Archiv gefunden. Die Geschichte von Tina Turner und den Ikettes sparen wir uns lieber für den nächsten Film auf. Denn in Zukunft gehören die Backgroundsänger auf die rote Liste der bedrohten Arten: aktuelle Entwicklungen im Musik-Business (Castingshows; Autotune; Heimstudio) verheißen dem Job des Backgroundsängers ohnehin eine wenig glamouröse Zukunft. Wenn überhaupt.

Studio H&S – Walter Heynowski und Gerhard Scheumann: Filme 1964-1989

(DDR 1964, Regie: Walter Heynowski, Gerhard Scheumann)

Das Unsichtbare hinter den Dingen
von Dietrich Kuhlbrodt

Ja, ich gebs zu, ich hab auch zuerst gedacht: das ist ja filmhistorisch sicherlich wertvoll, jetzt durch eine DVD-Werkausgabe eine Lücke zu schließen. Die Filme der DDR-Dokumentaristen Walter Heynowski und …

Ja, ich gebs zu, ich hab auch zuerst gedacht: das ist ja filmhistorisch sicherlich wertvoll, jetzt durch eine DVD-Werkausgabe eine Lücke zu schließen. Die Filme der DDR-Dokumentaristen Walter Heynowski und Gerhard Scheumann (Studio H&S) waren, dem Kalten Krieg geschuldet, in der BRD kaum bekannt, und sie sind, fürchte ich, heute nahezu unbekannt. Jetzt also eine Box mit fünf DVDs: Filme 1964-1989. Zu meiner großen Überraschung sind die Filme nicht nur was für historisch interessierte Lückenschließer, sondern etwas für alle, die erleben wollen, wie man Filme als Waffe benutzen kann, um hinter das dokumentierte Abbild zu kommen, nämlich zur Wahrheit hinter den Dingen. Weniger nebulös ausgedrückt: Heynowski und Scheumann machen in ihren Filmen das Unsichtbare sichtbar. Ihre Methode: die Dinge, die sie vor ihrer Kamera haben, vor allem aber die Menschen sprechen zu lassen.

Ergebnis: „Der lachende Mann“, Major Müller, Kongo-Müller (gedreht 1965) redet sich um Kopf & Kragen. Die Massaker der Einheit, die er befehligte, das Kommando 52, kommentierte er, wie immer lächelnd, mit Sätzen wie „Gefangene haben wir nicht gemacht“. Die Kamera fängt das Eiserne Kreuz an seiner Brust ein, das Hakenkreuz inklusive. – Ja, dem Schlächter vom Kongo fällt niemand ins Wort, aber er wird eingebettet in Aufnahmen seiner Einheit, die mordet, Hütten abbrennt und halt geschäftig ist. Hinterher sitzen die Soldaten beisammen und unterhalten sich darüber, dass sie doch eigentlich Mörder sind. Die Soldaten lächeln nicht. Sie sind nicht zynisch. Sie machen ihre Arbeit.

„Der lachende Mann“ macht mich wütend- Vor fünfzig Jahren gedreht, und ich werde heute wütend. Was ist zu tun? Was kann ich tun? – Wieder falsch: was hätte ich tun können? Wie war die Wirkung des Films in der BRD der sechziger, siebziger Jahre? Antwort: Filme von H&S unterlagen dem bundesdeutschen Verbringungsverbotsgesetz. Hatte 1966 jemand privat von der Leipziger Messe einen solchen Film in die BRD gebracht, bekam er Besuch von der Kriminalpolizei. Das Gesetz galt für alle Filme aus dem Osten. Über eine eventuelle Freigabe entschied ein anonymes Gremium, getarnt als Verwaltungsakt des Bundesamtes für gewerbliche Wirtschaft.

Das Besondere an den Filmen von H&S, gesehen von Augen, die von Westdokumentarfilmen deformiert sind: es gibt keinen begleitenden Off-Kommentar. Auch dienen die Bilder nicht dazu, die Meinung des unsichtbaren Sprechers zu illustrieren und zu bestätigen. Unterhalten werden wir auch nicht. Und mit dem, was sichtbar wird, müssen wir selbst fertig werden. Mit anderen Worten: werd aktiv, Genosse! Äh, Zuschauer, wollt ich sagen.

Damit sind wir bei den Kalten-Kriegs-Einwänden gegen die H&S-Filme. Kommunistische Agitation! Unfairer und moralisch anstößiger Journalismus! War dem Kongo-Müller klar gewesen, dass er es mit einem DDR-Team zu tun hatte? Das Vorgespräch hatte der westdeutsche Kameramann Peter Hellmich geführt (mit dem H&S nebenbei gesagt eine Offene Handelsgesellschaft gebildet hatten). – War der Major etwa unter Alkohol gesetzt worden? – (Er war es, mit dem letzten Westgeld der Filmemacher, wie im Kassetteninterview zu hören ist.) – Also Verstoß gegen die journalistische Lehre? – Und ob! Sagte ich es nicht schon: H&S-Filme sind eine Waffe, die Wahrheit zu Gesicht zu bekommen.

Etwas mulmig wird mir schon, wie ich hier auf die aktuelle Wirkung abstelle. Heynowski und Scheumann haben ihre Methode als die des dialektischen Dokumentarfilms bezeichnet. Das ist nachvollziehbar und gleichzeitig eine einwandfreie Absicherung gegenüber den politischen Instanzen in der DDR, die ihrem Studio ungewöhnliche Freiheiten eingeräumt hatten (Unabhängigkeit von der DEFA, weitgehend problemlose Westreisen) – bis zum fatalen IV. Kongress des Verbandes der Film- und Fernsehschaffenden der DDR 1982.

Im höchst willkommenen Bonus-Material der Kassetten findet sich ein lesenswerter Essay von Georg Seeßlen, der es unternimmt, die 26 Filme der DVD-Edition dialektisch vorzustellen und kritisch zu bewerten. Hinter der Wahrheit lauert das Grauen (Seeßlen). Im Fünf-Minuten-Film „400 CM3“ von 1966 registriere ich in einem Krankenhaus übel verletzte und böse deformierte Menschen (Vietnamesen), dazwischen gebettete Bürger und Bürgerinnen (aus der DDR). Ein anspruchsvoller a capella Chor (Paul Dessau) verkündet Großartiges – oder Schreckliches. Die Einsicht kommt am Schluss. Blut spenden für Vietnam! Wirkung: Ich bin dabei! (2014: zu spät!)

Oder: 1971, sechs Minuten. „100“. Jemand liegt am Boden. Die Zahlen laufen rückwärts. 99, 98. Liegestützen. Bei 48 ein Zusammenbruch. Weiter. Es ist zum Erbarmen. Warum? Der Jemand ist Soldat. Er hört penetrant die drei Worte: dog, pig, monkey. Ein US-soldier, der einen Vietnamesen Vietnamesen nennt, hat die Liegestützstrafe verdient. Denn korrekt handelt es sich wie gesagt um dogs, pigs, monkeys, so die Instruktion.

Gemeinsam ist diesen und den anderen Filmen, dass man selbst hinter die Wahrheit kommt, die hinter ihnen lauert. „Am Wassergraben“ (1978). Das Massaker von My Lai. Zehn Jahre danach. Truppenführer Calley, Mörder der Frauen und Kinder, lebt als freier Mann, frei auch jeder Reue. – Ich denke an aktuelle Einsätze, Massaker, und ich bin kein Freund der Army geworden. Wieder die Wut im Bauch. Fuck you, US-Army!! Auch werd ich mir kein Bier vom lächelnden Vietnamesen in Washington zapfen lassen, wenn ich schlussendlich sehe, wie er als Chef der südvietnamesischen Polizei namens Ngoc Loan öffentlich einen vorgeführten Gefangenen erschießt. – Bilder ohne Kommentar!

Chile. „Der Krieg der Mumien“, der Kapitalisten (1974, 90 Minuten). 1973 sind die jetzt neoliberalen Faschisten an der Macht. Zum Sieg von CIA und Kapitalisten hat auch Hamburg beigetragen. Im Freihafen sind zur Weiterverarbeitung in Hamburg große Flächen mit chilenischem Kupfer gestapelt und von den Behörden beschlagnahmt worden. Allende hatte die Kupferminen verstaatlicht. Enteignete US-Minen-Besitzer klagten. Die H&S-Kamera ist im Sitzungssaal des Hamburger Landgerichts. Wieder kein Kommentar. Die Rede wird den neoliberalen Verteidigern überlassen. Wurde der eine nicht danach CDU-Bürgermeister? In Santiago ist der Büroturm wieder mit den drei Stockwerke hohen Buchstaben verziert: ITT. Die Farbwerke Hoechst danken Pinochet. Der Kapitalismus hat gesiegt … – Vorerst, wie wir wissen, dank H&S und der geschichtlichen Wahrheit.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 7/2014

Beziehungsweise New York

(F 2013, Regie: Cédric Klapisch)

Ein Trümmerhaufen namens 'Leben'
von Wolfgang Nierlin

„Casse-tête chinois“, der Originaltitel von Cédric Klapischs neuem Film „Beziehungsweise New York“, bedeutet in etwa „Kopfzerbrechen auf chinesisch“. In seiner aktuellen Beziehungskomödie, die die 2002 begonnene „L’auberge espagnole“-Trilogie komplettiert, ist …

„Casse-tête chinois“, der Originaltitel von Cédric Klapischs neuem Film „Beziehungsweise New York“, bedeutet in etwa „Kopfzerbrechen auf chinesisch“. In seiner aktuellen Beziehungskomödie, die die 2002 begonnene „L’auberge espagnole“-Trilogie komplettiert, ist damit ein Geschicklichkeitsspiel aus Holz gemeint, dessen Einzelteile der Spieler wie ein Puzzle zusammensetzen muss. Im sehr kunstvoll gestalteten Vorspann des Films, der mit groovendem Soul unterlegt ist, fügen sich einzelne Bilder und Szenen zu Fragmenten aus dem Leben des knapp 40-jährigen Schriftstellers Xavier Rousseau (Romain Duris), der an einem Roman mit dem Titel „Chinesisches Puzzle“ arbeitet. Während er auf einer Dachterrasse im New Yorker Stadtteil Chinatown sitzt, blickt er zurück auf die turbulenten Ereignisse des vergangenen Jahres, die sich im Schreiben zur Kunst verdichten. Denn bei Klapisch folgt die Kunst dem Leben.

Über sein Leben wiederum sagt der Ich-Erzähler Xavier aus dem Off des Films, es sei chaotisch und kompliziert und erscheine mitunter unsinnig. Weder verlaufe es geradlinig von einem Punkt A zu einem Punkt B, noch habe es ein bestimmtes Ziel, vielmehr strebe es in verschiedene Richtungen. „Im Grunde ist mein Leben ein Trümmerhaufen“, konstatiert Xavier ernüchtert und spinnt dabei die Metapher von den Fragmenten weiter. Trost findet er allein bei den deutschen Philosophen Hegel („Alles Nichts ist nichts, woraus etwas resultiert.“) und Schopenhauer, der das Leben mit einem gestickten Bild vergleicht: Das Gewirr der Fäden auf der Rückseite zeige, wie alles gemacht ist. Erfindungsreich und phantasievoll überschreitet Cédric Klapisch, der die beiden Philosophen hier leibhaftig auftreten lässt, immer wieder die Grenzen der realistischen Darstellung.

Das Puzzle des Lebens, zerstreut durch die Krisen in der Lebensmitte, materialisiert sich im Bild von Xaviers Patchworkfamilie: Seine Frau Wendy (Kelly Reilly) trennt sich von ihm und zieht mit den beiden Kindern nach New York; Xavier folgt ihr und geht dort eine Scheinehe mit einer Chinesin ein; dazwischen spendet er seinen Samen für seine lesbische Freundin Isabelle (Cécile de France) und wird so nochmals Vater; schließlich taucht auch noch seine frühere Freundin Martine (Audrey Tautou) auf und befeuert damit zunehmend eine alte Liebe. In vielschichtigen Bildern, witzigen Dialogen und mit erzählerischer Ökonomie verbindet der französische Regisseur das Beziehungschaos seiner Protagonisten sowohl mit den veränderten Lebensformen einer von der Globalisierung geprägten Generation als auch mit der Multikulturalität des Schmelztiegels New York. Immer wieder bezieht der charmante Film aus kulturellen Differenzen sein erfrischendes Konfliktpotential. Zugleich wird die vielgestaltige, offene Weltstadt zur gewichtigen Mitspielerin im komplizierten Geflecht des zwischenmenschlichen Reigens.

Der Glanz des Tages

(AT 2012, Regie: Tizza Covi, Rainer Frimmel)

Bedingungslos zärtlich, schonungslos ehrlich
von Nicolai Bühnemann

Laut ihrer Filmographie haben Tizza Covi und Rainer Frimmel in den vergangenen vierzehn Jahren vier Dokumentar- und zwei Spielfilme gedreht. Über das Schaffen des Paares ist mit solchen Kategorien allerdings …

Laut ihrer Filmographie haben Tizza Covi und Rainer Frimmel in den vergangenen vierzehn Jahren vier Dokumentar- und zwei Spielfilme gedreht. Über das Schaffen des Paares ist mit solchen Kategorien allerdings rein gar nichts gesagt. In ihren „Dokumentarfilmen“ finden sich keine der genreüblichen Mittel, um den Zuschauer an der Hand zu nehmen, seine Aufmerksamkeit und sein Interesse zu lenken, also etwa ein Voice-Over, Interviews mit talking heads, „Stimmungsmusik“, etc. In ihren „Spielfilmen“ hingegen gibt es weder künstliches Licht noch extradiegetische Musik, die Dialoge werden nach groben thematischen Vorgaben improvisiert, und die Darsteller sind Laien, die sich selbst „spielen“. Die Filme von Covi und Frimmel sind Experimente, bei denen es darum geht, immer neue Wege zu finden, Menschen und ihre Alltagsrealität möglichst unverstellt, möglichst „natürlich“ auf Film zu bannen. (Um diese Arbeitsweise finanzieren zu können, gründeten die beiden übrigens 2002 die Produktionsfirma Vento Film. Zum Filmteam gehören neben ihnen – wenn überhaupt – nur noch ein Tontechniker.)

In „Das ist alles“ (2001) zeigten sie das Leben in einem kleinen Dorf in der Nähe von Kaliningrad, beobachteten, wie die Menschen dort wohnen, arbeiten und essen. Die russischen, armenischen und deutschstämmigen Bewohner erzählten – hier noch direkt in die Kamera – aus ihren bewegten Familiengeschichten, in denen denkbar unaufgeregt die großen Menschheitskatastrophen und Umwälzungen des zwanzigsten Jahrhunderts nachhallten. Dass es in den kleinen Geschichten Einzelner immer wieder auch um große soziohistorische Zusammenhänge geht, wird sich in den Filmen des Duos, ihrem alltagsethnologischen work in progress wiederholen. Ebenso wie das Thema der Entwurzelung, der „Heimat“ und ihres Verlustes.

Doch während Migration und Vertreibung für die Menschen in „Das ist alles“ noch – mehr oder weniger weit – in der Vergangenheit lagen, geht es in den folgenden Filmen um ein ganz und gar gegenwärtiges Leben on the road. Für „Babooska“ (2005) reisten Covi und Frimmel ein Jahr lang mit einem Wanderzirkus, mit der jungen Artistin Babooska und ihrer Truppe durch Italien. Anstelle der direkten Interaktion mit der Kamera trat hier die zunehmende Konzentration auf die Gespräche zwischen den Personen. „La pivellina“ (2009) setzte hier an, wieder geht es um eine Zirkusgruppe, die in einer Wagenburg am Rand von Rom lebt – und Patrizia Gerardi und Walter Saabel, die schon im Vorgänger auftauchten, spielen nun sich selbst, denn hier wurde zum ersten Mal das reale Setting durch eine fiktive Handlung gerahmt, deren Ausgangssituation ist, dass Patrizia zu Beginn des Films auf einem Spielplatz ein zweijähriges Mädchen findet, dass von seiner Mutter ausgesetzt wurde.

Vergleicht man „Das ist alles“ mit den Spielfilmen „La pivellina“ und „Der Glanz des Tages“, dann fällt auf, dass die Spielfilmform den Filmemachern die Möglichkeit gibt, sich noch weiter aus dem Film zurück zu nehmen. Wird in einer Interview-Doku die Kamera immer mitgedacht, weil sich die Sprechenden direkt an sie wenden, wäre das in einem Spielfilm ein Bruch mit der Realitätserzeugung. Dadurch, dass sich der Kamerablick verhält wie in einem Spielfilm, die Personen vor der Kamera aber so „real“ sind wie in einer Dokumentation, ergibt sich die nur scheinbar paradoxe Konstellation, dass die Spielfilme von Covi und Frimmel „realer“ – im Sinne von weniger inszeniert – wirken als ihre Dokumentarfilme.

In „Der Glanz des Tages“ erscheint mit Philipp Hochmair erstmals ein professioneller Schauspieler in einem Covi/Frimmel-Film. Am Anfang sehen wir ihn in einem Foto-Automaten, da salutiert er mit Halbglatze und Uniform. Die Uniform und die Halbglatze, das erfahren wir später, gehören aber gar nicht zu Philipp, sondern zum Hauptmann aus Büchners „Woyzeck“. Hochmair wird in der Maske für die Inszenierung eingeführt, die am folgenden Tag ihre Premiere im Hamburger Thalia Theater feiern wird. Im Interview sagte Covi über die Gründe für die Auswahl eines Theaterschauspielers als Hauptfigur: „Bei Philipp hat uns der Realitätsverlust interessiert, den man als ein vielbeschäftigter Schauspieler zwangsläufig erlebt. Man lebt in diesen intellektuellen Texten, ist immer jemand anderer, und wird dafür bewundert, was man nicht ist – nämlich für den Menschen auf der Bühne und nicht hinter der Bühne.“ Das Nomadenthema der vorangegangenen Filme wird dadurch wieder aufgegriffen, dass Philipp wegen seines Berufes zwischen Hamburg und Wien pendelt. Gleichzeitig wird es zugespitzt: Gerade die Figur, der es, was den sozialen Status anbelangt, wohl am besten geht im Covi/Frimmel-Kosmos, ist die „heimatloseste“ von allen. Philipp ist nicht einmal mehr in sich selbst zuhause.

Als Philipp in seine Hamburger Wohnung kommt, steht Walter vor der Haustür, der sich ihm als sein Onkel vorstellt, den er nie kennengelernt hat. Walter ist Zirkusartist und wird „gespielt“ von dem Zirkusartisten Walter Saabel, der hier zum dritten Mal in einem Film von Covi und Frimmel vor der Kamera steht.

Ging es in „La pivellina“ darum, wie das kleine Mädchen ihrer neuen Familie langsam ans Herz wuchs und anders herum, handelt „Der Glanz des Tages“ von der Annäherung zweier Männer. Hier wie dort sind es erdichtete Familienbande, die die realen Personen zueinander in Bezug setzen. Und die Konstellationen sind in beiden Filmen so gewählt, dass die Beziehung keine „natürlich“ gewachsene ist, sondern während des Filme(n)s langsam vor den Augen des Zuschauers entsteht.

Man könnte „Der Glanz des Tages“ als eine fiktive Geschichte beschreiben, die das Leben (mit-)schrieb. Unter anderem deshalb, weil sich der Drehplan an den Lebensumständen der Protagonisten orientierte und nicht andersherum. Dass der Film in Hamburg und Wien spielt, liegt daran, dass Hochmair während der Dreharbeiten sein Engagement wechselte. Durch den Umstand, dass Philipp im „Woyzeck“ mitspielt, ergibt sich ein interessanter Subtext. Die Beziehung zwischen dem Soldaten Franz Woyzeck und dem Hauptmann spiegelt die Beziehung von Walter und Philipp wieder, zwei Männer, die, so sagt es Walter einmal, beide im „Showgeschäft“ arbeiten und doch unterschiedlicher kaum sein könnten. Ein Dialog in der Garderobe, unmittelbar vor Beginn der Premierenvorstellung, bringt diesen Bezug auf den Punkt. „Du wärst auch ein guter Woyzeck,“ sagt Philipp im Hauptmannskostüm zu Walter, der resigniert antwortet: „Ja, ein Verlierer, das bin ich jetzt schon.“ (Und dass der wunderbare Walter Saabel, der alternde Artist a.D., dem viel jüngeren Profischauspieler ein ums andere Mal die „Show stiehlt“, nur zum Bespiel mit seinem sehr ausführlichen Bericht über den buchstäblich knochenbrecherischen Alltag eines Bärenringers, ist vielleicht dann eine klitzekleine Utopie, die sich in die Wahrhaftigkeit dieses Films einschleicht.)

Es ist verblüffend, wie sich in diesem Film, der, so Frimmel, „ein Experiment ist, bei dem man nie weiß, wie es ausgehen wird“, Bezüge zu den vorherigen Werken der Regisseure ergeben, die sich langsam zu einem eigenen auteuristischen Themenkosmos formieren. Victor, der Nachbar in Philipps Wohnung in Wien, stammt aus Moldawien; weil seine Frau kein Visum hat sondern nur Asyl, kann sie nicht zurück nach Österreich, und Victor ist nun allein mit den beiden Kindern. Im Interview erklärt Covi, dass Victors Situation auf Tatsachen beruhe: „Victor, ein Nachbar von uns, war tatsächlich von einem Tag auf den anderen alleine mit seinen beiden Kindern. Uns war es wichtig, auch eine Realität aus Wien zu zeigen.“ Zugleich knüpfen sie damit an das Thema der Migration an, das schon in „Das ist alles“ eine gewichtige Rolle spielte, und an das Motiv der fehlenden Mutter in „La pivellina“.

Wenn Walter seinen Geburtsort Schwabmünchen besucht, ergibt sich durch die Gespräche mit Gleichaltrigen in der örtlichen Kneipe auch ein Diskurs über den psychischen und physischen Missbrauch im Schulsystem vergangener Dekaden (und dass das, wie die Skandale der letzten Jahre belegen, durchaus nicht nur ein Problem der Vergangenheit ist, darf der Zuschauer selbst erkennen, ohne dass man ihn bevormundend darauf hinweisen müsste).

Wer nun aber anhand meiner umständlichen Ausführungen meint, die Vielschichtigkeit der Verzahnung von Realität (oder eher: verschiedener Lebensrealitäten) und Fiktion müsse eine ziemlich vertrackte Angelegenheit sein, der liegt kolossal falsch. „Der Glanz des Tages“ besticht durch seine Klarheit, seine Einfachheit. Die langen ruhigen, überwiegend halbnahen Einstellungen geben viel Zeit, um die Menschen und die (sozialen) Räume, in denen sie sich aufhalten, durch die sie sich bewegen, sehr genau zu beobachten.

Dass keines der behandelten Themen wirklich abschließend ausdiskutiert wird, dass das Ende ebenso offen bleibt wie in „La pivellina“ liegt in der Natur dieses wunderschönen, bedingungslos zärtlichen und schonungslos ehrlichen Films. Denn mit dem Abspann ist zwar der Film vorbei, nicht aber das Leben der Menschen, in das eineinhalb Stunden eintauchen zu dürfen, trotz all seiner Probleme, ein riesiges Glück ist.

Wie schon „La pivellina“ liegt auch „Der Glanz des Tages“ nun bei Filmgalerie 451 auf DVD vor. Als Bonusmaterial gibt es, neben dem 12-seitigen Booklet mit einem Interview mit den Filmemachern, ein paar Trailer für andere Veröffentlichungen des Labels sowie Untertitel in Englisch, Französisch und Italienisch.

Turn me on

(NR 2013, Regie: Jannicke Systad Jacobsen)

Mit dem Schwanz gepikst
von Wolfgang Nierlin

Wenn die fast 16-jährige Alma (Helene Bergsholm) auf der Heimfahrt von der Schule zusammen mit ihren gleichaltrigen Freundinnen das Ortsschild ihrer kleinen Gemeinde passiert, reckt sie demonstrativ den Stinkefinger nach …

Wenn die fast 16-jährige Alma (Helene Bergsholm) auf der Heimfahrt von der Schule zusammen mit ihren gleichaltrigen Freundinnen das Ortsschild ihrer kleinen Gemeinde passiert, reckt sie demonstrativ den Stinkefinger nach oben. „Scheißkaff, Drecksloch“ lautet ihr derbes Urteil über Skoddeheimen. Das liegt irgendwo in der norwegischen Provinz und besteht aus ein paar verstreuten Häusern, die von Wiesen und Bergen gerahmt werden, einem entfernten Supermarkt und einer noch entfernteren Schule jenseits der Gemarkungsgrenze. Aber vor allem aus „dummen Schafen, dummen Heuballen und dummen Trampolin-Mädchen“, wie Alma sarkastisch aus dem Off die Einzelbild-Montage zu Beginn von Jannicke Systad Jacobsens ironischem Debütfilm „Turn me on“ kommentiert. Im verschlafenen Skoddeheimen ist also nichts los und die Perspektiven sind begrenzt. Als beliebtester Treffpunkt und zugleich als Transitort fungiert deshalb das mit Blumen ausgemalte Bushäuschen am Straßenrand.

Angesichts solcher Tristesse wiegt Almas wilde sexuelle Lust umso schwerer: Auf dem Küchenboden masturbierend, eine Sex-Hotline am Ohr, versucht sie sich Erleichterung zu verschaffen. „Weil ich spitz bin“, vermutet sie bei ihrer alleinerziehenden Mutter Ekelgefühle ihr gegenüber. Dabei kreisen ihre mit romantischem Kitsch ummantelten Sex-Phantasien vor allem um ihren Mitschüler Artur (Matias Myren). Die Räume und Dekors in helles, lichtes Unschuldsweiß getaucht, lässt Jacobsen Traum und Wirklichkeit ineinanderfließen. Das geschieht so selbstverständlich, dass mitunter nicht klar ist, wo Almas Einbildung beginnt und wo sie endet. Jedenfalls behauptet sie nach einer frivolen Party-Begegnung mit Artur und seinem plötzlich entblößten Geschlecht gegenüber ihren Freundinnen: „Er hat mich mit seinem Schwanz gepikst.“

Weil ihr diesen Schlüsselsatz niemand glaubt und Artur überdies den „Übergriff“ trotz insgeheimen Verliebtseins leugnet, wird sie von ihrer Clique fortan ausgegrenzt, gemobbt und mit Häme überzogen. Da hilft ihr auch alles Imponiergehabe nichts; bis Alma schließlich wütend und enttäuscht nach Oslo in die Studenten-WG ihrer älteren Freundin Maria (Julia Bache-Wiig) flüchtet, wo sie nicht nur Verständnis erfährt, sondern auch Momente einer irgendwie stärkenden Freiheit erlebt. Mit einem sensiblen Gespür für die Sorgen und Nöte von Jugendlichen, mit trockenem Humor in Bild und Ton sowie unscheinbar daherkommenden Provokationen erzählt die norwegische Regisseurin eine Coming-of-Age-Geschichte, die unaufgeregt und ganz selbstverständlich das Schwere mit dem Leichten versöhnt.

Ai Weiwei: The Fake Case

(CN / DK / GB 2013, Regie: Andreas Johnsen)

Chinas geheimer Krieg
von Sven Pötting

Das Thema Überwachung ist derzeit allgegenwärtig. Dabei stellt es nicht nur für die Politik eine Herausforderung dar, sondern auch für die Soziologie. Vor wenigen Monaten veröffentlichten Zygmunt Bauman und David …

Das Thema Überwachung ist derzeit allgegenwärtig. Dabei stellt es nicht nur für die Politik eine Herausforderung dar, sondern auch für die Soziologie. Vor wenigen Monaten veröffentlichten Zygmunt Bauman und David Lyon, der Begründer der Surveillance Studies, dementsprechend einen Band mit dem Titel 'Daten, Drohnen, Disziplin – Ein Gespräch über flüchtige Überwachung'. Bei dem im Untertitel verwendeten Adjektiv „flüchtig“ handelt es sich um einen zentralen Begriff aus dem Vokabular des polnisch-britischen Soziologen Bauman und kennzeichnet einen Aggregatzustand unserer Kultur und Gesellschaft (der Zeit der „flüchtigen Moderne“), in dem Überwachung und Kontrolle jederzeit und permanent vorkommen, aber nicht dingfest gemacht werden können.

Das Hollywoodkino hat die technische Realität des Überwachungsstaates verschiedentlich in den Mittelpunkt gerückt. So etwa in „Enemy Of The State“ (USA 1998). Überwachungstechniken wie Kameras, Mikrofone, Gesichtserkennung, Telefonüberwachung, die Kontrolle durch den Satellitenblick – sie werden in Tony Scotts Film detailversessen inszeniert, um das Motiv der totalen Überwachung durch eine Supermacht zu beschwören. „Ich möchte, dass die Zuschauer sagen: ‚Mein Gott, sie überwachen uns von da oben, sie beobachten uns die ganze Zeit.’ Ich möchte, dass sie sich fragen: ‚Was ist an diesem Film wahr gewesen?“ – so wird der Regisseur in den „Produktionsnotizen“ des Booklets der DVD-Special Edition des Films zitiert („Der Staatsfeind Nr.1“, Touchstone Home Video 2003). Wie wir aus aktuellem Anlass wissen, handelt es sich um eine filmische Fiktion, die der Realität vermutlich ziemlich nahe kommt. Dabei ist es vermutlich egal, ob wir von Staaten mit parlamentarischen Demokratien sprechen oder Staaten, die es mit demokratischen Grundsätzen nicht ganz so genau nehmen.

Geheimdienste arbeiten im Dunkeln, daher sind es Romane und Filme, die über die Geheimnisse des Politischen aufklären, die uns ihre Mechanismen erklären, Taktiken der Spionage detailliert beschreiben und Verschwörungen aufdecken – diese These stammt von Eva Horn, die sie in ihrer brillante Studie „Der geheime Krieg“ aus dem Jahr 2007 an Beispielen ausführt.

Erstmals beschrieb die Literaturwissenschaftlerin das Verwischen der Differenzen zwischen Realität und Fiktion in einem Aufsatz, der kurz vor 9/11 in der Zeitschrift Lettre International erschien. Über die Arbeit der „Geheimen Dienste“ heißt es dort, sie sei nur dann gut, „wenn weder ihr Wirken noch ihr Scheitern je ans Licht der Öffentlichkeit gelangen.“ Wenn vermutet wird, dass eine Beobachtung stattfindet, man es aber nicht genau fassen kann, dann entsteht daraus Misstrauen oder Paranoia: genau das zu erreichen, ist das perfide Ziel der panoptischen Überwachung. Was ist aber, wenn der Geheimdienst geradezu an die Öffentlichkeit drängt? Dann muss – so wissen wir aus den Fiktionen – ein „Störfall“ eingetreten sein.

Im Grunde genommen handelt davon der Film „Ai WeiWei – The Fake Case“. Der Dokumentarfilm des dänischen Regisseurs Andreas Johnsen ist nämlich mehr als das Porträt eines Künstlers. Johnsens Film zeigt uns ein autoritär geführtes Land, an dessen Schaltzentralen der Macht Panik ausgebrochen ist. Chinas Führung befürchtet nichts mehr als eine asiatische „Jasmin-Revolution“ und den eigenen Machtverlust. Man versuchte, ein Exempel an einem rebellischen Künstler zu statuieren, ahnte aber nicht, welche Probleme man sich mit ihm einhandeln würde und wie sehr man damit auch die Arbeit der eigenen Geheimdienste an die Öffentlichkeit zerren würde.

Ai WeiWei, Sohn eines berühmten Dichters, war den Behörden schon seit 2005 mit seinem regimekritischen Blog ein Dorn im Auge. Endgültig in Ungnade fiel er, als er nach dem Erdbeben von Chengdu 2008 und dem Tod von mehr als 5000 Kindern die Behörden für Schlamperei an Schulgebäuden verantwortlich machte. Im europäischen und amerikanischen Ausland ist er längst ein Superstar der Kunstszene. Auch in China hat er viele Anhänger gefunden und er ist in seiner Heimat zu einer einflussreichen Person geworden. Aus diesen Gründen wurde er im April 2011 von den chinesischen Behörden verhaftet – man könnte aber auch sagen: gekidnapped. Freigelassen wurde er erst nach 81 Tagen. Danach stand er ein Jahr unter Hausarrest und wurde, um ihn öffentlich zu diskreditieren, als mutmaßlicher Chef der unter dem Namen seiner Frau eingetragenen Designfirmer „Fake“ wegen Steuerhinterziehung angeklagt. Das Risiko einer erneuten willkürlichen Verhaftung besteht zwar weiterhin, Ai Weiwei will aber nach eigenen Aussagen im Land bleiben.

„Malerei ist nicht dazu da, Wohnungen zu dekorieren. Sie ist ein Kriegsinstrument.' Dieses Pablo-Picasso-Zitat steht am Anfang von „The Fake Case“. Dieses Motto will der streitbare Künstler auch einlösen und mit seinen ihm eigenen Mitteln und mit einer Hartnäckigkeit (die mitunter wie die eines Michael Kohlhaas anmutet) für sein Recht, allgemein aber für mehr Transparenz und für mehr Demokratie in China kämpfen. Dass die Kunst das effektivere Mittel als der Rechtsweg ist, seinem mächtigen Gegner zu begegnen, zeigt der Film auch. Der vergebliche Einsatz seiner Anwälte wird dokumentiert, die keine Chance in einem Prozess bekommen, der nichts mehr als eine Farce ist: ein „fake case“ um die Firma „Fake“.
Ai WeiWei geht offensiv mit seiner Überwachung um, zeitweise dokumentierte er sogar öffentlich fast seinen gesamten Alltag mittels vier Webcams, die ihn Tag und Nacht in seinem Haus filmten.

Später verarbeitete er in einem Musikvideo die Zeit seiner Gefangenschaft. Ein anderes Projekt, dessen Entstehungsprozess den Film wie einen roten Faden durchzieht, ist derzeit in Europa zu bewundern. Der Künstler hat Eisenboxen aufstellen lassen. Über kleine Öffnungen können Besucher darin Szenen aus Ai WeiWeis Zeit im Gefängnis beobachten: Der Künstler neben Wärtern beim Schlafen, Essen, Duschen und im Verhör. All dies ist so realistisch wie möglich dargestellt. Die Miniaturen wirken wie ein Kreuzweg.

Aktuell tritt er auch als Filmschauspieler in Erscheinung, wie zum Beispiel in dem Kurzfilm mit dem Titel „The Sandstorm', der in einem dystopisch düsteren Peking spielt. Er dokumentiert mit Mitteln der Kunst, mit der Fiktion, die Realität. Mit solchen „Performances“ lotet er permanent die Grenzen aus dessen, was für ihn sag- und machbar ist. Er irritiert damit seinen Gegner, den Geheimdienst, zwingt ihn damit aus der Deckung heraus und lässt ihn Fehler begehen. Es ist regelrecht komisch, wenn wir im Film sehen, wie Ai WeiWei zwei ihn beobachtende Geheimdienstler ausmacht und fotografieren lässt. Die Ertappten fliehen gedemütigt. Ai Weiwei dokumentiert diese Flucht und beginnt sie zu verfolgen. Er stellt die Geheimdienstler in ihrer Mittelmäßigkeit bloß, er unterschätzt seine Gegner aber nicht. Zu tief sitzt sein eigenes Trauma.

Regisseur Johnsen begann mit den Dreharbeiten bereits vor der Entführung und Verhaftung von Ai WeiWei. Nach dessen Freilassung flog er erneut mehrfach nach China, drehte mehrere hundert Stunden und schaffte es, dank freundlicher Helfer, auch das Material ohne Probleme mit den Behörden aus dem Land zu schaffen. Natürlich bedeutete die Gefangenschaft einen Bruch. In den Aufnahmen, die nach der Freilassung entstanden, sieht man den Künstler, der wie besessen alles filmt. Es entstehen mise-en-abyme-Strukturen, Spiegelungen und Doppelungen. Wir sehen AiWeiWei, wie er eine Skypekonferenz vom Monitor abfilmt, wie er den Regisseur, der ihn filmt, wiederum selber filmt, wie jedes Detail von ihm und seinen Mitarbeitern genauestens dokumentiert und protokolliert wird. Dies soll ihn bei einer etwaigen weiteren Verhaftung schützen.

Aktuell gibt es kein einziges Verfahren und keinen einzigen Vorwurf gegen Ai Weiwei. Es gibt aber auch keine staatliche Stellungnahme, warum ihm der Reisepass nach drei Jahren immer noch nicht ausgehändigt wurde. Für dieses Verhalten gibt es nur die Erklärung, dass die chinesischen Steuerbehörden das Verfahren offenhalten und als Druckmittel benutzen. Seine Angst ist also nicht unbegründet.

Andreas Johnsen porträtiert einen Künstler, den er selbst als Freund bezeichnet. Dies sind nicht nur Phrasen. Man spürt die Vertrautheit und das Vertrauen. Dies tut dem Film gut. Ai WeiWei lässt die Kamera nah an sich und seine Familie heran. Der Zuschauer erlebt einen charismatischen Künstler, ein Kommunikationstalent und einen Medienprofi, der natürlich auch den Film zu seinen Zwecken zu nutzen weiß. Dadurch ist „The Fake Case“ auch ein systemkritischer Film geworden. Allerdings ohne didaktische Menschenrechtsdiskurse. Zum Glück!

Rosie

(CH 2013, Regie: Marcel Gisler)

Der Sturz
von Wolfgang Nierlin

„Liebe ist eine Fata Morgana“, heißt es in „Schwarzlicht“, dem neuen Buch des fiktiven, in Berlin lebenden Schriftstellers Lorenz Meran (Fabian Krüger). Seine Mutter Rosie (Sibylle Brunner) hört das, schon …

„Liebe ist eine Fata Morgana“, heißt es in „Schwarzlicht“, dem neuen Buch des fiktiven, in Berlin lebenden Schriftstellers Lorenz Meran (Fabian Krüger). Seine Mutter Rosie (Sibylle Brunner) hört das, schon angetrunken, in einer Kultursendung des Fernsehens. Doch dann fällt sie plötzlich um. Und weil die alte Dame seit dem frühen Tod ihres Mannes allein in ihrem Haus im ostschweizerischen Altstätten lebt, wird sie erst am nächsten Morgen vom Briefträger gefunden, was wenig plausibel ist und auch nicht gezeigt wird. Jedenfalls eilen ihr Sohn, der homosexuell ist, und ihre Tochter Sophie (Judith Hofmann), die unter ihrer Ehe mit einem Polizisten leidet, zu ihrem Krankenbett. Doch die resolute, nie um ein Wort verlegene Titelheldin aus Marcel Gislers Film „Rosie“ macht schnell klar, dass sie möglichst bald zurück in ihr Eigenheim will. Nach ihrer Rekonvaleszenz beharrt sie eigensinnig auf ihrer Selbständigkeit und vereinsamt dabei zusehends, von Zigarettenrauch umwölkt und steigendem Alkoholkonsum benebelt.

Sein autobiographisch gefärbter Film sei eine Hommage an seine Mutter, schreibt Marcel Gisler im Presseheft. In seinem Heimatort Altstätten und in Schwyzerdütsch gedreht, habe diese als Vorbild für die Figur der Rosie gedient. Sehr einfühlsam und ausdrucksstark wird sie von der 1939 in Zürich geborenen Theaterschauspielerin Sibylle Brunner verkörpert, die dafür prompt mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnet wurde. Vor allem in der Darstellung von Rosies zunehmendem Alkoholismus, der von Ausfällen und Abstürzen begleitet wird, aber auch in der schmerzlichen Konfrontation mit einer alten Schuld entfaltet Brunner ein nuanciertes Spiel. Daneben zeigt sie eine Rosie, die in ihren nüchternen, von wechselnden Komplizenschaften geprägten Szenen illusionslos, ironisch und schlagfertig ist.

Bald folgt auf den einen Sturz ein zweiter, auf den Schlaganfall auch noch ein Herzinfarkt. Die prekäre Versorgungssituation der alten, kranken Mutter verlangt von den Geschwistern immer dringlicher eine Betreuungslösung. Zugleich wird Lorenz bei seinen wiederholten Heimataufenthalten sowohl in der Begegnung mit dem jungen, seine Gefühle herausfordernden Mario (Sebastian Ledesma) als auch mit seiner Familiengeschichte in eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und seiner homosexuellen Identität gezwungen. In spiegelbildlichen Motiven, in Träumen und atmosphärischen Zeitsprüngen, die ein nachdenkliches Innehalten ermöglichen, entwickelt Gisler seine facettenreiche, teils schmerzliche Mutter-Sohn-Geschichte. Trotzdem findet er mit seiner Tragikomödie auch die Balance zwischen dem Schweren und dem Leichten, zwischen heiteren und ernsten Momenten.

Kreuzweg

(D 2014, Regie: Dietrich Brüggemann)

Verheerte Seelen
von Wolfgang Nierlin

„Jesus wird zum Tode verurteilt“, lautet die erste der insgesamt vierzehn Stationen des Kreuzweges, der in Erinnerung an die Passion Christi dessen Leiden und Sterben nachzeichnet. „Kreuzweg“ heißt auch der …

„Jesus wird zum Tode verurteilt“, lautet die erste der insgesamt vierzehn Stationen des Kreuzweges, der in Erinnerung an die Passion Christi dessen Leiden und Sterben nachzeichnet. „Kreuzweg“ heißt auch der neue, formal strenge Film von Dietrich Brüggemann, der analog dazu in vierzehn langen, ausgefeilten Bildeinstellungen diesen Weg der Schmerzen mit der Opfergeschichte eines jungen, heranwachsenden Mädchens synchronisiert. Im ersten Bild, dessen Komposition entfernt an Leonardo da Vincis „Abendmahl“ erinnert und in dessen Mitte der junge, äußerst eloquente Pater Weber (Florian Stetter) dominiert, wird gewissermaßen der Keim für das nachfolgende Verhängnis gelegt. Der katholische Geistliche einer fiktiven fundamentalistischen Gemeinde namens St. Paulus, deren Religionsverständnis an die Piusbrüdergemeinschaft angelehnt ist, unterrichtet eine Gruppe von Jugendlichen, die kurz vor ihrer Firmung stehen. Zu seiner rechten sitzt die 14-jährige Maria Göttler (Lea van Acken), eine ebenso gelehrige wie empfindsame Schülerin, deren Opfergang der Film im Folgenden zeigt.

Während der Priester als freundliche, aber bestimmte Autorität Glaubensinhalte abprüft oder vermittelt, reagieren die aufgeforderten Firmlinge nur mit knappen, eingeübt wirkenden Antworten. Dabei spürt man die ganze Unsicherheit ihres Alters, ihre offene, verletzliche Suche nach Orientierung, die so leicht manipulierbar ist. Und man ahnt und sieht, wie ihre Seelen in der Konfrontation mit religiösen Ideen, die auf Entsagung, Verzicht und Opferbereitschaft zielen, in Unruhe geraten und wie ihr Gewissen einem immensen Druck ausgesetzt wird. Ihr dozierender Lehrer spart dabei nicht an Kriegsmetaphorik, um den schwierigen Konflikt zwischen Glauben und profaner Gesellschaft in seinem Sinn zu befeuern: Die Firmlinge seien „Soldaten Jesu Christi“, die für ihren Glauben in eine „Schlacht“ zögen, in der sie notfalls auch bereit sein müssten, zu sterben. Zu dieser letzten Konsequenz sieht sich zunehmend Maria gezwungen.

Das Spannungsfeld, in dem dies geschieht, wird durch drei weitere Figuren bestimmt. Während ihr Mitschüler Christian (Moritz Knapp), ein für sein Alter ungewöhnlich einfühlsamer und rücksichtsvoller Junge, Marias Nähe und Freundschaft sucht, wird alles „Weltliche“ und deshalb potentiell Sündige von ihrer unnachgiebig strengen Mutter (Franziska Weisz) torpediert, die unbedingten Gehorsam fordert, in der Charakterzeichnung aber mitunter zu holzschnittartig wirkt. Als große, um Ausgleich bemühte Vermittlerin der gegensätzlichen Pole fungiert wiederum das französische Au-pair-Mädchen Bernadette (Lucie Aron), zu dem sich Maria besonders hingezogen fühlt. In einer der intensivsten und erschütterndsten Szenen, die in einer Arztpraxis spielt, sieht man dem eskalierenden Zerren und Ringen um die Seele des hilflosen, in eine schier ausweglose Situation geratenen Mädchens zu, das unter dem Psychoterror ihrer Erzieher förmlich zerbricht.

Konzentriert und genau erforscht Dietrich Brüggemann die Gewissensnöte eines jungen Menschen, der den Freiheitsentzug und die fremden, manipulativen Übergriffe adaptiert und auf letztlich eigensinnige Weise in die Logik des verinnerlichten Systems integriert. Darin liegt sowohl eine zeitlose Aktualität als auch – bezogen auf den dargestellten besonderen Fall – eine verstörende Konsequenz. Dass auf Marias Opfer schließlich ein Wunder folgt, mag auf den ersten Blick, als würde die implizite Religionskritik damit relativiert, irritieren, könnte aber auch als schutzsuchende Flucht aus dem Glaubensdilemma sowie vor den Zumutungen ihrer Umwelt verstanden werden.

Carne De Perro

(CL / F / D 2012, Regie: Fernando Guzzoni)

Atemnot und Herzrasen
von Wolfgang Nierlin

Zwischen Angst und Wut, Schuld und Vergessen bewegt sich die Hauptfigur in Fernando Guzzonis beeindruckendem Film „Carne de perro“ ('Dog Flesh'). Alejandro (Alejandro Goic), ein ehemaliger Soldat in Diensten des …

Zwischen Angst und Wut, Schuld und Vergessen bewegt sich die Hauptfigur in Fernando Guzzonis beeindruckendem Film „Carne de perro“ ('Dog Flesh'). Alejandro (Alejandro Goic), ein ehemaliger Soldat in Diensten des Diktators Pinochet, leidet unter einer posttraumatischen Störung. Immer wieder wird er überfallen von Atemnot und Herzrasen. Sozial weitgehend isoliert und ohne Aufgabe, lebt er wie in einem Gefängnis einen trostlosen, eintönigen Alltag. Dabei verzehrt er sich nach Frau und Kind, die sich von ihm getrennt haben. Alejandro sucht Normalität und Schutz, doch seine schwerwiegende Vergangenheit hat ihn zu einem Ausgestoßenen gemacht.

Das alles erfährt man im fast beiläufigen, konzentriert beobachteten Nacheinander einer weitgehend undramatischen, offenen Erzählung. Guzzonis ebenso intimes wie intensives Portrait eines Täters, der zum Opfer wird und sich nach Erlösung und Vergebung sehnt, ist vor allem physisch konkretes Kino. Genau, fast minutiös beobachtet der chilenische Regisseur die alltäglichen Handlungen seines Protagonisten. Als wiederkehrende Rituale verdichten sich diese zu Symbolen. Die Hyperventilation als negativer Rhythmus des Atems dominiert neben dem Lärm der Stadt die Tonspur; und das kühlende, reinigende Wasser, in das Alejandro wiederholt eintaucht, ist zugleich das sinnbildliche Element einer möglichen Neugeburt.

Diese erfährt Alejandro schließlich als Kirchendiener einer evangelikalen Sekte, die Sündenvergebung verspricht und das Vergessen des alten für ein neues Leben predigt. Geradezu ekstatisch vollzieht sich diese Austreibung der Vergangenheit, in der auch die diffuse Vision eines „neuen Chile“ mitschwingt. Doch wird diese dominiert vom Furor der Verdrängung, die sich einer ehrlichen Aufarbeitung der Geschichte vehement widersetzt. Die hermetischen Orte, Alejandros vergebliche Versuche der Kontaktaufnahme sowie seine zirkulären Bewegungen durch eine unwirtliche Stadtlandschaft vermitteln diesbezüglich Stillstand und Isolation.

Zwar unternimmt der impulsive Protagonist, den die Kamera in keiner Einstellung aus der Haft entlässt, diverse Anstrengungen, seine Leiden und Sorgen zu kommunizieren, doch scheint ihm auf tragische Weise ein Verständnis für seine Schuld zu fehlen. Alejandro hat eskapistische Phantasien, er will sich ändern und sehnt sich nach „friedlichen Beziehungen“, aber der psychotherapeutischen Beratung weicht er aus. Als ehemaliger Befehlsempfänger hat er nicht gelernt, sich selbst, sein Handeln und seine Gefühle zu befragen. Einmal sieht er im Fernsehen einen Film, in dem sich chilenische Alt-Nazis als Märtyrer stilisieren. In einer anderen Szene duckt er sich auf der Straße vor einer Gruppe von Frauen weg, möglicherweise Angehörige von Opfern des Regimes. Die Vergangenheit ist also längst nicht bewältigt. Wie zuletzt sein Landsmann Patricio Guzmán in „Nostalgia de la luz“, so legt auch Fernando Guzzoni mit seinem starken, präzise inszenierten Spielfilmdebüt den Finger in eine offene Wunde.

Mietrebellen – Widerstand gegen den Ausverkauf der Stadt

(D 2014, Regie: Matthias Coers, Gertrud Schulte Westenberg)

Billiger Wohnen
von Nicolai Bühnemann

Die Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt verändert sich rapide – und mit ihr die soziale Struktur der gesamten Stadt. Der Bau von Luxuslofts, die „Aufwertung“ vorhandener Bausubstanz oder auch die …

Die Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt verändert sich rapide – und mit ihr die soziale Struktur der gesamten Stadt. Der Bau von Luxuslofts, die „Aufwertung“ vorhandener Bausubstanz oder auch die Umwandlung derselben in lukrative Eigentums- oder Ferienwohnungen für die boomende Tourismusstadt machen Wohnraum in der Innenstadt zu einem Luxusgut, das für sozial Schwächere zunehmend unerschwinglich ist.

Gertrud Schulte Westenberg und Matthias Coers haben nun in eigener Produktion einen Dokumentarfilm gedreht, der sich weniger mit den Mechanismen von Gentrifizierung und Verdrängung befasst als mit den vielfältigen Formen, sie zu bekämpfen. Ihre ProtagonistInnen sind die Berliner „Mietrebellen“ und ihr Thema, wie es der Untertitel verkündet, der „Widerstand gegen den Ausverkauf der Stadt“.

Ausgehend von dem Fall der schwer behinderten Rentnerin Rosemarie Fliess, die im April 2013, zwei Tage nachdem ihre Wohnung zwangsgeräumt wurde, in einer Wärmestube verstirbt, zeichnet der Film ein Kaleidoskop der unterschiedlichen Bewegungen, die sich, über die ganze Stadt verteilt und über soziale, Bildungs- und Altersgrenzen hinweg, zur Wehr setzen gegen drastisch steigende Mieten, Zwangsräumungen und Verdrängung.

Da wäre die Initiative Kotti & Co., die ein Camp am Kottbusser Tor in Kreuzberg errichtet hat, um von hier aus auf vielfältige Weise auf die beständig steigenden Mieten aufmerksam zu machen in den einst speziell für GastarbeiterInnen erbauten sozialen Wohnungsbau-Quartieren des Viertels. Oder die Stille Straße in Pankow, wo eine SeniorInnen-Freizeitstätte von ihren NutzerInnen besetzt wurde, die sich nicht damit abfinden wollen, dass sie wegen Sparmaßnahmen geschlossen werden soll.

Es wird erzählt von den BewohnerInnen der Palisadenstraße in Friedrichshain, die sich organisieren, um gegen die Verdopplung der Miete in ihren alten – und behindertengerechten ehemaligen Sozialwohnungen vorzugehen, wie auch vom Bündnis „Zwangsräumungen verhindern“, das zur Stelle ist, wo immer jemand mit Gerichtsvollzieher und Polizei aus seiner Wohnung geholt werden soll.

Einerseits ist „Mietrebellen“ der Form nach eine Agit-Doc reinsten Wassers. Die Inszenierung trachtet immer nach einem Maximum an emotionaler Einbeziehung des Zuschauers. Wenn die Polizisten Wohnungen stürmen oder protestierende Demonstranten von der Straße schleppen, ist die Kamera mitten im Gerangel. Selbst in den – in einer Doku, die über weite Strecken als Interview-Film funktioniert, wohl unvermeidbaren – talking heads-Sequenzen steht sie so schräg zu den Gesichtern, sind die Kadrierungen einerseits so eng und beziehen andererseits den Hintergrund so mit ein, dass eine größtmögliche Spannung entsteht. Relativ zu Beginn gibt es einen harten Schnitt von dem sommerlichen kulturübergreifenden Treiben auf dem Kotti zum Plenum in der Stillen Straße, auf dem eine ältere Frau, sichtlich um Fassung ringend, immer wütender die Lage ihrer Einrichtung schildert – keine sehr subtile Art, die ganze Bandbreite der Bewegung zu zeigen. Die Gegenseite, sei es in Gestalt von Hausbesitzern, Vermietern, Stadtplanern oder einfach irgendjemand, der die Verhältnisse auf dem Berliner Wohnungsmarkt nicht nur scheiße finden würde, kommt in diesem Film nicht zu Wort. Stattdessen hat man in den 78 Minuten reichlich Zeit, die gängigen Parolen auswendig zu lernen.

Andererseits, und damit ist man von den Mechanismen gängiger „Propaganda“ denkbar weit entfernt, versucht der Film gerade nicht sein Anliegen für eine politische – gar konkret parteipolitische – Agenda zu instrumentalisieren. So unterschiedlich die Menschen und ihre Situationen sind, so sind es auch ihre Ansichten zu der Lage und ihr Protest. Ein Mann auf dem letzten nicht bebauten Stück Spreeufer in Kreuzberg spricht von einem Klassenkampf, bei dem die Reichen die Armen aus der Innenstadt vertreiben wollen. Ein anderer plädiert bei einer Plenumsdiskussion dafür, nicht nur „linke, sondern auch bürgerliche Kräfte“ mit den Aktionen anzusprechen. Eine junge Frau auf einer Demo mit schwarzem Basecap und schwarz-rotem Stern am Ohr freut sich, dass nicht nur Menschen aus der links-autonomen Szene, sondern zunehmend auch SeniorInnen mobilisiert werden können.

Hier bezieht der Film keine Stellung, sondern lässt die unterschiedlichen Ansichten zu. Es bedarf keiner großen Ideologien, um die kleinen Kämpfe von Menschen zu rechtfertigen, die nicht aus ihrem gewohnten sozialen Umfeld in triste heruntergekommene Siedlungen am Stadtrand vertrieben werden wollen. „Mietrebellen“ zeigt konkrete Handlungsspielräume auf: Man kann offensichtlich durchaus erfolgreich gegen Zwangsräumungen und überzogene Mieterhöhungen vorgehen. Die Art, wie er sich für lokales Handeln einsetzt, das nicht unbedingt gleich eines globalen Denkens bedarf, macht „Mietrebellen“ zu einem im besten Sinn des Wortes „altmodischen“ politischen Film.

„Mietrebellen“ ist ab 24.04.2014 in den Berliner Kinos Moviemento, Lichtblick-Kino und Central zu sehen. Weitere Termine in Berlin und auch bundesweit sind in Planung.

Lauf, Junge, lauf!

(D / F / P 2013, Regie: Pepe Danquart)

Zwischen Verrat und Solidarität
von Wolfgang Nierlin

Polen im Winter 1942/43: Ein etwa 9-jähriger Junge kauert frierend, geschützt nur durch einen Baumstamm, in einer Bodenmulde. Eine andere Einstellung zeigt ihn allein und verloren in einer weiten Schneelandschaft, …

Polen im Winter 1942/43: Ein etwa 9-jähriger Junge kauert frierend, geschützt nur durch einen Baumstamm, in einer Bodenmulde. Eine andere Einstellung zeigt ihn allein und verloren in einer weiten Schneelandschaft, über die ein eisiger Wind fegt. Kurz darauf stiehlt er auf einem Bauernhof einen Mantel und wird dafür verprügelt. Später schleppt er sich, fast erfroren, mit letzter Kraft zu einem Haus, wo er von einer fürsorglichen Frau und Mutter aufgenommen und gepflegt wird.

Bereits in der Exposition seines Films „Lauf, Junge, lauf!“, der auf der von Uri Orlev aufgezeichneten Lebensgeschichte des polnischen Juden Yoram Fridman basiert, versammelt Pepe Danquart in stimmungsvollen Bildern wesentliche Themen: die Schutzlosigkeit des fliehenden, um sein Überleben kämpfenden Kindes, das sich auf der permanenten Suche nach einem sicheren Versteck befindet; sowie den Gegensatz zwischen strafenden und helfenden Händen, zwischen Verrat und Solidarität. Was im Verlauf der Handlung noch hinzukommt, sind vielfältige Lernprozesse, in denen der Junge frühzeitig reift und sich nicht nur Überlebenstechniken unter den verschärften Bedingungen von Krieg und Verfolgung aneignet, sondern gezwungenermaßen auch die Kunst der Verstellung, die aus dem jüdischen Srulik den katholischen Jurek macht. Eindrucksvoll verkörpert wird er von den beiden Zwillingsbrüdern Andrzej und Kamil Tkacz.

Sechs Monate zuvor ist Srulik aus dem Warschauer Ghetto geflohen, hat sich in einer dramatisch zugespitzten Schlüsselszene des Films von seinem Vater verabschiedet und lebt fortan – mal allein, mal mit anderen Kindern – in dem ausgedehnten Kampinoski-Gebiet mit seinen Wäldern und Sümpfen. Dazwischen findet er als Jurek immer wieder Unterschlupf bei Bauern und bei der eingangs erwähnten Magda (Elisabeth Duda), Frau eines Partisanen, die zu seiner selbstaufopfernden Ersatzmutter wird.

Regisseur Pepe Danquart folgt in seinem ästhetisch sehr konventionell inszenierten Kinofilm, der die emotional verdichtete Zuspitzung sucht und auch vor plakativen Übertreibungen nicht zurückschreckt, der abenteuerlichen, schier unglaublichen Odyssee des Jungen. Von blinder Willkür, Zufällen und glücklichen Fügungen geprägt, dauert diese über zweieinhalb Jahre. Dabei zeichnet der Oscarpreisträger die großen, dramatischen Spannungsbögen dieser ebenso eindrücklichen wie bewegenden Überlebensgeschichte, die für ihn ein „Dokument der Menschlichkeit“ darstellt, die den Zuschauer aber auch immer wieder mit menschlichen Abgründen konfrontiert.

Pfarrer

(D 2014, Regie: Stefan Kolbe, Chris Wright)

„Das fließt jetzt irgendwie auch nicht aus mir heraus!“
von Ulrich Kriest

„Ach, Mann. Scheiße!“ Auch das Segnen in der Kirche will gelernt sein. So wie die Stimme geübt sein will, um souverän den Raum zu erfüllen. Und die Gesangslinien. Und die …

„Ach, Mann. Scheiße!“ Auch das Segnen in der Kirche will gelernt sein. So wie die Stimme geübt sein will, um souverän den Raum zu erfüllen. Und die Gesangslinien. Und die Rhetorik sowieso. Training. Die Filmemacher Stefan Kolbe und Chris Wright („Kleinstheim“) haben eine Gruppe junger Vikare in ihrem Trainingslager in der „Lutherstadt“ Wittenberg besucht und sie auf der letzten Etappe ihrer Ausbildung begleitet. Das Vikariat ist die letzte Station vor dem Pfarramt, aber diese Station, so zeigt der Film, ist keine Routine, sondern tatsächlich eine Phase verschärfter Selbstbefragung.

„Welche Art von Pfarrer würde ich denn werden, wenn ich denn einer werden würde?“, wird einmal gefragt. Entschieden ist noch wenig oder gar nichts. Es steht also, sagen die Filmemacher, buchstäblich alles auf dem Spiel, bevor es anschließend in der Gemeindearbeit richtig ernst wird. Um so erstaunlicher ist dieser „Nahfilm“ (Kolbe) gelungen, weil sich die Filmemacher immer wieder als dezidiert atheistisch zu erkennen geben. Und einfach mal fragen: Was bedeutet denn das Abendmahl genau? Und dürfen wir mitmachen? Dann ergibt sich schon mal ein kleiner Disput unter den Vikaren. Aber die Kunst der Dokumentaristen besteht gerade darin, dass sie eine Nähe zu den beobachteten Menschen herstellen, die es diesen nicht mehr erlaubt, sich in vorgestanzte theologische Allgemeinplätze zu flüchten. Sondern es geradezu billig erscheinen lässt, um ehrliche Antworten zu ringen.

So sagt die Pfarrerstochter, die auf dem Weg ist, die Familientradition fortzusetzen, vor laufender Kamera: „Mein Vater hält ganz tolle Predigten. Aber eher so klassisch: also so, liebe Gemeinde, hier, kennen wir das nicht alle? hmhmhmhm, und frei, sind wir nicht irgendwie alle im Gefängnis?, Singen befreit, joa“. Sie, die ihren Vater im Studium noch gern und vielleicht aus einer Mischung aus Respekt und Bequemlichkeit bemühte, um sich Predigttexte schreiben zu lassen, ringt jetzt um eine eigene Predigt-Stimme.

Der Blick auf die Vikare ist aufrichtig neugierig, hält aber die eigene (kritisch-distanzierte) Position nicht hinter dem Berg. Gezeigt wird aber trotzdem, wie intellektuell redlich und verbindlich eine „Selbstklärung“ unternommen wird, die der Verantwortung der Berufsperspektive gerecht zu werden trachtet. Wenn eine Vikarin es ganz stark findet, dass es die Gewissheit gibt, dass am Sonntagmorgen um 10 Uhr an ganz vielen Orten von ganz vielen Menschen das Gleiche getan werden wird, dann hält der Film vor Augen, dass die „Lutherstadt“ Wittenberg in Sachsen-Anhalt liegt, wo knapp zwei Drittel der Bevölkerung überhaupt keiner christlichen Kirche angehören. Aber dank der dokumentarischen Erzählstrategie wächst beim Zuschauer eher der Respekt vor der Entscheidung der jungen Vikare, diesen undankbaren Job zu machen, als dass man sie als Auslaufmodell verlacht.

Auf eine entscheidende Sache weisen die Filmemacher selbst hin: dieses intensive Gruppenporträt bezieht seine Stärke auch daraus, dass hier Protestanten und keine Katholiken vor der Kamera agieren. Es geht also immer auch um die (protestantische) Tradition der forcierten Selbstbefragung, die am historischen Ort Wittenberg nochmals nachhaltig verstärkt wird. Am Ende bleibt selbst die entscheidende Frage nicht ungestellt: „Was sagt denn der Chef?“ Nur bleibt sie wieder einmal unbeantwortet.

Spuren

(AU 2013, Regie: John Curran)

„Haut die (Kamel-)Bullen platt wie Stullen!“
von Ulrich Kriest

Ein rätselhafter Film! Ich erinnere, verstört aus dem Kinosaal ins frühlingshaft Helle getaumelt zu sein. Mit dem Gefühl, Opfer eines dreisten Trickbetrügers geworden zu sein, der mich, Fan von Nicolas …

Ein rätselhafter Film! Ich erinnere, verstört aus dem Kinosaal ins frühlingshaft Helle getaumelt zu sein. Mit dem Gefühl, Opfer eines dreisten Trickbetrügers geworden zu sein, der mich, Fan von Nicolas Roegs „Walkabout“, Werner Herzogs „Fata Morgana“, Gerard Depardons „La Captive du désert“ und der ersten hierzulande bekannt gewordenen Filme Peter Weirs, im schlechtesten aller Sinne in die Wüste geschickt hatte.

Mensch, Frau, allein, in der Wüste Australiens? Nach einer wahren Geschichte? Einsamkeit und Schönheit und Abenteuer. Da müsste doch was zu machen sein? Nach knapp zwei Stunden hatte ich selbst die Halluzinationen, hörte gar Herbert Grönemeyer rufen. „Was soll das?“ Anders gesagt: wenn „Spuren“ von John Curran ganz, ganz clever wäre, dann räumte der Film mit dem Mythos des Abenteuerlichen auf (was der Film auf einer Ebene ja auch tut), aber ansonsten bleibt er eine völlig spannungslose Aneinanderreihung des Lapidaren um eine schwache Hauptdarstellerin, die eine komplett unsympathische, asoziale Figur spielt. Kurz bevor gar nichts mehr passiert, wird mal ein brünftiger Kamelbulle ins Bild gejagt (gefährlich, gefährlich!) oder aber ein treuer Hund stirbt (ganz, ganz traurig!) oder ein Farmhaus steht einsam am Wegesrand (anrührend, dieses alte Farmer-Pärchen!). Ich hatte einen Film á la „Walkabout“ erwartet, aber das Outback sah hier ungefähr so sexy aus wie eine Brache hinterm „Aldi“-Parkplatz.

Worum geht‘s? Mitte der 1970er Jahre entschließt sich die aus nicht näher formulierten Gründen zivilisationsmüde Robyn Davidson, gespielt von Mia „Alice im Wunderland“ Wasikowska, ganz allein, begleitet nur von vier Kamelen und ihrem treuen Hund Diggity, die australische Wüste von Alice Springs bis zum Indischen Ozean zu durchwandern. Warum? Warum nicht? Allerdings ist sie so derart allein, dass sie sich zunächst erst einmal die Kamele »verdienen« muss, was dem Film einen etwas umständlichen Prolog verschafft, der davon erzählt, dass mit Kamelzüchtern, die aus Österreich stammen, nicht gut Kirschen essen ist.

Bevor ihr Plan vollends scheitert, entschließt sich Robyn, die Fotorechte an ihrem Abenteuer exklusiv an den jungen und sehr sympathischen „National Geographic“-Fotografen Rick Smolan zu verkaufen, der sie zwar nicht als fünftes Kamel begleiten wird, aber immer mal wieder aus dem Nichts mit seinem Landrover vorbeischaut, um ein paar Fotos zu schießen. Dass ein Fotograf fotografiert, hat Robyn offenbar nicht bedacht, als sie die Fotorechte veräußerte. Jedenfalls stört der »embedded journalist« Rick das Gefühl, die Zivilisation so richtig ganz hinter sich gelassen zu haben, mitunter ganz entschieden. Immerhin: eine Liebesgeschichte entwickelt sich nicht oder nicht ganz oder nur fast, zum Glück für Schmusehund Diggity.

Manchmal, wenn es wohl selbst dem Filmteam etwas zu langweilig wurde, Kamelen beim Kamel-Sein zuzuschauen, erlaubt sich der Film, durch Rückblenden nachzuforschen, was Robyn vielleicht im Innersten umgetrieben haben mag. Lag es, huch, in der Familie? Eine immerhin unterhaltsame Episode ist dann die Begegnung mit dem Aborigine-Ältesten Mr. Eddy, der sich bereit erklärt, Robyn durch ein „heiliges Land“ zu führen, um ihr (und uns!) einen Umweg von vielen hundert Meilen zu ersparen. Kommt es zu einer spirituellen Übertragung? Wir wissen es nicht, aber schon die Präsenz von Mr. Eddy nimmt dem Film etwas von seiner Bräsigkeit. Am Ende wartet dann blaues Wasser vor weißem Wüstensand, ein happy end – und aus dem Selbsterfahrungstrip wird ein internationaler Buchbestseller mit tollen Fotos, der Davidson eine schöne Karriere beschert.

Heute, so weiß das Presseheft, kennt jeder Australier diese Geschichte, die – so die Macher – es nicht verdient hatte, ein routinierter Hollywood-Film zu werden. So mit Star-Power und dramaturgischen Zuspitzungen. Dann schon lieber vielsagendes Geplätscher für zivilisationsmüde Esoteriker. Im Presseheft findet sich auch folgende Reflektion der Film-Produzenten, warum sie sich so intensiv um die Rechte am Stoff bemüht hätten. Die Reise der Robyn Davidson, die genug hatte vom „Geplapper ihrer Mittelklasse-Freunde, die immer nur über Politik und ihre beruflichen Pläne diskutierten“, ist nämlich heutzutage, wo Politik und berufliche Pläne besser nicht mehr diskutiert werden, brandaktuell: „Der Gedanke, alles abzuschalten und hinter sich zu lassen, um wirklich bei sich selbst anzukommen, ist heute verlockender denn je. Und genau diese Suche nach der eigenen Authentizität war es, die uns an diesem Film so gereizt hat.“

Wer es sich allerdings ersparen will, brünftige Kamelbullen abzuknallen, um seine ganz eigene Authentizität zu erkunden, kann natürlich auch alles abschalten und sich mit zwei Flaschen Wodka in den Schnee legen. Die österreichische Methode. Gehts scheißen!

Am Ende des Tages

(AT 2011, Regie: Peter Payer)

Porträt des Politikers als psychopathischer Zuhälter
von Nicolai Bühnemann

Der Politiker als Emporkömmling und Karrierist. Hoch hinaus ist Robert (Simon Schwarz) gekommen. Aus dem Problembezirk ins Eigenheim, in die Politik. Noch höher wollen er – und der Film – …

Der Politiker als Emporkömmling und Karrierist. Hoch hinaus ist Robert (Simon Schwarz) gekommen. Aus dem Problembezirk ins Eigenheim, in die Politik. Noch höher wollen er – und der Film – hinaus von Wien in die Tiroler Alpen. Für ein geruhsames Wochenende mit seiner schwangeren Frau Kathi (Anna Unterberger), bevor der Wahlkampfstress so richtig losgeht. Wir sollen uns die beiden zu Beginn wohl als glückliches Paar vorstellen. Eine innigere Bindung als zu ihr scheint er aber zu seinem Telefon zu haben, in das er unentwegt seine Kampagne diktiert: „Das Entscheidende ist nicht, wo ein Mensch herkommt, sondern wo er hin will“ und Phrasen drischt: Ehrlichkeit, Ehrlichkeit, Ehrlichkeit.

Die Politiker-Gattin als gut gelaunte Dulderin. Irgendwie findet Kathi es ja schon doof, dass er die ganze Zeit telefoniert, dass sie sich im Auto das xenophobe Gelabber seiner „Feinde“ anhören muss, dass er darüber vollkommen vergisst, sie nach den Ergebnissen der pränatalen Untersuchungen zu fragen. Aber sie lacht und ist fröhlich, lässt sich durch jede kleine Albernheit ihres Mannes aufmuntern, als wäre ihr die gute Miene zum bösen Spiel aufs Gesicht operiert. Die absolut unabhängige Frau, die arbeiten geht, obwohl es weder das Haus, aus dem sie stammt, noch das, in das sie geheiratet hat, nötig machen würden, hat auf das Eheleben offenbar gerade genug Einfluss, um, auch gegen das Votum ihres Mannes, zu entscheiden, in welcher Farbe das Wohnzimmer gestrichen wird. Emanzipation erfolgreich abgeschlossen, oder?

Die Politikervergangenheit als Gewaltprolet in Frauenkleidern. Der Mann, der bald die Verfolgung des Paares im SUV aufnimmt, heißt Wolfgang (Nicholas Ofczarek), ist ein Jugendfreund Roberts, hat aber, anders als dieser, die Vergangenheit im Sozialbauturm nie hinter sich gelassen. Als Relikt aus dem Achtziger-Jahre-Ghetto kleidet er sich – schon zu Beginn, bevor er ins Kleid schlüpft, Nagellack und Lippenstift anlegt – etwas lächerlich und fährt Opel Kadett. Kathi stellt er sich bei der ersten Begegnung auf der Raststätte als Autodieb vor, der von den Rumänen aus dem Geschäft gedrängt wurde. Er gibt einen kurzen biographischen Abriss: schwere Körperverletzung, Knast, Alkohol, Entzugstherapie. Mit Robert hat er noch eine Rechnung offen. Es geht um Zuhälterei, Mord und die „kleine Manuela“ – seine Schwester. Und wie es eben zu sein pflegt, ist auch für Robert die Vergangenheit, je gründlicher er sie verdrängt hat, nur umso weniger vorbei.
Der Politiker-Vergangenheits(nicht)bewältigungs-Thriller als Scorsese-Reminiszenz.

Amerikanische Vorbilder lassen sich sicherlich einige finden, das offenkundigste ist aber wohl Martin Scorseses „Cape Fear“ von 1991. Auch darin bekommt es ein beruflich erfolgreicher Mann als Folge lange vergangenen Fehlverhaltens mit einem rachsüchtigen Psychopathen zu tun. Gespielt wird letzterer von Robert De Niro und in „Am Ende des Tages“ steht Wolfgang dieser Bezug schon auf den Körper geschrieben (wobei sich seine albernen Tatoos zu De Niros mit Bibelsprüchen und christlichen Symbolen überzogenem, durchtrainiertem, bei aller Überzeichnung in den pulp und ins Comic doch beängstigend imposantem Gesamtkunstwerks-Körper in etwa so verhalten wie, tja, eben wie Nicholas Ofczarek zu Robert De Niro). Wo De Niro seine Vergewaltigungserfahrungen im Knast mit den, nun ja, blumigen Worten beschrieb, er habe dort seine weibliche Seite kennengelernt, lässt Regisseur und Drehbuchautor Peter Payer seinen Bösewicht gleich die gesamte zweite Hälfte des Films in Frauenkleidern rumlaufen.

Einerseits setzt Payer geschickt auf Reduktion: ein Figuren-Terzett in einem Kammerspiel on the road, die Handlung erstreckt sich über nur einen Tag. Andererseits möchte er aus dieser Konstellation dann doch wieder maximale Ambivalenz herausholen. Die Machtverhältnisse und Abhängigkeiten zwischen den Dreien werden im letzten Drittel solange ungerührt durchgeschüttelt, die Wahrheit solange Stück für Stück aufgedeckt, bis es – am Ende des Tages – kein Gut und Böse mehr gibt. Die Frau ist, noch wenn sie mit der Pistole in der Hand über den am Boden raufenden Männern steht, hilflos, weil es keine richtige Entscheidung mehr gibt, sie immer schon zugleich Opfer und Mit-Täterin war – und ist.

Dass das alles auf nichts anderes hinauswill als auf das alte Klischee vom Saubermann, der mächtig Dreck am Stecken hat, ist das eine. Die fragwürdigen politischen Konnotationen sind das andere. Was genau hat der Film uns zu sagen über den (linken!) Politiker als psychopathischen Zuhälter, seine Partei als Kinderficker-Sumpf, seine duldende Gattin oder die „Unterschicht“? Wenn der Gute – oder sollte man sagen: „Gutmensch“? – letztlich ein ganz Böser ist, was sagt uns das dann über seine politischen Gegner, die zwar nur als ausländerfeindliche Hetzer-Stimme im Radio oder als gar nicht wohlwollender reicher Schwiegervater in den Dialogen auftauchen, aber eben doch mitgedacht werden müssen? Wenn Kathi viel zu lange an das „Gute im Menschen“ glaubt, in ihrem Mann und in Wolfgang gleichermaßen, ist das einfach nur ihre persönliche Charakterschwäche? Sind sie eben so, die Frauen? Oder wird hier doch allgemein über einen „Linksliberalismus“ hergezogen, der Probleme einfach nicht angehen kann, weil er, vollkommen weltfremd, noch seine Stalker zum Essen einlädt? Propagiert der Film – relativ perfide – Ressentiments und landet damit in etwa beim Weltbild eines Thilo Sarrazin, oder weiß er einfach nicht, was er tut? Wäre letzteres eine Entschuldigung?

Bleibt noch zu bemerken, dass „Am Ende des Tages“ als Thriller durchaus funktioniert. Langweilig wird es in der zweiten Hälfte garantiert nicht. Die Kamera von Thomas Prodinger ist gut, bisweilen sogar großartig. Wie sie den Kontrast von amerikanischen Genre-Vorbildern und Alpenpanorama einfängt, die Figuren in ihrer Verlorenheit darstellt, indem sie sie vor der bisweilen atemberaubenden Landschaft isoliert, woraus die eine oder andere denkwürdige Einstellung entsteht, hat definitiv was. Nur: dass gerade seine schönsten Bilder irgendwie aus dem Film zu fallen scheinen ist bezeichnend dafür, wie sehr sich „Am Ende des Tages“ an seinen Ambitionen überhebt. Ein Film, der hoch hinaus will, der gerne ein grimmiger und brisanter Psycho-Polit-Thriller mit Scorsese-Touch wäre, doch nur TV-Krimi-Konfektionsware (mit österreichischem Kinostart) ist.

Die Blu-ray ist mit einem Making-Of, ausführlichen Interviews mit den drei Hauptdarstellern und dem Regisseur sowie einem Musik-Clip durchaus passabel ausgestattet. Dass mich das im Hinblick auf die lieblosen Veröffentlichungen ungleich interessanterer Filme aus Übersee, die ich zuletzt hier besprochen habe, schon etwas ärgert, ist dann wahrscheinlich doch eher mein Problem.

Mistaken for Strangers

(USA 2013, Regie: Tom Berninger)

Des Unwiderspenstigen Zähmung
von Carsten Moll

Dass die beiden Männer, die da für das Promo-Material ausgiebig nebeneinander posen, Brüder sind, lässt sich schwer leugnen. Die gleichen zugekniffenen Augen, der selbe rot-blonde Ton im Haar, beide mit …

Dass die beiden Männer, die da für das Promo-Material ausgiebig nebeneinander posen, Brüder sind, lässt sich schwer leugnen. Die gleichen zugekniffenen Augen, der selbe rot-blonde Ton im Haar, beide mit Vollbart. Doch die Pointe der Bilder und zu einem großen Teil auch die von „Mistaken for Strangers“ liegt im Unterschied, der die Herren Berninger zu einem ungleichen Paar stilisiert: Matt ist groß und wirkt ein wenig steif, wie er da im maßgeschneiderten Anzug steht und ein Glas Rotwein in der Hand hält. Immerhin: Er ist Frontmann der angesagten und seit einigen Jahren auch kommerziell erfolgreichen Indie-Rockband „The National“. Der untersetzte Tom hingegen macht einen auf vergnügten Metalhead, greift lieber zur Bierdose und ist seiner ausgeprägten Slacker-Attitüde zum Trotz noch dabei, sein Häppchen Ruhm zu ergattern. Sein Dokumentarfilm „Mistaken for Strangers“ ist dabei sein bisher wohl ambitioniertester und vielversprechendster Versuch.

Auch wenn der einem Song von „The National“ entlehnte Titel und die Werbung zum Film suggeriert, dass man es hier mit einer waschechten Rock-Doku zu tun haben könnte, bleibt die Geschichte von Matt Berningers Band, das Tourleben und die Musik eher Hintergrundrauschen. Weil ihm im Schatten des großen Bruders schon sonst niemand die gewünschte Aufmerksamkeit schenken will, macht sich Regisseur Tom Berninger nämlich einfach selbst zum Star und Hauptdarsteller seines eigenen Films. In der US-amerikanischen Kritik wurde dabei wiederholt auf die Parallelen von „Mistaken for Strangers“ zu den Komödien Judd Apatows oder denen mit „Hangover“-Star Zach Galifianakis hingewiesen. Ganz abwegig sind solche Gedanken nicht, inszeniert Berninger sich doch als etwas übermütiges und verspieltes Kind im Mann. Voller Neid und Trotz, aber auch mit ein wenig Bewunderung blickt er auf das Leben des gefeierten Bruders, selbst wenn er diesen genau wie seine Musik eigentlich ein bisschen lahm findet. Als Matt ihn fragt, ob Tom als Roadie die anstehende „The-National“-Tour rund um die Welt begleiten will, sagt der kleine Bruder trotzdem nicht nein – vielleicht auch bloß, weil die Alternative wäre, mit 30 noch zu Hause bei den Eltern in Cincinnati zu wohnen und dort mit Kumpels kleine Trashfilme über Amok laufende Ungeheuer und ihre Identitätskrisen zu drehen.

Es kommt, wie es kommen muss: Mitten während der Tournee und gut nach der Hälfte des Films fliegt Tom raus aus dem hochprofessionellen Bandzirkus, weil er lieber mit der Kamera umherstreift und alberne Interviews führt, als sich um Handtücher und Wasserflaschen für die Musiker zu kümmern. Zurück in Cincinnati bleibt dem Regisseur mangels abhanden gekommener Rockband also nicht anderes übrig, als sich weiterhin ausgiebig mit sich selbst und seinen Neurosen zu beschäftigen. Papa und Mama Berninger werden zur gar nicht so lange zurückliegenden und teils noch andauernden Kindheit befragt und die Lebenskrise wird immer präsenter. Schließlich ist es wieder die Initiative von Matt, dank der Toms Dokumentarfilm nicht völlig stagniert und sich in eine lange Reihe von unvollendeten Projekten einreihen muss. In Matts New Yorker Wohnung und mit der Hilfe seiner Ehefrau, der Literaturredakteurin Carin Besser, gelingt sie also doch noch, die Fertigstellung von „Mistaken for Strangers“. Nicht zuletzt vielleicht, weil Tom einen Ratschlag seines großen Bruders beherzigt, der auch „The National“ zum Erfolg geführt haben soll: nämlich in der Kunst die eigenen Misserfolge, Ängste und Sorgen produktiv zu machen und zu verwerten.

Und im Ansatz funktioniert diese Masche auch für „Mistaken for Strangers“ ganz gut. Der Film hat seine Momente, bewegende, lustige und entlarvende. Etwa wenn er dem Erfolgsmodell Indie-Melancholie alle Underdog-Allüren austreibt und stattdessen das Schlürfen von Rotwein, die bühnenreife Depression und den getimten Zusammenbruch nicht als Widerspruch oder Alternative, sondern als konsequente Fortführung eines karriereorientierten Goldjungen-Daseins versteht – ein Auftritt im Wahlkampf von Barack Obama inbegriffen. Dass Tom Berninger seinem Bruder dabei aber letztlich nur unreflektiert (und in der letzten Szene auch wortwörtlich) nachhechelt, raubt „Mistaken for Strangers“ ein ums andere Mal das subversive Potenzial und lässt die Brüder in ihrer Rolle als ungleiches Paar rasch als einen Marketing-Gag erscheinen.

Die Schärfen, Spitzen und Rücksichtslosigkeiten, die sich sowohl bei Apatow wie auch in den Figuren Galifianakis immer wieder Bahn brechen, bleiben bei Berninger auf dem Niveau eines kindischen Rumgenörgels, das sich mit etwas Zucker leicht besänftigen lässt. Laut einem Statement im Presseheft sieht der Regisseur den Erfolg von „The National“ und das Drehen seines Dokumentarfilms dann auch vor allem als eine Lektion in Sachen Hartnäckigkeit, Leidenschaft und Geduld. Ärgerlicher als diese dusselige Tugendhaftigkeit ist allerdings, dass die dramaturgischen Entscheidungen Berningers kaum Raum lassen, in „Mistaken for Strangers“ etwas anderes zu sehen als die konventionelle Zähmung eines Widerspenstigen , der ja eigentlich nie widerspenstig war.

Ida

(DK / P 2013, Regie: Pawel Pawlikowski)

Mauer des Schweigens
von Wolfgang Nierlin

Die Bilder von Pawel Pawlikowskis neuem Film „Ida“ sind in ein graues, melancholisches Schwarzweiß getaucht. Im Polen zu Beginn der 1960er Jahre sieht es fast so aus, als wäre die …

Die Bilder von Pawel Pawlikowskis neuem Film „Ida“ sind in ein graues, melancholisches Schwarzweiß getaucht. Im Polen zu Beginn der 1960er Jahre sieht es fast so aus, als wäre die Zeit stehen geblieben. Das ärmliche, düstere Leben ist von Fassaden umschlossen, deren Verputz abbröckelt. Räumliche Enge und innere Verstocktheit bestimmen die realistische, sehr genau eingefangene, Atmosphäre einer Gesellschaft, die sich noch unter den ideologischen Nachwehen der stalinistischen Ära duckt. Damit korrespondiert das klassische, fast quadratische Academy-Bildformat, für das die beiden Kameramänner Ryszard Lenczewski und Lukasc Zal immer wieder kunstvolle Einstellungen komponieren, in denen der Raum übermächtig ist und die Figuren an den Rand gedrückt werden.

„Ida“ ist ein leiser, nüchterner Film, der trotzdem eine starke Stimmung entfaltet und der die individuellen Dramen und Lebenskatastrophen fast unausgesprochen lässt oder aber in den Ellipsen zwischen dem Erzählten aufruft. Die Schatten der Vergangenheit, genährt von Traumata und Schuld, sowie die schmerzhaften Geburtswehen einer noch unsicheren Identität dominieren die Figuren. So erfährt die junge Novizin Anna (Agata Trzebuchowska), die seit frühester Kindheit in einem Kloster lebt und sich gerade auf ihr Gelübde vorbereitet, von ihrer einzigen Verwandten, dass sie als Jüdin geboren wurde und eigentlich Ida Lebenstein heißt. Ihre Tante Wanda Gruz (Agata Kulesza), die Schwester ihrer Mutter, ist eine ehemalige Widerstandskämpferin, die in den fünfziger Jahren als kompromisslose Staatsanwältin sogenannte Volksfeinde zum Tode verurteilte und jetzt gelangweilt ihren Dienst als Richterin versieht.

Die Gegensätze zwischen der resoluten, desillusionierten Altkommunistin und dem frommen Mädchen befördern ihre Beziehung, die trotz aller Unterschiede eine intime Nähe besitzt. Während Wanda in einer Mischung aus schläfriger Eleganz und Selbstzerstörungstrieb raucht, trinkt und Männer abschleppt, entdeckt Ida ihre Gefühle zu dem jungen Jazzsaxophonisten Lis (Dawid Ogrodnik). Im Zentrum von Pawlikowskis ebenso beeindruckendem wie notwendigem Film steht aber die Spurensuche der beiden ungleichen Frauen nach ihren Angehörigen, deren Schicksal eine Mauer des Schweigens umschließt. Bald stellt sich heraus, dass diese von polnischen Bauern ermordet und im Wald verscharrt wurden. Die Exhumierung ihrer Gebeine wird für Ida und Wanda zur bewegenden Trauerarbeit. Doch dann stürzt sich die Richterin, als wäre ihre Geschichte damit beendet, aus dem Fenster; und Ida muss sich, musikalisch flankiert von John Coltrane („Naima“) und J. S. Bach („Ich ruf‘ zu Dir, Herr Jesu Christ“) entscheiden, ob sie der Welt („Das Übliche, das Leben“, nennt dies Lis) tatsächlich entsagen möchte.

Baal

(BRD 1970, Regie: Volker Schlöndorff)

Als Fassbinder Baal war
von Nicolai Bühnemann

Baal. Vom syrischen Wetter- und Fruchtbarkeitsgott zum Dämon im Christentum. Vom Herrn („Baal“) zum Herrn der Fliegen („Baal Zebub“, „Beelzebub“). Im zwanzigsten Jahrhundert dann, im ersten Stück des (jungen) Anarchisten …

Baal. Vom syrischen Wetter- und Fruchtbarkeitsgott zum Dämon im Christentum. Vom Herrn („Baal“) zum Herrn der Fliegen („Baal Zebub“, „Beelzebub“). Im zwanzigsten Jahrhundert dann, im ersten Stück des (jungen) Anarchisten Bertolt Brecht zunächst: der Dichter, Säufer, Weiberheld, Libertin, Bürgerschreck, Prototyp des nach außen rücksichtslosen, nach innen selbstzerstörerischen, an seiner Umwelt und sich selbst zugrunde gehenden Künstlers, Prototyp vielleicht des Club 27-Rockstars (oder doch eher: der Erzählung, die wir über ihn kennen, zum Beispiel von Oliver Stone). Dann, im neu aufgelegten Stück des (alternden) Sozialisten Bertolt Brecht: der „Böse“, der 'Asoziale“. Einer, der so verzweifelt nach Freiheit suchte wie Baal, passte nicht auf SED-Linie. Blieb der eigentliche Text des Stückes auch mehr oder weniger unangetastet, musste sich der Autor doch im Vorwort entschuldigend äußern, relativieren: Baal „ist asozial, aber in einer asozialen Gesellschaft“ und: „Ich gebe zu (und warne): Dem Stück fehlt es an Weisheit.“ Man sieht: es ist immer eine Frage des „richtigen“ Glaubens mit diesem Baal.

An einem vorläufigen Endpunkt dieser Aneignungen, Um- und Überschreibungen steht bzw. geht 1969 Rainer Werner Fassbinder einen Feldweg entlang, in Lederjacke, rauchend natürlich. „Angel to some, demon to others“, nach außen rücksichtsloser, nach innen selbstzerstörerischer, an seiner Umwelt und sich selbst zugrunde gehender Künstler auf dem Weg zum Rockstar-Filmemacher. Die 16mm-Kamera in der Hand von Dietrich Lohmann folgt ihm, läuft eine Weile neben ihm her, macht einen großen Bogen um ihn herum, schweift ab in den Himmel und sieht den Vögeln beim Ziehen zu, kehrt dann zu Baal/Fassbinder zurück, der davon geht, den Feldweg entlang. Zweieinhalb Minuten lang und ohne Schnitt, aber die Szene könnte von der Eleganz, die man oft von Plansequenzen (auch aus prä-Steady Cam-Zeiten, bei Welles etwa) kennt, nicht weiter entfernt sein. Sonderlich gekonnt sieht das, was die Kamera da macht, eigentlich nicht aus, zumindest nicht durchgehend. Aber aus dem Dilettantismus, daraus, wie in diesem eigentlich verdammt prätentiösen Unterfangen, das der Film ist, einfach immer wieder ausprobiert und munter drauflos gefilmt wird, entsteht eine sehr eigene und sehr eigenwillige Poesie – hier schon und auch später immer wieder. Dazu übrigens: Der mit rockigem Blues unterlegte „Choral vom großen Baal“ – von einigen Kürzungen und Straffungen abgesehen, ganz so, wie er bei Brecht steht.

Volker Schlöndorff drehte diesen Film als Teil einer Brecht-Reihe fürs Fernsehen. Schlöndorffs eigene Regie-Karriere steckte Ende der Sechziger bereits in einer ersten großen Krise, mit der millionenteuren amerikanischen Produktion „Michael Kohlhaas“ war er kolossal gescheitert. „Baal“ sollte konsolidieren. Seine Mitstreiter aber um Fassbinder und dessen antiteater-Truppe (unter anderem Hannah Schygulla, Irm Hermann, Günther Kaufmann) wurden erst später in den Siebzigern zu Stars. Die Linien, die sich hier kreuzen, machen dieses „Fernsehspiel“ vielleicht zu einem geheimen Schlüsselwerk dessen, was man den „Neuen Deutschen Film“ nannte. Umso bedauerlicher, dass „Baal“ über vier Jahrzehnte in den Archiven vergammelte, weil Helene Weigel, der der Film nicht in den ideologischen Kram passte, ein Verbot erwirkte, das spätere Brecht-Erben aufrecht erhalten ließen – bis 2013.
Schlöndorff beschrieb sein Werk mit den Worten: „Dieser „Baal“ ist kein Film, sondern eine Fernsehinszenierung des integralen Brechttextes, auf Film produziert als „Fernsehspiel“.“ Was in diesem verschwurbelten Satz munter durcheinander purzelt, beschreibt den Film tatsächlich ziemlich gut. Zunächst einmal: eine Adaption dicht an der Theater-Vorlage. 24 Kapitel, von Zwischentiteln eingeläutet und durchnummeriert, den 24 Szenen des Stückes entsprechend, nur die Reihenfolge wurde teilweise variiert. Hier und da etwas gekürzt oder umgestellt, sagen die Schauspieler die Brecht-Dialoge, -Lieder und -Gedichte auf – und es ist auch hier nicht die Perfektion, die die Brecht-Worte aus den Mündern von Fassbinder, von Trotta, Schygulla und den anderen zum reinsten Gedicht macht, sondern gerade das Provisorische im Spiel der Darsteller, denen man ihre Unerfahrenheit anmerkt. Das overacting – vor allem Fassbinders – disharmoniert mit dem Theatralischen, dem Festgeschriebenen, auswendig Gelernten auf eine Art, die die ganze Zerrissenheit, Verzweiflung und Gemeinheit der Vorlage ans Licht und aufs Zelluloid bringt.

Und dann ist der Film von der Vorlage auch wieder weit entfernt. Wie die Handkamera sich wackelnd, meist dicht an den Körpern, zwischen den Figuren bewegt, auf recht holprige Weise dynamisch, wie sie in einer Szene über die nackte Haut von Rainer Werner Fassbinder und Margarethe von Trotta wandert, deren feuerrote Haare leinwandfüllend ins Bild fallen, das ist Film durch und durch. Die siebente Kunst ganz und gar.

Und die tollsten unter den liebevoll ausgewählten Sets sind die unter freiem Himmel. Baal und Eckart (Sigi Graue) vor einer nächtlichen Straße. Baal in der vorletzten Szene, an der Autobahn, in der Dämmerung, die unscharfen Lichter einer Tankstelle hinter ihm, der dicht fließende Verkehr vor ihm, er dreht sich um und rennt in die Felder. In der letzten Szene dann torkelt er sterbend aus der Waldhütte, stürzt, dann sieht man nur noch einen Busch. Die Rückkehr zur Natur, die er erträumt, kann nur im Tod vollzogen werden.

Am großartigsten aber eine Szene mit Fassbinder, Graue und von Trotta (als Sofie) vor einer viel befahrenen Landstraße. Sie streiten, Baal will die von ihm schwangere Sofie zurücklassen, schubst sie zu Boden, Eckart sucht sie zu verteidigen, gelobt, bei ihr zu bleiben, sie aber will nur Baal. Die Ränder des Bildes sind unscharf, das grelle Sonnenlicht frisst sich ins grobkörnige 16mm-Material, verwandelt die drei jungen Menschen zu Schimären, die mit vollem Körpereinsatz Brecht spielen, während der dichte bundesrepublikanische Sechziger-Jahre-Verkehr vollkommen unbeteiligt an ihnen vorbeirauscht.

Auch weit entfernt vom Stück hangelt sich der Film durch die jeweiligen zeitgeschichtlichen Konnotationen. Schon bei Brecht, 1918, ging es um den Menschen in der Revolte – und sein Scheitern. Darum, wie der „Ausbruch“ und alle Befreiungen immer nur in neue Gefängnisse führen. Bei Schlöndorff aber handelt der historische Text vom gegenwärtigen Menschen in der Revolte – und antizipiert sein Scheitern. Baal, der den Himmel liebt, mehr als irgendetwas auf der Welt, und sich einmal wünscht, mit den Pflanzen schlafen zu können. Baal, dem die Rückkehr zur Natur, zur Mutter, bei jeder Frau verwehrt bleiben muss, und der irgendwann vom „Weib“, von der Sexualität müde ist. Baal, der aus Verzweiflung immer mehr säuft, immer weiter aufquillt. Baal, der schließlich zum Mörder wird. Wovon sollte diese Figur 1969 erzählen, wenn nicht vom Hippie, der zum Terroristen wird? Davon, wie der antibürgerliche Hedonismus in die Krankheit, in die Sucht führen kann – und die „sexuelle Revolution“ irgendwann resigniert feststellen muss: „I can’t get no satisfaction (and I tried and I tried and I tried …)“

Und: ist dieser krude kleine Theater-Fernseh-Film heute, 2014, wenn er nach 43 Jahren wieder aufgeführt werden darf und wir wissen, wie es den Revoluzzern von einst erging, nicht aktueller denn je? Dass sie bestenfalls an den Lehrstühlen der Unis endeten, manche im Knast landeten, andere auf dem Bahnhofsklo und wieder andere – die von außen betrachtet vielleicht gruseligste Variante – im Dschungel-Camp.

Der Film wurde auf der Berlinale 2014 im Kino uraufgeführt und bekam am 24. März auch eine reguläre Kinoauswertung. Die Restaurierung und digitale Neuabtastung gibt leider allen Unkenrufen zur Digitalisierung des Kinos recht: Von der Grobkörnigkeit des 16mm-Ausgangsmaterials bleibt oft nur ein Pixelbrei. Die DVD, die zeitgleich vom Zweitausendeins-Verlag in der „Edition Deutscher Film“ veröffentlicht wurde, kaschiert das unvorteilhaft wieder gegebene Bild durchaus besser. Darüber hinaus ist sie mit einem 35-minütigen Interview mit Schlöndorff sowie sehr umfangreichem, auch historisch interessantem Text-Material als PDF (u. a. Pressehefte von 1969 und 2014, eine ausführliche Einleitung zur Fernseh-Premiere des Films und Auszüge aus dem Drehbuch) vorbildlich ausgestattet. Dennoch lohnt es sich, einen Film, der so mit Close-Ups arbeitet wie dieser, der den „Hymnus an die Leiblichkeit“, als der Brechts Stück bezeichnet wurde, kongenial ins Fernsehbild überträgt, auf der großen Leinwand zu sehen.

Soundbreaker

(FI / TZ / GB / B / PZ 2012, Regie: Kimmo Koskela)

Ein Idiot mehr (oder weniger)
von Ulrich Kriest

Im Frühjahr 2014 findet die Musik im Kinosaal statt. Ist mit den Startterminen natürlich immer auch etwas kontingent, aber trotzdem ist diese Häufung an durchaus sehenswerten Musikdokumentationen aktuell auffällig. Und …

Im Frühjahr 2014 findet die Musik im Kinosaal statt. Ist mit den Startterminen natürlich immer auch etwas kontingent, aber trotzdem ist diese Häufung an durchaus sehenswerten Musikdokumentationen aktuell auffällig. Und natürlich auch zu begrüßen.

„Oft ist es so, dass man mit einer Idee an etwas herangeht, aber dann besteht die große Kunst darin, dass man auf das Material schaut und nicht auf das, was man als Idee mitgenommen hat“, erklärt der Dokumentarist Christoph Hübner im Pressematerial zum Film „Transmitting“, den er gemeinsam mit Gabriele Voss produziert hat. Im Falle von „Transmitting“ dreht sich alles um Improvisation im doppelten Sinne, denn auch die Musiker, die die Dokumentaristen mit ihrer Kamera begleiten, hatten nur einen ungefähren Plan von dem, was auf sie zukommen sollte. Gleich zu Beginn stellt ein Insert klar, was in den folgenden knapp 90 Minuten zu sehen sein wird: „Rabat / Marokko'.

Das Trio Joachim Kühn, Majid Bekkas und Ramon Lopez realisiert ein lange gehegtes Projekt. Einen Monat Zeit für Musik und eine neue CD. Sie mieten ein kleines Studio und laden Gastmusiker ein. Sie reisen bis in die Wüste, um zu spielen und Aufnahmen zu machen.“ Diese kurze Beschreibung stimmt, aber natürlich auch wieder nicht, denn wir sehen das Musiker-Trio im Studio, bei Gesprächen oder Strandspaziergängen. Die Musiker arbeiten an etwas, was später einmal das Album „Out of the Desert“ werden sollte. Es gibt Schwierigkeiten, die künstlerisch bewältigt sein wollen.

So ist „Transmitting“ eine außerordentliche, weil geduldige und offene Musikdokumentation, die gleichzeitig auch eine Reiseerzählung voll bleibender Eindrücke geworden ist. Ein Glücksfall! Und dann ist da die stets herzliche Neugier, die Gesprächsbereitschaft von Joachim Kühn, der vom Habitus her immer etwas an Udo Lindenberg erinnert und schöne Sätze sagt, wie beispielsweise: „Wichtig ist nicht, wo man herkommt. Wichtig ist, wo man hingeht.“ Interessant auch noch: die Verspätung des Films, denn Joachim Kühn, der vor ein paar Tagen 70 wurde, feierte bei den Sessions in Rabat seinen 66. Geburtstag.

Von 2008/2009 stammen auch die Bilder des Films „Charlie Mariano – Last Visits“. Bekanntlich ist der Saxophonist im Juni 2009 nach langer Krankheit in Köln gestorben. Axel Engstfelds betont kunstlose und etwas unkonzentriert wirkende Dokumentation hat Mariano in seinen beiden Lebensjahren mit der Kamera durch seinen Alltag begleitet, zeigt ihn bei Arztbesuchen, aber auch noch auf der Bühne kleiner Clubs und großer Häuser, die Mariano nicht missen mochte, solange die Kräfte reichten.

Gleichfalls aus der Zeit gefallen, wenngleich zwischen November 2010 und März 2012 gedreht, scheint Augusto Contentos „Parallax Sounds Chicago“. Dabei handelt es sich um keine konventionelle Musikdokumentation, keinen Reisebericht, sondern vielmehr um einen fast schon improvisierend sich gebenden Film-Essay über die Beziehung zwischen Urbanität und Kreativität unter den spezifischen Bedingungen Chicagos, einer Metropole, die eben glücklicherweise etwas abseits liegt. Um den Musiker Sam Prekop zu zitieren, der in diesem Film selbst leider keinen Auftritt hat, es aber andernorts einmal auf den Punkt gebracht hat: „New York reflektiert die Welt, wie sie ist. Chicago reflektiert die Welt, wie sie sein sollte.“

Abseits der Medien-Hochburgen New York und Los Angeles stellte Chicago einen attraktiven, weil (auch) bezahlbaren Lebensraum für Künstler zur Verfügung, die mit großem Enthusiasmus ihre Vorstellungen jenseits der Moden und Mainstreams zu realisieren gedachten. Contento hat Musiker und/oder Musikproduzenten wie David Grubbs, Steve Albini, Damon Locks, Ian Williams oder eben Ken Vandermark in urbanem Ambiente vor die Kamera gelockt, damit sie noch einmal das Hohelied des undogmatischen Neben- und Miteinander singen, das es ab Mitte der 1990er Jahre erlaubte, aus Begeisterung für Kraut-Rock und Dub, für Folk und Free Jazz eine »offene«, experimentelle Musik zu entwerfen, die all dies und noch viel mehr zu fusionieren wusste.

„Parallax Sounds Chicago“ ist ein aufschlussreicher Versuch, den urbanen Raum Chicagos atmosphärisch auf die dort entstandene Musik zu beziehen – und zwar unter den sehr konkreten Bedingungen einer Generation von Künstlern, die mit Punk und No Wave aufgewachsen sind und den kommerziellen Ausverkauf von Grunge miterleben musste. Die Musiker, um die es hier geht, streben nicht in erster Linie ins Rampenlicht, sondern ihr Interesse gilt – idealistisch gesprochen – der Musik, dem Material. Sie verhalten sich kritisch und distanziert gegenüber der Musikindustrie, aber auch gegenüber der »großen« Politik, agieren lieber international auf Graswurzel-Niveau.

Tatsächlich zentriert sich vieles, was der Film zeigt, um den Begriff „alternativ“: alternativ zum Mainstream einer globalen Massenkultur, alternative Songstrukturen, alternative Musik, alternative Aufführungsorte, alternative Ethik, alternativer Habitus, alternative Ökonomie. Doch nicht ist es dem Film vorrangig darum zu tun, diese politische Haltung zu vermitteln, sondern eher geht es darum, inwieweit die vorgestellten Haltungen und Handlungen etwas von Chicago erzählen.

Ungleich konzentrierter nähert sich Kimmo Koskela seinem Objekt, dem „Hendrix des Akkordeons“ Kimmo Pohjonen. Der ist irgendwann mal auf die Idee gekommen, sein Instrument elektrisch zu verstärken und so in völlig neue Klangmöglichkeiten vorzustoßen. Der Weg dahin war lang und alles andere als gerade. „Lately it occurs to me what a long, strange trip it´s been“, singen The Grateful Dead in ihrem bekannten Song „Truckin´“. Daran mag man denken, wenn gegen Ende von Koskelas Musikerporträt „Soundbreaker“ die Kamera endlos sich windende finnische Landstraßen dokumentiert – und den porträtierten Akkordeon-Extremisten Kimmo Pohjonen in seine Zukunft entlässt. So rekonstruiert „Soundbreaker“ eine leidlich originelle, aber durchaus repräsentative Musikerbiografie, die davon erzählt, wie es sich anfühlt, seine musikalischen Talente zum Ausdruck einer möglichst individuellen Persönlichkeit zu bündeln.

Hilfreich ist dabei immer auch ein glücklicher Zufall, damit der „long, strange trip“ ein gutes Ende findet. Einmal gibt es hier alte Fernsehbilder von Pohjonen zu sehen, der als Akkordeon-Wunderkind pflegeleicht zu Protokoll gibt, alle Arten von Musik zu mögen: Polka, Volksmusik, Klassik. Aus heutiger Sicht würde Pohjonen wohl sagen, dass er diese liberale Bravheit nur an den Tag gelegt habe, um seinen Eltern zu gefallen. Denn, so ein schönes Bonmot Pohjonens, schließlich sei das Akkordeon ja ein „Instrument für Idioten, die es spielen, um den Eltern zu gefallen“. Nur gefallen zu wollen, ist aber nicht der Königsweg zur Kreativität.

Da ist es schon besser, man vertraut auf sein Gefühl – und erkundet als Klangforscher die Möglichkeiten des Instruments für Idioten. Gehasst habe er das Instrument, allerdings auch kein Anderes so gut gekannt, um es nachhaltig für sein »eigenes Ding« zu verändern. Pohjonen ist sich sicher: es geht als Künstler allein darum, diesen eigenen Weg zu finden und dabei sich nicht von Regeln beeindrucken oder einschränken zu lassen. Koskela, der Filmemacher, hat sich jedenfalls von Pohjonen inspirieren lassen und findet für sein Filmporträt kraftvolle und höchst originelle Bilder, wenn er den Finnen, der sich gern als körperbetonter Männerdarsteller in archaischem Wams gibt, in ein Eisloch springen und per Trick ein eindrucksvolles Unterwasser-Konzert geben lässt.

Verglichen mit „Transmitting“ ist die Präsenz des Filmemachers unübersehbar, fast möchte man von einer etwas verschrobenen Form von Doppel-Porträt sprechen. Andererseits schadet die Inszenierung dem Porträt nicht, sondern ist quasi ein Aspekt der Kunst Pohjonens. Neben einigen impressionistischen Passagen und ein paar biografischen Hintergrundinformationen zeigt der Film immer wieder den Künstler bei der Arbeit. Die sieht allerdings nicht immer nach Arbeit aus, sondern auch manchmal nach Spleen, wenn etwa die Geräusche von Landmaschinen wie Traktoren, Dreschmaschinen, Kartoffelsortierern mikrofoniert werden.

Erst viel später werden wir die Geräusche wieder hören, diesmal als Teil einer kunstvollen Klang-Collage, die bäuerlichen Alltag in Kunst transformiert – und zwar in Gegenwart der Bauern. Pohjonen kann aber nicht bloß Industrie-Folk, sondern auch Prog-Rock an der Seite der King Crimson-Koryphäen Trey Gunn und Pat Mastelotto und Klassik-Crossover mit dem Kronos Quartet. So eilt der umtriebige Finne mit erstaunlichem Tempo von Projekt zu Projekt, erzählt von der Freiheit, nicht allen gefallen zu wollen und von den Hindernissen auf dem Weg zur Freisetzung von Kreativität. Der Tonfall ist mal kauzig, mal philosophisch – und immer wieder geprägt von jenem minimalistischen Understatement, das man den Finnen seit der Begegnung mit den Kaurismäkis nachrühmt. Am Schluss steht die Idee, eine alte Tradition als Performance wieder aufleben zu lassen: die musikalische Begleitung von Wrestling-Kämpfen, die einst dazu diente, die unvermeidlichen Furz-Geräusche zu übertönen. Manchmal glaubt man Kimmo Pohjonen kichern zu hören, selbst, wenn er ernst in die Kamera schaut.

Nächste Woche wenden wir uns dann denen zu, die im Hintergrund agieren und es nicht in den Vordergrund schaffen. Vielleicht, weil ihnen das Pohjonen-Gen abgeht. Was ja nicht schlimm sein muss, wie der „Oscar“-prämierte Dokumentarfilm „20 Feet from Stardom“ (auch) zeigt.

Transcendence

(USA / GB 2014, Regie: Wally Pfister)

Transzendenz und Elektroschrott
von Nicolai Bühnemann

Der Prolog spielt in der (wohl recht nahen) Zukunft: Eine großstädtische Welt, in der Smartphones achtlos auf der Straße herumliegen, die Reste eines Laptops dazu dienen, die Tür eines Ladens …

Der Prolog spielt in der (wohl recht nahen) Zukunft: Eine großstädtische Welt, in der Smartphones achtlos auf der Straße herumliegen, die Reste eines Laptops dazu dienen, die Tür eines Ladens aufzuhalten, Schilder von Versorgungsengpässen künden. Dazu erzählt ein Voice-Over, dass es irgendwo wieder Strom geben, irgendwo sogar das Internet wieder funktionieren soll. Wer aber nun meint, dass eine Welt, in der die Technologien, an die wir uns alle so gewöhnt haben, nicht mal mehr als Elektroschrott einen Wert haben und dafür Wasser oder Milch wieder umso begehrter sind, eine postapokalyptische sein müsse, der ist zum ersten Mal auf die unbedingte Cleverness dieses Films reingefallen.

Denn „Transcendence“ ist die erste Regie-Arbeit des Kameramanns Wally Pfister, der zuvor unter anderem für Christopher Nolan arbeitete, der seinerseits hier als ausführender Produzent mitwirkte. Und wer Nolans „Inception“ kennt, für den Pfister übrigens den Kamera-Oscar erhielt, der weiß, was ihn erwartet: hyperintelligentes und – auch visuell – hoch ambitioniertes Blockbuster-Kino. Eine unbedingte Cleverness eben, die man bewundern, aber auch genauso gut ziemlich aufdringlich und nervtötend finden kann (und passend zu einem Film, den seine unbedingte Cleverness zu allerlei Ambivalenzen zwingt, lass ich das auch einfach erst mal so stehen).

Dass also das (vorübergehende?) Ende moderner Technologien, der große Zusammenbruch, der etwa vor der Jahrtausendwende so lustvoll heraufbeschworen wurde, nicht das Ende der Welt, der Menschheit ist, dass viel mehr die Technologie für den Fortbestand der Menschheit geopfert werden wird, ist eine der Pointen von „Transcendence“. (Und dass das ganze Diskurs-Wirrwarr, das ganze hochtechnologische Brimborium der zwei Filmstunden sich in der letztlich trivialen Erkenntnis zusammenfassen lässt, dass der Mensch mit seinem Bewusstsein, seinen Gefühlen mehr ist als Technologie, mehr als die ausgekünsteltste künstliche Intelligenz verstehen kann, legt den Verdacht nahe, dass wir es hier mit einer unbedingten Seifenblasen-Cleverness zu tun haben).

Doch beginnen wir mit dem Anfang: In der Vergangenheit zur Zukunft, die der Prolog zeigt, ist Will Caster (Johnny Depp) ein Wissenschaftler, der daran arbeitet, künstliche Intelligenz zu kreieren. PINN heißt das gigantische Computer-Gehirn, woran er bastelt und das nicht nur „intelligenter“ als alle Menschen von Anbeginn der Geschichte zusammen werden, sondern auch über Emotionen und menschliches Reflektionsvermögen verfügen soll. Will wird Opfer eines Anschlags der R.I.F.T. (Revolutionary Independence From Technology), einer terroristischen Vereinigung von „Technologiekritikern“. Zwar streift ihn die Kugel nur, aber es stellt sich heraus, dass sie in Plutonium getränkt war: Es bleiben ihm nur noch wenige Wochen vor dem sicheren Tod. Seine Frau Evelyn (Rebecca Hall) fasst gemeinsam mit seinem Freund und Kollegen Max Waters (Paul Bettany) einen folgenreichen Entschluss: Sie schließt das Gehirn ihres sterbenden Mannes an den Computer an – und beginnt sein Bewusstsein „hochzuladen“.

Der Tod und die unmittelbare „Auferstehung“ Johnny Depps als Computer-Gott ist die vielleicht beeindruckendste Szene des Films. Einen Moment ist er noch ansprechbar, dann entschlummert er still – während die Monitore im Hintergrund weiter flimmern. Ein bisschen später, wenn Evelyn schon bereit ist, die Maschinen auszuschalten, meldet er sich per Chat zurück. Es geht um das Verschwinden des Menschen in der Maschine. „Transcendence“ nannte Will das Programm, an dem er arbeitete. Aber die Regeln des Science-Fiction-Kinos lehren uns, dass das nicht gut gehen kann. Was Evelyn schafft, ist nichts weniger als ein pantheistischer elektronischer Gott: Schau auf einen Bildschirm und ich werde da sein. Aus jedem Kabel komme ich dir entgegen.

Einerseits nimmt sich der Film vor den Klischees in der Darstellung der Erschaffung künstlichen Lebens in Acht. Johnny Depp spielt Will als zurückhaltenden, etwas menschenscheuen, aber sympathischen Typ, der gut in seinem Job ist – und ein liebender Ehemann. Denkbar weit entfernt also von der Genre-Figur des mad scientist als einem Mann mit besessenem Blick und sonderbarem Haarschnitt, der in Reagenzgläsern giftgrüne Flüssigkeiten mischt. Andererseits ist Frankenstein gleich doppelt und dreifach Referenz – mitsamt dem mehrtausendjährigen mythologischen Ballast, den Mary Shelleys Roman im Untertitel trägt: „The Modern Prometheus“. Wo Will zugleich Schöpfer und Kreatur ist, Frankenstein und Monster – so ist es doch erst seine Frau, die sein Werk vollendet – und vice versa ist es auch wieder er, der ihr die Idee „eingepflanzt“ hat, das nötige Knowhow ist seine Hinterlassenschaft. So wie die Terroristen mit ihrem Anschlag das, was sie bekämpfen wollten, erst vollends zur Eskalation bringen, so stellt Max fest, dass sich die R.I.F.T. bei ihrer Gründung, vor der Radikalisierung, maßgeblich an seinen technologieskeptischen Schriften orientierte. In „Transcendence“ ist jeder eines jeden außer Kontrolle geratene „Schöpfung“.

Dass sich bei dieser Verzahnung von Kräften, die stets das Gute wollen und stets das Böse schaffen, gängige Hollywood-Schemata von Gut und Böse nicht aufrechterhalten lassen, liegt auf der Hand. Großartig ist der Film vor allem dort, wo er es schafft, für seine Ambivalenzen eindrucksvolle Bilder zu finden. Will ist nun in der Lage, Sterbende zu heilen, Blinden das Augenlicht zurück zu geben. Wenn Letzteres gezeigt wird, mit dem extremen Close-Up eines Auges, hält sich die Faszination der Möglichkeiten, die diese Technologie bietet, mit dem Unbehagen, das ein uns leinwandfüllend anblickendes Auge auslöst, die Waage.

Die Dramaturgie verlangt es, dass das Unbehagen irgendwann Überhand nimmt. Was der Computer-Will schaffen kann, ist bald „besseres“ menschliches Leben. Menschen mit ungeheuren Kräften, deren Wunden sofort verheilen. Die Versuchung, eine Armee von Übermenschen zu schaffen, die zentral kontrolliert das organische Leben auf der Erde ersetzen könnte, ist groß. „Transcendence“ begegnet ihr mit der Suche nach der Transzendenz in der Natur, mit Panoramen von friedlichen Waldlandschaften und Großaufnahmen von Wassertropfen. „Biochemie ist Emotion“ behauptet Will einmal. Der Umkehrschluss funktioniert aber gerade nicht. Emotionen sind mehr als Biochemie. Es bleibt ein irrationaler „Rest“ jenseits des (naturwissenschaftlich) Verstehbaren, des Mess- und Errechenbaren. Denn, so sagt es Max: „Menschliche Emotionen sind zu Widersprüchen fähig. Wir können einen Menschen lieben, und dennoch hassen, was er getan hat.“ Gerade in diesem Rest, der den Menschen noch von der intelligentesten Maschine unterscheidet, scheint für den Hollywood-Humanismus dieses Films die Transzendenz zu liegen.

Dazu gehört implizit auch ein Diskurs um die Körperlichkeit des Menschen, von der nicht in Worten, sondern in Bildern erzählt wird. Bei der „Beziehung“ zwischen Evelyn und dem Pinn-Will sehen wir, was wir eigentlich längst wissen: Menschen können einander berühren – und das ist etwas vollkommen anderes, als ein Mensch, der einen Computerbildschirm berührt. Ein Mensch ist kein Touchscreen, möge der Computer der sich hinter diesem verbirgt auch noch so „smart“ sein.

Der Film hält sich in seinen Diskursen geschickt von realen Ideologien fern. Mit denjenigen, die, aus fundamentalistisch christlicher Perspektive etwa, gegen den Eingriff des Menschen in die Schöpfung wettern, den Lewitsharoffs dieser Erde, will er nichts zu tun haben. Dass das, was bleibt, ein irgendwie vages Fortschrittsunbehagen ist, ist durchaus symptomatisch dafür, wie seine Ambivalenzen ins Schwammige kippen. Aus Angst, das „Falsche“ zu sagen, sagt er lieber nichts Genaues.

Dieses clevere Alles-richtig-machen-wollen findet auch in der Form seinen Widerhall. Erstaunlich lange wird der Ball relativ flach gehalten. Geht es gerade darum, weiterzudenken, was Computer heute schon können, muss der Film dabei nicht unentwegt zeigen, was sie heute schon können. Für seine Figuren, ihre Konflikte und Dilemmata interessiert er sich, zumindest die ersten anderthalb Stunden lang, wesentlich mehr als für die gängige CGI-Effekt-Orgie, das kraftmeierische Erschaffen digitaler Welten. Dass er schließlich im Finale doch ins große Spektakel kippt, dass es auch ziemlich rührselig wird, wenn im entscheidenden plot point der Mensch wieder aus der Maschine „befreit“ wird, legt Zeugnis davon ab, wie er zielgruppenübergreifend alles richtig machen will. Ein Film mit Herz, Verstand und Krawumm. Da ist für jeden potenziellen Cineplex-Besucher etwas dabei.

Man verstehe mich nicht falsch: „Transcendence“ bietet zwei Stunden spannende, bewegende, gut gespielte und überdurchschnittlich intelligente Blockbuster-Unterhaltung. Um aber wirklich der große Film zu sein, der er unverkennbar gerne wäre, hätte es wohl etwas weniger Cleverness gebraucht – und dafür etwas mehr Mut.

Holy Lola

(F 2004, Regie: Bertrand Tavernier)

Im Land des Lächelns und der gebrochenen Herzen
von Wolfgang Nierlin

Sanft gleitet die Kamera über bewaldete Bergrücken und stille Täler, stimmungsvoll unterlegt mit Musik von Henri Texier. Dann bewegt sie sich durch ein renoviertes altes Steinhaus. Hier, an einem abgeschiedenen …

Sanft gleitet die Kamera über bewaldete Bergrücken und stille Täler, stimmungsvoll unterlegt mit Musik von Henri Texier. Dann bewegt sie sich durch ein renoviertes altes Steinhaus. Hier, an einem abgeschiedenen Ort in der Auvergne, leben der Landarzt Pierre Cessac (Jacques Gamblin) und seine Frau Géraldine (Isabelle Carré). Aber das Zuhause bleibt vorerst ein Versprechen, das den Film rahmt und seine Handlung kontrastiert. Das seit elf Jahren kinderlose Ehepaar befindet sich nämlich auf einer Reise nach Kambodscha in der Hoffnung, dort ein Kind adoptieren zu können. In dem vorübergehend verwaisten Landhaus ist das Kinderzimmer bereits eingerichtet.

Das Verkehrschaos in den vom Monsunregen überfluteten Straßen der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh markiert einen schroffen Gegensatz zur Eröffnungssequenz: Die erwartungsvolle Ankunft von Pierre und Géraldine im „Land des Lächelns und der gebrochenen Herzen“ gleicht einem Kulturschock. Fast naiv und von exotischer Faszination geblendet, verlaufen ihre ersten Begegnungen im fremden Land, die bald auf den Boden der Tatsachen geholt werden. Denn fortan sind sie konfrontiert mit Sprachproblemen, Mentalitätsunterschieden, einer schier undurchdringlichen Bürokratie, Korruption und einer Lebenswirklichkeit, die noch von den Folgen des Bürgerkriegs gezeichnet ist. „Einen Film über Menschen zu machen, die sich in ein Land katapultiert finden, von dem sie keinen blassen Schimmer haben“, war deshalb auch das ursprüngliche Interesse Bertrand Taverniers hinsichtlich seines neuen Films „Holy Lola“.

Auf der Suche nach einem Kind schickt der französische Meisterregisseur seine Protagonisten auf eine zermürbende, von Rückschlägen gekennzeichnete Odyssee durch Waisenhäuser. Immer wieder wird ihre übergroße Sehnsucht enttäuscht, mündet ihr ehrgeiziges Streben in banger Ungewissheit. „Kinder fallen nicht vom Himmel“, sagt man ihnen, während ihr Warten immer perspektivloser zu werden scheint und das Gefühl ohnmächtiger Abhängigkeit ihre Nerven aufreibt. So kommt zum psychischen Trauma der Kinderlosigkeit das emotionale Drama höchst wechselvoller Gefühlserfahrungen, die die Liebesbeziehung des Paars einer harten Prüfung unterziehen. Die Zeit, die dabei vergeht, setzt auf mehreren Ebenen einen Lernprozess in Gang: das allmähliche Vertraut-Werden von Géraldine und Pierre mit einer fremden Kultur, mit sich selbst und ihrem fast panischen Kinderwunsch, schließlich und zu guter Letzt mit dem Kind selbst.

„Holy Lola“ erzählt vom Wachsen der Liebe angesichts von Entbehrungen. Indem er seine Helden Tonbandprotokolle an das noch unbekannte Kind richten lässt, imaginiert er die angstvollen und freudigen Momente ihrer Suche als Schwangerschaft. Innere Anspannung und äußere Spannungslosigkeit – ein paradoxer Stillstand in unausgesetzter Bewegung – treten dabei in eine wechselvolle Beziehung. Mit einer Mischung aus fiktiven und realen Elementen, eingefangen mit einer teilnehmenden Kamera, verfolgt Tavernier aber noch eine andere Absicht: Die Relativität von Erfahrung in Abhängigkeit ihrer kulturellen und geschichtlichen Voraussetzungen deutlich zu machen und dabei Freud und Leid in ein ausgewogenes Gleichgewicht zu setzen. Nur am Rande streift „Holy Lola“ dabei moralische Fragen und unwägbare Zufälle, die mit der dargestellten Adoptionspraxis verbunden sind.

Nymph()maniac 2

(DK / B / F / D / GB 2013, Regie: Lars von Trier)

Die Schweine sind immer die Männer
von Andreas Busche

„Die Nymphomanin und die Jungfrau“ wäre ein passender Untertitel für den zweiten Teil von Lars von Triers pornografisch offenem Großwerk „Nymph()maniac“, das in diesem Frühjahr in vielen Formaten (je nach …

„Die Nymphomanin und die Jungfrau“ wäre ein passender Untertitel für den zweiten Teil von Lars von Triers pornografisch offenem Großwerk „Nymph()maniac“, das in diesem Frühjahr in vielen Formaten (je nach nationaler Befindlichkeit) und ganz unterschiedlichen Tonalitäten (je nach Erzählmodus) weltweit in die Kinos kommt. In Deutschland muss man sich mit der insgesamt vierstündigen Version (zwei Filme á zwei Stunden) begnügen, die der Regisseur, so ist am Anfang von „Nymph()maniac Vol. 1“ zu lesen, allerdings nicht autorisiert haben will. Man darf sich sicher sein, dass auch diese öffentliche Äußerung – genauso wie die zu Werbezwecken angeheizten Spekulationen um echte Sexszenen und Genitalprothesen – nicht mehr als eine Nebelkerze ist, die von Trier als Ablenkungsmanöver gezündet hat.

Nach dem ersten Teil, der seit Februar in den Kinos läuft, hat sich der Rauch nun gelichtet. Zum Vorschein kam ein für von Triers Verhältnisse erstaunlich gemäßigter Film (insofern man den Anblick von steil in die Kamera erigierten Schwänzen und Blow-Jobs in Nahaufnahme nicht schon als Provokation empfindet), der sich darüber hinaus dem gesellschaftlichen Diskursschauplatz „Pornografie“ mit einer selten gewordenen Haltung nähert: Humor. Schon der Vorgänger „Melancholia“ war ja eine verkappte Komödie über menschliche (Un-)Sitten und spätkapitalistische Einsamkeit. Mit komischen Abschweifungen verschafft sich von Trier in „Nymph()maniac“ immer wieder Distanz zu seinen Bildern und distanziert sich damit auch von moralischen Standpunkten. Es ist vielmehr die weibliche Hauptfigur Joe, gespielt von Charlotte Gainsbourg, die das moralische Urteil über ihre Biografie längst gefällt hat: „Ich bin ein schlechter Mensch.“

Diesem Werturteil setzt von Trier eine nicht immer ganz ernst gemeinte und im Verlauf des Films von Joe selbst wiederholt desavouierte Lesart entgegen: den Rationalismus des verknöcherten Intellektuellen, der zudem auf den lächerlichen Namen Seligman hört. Von Trier unterläuft mit solchen relativierenden Manövern permanent sein eigenes Erzählkonstrukt. Stellan Skarsgard spielt dieses molchartige Wesen, das ein Leben in der Dunkelheit seiner Privatbibliothek führt, als allwissenden Kommentator, der die Selbstbezichtigungen der geprügelten und achtlos in einem Hinterhof zurückgelassenen Frau mit wenig alltagstauglichen Metaphern aus der Harmonielehre, der Kunst des Fliegenfischens und der Mathematik zu relativieren versucht.

Seligmann erweist sich aber auch in anderer Hinsicht als ein Mensch, wie Joe noch keinem zuvor begegnet ist: Er ist asexuell und damit unfähig, die kurzen, geilen Episoden aus dem Leben dieser modernen Scheherazade (Joe erzählt ihre 1001 Geschichten in einer einzigen Nacht) in etwas anderes als reizlose Analogien zu übersetzen. Joe ist in der schwärzesten Stunde ihres Lebens dem perfekten Mann begegnet. In der Gegenwart von Seligman, dem geduldigen und verständnisvollen Zuhörer, kann sie ihre frivolen Begehren noch einmal in lustvoll ausgeschmückten Rückblenden ausleben, ohne sich in körperliche Abhängigkeiten zu begeben.

Die pornografischen Bilder, die von Trier zur Illustration von Joes Sexbiografie abruft, sind allerdings kein Überschuss dieser Erzählung, sondern ihre Essenz – womit die um gut eine Stunde kürzere Version von Triers ursprüngliche Intention ad absurdum führt. Denn Joes Lust-Prinzip, um das sich die acht Kapitel von „Nymph()maniac“ drehen, will eben nicht bloß analysiert, verstanden (beziehungsweise missverstanden) und kategorisiert werden. Es soll unbedingt auch erfahrbar werden. Die Zuschauer treten gewissermaßen in eine Dreiecksbeziehung mit den beiden Protagonisten, sie nehmen – anstelle des für sexuelle Reize unempfänglichen Seligman – die Rolle des Voyeurs ein.

Von Trier wiederum unterläuft die Blicklogik des Pornofilms, indem er seine Darsteller mit Sexprothesen agieren lässt, was auch als erzählerischer Verfremdungseffekt zu verstehen ist. So entkoppelt von Trier in „Nymph()maniac“ die Pornografie von ihrer reinen Waren- und Körperökonomie und transformiert sie in eine gewaltige Erzählmaschine. Denn im Grunde produzieren Pornografie und Nymphomanie (eine schöne literarische Verklärung ihres klinischen Pendants, der Sexsucht) lineare Erzählungen, beide basieren auf dem Prinzip der Serialität. Das Ausleben der Begierde wird zur Ersatzhandlung, deren Lustgewinn auf der stetigen Variation eines Reizmusters beruht.

Ähnlich sind auch die beiden Teile von „Nymph()maniac“ strukturiert. Während der erste Film noch spielerisch die Möglichkeiten der sexuellen Emanzipation mit einer jüngeren Joe (gespielt von Stacy Martin) austestete, kippt im zweiten Teil der promiskuitive Lebensentwurf seiner weiblichen Hauptfigur ins Autodestruktive. Martin hat nur noch einen Kurzauftritt, dann übernimmt Gainsbourg auch in den Rückblenden die Rolle Joes. Das Herumvögeln während ihrer Sturm-und-Drang-Jahre und die Ehe mit ihrem einstigen Deflorateur Jerôme (Shia LaBeouf) hat sie in eine Sinn- und Triebkrise gestürzt. Ihr Körper ist zu abgestumpft für Orgasmen, außereheliche Triebbefriedigung (mit dem ausdrücklichen Einverständnis des Ehemanns) lässt sie in immer aussichtslosere Situationen schlittern.

Sie wendet sich an einem professionellen SM-Praktiker (Jamie Bell) und sucht Sex mit „gefährlichen Männern“ von der Straße: afrikanischen Migranten, die Joe mit Hilfe eines Dolmetschers in ein Hotelzimmer lockt und dort dann prompt in einen Streit darüber verfallen, wer von ihnen welches Loch der Frau – wie Joe es formuliert – füllen darf. Die Absurdität der Einstellung – Gainsbourgs gelangweiltes Gesicht eingepfercht zwischen den sichtlich erregten Männerkörpern – unterläuft den inhärenten Rassismus dieser Sexfantasie.

Von Trier erweist sich mit „Nymph()maniac“ als durchaus lernfähig. War „Antichrist“, der erste Teil seiner Depressions-Trilogie, noch durchzogen von misogynen Motiven und sexistischen Projektionen, ist „Nymph()maniac“ sein (krudes) feministisches Manifest. Denn der Begriff Nymphomanie beinhaltet eine Programmatik. Ähnlich wie die Melancholie in von Triers letztem Film ist er nicht nur als literarische Referenz zu verstehen, sondern auch als eine Form semantischer Aneignung – und damit eine Absage an die normativen Kategorien der Medizin/Gesellschaft. „Ich liebe meine Fotze und meine schmutzige, verkommene Lust!“ proklamiert Joe im zweiten Teil vor einer entsetzten Therapiegruppe. Kontrollverlust als Emanzipationsstrategie. Die Schweine hingegen – und man darf nach der Schlusspointe von „Nymph()maniac“ davon ausgehen, dass sich von Trier hier nicht ausnimmt – sind immer die Männer.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: KONKRET 04/2014

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Molière auf dem Fahrrad

(F 2013, Regie: Philippe Le Guay)

Misanthropische Spiegelungen
von Wolfgang Nierlin

„Ich will nicht angeschlossen werden, ich bin unabhängig“, verteidigt Serge Tanneur (Fabrice Luchini) seine stinkende Senkgrube gegenüber dem Ansinnen eines entnervten Bautrupps, seine Abwässer in die öffentliche Kanalisation zu leiten. …

„Ich will nicht angeschlossen werden, ich bin unabhängig“, verteidigt Serge Tanneur (Fabrice Luchini) seine stinkende Senkgrube gegenüber dem Ansinnen eines entnervten Bautrupps, seine Abwässer in die öffentliche Kanalisation zu leiten. Der ehemals erfolgreiche Schauspieler, der seit drei Jahren keine Engagements mehr angenommen hat, lebt zurückgezogen in einem idyllischen, aber leicht heruntergekommenen Haus auf der Île de Ré. Von seinem Metier und den Menschen enttäuscht, die ihn in seiner depressiven Phase fallen ließen, behauptet er eigensinnig seine Freiheit und verbringt seine Tage mit Puzzlespielen und erotischer Malerei. Wie seine Lieblingsfigur Alceste aus Molières „Der Menschenfeind“ hasst Serge Lüge und Heuchelei, die unter Schauspielern wohl besonders ausgeprägt sind. Seine für Eitelkeit anfällige Berufsgruppe sei „voller Ratten“.

Da trifft es sich ebenso gut wie schlecht, dass in dieser Situation Serges früherer Kollege Gauthier Valence (Lambert Wilson) aus heiterem Himmel auftaucht, um dem misanthropischen Einsiedler ausgerechnet die Mitwirkung in einer Inszenierung von Molières „Der Menschenfeind“ vorzuschlagen. Die Fugen und Wendungen im Drehbuch zu Philippe Le Guays Film „Molière auf dem Fahrrad“ („Alceste à bicyclette“) sind mitunter allzu konstruiert. Da es sich jedoch um eine französische Komödie mit ernstem Unterton handelt, die hauptsächlich vom Spiel ihrer prominenten Darsteller und dem Witz geistreicher Dialoge lebt, ist man gewillt, über erzählerische Forciertheiten und plakative Deutlichkeit hinwegzusehen. Natürlich reagiert Serge gemäß seines kritischen Charakters zunächst ablehnend auf den Vorschlag Gauthiers, ist zugleich aber geschmeichelt, kompetent und neugierig genug, um sich auf eine mehrtägige Leseprobe einzulassen.

Diese entwickelt sich zu einem Schauspieler- und Rededuell zweier ungleicher Charaktere, die sich in wechselnden Rollen im Stück widerspiegeln. Dabei geht es nicht zuletzt um Freundschaft, Liebe und Vertrauen, denn der beliebte TV-Serien-Star Valence und der querköpfige Aussteiger Tanneur sind jeder für sich auch auf den jeweils anderen angewiesen. Darüber hinaus nutzt Philippe Le Guay die Figurenkonstellation um neben einem Blick auf das Handwerk des Schauspielers die hitzigen ästhetischen Debatten über die „richtige Darstellung“ von Klassikern zu vermitteln. Der rigorose Traditionalist Serge mit seiner Verteidigung des Alexandriners und damit der musikalischen Struktur des Stücks gerät diesbezüglich immer wieder heftig mit dem „Aktualisierer“ Gauthier aneinander. Was die beiden aber wirklich trennt und letztlich in die Rollen von Molières Stück zwingt, ist ihr an unterschiedlichen Lebenserfahrungen gewachsenes Naturell. Selbst oder gerade im Spiel können die Figuren nicht über ihren Schatten springen, weil ihr Leben die jeweilige Interpretation des Stücks beglaubigt.

Nymph()maniac 2

(DK / B / F / D / GB 2013, Regie: Lars von Trier)

Sexgetränkt
von Ilija Matusko

'Ich bin ein böser Mensch', hatte Joe im ersten Teil erklärt, in Lars von Triers 'Nymphomaniac II' hören wir mehr von den Erweckungserlebnissen der Sexsüchtigen und erfahren, wie es zu …

'Ich bin ein böser Mensch', hatte Joe im ersten Teil erklärt, in Lars von Triers 'Nymphomaniac II' hören wir mehr von den Erweckungserlebnissen der Sexsüchtigen und erfahren, wie es zu dieser harten Selbstdiagnose kommt. Die Beichte nimmt ein jähes Ende, weder Rettung noch Erlösung sind zu erwarten.

Joe beichtet Seligman weiterhin ihre sexgetränkte Lebensgeschichte, während der belesene Junggeselle wie im ersten Teil mit bildungsgesättigten Vergleichen aufwartet. Wir hören mit an, wie die Sexsüchtige bewusste Reiz- und Reaktionssteigerungen ihres Begehrens durchläuft. Im ersten Teil geht es noch um eine Tüte Schokodrops als Belohnung der Männerjagd, und obwohl Joe Männer unglücklich macht und Ehen zerstört, wirken die Sexeskapaden vergleichsweise unschuldig und spielerisch. In der Fortsetzung wird Joe von ihrer Sexsucht immer weiter an den eigenen psychischen Abgrund von Egoismus und Selbsthass geführt. Ein „Gefühl“ ist verloren gegangen, die blanke Einsamkeit ist der stille Herrscher in ihrem Kopf.

Eine Schlüsselszene steht am Anfang des zweiten Teils. Joe erlebt mit zwölf Jahren einen Orgasmus in der Natur, in dessen Schwebezustand ihr zwei Frauenfiguren (Promiskuität und Hurenhaftigkeit symbolisierend) erscheinen. Ihre sexuellen Kontakte verbinden sich ab hier definitiv mit überwältigenden Schuldphantasien. Beichtvater Seligman sagt im ersten Teil „Wenn man Flügel hat – warum dann nicht fliegen“ und versucht Joe die Schuldgefühle zu nehmen. Doch Lars von Trier hat anderes mit ihr vor. Der Regisseur stürzt sie immer weiter in die selbstzerstörerische Verzweiflung hinein, lässt sie zwischen fehlgeschlagenen Therapien, Masochismus und weiteren Sexexzessen zu Grunde gehen und führt im allegorischen Setting der Beichte auf düstere Art zu Ende, was er begonnen hat. Wenn jemand Flügel hat – warum ihn nicht abstürzen lassen?

Lars von Trier zwingt den Zuschauer in all seinen Filmen, genau und lange auf das zu Geschehen zu blicken. Er fordert dieselbe Rücksichtslosigkeit des Blicks ein, mit der er selbst die Hoffnung einer reinigenden Wirkung verbindet, als könne die reine Gründlichkeit und Strenge der Beobachtung die Welt von Sentimentalitäten und Illusionen befreien. Die Reinigung ist keine katholische oder moralische, sondern eine des Verstandes.

Kunst, Pornographie, Schrott, Meisterwerk – auch der zweite Teil von Nymphomaniac wird die Gemüter erhitzen. Am Brandbeschleuniger Sex kann es nicht liegen: Trotz der Fülle an therapiewürdigen Haltungen zum Sex und trotz der Explizitheit der Körperlichkeit wirken die Sexszenen filmisch gesehen seltsam wirkungslos. Allein durch die effektvolle Aneinanderreihung überträgt sich hier der Rausch und lässt Assoziationen beim Zuschauer sprießen (wahlweise nach oben oder nach unten, bei manchen sogar nach rechts oder links). Ein Hinweis darauf, dass Lars von Triers Film mehr von den Assoziationen lebt, die er auslöst, als von den eigenen Bildern, Figuren oder Geschichten.

Lars von Trier geht es dabei nicht einfach darum, Lust und Begehren mit Schuld und Strafe zu konnotieren – so wie es seine Protagonistin Joe gerne hätte. Die Rede vom katholischen Zuchtmeister ist nicht nachvollziehbar. Eher sucht Lars von Trier eine Form von Selbstdezentralisierung, in der radikalen Abkehr von allem, was die Realität mit Sinn und Bedeutung überhöht. Nicht das Begehren eines Menschen ist sein schlimmstes Gefängnis, sondern die falschen Vorstellungen davon. Dass es trotzdem keine Rettung aus den selbsterzeugten Käfigen gibt, ist bei Lars von Trier auch keine Überraschung mehr.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Man of Tai Chi

(USA / CN 2013, Regie: Keanu Reeves)

Genremuster, updated
von Michael Schleeh

'Man of Tai Chi' ist ein Martial-Arts-Genrefilm, der auf einer sehr simplen Storyline aufbaut und der einigen Kritikern als stümperhaftes Machwerk aufstößt (anscheinend wurde tatsächlich vier Jahre lang am Drehbuch …

'Man of Tai Chi' ist ein Martial-Arts-Genrefilm, der auf einer sehr simplen Storyline aufbaut und der einigen Kritikern als stümperhaftes Machwerk aufstößt (anscheinend wurde tatsächlich vier Jahre lang am Drehbuch gearbeitet, was dann doch eher verwunderlich ist). Nun, man könnte den Plot auch als bare to the bone – oder einfach: klassisch – bezeichnen, was sich schon besser anhört, und Keanu Reeves‘ Bemühungen, mit seinem ehemaligen Stuntman und Kampfkunstlehrer aus 'Matrix'-Zeiten einen Film zu drehen, der hier die Hauptfigur und den Tai Chi-Eleven namens Chen Linhu / Tiger Chen spielt, als eine bemerkenswert sympathische, weil scheinbar persönliche Entscheidung begrüßen.

Mit an Bord ist auch der legendäre Yuen Woo-ping als Garant für erstklassige Kampfkunstchoreographie sowie Kameramann Elliot Davis ('Twilight', 'Dogtown Boys', 'Out of Sight'), der sowohl das ländliche China jenseits der Großstädte einzufangen weiß, als ob man sich in einem klassischen Kung Fu-Film befände, als auch die lackierten Spiegelfassaden der aseptischen Wolkenkratzer Hongkongs abzubilden, dabei einen durchdesignten, staubfreien, vielleicht schon japanischen (!) Minimalismus zelebrierend, der für Modernität und Internationalität stehen soll. Und für viel Geld.

Denn darum geht es im Film. Tiger Chen rackert sich in Peking ab: in einem Job als Paketbote. Und als letzter verbliebener Schüler einer aussterbenden Disziplin des Tai Chi, ist er so etwas wie ein spiritueller Sohn seines alten, weisen Meisters (Yu Hai). Als die befrackten Schergen der Baumafia den 600 Jahre alten Tempel seiner Schule abreißen wollen, fühlt sich Tiger in die Pflicht genommen und kann das Angebot des mysteriösen Geschäftsmanns mit dem dubiosen Namen Donaka Mark nicht ablehnen, für ihn zu kämpfen. Zu spät bemerkt er, mit wem er sich eingelassen hat: mit einem skrupellosen Unternehmer, der für eine wohlhabende und dekadente Geldelite Kämpfe organisiert. Und diese Schaukämpfe – zunächst ohne Wissen der Fighter – werden per Internet weltweit für das zahlende Publikum zugänglich macht. Der Höhepunkt soll dann freilich ein Kampf auf Leben und Tod sein, inszeniert auf einer Bühne wie eine Revuenummer in einem Theater, der Tiger Chens moralischen Konflikt auf die Spitze treibt.

Für Tiger Chen geht es schließlich um die moral-ethische und persönliche Entscheidung, eine eher passive Kunst der Bewegungslehre, eine spezielle Form des Taijiquan als eine aggressive Form der Kampfkunst zu 'missbrauchen' – so gibt es mehrere gewichtige Gespräche mit seinem Lehrer zu diesem Problem, der ihm freilich rät, integer zu bleiben. Für Donaka Mark ist der monetäre Aspekt allerdings zweitrangig, denn dieser Mann besitzt so viel Zaster, dass er mehr als ausgesorgt hat. Es gehe ihm darum, eine derart starke Persönlichkeit wie Tiger Chen dorthin zu treiben, dass er 'seine Unschuld' verliere. Dazu schaut er dann unerbittlich drein mit dem typisch versteinerten Keanu Reeves-Gesicht und knurrt ein wenig. Das alles ist nun nicht weiter bemerkenswert, wäre der Film nicht sehr professionell und mit Elan gemacht, mit der richtigen Balance, und dann doch nicht zu sehr auf die Pauke hauend. Das liegt vor allem an den Schauspielern, allen voran Tiger Chen selbst, der neben seinen kämpferischen Fähigkeiten auch ein ordentlicher Mime ist. Oder an Simon Yam, der eine kleine Rolle hat. Oder an der tollen Karen Mok, die als souveräne Polizistin auftritt. An den vielen kleinen Momenten, wo man das Amerikanische ganz vergisst, und in denen der Film näher an Herman Yaus 'IP Man: Final' ist, als an irgendwelchen US-Kampffilm-Standards. Das sieht man an Kuss-Szenen, an der Art wie Dialoge inszeniert sind, oder wie die häuslichen Verhältnisse abgebildet werden. An der Art, wie Stadt (generell) ins Bild gesetzt wird, gar nicht mit einem skandalisierenden westlichen Blick für die Ärgernisse des asiatischen Molochs. Für solche Bilder interessiert sich der Film zum Glück überhaupt nicht, es scheint Normalität für ihn zu sein.

So addieren sich Kleinigkeiten zu einem Gesamtbild, welches schlussendlich doch sehr positiv ausfällt. Auch wenn der Anti-Held am Ende auf der Flucht groteskerweise von Hong Kong nach China hinüberschwimmt! Nichts Neues erfindet 'Man of Tai Chi', zum Glück, denn das muss ja nicht jeder Film wollen. Aber er updated eine Genremuster, das für ein Mal nicht ins ironische Tarantino-Zitat gewendet wird. 'Man of Tai Chi' ist ein ernst zu nehmender Film eines vom Asiatischen begeisterten Amerikaners. Und dafür, dass man es mit einem amerikanischen asiatischen Film zu tun hat, fühlt er sich erstaunlich asiatisch an.

Sein letztes Rennen

(D 2013, Regie: Kilian Riedhof)

Alter Mann, ganz groß
von Nicolai Bühnemann

Früher war die Welt noch in Ordnung. Da gab es noch richtige Helden. Paul Averhoff zum Bespiel, der Langstreckenläufer, den damals, in den Fünfzigern, so verkündet das Voice-Over im Vorspann, …

Früher war die Welt noch in Ordnung. Da gab es noch richtige Helden. Paul Averhoff zum Bespiel, der Langstreckenläufer, den damals, in den Fünfzigern, so verkündet das Voice-Over im Vorspann, jedes Kind kannte. Dazu: Das Gesicht von Jungspund-Supersportler Dieter Hallervorden in historische Schwarz-Weiß-Bilder tuschiert. Der Mann, der in Zeitlupe alles gibt. Die Massen jubeln ihm zu. Das Berliner Olympiastadion vom Himmel aus. Deutschlands Hoffnung in heroischer Siegerpose mit dem Bundesadler auf der stolzgeschwellten Brust. Ja, so schön war das damals in der Adenauer-BRD, im Wirtschaftswunder, als „wir“ endlich wieder wer waren und das scheinbar einzige, was von der derzeit noch verdammt jungen Geschichte übrig blieb, ein paar Nazi-Bauten waren, in denen nun endlich wieder Triumphe gefeiert werden durften.

Nun ist Paul Averhoff (Dieter Hallervorden) in der Gegenwart der 2010er aber alt geworden. Von dem Glanz und Gloria des Anno Dazumal kündet im schmucken Häuschen im Grünen nur noch ein gerahmtes Foto auf dem Kaffeetisch. Zwar ist er ein rüstiger Rentner, der noch im Garten auf der Leiter steht und Äpfel pflückt, aber seine Frau Margot (Tatja Seibt) fällt dann doch etwas zu oft in der Küche hin. Findet jedenfalls Tochter Birgit (Heike Makatsch) und spricht ein Machtwort: Die beiden müssen ins Altersheim.

Der dortige Alltag – Singen, Kastanien-Männchen Basteln in der Ergotherapie, Sommer-, Herbst- und Frühlingsfeste als saisonale Höhepunkte – ist für Paul aber gar nichts. Er möchte der Welt, die ihn offenbar abgeschrieben hat, zeigen, was auch mit knapp Achtzig noch in ihm steckt. Er beginnt für sein letztes Rennen zu trainieren. Den Berlin-Marathon möchte er noch einmal laufen, noch einmal gewinnen.

Alt geworden ist auch Dieter „Didi“ Hallervorden. Das Komiker-Urgestein gehörte zum (kleinbürgerlichen) West-Berlin wie der Kaffee im Kranzler oder die Fahrt mit der Moby Dick auf dem Wannsee. Nachdem er sich zuletzt vorwiegend als Kabarettist und Theater-Direktor hervortat und in Film und Fernsehen eher in kleineren Rollen zu sehen war, ist „Sein letztes Rennen“ seine erste Leinwand-Hauptrolle seit zwanzig Jahren. Damit nicht genug: Der Dieter möchte das Image seiner Didi-Figur, mit dem er mit einer Reihe von Klamauk-Komödien in den Achtzigern die bundesdeutschen Kinosäle füllte, endlich loswerden. Ein seriöser Schauspieler möchte er sein. Also dreht man im Cinemascope-Format, knapp zwei Stunden lang. Also holt man sich den jungen Regisseur Killian Riedhof, der bislang nur fürs Fernsehen gearbeitet hat, stopft die Nebenrollen voll mit allerlei (Semi-)Film-und-Fernseh-Prominenz (alles so angelegt, dass ja niemand in Versuchung kommt, dem Hallervorden die Show zu stehlen) und erzählt – ganz wichtig – die Geschichte von einem, der es im Alter allen noch mal so richtig zeigen will.

Um die Größe dieses Unterfangens zu unterstreichen, bedient man sich ausgiebig aus der Rumpelkammer christlicher Symbolik. Da wird der im Garten joggende Hallervorden zur himmlischen Vision stilisiert, erblickt zuerst von einer Greisin, die, im weißen Nachthemd, das weiße Haar vom gleißenden Sonnenlicht beschienen, eine engelsgleiche Erscheinung abgibt. Weil man das wahrscheinlich noch für zu subtil hielt und das Publikum nicht überfordern wollte, wird er am Ende dann auch noch Jesus-mäßig ans Bett fixiert. Als er es schließlich doch noch – selbstverständlich in letzter Sekunde – an den Start schafft, wird die frohe Botschaft in einer Messe verkündet. Auferstanden ist er, um anzutreten. Halleluja!

Nun braucht einer wie Paul, einer wie Dieter, ja auch eine Welt um sich herum, der er beweisen muss, was er auch im Alter noch kann. Da ist seine Frau Margot, deren Resignation es zu überwinden gilt, damit sie sich wieder in ihre Rolle als Erfüllungsgehilfin der Träume ihres Mannes fügt. Da ist die chronisch von allem und jedem überfordert durch ihr Leben mäandernde Makatsch-Tochter. Stewardess, Mittelschichts-Jet-Set, Angst vor festen Bindungen, Angst vorm Ankommen … so sehr, dass sie sich gegen Ende in hypnotische Techno-Beats, Whiskey und Ecstasy flüchten muss. Da sind die Bewohner des Heims. Am markantesten wohl der Mann, der im Namen von Zucht und Ordnung immer mal wieder so richtig auf den Tisch haut, und dem Aufsehen, das Pauls Plan erregt, sofort feindlich gegenübersteht. Von ihm lernen wir übrigens, dass früher auch nicht alles gut war: erst der Krieg und die Trümmer, dann die Studenten und der Terrorismus. (Überhaupt: Wie selbstverständlich und perfide die Kriegserfahrungen der 1945 etwa Zehnjährigen hier für eine Entschuldungsfiktion ausgeschlachtet werden. Natürlich konnten sie nichts für ihre gefährliche und entbehrungsreiche Kindheit. Nur scheint an dem Krieg, dessen Opfer gewiss auch sie waren, nicht einmal mehr Hitler schuld zu sein, geschweige denn ihre Elterngeneration.) Außerdem die schwarz tragende, kettenrauchende Berufszynikerin im Rollstuhl. Sie brüllt ihrem Sohn Nazi-Lieder auf den Anrufbeantworter, um endlich seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Klappt natürlich. Klappt bei deutschen Gutmenschen („Meine Mutter hat seit 100 Jahren SPD gewählt!“) ja immer. Da ist das Pflegepersonal, angeführt von Oberdrache Katrin Sass, die ihrer Rolle zwar eine angemessen sarkastische Bissigkeit verleiht, was ihre Figur aber auch nicht weniger eindimensional macht. Da sind die Psychologen, die’s ja vielleicht gut meinen, aber sich letztlich Diagnosen wie „agitierte Depression“ wohl auch nur ausdenken, weil ruhig gestellte alte Menschen eben leichter zu verwalten sind, als welche, die noch Träume haben. Da ist schließlich Pfleger Tobias, einer der ersten, die Pauls Idee unterstützen und der uns das Altersheim erklärt: „Zu wenig Pfleger. Die Hälfte davon ungelernt und aus Thailand oder Polen oder weeß ick nich wo. Hat doch alles System hier. Hauptsache, das Haus wirft ’n bisschen Kohle ab.“ Das wird man doch wohl noch sagen dürfen. Ein bisschen Rassismus ist offenbar ganz okay, wenn er nur schön als Kritik am „System“ verpackt wird.

Nach und nach wird Paul sie alle auf seine Seite ziehen, sie von seiner Sache überzeugen. Hallervorden spielt das mit einer Arroganz, mit einer Art emotionaler Senilität gegenüber seiner Umwelt, die durchaus interessant sein könnte, würde sich der Film nicht so affirmativ dazu verhalten. Die sich beim internationalen Arthaus-Kino anbiedernde Qualitätsfernsehens-Professionalität, mit der das gefilmt ist, das hirnlähmende Pathos, mit dem das erzählt ist, sollen wohl unter anderem darüber hinwegtäuschen, wie wenig in diesem Film eins zum anderen passt. Wie verträgt sich der Humor des Films, der sich größtenteils in Schwerhörigkeits- und Alzheimer-Witzchen erschöpft, denn nun mit dem Anliegen, sich für ein würdevolleres Altern einzusetzen? Wie passt die geschmackssichere leise Melancholie der Bilder in der ersten Filmhälfte zum Schreihals-Diskurs über die skandalösen Lebens- und Arbeitsbedingungen in heutigen Altersheimen, bei dem man immer wieder meint, eine Bild-Reportage zu lesen (dass denn auch ausgerechnet die Bild „Sein letztes Rennen“ als „Meisterwerk“ bezeichnete, passt zu gut ins, tja, Bild, um es unerwähnt zu lassen. Allein waren sie mit dieser Einschätzung denn aber ganz und gar nicht: Bei der Premiere des Films in Hamburg gab es standing ovations.) Um das alles schließlich zusammenzukriegen, um eine Runde Happy End für alle auszugeben, bedarf es dann schon eines Wunders, des Marathon-Wunders von Berlin.

So sieht er also aus: Der neue deutsche Wohlfühlfilm.

Am 28. März erscheint „Sein letztes Rennen“ auf DVD und Blu-ray. Als Extras gibt es einige Interviews, zwei Audiokommentare von Hallervorden, Regisseur Killian Riedhoff u.a. Dass man an eine Hörfilmfassung für Blinde und ein Wende-Cover gedacht hat, ist zwar erfreulich, macht den Film aber auch nicht besser.

My Sweet Pepper Land

(F / D / IQ 2013, Regie: Hiner Saleem)

Das Genre ernst nehmen
von Nicolai Bühnemann

Irgendwo im Irak: Nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein ist ein Teil der Kurden unabhängig. Der Freiheitskämpfer Baran (Korkmaz Arslan) arbeitet für die provisorische kurdische Regierung. Auf der Flucht …

Irgendwo im Irak: Nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein ist ein Teil der Kurden unabhängig. Der Freiheitskämpfer Baran (Korkmaz Arslan) arbeitet für die provisorische kurdische Regierung. Auf der Flucht vor der Überfürsorge seiner Mutter, die kein anderes Ziel kennt, als ihren Sohn zu verheiraten, lässt er sich in einen kleinen Ort im Norden, an der Grenze zur Türkei und zum Iran versetzen – als Polizist. Hier ist Schmuggel die vorwiegende Beschäftigung, und das Gesetz, das Baran verteidigen soll, keinen Heller wert.

Stattdessen herrscht der lokale Klanchef Aziz Aga mit harter Hand. Der rechtschaffene und unbestechliche Baran macht sich bei ihm und seinen Männern schnell unbeliebt. Zudem tut er sich auch noch mit einer anderen Außenseiterin zusammen: Govend (Golshifteh Farahani), die als Lehrerin den Kindern des Ortes lesen und schreiben beibringt. Die schöne junge Frau muss nicht mehr tun als unabhängig und alleinstehend zu sein, um sich den zunehmenden Hass ihrer vielen Brüder und den Argwohn der Männer des Dorfes zu zuziehen. Als sich Baran auch noch in den Auseinandersetzungen zwischen dem Klan und einer Gruppe von Frauen, die Govend von früher kennt und die sich zum Guerillakampf in die Berge zurückgezogen haben, für letztere einsetzt, eskalieren die Ereignisse.

Ein kurdischer Western also. Regisseur und Drehbuch-Autor Hiner Saleem lässt reichlich Bezüge zur amerikanischen Populärkultur in seinen Film einfließen: Wenn Baran zu seinem neuen Arbeitsplatz fährt, singt Elvis im Radio: 'You’re so square but baby I don’t care.' Eine Tankstelle, an der er anhält, sieht aus wie aus einem Gemälde von Edward Hopper. Americana in Kurdistan. Auch viele Western spielten nach einem Krieg, dem amerikanischen Bürgerkrieg, der für die Entfaltung der Handlung als Vorgeschichte essenziell war. Baran ist der Sheriff, der in eine entlegene Stadt kommt, um für Recht und Ordnung zu sorgen, wie ihn etwa Joel McCrea des Öfteren spielte, in den tollen Western, die Jacques Tourneur in den Vierzigern und Fünfzigern drehte. Auch die Lehrerin, die mit Büchern statt Waffen für ein besseres Land kämpfen will, ist an gängige Figuren des amerikanischen Westerns angelehnt. Allerdings erledigte den Job dort meist noch ein Mann, wie etwa in „The Man Who Shot Liberty Valance“ (interessant: wenn man die Verbindung zwischen Govend und der Gruppe von Guerilla-Kämpferinnen betrachtet, ergibt sich eine ähnliche Konstellation, wie die zwischen James Stewart und John Wayne in dem Ford-Klassiker – nur dass alle Beteiligten hier Frauen sind). Gleichzeitig schließt Saleem aber auch an die zynischere, gewalttätigere, 'dreckigere' Tradition des Italo-Westerns an. Durch die Close-Ups von Korkmaz Arslans Gesicht, derer es gerade in der ersten Hälfte viele gibt, weht ein Hauch von Franco Nero. Zu Beginn ist er daran beteiligt, das erste Todesurteil der unabhängigen kurdischen Regierung zu vollstrecken. Eine Szene, die wesentlich mehr als der Rest des Films eindeutig ins Groteske überzeichnet ist: Um jemanden zu hängen, braucht man also, so lernen wir, erstens einen Strick, der zweitens so befestigt werden muss, dass er auch hält. Nach dem gescheiterten ersten Versuch wird erst mal ausgiebig debattiert, wie weiter zu verfahren sei. Ergebnis: Der Verurteilte muss nach der Hinrichtung auf jeden Fall tot sein. Wenn ihm die Augen verbunden werden, sind diese leinwandfüllend im Bild, eine Art der Einstellung, die man 'Italienische' nennt. Nur ist das Bild bei Saleem nicht, wie bei Sergio Leone und Co., genau zentriert, sondern ein Stück verschoben. Diese Verschiebung beschreibt die Art, wie sich „My Sweet Pepper Land“ dem Genre nähert.

Einerseits werden dessen Motive in einem fort evoziert: Da ist der Ort an der Grenze, nicht der US-mexikanischen, sondern der irakisch-iranisch-türkischen. Da ist der Oberschurke, der böse Patriarch, der über diesen Ort mit harter Hand herrscht. Da ist die Bar, das Pepper Land, das deutlich einem Saloon nachempfunden ist. Ein Western mit Turban statt Sombrero, Maschinenpistole statt Colt, Tee statt Whisky.

Andererseits begnügt sich der Film nicht damit, auf den Verfremdungseffekt zu zielen, der sich aus der Änderung von Epoche und Schauplatz ergibt. Auch ist die Genre-Form für Saleem weder Mittel zum Zweck postmoderner Spielereien noch wie vielleicht in vergleichbaren Arthaus-Filmen etwas, das 'überwunden' werden müsste. Er nutzt sie als Form des Erzählens, um einen spezifischen historischen Kontext zu zeigen. Es geht in „My Sweet Pepper Land“ um die Probleme bei der Gründung eines unabhängigen kurdischen (Rechts-)Staats. Die Western-Form dient nicht nur dazu, daraus spannende Kino-Unterhaltung zu machen, sie zeigt zugleich das „Universale“ im Konkreten. So ist etwa der Ehrbegriff, dem sowohl Aziz Aga als auch Govends Brüder folgen, schon ein deutlich der 'arabischen Welt' entstammender. Andererseits ist aber Steinzeitpatriarchat, egal ob muslimischer oder – im Spaghetti-Western – katholischer Prägung, ein Stück weit immer auch Steinzeitpatriarchat.

Das gar nicht kleine Kunststück, das in „My Sweet Pepper Land“ souverän gelingt, ist es, das politische Anliegen und das Genre gleichermaßen ernst zu nehmen. Bis zum Schluss, wenn Baran kompromisslos mit seinen Feinden abrechnet.

Die Traurigkeit der vielgelobten Golshifteh Farahani ist mir übrigens immer ein bisschen zu penetrant. Dafür ist ihr Lachen wirklich ganz bezaubernd: Toll sind die Szenen (hier gibt es sie einmal im Klassenzimmer, in „Stein der Geduld“ sind sie mir gegen Ende aufgefallen), in denen ihre Leidensmiene in einem Lächeln aufbricht wie eine Wolkendecke. Ich würde sie gerne einmal in einer anderen Rolle sehen, als der einer sich zwar wehrenden und starken, aber auch immer stark leidenden Frau. In einer Komödie vielleicht.

The Canyons

(USA 2013, Regie: Paul Schrader)

Melodram Infernal
von Nicolai Bühnemann

Das Ende des Kinos verkündete Jean-Luc Godard bereits 1967 am Ende seines Films „Weekend“. Eher den Tod als das Ende des Kinos zeigt Paul Schrader 2013 am Anfang seines achtzehnten …

Das Ende des Kinos verkündete Jean-Luc Godard bereits 1967 am Ende seines Films „Weekend“. Eher den Tod als das Ende des Kinos zeigt Paul Schrader 2013 am Anfang seines achtzehnten Films „The Canyons“. Im Vorspann sind überwiegend schwarz-weiße Bilder von leer stehenden, verfallenden Filmpalästen zu sehen. Verrammelte Tore, zerfallende Leuchtreklamen, die zerbrochenen Scheiben der Schaukästen, zerschlissene Sitze.

Paul Schrader wurde 1946 in einer Kleinstadt in Michigan geboren. Aufgrund der Regeln seines streng calvinistischen Elternhauses besuchte er erst mit siebzehn zum ersten Mal ein Kino. Nach dem Studium und einer Tätigkeit als Filmkritiker begann er Drehbücher zu schreiben. Eines davon, „Taxi Driver“, wurde von Martin Scorsese mit so großem Erfolg verfilmt, dass es Schrader die Möglichkeit gab, eine eigene Regie-Karriere zu beginnen. Travis Bickle, der Protagonist des Films, kann zugleich als Prototyp der Schrader-Figur gesehen werden. Seine (Anti-)Helden sind einsame Männer mit einer Mission, die in einer kalten, feindlichen, meist großstädtischen, oft in grelles Neon-Licht getauchten Welt nach Erlösung suchen. Sie finden sie selten, aber manchmal immerhin das Versprechen, dass sie möglich sein könnte. Vor dem Hintergrund dieses „Monomythos“ schwinden soziale und historische Unterschiede. Ob die Schrader-Männer Fabrikarbeiter sind, die versuchen, privates Glück und Klassenkampf in einen Blaumann zu kriegen („Blue Collar“), in den dunkelroten Abgründen der Spät-Siebziger-Porno-Industrie nach ihrer Tochter suchen („Hardcore“), sich prostituieren („American Gigolo“), „weißen Menschen weiße Drogen verkaufen“ („Light Sleeper“) oder versuchen, Dämonen auszutreiben („Dominion: Prequel to the Exorcist“), ob die Filme im Detroit der Siebziger, dem Los Angeles der Achtziger oder dem New York der Neunziger spielen, hat wesentlich weniger Bedeutung, als man annehmen könnte. So transzendieren seine Filme auch immer wieder die Produktions- und Vermarktungszusammenhänge, in denen sie stehen: Noch ein Exorzisten-Prequel wird unter Schraders Regie zu einem befremdlich bunten und erstaunlich ernsthaften „Autorenfilm“ über Traumata, Schuld und Glaubenskrisen (der mit Schraders „Cat People“-Remake von 1982 sicher mehr gemein hat, als mit dem – ohnehin denkbar zerfaserten – Franchise, dem er vordergründig angehört).

Das Kino scheint für Paul Schrader sein Leben lang ein „verbotener“ Ort geblieben zu sein, ein Ort der dunklen Versuchungen und Verheißungen. Und einer, an dem man sich seinen Dämonen stellen muss, um Erlösung zu erlangen. (Dass man nie genau weiß – sicher verhält es sich von Film zu Film etwas anders – ob die zu exorzierenden Dämonen nun die der „sündigen“ urbanen Welt oder doch eher die der eigenen ultrareligiösen Erziehung sind, trägt sicherlich einiges zur Faszination seiner Filme bei, die immer etwas merkwürdig, etwas entrückt wirken).

Um den Kampf mit – weitgehend säkularisierten – Dämonen geht es auch im Werk des Schriftstellers Bret Easton Ellis, von dem das Drehbuch zu „The Canyons“ stammt. Seine Bücher handeln von den Schönen und Reichen, die versuchen, die Leere ihres Lebens mit jeder Menge Sex, allerlei Drogen und brachialer Gewalt zu füllen. In seinem metafiktionalen Roman „Lunar Park“ bekommt es ein Schriftsteller namens Bret Easton Ellis mit seinen eigenen Schöpfungen zu tun, mit depressiv-lethargischen upper class-Teenies und Armani tragenden Serienkillern also – und – noch viel schlimmer – mit dem eigenen Vater, der, über seinen Tod hinaus, das Leben seines Sohnes fest im Griff zu haben scheint.

Die Grundkonstellation von „The Canyons“ ist eigentlich ganz einfach: Zwei Männer sind besessen von derselben Frau (das Wort „Liebe“ wird von den Figuren zwar fast inflationär verwendet, scheint aber von außen betrachtet eher unpassend zu sein, und auch mit dem Begehren ist es so eine Sache in diesem Film.) Das heißt allerdings nicht, dass das dicht gesponnene Netz aus Affären, Intrigen, Lügen und Eifersucht um diesen zentralen Konflikt herum, die anderen Männer und Frauen, die mehr oder weniger kleine Rollen darin spielen, nur überflüssiges Beiwerk wären. Ganz im Gegenteil: als Surrogate für und Vermittler zwischen den drei Hauptfiguren sind sie unverzichtbar. Es bedarf anderer Menschen, die mitintrigieren, mitlügen und mitvögeln, um das denkbar dysfunktionale Beziehungsdreieck voranzutreiben – auf den Abgrund zu.

Der eine Mann, Christian, ist eine typische Ellis-Figur: Ein Filmproduzent, reich, arrogant, zynisch, chronisch gelangweilt, promiskuitiv, bisweilen extrem grausam und mit stark ausgeprägtem Vater-Komplex. Dass er gespielt wird von Porno-Darsteller James Deen ist der erste wichtige Besetzungscoup dieses Films. Einmal beschwert sich Christian bei seinem Therapeuten Dr. Campbell (Gus van Sant in einem Cameo), dass er immer nur schauspielert, sein Leben lang nur verschiedene Rollen spielt. Das heißt nicht, dass er einen Ausweg sucht aus den ewigen Inszenierungen von Identität und Begehren. Er möchte einfach nur auf die andere Seite der Kamera, inszenieren statt zu spielen. „It’s a guy thing. Power and control.“ Die Kontrolle, die ihm mehr bedeutet als alles andere, verliert er nur ein einziges Mal: In der frenetischsten Szene des Films haben er und seine Freundin Tara (Lindsay Lohan) Sex mit einem anderen Paar. In der Discobeleuchtung seines Schlafzimmers verschwimmen die Körper, (Kamera-)Bewegungen und Lichter zu einem einzigen Rausch der digitalen Sleaze-Bilder. Tara fordert die beiden Männer auf, sich zu küssen, den anderen Mann dazu, Christian einen zu blasen. Was ihn in seinem Innersten erschüttert, ist nicht der Zusammenbruch seiner heterosexuellen Performance, sondern eben der Kontrollverlust, die Tatsache, dass er hier nicht mehr Subjekt, sondern Objekt von Inszenierung und Begehren ist. Dafür wird er bitterliche Rache nehmen.

Der andere Mann, Ryan, ist vielleicht das, was von einer typischen Schrader-Figur übrig ist, so wie „The Canyons“ das ist, was vom Schrader-Kino übrig ist (eine 150.000-Dollar billige Produktion mit einem heruntergekommenen Hollywood-Sternchen und einem Porno-Darsteller in den Hauptrollen – von einem Mann, der einst an den Rändern des Hollywood-Mainstreams Filme mit Willem Dafoe, Richard Gere und Susan Sarandon drehte). Er bezeichnet sich zu Beginn als „morally conventional guy“. Dass das reine Fassade ist, zeigt sich schon daran, dass ihn seine Ex wesentlich mehr interessiert als seine derzeitige Freundin, die wohl die moralisch und emotional intakteste Person dieses Films ist. Eigentlich will er nichts, außer seiner prekären Lebenssituation zu entkommen – und er will Tara. Mit ihr hatte er eine Beziehung, bevor sie Christian kennen lernte. Wieder getroffen haben sie sich bei dem Casting eines kleinen Slasher-Films, den Christian produziert und in dem er die Hauptrolle spielen will. Seitdem treffen sie sich wieder – heimlich, aber regelmäßig. Tara hat dafür gesorgt, dass er die Rolle bekommt, die seine letzte verzweifelte und wahrscheinlich trügerische Hoffnung auf den sozialen Aufstieg ist. Um seine Ziele zu erreichen und sich vor dem endgültigen Bankrott zu bewahren, schläft er auch schon mal mit Männern.

Schließlich Tara, die Frau zwischen den beiden Männern. Mit Christian ließ sie sich ein, weil sie die genug hatte vom Leben am Existenzminimum mit Ryan. Der Film denunziert das ebenso wenig wie das Verhalten der Männer. Sie ist die tragischste Figur, weil sie die Entbehrungen der Armut ebenso kennt wie die frustrierende Leere des Daseins in einer Villa in Malibu. Lindsay Lohan ist die perfekte Schauspielerin für diese Rolle. Nicht nur weil ihr der exzessive Lebenswandel so deutlich ins Gesicht – und auf den Körper – geschrieben steht, sondern auch weil sie eine der vielen ist, die am Erfolg gescheitert sind. Auf Ryans Bemerkung, dass sie nicht glücklich ist, erwidert sie: „Who said anything about happiness?”

Inszenatorisch knüpft der Film durchaus an Schraders bisheriges Schaffen an. Wenn die Kamera elegant durch die sonnendurchfluteten Straßen und Einkaufspassagen von Los Angeles, durch finstere Flure und Treppenhäuser gleitet, mutet „The Canyons“ wie eine No-Budget-Version seiner Neo(n)-Noir-Thriller vergangener Dekaden an. Inhaltlich jedoch ist er ein Ellis-Film durch und durch. Wo bei Schrader am Ende noch das Erlösungsversprechen wenn schon nicht erfüllt, dann doch zumindest aufrecht erhalten wurde, enden Ellis-Romane mit Sätzen wie „No Exit“ oder „I never liked anyone and I’m afraid of people.“

Die Parallelen vom Film zum Werk des Schriftstellers gehen weit über die Darstellung der Kommunikations- und Beziehungsunfähigkeit innerhalb eines bestimmten Milieus hinaus. Die Art etwa, wie die öffentlichen Persona der Darsteller in den Figuren mitgedacht werden, wie der Film selbst Zeugnis des Niedergangs der Filmindustrie ist, den er behandelt, erinnert an die metafiktionalen Versuchsanordnungen von Ellis‘ letzten beiden Romanen.

Selbst der Niedergang des Kinos ist mindestens so sehr ein Ellis- wie ein Schrader-Thema. Die sieben Bücher, die der Autor zwischen 1985 und 2010 geschrieben hat, liefern nicht zuletzt ein Stück Medien- und Technologie-Geschichte – von einer Zeit, in der MTV und VHS der „heiße Scheiß“ waren in eine, in der die Ellis-typische Nicht-Kommunikation überwiegend per iPhone stattfindet. Der Subtext über den Tod des Kinos geht in „The Canyons“ einher mit dem Zeigen der neuen Medien, die es ersetzen. Facebook-Accounts werden gehackt und SMS geschrieben, gechattet wird auch mal per Smart-TV und eine Szene spielt in der gigantomanischen DVD-Abteilung eines Supermarkts.

Der Film ist durchzogen von Zwischentiteln, die vor den Bildern der toten Kinos Wochentage anzeigen: Von Montag bis Donnerstag erstreckt sich seine Handlung. Das Unfertige, das dadurch vermittelt wird, ist bezeichnend. Vordergründig wirkt die letzte Szene, einige Jahre nach dem Geschehen des Films angesiedelt, wie ein klassischer Epilog. Dieser zeigt jedoch nur, dass hier nichts wirklich zu Ende ist, dass das Spiel der Figuren, die niemals zueinander finden können, und es gerade deshalb ewig versuchen müssen, nicht abgeschlossen und nicht abschließbar ist. Ihr emotionales Zombie-Dasein geht weiter, wie das Sterben des Kinos – im Abspann.

Die Vorstellung von „The Canyons“ als Wegweiser in die Zukunft eines Kinos – und sei es auch nur eines bestimmten Segments davon – das sich post mortem immer weiter an den gleichen kaputten Beziehungen, den gleichen neurotischen Fixierungen abarbeitet, ist natürlich ziemlich schrecklich. Für sich genommen aber, als eiskaltes, von gleißendem Licht durchflutetes und doch nachtschwarzes Melodram Infernal ist er ein rohes Kleinod von einem Film.

Dass ein Film wie „The Canyons“ keine Chance auf eine deutsche Kinoauswertung hat, ist so traurig wie selbstverständlich. Immerhin liegt er jetzt, ein gutes halbes Jahr nachdem er auf dem Filmfestival in Venedig lief, bei NEW KSM auf DVD und Blu-ray vor. Wählen kann man zwischen deutschem und englischem DTS HD-Mehrkanalton, deutsche Untertitel gibt’s auch. Das spärliche Bonus-Material besteht aus einem sechsminütigen Behind The Scenes-Featurette, das sich als Werbe-Clip für die sozialen Netzwerk-Auftritte des Films und seiner Beteiligten entpuppt, einem Trailer und einer Bildergalerie.

Her

(USA 2013, Regie: Spike Jonze)

Die Stimme aus dem Off
von Wolfgang Nierlin

Die Zukunft ist nicht so fern, das Bekannte nur leicht verschoben in Spike Jonzes Sciencefiction-Romanze „Her“. Die Wolkenkratzer-Stadtlandschaft mit ihren spiegelnden oder illuminierten Fassaden, aufgenommen im Schanghaier Stadtteil Pudong, vermittelt …

Die Zukunft ist nicht so fern, das Bekannte nur leicht verschoben in Spike Jonzes Sciencefiction-Romanze „Her“. Die Wolkenkratzer-Stadtlandschaft mit ihren spiegelnden oder illuminierten Fassaden, aufgenommen im Schanghaier Stadtteil Pudong, vermittelt eine hypermoderne Lebenswelt zwischen Transparenz und Leere. Deren Atmosphäre wirkt sowohl in Räumen als auch auf der Straße gedämpft, komfortabel und warm. Ein sanftes Rot und ein dezentes Blau sorgen für ein entspanntes Klima, in dem sich die Menschen freundlich begegnen. Ihre Online-Kommunikation erfolgt hauptsächlich verbal und völlig relaxed. Die Stimmen aus dem Off sind gewissermaßen allgegenwärtig. Ihre unsichtbare Gegenwart markiert eine virtuelle Metaphysik, deren Hinterwelt von Rechnern generiert wird und trotzdem eine Projektion bleibt, die den Benutzern eine besondere Imaginationsleistung abverlangt.

Kreativberufler Theodore Twombly (Joaquin Phoenix), der in einer sehr speziellen Agentur persönliche Briefe für Kunden beiderlei Geschlechts schreibt, ist diesbezüglich ein Meister der phantasievollen Einfühlung. Wenn er romantische oder traurige Liebesbriefe diktiert, verarbeitet er zugleich seine eigene, gescheiterte Ehe mit Catherine (Rooney Mara), die das geheime Zentrum des vielschichtigen Films und den Motor von Theodores Aktivitäten bildet. Einsam und „leer im Herzen“ wandelt er durch die Labyrinthe seines 3 D-Computerspiels oder durch anonyme, eher ernüchternde Sex-Chatrooms; bis er sich eines Tages in Samantha, die Stimme seines neuen, interaktiven Betriebssystems verliebt. Dieses sogenannte „Operating System 1“ wird als „künstliche Intelligenz mit Bewusstsein“ vorgestellt, das auf Intuition basiert und sich stetig weiterentwickelt, indem es aus seinen Erfahrungen lernt und neue Fähigkeiten entdeckt.

Theodore ist begeistert von seinem immateriellen Gegenüber, das Raum und Zeit vergessen macht, sehr lebendig wirkt und ihm dabei einfühlsam und „auf Augenhöhe“ begegnet. „Ich habe das Gefühl, ich könnte dir alles sagen“, bekennt Theodore. Und: „Für mich fühlst du dich real an.“ Also verlieben sich die beiden ineinander, führen lange, offene Gespräche und erleben dabei ganz real die Höhen und Tiefen einer Beziehung, denn eines Tages gesteht Samantha: „Ich bin dein und nicht dein.“ Die Stimme aus dem Computer hat nämlich gleichzeitig noch viele andere Beziehungen. Dabei besteht Spike Jonzes große Kunst darin, uns zusammen mit seinem liebesbedürftigen Helden diese Liebesgeschichte als „real“ imaginieren zu lassen. Alles, was wir diesbezüglich nicht sehen und doch fühlen, entspringt unserer Phantasie. Für Theodore wird seine virtuelle Romanze schließlich zum Medium zur Verarbeitung seiner Trennung von Catherine und zu einer Lektion über den Umgang mit Gefühlen.

Westen

(D 2013, Regie: Christian Schwochow)

Kein schöner Land
von Ulrich Kriest

Frisch und sehr pragmatisch verheiratet, wurde der promovierten Chemikerin Nelly Senff und ihrem wohl neunjährigem Sohn Alexej die Ausreise aus der DDR bewilligt. Beim Grenzübertritt 1978 demonstriert das Land, das …

Frisch und sehr pragmatisch verheiratet, wurde der promovierten Chemikerin Nelly Senff und ihrem wohl neunjährigem Sohn Alexej die Ausreise aus der DDR bewilligt. Beim Grenzübertritt 1978 demonstriert das Land, das Nelly endlich hinter sich lassen will, noch einmal borniert seine Macht zur Demütigung der Ausreisewilligen, die sich ihrerseits nicht bemüht, ihre Verachtung für diese Behandlung zu verheimlichen. Man merkt schnell, dass Nelly über eine gewisse Routine im Umgang mit derlei Schikane verfügt und trotzdem zornig und kämpferisch reagiert. Warum? Drei Jahre zuvor ist Alexejs Vater, der russische Wissenschaftler Wassilij, in Moskau unter ungeklärten Umständen bei einem Unfall ums Leben gekommen. So wurde es Nelly von offizieller Seite mitgeteilt, zur Beerdigung durfte sie nicht anreisen.

Nelly hat keine politischen Gründe, die DDR zu verlassen, eher will sie noch einmal ein neues Leben im Westen anfangen. Der, wie man damals gerne sagte, doch leuchtete. Doch zunächst einmal geraten Nelly und Alexej erneut in die Fänge der Bürokratie. 12 Stempel braucht es, bis man sich zur BRD-Staatsbürgerschaft gratulieren kann. So lange lebt man in einem Zimmer im Notaufnahmelager Marienfelde, wo offenbar die Regel gilt: wer hier nicht binnen weniger Tage weg ist, sitzt in der Falle. Nicht immer wird dieser Nicht-Ort zum Übergangslager, zum Transit-Raum. So wie für den geheimnisvollen und zurückhaltenden Hans, der als Politischer schon in Bautzen einsaß, freigekauft wurde, aber keine rechte Neugier auf den Westen entwickeln konnte und jetzt hier festsitzt. Nicht mehr im Osten, aber auch noch nicht im Westen. Er freundet sich langsam mit Nelly und insbesondere Alexej an.

Der Start ins neue Leben erweist sich auch für Nelly schwieriger als erwartet, zumal die zuständigen Behörden ihr mit einer Mischung aus Ignoranz und Vorurteilen begegnen. Und dann sind da noch die bundesdeutschen und amerikanischen Geheimdienste, die sich mit durchaus vergleichbarem Interesse wie ihre Stasi-Kollegen über den Fall des toten Wassilij beugen, der doch für Ostblock-Verhältnisse sehr reisefreudig gewesen sei. Wisse Nelly denn überhaupt mit Bestimmtheit, dass Wassilij tot sei? Es wird unübersichtlich – und der direkte Vergleich der Systeme provoziert.

Der Filmemacher Christian Schwochow hat sich bereits mit seinen atmosphärisch dichten, intimen Spielfilmen „Novemberkind“ und „Die Unsichtbare“ als Spezialist für präzise Frauen-Porträts gezeigt. Mit „Westen“ weitet er aber auf ambitionierte Weise seinen Blick, indem er »die Welt« in seine Film-Welt hineinlässt. Das gelingt auch deshalb, weil er die Poly-Perspektivität von Julia Francks Romanvorlage auf zwei, drei Erzählstränge reduziert und sich dabei ein paar Elemente des klassischen Agententhrillers zu Nutze macht, wobei das Schicksal Wassilijs in Hitchcock-Manier als „MacGuffin“ fungiert. Meint: letztlich geht es nicht um Wassilij, sondern darum, wie versucht wird, Nelly mit Informationen derart zu manipulieren, bis ihr Misstrauen sich zur Paranoia auswächst. Was wiederum ihre Beziehung zu Alexej und Hans auf eine schwere Probe stellt. Ist Hans vielleicht sogar, wie manche vermuten, ein Stasi-Spitzel?

Jördis Triebel überzeugt in ihrem fesselnden Porträt einer starken Persönlichkeit, die zwar Momente der Schwäche zeigt, aber letztlich nie aufgibt, ihre Würde und Souveränität zu verteidigen. Die selbstbewusste und immer etwas undurchschaubare Art und Weise, wie sie die persönliche Auseinandersetzung mit dem farbigen CIA-Agenten John Byrd führt, erinnert mitunter an Fassbinders Maria Braun. Eine künstlerische Nähe, die sich, genauer bedacht, durchaus nicht zufällig einstellt. Wohin die Reise geht, war 1978 noch nicht absehbar. Schwochow lässt folglich vieles offen, nur ganz am Schluss macht er es sich vielleicht etwas zu einfach, wenn er seinen Film auf ein konventionelles Happy End an Weihnachten zusteuern lässt. Aber das könnte auch ironisch gemeint sein.

Ulrich Kriest hat mit dem Regisseur auch dieses Gespräch geführt.

Eisenfresser

(D 2007, Regie: Shaheen Dill-Riaz)

Die nichts zu verlieren haben
von Wolfgang Nierlin

„Wo das Meer endet und die Berge sich erheben, findest du göttliche Ruhe“, heißt es zu Beginn von Shaheen Dill-Riaz’ Dokumentarfilm „Eisenfresser“. Bezogen auf den Strand von Chittagong im Süden …

„Wo das Meer endet und die Berge sich erheben, findest du göttliche Ruhe“, heißt es zu Beginn von Shaheen Dill-Riaz’ Dokumentarfilm „Eisenfresser“. Bezogen auf den Strand von Chittagong im Süden von Bangladesch, wo der in Berlin lebende Regisseur seine Kindheit verbrachte, klingt das wie eine ferne Erinnerung an ein längst verlorenes Paradies. Denn der wegen seiner Wassertiefe und Länge ideale Küstenabschnitt am Golf von Bengalen ist längst zur größten Abwrackzone der Welt geworden. Hier, in etwa fünfundzwanzig Werften, werden von einem Heer von Arbeitern unter primitivsten Bedingungen Ozeanriesen aus aller Welt zerlegt und verschrottet. Dabei ist der Zivilisationsmüll reicher Länder zu einem wichtigen Wirtschaftszweig geworden und deckt achtzig Prozent des im Land benötigten Stahlbedarfs.

„Die Werftarbeit ist nur für diejenigen, die nichts zu verlieren haben“, sagt ein erfahrener Abwracker. Und das sind vor allem die Saisonarbeiter aus dem armen, von Hungernsnöten geplagten Norden, die sich als Eisen- und Seilträger für einen Sklavenlohn von etwa 1,30 Dollar pro Tag verdingen. Etwas mehr verdienen die Schweißer, die ständig den tödlichen Gefahren durch giftige Dämpfe, Ölbrände und Explosionen ausgesetzt sind. „Hier musst du immer Glück haben“, sagt einer von ihnen. Aber auch die schwere, körperlich strapaziöse Arbeit der Träger, die sich ohne Schutzkleidung und Werkzeug durch Schlamm und Dreck schleppen, birgt ihre Gefahren. Immer wieder werden sie von Vorgesetzten barsch angetrieben, immer wieder sind sie der Erschöpfung nahe. Tausende von ihnen, oft noch Kinder, arbeiten unter unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen im Abwrack-Sektor.

Saheen Dill-Riaz’ sehr persönlicher, Anteil nehmender Film handelt vom Überleben in einer lebensfeindlichen Umwelt. Er folgt individuellen Schicksalen und konzentriert sich dabei auf die durch harte Arbeit und gewissenlose Ausbeutung verursachte Not. Zugleich zeigt der Film die Kraft der betroffenen Menschen, die sich trotz allem ihren Mut und ihre natürliche Fröhlichkeit bewahrt haben. „Eisenfresser“, der den Blick der Unterdrückten einnimmt, ist aber auch ein Film über globale Wechselwirkungen, soziale Hierarchien und davon abhängende unterschiedliche Perspektiven. So sagt einer der Bosse, die Initialen des Firmennamens PHP stünden für „Peace, Happiness and Prosperity“, also für Frieden, Glück und Wohlstand“. Der blanke Hohn! Und doch wohl ernst gemeint.

Viva la Libertà

(I 2013, Regie: Roberto Andò)

Überraschend nachdenklich
von Wolfgang Nierlin

Die Räume der Macht sind aus gemeißeltem Stein und kaltem Marmor, bestückt mit Gegenständen, in denen die Geschichte schwer und behäbig wohnt. Vor allem aber sind sie so weitläufig, dass …

Die Räume der Macht sind aus gemeißeltem Stein und kaltem Marmor, bestückt mit Gegenständen, in denen die Geschichte schwer und behäbig wohnt. Vor allem aber sind sie so weitläufig, dass man sich in ihnen verlieren kann, umgetrieben vom langen Nachhall der Schritte. Nicht anders ergeht es dem angeschlagenen italienischen Politiker Enrico Oliveri (Toni Servillo), Vorsitzender der linken Assembla Nazionale und Oppositionsführer im Parlament: Da die Umfragewerte seiner Partei ziemlich schlecht sind, macht man kurzerhand Oliveri als deren Verkörperung dafür verantwortlich. Bei einer Parteiversammlung wird er zudem von einer eingeschleusten Gegnerin wüst und medienwirksam beschimpft. Der stattliche, kultiviert und besonnen auftretende Mann wirkt innerlich leer und ausgebrannt. Tatsächlich schleppt er sich mit Antidepressiva durch seinen straff durchorganisierten Tag, stets begleitet von seinem umtriebigen Sekretär Andrea Bottini (Valerio Mastandrea). Doch eines späten Abends, seine Frau hält sich gerade in China auf, ist plötzlich Schluss: Oliveri zieht die Notbremse und taucht ohne weitere Angaben unter.

Was überraschend nachdenklich wie eine typische Aussteiger-Geschichte beginnt, entwickelt sich schon bald zu einer höchst geistreichen Politsatire über die Funktionsweisen politischer Macht. Der italienische Regisseur und Autor Roberto Andò, der mit seinem prominent besetzten Film „Viva la libertà“ einen eigenen Roman („Il trono vuoto“) adaptiert hat, implementiert dieser nämlich das Motiv des Doppelgängers, um etwas über das Wesen und die Krisen der Politik, vor allem aber über die Masken der Macht zu erzählen. Weil Politik die Realität erfindet, bewegt sie sich auf einem schmalen Grat zwischen Sein und Schein, Wahrheit und Lüge. So obliegt es Oliveris Zwillingsbruder Giovanni Ernani (Toni Servillo in einer ebenso subtilen wie nuancenreichen Doppelrolle), einem unlängst aus der Psychiatrie entlassenen Philosophieprofessor, der ein Buch mit dem bezeichnenden Titel „Die Illusion, zu leben“ geschrieben hat, „ein Klima der Veränderung“ (Andò) in die ebenso verkrustete wie darbende Politik zu tragen und dabei auf unkonventionelle Weise ihre Spielregeln neu zu definieren.

„Die Angst ist die Musik der Demokratie“, lautet einer jener erfrischend anders klingenden Sätze, mit denen der vermeintlich „verrückte“, wahlweise „gedopte“ Ernani das Establishment aufschreckt und das Wahlvolk aufhorchen lässt. Bald fliegen dem umjubelten Redner von allen Seiten die Sympathien zu, als erwachte das politische Italien aus einer Schockstarre; und die Umfragewerte für „seine Partei“ schnellen steil in die Höhe. Der Doppelgänger hat Erfolg, obwohl er Journalistenfragen mit Paradoxien kontert oder in die Aporie überführt und schließlich ganz offen bekundet, keine Lösungen für die anstehenden Probleme zu haben. Was derweil nur der Zuschauer als Komplize des Filmemachers weiß: Dass sich der verschwundene Oliveri bei seiner früheren Geliebten Danielle (Valeria Bruni Tedeschi) aufhält, die beim Film arbeitet. Deren Mann, ein renommierter Regisseur namens Mung (Eric Trung Nguyen), weist einmal auf die Ähnlichkeiten von Politik und Film hin: „Zwei Welten, in denen Bluff und Genie koexistieren.“

In einer durchgängigen, manchmal etwas zu eng und offensichtlich verfugten Parallelmontage inszeniert Roberto Andò diese Spiegelbildlichkeit schließlich auch als Aspekte ein und derselben Person. In vielen Details nähern sich so die Zwillingsbrüder einander an, ohne sich dabei zu begegnen oder auch nur miteinander zu sprechen; und in dieser Ähnlichkeit sind sie am Ende kaum noch zu unterscheiden. Souverän und mit leichter Hand entfaltet Andò die Widersprüche und Gemeinsamkeiten einer Identität als Potential zur Verwandlung. Dass daraus wiederum auch eine gesellschaftliche Transformation erwachsen könnte, bleibt aber wohl eher eine schöne, jedenfalls liebenswerte Utopie.

The Grand Budapest Hotel

(USA / D 2014, Regie: Wes Anderson)

Bitte nicht stören
von Marit Hofmann

Alles so schön bunt hier. Beim Einchecken im Grand Hotel Budapest kommen wir aus dem Staunen nicht mehr heraus: Das Interieur betört mit Farben und Formen, die opulente und bis …

Alles so schön bunt hier. Beim Einchecken im Grand Hotel Budapest kommen wir aus dem Staunen nicht mehr heraus: Das Interieur betört mit Farben und Formen, die opulente und bis ins kleinste Detail perfekte Ausstattung ein Genuss, das Personal so aufgebrezelt, dass es kaum wiederzuerkennen ist.
Unser Aufenthalt ist turbulent, wie auf einer Schlittenfahrt auf einer Piste mit Sprungschanze rasen wir durch die Filmgeschichte und erleben unter anderem den absurdesten Gefängnisausbruch aller Zeiten. Die Störungen im Betriebsablauf fallen aber harmlos aus. Selbst als Bilderbuchfaschisten das Hotel besetzen, gruselt’s uns kein bisschen, mit ein wenig Glück kann man den Bösewichten in diesem Film trickreich entkommen.

'Ich liebe Nostalgie', sagt Grandhotel-Director Wes Anderson, der vermeintliche Glanz Alteuropas zwischen den Weltkriegen hat es ihm angetan. Er trauert der 'Welt von gestern' nach, als der Page noch spurte und der Concierge wusste, was guter Service ist. Unpersönlich bleiben unsere Bekanntschaften in dieser ermüdend überbordenden Märchenkulisse, wir sind ehrlich gesagt auch gar nicht so versessen darauf, dass der damenbetörende Concierge, der in lebensbedrohlichen Situationen immer einen coolen Spruch auf den Lippen hat, auf unser Zimmer kommt.

Mit Wes Anderson waren wir bereits Tiefseetauchen, auf Selbsterfahrungstrip in Indien, im Pfadfinderlager und jetzt also im zunächst prächtigen, schließlich geschmackvoll abgewrackten Grandhotel. Es war schrecklich amüsant, aber nun sehnen wir uns zurück ins Wohnzimmer der Royal Tenenbaums, in dem man seine Neurosen noch pflegen konnte.
Auschecken bitte. Trinkgeld für den loyalen Lobbyboy. Nein, wir haben nichts aus der Minibar genommen, der Film ist schuld, dass wir ein wenig beschwipst wirken.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: KONKRET 3/2014

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Monuments Men – Ungewöhnliche Helden

(USA 2014, Regie: George Clooney)

Terz, sentimental
von Ulrich Kriest

Diese Geschichte musste einfach erzählt werden! Warum? Nun ja, das wiederum scheint niemandem so richtig klar gewesen zu sein, weshalb der Film „The Monuments Men“ trotz größtem Star-Auftrieb (Clooney, Damon, …

Diese Geschichte musste einfach erzählt werden! Warum? Nun ja, das wiederum scheint niemandem so richtig klar gewesen zu sein, weshalb der Film „The Monuments Men“ trotz größtem Star-Auftrieb (Clooney, Damon, Goodman, Murray, Blanchett, Dujardin) nie so recht Tritt fast, sondern mit jeder Szene neu zu entscheiden hat, was er denn nun sein will: eine Burleske, ein Bildungsfilm, eine Hommage, eine Kriegstragikomödie, ein Propagandafilm, ein Buddy-Movie oder ein Pastiche aus all dem, erzählt in der Manier eines klassischen Hollywoodfilms jener Zeit, als die Amerikaner noch Ideale hatten, für die sich einzutreten lohnte. Ungebrochen, stets und gern mit einem coolen Lächeln auf den Lippen, aber manchmal auch eine Terz sentimental. They died with their boots on.

Worum geht es? Zum Beispiel: die Welt retten, sie mit Waffengewalt vom Faschismus befreien, Nazis jagen. Oder: die kulturellen Artefakte, hier in der synchronisierten Fassung gerne auch „Errungenschaften“ genannt, davor bewahren, dabei a) vom Waffengang in Mitleidenschaft gezogen zu werden oder b) in die »falschen« Hände zu geraten. Natürlich dabei gerne rauchend, with a smile on their faces – und manchmal, in stillen Stunden, wenn es doch einmal Tote gegeben hat, danach fragend, ob es sich denn lohnt, für ein Kunstwerk sein Leben zu geben. Letztere Frage gibt den Kammerton des Films „The Monuments Men“, der neuen und ziemlich missglückten Regiearbeit von George Clooney, vor, wird immer mal wieder im Verlauf des Films gestellt und unmissverständlich beantwortet.

Die Geschichte, die erzählt werden musste, ist freilich schnell erzählt, zumal sich der Film selbst nicht über Gebühr für sie interessiert. Übrigens auch nicht für die Kunst, die hier bestenfalls als MacGuffin fungiert und die Geschichte in Trab hält. Deren Ausgangspunkt ist allerdings etwas frivol. Mitten im Zweiten Weltkrieg hält der Kunsthistoriker Frank Stokes (Clooney) dem US-Präsidenten Roosevelt einen Diavortrag über Kollateralschäden an der Kultur, die der moderne Krieg mit sich bringt. Man müsse schnell aktiv werden, damit nach dem Krieg noch etwas übrig sei, für das sich der Einsatz gelohnt habe. Es geht um Zerstörung historischer Kulturdenkmäler durch Bombardierung oder Kampfhandlungen, aber auch um Kunstraub seitens der kunstversessenen Nazis, die sich in ganz Europa die Exponate für ein gigantisches Führer-Museum in Linz zusammenrauben. Ethische und kulturpolitische Bedenken werden in schöne Sentenzen zum Mitschreiben verpackt: Wem gehört die Kunst? Den Menschen! Allen Menschen! Welche Funktion hat die Kunst? Sie sorgt für Identität und bleibende Erinnerung, ist gewissermaßen der Fels im Fluss der Zeit. Der Vortrag zeitigt Wirkung. Der Präsident kontert: ob er, Stokes, denn seinerseits bereit sei, diesen Job zu tun, schließlich seien die jungen Kollegen längst im Fronteinsatz. Klar ist er und die Rekrutierung seiner eigenwilligen Mitarbeiter fällt dann so aus, als hätten wir das Prequel des Films im Kino verpasst. Lauter ältere Herrschaften, die bei der ersten Begegnung so tun, als hätten sie bereits so manches Abenteuer gemeinsam bestanden. Überraschung. Grinsen. Spruch. „Lust, ein bisschen im Krieg mitzumischen?“ Eigentlich ist man ja längst zu alt für den Kriegseinsatz, zu übergewichtig oder überhaupt ein notorischer Alkoholiker mit schlechtem Leumund.

Die Rettung der Kunst eröffnet so gewissermaßen überraschend eine letzte Chance im Nachrückverfahren doch noch uniformiert seine patriotische Pflicht zu leisten. Nach der erfolgreichen Landung in der Normandie beginnt die Arbeit der Monuments Men, wobei das Verständnis der regulären Truppen für das Anliegen dieser seltsamen Typen sich pragmatisch in Grenzen hält. Obwohl der Film nur wenige Protagonisten hat, kommt er beim Erzählen der diversen Handlungsfäden ins Stocken. Es fallen auch schon mal ein paar Schüsse, aber der Krieg erscheint hier doch eher als mal lässige, mal absurde Sommerfrische, bei der sich Clooney & Co. ihre coolen One-Liner („Was tust du da?“ „Ich bin auf eine Landmine getreten.“ „Warum?“ „Was tut er da?“ „Er ist auf eine Landmine getreten.“ „Warum?“) um die Ohren hauen, während sie zielstrebig gen Osten ziehen: nach Paris, Brügge, Aachen, Siegen, Merkers, Heilbronn bis nach Altaussee in Österreich, immer auf der Suche nach zu rettender Kunst.

Damit sich der Zuschauer besser orientieren kann, werden hier nur die big names gehandelt: Picasso, Monet, Vermeer, Rembrandt, Michelangelo und der Genter Altar. Es ist ein Rennen gegen die Zeit, denn die Nazis klauen nicht nur für das geplante Führer-Museum, sondern gerne auch einmal für die eigenen vier Wände. Was auf dem eiligen Rückzug nicht mitgenommen werden kann, wird auch schon mal – Stichwort: Nero-Befehl Hitlers – vernichtet. Auf der anderen, allerdings dramaturgisch stark funktionalisierten Seite drängen von Osten auch noch die Russen heran, die sich für ihre Kriegsopfer Kunstwerke als Reparationen sichern. Klare Sache: von Sowjets ist keine Einsicht in das humanistische Erbe zu erwarten. So reiht sich munter und untermalt wohl von der grauenhaftesten, manipulativsten Filmmusik seit Dezennien (Alexandre Desplat) Anekdote an Anekdote: der Krieg weit weg, der Frontverlauf fluid, wenn Deutsche als Gegner auftauchen, sind es entweder irregeleitete Kinder oder sinistre, unverbesserliche Nazis, die dann allerdings recht mühelos zur Strecke gebracht und in Rededuellen symbolisch »ausgelöscht« werden können.

Spannend ist das Ganze nicht, aber ein paar Szenen bleiben in Erinnerung. Da ist der junge, traumatisierte deutsche Soldat, der eine Zigarette angeboten bekommt und schon mal unsicher eine Grundlage für die bilateralen Beziehungen für die Zukunft anbietet: „John Wayne?“ Das ist ein Angebot, jenseits der High Art, zumal der Film ja seinerseits längst „Red River“ und „Ich war eine männliche Kriegsbraut“ nachspielt. Mit Matt Damon als Montgomery Clift und Bill Murray und John Goodman als Walter Brennan. In Paris trifft Damon dann noch auf Cate Blanchett, die eine Kuratorin spielt, die mit den Nazis kollaborierte, aber auch mit der Résistance zusammenarbeitete, um der Kunst willen. Sie ist misstrauisch, dass die Amerikaner hier unter einem Vorwand Schauwerte für ihre eigenen Museen rekrutieren. Aber Damon findet die starke Geste, die Blanchet überzeugt. Er nimmt ein unbedeutendes Gemälde und hängt es in der leeren Wohnung einer deportierten jüdischen Familie dort auf, wo es vorher hing. Als memento mori. Der Holocaust kommt noch zweimal ins Spiel, einmal in Form einer Erinnerung an den jüdischen Großvater, der seinem Enkel nicht erklären wollte, warum Juden in Karlsruhe nicht mehr Rembrandt anschauen durften und dann noch in Form eines Fasses voller Zahngold, wo allerdings die Filmmusik dem Zuschauer dräuend erklären muss, was es damit auf sich hat, weil der Film selbst dafür keinen Ton findet und, ehrlich gesagt, auch keinen Platz hat.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Konkret 3/2014

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The Grand Budapest Hotel

(USA / D 2014, Regie: Wes Anderson)

Brennende Geheimnisse
von Lukas Schmutzer

Seit jeher präsentiert uns Wes Anderson in sich geschlossene Welten, die in Schachteln und Rahmen gedacht sind: Familienhäuser, U-Boote oder Pfadfinderzelte werden da für unsere Augen wie Puppenhäuser geöffnet, um …

Seit jeher präsentiert uns Wes Anderson in sich geschlossene Welten, die in Schachteln und Rahmen gedacht sind: Familienhäuser, U-Boote oder Pfadfinderzelte werden da für unsere Augen wie Puppenhäuser geöffnet, um von Dingen zu erzählen, die stets so reizende wie befremdliche (zumindest aber: verfremdende) Distanz zu unserer eigenen Lebenswelt halten (ich frage mich, ob diese ganz spezifische Art des Erzählens bis zu den Kulissen und Special Effects eines Méliès zurückverfolgt werden kann).

In diesem Stil verschachtelt „Grand Budapest Hotel“ den allmählich schwindenden Glamour und die Adelshierarchien im Zentraleuropa der frühen 30er, aber auch Gefängnisanstalten, deren Parzellierung Ähnlichkeiten mit jenen von Hotels annimmt. Die Schachteln sind dabei nicht nur raumbildendes Formprinzip, sondern auch erzählerisches: Die Haupthandlung wird als eine Geschichte in der Geschichte in der Geschichte in der Geschichte erzählt, ist also selbst vielfach eingepackt, und der Spannungsbogen öffnet auf der Suche nach handlungstreibenden Objekten gemäß jenem Prinzip eine Schachtel nach der anderen, gleich den Häftlingen, die auf ihre regelmäßigen Patisserielieferungen warten. Andernfalls, wenn nichts zu öffnen ist, sind es die Rahmen selbst, die mitsamt ihren Inhalten getauscht werden: Causa Prima des zentralen Konflikts ist das Gemälde eines fiktiven flämischen Meisters, das einen Jungen zeigt, dessen Finger einen Apfel derart zärtlich am Stiele umschließen, dass die Haltung an die pikante Darstellung Gabrielle d’Estrées mit einer ihrer Schwestern erinnert (heute im Louvre zu besichtigen).

Dieser „Junge mit Apfel“ wird dem Concierge des „Grand Budapest Hotels“, Monsieur Gustave H. (Ralph Fiennes) von Madame Desgoffe-und-Taxis (Tilda Swinton, fast nicht wiederzuerkennen), die häufig in besagtem Hotel residierte, vermacht, was den sonstigen Erben ein Dorn im Auge ist. Auf Initiative seines „Lobby Boys“ Zéro Moustafa entwendet der Concierge das Gemälde aus dem Schloss Lutz (bzw. vereinnahmt es rechtmäßig) und hängt an dessen Stelle „entartete“ Darstellungen ähnlich zärtlichen Fingereinsatzes. Dies wird zum Auftakt eines Kriminalfalls und der Aufdeckung einer Verschwörung, in die eine internationale Riege an Stars verstrickt ist.

Selbst Klein- und Kleinstrollen sind in diesem Film wieder mit bekannten Gesichtern besetzt, deren unerwartetes Auftauchen mitunter selbst zu Sensationen werden – wessen sich der Film selbstverständlich zu jeder Zeit bewusst ist und zuweilen mit entsprechendem Leerlauf für die von ihm provozierten Lacher reagiert, diese aber auch ganz und gar nicht weniger kunstfertig mit eiliger Montage unterdrückt („…war das da nicht gerade George Cl…?“). Dass die Darsteller oft auch europäischer Herkunft mit Charme und sichtlicher Spielfreude agieren, muss nicht mehr eigens betont werden. Gerade das deutschsprachige Publikum wird sich freuen, Gesichter der „ihrigen“ zu sehen; Karl Markovics wird z.B. in seiner oscarbewährten Häftlingsrolle erneut ins bildhistorische Gedächtnis eingeschrieben.

Die Figurenkonstellation variiert die wiederkehrenden Themen der Anderson-Filme: Konflikte zwischen den Generationen, genealogische Skandale, junge Liebe entgegen institutioneller Widerstände. Nicht von ungefähr erinnern diese auch an die menschlichen Dramen, die Stefan Zweig am Semmering ansiedelt, in dieser niederösterreichischen Gegend verlorener Grand Hotels. Eine der Schachteln und Rahmen, die von Anderson in seine eigene, fiktive alpine Region gestellt werden, ist dann auch der entsprechende Überlebenskampf an Klippen und Hotelfassaden, in dem sich einige der besagten Konstellationen verdichten und welcher hier den vielleicht süßesten Ausgang der Filmgeschichte erfährt.

Wenn erste Fragen zuletzt beantwortet werden und der letzte Deckel auf das zuerst geöffnete Buch wieder aufgesetzt wird, wird der Zuseher wieder mit dem Gefühl einer eigentümlichen Geschlossenheit der Andersonschen Erzählwelten zurückgelassen; eine Geschlossenheit, die sich trotz – oder gerade wegen, das sei dahingestellt – solch eindeutiger Spuren, die eine Republik Zubrowska, ZZ-Runen auf rosa Grund oder den flämischen Maler Johannes Van Hoytl in die europäische Geschichte zurückweisen, einstellt.

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The Grand Budapest Hotel

(USA / D 2014, Regie: Wes Anderson)

Abwenden von der Realität
von Ilija Matusko

Wenn man sich Wes Anderson als Zeugen eines Verbrechens vorstellen müsste, so würde folgendes Bild passen: Anderson schließt die Augen, dreht sich schnell weg und denkt sich das Geschehen nach …

Wenn man sich Wes Anderson als Zeugen eines Verbrechens vorstellen müsste, so würde folgendes Bild passen: Anderson schließt die Augen, dreht sich schnell weg und denkt sich das Geschehen nach eigenen Regeln nochmal neu aus. Wenn wir nun wissen wollen, was sich zugetragen hat, so müssen wir dem verspielten Geschichtenerzähler in die Parallelwelt seines Kopfes folgen – und hoffen, in der schier unerschöpflichen Phantasie dieses Mannes nicht verloren zu gehen.

Allerdings kennen wir uns in den verschachtelten Gehirnwendungen bereits ganz gut aus. Auch Wes Andersons neuer Film „The Grand Budapest Hotel“ lebt von bunten Bastelkulissen, den geometrischen Spielereien, der minutiös getakteten Choreografie und von den Miniaturfiguren, letztere einzig und allein in seine Welt hineingesetzt, um zwischen rosa Blumentapeten ihre Neurosen und Macken zu züchten. Die Erzählung um das ehemals glamouröse Berghotel und seines legendären Concierges ist in der wiedererkennbaren Erzähl- und Bildästhetik gehalten, die sich bei Anderson im Laufe seiner Filme von einem Stil zum (etwas selbstverliebten) hermetischen Konstruktionsprinzip erhoben hat.

Am Anfang von „The Grand Budapest Hotel“ zieht eine Reihe von Rückblenden die Erzählung aus der Jetztzeit über die sozialistische Ostblocktristesse der 60er bis in die Zwischenkriegszeit der 30er Jahre. Das luxuriöse Hotel steht in seiner vollen Blüte, vor einer weißen Berglandschaft irgendwo in Osteuropa. Hier regiert der Concierge Gustave, ein kultivierter charmanter Mann mit Faible für romantische Lyrik, und weiht Lobby-Boy Zero, der sich jeden Morgen seinen dünnen Oberlippenbart mit einem schwarzen Stift nachzieht, in die Geheimnisse seines Berufsstandes ein. Als Gustaves adlige Geliebte Madame D. ermordet wird, gerät der Concierge als Erbe eines kostbaren Renaissancegemäldes unter Verdacht. Der Sohn der Toten hetzt ihm die Polizei auf den Hals. Es beginnt ein Verfolgungsspiel durch Hotelzimmer, Schlösser, Gefängniszellen und Zugabteile (mit dabei: Ralph Fiennes, Tilda Swinton, Edward Norton, Jude Law, Bill Murray, Willem Dafoe, Adrien Brody, Harvey Keitel, Matthieu Amalric, F. Murray Abraham).

Österreich-Ungarn, die Architektur des 19. Jahrhunderts, deutscher Expressionismus – das alte Europa scheint es Anderson angetan zu haben. Auch wenn das Land „Zubrowka“ ein imaginärer Ort und die „ZZ“ eine fiktive Schutzpolizei ist, so sind die historischen Parallelen leicht zu erkennen. Zum ersten Mal also prallen Andersons Spielzeuglandschaften auf die tragische Weltgeschichte. Es gibt Grenzkontrollen, Leichen und Ermordungen, die „Preußische Grippe“ wird grassieren und der Polizeiterror kündet vom Untergang der Zivilisation durch den Faschismus. Ein Balanceakt zwischen Ironie und historischer Bestürzung, den Anderson mit Bravour meistert. Die Erzählung durchweht trotz der bunten Farben und der witzigen Aufziehmännchen in Uniform eine Trübsinnigkeit, die sich langsam und schwer im Rücken der Zuschauer ausbreitet.

Obwohl die Anderson-Stilmittel langsam aber sicher Abnutzungseffekte zeigen und auch hier die absurde Komik, die man seit „Rushmore“ und „The Life Aquatic with Steve Zissou“ so schmerzlich vermisst, größtenteils ausbleibt, bekommt man als Zuschauer das Gefühl, dass Anderson mit „The Grand Budapest Hotel“ einen Schritt weitergeht. Vielleicht führt uns Wes Anderson mehr an der Nase herum, als wir dachten. Vielleicht sind seine Filme gar keine Marionettengeschichten, gezogen allein durch seinen Sinn für Stil, Komik und Herzschmerz gegen die Institutionen. Denn Anderson macht in seinem neuen Film noch deutlicher, worauf es ihm ankommt: Auf die Ernsthaftigkeit eines Gefühls. Im Falle von „The Grand Budapest Hotel“: Dass etwas schon in dem Moment vorbei war, als wir dachten, es sei noch lebendig gewesen.

Längst verlorene Zeiten also, die es – der Künstlichkeit seiner Nostalgie ist sich Anderson immer bewusst – nie gegeben hat. Der Vorwurf des Eskapismus und des blinden Vergnügens läuft bei diesem Film wie in keinem seiner Filme sonst ins Leere: Dafür sind Andersons Setzungen zu klug, seine Andeutungen zu reflektiert. Man muss das Grauen verstanden haben, um so darüber zu erzählen – auch wenn man es selbst nicht gesehen hat. Wes Anderson will dabei nichts aufdröseln und therapieren. Er hat ein diabolisches Vergnügen daran, Schicht um Schicht an Bildermasse aufzutürmen, um sich bewusst von der Realität abzuwenden. Wir drehen uns gerne mit ihm um.

Philomena

(GB 2013, Regie: Stephen Frears)

Das verlorene Kind
von Wolfgang Nierlin

Die etwas überkonstruierte Exposition des Films besteht aus einer Parallelmontage, in der die beiden Hauptfiguren, ihre Charaktere und ihre Geschichten knapp umrissen und aufeinander bezogen werden. Wir erfahren, dass der …

Die etwas überkonstruierte Exposition des Films besteht aus einer Parallelmontage, in der die beiden Hauptfiguren, ihre Charaktere und ihre Geschichten knapp umrissen und aufeinander bezogen werden. Wir erfahren, dass der gelernte Journalist Martin Sixsmith (Steve Coogan) soeben seinen Job als Pressesprecher der britischen Regierung verloren hat, aufgrund seines beruflichen Abstiegs unter Depressionen leidet und nach einem neuen Betätigungsfeld sucht. Sein Arzt empfiehlt ihm, zu joggen, während er selbst ein halbgares Buchprojekt über russische Geschichte verfolgt. Auf der anderen Seite tauchen wir mittels leicht aufdringlicher Rückblenden in die Leidensgeschichte der fast siebzigjährigen Titelheldin Philomena Lee (Judi Dench) ein, die sich am 50. Geburtstag ihres unehelich geborenen Sohnes an ihren schrecklichen Aufenthalt in einem irischen Kloster für sogenannte „gefallene Mädchen“ erinnert. Damals, zu Beginn der 1950er Jahre, wurde ihr nach einer schweren Geburt das geliebte Kind weggenommen und zur Adoption freigegeben. Heute, in der Gegenwart der Erzählung, wird sie getrieben von dem Wunsch, ihrem Sohn einmal zu begegnen.

Stephen Frears „nach einer wahren Geschichte“ entstandener Film „Philomena“, der auf Martin Sixsmiths Buch „The Lost Child of Philomena Lee“ basiert, funktioniert wie ein liebenswertes Buddy-Movie, in das jedoch von Anfang an die düsteren Motive einer spannenden Detektivgeschichte eingewoben werden. So begibt sich das ungleiche Paar, zusammengeführt durch den Auftrag für eine „human interest story“, der Sixsmith zunächst skeptisch gegenübersteht, auf eine gemeinsame Spurensuche nach dem „verlorenen Kind“. Während die beiden in dem irischen Kloster auf eine Mauer des Schweigens stoßen, erfahren sie in Washington, dass Philomenas Sohn als leitender Rechtsberater der Regierung gearbeitet hat, homosexuell war und Mitte der 1990er Jahre an Aids verstarb. Die schwer lastende Ungewissheit, schwankend zwischen Angst und Hoffnung, verwandelt sich für Philomena auf dieser Reise in die Vergangenheit in einen tragischen Schmerz, der aus den unabänderlichen Tatsachen einer schier unglaublichen Geschichte aufsteigt.

Abgemildert und aufgefangen wird dieses Schicksal durch die sich vorsichtig und behutsam vollziehende Annäherung zwischen der menschenfreundlichen und trotz allem gläubigen Philomena (nomen est omen) und dem mehr intellektuellen, dem Realitätsprinzip folgenden Martin. Entsprechend tragikomisch ist die Tonlage des routiniert inszenierten Films. Stephen Frears, der in den achtziger Jahren zu den Erneuerern des britischen Kinos gehörte, ist längst im gepflegten Arthouse-Mainstream angelangt. In „Philomena“ kreuzt er souverän die Genres und Stile, um ebenso unterhaltend wie berührend den Zuschauer mit einem politisch brisanten, ziemlich dunklen und deshalb lange Zeit verschwiegenen Kapitel der irischen Gesellschaft zu konfrontieren. An dessen Ende halten sich auf versöhnliche Weise Aufklärung und Vergebung die Waage.

Shoah durch Erschießen: Einsatz in der Ukraine

(F 2008, Regie: Romain Icard)

Gräber, die sich bewegen
von Michael Schleeh

1941 – nachdem Hitler die Vernichtung des Bolschewismus zum Hauptziel des Nationalsozialismus erklärt hatte und die Wehrmacht im so genannten „Unternehmen Barbarossa“ 1941 die Sowjetunion überfallen und in nur zwei …

1941 – nachdem Hitler die Vernichtung des Bolschewismus zum Hauptziel des Nationalsozialismus erklärt hatte und die Wehrmacht im so genannten „Unternehmen Barbarossa“ 1941 die Sowjetunion überfallen und in nur zwei Wochen die Ukraine eingenommen hatte, nahmen die gefürchteten „Einsatzgruppen“, mobile Sondereinheiten der SS, ihre Arbeit auf. Ihr Ziel: die schnellstmögliche und systematische Ausrottung der ukrainisch-jüdischen Bevölkerung; und damit die Ermordung von Hunderttausenden zusammengetriebener Frauen, Männer und Kinder. Gaskammern wurden dafür eigens gar nicht erst gebaut. Vor den Städten und Ortschaften, gerade so außer Sichtweite, wurden die zusammengetriebenen Juden dazu gezwungen, ihre eigenen Gräber auszuheben um anschließend direkt exekutiert zu werden. Da nicht alle Opfer sofort tot waren, begannen die Gräber sich zu bewegen, wie ein Augenzeuge im Film berichtet. Blut floss in Strömen aus ihnen heraus, bis hinein in den nächsten Fluss.

Der französische Pater Patrick Desbois, der in diesem Film von Filmemacher Romain Icard begleitet wird, spricht mit den noch lebenden Zeugen des Genozids, die zumeist, so grotesk das anmutet, noch nie zu diesen Ereignissen befragt worden waren, die sie als Kinder erlebt und aus nächster Nähe mitverfolgt hatten. Meist war es die kindliche Neugier gewesen, die sie zu den Orten des Schreckens geführt hatte, oftmals wurden sie auch von der SS dazu gezwungen, die Gräber voller Leichen zuzuschütten. Es ist ein verdrängtes und nie gelüftetes Kapitel des Holocaust, das Desbois in jahrelanger Kleinstarbeit aufdeckte, und der Film von Romain Icard dokumentiert die Suche nach der Wahrheit, den Tatorten, den Gräbern.

Die Dokumentation ist eine Montage mehrerer Reisen Desbois‘ in die Ukraine, führt anhand von Archivmaterial in den zeithistorischen Horizont ein und montiert immer wieder die oftmals erschütternden, oftmals verblüffend nüchtern ablaufenden Interviews mit den Zeitzeugen. Da gibt es lange Autofahrten durch Landschaften, die mit ihrer ruralen und dörflichen Idylle in starkem Kontrast zu den Ereignissen stehen, die sie verbergen. Einmal widmet sich der Film auch dezidiert der Ausgrabung eines solchen Massengrabs. Hier sieht man eine lange Grube voller unzähliger ineinander verkeilter Skelette, die von den Helfern und einem Archäologen des Teams ausgegraben werden. Darüber befand sich jahrzehntelang eine grüne Wiese am Fluss, die in ihrer idyllischen Lage, wie als Zeitkapsel, niemals an ihr schreckliches Erbe als Schauplatz der Gräuel hätte denken lassen.

Die TV-Dokumentation ist mit ihren knapp 90 Minuten beinahe ein wenig kurz ausgefallen; gerne hätte man noch mehr über die Arbeit des Teams erfahren, sowie den Erinnerungen der Zeitzeugen gelauscht. Der äußerst sehenswerte Film, der auch formal einer Suche gleicht (auch nach „der Wahrheit“, die immer eine vielgestaltige ist), die an keinem Ziel ankommen kann, huldigt seiner Hauptfigur Patrick Desbois, die mitunter etwas Heldenhaftes bekommt, manchmal etwas zu sehr. Der Film liegt im O-Ton und in Originalfassung vor, also 4:3 Fernsehratio, und ist mit deutschen Untertiteln versehen. Weitere Bonusfeatures sind auf der doch spärlich ausgestatteten DVD bedauerlicherweise nicht vorhanden.

Der Imker

(CH 2013, Regie: Mano Khalil)

Lebendig begraben
von Wolfgang Nierlin

Auch wenn der Titel von Mano Khalils Dokumentarfilm „Der Imker“ dies nahelegt, geht es darin nicht um Bienenzucht. Die Imkerei dient eher als Metapher für das zerrissene und zugleich in …

Auch wenn der Titel von Mano Khalils Dokumentarfilm „Der Imker“ dies nahelegt, geht es darin nicht um Bienenzucht. Die Imkerei dient eher als Metapher für das zerrissene und zugleich in sich ruhende Leben des entwurzelten Kurden Ibrahim Gezer, der hier portraitiert wird. Sein unterschwellig appellierender Blick setzt einen sowohl individuellen als auch politischen Rahmen. Andere Einstellungen zeigen immer wieder seine Hände, seinen Aufenthalt in der Natur und bei Freunden oder aber in jener 1-Zimmer-Wohnung über einer lärmenden Bar, die für den Exilanten in der Schweiz zum neuen Domizil geworden ist. Der 1946 in der Türkei geborene Gezer lebt zwischen zwei Welten, was die Parallelmontage in der Einleitung verdeutlicht: Die Berglandschaft der kurdischen Heimat und diejenige der Schweiz fließen nahtlos ineinander. Trotzdem sagt der stets hoffnungsvolle Menschenfreund mit dem gütigen Gesicht einmal deprimiert: „Ich fühle mich wie lebendig begraben.“

Der 11-fache Familienvater hat dazu allen Grund, denn seine Familie wurde durch den Kurdenkonflikt auseinandergerissen. Zwei seiner Kinder starben als Widerstandskämpfer, andere sitzen im Gefängnis oder sind auf der Flucht, seine traumatisierte Ehefrau brachte sich um. Gezer selbst musste sich jahrelang verstecken, ehe er im schweizerischen Laufen Asyl fand. Dabei verlor er seine 500 Bienenvölker, mit denen er zwischen 10 und 18 Tonnen Honig im Jahr produzierte und die ihm ein gutes Auskommen sicherten. Er sei Imker aus Berufung: „Ich und meine Bienen sprechen die gleiche Sprache. Wir sind Freunde“, sagt Gezer. Immer wieder bewundert er die Klugheit dieser emsigen Tiere und ihr harmonisch geordnetes Leben, das er in Analogie dazu auch gerne für seine eigene Familie gehabt hätte. Stattdessen steckt er in einem Beschäftigungsprogramm für Integration, für das er eigentlich zu alt ist und das ihn von seiner geliebten Imkerei abhält.

Mano Khalil benutzt diesen und andere Konflikte, um seinen Film mit mehreren dramatischen Erzählsträngen auszustatten, deren Inszenierung aber mitunter zu vordergründig auf Bedeutung zielt, ohne die dabei mitgelieferten Botschaften auf ihre Hintergründe hin zu befragen. Das der Spielfilmdramaturgie entlehnte Verfahren bleibt flach, wirkt künstlich und produziert mitunter Längen, in denen die emotionale Suggestion die mögliche Analyse verdrängt. Stärker ist der Film, wo er sich den Einsichten, Erzählungen und Geschichten des Portraitierten überlässt, der sich nach seiner verlorenen Heimat sehnt, durch seine Offenheit und seinen – trotz aller tragischen Erfahrungen – ungebrochenen Lebensmut aber auch neue Freunde gewonnen hat. Ibrahim Gezer glaubt an eine „Gefühlssprache“, seine Leidenschaft für die Bienenzucht bezeichnet er als „süße Krankheit“ und die Natur als „das einzige Paradies“.

Über-Ich und Du

(D / CH / AT 2014, Regie: Benjamin Heisenberg)

Zwo ziemlich schrägste Vögel
von Andreas Thomas

Ein Buddy-Movie der Ausnahmeart. Regisseur Benjamin Heisenberg, aus irgendwelchen Gründen irgendwann mal dem zugeordnet, was man „Berliner Schule“ nannte, hat, aha!, etwas gedreht, was man eine „Komödie“ nennen könnte. Dabei …

Ein Buddy-Movie der Ausnahmeart. Regisseur Benjamin Heisenberg, aus irgendwelchen Gründen irgendwann mal dem zugeordnet, was man „Berliner Schule“ nannte, hat, aha!, etwas gedreht, was man eine „Komödie“ nennen könnte. Dabei war Heisenberg auch schon als Berliner Schüler nie ganz koscher gewesen. Sein prima Langfilm-Erstling „Schläfer“ mit seinem Thema „Terrorismusverdacht“ war im Prinzip (allein schon, weil er so etwas wie ein „Thema“ besaß) etwas zu sozialkritisch und politisch konnotiert, um den gleichsam puristischen und sozusagen von politsozialen Begrifflichkeiten bereinigten „Berliner Schulfilmen“ subsummiert werden zu können und Heisenbergs Zweiter, der noch primarere „Der Räuber“ wiederum war dann zu „besonders“ bzw. zu wenig „alltäglich“ für die Berliner Schule, indem er eine Person mit starken „Alleinstellungsmerkmalen“ (Kollege, das Wortungetüm sei dir gewidmet!) zu seinem Helden machte, einen Mann, der sowohl Marathon laufen als auch Banken überfallen konnte, eine Figur mit viel gesellschaftsunkompatiblem Symbolpotential und dazu noch ein Österreicher. Was sucht ein Ösi in der Berliner Schule?

Vermutlich nun taugen diese Antibeispiele zur Berliner Schule weniger als Beleg, dass Heisenberg nicht zur „Schule“ passte, als im Gegenteil, dazu, nachzuweisen, dass es eigentlich in der Berliner Schule nie wirklich verbindliche Regeln oder Normen gab, denn ähnliche Abweichungen (wovon? von etwas Imaginiertem?) kann man auch bei quasi allen anderen Schul-Regisseuren entdecken. Mit anderen Worten, es gab sie eigentlich nicht wirklich, wenngleich sie in der Vorstellung existierte, diese komische „Schule“. Aber, remember: Ideen sind ja bekanntlich wirklicher als das Leben selbst.

Womit wir schon einen prima Übergang haben, denn in Heisenbergs offiziellem Konfessionsbruch mit besagter Bildungsanstalt jedenfalls geht’s eigentlich nur um Ideen von Fakten, um Varianten der Realität, die in diesem Fall als sowas wie hysterische Historie auftritt, als Parabel ad Parabellum. Und es geht gleich völlig anders los, als wir es von den Berlinern gewohnt sind, nämlich mit einem verschmitzt-geswingten Soundtrack, der einer gewitzten deutschen Fernsehunterhaltung, etwa mit einem zu gleichen Teilen super aufgelegten und schmerbäuchigem Fritz Wepper oder einer schlitzgeohrten aber grauenvertrauten Thekla Carola Wied in nichts nachstehen würde, nur noch besser ist. Und die Schiebermütze auf dem Haupt eines (seit „Hundstage“) der wenigen absoluten Lieblingsschauspieler des Kritikers, nämlich Georg Friedrich (immer noch ohne Händel! (Siehe dazu auch Michael Glawoggers 'Contact High!', der doch einiges besser macht, wenn es um Komödie geht)) verrät von Anfang an: Jetzt darf gelacht werden, und gedacht werden darf an den klassischen Gangsterfilm mit dem klassischen Gangster der amerikanischen sowie deutschen zwanziger Jahre, der ja auch ohne Schiebermütze niemals einer Missetat befähigt sei.

Puh! Vielleicht braucht es ja noch ein bisschen, bis auch die (ehemalige) Berliner Schule kapiert, dass ein Stück Kino, welches sich ernsthaft auf Welthaltigkeit einlässt, nicht nur nicht auf Humor verzichten darf, sondern notwendig auf diesen angewiesen ist, wie quasi jedes Kino, und einer der ernsthaftesten Berliner Lehrer, nämlich Lars von Trier, hat das doch schon seit 30 Jahren mit seinem realitätsgetränktem Fake schön vorgemacht. Will meinen: Der Teufel des Witzes steckt natürlich im Detail der realiteren Gosse.

Nun aber, das vermittelt „Über-Ich und Du“, nicht nur darf, sondern soll gelacht werden. Der Filmbeginn ist quasi so ein kumpeliger Rippenstoß. Motto: Komm, werd mal locker, lass dich doch mal drauf ein! So was führt bei mir jedenfalls automatisch zur Verkrampfung (hingegen entspanne ich immer total, wenn es recht aussichtslos anfängt). Und dann das Wunder. Trotz Verspannung lache ich auf einmal. Ich glaube, das ist, was der Profi Understatement nennt. Der Autorenfilmer weiß, welche Klischees er bedient und unterläuft sie. Die krasse Maria Hofstätter als „Mutter“ (der andere Star aus „Hundstage“) ist ja schon mal `ne Bombe. Aber das Komischste ist André Wilms, ein inzwischen älterer Aki-Kaurismäki-Held (schon gern gesehen gewesen in „Das Leben der Bohéme“ sowie in dem Meisterwerk „Le Havre“). Hier spielt er zum Teil das was er ist, nämlich einen bilingualen Mann aus Strasbourg, Elsass, mit 65 Jahren womöglich in seiner ersten deutschsprachigen Rolle. Zudem ist er Professor, und, soweit man das versteht (man versteht nicht immer alles in diesem Film, was ein eindeutiger Vorteil ist), ein berühmter deutscher Psychoanalytiker, der, und das kommt noch lustigerweise dazu, irgendwann mal in Jugendzeiten von Goebbels lobend erwähnt wurde und dadurch einen Lehrstuhl im 3. Reich ergattern konnte (wie das überhaupt rein biologisch und rechnerisch gehen soll, falls der Film wirklich in den 2010er Jahren angesiedelt sein sollte, spielt sicherlich auch keine Rolle!). Das Komischste an André Wilms ist aber wiederum, dass er den ganzen Film lang sich nur mit diesen Nordic Walking-Stöcken durchs Bild bewegen kann, und sei es nur vom Sofa bis zum Stuhl. Coole Idee das, statt Gehhilfe namens „Rollator“. Auch kann er nicht in die Küche, weil er da eine tiefenpsychologische Sperre besitzt. Diese Sperre hat dann später auch Georg Friedrich, und hier geht’s um Psycho-Übertragung. Und unter anderem ist auch das sicherlich und vermutlich Thema von „Über Ich und Du“ (Übrigens auch von Glawoggers „Contact High!“). Doch wer weiß das schon im Detail bzw. wer will‘s wissen?

Schnell begreift der gebildete (Film-)Leser, dass man sicherlich hier nicht immer alles Eins zu Eins zu übersetzen hat, sondern dass wir uns hier durchaus in einer Sphäre der (oben bereits erwähnten) Ideen und Gedankenspielereien befinden. Spätestens dann versteht man auch den Puff in die Rippe: Hey Alter, Lehn dich an! Ich beliebe zu scherzen! Und ich beliebe gar auch über den Scherz zu scherzen, und über psychoanalytische Überväter und Koryphäen und über Zwangsbücherdiebe aus einem Minderwertigkeitstrieb und über Zwecklügen nach der Nazizeit und Ödipus und Ikarus und über die Alpen – die später in „Über Ich und Du“ eine wunderbare Kulisse bilden, worauf dann gegen Ende gar noch sowas wie der zurzeit offenbar unvermeidliche Alpen-Italo-Western Platz nimmt, in Gestalt eines eingebuddelten äh: Halses. Doch sehen Sie selbst. Oder auch nicht.

Nach Haus geht der Interessent beeindruckt und mit dem Gefühl, partizipieren gekonnt (quasi über einen Gartenzaun geguckt zu haben in so was ganz Intim-Verschwiemeltes) zu haben an jener ziemlich eigenen Vorstellungswelt eines ziemlich interessanten Regisseurs, einer Geschichte von zwo ziemlich schrägsten Vögeln, einer Familien-Hysterie, einer Auto-Therapie, von der man nun weiß, dass sie da sein muss, ohne komplett zu wissen, was sie bedeutet, was ja auch manchmal sein Gutes hat. Hauptsache nämlich, der Regisseur weiß es und lacht sich immer noch ins Fäustchen, während des Interessenten Interesse langsam versickerte, aber das schien ja auch für den Regisseur egal.

Lieber Herr Heisenberg, machste nächstes Mal wieder was relativ weniger Unschärferes? Entschuldige, aber diesen großväterlichen (Werner Heisenberg, der z.T. mit den Nazis sich arrangierende, z.T. sich Ihnen verweigernde berühmte Physiker, war echt der Opa vom Filmemacher!) Witz konnte ich mir nun meinerseits nicht verkneifen. Wie nennt man das nun, Benjamin: Großvaterkomplex? Oder: Opa und Bubi gehen scheißen??

Vergiss mein Ich

(D 2014, Regie: Jan Schomburg)

Von der Unschärfe in die Unschärfe
von Andreas Thomas

Nach einer nicht diagnostizierten Hirnhautentzündung verliert Lena Ferber (Maria Schrader) plötzlich auf einer Party ihr Gedächtnis. Alles und jedes, was zuvor ihren Standort markiert und ihre Identität definiert hatte, ist …

Nach einer nicht diagnostizierten Hirnhautentzündung verliert Lena Ferber (Maria Schrader) plötzlich auf einer Party ihr Gedächtnis. Alles und jedes, was zuvor ihren Standort markiert und ihre Identität definiert hatte, ist auf einmal ungreifbar und nicht nur optisch verschwommen geworden. Der Ehemann, die beste Freundin, doch zuerst sie selbst ist sich ganz plötzlich ein unbeschriebenes Blatt. Das alles lernt auch der Zuschauer erst nach und nach, weil er gewissermaßen mit dem Erkenntnisstand und Blickwinkel der Protagonistin kurzgeschlossen ist, sprich: Wir wissen, dass wir nichts wissen, bis uns jemand (Arzt, Ehemann, Freundin) mitteilt, dass wir etwas vergessen haben.

Jan Schomburg scheint sich zum Neurologen unter den Regisseuren zu entwickeln. Befasste sich sein erster Langfilm „Über uns das All“ mit dem Verlust eines geliebten Menschen, bzw. mit der Unfähigkeit der hinterbliebenen Partnerin, diesen Verlust überhaupt zu registrieren, so setzt er sich diesmal mit dem Verlust des Ich auseinander, mit der Phänomenologie der biografischen Identität, die ja gerade dann besonders erkennbar wird, wenn sie plötzlich fehlt.

Jedenfalls tut sie das für Lenas Mann Tore (Johannes Krisch), der auf einmal eine fremde Frau bei sich wohnen hat und deren Naivität im völligen Gegensatz zum Ich der bisherigen Lena Ferber zu stehen scheint, die als Wissenschaftlerin sich mit Gender Studies befasste und sich ausgerechnet mit Phänomenen des Identitätenkonstrukts auseinandersetzte. Es bleibt dabei: Lena kann sich an nichts und niemanden erinnern. Nur dass Angela Merkel Kanzlerin ist, weiß sie, aber dieser Fakt zählt eh täglich mehr zu den archaischen Tatsachen dieser Welt. Für diese Info braucht‘s eher Urinstinkt und keine Identität.

Die neue Lena versucht sich der alten Lena zu nähern, indem sie ihre Tagebücher und ihre publizierten Bücher liest, Fotos, Familienfilme und Videoaufzeichnungen ihrer Vorlesungen studiert: Wie bewege ich mich? Welche Gesichter mache ich? Wie intoniere ich meine Sätze?

Bei der Frage „Welche Sätze denke, sage, schreibe ich?“ gerät auch das logische Konstrukt des Films leider ein wenig ins Verschwimmen. Denn hier ist es nicht mehr mit Imitationen des Gesehenen und Gehörten getan, die Lena zunächst bravourös zu Stande bringt (obwohl doch ihr rätselhaft naives neues Ich ganz andere, sagen wir mal, „landläufigere“ weibliche Moden anstrebt). Für die (Re-)Konstruktion einer kompletten Persönlichkeit, dazu die einer Wissenschaftlerin, braucht es dann doch schon so etwas wie eine persönliche Biografie, darin Bildung oder Studium, daraus Erfahrung und am Ende ein erworbenes Bewusstsein, und das kann nicht „nachgemacht“ werden.

Dass Lena von ihrem Mann trotz aller offenbarer Vergeblichkeit noch dazu angehalten wird, wieder „sie selbst“ zu werden, das passt nicht recht zu seiner Intelligenz; und weil dann auch der Film versucht, diese Unmöglichkeit zu verifizieren, braucht es leider auch ein wenig guten Willen von Seiten des Zuschauers, um Lenas Weg weiter mit zu verfolgen. Leicht gemacht wird diese Verfolgung aber durch das wunderbare Spiel der (wieder entdeckten) Maria Schrader, die mit atemberaubender Präsenz abwechselnd die abgeklärte Intellektuelle und dann wieder die mehr als kindliche Reinheit verströmende Frau spielen kann, die alles neu für sich erfährt – unter anderem die Liebe, die sie übrigens für jemand ganz anderen als für ihren Mann entdeckt.

Wie in „Über uns das All“ Sandra Hüller glänzte, so glänzt in „Vergiss mein Ich“ Maria Schrader. Das belegt zum Einen, was die beiden Frauen können und es lässt Rückschlüsse darauf zu, wie einfühlsam Schomburgs Regie auch und gerade in den intimsten Momenten (derer es nicht wenige gibt) sein muss, und wie viel Raum er seinen Darsteller/innen zu geben bereit sein mag.

Was in „Vergiss mein Ich“ sehr gut funktioniert, ist die Schauspielregie, und auch das Aufwerfen der Frage, was denn eigentlich uns, bzw. unsere Identität ausmacht, gelingt vollkommen. Weitgehende Spannung entsteht übrigens nicht zuletzt dadurch, dass ein Mensch ohne biografische Identität ständig in der Lage ist, alle, eingeschlossen sich selbst, neu zu überraschen.

Ob, so frage ich mich dann privat, aber das neurologische Ausnahmephänomen einer auf Grund retrograder Amnesie nicht vorhandenen Identität nun gerade ein Schlüssel für besonders aufschlussreiche psychologische, soziologische oder philosophische Fragestellungen/Antworten sein könnte? Ist nicht das Interessantere der Mensch mit Biografie, das beschriebene Blatt, weil darin alles irgendwie lesbar, also wenigstens chiffriert ist: Kultur, Gesellschaft, Historie, Ethik, Psychologie, Familie, Welt usw. usf.?

Die zwei Gesichter des Januars

(USA / GB / F 2014, Regie: Hossein Amini)

Staubig schön
von Michael Schleeh

Im Jahr 1962 hält sich der Amerikaner Rydal (Oscar Isaac) in Athen als Fremdenführer gerade eben so und mit kleineren Gaunereien über Wasser und trifft eines Tages auf das elegante, …

Im Jahr 1962 hält sich der Amerikaner Rydal (Oscar Isaac) in Athen als Fremdenführer gerade eben so und mit kleineren Gaunereien über Wasser und trifft eines Tages auf das elegante, gut situierte Ehepaar Colette und Chester MacFarland (Kirsten Dunst und Viggo Mortensen). Rydal ist auf Anhieb von dem Paar fasziniert; er fühlt sich angezogen von ihrer kultivierten Art und ihrem sorgenfreien Lebensstil. Wie auch sie von ihm: einer, der scheinbar unabhängig seine Freiheit, seine Ungebundenheit zu Leben scheint. Doch der Eindruck trügt. Als Rydal eines Abends zum Luxushotel der MacFarlands zurückkehrt, seine Freundin sitzen lässt um Colette einen im Taxi vergessenen Armreif zurückzubringen, da bedrängt ihn Chester auf dem Hotelflur, einen offenbar bewusstlosen Mann fortzuschaffen – von dem der Zuschauer bereits weiß, dass er tot ist und der den MacFarlands auf den Fersen war. Sie entscheiden sich, Athen schnellstmöglich zu verlassen und bitten Rydal, ihnen zu helfen. Dieser stimmt zu und begibt sich, wohlwissend, aber auch um Colette nahe zu sein, in ein dunkles Netz aus Mord, Eifersucht und Intrigen.

Keine Frage, das Personal liefert hier eine erstklassige Vorstellung ab. Wie auch der ganze Film, nach einem Roman von Patricia Highsmith, mit staubig schönen Arthouse-Bildern in satten Ockerfarben ganz unsubtil zu prunken und protzen versteht. Hier trinken die Männer noch Scotch (und zwar schon mittags) und tragen sommerliche Anzüge aus weißem Flanell. Den Damen ist zwar heiß, sie schwitzen aber nie. Allenfalls ein Tröpfchen auf der Oberlippe bildet sich da beim Blick in die tiefen Augen eines vorübergleitenden Galans – nur da erhöht sich für kurze Momente die Körpertemperatur. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass der durchaus kitschige Film ein vergangenes Kino heraufbeschwört, eines aus den 60er Jahren, als man noch mit dem KIno die südlichen Sehnsuchtsgefilde erforschte und man Agatha Christie et al. dafür dankbar war, etwas Exotik in die nordeuropäischen Wohnzimmer an tristen Sonntagnachmittagen zu bringen.

„Die zwei Gesichter des Januars“ ist das Regiedebüt von Hossein Amini, der mit seinem Drehbuch zu „Drive“ schon einiges an Beachtung fand und dann auch „Snow White and the Huntsman“ skriptete (wie immer man das bewerten möchte). Für sein Drehbuch zu „Die Flügel der Taube“ von Iain Softley (1999), nach einem Roman von Henry James, war Amini für einen Oscar nominiert – er habe sich also „als Garant“ für kunstvolle Adaptionen klassischer Stoffe bewährt. So zumindest sehen das die PR-Agenturen. Wie immer sollen solche Fakten für Qualität bürgen, über diesen Film von Softley hingegen, an den sich heute wohl kaum einer mehr erinnern kann, schrieb etwa Patrick Bahners damals in der FAZ, er sei eine „sinnentleerte Ausstattungsorgie und […] eine filmische Totgeburt.“ Und auch bei Keanu Reeves‘ Samuraivehikel „47 Ronin“, das weltweit zu Entrüstung wegen seines hemmungslosen kulturimperialistisch vereinnahmenden Vorgehens führte, war Amini am Drehbuch beteiligt.

Neben seinem durchaus spannenden und sukzessive sich stetig intensivierenden Thrillerplot fällt vor allem die Bildgestaltung des Films auf. Hier ist alles nahezu perfekt, geradezu makellos. Die Ausstattung exquisit, die Beleuchtung immer stimmig, die Tongebung allzu passend, die Musikspur melodramatisch, wie es sich gehört. Alles eben immer: wie es sich gehört. Ein Wunder beinahe, dass der Film nicht erstickt und völlig steril wirkt in seiner ausgestellten Perfektion. Dennoch bleibt ein Gefühl des Missbehagens zurück: So schreitet man vielleicht etwas allzu gern durch die apart ausgeleuchteten Bildräume dieses Films, verlustiert sich etwas zu gerne mit den selbst im Suff immer gut aussehenden Menschen beim Sonnenaufgang über dem Hafen von Piräus, oder auf Kreta (oder sonstwo), möchte man immer etwa zu sehr, dass die Liebelei nicht nur geheimes Begehren bleibt. Überhaupt die Liebe: inmitten dieser letztlich gescheiterten Existenzen, vor dem Leben flüchtenden alkoholkranken Snobs ist es die Liebe, die das einzig reine, wahre und hehre Ziel am filmischen Firmament darstellt. Zu ihr hin strebt alles, je mehr die Figuren vor ihren Leben in den falschen Identitäten flüchten. Die echte Liebe wäre dann endlich mal ein Ankommen im Richtigen.

Und so ist „Das zweite Gesicht des Januars“ neben seinem Krimiplot auch vor allem ein Beziehungsfilm, einer, der ganz anachronistisch über seine Charaktere funktioniert und seine Dialoge. Der sich zunehmend auswächst zum psychologischen Machtkampf zwischen den beiden Männern, zwar im selben Boot sitzend und doch gegeneinander kämpfend um die Trophäe Frau. Kämpfe, in denen Wortwitz zählt, Eloquenz und Schlagfertigkeit. Das richtige Timbre zum echten Gefühl allerdings könnte, vermutlich, letztlich die Herzdame gewinnen. Wer die Muskeln einsetzt, hat verloren. Eine wirklich voll entwickelte Frauenfigur hatte aber in Aminis Film keinen Platz. Zu sehr konzentriert sich der Film auf das Ringen der männlichen Charaktere – die natürlich, so offensichtlich doppelbödig ist der Film dann permanent: nicht nur mit dem befreundeten Feind kämpfen müssen, sondern auch gegen die Dämonen in der eigenen Seele.

Etwas allzu genüsslich lässt sich diese mediterrane Fim-noir-Eskapade in vergangene Kinozeitalter goutieren, es ist ein Feelgood-Film für das gesetztere Publikum (oder eben einfach ein Krimi mit Patina und Grünspan), das für seine Bildungsreise zu den antiken Tempeln noch etwas Inspiration gebrauchen kann. Nun, warum dann mal nicht den „Roman zum Film“ von Patricia Highsmith lesen? Aber vielleicht kauft man sich diesen besser vor Ort, man hat es ja im Film gesehen, wie schön man dort auf diesen Flohmärkten Antiquarisches erstehen kann. Nur die Adresse des netten Hotels, die müsste man bitteschön vielleicht noch irgendwo herbekommen. Das sah ganz putzig aus dort in der Altstadt.

Im August in Osage County

(USA 2013, Regie: John Wells)

Überdosis Method Acting
von Ulrich Kriest

Sich recht ein paar Kilos drauffressen, sich mindestens so viele Kilos runterhungern, sich in der Mucki-Bude stählen, sich mal so richtig undiszipliniert gehen lassen und an einer Überdosis sterben. Nähert …

Sich recht ein paar Kilos drauffressen, sich mindestens so viele Kilos runterhungern, sich in der Mucki-Bude stählen, sich mal so richtig undiszipliniert gehen lassen und an einer Überdosis sterben. Nähert man sich der alljährlichen „Oscar“-Verleihung, werden den US-Schauspielern routiniert und rituell Kränze geflochten. Hollywood, schön und gut, aber sie oder er spielt ja schließlich auch noch Theater. Theater! Und so landet man schließlich bei einem Prestige-Projekt wie „Im August in Osage County“, wo dann eine erlesene Auswahl von Schauspielern wie Meryl Streep, Julia Roberts, Sam Shepard, Chris Cooper, Ewan McGregor oder Juliette Lewis einmal zeigen, wie das so aussieht: richtiges Theater. Besser noch: Theater im Kino, eine Theater-Verfilmung nach einer amtlichen Vorlage mit dem Titel „August: Osang County“, verfasst vom renommierten Dramatiker Tracy Letts („Bug“, „Killer Joe“) und selbst auch schon mit dem „Pulitzer Prize“ prämiert. Doch Vorsicht! „August: Osang County“ liest sich wie ein Pastiche aus eilends zusammengefegten Tennessee Williams- und Edward Albee-Versatzstücken. Wer hat Angst vor der Katze auf dem heißen Blechdach?

Schon der Auftakt trägt mit T.S. Eliot schön fett auf, Banalität meets Urheberrecht. Sam Shepard verabschiedet sich nach ein paar sarkastischen Sprüchen früh aus dem Film und konfrontiert den verbliebenen Rest seiner Familie mit dem, was 40 Jahre Ehehölle und etwas Mundhöhlenkrebs aus seiner von Meryl Streep gespielten Frau gemacht haben: Violet, der Zorn Gottes, geboren in harten Zeiten in den endlosen Weiten Oklahomas, wo man heute noch mit alten Hits von Eric Clapton zum Tanz bittet, obwohl Clapton doch seine besten Einfälle einem waschechten »Okie« entliehen hat.

Zur fälligen Beerdigung reist die komplette Familie Weston nebst Anhang an und es folgt eine furiose Familienaufstellung. Hier ist alles Gemeinheit, Enttäuschung, Bigotterie und Wut – vorgetragen in einer schier endlosen Abfolge von Dialogen, aufgesagt von Schauspielern, die sich darin gefallen, hier endlich einmal Mut zur Hässlichkeit zu beweisen. Allen voran Meryl Streep, das fauchende Mutter-Monster. Das ist großes Theater mit allerlei Anleihen bei der griechischen Tragödie, kulminierend in Mitleidlosigkeit, Ehebruch und Inzest. Hier wird wirklich mit der großen Kelle ausgeschenkt, hier platzen Lebenslügen gleich im Dutzend: Wie wir wurden, was wir sind. Nur als Film ist diese Verfilmung leider völlig verschenkt, weil der Film keine Bilder sucht, sondern Worten vertraut. Und so wird das aufgeführte Stück zur trivialen Daily Soap, eine Mischung aus „GZSZ“ und „Verbotene Liebe“, deren bester Satz lautet: „Und dafür haben wir nun die Indianer ausgerottet!“

Und am Schluss fährt Julia Roberts davon, Richtung Sonnenuntergang. Hätte sie in der Schule aufgepasst, als die Theaterklassiker der Familienhöllen durchgenommen wurden, wüsste sie: Du entkommst deiner Familie nicht! Immerhin hört man jetzt Merle Haggard mit anderen Ohren, wenn er singt: „We don’t smoke marijuana in Muskogee / We don’t take our trips on LSD / We don’t burn our draft cards down on Main Street / We like livin’ right, and bein’ free.“

P.S. Meryl Streep und Julia Roberts wurden übrigens für „Golden Globes“ nominiert in der Kategorie „Best Comedy and Musicals“. Haben die Götter Humor?

Verbotene Filme

(D 2014, Regie: Felix Moeller)

Vorsicht explosiv?
von Ulrich Kriest

Eigentlich ein alter Hut. In Deutschland wurden zwischen 1933 und 1945 – „Überläufer“ nicht mitgezählt – ca. 1200 Filme produziert, vorwiegend, so hört man, Unterhaltungsfilme. Nach 1945 wurden seitens der …

Eigentlich ein alter Hut. In Deutschland wurden zwischen 1933 und 1945 – „Überläufer“ nicht mitgezählt – ca. 1200 Filme produziert, vorwiegend, so hört man, Unterhaltungsfilme. Nach 1945 wurden seitens der Alliierten ca. 300 Filme als „Propaganda“ verboten. Heutzutage gelten noch ca. 40 „Vorbehaltsfilme“, darunter etwa „Jud Süß“, „Kolberg“, „GPU“, „Stukas“, oder „Ich klage an“ als politisch so brisant, dass keine öffentliche Aufführung ohne wissenschaftliche Begleitung und anschließende Diskussion möglich ist. Ist das schlimm? Eine Bevormundung?

Erinnert sich noch jemand an die Aufregung, als „arte“ vor ein paar Jahren an einem Themenabend Veit Harlans „Kolberg“ zeigte. Dass vor Jahren plötzlich Harlans „Opfergang“ zum „Kultfilm“ erklärt wurde? Wie soll man heute, fast 70 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus, mit diesem anrüchigen Teil des nationalen Filmerbes umgehen? Ist der Schoß fruchtbar noch, aus dem das kroch? Oder machen die Verbote das Verbotene gerade erst interessant? Wird man durch das Anschauen von „Jud Süß“ zum Antisemiten, wird man in seinem (bereits vorhandenen) Antisemitismus bestärkt? Versteht ein heutiges Publikum überhaupt noch die subkutanen Botschaften der inkriminierten Filme?

In Felix Moellers Dokumentation diskutieren nicht nur einschlägig bekannte Filmhistoriker und Historiker die Sachlage, sondern es kommt neben Filmemachern wie Magarethe von Trotta und Oskar Roehler auch das Publikum zu Wort, das in eingeführten und von Diskussion flankierten Filmvorführungen gesessen ist. Da ist dann viel Routine im Spiel: routiniert wird abgewehrt und verworfen, routiniert wird auch schon mal provoziert. Oskar Roehler erzählt, dass die Filme mit dem Ruch des Verbotenen und Frivolen immer schon in der Szene kursierten: in den 80er Jahren in Clubs und Off-Kinos, heutzutage im Internet. Aussteiger der rechten Szene berichten, dass Filme von „Der ewige Jude“ gerne mal gezeigt werden, allerdings mitunter aufgrund ihrer Drastik auch Neo-Nazis ein ungläubiges Lächeln ins Gesicht zaubern.

Moeller hat zwischen all die Talking Heads immer wieder Filmausschnitte aus unsichtbaren Filmen wie „Kolberg“, „Jud Süss“, „GPU“ oder „Ohm Krüger“ montiert, die große Lust darauf machen, diese Filme einmal zu sehen. Die Frage bleibt unbeantwortet: kann man Filme entnazifizieren, indem man Hakenkreuze aus dem Film schneidet? Besteht weiterhin Ansteckungsgefahr? Hier sprechen Experten von Filmen, die sie gesehen haben, ohne Schaden zu nehmen, zu einem Publikum, dem der Zugang zu den Bildern und Tönen verwehrt bleiben soll, über die potentielle Wirkung der Töne und Bilder beim Publikum. Eine etwas seltsame Form der Bewahrpädagogik, die die Frage nach der Medienkompetenz des Publikums stellt. Das Manko dieser prinzipiellen Asymmetrie wird besonders deutlich, wenn Moellers Film sich einmal etwas genauer auf einen NS-Film wie Wolfgang Liebeneiners Euthanasie-Melodram „Ich klage an“ (1941) einlässt, den man nur zu gerne in die aktuelle Debatte um Sterbehilfe einspeiste. Denn, wie Silvia Bovenschen in einem Interview ausgeführt hat, die kollektive Erfahrung der Euthanasie spielt in der aktuellen Debatte eh eine Schlüsselrolle.

Bleibt abschließend nur die Frage, was ein gleichzeitig polyphoner und redundanter Film wie „Verbotene Filme“ eigentlich genau bewirken soll oder will. Eine offene Einführung in eine virulente Diskussion bieten? Die völlige Freigabe der „Vorbehaltsfilme“? Vor Ihrer Einspeisung in die üblichen kapitalistischen Verwertungszusammenhänge warnen? Schon heute, so stand irgendwo zu lesen, wird „Jud Süß“ circa 60mal im Jahr gezeigt. Mit Einführung und anschließender Diskussion. Im Rahmen einer solchen Veranstaltung hätte auch der Film von Felix Moeller seinen legitimen Ort.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Die Frau des Polizisten

(D 2013, Regie: Philip Gröning)

Sehen lernen, Erfahrungshunger stillen
von Ulrich Kriest

Soll man einen Film beschreiben, indem man in einen Zusammenhang bringt, was man auf der Leinwand gesehen und gehört hat? Drei Stunden lang. Also: einen Mann, eine Frau, ein Kind, …

Soll man einen Film beschreiben, indem man in einen Zusammenhang bringt, was man auf der Leinwand gesehen und gehört hat? Drei Stunden lang. Also: einen Mann, eine Frau, ein Kind, eine Wohnung, Wald, Tiere, Schläge, Zärtlichkeit, Gesang. Oder soll man vielleicht lieber von der hier entschieden vollzogenen Abweichung gegenüber dem Konventionellen sprechen? Vom Anderen? Ungewöhnlichen? Irritierenden? Dass lange nicht klar wird, was das Thema des Films von Philip Gröning ist? Ob es überhaupt angeht, dass ein Film sein künstlerisches Repertoire dazu nutzt, um ein Thema auf die Agenda zu setzen? Dass auf eine eindeutige Eskalationsdramaturgie verzichtet wird? Dass der Zuschauer nicht zugetextet wird? Dass ein lineares Erzählen obsolet erscheint?

Philip Gröning erzählt von häuslicher Gewalt, einem virulenten Thema, aber anders als üblich. Ein junger Mann, Polizist von Beruf, fängt irgendwann an, seine Frau zu schlagen. Was meint: Polizist von Beruf? Gleichzeitig kümmern sich beide Elternteile, aber insbesondere aber die Frau, rührend um die gemeinsame Tochter, ein wirklich entzückendes Kind. Was meint: Eltern? Gleichzeitig sieht man das Paar bei spielerischen Interaktionen. Gleichzeitig streichelt der Mann die Hämatome, die er der Frau selbst beigebracht hat.

Verwirrend. Mehr Fragen als Antworten. Denn der Film, der in einzelnen Szenen fast schon mit dokumentarischem Gestus auftritt, ist gleichzeitig formal ausgesprochen streng in 59 Kapitel unterteilt, jeweils mit Aufblende und Abblende, was insgesamt wohl an die 17 Minuten dauert. Dabei geht es nicht um brechtianisch-epische Distanz zum Geschehen, sondern eher um ein Atemholen, das einen Sog entfaltet, gerade, weil man nicht weiß, welchen Ton der Film in der folgenden Szene anschlagen wird. So werden vor dem Zuschauer in aller Ruhe Puzzleteile zum Leben einer Kleinfamilie ausgebreitet, aus dem der Zuschauer sich seinen Film, seine Erzählung zusammenbasteln muss, darf, kann.
Diese Freiheit schafft der Film, indem er geduldig, aber unnachgiebig Erzählkonventionen nicht dekonstruiert, aber ziemlich provozierend verweigert. Man ist gefordert. Der Film verweigert sich nicht dem Erzählen, aber er verlangt vom Zuschauer, genau hinzuschauen und sich nicht vorschnell mit dem Üblichen abfüttern zu lassen. Insofern ist der Film vielleicht sogar weniger eine erstaunlich differenzierte Auseinandersetzung mit der Dialektik von Liebe und Gewalt, weniger eine philosophische Intervention, was es bedeutet, Mensch zu sein und als Mensch zu handeln, sondern zuerst einmal ein Versuch, dem Zuschauer die Chance und das Glück zu ermöglichen, im Kino eine Erfahrung zu machen.

Ulrich Kriest hat mit Philip Gröning auch ein Gespräch geführt.

Love Steaks

(D 2013, Regie: Jakob Lass)

„Der Fuchs schläft nicht, er schlummert nur.“
von Ulrich Kriest

Kommt da etwas in Bewegung? Man staunt nicht schlecht, wenn man die deutschen Produktionen der letzten Wochen Revue passieren lässt – jenseits der „Berliner Schule“ und dem notorischen Blockbuster-Zeug von …

Kommt da etwas in Bewegung? Man staunt nicht schlecht, wenn man die deutschen Produktionen der letzten Wochen Revue passieren lässt – jenseits der „Berliner Schule“ und dem notorischen Blockbuster-Zeug von Schweighöfer & Co. Da gibt es die üblichen Themenfilme, mal besser („Westen“), mal schlechter („Zwischen Welten“), da gibt es formal Strenges („Die Frau des Polizisten“, „Kreuzweg“) und das Spiel mit den Genres („Banklady“, „Das finstere Tal“). Dazu kommen noch Filme, die auf erfrischende wie hintergründige Weise mit dem Dokumentarischen im Fiktiven spielen, die Kapital aus der Durchmischung schlagen und damit an Filme von Klaus Lemke, Werner Herzog oder Alexander Kluge anknüpfen. Der aktuelle Klassenprimus ist dabei Jakob Lass‘ „Love Steaks“ – ein Festival-Renner, der sogar Drehbuchpreise abräumt, obwohl er darauf besteht, ohne konventionelles Drehbuch entstanden zu sein. Und ohne Fördergelder! Die wurden schlicht durch Enthusiasmus ersetzt. Dreharbeiten als Klassenfahrt. Der Film erzählt einerseits eine klassische „Boy meets Girl“-Geschichte, nur eben verquer, gegen den Strich, voller Überraschungen und Leerstellen.

Es beginnt mit einer falschen Fährte. In der ersten Einstellung erwacht ein Stein am Ufer des Meeres zum Leben, reckt sich und streckt sich und enthüllt im Zwielicht des anbrechenden Tages, dass er im Besitz von etwas ist, was später im Film, wenn Neugier in Liebe umschlägt, noch zum Gegenstand einiger Diskussionen werden wird. Stichwort: Fleisch oder Blut. Nach diesem archaischen, fast schon mythologischen Auftakt, an den sich der Film erst ganz am Schluss erinnern wird, ändert sich der Tonfall abrupt. Regisseur Lass lässt seine Protagonisten innerhalb eines realen Settings mit engagierten Laiendarstellern improvisierend agieren, was den Film schöne Funken sprühen lässt. Die Dreharbeiten wurden in die Arbeitsabläufe des gewählten Drehorts integriert. Man hört auch, dass die Schauspieler in bestimmten Szenen nicht wussten, ob sie es mit Kollegen oder Laien zu tun bekamen. Man musste also bereit sein, vor laufender Kamera etwas zu riskieren.

Und die Geschichte geht so: Der junge, sanfte und mitunter etwas unbedarft wirkende Physiotherapeut Clemens tritt in einem gehobenen Wellness-Hotel seine erste Stelle an. Clemens muss sich in der neuen Umgebung erst noch orientieren, kommt offenbar direkt aus der Ausbildung, muss auf die herrschenden Usancen »eingestellt« werden und bekommt als Schlafplatz einen öffentlichen Abstellraum mit, immerhin, Meerblick zugewiesen. Es passt zu Clemens, dass er beim Feudeln des Spa-Bereichs wiederholt lang hinschlägt oder dass er nicht so recht weiß, wie er auf die plumpen Verführungsversuche einer älteren Kundin angemessen reagieren soll. Kurzum: man schaut Clemens gerne dabei zu, wie er mühsam versucht, seinen Alltag geregelt zu bekommen. Gleiches gilt für die junge Lara, die in der Küche des Hotelkomplexes arbeitet. Sie gibt sich taff und burschikos, um den rauen Umgangsformen ihrer männlichen Kollegen in der Küche gewachsen zu sein. Sie trägt gerne mal eine Maske. Lara scheint dauernd unter Strom zu stehen und was zu Beginn sehr keck erscheint, erweist sich im Verlauf des Films als drogeninduziert. Der stille, unauffällige Clemens, der nicht nur aufgrund seiner Hasenscharte kein Sprücheklopfer ist, fällt Lara schnell auf. Sie beginnt mit Clemens auf kindlich regressive Weise zu spielen, unterschätzt dabei aber dessen naive Ernsthaftigkeit, die Pädagogik hinter der Weichheit.

Das Spiel verliert seine Unschuld, als die Machtverhältnisse innerhalb der Beziehung zu bröckeln beginnen. Clemens übernimmt die Initiative und macht sich daran, Lara zu retten. Was zunächst noch eine Wette ist, die Lara glaubt, souverän manipulieren zu können, wird spätestens dann ernst, als Clemens beginnt, die Kollegen in die Pflicht zu nehmen und entschieden eine störende Öffentlichkeit herzustellen. Vor dem Hintergrund der pointiert herausgestellten Reglementierungen und Rituale der gewünschten Dienstleistungen, die in einer »sprechenden« Parallelmontage von Massage- und Küchenbereich gipfeln, wirken die regressiven Spielchen wie ein übermütiger Protest. Was der Film durch seine genüssliche Ausstellung improvisierender Interaktion mit dem leitenden Personal noch unterstreicht, die abweichendes Verhalten gerne mal sehr selbstgefällig abstraft: „Der Fuchs schläft nicht, er schlummert nur. Egal, in welches Loch ihr euch verkriecht, ich finde euch.“

So lädt der Film den Zuschauer zuvorkommend ein, sich zum Kumpel der rebellischen Kinder zu machen. Vergnügt schaut man den doppelbödigen Kinderspielen zu, die dann allmählich in einen sexualisierten Machtkampf übergehen, für den der Film dann nur noch eine rein filmische Lösung anbietet, deren stilisierte Drastik so recht gar nicht zum Ton des Films zu passen scheint, andererseits aber auf den Anfang des Films verweist. So erzählt „Love Steaks“ ausgesprochen originell und sogar mit komödiantischem Impetus, der auch Momente des Slapsticks umfasst, vom Aufstand gegen Klassen- und Gender-Verhältnisse, die die Menschen auch im Wellness-Hotel krank machen. Doch dieser Aufstand findet im Kinderzimmer statt und hat letztlich wenig mehr anzubieten, als dem Zuschauer das gute Gefühl zu geben, für die geringen Unkosten einer Kinokarte Zeuge zu sein, wie ein Schamane eine Punkerin heilt, indem man am menschenleeren Strand mal so richtig die Sau rauslässt. In modischer Splatter-Zeitlupe.

Das Interessanteste an „Love Steaks“, neben dem grandiosen Spiel der beiden Hauptdarsteller Lana Cooper und Franz Rogowski, ist die Tatsache, dass der Film fast schon als Befreiungsschlag abgefeiert wird. Was etwas verwundert bei einem Film, der damit hausieren geht, dass er improvisierend und ohne Drehbuch entstanden sei, während man beim Sehen statt der sogenannten Wirklichkeit eher das Rascheln der Stereotypen hört. Was sich auch nicht überhören lässt, wenn man sieht, dass jemand keck damit zu spielen beginnt. „Fogma“ hin oder her, aber Aufbruch sieht hoffentlich etwas anders aus. Trotzdem ein guter Film, nur sollte man den Ball flach halten.

Deutschboden

(D 2013, Regie: André Schäfer)

We don‘t need no education!“ (Techno-Proleten-Version)
von Ulrich Kriest

Als neulich „Fack Ju Göthe“ locker die Vier-Millionen-an-der-Kasse-Mauer rockte, zogen eine Handvoll Filmkritiker noch einmal los, um zu gucken, warum „die Leute“ so ticken wie sie ticken. Für „Die Zeit“ …

Als neulich „Fack Ju Göthe“ locker die Vier-Millionen-an-der-Kasse-Mauer rockte, zogen eine Handvoll Filmkritiker noch einmal los, um zu gucken, warum „die Leute“ so ticken wie sie ticken. Für „Die Zeit“ übernahm Special Agent Moritz von Uslar, der goldene Reiter der 99 Fragen, diesen Job. Er ging ins Kino, hörte, was zu hören war – und schrieb anschließend eine Eloge auf die Benutzung der deutschen Sprache in diesem Film, eine Sprachkritik, die mit einem Kniefall vor „Herr Müller, sind Sie geborderlinert, oder was? Müller, ey, Sie Geisterkranker!“ endete. Fazit: „Es sind, natürlich, die Wucht, die Härte, der Bums, die absolute Zeitgemäßheit und Gegenwärtigkeit der Sprache“, die, so Uslar, dem Film seine Kraft verleihen. Da war der richtige Mann am richtigen Ort, denn auch Moritz von Uslar hat ihn voll drauf, den Bums. Beweis gefällig? Dann bitte „Deutschboden“ lesen oder gucken!

Ein Experimentalfilm über mitmachendes Am-Thesen-daneben-Stehen, Sie Geisterkranker. Ey! Wie konnte es dazu nur kommen? Die Antwort kann man in der Kommentarleiste bei amazon.de lesen: „Der rheinische Adelsspross Hans Moritz Walther Freiherr von Uslar-Gleichen, dessen zerebrale Formung wohl im Nobel-Internat Birklehof in Hinterzarten (Schulgeld 2.400 Euro pro Monat) stattfand, hat pünktlich zum Beitrittsjubiläum bewiesen, dass der schreibselnden Kaffeehaus-Elite die ungeliebten Schmuddelkinder immerhin eine mitfühlende Beobachtung wert sind – wenn sie denn bezahlt wird. Das Resultat daraus erinnert allerdings an ein schlecht redigiertes Tagebuch aus dem Indianer-Reservat.“

Kann man so sehen, muss man aber nicht. Vielleicht lieber so: Im Frühsommer 2009 fasste der Star-Autor Moritz von Uslar („Die Zeit“) einen so irrwitzigen wie kühnen Plan. Aus dem sicheren Terrain von Berlin-Mitte wolle er als Ein-Mann-Expedition dorthin aufbrechen, „wo kaum ein Mensch je vor uns war“: nach Hardrockhausen ins Brandenburgische, wo sich Hartzer, Nazi-Skins und sonnenbankgebräunte Bräute „Gute Nacht“ sagen, wo Discounter „Mäc Geiz“ heißen und „Leute in strahlend weißen Trainingsanzügen an Tankstellen rumstehen und ab und an einen Spuckefaden zu Boden fallen lassen.“ Hier soll „des Prolls reine Seele“ gefunden werden. Große Sache. Mutig! Kurzum: im Frühsommer 2009 wollte von Uslar sich in der DDR unters Volk mischen und eine teilnehmende Beobachtung wagen.

Zunächst einmal galt es, eine entsprechend heruntergerockte Kleinstadt zu finden. „Sumpfow“, „Stopfow“, „Trostlosow“ und „Zappendüsterow“ schieden wohl aus; es dauerte eine Weile, bis der Reporter seine Stadt gefunden hatte: „Oberhavel“, besser zu finden unter dem Namen Zehdenick. Es mag bezeichnend sein, dass man ein Vierteljahrhundert nach dem Anschluss der DDR den stillen Schrecken vor dieser Expedition in den Wilden Osten nur etwas übertrieben findet und deshalb als filmreifes rhetorisches Mittel liest. Die so entstandene Großreportage „Deutschboden“ erzählte vom Leben in der ostdeutschen Provinz, alle Vorurteile gleichermaßen bestätigend wie negierend.

Der Horror war da, aber es gab dort Skins, die sich durch ihr ereignisarmes Leben lebten, ganz unspektakulär, obwohl sie, klar, mal Nazi-Skins gewesen waren. In den Neunzigern. Am Ende stand die erstaunliche Einsicht: „Deutschland ist ein feiner Kerl!“ – und diese Einsicht zeugte vom Respekt, den Uslar den Eingeborenen von Ostzonien jetzt entgegenbrachte. Die Angst war umgeschlagen in emphatische Affirmation. Ein Gleichklang der Seelen? Eher eine Ethnografie des Inlands.

„Deutschboden“, sprachlich mit dicker Hose und coolem Sound verfasst, wurde ein großer Erfolg bei Publikum wie Kritik und mit dem Fontane-Preis für Literatur der Stadt Neuruppin ausgezeichnet. Wenn Moritz von Uslar jetzt in der Verfilmung von „Deutschboden“ als »der Reporter« in Oberhavel aufschlägt, dann erinnert sein federnder Habitus etwas an Eddie Murphy in „Nur 48 Stunden“: „Sagt den Leuten, es ist ein neuer Sheriff in der Stadt!“ Der Reporter stellt sich als teilnehmender Beobachter der Kleinstadt zur Verfügung: Beobachten, zuhören, nicht bewerten.

Dem Filmemacher André Schäfer hat „Deutschboden“ jedenfalls so gut gefallen, dass er nach Oberhavel, besser: Zehdenick aufgebrochen ist, um die Reportage zu »verfilmen«. Soweit möglich mit den realen Figuren, die in der anonymisierten Reportage vorkommen, wie zum Beispiel die Jungs von der Punkband „5 Teeth Less“ – und eben mit Uslar als Uslar, der mit markanter Stimme seine Original-Texte auf dem Off zum Besten und vor laufender Kamera den cooler Poser gibt. Aber selbstredend ist dies eine »unreine« Literaturverfilmung geworden, konzentrierter auf nur ein paar Figuren der Reportage, die eben zwei, drei Jahre älter geworden sind. Viel verändert hat sich zwar offenbar nicht, aber dennoch entsteht eine deutliche Spannung zwischen den beiden medial so unterschiedlichen »teilnehmenden Beobachtungen«, weil es fad gewesen wäre, bestimmte besonders gelungene Szenen einfach zu re-enacten.

Dafür wird der Film mit neuen Pointen belohnt, die dann doch – wie die Reportage – sehr gelassen von einer unerhörten Liebeserklärung an die Provinz, eine nur scheinbar fremde Welt künden. Dazu braucht es allerdings nicht unbedingt die artifizielle Fallhöhe aus Berlin-Mitte, die uns fragt: „War das hier noch Deutschland oder schon der Kosovo?“ Folgt man Moritz von Uslar, dann bietet das Projekt „Deutschboden“ etwas Ähnliches an wie „Fack Ju Göthe“: „Der Zuschauer erhält eine sagenhaft hochprozentige Injektion deutscher Poesie, deutschen Alltags, deutscher Wirklichkeit. Wir alle sollten noch oft über diesen Film sprechen.“ (MvU)

Museum Hours

(USA / AT 2012, Regie: Jem Cohen)

Sieh deinen eigenen Film!
von Ilija Matusko

Johann ist Aufseher im Kunsthistorischen Museum in Wien. Neben seiner Vorliebe für Kunst kann er dabei einer weiteren Neigung nachgehen – dem Beobachten von Menschen. Beim stundenlangen Anblick der Besucher …

Johann ist Aufseher im Kunsthistorischen Museum in Wien. Neben seiner Vorliebe für Kunst kann er dabei einer weiteren Neigung nachgehen – dem Beobachten von Menschen. Beim stundenlangen Anblick der Besucher stellt er sich deren Leben vor, imaginiert ihre Ängste und Wünsche und verliert sich in Details der Gemälde. Der Film „Museum Hours“ von Jem Cohen entwickelt sich zu einer Sinnsuche nach den Grundbedingungen unserer Wahrnehmung – sei es von Bildern, sei es vom eigenen Leben.

Anne – gespielt von der Singer/Songwriterin Mary Margaret O’Hara – will in Wien ihre im Koma liegende Cousine besuchen und lernt dort Johann (Bobby Sommer) kennen. In seiner nonchalanten Art, Anekdoten über sich, das Museum und die Stadt zu erzählen, findet die Frau aus Übersee die Wärme und Herzlichkeit, die ihr ein wenig Ablenkung von ihrem eigentlichen Aufenthaltsgrund verschafft. Die beiden freunden sich an, trotz aller Unterschiede, und verbringen auch außerhalb des Museums Zeit miteinander. Wobei Johanns Erzählung einer verflossenen Liebe zu einem Mann schnell mit der Erwartung einer erotischen Beziehung aufräumt. Immer tiefer gehen die Gespräche, zusammen reflektieren Johann und Anne über das Leben, die Kunst und die eigene Vergangenheit.

Der amerikanische Regisseur Jem Cohen lässt sich bei seiner Regiearbeit augenscheinlich von der Wirkung eines Museumsbesuchs beeinflussen: Ohne Eile schwebt er von Raum zu Raum, stolpert von Szene zu Szene, bleibt lange bei den Objekten seiner Betrachtung und findet im Detail viele Gründe, ins Grübeln zu geraten. Die Stille im Museum umgibt Johann wie das Innere einer verlassenen Kirche, die gemächlichen Schritte der Besucher hallen wie Sekundenzeiger durch den Raum. Nur wenig erinnert daran, dass sich die Welt außerhalb der Museumsräume weiterbewegt. So auf sich selbst zurückgeworfen, muss man zwangsläufig seine Zeit mit Nachdenken über sich und die Welt verbringen. Oder man versucht, Geheimnisse der Kunstbetrachtung zu lüften: Wie entscheidet der Beobachter, welches Bild er gerade sieht und worum es geht? Die Betrachtung der komplexen, figurenreichen Gemälde von Brueghel, die bei jedem Sehen etwas Neues entdecken lassen, lässt die Schlussfolgerung aufkommen, auf die es Jem Cohen abgesehen hat: Das Kunstwerk – und eigentlich jede Form von bildlicher Repräsentation – wird vom Thron objektiv messbarer Schönheit gestoßen. Je nach sozialer, historischer und biographischer Prägung unterliegt die Messung immer anderen Gesichtspunkten.
Jem Cohen nutzt halbdokumentarische wie fiktiv-dramaturgische Elemente des Erzählens.

Manchmal bleibt dabei die Handlung hinter dem Willen zur bedeutungsvollen Geschichte zurück. Der Regisseur nutzt jede Möglichkeit, um Reflexionen über Kunst, Malerei und das Leben in seine Erzählung einfließen zu lassen – allerdings nie auf eine prätentiöse oder lehrmeisterhafte Weise. Der Film lässt sowohl den Figuren als auch dem Zuschauer Raum für Assoziationen und eigene Gedanken. Ganz nebenbei eröffnet sich durch den eingenommen Blick des Regisseurs, der sich ebenfalls der eigenen Sehbedingungen bewusst ist, eine poetische Sicht auf den Akt des Beobachtens an sich. Die Stadt Wien, berühmte Bilder oder Gerümpel auf dem Flohmarkt – nicht im Beobachteten, sondern allein in der Beobachtung liegt die schöpferische Kraft, Sinn gelten zu lassen.

Dass der Film dabei viele Fragen aufwirft – was ist ein Kunstwerk? Wann wird etwas als Schönheit wahrgenommen? Welche Rolle spielen wir in unserem eigenen Leben? – statt sie zu beantworten, ist dabei sowohl das Resultat eines suchenden Filmemachers als auch die Eröffnung eines Angebots an jeden Zuschauer: Beantworte die Fragen selbst und sieh deinen eigenen Film.

Yves Saint Laurent

(F 2014, Regie: Jalil Lespert)

Wer nichts wagt, der nichts gewinnt
von Ilija Matusko

Der Regisseur Jalil Jespert hat das Leben der Modeikone Yves Saint Laurent verfilmt. Für seine Schnitte und Kreationen wird Yves Saint Laurent in der Modewelt als Genie und als Inbegriff …

Der Regisseur Jalil Jespert hat das Leben der Modeikone Yves Saint Laurent verfilmt. Für seine Schnitte und Kreationen wird Yves Saint Laurent in der Modewelt als Genie und als Inbegriff und Verkörperung von Stil verehrt. Der gleichnamige Film glänzt mit Hochglanzoberflächen, Originalkostümen und Einblicken in die Welt hinter dem Laufsteg. Einen bleibenden Eindruck wird er trotzdem nicht hinterlassen.

Mit nur 21 Jahren ist Yves Saint Laurent Assistent des Modezaren Christian Dior. Nach dessen plötzlichem Tod übernimmt der junge, in Algerien aufgewachsene Franzose die künstlerische Leitung des renommierten Modehauses. Seine erste Kollektion, von der Modewelt mit Skepsis überschüttet, entpuppt sich als voller Erfolg und macht Yves sofort zum Star. Mit der Hilfe des Unternehmers Pierre Bergé und dank seines Vertrauens auf die eigene Kreativität schafft Yves es, sein eigenes Label zu gründen. Wir erleben das Erwachen des legendären Modeimperiums YSL und sehen manche der unverwechselbaren Kostüme über den Laufsteg gleiten, der Erfolg überschattet erste Zweifel des Modemachers. Der Film erzählt dann die Liebesbeziehung zwischen Yves und seinem Geschäftspartner. Mit dem Ruhm wächst aber auch der Druck, die Zweifel weiten sich zur Schaffenskrise aus. Es folgen Drogenabstürze, Sinnkrise und Beziehungsabgründe.

Der Schauspieler, Regisseur und Autor Jalil Jespert hat wie alle Macher eines Biopics mit der Schwierigkeit zu kämpfen, die Unebenheiten, Zufälle und Ungeraden eines Lebens in eine dramaturgische Form zu gießen. Als habe der Filmemacher diese Unmöglichkeit erkannt, versucht er erst gar nicht, sich daran abzuarbeiten. Nach den ersten vier Szenen hat Yves‘ Charakter alle Seiten offenbart, die im weiteren Verlauf des Films eine Rolle spielen werden: Talent, Scheu, Homosexualität, Humor, Professionalität. Und wie durch die inneren Zustände streift der Film danach auch durch alle restlichen Felder seines Lebens: Herkunft, Künstlerdasein, Familie, Modebetrieb, Traditionshäuser, Liebesbeziehung, Freundschaften, Geschäftswelt, Algerienkrieg, Drogen, Unruhen in Paris – selbst gesellschaftliche Aspekte werden gestreift, bleiben aber im Grunde Teil der Kulisse. So wie in diesem Text werden die Stationen auch im Film aneinandergereiht, ohne je eine eigene Fragestellung, Thematik oder Perspektive auf das Leben des Modemachers zu entwickeln.

Am ehesten dreht sich der Film noch um die Frage, welche inneren Konflikte den Modemacher bis an die Spitze der Modewelt begleiten und wie er diese hinter Blitzlichtgewittern und Publikumsapplaus zu verstecken sucht. Doch auserzählt wird hier leider nichts. Am Ende steht immer noch die Frage im Raum: Woran leidet dieser Mann eigentlich? Spannend erscheint zudem der Konflikt von Pierre Bergé, sich bedingungslos und fürsorglich für Yves einsetzen zu wollen und gleichzeitig hilflos vor seinen Dämonen zurückzuschrecken – aber auch hier wird lediglich nur angerissen. Im Falle YSL lässt der Regisseur jede Möglichkeit auf eine spannende Geschichte am Wegrand liegen, weil er sich nicht den Vorwurf einhandeln will, etwas auszulassen oder falsche Antworten zu liefern – dann lieber keine Antworten. All das ist schade, und wenn der Film dann noch nicht einmal erzählt, was YSL in der Mode eigentlich revolutioniert hat, dann ist das ärgerlich.

Filmisch gibt es nicht viel hervorzuheben, die Produktion folgt den üblichen Konventionen: Solide Kamera- und Regieleistung, aufwändige Kulissen, detailreiche Ausstattung, gute Schauspieler, viel Musikkleister. Der Film leidet dabei nicht nur an seiner Angst vor dem Risiko, sondern auch am Grundwiderspruch eines jeden Biopics: Wenn die Geschichte einer bedeutenden Persönlichkeit historisch wahrheitsgetreu nacherzählt wird, erscheint der Film entweder vorhersehbar und überflüssig – oder selektiv, wenn wichtige Etappen und Facetten der Person fehlen. Dichtet er eigene Zusammenhänge oder Verdichtungen hinzu, handelt er sich den Vorwurf der Verfälschung ein. Raum für stilistische oder kreative Eigenwilligkeiten lässt diese Art von Filmerzählung ohnehin nicht, da sie sich immer dem nüchternen Gestus einer biografischen Perspektive verschrieben hat. Die Modeikone YSL hat den Ruf, ein manisch-kreatives Genie gewesen zu sein, das viel in seinem Leben gewagt hat und dadurch den Zeitgeist umgekrempelt hat. Ein ganz kleines bisschen wenigstens hätte sich der Regisseur davon eine Scheibe abschneiden können.

Hemel

(NL 2012, Regie: Sacha Polak)

Vermiedene Nachspiele
von Wolfgang Nierlin

'Hemel' heißt auf Niederländisch 'Himmel'. In Sacha Polaks gleichnamigem Debütfilm gehört der Name einer provozierenden jungen Frau, die mit Lust, Spott und Ironie ihren sexuellen Hunger stillt. Sie wechselt die …

'Hemel' heißt auf Niederländisch 'Himmel'. In Sacha Polaks gleichnamigem Debütfilm gehört der Name einer provozierenden jungen Frau, die mit Lust, Spott und Ironie ihren sexuellen Hunger stillt. Sie wechselt die Männer in einem fort, benutzt sie freizügig und ohne Hemmungen, lässt sie zurück oder schmeißt sie aus Bett und Wohnung. „Ich mag kein Nachspiel“, sagt sie etwa zu dem Algerier, den sie zuvor in einer Disco offensiv angemacht und abgeschleppt hat und der ihr romantische Komplimente macht: „Deine Augen sind wie ein Engel im Himmel.“ Doch Hemel (Hannah Hoekstra) geriert sich als „geiles Mädchen“, das im Stehen pinkelt, Konventionen ignoriert und aus purer Provokationslust widerspricht. Ziellos und ohne Halt driftet sie durch ein Leben, das nur durch wenige Streiflichter erhellt wird. „Ich ähnele niemand“, sagt Hemel, die sich selbst kaum kennt und die mit ihrem nüchternen Selbstzerstörungstrieb einen Mangel oder eine Leere zu kompensieren scheint.

Tatsächlich ist Hemel ohne Mutter aufgewachsen. Mit ihrem ebenso attraktiven wie libertären Vater Gijs (Hans Dagelet), einem Kurator moderner Kunst, pflegt sie einen freundschaftlich ungezwungenen, unterschwellig inzestuösen Umgang. „Du machst mich zum Menschen“, lautet das Liebesbekenntnis, das der Frauenheld jenem Ring hat eingravieren lassen, den er seiner neuen, um einige Jahre jüngeren Freundin Sophie (Rifka Lodeizen) schenkt, und zwar just an Hemels Geburtstag, an dem diese wiederum zynisch ihre Eifersucht verbalisiert. Wie ein negatives Spiegelbild dazu erscheint Hemels Konzertbesuch mit einem älteren Mann, der ihr Vater sein könnte und der sie offensichtlich verlässt. Während Henri Duparcs „Chanson Triste“ erklingt, verlieren sich Zeit und Raum in Gesten und Blicken des Abschieds.

Sacha Polaks „Hemel“ ist ein Film in Fragmenten, die als klar voneinander abgesetzte Kapitel schöne, poetische Überschriften tragen. Diese lauten. „Genitale Phase“, „Mohammed“, „Vater und Tochter“, „Wo Gott wohnt“, „Du machst mich zum Menschen“, „Verliebt“, „Sevilliana“ und „Normaler Tee“. In diesen assoziationsreichen Titeln liegt das Versprechen einer Geschichte, die in den statischen Ausschnitten mitschwingt, ohne erzählt zu werden. Das Ganze ist gewissermaßen als Vermutung und Phantasie in den Teilen verborgen. In ihnen evoziert Sacha Polak einen Diskurs über die Facetten von Liebe und Sexualität, der, konfrontiert mit den Wunden der Protagonistin, zu einem konzentrierten Stationen-Drama über die Frage nach den Möglichkeiten weiblicher Selbstfindung wird. Das Dramatische ist hier allerdings keine Konsequenz der Handlung oder Form des Agierens; vielmehr steckt es in Stimmungen von Räumen, atmosphärischen Arrangements und melancholischen Klängen. Ich will in dir wohnen“, sagt Hemel, ausnahmsweise glücklich, einmal zu einem Geliebten. Am Schluss fällt Regen, Hemel weint, ihre Nase blutet und mütterliche Arme umschließen ihren schlanken, zerbrechlichen Körper.

Das finstere Tal

(D / AT 2014, Regie: Andreas Prochaska)

Eine Geschichte von Gewalt
von Lukas Schmutzer

„Das ist kein Ort für dich“, sagt man da dem Fremden, der sich durch die kalten Alpenpfade den Weg ins abgelegene Dorf des finsteren Tals gebahnt hat. Sein Anliegen: Hier, …

„Das ist kein Ort für dich“, sagt man da dem Fremden, der sich durch die kalten Alpenpfade den Weg ins abgelegene Dorf des finsteren Tals gebahnt hat. Sein Anliegen: Hier, im rauen Land, zu überwintern. Weshalb? Um die Berggegend und deren Bewohner mit seinem „Spiegel mit Gedächtnis“, wie die Erzählerin den Apparat nennt, abzulichten. Ein großes Schweigen breitet sich über die Bewohner jenes Dorfes, über dem ein Holzkreuz drohend thront, während es die kleineren Worte und Gesten sind, in denen sich die Hierarchien jener Gemeinschaft zu entfalten beginnen. Als brächten Bilder zur Sprache, was die Lippen verschweigen, geht der Fremde seiner archivarischen Arbeit nach und hält seine Motive gegen das Drängen der Zeit fest; dass es mehr ist, was dieser Herr hier will, als das bloße Schießen von Fotos, legen schon die Konventionen des Genres nahe: Der Fotoapparat ist dann nur eines von zwei mitgebrachten Werkzeugen, die jeweils einer Filmhälfte zur Form verhelfen.

War Amerika in Ruzowitzkys „Die Siebtelbauern“ in die Zukunft projiziertes Phantasma einer nie erreichten Freiheit, erreicht diese in „Das finstere Tal“ den europäischen Kontinent, getrieben von der Vergangenheit; einer Vergangenheit, die bald zu blenden beginnt, wer sich blind für diese stellt. Hier vagabundiert kein Ronin und kein Namenloser von der einen Grausamkeit zur nächsten doch so ähnlichen, und auch kein stummer Vergelter sieht in der verschneiten Landschaft die Ungerechtigkeiten seiner Kindheit wiederholt – hier ist jemand auf der Suche. Die ganz und gar nicht unbewusste Konsequenz, mit der er sich dabei vergangener Taten annimmt, bereitet Unbehagen. Behutsam und langsam macht Regisseur Andreas Prochaska die Spuren dieser Vergangenheit für den Zuschauer lesbar, welcher sich bald als einziger nicht eingeweiht fühlt in die Codes des Patriarchats, denen die Symbole, Rituale und ja, auch Bibelexegesen des Dorfes gehorchen. Die Kulisse dieses alpinen Konflikts mag an Corbuccis weißen Western „Leichen pflastern seinen Weg“ erinnern, das Handlungsgerüst orientiert sich jedoch mehr an Sergio Leones „Für eine Handvoll Dollar“. Von dort kommt vieles bekannt vor: Ein von der Obrigkeit bedrohtes Eheglück, oder der Unterschlupf, in den sich ein Gesuchter flüchtet. Nichts von alledem wird jedoch einfach kopiert, ohne dabei neu kombiniert und neu ausgerichtet zu werden: So wird etwa das Motiv der überlegenen Technologie, das Kurosawa in „Yojimbo' (auch) aufgreift und von Leone verschoben wird, in Prochaskas Film unkonventionell gewendet (vielleicht nur mit dem Wenden von Djangos Sargdeckel verwandt).

Der Spannungsbogen dieser grandiosen Verfilmung lässt nicht nur an keiner Stelle nach, sondern spannt sich mit Fortschreiten der Handlung immer mehr. Im Wechsel von den Totalen, die die unpassierbaren Berglandschaften zeigen, zu den Nahaufnahmen und Details des Dorfes, die mitten in die Gewalt führen, vermittelt die Kameraarbeit ein Gefühl des Ausweglosen und Unvermeidbaren. Der Rhythmus und der Bass des Scores unterstreichen dies, nur die Songs, mit denen das Geschehen an manchen Stellen unterlegt wird, mögen Geschmackssache sein. Sam Riley glänzt, wenn man das angesichts seiner undurchsichtig ausgelegten Figur so sagen kann, in der Hauptrolle. Mit ihm und seinem Akzent rechtfertigt sich die Einsilbigkeit des Westernhelden erstmals durch eine Sprachbarriere, die ganz im Gegensatz zu Christoph Waltz’ wortgewandter Darbietung in „Django Unchained“ steht (wo ein deutscher Zahnarzt genau in entgegengesetzter Reiserichtung den Streit sucht). Neben Tobias Moretti, der als Bauernsohn einen rauen Ton angibt, brillieren vor allem der aus Karl Markovics’ „Atmen“ bekannte Thomas Schubert in der Rolle eines Bräutigams mit gefährlichen Sehnsüchten (deren Verbot, wie so vieles andere, erst zuletzt seine volle Bedeutung erlangt) und Paula Beer, die mit oft vereistem Gesicht alle Nuancen patriarchaler Unterdrückung zum Ausdruck bringt.

Fazit: Mit der Verfilmung von Thomas Willmanns Roman ist ein großer Wurf gelungen, der mit Nachdruck ans Herz gelegt sei – nicht nur den Liebhabern des Heimatfilms.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Die Moskauer Prozesse

(D 2013, Regie: Milo Rau)

Was getan werden muss
von Dietrich Kuhlbrodt

2013 stellte Milo Rauch in seiner 'Kritik der postmodernen Vernunft' Lenins hundert Jahre alte Frage aufs Neue: Was tun? (Kein & Aber). Im selben Jahr tat er etwas, was noch …

2013 stellte Milo Rauch in seiner 'Kritik der postmodernen Vernunft' Lenins hundert Jahre alte Frage aufs Neue: Was tun? (Kein & Aber). Im selben Jahr tat er etwas, was noch keiner tat, jedenfalls in Russland nicht. Er versammelte in einer Moskauer Galerie (Sacharow-Zentrum) sehr reale Protagonisten von sehr realen Schauprozessen der letzten Jahre – gegen Pussy Riot, gegen die Kuratoren von „Vorsicht! Religion“ und „Verbotene Kunst“, holte Statements von Experten ein und ließ sie reden, unkommentiert. In dieser politischen Installation waren keine Schauspieler dabei. Zum ersten Mal können wir mitdenken und selbst denken, wenn wir die Argumente der Prozessparteien hören. Patriarch und Staat auf der einen Seite, Kunst und Künstler auf der anderen. Beide in einem Dialog, wie er in Russland unbekannt ist. Das Ergebnis, das heißt, die Entscheidung der Geschworenen in dieser politischen Installation, ist offen.

Der Prozess wird unterbrochen. Die Einwanderungsbehörde greift ein: Ihren Pass, Herr Rau! Was machen Sie hier eigentlich? – Ja, wir sind wirklich nicht im Theater. Ich sehe eine Dokumentation. – Nach Stunden geht es weiter. Allerdings kommen jetzt Kosaken in Uniform und wollen was wissen. Attacke eines Ausländers gegen den russischen Staat? Auch das wird dokumentiert. Was geschieht jetzt? Jetzt entschließen sich russische Fernsehsender und Zeitungen doch über ein Event zu berichten, das der russischen Öffentlichkeit zuvor vorenthalten war.

Wir erfahren Näheres von der „orthodoxen Kampfsport-Vereinigung“, die aus der faschistischen „Volkszorn“-Bewegung hervorgegangen ist („Alle Juden gehören an den Galgen!“). Von der traditionellen Einheit von Kirche und Staat, wie uns ein Sachverständiger erklärt. Von der bösen Macht des Liberalismus, „der uns zerstören will“ (Kirchen-Vertreter).
Die ungestellte, durchaus heftige und extreme Rede und Gegenrede in Raus Installation könnte, positiv gewendet, als Start eines Dialogs zwischen Künstlern und Kirchenleuten funktionieren, jedenfalls in einer Installation wie dieser. Bloß er selbst wird in Moskau nicht mehr tätig werden können. Ihm ist die Einreise verboten worden.

Zu lesen sind die Protokolle des Films in Raus Buch Die Zürcher Prozesse/Die Moskauer Prozesse', das am 31. März im Verbrecher Verlag erscheint.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: KONKRET 3/2014

Die schönen Tage

(F 2013, Regie: Marion Vernoux)

Draußen vor dem Fenster
von Wolfgang Nierlin

Sie ist sechzig Jahre alt, er knapp vierzig; sie ist eine frühpensionierte Zahnärztin, er arbeitet als EDV-Coach. Also hat sie Probleme mit ihrem Rechner, während er unter Zahnschmerzen leidet. Ziemlich …

Sie ist sechzig Jahre alt, er knapp vierzig; sie ist eine frühpensionierte Zahnärztin, er arbeitet als EDV-Coach. Also hat sie Probleme mit ihrem Rechner, während er unter Zahnschmerzen leidet. Ziemlich trivial und vorhersehbar entwickelt sich in Marion Vernoux‘ Film „Die schönen Tage“ die Liebesgeschichte zwischen Caroline (Fanny Ardant) und Julien (Laurent Lafitte), die vielleicht nur eine Sexgeschichte ist. Die beiden lernen sich kennen im titelgebenden Seniorenclub „Les beaux jours“, wo Caroline eher widerwillig das Schnupper-Abo einlöst, das ihr die beiden Töchter geschenkt haben; und wo der Single Julien einen Computerkurs leitet. Man kann dort aber auch Töpfern, Gymnastik machen oder Theater spielen. Bald funkt es zwischen dem charmanten Frauenheld, der sich einmal als „sympathischer Taugenichts“ bezeichnet, und der attraktiven, mehr zurückhaltenden Seniorin, die etwas farblos und ungreifbar bleibt.

Wenn sich die beiden nach einem mit ironisch-witzigen Flirt-Gesprächen angefüllten Restaurantbesuch zum ersten Mal küssen, geschieht dies überraschend und spontan vor der Kulisse des Meeres, das von Anfang an Projektionsfläche für die Wünsche und Sehnsüchte der Protagonistin, aber auch Spiegelbild ihrer Stimmungen ist. Sogleich kommt der Regen zu Hilfe und die beiden Entflammten flüchten fürs gemeinsame Liebesspiel, das unerwartete Empfindungen und Leidenschaften freisetzt, ins Auto. Zwar inszeniert Marion Vernoux mit Blick auf körperliche Details den irritierenden Schauer ungewohnter Berührung, doch die Kamera bleibt draußen vor dem Fenster und bildet so einen distanzierten Gegenpol zur unverhofften Nähe.

Relativ unbekümmert gegenüber ihrem Mann Philippe (Patrick Chesnais) und der restlichen Umgebung des kleinen nordfranzösischen Küstenorts genießt Caroline in vollen Zügen ihre neue Freiheit und entwickelt unter den Blicken Juliens ein neues Selbstbewusstsein: „Er schaut mich an.“ Doch ihre weiteren intimen Treffen werden durch die Montage gerafft und also weder intensiviert noch problematisiert. Stattdessen setzt der jeweilige Gegenschnitt einzelne Streiflichter auf die mal ernsten, dann wieder humorvollen „Seniorengespräche“. Aber hier wie dort fehlt es an Motivation und einer Vertiefung der Themen. Die Beziehungsgeschichte mit ihren kleinen Fluchten und Ausbrüchen tritt leider etwas unentschlossen auf der Stelle. Man ahnt ihre Grenzen und spürt (nicht zuletzt) im verhaltenen Agieren der illusionslosen Heldin recht bald, dass deren später Leidenschaft weder eine Perspektive noch eine Dauer beschieden sein wird.

Monuments Men – Ungewöhnliche Helden

(USA 2014, Regie: George Clooney)

Abschied vom Trauma: Raubkunstklamauk, Good Germans und Männer, die auf Bilder starren
von Drehli Robnik

Bei Filmen, die im Zweiten Weltkrieg oder in der Nazizeit spielen, ist es aufschlussreich, sich zu fragen, welcher Wert jeweils als zentrale Antithese zum Vernichtungsimperativ im Nazi-Weltbild beschworen wird: In …

Bei Filmen, die im Zweiten Weltkrieg oder in der Nazizeit spielen, ist es aufschlussreich, sich zu fragen, welcher Wert jeweils als zentrale Antithese zum Vernichtungsimperativ im Nazi-Weltbild beschworen wird: In österreichischen Filmen gelten oft austropatriotischer Chauvinismus und Urigkeit als ultimatives Gegenmittel zu Hitler, in deutschen ist es häufig Sportlichkeit oder Sinnlichkeit, in US-Filmen ethnische Vielfalt oder ein Ethos des Überlebens, bei Tarantino waren es zuletzt (und zu Recht!) Kino und Baseballschläger, die als Antithesen zum Nationalsozialismus – und zur Reduktion rassistisch verfolgter Menschen auf den Status bloßer Opfer – herhielten (bzw. beidhändig hergehalten wurden).

In 'The Monuments Men' von und mit George Clooney ist es nun die Kunst. Ob per Diavortrag, Mission-Statement am Funkgerät, Dialogsatz oder Off-Kommentar zum Mitschreiben – der Star lässt keine Gelegenheit aus, uns Folgendes mitzuteilen: Der – teils historisch verbürgte – Einsatz eines Teams kauziger US-Kunsthistoriker in Army-Uniform 1944/45 (darunter hier auch ein Brite, ein Franzose und ein jüdischer Exilant aus Karlsruhe) zur Rettung europäischer Kunstgüter vor Nazi-Raub und Zerstörung, all das geschehe um der Grundlagen von Kultur und moderner Zivilisation willen. 'We do this for culture… If you destroy a people’s achievements it’s like they never existed: It’s like ash floating! That‘s what Hitler wants!' Also müssen wir da was dagegen tun.

Wie in anderen pep talk-Szenen von Kriegsfilmen – ultimativ von World War II combat movies, zumal von deren men on a mission-Variante – dient solches Deklarieren von Werten und Zielsetzungen dazu, ein Handeln zu motivieren, Aktionen ebenso wie Action. In 'The Monuments Men' allerdings scheint die auffällige Hartnäckigkeit der tiefsinnig daherkommenden Grundsatzdeklaration zunächst einmal als eine Art Gegengewicht zu fungieren: zu der Hartnäckigkeit nämlich, mit welcher in dem Film ansonsten Unbeschwertheit und gute Laune verordnet und durchexerziert werden. Zu Marsch- und Pfeifthemen im music score – die an den in unseren Breitengraden so benannten 'River Kwai-Marsch' erinnern würden, gäbe es da, wie in David Leans 1957er Sinnkrisen-Kriegsdrama 'Die Brücke am Kwai', ein Moment der Satire und des Umkippens vom Marschieren in den Leerlauf männlich-westlicher Selbstbehauptungs- und Ehrgefühlstradition (insofern liegt ein Vergleich mit dem Vorspannthema der 'Gendarm von St. Tropez'-Filme näher) – zu luschtiger Musik also machen Publikumslieblinge mit neu aufpoliertem Spaßvogelstatus Sachen zum Lachen: Insbesondere Team-Mitglieder John Goodman, Jean Dujardin, Bill Murray und Bob Balaban liefern Etüden in Patschertheit und stichelndem Herrenstreit, als wär‘s ein Münsteraner 'Tatort', hinzu kommen Running Gags (etwa über Matt Damons schlechtes Französisch) und ein Zahnarztsketch. Als Draufgabe im Bonusmaterial-Teil der DVD-Edition sind wohl Schwiegermutterwitze zu erwarten.

Wenn George Clooney und Matt Damon zusammen in einem Film auftreten, was sie ja nicht ständig tun, dann drängt sich auch die Erinnerung an eine höchst erfolgreiche Filmserie auf, bei der sie eben dies getan haben, nämlich in der Star- und Führungsriege eines Teams zu agieren, das zwar nicht Raubkunst ausforscht, rettet und rückholt, aber auf ähnlich gewagte und dreiste Art wie die 'Monuments Men' geraubte Gelder und Schätze – darunter, so ich mich recht erinnere, schon auch Kunst – zurückraubt. Es geht um Steven Soderberghs 'Ocean‘s'-Filme, 'Ocean‘s 11', '12', '13' von 2001, 2004 und 2007. Mit denen teilt 'The Monuments Men' die Freude an Sinn- und Schauwerten und Ritualen der projektorientierten Hochleistungstätigkeit im Freakteam-Verbund. Das geht von der Rekrutierung über diverse Briefing- und Trainingssituationen bis zu den Stationen der Ausführung des heist bzw. Coup (hier verteilt auf Kulturgut- bzw. Raubversteck-Standorte und Parallelplotstränge in Frankreich, Belgien, Deutschland und dem heutigen Österreich), zumal mit finalem Wettlauf gegen die Zeit in Richtung einer Schlusspointe: Bevor die trophy brigade der Roten Armee, die ab und zu in einem angedeuteten Erzählstrang auftaucht, die von den Nazis im Salzstollen zu Bad (oder Alt?) Aussee gelagerten Gemälde, Skulpturen und Altarflügel in die Finger kriegt, transportieren unsere rüstigen Monumentalburschen das Zeug gerade noch rechtzeitig selbst ab; dies nicht ohne, wie Clooneys sonore Stimme aus dem Off darlegt, 'leaving behind for our Russian friends something to take back to Leningrad' – nämlich (surprise!) eine riesige, über den Salzbergwerkstunneleingang gespannte US-Fahne. Hätte da jemand noch das (aus der GI-Humorkultur des Zweiten Weltkriegs stammende) Kilroy-Nasenmännchen draufgemalt und 'Up yours, Ivan!' dazugeschrieben, es wäre so schenkelklopfend fröhlich wie das Ende des Schatzjäger-hinter-deutschen-Linien-World War II-Freakteamklassikers 'Kelly‘s Heroes – Stoßtrupp Gold' mit Clint Eastwood. Aber es ist auch so schon heiter genug.

Hier sei zweierlei angemerkt: Erstens wird 'The Monuments Men' (dessen Plakat und tagline zunächst glauben lassen, die Titelhelden selbst seien die Protagonisten des 'größten Kunstraubs der Geschichte', was einer gewissen Ironie nicht entbehrt) seinen eigenen Kriterien als Freakteamkomödie nicht ganz gerecht. Denn in einem solchen Film will ich doch die farbenfrohe Riege pittoresker Radikalindividualisten möglichst oft und markant vollständig im Bild sehen; in Clooneys Film hingegen steigt doch ab und an das Gefühl allzu deutlich hoch, dass die Figurenverteilung im Bild sich nach den vollen Zeitplänen der Darsteller richtet. Nun, das ist aber eh nicht so wichtig. Zweitens soll durch diese Kritik auch nicht der Eindruck entstehen, es ginge darum, einen Hollywood-Film dafür zu schelten, dass er sich einem Thema wie Krieg, Raubkunst und damit dem Holocaust (die Nachdenklichen unter uns sagen dann, das seien 'ernste Themen', und glauben, damit sei viel gesagt) auf eine Weise nähert, die auch Lachen hervorruft. Das hat 'Inglourious Basterds' auch getan – in sehr sinnträchtiger, geschichtspolitisch und v.a. opferbildfixierungskritisch ergiebiger Weise.

Insofern ist zunächst die (wie fast immer) bescheuerte deutschsprachige byline zum Titel aufschlussreich, zumindest selbstverräterisch: 'The Monuments Men – Ungewöhnliche Helden'. Ah ja! Muss ja, denn üblicherweise sehe ich in Hollywood-Filmen ganz gewöhnliche Helden, bzw. ist ja das Wort 'Held' offenbar schon ein Synonym für Gewöhnlichkeit, weshalb es der Betonung des 'Ungewöhnlichen' dringend bedarf. Nun, in einem gewissen Sinn stimmt das nun aber, wenn der Titel samt byline impliziert, dass an diesen Figuren etwas ist, das als ungewöhnlich betont werden soll, ihre Heldenhaftigkeit bzw. ein Aspekt von dieser nämlich. Anders gesagt: 'The Monuments Men' positioniert sich – und sein deutscher Verleihtitel ist da nur die Zuspitzung davon – ostentativ als ein World War II combat film aus Hollywood, der auf eine Zeit folgt – und abschließend auf diese Zeit zurückschaut –, in der Hollywooods-'Weltkrieg Zwei'-Filme ihre Helden vorwiegend im Zeichen ihrer Opferschaft, als von der Geschichte Gebeutelte, als Leidensträger, Versehrte, ums Leben Betrogene und Traumatisierte gezeichnet haben.

Zum einen 'sagt' dieser Film, der so gern so vieles so explizit sagt, auch (implizit aber laut): Die Ära des traumatophilen Geschichtskinos ist vorbei – Juhu, es geht wieder lustig zu in World War II! Es geht um einen Abschied vom Trauma-Kino, das insbesondere auf die Vorbildwirkung von Spielbergs Filmdoublette 'Schindlers List' (1993) und 'Saving Private Ryan' (1998) zurückging und seinerzeit zu verstehen gab: Geschichte, das heißt Gedächtnis, und das wiederum heißt Trauma, und das in der Geschichte als Trauma-Gedächtnis Erfahrungen machende Subjekt, das ist nicht der Held, sondern menschlicher Teil eines Zusammenhangs traumatischer Wahrnehmungs- und Handlungskrisen und wiederkehrender Nachwirkungen, also Opfer, Zeugen, Überlebende, (verhinderte) Retter beiderlei Geschlechts. Zu diesem Trauma-Kino der Neunziger- und Nullerjahre (in Sachen World War II etwa auch Filme wie 'Windtalkers', 'Hart‘s War', 'Flags of Our Fathers' und 'Letters from Iwo Jima', der Stalingrad-Euro-Pudding 'Duell – Enemy at the Gates' oder manche Stauffenberg-Memorial-Filme) formulierte 'Inglourious Basterds' 2009 einen Gegenentwurf – kurz gesagt: Wendung von Opferschaft hin zu öbszön anmutender Handlungsfähigkeit dort, wo nur Ohnmacht vorgesehen war –, einen Gegenentwurf, der eine Art Hommage enthielt (rund um Tarantinos Bilder der Cinephilie, die z.T. auch von Spielberg hätten sein können). 'The Monuments Men' geriert sich nun als Abschied vom Traumakino, der ebenfalls ambivalent ausfällt.

Da ist nämlich nicht nur die Geste des 'Juhu' – Juhu, wir haben die feschen, gloriosen Helden und ohne alle dirtyness unzweideutig fröhlich gestimmten Filme zum Thema Zweiter Weltkrieg wieder, wir machen wieder einen auf Ungewöhnlich, nachdem nun zwanzig Jahre lang die allzu gewöhnlichen Opfer als Helden figuriert haben bzw. die Gebrochenheit und traumatische Memoria der Helden zur Gewohnheit geworden ist. Da ist, zusätzlich und gar nicht so gegensätzlich dazu, auch der Gestus des Wieder-Aufsuchens des Traumas, halb ehrfürchtiges Starren auf dessen Orte, dessen filmische Topoi, halb Plünderung und Zweckentfremdung seines Bestands, um es in der vom Film nahegelegten Sprache des Kunstkonsums bzw. -raubs zu sagen. Oder, um einen bereits gezogenen Vergleich, den 'The Monuments Men' unweigerlich ins Spiel bringt, weiter zu entfalten: Clooneys Film ist eben nicht nur eine Neuauflage von 'Ocean‘s 11, 12, 13' im Zweiten Weltkrieg, sondern ein Stück weit auch eine Neuauflage von 'The Good German' in Farbe. In letzterem Retro-Noir von Steven Soderbergh hatte Clooney 2007 an der Seite von Cate Blanchett – die nun in 'The Monuments Men' eine pariser Gemäldesammlungskuratorin darstellt – einen US-Army-Offizier im besetzten Berlin unmittelbar nach Kriegsende 1945 gespielt; manche der betulichen Betonungen der Verbreitung deutscher Schuld am Massenmord an den Jüdinnen und Juden – nicht die Betonung der Schuld soll hier moniert werden, sondern deren Betulichkeit (zumal dort, wo Baseball manchmal das bessere spielfilmische Spiel ist) – scheinen aus Soderberghs Film heraus in Clooneys Regiearbeit nachzuhallen, so etwa der lange, gezierte Dialog mit dem gefangenen Konzentrationslagerkommandeur gegen Ende von 'The Monuments Men'.

(Fußnötchen: Noch eine andere Film-Doublette tritt zur Rahmung der Ambivalenz von 'The Monuments Men' gegenüber dem Trauma-Kino hervor; in Erweiterung der Soderbergh-Doublette ist es die Heslov-Doublette. Grant Heslov spielt in 'The Monuments Men' die kleine Rolle eines US-Armeearztes; er hat den Film mit Clooney zusammen geschrieben und zuvor, 2009, eine weitere, allerdings mehr satirisch angelegte Militärkomödie im Freakteam-Modus mit Clooney, nämlich 'The Men Who Stare at Goats – Männer, die auf Ziegen starren', inszeniert. Heslov hat aber auch zwei ostentativ nachdenkliche, sich in moralischen Notständen ergehende Polit-Dramen mit Regisseur bzw. Darsteller George Clooney geskriptet – 'Good Night, and Good Luck', 2005, ebenfalls in Retro-Schwarzweiß, und 'The Ides of March', 2011. Der Abspann von 'The Monuments Men' bringt die Doppelung noch einmal auf den Punkt: Er zeigt zuerst grobkörnige Schwarzweißfotos der 'echten' US-Raubkunstretter von 1945, stellt sich somit in die authentizistische, in Schwarzweiß-Bildern allerlei Verlogenheit anprangernde Linie von 'Good German' und 'Good Night…', und zeigt dann doch, wie in einem guten alten Hollywood-Film der 1930er oder einem jüngeren Gute-Laune-Film, Vignetten mit Signation-Bildern der Stars des Films, bleibt damit also eher dem – im Doppelsinn – Nummern-Prinzip der 'Ocean‘s'-Filme bzw. der Männer, die grinsen, prosten oder starren, wenn auch eher auf Gemälde und Madonnen denn auf Ziegen, treu.)

Um sich also vom Trauma-Kino zu verabschieden, sucht 'The Monuments Men' es noch einmal auf oder eher heim: Der Raubkunstrettungsklamaukstationenlauf von Bayeux und Brügge bis Aachen und Aussee pfropft sich dem insbes. spielbergschen Kino der 'Rettung von Leben im bewegenden Bild' dreist auf. Nicht nur am Strand der Normandie trampeln die dem Ozean (und den Ocean‘s) Entstiegenen bzw. per Landungsboot Landenden durch Spielbergs Motivterrain, um monument werden zu lassen, wo eben noch memory war. Hier ein Dialogfetzen über den Tausch-Wert von Menschenleben, dort ein deutscher Fallschirmjäger, der sich mit den gegnerischen Amis durch Namensnennung von John Wayne verständigt (den allerdings 1944 in Deutschland noch niemand kannte), wo in 'Saving Private Ryan' seitens des Wehrmachtssoldaten mit dem Abspann-Namen 'Steamboat Willie' von ebendieser Hollywood-Cartoonfigur (sowie von Betty Boop) die Rede war. Die quasi rhetorisch und mit self-congratulatory Effekt am Filmende bzw. Kriegsende an Clooney gestellte Frage, ob die paar Schinken und Altäre das alles wert gewesen seien, und ob er glaube, dass sich 'thirty years from now' noch jemand an die Rettung der Kunstwerke erinnern werde, mündet in 'The Monuments Men' in eine antwortförmige, also noch einmal groß Sinn akkumulierende Schlussszene: 1977 besichtigt den Flügelaltar zu Ghent, zusammen mit seinem Enkelsohn, ein greiser Raubkunstretter – gespielt pikanter Weise von Nick Clooney, seines Zeichens Vater von Sohn George. Da weht ein Hauch von Wirklichkeit, die, an der Hand der Fiktion geführt, noch einmal mit wackeligen Beinen einen sakralen Gedächtnisort aufsucht, so wie die überlebenden 'Schindlerjuden' an der Seite ihrer DarstellerInnen im Epilog von 'Schindlers Liste' oder, Spielbergs Komplementärszene dazu, der greise Ex-US-Soldat als älteres Selbst eines Protagonisten von 'Der Soldat James Ryan' auf dem amerikanischen Soldatenfriedhof in der Normandie, in Ehrfurcht inmitten von wenn schon nicht Altarflügeln, so doch jenen Grabkreuzen, von denen wir nun in 'The Monuments Men' en passant sehen, wie sie in die Normandie gekommen sind: Als das Team rund um Clooney und John Goodman den eben vom Good German befreiten Atlantikstrand betritt, werden zusammen mit anderen Truppenversorgungsmaterialien auch die ersten Stapel der markenzeichenhaften weißen Grabkreuze angeliefert. (Und wer spielte noch gleich Spielbergs zu rettenden Private Ryan, der sich als alter Mann, over fifty years from now, mit seinem Nachwuchs an der Seite immer noch der seinerzeitigen Rettungsmission erinnert, von der nie ganz klar schien, ob sie all die Opfer wert sei? Das war doch dieser Kunstretter mit dem schlechten Französisch… Wie da die Echos und Nachbilder durch Filme spuken, das ist schon damonisch.)

Aus dem Sinnhaushalt des Trauma- und Rettungskinos heraus verschafft 'The Monuments Men' sich das Quantum Bedeutsamkeit, mit dem er seine Handlung antreibt und nobilitiert. Die Anrufung des Motiv-Inventars von Filmen, die den Zweiten Weltkrieg im Weichbild des Holocaust und einer – oft problematisch – metaphorisierten jüdischen Opferschaft inszeniert hatten, ermöglicht erst die großspurige Ansage, dass die Bewahrung von Kunstschätzen und Kulturgütern als genuine Antithese zu dem, was die Nazis wollen, zu verstehen sei.

Insofern macht es Sinn, sich zuletzt zu vergegenwärtigen, was das für Kunst ist, die in und von den 'Monuments Men' gerettet wird, um die Perfidie einiger seiner Positionierungen gegenüber dem Altbestand (dem film cultural heritage quasi) des Trauma-Kinos zu ermessen. Ein letzter Vergleichsfilm: Nicht nur in seiner Eröffnungsmontage, aber da ganz prominent, zitiert 'The Monuments Men' den thematisch verwandten, genau fünfzig Jahre alten Kriegs-Actionfilm 'The Train' von John Frankenheimer (mit Burt Lancaster als Resistance-Mann, der den Abtransport französischer Gemälde nach Deutschland verhindert). Spielte der Vorspann von 'The Train' 1964 mit der Ambivalenz von Bezeichnungen/Benennungen, die einen Wert bemessen, indem da anonyme Kisten im Schnellschnitt und per Schablone mit klingenden Namen – 'Cezanne', 'Gauguin', 'Matisse' – markiert wurden, so leistet der Beginn von 'The Monuments Men' Ähnliches in Form von Detailaufnahmen des Ghenter Altars, die akustisch 'unter den Hammer kommen'; die Altarsbilder scheinen also eine obszöne Festlegung ihres Werts (bei einer Auktion o.ä.) zu erfahren, bis die retroaktive Montagekonstruktion nach einigen Schnitten klar macht, dass das dumpfe Hämmern nicht einem Verkauf gilt, sondern Holzkeilen, durch die Kisten fixiert werden, die nicht der Verhökerung des Sakralkunstschatzes durch die Deutschen, sondern seinem Verstecken vor ebendiesen seitens des belgischen Untergrunds dienen sollen.

Kunst wird also gerettet, nicht vermarktet: Das stellt 'The Monuments Men' schon eingangs mit ambivalentem Hammerschlag fest. In Frankenheimers 'The Train' wird oft darüber gestritten, ob das, was in den von den Deutschen verschlossenen Güterzug-Waggons weggebracht wird, so wertvoll sei, dass man dafür die Leben französischer Eisenbahner und WiderstandskämpferInnen opfern könne: Das ist ein für uns heute leicht auf seine inszenatorisch performten Fehlstellen, seine performed failures (Thomas Elsaesser) hin lesbares Bild, nun, da verschlossene Güterzüge zu Film- und Geschichtskultur-Ikonen geworden und so viele Filmbilder und Gedächtnisbildungen um den Holocaust, die Deportationen, das Zählen und Abwägen der Tauschwerte von markierten, aber namenlosen Leben herum zentriert worden sind. ('The Train' 1964, das war noch fünfzehn Jahre vor der TV-Serie 'Holocaust' und dreißig Jahre vor der Ausformulierung des Trauma-Diskurses in Geschichtstheorie und -kino.) 'The Monuments Men' verrät merkliche Genugtuung darüber, in der Frage, was das Wertvolle, Problematische, Bedrohte in the train und hinter den Bildern ist, längst nicht mehr bei Andeutungen und Verschiebungen bleiben zu müssen: Das Reden über den Wert der geopferten Leben versus dem Wert der Kunst – in Clooneys Film auch nicht weniger 'Holzhammer'-haft als in Frankenheimers Film vor einem halben Jahrhundert – verbindet sich da nun mit diversen expliziten Referenzen auf jene, denen Kunstschätze und oft auch ihre Leben genommen wurden. 'What is all this?' – 'People‘s lives.' – 'What people?' – 'Jews.': So verläuft einmal, inmitten von Stapeln von Hausrat und Ziergegenständen, ein Dialog zwischen dem fassungslosen Damon und der ob ihres Wissens bitteren Blanchett. Dass in 'The Monuments Men' der Jüdinnen und Juden gedacht wird – der von den Nazis vom Museumsbesuch ausgeschlossenen Mitbürger, der enteigneten Familien, der geplünderten Synagogen und ermordeten Kunstsammler –, dafür muss man den Film nicht groß loben; darauf ist er eh selber stolz genug.

Das Perfide an dieser innigen Umarmung, mit welcher 'The Monuments Men' gegenüber der (Film-)Ästhetik und Rhetorik des Traumas gönnerhaft einzuräumen scheint, man könne doch nun endlich alles klar und offen aussprechen, auch den jungen Soldaten Private Epstein eine Tora-Rolle in eine Synagoge zurückbringen lassen und insgesamt auf all die Chiffren, Übersetzungen und umschreibenden Beschriftungen verzichten, man könne also, nach all den Windungen und Wendungen der Memory, wieder Monument-Mann in klaren Formen und Ansagen sein – kurz, der Haken an dieser Sache ist der Preis für so viel Feierlichkeit und Sakralität: Den entrichten einmal mehr jene, denen die Rede des Ressentiments seit jeher nachsagt, dass bei ihnen alles, auch das Heilige und Schöne, einen Preis habe. In 'The Train' werden die Werke einer modernen Malerei, die als 'entartete' und so im Blick der Nazis generell als jüdisch galt, auch wenn ihre Urheber es häufig nicht waren, per Namensschild ostentativ individuiert; 'The Monuments Men' hingegen tritt vom ersten Hammerschlag an mit der ostentativen Ansage auf, dass Kunst nicht zu verhökern und grundsätzlich eine sakrale Sache sei. Während Spielberg sehr genau den einen verlorenen Davidstern unter den vielen Grabkreuzen auf dem Friedhof in der Normandie in der Rahmenstory von 'Saving Private Ryan' am Rand des Bildes auftauchen und ein Fehlen performen lässt, werden in 'The Monuments Men', als sei es programmatisch, nur christliche Kreuze am Atlantikstrand angeliefert und wird die von den Nazis geraubte Kunst ganz als altehrwürdiger, alteuropäischer Kulturbestand, paradigmatisch als Sakralkunst, insbesondere christliche, verstanden. 'Are you a Catholic?' – 'I am tonight!' heißt es da im Dialog zwischen zwei Kunstretter-Soldaten, die von der Anmutung und Gefährdetheit einer Madonnendarstellung zutiefst ergriffen sind.

'If you destroy a people’s achievements it’s like they never existed, it’s like ash floating!' Clooneys Grundsatzrede im Film zitiert mit der dahintreibenden Asche ein ikonisches (Wort-)Bild des Holocaust herbei, um es zu universalisieren, in Richtung der Rettungswürdigkeit des europäischen Kulturerbes schlechthin. Diese Universalisierung allerdings – und das ist das Perfide und so anders als die Konstruktionen Spielbergs und Tarantinos – wird im zweiten Schritt aufgeboten, um genau die Enteigneten weiter zu enteignen, parallel zur Christianisierung der Kunst und ihres Gedächtniswerts. Das zu Rettende der Kunstschätze, so heißt es denn auch in 'The Monuments Men', gehöre der ganzen Menschheit; es dürfe nicht einzelnen Individuen gehören. Ungefähr das wird jedes mit Restitutionsansprüchen seitens IndividualeigentümerInnen und ErbInnen konfrontierte Museum, das Nazi-Raubkunst aus jüdischem Besitz so verdienstvoll der Allgemeinheit zugänglich macht, auch gern sagen wollen; aber so offenherzig, monumental und doch unbeschwert pfeifend ausgesprochen wird es nicht oft. Das gibts halt nur im Film.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Like Someone in Love

(J / F 2012, Regie: Abbas Kiarostami)

Auf der Suche nach Konstanten
von Ilija Matusko

Callgirl trifft alternden Intellektuellen in dessen Wohnung. Der neue Film „Like Someone in Love“ von Abbas Kiarostami setzt ein Klischee an den erzählerischen Anfang: Eine desillusionierte junge Frau verdingt sich …

Callgirl trifft alternden Intellektuellen in dessen Wohnung. Der neue Film „Like Someone in Love“ von Abbas Kiarostami setzt ein Klischee an den erzählerischen Anfang: Eine desillusionierte junge Frau verdingt sich und ihren Körper zwischen blinkenden Werbeflächen und Hochhausfassaden der Großstadt. Doch was der 72-jährige Iraner Kiarostami daraus entwickelt, ist beeindruckend: eine sanft erzählte Geschichte über die Möglichkeit der Annäherung.

Der Film beginnt inmitten einer recht absurden Szene: Die junge Akiko arbeitet als Hostess/Callgirl und wird von ihrem Boss, Typ Geschäftsmann mit der nötigen Mischung aus Autorität und Verständnis, in einer Bar dazu „überredet“, am gleichen Abend einen wichtigen Kunden aufzusuchen, obwohl sie, wie sie sagt, Prüfungen hat. Akikos Freund Noriaki weiß davon nichts und geht von einem gewöhnlichen Treffen mit einer Freundin aus.

Im Taxi auf dem Weg zum Kunden erfahren wir über eine Stimme auf einer Mailbox, dass sich für den gleichen Tag Akikos Großmutter aus der Provinz angekündigt hatte und bis zum Abend auf Akiko gewartet hat. Um die Großmutter wenigstens kurz und unbeobachtet aus der Ferne zu erspähen, lässt Akiko das Taxi zweimal um den Platz herumfahren, auf dem ihre Großmutter mit ihrer Hoffnung, die Enkelin zu sehen, alleine steht. Und hier wird das Netz aus Lügen und Abhängigkeiten, das die junge Frau davon abhält, einfach auszusteigen und ihre Familie zu sehen, so weit aufgespannt, dass man sich unweigerlich die Frage stellt: Wie hat sich Akiko da bloß hineinmanövriert? Und hat sie sich freiwillig in dieses Netz gelegt? Die Antworten, so wird dem Zuschauer bewusst, spielen dabei aber keine große Rolle.

Nach dieser wunderbaren Einleitung trifft Akiko den um viele Jahre älteren Mann und Kunden Takashi, einen Schriftsteller und Übersetzer. In dessen Wohnung, in der Bücher in hohen Regalen bis an die Decke wuchern, spielt sich die nächste, bizarr anmutende Szene ab: Takashi kümmert sich großväterlich um die erschöpfte Frau, sanft und zurückhaltend, sogar das Weinglas fasst er mit einer solchen Vorsicht an, als habe er Angst, das Glas könnte zwischen seinen Fingern plötzlich zerspringen.

Die junge Frau und der ehemalige Professor unterhalten, amüsieren sich und als sich Akiko müde ins Bett legt, setzt sich Takashi mit einem Stuhl an ihre Seite. Allein diese Szene verdichtet die milde und faszinierende Erzählweise des Regisseurs und zeigt, worauf es ihm ankommt: Er führt Menschen per Zufall zusammen, verwickelt sie in beiläufige Gespräche und lässt aus diesen Kreuzwegen unvorhergesehene, gleichsam zarte wie bedeutende Blüten zwischenmenschlicher Annäherung entstehen. In einer minimalistischen Inszenierung und in ruhigen, langen Einstellungen spürt er diesen Blüten nach, immer in der Angst, ein Zuviel an Drama, ein Zuviel Bewegung könnte die Blume kaputt treten.

Der eifersüchtige Freund und Verlobte Noriaki kommt wieder ins Spiel und hält Takashi für den Großvater. Nun wird die Erzählung etwas angespannter, mühevoller, der Bringschuld des Dramas verhaftet, obgleich der Erzählstil weiterhin ruhig und geerdet bleibt. Und welchen Wegen für Verständigung, Konflikt und Kompromiss Kiarostami in Folge dessen nachgeht, überzeugt erzählerisch dann leider weniger, ist frei von Subtilität und zerstreut sich schlussendlich in eine doch recht schale Ansammlung von Motiven und Emotionen, im Zaum gehalten von technisch einwandfreien und filmisch anspruchsvollen Bildern.

„Like Someone in Love“ spielt nicht nur in Tokyo, sondern wurde mit japanischen Schauspielern in japanischer Sprache realisiert. Natürlich stellt man sich die Frage, wie man als Regisseur ein Gefühl sowohl für die Umsetzung der eigenen Geschichte als auch für die Schauspieler und deren Spiel bekommt, wenn man sich jedes Wort und zahlreiche kulturelle Codes übersetzen lassen muss. Aber genau darin liegt wohl der Sinn dieser Unternehmung: Der Regisseur ist auf der Suche nach Konstanten. Nach der Universalgrammatik, die unsere zwischenmenschlichen Beziehungen kontextübergreifend bestimmt – kurz: nach allgemeinen, menschlichen Gefühlen. Zwar wird er auch in diesem, letztlich etwas künstlich wirkenden Feld fündig, doch setzt der Filmemacher leider zu oft voraus, was er eigentlich erkunden möchte.

„Like Someone in Love“ hat dabei nicht nur anekdotische Parallelen zu dem gleichnamigen Musikstück, einem mehrfach interpretierten Jazzstück aus den 1940ern, das auch im Film – in der Wohnung von Takashi – zu hören ist. Es ist eine ruhige, verträumte, aber auch traurige Musik. Dabei macht nicht die Musik an sich traurig, sondern ein bestimmtes Verlust-Gefühl. Ein Gefühl, mit dem das im Moment der Musik Erlebte, in imaginärer Schönheit Aufkeimende in Beziehung gesetzt wird zur harten Wirklichkeit. Dieser Moment lässt den unüberwindbaren Unterschied zwischen Vorstellung und Realität bewusst werden. Das stimmt melancholisch. Das schafft Musik, und manche Momente in „Like Someone in Love“.

Snowpiercer

(KR / F / USA 2013, Regie: Bong Joon-ho)

Abgefahren
von Nicolai Bühnemann

Im Jahr 2014 führt der Versuch gegen die globale Erwärmung vorzugehen, die Welt in eine neue Eiszeit. Die einzigen Überlebenden befinden sich in einem Hochgeschwindigkeitszug, der unentwegt die vereiste Welt …

Im Jahr 2014 führt der Versuch gegen die globale Erwärmung vorzugehen, die Welt in eine neue Eiszeit. Die einzigen Überlebenden befinden sich in einem Hochgeschwindigkeitszug, der unentwegt die vereiste Welt umkreist. Jedes Jahr vollendet er eine Runde. Im hinteren Teil des Zuges leben die Menschen zusammengepfercht im Elend – aus dem einzigen Grund, den Reichen weiter vorne zu Diensten zu sein. Unter den Bewohnern der tale section sind ihr alternder Anführer Gilliam (John Hurt) sowie der jüngere Curtis (Chris Evans), der später selbst die Führung übernehmen soll, aber aufgrund eines erlittenen Traumas, von Selbstzweifeln zerfressen, seine Eignung für diese Aufgabe in Frage stellt. Um mit ihrer Not, der grausamen Ausbeutung und Repression durch die vorderen Zugabteile endgültig Schluss zu machen, planen sie die Revolte. An der Spitze des Zuges, in der Lok sitzt Wilford, Chef der Wilford Industries, die den Zug gebaut hat, und bewacht die religiös verehrte Maschine, die den Zug auf seinem ewigen Weg durch Schnee und Eis antreibt.

„The whole wide train“ nennt ein Junge in „Snowpiercer“ seine Welt einmal. Tatsächlich geht der südkoreanische Regisseur Bong Joon-Ho in seinem fünften Film, seiner ersten (überwiegend) auf Englisch gedrehten internationalen Co-Produktion mit internationaler Starbesetzung, noch einen Schritt weiter. Er packt gleich mehrere Welten, die – nicht zuletzt stilistisch – unterschiedlicher kaum sein könnten, in einen Zug. Ein ganz entscheidendes Merkmal seiner Dystopie auf tausend Rädern ist die absolute Segregation. Am Ende des Films wird Curtis der einzige Mensch sein, der je den ganzen Zug durchschritten hat, der das hintere Ende ebenso kennt wie die Lokomotive. Die tale section des Zuges, in der der Film beginnt, besteht aus beklemmend engen Gängen, in denen die Menschen in Betten übereinander gepfercht leben. Eine grauschwarze fensterlose Welt, in der sich die Kamera am Dreck, an den schmutzigen Gesichtern und zerlumpten Kleidern geradezu weidet. Die einzigen Farbtupfer in dieser Welt kommen von weiter vorne: Das gelbe Kleid von Wilfords Dienerin, so klein und dick, dass sie eine beinahe kugelrunde Erscheinung abgibt. Von Soldaten bewacht, vermisst sie vollkommen ungerührt Kinder, um sie anschließend ihren Eltern zu entreißen und mit sich nach vorne zu nehmen. Das Rot von Tilda Swintons vollkommen überschminkten Lippen, die als General Mason herrlich schräg eine Art bigottes comic relief mit Überbiss und Hornbrille spielt, Reden über die natürliche (soziale) Ordnung der Dinge hält und grausame Strafen für Ungehorsam vollstreckt.

Die Welten, die sich Curtis bei seinem Weg nach vorne und die sozialen Hierarchien hinauf erschließen, werden, wie die Level eines Computerspiels, immer bizarrer – und vor allem immer bunter. Damit ist auch das Strukturprinzip von „Snowpiercer“ eigentlich hinreichend beschrieben: Dieser Film setzt immer noch eins drauf. Das beginnt schon mit der Verortung in der Filmographie des Regisseurs. Schon 2006 hatte Bong Joon-Ho mit der Monsterfilm-Groteske „The Host“ die Menschen, dort nur die Bewohner von Seoul, mit einer menschengemachten Katastrophe konfrontiert. „Snowpiercer“ setzt dem nicht nur ein Mehr an production values entgegen – es ist der bislang teuerste koreanische Film überhaupt –, er gibt dieser Katastrophe nicht nur globale Ausmaße, sondern setzt auch, mit der Vorgeschichte gleich zu Beginn auf die reale menschengemachte Katastrophe eine fiktive menschengemachte Katastrophe als Versuch der Regulierung.

Es gibt die kleinen Details, die jeder gute Endzeit-Science-Fiction-Film braucht, um seiner dystopischen Welt in der Vorstellung des Zuschauers die richtige Modulation zu verleihen. So werden die Proteinblöcke, die in der tale section die einzige Nahrung sind, aus Insekten gemacht. Die neueste Designer-Droge, die sich weiter vorne im Zug größter Beliebtheit erfreut, heißt Kronole und wird aus Giftmüll hergestellt. Alles, was es im Zug (angeblich) nicht mehr gibt, etwa Zigaretten, Munition oder bestimmte Ersatzteile, wird als „ausgestorben“ bezeichnet. Wenn der Zug eine bestimmte Brücke überquert, zeigt dies das neue Jahr an. Eins drauf setzt Bong auch mit seinem unbestreitbaren Talent für poetisch überhöhte Action-Szenen. Eine Schlacht zwischen den Männern und Frauen aus der tail section mit den Soldaten des Zuges wird mit Äxten ausgetragen. Aufgelöst wird diese Szene zunächst in halbnahen, jede Bewegung verwischenden Handkameraeinstellungen. Dann, nach einem Schnitt, verwandelt sie sich in einer beeindruckenden Zeitlupen-Choreographie zu einem regelrechten Ballett des Tötens, bei dem das dumpfe, verzerrte Dröhnen der Axtschläge und die hallenden Schreie mit ruhigen Klavierklängen konkurrieren. Schließlich, wenn es in einem Gegenangriff mit Nachtsichtgeräten gegen Fackeln geht, scheinen die Bilder in einem Regen der Funken und der fluoreszierenden Lichter zu zerbersten.

Der Weg des Helden und des Films ist ein wahrlich dialektischer. Von der sehr realen, sehr gegenwärtigen Bedrohung der globalen Erwärmung aus führt uns Bong in eine mit jedem Tor, das man durchschreitet, immer schillerndere, immer skurrilere postapokalyptische Welt. Sicher ist das zum absoluten Comic überzeichnet (der Höhepunkt in dieser Hinsicht ist wohl das bonbonbunte, an die fünfziger Jahre gemahnende Klassenzimmer als Propagandaanstalt, in der ausgiebig gesungen, dann auch geschossen wird). Aber das Groteske an dem Aquarium mit integrierter Sushi-Bar, der grünen Stille des Gewächshauses, in der man es sich bei einem Buch und einer Tasse Tee gemütlich macht oder den frenetisch entfesselten tanzenden Körpern in der Diskothek entsteht doch gerade im Kontrast zu der absoluten Misere zu Beginn. Sind wir da nicht schließlich wieder ganz in unserer Welt angelangt? Könnte man den neoliberal entfesselten, globalisierten Kapitalismus treffender zur Kenntlichkeit entstellen?

Was der Film dann im Showdown noch einmal oben drauf setzt, ist das erbitterte Pathos, mit dem er das Trauma seines Helden und seine klassenkämpferische Agenda ernstnimmt. Die biologistische Herrschaftsideologie von der natürlichen Ordnung der Dinge wird endgültig ad absurdum geführt. In der Welt dieses Films ist alles menschengemacht, sogar die „natürliche Auslese“. (Und: die so eindeutig computergemachten monochromen Außenaufnahmen des Zuges, der durch die Eiswelt rauscht, passen da natürlich bestens ins absolut unnatürliche Bild.) Ed Harris muss als Wilford eigentlich kaum noch etwas machen, außer mit der Lethargie eines Mannes, der seine eigenen Lügen längst glaubt – und sei es aus schierer Bequemlichkeit – , im seidenen Morgenmantel am Herd zu stehen und Steaks zu braten, um einen der absurdesten und verstörendsten Oberschurken der Filmgeschichte abzugeben. Schließlich gibt es in der letzten Einstellung den volldigitalen Eisbären als Hoffnungsschimmer am Horizont.

„Snowpiercer“ ist nicht nur der grimmigste, sondern auch der beste Blockbuster, den ich seit Jahren gesehen habe. Und – diese Prognose sei schon zum Ende des ersten Quartals gestattet – bietet die vielleicht wuchtigsten, überwältigendsten, irrwitzigsten und – buchstäblich – abgefahrendsten 130 Minuten, die es dieses Jahr im Kino zu sehen geben wird.

Djeca – Kinder von Sarajevo

(BA / D / F / TR 2012, Regie: Aida Begic)

Im Wertevakuum
von Wolfgang Nierlin

Rahima (Marija Pikic) ist eine junge bosnische Muslimin und Kriegswaise im heutigen Sarajevo, die für sich und ihren jüngeren Bruder Nedim (Ismir Gagula) um ein Auskommen kämpft. In der Küche …

Rahima (Marija Pikic) ist eine junge bosnische Muslimin und Kriegswaise im heutigen Sarajevo, die für sich und ihren jüngeren Bruder Nedim (Ismir Gagula) um ein Auskommen kämpft. In der Küche des Restaurants, wo sie oft in Doppelschicht arbeitet, herrscht ein rauer, zynischer Umgangston, den sie resolut und mit bitterer Ironie kontert. Weil Rahima selbstbewusst ein Kopftuch trägt, ist sie immer wieder Spott und Anfeindungen ausgesetzt. Doch das äußere Zeichen ihrer Religionszugehörigkeit ist auch Ausdruck von Distanz und Widerstand gegenüber einer zerrütteten Nachkriegsgesellschaft, die ihre Werte verloren hat und die von korrupten Politikern dominiert wird. Einmal, in den Fernsehnachrichten, ist im Zusammenhang mit der allgemeinen Wirtschaftskrise von hoher Arbeitslosigkeit, ungezügelter Privatisierung und Kriminalität die Rede.

Die 1976 geborene bosnische Regisseurin Aida Begic zeigt in ihrem Film „Djeca – Kinder von Sarajevo“ ein ungeschöntes Bild dieser gesellschaftlichen Perspektivlosigkeit. Sie spiegelt sie vor allem an Nedim, einem renitenten, gleichgültigen Jugendlichen, der die Schule schwänzt, seine Zeit mit Computerspielen verbringt, in Schlägereien verwickelt ist und auf kriminelle Abwege gerät. Den Haushaltsaufgaben entzieht er sich mit gelassener Macho-Attitüde, während sich die verantwortungsvolle Rahima auffallend geduldig und nachsichtig um alles kümmert. Die junge Frau hilft, wo sie kann, und erfährt dabei von allen Seiten Druck.

Aida Begic filmt diesen inneren und äußeren Druck mit atemloser Anspannung und großer Intimität. In langen dynamischen Plansequenzen folgt die Handkamera von Erol Zubcevic – ähnlich wie in den Filmen der Brüder Dardenne – der gehetzten Protagonistin. Dadurch entsteht eine starke Nähe, in der sich die klaustrophobischen, nahezu ausweglosen Verhältnisse mitunter auf den Zuschauer übertragen. Begic; beobachtet und begleitet das unruhige Leben ihrer Heldin aus einer minimalen Distanz. Dazwischen schneidet sie immer wieder kurze, hektische Doku-Szenen aus der Kriegszeit, die weiterhin nachwirkt. Bezeichnenderweise klingt die Tonspur in ihrer Mischung aus digitalem Störfeuer, den Detonationen von Neujahrsböllern und den Bohrgeräuschen von Renovierungsarbeiten wie eine akustische Fortsetzung dieses Terrors – gerahmt und abgemildert allein durch Beethovens 6. Sinfonie, die sogenannte „Pastorale“.

She’s Lost Control

(USA 2014, Regie: Anja Marquardt)

Menschen im Glas
von Nicolai Bühnemann

Rhona (Brooke Bloom) arbeitet als Surrogatpartnerin. Sie schläft gegen Bezahlung mit Männern, um ihnen, als Ergänzung einer Psychotherapie, dabei zu helfen, ihre Angst vor Intimität und Körperkontakt zu überwinden. Die …

Rhona (Brooke Bloom) arbeitet als Surrogatpartnerin. Sie schläft gegen Bezahlung mit Männern, um ihnen, als Ergänzung einer Psychotherapie, dabei zu helfen, ihre Angst vor Intimität und Körperkontakt zu überwinden. Die Professionalität, mit der sie ihren Job verrichtet, gerät zusehends ins Wanken, als Johnny zu ihr in Behandlung kommt: gutaussehend, klug, beruflich erfolgreich – und in höchstem Maße autoaggressiv. Als Rhona sich in Johnny (Marc Menchaca) verliebt, verliert sie zunehmend die Kontrolle über die Situation.

Regisseurin Anja Marquardt ist in ihrem Regie-Debüt zunächst sichtlich bemüht, jedes gängige „Huren“-Stereotyp zu vermeiden. Rhona ist gebildet, sie kommt aus bürgerlichen Verhältnissen, sie kleidet sich seriös, mitunter geradezu bieder. Psychologisches Einfühlungsvermögen ist für ihren Job wesentlich wichtiger als übermäßig schön, geschweige denn sexy zu sein. Relativ zu Beginn wird in gnadenlosen Großaufnahmen, die jeden Leberfleck sichtbar machen, gezeigt, wie sie sich Injektionen in den Bauch setzt. Ob sie etwa Diabetikerin ist oder doch drogenabhängig, bleibt lange offen. Dass es damit eine ganz andere Bewandtnis hat, erfahren wir viel später. (Ein gutes Beispiel für den Kontrollwahn dieses Films, der den Zuschauer da abholt, wo er ist, nur um ihn dann genau dort hinzubringen, wo er ihn haben möchte). Wenn sie nach ihrer Arbeit gefragt wird, weicht sie aus, bzw. sagt wahrheitsgemäß, dass sie vorhabe, ihren Master zu machen. Die korrekte Berufsbezeichnung „sexual surrogate“ hört man in dem Film genauso wenig wie die Worte „prostitute“, „hooker“ oder jedes andere denkbare Synonym.

In der Unfähigkeit zur Intimität sieht der Film mitnichten ein individualpsychologisches Problem der behandelten Männer. Rhona unterhält sich in verschiedenen Szenen mit einem Mann per Skype. Zunächst könnten wir ihn für einen Klienten halten, dann für einen ziemlich nervigen Ex-Freund, schließlich stellt er sich als ihr Bruder heraus, der ihr mitteilt, ihre Mutter sei verschwunden und sie mehrmals bittet, ihn einmal zu besuchen. Ansonsten bestehen ihre „sozialen Kontakte“ aus Zwiesprachen mit dem Psychiater, dem sie assistiert, ihrer älteren Kollegin (und einzigen Freundin) Irene, unfreundlichen Handwerkern, ihrem Anwalt. Ein hilfloser Versuch, Kontakt zu einer etwas jüngeren Nachbarin aufzubauen. That’s it.
Übrigens: mit den Spritzen friert Rhona ihre Eizellen ein, weil sie vielleicht irgendwann mal Kinder haben möchte. Das Leben als Wartesaal. Warten auf Familie oder Karriere oder Liebe oder irgendwas.

Dass der Film in New York spielt, sieht man eigentlich nur in wenigen Einstellungen: Ein Stück verschwommene Skyline durch ein Fernster gefilmt, die typischen spitz zulaufenden Wassertanks auf den Dächern. Ansonsten: Lange Hotelflure, die Zimmer, in denen Rhona ihrer Arbeit nachgeht, geschmackvoll, steril. Anonyme, monochrome Straßen. Beton, Spiegelungen von Menschen im Glas. Eine gesichtslose und tote Stadt, die vom (filmischen) Großstadtdschungel vergangener Dekaden kaum weiter entfernt sein könnte. Hier wuchert nichts mehr. Alles Leben ist sorgfältig parzelliert, eingetopft wie die Pflanzen auf dem Dach, die Rhona einmal mit Irene pflegt, eingezwängt zwischen Betonwände – wie der Mann, der in einer Szene relativ zu Beginn in einer Ecke onaniert, klein, am unteren Bildrand. Ein durchaus treffendes Bild für den Verlust von Intimität, um den es geht. Überhaupt, wie das „befriedete“ und durchgentrifizierte New York nach Giuliani und 9/11 dargestellt wird, als unwirtlicher und lebensfeindlicher Ort, leuchtet mir durchaus ein. Nur leider ist in diesem Film alles so exakt durchdacht und kontrolliert, dass er sich genausowenig entfalten kann, wie die Menschen in dieser Stadt. Die Frau, die in einer Nicht-Stadt ein Nicht-Leben mit einer Nicht-Arbeit und Nicht-Beziehungen führt, das alles ist viel zu sehr, viel zu eindeutig ausgeklügeltes Konzept, als dass man sich wirklich damit auseinandersetzen müsste.

Dass der Film auf einen Beziehungsversuch zwischen Rhona und Johnny hinaus will, ist schnell klar, dass das nicht gut gehen wird, auch. Allerdings verliert der Film mit dem entscheidenden plot point dann auch zunehmend die Kontrolle über die Botschaft, die ihm doch so am Herzen liegt. Es soll wohl um absolute körperliche und geistige Entfremdung gehen, um eine entmenschlichte Lebenswelt, in der jede Beziehung, die den Warenwert der Menschen und ihrer Körper auf dem Arbeitsmarkt transzendieren würde, keinen Platz hat. Dass das wenig originell ist, ist dabei das kleinere Problem. Das viel größere ist, dass der Film nichts tut, um zu verhindern, dass der Zuschauer es sich wesentlich einfacher macht. Dass er eine andere – nun wieder individualpsychologische – Lesart ermöglicht, nach der der psychisch kranke Mann einfach nur ein gemeingefährlicher Irrer ist, und die Frau, die sich in vollkommen unprofessioneller Weise auf ihn einlässt, auch zumindest ein bisschen selbst schuld ist an der Gewalt, die ihr widerfährt.

Bleibt ein souverän inszenierter und erzählter, aber letzten Endes sehr zwiespältiger Debüt-Film, der guten Ansätzen keinen Raum lässt sich zu entfalten. Wenn die Regisseurin lernt, im entscheidenden Moment die Kontrolle zu behalten und in anderen einfach mal los zu lassen, kann da durchaus noch was kommen.

Nymph()maniac Teil 1

(F / B / DK / D 2013, Regie: Lars von Trier)

F**** dich, mein Herze, rein
von Janis El-Bira

Beinahe von Anfang an hat sich das Zyklische, genauer: die Trilogie als äußere Form der Verklammerung thematisch verwandter Filme im Schaffen Lars von Triers herausgebildet: „Europa“, „Golden Heart“ und „USA“ …

Beinahe von Anfang an hat sich das Zyklische, genauer: die Trilogie als äußere Form der Verklammerung thematisch verwandter Filme im Schaffen Lars von Triers herausgebildet: „Europa“, „Golden Heart“ und „USA“ heißen die Sujets der – manchmal unvollständigen, oft unterbrochenen – Dreiergruppen, die von „The Element of Crime“ (1984) bis „Manderlay“ (2005) einen Werkkatalog unterteilen, dessen Urheber selbst gerne mit der manisch-unbalancierten Phasenhaftigkeit seiner Existenz kokettiert. Mit „Nymph()maniac“ stellt man nun fest, dass auch „Antichrist“ (2009) und „Melancholia“ (2011) ihren Drilling gesucht und bekommen haben. Sie fügen sich – äußerlich zusammengehalten von der großen Schmerzensfrau Charlotte Gainsbourg – zu einer Trilogie der Psychopathologien, das heißt vor allem der Depressionen zusammen. Hatte Trier bislang von deren scheiternden Gegengiften („Antichrist“) und ästhetischen Sublimierungen („Melancholia“) gehandelt, so greift er nun mit „Nymph()maniac“ zunächst erneut auf die Selbstpeinigungen der katholischen Seele zurück, die einige seiner Filme in den 1990er-Jahren geprägt hatten. Auch bei Trier will diese unsterbliche Seele die ihr angedichtete Superiorität gegen einen aufdringlichen Leib verteidigen, der sich zwar ungeniert an den milchspritzenden Brüsten der Gottesmutter mystisch verzücken darf, ansonsten aber in Sack und Asche gehen soll. Der große Wurf allerdings, den der neue Film wagt und vollauf gewinnt, ist – so zumindest präsentiert es sich nach dem ersten der beiden Teile – die Verschaltung dieses Sünden-/Buße-/Exerzitien-Diskurses mit den Rationalisierungsentwürfen der europäischen Aufklärung. Hier knüpft „Nymph()maniac“ auf den ersten Blick direkt an seine Vorgänger an. Doch wo dort die Grenzen moderner Kurierungsvorhaben ausgestellt („Antichrist“) oder die „schöne“ Depression selber als Therapeutikum der letzten, nämlich der Todesangst herangezogen wurde („Melancholia“), gehen hier der religiöse Sündenfall und die kühl herleitende Ätiologie einer psychischen Kondition das oftmals ausgesprochen vergnügliche Spiel des Sich-gegenseitig-ins-Wort-Fallens ein.

Die beiden Seiten dieses Versuchs, der von Anfang an den Film in Gestalt einer Rahmenerzählung in distanzierende Klammern setzt, sind Joe (Charlotte Gainsbourg), die selbstdiagnostizierte Nymphomanin, und Seligman (Stellan Skarsgård), ein alleinstehender liberal-jüdischer Gelehrter. Seligman liest Joe von der Straße auf, wo sie blutend am Boden liegt, bringt sie in seine Wohnung und versorgt und bettet sie. Väterlich an ihrem Krankenlager sitzend, lässt Seligman sich Joes Geschichte erzählen – kommentiert, sortiert und hinterfragt. Joe hält sich selbst für einen „schlechten Menschen“, der der Sünde verfallen ist, weil sie mit unzähligen Männern geschlafen, ihre Gefühle missbraucht und Leben zerstört und zugleich den eigenen Leib („Mea vulva, mea maxima vulva!“) und dessen Befriedigung zum Maßstab aller Dinge gemacht habe. Seligman, der Therapeut, reagiert unwirsch auf Konzepte wie „Sünde“ oder Wertungen entlang der Schemata „gut“ und „schlecht“. Er sucht stattdessen nach Gründen und literarischen Analogien für Joes unstillbaren Appetit auf jenen harten und schwitzig-kalten Sex, den der Film in Rückblenden in allen denkbaren (…?) Details vorführt. Dabei wird der ungeheuer schmale Körper der „Young Joe“ (Stacy Martin) von den Schlange stehenden Männern jeglicher Altersgruppen, Bildungsschichten und Körpermaße bis zur völligen Erschöpfung beackert, begrabscht, beschlabbert, gedehnt und gespreizt. Immer und überall – auf der Zugtoilette, dem Küchentisch, der Wäschekammer des Krankenhauses, wo einige Stockwerke darüber Joes feinfühliger Vater (Christian Slater) in seinem eigenen Unrat erbarmungswürdig vor sich hinstirbt. Bisweilen wird parallel auf drei Split-Screens leinwandfüllend geleckt, gepackt und gestoßen. Nur: Es ist nie genug. Als Joe mit Jugendfreund Jerôme (Shia LaBeouf) im Bett ist, von dem sie bekommt, was gefürchtet und doch im Sinne der Luststeigerung begehrt ist (nämlich ausgerechnet ein ansonsten unbekanntes Gefühl von Verliebtheit), verlangt sie: „Fill all my holes.“ Er kann es nicht, sie spürt nichts mehr. Das Loch bleibt tief, dunkel und leer.

Die Form von „Nymph()maniac“ vermittelt dabei durchwegs kühn zwischen der Ebene der direkten Involvierung in Joes Leidens- und Lustgeschichte, an deren Gesicht und Körper(öffnungen) die Kamera bisweilen zu kleben scheint wie die gaffenden Männer selbst, und einer virtuos darüber montierten Schicht der Einrückungen und Ironisierungen, die meist durch Seligmans sachliche, aber unnachgiebig neugierige Kommentare initiiert werden. Einmal erzählt Joe von der Zahl der Stöße, die ihr erster Liebhaber beim Sex zu Wege brachte („3+5“). Seligman kann nur hinzufügen: „Those are Fibonacci numbers.“ Deren Folge wird alsdann zur Verdeutlichung ins Bild eingeblendet. Das ist kein Manierismus, sondern Teil einer Doppelstrategie, die Triers Film fährt: Versinnlichung der Wissenschaft und Verwissenschaftlichung der Sinnlichkeit. Der bis zum letzten Hemdknopf abgeschnürte Seligman und „sex addict“ Joe bilden die menschliche Zweifaltigkeit, die nun wie zusammengerauft in der schützenden Behausung einer bürgerlichen Wohnstube aufeinander hockt. Die letzten Endes hoffnungsvolle Dimension dieser Paarung entschlüsselt sich jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt vollständig, wenn Joe von Seligman lernt, die Typen ihrer Sexualpartner entlang des Bach-Chorals „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ als Bass, Mittelstimme und Cantus firmus zu identifizieren und im Nachhinein neu zu erleben.

Das aber bedeutet nicht, dass Stimulanz in „Nymph()maniac“ im Kopf beginnt oder dort beginnen muss, um „besser“ zu sein. Dafür ist Lars von Trier im Wesentlichen zu sehr ein Gegenaufklärer. Vielmehr muss das, was der Geist dem Leib sublimiert und als Rettung vor dem Nichts anbieten könnte von diesem zuvor erspürt, vorgekaut, geschluckt und wohlmöglich wieder ausgespuckt worden sein: Joe muss weiter erzählen, Seligman verlangt es. Ihre „Seelenrettung“ beginnt in diesem Sinne erst und gerade mit der Totalkalibrierung und Vollauslotung ihrer Leiblichkeit: Wer heil sein will, muss verstehen, sagt der Aufklärer Seligman; wer erlöst sein will, der „Sünde“ tätig das Wasser abgraben, so der Katholik Lars von Trier. Die aber besteht in letzter Instanz – und das wussten selbst Augustinus und Nietzsche gleichermaßen – keineswegs in der Leiblichkeit des Leibes, sondern im Nihilismus. Mit „Nymph()maniac“ arbeitet Lars von Trier weiter beharrlich an dessen Überwindung, bekennt sich dabei aber zugleich mit Nietzsche und indem er den Porno in Kunst, Rammstein in Bach und den Horror in eine Komödie verwandelt zu seiner vorläufigen Gültigkeit. Daraus kündigt sich schon nach „Volume I“ die aberwitzigste Großfilmtat seit langem an: Ein erotoman-nietzscheanisch-katholischer Bildungsroman in allgemeiner Absicht.

Handschlag mit dem Teufel – General Roméo Dallaire und der Völkermord in Ruanda

(CA 2004, Regie: Peter Raymont)

Hilflos dem Völkermord zusehen
von Michael Schleeh

Der Dokumentarfilm des kanadischen Filmemachers Peter Raymont erzählt die Geschichte des Völkermords in Ruanda im Jahr 1994, dabei sich an den Ereignissen des biographischen und 2008 bei Zu Klampen auf …

Der Dokumentarfilm des kanadischen Filmemachers Peter Raymont erzählt die Geschichte des Völkermords in Ruanda im Jahr 1994, dabei sich an den Ereignissen des biographischen und 2008 bei Zu Klampen auf Deutsch erschienen Buches des ehemaligen Kommandanten der UN-Friedensmission, General Roméo Dallaire, orientierend. Bei den Massakern durch die Milizen wurden in weniger als 100 Tagen 800.000 Tutsi auf brutalste Weise getötet – Männer, Frauen und Kinder. Die Internationale Gemeinschaft pflegte, so gut es ging, wegzusehen und verweigerte Dallaire die Mittel und das Personal, die ein absolut notwendiges und effektives Eingreifen möglich gemacht hätten. De facto wurde sogar das Kontingent der belgischen Truppe abgezogen, da die Gefahr für Leib und Leben für die Soldaten angeblich zu groß wurde. Die Zivilbevölkerung wurde somit ihrem Schicksal überlassen. Dallaire hingegen widersetzte sich den Befehlen seiner Vorgesetzten und blieb. Schlecht ausgerüstet und ohne finanzielle Mittel war es ihm aber nicht möglich, in angemessener Weise zu agieren. Jahre später, nach der partiellen Überwindung seiner posttraumatischen Belastungsstörung und der tiefen Depression, begann er die Ereignisse aufzuschreiben, auf denen dieser Dokumentarfilm basiert.

Ein Kamerateam begleitete Dallaire im Jahr 2004 bei seiner Rückkehr nach Ruanda, wohin er mit seiner Frau als Privatperson reiste. „Um die Dämonen zu vertreiben“, wie er an einer Stelle sagt. Dies will ihm freilich nicht gelingen, zu sehr haben ihn die schrecklichen Ereignisse geprägt. Leichenberge, wohin man sieht, Enthauptungen mit Machetenschlägen, Ermordungen von Kindern auf offener Straße. Männer, die sich ihrer Untaten brüsten. Der Geruch der Verwesenden sei unerträglich gewesen, er sei unabwaschbar bis in die Poren der Haut vorgedrungen.

Der Film arrangiert verschiedene Materialbestände: Bilder von 2004, die den Kern der Dokumentation darstellen und in denen das Team Dallaire an die alten Orte seines Wirkens begleitet, Archivmaterial von 1994, das zur Illustrierung dazwischenmontiert wird, sowie Zeitdokumente wie Zeitungsartikel, mitgeschnittene Ansprachen aus dem Radio usw.

Mag man am Anfang des Films noch seine Zweifel haben – Aufstieg des Fliegers in die Wolken, theatralische Musik, der weißhaarige Heilsbringer aus dem Westen –, so verflüchtigen sich die Vorbehalte angesichts der Integrität Dallairs, der umsichtigen Kontextualisierung der Konfliktsituation sowie der Vielzahl der porträtierten Akteure und ehemaligen überlebenden Wegbestreiter. Einen Hang zum Pathos indes kann der Film bis zum Ende nicht überwinden, wie auch Dallaire bisweilen in etwas blumigen Ausschmückungen vom „Bösen an sich“ und vom „Teufel in Menschengestalt“ spricht. Zudem hätte man sich gewünscht, dass die Dokumentation formal etwas gewagter wäre; auch Namenseinblendungen wie in Fernsehfeatures haben bedauerlicherweise ihren Weg in den Film gefunden. Diese formalen Vorbehalte verblassen allerdings angesichts der Enthüllungen dieser Katastrophe und der beschämenden Rolle, die die westlichen „Supermächte“ in diesem Konflikt einnahmen. Ein schon alleine wegen seiner politischen Brisanz definitiv sehenswerter und schockierender Film.

Mother

(KR 2009, Regie: Bong Joon-ho)

Kalt wie Eis
von Harald Steinwender

Die verwitwete Hye-ja (Kim Hye-ja) verdient mit Kräuterhandel und illegalen Akupunktursitzungen ihren Lebensunterhalt. Eines Abends kehrt ihr geistig behinderter Sohn Do-jun (Won Bin) betrunken und verwirrt nach Hause zurück. Am …

Die verwitwete Hye-ja (Kim Hye-ja) verdient mit Kräuterhandel und illegalen Akupunktursitzungen ihren Lebensunterhalt. Eines Abends kehrt ihr geistig behinderter Sohn Do-jun (Won Bin) betrunken und verwirrt nach Hause zurück. Am nächsten Morgen wird die Leiche einer Minderjährigen gefunden. Für die Provinzpolizei steht schnell fest, dass der naive Sonderling der Täter ist. Als Hye-ja erkennt, dass sie von Polizei und Justiz keine Hilfe zu erwarten hat, nimmt sie ihre eigenen Ermittlungen auf. Mit unabsehbaren Folgen.

In kalten, blaugrauen Farbtönen erzählt der südkoreanische Erfolgsregisseur Bong Joon-Ho („The Host“ / „Gwoemul“; 2006) einen düsteren Thriller aus dem gegenwärtigen Südkorea. Die Suche nach dem Frauenmörder bildet den Ausgangspunkt für ein virtuos inszeniertes Vexierspiel über Wahrheit, Schuld und Sühne. Dabei vermischt Bong scheinbar unvereinbare Genres, pendelt zwischen Psychothriller à la Hitchcock, sozialrealistischem Melodram, klassischem Whodunit, schwarzem Humor und griechischer Tragödie.

Neben der innovativen Verschränkung von Genreelementen überrascht „Mother“ durch unerwartete Plottwists, irritierende Stilbrüche und eine barocke Bildsprache, die den Werken von Regiekollegen wie Park Chan-wook („Oldboy“ / „Oldeuboi“; 2003) und Na Hong-jin („The Chaser“ / „Chugyeogja“; 2008) in nichts nachstehen. Da wird trotz des ernsten Rahmens eine Schlägerei als Slapstickeinlage inszeniert oder ein Rechtsanwalt trägt der verzweifelten Mutter in einer Karaokebar singend das Angebot der Staatsanwaltschaft vor. Zunehmend gehen Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung, Traum und Phantasie ineinander über. In einer Hommage an Ingmar Bergmans „Wilde Erdbeeren“ („Smultronstället“; 1957) vermischen sich verschiedene Zeitebenen innerhalb einzelner Einstellungen. Am Schluss steht eine surreale Volte, deren Interpretation dem Publikum überlassen bleibt.

„Mother“ ist, ähnlich wie Bongs thematisch verwandter „Memories of Murder“ („Salinui chueok“; 2003), weit mehr als ein meisterhaft erzähltes Kriminalstück. Mit seinem jüngsten Film entwirft der Regisseur ein ernüchterndes Komplementärbild zu dem parabelhaften Vorgänger, der in den 1980er Jahren, der Ära der Militärdiktatur, angesiedelt war. Selbst heute, im demokratisch-kapitalistischen Südkorea foltert die Polizei, Gerechtigkeit scheint unerreichbar, Egoismus und Konsumismus grassieren. Einzig die aufopferungsvolle Mutter und ihr einfältiger Sohn scheinen in dieser emotional vergletscherten Welt unschuldig. Doch auch dies erweist sich als Illusion.

Trotz aller postmodernen Verspieltheit gelingt es Bong zusammen mit seinen exzellenten Schauspielern, psychologisch glaubhafte Figuren zu entwerfen. Allen voran beeindruckt die in Korea populäre Volksschauspielerin Kim Hye-ja als zugleich sanfte wie unerbittliche Mutter. Der höchst sehenswerte Film wurde dafür auf einer Vielzahl von nationalen und internationalen Filmfestivals ausgezeichnet.

Diese Kritik ist zuerst erschienen auf www.br.de

Crystal Fairy

(CL 2013, Regie: Sebastián Silva)

Selbstverlust auf Meskalin
von Nicolai Bühnemann

Es gibt Filme, denen nähert man sich am besten, indem man anfängt zu beschreiben, was sie nicht sind. „Crystal Fairy and the Magical Cactus and 2012“ ist solch ein Film. …

Es gibt Filme, denen nähert man sich am besten, indem man anfängt zu beschreiben, was sie nicht sind. „Crystal Fairy and the Magical Cactus and 2012“ ist solch ein Film.
Erzählt wird von dem jungen Amerikaner Jamie (Michael Cera), der von Santiago aus mit seinem chilenischen Kumpel Champa und dessen beiden Brüdern („The Silva Brothers“, die drei Brüder des Regisseurs) an den Strand fährt, um sich am halluzinogenen Saft des San Pedro-Kaktus zu berauschen. Mit von der Partie ist die exzentrische Mega-Esoterikerin Crystal Fairy (Gaby Hofman), die Jamie auf einer Party kennen lernte und die er – nur aufgrund übermäßigen Kokain-Konsums und zu seinem großen späteren Bedauern – einlud, mitzukommen. Damit ist die Handlung einigermaßen erschöpfend wiedergegeben.

Der junge chilenische Regisseur Sebastián Silva macht aus dieser Geschichte weder ein didaktisches Drogen-Drama noch einen neo-hippie’esken psychedelischen Trip. Weder wird vor der Drogenfalle gewarnt, noch die Bewusstseinserweiterung zelebriert. Sicherlich ist „Crystal Fairy“ auch nicht das, was der deutsche Untertitel verspricht: „Hangover in Chile“. Zwar behauptet Silva nicht, dass ans Meer zu fahren, um sich mit Meskalin vollzudröhnen – das dazugehörende Gerede über Huxleys „The Doors of Perception“ hin oder her – irgendwie „spiritueller“ wäre, als zum Zocken, Saufen und Ficken nach Vegas zu fahren, noch sind seine spät-adoleszenten Protagonisten irgendwie „reifer“ als die ewig pubertierenden Männer des „Hangover“-Franchise. Auch gibt es Fäkal- und Körperbehaarungs-Humor („Crystal Hairy“) durchaus, aber keineswegs genug, um einen Film zu tragen, der eh viel zu gechillt ist, um etwa mit echten Ex-Profi-Box-Weltmeistern oder ihren Tigern ins Bett zu gehen (davon, dass sein Budget solche Mätzchen schwerlich zulassen würde, einmal ganz abgesehen.) Am ehesten noch erinnerte mich „Crystal Fairy“ – vor allem stilistisch – an eine radikal reduzierte Version von „Y tu mamá también“. Nur hat er auch mit dessen düster-pessimistischem Coming-of-Age oder seinen kritischen soziopolitischen Untertönen nichts am Hut.
Bleibt also die Frage, wie er diese Geschichte erzählt. Und warum.

Es geht in „Crystal Fairy“ zunächst einmal einfach um zwei Realitätsflüchtlinge. Die Realität, vor der sie fliehen, spielt dabei keine Rolle, dass es sie nach Chile verschlagen hat, nur bedingt. Jamie ist der egozentrische Gringo, der sich durch Chile kifft und kokst. Sein Talent, kein Fettnäpfchen auszulassen, ist erstaunlich. Eine Lehrstunde in kulturellem Unverständnis. Der San Pedro wird für ihn zu einer regelrechten Obsession; er jagt den magischen Kaktus, wie die Konquistadoren von einst Eldorado.

Crystal Fairys esoterisches Weltbild ist, nicht erst vom Ende des Films her betrachtet, eine Strategie, niemanden an sich heran zu lassen, nichts von sich preiszugeben. Auf ihre Idee hin teilen die Fünf am Abend vor dem Kaktus-Konsum ihre tiefsten Ängste miteinander. Von ihr kommt ein bizarrer Redeschwall über Reinkarnationen, das Gefängnis des Ego und das Ende der Welt laut dem Maya-Kalender. In ihrer Welt, in der „alles mit allem eins“ ist, ist sie offenbar so uneins mit sich selbst, dass sie keinerlei Möglichkeit hat, wirklich von sich und ihren Gefühlen zu sprechen.

Daran, dass diese beiden Charaktere ziemlich nervig sind, dass man als Zuschauer – zumindest ging es mir so – wohl kaum Lust bekommt, mit ihnen zu verreisen, hängt sich der Film zum Glück nicht auf. Er nimmt sich viel Zeit, sie uns trotzdem näher zu bringen. Ohne eine ausführliche Lebensgeschichte oder ausufernde Psychologisierungen legt er doch Wert darauf, dass es – wie bei allen Menschen – Gründe gibt, warum sie sind, wie sie sind. Die drei Brüder sind wesentlich sympathischer, spielen aber letztlich keine große Rolle.

Gefilmt ist das mit der Handkamera in oft recht langen, halbnahen Einstellungen. Hektische Schwenks und Jump-Cuts zeigen die Anspannung in und zwischen den Figuren. Indie-Film-business as usual gewiss, aber gerade, dass er seine kleine Geschichte etwas anders erzählt als man es kennt, ohne den Anspruch zu haben, das Rad neu zu erfinden, macht den Reiz von „Crystal Fairy“ aus. Außerdem passt das Mäandern der Kamera gut zu diesem an Zielstrebigkeit relativ desinteressierten Road-Movie.

Dabei gibt es auch immer wieder den einen oder anderen inszenatorischen Höhepunkt. Toll ist die Szene an einer Raststätte an der Landstraße, die Michael Cera vor der kargen Weite der nordchilenischen Wüste zeigt. Meist so kadriert, dass kein Himmel zu sehen ist, nur Sand und Felsen, sind die Einstellungen von einer wunderbar spröden Schönheit und sie sagen mehr über die Verlorenheit der Figur – nicht so sehr in einem fremden Land als in der eigenen Biographie –, als es tausend Worte könnten.

Noch toller ist der San Pedro-Trip am Strand. Die Handkamera schweift, gleitet, tastet, streichelt über Körper und Gesichter, über Sand und Wellen, über Felsen und Muscheln. Um die subjektive Visualisierung eines halluzinogenen Drogen-Rausches, wie man sie im Kino seit den Sechzigern – seit „Easy Rider“ oder Roger Cormans „The Trip“ etwa – immer wieder gesehen hat, geht es aber gerade nicht. Zu sehen sind letztlich einfach ein paar junge Leute, die arg verpeilt am Strand rumliegen, sich in die Wellen stürzen oder durch die Felsen straucheln. Die Form aber gewinnt diesen Bildern eine schier unbändige Zärtlichkeit ab.

Am Ende am Lagerfeuer bricht etwas auf. Crystal Fairy lässt für einige Augenblicke die Performance fallen, die als Schutzwall zwischen ihr, der eigenen Geschichte und den Menschen, die sie umgeben, steht. Zur großen Katharsis, zum handelsüblichen Happy End führt das nicht. Danach muss sie weiter fliehen und Michael Cera bleibt alleine im Bild zurück.
Ein schöner kleiner Film, der in Abgrenzung zu all dem, was er nicht macht, schon aus einer Art Verweigerungshaltung heraus also, auf sehr entspannte Weise zu sich findet.

Der auf dem Sundance Film Festival im vergangenen Jahr ausgezeichnete Film liegt nun bei Label Bubble Gum auf DVD und Blu-ray vor. Es gibt DTS HD-5.1-Ton auf Deutsch und im englischen Original. Die deutschen Untertitel sind leider nur für die Passagen, in denen Spanisch gesprochen wird. Das Bonusmaterial ist mit einem ziemlich kurzen und ziemlich nichts sagenden Behind-the-scenes und einem Trailer mal wieder kaum der Rede wert.

Beat Street

(USA 1984, Regie: Stan Lathan)

Paint or Money?
von Nicolai Bühnemann

Die Bronx in den frühen Achtzigern: Ein paar Freunde machen sich auf den Weg auf eine Party in einem leer stehenden Haus. Für die Elektrizität wird der nächste Strommast angezapft. …

Die Bronx in den frühen Achtzigern: Ein paar Freunde machen sich auf den Weg auf eine Party in einem leer stehenden Haus. Für die Elektrizität wird der nächste Strommast angezapft. Kenny sorgt am Mikrofon und an den Turntables für Musik, während sein kleiner Bruder Lee auf der Tanzfläche halsbrecherischen Break Dance hinlegt. Ramón (A. K. A. Ramo), passionierter Sprüher, hatte seinen großen Auftritt schon auf dem Hinweg, als er Fotos von dem vergangene Nacht produzierten whole car, einem über die gesamte Fläche besprühten U-Bahn-Waggon machte. Chollie hingegen, der vierte im Bunde, macht sich hauptsächlich Gedanken darüber, wie er seinen Freunden helfen kann, ihr Talent zu Geld zu machen.

„Beat Street“ ist ein Film über die Hip Hop-Kultur, die sich in den 1970er Jahren im Süden der New Yorker Bronx entwickelte. Vor dem Hintergrund eines komplett von der sozialen Entwicklung abgehängten, größtenteils sich selbst überlassenen Stadtteils, stellt die Entstehung des Hip Hop, der im Verlaufe der Siebziger aus dem DJing auf Block Partys entstand und bis Ende der Dekade um die Kunstformen des Rappens (MCing), des Graffiti-Writings und des Break Dance erweitert wurde, in mehrerer Hinsicht eine Utopie dar. Zum einen legt sie Zeugnis ab von der Kreativität der Abgehängten und Ausgeschlossenen. Zum anderen sollte eben diese ungezügelte Kreativität die Jugendlichen davon abhalten, die Probleme ihres Alltags mit Drogen zu betäuben. Sie anregen, Konflikte nicht mit Gewalt, sondern im battle mit der Sprühdose, am Mikrofon oder auf der Tanzfläche auszutragen.

Um 1980 dann belegte der immense Erfolg von Rappern und Gruppen wie The Sugar Hill Gang, Kurtis Blow oder Grandmaster Flash and the Furious Five die kommerziellen Möglichkeiten, die vor allem die Musik bot: Die Subkultur aus dem Ghetto als Neuauflage des amerikanischen Traums.

„Beat Street“ nun handelt vor allem von dieser Kommerzialisierung des Hip Hop. Dem Weg von den Block Partys in die angesagten Diskos der Stadt. Aus dem mit mühsam ersparten technischem Equipment ausgestatteten Kinderzimmer ins professionelle Tonstudio. Vom breaking for pennies an der Straßenecke auf die große Bühne.

Das wird schon in der Genese des Films sichtbar. In den Jahren zuvor hatten sich der semidokumentarische Spielfilm „Wild Style“ (1982) und die fürs Fernsehen produzierte Doku „Style Wars“ (1983) mit Hip Hop beschäftigt, wobei das Hauptaugenmerk auf Graffiti lag. In „Beat Street“ finden sich deutliche Bezüge zu beiden Filmen, er bindet diese aber eben schon in den Rahmen einer professionellen B-Film-Produktion, die offensichtlich ein größeres Publikum ansprechen soll. Als Produzent zeichnet unter anderem Harry Belafonte verantwortlich. Unter den Sponsoren finden sich Puma und Kangol. Während im Mittelpunkt Tanz und Musik stehen, wofür vieles, was im Rap und Break Dance 1984 Rang und Namen hatte, vor der Kamera versammelt wurde, tritt die Handlung um den Graffiti-Künstler Ramo eher an den Rand. Dabei ist bezeichnend, dass es gerade ihm nicht gelingt, seine immer selbstzerstörerische Leidenschaft mit dem Privatleben in Einklang zu bringen. Als er schließlich das ultimative Objekt seiner Begierde erreicht, den nagelneuen weißen U-Bahn-Zug, den er zuvor jagte wie Kapitän Ahab den weißen Wal, nimmt es ein böses Ende mit ihm. Gerade die anarchischste, am schwierigsten den Gesetzes des Marktes und dem Streben nach Erfolg zu unterwerfende Ausdrucksform des Hip Hop muss in einem Film wie „Beat Street“ buchstäblich auf der Strecke bleiben.

Die sozialen Realitäten klingen durchaus immer wieder an, ohne dass der Film allzu sehr in die Tiefe gehen würde. Da ist der ältere Bruder von Kenny und Lee, der, wie man aus Erzählungen erfährt, Opfer der Ganggewalt wurde. Da ist Ramo, der nicht zuletzt daran scheiterte, seine eigenen Vorstellungen vom Leben mit denen seiner puertoricanischen Familie in Einklang zu bringen. Da ist sicherlich nicht zuletzt das leer stehende Haus, das zunächst für illegale Partys, später dann als illegaler Wohnraum genutzt wird. Dabei fällt auf, dass der Film sichtlich darum bemüht ist, auch das jüngste Publikum zu erreichen: Keine Waffen und Drogen, kein Sex und kaum Gewalt, die F- und S-Wörter lassen sich an einer Hand abzählen.

Die vehementeste Kritik jedoch findet sich in den Song-Texten, vor allem im wunderbaren und ziemlich bissigen „Santa’s Rap“ von The Treacherous Three, sowie im bloßen Zeigen der heruntergekommenen Bronx-Straßen. In der eindrücklichsten dieser Szenen werden während des finalen Titel-Songs die Bilder von Abrisshäusern, verfallenden Brown-Stones, noch tristeren Sozialbautürmen und müllübersäten Brachen in einer beinahe antonioniesken Montage-Sequenz zusammengefügt. Mit ihrem dokumentarischen Duktus sind diese Aufnahmen noch weit entfernt von den stereotypen Bildern des armen Amerika, die im Verlauf der Achtziger Einzug in den Mainstream hielten, sei es in Eddie Murphy-Blockbustern oder Michael Jackson-Videos, und über die Georg Seeßlen einmal schrieb, sie seien „ungefähr so wahr wie Disneyland“. „Beat Street“ ist auch hier das, was ihn, von den künstlerischen Schauwerten einmal abgesehen, am Interessantesten macht: Ein Umbruchs-Film.

Dass, diplomatisch ausgedrückt, weder das Drehbuch noch die Schauspieler oscarverdächtig sind, dass der Film nicht durchgehend gut gealtert erscheint, weil vieles, was 1984 vielleicht (so ganz sicher bin ich mir da auch nicht) noch cool wirkte, zwischenzeitig eher unfreiwillige Komik entwickelt hat, tut eigentlich kaum etwas zur Sache.

Für hip hop heads und solche, die es werden wollen, für jeden, der sich für Jugendkulturen und ihre Kommerzialisierung interessiert, führt an „Beat Street“ kein Weg vorbei. Aber auch jedem, der einfach nur den mit immer wieder verblüffender Akrobatik über den Boden wirbelnden Körpern, bunt besprühten U-Bahnen, treibenden Break Beats, oder dem auf wunderbar naive Weise sozialkritischen Pathos früher Rap-Songs etwas abgewinnen kann, sei dringend ein Blick empfohlen.

Capelight Pictures hat den Film am 31.01.2014 neu auf DVD und erstmalig auf Blu-ray veröffentlicht. Als Bonusmaterial gibt es leider lediglich einen Trailer, der allerdings ziemlich interessant ist, weil kaum etwas von dem Material, das er zeigt, im fertigen Film zu sehen ist. Mächtig ins Zeug gelegt hat man sich dagegen bei der Restaurierung. Die bunten Züge und immer wieder regelrecht bizarren Achtziger-Dekors und –Klamotten erstrahlen auf der Blu-ray in satten Farben. Der Sound wurde komplett in DTS-HD neu abgemischt und ist außerdem in PCM-Stereo verfügbar, jeweils auf Deutsch oder Englisch. Untertitel gibt es ebenfalls in Deutsch und Englisch entweder für den kompletten Film oder nur für die Songtexte. Übrigens ist das Menü wirklich todschick.

Population Boom

(AT 2013, Regie: Werner Boote)

Wenn jemand eine Reise tut ...
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein mitreißendes Manifest zum Schlagwort Überbevölkerung , österreichisch-charmant vorgetragen von Werner Boote ('The Plastic Planet'). Ein Dokumentarfilm, wie ich ihn niemals sah. Boote selbst ist das, was mit dem Film …

Ein mitreißendes Manifest zum Schlagwort Überbevölkerung , österreichisch-charmant vorgetragen von Werner Boote ('The Plastic Planet'). Ein Dokumentarfilm, wie ich ihn niemals sah. Boote selbst ist das, was mit dem Film dokumentiert wird. Seine Reise durch die Welt, von den Bankern der Weltbank bis oben auf dem Dach des überbevölkerten Zuges in Bangladesch. Aufrecht steht er da, kein Angsthase mehr, festgehalten von den anderen Dachreisenden. Und wieder spricht er vom Dach des fahrenden Zuges runter davon, was ihm das Abenteuer bedeutet. In Ichform.

Worum gings? Boote, Forschungsreisender, geht den Spuren der gefürchteten Überbevölkerung nach. Er ändert seine vorgefasste Meinung. Ich glaube nicht an Überbevölkerung, hatte John Lennon vor 42 Jahren in die US-TV-Kamera gesagt, und damals war die Erdbevölkerung nur halb so groß wie heute. Henry Kissinger hatte in den frühen siebziger Jahren die Bevölkerungsreduktion zur Priorität der US-Außenpolitik erhoben. Sorge der USA war, dass mit der wachsenden Zahl der Erdbewohner im Kalten Krieg auch die Zahl der Kommunisten wachsen würde. Dort, in den überbevölkerten Ländern war der Westen aufgerufen, die Zahl der potentiellen Feinde klein zu halten. Boote trifft in Mexiko den Rechtsanwalt, der Mexiko bei den Reduktionsverhandlungen vertrat. Wir erfahren, dass die Schrumpfung bis auf den heutigen Tag vonstatten geht. Pro Frau 2,1 Kinder. Und das nicht mehr unter antikommunistischem Vorzeichen, sondern unter wirtschaftlichem. Jetzt werden für die Frau Kapazitäten frei für den Konsum. Gut für die globale Wirtschaft und das Weltfinanzsystem.

Boote fährt weiter. In Peking macht sich ein Politiker Sorgen wegen der bevorstehenden Überalterung. Wer wird sich um die Alten kümmern? In Tokio das gleiche Problem. Auch in Afrika. In Kenia trifft Boote einen Massai, der ihm ganz plastisch von einem Berg aus vorführt, wie menschenleer das Land ist. Afrika zeichnet sich durch besonders niedrige Bevölkerungsdichte aus. Das Problem ist aber, dass die Deutsche Bank ebenso wie die großen Konzerne den Menschen das Land raubt.

Boote ruft jeden von uns auf, sich gegen Umweltverschmutzung, Ressourcenausbeutung Klimawandel, ungerechte Verteilung und Landraub stark zu machen. Im Film haben Betroffene das Wort: Die UNO muss endlich aufhören, Spielball der materiell reichen Nationen zu sein. Die EU-Staaten sollten sich auf die zunehmend ältere Bevölkerung vorbereiten. Und er selbst erlebt in Bangladesch die Solidarität der Reisenden auf dem Dach des überfüllten Eisenbahnzuges. Er steht. Er wird festgehalten. Er ist in Fahrt, und alle lachen.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: KONKRET 04/2014

Verbotene Filme

(D 2014, Regie: Felix Moeller)

Nazi-Filme für alle!
von Dietrich Kuhlbrodt

Ja, richtig, die Vorführung von Filmen wie „Jud Süß“ (1940) war 1945 von den Besatzungsmächten verboten worden. Wenige Jahre später war damit Schluss. Die Filmarchive behalten sich jedoch bis auf …

Ja, richtig, die Vorführung von Filmen wie „Jud Süß“ (1940) war 1945 von den Besatzungsmächten verboten worden. Wenige Jahre später war damit Schluss. Die Filmarchive behalten sich jedoch bis auf den heutigen Tag vor, an wen und für welchen Zweck im Einzelfall eine pädagogisch begleitete Vorführung stattfinden kann. Damit soll jetzt aber auch Schluss sein? Nazi-Filme für alle? Der Film „Verbotene Filme“ favorisiert die neue Freiheit, von der die Koproduzenten, RBB und HR, ja nur profitieren können.

„Jud Süß“-Regisseur Veit Harlan war bereits vor sechs Jahren in Felix Moellers Dokumentarfilm „Harlan – im Schatten von Jud Süß“ nicht schlecht weggekommen. Bei Felix Moeller strahlen sie jetzt im neuen Licht, die alten Nazi-Filme. Alt? I wo! Die zahlreichen Filmausschnitte und –sequenzen kommen frisch abgetastet (Blueprint) geschichtslos auf Monitor und Leinwand. Hallo, hinsehen! Alles voll designed, gestylt, Werbeästhetik von heute! Die Filmförderungsanstalten machten’s möglich.

Und nun zum Inhalt. Der Film bemüht sich, Meinung und Gegenmeinung zur unbeschränkten Vorführung der Filme zu Wort kommen zu lassen. Worte gegen die Welt der bunten Bilder. Er befragt Angehörige der Ufa-Stars. Besucher von „Jud Süß“ sagen ihre Meinung; volle Säle in Paris (Sorbonne) und in Jerusalem (Yad Washem), auch in deutschen Filmmuseen (München, Berlin). Die Befürworter scheinen in der Mehrheit zu sein. Regisseur Oskar Roehler („Jud Süß – Film ohne Gewissen“, 2010) begleitet jetzt die „Verbotenen Filme“ mit vorsichtigen Statements: „Wissen vorenthalten -, weiß nicht, ob es so schlau ist“. Damit ist in der Tat die Frage aufgeworfen, ob es nicht schlauer ist, statt etwas zu verbieten, die Medienkompetenz zu stärken – grade bei jungen Leuten. Die FSK, die Filme für Jugendliche freigibt oder nicht, hat reiche Erfahrung gesammelt mit den Gewaltfilmen aus den USA. Ich komme ins Nachdenken. Wie wärs mit Nazifilm-Kompetenz? Christiane von Wahlert von der FSK sagt, ja, falls die Orientierungsphase junger Zuschauer abgeschlossen sei. Naja. Moellers Film gibt Anlass, die Frage nach der Kompetenz des Zuschauers neu zu stellen. Ist jedem Erwachsenen klar, wie manipulativ die Mittel sind, die Filme einsetzen – damals in der Goebbels-Zeit, heute in der Marketing-Zeit?

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: KONKRET 3/2014

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

True Heart Susie

(USA 1919, Regie: D.W. Griffith)

Von Mädchen und Kühen
von Nicolai Bühnemann

Susie sitzt auf der Weide und klagt Daisy ihr Leid, weil sie sonst niemanden hat, dem sie es klagen könnte. Susie ist – so verkündet es der Untertitel des Films …

Susie sitzt auf der Weide und klagt Daisy ihr Leid, weil sie sonst niemanden hat, dem sie es klagen könnte. Susie ist – so verkündet es der Untertitel des Films und so werden es die Zwischentitel nicht müde zu betonen – ein einfaches Mädchen. Daisy ist eine Milchkuh. Der Film widmet dem Mädchen und der Kuh einige Einstellungen, die formvollendetes Zeugnis von der eigentümlichen Poesie ablegen, die „True Heart Susie“ auszeichnet, einen Film des Kinopioniers D. W. Griffith von 1919. Schweren Herzens beschließt Susie Daisy zu verkaufen, damit Bill aufs College gehen kann. Bill ist ein Junge aus ärmlichen Verhältnissen (macht ihn das eigentlich zu einem „einfachen Jungen“? Oder ist die Einfachheit in diesem Film, der sich mit den Texttafeln zu Beginn auf ziemlich abstruse Weise feministisch gibt, doch ganz und gar Mädchen-Sache?) und von klein auf Susies großer Schwarm.

Susies Tante, bei der sie lebt, hält gar nichts von den Grillen ihrer Nichte. Allein die verstorbene Mutter hat verfügt, dass Susie entscheiden kann, was sie mit ihrem Besitz tut. Also wird Daisy verkauft und Bill geht auf die Uni. Dass Susie es ist, die für seine Bildung aufkommt, weiß Bill nicht. Er glaubt, sein Wohltäter sei ein Mann mit Auto, Anzug und Schnurrbart, der zu Beginn kurz auftaucht, vollmundige Versprechungen macht, um dann für immer aus dem Dorf und dem Film zu verschwinden.

Am College hat es Bill zunächst nicht leicht. Den unliebsamen Spitznamen Butter bekommt er aufgedrückt, weiß sich aber im Faustkampf dagegen zu erwehren. So wird Butter wieder zu Bill, kehrt schließlich als Sir William zurück ins Dorf und zur treuherzigen Susie, die natürlich auf ihn wartet. Sie bleibt nämlich immer: die treuherzige Susie.

Beim Eisessen deutet William auf die beiden Frauen neben ihnen an der Bar. Herausgeputzt, geschminkt und gepudert sind sie erst im Bildhintergrund zu sehen, gucken neugierig und herausfordernd rüber zu der Kamera und dem Paar, das keins ist. Dann gönnt der Film ihnen eine Nahaufnahme. Mit dieser Sorte Frauen, lässt William Susie wissen, flirten die Männer nur, heiraten tun sie dann aber genau die anderen: „the plain and simple ones.“ Susie, plain and simple wie sie ist, versteht das grundfalsch.

Bald schon muss sie jedoch herausfinden, was die Blickstrukturen dieser Szene dem Zuschauer längst verraten haben: Dass sich nämlich das männliche Begehren gerade nicht auf die Frauen richtet, die zum Heiraten da sind. Dass auch Susie ein Begehren hat, scheint Bill gar nicht zu merken. Also takelt sie sich auf, rüstet sich zum Kampf gegen die „Schminke- und Puder-Brigaden.“ Nur sind Kampf und Sex nicht die Rolle, die der Film ihr zudenkt, sondern Aufopferung und Enthaltsamkeit.

William ehelicht schließlich Bettina, genau die Sorte Frau, die Männer seinen eigenen Worten zufolge nicht heiraten. Griffith lässt das vermeintliche Eheglück zweimal ablaufen: Zuerst in der Wunschvorstellung Williams – da betüddelt Bettina ihn liebevoll und bekocht ihn festlich (dass der Film diese biedere Männerphantasie als biedere Männerphantasie darstellt, ist natürlich verdammt interessant), dann in der Realität: Da ist sie mies gelaunt, unaufmerksam – und das kalte Fleisch trocken und zäh. Auch mit der Treue hat sie’s nicht. Einmal schleicht sie sich nachts aus dem Haus, um auf eine Party zu gehen. Auf dem Rückweg im Kabrio gerät sie in ein Unwetter, einen gewaltigen Regen, der das Bild zu fluten, die Kadrierung aufzuweichen scheint.

Übrigens: Für die Zeit nicht unüblich, sind die schwarzweißen Bilder von „True Heart Susie“ mit einer Farbschicht überzogen: Während die Außenaufnahmen bläulich schimmern, sind die Innenräume in Sepia gehalten. So auch in der Parallelmontage – wie so viele technisch-formale Neuerungen im Kino der damaligen Zeit eine Innovation, die auf Griffith zurückgeht –, die abwechselnd Bilder von Susie zuhause und Bettina im Auto, im sintflutartigen Regen zeigt. Mit den zwei Frauen stellt Griffith auch bräunlich-gelb und blau, Innen und Außen, Tempo und Starre, die beengende Stube und die vollkommen entfesselten Naturgewalten gegeneinander. Dass man kaum nachdenken muss, um zu sehen, welche der beiden faszinierender ist, legt ein wunderbares Zeugnis davon ab, wie die Wucht der Bilder das Korsett der bigotten Moral der Erzählung sprengt.

Ist der große Regen die vorgezogene Erfüllung der berühmten Prophezeiung, die Travis Bickle mehr als ein halbes Jahrhundert später aussprechen sollte? Jedenfalls für Susie ein wohlmeinender Eingriff von oben. Bettina liegt mit einer Grippe darnieder und stirbt wenig später. Nun ist der Weg frei, auf dem Susie und William in der letzten Einstellung Hand in Hand aus dem Film gehen.

Allein der letzte Zwischentitel legt uns nah, dass wir diesem Bild, diesem Märchen glauben mögen – oder auch nicht.

„True Heart Susie“ liegt seit 24. 01. 2014 erstmals in Deutschland bei absolut Medien auf einer leider denkbar schmucklosen DVD vor. Sie bietet den Film in restaurierter Fassung mit deutschen Untertiteln zu den englischen Zwischentiteln, sonst nichts.

Alois Nebel

(CZ 2011, Regie: Tomás Lunák)

Fahrplanlektüre
von Wolfgang Nierlin

Einsam und in sich gekehrt, gewissenhaft und schweigsam versieht der Fahrdienstleiter Alois Nebel (Miroslav Krobot) seinen Dienst an dem fiktiven kleinen Bahnhof in Bílý Potok, einem abgelegenen Ort an der …

Einsam und in sich gekehrt, gewissenhaft und schweigsam versieht der Fahrdienstleiter Alois Nebel (Miroslav Krobot) seinen Dienst an dem fiktiven kleinen Bahnhof in Bílý Potok, einem abgelegenen Ort an der tschechoslowakisch-polnischen Grenze. Hier im Altvatergebirge treibt ein rauer Herbstwind die Blätter vor sich her, immer wieder prasselt ein fast sintflutartiger Regen in die Landschaft und aus den dunklen Wäldern bewegen sich die Lichtkegel der Züge auf den Bahnhof zu. Tomáš Luňáks Animationsfilm „Alois Nebel“, eine im Rotoskopie-Verfahren realisierte Adaption einer populären tschechischen Comic-Trilogie, etabliert von Anfang an eine düstere, melancholische Film Noir-Stimmung, die noch verstärkt wird durch harte, expressive Schwarzweiß-Kontraste. In einem lakonischen, leisen Tonfall inszeniert der tschechische Debütant Bilder der Verlassenheit und der schweren, schmerzlichen Erinnerung.

Monoton rekapituliert eine Stimme aus dem Off die poetisch klingenden Namen der Zielorte und Abfahrtszeiten der Züge. Die Lektüre alter Fahrpläne entspanne ihn, sagt der Titelheld, der außer seinem Kater niemanden hat. Doch manchmal erschüttern grelle Lichtblitze die Bilder und konfrontieren den Protagonisten des Jahres 1989 mit einem Kindheitstrauma: Im Juni 1945 erlebt der kleine Alois die Vertreibung der Sudetendeutschen, er sieht, wie auf dem Bahnsteig ein Mann erschossen wird und der Mörder die junge Frau des Getöteten misshandelt.

Im Umbruchjahr der „neuen Zeit“ kehren die dunklen Schatten der Vergangenheit zurück. „Manchmal überkommt mich ein Nebel“, sagt der zunehmend depressiver werdende Alois, der bald in einer psychiatrischen Anstalt landet, die einem Foltergefängnis ähnlich ist, und der nach seiner Entlassung die Arbeit verliert. Alois begegnet aber auch einem stummen Mann (Karel Roden), der sich an dem Täter von einst rächen will, und einer verwitweten Frau namens Květa (Marie Ludvíková), zu der er Zuneigung und Vertrauen fasst. Indem Tomáš Luňák von dramatischen Einzelschicksalen erzählt, wendet er sich zugleich mit sanftem Nachdruck gegen das kollektive Vergessen. Die deutschsprachigen Namen der Bahnhöfe werden dabei zu stummen Zeugen der Geschichte, während die Züge einmal mehr menschliches Leid metaphorisieren.

Venezianische Freundschaft

(I / F 2011, Regie: Andrea Segre)

Verriegeltes Leben
von Wolfgang Nierlin

Zunächst arbeitet Shun Li (Zhao Tao) in einer römischen Nähfabrik, die von Chinesen betrieben wird. Die junge Mutter muss bei ihrem ominösen Arbeitgeber Schulden abbezahlen, damit ihr 8-jähriger Sohn, der …

Zunächst arbeitet Shun Li (Zhao Tao) in einer römischen Nähfabrik, die von Chinesen betrieben wird. Die junge Mutter muss bei ihrem ominösen Arbeitgeber Schulden abbezahlen, damit ihr 8-jähriger Sohn, der beim Großvater lebt, nach Italien nachkommen kann. Man spürt den psychischen Druck, dem Shun Li ausgesetzt ist und den sie still erträgt, ohne Näheres über die Hintergründe des Frondienstes zu erfahren. Dafür richtet der italienische Soziologe und Dokumentarist Andrea Segre in seinem Spielfilmdebüt „Venezianische Freundschaft“ („Io sono Li“) den Blick auf ausbeuterische Wohn- und Arbeitsverhältnisse. Shun Li „arbeitet, bezahlt und wartet“, wie sie selbst einmal sagt. Als unauffällige Arbeitssklavin steht sie gewissermaßen unter Aufsicht und Kontrolle. Weder kann sie frei über ihre Zeit noch über ihren Verdienst verfügen. Ihr Leben erscheint verriegelt. Halt findet sie allein in der Poesie des antiken Dichters Qu Yuan und den empfindsamen Briefen, die sie sehnsuchtsvoll an ihren kleinen Sohn schreibt.

Dann wird die disziplinierte Arbeiterin mit der offenen, freundlichen Ausstrahlung unvermittelt aus dem hässlichen römischen Vorort in die venezianische Lagunenstadt Chioggia, dem wenig touristischen „Klein-Venedig“, versetzt, wo sie die „Osteria Paradiso“ betreiben soll. Das Lokal wird hauptsächlich von einheimischen Fischern frequentiert, die sich anfangs über die Sprach- und Kommunikationsprobleme der unerfahrenen Fremden lustig machen. Doch ist der Spott der eingeschworenen Männergemeinschaft nicht böse gemeint. Einer von ihnen, der als Dichter apostrophierte Bepi (Rade Sherbedgia), freundet sich sogar mit Shun Li an. Er, der vor dreißig Jahren selbst aus Jugoslawien emigrierte, teilt mit ihr die Herkunft aus dem Fischermilieu, ähnliche Fremdheitserfahrungen und nicht zuletzt eine seelenverwandte Empfindsamkeit.

Andrea Segre entwickelt entlang dieser berührenden Freundschaft, die bald Anfeindungen ausgesetzt ist, einen (schon im doppeldeutigen Originaltitel mitschwingenden) interkulturellen Dialog, der immer wieder überraschende Schnittmengen aufweist und von gegenseitigem Respekt und Verständnis getragen wird. Dabei werden selbst die Unterschiede mitunter humorvoll integriert. Still und zurückhaltend erzählt Segre aber auch vom sozialen Druck, der auf dieser freundschaftlich-zärtlichen „Vater-Tochter-Beziehung“ lastet und schließlich zu einem ebenso geheimnisvollen wie schmerzlichen „Ausgleich“ führt. Aus stimmungsvollen Bildern, in denen eine wärmende Wintersonne die kühlen Nebelschleier über der Lagune lichtet, schimmern immer wieder Refugien der Ruhe und Geborgenheit, die doch nicht von Dauer sein können: Wie jene geliebte Fischerhütte auf dem Meer, die schließlich – als Reminiszenz an die schwimmenden Teelichter zu Ehren des Dichters Qu Yuan – in einem Feuer der Erinnerung verbrennt und zugleich leuchtet.

Nanuk, der Eskimo

(USA 1922, Regie: Robert J. Flaherty)

Kampf im ewigen Weiß
von Nicolai Bühnemann

Einmal besucht der Inuit Nanuk mit seiner Familie die Handelsstation, das „große Iglo des weißen Mannes“. Ein Händler führt ihm ein Grammophon vor, jene sonderbare Apparatur, mit der der weiße …

Einmal besucht der Inuit Nanuk mit seiner Familie die Handelsstation, das „große Iglo des weißen Mannes“. Ein Händler führt ihm ein Grammophon vor, jene sonderbare Apparatur, mit der der weiße Mann seine Stimme „einfängt“. Ungläubig und verwundert zunächst, dann sichtlich belustigt beäugt Nanuk das Gerät von allen Seiten, geht mit dem Ohr ganz nah heran an den Lautsprecher. Als ihm sein Gegenüber erklärt, dass das, was er hört, auf den Platten gespeichert sei, mustert er diese eindringlich. Auf der Suche nach der Lösung dieses für ihn undechiffrierbaren Rätsels beißt er sogar hinein. Diese Szene kann in mehrfacher Hinsicht als Schlüsselszene von „Nanuk“, dem ersten Film des „Vaters des Dokumentarfilms“, Robert Flaherty, aufgefasst werden. Zum einen dreht Flaherty hier das Verhältnis des westlichen Blickes auf die Inuit, das ja schon in der Entstehungsgeschichte des Films festgeschrieben ist, ein Stück weit um. Das Fremde und Befremdliche ist hier nicht der „Eskimo“, sondern jenes Artefakt einer Zivilisation, von der er räumlich und kulturell kaum weiter entfernt sein könnte. Zum anderen aber – und vielleicht noch wichtiger – nähert sich in dem Film die Kamera, jene andere sonderbare Apparatur, mit der der weiße Mann das Bild des Menschen einfängt, seinem Protagonisten so, wie dieser sich dem Grammophon: respektvoll, fasziniert und vor allem überaus neugierig.

Flaherty hatte in der ersten Hälfte der 1910er Jahre mehrere Forschungsreisen in die kanadische Arktis unternommen, auf denen unter anderem Filmmaterial entstand, das sich mit dem Leben der Inuit befasste, teilweise die einzigen Begleiter auf seinen Expeditionen. Dieses Material verbrannte jedoch nach dem Schnitt in Toronto. Flaherty beschloss eine weitere Reise in den Norden zu unternehmen, nun mit dem einzigen Ziel einen Film zu drehen, der anhand einer Familie, bestehend aus Nanuk, der eigentlich Allakariallak hieß, seiner Frau Nyla und ihrer Kinder, das Leben der Eskimos portraitieren sollte. Die Aufnahmen zu „Nanuk“, der 1922 der erste Dokumentarfilm in abendfüllender Länge war und als Pionierarbeit des ethnologischen Films gilt, entstanden in den Jahren 1920 und 1921.
Auch wenn die Zwischentitel sich sichtlich bemühen, die Hauptfigur zum Helden zu stilisieren, auch wenn die Geschichte vom Überlebenskampf im ewigen Eis – eher lose – in eine Narration eingebunden wird, das hauptsächliche Anliegen des Films bleibt doch der unvoreingenommene Blick auf das alltägliche Leben der Inuit: Darauf, wie sie jagen, essen, spielen und ihre Iglos bauen (übrigens: dass es innerhalb der Iglos für die Eskimos „warm“ ist, weil darin die Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt, also etwa 30 Grad über denen außerhalb liegen, war bei mir irgendwie aus dem Grundschul-Erdkunde-Unterricht hängen geblieben. Wie aber das Iglo mit Schnee, der in der Arktis in etwa die Konsistenz von Sand hat, verputzt wird, und dass es in ihm auch Fenster aus Eisplatten gibt, gehört zu den faszinierenden Details, von denen es in „Nanuk“ viele zu entdecken gibt.)

Die schwierige Gratwanderung, die dem Film nicht nur gelingt, sondern die er auch wie eine Leichtigkeit aussehen lässt, ist die, dem Leben in der Arktis eine poetische, immer wieder atemberaubende Schönheit abzugewinnen, ohne es dadurch zu verklären. So vermeidet Flaherty auch die beiden Extreme des westlich-kolonialistischen Blickes auf das Andere. In „Nanuk“ sind die Inuit weder bösartig, „primitiv“ und „dumm“, noch werden sie zu „Guten Wilden“ verklärt, deren Leben als Projektionsfläche für die Paradies-Phantasien zivilisationsmüder Okzidentalen herhalten könnte. Bei allen kulturellen und „zivilisatorischen“ Unterschieden zum Zielpublikum des Films sind sie in erster Linie Menschen. Menschen, die sich nicht so sehr im Einklang wie im ständigen Kampf mit einer unerbittlichen Natur befinden. Die weite Reisen auf sich nehmen müssen, auf der Suche nach Nahrung, gepeinigt von peitschenden Polarwinden, die das Erreichen des rettenden Iglos unmöglich machen können. Der Film findet für diesen Kampf ein eindrucksvolles Bild, das zugleich ein schönes Beispiel ist, dafür wie in „Nanuk“ das Dokumentarische über einen allzu platten Symbolismus siegt: Nanuk jagt eine große Robbe, die als Säugetier ja immer wieder Luft holen muss. An einem Loch im Eis, an der sie das tut, lauert er ihr auf. Wir sehen nun Nanuk, in dieser Szene wie in vielen anderen ein grauschwarzer Fleck im ewigen Weiß der Umgebung, minutenlang beim erbitterten Kampf mit seiner für uns unsichtbaren Beute unter dem Eis.

Hieraus wird der große Jäger und wohl bekannteste Eskimo der Filmgeschichte als Sieger hervorgehen. Der „echte“ Allakariallak jedoch ist wenige Jahre nach der Entstehung des Films auf der Jagd verhungert (so will es zumindest Flaherty, laut anderer Quellen starb er an Tuberkulose). „Nanuk“, der erste ethnologische Dokumentarfilm, setzt ihm ein Denkmal und macht zugleich in seinem unvoreingenommenen und bewertungsfreien Umgang mit Alterität ein Versprechen, das in den letzten neun Jahrzehnten vom Genre nur selten eingelöst wurde.

Der Film liegt seit 24. Januar bei absolut Medien komplett neu überarbeitet auf DVD vor. Auch wenn die neue HD-Abtastung das Alter des Materials kaum verbergen kann, ist die Bildqualität doch alles in allem exzellent. Zu den englischen Zwischentiteln gibt es wahlweise deutsche oder französische Untertitel. Als Bonus findet sich ein Fernseh-Interview, in dem Robert Flahertys Witwe Francis in den Fünfzigern über „Nanuk“ spricht. Sie betont, das Flaherty, der jahrelang unter den Inuit lebte, sie nicht nur sehr gut kannte, sondern auch liebte. Außerdem gibt es einige interessante Gedanken zu den Filmen ihres Mannes, die an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst liegen, der nicht nur die Menschen, von denen seine Filme handelten, sondern auch die Kamera immer weiter erforschen musste. Mit einer Bildergalerie, die Fotos aus einer Expeditionsmappe zeigt, und Arktis-Aufnahmen von 1914 wird das für einen Film dieses Alters erfreulich umfangreiche Zusatzmaterial abgerundet. Bleibt als einziges kleines Manko einer ansonsten rundum gelungenen Veröffentlichung die, dem Sprichwort nach ja zuletzt sterbende Hoffnung, dass man auch bei absolut Medien das mit den Wende-Covern irgendwann lernt.

The End of Time

(CH / CA 2012, Regie: Peter Mettler)

A Time Odyssey
von Lukas Schmutzer

Der Klappentext der DVD verspricht ein „Filmessay“ „an den Grenzen dessen, was ausdrückbar ist“, wobei noch einmal ausdrücklich darauf hinzuweisen wäre, dass die Grenzen des eindeutigen Ausdrucks bereits vom Filmtitel …

Der Klappentext der DVD verspricht ein „Filmessay“ „an den Grenzen dessen, was ausdrückbar ist“, wobei noch einmal ausdrücklich darauf hinzuweisen wäre, dass die Grenzen des eindeutigen Ausdrucks bereits vom Filmtitel weit hinter sich gelassen werden: „The End of Time“, was ist denn das? Der Tod? Der Urknall als das Versagen aller wissenschaftlichen Vorstellungskraft? Das tranceartige Versinken im Zeitenlauf? Der Titel konfrontiert mit einer Wendung, die des Kontexts bedarf. Wenn schwere Begriffe wie Ende und Zeit zusammenkommen, klingen letzte, große Fragen an, was wiederum zur Frage führt, ob die zu erwartende Kontextstiftung noch Film oder nicht schon vielmehr Essay sein wird – was wäre solch abstrakten Begriffen angebrachter als ein Konvolut philosophischen Dickichts vor dem Horizont des Sinns von Sein?

Peter Mettler lenkt seinen Film in eine andere Richtung: „Man muss nicht alles, was man sieht, benennen können“, heißt es in den ersten Minuten, als mannigfaltige Wolkenmassen über die Bildfläche ziehen, walzen und schwingen, gleich nachdem Joseph Kittinger vom mittlerweile Red-Bull-vorbelasteten Archivmaterial ein weiteres Mal in dieselben gestürzt wurde. Den Kontext stellen in „The End of Time“ in erster Linie die bewegten Bilder her, die an unterschiedlichsten Drehorten gefilmt wurden und von Interviews der dort lebenden, forschenden oder arbeitenden Menschen kommentiert, oder, wenn man so will, mit Worten benannt werden, die so vage bleiben, dass sie noch dem skeptischen Anfangszitat gerecht werden. In den einander so fremd erscheinenden Orten sucht Mettler in Bild wie in Sprache Gleichförmigkeiten, die ein symbolisches Gerüst als einzigen Ankerpunkt erschaffen, der die etwas in der Luft hängenden einzelnen Filmepisoden davor bewahrt, in die Wolken fortzutreiben. So gehen zum Beispiel die Teilchenbewegungen am Schluss der CERN-Besichtigung in ein Schneegestöber über. Und wenn kurz darauf die flüssigen Lavalandschaften Hawaiis – die im einen Moment lasziv anmuten und im nächsten schon unheimlich – bis an die Küsten fließen und zu Gestein gefrieren, so denkt man an den „Feuerball“, mit welchem ein Forscher am CERN das frühe Universum am Anfang der Zeit beschreibt, das sich über die Jahrmilliarden zu seinem heutigen Zustand abgekühlt hat.

In der starren Architektur des CERN tummeln sich Menschen, während die vulkanischen Gegenden auf Hawaii selbst fließen: Ausgerechnet in einem Film über das Ende der Zeit findet man zunächst soviel Bewegung. Immer ist etwas unruhig, und sind es nicht die gezeigten Objekte, so ist es die Kamera, die schwenkt – als ob gerade die bewegten Bilder durch den Lärm des Gezeigten das titelgebende Ende bereiteten. Im Umkehrschluss müsste der Lauf der (Film-)Zeit eigentlich umso mehr im Stillstand gewahr werden. Zum Ausdruck bringen dies die Aufnahmen von Detroit, das als Hochburg der Autoindustrie schon lange vor den Krisen der letzten Jahre von Abwanderung betroffen ist. Geleerte Fabrikshallen haben dort leere und vereinsamte Straßenzüge zur Folge, die Mettler mitunter in stillstehenden Bildern eingefangen hat, welche nicht nur eine stillgelegte Produktion vermitteln, sondern auch die unerträgliche Kehrseite des Alltags einer Epoche, der von Konzernen wie Ford eine neue Zeiterfahrung verschafft wurde. Im Kontrast dazu beschwört ein Elektronikkonzert den Moment des Jetzts; freilich können die Bilder und Töne davon nur offen lassen, ob es mit diesem Alltag bricht oder ihn bloß übertüncht. Indessen wird auf der anderen Seite der Erdkugel Zeit als Trug entlarvt, der in der Meditation aufgehoben werden kann – aber wieder sehr spürbar wird in der Todes-Erfahrung, auf die daraufhin hinduistische Begräbnis- und Trauerrituale verweisen. Spätestens an dieser Stelle fragt sich, ob ein einziger Zeitbegriff all diesen Erfahrungen, all diesen Kontexten gerecht wird, und was eine Aneinanderreihung all jener überhaupt zu tun imstande ist.

Im letzten Filmdrittel folgt wieder der technische Blick, jetzt in die Weiten des Alls, das ebenso wenig wie der Mikrokosmos der Teilchenphysiker zum Stillstand gelangt. Der Sonnen-Feuerball macht wieder die Kreisform prominent, die in der Gestalt des Teilchenbeschleunigers bis zu jener der Mandalas vorgefunden wurde, und die schließlich in ein symbolisch aufgeladenes Finale führt, das den Eindruck erweckt, als hätte Stanley Kubrick gemeinsam mit Douglas Trumbull den Sprung von Felix Baumgartner inszeniert. Was bleibt also zuletzt? Wunderschöne Aufnahmen und interessante Einzelepisoden, während der Versuch des Films, Zusammenhänge zwischen diesen herzustellen, mitunter sonderbare metaphysische Züge annimmt.

Die DVD ist mit der Originalversion des Films, zuschaltbaren Untertiteln in französischer und deutscher Sprache sowie dem Filmtrailer ausgestattet.

All Is Lost

(USA 2013, Regie: J.C. Chandor)

Das Leben als Sysiphusarbeit
von Wolfgang Nierlin

Nach der Vorstellung hat man das Gefühl, dass etwas fehlt in diesem Film, den sein Regisseur um eine Leerstelle herum erzählt. Diese ist tatsächlich leer – eine Tabula rasa für …

Nach der Vorstellung hat man das Gefühl, dass etwas fehlt in diesem Film, den sein Regisseur um eine Leerstelle herum erzählt. Diese ist tatsächlich leer – eine Tabula rasa für die Projektionen des Zuschauers. „All Is Lost“ von J. C. Chandor handelt vom verzweifelten Überlebenskampf eines alten Mannes, der mit seinem Boot in den endlosen Weiten des Meeres fast schutzlos den Naturgewalten ausgesetzt ist. Doch weder erfährt man in diesem mit wenigen Ausnahmen stummen Film etwas über seine Herkunft noch über die Umstände oder Ziele seiner Reise. Das Woher und Wohin seines Segeltörns bleiben ausgespart. Diese Reduktion des handelnden Individuums auf eine existentielle Ausnahmesituation sowie auf die profunden Techniken seines entschlossenen und besonnenen Kampfes verleiht dem Film den Charakter einer Beispielerzählung oder Parabel. Trotz atemloser Spannung und faszinierender Bilder wirkt das Drama deshalb unterkühlt; und unser Blick auf den namenlosen Helden bleibt emotional distanziert.

Daran ändert auch die Popularität Robert Redfords nichts, der den einsamen Protagonisten eindrucksvoll verkörpert. Die konkrete Körperarbeit in der Auseinandersetzung mit den Elementen, gestützt von umfangreichen Kenntnissen und Erfahrungen, bildet gewissermaßen das Zentrum des filmischen Interesses. Zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankt wiederum das psychische Erleben des Mannes, der in schneller, von einem dynamischen Schnitt unterstützter Folge mit einer Reihe schier unlösbarer Aufgaben und Probleme konfrontiert wird. Erst muss er ein Leck abdichten, das seiner stattlichen, gut ausgerüsteten Yacht von einem verloren gegangenen Container zugefügt wird; kurz darauf zerstört ein gewaltiger Sturm das Boot und setzt es unter Wasser; schließlich treibt „unser Mann“ in einem notdürftig ausgestatteten Rettungsboot verloren in der blauen Weite.

Wie der Schiffbrüchige selbst in ausweglos erscheinender Lage immer wieder Lösungen findet, ohne dabei oder zuvor in Panik auszubrechen, macht diesen Charakter so beeindruckend wie sympathisch. Doch die Dramaturgie des Films lässt auf kurze Phasen der Entspannung und Erleichterung stets neue Störungen, Gefahren und Frustrationen folgen. Dieser stetige Wechsel innerhalb der Filmerzählung, der mitunter zu absurden Situationen führt, vermittelt zugleich die dahinter stehende philosophische Vorstellung des Lebens als Sisyphusarbeit: als eine lange, endliche Kette letztlich scheiternder Bemühungen. Immer wieder gibt es Bilder aus der Vogel- oder Unterwasserperspektive, die diese existentielle Verlorenheit im Angesicht einer übermächtigen Natur ausdrücken. Einsam und gefangen erscheint dann „unser Mann“. Vor allem in der ambivalent gestalteten, für Interpretationen offenen Schlussszene vermittelt der Film aber auch ein Gefühl kosmischer Einheit.

A Touch of Sin

(CN 2013, Regie: Jia Zhangke)

Verwandlung im Zeitraffer
von Ilija Matusko

Was passiert, wenn Geld zum alleinigen Schmiermittel der Gesellschaft wird, zeigt der neue Film von Jia Zhangke. „A Touch of Sin“ erzählt von einem Land im Vorwärtsmodus und von Menschen, …

Was passiert, wenn Geld zum alleinigen Schmiermittel der Gesellschaft wird, zeigt der neue Film von Jia Zhangke. „A Touch of Sin“ erzählt von einem Land im Vorwärtsmodus und von Menschen, die dabei unters Rad kommen. Chinas Schnellspurt vom Kommunismus zum Turbokapitalismus hält hier nur ein Versprechen bereit: Die Verwandlung des Menschen in ein Raubtier.

Ein Unternehmensboss fliegt im Privatjet zu seinen verarmten Untertanen und lässt sich wie ein Nationalheld feiern. In einem Nobelhotel verkleiden sich Provinzfrauen als Kämpferinnen der Volksbefreiungsarmee, mit Nummern und sexy Outfit, sie stehen Spalier für Geschäftsmänner, deren Reichtum jedes Verhalten legitimiert. Zwei Männer wollen den Sex mit einer Rezeptionistin in einem Saunabordell erzwingen und schlagen auf sie ein, weil jene sich dem ökonomischen Prinzip verweigert – als habe sie deren Ehre beleidigt.

Hörige des Profits lassen das Land ausbluten und treiben zu immer mehr Leistung an. Zentral ist das Motiv des geschundenen Pferdes, das blutig gepeitscht wird, weil es nicht weiterwill. Auch die Hauptfiguren im Film können und wollen nicht mehr. In vier Episoden, die in unterschiedlichen Provinzen Chinas spielen und auf wahren Begebenheiten beruhen, zeigt „A Touch of Sin“, wie sich der Unwille in Gewalt entlädt. Ein Mann läuft Amok gegen den Jetbesitzer und die korrupte Dorfelite, ein Wanderarbeiter stürzt sich mit Parolen des Leistungsdrucks im Ohr vom Balkon einer Arbeitsbaracke, die Rezeptionistin greift zum Messer, ein Mittelloser wird zum raubenden Mörder.

Der Film verdichtet Momente, in denen der gesellschaftliche Druck so hoch wird, dass die Wut im Menschen explodiert. Es folgen Momente brutaler Gewalt als letztes, selbstbestimmtes Mittel gegen die Logik der Ausbeutung und Demütigung. Hier nähert sich der Regisseur für Sekundenbruchteile an die Martial Arts-Ästhetik einer erhabenen Körpervernichtung an. Dann sind wir zurück im sozialen Dilemma. Die blutgetränkte Gewalt lässt weder wiedererlangte Ordnung oder erfüllte Rache im Täter zurück, sondern nur Zerstörung.

Vor den Ausbrüchen begleiten wir die Figuren in ihrem Taumel. Der Kamerastil bringt die Verstörung, die unter der Oberfläche brodelt, bemerkenswert zum Ausdruck: Immer wieder setzt sich die Figur vor der Unschärfe der Umgebung ab, nur um im nächsten Moment selbst in diese hineingezogen zu werden. In Momenten innerer Verzweiflung, kurz vor dem blitzartigen Wutausbruch. Dann geht die Kamera nah heran und schraubt sich um die Perspektivlosen herum, so als könne sie von irgendeiner Seite in das Innenleben der Figuren hineinsehen.

Jia Zhangke zeichnet in „A Touch of Sin“ eine Gesellschaft, die sich im Kampf um Bereicherung weitestgehend von Moralvorstellungen und von ihrem alten Erbe befreit hat. Und es scheint so, als hätte die Geschwindigkeit, mit der China dem Reichtum und dem Profit hinterherjagt, an manchen Stellen ein so großes Loch aufgerissen, dass es nur mit Gewalt und Willkür ausgefüllt werden kann. Irgendetwas ist auf dem Weg verloren gegangen. Symptomatisch steht dafür das Bild des Dorfes, das in gelähmter Andacht beisammen steht, um Bruchstücke ihrer Kultur auf einer Wanderbühne zu betrachten. „A Touch of Sin“ überzeugt durch symbolträchtige, atmosphärische Bilder; choreografiert zwischen beklemmender Sozialdramatik und fiktiver Überhöhung. Die selbstermächtigende Ästhetik hält auch immer wieder überraschende Momente voller Poesie bereit. Nur der – auch hier vorgenommene – Rückschluss auf die gesellschaftliche Relevanz führt zu einem Problem.

Bilder aus China kommen über die mediale Vermittlung zu uns. Derzeit beherrscht das „China im Umbruch“ unser Denken. Berichte über den Wandel füllen Zeitungen und Magazine. „Wer wissen will, was in China geschieht, muss sich seine Filme anschauen“ lässt Die Zeit über den Regisseur wissen. Jedes (kulturelle) Produkt aus China wird derzeit zum Gradmesser der chinesischen Lage. Der Film wird hierzulande dann auch als faszinierendes Werk gefeiert, das einen Einblick in Chinas Innenleben bietet.

Dass der Film an vielen Stellen plakativ wirkt, das Geschehen in Nebensträngen erzählerisch auseinanderfällt oder die Dialoge nur für den Zuschauer abgespult werden, sind filmische Schwächen, die man dabei gerne ausblendet. Vielleicht ist diese Kritik an der Rezeption des Films einer unzulässigen europäischen Sichtweise auf den Film geschuldet. Eine politisch aufgeladene Beweihräucherung, die den Film als Vermessung des modernen Chinas lobt, ohne sich wirklich mit den behandelten Themen auseinandersetzen zu können, wäre dann aber ebenso fragwürdig.

Zumindest müsste sie sich die Frage gefallen lassen, ob hier nicht vielmehr die Unmöglichkeit, sich mit der politischen Wirklichkeit auseinanderzusetzen, kompensiert wird. Auch wenn Rückschlüsse auf die Beschaffenheit der gesellschaftlichen Landschaft durch das Fernrohr der medialen Vermittlung legitim und notwendig sind, so ist diese Lesart der chinesischen Kulturerzeugung vor allem eines: Der Hinweis auf unser Bedürfnis, mehr vom unbekannten Riesen im Osten zu erfahren.

Eine weitere Kritik zu 'A Touch of Sin' gibt es hier: Link

The Conjuring – Die Heimsuchung

(F / USA 2013, Regie: James Wan)

Auf der Geisterbahn
von Harald Steinwender

Carolyn und Roger Parren (Lili Taylor und Ron Livingston) beziehen Anfang der 1970er Jahre mit ihren fünf Töchtern ein altes Herrenhaus in Rhode Island. Doch der Traum vom ruhigen Landleben …

Carolyn und Roger Parren (Lili Taylor und Ron Livingston) beziehen Anfang der 1970er Jahre mit ihren fünf Töchtern ein altes Herrenhaus in Rhode Island. Doch der Traum vom ruhigen Landleben wird für die Großfamilie schnell zum Alptraum: Nachts sind merkwürdige Geräusche zu hören, der Familienhund wird tot aufgefunden und übernatürliche Mächte attackieren die Familienmitglieder. In ihrer Not wenden sich die Parrens an die beiden Parapsychologen Ed und Lorraine Warren (Patrick Wilson und Vera Farmiga). Die Geisterjäger raten ihnen zu einem Exorzismus.

Während die großen Hollywoodproduktionen immer teurer und aufwendiger, aber auch immer vorhersehbarer und austauschbarer werden, feiert der B-Film im Horrorgenre seit einigen Jahren erstaunliche Erfolge. Filme wie Daniel Stamms „The Last Exorcism“ („Der letzte Exorzismus“; 2010), James Wans „Insidious“ (2011) und James DeMonacos „The Purge“ (2013) entstanden für lächerlich geringe Budgets zwischen 1,5 und 3 Millionen US-Dollar und spielten jeweils zwischen 70 und 100 Millionen an den Kinokassen ein. Mit solchen Gewinnspannen können kein Superheldenfilm und kein Blockbuster mithalten, die bestenfalls das vier- bis sechsfache ihres enormen Budgets einspielen.

Unangefochtener König des neuen B-Horrorfilms ist der australische Regisseur James Wan, dem 2004 mit „Saw“ ein Überraschungserfolg gelang, der es bis heute auf sechs Fortsetzungen und zahlreiche Imitationen gebracht hat. „Saw“ war ein Low-Budget-Thriller, realisiert mit harten Schockeffekten und offensichtlichen Anleihen bei modernen Klassikern wie „Seven“ („Sieben“; 1995; David Fincher). Bis heute ist Wan diesem Konzept treu geblieben. Auch „Conjuring – Die Heimsuchung“, seine sechste Kinoregiearbeit, entstand für ein moderates Budget von 20 Millionen US-Dollar, auch hier spielt der Filmemacher wieder auf Vorbilder wie William Friedkins „The Exorcist“ („Der Exorzist“; 1973), Stanley Kubricks „The Shining“ („Shining“; 1980) und insbesondere Sidney J. Furies „The Entity“ („Entity“; 1982) an.

Aber wie schon Wans Vorgängerfilm „Insidious“ ist „Conjuring“ nicht das Werk eines ideenlosen Epigonen, sondern ein elegant inszenierter, effektiver Horrorfilm, der zwar nicht das Rad neu erfindet, aber durch atmosphärische Breitwandfotografie, gutes Timing und exzellentes Sounddesign überzeugt. Auch diesmal verzichtet Wan fast völlig auf Bluteffekte, die Handlung wird konsequent ohne Ironie oder Humor erzählt. Die Besetzung der Hauptrollen mit kompetenten Schauspielern wie Vera Farmiga, Patrick Wilson und Lili Taylor trägt dazu bei, dass die an sich simple Gruselgeschichte, die „Conjuring“ erzählt, zumindest für die Länge des Kinobesuchs fast glaubhaft erscheint.

Ärgerlich an „Conjuring“ ist einzig der bierernst vorgetragene Glaube an die Leibhaftigkeit des Teufels, der bereits Ole Bornedals ähnlich erfolgreichen „The Possession“ („Possession – Das Dunkle in dir“; 2012) auszeichnete und den man leicht als Ausdruck reaktionärer Tendenzen im Genre auffassen könnte. Das allerdings greift vermutlich doch etwas zu weit. „Conjuring“ will sein Publikum in erster Linie mit Geisterbahneffekten unterhalten, was dem Film exzellent gelingt. Allzu sehr nachdenken sollte man beim Kinobesuch von „Conjuring“ aber nicht.

Diese Kritik ist zuerst erschienen auf www.br.de

Get the Gringo

(USA 2012, Regie: Adrian Grundberg)

Les Vacances de M. Gibson
von Harald Steinwender

Wieder einer dieser Filme, in denen die Protagonisten keine Namen tragen, sondern nach ihrer Funktion benannt sind. Und wieder einer dieser Filme, in denen sich ein männlicher Held, diesmal Mel …

Wieder einer dieser Filme, in denen die Protagonisten keine Namen tragen, sondern nach ihrer Funktion benannt sind. Und wieder einer dieser Filme, in denen sich ein männlicher Held, diesmal Mel Gibson, durch die Unterwelt prügelt und schießt. Der leicht variierte Plot geht wie folgt: Nach einem blutigen Banküberfall flieht „Driver“ (Mel Gibson) über die mexikanische Grenze. Dort nehmen die Federales dem Fluchtwagenfahrer nicht nur seine Beute ab, sondern schieben ihn in den gigantischen Gefängniskomplex „El Pueblito“ ab, wo er sich selbst überlassen ist. Nur durch die Hilfe eines 10-jährigen Jungen (Kevin Hernandez als „Kid“), gelingt es dem Gringo, zu überleben. Als er erfährt, dass der Bandenboss Javi (Daniel Giménez Cacho) es auf die Leber seines neuen Freundes abgesehen hat, der eine seltene Blutgruppe hat, beschließt er, dem Jungen zu helfen – und es mit einer Übermacht von Gegnern aufzunehmen.

In den letzten Jahren hat Mel Gibson weniger durch Filme als durch zahlreiche Skandale wegen antisemitischen und homophoben Ausfällen auf sich aufmerksam gemacht, die ihn in Hollywood zur Persona non grata werden ließen. Dass nur noch wenige Zuschauer einen Film sehen wollen, an dem „Mad Mel“ beteiligt ist, sei es als Regisseur oder als Star, schien der Flop von Jodie Fosters „The Beaver“ („Der Biber“; 2011) zu bestätigen, in dem Gibson die Hauptrolle spielte. Selbst die wenig zartbesaitete „Hangover“-Crew weigerte sich 2011 bei den Dreharbeiten des zweiten Teils, einen Gastauftritt Gibsons zu akzeptieren. Und schließlich erhielt Gibsons jüngster Action-Thriller „Get the Gringo“ nicht einmal mehr einen Kinostart in den USA. Auch in Großbritannien brachte es der Film nur zu einer Direct-to-DVD-Veröffentlichung, und das unter dem lausigen Alternativtitel „How I Spend My Summer Vacation“.

Das allerdings hat „Get the Gringo“ nicht verdient. Denn der von Gibsons ehemaligen Regieassistenten Adrian Grunberg („Apocalypto“; 2006) inszenierte Film mag zwar eine furchtbar abgedroschene Handlung haben und recht krude ausgefallen sein, insgesamt ist er jedoch ein höchst unterhaltsames Comeback des Stars auf die große Leinwand. Zugleich ist „Get the Gringo“ eine liebevolle Reprise des Mainstreamkinos der 80er Jahre, das mit Filmen wie Walter Hills „48 Hrs.“ („Nur 48 Stunden“; 1982) und Richard Donners „Lethal Weapon“ („Zwei stahlharte Profis“; 1987) als Mischung aus pointierten Dialogen, überzeichneter Gewalt und ironisch gebrochenen Männlichkeitsmythen zu einer – damals todsicheren – Erfolgsformel fand.

Grunbergs rasant montierter und von Kameramann Benoît Debie („Enter the Void“; „Spring Breakers“) eindrucksvoll fotografierter Reißer ist dabei nicht lediglich ein weiterer Film eines alternden 80er-Jahre-Stars, der sich an den von Sylvester Stallone, Arnold Schwarzenegger und Bruce Willis angeführten Aufstand alter Männer auf den Kinoleinwänden anhängt. Tatsächlich zeichnet sich „Get the Gringo“ durch etwas aus, das im modernen Actionkino selten geworden ist: ein sehr genaues Gefühl für den filmischen Raum, die Bedeutung der Montage und des Handlungsortes.

So ist der von Banden beherrschte Gefängniskomplex, in dem Grunbergs Film spielt, nicht einfach ein austauschbarer Schauplatz für lustvoll ausgelebte Destruktion. „El Pueblito“ ist vielmehr ein mit erstaunlicher Detailgenauigkeit gezeichneter sozialer Mikrokosmos; eine Parallelwelt und ein Staat im Staat, der nach ganz eigenen Regeln und Gesetzen funktioniert. Es ist dieses unerwartet komplexe Porträt einer fremden Welt, die „Get the Gringo“, der tatsächlich größtenteils in einem echten Gefängnis in Veracruz gedreht wurde, weit über das Niveau lustlos zusammengehackter Gewaltspektakel à la „The Expendables 2“ (2012; Simon West) heraushebt. Und gerade der offensichtliche Gegensatz, der sich aus der Authentizität des Schauplatzes zu der überdrehten Comichaftigkeit der Handlung und der prinzipiellen Lächerlichkeit von Gibsons zynischem Film-Noir-Protagonisten ergibt, verleiht dem Film seinen besonderen Reiz. So erweist sich „Get the Gringo“ wider Erwarten als eigenwilliges und ambitioniertes Actionkino, das längst vergessen geglaubte Tugenden des US-Actionkinos, für die einst Regisseure wie Sam Peckinpah und Walter Hill standen, zu neuem Leben erweckt.

Diese Kritik ist zuerst erschienen auf themroc-filmblog

Chained

(USA 2012, Regie: Jennifer Lynch)

Kaninchen im Bau
von Harald Steinwender

Alles beginnt mit einem Kinobesuch, den eine Mutter (Julia Ormond) mit ihrem 9-jährigen Sohn unternimmt. Auf dem Programm steht ein Horrorfilm – „Shifter“, in dem, so legt es der Dialog …

Alles beginnt mit einem Kinobesuch, den eine Mutter (Julia Ormond) mit ihrem 9-jährigen Sohn unternimmt. Auf dem Programm steht ein Horrorfilm – „Shifter“, in dem, so legt es der Dialog nahe, Menschen die Gesichter abgezogen werden. Die anschließende Taxifahrt zeigt bald, dass die Welt außerhalb des Multiplexkinos eine weitaus schlimmere und obendrein ganz reale Gewalt bereithält. Denn der schweigsame Fahrer (Vincent D’Onofrio), der Tim (Evan Bird) und seine Mutter nach Hause bringen soll, erweist sich als Serienmörder, der mit seinem Taxi auf Frauenjagd ist und seine beiden Opfer in ein abgelegenes Haus inmitten der US-amerikanischen Einöde verschleppt, wo er die Mutter vergewaltigt, umbringt und anschließend im Keller verscharrt – sein offenbar seit Jahren praktizierter Modus Operandi. Nur hat er es diesmal nach der blutigen Routine mit einem kleinen Jungen zu tun, den er nicht töten mag, aber auch nicht freilassen kann. Er entscheidet sich, Tim bei sich aufzunehmen, zunächst als eine Art Haussklaven, später als Ersatzsohn und Nachfolger in spe.

Der zu einer Zeit und Raum überbrückenden Montagesequenz vorgetragene Begrüßungsmonolog, in dem der Menschenschinder sich zum gottgleichen Herrscher erhebt und dem Neuankömmling seine Regeln diktiert, die Aufgaben und den Arbeitsbereich des Jungen absteckt und die Hierarchie unmissverständlich vorgibt, etabliert das Thema und eine düstere Welt, aus der es kein Entkommen gibt: „I didn’t ask for you. But since you’re here, I’m going to make the most of it. You will have one job: You do what I say. You clean up my house. Garbage bags, mops, bucket, broom – they are your tools. Breakfast! You will serve me breakfast every morning for the rest of your life. You will not eat or drink anything without my permission. You only eat after I have eaten, and only what I have left on my plate. (…) There is no phone in this house. The TV is off limits unless I offer it. If someone knocks at the – well, no one’s gonna knock. If you steal from me, you get a beating. If you try and escape or you don’t keep the house clean, you get a beating. If you make me nervous or get in my way at all, a beating. From now on, this is your world. It is only you, me, and them. I will call you Rabbit.“ So verliert der nach einem Fluchtversuch an eine Eisenkette gelegte Junge nicht nur seine Freiheit, sondern auch seine Identität. Von nun an lebt er als Kaninchen im Bau des Serienmörders, bis er seine Ketten verinnerlicht hat, und es ihm selbst als jungem Mann (Eamon Farren) nicht mehr möglich ist, zu fliehen, auch wenn sich eine Möglichkeit bietet. Die Frage bleibt nur, ob auch Rabbit / Tim in die Fußstapfen seines aufgezwungenen Ersatzvaters treten wird.

Jennifer Lynchs „Chained“ ist ein düsteres, mitunter an ein Theaterstück erinnerndes Terrorkammerspiel, das nicht zuletzt durch reale Fälle wie die kürzlich bekanntgewordene Entführung dreier Frauen, die ein Mann in Cleveland zehn Jahre lang in seinem Haus gefangen gehalten hatte, eine unangenehme Nähe zur Realität aufweist. Ein Genrefilm kann ein solches Martyrium kaum realistisch wiedergeben – wer sollte so etwas ernstlich in aller Drastik im Kino sehen wollen? Aber in dem gegebenen Rahmen gelingt es der Regisseurin durchaus, zu einer dem Sujet angemessenen und zermürbenden Darstellungsweise zu finden. Getragen wird „Chained“ dabei vor allem von der brillanten Leistung Vincent D’Onofrios, der seinen Serienmörder als dumpf-brutalen, zugleich aber auch tapsig-unsicheren Kind-Mann gibt, der in einem klobigen Körper gefangen ist und dessen ungelenke, stockende Aussprache einen Mann verrät, der es nicht gewohnt ist, mit anderen Menschen außer durch Gewalt zu kommunizieren. Das expressive Sounddesign erinnert wie schon in „Surveillance“ („Unter Kontrolle“; 2008), dem Vorgängerfilm der Regisseurin, bisweilen an die Filme ihres Vaters David Lynch und das „kosmische Rauschen“, das in dessen Filmen immer wieder erklingt. Nach einem Fausthieb dröhnt dann schon einmal ein Tinnitus-Störgeräusch auf der Tonspur, und in einzelnen Szenen wird ähnlich wie in „Lost Highway“ (1997) ein unnatürlicher Klangraum geschaffen, indem auf herkömmliche Atmo verzichtet wird. Lange gehaltene statische Einstellungen – zu Beginn insbesondere in den Gewaltszenen – betonen die Ausweglosigkeit der Situation und das Ausgeliefertsein des jungen Protagonisten. Die gut kadrierten Breitwandbilder setzen immer wieder auf leere Flächen am Bildrand als Gestaltungsmittel; Weitwinkel und Filter deformieren Perspektive und Farbspektrum.

Auch wenn „Chained“ im letzten Akt einen ungewöhnlichen und dezidiert unrealistischen Plot-Twist vollzieht, so variiert dies konsequent und ins Irreale gewendet das Thema des Films. Denn die unsichtbaren Ketten, die jeder der Protagonisten mit sich trägt, sind hier fraglos eine Folge dysfunktionaler familiärer Strukturen und der schrecklichen patriarchalischen Gewalt, die in deren Zentrum wütet. Weitergegeben wird die Gewalt von Generation zu Generation, von Vater zu Sohn zu Ersatzsohn. So erweist sich „Chained“ letztlich als allegorisch aufgeladene und durchaus feministisch angehauchte Variante des Serienmörderfilms.

Die von Capelight in Deutschland veröffentlichte Blu-ray überzeugt bild- und tontechnisch gleichermaßen und gibt den Film, der in Deutschland nur im Rahmen des Fantasy Filmfests 2012 im Kino zu sehen war, adäquat wieder. Die englische Tonspur ist – nicht zuletzt wegen D’Onofrios unnachahmlicher Stimme und seiner eindrucksvollen Performance – der deutschen Synchronfassung vorzuziehen. Als Bonusmaterial findet sich ein deutscher Trailer und ein (optional deutsch untertitelter) Audiokommentar, den Lynch zusammen mit ihrem Hauptdarsteller bestreitet. Der Kommentar ist weniger analytisch, sondern überwiegend an den konkreten Dreharbeiten orientiert, aber durchaus hörenswert. Zur Sprache kommt auch ein möglicher „Director’s Cut“, da laut Regisseurin die vorliegende Fassung unter Zeitdruck entstand und nicht gänzlich ihren Intentionen entspricht. Die auf der deutschen Blu-ray enthaltene und mit einer FSK 18 freigegebene Fassung ist mit der in den USA veröffentlichten ungekürzten NC-17-Fassung identisch, die gegenüber der R-Rated-Fassung in einer Gewaltszene verlängert ist. Wer den Film noch nicht gesehen hat und nicht auf einen möglichen „Director’s Cut“ warten möchte, kann also bedenkenlos zugreifen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in „Splatting Image“, Heft 94 (Juni 2013)

Bronson

(GB 2009, Regie: Nicolas Winding Refn)

Silence Under the Fist
von Harald Steinwender

Die Pet Shop Boys und New Order, Verdi („Nabucco“, „La forza del destino“ und „Attila“), Puccini („Madama Butterfly“), Richard Strauss („Eine Alpensinfonie“) und, natürlich, Wagner („Siegfrieds Trauerzug“ und „Das Rheingold“). …

Die Pet Shop Boys und New Order, Verdi („Nabucco“, „La forza del destino“ und „Attila“), Puccini („Madama Butterfly“), Richard Strauss („Eine Alpensinfonie“) und, natürlich, Wagner („Siegfrieds Trauerzug“ und „Das Rheingold“). Die Filmgeschichte betreffend: „A Clockwork Orange“ („Uhrwerk Orange“, 1971; Stanley Kubrick) und „Chopper“ (2000; Andrew Dominik), „Shock Corridor“ (1963; Samuel Fuller), „Scum“ („Abschaum“; 1979; Alan Clarke) und „Ghosts… of the Civil Dead“ („Willkommen in der Hölle“; 1988; John Hillcoat), britische Gangsterfilme wie „Villain“ (1971; Michael Tuchner) und „The Long Good Friday“ („Rififi am Karfreitag“; 1980; John Mackenzie) und, natürlich: Charles Bronsons stoisch-verschlossene Männlichkeit, etwa aus Michael Winners „Chatos’s Land“ (1972) oder Walter Hills „Hard Times“ („Ein stahlharter Mann“; 1975). Dazu: Vaudeville, Episodenstruktur, Schockstrategien. Eigentlich sagt das schon alles über diesen Film: disparate Einzelstücke der populären und der legitimen Kultur, vermischt zu einem antiorganischen Gebräu. Ein Ganzes ergibt sich daraus nicht, soll es auch nicht, warum auch?

Der 39-jährige Däne Nicolas Winding Refn hat sich in seinen frühen Filmen, in der „Pusher“-Trilogie (1996-2005) und in „Bleeder“ (1999) an Regisseuren wie Martin Scorsese orientiert, an der Unmittelbarkeit von Mean Streets“ („Hexenkessel“; 1973), an der selbstzerstörerischen, dislozierten Männlichkeit von Figuren wie Jake La Motta in „Raging Bull“ („Wie ein wilder Stier“; 1980). Die Protagonisten Refns leben und sterben in einer grauen, kalten Welt, in der ihr Wissen um die Popkultur ihnen keine Orientierung bietet. In „Bleeder“ stehen diese Thirtysomethings in einer abgeranzten Videothek herum und zitieren sich durch die abseitigen Regionen der Filmgeschichte, aber in ihren Beziehungen, als Ehemänner, Partner oder Väter oder auch nur halbwegs kompetente zwischenmenschliche Kommunikationspartner, versagen sie völlig. Sie treffen konsequent die falschen Entscheidungen und versauen sich damit ihr Leben, das sowieso einer Sisyphusaufgabe gleichkommt.

„Bronson“ ist Refns sechster Spielfilm und auch er erzählt von einem gewalttätigen Loser. Der Brite Michael Peterson (Tom Hardy) überfällt 1974 mit einer abgesägten Schrotflinte einen Laden und raubt gerade einmal 26 Pfund. Er kommt in den Knast und attackiert so oft die Wärter, dass er noch heute dort sitzt. Auf der englischsprachigen Homepage des Films begrüßt uns ein Counter, der berichtet, wie lange Peterson nun schon für die paar Pfund, die er gestohlen hat, einsitzt. In Jahren, Monaten, Tagen, Stunden, Minuten und Sekunden. Es sind 2009 bereits 35 Jahre. Neben seinem Ruf als „Britain’s most violent criminal“ ist der prominente Häftling vor allem unter seinem Künstlernamen „Charles Bronson“ bekannt, den er in einer kurzen Phase der Freiheit für einige illegale Faustkämpfe annahm und dann im Knast beibehielt.

Was treibt einen Mann dazu, sich selbst im Knast zu begraben – und das ist es, worauf dieser „Bronson“ mit jeder neuen Gewaltaktionen abzuzielen scheint? Einen Grund dafür erfahren wir nicht wirklich. Stattdessen: Körperkino. Bronson/Peterson zieht sich aus, rennt gegen die Aufseher und die Wände an, besudelt sich mit Blut, quält einen schwulen Kunstpädagogen, terrorisiert einen verängstigten Wärter. Refn bietet keine Antworten an, nicht einmal einfache. Der Mann Bronson bleibt uns fremd und der Appell auf der Homepage, ihn endlich freizulassen, steht in einem seltsamen Gegensatz zum Film, nach dem man eher das Gefühl hat, der Mann solle uns, bitteschön, doch so lange wie möglich in der Welt draußen erspart bleiben. Wer will schon gerne morgen auf der Straße grundlos von einem glatzköpfigen Muskelpaket mit Retro-Schnauzbart zusammengeprügelt werden, nur damit der wieder zurück in den Knast kommt?

Refn nutzt mehr als in seinen Filmen zuvor distanzierende und verfremdende Effekte: Einige Szenen sind gänzlich in Rot oder Blau getaucht, manche werden in extremem Weitwinkel gezeigt oder nutzen lange Parallelfahrten. Auch die voice-over Bronsons ist keine objektive, ordnende Instanz, sondern oft selbstgefällig und rhetorisch. Immer wieder sehen wir den Protagonisten bleich geschminkt auf einer Bühne vor Publikum in Abendkleidung. Da steht er dann im Anzug, isoliert vor schwarzem Hintergrund, und hält ungelenk Zwiesprache mit sich selbst. Einmal projiziert Refn dazu dokumentarisches Filmmaterial einer von ihm angezettelten Gefängnisrebellion direkt auf den Schauspieler und den Hintergrund. Auch Hardys zwischen Unbewegtheit und Expressivität changierendes Spiel verweigert Nähe: immer wieder schaltet er sein Lächeln mechanisch an und aus, lässt seine Bewegungen einfrieren oder legt den Kopf ruckartig schief. Häufig zeigt Refn Bronson, wie er entweder im vollen Profil gefilmt aus dem Bildkader starrt oder bedrohlich frontal vor die Kamera tritt, um dann das Publikum direkt anzusprechen.

Ganz zu Anfang des Films verkündet „Bronson“ in die Kamera: „All my life I wanted to be famous.“ Identifiziert er sich deshalb so sehr mit dem Filmstar Charles Bronson? Über den „echten“ Bronson, den, der als Charles Buchinsky 1921 als Sohn litauischer Emigranten in Ehrenfeld, Pennsylvania geboren wurde, schrieb James Dickey, der Autor von „Deliverance“ („Flußfahrt“), trotz seiner gewalttätigen Rollen und seines muskulösen Körperpanzers sei da „always about him a silent and reflective personality hidden somewhere within or beneath a body redolent of the workingman – the coal miner, the factory worker, or the truck driver […] [;] a solid-hewn, aging, tough, essentially moral masculinity is Bronson’s trademark.” Der ikonische Schauspieler Bronson sei „a strong, no-nonsense man whose appeal […] does […] lie […] in his integrity and his great animal vitality.” Er ist aber auch in Filmen wie „Death Wish“ („Ein Mann sieht rot“; 1974; Michael Winner) „a kind of universal avenger – a one-man force against what he considers universal evil”, so Dickey. Wir erfahren nicht, gegen was Michael Petersons / Tom Hardys Interpretation dieses Racheengels auszieht, aber dass der Mann eine allumfassende Wut in sich trägt, steht außer Frage. „Bronson“ ist vor allem eine filmische Metapher für Wut geworden – unbändige, rasende Wut. Und damit trotz aller Distanz ein sehr intensiver Film.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Splatting Image, Nr. 79, September 2009

Mandela – Der lange Weg zur Freiheit

(GB / ZA 2013, Regie: Justin Chadwick)

Nichts Politisches!
von Nicolai Bühnemann

„Nichts Politisches!“ So lautet die strikte Anweisung der Gefängnisaufseher. Bei den seltenen, kurzen und streng überwachten Besuchen des inhaftierten Nelson Mandela (Idris Elba) von seiner Frau Winnie (Naomie Harris), später …

„Nichts Politisches!“ So lautet die strikte Anweisung der Gefängnisaufseher. Bei den seltenen, kurzen und streng überwachten Besuchen des inhaftierten Nelson Mandela (Idris Elba) von seiner Frau Winnie (Naomie Harris), später auch seiner Töchter, soll über Persönliches, Familiäres geredet werden, nicht über Politik. Dass die Schergen eines rassistischen Unrechtsstaats kein Interesse daran haben, dass sich ein eingekerkerter Freiheitskämpfer mit seinen ebenfalls politisch aktiven Angehörigen über gesellschaftliche Entwicklungen unterhält, leuchtet wohl ohne Weiteres ein. Warum aber scheint sich auch der britisch-südafrikanische Blockbuster, der jetzt die Lebensgeschichte des im vergangenen Jahr verstorbenen Nelson Rolihlahla Mandelas in epischen zweieinhalb Stunden erzählt, über weite Strecken an diesen Maulkorb zu halten? Warum erzählt er über einen Mann, der die berühmt gewordenen Sätze sagte: „Der Kampf ist mein Leben. Ich werde bis zum Ende meiner Tage für die Freiheit kämpfen“, mit geradezu bemerkenswertem Desinteresse für die politischen Hintergründe und Zusammenhänge dessen, wofür und wogegen er kämpfte?

„Mandela – Long Walk to Freedom“ beginnt mit einem Traum, den das Voice-Over in seiner Kindheit verortet. Geradezu paradiesische Bilder von Feldern, von einem lichtdurchfluteten Haus voller glücklicher Menschen. Danach kommt das Initiationsritual, das aus dem Jungen einen Mann machen soll, wobei ihm übrigens auch von der Verantwortung gesprochen wird, die ein Mann gegenüber seinem Volk hat. (Warum eigentlich – das ist keine rhetorische Frage, ich versteh’s wirklich nicht – traut sich der Film nicht mal anzudeuten, dass dieses Ritual in einer, traditionell mit einem Speer durchgeführten, Beschneidung besteht? Macht sich das südafrikanische Tourismus-Ministerium, das den Film mitfinanzierte, was man diesem übrigens deutlich ansieht, Sorge um sein Afrika-Bild?) Interessanter als das, was der Film zeigt, ist schon hier das, was er auslässt. Von der Uni an der ländlichen Transkei flüchtete Mandela mit einem gleichaltrigen Mitstreiter in die boomende Metropole Johannesburg, weil die beiden ohne ihre Einwilligung aber gemäß der herrschenden Tradition verheiratet werden sollten. Mandela wird später über diese Episode schreiben: „Während ich nicht daran dachte, das politische System des weißen Mannes zu bekämpfen, war ich durchaus bereit, gegen das soziale System meines eigenen Volkes zu rebellieren.“ Natürlich muss ein Film, der weit über fünfzig Jahre erzählte Zeit in 150 Minuten Erzählzeit packt, sein Material sorgsam auswählen. Es wird jedoch schon hier deutlich, dass diese Sorgsamkeit für die Filmemacher bedeutet, die Geschichte gründlich von Ambivalenzen zu befreien. Nur wird man der komplexen historischen Situation eines Landes wie Südafrika mit Schwarz-Weiß-Malerei (die vielleicht politisch korrekter, aber kaum klüger wird, weil sie sich nicht mehr auf Hautfarben bezieht) auf diese Art nicht annähernd gerecht. Von der Perfidie des Apartheid-Regimes, das etwa in seiner Homeland-Politik gerade die scheinbare Stärkung und Autonomie afrikanischer Stammesstrukturen und -hierarchien zur Spaltung und Unterwerfung der schwarzen Bevölkerung nutzte, ganz zu schweigen.

Zurück zum Film: Der springt mit einem Schnitt direkt von der Initiation ins Johannesburg des Jahres 1942. Mandela ist nun ein ambitionierter junger Anwalt, der jede Menge Erfolg bei den Frauen hat, aber auch im Beruf so viel, wie ein Schwarzer im Südafrika der vierziger Jahre nur haben konnte. Wenn er einmal wohlhabender und besser gekleidet sei als sie, dann werden ihn die Weißen schon respektieren, sagt er. Im Gerichtssaal stellt er die rassistische Bigotterie älterer weißer Damen bloß. Im Privatleben hat er für die herrschaftliche Politik zur „Reinhaltung der Rassen“ auch schon mal einen Scherz übrig. Wenn der Bleistift sowohl in seinem Haar als auch in dem seiner etwas hellhäutigeren Disko-Bekanntschaft stecken bleibt, gehören sie wohl derselben „Rasse“ an – womit nichts dagegen spricht, dass sie gemeinsam nach Hause gehen. Das Lachen vergeht ihm aber, als Polizisten einen Freund von ihm totprügeln, weil er keinen Ausweis dabei hat. Mandela schließt sich dem afrikanischen Nationalkongress (ANC) an. Doch während ihres friedlichen legalen Widerstands wird alles nur noch schlimmer, die Gesetze zur Trennung der Rassen immer strikter, die staatliche Repression immer brutaler. Als schließlich 1960 in Sophiatown die Polizei das Feuer auf unbewaffnete Demonstranten eröffnet, hunderte Menschen verletzt und 69 tötet, die meisten von ihnen durch Schüsse in den Rücken, entschließt Mandela sich zum militanten Kampf. Er geht in den Untergrund, wird verhaftet und mit seinen Mitstreitern zu lebenslanger Haft verurteilt.

Regisseur Justin Chadwick bekundete seine Absicht, sich auf den „Menschen Mandela“ zu konzentrieren. Was damit gemeint ist, aber auch wie grundfalsch dieses Konzept ist, wie sehr der Fisch vom Kopf her stinkt, wird wohl am deutlichsten in der Darstellung von Mandelas beiden Ehen. Seine erste Frau verlässt ihn relativ schnell, weil er die Familie zugunsten seines politischen Engagements vernachlässigt. Weil er, so sagt sie einmal, sich um alle Kinder Südafrikas kümmert, außer um seine eigenen. Das Verhältnis zu Winnie gestaltet sich komplizierter. Während in ihm während seines knapp 30-jährigen Gefängnisaufenthaltes mehr und mehr die Erkenntnis reift, dass man aus der Spirale der Gewalt einen Ausweg finden, dass die Freiheit mit demokratischen, nicht mit militärischen Mitteln erkämpft werden muss, wird sie immer militanter. In der ersten Ehe wird also der Konflikt zwischen Privatleben und Politik auf eine gängige Genre-Erzählung heruntergebrochen (denken wir an die Phalanx von Polizisten-Gattinnen, die im Kino am Job ihres Mannes verzweifeln). In der zweiten hingegen werden die ideologischen Grabenkämpfe, die die südafrikanische – wiewohl fast jede andere – Widerstandsbewegung spalteten, in einer Dichotomie von friedlichem versus bewaffnetem Widerstand aufgelöst. Hinter der sich dann natürlich hollywoodgerecht nichts weiter verbirgt, als der ewige Kampf zwischen Gut und Böse, Liebe und Hass, die ja – oh, göttliche Psychologie! – in jedem Menschen wohnen.

Wenn es den Filmemachern tatsächlich darum ging, Mandela als „ganz normalen Mann“ darzustellen, ihn aus den Geschichtsbüchern von den Denkmalsockeln zu holen, wie es das Presseheft ein ums andere Mal verkündet, dann ist ihr Scheitern so kolossal, dass man es tatsächlich nur bewundern kann. Die Art, wie historische Ereignisse (die offizielle Einführung der Apartheid 1948, das Massaker von Sophiatown, die zunehmende Instabilität und Gewalt in den Achtzigern) in kurzen Schlaglichtern dramatisiert werden, auf die Mandela dann reagieren muss, suggeriert geradezu den Eindruck eines Mannes, der Schach mit der Geschichte spielt. So sieht er also aus, der ganz normale Mandela.

Damit soll nicht gesagt sein, dass dieses Scheitern nur eine Sache des Inhalts wäre. Es findet in der Form seine perfekte Entsprechung. Wie „persönlich“ kann sich ein Film einer Figur nähern, dem zu den Vierzigern nichts weiter einfällt, als der Chic zeitgenössischer Anzüge und der glänzende Lack zeitgenössischer Limousinen? Zu einem beginnenden Gefängnisaufenthalt nicht mehr, als einen Mann durch Gitterstäbe zu filmen, der in einer finsteren feuchten Zelle Liegestütze macht? Der, kurz gesagt, an keiner Stelle auch nur den Versuch erkennen lässt, über den gängigen period picture-und Biopic-Hochglanz-Bilder-Brei irgendwie hinauszugehen?

Am deutlichsten wird das ästhetische Scheitern des Films, wenn er die explodierende Gewalt in den Achtzigern zeigt. Demonstrationen, Straßenschlachten, blutige und verstümmelte Leichen. Dazwischen: Nachrichtenbilder, Bilder des vollen Wembley-Stadions, das „Free Nelson Mandela“ singt. Dazu: Bob Marley, Public Enemy. Willkommen in der Bild- und Klang-Welt der internationalen medialen „Revolutions“-Folklore. Ganz schön aufregend hier, nervenaufreibend, aber zum Glück für uns westliche Zuschauer, die das alles wohl hauptsächlich aus Film und Fernsehen kennen, auch irgendwie wieder beruhigend weit weg. „The Revolution Will Not Be Televised“? Von wegen! Ach, würde der Film doch auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden, in welche Widersprüche er sich verstrickt, wie aalglatt er letztlich vom Chaos erzählt. Wie schrecklich vertraut gerade „uns“, hier, in der immer rigoroser abgeriegelten „Festung Europa“, diese (Fernseh-)Bilder sind. Stattdessen packt er die Pathoskeule aus, lässt sie über uns hinweg rollen wie den Wasserwerfer über die Barrikaden.

Die zunehmende Brutalität einiger schwarzer Gruppierungen thematisiert der Film auch, etwa in den schwarzen Lynchmobs, die ab Mitte der Achtziger „Kollaborateure“ des Regimes ermordeten, etwa durch das „necklacing“, bei dem einem Menschen ein mit Benzin gefüllter Autoreifen um den Hals gelegt und anschließend angezündet wird. Gerade da aber, wo der Film Ambivalenzen aufzubauen versucht, offenbart sich die ganze Dummheit seines gut gemeinten Liberalismus. Unmenschlichkeit mit Unmenschlichkeit zu bekämpfen, ist also falsch. Wer das schon vorher ahnte, der darf sich jetzt bestätigt fühlen und sich beruhigt selbst auf die Schulter klopfen. Bei der Verhandlung mit der Regierung über seine Freilassung sagt Mandela, man müsse aus der Spirale des Hasses aussteigen, weil der Hass zu Angst führe, die die Menschen zu Gefangenen mache. Für die psychologische Seite des Rassismus mag das zutreffen. Der echte Mandela kannte aber auch eine andere – mindestens – genauso wichtige Seite: Die ökonomische. Rassismus mag zum einen in der Angst vor dem Fremden, dem „Anderen“ begründet liegen. Darüber hinaus ist er jedoch vor allem ein Herrschaftsinstrument, das Hierarchien schafft und aufrechterhält. In kolonialistischen Projekten bietet er den ideologischen Unterbau, weil es der Annahme von der grundsätzlichen Verschiedenheit der Menschen bedarf, um zu rechtfertigen, dass die einen die anderen versklaven, unterwerfen, ausbeuten oder ermorden, um sich ihrer Länder und Bodenschätze zu bemächtigen. Die Apartheid war nicht einfach nur ein zum Himmel schreiendes Unrecht, sie war auch ein verdammt lukratives Geschäft – für die weißen südafrikanischen Eliten genauso wie für skrupellose, internationale Großkonzerne. (Und dass sie auch, aber eben nicht nur auf Grund des wachsenden Protests im In – und Ausland irgendwann aufhörte lukrativ zu sein, um sich in das genaue Gegenteil zu verwandeln, war auch der Anfang ihres Endes.) Dafür interessiert sich der Film allerdings nicht die Bohne.

Idris Elba (Freunden des neueren US-amerikanischen Qualitätsfernsehens wohl vor allem als Drogendealer Stringer Bell aus der Serie „The Wire“ bekannt) ist ein ebenso charismatischer wie begnadeter Schauspieler, der auch hier zeigt, was er kann. Durchaus eine Idealbesetzung, was einen grundfalschen Film aber leider auch nicht richtiger macht. Lobend seien auch die Maskenbildner erwähnt, die dafür sorgen, dass wir ihm den Anfang Zwanzigjährigen ebenso abnehmen, wie den Anfang Siebzigjährigen am Schluss.

Regisseur Chadwick sagt: „ ‚Mandela – The Long Walk to Freedom‘ ist ein Film über den Kampf und der dauert bis heute an. Er beeinflusst bis heute jeden einzelnen Menschen dort.“ Dass das Unrecht und der Kampf in Südafrika nicht durch das Ende der Apartheid und die Wahl Mandelas zum ersten schwarzen Präsidenten abgeschafft waren, mit denen der Film endet, ist ja – wenn auch etwas trivial – sicherlich richtig. Nur, was tut der Film, um diese Wahrheit zu bebildern? Er lässt den befreiten Befreier gemeinsam mit glücklichen Kindern im Freudentaumel durch die wunderschönen Weiten der afrikanischen Savanne rennen. Er lässt die Kamera in der letzten Einstellung gen Himmel fliegen. Das verstehe nun, wer wolle. Ich bin raus. Mir ist das einfach zu hoch.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Bethlehem

(IL / D / B 2013, Regie: Yuval Adler)

Viele Fragen, wenige Antworten
von Michael Schleeh

Ein Film mit einem Anfang, aber ohne ein Ende. Urplötzlich erstirbt das Licht, die Leinwand wird schwarz, der Abspann rollt an zu den zurückhaltenden ambienten Technobeats, die schon mehrfach unheilvoll …

Ein Film mit einem Anfang, aber ohne ein Ende. Urplötzlich erstirbt das Licht, die Leinwand wird schwarz, der Abspann rollt an zu den zurückhaltenden ambienten Technobeats, die schon mehrfach unheilvoll dräuend auf die Stimmung des Zuschauers schlugen – und das, obwohl hier die Sonne scheint und der Himmel stets blau ist. So wie es aufgehört hat, wird es weitergehen. Da es kein Ende geben kann in diesem unauflösbar gewaltsamen Konflikt, in dem der politische immer auch ein persönlicher ist. Das Motiv der Rache führt zur Endlosspirale der Gewalt, die schon gar nicht dadurch zunichte gemacht werden kann, dass man ein Haus abreißt oder den lange gejagten Anführer einer palästinensischen Widerstandsbrigade eliminiert. Draußen, auf der Straße, wo die Soldaten den Menschenjägern den Rücken decken sollen, da rücken schon die Vermummten an, die Steine schleudern – und es ist nur eine Frage der Zeit, bis geschossen wird. Auch kugelsichere Westen bringen da nichts, wie sich zeigen wird.

Viel Streit hat sich daran entzündet, ob der Film politisch korrekt sei, und ob nicht eine Seite vielleicht in einem besseren Licht dastünde als die andere. Mir scheint, keine der beiden kommt hier irgendwie auch nur ansatzweise gut weg. Auch solche spekulativen Einwürfe wie sie neulich der Stammkritiker des WDR 5 aufbrachte, kann man kaum gelten lassen: der sich ernsthaft gefragt hat, ob die Geschichte, die hier erzählt wird, glaubhaft sei. Der Mossad als bester Geheimdienst der Welt, das sei bekannt, käme zu stümperhaft weg. Aha, so ist das also. Hier sollte doch noch mal einer seine Beurteilungskriterien überprüfen.

Der sogenannte Nahost-Konflikt wird in 'Bethlehem' als ein Loyalitätskonflikt zwischen einem jüdischen Geheimdienstmann und einem sehr jungen muslimisch-palästinensischen Spitzel, dessen Bruder ein gesuchter Untergrundkämpfer ist, aufgeblättert. Ein Vater-Sohn-Konflikt ist das also auch, der auf einem prinzipiell ausbeuterischen Lügengebäude errichtet ist. Der Film nimmt sich viel Zeit für seine Kommunikationssituationen (auch immer extensiv per Mobiltelefon) und rückt den Figuren dicht auf den Körper, blickt in die Augen, ins Gesicht. Da wird ganz schön viel Handlung transportiert und eine dicht gepackte Atmosphäre erzeugt, so wie auch jeden Moment eine Bombe hochgehen kann und niemand nirgends sicher ist. Manchmal wünscht man sich etwas mehr cineastische Raffinesse, ein Erzählen mehr durch die Kamera und über Bilder als immer durch Worte. Am Ende, das ist jedenfalls deutlich, stellt der Film mehr Fragen, als dass er Antworten gibt. Und eine Liebesgeschichte muss man übrigens auch nicht durchleiden. Das ist prinzipiell begrüßenswert.

Jenseits der Hügel

(RO 2012, Regie: Cristian Mungiu)

Eine tiefe Verstörung
von Wolfgang Nierlin

Von Einstellung zu Einstellung bewegt sich die schnörkellose, auf einen Soundtrack und dramaturgische Manipulationsstrategien verzichtende Erzählung von Cristian Mungius preisgekröntem Film „Jenseits der Hügel“. Die Bilder sind reich und genau, …

Von Einstellung zu Einstellung bewegt sich die schnörkellose, auf einen Soundtrack und dramaturgische Manipulationsstrategien verzichtende Erzählung von Cristian Mungius preisgekröntem Film „Jenseits der Hügel“. Die Bilder sind reich und genau, ohne ausgestellt kunstvoll zu wirken, die Lücken wie das Schweigen beredt, und das Einzelne ist so wichtig wie das Ganze. In Cinemascope gedreht, ermöglichen die tiefenscharfen Bilder des Kameramanns Oleg Mutu immer wieder eine innere Montage, wobei die Inszenierung des Raums und die Dauer der Einstellung eine künstlerisch fruchtbare Einheit bilden. Die enorm starke Intensität, die teils schier unerträgliche Spannung und die sinnliche Dichte von Mungius Film resultieren gerade aus diesem scheinbar paradoxen Verhältnis von Abstand und Nähe. Die real erlebte Zeit zieht den Zuschauer ins Geschehen.

Eine tiefe emotionale Abhängigkeit verbindet die beiden Freundinnen Voichita (Cosmina Stratan) und Alina (Cristina Flutur), die zusammen in einem rumänischen Waisenhaus aufgewachsen sind. Jetzt kehrt die 24-jährige Alina aus Deutschland zurück, wo sie eine Arbeit gefunden hat, um ihre Freundin zu sich zu holen. Doch Voichita hat mittlerweile einen anderen „Weg gewählt“: Sie lebt und arbeitet in einem kleinen orthodoxen Kloster in den Bergen. „Kein Zutritt für Andersgläubige“ und „Glaube, frage nicht“, heißt es auf einem Schild am Eingang der umzäunten Anlage. Die Liebe und herzliche Zuneigung der beiden jungen Frauen werden in der Folge durch ihre jeweils anderen Weltanschauungen und Lebenskonzepte in ein unlösbares Dilemma versetzt, das auch für die Klostergemeinschaft zur inneren Zerreißprobe wird.

Alina reagiert verstört und steigert sich in ihrem Verlorenheitsgefühl zunehmend aggressiver in Zustände der Hysterie und des Wahnsinns. Sie wird angebunden und geknebelt; über ihr gesprochene Gebete sollen die dunklen, (selbst)zerstörerischen Kräfte in ihr bannen. Dabei vermeidet Cristian Mungiu in der Darstellung des Klosterlebens jegliche Klischees und Wertungen. Zwar zeigt er den Priester (Valeriu Andriuta) und die Oberin (Dana Tapalaga) glaubensstark und prinzipientreu, aber nie verbissen oder gar fanatisch. Vielmehr ist ihr ebenso geistliches wie rationales Ringen um eine Lösung zunächst nach allen Seiten offen. Mungiu nutzt diese Offenheit immer wieder, um den schier ausweglosen Konflikt eindrucksvoll an der gesellschaftlichen Realität zu spiegeln. Dabei vermittelt er beunruhigende Einblicke in eine postkommunistische Gesellschaft zwischen Armut, Bürokratie und Gleichgültigkeit.

Oslo, 31. August

(NO 2011, Regie: Joachim Trier)

Etwas ratlos
von Nicolai Bühnemann

1963 sagte Maurice Ronet in Louis Malles Film „Le feu follet“: „Die Sache ist, ich kann meine Hände nicht ausstrecken und zupacken. Ich kann die Dinge nicht berühren. Und wenn …

1963 sagte Maurice Ronet in Louis Malles Film „Le feu follet“: „Die Sache ist, ich kann meine Hände nicht ausstrecken und zupacken. Ich kann die Dinge nicht berühren. Und wenn ich sie doch berühre, fühle ich nichts.“ Ronet spielte Alain, einen Mann, der wegen seiner Alkoholabhängigkeit in einer Klinik behandelt worden war. Der Film folgte ihm einen Tag lang durch Paris. Um die Versuchungen des alten Lebens und der großen Stadt – der Barkeeper, der ihm ganz selbstverständlich hinstellt, was er immer getrunken hat, die beiden Männer, denen er etwas zu trinken ausgibt, weil sie ihm einen Gefallen tun, und die ihn auffordern, mitzutrinken – ging es dabei gerade nicht. Sondern um einen Mann, der verzweifelt nach Halt sucht, der versucht dem Leben und der Liebe und der Stadt etwas abzufühlen, die Dinge und Menschen zu berühren und sich von ihnen berühren zu lassen. Am Ende setzte er sich eine Pistole auf die Brust und drückte ab.

2011 hat der norwegische Regisseur Joachim Trier den Roman von Pierre Drieu la Rochelle, der schon Malle als Vorlage diente, neu verfilmt. Alain heißt jetzt Anders (Anders Danielsen Lie) und er konsumierte in seinem früheren Leben nicht nur Alkohol, sondern alle erdenklichen Drogen. Aus der eher dubiosen Klinik bei Malle ist bei Trier eine spezielle Entwöhnungsklinik für Suchtkranke geworden, aus einem 22. Juli der frühen 1960er ein 30. August der frühen 2010er und aus Paris Oslo.

Am Anfang unternimmt Anders einen halbherzigen Suizidversuch im Fluss. In der morgendlichen Gruppentherapiesitzung erfahren wir, dass er zwei Wochen vor dem Abschluss seiner einjährigen Therapie steht, und einen Tag Ausgang bekommt, weil er ein Vorstellungsgespräch in der Redaktion eines Kulturmagazins hat. Zunächst fährt Anders zu einem alten Freund, der inzwischen mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Kindern zusammenlebt. Der ist, unter der heilen Oberfläche, ziemlich frustriert von seinem neuen Leben. Dass Anders, der sich selbst dem Freund gegenüber als 33-jährigen Loser bezeichnet, sich verbaute, was der Freund hat, scheint jedoch gar nicht das Schlimmste zu sein. Sondern eher, dass es ihm so wenig erstrebenswert erscheint. Nicht um das Nichts-Haben, sondern um das Nichts-Haben-Wollen geht es.

Dass das Bewerbungsgespräch zu einem Fiasko wird, liegt hauptsächlich an Anders selbst. Abends geht er auf den dreißigsten Geburtstag von Monica, einer alten Freundin, mit der er vor Ewigkeiten eine Affäre hatte. Er beginnt zu trinken. Auf dem Weg in einen einschlägigen Club fährt er bei seinem Dealer vorbei und kauft sich ein Gramm Heroin. Er feiert die Nacht durch. Das Mädchen, das er dabei kennenlernt, lässt er morgens irgendwo zurück. Am Ende setzt er sich eine Nadel an die Vene und drückt ab. Die letzten Einstellungen des Films zeigen, eine Anspielung auf das berühmte Ende von Michelangelo Antonionis „L’eclisse“, die Orte in Oslo, an denen sich Anders vorher aufgehalten hat. Jetzt leer, ohne ihn.

„Oslo, 31. August“ ist Triers zweiter Film, nach seinem vielgelobten Debüt „Reprise“ von 2006, in dem es um die Höhen und Tiefen, die Irrungen und Wirrungen im Leben zweier junger Schriftsteller in Oslo ging. Thematisch scheint der zweite Film relativ nahtlos an den ersten anzuknüpfen. Wieder geht es um das (Nicht-)Erwachsenwerden, um Entfremdung, Sinnsuche und (psychische) Krankheit. Anders Danielsen Lie spielte schon dort eine Hauptrolle. War aber „Reprise“ ein Film, der mit Formen, Erzählsträngen und Zeitebenen spielte und experimentierte, ist „Oslo, 31. August“ wesentlich zurückgenommener, konzentrierter, geradliniger. Einerseits natürlich in der inhaltlichen Beschränkung auf eine Figur, eine Stadt, einen Tag. Andererseits aber auch formal. Eine relativ ruhige Handkamera folgt Anders auf seinem Weg durch Oslo. Zwischendurch gibt es Ansichten der Stadt in klar komponierten Totalen. Trier ist ein kluger Ästhet, der weiß, dass die Form dem Inhalt dieses Films umso besser entsprechen kann, je mehr sie sich zurück hält, je weniger sie auf sich selbst aufmerksam macht, und sich ganz aufs leicht distanzierte Beobachten konzentriert. An die Stelle des ewigen Konjunktivs in der Erzählung von „Reprise“, der vieles nur als Möglichkeit anbot, wie es gewesen sein könnte, ist, auch wenn der Film paradoxerweise über weite Strecken sonderbar sanft erscheint, ein recht grimmiger Determinismus getreten.

Filmhistorischer Referenzpunkt ist für Trier in beiden Filmen der klassische europäische Autorenfilm. Erinnerte aber „Reprise“ mitunter – vor allem am Schluss – an Godard in seinen verspieltesten Momenten (also „Une femme est une femme“), kommt in „Oslo“ zu Malles melancholischem klavierbegleitetem Weltschmerz der kalte Existenzialismus eines Antonioni.„Oslo, 31. August“ verzichtet radikal auf gängige psychologische oder soziologische Erklärungsmuster für die Sucht seines Protagonisten. In einer Szene schildert Anders aus dem Off in kleinen Details und großen ideologischen Bögen seine Familie. Intakt, links-liberal, bürgerlich. Dazu gibt es Bilder von aufgeräumten, sauberen, sonnenbeschienen Osloer Straßen und Parks. Mitnichten behauptet der Film, Anders wäre nicht zu helfen. Von Anfang an ist relativ klar, dass er sich nicht helfen lassen wird, dass er nicht imstande ist, Hilfe anzunehmen. Bei dem Vorstellungsgespräch erzählt er auf die Frage nach seinem beruflichen Werdegang nach einigem Rumdrucksen von seiner Drogenabhängigkeit. Sein Gegenüber reagiert eigentlich denkbar cool. Weder abwertend oder herablassend noch übertrieben mitleidig, sondern mit so viel echter Empathie, wie die Situation eben zulässt. Trotzdem bricht Anders das Gespräch abrupt ab, rennt raus und feuert seine Bewerbung wutentbrannt in den nächsten Mülleimer. Die Hand anzunehmen, nach der er zuvor geschrien hat, scheint für ihn letztlich keine Option zu sein. Besonders deutlich wird das auch in seiner Beziehung zu Frauen. Den ganzen Film über versucht er, seine Ex-Freundin zu erreichen, hinterlässt eine Nachricht nach der anderen auf ihrer Mailbox. Mit Monica, die inzwischen seit Jahren in einer festen Beziehung lebt, versucht er mit einem flüchtigen Kuss dort anzuknüpfen, wo sie vor Ewigkeiten aufgehört hatten. Auch hier wird er abgewiesen. Die diversen, ihm zugeneigten Disko-Bekanntschaften am Ende sind ihm hingegen völlig gleichgültig. Er klopft lieber an verschlossene Türen, statt durch offene zu gehen. Allein ihre Verfügbarkeit reicht, um die Dinge und Menschen für ihn langweilig zu machen. Wenn die erste Einstellung von Oslo, aus dem Taxi heraus, das Anders in die Stadt bringt, eine Stadt im Umbruch zeigen, eine Stadt der Baukräne und in den Himmel wachsender Hochhäuser, dann setzt der Film schon hier seine Hauptfigur, die nicht wirklich zur Veränderung fähig scheint, gegen einen sich ständig verändernden Schauplatz der Erzählung.

Diese Verweigerungshaltung macht sich auch der Film – zumindest teilweise – zu eigen. Auf eine klare Haltung zu seiner Figur verzichtet er konsequent. Wir haben sicherlich keinen Grund, Anders zu hassen, wie es einige Menschen aus seiner Vergangenheit offenbar tun, denen er im Laufe des letzten Tages seines Lebens begegnet. Es gibt aber auch nichts, wofür man ihn sonderlich lieb gewinnen könnte. Der Film erzählt seine Geschichte mit viel Empathie, allerdings bleibt relativ unklar – vielleicht ist das gerade das Schöne daran –, warum der Protagonist sie nun verdient haben sollte.

Kurz: „Oslo, 31. August“ lässt einen etwas ratlos zurück. Jedoch ist gerade diese Ratlosigkeit dem beharrlichen Erklären und eindeutigen Standpunktbeziehen vieler anderer Drogen-Dramen haushoch überlegen.

2013, also zwei Jahre nachdem er in Cannes in der Nebenreihe Un Certain Regard lief, bekam der Film in Deutschland eine – winzige – Kinoauswertung. Seit 10. Januar liegt er von absolut MEDIEN auf einer – leider etwas schlicht geratenen – DVD vor. Sie bietet den Film in norwegischem Originalton (wahlweise in 2.0 oder – sehr empfehlenswertem – 5.1 ) mit deutschen und französischen Untertiteln, sonst nichts. Und, ach ja, seitdem seit einigen Jahren die Front-Cover deutscher DVDs mit den neuen riesigen FSK-Flatschen verunstaltet werden, freuen sich die Ästheten unter den DVD-Sammlern über Wende-Cover. Auch ein solches sucht man hier leider vergeblich. Dafür sind Bild und Ton hervorragend.

Blutgletscher

(AT 2013, Regie: Marvin Kren)

Das Ding aus einem anderen Genre
von Harald Steinwender

Genrekino made in Austria: Nach Andreas Prochaskas Slasherfilm-Duo „In 3 Tagen bist du tot 1 & 2“ (2006 / 2008) und eine Woche vor Prochaskas Ganghofer-meets-Corbucci-Alpenwestern „Das finstere Tal“ kommt …

Genrekino made in Austria: Nach Andreas Prochaskas Slasherfilm-Duo „In 3 Tagen bist du tot 1 & 2“ (2006 / 2008) und eine Woche vor Prochaskas Ganghofer-meets-Corbucci-Alpenwestern „Das finstere Tal“ kommt mit Marvin Krens „Blutgletscher“ ein weiterer Versuch in die Kinos, Genretraditionen und Formeln wiederzubeleben, die einst im wilden europäischen Koproduktionskino der 1960er und 70er Jahre florierten, aber heute weitgehend ausgestorben sind. Das unmittelbare Vorbild für den mit „Blutgletscher“ angemessen trashig betitelten Horrorfilm von „Rammbock“-Regisseur Marvin Kren ist jedoch unverkennbar amerikanischen Ursprungs: John Carpenters „The Thing“ („Das Ding aus einer anderen Welt“; 1982), der als Remake des Christian Nyby/Howard Hawks-Klassikers von 1951 Kammerspiel und Paranoiathriller, Horrorfilm und Western zu einem der effektivsten Genrestücke der frühen 1980er Jahre fusionierte.

Der Plot von „Blutgletscher“ klingt entsprechend vertraut: Auf einer abgelegenen Klimaforschungsstation in den Alpen schlagen drei Wissenschaftler sowie der alkoholkranke Techniker Janek (Gerhard Liebmann) sich die Zeit tot. Bevor die zusammengewürfelte Truppe einen Hüttenkoller erleidet, wird ein blutroter Gletscher entdeckt, dessen Tauwasser Spontanmutationen bei Mensch und Tier bewirkt. Bald muss sich die Gruppe gegen tödliche Bremsen und allerlei Mischwesen wie Fuchsasseln oder Käfersteinböcke erwehren, die den legendären Wolpertinger alt aussehen lassen. Weiteres Kanonenfutter stößt zu ihnen, als die grantige Ministerin Bodicek (Brigitte Kren – die Mutter des Regisseurs) und Janeks Exfreundin Tanja (Edita Malovcic) nebst Begleitung an der Station ankommen.

Wie kaum anders zu erwarten, bedient sich „Blutgletscher“ nonchalant der Bausteine verschiedener Genres, speziell des Bergfilms und des Body Horror und ist folglich selbst eine veritable Mutation. Die damit verbundenen Referenzsysteme, die der Film kombinieren will, sind jedoch nur schwer vereinbar. Carpenters Sci-Fi-Horror-Western griff seinerzeit immerhin auf Genres zurück, die zur gleichen Zeit im US-Kino der 1950er Jahre reüssierten und mit der Paranoia des Kalten Krieges eine gemeinsame ideologische Basis besaßen. Den deutschen Bergfilm, der seine Blüte in den 1920er Jahren erlebte, verbindet jedoch nichts mit dem Körperhorror, der seine Hochphase im nordamerikanischen Kino Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre hatte: mit dem Frühwerk von David Cronenberg von „Shivers“ („Parasitenmörder“; 1975) bis zum Mainstream-Erfolg „The Fly“ („Die Fliege“; 1986), Ridley Scotts „Alien“ (1979) sowie Stuart Gordons „Re-Animator“ (1985) und „From Beyond“ (1986). Der Bergfilm war wie sein später Erbe, der deutsch-österreichische Heimatfilm, die Apotheose des Statuarischen, die Feier angeblich ewiger Naturgesetze und der Unterwerfung des Individuums unter ein höheres Ziel. Den Körperhorrorfilmen der 70er/80er Jahre dagegen ging es gerade darum, verlässliche Fixpunkte wie Körper-, Genre-, und Gendergrenzen aufzulösen – und das meist buchstäblich in Schleim, Verwachsungen und Mutationen. Als Kombination von Bergfilm und Körperhorror kann „Blutgletscher“ die willkürliche Fusion völlig disparater Konzepte nie völlig transzendieren, und so wechselt der Horrorfilm, der mit einer vorangestellten ökologisch korrekten Botschaft beginnt (der Klimawandel, Sie wissen schon …) spätestens mit der Ankunft der zweiten Besuchergruppe auf der Todesalp zur Parodie.

Das ist schade, da doch in den letzten Jahren einige europäische Länder – allen voran Frankreich und Spanien – mit ernst gemeinten, meist auch ziemlich blutigen Horrorfilmen und Genrestücken reüssieren konnten. Die parodistische Ausrichtung und die absichtsvollen Anleihen am Trash-Kino, die viele deutschsprachige Genrefilme so oft auszeichnen, wirken demgegenüber, als ob man sich von seinem eigentlichen Gegenstand distanzieren will: Bitte entschuldigen Sie, war nicht ernst gemeint, ist alles Ironie, wir sind schließlich noch jung! Ausnahmen, etwa die ruppige „Texas Chainsaw Massacre“-Variante „Urban Explorer“ (2011; Andy Fetscher), Krens eigener „Rammbock“ (2011) oder der grimmige Alpenwestern „Das finstere Tal“ (den ich an dieser Stelle noch nicht in den höchsten Tönen loben darf, da der Verleih vor der Berlinale-Premiere eine Sperrfrist für Kritiken verhängt hat) blieben bisher eben genau das: Ausnahmen.

Das ist doppelt schade, da „Blutgletscher“, trotz kleinerer Mankos wie eher drolligen Spezialeffekten und einigen arg sperrigen Dialogen, ein durchaus unterhaltsamer und professionell realisierter Film geworden ist. Allein das imposante Alpensetting, die hervorragend kadrierten CinemaScope-Bilder von Kameramann Moritz Schultheiß und die überraschend guten Schauspieler heben Marvin Krens mit österreichischer Filmförderung entstandenen „Blutgletscher“ weit über den Durchschnitt des B-Films. Auch wenn „Blutgletscher“ näher an der Parodie als am ernstgemeinten Horrorfilm angesiedelt ist: ein Schritt in die richtige Richtung ist das allemal.

Zero Killed

(D / AT 2012, Regie: Michal Kosakowski)

„Are you talking to me?“
von Ulrich Kriest

„Das Grauen. Das Grauen.“ Wir erinnern uns, oder? „Apocalypse Now!“ Colonel Kurtz. Oder vielleicht doch lieber Georg Büchner? „Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“ Schlummert da was …

„Das Grauen. Das Grauen.“ Wir erinnern uns, oder? „Apocalypse Now!“ Colonel Kurtz. Oder vielleicht doch lieber Georg Büchner? „Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“ Schlummert da was in uns? Ein Abgrund gar? Fragen sie dazu doch Michal Kosakowski! Der hat solche Fragen gleich weitergereicht an ein paar Handvoll Leute, die nicht nur Tötungsphantasien haben und einmal offen drüber reden wollen, sondern diese vielleicht auch sehen wollen. Sagen sie jedenfalls. Deshalb das Angebot und die Bedingung Kosakowskis: wir setzen deine Phantasie in Szene, aber nur, wenn du mitspielst. Als Täter oder als Opfer.

Die gedrehten Kurzfilme wurden als Videoinstallation erstmals 2007 in München der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In den folgenden Jahren holte der Filmemacher seine »Mittäter« erneut für Interviews vor die Kamera, wo sie nun nicht nur über die Filme und die ihnen zugrundeliegenden Phantasien Rede und Antwort standen, sondern sich auch zu abstrakteren Fragen zu Gewalt, Folter, Rache, Todesstrafe, Krieg, Religion oder dem Wesen des Menschen äußerten.

Der Film „Zero Killed“ ist nun eine Montage aus beiden Werkgruppen, unterlegt mal mit ironischer, dann wieder reißerischer Musik. Es ist eine verstörende Montage. Zunächst, weil Kosakowski ganz selbstverständlich davon auszugehen scheint, dass sein Sample von Gesprächspartnern irgendwie repräsentativ ist. So sehen wir uns Menschen – Frauen wie Männern – gegenüber, die mal verschwörerisch, mal lächelnd, mal lässig, mal angestrengt, mal selbstgefällig vor laufender Kamera ihre Tötungsphantasien ausbreiten oder über die angesprochenen Themen räsonieren.

Dieses Räsonnement ist nun eingebettet in teilweise drastische und mit viel Liebe zum Detail und zum Genre inszenierte Gewaltphantasien, wobei unklar bleibt, welcher Teil des Films sich wozu oder ob überhaupt illustrativ verhält. „Wenn du in der richtigen Situation bist, wirst du wahrscheinlich auch zum Folterknecht!“. Solche platten (Selbst-)Aussagen bleiben unkommentiert im Raum stehen und werden durch die Vielzahl der Stimmen zum Eindruck eines seriellen Blicks in einen destruktiven Abgrund verstärkt. Shocking, Dear!

Rar sind dagegen reflektierende Einschübe mit ethisch-reflexiven Gedanken, ebenso rar auch ironische Distanzierungen, wie etwa im Vorschlag, diejenigen, die Spaß am Foltern haben, einfach aufeinander loszulassen. Als zusätzlicher Verfremdungseffekt wird die Zeit eingesetzt, denn zwischen den Filmszenen und den Interviews liegen mitunter zehn Jahre. Man sucht nach Gesichtern, wird immer wieder auf die Gesichter der Interviewten zurückgeworfen, die das gerade Gesehene – so der unausgesprochene Vertrag mit dem Zuschauer – authentifizieren, aber lange Zeit des Films als anonyme Talking Heads agieren.

Wer sagt hier aus welcher Position warum was? Erst ganz zum Schluss werden die Mitwirkenden per Insert mit einem (ziemlich unpassenden und wenig aussagekräftigen) sozialen Index als Tänzerin, Landschaftsarchitekt, Schauspielerin, Minenarbeiter oder Bauer versehen. Diese Schlusspointe lädt nicht nur dazu ein, sich zumindest die Interviews noch einmal daraufhin ansehen zu wollen (so, als verriete der erlernte Beruf etwas über die Phantasie, was nur im Fall des Bauern tatsächlich so zu sein scheint!), sondern es fällt auch auf, dass sich ungewöhnlich viele sogenannte Kreative unter den Befragten befinden.

Was aber bedeutet es für den Interpreten, wenn in diesem Rahmen ein Akteur explizit als Schauspieler ausgewiesen wird? Ist die Tötungsphantasie dann offen »gespielt«? Oder gar die authentische Phantasie eines Schauspielers? Was ja schon kompliziert genug wäre: Man denke nur an die Tötungsphantasien eines Filmkritikers, der den Berg der Bilder in sich abzuarbeiten hat. So wird diese eigenwillige Mischung als Inszeniertem und Dokumentarischem in mehrfacher Hinsicht zu einem fruchtbaren wie riskanten Experiment, wie man als Zuschauer diesen Grenzbereich des Erzählerischen mit seinen widersprüchlichen Informationsangeboten interpretatorisch zu gewichten gewillt ist. Einfacher gesprochen: Wie man sich dazu verhält, was man hier sieht und hört.

Letztlich bleibt vieles spekulativ: Haben wir es hier mit »authentischen« Tötungsphantasien zu tun oder mit der Inszenierung von Authentizität, die sich ihren Thrill aus dem scheinbaren Tabubruch besorgt, der jedoch nur dann ein Tabubruch wäre, wenn »Authentizität« zu verifizieren wäre? Insofern dürfte der Reiz von „Zero Killed“ weniger beim Raunen über den schmalen Grat zwischen Zivilisation und Barbarei zu suchen sein, als vielmehr bei der prinzipiellen Bodenlosigkeit, die das Spiel mit dem Semi-Dokumentarischen notwendig evoziert. Thematisch ist „Zero Killed“ auf pubertäre Weise sensationsheischend, formal jedoch eine ziemlich clever arrangierte Nuss für Fans hermeneutischer Zirkel.

Charlie Mariano – Last Visits

(D 2013, Regie: Axel Engstfeld)

Europäische Jazzgeschichte(n)
von Ulrich Kriest

Inspiriert vom Bebop Charlie Parkers spielt Charlie Mariano, Sohn italienischer Einwanderer, ab 1941 live in den Bands von Johnny Hodges, Nat Pierce oder Quincy Jones. Mitte der 1950er Jahre wird …

Inspiriert vom Bebop Charlie Parkers spielt Charlie Mariano, Sohn italienischer Einwanderer, ab 1941 live in den Bands von Johnny Hodges, Nat Pierce oder Quincy Jones. Mitte der 1950er Jahre wird Mariano Mitglied in der Big Band von Stan Kenton und gehört fest zum Kreis um Shelley Manne. Mariano lehrt nun selbst an der Berkeley School of Music, wo er einst selbst von Joe Viola unterrichtet worden war. 1962/63 kommt es zur Zusammenarbeit mit Charles Mingus für das Album „The Black Saint And The Sinner Lady“. Mingus ist es auch, der den Begriff prägt, der den eigentümlichen, stets lyrisch-melancholischen Sound Marianos prägnant beschreibt: „Tears of Sound“. Im Booklet zum legendären Album macht Mingus Mariano ein großes Kompliment, wenn er schreibt: „No words or example were needed to convey this idea to Charlie Mariano. Only his love of living and knowing life and his understanding of the composer’s desire to have one clear idea at least musically recorded here for record.“ Als „station ID“ für Mariano nennt er später im Text dann noch „SOUL and LOVE“. Große Worte, die allerdings im Zusammenhang mit der Kunst Marianos nicht sonderlich überraschen. Doch welches Kapital ist mit derlei Lob verbunden? Wohl eher symbolisches.

Anfang der 1970er Jahre übersiedelt Mariano nach Europa, weil es ihm hier, anders als in den USA, möglich ist, von seiner Kunst zu leben. Als Weltmusiker avant le lettre lebt er zuvor einige Jahre in Japan und Malaysia und arbeitet am südindischen Karnataka College of Percussion. Mariano bringt neben seinem souveränen und eleganten Auftreten also als Kapital authentisch erlebte Jazz-Geschichte und eine neugierige Weltläufigkeit mit nach Europa, wo er mit Projekten wie Osmosis oder Pork Pie schnell sehr bekannt wird und mit dem United Jazz & Rock Ensemble oder an der Seite Eberhard Webers die Karriere macht, die ihm in den USA wohl verwehrt geblieben wäre.

Soweit der fällige Lexikon-Eintrag. Die betont kunstlose Dokumentation von Axel Engstfeld braucht solche musikalisch-biografischen Stationen nur zu skizzieren, weil einerseits wichtiges Material in den Archive wohl fehlt, andererseits die Ausstrahlung der Persönlichkeit vor der Kamera hinreichend davon erzählt. Seit Mitte der 1990er Jahre war Mariano an Prostatakrebs erkrankt, musste immer mal wieder Konzerte absagen und mit seinem Spiel der Krankheit Tribut zollen.

Der Film hat Mariano 2008/2009 durch seinen Alltag begleitet, zeigt ihn bei Arztbesuchen, aber auch bei Konzerten in kleinen Klubs. Befreundete Musiker wie Mike Herting oder Matthias Schriefl, viele Jahre jünger als Mariano, erzählen, was ihnen die Begegnung mit Mariano bedeutet hat und inwieweit sie von dessen Persönlichkeit künstlerisch und menschlich profitierten. Das geht über das bloß Musikalische weit hinaus, wenn beispielsweise die Musiker bei gemeinsamen Konzerten in einem Akt der Solidarität fraglos auf ihre Gage verzichteten, um Mariano die finanziellen Mittel zu verschaffen, die seine Erkrankung fordert. Dass aber Konzertveranstalter reserviert reagierten, weil die Krankheit unzuverlässig machte. Viele Fäden der künstlerischen Biografie Marianos liefen noch einmal im ausverkauften Stuttgarter Theaterhaus zusammen, wo im November 2008 Marianos 85. Geburtstag mit einem rauschenden Konzertabend voller Höhepunkte gefeiert wurde. Der Film hat Impressionen dieses Abends gesammelt, weshalb viele alte Bekannte wie Ack van Rooyen, Paul Shigihara, Jasper van´t Hof, Philip Catherine, Wolfgang Dauner oder Dieter Ilg zu sehen sind. Der frenetisch gefeierte Abend endete im kleinen Kreis mit einem berührend klaren Blues.

Man kann „Charlie Mariano – Last Visits“ auf zweierlei Weise sehen. Für seine Fans ist der Film ein bittersüßes Fest, das einen unvergessenen Musiker noch einmal zum Leben erweckt und feiert. Mariano selbst sorgt dafür, dass das Ganze keine hohle Nostalgieveranstaltung wird. Der Film dokumentiert aber auch, wie es sich anfühlen mag, wenn man als schwerkranker Künstler ohne Krankenversicherung bis ins hohe Alter auftreten muss, um sich seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Aufgrund seiner einnehmenden Persönlichkeit war es Charlie Mariano geglückt, sich gewissermaßen jenseits des Gesundheitssystem privat zu versichern, weil ihm seine Kunst verlässliche Freundschaften ermöglichte. Ganz zum Schluss, als das Filmteam ihn ein letztes Mal besucht, hat dann der Krebs gesiegt. Vor der Kamera sitzt ein gebrochener Mann, der binnen weniger Monate um Jahre gealtert erscheint: die Auftritte, so Mariano, fehlten ihm schon, aber es gehe einfach nicht mehr. Er werde seine Instrumente wohl verkaufen, um seiner Frau etwas Geld zu beschaffen. Es nötigt großen Respekt ab, dass sowohl Mariano als auch Engstfeld sich und uns dieses Finale nicht ersparen, denn das Elend war in der Jazz-Geschichte, die Charlie Mariano (auch) repräsentierte, leider stets ein zuverlässiger Weggefährte. Solidarität unter Musikern ist eine schöne Geste, aber natürlich kein Ersatz für ein Altern ohne Existenznöte. Nach langer Krankheit ist Charlie Mariano im Alter von 85 Jahren im Juni 2009 verstorben. Seine „Tears of Sound“ sind auf annähernd 500 Tonträgern dokumentiert.

Das finstere Tal

(D / AT 2014, Regie: Andreas Prochaska)

Der Winter naht
von Harald Steinwender

Es war einmal ein abgeschiedenes Tal in den Tiroler Alpen. Die Menschen, die sich hier vor vielen Jahren niedergelassen hatten, lebten nach einfachen Regeln. Den Lebensrhythmus gaben die Jahreszeiten vor. …

Es war einmal ein abgeschiedenes Tal in den Tiroler Alpen. Die Menschen, die sich hier vor vielen Jahren niedergelassen hatten, lebten nach einfachen Regeln. Den Lebensrhythmus gaben die Jahreszeiten vor. Die Leute aßen, was der Boden, die Wälder und ihrer Hände Arbeit hergab. Sie achteten die Gebote der Kirche. Mehr aber noch gehorchten sie den Regeln des alten Brennerbauern (Hans-Michael Rehberg), der mit seinen sechs Söhnen im Tal wie ein König herrschte. Bis eines Tages ein Fremder (Sam Riley) in das Tal kam. Der Fremde, der sich Greider nannte, war weit gereist und zuvor in einem fremden Land gewesen, das Amerika heißt. Von dort hatte er ein Zauberding mitgebracht, das auf Silberplatten Bilder machen konnte, von Menschen ebenso wie von den Bergen, die das Tal umgaben – 'Spiegel mit Gedächtnis' nannten dies die Dorfbewohner. Auch wenn Hans (Tobias Moretti), dem ältesten Sohn des alten Brenner, der Fremde nicht gefiel, gestattete er ihm doch gegen ein Entgelt, den Winter im Haus der jungen Luzi (Paula Beer) zu verbringen und seine Bilder von den Bergen zu machen. Doch als der Winter kam, da begannen die Söhne des Brennerbauern einer nach dem anderen zu sterben. Und Hans, der dem Greider von Anfang an nicht getraut hatte, nahm sein Gewehr und beschloss, den Fremden zu töten.

Mit 'Das finstere Tal' hatte der Münchner Filmkritiker Thomas Willmann 2010 einen von Ludwig Ganghofer und Sergio Leone inspirierten Debütroman vorgelegt, der sich bald zum Bestseller entwickelte. Schon auf der ersten Seite, einem der Geschichte vorangestellten Kurzprolog, demonstriert Willmann, wie sehr seine Erzählhaltung vom Denken in filmischen Koordinaten infiziert ist. 'Die knorrige Hand fuhr hinein in das wurlende Knäuel neugeborenen Lebens. Sie scherte sich nicht um das Maunzen der Kätzchen und die Wischer ihrer bekrallten Tatzen', lauten die ersten beiden Sätze, und bereits hier denkt Willmann im Schreiben den das Filmbild begrenzenden Rahmen mit: Da greift nicht einfach ein Mann mit seiner Hand in einen Wurf kleiner Kätzchen, hier bricht eine knorrige Hand (Detail!) in das Bild der Kätzchen (Totale!) ein. Was dann mit den Tieren geschieht, fasst als Miniatur das düstere Geheimnis, das im Zentrum von Willmanns Roman und Andreas Prochaskas Verfilmung steht, ebenso zusammen wie es als Menetekel der Ereignisse des letzten Akts steht.

Dass dieser Erfolgsroman tatsächlich verfilmt wurde, überrascht nicht, insbesondere da Western mit Italo-Einschlag seit 'Django Unchained' wieder en vogue sind. Dass Andreas Prochaska mit seiner Adaption von 'Das finstere Tal' einen ebenso kompromisslosen wie großartigen Alpenwestern geschaffen hat, war jedoch keine Selbstverständlichkeit. Wie leicht hätte die Kinoversion eine fade Bebilderung von Willmanns Vorgabe werden können: als gediegene Literaturverfilmung, den Dialekt in den Dialogen durch Hochdeutsch ersetzt, das Blutbad am Ende abgemildert. Stattdessen inszeniert Prochaska, der unter anderem als Cutter für Michael Haneke tätig war und sich als Regisseur von Horrorfilmen wie 'In 3 Tagen bist du tot' (2006) auch im Unterhaltungskino bewiesen hat, einen lupenreinen Genrefilm, der zwischen Western und Heimatfilm angesiedelt ist, dessen wuchtige, bisweilen drastische Bildsprache nach der großen Leinwand verlangt und der auch sonst – in Besetzung, Ausstattung, Lichtsetzung und Sounddesign – alles richtig macht.

Und nicht nur das. Der Regisseur kennt die filmischen Vorbilder des Romans und evoziert sie, ohne die Inspiration allzu exzessiv auszustellen – einen 'Zitate-Western' habe er schließlich nicht drehen wollen, so Prochaska in einem Interview. Eher hat er seine Vorbilder so sehr verinnerlicht, dass er in ihrem Geist eine alte Geschichte ganz neu erzählt. Die Breitwandbilder von Kameramann Thomas Kienast schwelgen dementsprechend in majestätischen Alpenpanoramen, die jedem Nachkriegsheimatfilm oder Harald Reinls Scope-Adaptionen von Ganghofer-Romanen wie 'Schloss Hubertus' (1973) und 'Der Jäger von Fall' (1974) zur Ehre gereicht hätten. Die Auswahl der Besetzung erweckt den Eindruck, als wäre wie 50 Jahre zuvor bei Sergio Leones 'Per un pugno di dollari' ('Für eine Handvoll Dollar'; 1964) und seinen Epigonen vor allem auf expressive Gesichter und Augen geachtet worden: Tobias Moretti, der den Schurken des Stücks mit fiebriger Intensität spielt, hat strahlend blaue Augen wie einst Franco Nero und Terence Hill. Sam Riley, der frappierend an Lou Castels introvertierte Italowestern-Antihelden bei Damiano Damiani ('Quién sabe?' / 'Töte Amigo'; 1966) und Cesare Canevari ('¡Mátalo!' / 'Willkommen in der Hölle'; 1970) erinnert und sich schauspielerisch eher am reduzierten 'Unterspielen' der amerikanischen Schule orientiert, hat intensive braune Augen ('Nur schauen tut er', heißt es einmal über seine Figur). Und Paula Beers grüne Augen brennen sich in Großaufnahme geradezu in die Leinwand ein.

Einige explizite Verweise auf die Genregeschichte gibt es freilich auch. Wenn Greider etwa zu Beginn im finsteren Tal ankommt, dann auf einer Straße, die wie in Corbuccis 'Django' (1966) ein einziger Fluss aus Schlamm ist. Bei der folgenden Konfrontation mit Hans Brenner greift Prochaska inszenatorisch auf den ersten Shootout aus 'Für eine Handvoll Dollar' zurück, springt von der Totalen in die Großaufnahme, staffelt Gesichter im Breitwandformat in die Tiefe des Raums und schneidet Serien von extremen Großaufnahmen hintereinander. Die Einstellungen von Reitern im hüfthohen Schnee scheinen direkt aus Sergio Corbuccis nihilistischem Schneewestern 'Il grande silenzio' ('Leichen pflastern seinen Weg'; 1968) zu stammen und das Finale wiederum zitiert ausführlich Sam Peckinpahs Zeitlupenästhetik inklusive Schockbildern und exzessivem Einsatz von blood squibs.
Letztlich mag die Daguerreotypie, die der Fremde in das entlegene Hochtal bringt, auch symbolisch für das selbstreflexive Verhältnis des Films zum Heimat- und Westerngenre und seinen verschiedenen Ausprägungen seit den 1960er Jahren stehen. Wenn man Prochaskas Fingerzeig deuten will – im Roman war der Fremde noch Maler – dann ist 'Das finstere Tal' in seinem Verhältnis zum europäischen Genrekino und dem (Italo-)Western selbst eine Art 'Gedächtnisspiegel'.

Obendrein wirkt Prochaskas Film mitunter wie eine Wiederbelebung der heute weitgehend vergessenen Tradition der bayerischen Wilderer-Western, die Anfang der 1970er Jahre entstanden und zu deren bekanntesten Vertretern Reinhard Hauffs 'Mathias Kneißl' (1970) sowie Volker Vogelers 'Jaider, der einsame Jäger' (1971) und dessen melancholische Quasi-Fortsetzung 'Verflucht dies Amerika' (1973) zählen: authentisch ausgestattete Quasiwestern, die oft etwas spröder erzählt und strenger gespielt waren als die barock-überzeichneten Italowestern, die sie inspiriert hatten. Wie bei diesen Filmen sind es neben der Stilisierung und den auffälligen Tempoverschleifungen die dokumentarisch anmutenden Elemente wie die Entscheidung, die Bewohner des abgelegenen Alpendorfs Mundart sprechen zu lassen, die in besonderem Maß zur Glaubwürdigkeit der düster-poetischen Geschichte beitragen und der 'Das finstere Tal' einige seiner besten Szenen verdankt. Unvergesslich etwa die Sequenz des ersten Mordes, der sich ereignet, wenn die Männer des Dorfes mitten im Schneetreiben im Wald Holz schlagen und ihre Ausbeute mittels einer ebenso primitiven wie effektiven Konstruktion durch den Wald leiten – Stamm für Stamm, bis schließlich statt dem toten Holz auch ein menschlicher Körper im Tal ankommt.

'Das finstere Tal' erweist sich letztlich als Geschichte von Blut und Gewalt, von traumatischer Vergangenheit und vergifteter Familienbande, von patriarchalischem Terror und später Rache, Schuld und Sühne. Mit diesem Film über 'Sachen, die man nicht mehr vergessen kann', stellt Andreas Prochaska das sonst idyllische Heimatgenre konsequent auf den Kopf. Wenn am Ende dann ein geradezu apokalyptisches Blutgericht über das Dorf niedergeht, sich Vater- und Brudermorde ereignen und eine Melange von Inzest, Wahn und Rachsucht aufgedeckt wird, dann hat dies zugleich die Wucht einer griechischen Tragödie wie die morbide Faszination eines Horrorfilms. Dass der Erlöser mit dem Fotoapparat und der Schusswaffe aus Amerika kommt, dem Sehnsuchtsort der europäischen Träumer und dem Geburtsort des Western-Genres, das wiederum in der Form von Romanen und Filmen etwa zu der Zeit, in der 'Das finstere Tal' spielt, nach Europa kam, ist natürlich auch kein Zufall.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

In Sarmatien

(D 2013, Regie: Volker Koepp)

Was zu hoffen bleibt
von Ulrich Kriest

Es ist natürlich ein Zufall und auch nur sehr bedingt ein schöner, aber „In Sarmatien“, der neue Film von Volker Koepp, sollte in der kommenden Woche, wenn alles mit rechten …

Es ist natürlich ein Zufall und auch nur sehr bedingt ein schöner, aber „In Sarmatien“, der neue Film von Volker Koepp, sollte in der kommenden Woche, wenn alles mit rechten Dingen zugeht, an der Spitze der europäischen Kino-Charts stehen. Volker Koepp selbst wird das nicht freuen, denn eigentlich sendet er ja seit Jahrzehnten „Grüße aus Sarmatien“. Seit er 1963 Johannes Bobrowskis schmalen Lyrikband „Sarmatische Zeit“ für sich entdeckte. „Sarmatien“ – so nannten die Griechen einst ihr Ende der Welt: die Gegend östlich der Weichsel und westlich der Wolga, sich erstreckend von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Heute sagt man dazu Litauen, Ukraine, Weißrussland, Moldawien – und geografisch könnte man von der Mitte Europas sprechen.

Koepp hat in diesem geografischen Raum schon einige Filme wie „Kalte Heimat“ (1995), „Herr Zwilling und Frau Zuckermann' (1998), „Kurische Nehrung“ (2001) oder „Dieses Jahr in Czernowitz“ (2003) gedreht und so kann er alte Fäden aufnehmen und sie weiterspinnend ergänzen, zeigend, wie die alte Zeit in die neue wirkt. Für Johannes Bobrowski, der Koepp gewissermaßen vorausgereist ist, war Sarmatien ein Traumland, „wo alle Völker und Religionen der Welt ihren Platz fänden, hätte nicht die Geschichte alles eins ums andere Mal umgepflügt.“ Was sich ja aktuell wieder einmal zu bestätigen scheint.

Koepps Film führt von Nord nach Süd, beginnt an der Ostsee, führt ins einst multikulturelle Czernowitz, nach Moldawien, nach Galizien, nach Uman, nach Weißrussland und wieder zurück in den Norden, zur Kurischen Nehrung und nach Kaliningrad. Koepp trifft auf alte Bekannte, mit denen er bereits einmal auf die eine oder andere Weise gearbeitet oder gesprochen hat und lässt flüchtige Begegnungen zu. Menschen erzählen: von ihrem Alltag, davon, was seit dem Untergang der Sowjetunion in der Region geschehen ist, von Hoffnungen auf Veränderungen, die sich nicht erfüllt haben, von der Suche nach einer Identität, die der geografischen Tatsache, das hier die Mitte Europas zu suchen sei, Rechnung trage.

Koepps Film handelt jedoch nicht vom möglichen Aufbruch nach Europa, sondern eher von Erschöpfung auch jener, deren Stärke seinen Film von innen leuchten lässt. So liegt über allem ein Schatten von tiefer Melancholie: nach Holocaust und Sowjetherrschaft sorgt jetzt die Armut für eine Zerstörung verlässlicher Strukturen. Die Kinder werden von Großeltern erzogen, weil die jungen Leute zum Arbeiten ins Ausland zu gehen gezwungen sind. Die daraus erwachsenen Dynamiken sind noch nicht abzusehen. Viele der Befragten strahlen, wenn sie sich ihre trostlose Zukunft ausmalen. In Czernowitz sagt einmal der Vater zu seiner Tochter, die zum Studieren nach Jena gegangen ist, sie sähe die Ukraine jetzt mit den Augen einer Europäerin. Er aber sei noch als Sowjetmensch erzogen worden. In Moldawien erzählt Dragos, dessen ältere Schwester Ana schon mit Koepp gearbeitet hat und die mittlerweile selbst Filme dreht, dass man sich hier erst einmal auf Russisch unterhält, bis die Sprechenden bemerken, dass man Rumänisch sprechen könne. Dann werde Rumänisch gesprochen. In dieser Gegend Sarmatiens habe jede Volksgruppe ihr eigenes Geschichtsbuch.

In Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg, lebt man sogar zwischen zwei EU-Staaten, doch auch Elena spricht davon, das Land zu verlassen, wenn es sich nicht zum Besseren wende. Doch Dragos hatte bereits zuvor gesagt, dass er keine Hoffnung habe, dass sich in den kommenden 35 Jahren irgendetwas entwickle. Kaum anders die Situation in Weißrussland, wo Zhenja Holzhäuser baut und exportiert. Er sorgt sich um die politische Stabilität in seinem Land, wo seit 1994 Präsident Likaschenko quasi diktatorisch regiert. Man bekommt den Eindruck, dass sich der Blick der EU auf diese Region nicht wesentlich von demjenigen der alten Griechen unterscheidet.

Wie gesagt: ein Dokumentarfilm auf der Höhe des Tagesgeschehens. Wer sich nicht so sehr für militärisches Säbelrasseln und diplomatische Etikette interessiert, sondern mehr für die Träume, Hoffnungen und Enttäuschungen von Menschen, sollte die Chance „In Sarmatien“ nicht ungenutzt lassen. Nebenher: es wird auch viel gelacht in diesem Film.

Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand

(SW 2013, Regie: Felix Herngren)

Achselzuckend Atombomben zünden
von Carsten Moll

Mehr als ein Füttern und Streicheln ist diese Liebe eigentlich nicht, doch wie tief die Bindung des hundertjährigen Protagonisten zu seinem Kater ist, soll bald ein Fuchs am eigenen Leib …

Mehr als ein Füttern und Streicheln ist diese Liebe eigentlich nicht, doch wie tief die Bindung des hundertjährigen Protagonisten zu seinem Kater ist, soll bald ein Fuchs am eigenen Leib erfahren. Denn der reißt den Stubentiger auf einem nächtlichen Streifzug zum Hühnerstall und zieht so den Zorn des alten Mannes auf sich. Der Greis, sichtlich erschüttert vom Tod des Gefährten, rappelt sich nach einem Zusammenbruch wieder auf und rächt seinen Liebling mit angemessener Unverhältnismäßigkeit: Einige mit reichlich Dynamit bestückte Würstchen locken den Fuchs schließlich in sein Verderben.

Nach diesem Auftakt, bei dem Allan Karlsson neben seinem tierischen Widersacher auch noch sein halbes Grundstück in die Luft jagt – und sich damit selbst ins Altenheim befördert –, hat Felix Herngrens Bestsellerverfilmung seine Emotionen auch schon verpulvert. Weder Zorn noch Zärtlichkeit darf die Hauptfigur in den kommenden zwei Stunden Laufzeit noch aufbringen. Stattdessen schickt Herngren seinen Hundertjährigen betont apathisch durch die Krisen des 20. Jahrhunderts und eine im Jetzt angesiedelte Krimiklamotte.

Dabei nimmt der Kriminalplot deutlich mehr Raum ein als die eingestreuten Rückblicke auf Allans langes Leben. Mit der titelgebenden Flucht aus dem Altenheim wird eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, in deren Verlauf der rüstige Rentner nicht nur an einen mit 50 Millionen Kronen gefüllten Koffer gerät, sondern auch eine Schar von skurrilen Figuren um sich sammelt. Zusammen mit dem Gelegenheitsdieb Julius, dem zaudernden Langzeitstudenten Benny und der patenten Gunilla samt Elefantendame Sonja bildet Allan bald eine Art Ersatzfamilie, die stoisch dem absurden und bisweilen ganz schön gewalttätigen Treiben um sie herum trotzt. „Es ist, wie es ist, und wie’s kommt, so kommt’s“ ist das wenig handlungsorientierte Motto der Truppe, die von der harmlos verplanten Polizei dicht auf ihren Fersen ebenso unberührt bleibt wie von der hysterischen Gangsterbande, die verzweifelt versucht, an den Geldkoffer zu gelangen.

Dazwischen schieben sich immer wieder kurze Episoden, die zeigen, wie Allan im Laufe seines Lebens unaufhörlich in die wichtigen politischen Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts verwickelt wurde. Allans Zwangssterilisierung durch den Rassenbiologen Herman Lundborg, seine Partizipation am Spanischen Bürgerkrieg oder sein entscheidender Beitrag zur Entwicklung der Atombombe werden im Modus einer schwarzen Komödie abgeklappert. Teilnahmslos und durch nichts anderes motiviert als durch die Lust, Dinge in die Luft zu sprengen, treibt es den Schweden durch das Weltgeschehen. Mal rettet er durch einen Zufall Franco vor einem Bombenanschlag, dann landet er im Gulag, nur um wenig später als nichtsnutziger Doppelagent für Russen und Amerikaner zu spionieren – der Film ist hier sichtlich und auf geradezu ideologische Weise bemüht, seinen politikverdrossenen Helden als unideologische Figur zu verkaufen.

Die durch die Romanvorlage von Jonas Jonasson begründeten Flashbacks wirken dabei in der Filmversion eher wie Fremdkörper, die die Krimikomödie im Kern unnötig strecken. Zumindest aber erklären die unterschiedlichen Lebensstadien des Protagonisten, warum sich der 1964 geborene Komiker Robert Gustafsson hier unter einem Make-up, das doch mehr nach stundenlanger Arbeit der Maskenbildnerinnen als hundert Jahren Menschenleben aussieht, als Greis versuchen darf.

Letztlich leiden aber sowohl Allans Reise durch die Vergangenheit als auch der in der Gegenwart spielende Handlungsstrang an derselben Monotonie. Die immer gleichen Skurrilitäten ermüden auf Dauer und geraten zur kalkulierten Konvention. Besonders im Kontext eines skandinavischen Kinos, das an lakonisch erzählten Bos- und Verschrobenheiten nicht arm ist (man denke nur an die Filme des Dänen Anders Thomas Jensen), erweisen sich Herngrens Späße mit zu entsorgenden Leichen und freundlichen Faschisten bestenfalls als mittelmäßig.

Cerro Torre – Nicht den Hauch einer Chance

(AR / GB / AT / USA 2014, Regie: Thomas Dirnhofer)

Neue Leut’ auf alten Felsen
von Lukas Schmutzer

Wird aufgrund von Facebook-, Wikileaks-, Bin Laden-, Irak-, und vieler anderer Bearbeitungen noch mit Besorgnis die Geschwindigkeit reflektiert, mit der die Traumfabrik die Realgeschichte tapeziert, so demonstriert im Falle von …

Wird aufgrund von Facebook-, Wikileaks-, Bin Laden-, Irak-, und vieler anderer Bearbeitungen noch mit Besorgnis die Geschwindigkeit reflektiert, mit der die Traumfabrik die Realgeschichte tapeziert, so demonstriert im Falle von „Cerro Torre“ ein Blick auf die Filmgeschichte, dass die Realgeschichte den Ideen doch eigentlich hinterherhinkt, und dass es die Ideengerüste sind, die wir beklebt sehen wollen: „Nach einer Idee von Reinhold Messner“ erzählte Werner Herzog 1991 von einem Alpinisten und einem Sportkletterer, die um den Schneepilz des Cerro Torre in Patagonien rivalisieren – eine Parabel auf die Frage, ob sich das Wettkampfklettern an Plastikgriffen auf die ganz großen Felsen übertragen lässt (anstatt sich an denen mit geschlagenen und gebohrten Haken hochzuziehen). Unter dem gleichen Titel mit anderem Zusatz hat sich Red Bull (what else?) dieser Frage jetzt im Dokumentarfilm angenommen. Hieß Cerro Torre 1 noch „Schrei aus Stein“, lautet der Untertitel zu Cerro Torre 2 „A Snowball’s Chance in Hell“ nach einer nicht so wohlwollenden, dafür sehr rätselhaften Aussage der Koryphäe Jim Bridwell – man möchte meinen, wenn in der weißen Hölle Patagoniens etwas eine Chance hat, dann sind es Schneebälle. Wahrscheinlich aus Angst vor den Ansprüchen dieses ambivalenten Sinns hat man sich dann auch für den deutschen Untertitel „Nicht den Hauch einer Chance“ entschieden. Vom Schrei zum Hauch sind es also zwei Jahrzehnte und ein Umweg über eine Sprache, während eigentlich dieselbe Crux artikuliert wird. Ist das noch Dokumentarfilm, oder nicht schon Doku zum Film, das was „Die Last der Träume“ für „Fitzcarraldo“ ist? Gar Remake in einem Genre, das eigentlich nicht (mehr) verdächtigt wird, Massen zu mobilisieren, vielleicht, weil es so sehr verdeckende Wände zeigt? Wiederholt Film, überschreibt er zuweilen die Erinnerung und baut eine Mauer dort, wo nur die Arkade den Blick zurück ermöglicht?

Der neue „Cerro Torre“ gibt sich durchsichtig dort, wo er neue und alte Medien auf der Leinwand abbildet. Das beginnt mit dem eröffnenden Lexikoneintrag zum „Freiklettern“ (samt der in diesem Kontext irgendwie schon klischeehaften Lexikon-Interpunktion) und findet seine Fortsetzung in Zeitungscollagen, in Blogeinträgen und verpixelten Computergrafiken. In Verbindung mit gestellten Szenen und Archivaufnahmen werden so verschiedene Etappen der Cerro Torre-Erschließung nachgezeichnet, welche zuweilen schon selbst Parabelcharakter hat: Da Cesare Maestris behauptete Erstbegehung von 1959 angezweifelt wird, kehrt dieser 1970 nach Patagonien zurück – mit Kompressor und Bohrmaschine, um sich die technisch anspruchsvolle Südwest-Flanke des Torre hinaufzunageln und „Mord am Unmöglichen“ zu begehen. Der Kompressor, mehr Symbol als Beweis, prangt noch heute eine Seillänge unter dem Gipfel. David Lama erregte Aufsehen und Unglauben, als er ankündigte, diese Route frei klettern zu wollen, was ihm Anfang 2012 gelang, wenige Tage nachdem eine amerikanische Seilschaft die meisten von Maestris Haken aus der Wand entfernt hatte. Mediale Übertragungen wählt der Film also zum Formprinzip, um den langen Weg der Übertragung des Sportkletterns auf den großen Berg darzustellen, die Lama in der ersten Szene als wortwörtlichen Traum erzählt: Darin macht er die Tür der Kletterhalle auf und findet sich im Schneegestöber.

Sport- und Bergbegeisterte kommen in dem Film auf ihre Kosten. Spektakuläre Hubschrauberaufnahmen, waghalsige Shots direkt aus der Wand ins Geschehen, aber auch die Point-of-View-Aufnahmen der Helmkameras, all das wird in den entsprechenden Szenen zu einem perfekten Bilderreigen der Unmittelbarkeit montiert. Die Rhetorik des „Über-sich-hinausgehens“, die im Extremsport jeder Art angewendet wird, kann in Verbindung damit im geneigten Zuseher ein Pathos erzeugen, das ohne die Bilder lächerlich wäre. Genauso wie die Landschaftsaufnahmen oszillieren damit die Kletterszenen je nach Betrachter zwischen potentiellen Erfahrungen des Erhabenen und der einförmigen und in der Länge langweiligen Vorstellung, dass es da oben halt so gewesen ist.

Interessanterweise darf Reinhold Messner – der geistige Vater der Herzog-Bearbeitung – ausgerechnet als Kritiker des aktuellen Filmprojekts kurz zu Wort kommen: Ob Lama von der Filmcrew nicht missbraucht werden würde, denn im Film würde man all das nicht sehen, was sich nicht vermarkten ließe. Es ist dem Film vielleicht hoch anzurechnen, dass er die viele Kritik an seiner eigenen Entstehung zu Wort kommen lässt; andernfalls, muss allerdings ergänzt werden, wäre er untragbar geworden: Während Lamas erster Expedition 2010 bohrte das Team für die Dreharbeiten zusätzlich zu den bereits zahlreich vorhandenen Haken viele neue in den Fels des Torres und ließ darauf Müll am Fuße desselben zurück, was nicht nur in der örtlichen Kletter-Community auf sehr viel Kritik stieß: Es folgte ein „Shitstorm“ in Online-Foren, den der Film (für eine Art versöhnliche Vergeltung?) als Pixel-Rachefantasie inszeniert und der von Lama als „berechtigte Kritik an seiner Person als Kletterer“ bezeichnet wird. Das Red Bull-Filmteam setzt sich darüber hinaus in eine Analogie zur fragwürdigen Leistung Maestris, wenn zu den Bildern der Felspräparierung mit demonstrativ leidvoller Intonation aus dem Off lamentiert wird, man sei nur daran interessiert, einen Film zu drehen, als gelte es, ein Kreuz zu Berge zu tragen. An dieser Stelle tun sich die eigentlichen Abgründe auf, die noch ihrer Erstbegehung harren. Stattdessen wird in einem Nebenstrang die Erfolgsgeschichte einer Läuterung erzählt, die da formal das Finale der Herzog-Version repetiert und umdeutet, wenn der Torre von zwei Seiten bestiegen wird.

Nach welchen Kriterien soll ein solches Machwerk benotet werden? David Lamas Leistung in Patagonien steht außer Frage. Nach allen Regeln der Kunst wird sie ab 13. März im Kino wiederholt.

12 Years a Slave

(USA 2013, Regie: Steve McQueen)

Wie Vieh
von Wolfgang Nierlin

Die Kamera bewegt sich durch das grüne Dickicht einer Zuckerrohrplantage, um schließlich vor einer Gruppe afroamerikanischer Sklaven innezuhalten. Zur harten Arbeit unter der sengenden Sonne Louisianas singen die Ausgebeuteten Gospels. …

Die Kamera bewegt sich durch das grüne Dickicht einer Zuckerrohrplantage, um schließlich vor einer Gruppe afroamerikanischer Sklaven innezuhalten. Zur harten Arbeit unter der sengenden Sonne Louisianas singen die Ausgebeuteten Gospels. Nachts, in der schwülen Hitze eines Matratzenlagers, erinnert sich Solomon Northup (Chiwetel Ejiofor) an sein Leben als freier Mann in Saratoga/New York, an seine Frau und die beiden Kinder sowie an sein Auskommen als Geigenspieler. In kurz aufflackernden Erinnerungsbildern und dem Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit akzentuiert der britische Filmkünstler Steve McQueen immer wieder den Kontrast zwischen Freiheit und Gefangenschaft und fügt so – nach den Filmen „Hunger“ und „Shame“ – mit „12 Years a Slave“ seinem Werk einen weiteren Gefängnisfilm hinzu. Als Solomon Northup, auf dessen 1853 veröffentlichtem Erfahrungsbericht der Film basiert, nach seiner Entführung, geschunden und in Ketten, in einem dunklen Verlies der Hauptstadt Washington erwacht, schwenkt die Kamera einmal zu einem Blick über die düstere Stadtlandschaft, in deren Hintergrund sich das Weiße Haus abzeichnet.

Die bürgerlichen Freiheitsrechte gelten noch längst nicht für alle. Bildung und gesellschaftliche Integration werden dem „außergewöhnlichen Nigger“ Northtup von seinen „Besitzern“ gar als offener Widerstand ausgelegt und infolgedessen unnachgiebig hart bestraft. Wie Vieh werden die Versklavten im Hinblick auf ihre Arbeitsfähigkeit begutachtet und verkauft. Willkür und Gewalt bestimmen das Verhältnis der Herren zu ihren Knechten. Sieht man die Baumwollpflücker in den blühenden Landschaften bei der Arbeit, wie sie für ihren Ernteertrag unter Strafandrohung zur Rechenschaft gezogen werden oder auch wie ärmlich sich ihre Wohnbaracken gegenüber den herrschaftlichen Anwesen ihrer „Master“ ausnehmen, erfährt man nebenbei auch, wie Wohlstand entsteht und ein Land „gebaut“ wird. In einer der eindringlichsten Szenen hängt Northup mit dem Hals in einer Schlinge und ringt für endlose Stunden ums Überleben. Während die Zeit vergeht und die Perspektiven auf den Gefolterten mehrmals wechseln, sieht man im Hintergrund dieses ikonographischen Leidensbildes, wie das normale alltägliche Leben weitergeht.

„Ich will nicht überleben, ich will leben“, sagt Northup einmal. Aber dann ist er doch immer wieder zu schrecklichen Anpassungsleistungen gezwungen, die zeigen, wie perfide und inhuman Unrechtssysteme funktionieren und dabei Rechtlose in ausweglose Loyalitätskonflikte gedrängt werden. So muss Northup in einer anderen herausragenden Szene, die McQueen in einer langen Plansequenz gestaltet, seine Leidensgenossin Patsey (Lupita Nyong’o) auspeitschen. In der Figur des Master Edwin Epps (Michael Fassbender), der diese Strafe befiehlt und dessen unheilvoller Charakter zwischen Wahnsinn, Eifersucht und Unberechenbarkeit oszilliert, zeigt sich aber auch die Brüchigkeit des Systems, in dem es immer wieder auch zu Konflikten unter den Sklavenhaltern kommt. Bevor der kanadische Zimmermann Samuel Bass (Brad Pitt) als Vorbote eines zukünftigen Wandels auf der Szene erscheint, verliert sich – mit einem Bild des Films gesprochen – als vorletzte Hoffnung ein Funkenflug in der Nacht. Später dann, mit neu erwachtem Mut, folgt ein ängstliches Innehalten, ein Atemholen für die ersehnte Freiheit.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]