Archiv der Kategorie: Filmkritik

Araf – Somewhere in Between

(TR / D 2012, Regie: Yesim Ustaoglu)

In der Vorhölle
von Wolfgang Nierlin

„‘Araf’ bedeutet Fegefeuer oder Limbus auf Türkisch, der Zustand des Wartens zwischen Himmel und Hölle“, erklärt Yesim Ustaoglu den Titel ihres neuen Films. Irgendwo dazwischen, gleichermaßen von Ungewissheit und Hoffnungslosigkeit …

„‘Araf’ bedeutet Fegefeuer oder Limbus auf Türkisch, der Zustand des Wartens zwischen Himmel und Hölle“, erklärt Yesim Ustaoglu den Titel ihres neuen Films. Irgendwo dazwischen, gleichermaßen von Ungewissheit und Hoffnungslosigkeit umlagert, befinden sich dessen Helden. Ihre Perspektivlosigkeit an der Schwelle zum Erwachsensein spiegelt die renommierte türkische Regisseurin auf vielfache Weise: Die etwa 18-jährige Zehra (Neslihan Atagül) und ihr gleichaltriger Freund und Kollege Olgun (Barış Hacıhan) arbeiten an einer frequentierten Autobahnraststätte zwischen der Hauptstadt Ankara und der Metropole Istanbul. An diesem anonymen Transitort im provinziellen Nirgendwo verflüchtigen sich die Begegnungen und Blicke zwischen Ruhe und Bewegung und wecken zugleich die Sehnsucht nach der Ferne.

Wenn zu Beginn von „Araf – Somewhere in between“ sich heiße, noch glühende Schlacke aus den Stahlwerken der nah gelegenen Stadt Karabük in den Schnee der winterlichen Landschaft ergießt, sind diese unvereinbaren Gegensätze mit ihren Assoziationen zur Vorhölle bereits ins Bild gefasst. Auch Zehras Erschöpfungszustände, unter denen sie als Bedienung in den langen Nachtschichten leidet, markieren einen physischen Schwebezustand. Intim, fast zärtlich gleitet die Kamera über den schlafenden Körper der jungen Frau, verweilt behutsam auf Details, betrachtet andächtig ihr Gesicht und bringt gerade durch diese schwesterliche Nähe ihre Seele zum Leuchten. Umso härter ist der Kontrast, wenn die Kamera auf qualmende Fabrikschlote in der entfärbten Landschaft schwenkt und damit ein melancholisches Verlorenheitsgefühl evoziert. Immer wieder entwickelt Yeşim Ustaoğlu das vielschichtige Drama ihres Films aus stillen Beobachtungen einer schweifenden, agilen Kamera, aus Schärfenverlagerungen und einer elliptischen Erzählweise, um die soziale Tristesse und die trostlosen Aussichten ihrer jungen Helden zu visualisieren.

Das ist kunstvoll, sinnlich und sensibel inszeniert. Dabei verteilt Ustaoğlu die Gewichte ihres vielstimmigen Gesellschaftsporträts, das eine festgefügte, unverrückbare soziale Ordnung zeigt, auf ihre beiden jugendlichen Helden. Das Schweigen zwischen den Generationen setzt sich gewissermaßen fort in der Distanz und wortlosen Begegnung zwischen den Geschlechtern. Das Tabu einer unehelichen Schwangerschaft wirkt hier so stark und zerstörerisch, dass Zehra, als sie von dem Fernfahrer Mahur (Özcan Deniz) schwanger wird, Ausgrenzung und Hilflosigkeit erfährt. Yeşim Ustaoğlu inszeniert dieses traumatische Erleben mit aller Drastik. Der Verlust der Unschuld mündet in die Zerstörung der Träume. Auch Olgun, in einer kaputten Familie gefangen, erlebt eine Desillusionierung. Er sei ein „vernebeltes Kind der verrauchten Stadt“, sagt er einmal über seine Herkunft. Im Hinblick darauf erscheint das märchenhafte, die allgegenwärtigen TV-Träume parodierende Ende des Films als bittere Ironie.

The Zero Theorem

(GB / RO 2013, Regie: Terry Gilliam)

Zukunftsforschung ohne Auftrag
von Jürgen Kiontke

Science-Fiction-Filme gibt’s zurzeit wie Sand am Meer, übermäßig gut sind sie aber nicht. Die filmischen Zukunftsentwürfe haben oft nicht das Zeug, die Zukunft zu entwerfen. Terry Gilliam hat mit 'Brazil' …

Science-Fiction-Filme gibt’s zurzeit wie Sand am Meer, übermäßig gut sind sie aber nicht. Die filmischen Zukunftsentwürfe haben oft nicht das Zeug, die Zukunft zu entwerfen. Terry Gilliam hat mit 'Brazil' 1985 schon mal vorgemacht, wie ein guter Film aussehen kann. Mit 'Twelve Monkeys', dem zweiten Teil seiner an George Orwell orientierten Reihe, wurde es schon etwas artifiziell; mit dem Abschluss 'The Zero Theorem' lässt er einen kopfschüttelnd zurück.

Die Geschichte um den verschrobenen Qohen Leth, der die Null ausrechnen soll, die für die letzte Frage der Menschheit steht, packt einen nicht. Der Film verharrt beinahe ausschließlich in einer ausrangierten Kirche. Dort kämpft Computerarbeiter mit 'Management', einer diffusen, aber gut angezogenen Überwachungsinstanz. Seit Jahren wartet Qohen auf einen wichtigen Anruf; und sollten seine Forschungen erfolgreich sein, stellt ihm sein Auftraggeber die Erfüllung seiner Wünsche in Aussicht. Störend wirkt sich da der Besuch der Internetstricherin Bainsley aus – eine Cindy Lauper auf Speed, die ihn recht freizügig ablenkt.

Um seine Geschichte in Szene zu setzen, benutzt Gilliam recht ausrangierte Bilder. Qohen trägt einen Virtual-Reality Ganzkörperanzug, den die Hobbits genäht haben könnten. Die Storyline sagen die Figuren mit dem Vokabular alter Rechner im Gestus eines antiimperialistischen Agendasettings ('die da oben') auf. Oh mein Gott, sie haben einen Riesenzentralcomputer, der alles kontrolliert! Aussehen tut er wie die Dampfturbinen in der Titanic, laufen tut er, glaub’ ich, mit Kohle. Und die Gedankengebäude, die Qohen im Terminal zusammenbaut, gemahnen an Atari-Tetris.

Ergo: Internetkritik für Leute ohne Internet. Am härtesten aber ist die Schauspielertruppe. Mit Christoph Waltz und Tilda Swinton sind die Spitzenkräfte des verkleideten Overactings am Start. Was sie an Handlung nachstellen, ist so wenig, das hätte man auch malen können. Welche Filmkritik brauchen wir, fragt sich dieser Tage die Zunft der Filmkritiker, weil sie angeblich immer weniger gebraucht werden; ihr Verband veranstaltet eine Diskussionsrunde nach der anderen. Auch die Regisseure stellen langsam mal ihre Arbeit infrage – holprig zwar noch wie David Fincher unlängst im 'Spiegel'. Ja, fragt mal. Vielleicht braucht es ganz andere Schauspieler, Erzählungen, Bilder – andere Kunst. Überhaupt Filmkunst. Es gibt kein richtiges Kino im falschen Film.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 12/2014

Eine weitere Kritik zu 'The Zero Theorem' gibt es hier.

Al doilea joc – The Second Game

(RO 2014, Regie: Corneliu Porumboiu)

Der Ball ist rund, eine Diktatur dauert Jahrzehnte
von Ilija Matusko

Ein rumänisches Fußballspiel aus dem Jahr 1988, ohne Ton und in miserabler Bildqualität. Man kann sich vermutlich gehaltvollere Filmaufnahmen aus der Spätzeit des Ceausescu-Regimes vorstellen, über die es sich zu …

Ein rumänisches Fußballspiel aus dem Jahr 1988, ohne Ton und in miserabler Bildqualität. Man kann sich vermutlich gehaltvollere Filmaufnahmen aus der Spätzeit des Ceausescu-Regimes vorstellen, über die es sich zu diskutieren lohnt. Regisseur Corneliu Porumboiu hat sich für „The Second Game“ dennoch dazu entschieden, ein vergessenes Fußballspiel mit seinem Vater anzusehen und daraus einen Film zu machen. Zum einen, weil sein Vater bei dem Spiel vor 25 Jahren Schiedsrichter war. Zum anderen scheint der Regisseur zu ahnen, dass dieses Material etwas anderes zu erzählen hat, als es den Anschein hat.

Man sieht die Zuschauer im prall gefüllten Stadion in Bukarest. Sie warten auf die Mannschaften Steaua und Dinamo, die beiden stärksten Fußballmannschaften des Landes. In ihren Mänteln und Regenschirmen verschwimmen sie zu einer grauen Masse, die Spieler in den Farben Rot und Weiß sind durch das heftige Schneegestöber nicht besser zu erkennen. Das Spielfeld versinkt im Schnee, der weiß verpuppte Rasen ist praktisch unbespielbar. Trotz des heftigen Wetters entscheidet der Schiedsrichter, das Spiel regulär anzupfeifen. Schließlich steht Nicolae Ceaucescus Lieblingsmannschaft auf dem Platz. Kurz zuvor, so erzählt der Regisseur am Anfang, war der Familie Porumboiu gedroht worden. Falls sein Vater noch einmal so schlecht pfeife, hatte ihm eine fremde Stimme am Telefon gesagt, so sehe er seinen Vater nie wieder. Der Fußball rollt also direkt aus dem Blickfeld.

Wir erfahren, dass gerade – etwa ein Jahr vor dem Ende der autokratischen Herrschaft – die Mannschaft der rumänischen Armee und die des Geheimdienstes gegeneinander spielen. Und mit dieser Info schiebt sich sofort eine allegorische Ebene über das Geschehen. Man sieht im Folgenden nicht nur 22 Männer, die mit weißen Flecken in den Haaren durch den Schneematsch rutschen. Man sieht Stellvertreter der zwei wichtigsten Machtblöcke eines Regimes im Kampf um die Vorherrschaft, eingerahmt von extremen Randbedingungen der Geschichte. Die frierende Bevölkerung längst zum Statisten degradiert. Und während sich die saubere Schneedecke durch das Schießen, Hacken und Treten langsam in einen braunen Acker verwandelt, gerinnen die kämpferischen Bewegungen der Spieler zum emblematischen Abbild der ideologischen Verknüpfung von Sport und Kommunismus. Bei der rumänischen Revolution, gut ein Jahr später, werden Soldaten und Geheimpolizei, wieder im Schnee, aufeinander schießen.

„Ich mag den Schnee, er hat etwas Poetisches“, sagt der Regisseur. „Das ist keine Poesie“, antwortet der Vater. „Was ist poetisch an einem Fußballfeld, das wie ein Acker aussieht?“ fügt er hinzu. Mit dem nüchternen, gegenwärtigen Blick von Adrian Porumboiu, der sich so wie auf dem Feld auch in seinen Kommentaren fest an die Regeln des Fußballs hält, schmelzen die allegorischen und historisierenden Bemühungen so schnell dahin wie der Schnee unter dem Geholze der Spieler. Das Spiel sei nicht wichtig gewesen, sagt der Vater, es habe überhaupt keine Relevanz gehabt. Zwar habe er das Spiel aufgrund der Drohung nicht gerne geleitet, doch habe er sich nie bestechen lassen und sich an die Regeln gehalten. Und das Spiel habe stattgefunden, weil die Wetterbedingungen es eben zugelassen hätten.

Lassen die ersten Fragen noch an eine politische Analyse der damaligen Verhältnisse denken, so werden weitere Vermutungen in diese Richtung noch vor dem Halbzeitpfiff gegenstandslos. Aus der Schlacht am Ende der Tage eines Diktators und seiner rivalisierenden Truppen wird durch die lakonischen Bemerkungen des Vaters wieder das, was es ist: ein Fußballspiel bei schlechtem Wetter. Das Spiel sei langweilig, sagt der Sohn an einer Stelle schließlich. Es passiere nichts, es sei wie in seinen Filmen.

Dass „The Second Game“ historisch-politische Bezüge andeutet und diese zwar nicht verwirft, aber die Möglichkeit einer filmischen Aufarbeitung unterläuft, ist eine clevere Stoßrichtung. Auch wenn das Dokumentarische immer wieder Hinweise auf politische Umstände gibt – zum Beispiel schwenken die Kameras bei einem Streit auf dem Platz schnell auf das Publikum, weil laut des Vaters Streit im Kommunismus keinen Platz haben darf – , bemüht sich der Film selbst nicht um eine Wurzelschau der rumänischen Geschichte. Die beiden Männer konzentrieren sich auf den Fußball, plaudern über gute und weniger gute Aktionen, diskutieren die Funktionen eines Schiedsrichters, verhandeln die korrekte Regelauslegung. Eine analytische Dimension erstreckt sich am ehesten noch entlang der Unterschiede zum heutigen Fußball.

Vielleicht ist es der Hinweis auf die verderbliche Ware Fußball, die man nur in der Gegenwart konsumieren kann. Vielleicht sind es die VHS-Bilder, deren schlechte Qualität sich mit dem Schneefall zu einem Körnerchaos vermengen. Vielleicht ist es auch das minutenlange Schweigen der Männer, das sich ganz besonders im letzten Drittel des Filmes ausbreitet. In jedem Fall erteilt „The Second Game“ eine radikale Absage an Spannung, thematische Fülle und Dramatisierung. Der Film ist eine bildgewordene Verneinung von Effizienz. Noch mehr als in seinen anderen Filmen, in denen die Handlung schon mal in selbstreflexive Diskussionen abdriftet, verweigert sich der Regisseur hier der Ökonomie des Erzählens und zelebriert die Langeweile. „Keiner würde sich das heute ansehen“, sagt der Vater.

Diese Ineffizienz passt auch zur Verweigerungshaltung des Experiments. Auch wenn sich die Fragen des Sohnes, warum sein Vater nicht öfter bei klaren Fouls gepfiffen oder eingegriffen habe, als klug verpackte Frage nach dem richtigen Verhalten im falschen System deuten lassen, so bleibt unterm Strich ein anderer Eindruck: Die Vergangenheit bleibt verschwommen. Die politischen Themen verlieren sich in der Unschärfe, so wie der Fußball in der verwaschenen Aufzeichnung. Geschichtsbewältigung ist eben kein leichtes Unterfangen, prallt an einsilbigen Antworten ab und mündet manchmal im Schweigen. Am Ende bleibt die hypnotische Fahrigkeit eines Fußballspiels und die Erkenntnis, dass sich Vergangenheit nicht per Fernbedienung anschalten und begutachten lässt.

Titos Brille

(D 2014, Regie: Regina Schilling)

Geister auf Super 8
von Wolfgang Nierlin

Die Dibbuks lassen sie einfach nicht in Ruhe. Adriana Altaras wähnt sich verfolgt von den Geistern ihrer jüdischen Vorfahren. Erinnerungsstücke, alte Fotos und Super-8-Filme, sorgsam verwahrt in alten Koffern, fordern …

Die Dibbuks lassen sie einfach nicht in Ruhe. Adriana Altaras wähnt sich verfolgt von den Geistern ihrer jüdischen Vorfahren. Erinnerungsstücke, alte Fotos und Super-8-Filme, sorgsam verwahrt in alten Koffern, fordern die in Deutschland aufgewachsene Schauspielerin und Autorin immer wieder auf, sich mit ihrem familiären Erbe und infolgedessen mit der schweren Geschichte ihrer Eltern und Großeltern auseinanderzusetzen. 1960 als „Partisanentochter“ in Zagreb geboren, als Kind von einer Tante am Gardasee betreut, bevor sie schließlich mit sieben Jahren von ihren nach Gießen exilierten Eltern in ein Internat an einer hessischen Waldorfschule gegeben wird, ist ihr diese noch unerforschte, von Gerüchten und Legenden umlagerte Vergangenheit stets gegenwärtig. Da rät ihr eine befreundete Astrologin zu einer Reise in die Vergangenheit, um sich von den quälenden Geistern zu befreien.

Nach dem Motto „Die Vergangenheit ist jetzt“ fährt Adriana Altaras also zunächst nach Gießen, wo ihr Vater als international renommierter Radiologe arbeitete, während ihre Mutter als Architektin beim Bauamt beschäftigt war und das hessische Landjudentum erforschte, das hessische Landjudentum erforschte und den Wiederaufbau der Synagoge initiierte. Dabei erfährt sie, dass die Eltern trotz ihrer exponierten Stellung als Juden möglichst unauffällig bleiben wollten. Was den charmanten Vater allerdings nicht hinderte, in Gießen eine jüdische Gemeinde zu gründen und diverse Liebesbeziehungen mit jüngeren Frauen einzugehen. Auf Altaras‘ weiteren Reisestationen in Italien, Slowenien und Kroatien geht es zwar auch um die Enthüllung von Familiengeheimnissen und die Entzauberung von sagenumwobenen Heldengeschichten; immer deutlicher rückt jedoch das schwere jüdische Erbe ins Zentrum, das geprägt ist von Verfolgung und Vertreibung, von damit verbundenen kulturellen Brüchen und noch immer schmerzenden Wunden.

In ihrem dokumentarischen Roadmovie „Titos Brille“, das auf dem gleichnamigen tragikomischen Romanbestseller von Adriana Altaras basiert, begleitet die Regisseurin Regina Schilling die verzweigte Spurensuche ihrer Protagonistin. Deren resolutes Temperament, eine Mischung aus unverstellter Direktheit und tabulosem Witz, dominieren den Film, der neben die Begegnung mit Zeitzeugen an Originalschauplätzen immer wieder historische Filmaufnahmen aus dem Familienfundus stellt. Damit werden – gewissermaßen durch die Härten der individuellen Lebensgeschichte hindurch – auch historische Hintergründe anschaulich. Schließlich entscheidet sich Adriana Altaras ihr Erbe zu bewahren, indem sie es (mit)teilt. Denn, so zitiert sie eine Verwandte: „Wer zu viel wegwirft, ist ein Faschist.“

Timbuktu

(F / ML / MR 2014, Regie: Abderrahmane Sissako )

Filmische Agenda des Widerstands
von Nicolai Bühnemann

Eine Gazelle rast durch die Wüste. Sie flüchtet vor vermummten Männern, die sie von einem Jeep aus mit ihren Kalaschnikows jagen. Danach machen die Männer Schießübungen auf traditionelle afrikanische Masken …

Eine Gazelle rast durch die Wüste. Sie flüchtet vor vermummten Männern, die sie von einem Jeep aus mit ihren Kalaschnikows jagen. Danach machen die Männer Schießübungen auf traditionelle afrikanische Masken und Statuen. Die Kamera streicht über das zersplitterte Holz. Für die Unterwerfung, die Zerstörung einer Kultur durch eine andere findet der Filmemacher Abderrahmane Sissako schon in den ersten Szenen seines vierten abendfüllenden Spielfilms sehr eindrückliche Bilder. „Timbuktu“ spielt in der gleichnamigen Stadt, die von islamischen Fundamentalisten besetzt wurde. Auch wenn die Gewalt erst in der zweiten Hälfte des Films direktere, physischere Formen annehmen wird, ist sie doch von Anfang an allgegenwärtig – wie die Schnellfeuergewehre der Besatzer und ihre Verbote. Musik ist verboten. Zigaretten sind verboten. Fußball spielen auch. Die Frauen müssen sich auf der Straße nicht nur verschleiern, sondern auch, entgegen ihren Traditionen und bei der Arbeit oft sehr hinderlich, Handschuhe und Strümpfe tragen. Gegen erzwungene Hochzeiten mit den Besatzern sind sie relativ machtlos.

In ihrem Zelt in den Dünen außerhalb der Stadt leben Kidane und Satima mit ihrer Tochter Toya und dem Hirtenjungen Issan. Auch wenn sich die nahe Anwesenheit des Regimes der Dschihadisten wie ein dunkler Schatten über ihr Leben legt – alle ihrer einstigen Nachbarn sind weitergezogen, die Männer in ihrem Jeep statten Satima und Toya einen Besuch ab, während ihr Mann nicht zuhause ist –, bleiben sie hier relativ unbehelligt. Zunächst. Der Film zeichnet ihr Dasein als Idyll in warmen, kräftigen Farben und sonnendurchfluteten Bildern. Ein Paradies, das auf seine Zerstörung zu warten scheint.

Die Tragödie nimmt ihren Lauf, als Issans Lieblingskuh, die auf den eigenwilligen Namen GPS hört, von dem Fischer Amadou getötet wird, weil sie seine Netze im Fluss zerstört hat. Sissako löst diese Szene in einer Reihe von herzerweichenden Close-Ups des sterbenden Tiers auf. Eine Fliege, die durch das Fell wandert. Ein Blutstropfen, der aus der Schnauze rinnt. Die Dringlichkeit der Inszenierung verdeutlicht, dass hier nicht nur ein geliebtes Wesen den Tod findet, sondern auch das tragische Schicksal einer Familie besiegelt wird. Der gewaltsame Tod einer Kuh läutet eine Serie von Gewalttaten ein, die sich durch die zweite Filmhälfte ziehen.

Als Kidane von dem Vorfall am Fluss erfährt, entschließt er, wutentbrannt und mit einer Pistole bewaffnet, den Fischer zur Rede zu stellen. Seine Frau sieht ihn durch ein Leinentuch, in einen Schatten verwandelt, davon gehen. Beim Handgemenge mit Amadou löst sich ein Schuss. Es folgt die vielleicht denkwürdigste der Breitbild-Kompositionen des Films. Eine Panorama-Totale des Flusses und der angrenzenden Wälder vor dem Abendhimmel. In die eine Richtung schleppt sich Kidane davon, in die andere kriecht Amadou in Richtung Land, um zu sterben. Die Distanz der Kamera zum Geschehen ersetzt die Dramatik der Ereignisse durch eine tiefe Traurigkeit. Zu Punkten in der Landschaft verwandelt, sehen wir zwei Verdammte. Kidane ist zwar unverwundet, wird sich aber vor dem Gericht der Dschihadisten wegen Mordes verantworten müssen.

Sissako sagt, er sei zu dem Film inspiriert worden durch die Geschichte eines Paares mit zwei Kindern, das im nördlichen Mali gesteinigt worden war, weil sie nicht verheiratet waren. Einerseits ist es natürlich das Terrorregime des IS in Syrien und im Irak, das „Timbuktu“ eine Aktualität gibt, die dem durch seine langwierigen Produktionsprozesse immer eher „langsamen“ Medium Film sonst fremd ist. Andererseits aber beleuchtet Sissako mit seinem Film nicht nur das fundamentalistische Treiben in einer Gegend, die außerhalb des Fokus‘ westlicher Medien-Interessen liegt, man kann seinen Film auch als einen Eingriff in die Bildproduktion des realen Terrors begreifen.

Zunächst geht es um das Bild des Terroristen. Geradezu behutsam bemüht sich der Film, die selbsternannten Gotteskrieger als Menschen zu zeigen. Da ist Abdelkrim, der sich unter dubiosen Vorwänden aus dem Jeep in die Dünen zurückzieht, um Zigaretten zu rauchen. Da ist die Szene, in der ein junger Soldat eine Videobotschaft sprechen soll. Die Aufnahme muss mehrmals wiederholt werden, weil es ihm an Elan, an Überzeugung mangelt. Der Fanatismus erscheint in dieser Szene als etwas, das gelehrt und einstudiert werden muss. (Übrigens erfahren wir, dass der junge Mann früher Rap-Musik machte – wer möchte, kann eine Parallele sehen zum aus Berlin stammenden Gangsta-Rapper „Deso Dogg“, der sich dem „Islamischen Staat“ anschloss.) Schließlich zeigt sich etwa in einem Verhör Kidanes durch seinen Richter deutlich, dass dieser durchaus Mitgefühl mit dem Schicksal des Angeklagten und seiner Familie hat. Eine solche Darstellung scheint dem Selbstbild der Terroristen diametral entgegenzulaufen. Denn die Enthauptungsvideos des IS etwa entmenschlichen ja nicht nur die Opfer, sondern gleichermaßen die Täter, die als bloße Werkzeuge des Willens Gottes erscheinen sollen. In „Timbuktu“ hat es etwas Gespenstisches, dass es gar nicht zwangsläufig unsympathische Männer sind, die für ein Regime des Schreckens verantwortlich zeichnen, in dem alle, die ihrer steinzeitlichen Auslegung des Korans nicht folgen, mit Peitschenhieben oder gar Steinigungen bestraft werden.

Zeigen die IS-Videos deutlich, dass die Terror-Bilder zu einer Waffe werden, die, indem sie Angst und Schrecken verbreiten, militärische Schwäche wett machen sollen, dann entwickelt Sissakos Film auch zu solchen Bildern ein spezifisches Verhältnis. Er nimmt den Bildern nicht ihren Schrecken, aber fügt ihnen Empathie für die leidenden Menschen hinzu. Zeigt der Film eine Auspeitschung und eine Steinigung, dann hält die Kamera eine Distanz zum Geschehen, die dem Zuschauer die Möglichkeit der Reflexion gibt. Gerade diese Haltung macht die Szenen schwer erträglich, weil sie ohne emotionalen Überschuss hilft, zu erkennen, welch unmenschliche Formen der „Bestrafung“ das sind. Das Bild des Mannes und der Frau, die bis zum Hals im Sand eingegraben sind, um gesteinigt zu werden bekommt gleichzeitig symbolischen Charakter. Die Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein gegenüber den Besatzern erfährt in ihm eine extrem beklemmende Verdichtung.

Weder ist der Film bereit, den Terror zu beschönigen, noch macht er große Hoffnungen, was den Ausgang des Geschehens anbelangt. Die letzte Einstellung schließt mit einem radikalen, buchstäblich atemlosen Bild der Bedrängnis und Verfolgung den Bogen zur Gazelle in der ersten. Was das Kino in „Timbuktu“ dem lebensfeindlichen Fundamentalismus entgegenzusetzen hat, sind Humor, Poesie, Schönheit und Lebensfreude. Wenn ein Mann wegen Fußballspielens dazu verurteilt wird, ausgepeitscht zu werden, lässt der Film darauf eine seiner schönsten, poetischsten, humorvollsten und surrealsten Szenen folgen. Eine Gruppe von Jugendlichen und jungen Männern, die auf einem Sandplatz Fußball spielen – ohne Ball. Ein Esel läuft übers Feld, unmittelbar vorm Tor entlang und doch ganz ohne die Gefahr „abgeschossen“ zu werden. Und auch das traute Beisammensein einiger junger Menschen mit Gesang und Gitarre wird umso lustvoller zelebriert, als es im Angesicht eines Regimes geschieht, das darin einen subversiven Akt sieht. So wird der Widerstand in diesem betörenden Film zu einer formalen und inhaltlichen filmischen Agenda.

Magic in the Moonlight

(USA 2014, Regie: Woody Allen)

Mentale Schwingungen
von Wolfgang Nierlin

„Nichts ist echt, alles ist vorgetäuscht“, sagt Stanley Crawford (Colin Firth) alias Wei Ling Soo. In seinen handwerklich ausgefeilten Zaubershows lässt der als chinesischer Magier verkleidete Perfektionist Elefanten verschwinden, zerteilt …

„Nichts ist echt, alles ist vorgetäuscht“, sagt Stanley Crawford (Colin Firth) alias Wei Ling Soo. In seinen handwerklich ausgefeilten Zaubershows lässt der als chinesischer Magier verkleidete Perfektionist Elefanten verschwinden, zerteilt er in klassischer Manier Frauen oder aber er „beamt“ sich selbst von einem Ort an einen anderen. Jenseits dieser künstlich erzeugten Illusionen existiert für den zynischen Rationalisten allerdings nur die graue Wirklichkeit, bevölkert von fiesen Menschen mit schlechten Eigenschaften. Alle Metaphysik ist für den aufgeklärten Skeptiker, der mit spöttischer Überheblichkeit seiner Umwelt begegnet, reinster Hokuspokus. Alles, was es gibt, so sein „wissenschaftliches“ Credo, lasse sich erklären oder aber folge einem blinden Zufall. Ziemlich unverfroren und direkt entlarvt der eingebildete Misanthrop die Schwächen und den falschen Schein seiner Mitmenschen und bezeichnet sich gerade deshalb als „unglücklichen Mann“.

Es liegt nahe, in dieser äußerst schlagfertigen, nihilistischen Künstler-Figur auch persönliche Züge ihres Erfinders Woody Allen zu erblicken, der sich mit einem leicht philosophisch gefärbten Unterton und einem Hauch von Weltschmerz im magischen Beziehungsdreieck von Existenz, Kunst und Liebe bewegt. Weil wir uns aber als Zuschauer trotz dieser schweren Thematik in einer sehr leicht und beschwingt vorgetragenen romantischen Komödie befinden, die im Jahre 1928 auf einem in mildes, freundliches Licht getauchten Anwesen an der Côte d’Azur spielt, wird das Ernste luftig und das Vergnügliche groß. Geschmackvoll, elegant und zauberhaft lauten die Eigenschaften, in denen dieser Ort erstrahlt. Doch Altmeister Allen, der vor allem in seinen jüngsten Filmen stets ein hohes Erzähltempo anschlägt und dieses ebenso routiniert wie ökonomisch verwaltet, inszeniert diesen nur als Ausstattungshintergrund, vor dem sich in langen, organischen Plansequenzen die Kamera von Darius Khondji bewegt; oder als Kulisse für altmodische Rückprojektionen.

Das eigentliche Movens dieses geistreich unterhaltenden, hervorragend besetzten Films sind hingegen die brillanten, pointiert geschriebenen Rededuelle, die Woody Allen abfeuert, sobald sein rationalistischer Zauberer im südfranzösischen Domizil eintrifft, wo er eine „falsche Spiritistin“ enttarnen soll. Die junge Amerikanerin, von ihrer Mutter begleitet, heißt Sophie Baker (Emma Stone), ist schön, charmant und gewitzt; vor allem aber besitzt sie übersinnliche Fähigkeiten, empfängt „mentale Schwingungen“ und nimmt in spiritistischen Séancen Kontakt zu Verstorbenen auf. Bald befinden sich der arrogante Engländer und das reizende Medium in einem welt- und lebensanschaulichen Clinch, dessen permanentes Hin und Her sich bald zu einem betrügerischen, von Neid und Rache getriebenen Spiel um Sein und Schein ausweitet. Die kalte Logik des Zynikers und das Glück verheißende Lächeln der Fee prallen also heftig und in retardierendem dramatischen Anstieg aufeinander, um die Liebe, um die es zwischen den beiden eigentlich geht, als „irrational“ zu „enttarnen“; und um uns zu sagen, dass die Magie des Lebens von (künstlerischen) Illusionen zehrt.

Dragan Wende – West Berlin

(D 2013, Regie: Dragan von Petrovic, Lena Müller )

The former king of West-Berlin
von Ricardo Brunn

Früher war alles eindeutiger. Den Amis gehörte die linke Arschbacke, den Russen die rechte. West-Berlin – das Arschloch dazwischen – war das Reich des Kleinkriminellen und Möchtegern-Playboys Dragan Wende. Als …

Früher war alles eindeutiger. Den Amis gehörte die linke Arschbacke, den Russen die rechte. West-Berlin – das Arschloch dazwischen – war das Reich des Kleinkriminellen und Möchtegern-Playboys Dragan Wende. Als Sohn eines jugoslawischen Gastarbeiters verdiente er hier in den 1970er und 80er Jahre als Barmann und Türsteher in so angesagten Discos wie dem „New Eden“ sein Geld. Nebenbei räumte der kurzgewachsene Ganove im übergroßen Schulterpolsterjacket mit seinen Kollegen Dule und Zlatko entspannt das ein oder andere Geschäft leer, denn der jugoslawische Pass ermöglichte ihnen die problemlose Ein- und Ausreise mit dem Diebesgut in den sozialistischen Teil der Stadt und damit zugleich die Flucht vor den Verfolgern. Außerdem war man mit der starken D-Mark im Osten ein König und konnte feiern wie sonst nirgendwo. Dann kam die Wende. Und mit dem gleichzeitig einsetzenden Ende der Discotheken-Ära am Ku’damm begann auch Dragans zwielichtiger Stern zu sinken. Heute wünscht sich der bankrotte Bordell-Türsteher nichts sehnlicher als den Wiederaufbau der Berliner Mauer – am besten zehn Meter höher.

Dragans Familie in Jugoslawien weiß kaum etwas über dessen Werdegang nach dem Fall der Mauer, weshalb sich Neffe Vuk mit der Kamera auf Spurensuche begibt, bei Dragan einzieht, ihn durch sein undurchsichtiges Leben begleitet und bald selbst als Türsteher eingespannt wird, denn so etwas bleibt am besten in der Familie. Daneben gibt es unzählige, teils vollkommen absurde Anekdoten aus Dragans Leben zu sehen und zu hören, dass manchmal Zweifel aufkommen, ob das alles tatsächlich immer der Wahrheit entspricht. So hat Dragans Freund Dule (der schon mehrfach Millionär gewesen sein will, mit seiner Tochter aber in einer heruntergekommenen Wohnung lebt) angeblich mehr als 259 Millionen Britische Pfund auf einem Konto gepachtet, an das er nicht heran kommt, weil er sich nicht an die Kontonummer erinnern kann. Auf diese Weise führen die schrägen Figuren den Zuschauer ein ums andere Mal hinters Licht und lächeln dabei spitzbübisch, als wenn nichts gewesen wäre. So verstärkt sich im Laufe des Filmes immer mehr die Frage nach der Echtheit des Gezeigten und das macht ohne Zweifel den großen Reiz dieses Filmes aus.

Unter dem Gewicht der Anekdoten, der Fülle an Figuren und der endlosen Aneinanderreihung historischen Aufnahmen zur Teilung Deutschlands zerfällt der Film allerdings schnell in seine Einzelteile. Denn aus der gewählten Aneinanderreihung des Materials will sich keine stringente Geschichte entwickeln. Mit seiner behelfsmäßigen Aufteilung in Kapitel (die vom Versuch zeugt, Herr der Bewegtbildmassen zu werden) stapelt der Film Thema über Thema und Figur über Figur, sodass am Ende ein knallbuntes Mosaik entsteht, aus dem sich beim Zurücktreten kein größeres Bild ergeben will. Knapp zehn dramaturgische Berater im Abspann dieses Dokumentarfilmes lassen erahnen, warum Vieles im Chaos des Schnitts, dem jedes Gespür für die Protagonisten fehlt und der trotz einer konstanten Bilderflut eine gewisse Trägheit entwickelt, unterzugehen droht.

Zugunsten kurioser Situationen (von denen sich die Macher offensichtlich ungern trennen wollten) verweigert der Film ein ums andere Mal einen unverstellten Blick auf Dragans augenscheinliches Alkoholproblem und damit auf ein zentrales Thema seines Helden. Auch Vuks Schicksal bleibt inkonsequent erzählt. Er verkommt als Erzähler zum Stichwortgeber für eine grob gehäkelte Geschichte oder stachelt als eine Art Enforcer Dragan zu immer neuen Wutausbrüchen an, die den Zuschauer vor allem zum Lachen bringen sollen. Andere Nebenfiguren wie Dragans Nachbarin Alexandra wollen sich erst überhaupt nicht in das Kaleidoskop einfügen lassen.

Das ist sehr schade, denn in vielen Szenen (Dragan singend auf dem Balkon) offenbart das Material die anrührende Tragik eines gescheiterten Lebens im Angesicht großer politischer Veränderungen. Und hinter Dragans misanthropischem Gebaren verbirgt sich ein unglaublich charismatischer und verletzlicher Protagonist; ein etwas anderer Wendeverlierer, dessen Geschichte es wert gewesen wäre, manchmal mit etwas mehr Sensibilität erzählt zu werden.

Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach

(SE 2014, Regie: Roy Andersson)

Existentialismus, gut abgehangen
von Janis El-Bira

Ein beengter Raum im Museum, unwohnlich blasses Blau-Grau-Braun bestimmt die Farbpalette. Hohe Schaukästen mit präparierten Vogelarten unterteilen das Bild, während aus dem Nebenzimmer der Kopf eines Saurierskeletts in den Türrahmen …

Ein beengter Raum im Museum, unwohnlich blasses Blau-Grau-Braun bestimmt die Farbpalette. Hohe Schaukästen mit präparierten Vogelarten unterteilen das Bild, während aus dem Nebenzimmer der Kopf eines Saurierskeletts in den Türrahmen ragt. Zwei Besucher, Mann und Frau, betrachten die verglasten Naturinszenierungen und erscheinen dabei mit ihren aschfahlen Gesichtern kaum lebendiger als die ausgestopften Knopfaugenträger. Fast biegt sich die Decke unter der Tonnenlast der Existenz und wie meistens ist das auch hier ziemlich komisch.

Roy Andersson ist ein langsamer Filmemacher. „Eine Taube sitzt auf einem Zweig…“ ist lediglich der dritte Spielfilm des 71-jährigen Schweden in den vergangenen vierzehn Jahren und hat ihm nun diesen Sommer in Venedig den Goldenen Löwen beschert. Der ausgesprochen sparsame Output geht auch bei Andersson mit einer bedächtigen Schärfung, man könnte fast sagen: Verhärtung der filmischen Handschrift einher. Insofern war kaum zu erwarten gewesen, dass er von seinem sehr markanten, mit „Songs from the Second Floor“ (2000) und „Das jüngste Gewitter“ (2007) etablierten Stil noch einmal abweichen würde. Es kam auch nicht so. Der neue Film entfaltete sich wieder als ein Kaleidoskop der mit fixierter Kamera streng kadrierten Vignetten. Wie unerwartet ins Leben gerufene Museumspräparate schleppen sich Anderssons zahlreiche Figuren durch diese bitterkomischen Dioramen über die Vergeblichkeit des Seins. Ihr plötzliches Auftauchen in anderen, oft ganz entlegenen Szenerien verknüpft zart, was kein übergeordneter Plot zusammenhält. Vor allem zwei weitgehend erfolglos umherreisende Scherzartikelhändler, die unermüdlich die falschen Vampirzähne in die hängenden Mundwinkel schieben, markieren eine Art fahrendes Zentrum des Films. Einmal werden sie in einer Kneipe unvermittelt vom schwedischen König Karl XII. überrascht, der vor dem Zusammentreffen mit den russischen Truppen noch ein Glas Wasser trinken möchte, während seine Armee vor den Fenstern der Wirtschaft minutenlang vorbeizieht.

Es sind vor allem die Rückwände von Anderssons Schaukästen, die derlei raumzeitliche Offenheit behaupten wollen. Ähnlich der bemalten Hintergründe der Dioramen lassen sie die Bildausschnitte tief erscheinen und stellen das skurrile Geschehen im Vordergrund in Zusammenhänge, die über das Hier und Jetzt hinausweisen. Staunenswert schön ist das, wenn sich dort Landschaften brueghelscher Dimensionen auftun oder ein Straßenzug dem Anschein nach in die Bildwelt der Neuen Sachlichkeit einsteigen lässt. Der von Andersson eingeräumte Einfluss Otto Dix’ setzt sich indes auf den vorderen Bildebenen fort, wo die langgezogenen Kreidegesichter auf Körpern sitzen, die sich unter lähmend festgezurrter Kleidung wölben. Immer wieder sprechen sie denselben Satz in meist altmodische Telefone: „Es freut mich zu hören, dass es dir gut geht.“ Dabei fallen sie in Wirklichkeit doch – wie in einer Szene zu Beginn – schon beim teuflisch anstrengenden Öffnen einer Weinflasche tot um.

Oft genug geht diese Verstrickung finsterer Beckett’scher Absurdität und liebenswert-skandinavischer Skurrilität auf. Man lacht und ist ein bisschen traurig. Häufig aber steht dem Film der Morast der eigenen alteuropäischen Kunstbeflissenheit auch bis zu den Knien. Die Einsicht in die generelle Aussichtslosigkeit allen Tuns führt auch hier zur Zuflucht im Schönen, Sortierten und Kunstfertigen. Anderssons Filmen ist eines, das keine Sorgen mehr kennt – außer dem Weltuntergang. Das bringt unweigerlich einen gewissen Verwesungsgeruch mit sich, weil alles hier schon einmal gestorben, schon so tot und gut abgehangen erscheint. Gegen Ende gibt es ein paar Szenen von großer, aber sublimierter Grausamkeit: Einem festgeschnallten Affen werden in einem Versuchslabor Stromstöße durchs offenliegende Hirn gejagt. Er schreit dabei sehr effektvoll. Kolonialherren treiben Sklaven in eine gigantische Stahltrommel, die sich unter deren panischen Fluchtversuchen zu drehen beginnt, als man ein Feuer an ihrem Boden entzündet. Sie spielt jetzt Musik. Der Horror wird dort erträglich (weil lächerlich), wo man ihn – ins künstlerisch Groteske verzerrt – noch überbietet. Die gleichmütige Ruhe, die sich nach diesen Szenen wieder einstellt, ist eigentlich eine gleichgültige Grabesstille. Das mag man vielleicht bewundern; es zu mögen fällt aber schwer.

Die Wolken von Sils Maria

(F / CH / D 2014, Regie: Olivier Assayas)

Vielfältige Maskierungen
von Nicolai Bühnemann

Olivier Assayas macht ein „internationalistisches“ Kino. Nicht nur, weil er, wie so viele ambitioniertere Filmemacher der Gegenwart, auf internationale Geldgeber angewiesen ist, sondern auch weil seine Figuren immer wieder im …

Olivier Assayas macht ein „internationalistisches“ Kino. Nicht nur, weil er, wie so viele ambitioniertere Filmemacher der Gegenwart, auf internationale Geldgeber angewiesen ist, sondern auch weil seine Figuren immer wieder im höchsten Maße polyglott und mobil sind. „Carlos“, in dem alleine die Titelfigur fünf Sprachen spricht und sich zwischen gefühlten hundert Schauplätzen hin und her bewegt, bildet nur einen Höhepunkt dieser Tendenz. So sprach schon die Protagonistin in „Clean“ (2004), eine abstinente Süchtige, in Kanada, Paris und London Kantonesisch, Französisch und Englisch. Es scheint, dass es in der Welt des Olivier Assayas, in der die Herkunft eine immer geringere Rolle spielt, eine – gar nicht zwangsläufig negativ gedachte – „Entwurzelung“ um sich greift, umso bedeutender ist es, zu einer klaren Position in der eigenen Biographie zu gelangen. Pathetisch könnte man sagen, dass Assayas‘ ProtagonistInnen angesichts des Verlustes der „Heimat“ keine andere Wahl haben, als sich selbst zu finden.

Nach seinen Ausflügen durch die Zeit- und Popgeschichte mit der Playboy- und Terroristen-Saga 'Carlos' und dem Post-68-Coming-of-Age-Film Die wilde Zeit' kehrt Assayas mit 'Die Wolken von Sils Maria' in die Gegenwart zurück. Die Vergangenheit aber bleibt weiter sein Thema oder, so sagt er es selbst, „unsere Beziehung zur Vergangenheit und zu dem, was sie aus uns macht.“ Damit knüpft Assayas zugleich an „Summer Hours“ an, sein Meisterwerk von 2008, in dem ebenfalls Juliette Binoche mitspielte. Dort gab es entlang einer Erbschaft eine Bestandsaufnahme des Lebens dreier Geschwister, die Konflikte zu bewältigen hatten, die sich aus variierenden Lebensentwürfen im Allgemeinen und aus einer unterschiedlichen Verbundenheit zu Herkunft und Vergangenheit im Besonderen ergaben.

Wie in „Summer Hours“ ist es auch in „Sils Maria“ ein Todesfall, der der Handlung eine erste entscheidende Wendung gibt. Die erfolgreiche Schauspielerin Maria Enders (Binoche) ist mit ihrer Assistentin Valentine (Kristen Stewart) im Zug unterwegs zu einer Preisverleihung zu Ehren ihres Entdeckers und Mentors Wilhelm Melchior in den Schweizer Alpen, als sie von dessen Tod erfährt. Auf der Verleihung trifft Maria nicht nur ihren verhassten Kollegen Hendryk (Hanns Zischler), sondern bekommt auch ein ebenso vielversprechendes wie problematisches Angebot für eine Rolle. Es geht um Melchiors Stück 'Maloja Snake', in dem eine ältere Frau, Helena, eine Obsession für eine jüngere, Sigrid, entwickelt, die sie schließlich in den Suizid treibt. In der Rolle der Sigrid hatte Maria einst ihren Durchbruch. Nun, etliche Jahre später, bietet ein junger Regisseur ihr an, in einer neuen Inszenierung Helena zu spielen. Ihren Widerpart soll Jo-Ann Ellis (Chloe Grace Moretz) geben, ein Hollywood-Starlet, der ein Ruf aus Skandalen, Affären, Gewalttätigkeit und Alkohol am Steuer vorauseilt.

Das Setting in der Kulturindustrie gibt Raum für einige scharfzüngige Seitenhiebe auf den Filmbetrieb der Gegenwart. So geht es einmal um eine Tolstoi-Verfilmung mit deutschen Produzenten – von Binoche mit einem augenrollenden „Who cares?!“ kommentiert – und auch die Schwemme an Superheldenfilmen aus Hollywood bekommt ihr ironisches Fett weg. Außerdem unternimmt Assayas eine kleine Reise durch die Filmgeschichte. Von Arnold Fancks historischem Bergfilm 'Das Wolkenphänomen von Maloja' (1924), über die sich durch einen Berg-Pass schlängelnden Wolken, die dem Stück „Maloja Snake“ den Titel geben, bis hin zu einem fiktiven Science Fiction-Blockbuster mit Jo-Ann Ellis, den sich Maria und Valentine gemeinsam im Kino ansehen – selbstverständlich mit 3D-Brille auf der Nase.

Das Spiel um „reale“ Personen und ihre Medien-Persona will in „Sils Maria“ auf wesentlich mehr hinaus als auf eine einfache Dichotomie von Schein und Sein. Vielmehr sind die medialen Abbilder der Menschen Teil eines Spiels vielfältiger Maskierungen. So macht Maria in ihrer Begegnung mit Hendryk vordergründig gute Miene zum bösen Spiel, während ihr Verhältnis zu ihm in Wirklichkeit doch wesentlich ambivalenter ist, als sie selbst zugeben möchte. Auch das Bad Girl-Image, das die Google-Suche zu Jo-Ann Ellis liefert, passt so gar nicht zu der charmanten, gebildeten und ehrerbietigen jungen Frau, die Maria und Valentine später kennen lernen werden, die dann wiederum gegen Ende, bei den Proben für das Stück, ein ganz anderes Gesicht offenbart.

In seinen Medien-Diskursen scheint „Sils Maria“ auch Anschluss zu finden an zwei andere Filme der laufenden Saison: David Finchers „Gone Girl“ und David Cronenbergs Maps to the Stars'. Besonders augenscheinlich sind die Parallelen zu Cronenbergs satirischer Abrechnung mit dem Zynismus und dem Menschenverschleiß der Traumfabrik. Auch dort gibt es eine alternde Schauspielerin (gespielt von Julianne Moore), die ein Rollenangebot bekommt, das tief in ihrer Biografie verwurzelte Konsequenzen hat. Sie sieht ihre letzte Rettung – nicht nur, was ihre Karriere anbelangt – darin, die Rolle zu spielen, die ihrer Mutter einst jungen Ruhm bescherte. Wo das aber bei Cronenberg nur Teil des Wiederholungszwangs ist, der das Handeln sämtlicher Personen des Films bestimmt, geht es für Maria darum, sich einzugestehen, dass sie nicht mehr die junge Frau von einst ist. Die Chance einer neuen Perspektive auf die Dinge, statt der ewigen Reproduktion des Dysfunktionalen.

Durch Zwischentitel wird der Film in zwei Teile und einen Epilog unterteilt. Im Mittelpunkt des ersten Teils steht die Preisverleihung mit ihren öffentlichen Auftritten im Blitzlichtgewitter. Im zweiten Teil zieht sich der Film zurück zu seinen beiden Protagonistinnen, die im gemeinsamen Sprechen und Lachen eine sehr spezifische Form der Intimität entwickeln. Die unentwirrbare Durchdringung von Beruflichem und Privaten findet ihre Entsprechung in den verzweigten Pfaden der Alpenlandschaft, ebenso wie in den Gesprächen, in denen der eigentliche Text des Stückes, das sie gemeinsam proben, nahtlos in dessen Exegese und persönliche Gespräche übergeht.

„Cruelty is cool, suffering sucks,“ sagt Valentine einmal im Bezug auf die Identifikationsangebote, die das Stück dem Zuschauer mit seinen beiden Frauenfiguren anbietet. Doch Assayas‘ Film lässt sich auf derart zynische Eindeutigkeiten nicht ein. Er bewertet nicht und ergreift keine Partei. In der Beziehung zwischen den beiden Frauen wird es, wie in der von Helena zu Sigrid, um Abhängigkeit, Verlustangst und Trennung gegangen sein. Aber in die vorgefertigten Formen passt sie sich dennoch nie ganz ein. Vielmehr verfestigt sie sich, nimmt Gestalt an, um sich wieder zu verflüchtigen, auseinander zu stieben. Wie die Wolkenschlange im Maloja-Pass – oder einfach wie es zwischenmenschliche Beziehungen nun mal oft zu tun pflegen.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Die Wolken von Sils Maria'.

Wir waren Könige

(D 2014, Regie: Philipp Leinemann)

„Na, wegen dir sitzen wir doch in dieser Scheiße!“
von Ulrich Kriest

Das haben wir nun davon! War ja klar, dass das früher oder später passieren würde. Da lobpreist man seit 20 Jahren (oder noch länger) Filme von Dominik Graf wie „Die …

Das haben wir nun davon! War ja klar, dass das früher oder später passieren würde. Da lobpreist man seit 20 Jahren (oder noch länger) Filme von Dominik Graf wie „Die Sieger“, „Der Skorpion“, „Im Angesicht des Verbrechens“ oder auch „Das unsichtbare Mädchen“ ob ihrer Genre-Qualitäten, ihrer handwerklichen Qualität, ihres Formbewusstseins und des Gespürs für leicht sentimental unterfütterte Männer-Gruppen-Studien und wird nicht müde zu beschreiben, was Graf im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen scheinbar instinktiv richtig macht. Ach, würden doch zwei, drei, hunderte Grafs blühen!

Vielleicht hätte auch mal jemand schreiben sollen: „Wer einen Dominik Graf-Film nachmacht oder fälscht oder einen gefälschten Graf-Film in Umlauf bringt, wird mit Achselzucken und Spott bedacht, dass es nur so kracht!“ Philipp Leinemann heißt der Zauberlehrling und ihm gelang es immerhin erfolgreich, so zu tun, als ob. Dafür – für das als-ob – gibt es Gründe: Weil Leinemann seinen Film mit einschlägigen und durchaus profilierten Darstellern wie Misel Maticevic, Ronald Zehrfeld, Bernhard Schütz, Thomas Thieme oder Frederick Lau besetzt hat, mutet „Wir sind Könige“ wie ein Verschnitt aus drei Dominik Graf-Filmen an. Nur, dass sich die Schauspieler hier im allgemeinen Gebrüll, Gefluche, Gesaufe und Geflenne ungebremst um Kopf und Kragen spielen dürfen.

Wer sagt denn, dass Männer ihre Gefühle nicht zeigen können? In Philipp Leinemanns Polizeifilm wird von Männern unterschiedlichen Alters derart abendfüllend gebrüllt, geflucht, geweint, gehadert, gestritten, geschossen, geprügelt, geblutet, gejagt und gefeiert, dass sich die Balken biegen – und der Zuschauer mitunter die Übersicht zu verlieren droht, zumal die Wurzeln der hier verhandelten Konflikte sämtlich außerhalb der Filmhandlung liegen.

Gleich zu Beginn geht ein SEK-Einsatz in einem Problemviertel furchtbar schief, bei dem die beteiligten Beamten nicht so recht wissen, warum er überhaupt stattfindet und wem er gilt. Weil er aber schiefgeht, gibt es sogleich Ärger, denn die SEK-Einheit steht als selbstermächtigte Elite ohnehin unter Beobachtung. Weil sich »die da oben« nicht für die kleinen Polizisten interessieren, muss man sich eben selbst beizeiten um die Alters- und Hinterbliebenenversorgung kümmern.

Während die juvenil auftretenden Mitglieder des SEK ohne Hobbies und Privatleben noch lautstark gemeinsam ihre Wunden lecken, nimmt der Film zwei konkurrierende Jugend-Gangs in den Blick und dazu noch den 13jährigen Nasim, der mit allen Mitteln versucht, »dabei« zu sein. Egal wo, egal warum. Mal will er sich vom prolligen Jacek ein Messer besorgen lassen, um sich verteidigen zu können. Mal klaut er im Supermarkt seines Vaters Geld, um dem freundlich-nachdenklichen Thorsten ein viel zu teures Geburtstagsgeschenk machen zu können, mit dem er dann gleich dessen Kumpels düpiert, die für ein billigeres Gerät zusammengelegt haben. Thorsten, der auf Bewährung ist und als einziger Jugendlicher grammatisch fehlerfreies Hochdeutsch redet, hat zudem eine Freundin und will die Szene hinter sich lassen. Doch in dieser Stadt ohne Namen sitzen die Fäuste locker.

Mal prügeln sich die Jugendlichen, mal prügeln die SEK-Beamten mit, mal werden normale Streifenpolizisten auf der Straße in Massenschlägereien verwickelt und müssen von den „SEKies“ rausgehauen werden, manchmal geraten auch SEKies und Streifenpolizisten aneinander. Ohnehin stehen die SEKies ständig unter Strom: wenn sie nach einem flüchtigen Täter suchen, rücken sie mit Scharfschützen an und brechen Türen auf, um mit möglichen Zeugen ein wenig zu plaudern. Wobei dann wenig mehr als ein paar coole Sprüche rausgepresst werden. Als dann eines Nachts zwei Kollegen erschossen werden und eine Dienstpistole verschwindet, steht Selbstjustiz auf der Tagesordnung. Hier kommt nun wieder Nasim ins Spiel, der scheinbar naiv, aber mit außerordentlichem Geschick alle Seiten gegeneinander ausspielt, Spuren legt, Hinweise gibt, sich als Köder andient.

Da „Wir sind Könige“ als Genrefilm konzipiert ist, sollte man ihm seine Klischees, holzschnittartigen Verdichtungen und psychologischen Leerstellen gar nicht erst vorhalten. Dumm ist dabei nur, dass der Filmemacher glaubt, dass sein Film vom Testosteron des plakativ Männerbündischen derart profitiert, dass allein schon Laustärke und ungebrochenes Imponiergehabe aus einem konventionellen und eher schwachen Fernsehfilm ein kinotaugliches Produkt macht.

Doch ein äußerst schwaches Drehbuch behauptet viele Wendungen der sehr konstruierten und trotzdem absehbaren Geschichte nur: erst wird ein Jugendlicher für tot gehalten, dann macht sich ein Kollege mal schlau und ist sofort auf der richtigen Spur. Erst fordern die SEKies unbedingten Korpsgeist ein, dann liest einer von ihnen mal kurz die Akten zum Fall (Büroarbeit!) und entdeckt sofort eine Verschwörung, die leider niemanden außer ihn selbst zu interessieren scheint. Weshalb er sich dann binnen weniger Minuten zum Softie wandelt, dem »das alles« gegen den Strich geht und der Konsequenzen zieht.
Zehrfeld, wie er leibt und lebt.

Die Schwäche des Films ist nämlich nicht sein Imponiergehabe, sondern sein fehlendes Gespür für Zwischentöne. Am Ende gönnt sich der Film die Pointe eines denkwürdigen Erinnerungsbildes (remember: „The Shining“), in dem sich Täter und Opfer nach dem Saufgelage in den Armen liegen. Feiern oder morden – dem Adrenalin ist‘s letztlich einerlei.

Dumm und Dümmehr

(USA 2014, Regie: Bobby Farrelly, Peter Farrelly)

Do it again! (and again)
von Ulrich Kriest

Die Regie-Brüder Peter und Bob Farrelly, Könige der mittlerweile etwas in die Jahre gekommenen „Gross-out-Comedy', haben sich im Laufe ihrer Karriere immer mal wieder vor Vorbildern aus der Filmgeschichte verbeugt, …

Die Regie-Brüder Peter und Bob Farrelly, Könige der mittlerweile etwas in die Jahre gekommenen „Gross-out-Comedy', haben sich im Laufe ihrer Karriere immer mal wieder vor Vorbildern aus der Filmgeschichte verbeugt, indem sie diese auf effektive Weise etwas tiefer legten („The Heartbreak Kid“, „The Three Stooges“). Mit „Dumm und Dümmehr“ verbeugen sie sich zur Abwechslung einmal vor sich selbst, denn vor 20 Jahren gelang ihnen mit ihrem Spielfilmdebüt „Dumm und Dümmer“ überraschend ein Kassenschlager der Geschmacklosigkeiten mit zwei mental schwerst herausgeforderten Helden, enthemmt verkörpert von Jim Carrey und Jeff Daniels.

Vielleicht fungierte der destruktive „Dummer und Dümmer“ ja sogar als Gegengift zu „Forrest Gump“, dem freundlichen Dummkopf. Wir erinnern uns: Am Schluss von „Dumm und Dümmer“ hatten Lloyd und Harry alles verloren, als irgendwo im Nirgendwo ein Bus voller Bikini-Schönheiten neben ihnen anhielt, die für eine mehrmonatige Tournee noch zwei Männer suchten, die ihre Körper Abend für Abend einölen sollten. Harry machte die Mädels auf ein nahes Dorf aufmerksam, wo sie bestimmt fündig würden, worauf sich Lloyd für die Langsamkeit seines besten Freundes entschuldigte: das Dorf liege in entgegengesetzter Richtung. Hahaha.

Wobei der größte Witz natürlich die Tatsache war, dass die Mädels überhaupt angehalten haben! Jetzt also ein „Sequel“? Dass zwischen „Dumm und Dümmer“ und „Dumm und Dümmehr“ 20 Jahre liegen, thematisiert der neue Film in der Eingangssequenz gleich selbst, indem er darüber reflektiert, dass man manche Pointe durchaus etwas liegen lassen kann, bis sie schließlich zündet. Der Witz in dieser Szene hat buchstäblich einen Bart wie ein moderner Indie-Folkie. Man merkt dann aber schnell, dass die Farrelly-Brüder das Wort „Sequel“ nicht so ernst genommen haben und den zeitlichen Abstand produktiv machen, indem sie sich die Freiheit nehmen, den alten Film schlicht zu wiederholen. Was durchaus auch als boshafter Kommentar zur grassierenden Sequel- und Prequel-Mode in Hollywood gelesen werden kann (aber nicht muss).

Nichts Neues, dafür Nachschlag vom Immergleichen. Das Resultat dieser künstlerischen Entscheidung ist jedenfalls eine erstaunliche Mischung aus Feedback-Interferenzen und Konzeptkunst, denn natürlich sind die beiden Hauptdarsteller 20 Jahre älter und natürlich wird es Zuschauer geben, die sich an den alten Film erinnern und die minimalen Verschiebungen innerhalb eines Deja-vu-Erlebnisses zu goutieren wissen. Will sagen: Der blinde Junge mit dem Sittich ohne Kopf ist wieder dabei und hat jetzt eine ganze Sammlung exotischer Vögel. Dafür hat Harry eine fette Katze namens Rosette, was einleuchtet, wenn man dem Tier nicht in die Schnauze guckt, sondern …

Es ist also Zeit vergangen, aber in der Welt von Lloyd und Harry spielt Zeit keine Rolle. Obwohl die Zeit drängt, denn Harry braucht jetzt dringend eine Spenderniere. Durch einen Besuch bei seinen Eltern, die sich für alle überraschend als asiatische Adoptiveltern erweisen, erfährt Harry, dass eine frühere Freundin vor mehr als 20 Jahren schwanger wurde. Ist Harry der Vater, dann wartet irgendwo eine Spenderniere. Und auf Lloyd vielleicht die Frau seines Lebens. Weil das Kind aber unmittelbar nach der Geburt zur Adoption frei gegeben und ausgerechnet (und zudem völlig unpassend, weil sie mindestens so beschränkt ist wie Harry und Lloyd) in der Familie eines Genies landete, gestaltet sich die Suche nach der verlorenen Tochter etwas kompliziert.

Die beiden Freunde begeben sich erneut mit abenteuerlichen Fortbewegungsmitteln auf eine Reise durch die USA, diesmal nach El Paso, wo ein Forschungskongress darauf wartet, aufgemischt zu werden – und die Farrellys ein weiteres Mal den Nutzen von Innovation ins Lächerliche ziehen. Auch die üblichen Kriminellen machen Probleme, geht es doch hier immer (auch) um die wilde Jagd nach einem Paket, in dem sich die Rettung der Menschheit befinden soll. Letztlich – auch nicht übel – erweist sich der Inhalt des Pakets als vier Muffins: ein echter „McMuffin“ also – in der Manier der Farrellys, die man nicht unterschätzen sollte.

Am Schluss dieser seltsamen und nicht selten rabiaten Familienaufstellung – insbesondere Carrey scheint noch in einem ganz anderen, aggressiveren Film mitzuspielen, von dem leider sonst niemand weiß – sind einige Fragen beantwortet, andere noch nicht einmal gestellt, aber bevor unsere beiden Helden die drohende Einsicht in die eigene Beschränktheit an sich heranlassen, fliehen sie zurück in ihre kleine Welt und gönnen sich einen letzten Streich, der dem Finale des ersten Films in nichts nachsteht. Selten ging Männerfreundschaft derart schmerzhaft an die Nieren!

Kill the Boss 2

(USA 2014, Regie: Sean Anders)

Verfickt prüde
von Carsten Moll

Dem Arbeitgeber das Leben nehmen, diese Fantasie schleppt der deutsche Verleihtitel in Anlehnung an den ersten „Kill the Boss“ (im Original: „Horrible Bosses“, 2011) zwar noch mit sich herum, aber …

Dem Arbeitgeber das Leben nehmen, diese Fantasie schleppt der deutsche Verleihtitel in Anlehnung an den ersten „Kill the Boss“ (im Original: „Horrible Bosses“, 2011) zwar noch mit sich herum, aber die Prämisse dieses Sequels ist eine andere: Nachdem das Heldentrio, bestehend aus den weißen, heterosexuellen Mittelstandsmännern Kurt, Nick und Dale, sich seiner schrecklichen Chefs im vorhergehenden Teil auf turbulente Weise entledigt hat, wollen die Mittvierziger nun ihre eigene Firma gründen. Und selbstverständlich will den harmlos vertrottelten Protagonisten trotz anfänglicher Erfolge wieder einmal nichts so recht gelingen. Als besonders folgenreich und fahrlässig erweist sich dabei ein Deal mit dem Geschäftsmann Burt Hanson (Christoph Waltz), der sich das aufstrebende Unternehmen der naiven Helden mit einer hinterhältigen List unter den Nagel reißen will. Den drohenden Bankrott vor Augen sehen die drei Freunde keinen anderen Ausweg, als sich erneut an einem Kapitalverbrechen zu versuchen: Sie planen, Rex Hanson (Chris Pine), den aalglatten Sohn ihres Widersachers, zu entführen, um den Vater zu erpressen.

Entgegen der Steigerungslogik, die eine Fortsetzung üblicherweise mit sich bringt, scheint „Kill the Boss 2“ die Grundidee des Vorgängerfilms geradezu entschärfen zu wollen. Nicht bloß die Verschiebung vom Mord zum Kidnapping nimmt der Komödie einiges an Drastik, auch das blinde Vertrauen der Macher auf die bekannte und erstaunlich erfolgreiche Formel des ersten Teils dürfte selbst bei Fans der Reihe für nicht mehr als ein gelassenes Achselzucken sorgen. Neben den drei Hauptdarstellern Jason Bateman, Charlie Day und Jason Sudeikis sind außerdem Kevin Spacey, Jennifer Aniston und Jamie Foxx wieder mit von der Partie und dürfen sich in eintönigen Schimpfwort-Tiraden ergehen, die längst auch in Hollywood-Produktionen dieser Größe zum guten Ton gehören.

So böse, abgründig und subversiv, wie „Kill the Boss 2“ verkauft wird, ist der Film also bei weitem nicht. Es erinnert eher an einen großmäuligen Teenager, der mit sexuellen Eskapaden protzt, um seine Jungfräulichkeit zu vertuschen, wenn Regisseur Sean Anders („Der Chaos-Dad“, 2012) sich daran ergötzt, im Dialog eine Anzüglichkeit nach der anderen (oder vielmehr ein und dieselbe Anzüglichkeit in einer Endlosschleife) zu präsentieren, um seine schematische, zahme Komödie interessanter zu machen. Die lustlose, einer holprigen Sketchshow-Dramaturgie folgende Inszenierung generiert dabei bloß sterile, cleane Bilder, die allen verbalen Unanständigkeiten zum Trotz die tiefsitzende Prüderie dieses Films bezeugen: Geduscht wird hier mit Klamotten und nackte Haut ist anscheinend nur vermittelt über einem kleinen, unscharfen Überwachungsmonitor zu ertragen.

Mit endlosem Geschwätz geizt der Film hingegen nicht, und er lässt seine Protagonisten andauernd wild und hysterisch durcheinander quasseln. Um die wenigen Pointen, die dann doch in den Dialogen stecken, muss man sich in diesem Schwall nicht groß kümmern, und zu sagen hat „Kill the Boss 2“ trotz seiner Redseligkeit überhaupt nichts. Die Lesart als antikapitalistischer Rachefilm wird noch mehr als beim Vorgänger von der Konventionalität sowie der kommerziellen Anschlussfähigkeit des Dargestellten durchkreuzt und auch als Satire auf die Befindlichkeiten einer privilegierten Mittelschicht mag das Ganze nicht funktionieren. Dazu fehlt es an einer Haltung, die dem Spott eine Richtung geben und somit eine Kritik fundieren würde. In Anders‘ Komödie soll aber einfach über alles gleichermaßen gelacht werden, über die verplanten Hauptdarsteller genau so wie über gedemütigte asiatische Hausmädchen, vergewaltigte Koma-Patienten und natürlich alles, was schwul wirkt.

So zapft „Kill the Boss 2“ seinen politisch inkorrekten Humor lediglich aus den Stammtischecken dieser Welt, um Rassismus, Homophobie und Misogynie auch für ein vermeintlich liberales und aufgeklärtes Publikum verwertbar zu machen – mit einem dicken Augenzwinkern versteht sich. In der Figur der von Aniston verkörperten Sexsüchtigen wird das Problem dieses Ansatzes vielleicht am deutlichsten: Die Männerfantasie von der dauergeilen Nymphomanin wird zwar auf absurde (man könnte auch sagen: kinotaugliche) Maße aufgeblasen, dabei allerdings nie zum Platzen gebracht. Es bleibt bei einer Männerfantasie, deren düstere Implikationen sich der Film mit seinem unbeschwerten Humor und einer zur Strategie verkommenen Ironie mühelos vom konfektionierten Leib halten kann.

Einer nach dem anderen

(NOR 2014, Regie: Hans Petter Moland)

Schneepflug Driver, eine Wiedervorlage
von Ulrich Kriest

Norwegen kann sehr kalt sein. Wenn man zum Beispiel Selbstmord machen will und sich das Jagdgewehr bereits in den Mund geschoben hat – und dann von etwas überrascht wird, was …

Norwegen kann sehr kalt sein. Wenn man zum Beispiel Selbstmord machen will und sich das Jagdgewehr bereits in den Mund geschoben hat – und dann von etwas überrascht wird, was den Dingen ein anderes Ansehen gibt, dann heißt es vorsichtig sein beim Entfernen des Gewehrlaufes aus dem Mund. Es könnte nämlich sein, dass die Lippe am Metall hängen bleibt. Wegen der Kälte! Hahaha.

Eine Tautologie? Es ist nicht die letzte dieses etwas ranzig schmeckenden Zweit- und Drittaufgußes von Coen- und Tarantino-Mischungen. Doch wir wollen nicht vorgreifen! Gerade ist der stille Nils, Schneepflugbeauftragter seines norwegischen Provinzdorfes, für seine Zuverlässigkeit zum „Bürger des Jahres“ gewählt worden: der Schwede, so wird gesagt, sei geradezu ein Muster an Integration. Da erreicht ihn aus Oslo die Nachricht, dass sein Sohn an einer Überdosis Drogen gestorben ist. Gefunden wurde der Leichnam auf einem eiskalten Bahnsteig. Norwegen kann sehr kalt sein.

Nils mag das mit den Drogen nicht glauben – und der Zuschauer, der Zeuge des brutalen Mordes durch die Drogenmafia geworden ist, schätzt Nils, dessen Welt ab sofort aus den Fugen ist, für seinen untrüglichen Vaterinstinkt. Selbstmord scheint nur kurz eine Option, dann bekommt er unverhofft einen Namen, der seinem Rachefeldzug ein Ziel gibt. Aus dem Integrierten wird in der Welt der Outcasts ein Außenseiter, der sich nicht an die ungeschriebenen Gesetze und Rituale der Subkultur hält, weil er sie nicht kennt. Nils‘ Wunsch nach Rache für seinen Sohn bringt Unordnung in die wohl geordnete Welt des kriminellen Milieus, das um eine intakte Betriebskultur bemüht ist. „Wenn norwegische Kinder verschwinden, gibt es immer lästige Eltern, die nach ihnen suchen“, weiß das Milieu. Aber wie lästig ist erst ein Vater, der sich in »Dirty Harry« verwandelt und stoisch seinen Rachefeldzug exekutiert, obwohl er keine Ahnung davon hat, mit wem er sich anlegt? Es darf gelacht werden!

Hans Petter Moland („Ein Mann von Welt“) setzt auf die bewährte Mischung aus lakonischer Gewaltdarstellung und kauzigen Charakteren, die das skandinavische Kino seit der Jahrtausendwende, seit Filmen wie „Flickering Lights“ oder „In China essen sie Hunde“ pflegt und sich dabei mehr oder weniger offen auf das Kino der Coen-Brüder und Tarantinos bezieht. Frage: Braucht das noch irgendjemand?

Während Nils sich also die Hierarchie der Drogenmafia entlang mordet, werden uns Gangster vorgestellt, denen bereits die Arbeit, Gangster darzustellen, Mühe bereitet und die deshalb allerlei Macken ausgebildet haben. Wie zum Beispiel der bezopfte Gangsterboss „Der Graf“, der vegan lebt und täglich vergeblich versucht, seine Gang von diesem Ernährungsstil zu überzeugen. Der Graf versorgt seine Jungs mit frisch gepresstem Karottensaft und verabscheut künstlich gezuckerte Frühstücksflocken. Das heißt aber nicht, dass er seine Ehefrau, die sich von ihm getrennt hat, nicht verprügelt oder die konkurrierenden Serben stets als „Albaner“ bezeichnet. Hahaha. Die Serben, mit denen sich die Bande des Grafen den Drogenmarkt ordentlich aufgeteilt hat, kommen ins Spiel, weil niemand damit rechnet, dass hier ein Nicht-Gangster seine Blutspur zieht. Man geht von einer Kriegserklärung unter Gangstern aus und statuiert schnell ein Exempel, das allerdings so unglücklich gewählt ist, dass der Streit nicht mehr durch eine freundliche Geste geschlichtet werden, sondern mit alttestamentlicher Strenge exekutiert werden wird.

Der Film leistet sich das Vergnügen, seinen alternativen Titel „In Order Of Disappearence“ durch eine Folge von Inserts, die jedem Toten eine ordentliche Todesanzeige mit bürgerlichem Namen und Gangsternamen („Der Chinese“, „Wingman“) verpasst, zu exekutieren. In der Reihenfolge ihres Abtretens. Kurz vor Schluss wendet sich die Gewalt kurz gegen Nils, aber beim Grande Finale ist er nur eine Nebenfigur. Aber da hat der Zuschauer längst das Interesse an der öden Routine verloren und grübelt stattdessen über eine ungleich interessantere, weil wirklich rätselhafte Frage nach: Welches dunkle Geheimnis trägt eigentlich Bruno Ganz mit sich herum, dass er in den letzten Jahren durch die Auswahl seiner Rollen zu einer Karikatur seiner Selbst geworden ist? Als serbischer Gangsterpatriarch ist er jedenfalls fast so schlecht wie in „Der Untergang“ oder „Der Vorleser“ oder „Nachtzug nach Lissabon“. Spielschulden? Immobiliengeschäfte? Oder gar Schlimmeres? Können wir helfen?

Höhere Gewalt

(S / DK / F / NOR 2014, Regie: Ruben Östlund)

Kein Retter in der Not
von Ilija Matusko

Eine junge schwedische Familie verbringt ihren Skiurlaub in den französischen Alpen und gastiert in einem Luxushotel. Vorzeigekinder, Vorzeigepaar. Zunächst deutet auch alles in Richtung Vorzeigeurlaub: Sonne, verschneite Hänge, makellose Pisten …

Eine junge schwedische Familie verbringt ihren Skiurlaub in den französischen Alpen und gastiert in einem Luxushotel. Vorzeigekinder, Vorzeigepaar. Zunächst deutet auch alles in Richtung Vorzeigeurlaub: Sonne, verschneite Hänge, makellose Pisten – perfekte Bedingungen. Allerdings werden diese durch eine drohende Lawine auf die Probe gestellt. Nicht äußerlich, denn die Natur ist bereits gezähmt und kontrolliert. In „Höhere Gewalt“ werden innere Landschaften von den Schneemassen erfasst.

Bei der vierköpfigen Familie fühlt man sich an die Vorzeigefamilien erinnert, die ihr Zahnpastalächeln aus Quelle-Katalogen und Reiseprospekten hervorlächeln. Makellose Gesichter, gepflegte Körper, gleichfarbige Pyjamas. Immer das neueste Equipment dabei, für jede Situation (sei es eine Abfahrt, sei es ein Dinner im Hotel) bestens ausgerüstet. Damit die Figuren nicht zu leblosen Pappkameraden werden, wird die Perfektion auch ins Zwischenmenschliche verlängert. Das Zusammensein ist voller Verständnis, Vertrauen, Aufmerksamkeit. Die perfekte Familie.

Als alle vier beim Essen auf der Terrasse sitzen, gerät eine gesteuert ausgelöste Lawine scheinbar außer Kontrolle. Panik entsteht und lässt die Menschen von der Terrasse flüchten. Nach einigen Sekunden ist der Schreck vorbei, nur eine Nebelwand hat die Essensgesellschaft überrollt, aber keinerlei Schaden hinterlassen. Nur die Ehefrau Ebba wirkt ein wenig neben der Spur. Am Abend erzählt das Paar einer Urlaubsbekanntschaft die aufwühlenden Ereignisse und bei Ebba zeigt sich der Grund für ihre Verstörung. Nach ihrer Schilderung hat ihr Mann Tomas im Schockmoment sein I-Phone geschnappt und ist davon gelaufen – ohne sich um Frau und Kinder zu kümmern. War das reiner Instinkt oder hat Tomas die Situation nur falsch eingeschätzt?

Was Ebba eben noch mehr stört als diese Reaktion, ist Tomas‘ Versuch, diese umzudeuten und seine ängstliche Flucht mit Ausreden zu verbergen. Erst im Gespräch mit einem befreundeten Pärchen wird klar: Der Überlebenstrieb war stärker als das Bedürfnis, die Familie zu beschützen. Während der Freund Mats dies mit dem Charakter einer solchen Extremsituation zu erklären versucht, bricht Tomas bei der Frage nach dem Grund für sein Verhalten langsam zusammen. Seine Rollen als Familienvater und Mann geraten ins Wanken, die Sicherheiten im Umgang mit seiner Frau, seinen Kindern und schließlich mit sich selbst sind dahin. In der Hollywood-Dramaturgie eines Katastrophenfilmes wäre Tomas in puncto Männlichkeit auf jeden Fall durchgefallen.

Auf den ersten Blick scheint die Schrecksekunde wenig dazu geeignet, Geschlechterrollen zu hinterfragen, weil alles an persönlicher und affektiver Masse im Körper diese Fluchtbewegung besser erklären kann. Aber genau darum geht es. Denn besonders in der Diskrepanz von Ist und Soll – die Tomas in eine Sinnkrise stürzt – zeigt sich die ganze Kraft einer Geschlechtsnorm. Das Bild vom männlichen Helden ist deshalb so wirksam, weil seiner Ideologisierung und Überhöhung nichts Praktisches im Wege steht, die Zuschreibung entzieht sich quasi seiner sozialen Auseinandersetzung. Kaum jemand kommt tatsächlich in eine solche Lage und muss sich die Fragen stellen, an denen Tomas scheitert. Und diese Überforderung setzt der Film wunderbar und unterhaltsam in Szene.

Ruben Östlund setzt in „Höhere Gewalt“ (der schlichte, schönere Originaltitel „Turist“ wurde leider nicht beibehalten) mit klaren, präzisen Bildern ein einfaches Erzählprinzip um: Zeige die Menschen in ihrem Versuch, sich gegen das Scheitern zu wehren und sie sezieren sich selbst. Dass der tragische Kampf um die eigene Identität eine besonders lächerliche Note bekommt, liegt vor allem am männlichen Protagonisten, dessen Versuche, mit Geschlechtszuschreibungen und Widersprüchen fertig zu werden, auf herrliche Weise bizarr und komisch enden. Zum anderen weiß Ruben Östlund das Absonderliche durch Montage und Bildästhetik noch zu verdichten. Das Reale wirkt an vielen Stellen bis ins Skurrile überzeichnet, spätestens in den Musiksequenzen, in denen Klassik, Pistenraupen und Elektrozahnbürsten aufeinandertreffen, wird der böse Witz des Filmes deutlich. Der Mensch, seine Hilfsmittel und sein ritualisiertes Verhalten strahlen trotz aller Normalität und Kontrolle nur noch eines aus: Lächerlichkeit.

Bei der Havarie der Costa-Concordia im Jahr 2012 wurde dem Kapitän vorgeworfen, sich aus der Verantwortung gestohlen und das Schiff vorzeitig verlassen zu haben. Vollständig der Lächerlichkeit preisgegeben hat sich der Mann, als er öffentlich aussagte, er sei aus Versehen in ein Rettungsboot gefallen. Die Bildzeitung nannte ihn „Kapitän Feigling“. So viel ich mitbekommen habe, hat niemand dieser Darstellung widersprochen.

David Bowie Is

(GB 2013, Regie: Hamish Hamilton, Katy Mullan)

Ein Gruß aus der Küche
von Ulrich Kriest

Man sollte David Bowie nicht vorschnell abschreiben! Selbst einer seiner schwächeren Songs aus den achtziger Jahren wie „Modern Love“ entfaltet noch hinreißende Wirkung, wenn er – wie in „Frances Ha“ …

Man sollte David Bowie nicht vorschnell abschreiben! Selbst einer seiner schwächeren Songs aus den achtziger Jahren wie „Modern Love“ entfaltet noch hinreißende Wirkung, wenn er – wie in „Frances Ha“ – zum richtigen Zeitpunkt im richtigen Film eingesetzt wird. Während die sehr erfolgreiche Multi-Media-Show „David Bowie Is“ nach den Stationen London und Berlin mittlerweile in Chicago gastiert, kann man jetzt im Kino noch einmal die Einladung zu einer kommentierten Führung durch die reich ausgestatteten Ausstellungsräume des Londoner Victoria and Albert Museums annehmen. Es lohnt sich, denn bekanntlich hatten die Kuratoren Zugriff auf Bowies private Archive und deren Reichtum macht auch deutlich, dass Bowie bei seiner vielschichtigen Inszenierung als Pop-Star und Identitäten-Sammler nichts dem Zufall überließ, weshalb die Erzählung hier mit schwarz-weißen Filmdokumenten des Babys David Robert Jones beginnt.

„David Bowie Is“ – schon der Titel der Ausstellung offenbart, das es hier weniger darum geht, sich einen analytischen Reim auf das künstlerische Chamäleon David Bowie zu machen, sondern vielmehr die wechselnden Identitäten dieser sehr speziellen Karriere staunend zu begleiten und zu würdigen. Im Film ist das nicht anders: Geht es um frühe musikalische Einflüsse, bekommt man einen Kurzauftritt von Little Richard gezeigt. Die musikalischen Gehversuche vor „Space Oddity“, die auch schon von einigem Eigensinn zwischen Popsong und Vaudeville geprägt sind, tauchen nur am Rande auf, verkürzt auf ein paar Fotos und Plattencover. Anschließend schöpfen Ausstellung wie Film dann aus dem Vollen, denn von jetzt an sind die Inszenierungen von David Bowie als „Major Tom“, „Starman“, Ziggy Stardust, Aladdin Sane oder „The Thin White Duke“ bestens dokumentiert. Die Ausstellungsmacher erzählen von ihrer Konzeption bestimmter Räume und eingeladene Gäste wie der Mode-Designer Kansai Yamamoto oder der Ex-Pulp-Frontmann Jarvis Cocker halten kurze Referate und kolportieren Anekdoten, die aber dem, was man längst über David Bowie wissen kann, wenig hinzufügen.

Punkt für Punkt werden die Karriereschritte illustriert und abgehakt: die wichtigen frühen Jahre, als Bowies androgynes Erscheinungsbild bei einer ganzen Generation von Fans existentielle Fragen mit ganz neuen Antworten konfrontierte und wahrscheinlich sehr viele Biografien nachhaltig beeinflusste, die „Berliner Jahre“ mit ihren musikalischen Experimenten, deren Resultat – die Album-Trilogie „Low“, „Heroes“ und – verspätet -„Lodger“ – mancher für den popmusikalischen Höhepunkt der 1970er Jahre hält. Was Bowie zwischen 1969 und 1978 anstellte, revolutionierte die Pop-Musik nachhaltig und machte sie tendenziell zu einer Form von Konzeptkunst. Bowie bewies ein Jahrzehnt lang untrügliches Gespür für den nächsten Karriereschritt, entwarf und kontrollierte mit großem Aufwand die gewählte Persona und dürfte tatsächlich der einflussreichste Künstler der 70er Jahre gewesen sein, zumal er als multimedial arbeitender Künstler auch in Kinofilmen wie „Der Mann, der vom Himmel fiel“, „Begierde“ oder „Labyrinth“ in Erscheinung trat.

Als Leitmotiv jener Jahre zitieren Ausstellung wie Film den Künstler selbst: „All art is unstable. It’s meaning is not necessarily that implied by the author. There is no authoritative voice. There are only multiple readings.“ Für Literaturwissenschaftler eine Binse, in der Popmusik wohl die Revolution. Der Film schreitet die Räume der Ausstellung ab, fängt das Staunen der Besucher über Bowies kindliche Handschrift ein, staunt über die von Bowie mitkonzipierten Bühnenoutfits, präsentiert den kreativen Texter, der die Sprache selbst zum Arbeiten bringt, dokumentiert Foto-Sessions, zeigt Bühnenmodelle, Musikinstrumente, Platten-Cover und erinnert an die Quellen, aus denen Bowie schöpfte: die Expressionisten, die Pantomime, Warhol, Kubricks „2001“ und „A Clockwork Orange“.

Ab Mitte der 80er Jahre verlor Bowie den Faden, veröffentlichte Halbgares und zog sich nach einem Herzinfarkt für Jahre aus der Öffentlichkeit zurück. 2013 überraschte er dann mit einem medienwirksam inszenierten Comeback-Album und dem selbstironischen und leicht nostalgischen Videoclip „The Stars Are Out Tonight“ – und denkt man die internationale „Blockbuster Exhibition“ „David Bowie Is“ und diesen Kino-Führer hinzu, dann ist Bowie, ein älterer Herr mittlerweile, gerade wieder sehr „da“. Multimedial und auf der Höhe der Zeit. Wiewohl er dafür nicht einmal persönlich in Erscheinung treten muss. Wer die Ausstellung in London oder Berlin gesehen hat, kann sie jetzt noch einmal im Kinosaal vergegenwärtigen. Wer erst jetzt auf den Geschmack kommt, sollte demnächst Reisen nach Paris oder Groningen ins Auge fassen.

Mr. Turner – Meister des Lichts

(GB 2014, Regie: Mike Leigh)

Ineinander fließend
von Wolfgang Nierlin

Die erste Einstellung des Films zeigt ein Bild, das wie ein Gemälde des englischen Landschaftsmalers William Turner aussieht: Im weiten Hintergrund jenseits einer Windmühle dämmert der Abend in einem Farbengemisch …

Die erste Einstellung des Films zeigt ein Bild, das wie ein Gemälde des englischen Landschaftsmalers William Turner aussieht: Im weiten Hintergrund jenseits einer Windmühle dämmert der Abend in einem Farbengemisch aus Rot und Gelb und Blau, während im Vordergrund zwei Mägde tuschelnd ihres Weges ziehen, von vereinzeltem Vogelgesang begleitet. Eine starke, fast andächtige Stimmung inmitten einer zeitlosen Natur. Dann schwenkt die Kamera langsam und eine dunkel gekleidete Gestalt kommt ins Bild, die ruhig und geheimnisvoll und etwas abgerückt in der flämischen Landschaft steht, als wäre sie ein natürlicher Teil dieser genreartigen Szenerie. Tatsächlich ist der Fremde gerade dabei, konzentriert und in sich gekehrt eine Skizze von dieser Abendstimmung anzufertigen. Die Perspektive des Films verschmilzt gewissermaßen mit der Perspektive des Malers und ist im Folgenden konstitutiv für Mike Leighs ungewöhnliches Künstlerportrait „Mr. Turner – Meister des Lichts“.

Der renommierte britische Filmemacher meidet alle typischen Biopic-Elemente: Es gibt in seinem Film keine lebensgeschichtlichen Zeitangaben und keinen dramatischen Plot; weder erklärt er mit dem Lebend des Portraitierten dessen Malerei, noch muss sich ein verkannter Künstler gegen ein ungerechtes Leben stemmen. Stattdessen kappt Mike Leigh die üblichen linearen Erzählstrukturen, um in lauter einzelnen, ineinander fließenden Szenen, alltäglichen Begebenheiten und Begegnungen ein Bild des Menschen und Künstlers Turner zu entwerfen beziehungsweise zu malen. Dabei richtet sich Leighs mitunter ironischer Blick auch auf die Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts mit ihren Umbrüchen und Veränderungen; besonders aber auf die schrulligen Mitglieder der Royal Academy und ihre teils hitzigen Kunstdebatten.

Im Mittelpunkt steht jedoch ein ebenso sympathischer wie unsympathischer Maler, der sich immer wieder entzieht und für sich bleibt. Schroff und abweisend, introvertiert und undurchschaubar lebt der stets mürrische, von vielen bewunderte Turner ganz für seine Arbeit. Timothy Spall, für sein Spiel in Cannes mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet, verkörpert diesen grimmigen Egomanen als vierschrötigen, vitalen Außenseiter, der im Privaten seine unehelichen Kinder verleugnet und bei der Arbeit von einem verschworenen Team, bestehend aus der Haushälterin Hannah Danby (Dorothy Atkinson) und seinem geliebten Vater (Paul Jesson), unterstützt und abgeschirmt wird. Daneben erscheint Leighs Turner, der in seinen späteren Jahren für seine ins rein Malerische vorstoßende Modernität verspottet wird, als vielseitig interessiert und prinzipientreu, feinfühlig und verletzlich.

Nicht zuletzt folgt Mike Leigh zusammen mit seinem Bildgestalter Dick Pope auf kongeniale Weise den Spuren und Motiven in Turners Werken, lässt den Blick des Malers und mit ihm den des Zuschauers im Anblick einer Landschaft oder Seestimmung verharren und evoziert dabei jene Lichtstimmungen, für die William Turner weltberühmt geworden ist.

Amour fou

(AT 2014, Regie: Jessica Hausner)

Wie Puppen in einem Marionettentheater
von Wolfgang Nierlin

„In dieser Geschichte geht es um ein Anti-Bild der Liebe”, hat die österreichische Filmemacherin Jessica Hausner über ihren neuen, als “romantische Komödie” annoncierten, Film “Amour fou” in einem Interview mit …

„In dieser Geschichte geht es um ein Anti-Bild der Liebe”, hat die österreichische Filmemacherin Jessica Hausner über ihren neuen, als “romantische Komödie” annoncierten, Film “Amour fou” in einem Interview mit Kurier.at gesagt. Dass es in der historisch verbürgten Beziehung zwischen dem Schriftsteller Heinrich von Kleist und der verheirateten Henriette Vogel tatsächlich um Liebe gegangen sein könnte, sei zwar möglich, so die Regisseurin; Hausners Blick auf das ungleiche Verhältnis und ihre Interpretation der daraus resultierenden doppelten Selbsttötung demontieren jedoch gründlich den Mythos des romantischen, sich im gemeinsamen Tod verwirklichenden Liebesideals. Vielmehr geht es in ihrem mit höchster Sorgfalt und Präzision komponierten Film um die austauschbaren Projektionen von Liebessehnsüchten, den Zufall der Wahl und die grundlegende Einsamkeit des Menschen im Angesicht des Todes.

Bezogen auf den Titel, ist in „Amour fou“ folgerichtig nicht das Begehren der Liebenden „rasend“ oder „verrückt“, sondern das Wesen der Liebe selbst hat einen „Knacks“. Gleich zu Beginn, nach Mozarts Lied über Goethes masochistisches Liebesgedicht „Das Veilchen“, identifiziert sich Henriette (Birte Schnöink) einfühlend mit Kleists „Marquis von O….“, wenn sie über deren Verhältnis zu ihrem Vergewaltiger bemerkt: „Man sagt, man fühlt das eine und möchte doch das andere.“ Dieses paradoxe Wechselspiel zwischen Sehnsucht und Gefühl setzt sich fort im Dualismus von Körper und Seele, der sich in Henriettes (seelischer) Krankheit manifestiert, von der es einmal heißt, sie sei eine „Einbildung, die so wirklich ist wie die Wirklichkeit“. Diese Wirklichkeit ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts zwar schon infiziert vom freiheitlichen Geist der französischen Revolution, doch die starren Konventionen und standardisierten Rituale bestimmen noch sehr deutlich die preußische Gesellschaft. Entsprechend statisch ist Hausners ausgefeilte Inszenierung, in die das förmlich- steife Spielen und Sprechen der durchweg hervorragenden Schauspieler eingepasst ist, die sich wie „Puppen in einem Marionettentheater“ bewegen.

Gerade gegen dieses engstirnige, allzu abgezirkelte Dasein rebelliert der an sich und am Leben leidende Dichter Heinrich von Kleist (Christian Friedel). Als überempfindlicher Außenseiter und pathetischer „Zaungast im Leben“ trägt er seinen Weltschmerz und seine Todessehnsucht offen, ja geradezu offensiv vor sich her. Seine freimütig und mit aufrichtigem Ernst vorgetragene Suche nach einer seelenverwandten Partnerin fürs Sterben beinhaltet deshalb nicht nur Züge männlicher Hybris und egoistischer Überspanntheit, sondern wirkt mitunter unfreiwillig komisch, wenn nicht gar lächerlich. Sein absurdes, sehr wankelmütiges Projekt, das in einem merkwürdig künstlichen, irgendwie willkürlichen Arrangement gipfelt, zeigt sehr deutlich, dass auch der unglückliche Dichter mit der „wunden Seele“ nicht immer ganz genau weiß, was er will und deshalb seine Sehnsuchtsprojektionen zwischen Wunsch und Wirklichkeit immer wieder neue justieren muss. Denn in Jessica Hausners Film ist Henriette Vogel gegenüber Kleists Kusine Marie (Sandra Hüller) gewissermaßen nur „zweite Wahl“. Seine Eifersucht, künstlerische Erfolglosigkeit und ein männlich-dominanter Zerstörungswille lassen diesen nach Unsterblichkeit lechzenden Todessüchtigen nicht gerade sympathisch erscheinen.

Man könnte sagen, Jessica Hausner ironisiert mit ihrem formvollendeten, erlesen schönen Film die Momente deutlich herausgestellter tragischer Ironie, um die sinnlose „Romantik“ des Geschehens darzustellen und zugleich die Tragik des Geschehens zu dekonstruieren. Im spannungsvoll wechselwirkenden Kontrast dazu stehen ihr distanzierter, teils unterkühlter Blick, die elaborierte Sprache der Dialoge und die historisch genaue Ausstattung. Die Distanz wird dadurch ebenso genährt wie aufgehoben: Die Figuren agieren wie vor einem in freundliche Farben getauchten Gemälde, das sie einerseits modelliert, andererseits verschluckt.

Interstellar

(USA / GB 2014, Regie: Christopher Nolan)

Fuck Gravity
von Lukas Schmutzer

So manche und so mancher wird früher oder später mit einem Science-Fiction-Film eine Erfahrung gemacht haben, die vielleicht „auratisch“ genannt werden kann. Veranlasst wird sie durch die gelungene Projektion der …

So manche und so mancher wird früher oder später mit einem Science-Fiction-Film eine Erfahrung gemacht haben, die vielleicht „auratisch“ genannt werden kann. Veranlasst wird sie durch die gelungene Projektion der kantischen Frage „Was ist der Mensch?“ auf die Leinwand und zugleich in die Weiten des Weltalls. „Odyssee im Weltraum“ mag das formal am vollkommensten getan haben, doch es gibt eine Reihe weiterer Filme, die dies auch ziemlich genial angehen. „Interstellar“ ist einer dieser Filme.

Einen Science-Fiction-Film zu drehen, heißt immer auch, an die Geschichte des Erzählfilms zu rühren, zu deren Anfang Méliès eine Reise zum Mond inszenierte. All die Irrfahrten, die seither die Leinwand bereichert haben, stehen in einem entsprechenden Verhältnis zu ihren Vorgängern bis zurück zu diesem ersten Weltraumabenteuer, welches – zum Beispiel – eine Gliederung in Vorbereitung, Aufbruch, Ankunft, Austragung eines Konflikts und Heimkehr besitzt. Legen wir einen Film vor ein derartig erschlossenes Paradigma, wird ersichtlich, wie er mit den Gemeinplätzen einer Tradition spielt, wie er etwas wiederholt, was er hinzufügt oder was er weglässt, und auch zum Teil, wie er uns dergestalt affiziert. Sich einem Film anzunähern kann also paradoxerweise auch bedeuten, sich auf der Zeitachse wieder von ihm zu entfernen. „Interstellar“ bedient sich in dieser Hinsicht traditioneller Bilder und Symbole, was den Film zuweilen auch ein wenig vorhersehbar macht; allerdings hebt er sie in eine Luft, in der sie auf ungekannte Weise leben und atmen können. Das macht diesen Film nicht nur spannend, sondern hat das Potential, selbst einem von zu vielen Dimensionssprüngen abgestumpften Sci-Fi-Fan wieder einige auratische Momente zu verschaffen. Da ich eher in ein schwarzes Loch springen würde, als von einem „emotionalen Film“ zu berichten und die Handlung zu spoilern, möchte ich stattdessen zu klären versuchen, wie das gelingt.

Zunächst wird eine unbequeme Zukunft entworfen, die von Umweltproblemen belastet ist und über die Mittel für Raumfahrt, welche als Propaganda einer vergangenen Epoche aufgefasst wird, nicht mehr verfügen möchte. Ressourcen gehen zur Neige und Umweltkatastrophen bedrohen die Menschheit. Die letzten, die verhungern, werden die ersten sein, die ersticken, heißt es da.

In dieser Situation wolle die Gesellschaft nicht mehr „pioneers“, sondern „caretakers“, wie der verwitwete Cooper (Matthew McConaughey) bedauert. Er trauert seiner Vergangenheit als Pilot nach, während er sich als Landwirt verdingt. Seine nach Murphys Gesetz benannte Tochter findet nach einem der nicht mehr ungewöhnlichen Sandstürme am Parkettboden des Wohnhauses binäre Codes, die offenbar von Interferenzen in der Schwerkraft mit Sand gezeichnet wurden. Für Cooper ist dies der Anfang einer Odyssee. Wie sich herausstellt, arbeiten Theoretiker an Formeln, mithilfe derer die Gravitation manipuliert werden kann und was der Menschheit ein extraterrestrisches Überleben sichern soll. Cooper wird mit einer kleinen Besatzung auf eine interstellare Expedition geschickt, die kein geringeres Ziel hat, als neue Welten für die Menschheit zu erkunden. So viel zur Ausgangslage.

Ich gebe zu: Was mich an diesem Film im Vorhinein am meisten reizte, war weder Regisseur, noch Topos allein, sondern Verse, die schon im Trailer von der Stimme Michael Caines rezitiert werden, just da, als die Expedition in den Weltraum startet. Ihre Rolle in dem Film ist zunächst nicht so einfach auszumachen. Sie stammen von Dylan Thomas, aus einer Villanella namens „Do not go gentle into that good night“. Die Villanella ist eine verspielte und komplizierte Liederform, die eigentlich für heitere Rundtänze verwendet wird. Thomas formulierte mit ihr eine Aufforderung an den Vater, dem Sterben Widerstand zu leisten.

Wer immer für die deutsche Übersetzung verantwortlich zeichnet, wird erleichtert gewesen sein, dass der Film nicht alle der sechs Strophen wiedergibt, denn spürbarer als viele andere lyrische Werke stellt dieses Gedicht den Übersetzer vor ein Dilemma, oder sogar vor ein Trilemma: Es kann nicht Bedeutung, Reimschema und Melodie zugleich in eine andere Sprache übertragen werden. Die Einigkeit dieser drei Momente macht sich aber „Interstellar“ in den einprägsamen Refrainzeilen zunutze, welche mit gereimten Worten über gute Nacht und sterbendes Licht etwas rätselhaft ins Weltall führen. Thomas’ Villanella berichtet darüber hinaus von einer Reihe von Typen, die gegen den Tod kämpfen: Wise men, wild men, good men, grave men. Das wird so in „Interstellar“ nicht zitiert. Weshalb? Weil dieser Film den Anspruch besitzt, diese Strophen schlicht und einfach in das Medium Film zu übertragen, insofern er uns von wise men, wild men oder grave men erzählt, die ums Überleben kämpfen. „Interstellar“ eignet sich das Gedicht an und macht aus ihm Science-Fiction, über deren Inhalt ich hier keine Worte verlieren möchte, weil sie gesehen werden sollte. – Dass das gedruckte und gebundene Wort in „Interstellar“ nur noch in seiner Materialität durch fallende Bücher repräsentiert wird, scheint analog zu diesem Übertragungsprozess zu funktionieren, der aus Schrift Film macht.

Die Science-Fiction ist nur das neueste Feld, dem sich Christopher Nolan nach Krimi, Magie, Traum und Batman widmet, um an seinen narrativen Architekturen zu werken. Dabei hat er Fingerspitzengefühl im Verkreuzen und Aufrechterhalten zahlreicher Spannungsbögen bewiesen. Auch sein neuestes Werk hebt schon in den ersten Momenten mit mehreren Erzählungen an, von denen manche im leeren Raum hängen gelassen werden: Ein sandiges Bücherregal, ein Zeitzeuge, ein Flugzeug in Turbulenzen, ein Erwachen. Was davon weitererzählt wird, verzweigt sich abermals. Bis alle erzählten Linien zusammenfinden, sozusagen doch noch als verschiedene Seiten und Stockwerke desselben Bauwerks ausgewiesen werden, vergehen beinahe drei Stunden. Dies erinnert an die Struktur der Villanella, in der zwei Refrainzeilen zunächst gemeinsam genannt werden, um danach abwechselnd und isoliert unterschiedlichen Versen nachgestellt zu sein, bevor sie zum Schluss wieder zusammenfinden.

In „Do not go gentle into that good night“ spricht ein Sohn zum sterbenden Vater. Das steht in einem direkten Verhältnis zum Konflikt, der dem Film zugrundeliegt: Denn so „groß“ sich die Problemstellung gibt (es geht um die Menschheit), so „klein“ ist eigentlich das, worauf sie aufbaut: Ein sich im Aufbruch befindender Vater verspricht seiner Tochter, zu ihr zurückzukehren. Dieses Versprechen wird durch die Schwerkraft belastet, die den Raumfahrern begegnet.

Es gibt einen schönen kleinen Film von Michael Radford, „Addicted to the stars“ heißt er, der uns die im strengen Sinne tragischen Möglichkeiten der Relativitätstheorie in ihrer ganzen Unheimlichkeit skizziert: Wenn zurückgelassene Menschen schneller zu altern drohen als der Raumfahrer, geraten die Banden der Generationen ins Wanken. Radfords Film braucht gerade einmal zehn Minuten unserer Lebenszeit, um das zu veranschaulichen. „Interstellar“ dagegen nutzt dieses Element weniger zur Veranschaulichung, sondern tatsächlich als Drohung. Ein väterliches Versprechen kreuzt sich solcherhand mit einer Aufforderung an einen Vater (jener des Gedichts), wodurch ein Gewölbe entsteht, das die Spannung gegen die drohende Schwerkraft über 169 Minuten trägt. Das ist eine beachtliche Leistung.

Selbst zu stolpern, droht der Film nur an einem Punkt. Vor allem die Ausgangslage kann und muss als Reflexion auf das Selbstverständnis unserer aktuellen Gesellschaft betrachtet werden; damit ist nicht nur die Umweltthematik gemeint, sondern z.B. auch die Gegenüberstellung von „pioneers“ und „caretakers“, die wiederum analog gelesen werden kann zu Dylan Thomas’ kraftvoller Aufforderung, dem Sterben Widerstand zu leisten, welche dem derzeit prominenteren Diskurs des „Sterben lernens“ entgegensteht. Die dergestalt geöffnete Problematik stellt der Film allerdings allzuschnell in den Dienst eines amerikanischen Fortschrittspathos. Das wirft dann die Frage auf, ob sich der Raumfahrt heute überhaupt (noch?) angenommen werden kann, ohne dass ein solches Filmprojekt nicht ebenso zu einem Werbefilm für die NASA gerate. Ein differenzierteres Vorgehen wäre hier schwieriger gewesen, hätte aber das Genre weitaus mehr bereichert.

Dennoch: Ein exzellenter Film, der empfohlen werden kann.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Interstellar'.

Im Labyrinth des Schweigens

(D 2014, Regie: Giulio Ricciarelli)

Lernprozesse mit glücklichem Ausgang
von Ulrich Kriest

Opa erzählte nicht mehr vom Krieg, sondern lieber von der Nachkriegszeit, vom Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Wenn er clever war, ahnte er zumindest, dass das eine nicht ohne das andere zu …

Opa erzählte nicht mehr vom Krieg, sondern lieber von der Nachkriegszeit, vom Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Wenn er clever war, ahnte er zumindest, dass das eine nicht ohne das andere zu haben ist. Wenn er nicht so clever war, ging er ins Kino und schaute dort tröstliche Heimatfilme. Aktuell entdeckt der deutsche Film gerade die Leerstellen, die der Heimat- und Schlagerfilm nur notdürftig kaschierte. Machte Oskar Roehler den Anfang mit „Lulu und Jimi“ und „Quellen des Lebens“?

Mehr als 30 Jahre nach Fassbinders Frauen-Trilogie „Die Ehe der Maria Braun“, „Lola“ und „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ scheint der deutsche Film sich für die Zeit nach dem Ende im Führerbunker und vor der antiautoritären Revolte von „1968“ zu interessieren. Erst „Wolfskinder“, dann „Phoenix“ und nun „Im Labyrinth des Schweigens“ – drei unterschiedliche Filme, drei unterschiedliche Erzähl-Strategien und drei unterschiedliche Haltungen zur Geschichte. Wie rekonstruiert man Geschichte aus der Ex-Post-Perspektive und hält dabei die eigene, gewählte Perspektive als »vorläufig« hermeneutisch in der Schwebe?

Giulio Ricciarelli hat sich in seinem Spielfilmdebüt dafür entschieden, im Rahmen von bekannten Genre-Konventionen des Polit-Thrillers vom Neubeginn, alten Seilschaften und wechselnden Bewusstseinsständen und Lernprozessen zu erzählen. Im Mittelpunkt steht dabei die Figur des jungen, ehrgeizigen und politisch etwas naiven Staatsanwalts Johann Radmann, der 1958 eher zufällig mit der deutschen Geschichte konfrontiert wird. Ein Auschwitz-Überlebender hat in einem Gymnasiallehrer einen SS-Mann wiedererkannt, aber niemand scheint sich für diesen Skandal zu interessieren, sieht man einmal von dem linksliberalen Journalisten Gnielka ab, der die Sache publik machen will.

Radmann beginnt sich für den Fall zu interessieren, eckt bei seinen Vorgesetzten und Kollegen schnell an und merkt, dass man sich offenbar bis auf eine Minderheit in der westdeutschen Bevölkerung wortlos darauf verständigt hat, die Verbrechen, die während der NS-Zeit begangen wurden, kollektiv zu beschweigen. Unterstützung finden Radmann und Gnielka bei ihren Recherchen lediglich bei dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der klarstellt, dass die meisten Verbrechen längst verjährt sind. Nur die Mordfälle noch nicht.
Radmann wird von Bauer mit der Leitung der Ermittlungen betraut und beginnt damit, Zeugenvernehmungen durchzuführen, die auch deshalb schwierig sind, weil Radmann selbst nicht so recht weiß, was in Auschwitz geschehen ist.

Es ist eine heikle Gratwanderung, die Ricciarelli unternimmt, um mit den Mitteln des Spannungskinos die Vorgeschichte der Frankfurter Auschwitzprozesse zu erzählen. Wo Petzold bewusst mit Lücken und Unschärfen arbeitet, setzt Ricciarelli Wert auf ein extrem dichtes Drehbuch, das möglichst keine Frage offen lassen soll und trotzdem der Fiktion nicht spekulativ die Zügel schießen lässt. Man spürt beim Sehen des Films regelrecht die Recherchen des Filmteams und ahnt, dass jedes Detail von Zeitzeugen »bezeugt« werden kann. Dadurch wirkt „Im Labyrinth des Schweigens“ etwas übersichtlich und aufgeräumt.

Die Nebenfiguren stehen dabei für unterschiedliche und widersprüchliche Haltungen zwischen Verdrängen und forcierter Zukunftsorientierung innerhalb der Nachkriegsgesellschaft und dem sich abzeichnenden Wirtschaftswunder, während der Protagonist Radmann eine Entwicklung vom korrekten, aber naiven Staatsanwalt zum moralisch an der Grenze zur Hybris sich bewegenden Ermittler durchläuft, der sich schließlich schämt, Deutscher zu sein und glaubt, zwischen „gut“ und „böse“, zwischen „richtig“ und „falsch“ unterscheiden zu können, bis er ahnt, dass er seine Moral der „Gnade der späten Geburt“ verdankt.

Vieles in „Das Labyrinth des Schweigens“ folgt bis zu einem gewissen Punkt Genre-Konventionen, die man aus italienischen Mafiafilmen und US-Polit-Thrillern der 70er Jahre wie „Die Unbestechlichen“ kennt – bloß, dass vom Verbrechen hier keine Lebensgefahr mehr auszugehen scheint, weil die Täter – Mao lässt grüßen – wie Fische im Täter-Volk schwimmen. Andere Szenen verweisen auf die westdeutsche Filmgeschichte der 50er Jahre, auf Filme wie „Rosen für den Staatsanwalt“ oder „Der Mann, der sich verkaufte“ (Alexander Fehling erinnert stark an den jungen Hans-Jörg Felmy). Wie in kritischen Filmen der 60er und 70er Jahre hocken die Täter und ihre Familien noch immer in den Hinterzimmern von Gasthäusern in der Provinz und spielen „geschlossene Gesellschaft“. Unscharf bleibt die Figur des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, der als graue Eminenz die Fäden in der Hand hält, den nichts zu überraschen vermag und der hinter den Kulissen auch noch nach den dicken Fischen Eichmann und Mengele angelt. Positiv zu vermerken ist, dass der Film sich betont darum bemüht, sich kein Bild von den Verbrechen, um die es hier geht, zu machen und lieber die Reaktion auf diese Zumutungen dokumentiert als die Zumutungen selbst.

Bedenkt man, dass auch Petzolds „Phoenix“ Fritz Bauer gewidmet ist, könnte man in „Phoenix“ und „Im Labyrinth des Schweigens“ auf reizvolle Art und Weise zwei höchst unterschiedliche, aber gleichermaßen reflektierte Formen des Erzählens konfrontieren und beide auf das visuell ambitioniertere und untergründig komplexere Spätwerk Fassbinders beziehen. Am Ende reicht die Aktenlage aus, um gegen zwei Dutzend Täter das Verfahren zu eröffnen und damit eine Lunte zu legen, die gleichermaßen zur Fernsehserie „Holocaust“ und nach Stammheim führt. Oberstaatsanwalt Friedberg hatte es geahnt, als er Radmann warnte: „Wollen sie, dass sich jeder junge Mensch in diesem Land fragt, ob sein Vater ein Mörder war?“ Heute, ein halbes Jahrhundert später, wird sich zeigen, ob diese durchaus ehrenwerte filmische Rekonstruktion der Vorgeschichte des Auschwitzprozesses mit ihrer eigentümlichen Mischung aus Verdichten, Andeuten und Antizipieren aus der Ex-Post-Perspektive noch Zuschauer ins Kino locken und dort aufklärerische Wirkung zeigen kann. Oder ob er im Fernsehen besser aufgehoben wäre.

Im Labyrinth des Schweigens

(D 2014, Regie: Giulio Ricciarelli)

Enkel von heute
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Spielfilm widmet sich einem fiktiven, politisch unbedarften jungen Staatsanwalt, der in den sechziger Jahren von einem engagierten Journalisten der Frankfurter Rundschau bewogen wird, die Massenmörder von Auschwitz zu verfolgen …

Der Spielfilm widmet sich einem fiktiven, politisch unbedarften jungen Staatsanwalt, der in den sechziger Jahren von einem engagierten Journalisten der Frankfurter Rundschau bewogen wird, die Massenmörder von Auschwitz zu verfolgen und schließlich anzuklagen. Das gelingt dem Noch-Verkehrsdezernenten nur mit Hilfe seines Mentors, Generalstaatsanwalt Bauer. Gegen die öffentliche Meinung, die sich lieber dem Wirtschaftswunder widmet und das Vergangene ruhen lassen will.

Hintergrund ist der legendäre Auschwitzprozess, initiiert und durchgeboxt vom realen Fritz Bauer. Im Spielfilmdebut von Giulio Ricciarelli spielt Bauer eine Nebenrolle. Denn es geht darum, wie es dem Staatsanwaltdebütanten geht, der eine schier übermächtige Aufgabe bewältigen will. Das gibt Emotionen ohne Ende, persönliche Krisen der Reihe nach. Wir sollen mitleiden und hoffen – und lernen, denn das Labyrinth soll – im Hintergrund, bittschön – auch ein pädagogisches Ziel haben. Für Enkel von heute.

Um die Enkel von heute zu erreichen, versteht sich das Labyrinth als Unterhaltungsfilm. Also gibt es reichlich Zeitkolorit. Immer wieder Vespas, Mofas, VW und Opel. Viele Gänge von hier nach dort, Schritte gern in Großaufnahme. Achja, die Adenauerzeit. Und die erste große Liebe! Auf einer FR-Party findet unser Held die Frau seines Lebens. Aber ach, Ziel seines Lebens ist der Auschwitzprozess. Problem! Lösung: Alkohol. Betrunken macht der Staatsanwalt Passanten an: „Du bist auch n Nazi!“ usw.

Wir sollen bei diesem pädagogischen Unternehmen auf der Emotionsschiene fahren und Empathie entwickeln. Alle Achtung, ein tollkühnes Unternehmen. Aber leider funktioniert es nicht. Die klumpigen Einfälle des Drehbuchs stehen entgegen. Man glaubt den Helden nicht.
In der Sitzung beantragt der Verkehrsdezernent eine Buße und gibt der zickigen Angeklagten 20 Mark, damit sie die bezahlen kann? Die FR wird auf der Straße von Kindern im Grundschulalter verkauft? Wenn der VW in der Pampa kaputt geht, rennt der Held ins Nirgendwo? Wenn er Ärger mit den Vorgesetzten hat, lässt er das Auschwitz-Ziel sausen, kündigt und nimmt einen lukrativen Job an – Service für Wirtschaftswunderunternehmen?
Und ich soll mitbibbern und mir die Nägel abkauen??

Also Leute, die Drehbucheinfälle führen in die Irre. Ins Nirgendwo. Und dann wird’s schlussendlich selbst mit dem Fazit des Generalstaatsanwalts schwierig: „Heute wird Geschichte geschrieben!“ Mag ja so sein, allein mir fehlt der Glaube. Die Türen zum Gerichtssaal schließen sich, der Prozess beginnt, und rieselt mir was den Rücken runter? – Nö.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2014

Zwei Tage, eine Nacht

(B / F / I 2014, Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne)

Das schöne Märchen von der (Rest-)Solidarität
von Ulrich Kriest

Gerade scheint die psychisch angeschlagene Mittdreißigerin Sandra soweit wieder stabilisiert, dass sie am Montagmorgen ins Arbeitsleben zurückkehren könnte, da erfährt sie von ihrer Freundin Juliette, dass ihr Chef gerade die …

Gerade scheint die psychisch angeschlagene Mittdreißigerin Sandra soweit wieder stabilisiert, dass sie am Montagmorgen ins Arbeitsleben zurückkehren könnte, da erfährt sie von ihrer Freundin Juliette, dass ihr Chef gerade die Kollegen vor eine Wahl gestellt hat: da Sandras Ausfall durch extra prämierte Überstunden gemeinsam kompensiert werden konnte, könne man doch ihre Stelle gleich ganz streichen und dafür die Prämie von 1000 Euro weiterhin zahlen. Innerbetriebliche Demokratie in Zeiten des Neoliberalismus: die Arbeiter werden gegeneinander ausgespielt, der Arbeitergeber gibt nur noch den Schiedsrichter.14 der 16 Kollegen konnten diesem Angebot nicht widerstehen, allerdings, so Juliette, habe Vorarbeiter Jean-Marc auf die Mitarbeiter Druck ausgeübt, weshalb Sandra sofort handeln und Einspruch erheben müsse. Tatsächlich gelingt es den beiden Frauen mit einiger Mühe, dem Chef eine Wiederholung der Abstimmung am Montagmorgen abzutrotzen, denn dem Chef ist hauptsächlich am Betriebsfrieden gelegen.

Sandra hat jetzt ein ganzes Wochenende – zwei Tage und eine Nacht – Zeit, um für ihren Arbeitsplatz zu kämpfen. Allerdings: Sandra ist keine Kämpfernatur, sondern bedarf der nachdrücklichen Unterstützung durch ihre Freundin Juliette und insbesondere ihres Mannes Manu, die sie immer wieder mit Engelszungen beschwören, die Flinte nicht ohne Gegenwehr ins Korn zu werfen. So geschieht etwas Unerhörtes: Sandra, wiewohl zwischen Resignation und Selbstmord schwankend, nimmt den Kampf auf – und sucht das persönliche Gespräch zu den Kollegen, die sich eigentlich schon längst gegen ihr Verbleiben ausgesprochen haben. Nein, besser, für die Prämie.

Genau das aber ist Sandras Chance auf ihrem unfreiwilligen Feldzug gegen die Entsolidarisierung der Gesellschaft: sie konfrontiert – ungewöhnlich genug -ihre Kollege mit sich, verleiht ihrem „Fall“ ein Gesicht, in das hinein man seine Entscheidung begründen muss. Damit ist die Struktur von „Zwei Tage, eine Nacht“, dem neuen Film des belgischen Brüderpaares Jean-Pierre und Luc Dardenne („Rosetta“, „Der Junge mit dem Fahrrad“), vorgegeben. Sandra mischt sich in das Wochenende ihrer Kollegen, trifft sie beim Sport, beim Autowaschen, beim Zweit-Job oder auf der Straße nach dem Frühschoppen. Manche lassen sich auf ein Gespräch ein, manche verweigern sich, manche lassen sich verleugnen, manche werden aus Scham aggressiv, manche machen auch keinen Hehl aus ihrem Egoismus. Die Zeit ist zwar knapp, aber die Zahl der Kollegen auch überschaubar.

In der Folge gelingt es den Dardennes meisterlich, ein soziales Panorama vor dem Zuschauer auszubreiten, in dem manchem das kleine Glück im Winkel wichtiger ist als eine Geste der Solidarität. Denn eine solche Geste ist kostspielig – und natürlich haben alle Kollegen gute Gründe für ihr Verhalten, die Sandra zudem durchaus verstehen kann. Ihr geht es ja selbst nicht anders: Hausbau, Schulden, die Ausbildung der Kinder, die kleinen Extras, die man sich dank der Prämie nun leisten kann. Wie in einem klassischen Stationendrama wandert Sandra von Gespräch zu Gespräch und sammelt Erfahrungen, erfährt Ablehnung, aber auch spontane Zustimmung.

Dass sich Solidarität auch als Ausdruck christlicher Nächstenliebe verstehen lässt, erfährt Sandra vom farbigen Leiharbeiter Alphonse, der aber gleichzeitig auch Repressionen fürchtet, wenn er Sandra unterstützt. So sind auch Sandras Kollegen in unterschiedliche Macht-Positionen differenziert, was, wie die gewählte Betriebsgröße, die zu klein für gewerkschaftliche Organisationsformen ist, für die präzise Recherche der Dardennes spricht. Alles scheint zunächst eine Spur zu mustergültig und modellhaft auf eine Art von Lehrstück getrimmt, aber beim genaueren Hinsehen zeigt sich die Qualität dieser Form des filmischen Realismus, der eben kein Thema filmisch repräsentiert, sondern Beobachtungen filmisch verdichtet und daraus eine enorme Spannung bezieht. Im Grunde hat „Zwei Tage, eine Nacht“ die Struktur eines Genrefilms mit dem Unterschied, dass hier gewöhnliche Menschen mit vielerlei Schwächen gewöhnliche Probleme zu lösen haben.

Genau in dieser Raffinesse besteht noch immer ein entscheidender Unterschied zur trivialen Dutzendware des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, die bereits vorgefertigte Thesen bloß noch bebildert. Trotzdem setzen die Filmemacher einen etwas forcierten moralischen und pädagogischen Schlusspunkt, der sich zwar gut anfühlt, aber letztlich politisch folgenlos bleiben wird. Sandra hat es dem System noch einmal gezeigt, aber diese Geste zielt eher extradiegetisch direkt in den Zuschauerraum als in den Aufenthaltsraum, in dem die geheime Abstimmung am Montagmorgen erfolgt. Doch auch intradiegetisch hat Sandras Initiative Wirkung gezeigt, allerdings nur auf dem Niveau eines Hoffnungsfunken. In einer Schlüsselszene des Films singt Petula Clark ihre französische Version des alten Searchers-Hits „Needles and Pins“. Der Titel lautet: „La nuit n’en finit plus“. Die Nacht endet nie? Die Dardennes halten es eher traditionell mit Ton Steine Scherben: „Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.“ Klingt leider in der Version der Dardennes auch ein bisschen wie das Pfeifen im Wald.

Plötzlich Gigolo

(USA 2013, Regie: John Turturro)

Sexual Healing
von Nicolai Bühnemann

John Turturro spielt einen Gigolo. Woody Allen seinen Zuhälter. Zur ebenfalls rapide gealterten Kundschaft gehört unter anderem Sharon Stone. Dass diese Grundkonstellation in ihrer Durchgeknalltheit allzu berechnend auf die Zielgruppe …

John Turturro spielt einen Gigolo. Woody Allen seinen Zuhälter. Zur ebenfalls rapide gealterten Kundschaft gehört unter anderem Sharon Stone. Dass diese Grundkonstellation in ihrer Durchgeknalltheit allzu berechnend auf die Zielgruppe zugeschnitten daher kommt, ist noch eines der kleineren Probleme von „Fading Gigolo“, der fünften Regiearbeit Turturros, der als Darsteller unter anderem aus verschiedenen Filmen der Coens und Spike Lees bekannt ist. Wesentlich heikler ist da schon die Tatsache, dass man nach den 98 Minuten des Films relativ ratlos ist, was genau er mit dieser Prämisse eigentlich vorhatte. Was Sie schon immer über männliche Prostitution wissen wollten … erfahren Sie hier jedenfalls nicht.

Murray (Allen) muss die Buchhandlung schließen, die er von seinen Vorvätern übernommen hat. Auf der Suche nach neuen Einnahmequellen erfährt er, dass seine Hautärztin Dr. Parker (Stone) von einer Ménage à trois träumt. In seinem guten Freund Fioravante (Turturro) meint er den richtigen für den Job gefunden zu haben. Dass dieser gut mit seinen Händen ist, beweist er beim Binden von raffinierten Blumengestecken. Schönheit im eigentlichen Sinne wird wettgemacht durch einen gewissen animalischen Charme („Ist Mick Jagger etwa schön?“) Der exotische Name, ebenfalls der Welt der Flora entstammend, und das Rezitieren von Weisheiten über die Liebe auf Spanisch machen ihn distinguiert genug für Frauen, die sich ein paar leidenschaftliche Stunden 1000 Dollar kosten lassen können. Nach einigem Zögern lässt sich Fioravante überreden, Murrays „Hoe“, also „Nutte“, zu werden.

„Plötzlich Gigolo“, wie „Fading Gigolo“ mal wieder recht dämlich auf Deutsch heißt, ist ein Herbstfilm, ein Film, der Originaltitel verrät es, über das Verblassen, das Verblühen und Verwelken. Goldbraun liegt das Laub auf den Straßen und im Park, leuchtet das Licht, in das Figuren und Schauplätze getaucht werden. Dass das recht schick aussieht, täuscht nur ungenügend darüber hinweg, dass sich dahinter eine recht simple Symbolik auf das fortgeschrittene Lebensalter aller Figuren versteckt.

Es fügt sich da ins Bild, dass man von allen Beteiligten wahrlich schon Besseres, Frischeres Gesehen hat. Die Allen-Figur mit ihrem Geschäftssinn, den Witzeleien über Ärzte und Medikamente, der ordentlich zupackenden afroamerikanischen Gemahlin und dazugehörigen Kinderschaar ist reine Manier. Es wundert kaum, dass Allen in den interessanteren Filmen seines Spätwerks („Midnight in Paris“, „Blue Valentine“) nicht selbst mitspielte. Und auch John Turturro hatte sicherlich schon wesentlich mehr zu bieten als den ergrauten Latin Lover hier.

Aber es sind gerade die Frauenfiguren, in denen sich das Grundfalsche an diesem Film offenbart. Da ist Sharon Stone, die einst, 22 Jahre ist das her, mit einem Beinüberschlag, der tiefe Einblicke bot, Filmgeschichte schrieb und die Femme fatale für die Neunziger neu erfand. Die verheerende Frau als Ausdruck eines männlichen Todestriebs. Paul Verhoevens „Basic Instinct“ entlarvte die Misogynie dieser männlichen Projektion, indem er sie überdeutlich ausstellte. In „Fading Gigolo“ ist dieses Angstbild der ultra-reichen, -intelligenten und –bösen Frau so weit gezähmt, unschädlich gemacht, dass von ihm nur noch eine von Selbstzweifeln zerfressene Neurotikerin in ihrem Luxus-Appartement übrig ist, die aus ihrer für sie offenbar ziemlich unbefriedigenden Ehe mit wildem Gigolo-Sex ausschert.

Ihre Freundin Selima, die die Dritte in der geplanten Ménage sein soll, wird gespielt von Sofía Vergara. Mit ihrem starken Latino-Akzent bietet sie Turturro an, einen Strap-On anzulegen. Auch die dominante, penetrierende Frau ist hier klar als Männerphantasie zu erkennen. Die Art, wie die Kamera sie in Dessous, mit ausladendem Dekolleté und meterhohen High Heels zeigt, verdeutlicht, dass es dem Film, anders als etwa „Magic Mike“ oder, viel früher, Peter Kerns „Crazy Boys“, nicht daran gelegen ist, die gängige Ordnung von männlichem Blick und weiblichem Bild zu unterlaufen.

Schließlich Vanessa Paradis als Avigail. Die Witwe eines chassidischen Rabbiners, die ihren Mann jung geheiratet hat und nun nach dessen Ableben mit den sechs Kindern allein dasteht, in weltlichen Dingen denkbar unbewandert. Sie lässt sich von Murray überreden, Fioravantes Dienste in Anspruch zu nehmen. Mit ihr kommt auch das in den Film, was in Geschichten über Prostitution von jeher die Ökonomie des Begehrens durcheinander bringt: die Liebe. Und das gleich doppelt. Nicht nur, dass sich Fioravante und sie auf eine Art näher kommen, die nicht im Sinne der Geschäfte ist, in einem weiteren Handlungsstrang geht es um Dovi (Liev Schreiber), einen Chassid und Mitglied der Nachbarschaftswache, der Avigail seit der Kindheit anhimmelt und über ihre Beziehung zu Fioravante zunehmend argwöhnisch und eifersüchtig beäugt. Die (Über-)Zeichnung des jüdischen Milieus von Williamsburg, Brooklyn ist noch eine der stärkeren Seiten des Films. Nicht dass es an einem Humor, der sich zu großen Teilen aus Schläfenlocken nährt, nichts auszusetzen gäbe, nicht dass man das nicht auch schon überzeugender gesehen hätte (in „A Serious Man“ von den Coens zum Beispiel), aber hier ist der Film für Momente zumindest auf vorteilhafte Weise durchgeknallt, traut sich etwas, wo er doch sonst allzu sehr auf Nummer Sicher geht.

Auf eine eigentliche Liebesgeschichte will „Fading Gigolo“ dann allerdings nicht hinaus. Vielmehr geht es darum, wie eine zurückgezogene, zutiefst verunsicherte Frau über den Tod ihres Mannes hinwegkommt. Um „Sexual Healing“ also, wie es einst in einem Song von Marvin Gaye hieß. Hier fügt es sich zu einer sozialpädagogischen Altherrenphantasie.

5 Zimmer Küche Sarg

(USA 2014, Regie: Jemaine Clement, Taika Waititi)

Reality-Soap mit Biss
von Nicolai Bühnemann

Der Wecker klingelt um sechs. Eine Hand schiebt sich aus dem Sarg, um ihn enerviert auszuschalten. So stinknormal beginnt der Tag von Viago. Oder besser gesagt: die Nacht. Denn wir …

Der Wecker klingelt um sechs. Eine Hand schiebt sich aus dem Sarg, um ihn enerviert auszuschalten. So stinknormal beginnt der Tag von Viago. Oder besser gesagt: die Nacht. Denn wir befinden uns, so informiert das Presseheft, in einem „faszinierenden Dokumentarfilm“, der „erstmals und mit schonungsloser Offenheit den unspektakulären Alltag einer bislang unerforschten Spezies“ zeigt. Viago ist also, genau wie seine anfangs drei Mitbewohner in einer alten Villa in Wellington, Vladislav, Deacon und Petyr: ein Vampir (was auch den Sarg erklärt, über den aufmerksame Leser im zweiten Satz dieses Textes sicherlich gestolpert sind). Und „What We Do in the Shadows“ – wie „5 Zimmer Küche Sarg“ im Original wesentlich eleganter heißt – ist eine Mockumentary, die, angelehnt an gängige Reality-TV-Formate, den Alltag einer Vampir-WG schildert.

Viago, 379 Jahre alt, war in einem früheren Leben ein Dandy, weshalb er etwas pedantisch seine Mitbewohner dazu anhält, bei ihren Mahlen keine allzu große Sauerei zu veranstalten und sich darum kümmert, dass irgendjemand die sich stapelnden Geschirr-Berge abwäscht. Vladislav, im Mittelalter groß geworden, ist in seinen Ansichten eher konservativ. Eitel besteht er darauf, schon mit sechzehn Jahren zum Vampir geworden zu sein, was sich mit seiner doch nicht mehr ganz jugendlichen Erscheinung, sorry, beißt. Jedenfalls unterhält er eine – wenn auch in letzter Zeit seltener genutzte – Folterkammer und vergnügt sich vornehmlich mit gleich mehreren Jungfrauen. Deacon ist mit seinen schlappen 183 Jahren ein jugendlicher Haudrauf, der um keine Albernheit verlegen ist. Schließlich Petyr, mit 8000 Jahren mit Abstand ältester der WG, der sich in seinem Look denn auch an der Steinzeit des Vampirfilms orientiert, nämlich an Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu“.

Um Schwung in die Bude – und den Plot – zu bekommen, muss Zuwachs her. Der kommt in Form des jungen Hipsters Nick, der von Petyr zum Vampir gemacht wird. Auch sein bester Freund, der Computer-Experte Stu, ist im Haus bald gerne gesehener Gast. Verklickert er den Vampiren doch den Umgang mit sozialen Netzwerken – und zeigt ihnen YouTube-Videos von Sonnenaufgängen. Leider hat Nick nicht nur seine Schwierigkeiten, sich mit den Gegebenheiten des ewigen Lebens abzufinden, sondern auch die unkluge Eigenschaft, überall mit seinen vampirischen Fähigkeiten zu prahlen („Kennt ihr diesen Typen aus ‚Twilight‘? Das bin ich.“) Wodurch die Villa bald nächtlichen Besuch von einem Vampirjäger bekommt. Gegen Ende gibt es dann auch noch die große „Unholy Masquerade“, einen Maskenball für die verschiedenen untoten Communitys (also Vampire, Zombies et al), wo es Vladislav mit einer ehemaligen Geliebten zu tun bekommt, die nur unter dem vielsagenden Namen „Das Biest“ bekannt ist.

Die Idee zu „5 Zimmer Küche Sarg“ geht auf einen Kurzfilm zurück, den die Regisseure, Drehbuchautoren und Darsteller Taika Waitti (Viago) und Jemanine Clement (Vladislav) 2005 realisierten. Die Szenen wurden von einem Script vorgegeben und dann improvisiert. Dem Reality-Soap-Format entsprechend, folgt die Handkamera den Figuren oft dicht durch die eher karg eingerichtete Villa und das Nachtleben von Wellington. Manchmal gibt es, wenn man bei den Streifzügen durch die Nacht auf eine Werwolf-Clique trifft, Stunk – dies sind die wenigen Momente, in denen der Film das Komödienfeld zumindest ein Stück weit verlässt, um mehr in Richtung Horrorkino auszuschwenken.

Neben gängigen Versatzstücken der Blutsauger-Mythologie, etwa fehlenden Spiegelbildern en masse, zitiert sich der Film exzessiv durch die Vampir-Filmgeschichte: von Murnau über „The Lost Boys“ und „Blade“ bis zu „Twilight“. Neben der Darstellung des allzu Menschlichen des Vampir-Daseins bezieht der Film seinen Humor also aus nerdigen Wiedererkennungswerten. Beides regt in seinem beständigen Over Drive eher zum Schmunzeln an. Die großen Lacher sind selten.

Seine besten – und witzigsten – Momente hat „5 Zimmer Küche Sarg“ dort, wo er sich gehen lässt und es eher grob wird. Etwa in der Szene, wenn Viago, der seinen Opfern gerne einen schönen (Lebens-)Abend beschert, beim Biss die Halsschlagader trifft und das Blut nur so spritzt und sprudelt. Oder wenn es um zwei Vampirmädchen geht, deren Hauptnahrungsmittel Pädophile sind. In diesen Momenten wird deutlich, welcher Film „5 Zimmer Küche Sarg“ hätte werden können, wenn er es sich öfters erlaubt hätte, das Konzept-Korsett zu verlassen, um sich allerlei Ausschweifungen hinzugeben.

Yaloms Anleitung zum Glücklichsein

(CH 2014, Regie: Sabine Gisiger)

Reiseleiter der Selbsterforschung
von Wolfgang Nierlin

Der Blick geht aufs Meer, an dessen Horizont sich eine Stadt im Dunst abzeichnet. Während ein Frachtschiff am linken Bildrand auftaucht, die Einstellung durchquert und auf der rechten Seite wieder …

Der Blick geht aufs Meer, an dessen Horizont sich eine Stadt im Dunst abzeichnet. Während ein Frachtschiff am linken Bildrand auftaucht, die Einstellung durchquert und auf der rechten Seite wieder verschwindet, erklingt ein Ausschnitt aus Edvard Griegs „Peer Gynt-Suite“ und eine Stimme aus dem Off hebt an, zu sprechen: Er lasse zu Beginn einer Therapie seine Patienten oft eine Linie zwischen Geburt und Tod zeichnen, auf der sie sich verorten sollen, um ihnen die begrenzte Zeit des Lebens bewusst zu machen. „Wie fühlt sich der Blick aufs eigene Leben an?“ Dabei entstehe bei seinen Klienten oft ein Gefühl der Reue und des Bedauerns über verpasste Möglichkeiten oder nicht wieder gut zu machende Fehler. Der da spricht, ist der 83-jährige amerikanische Psychiater und Schriftsteller Irvin D. Yalom, der in Sabine Gisigers Dokumentarfilm „Yaloms Anleitung zu Glücklichsein“ auf das eigene Leben zurückblickt.

Die enge Verzahnung von Leben und Arbeit, die durch Yaloms dominante, zwischen biographischer Auskunft und beruflichem Erfahrungsbericht changierende Erzählung realisiert wird, ist ebenso naheliegend wie aufschlussreich. Handelt es sich bei dem renommierten Therapeuten doch um einen der wichtigsten Vertreter der existentiellen Psychotherapie, der neben wissenschaftlichen Grundlagenwerken auch lehrhafte Romane verfasst hat (zum Beispiel „Und Nietzsche weinte“), mit denen er einem größeren Publikum bekannt geworden ist. Die Suche nach dem Sinn und die Frage nach dem richtigen Leben verbinden sich in Yaloms Denken mit der Notwendigkeit, sich selbst besser kennen zu lernen und das Unterbewusste bewusst zu machen. Der Therapeut wiederum sieht sich dabei als „Reiseleiter der Selbsterforschung“.

„Wir sind alle Patienten und werden von unseren Ängsten eingeholt“, sagt der Portraitierte einmal. Existentielle Einsamkeit, die Angst vor dem Tod, aber auch die Sehnsucht, diese Zustände gesteigerter Selbstwahrnehmung in der Verschmelzung mit einem liebenden Anderen aufzuheben, bilden insofern die zentralen Themen seiner Beschäftigung. Als Kind polnischer Juden, das sich vernachlässigt und als wissbegieriger Außenseiter selten unbeschwert gefühlt hat, vermisst Yalom zeitlebens ein „stabiles Fundament“. So unterzieht er sich während seiner akademischen Ausbildung und noch als Therapeut selbst immer wieder Therapien und gewinnt daraus nicht zuletzt Anregungen und Erkenntnisse für die eigene Arbeit.

Die Stationen dieses Werdegangs illustriert Gisiger zum einen mit historischen Aufnahmen; zum anderen begleitet sie Irvin D. Yalom zu seinen früheren und gegenwärtigen Wohnorten und Wirkungsstätten, zu denen vor allem die Stanford University im kalifornischen Palo Alto zählt. Hier lebt der Therapeut in einem abgelegenen kleinen Haus zusammen mit seiner großen Liebe und langjährigen Ehefrau, der Literaturwissenschaftlerin Marilyn Yalom. Im Alter fühle er sich zunehmend leichter und freier, weil frühere Konflikte an Bedeutung verlören und die Aufmerksamkeit sich auf das Wesentliche richte. Immer wieder verharrt die Kamera in langen Einstellungen, blickt aufs Meer und das Spiel der Wellen und gibt so den Gedanken Zeit und Raum. Neben dem leicht irreführenden Titel stört in der deutschen Fassung des Films allerdings das etwas gewöhnungsbedürftige Voice-over-Verfahren, das sich allzu prägnant über die originalen Stimmen legt und dabei mehr an eine Fernseh- als an eine Kinoproduktion denken lässt.

Butter on the Latch

(USA 2014, Regie: Josephine Decker)

Das Im-Wald-Verloren-sein
von Nicolai Bühnemann

Einmal verlaufen sich Sarah und Isolde nachts im Wald. Zu bloßen Schatten werden die beiden Frauen, Schemen, die sich abheben von den Lichtpegeln ihrer Taschenlampen im Geäst. Es kommt zu …

Einmal verlaufen sich Sarah und Isolde nachts im Wald. Zu bloßen Schatten werden die beiden Frauen, Schemen, die sich abheben von den Lichtpegeln ihrer Taschenlampen im Geäst. Es kommt zu einem Streit, bei dem die ziemlich angetrunkene Isolde ihrer Freundin Vorwürfe macht. Nachdem Isolde in der Dunkelheit verschwindet und Sarah alleine zurück lässt, folgt ein Schnitt. Es ist Tag. Die Kamera, die zuvor mit den beiden Frauen durch den Wald wankte, blickt nun ganz ruhig mit Sarah über eine Lichtung.

Zwei Frauen, deren Namen die realen Vornamen der Darstellerinnen sind: Sarah Small und Isolde Chae-Lawrence, die Handkamera, der nächtliche Wald. Wie diese Szene aus dem Realismus des Settings und der Reduktion der Mittel mehr macht, ist in vielfacher Hinsicht bezeichnend für Josephine Deckers Debütfilm 'Butter on the Latch', der wie der Nachfolger „Thou Wast Mild and Lovely“ im Forum der diesjährigen Berlinale zu sehen war. Die Situation wird mystisch überhöht und bekommt zugleich etwas Existenzielles: das Im-Wald-Verloren-sein. Typisch ist auch der abrupte Schnitt, der das Geschehen aufbricht, eine Ellipse setzt. So wie die meist handgehaltene Kamera oft, wie auch hier, verschiedene Abstufungen der Unschärfe auslotet, werden auch inhaltlich die Konflikte nicht zu Ende erzählt, nicht ausgedeutet. Zusammenhänge entstehen eher assoziativ, als dass sie sich aus der Erzählung ergeben würden.

Sarah stattet ihrer Freundin Isolde einen Überraschungsbesuch auf einem Balkan-Folk-Festival in den Wäldern von Mendocino, Kalifornien ab (gedreht wurde im Summer Camp des European Folklife Center und mit dessen realen Besuchern). Die erste Hälfte des Films gehört ganz den beiden Frauen und ihren Gesprächen, die von den Darstellerinnen improvisiert wurden. In einer Szene unterhalten sie sich im Bad über Beziehungen, erzählen sich von ihren sexuellen Abenteuern. Die Kamera ist ganz dicht an ihren Gesichtern, während sich ihr Gespräch um Analverkehr und den Besuch in einem dubiosen Beauty-Studio dreht. Um Vertrauen geht es auch und Ausdruck einer großen Vertrautheit zwischen den beiden Frauen ist auch diese Szene.

Gleichzeitig gibt dieses Gespräch das Thema des weiblichen Begehrens vor, das den Film, wenn auch auf eine schwer greifbare Art, bestimmen wird. Sarah lernt einen Mann, Steph (Charlie Hewson), kennen und macht sich sehr behutsam daran, ihn zu verführen. Diese zaghafte Annäherung korrespondiert mit einer zunehmend kühleren und distanzierteren Haltung zwischen den beiden Freundinnen. Fast wie Fremde werden sie sich an einer Stelle begegnen.

Doch geht es Decker wiederum um mehr, als zu erzählen, wie ein Mann einen Keil zwischen zwei Freundinnen treibt. Vielmehr scheint etwas schwer Fassbares, Mystisches von Sarah Besitz zu ergreifen. Ein Pressetext spricht sehr passend von „unirdischen, erschreckenden Gefühlen.“ Da ist etwas in den Wäldern von Mendocino, das nicht von dieser Welt zu sein scheint. Etwas, das der Film nicht erklärt und das doch in der Natur, in den Wäldern greifbar ist. In den Zeitlupenbildern von Frauen in weißen Gewändern, die im Kreis tanzen, an denen sich Deckers Background in der Performance Art deutlich ablesen lässt. Den wiederholten Bildern von einer Schnecke, den verstörenden, dissoziativen Schnittfolgen.

Mit den Rhythmen und Gesängen des Festivals, die den Fluss der Bilder immer wieder eher unterbrechen als ihn voranzutreiben, steuert „Butter on the Latch“ in einem beständigen Crescendo zu auf Momente purer Ekstase. Auf die Sexszene am See. Körper, Münder, Hände, die einander suchen und finden, einander ertasten. Erst ganz vorsichtig und zärtlich, dann immer wilder. Und wieder schleicht sich mit Zwischenschnitten etwas ein in diese Bilder. Etwas Tödliches vielleicht.

Josephine Decker ist mit „Butter on the Latch“ ein rätselhafter, intensiver, fiebriger Debütfilm gelungen. Ein Film, der bei aller inhaltlichen Offenheit und Uneindeutigkeit zu einer hohen formalen Geschlossenheit findet.

Zwei Tage, eine Nacht

(B / F / I 2014, Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne)

Nochmal das bereits Angerissene ...
von Andreas Thomas

Jaja, die Dardennes, man weiß nicht, wofür man sie mehr lieben soll, für ihre humanistische Einstellung oder für ihre Fähigkeit, gute Filme zu drehen. Manchmal trifft beides bei ihnen trefflich …

Jaja, die Dardennes, man weiß nicht, wofür man sie mehr lieben soll, für ihre humanistische Einstellung oder für ihre Fähigkeit, gute Filme zu drehen. Manchmal trifft beides bei ihnen trefflich zusammen, und dann haben wir großes Kino: 'Rosetta', 'Das Versprechen', 'Der Junge mit dem Fahrrad'. Manchmal überwiegt das Sendungsbewusstsein, das Bedürfnis, eine Botschaft zu übermitteln: 'Lornas Schweigen' ist da ein Beispiel, bei dem mir zu penetrant unter die Nase gerieben wurde, wie verdammt wenig so ein Mensch im freien Spiel der ökonomischen Triebkräfte wert ist. Am besten hat sich ihr Kino immer dann bewährt, wenn das komplette kapitalistische Weltganze sich aus einer ganz kleinen und individuellen Problemgemengelage wie von selbst entwickelt und erklärt hat, wie es etwa bei 'Rosetta' musterhaft vorgeführt wurde.

'Rosetta' ist auch das Stichwort und der wichtigste Bezug zum neuen Film von den Brüdern Jean-Pierre und Luc Dardenne, denn 'Zwei Tage, eine Nacht' liegt die gleiche Ausgangssituation wie 1999 dem Film 'Rosetta' zu Grunde. Das Thema: der Kampf aller um zu wenige Arbeitsplätze für alle, also die künstliche Erzeugung von Konkurrenzverhalten, das Provozieren der egoistischen Kräfte, das gleichzeitige Aufspalten von Gemeinschaft zum Zweck der Dienstbarmachung, sprich: Ausbeutung der werktätigen Bevölkerung. Was für ein Spaß. Welche Filme ermöglichen heute noch ein dermaßen leichtgängiges Fluidieren ins marxistische Vokabular? Und wie wenige Filme nur sprechen heute noch von dem, was ja Grundlage und Spirit des kapitalistischen, also unseres alle und alles prägenden Wirtschaftssystems ist? So als wären das System und seine inhumanen Grundzüge und Auswirkungen allein schon dadurch human bzw. darüber nachzudenken dadurch tabu geworden, dass es kaum mehr ein nominelles, sprich ernstnehmbares, Gegenmodell, wie etwa einen Sozialis- oder Kommunismus dazu mehr gibt, denn wie auch immer -mus, Freunde: Diktatur ist Diktatur.

Umso schöner, wenn es noch Leute gibt, die trotzdem weiter über diesen anderen -mus nachdenken, der weiter (und hemmungsloser) existiert und weiter und mehr Probleme bereitet, und schön auch, dass dieses Nachdenken eben nicht ein dogmatisches Nachdenken ist, sondern eines, das deshalb Erkenntnis ermöglicht, weil es, günstigstenfalls, Argumente fallen lässt, die vielleicht rhetorisch passen würden, aber manchmal nur partiell einer Wirklichkeit entsprechen können. Das Nachdenken endet eben so nicht.

Womit wir zunächst wieder bei 'Rosetta' wären, der physischen Abbildung von Prekariat durch ein bis dato (1999) neues physisches Kino, Rosetta, eine in Armut lebende junge Frau, die um jeden Preis ihre Würde erhalten / erlangen möchte, in Form eines Arbeitsplatzes, die aber immer nur lernt, dass in unserer Art von Gemeinschaft niemandem irgend etwas zusteht, und dass sie mit allen Mitteln für ihr Ziel zu kämpfen hat, wenn es sein muss, auch gegen ihren besten Freund, wenn es sein muss, auch mit dem Mittel des Tötens.

'Rosetta', der Film, hatte schon damals spürbar klar gemacht, wie hart der Kampf ums Überleben geführt werden muss, wenn er den Gesetzen des Arbeitsmarktes entsprechen will, und diese These eindringlich bis zum Ersticken – oder bis zur Atemlosigkeit illustriert.

Man könnte sagen, mit der Heldin Sandra aus 'Zwei Tage, eine Nacht' lebt 'Rosetta' weiter, aber transformiert ins Ideelle, man könnte sagen, es geht nicht mehr um die Körper, die sich gegeneinander Geltung verschaffen, es geht um Ideen, die inkompatibel zu sein scheinen, und es geht um das Prinzip Hoffnung.

Sandra (die mit dunklen Augenringen versehene Marion Cotillard ('La vie en rose' [2007]), eine junge Mutter von zwei Kindern, war gerade länger in ihrer Probezeit krankgeschrieben, aber just im Moment, als sie von ihren Depressionen geheilt ist und anfangen will, wieder zu arbeiten, erklärt ihr Arbeitgeber (auch eine dieser, wie bei 'Rosetta' zu Beginn, virtuell erscheinenden Produktionsstätten, in denen die Arbeiter Schutzanzüge tragen, um ihre Produkte – in diesem Fall womöglich Solarzellen – nicht mit Menschenviren zu infizieren) ihre noch vorläufige Anstellung für entbehrlich, und er wälzt netterweise (und idealiter dardennesches Sozial-Exempel) die Entscheidung, ob sie gehen oder bleiben soll, auf Sandras 18 Kollegen ab: Im Falle, dass man ihren Arbeitsplatz einspare, ergebe sich eine einmalige Bonuszahlung von 1000 Euro pro verbleibendem/r Mitarbeiter/in. Und so sollen die Kollegen selbst entscheiden, was sie wollen, das Geld oder einer noch relativ unbekannten Kollegin ihren Arbeitsplatz erhalten.

Wie immer bei den Dardennes, setzt die Handlung ohne große Vorrede oder Einführung in dem Moment ein, als eine erste Abstimmung ohne ihr Wissen schon stattgefunden und sich gegen sie gewendet hat, und nur einer treuen Kollegin und der Unbeirrbarkeit ihre Mannes (gespielt vom auch in 'Rosetta' schutzengelgleichen Fabrizio Mongione) hat die fragile Sandra zu verdanken, dass sie erstens die moralische Unterstützung erfährt, die sie braucht, um zunächst einen Aufschub von einem Wochenende für eine zweite Abstimmung zu erwirken, und dann aber erst recht, um den Mut und die Kraft zu besitzen, jeden einzelnen dieser Kollegen persönlich mit der Tragweite ihrer Wahl zu konfrontieren, indem sie sie darum bittet, für sie, Sandra, also für die Erhaltung ihrer Lebensgrundlage und gegen die Lösung mancher eigener finanzieller Engpässe, zu stimmen.

Standen in 'Rosetta' die Unmenschlichkeit des Lebens ohne Arbeitsplatz und die Härte des freien Arbeitsmarktes im Mittelpunkt der Untersuchung, so setzt 'Zwei Tage, eine Nacht' diese Untersuchung eher als gegeben und als erfahren voraus und ergänzt sie nun, gewissermaßen als Fortsetzung der Phänomenologie einer allgemeinen Arbeitsethik, um die Frage nach einer möglichen Utopie. Der Film fragt konkret: Ist eine gerechtere und menschlichere Arbeitswelt heute oder überhaupt denkbar und möglich, und wenn ja, welche Voraussetzungen sind dafür bei jedem Einzelnen notwendig? Mit anderen Worten: Wie groß ist der Zusammenhalt zwischen den Kollegen / Menschen oder wie groß könnte er sein? Lässt sich eine andere, gerechtere Ökonomie überhaupt vorstellen ohne ein Opfer jedes einzelnen für den anderen?

Indem der Film der Frage nach diesem Opfer in exakt 18 Fällen nachgeht, spielt er sie so variantenreich durch, dass praktisch für jeden Zuschauer seine Option dabei sein müsste, wobei wir natürlich spätestens merken, dass Sandra nicht diese Kollegen, sondern die Dardennes unablässig uns fragen: Würdet ihr einen Menschen in die Arbeitslosigkeit gehen lassen, nur für diesen euren, vorübergehenden, persönlichen Vorteil? Natürlich würden wir nicht, gell?

Ein kleines Problem dabei ist, dass der Film anscheinend selbst der strategieimmanenten Konkurrenzideologie des Neoliberalismus ('Entweder der / die oder ich!') zum Teil folgt bzw. genauso auf sie hereinfällt, wie die, deren Entscheidungsprozess sie zugedacht ist, nämlich Sandras Kollegen (bzw. ein Großteil der freien Arbeitskräfte auf dem freien Arbeitsmarkt). Denn soziale Gerechtigkeit muss ja gar nicht zwangsläufig eine Frage des Opfers, des Verzichts oder gar der freiwilligen Armut der sich solidarisierenden Rest-Menschheit bedeuten, so wie es die Chefs von Sandras Firma suggerieren wollen, denn wenn man mal berücksichtigt, wie ungleich die Reichtümer heutzutage verteilt sind, ist sicherlich ganz schön viel für jeden (in der Welt) übrig.

Und so kommt es, dass bei der Frage des hier idealisierten freiwilligen Verzichts, des selbstlosen Opfers, unterschwellig eine christliche Kopfnote mitschwingt, die sich, man spürt es sukzessive und peu a peu, zu anderen gesellt, die der Film bereits vorher etabliert hatte: Sind nicht seine Grundfragen die nach den drei Theologischen Tugenden? Basiert nicht die Idee des Films auf der Idee des Glaubens (an das Gute im Menschen, das Göttliche)? Wird Sandra nicht durch die übermenschliche Liebe ihres Mannes durch die wohl schwierigsten Stunden ihres Lebens begleitet? Ist es nicht die Hoffnung allein, die ihr dazu verhilft, ihren Kampf darum, als Mensch wahrgenommen (angenommen) zu werden, nicht aufzugeben?

Hier tritt das oben bereits Angerissene ein: Die Entwicklung der Dardenne-Filme von einem (übrigens auch immer schon ethischen) Kino über existenziell und physisch determinierte Situationen des Menschseins hin zu einem Kino von Realität, konfrontiert und bewältigt (?) mit (christlichem) Ideal. Wenn es so sein sollte, dass die christliche Theologie die grundlegenden menschlichen Fragen treffend zu illustrieren im Stande sei, und sie nicht, umgekehrt, eher an den grundlegenden menschlichen Fragen zu Gunsten ihrer Ideologie geschraubt habe, dann ruhe mein Segen auf den neueren Dardenne-Tendenzen.

Aber muss es sein, dass mir die Auflösung eines weitgehend spannenden und wieder mal wahrlich engagierten Dardenne-Films das Gefühl gibt, ich müsse von ihm zusätzlich ob seiner inhärenten Moral belehrt werden? Ich weiß nicht und gebe 7 bis 8 Punkte, was sich in unseren filmgazetten-Standardbewertungen nicht widerspiegelt.

Hin und weg

(D 2014, Regie: Christian Zübert)

Hoffnungslos, aber nicht ernst
von Lukas Schmutzer

“Hin und weg” ist ein Film über ein Sterben, welches keine Ice Bucket Challenge mehr verhindern kann: Er erzählt von dem an ALS erkrankten Hannes (Florian David Fitz), der gemeinsam …

“Hin und weg” ist ein Film über ein Sterben, welches keine Ice Bucket Challenge mehr verhindern kann: Er erzählt von dem an ALS erkrankten Hannes (Florian David Fitz), der gemeinsam mit Frau und Freunden eine Fahrradtour ins belgische Ostende unternimmt, wo mit einem Arzttermin zugleich seinem Leben ein selbstbestimmtes Ende gesetzt ist. Solch schweren Stoff will der Film sowohl komisch als auch ernst entfalten, wobei diese Entfaltungsweisen in vielen Momenten weit mehr einander bedingen, als es jene Phrasen-Maschinerie, durch die der “emotionsgeladene” Film in journalistischem Eifer schon längst gedreht wurde, zu erfassen gestattet: “emotionale Balance”; “emotionale Trickkiste”; “Achterbahnfahrt der Emotionen” – die Kritik scheint noch weit mehr von “Emotion” beseelt zu sein als der Film selbst. Wenn sich die Schreiber dann noch zur Schlussfolgerung hinreißen lassen, dieser Film zeige “Freundschaft, die alle Grenzen des Lebens überwinden kann”, so ist zu befürchten, dem von “Emotion” betäubten Leser komme gar nicht mehr in den Sinn, dass der Film seine Eigenschaften als Herz-Zerreißer vielleicht gerade aus dem Umstand bezieht, dass selbst die engste Freundschaft nicht alle Grenzen gemeinsam überwindet.

Eigentlich gibt der Titel den Zusehern eine zynische Perspektive in den Film mit, die solch rhetorischer Überhöhung entgegensteht: “Hin und weg” ist eben nicht nur das vom Film “emotional” mitgerissene Publikum, “Hin und weg”, das ist auch Hannes, wenn er hin-fährt nach Belgien, um dann für immer weg zu sein. Fassen wir das als Aufforderung auf, erlauben wir uns einmal eine zynische Distanz. Dann dürfen wir feststellen: Über das Sterben gibt es schon Filme zur Genüge. Was sollte gerade diesen so besonders machen?

Aus einer langen Tradition erkennen wir viele Versatzstücke wieder, die da in “Hin und weg” radfahrend re-cycled werden: Das Meer, der Strand und der Dreier z.B. aus “Knockin’ on Heavens’ Door”; der verständnisvolle Freundeskreis, wie er etwa in “Les invasions barbares” den Sterbenden begleitet (eine, wie ich finde, exzellente filmische Bearbeitung dieses Topos); oder das Spiel mit und um die versäumten, aber nachzuholenden Erlebnisse, das sowohl Schweiger und Liefers, als auch Nicholson und Freeman spielten. An dieser Stelle darf der von der deutschen Film- und Medienbewertung gestellte hochqualifizierte, behördliche Verdacht entkräftet werden, dass “heitere Elemente” dieser Art bloß aufgrund ihres Auflockerungscharakters, d.h. zur “emotionalen Entlastung” in den Film gefunden haben – nein, diese kommen aus dem Herzen der Tradition und funktionieren auch erst vor dem Hintergrund einer drohenden Vergänglichkeit, die sinnstiftend über allem thront.

Was “Hin und weg” aber anders macht: Das Verhältnis seiner Figuren zum Sterben selbst scheint mir in einer eigentümlichen Ambivalenz zu stehen. Denn hier gibt es keine gestohlenen Unsummen, die es erlauben, im Angesicht des Todes einmal so richtig die Sau rauszulassen. Das Spiel des Einmal-wirklich-lebens wird dementsprechend weitgehend von der Hauptfigur ausgelagert auf die restliche Reisegesellschaft, die da ihre Aufgaben zu erfüllen hat. Natürlich, die Vergänglichkeit thront auch hier, aber sie ist räumlich nicht anwesend: Kein Krankenhausaufenthalt zum Beispiel gemahnt an den nahenden Tod. Auch wird kein Riss im Alltag geschildert, in dem Sinne, dass die Krankheit zum bestimmenden Faktor der Lebensgestaltung wird. Das Reisen an sich mag demgegenüber einen solchen Bruch mit alltäglichen Routinen darstellen; aber “Hin und weg” zeigt uns ein Reisen, dem im Beisammensein mit Freunden die Funktion einer Wiederholung liebgewordener Erfahrungen aufgenötigt wird: Noch einmal die Dinge erleben, für die es sich zu leben gelohnt hat. Damit fällt auch die Möglichkeit weg, dass sich der Protagonist in einer letzten Anstrengung einer höheren Aufgabe widmet – wie etwa, der nächsten Generation einen Spielplatz zu hinterlassen, was im klassischsten aller filmischen Sterbe-Werke von Kurosawa geschieht. Im Rahmen einer solchen Konstellation wird das Fahrradfahren sowohl zum Beweis einer körperlichen Tauglichkeit, die gegen die Vergänglichkeit aufgebracht wird, als auch zum Medium, mit dem buchstäblich auf das Lebensende zugesteuert wird. Das wäre viel Potential, welches der Film nur in Ansätzen entfaltet.

Somit: Ein mit viel Geschick inszenierter, unterhaltsamer, auch anrührender, aber nicht rührseliger Film, mit einem wundervoll agierenden Ensemble.

The Cut

(D 2014, Regie: Fatih Akin)

On the Road
von Ulrich Kriest

Am Anfang war der Traum vom Western, gebaut um den griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch von 1922 herum, wobei es einen griechischen Auswanderer in den Wilden Westen verschlagen sollte, um eine Squaw zu …

Am Anfang war der Traum vom Western, gebaut um den griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch von 1922 herum, wobei es einen griechischen Auswanderer in den Wilden Westen verschlagen sollte, um eine Squaw zu retten. Leider war diese Geschichte bereits vor Jahrzehnten erzählt worden. Dann wurde der türkische Journalist Hrant Dink ermordet und Fatih Akin, der große Naive des deutschen Kinos, las dessen Texte über den Völkermord an den Armeniern, war bewegt – und holte die alte Filmidee wieder aus der Schublade.
So hat es Akin der „Welt“ erzählt – und so erklärt sich vielleicht, warum ein Film über den Genozid von 1915, dem schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen, 1923 am Rande eines Dorfes in North Dakota endet.

„The Cut“ beginnt mit einer pastoralen Szene, die die Fallhöhe des Folgenden charakterisieren soll: in der dörflichen Idylle in Ost-Anatolien lebt der armenische Schmied Nazaret glücklich und zufrieden mit seiner wunderschönen Frau Rakel und seinen beiden hübschen und wohlgeratenen Töchtern Arsineé und Lucineé. In der Ferne tobt der 1. Weltkrieg und das Osmanische Reich, der „kranke Mann am Bosporus“, ist im Untergang begriffen. Plötzlich und unvermittelt richtet sich die Gewalt innenpolitisch gegen die Armenier, die verhaftet, verschleppt, vergewaltigt, ermordet oder einem grausamen Hungertod in der Wüste überlassen werden.

Nazaret überlebt nur knapp, weil ein nicht ganz so grausamer Türke ihm nicht die Kehle, sondern nur die Stimmbänder durchschneidet. Ab jetzt blickt Nazaret stumm, aber mit großen dunklen Augen auf die Grausamkeit der Welt – und hadert mit Gott, der solches Leid zulässt. Zwar begegnet der Protagonist in wohl dosierten Abständen neben menschlichen Bestien immer auch wieder Wohltätern, die ihm spontan und selbstlos helfen, doch am Ende braucht es das Kino selbst in Gestalt einer Freiluft-Projektion des Chaplin-Klassikers „The Kid“, um Nazaret ins Leben zurückzuholen. Als er sieht, wie der Tramp um das Kind kämpft, als er sieht, wie das Kind leidet, kommen Nazaret die Tränen. Durch (dramaturgischen) Zufall trifft er ausgerechnet jetzt seinen ehemaligen Lehrling, der ihm vom Schicksal seiner Familie erzählt. Die Zwillinge könnten noch leben. Nazaret macht sich auf die Suche: es wird eine Odyssee werden: Libanon, Kuba, Florida, Minneapolis – und schließlich North Dakota.

Der Film verliert sich in Set Designs und einem ermüdenden, zweieinhalbstündigen „und dann … und dann“ der Nebensächlichkeiten, inszeniert in der Retromanier klassischen Erzählkinos, die angesichts der gewählten Thematik (zur Erinnerung: der Genozid an den Armeniern, der in der Türkei noch immer ein Tabu berührt, kollektiv beschwiegen wird) verfehlt erscheint. Weil es mal ratlos, mal ärgerlich macht, wie naiv „The Cut“ erzählt, wie die armenische Diaspora verkürzt wird auf die triviale Geschichte vom Vater, der bei der Suche nach seinen Töchtern um die halbe Welt reist und dabei die conditio humana von allen Seiten erfährt.

Akin packt ein heißes Eisen an und verpackt es gleich wieder sorgfältig in altbackene Kino-Leidenschaft. In Interviews hat der Filmemacher erzählt, wie einzelne Szenen seines Films unangenehme Wahrheiten transportieren (Deserteure, Todeslager, deutsche Offiziere) und wie sich seine Haltung im Laufe der Produktion verändert hat: „Ich habe noch bei keinem Film so viel an die Zielgruppen gedacht, nämlich Armenier und Türken, die man fast nicht zusammenbringen kann. Wir wollten mit unserer Darstellung keinen neuen Hass schüren.“ Am Ende hat er dadurch seinem Film das Politische ausgetrieben und versucht, es allen Seiten Recht zu machen und aufs Melodram gesetzt. So ist „The Cut“ leider vor allem eins: Wischiwaschi. In Überlänge.

Thou Wast Mild and Lovely

(USA 2012, Regie: Josephine Decker)

Spielwiese des Begehrens
von Nicolai Bühnemann

Vater und Tochter tollen über die Wiese. Sie hält ein enthauptetes Huhn. Er schreit, dass sie ihn damit erstechen würde. Die Kamera blickt ins Unscharfe, über das Gras und zu …

Vater und Tochter tollen über die Wiese. Sie hält ein enthauptetes Huhn. Er schreit, dass sie ihn damit erstechen würde. Die Kamera blickt ins Unscharfe, über das Gras und zu den Bäumen. Das Huhn bleibt kopflos auf der Wiese liegen. Dann ist da ein Hund, der knurrt und kläfft. Und eine Frau beginnt aus dem Off von ihrem Liebhaber zu sprechen, so als würde sie ein Gedicht vortragen, poetisch, überhöhend.

Menschen, Tiere, Landschaften. Der Mensch in der Natur. Aber auch die „Natur im Menschen“. Begehren, Gewalt auch, die hier, in der ersten Szene von Josephine Deckers zweitem Film, noch die Form des Spiels annimmt. (Das wird sich später ändern.) Der Mensch in der Landschaft. Aber auch die Landschaft als Abbildung menschlicher Befindlichkeit. Eine Seelenlandschaft.

Die Parallelen zwischen Deckers Debüt „Butter on the Latch“ und dem ein Jahr später entstandenen „Thou Wast Mild and Lovely“, der auf der diesjährigen Berlinale uraufgeführt wurde, liegen auf der Hand. Wieder ist die Handlung in einer abgelegenen, ländlichen Gegend der USA angesiedelt – und die Abgelegenheit und die Landschaft scheinen Voraussetzung des Plots zu sein. Wieder entwickelt die Kamera Ashley Connors mit ihrer kurzen Schärfentiefe, wie sie über die Gesichter und Körper der Figuren, die Natur und die Tiere streicht, eine sehr spezifische Form der Sinnlichkeit. Wieder scheint das Begehren, um das es geht, durchdrungen von einem Horror, der sich in schnellen, suggestiven Schnittfolgen in den Film einschleicht.

Jedoch wirkt „Thou Wast Mild and Lovely“ wesentlich ruhiger, ausgeglichener, auch professioneller, „filmischer“ als sein Vorgänger. Das liegt zu einem guten Teil daran, dass die Dialoge nicht improvisiert sind, das reale Setting, die Interaktion der Darstellerinnen mit den echten Festivalbesuchern aus „Butter“ fehlt. Aber auch daran, dass die Folie, die Decker ihrem Film unterlegt, deutlicher das Genre ist, der Backwoods-Horrorfilm.

Akin (Joe Swanberg) kommt für den Sommer auf die Farm in Kentucky, auf der Sarah (Sophie Traub) mit ihrem Vater Jeremiah (Robert Longstreet) lebt. In dem Figuren-Dreieck entfaltet sich ein Netz der Blicke. Jeremiah beobachtet Akin mit großem Argwohn. Schnell hat er an der „Tanline“ am Finger erkannt, was der junge Mann den beiden verschweigt, worüber er sie direkt belügt. Akin ist verheiratet und hat ein Kind. Einmal spekuliert Jeremiah am Essenstisch darüber, ob der Hausgast schwul sei, er habe etwas Schwules in seinem Gang. „Shoulders“ nennt er ihn aufgrund seiner Körperhaltung.

Akin hat unterdessen nur Augen für Sarah. Förmlich greifbar werden seine begehrenden Blicke auf ihrem Körper, der sich manchmal wie durch diese Blicke angetrieben zu bewegen scheint. Einmal öffnet sie beim Salatschneiden weit die Schenkel, um ihm, in einiger Entfernung, Einblicke unter ihren Rock zu gewähren. Die Attraktion zwischen den beiden wird als Spiel gestaltet, das keinen anderen Ort haben kann als die Felder und Wiesen mit ihrem satten Grün. Der Wind in den Blättern, das Gras und die Sonne auf der Haut, ihr Schatten auf einem Teich und ein Frosch gehören genauso zu diesem Spiel, wie seine grenzenlose Neugier auf ihren Körper. Und wenn die beiden in einer Szene auf einer Wiese miteinander kabbeln, ersetzt Akin recht deutlich den Vater, indem er an seine Stelle aus der ersten Szene tritt.

Die Situation eskaliert als Akins Frau zu Besuch kommt. Wie in „Butter on the Latch“ erhält gegen Ende ein Terror endgültig Einzug in den Film, der schon zuvor latent da war. In Visionen und (Alb-)Träumen, die nur schwer von der innerfilmischen Realität abzugrenzen sind. Deckers Stil lässt am Ende, wenn aus dem Spiel endgültig blutiger Ernst wird, (sexuelle) Phantasie und Realität, Sexualität und Gewalt ineinander übergehen. War es aber in ihrem Erstling noch ein weibliches Begehren – oder etwas, das von der Frau und ihrem Begehren Besitz ergriffen hatte – ist es hier die väterliche Gewalt, der frau schließlich Einhalt gebieten muss.

Mit ihren ersten beiden Filmen hat sich Josephine Decker als neue interessante Stimme im amerikanischen Independent-Kino etabliert. Auf ihr weiteres Schaffen darf man gespannt sein.

Der Anständige

(D / ISR / AT 2014, Regie: Vanessa Lapa)

Garstiger Mann mit schwarzer Seele
von Wolfgang Nierlin

Die Dokumente sprechen in Vanessa Lapas beeindruckendem Film „Der Anständige“ über den hochrangigen Nationalsozialisten und Reichsführer-SS Heinrich Himmler. Dafür konnte die in Israel arbeitende Journalistin und Filmemacherin aus einem umfangreichen …

Die Dokumente sprechen in Vanessa Lapas beeindruckendem Film „Der Anständige“ über den hochrangigen Nationalsozialisten und Reichsführer-SS Heinrich Himmler. Dafür konnte die in Israel arbeitende Journalistin und Filmemacherin aus einem umfangreichen Konvolut aus privaten Briefen, Fotos und Tagebüchern der Familie Himmler schöpfen, die nach Kriegsende zunächst vernichtet schienen, sechzig Jahre später aber überraschend wieder auftauchten. In ihnen wird das Private politisch, auch wenn die große Weltpolitik, der schreckliche Krieg und die grausamen Verbrechen Himmlers zunächst weit entfernt scheinen. Gerade der Kontrast zwischen systematischem Massenmord und der ungetrübten Alltagsnormalität des Familienlebens erreicht im Verlauf des Films eine geradezu obszöne Dimension.

Nachgezeichnet wird aber vor allem Himmlers Biographie zwischen seiner Geburt im Jahre 1900 und seinem Selbstmord im Mai 1945. Durch eine ebenso geschickte wie genaue Montage des sorgfältig recherchierten Materials verschränkt Lapa familiäre Selbstzeugnisse mit selten gezeigten historischen Filmaufnahmen, um die Gleichzeitigkeit von Normalität und Verbrechen zu dokumentieren und „die innerste psycho-kulturelle Wahrheit des Bösen“ zu erforschen. So entstehen gleich mehrere kritische Geschichten, aus denen diejenige Himmlers aber herausragt.

In einem Liebesbrief an seine Frau Margarete bezeichnet sich Himmler einmal als einen „garstigen Mann mit schwarzer Seele“. Diese frivol gemeinte Selbstcharakterisierung verweist nicht nur auf eine schreckliche Wahrheit, sondern auch auf das eklatante Missverhältnis eines perspektivischen Wissens, das den Familienvater vom Mörder und die Frau von ihrem Mann scheidet. Dabei sind sich die Eheleute in ihrem reaktionären Welt- und Menschenbild durchaus einig. Der Film zeigt, wie unter den Wirkungen des Zeitgeistes und den Versprechungen des aufkommenden Nationalsozialismus aus einem leicht ausgegrenzten, konservativen Durchschnittsbürger mit Geltungsdrang ein brutaler Rassenideologe wird.

Die frühe Verachtung des Fremden und Anderen, der Ruf nach Disziplin und Ordnung sowie Elitedenken und ein mangelndes Unrechtsbewusstsein sind einige der furchtbaren Konstanten, die Himmlers Charakter bestimmen. Seine Vorahnung einer „grausigen Zukunft“ bewahrheitet sich im millionenfachen Massenmord schließlich auf unmenschliche Art und verweist zugleich auf eine überindividuelle geschichtliche Dynamik. Vanessa Lapa geht es aber nicht um eine Entlastung der Täter; ihre mitunter kommentierende Montage stellt vielmehr Fragen und zeigt in erschütternden Bildern die historischen Verbrechen und die noch immer schwelenden Wunden.

[Zu diesem Film gibt es hier noch eine weitere Kritik.]

Hin und weg

(D 2014, Regie: Christian Zübert)

Abschied in Ostende
von Wolfgang Nierlin

Ein noch junger Mann auf einem Hometrainer fährt angestrengt gegen sich selbst und gegen die Zeit. Sein tägliches Leistungspensum wird schwächer, seine Kräfte lassen kontinuierlich nach. Denn der 36-jährige Hannes …

Ein noch junger Mann auf einem Hometrainer fährt angestrengt gegen sich selbst und gegen die Zeit. Sein tägliches Leistungspensum wird schwächer, seine Kräfte lassen kontinuierlich nach. Denn der 36-jährige Hannes (Florian David Fitz) leidet an der unheilbaren Nervenkrankheit ALS, an der schon sein Vater gestorben ist. Im Kontrast und in der Verbindung zu ihm zeigt Christian Zübert in der Exposition zu seinem neuen Film „Hin und weg“ in einer mit Splitscreens arbeitenden Montagesequenz das Ensemble seiner Freunde: Eine mehr oder weniger lustige Runde von Thirtysomethings, die zu diesem Zeitpunkt – ebenso wenig wie der Zuschauer – noch nichts von Hannes tödlicher Krankheit wissen und deren generationstypischen Probleme im Vergleich dazu marginal erscheinen. Während Frauenheld Michael (Jürgen Vogel) als liebenswerter Macho und lockerer Hallodri die sexuellen Freuden seines Single-Daseins kultiviert, stecken Mareike (Victoria Mayer) und Dominik (Johannes Allmayer) im Ehe-Frust ihrer langjährigen Beziehung fest.

Kurz darauf wechselt Züberts in Cinemascope gedrehter Ensemblefilm, der die Balance sucht zwischen Heiterkeit und Ernst, in den Modus des Roadmovies. Gemeinsam unternimmt die Clique, zu der auch Hannes Freundin Kiki (Julia Koschnitz) gehört, eine Fahrradtour nach Belgien. Für Hannes soll es ein Abschied sein, denn sein noch geheimer Zielort ist eine Sterbeklinik in Ostende. Als er sich bei einem Zwischenstopp im Hause seiner Mutter Irene (Hannelore Elsner) den Freunden eröffnet, sitzt deren Schock tief und der eben noch lockere Tonfall verstummt schlagartig. Ihrem Gesprächsbedürfnis begegnet der mal kämpferische, meistens jedoch nachdenkliche Hannes mit den Worten: „Ich will nicht quatschen, sondern einfach nochmal mit den Freunden abhängen.“ Und Michael verspricht: „Wir hauen nochmal richtig auf die Kacke!“

Genau darin liegt ein Problem des Films. Zwar entdecken in der Folge, vermittelt durch ein Gruppenspiel, vor allem die Freunde ihr eigenes Leben neu; doch zu oft hat man den Eindruck, als erschöpfe sich dieses primär in einem lustvoll-spaßigen Hedonismus. Immer wieder beschwört der Film, unterstützt durch stimmungsvolle Musik, den Wert von Beziehungen und rührt dabei an die Gefühle; eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Thema Sterbehilfe oder auch den inneren Konflikten, die zu Hannes‘ Entscheidung für einen selbstbestimmten Tod führen, bleibt aus. Überhaupt ist die Zeichnung der Charaktere relativ flach und der realistische Grundton nur an manchen – vor allem gewichtigen Stellen – nicht plakativ. So hinterlässt der Film einen zwiespältigen Eindruck: Die zweifellos vorhandenen Diskussionsanlässe müssen seinem routiniert vorgetragenen Unterhaltungswert gewissermaßen abgetrotzt werden.

Der Anständige

(D / ISR / AT 2014, Regie: Vanessa Lapa)

Porträt des Reichsführers als darmkranker Gatte und Papa
von Drehli Robnik

Vanessa Lapas deutsch-österreichisch-israelisch koproduzierter Dokumentarfilm über den Reichsführer SS Heinrich Himmler heißt 'Der Anständige'. Dieser Titel bezieht sich auf eine Passage in Himmlers notorischer 'Posener Rede' vom Herbst 1943 (die …

Vanessa Lapas deutsch-österreichisch-israelisch koproduzierter Dokumentarfilm über den Reichsführer SS Heinrich Himmler heißt 'Der Anständige'. Dieser Titel bezieht sich auf eine Passage in Himmlers notorischer 'Posener Rede' vom Herbst 1943 (die am Filmende auch in verrauschtem O-Ton erklingt): Darin bescheinigte er zahreichen versammelten SS-Granden, sie und er seien bei all dem nervenzehrenden und kräfteraubenden Judentöten doch stets anständig geblieben (und dieser Anstand bei einer quasi heiklen Aufgabe sei, so Himmler weiter, 'ein niemals zu nennendes Ruhmesblatt').

Hier verkehrt sich Anstand in ein Gegenteil, in Mordgier; dieser wiederum verleiht der Anstand die Ordentlichkeit, die Routine auch, die die vernichtungsrassistische Mordgier braucht, um zu einem Projekt im Maßstab der von den Nazis dimensionierten Größe und Dauer zu werden. Die Eigenschaft, anständig zu sein, ist, mehr als andere Wertungen von Haltung und Verhalten im menschlich-sozialen Zusammenleben, ziemlich ruiniert, was ihre Brauchbarkeit zu eindeutigen Bestimmungen betrifft; sie fängt sofort – wie mensch heute so sagt – zu 'schillern' an. Das liegt zum einen an den Wortkorrumpierungen, die der Nazismus und sein Nachwirken uns hinterlässt (um nur drei Merkwürdigkeiten zu nennen: von den angeblichen Worten Hermann Görings bei seiner Festnahme durch US-Truppen 1945 'Wenigstens zwölf Jahre anständig gelebt' bis zum terminologisch nicht zimperlichen Reden von der Einteilbarkeit der 'damals' handelnden Menschen in die 'Rasse der Anständigen' und die 'Rasse der Unanständigen', wie es im österreichischen Hinweg-Moralpsychologisieren der landesspezifischen Nazi-Vergangenheit in den späten 1980er Jahren gängig war – zu genau der Zeit, als jener Bundespräsidentschaftskandidat Kurt Waldheim, später als Staatsoberhaupt in Wien zurecht isoliert, sich auf seine 'Pflichterfüllung' bei der Wehrmacht (und der Reiter-SA) berief, den später Helmut Kohl in seinen jüngst erschienenen Erinnerungen als einen 'anständigen Mann' bezeichnete, 'der viel zu feige war, um unanständig zu sein'. Zum anderen liegt das semantisch Unbeständige des Anständigen am kontinuierlichen Absinken der Rhetorik von Anständigkeitsmoral in Bereiche des Nicht-ganz-erlaubt-Sexuellen oder Alltagsobszönen, so wie wir einen schlüpfrigen Witz oder manche der von o.g. Kohl memorial verwendeten Kraftausdrücke als 'unanständig' bezeichnen (bzw. tun wir das, sofern wir schon ein bissi älter und halt immer noch manchmal bissi 'unanständig' sind).

In dieses Mehrdeutigkeitsfeld der Anständigkeit begibt sich der Film 'Der Anständige' beherzt, und in mindestens zweierlei Sinn nimmt er die Anständigkeit beim Wort, also in ihrer stets zum Umkippen von Bedeutung bereiten Buchstäblichkeit. Zum einen wird hier ein Mordsspießer anhand und durch Selbstzeugnisse aus jüngst gefundenen Tagebüchern und Familienbriefwechseln, zumal dem Briefwechsel mit seiner Frau, porträtiert. Das liebessehnsüchtige Geturtel des jungen, aber bereits mit dem Aufbau der NSDAP-Schutzstaffel-Elite sehr gestressten, Himmler mit seiner Gemahlin versetzt uns sofort in den schwülstigen Kernbestand des 'Unanständigen': 'Du Schlingel!' und 'Du böser, böser Mann' schreibt Frau Himmler ihrem Heini und was der gurrenden Schlüpfrigkeiten mehr sind, von denen wir vielleicht gar nicht so genau wissen wollten. Etwas später sorgen die Himmlers sich dann etwa über Unanständigkeiten ihres ins schulpflichtige Alter kommenden Ziehsohnes, der halt immer so viel lügt. Herr Mörder und Frau Gemahlin – auch ihre Briefe und Tagebuch schreibende Tochter, dazwischen zweimal Himmlers Vater, der seinen befehlsgewaltigen Sohn mit Bittgesuchen für von seiner Polizei verfolgte Bekannte behelligt – werden beim Wort genommen. Im Bild dazu sehen wir, chronologisch nach Kapiteln geordnet von der Kaiserzeit bis zum Suizid des Reichsführers 1945, Filmaufnahmen und Fotos von Himmler und den Seinen. Vieles ist aus den Highlights des Geschichtsfernsehens bekannt, manche Privatfotos muten noch ungesehen an.

In der Inszenierung seines Materials verfährt 'Der Anständige' allzu anständig – allzu folgsam und brav im quasi Auf-Punkt-und-Beistrich-Einhalten und Ausführen von Konventionen, die sich ebenfalls im Geschichtsfernsehen der letzten Jahrzehnte aufgehäuft haben: Das reicht vom 'Archivtrick' – der suggeriert, das hier nun endlich Enthüllte sei irre geschichtswichtig und mache uns als Zusehende zu mehr-wissenden Eingeweihten – über das Vertonen und Midiklavierverkleistern von Filmmaterial (damit der Erste Weltkrieg knallt und auch sonst die Stimmung stimmt) und das dramatisierende Abzoomen von Fotos ('Ken Burns'-Effekt heißt das, nach einem US-Geschichtsfernsehzampano) bis zum Luftdichtverschluss von Bild-Ton-Beziehungen. Letzterer, der auch ja keinen Gedanken durchlässt, wird mal illustrativ hergestellt: Der junge Student Himmler vertraut seinem Tagebuch seinen Tanz mit einem 'Judenmädel' an, dazu sehen wir passende Bilder von irgendeiner Bierlokaltanzerei so circa 1920 (oder 1922, was soll‘s); der gleich junge Himmler, etwas geknickt darüber, 'noch nie poussiert' zu haben, ergeht sich in Schwärmereien über nordische Maiden, dazu Bilder von BdM-Formationen bei der Gymnastik, circa zehn Jahre später; Berlin 1930 – wir hören Marlene Dietrich singen. Aber auch Ironie im Verhältnis des Bildes zum Ton, vielmehr: zum Wort, ist hier eine Form, Lückenlosigkeit zu erzielen, so etwa wenn nackte SS-Männer zu sehen und dazu homophobe Tiraden ihres Chefs zu hören sind.

Die Quasi-Anständigkeit im Durchexerzieren des Konventionellen, das heißt ja heutzutage, dass eine Geschichtsfernsehminiserie oder Doku – bzw. dass diese Doku – eben so kess und pfiffig daherkommt, wie es im Jahr drei nach Knopp vorschriftsmäßig gefordert ist: Der hier erhobene Anständigkeitsvorwurf geht nicht dahin, der Film sei zu altbacken oder fad, sondern gilt seiner Bravheit gerade auch beim Gewitzt-Sein.

'Besuch im KZ Dachau: ein sehr großer Betrieb', schreibt die Tochter um 1942. Sehr großer Betrieb herrscht auch beim Herrn Papa; all der Todeslagerinspektionsstress schlägt ihm auf den Bauch: ,,Diese Darmgeschichten sind doch sehr eklig,' schreibt Heini himself. Ein Schelm, wer da – als ein Echo des Hannah Arendt-Worts über den (unterstellten) Bürokratismus Adolf Eichmanns – an die schiere Analität des Bösen denkt.

Tägliche Sorge ums Leibliche in sich und in der Familie, tödliche Sorge ums Blut im Volk: Diesen Konnex als ideologischen Kern einer spezifisch nationalsozialistischen Biopolitik herauszuarbeiten, hätte Sinn gemacht, hätte dem Film gutgetan, hätte der Inszenierung von 'Der Anständige' eigentlich auch kaum Schwierigkeiten gemacht; dies deshalb, weil sie die Engführung der Durchsetzungen von Anstand im Alltag, Wohlstand im Reich und Massenmord an jüdischen und slawischen Bevölkerungen ohnehin stets einprägsam forciert. Jedoch: zu welchem Ende? Also, zu welchem Zweck, und wo geht das hin? Anstelle der Bild-Werdung von Politik (ihrer Analytik wie auch Sinnfällig-, Sinnlich-, Einsichtig-Machung) wird hier – wie auch sonst in Geschichtsmedialisierungen von 'Der Untergang' über 'Die Enkelinnen der Männer des 20. Juli' bis zur Frage, wie es denn Leuten heute so geht, die sich ihren Nachnamen mit Nazi-Größen teilen, oder wie gelungen Erfolgsarchitekt Albert Speer Junior einige der Reichskanzlei-Innenhöfe aus der Planungsfeder von Erfolgsarchitekt Albert Speer Senior heute findet – wird also in 'Der Anständige' Familie zur Universalkategorie von Geschichtserfahrung. Familie nicht als eine Konstruktion, die Feudalstaaten so, bürgerliche Kapitaldemokratien so und Nazis nochmal anders einrichten, sondern als eine anthropologisch schlichtweg gegebene Kontrastfolie zu all dem Irrsinn, den Schlingel Heinrich anrichtet.

Dass am Ende von 'Der Anständige' wenig mehr als Gänsehaut, Fremdschämen, Kopfschütteln und manch herzliches Lachen übrigbleibt – und zwar gut fünfzehn Jahre nachdem Romuald Karmakar für sein 'Himmler-Projekt' den Schauspieler Manfred Zapatka im Rollkragenpulli die komplette 'Posener Rede' nüchtern, weder brechtisch noch faustisch noch ganzlich, vom Blatt lesen ließ und ihn dabei filmte: ein deutscher Text zu österreichisch anständig mitgemachtem Morden in seiner Entfaltung als Fläche, Zeit, Scape, Bild, Erfahrung – dass also das so ist, das liegt nicht zuletzt daran, wie hier das Zugleich von Töten, Turteln und Tochterhätscheln im unbeschwerten Intonieren/Ironisieren der Haupt-Himmlerstimmen (Er: Tobias Moretti, Sie: Sophie Rois) als psychologisches Kuriosum zerblödelt wird.

Am Sonntag bist du tot

(IRL / GB 2014, Regie: John Michael McDonagh)

Bildfüllend rechtschaffen
von Wolfgang Nierlin

Die Stimme eines an Körper und Seele Missbrauchten kommt aus dem Off – der Dunkelheit ungezählter Opfer sexueller Gewalt. Er sei ab seinem siebten Lebensjahr fünf Jahre lang von einem …

Die Stimme eines an Körper und Seele Missbrauchten kommt aus dem Off – der Dunkelheit ungezählter Opfer sexueller Gewalt. Er sei ab seinem siebten Lebensjahr fünf Jahre lang von einem mittlerweile verstorbenen katholischen Priester vergewaltigt worden, sagt der Unbekannte in einem harten, anklagenden Tonfall. Der ihm mit zunehmender Erschütterung und Anteilnahme zuhört, ist ebenfalls Geistlicher und sitzt bildfüllend und mit aufmerksamer Miene im schwachen Licht eines Beichtstuhls. James Lavelle (Brendan Gleeson), der Priester einer kleinen Gemeinde an der rauen Nordwestküste Irlands, ist ein lebenskluger, erfahrener Mann, der die dunklen Seiten des Lebens kennt und allem Weltlichen gegenüber keine Berührungsängste hat. Doch als das Missbrauchsopfer plötzlich ankündigt, ihn, den Rechtschaffenen, stellvertretend für die bösen Taten eines Anderen und damit auch der katholischen Kirche töten zu wollen, schleicht sich zunehmend Unruhe in seinen Geist. Als Hinrichtungsdatum nennt der Ankläger den kommenden Sonntag. Er solle „sein Haus in Ordnung bringen“ und „Frieden mit Gott schließen“. Sieben Tage bleiben dem Priester James Lavelle.

„Calvary“, also Kalvarienberg, heißt John Michael McDonaghs neuer, in Deutschland mit einem leicht irreführenden Titel und missverständlicher Werbung startenden Film „Am Sonntag bist du tot“ im Original. In Verbindung mit dem vorangestellten Augustinus-Zitat über das ungleiche Schicksal der beiden Diebe an der Seite des gekreuzigten Christus folgt der Film, gegliedert nach den einzelnen Wochentagen, vor allem den Stationen eines Kreuzweges. Eingangs versammelt bei der Kommunion, begegnet der ebenso umgängliche wie schlagfertige Lavelle nach und nach den „sündigen“ Mitgliedern seiner Gemeinde. Dabei wird er unter anderem mit ehelicher Gewalt, Ehebruch, sexueller Freizügigkeit, Habgier, provozierender Gottlosigkeit und nicht zuletzt einem jungen Mörder konfrontiert. Schroff, ablehnend und sarkastisch tritt ihm diese Welt aus Schuld und Gemeinheit entgegen. Doch Lavelle, der sich in bezug auf den Glauben der Menschen keinen Illusionen hingibt, reagiert nicht als weltfremder, prinzipientreuer Kirchenvertreter, sondern als verständiger Mensch.

„Gott ist groß. Die Grenzen seiner Gnade wurden noch nicht festgelegt“, antwortet er auf die Verzweiflung des besagten Mörders. Und doch ist sein Plädoyer für die Kraft der Vergebung im Verlauf der Woche immer wieder heftigen, hasserfüllten Anfeindungen und persönlichen Rückschlägen ausgesetzt, die schließlich auch Lavelles menschliche Schwäche und Zerbrechlichkeit zeigen. Dicht und konzentriert erzählt John Michael McDonagh ein düsteres Drama vor rauer Naturkulisse, dem alle Hoffnung auf Versöhnung ausgetrieben scheint. Inmitten einer desillusionierten, zynischen Gesellschaft gerät der Opfergang des Priesters zur vielschichtigen, von schwarzhumorigen Anspielungen und (falschen) Fährten durchwirkten Parabel über Gut und Böse. Noch im Abspann, in den Bildern der Abwesenheit, ist diese Ambivalenz auf poetische Weise zu spüren.

A Touch of Sin

(CN 2013, Regie: Jia Zhangke)

Fantasien der Verzweifelten
von Tim Lindemann

Trotz Globalisierung und Informationsflut bleibt den meisten Europäern die östliche Weltmacht China eher fremd, ja vielleicht sogar ein bisschen unheimlich. Die gigantische Fläche, die Menschenmassen, die Schlagzeilen über Luftverschmutzung und …

Trotz Globalisierung und Informationsflut bleibt den meisten Europäern die östliche Weltmacht China eher fremd, ja vielleicht sogar ein bisschen unheimlich. Die gigantische Fläche, die Menschenmassen, die Schlagzeilen über Luftverschmutzung und Todesstrafen – das alles addiert sich zu einem eher düsteren Außenbild. Der neue Film des chinesischen Regisseurs Jia Zhangke liefert nun eine noch viel düstere Ansicht, allerdings von 'innen': Die Protagonisten seines episodenhaft strukturierten Films 'A Touch Of Sin' versuchen sich in einer entmenschlichten, ultra-materialistischen Welt über Wasser zu halten und werden dabei zum blutigen Äußersten getrieben. Virtuos mischt Zhangke nüchternen Realismus mit stilisierter Splatter-Gewalt und schafft so einen poetischen Exploitationfilm.

Schon das erste Bild des Films leitet dies gekonnt ein: Eine perfekt arrangierte Einstellung zeigt einen auf einer einsamen Bergstraße umgekippten Laster, aus dem blutrote Äpfel auf den Asphalt rollen. Diese idyllische Optik wird jedoch jäh gebrochen: Eine mit Beilen bewaffnete Gruppe Jugendlicher versucht einen Motorradfahrer zu überfallen, dieser erschießt alle drei kaltblütig. Er ist nur eine von vier Hauptfiguren, die brutale Gewalt als letzten Ausweg aus einer von Ausbeutung und Korruption geprägten Gesellschaft wählen. In der ersten Episode etwa zieht ein entlassener Minenarbeiter gegen die skrupellosen Konzernchefs, deren Familien und andere Störenfriede mit der Schrotflinte zu Felde. Im nächsten Abschnitt wehrt sich eine junge Frau mit drastischen Methoden gegen ihre Vergewaltigung durch widerwärtige Geschäftsmänner.

Zhangke inszeniert diese Ausbrüche mit maximaler Brutalität und konterkariert so den ansonsten trockenen Stil mit einem grimmigem Zynismus, der an Tarantino, Park Chan-Wook und alte Martial-Arts-Filme erinnert. Durch diesen methodischen Stilwechsel lassen sich die bizarren Gewaltexplosionen sowohl als bittere Realität als auch als eskapistische Fantasien der Verzweifelten verstehen. Allerdings lösen sich selbst diese Fluchten in die Kino-Gewalt gegen Ende ins Nichts auf: Die letzte Episode, die von der tragischen Liebe eines Nachtclub-Angestellten erzählt, lässt schließlich nicht einmal mehr diese Hoffnung zu. So wirkt 'A Touch Of Sin' als eine ebenso polemische wie kunstvolle Abrechnung mit einer ums Goldene Kalb tanzenden Gesellschaft noch lange und bitter nach.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 1/2014

Eine weitere Kritik zu 'A Touch of Sin' gibt es hier: Link

Grace of Monaco

(F / B / USA / IT 2013, Regie: Olivier Dahan)

Der schöne Schein
von Carsten Happe

Die Schizophrenie von „Grace of Monaco“ beginnt, wenn auch unbeabsichtigt, bereits mit dem Titel, der seine Hauptfigur ins Spannungsfeld zwischen zwei Welten platziert, der Hollywoodstar Grace Kelly hier, ihr neues …

Die Schizophrenie von „Grace of Monaco“ beginnt, wenn auch unbeabsichtigt, bereits mit dem Titel, der seine Hauptfigur ins Spannungsfeld zwischen zwei Welten platziert, der Hollywoodstar Grace Kelly hier, ihr neues Leben als Fürstin von Monaco dort, und auch fünf Jahre nach der Vermählung mit Fürst Rainier, wenn die Filmhandlung einsetzt, ist Grace noch immer zerrissen zwischen der Schauspielerei und ihrer – wohl größten – Rolle als Landesmutter zwischen Repräsentanz, Engagement und öffentlichem Privatleben. Hitchcock bietet ihr noch einmal eine Hauptrolle an, die Kleptomanin in „Marnie“ an der Seite eines schottischen Emporkömmlings, doch die Staatsraison verbietet solche Ausflüge, erst recht in Zeiten existenzieller Krisen, da Frankreich den Status des Fürstentums als Steueroase nicht länger hinnehmen möchte und mit Einverleibung droht.

Regisseur Olivier Dahan, seit „La vie en rose“ in der filmischen Aufarbeitung nationaler Heiligtümer geschult, konzentriert sich in seiner Kelly-Biographie auf diesen kleinen Ausschnitt zu Beginn der 60er-Jahre, als Glamour-VIPs wie Onassis und Maria Callas zum inneren Kreis zählten, und versucht die Bewältigung dieser persönlichen wie politischen Krisen zum entscheidenden Selbstfindungsmoment hochzujazzen. Immer wieder bedrängt er die Schauspieler, allen voran Nicole Kidman, die dem erstaunlich angemessen standhält, mit extremen Close-Ups, versucht er eine tiefere Wahrheit in den Augen zu ergründen, oder wenigstens ein paar Tränen, die der Katharsis und ultimativen Rollenfindung als Grazia Patrizia vorausgehen. Auch eine gewisse Todesahnung wird mit diversen waghalsigen Autofahrten entlang der Serpentinen der Alpes maritimes mitbespielt, die Legendenbildung stets fest im Blick.

Beinahe reflexartig kam die Empörung der Fürstenfamilie anlässlich der Premiere von „Grace of Monaco“ als Eröffnungsfilm des Festivals in Cannes, denn natürlich werden hier Intima ausgeplaudert und Verknüpfungen erstellt, die den Beteiligten und Angehörigen zu weit gehen dürften, nicht zuletzt dank eines geschwisterlich-fürstlichen Intrigantenspiels, das höchstens an „Shakespeare in the Park“-Aufführungen gemahnt, aber der wahre Impuls der Auflehnung sollte doch eher die Trivialität sein, mit der hier ein historisches Bild verzerrt wird und das inszenatorische Unvermögen, den Stoff über Soap-Opera-Niveau zu hieven. Dabei macht Nicole Kidman noch das Beste aus der Herkulesaufgabe, eine – um einiges jüngere – Ikone nachzustellen und sich selbst dabei zurückzunehmen. Tim Roth als Rainier und Frank Langella als ihr geistlicher Berater Francis Tucker werden dagegen zumeist zum Anspielpartner degradiert und halten beim Dialog-Ping-Pong den Ball im Spiel, mehr nicht.

Grace‘ Knoten der Akzeptanz beim Volk und, noch wichtiger, in Society-Kreisen, platzt mit einer sehr persönlichen Rede beim legendären Rotkreuz-Ball, die selbst de Gaulle von seinen Plänen abrücken lässt, in erster Linie aber dem Film noch einmal die Gelegenheit gibt, aus dem Vollen zu schöpfen: Ballsaal, Abendgarderobe, Tränen im Augenwinkel, güldenes Licht – „Grace of Monaco“ schaut bisweilen formvollendet schön aus, die Blu-ray-Bildqualität ist spektakulär, aber innerlich leider auch ziemlich hohl.

Die Prinzessin von Montpensier

(F 2010, Regie: Bertrand Tavernier)

Pilger in der Finsternis
von Wolfgang Nierlin

Bertrand Taverniers Film „Mitten hinein ins furchtbare Gemetzel der konfessionellen Glaubenskriege, die im 16. Jahrhundert in Frankreich toben, taucht Bertrand Tavernier mit seinem Film „Die Prinzessin von Montpensier“, einer Adaption …

Bertrand Taverniers Film „Mitten hinein ins furchtbare Gemetzel der konfessionellen Glaubenskriege, die im 16. Jahrhundert in Frankreich toben, taucht Bertrand Tavernier mit seinem Film „Die Prinzessin von Montpensier“, einer Adaption der gleichnamigen Novelle von Madame de la Fayette. Unmittelbar und in großen Bewegungsschleifen begibt sich die Kamera ins martialische Geschehen, um jene blindwütige Gewalt aufzuzeichnen, die im Namen der Religion alles Menschliche vergisst und sich dabei in einen tödlichen Rausch hineinsteigert. Nach dessen blutgetränkter Ernüchterung empfindet der gebildete Graf de Chabannes (Lambert Wilson), der in Diensten des Hugenottenführers Condé kämpft, eine tiefe Schuld. Soeben hat er eine schwangere Frau erstochen, weshalb er beschließt, zu desertieren. Tavernier erfindet diese Exposition zum einen, um die Gewissensnöte des Grafen zu konkretisieren; zum anderen verbindet er dadurch die Kriegswirren mit jenen emotionalen Verstrickungen, die in der Novelle als „Irrungen und Wirrungen der Herzen“ bezeichnet werden.

Kurz darauf findet Chabannes Schutz bei seinem ehemaligen Schüler und Freund, dem katholischen Prinz von Montpensier (Grégoire Leprince-Ringuet). Weil Heiraten in seinem Stand und zu jener Zeit vor allem von politischem Machtkalkül bestimmt werden, soll der Prinz mit der ebenso schönen wie tugendhaften Marie de Mézières (Mélanie Thierry) verheiratet werden. Das geht nicht ohne Zwang und Schläge, denn Marie liebt den furchtlosen, seinem König treu ergebenen Glaubenskämpfer Henri de Guise (Gaspar Ulliel). Die Neigung des Gefühls steht also mit der Pflicht gegenüber dem Vater im Konflikt. „Liebe ist die lästigste Sache der Welt“, heißt es dementsprechend auf der einen Seite, während auf der anderen festgestellt wird: „Es ist unser Beruf, zu gehorchen.“ Die Distanz zwischen der mit ihren Leidenschaften allein gelassenen, dienenden Frau zu ihrem abwesenden, vom Erlebnis des Krieges bestimmten Mann findet sich in diesen tristen Rollenzuschreibungen gespiegelt. Zugespitzt wird es schließlich in der aufschlussreichen Darstellung der Hochzeitsnacht, in der zwei einander Fremde unter öffentlicher Beobachtung gezwungen sind, den ehelichen Geschlechtsakt zu vollziehen.

Die Hierarchie der Himmelskörper und die durch sie verbürgten Gesetze des Gleichgewichts liefern gewissermaßen das Modell für diese irdischen Determinationen. Chabannes, der als Hauslehrer auf dem Landgut des Prinzen seine Schülerin Marie aber nicht nur mit astronomischen Gesetzmäßigkeiten vertraut macht, sondern sie auch in Latein und Schreiben unterrichtet, gibt der wissbegierigen jungen Frau damit zugleich die Mittel ihrer Befreiung an die Hand. Doch Tavernier erzählt nicht primär eine Emanzipationsgeschichte, sondern eine Geschichte des Herzens und der Treue. Dabei wird Marie als Objekt des Begehrens gleich von vier Männern umworben. Neben die beiden Rivalen Montpensier und Henri de Guise, deren Eifersucht immer gewalttätigere Züge annimmt, treten schließlich noch der Herzog von Anjou (Raphaël Personnaz) und der Comte de Chabanne selbst. Auch wenn seine Hoffnungen enttäuscht werden, bleibt er als einzelgängerischer „Pilger in der Finsternis“, der sich für den anderen opfert, in Entsagung und Treu mit Marie verbunden. Er vertritt dabei zugleich jene Werte, die dem mörderischen Zeitgeist entgegenstehen und den Grafen zum Außenseiter machen.

A Most Wanted Man

(USA / GB / D 2013, Regie: Anton Corbijn)

Vorbildlich antiklimaktisch
von Andreas Busche

„Intelligence“ ist der Begriff, mit dem die Geheimdienstarbeit bezeichnet wird. Es geht um Beobachtung, Überwachung, Kontrolle – alles, was der Informationsbeschaffung dient. Die Idee dahinter ist, dass derjenige, der über …

„Intelligence“ ist der Begriff, mit dem die Geheimdienstarbeit bezeichnet wird. Es geht um Beobachtung, Überwachung, Kontrolle – alles, was der Informationsbeschaffung dient. Die Idee dahinter ist, dass derjenige, der über die meisten Informationen verfügt, auch die Deutungshoheit über den Zustand der Welt hat. Der klassische Spionagethriller, für den der Name John le Carré wie kein anderer steht, hat diese Vorstellung schon zur Zeit des Kalten Krieges mit schöner Regelmäßigkeit konterkariert. Die Weltöffentlichkeit wurde dann am 11. September 2001 eines Besseren belehrt, als zwei Flugzeuge in das World Trade Center flogen und die gut informierten Geheimdienste genauso hilflos zusehen mussten wie die Menschen vor ihren Fernsehgeräten.

Anton Corbijns Spionagethriller „A Most Wanted Man“, der auf le Carrés Roman „Marionetten“ basiert, ist der erste Film einer neuen Zeitrechnung. Die Anschläge vom 11. September 2001 stürzten nicht nur die Welt der Geheimdienste in eine Legitimationskrise, sie haben auch das Genre des Spionagethrillers um ein klares Feindbild gebracht. Anders als noch zur Zeit des Kalten Krieges hatten es die westlichen Geheimdienste nun mit einem Gegner zu tun, der zwar nicht mehr über das technische Know-how verfügte, sich stattdessen aber den gängigen Verhaltensregeln bei politischen Konflikten widersetzte. Der asymmetrische Krieg erforderte einen neuen Typus von Agenten, einen Jack Bauer, der außerhalb eines unausgesprochenen Konsens operierte.

Eine Weile schienen diese Praktiken ganz erfolgversprechend, Geheimdienste verfallen in Krisenzeiten gelegentlich einem blinden Aktionismus. Bis die öffentliche Meinung kippt. Diese Verunsicherung ist auch dem Narrativ des neueren Agententhrillers eingeschrieben, im Kino herrscht inzwischen eine Jason Bourne-mäßige Geschäftigkeit. (Selbst Robert Ludlums Superagent des Kalten Krieges wurde für die Ära des Drohnenkrieges reaktiviert) Altmeister John le Carré gehört zu den wenigen Autoren, die auch mal einen Blick hinter die Kulissen des Kriegs gegen den Terror geworfen haben und dabei mit einigen Gewissheiten brachen. Zum Beispiel, dass die Geheimdienste wissen, was sie tun.

Philip Seymour Hoffman sind diese Zweifel regelrecht ins Gesicht geschrieben: In jeder Geste, jedem Blick kommt eine hyperphysische Erschöpfung an der Welt zum Ausdruck. Hoffman spielt den Agenten Günther Bachmann, der einer geheimen Unterabteilung des deutschen Geheimdienstes vorsteht, welche selbst den eigenen Vorgesetzten ein Dorn im Auge ist. 'Ich leite eine Anti-Terror-Einheit, von der nur wenige Menschen wissen und die von noch weniger Menschen geschätzt wird“, sagt Bachmann einmal zu einer amerikanischen Kollegin. Die Ziele dieser Einheit sind langfristig ausgelegt. Ihm geht es um „Intelligence“, seine Vorgesetzten wollen „Action“. Aus diesem Gegensatz bezieht der Film seine innere Spannung.

„A Most Wanted Man“ spielt dort, wo alles begann, am Ground Zero der neuen Zeitrechnung. In Hamburg planten Mohammed Atta und seine Gruppe vor dreizehn Jahren die Anschläge auf das World Trade Center, vor den Augen des deutschen Geheimdienstes. Hier ist man besonders nervös. Dass Corbijn die Stadt in und auswendig kennt, ist dem Film anzusehen. Hamburg ist nicht bloß Kulisse für ein internationales Agentenscharmützel, sie hat sich auch tief in die Geschichte eingeschrieben. Gedreht wurde im Herbst, die Farbpalette changiert entsprechend zwischen gelblichem Grau und schmuddeligem Blau. Hoffmans müde Gesichtszüge heben sich farblich kaum vom Hintergrund ab.

Bachmann und seine Einheit, zu der auch Nina Hoss und Daniel Brühl gehören, haben einen Verdächtigen im Visier, der wie aus dem Nichts im Hamburger Hafen auftaucht. Issa Karpov ist der Sohn eines russischen Generals, er hat aber auch eine tschetschenische Geschichte. Er fungiert gewissermaßen als Bindeglied zwischen der neuen und der alten Zeit, dem Kalten Krieg und dem neuen Terror. Karpovs politischer Status ist der eines Staatenlosen. In Hamburg nimmt er über eine junge Menschenrechtsanwältin (Rachel McAdams) Kontakt mit dem Banker Thomas Brue (Willem Dafoe), einem Geschäftspartner seines Vaters, auf. Bachmann und sein Team beobachten jeden Schritt des illegalen Neuankömmlings, dessen Erscheinen dem Verfassungsschutz Rätsel aufgibt. Die Deutschen und die Amerikaner würden den jungen Moslem am liebsten gleich verschwinden lassen, aber Bachmann gelingt es durch geschicktes Taktieren und mit Hilfe eines mächtigen Verbündeten (gespielt von Herbert Grönemeyer, der für die angenehm unaufdringliche Filmmusik verantwortlich ist) Karpov so lange aus der Schusslinie der Geheimdienste zu halten, bis die Motive seines Aufenthalts geklärt sind.

Corbijn interessiert sich eher am Rande für eine äußere Handlung, was in einem Agententhriller zunächst ein gewagter Move ist. Thomas Alfredson hat ihn in der anderen maßgeblichen le Carré-Verfilmung der letzten Zeit, „Dame, König, As, Spion“, schon bravourös vollzogen. Corbijn geht es im Gegensatz zu Alfredson aber um die Beziehungen, die die Figuren im Zentrum der Geschichte zusammenhalten. Sein Ansatz hat fast etwas Strukturalistisches. „A Most Wanted Man“ deckt diese Verbindungen sukzessive auf. Oberflächliche betrachtet, besteht Corbijns Films aus nicht mehr als minutiösen Beobachtungen von Prozessen, nicht unähnlich der Polizeiarbeit in „The Wire“. Die Komplexität der politischen Verhältnisse wird erst in den Beziehungen der Figuren untereinander deutlich – etwa zwischen Karpov und seiner Anwältin, die beide die Konsequenzen ihres Handels nicht einmal ahnen. Im Grunde sind sie Marionetten, naive Kinder in einer zynischen Welt des Terrors: der Geheimdienste und der heiligen Krieger. Bezeichnend die Dialoge zwischen Bachmann und der von Robin Wright gespielten Leiterin des lokalen CIA-Büros: Da sprechen zwei nüchterne Pragmatiker, deren gegenseitiger Respekt von professionellem Misstrauen getrübt wird.

“To make the world a safer place”, entgegnet die Amerikanerin auf Bachmanns Frage, wofür sie ihren Job mache. Diese Aussage führt Corbijn in nahezu jeder Einstellung auf die mit Blindheit geschlagenen Ermittler ad absurdum. Dass der ehemalige Rockfotograf seine glamouröse Manierismen diesmal unter Kontrolle hat (manieristisch ist „A Most Wanted Man“ allenfalls in seiner sozialrealistischen Prozac-Ästhetik), verleiht den Agenten-Routinen eine plausible Tristesse. Günther Bachmann ist das Gegenteil eines George Smiley: ein zynischer Idealist. Vor diesem Hintergrund hat Corbijns Schlusseinstellung etwas Programmatisches. Am Ende eines vorbildlich antiklimaktischen Showdowns setzt sich Bachmann wortlos in sein Auto und fährt los. Und steigt irgendwann aus. Entfernt sich. Der Zuschauer auf dem Rücksitz bleibt allein mit einem Gefühl von Leere.

Dieser Text erschien zuerst (ähnlich) in Konkret 9/14

Bilderwelten vom Großen Krieg 1914-1918

(D 2014, Regie: Alexander Kluge, Heinz Bütler)

Papiertiger des Kriegs
von Lukas Schmutzer

Die nun erschienene DVD „Bilderwelten vom Großen Krieg 1914-1918“ kommt in einer Kartonverpackung gemeinsam mit einem 83-seitigen, edel gedruckten, reich bebilderten sowie reich beschriebenen Begleitheft und mit 5 Postkarten, die …

Die nun erschienene DVD „Bilderwelten vom Großen Krieg 1914-1918“ kommt in einer Kartonverpackung gemeinsam mit einem 83-seitigen, edel gedruckten, reich bebilderten sowie reich beschriebenen Begleitheft und mit 5 Postkarten, die Nachdrucke zeitgenössischer, dazumal per Post geteilter Schnappschüsse darstellen. Der Datenträger selbst versammelt 18 Filme zweier Autoren zu insgesamt 3 Stunden, wobei ein genauerer Blick in die ausführliche Inhaltsangabe (Teil des Begleitheftes) verrät, dass es sich um 6 Werke des einen und um 12 Werke des anderen handelt. Nach Sichtung des Materials beschleicht einen das Gefühl, dass es sich womöglich schlicht um zwei Werke handelt, die da ineinandergeschichtet wurden: eines Alexander Kluges, und eines Heinz Bütlers.

Im Titel fehlt eine zur Konvention gewordene Nummerierung, stattdessen suggeriert die Zitation eines großgeschriebenen Krieges ein unzeitgemäßeres Eintauchen in damalige Welten. Bilder „lügen anders und sagen anders die Wahrheit als das Gedruckte“, belehrt der Klappentext. Das will schon mit dem Titelbild demonstriert werden, wo das Schutzzeichen der Genfer Konvention neben die Gasmaske gesetzt ist, welche zum Schutz vor jenem dient, welches keine Unterschiede mehr macht – die wörtliche Größe des Kriegs scheint hier ihre Referenz zu finden.

Die Filme Heinz Bütlers machen es sich zur Aufgabe, Kontexte für Fotografien aus der Zeit des Krieges zu finden, was im Gespräch mit Historikern und einer Literaturwissenschaftlerin geschieht (aber auch Karl Kraus darf einmal zu Wort kommen). Bütlers Fokus liegt dabei auf der Schweiz, welche im Rahmen der „Schweizer Grenzbesetzung“ unter großem Aufwand und vielen Entbehrungen ihre Neutralität sicherte. Ein erschwinglich gewordener Preis ermöglichte es damals selbst Amateuren (also einfachen Soldaten), rasch und leicht Fotos zu schießen, welche dann als Postkarten massenhaft von der Front in die Heimat geschickt wurden. Vier mit „Schöner wär’s daheim“ betitelte Episoden zeigen, kommentieren und interpretieren diese zahlreich erhaltenen Zeugnisse: Die oft komischen Inszenierungen des Soldatenalltags verbergen neben ihrer zentralsten Funktion, der Verwandtschaft einfach ein Lebenszeichen zukommen zu lassen, auch ein außergewöhnliches Maß an Kritik, und verraten durch das, was sie ausklammern, einiges über die Verhältnisse im Dienst.

Ein zweiter Blick widmet sich den Sendungen von Beteiligten aller Kriegsparteien an die „Schwarze Madonna“ im Schweizer Benediktinerkloster Einsiedeln: Man schickte ihr Portraitfotos der eingerückten Soldaten mitsamt genauen Informationen zur Person (um Verwechslungen ausschließen zu können), damit die Heilige diese am Foto identifizieren könne und in der Gefahrensituation über sie wache. Der Historiker Valentin Groebner weist dies als charakteristisch für die Moderne aus. Derartige systematische Bildlektüren stellen die vielleicht spannendsten Momente der vorliegenden Ausgabe dar.

So zurückhaltend Bütler Menschen und Bilder sprechen lässt, so vehement dringt die Perspektive Alexander Kluges in ihren Stoff ein. Kluge, der Realität einmal als „geschichtliche Fiktion“ von „Papiertiger-Natur“ bezeichnete, bedient sich verschiedener Formen, um die Realität des Ersten Weltkrieges zu zerschneiden. Zwar führt auch Kluge in erster Linie Interviews; anders als Bütler bringt er sich in diesen aber mit suggestiven Wendungen immer wieder ein. Mit Christopher Clark, Gerd Krumeich oder Herfried Münkler sind dabei Autoren aktueller einschlägiger Publikationen zum Ersten Weltkrieg vertreten. Neben diesen oft leider nur sehr knapp bemessenen, aber konzisen Gesprächen werden auch Befragungen von Zeitzeugen inszeniert, die auf etwas verfremdende Weise u.a. von Helge Schneider dargestellt werden. Zuletzt sind es Montagen, die Filme und Fotos aus dem Krieg mit Textfragmenten kombinieren, die an die Zwischentitel von Stummfilmen erinnern. Auf diese Weise wird von Wegen nach Verdun, Gasangriffen oder aus der Familiengeschichte des Autors erzählt. Die Textfragmente jener Episoden finden sich interessanterweise als übersichtlicher Fließtext im Begleitheft – was wiederum die Frage aufwirft, was hier eigentlich auf was verweisen soll. Wird der Fließtext erst durch die Bilder vollständig? Oder bleiben die Filme ohne den vollen Text unverständlich, weshalb er in Papierform beigelegt werden muss?

Fazit: Vor allem die kaum bekannten Details, die in den zahlreichen Filmen von „Bilderwelten vom Großen Krieg 1914-1918“ gezeigt werden, machen die DVD sehenswert.

Dreckskerle

(F 2013, Regie: Claire Denis)

Durchgehend dunkel
von Wolfgang Nierlin

Es ist Nacht und es gießt in Strömen. Eine Regenwand aus prasselnden Wassertropfen, gebrochen von schwachen Lichtreflexen, füllt die Leinwand. In der Naheinstellung wirkt dieses Bild fast abstrakt und erzeugt …

Es ist Nacht und es gießt in Strömen. Eine Regenwand aus prasselnden Wassertropfen, gebrochen von schwachen Lichtreflexen, füllt die Leinwand. In der Naheinstellung wirkt dieses Bild fast abstrakt und erzeugt graphische Muster. Doch das Konkrete verflüssigt sich nicht ganz, sondern fließt in Wassermassen von den Hauswänden, als handelte es sich um Sturzbäche, die alles mit sich fortreißen oder wegspülen. Allerdings folgt auf die Vision der Reinigung in Claire Denis‘ aktuellem Film „Les salauds – Dreckskerle“ ein Abstieg in die Hölle aus Schuld und Rache, sexueller Gier und Ausbeutung. Die fast durchgehende Dunkelheit der Bilder hat auch die Seelen der Protagonisten verfinstert. „Alles ist außer Kontrolle“, wird an späterer Stelle einmal eine der Leidtragenden sagen, um das Geflecht aus finanziellem Ruin, einem allgemeinen Werteverlust und moralischem Verfall zu beschreiben.

Ein verzweifelter und hoch verschuldeter Schuhfabrikant hat sich in den Tod gestürzt. Mit verlorenem Blick verlässt seine Witwe Sandra (Julie Bataille) den Schauplatz des Schreckens. Sie weiß nicht, wie es weitergehen soll; zumal ihre Tochter Justine (Lola Créton) als stummes Opfer sexueller Gewalt an Körper und Seele zerstört ist. In dieser schmerzlichen Situation kommt Sandras Bruder Marco Silvestri (Vincent Lindon) zur Hilfe, der sich früh von den Familiengeschäften losgesagt hat, um ein „anderes Leben“ als Frachtschiffkapitän zu führen. Der geschiedene Familienvater ist ein unabhängiger Geist, ein Mensch mit Prinzipien und ein sehr männlicher Melancholiker. Jetzt wird er in die alten, einst verlassenen Strukturen zurück gezwungen, begleicht mit seinen spärlichen Mitteln die Schulden der Schwester und bewohnt eine leere Pariser Wohnung, um dem mutmaßlichen Hauptschuldigen des Desasters aufzulauern. Édouarte Laporte (Michel Subor) ist ein von Machtgier und sexueller Geilheit getriebener Geschäftemacher, dessen Frau Raphaëlle (Chiara Mastroianni) wie eine Gefangene lebt. Mit eben dieser beginnt Marco Silvestri ein Verhältnis.

Doch Claire Denis‘ moderne Erzählkunst ist einmal mehr weniger linear, als das hier erscheint. Die bedeutende französische Regisseurin fragmentiert die Handlung, lässt vieles offen oder nur angedeutet und schafft gerade dadurch einen verzweigten Raum für Ergänzungen und Interpretationen. Oft werden nicht die Ereignisse selbst gezeigt, sondern ihre Wirkungen, aus denen sich dann nach und nach vielschichtige Zusammenhänge entwickeln. Immer wieder auch lenkt Claire Denis den Blick auf Details, auf Gegenstände und Gesten und entfaltet durch diese Intimität eine Art symbolische Spannung, die mit der düsteren Atmosphäre des Films verschmilzt und die zugleich in Kontrast tritt zu einem Realismus, der weder den Traum noch das Spekulative scheut. Unterstütz von einem beeindruckend starken Schauspielerensemble, den kongenialen Körperbildern der Kamerafrau Agnès Godard und dem atmosphärischen Soundtrack der Tindersticks ist Claire Denis ein kompromisslos desillusionierender Film über das Scheitern gelungen, dem fast alle Hoffnung ausgetrieben ist.

The Amazing Spider-Man 2: Rise of Electro

(USA 2014, Regie: Marc Webb)

Uhrwerke und alte Freunde
von Nicolai Bühnemann

Der Film beginnt zwischen den Zahnrädern eines Uhrwerks. Und die Zeit wird in mehrfacher Hinsicht sein Thema bleiben. Gleich mit den ersten Szenen werden zwei Zeitebenen etabliert. Die erste handelt …

Der Film beginnt zwischen den Zahnrädern eines Uhrwerks. Und die Zeit wird in mehrfacher Hinsicht sein Thema bleiben. Gleich mit den ersten Szenen werden zwei Zeitebenen etabliert. Die erste handelt von Peter Parkers Eltern, die ihn einst, warum erfahren wir zunächst nicht, bei seiner Tante und seinem Onkel abgaben, um aus dem Land zu fliehen. In der zweiten, der Gegenwart der Handlung, muss Spider-Man wieder mal die Welt retten, was in diesem Fall heißt, dass er einen Gangster zu stellen hat, der versucht, sich mit einem Truck mit gestohlenem Plutonium aus dem Staub zu machen. Der Peter Parker/Spider-Man (Andrew Garfield) des 2012 eingeleiteten Reboots der Serie ist auch darum bemüht, die beiden Zeitebenen zur Synthese zu bringen. Er ist auf der Suche nach der verlorenen Zeit seiner Kindheit, möchte die dunklen Flecken seines Familienromans beleuchten und das Rätsel ergründen, warum ihn seine Eltern einst im Stich ließen.

In der (vielleicht etwas zu) furiosen Auftaktsequenz wird unter anderem ein ganzer Fuhrpark der New Yorker Polizei zu Schrott gefahren, was, so eindeutig „The Amazing Spider-Man 2“ in der aktuellen Schwemme an Superhelden-Filmen verwurzelt ist, an die frühen Zeiten des Blockbusters und namentlich an die „Blues Brothers“ erinnert. Und weil es zu dieser Tradition gehört, seine liebgewonnenen – inzwischen volldigitalen – Spielzeuge zu Bruch gehen zu lassen, wird im Showdown auch ein Uhrwerk in seine Bestandteile zerbersten.

Über der Beziehung von Peter Parker zu seiner Freundin Gwen Stacy (Emma Stone) liegt als Schatten der Vergangenheit das Versprechen, das Peter ihrem sterbenden Vater am Ende des ersten Teils gab, sie aus seinem Verbrechensbekämpfer-Trouble rauszuhalten. Die gute Gwen wird ihre liebe Mühe haben, zwischen der Übereinkunft zwischen Männern und so viel geballtem Beschützerinstinkt ihren eigenen Weg zu finden.

Das Reboot der Serie hatte es bei Fans vielleicht auch deshalb schwer, weil es nur fünf Jahre nach dem letzten Teil der Raimi-Trilogie startete. Man hatte sich gewöhnt an das Film-Paar Tobey MacGuire und Kirsten Dunst und vielleicht nicht zuletzt an den Look der Filme von Sam Raimi, der sich von je her darauf verstand, Filmen verschiedenster Produktionsgrößen und Genres seinen eigenen stilistischen Stempel aufzudrücken. Eine der Innovationen der Neuauflage gegenüber den Raimi-Filmen ist, dass Garfields Spider-Man mit einem losen Mundwerk ausgestattet ist. Ehe er die bösen Jungs (übrigens nie: bösen Mädels) fertig eingesponnen der Polizei überlässt, hat er immer noch Zeit für ein paar One-Liner.

In den Action-Szenen arbeitet Regisseur Marc Webb wie schon im Vorgänger immer wieder mit extremen Zeitlupen, mit der Illusion, die Zeit anhalten zu können. Die Kamera gleitet bisweilen zwischen für Augenblicke beinahe starr in der Luft hängenden Gegenständen und Menschen über die Schauplätze. Wo aber im ersten Teil das perfekte Timing noch für den einen oder anderen denkwürdigen Moment sorgte, stellt sich hier eher Übersättigung ein. (Die Szene, in der Emma Stone am Ende zwischen Uhrwerkteilen durch die Luft gleitet, bildet eine erwähnenswerte Ausnahme.)

Natürlich braucht ein Superhelden-Blockbuster auch noch Antagonisten. Diese sind in „The Amazing Spider-Man 2“ ein ehemaliger Bewunderer Spider-Mans und ein ehemaliger Freund Peter Parkers. Ersterer ist der OSCORP-Hausmeister Max Dillon (Jamie Foxx), der für seine Umwelt so unsichtbar ist, dass ihn eine kleine Aufmerksamkeit Spider-Mans zu dessen glühendem Verehrer machen kann. Als ihn jedoch ein Unfall in Electro verwandelt, den Starkstrom-Schurken, der seinen großen Auftritt hat, als er den nächtlichen Times Square verwüstet, stiehlt ihm der Spinnenmann sofort wieder die Show, was reicht, um Bewunderung in Hass umschlagen zu lassen. Letzterer ist Peters alter Schulfreund Harry Osbourne, dem sein verhasster Vater nicht nur die Führung des OSCORP-Imperiums vermachte, das übrigens neuerdings für die Stromversorgung New Yorks zuständig ist, sondern auch eine unheilbare Krankheit. Seine letzte Hoffnung sieht er in Spider-Man bzw. einer Transfusion von dessen Blut. Als ihm dieser den Gefallen verwehrt, weil er keine Ahnung hat, welche Wirkung eine solche Blutspende haben könnte, zieht er sich ebenfalls seinen Zorn zu, von dem der chronisch vernachlässigte Sohn aus ultrareichem Hause mehr als genug hat. Wie unvermittelt hier aus alten Freunden erbitterte Feinde werden, macht hinsichtlich der 140 Minuten Laufzeit schon etwas ratlos. In die Figurenentwicklung wurde die Zeit jedenfalls nicht investiert.

Im Showdown gibt es, die Tradition des Vorgängers aufgreifend, einen Todesfall und die letzte Szene bietet keinen Abschluss, sondern einen Cliffhanger zu Teil Drei. Der Gegenspieler Rhino sieht verlockend aus und außerdem wird man dort nochmal zweieinhalb Stunden Zeit haben, um zu richten, was hier doch eher im Argen blieb.

Shirley – Visionen der Realität

(A 2013, Regie: Gustav Deutsch)

Die Schatten benennen
von Wolfgang Nierlin

In seiner Malerei war der amerikanische Künstler Edward Hopper (1882 – 1967) vom Film beeinflusst, insbesondere vom Film noir mit seinem Spiel aus Licht und Schatten. Seine vermeintlich realistischen Gemälde …

In seiner Malerei war der amerikanische Künstler Edward Hopper (1882 – 1967) vom Film beeinflusst, insbesondere vom Film noir mit seinem Spiel aus Licht und Schatten. Seine vermeintlich realistischen Gemälde inspirierten wiederum so unterschiedliche Filmregisseure wie Alfred Hitchcock und Wim Wenders. Hoppers Kunst der inszenierten Wirklichkeit faszinierte auch den österreichischen Filmkünstler Gustav Deutsch und veranlasste ihn zu einem ebenso ungewöhnlichen wie im Ergebnis vielschichtigen Experiment: In seinem Film „Shirley – Visionen der Realität“ inszeniert er insgesamt dreizehn Bilder Edward Hoppers, die zwischen 1931 und 1963 entstanden sind, um sie in der fiktiven Nachstellung zum Leben zu erwecken. Dabei nutzt er die relative Offenheit seiner Vorlagen für einen Exkurs in die jüngst amerikanische Geschichte, die sich wiederum im Portrait seiner Titelheldin widerspiegelt.

Gustav Deutschs filmkünstlerische Transformationen, die dem Dialog zwischen Malerei und Film verpflichtet sind, beruhen maßgeblich auf präzise nachgebauten Räumen, ihrer farblichen Gestaltung sowie ihrer berückenden Ausleuchtung. Dieses bühnenartige, statische Konzept mit seinen vielfältigen Rahmen, die die jeweiligen Tableaux vivants einschließen, wird zum einen aufgebrochen durch einen gewichtigen Ton-Raum im Off; zum anderen durch die eleganten, fein austarierten Bewegungen der Tänzerin Stephanie Cumming, die in der Figur der Shirley eine emanzipierte Frau und selbstbewusste Schauspielerin verkörpert. Ihre anspielungsreichen Monologe aus dem Off reflektieren dabei nicht nur ihr schillerndes Metier sowie ihre langjährige Beziehung zu dem Fotojournalisten Stephen (Christoph Bach), sondern auch die politische Geschichte des Landes.

Deutschs Film, der in einem Zugabteil beginnt, unternimmt eine Zeitreise und öffnet sich zugleich der Imagination, indem er seine Arrangements offen hält für die subjektiven Projektionen der Zuschauer. Dabei kreist Gustav Deutschs Nachdenken um das Verhältnis von Realität und Kunst. Wie wirklich ist die mutmaßliche Wirklichkeit angesichts der wandernden Schatten in Platons Höhlengleichnis, dessen „Politeia“ zur Lektüre der Protagonisten gehört? Oder: Verliert ein Körper unter dem quasi neutralen Blick des Kameraauges seine individuelle Geschichte? Deutsch pflegt aber nicht nur einen poetischen Kunstdiskurs, der in seinen stärksten Momenten auch existentielle Fragen berührt, sondern er zitiert auch konkret Zeitgeschichte, etwa mit der berühmten Rede „I have a dream“ des schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King. Politisch positioniert er sich damit bewusst gegenüber dem als konservativ geltenden Edward Hopper und huldig damit zugleich der Freiheit seiner eigenen künstlerischen Interpretation beziehungsweise Schöpfung.

Feuerwerk am hellichten Tage

(CH / HK 2014, Regie: Diao Yinan)

Zurück zur Traumlogik
von Tim Lindemann

Kaum ein Begriff ist im populären Film-Diskurs der letzten Jahrzehnte so verwässert worden wie der des Film Noir – scheinbar wird jedem Krimi, Thriller oder anderem Genre-Film, der nicht gerade …

Kaum ein Begriff ist im populären Film-Diskurs der letzten Jahrzehnte so verwässert worden wie der des Film Noir – scheinbar wird jedem Krimi, Thriller oder anderem Genre-Film, der nicht gerade im kalifornischen Sonnenlicht badet, eine Noir-Verbindung unterstellt, oftmals mehr als diffus. Diese Tendenz schließt an einen klassischen filmwissenschaftlichen Disput an: Dieser dreht sich um die Frage danach, ob es sich bei Noir lediglich um eine 'Schwarze Serie' handelt, also um eine Reihe von Krimis mit bestimmten inhaltlichen und formellen Merkmalen, die zwischen 1941 ('Der Malteser Falke') und 1958 ('Im Zeichen des Bösen') in Hollywood produziert wurde; oder um ein eigenständiges Genre, mit spezieller Ikonographie und Entwicklung, das bis heute neue Vertreter hervorbringt. Die Antwort liegt wie so oft vermutlich im Mittelweg: Kitschige Ausstattungsfilme wie etwa vor Kurzem Ruben Fleischers Gangster Squad' haben trotz ihrer visuellen Annäherung im Grunde nichts mit Film Noir zu tun; Diao Yinans Berlinale-Gewinner 'Feuerwerk am hellichten Tage' hingegen übersetzt bestimmte Elemente des ursprünglichen Genre-Zyklus so subtil und überzeugend in sein gänzlich anderes Setting, dass man durchaus von einem 'echten' neuen Film Noir sprechen kann.

Was aber ist an diesem doch sehr mit seinem chinesischem Schauplatz verwurzelten Film eigentlich 'Noir'? Düstere, schwarz-weiße Tableaus mit messerscharfen Kontrasten und 'Low Key'-Beleuchtung darf man hier jedenfalls nicht erwarten. Ganz im Gegenteil: 'Feuerwerk am hellichten Tage' changiert von heller, grobkörniger Nüchternheit zu Nachtaufnahmen, die von knalligen Neon-Leuchten in traumartiges Licht gehüllt werden. 'Traumartig' ist in diesem Fall der entscheidende Terminus. Denn wo heute oft fälschlicherweise angenommen wird, dass Film Noir, entsprechend seines Ursprungs im Hard Boiled-Detektivroman, durch zynische Gewalttätigkeit charakterisiert sei, gehörte das schöne englische Wort oneiric, zu deutsch in etwa 'traumähnlich', von Anfang an zur Definition des Genres. Die eben nicht realistische, sondern ganz und gar expressionistisch geprägte Konstruktion der Großstadt-Settings war es, die den Look der alten Schwarzen Serie definierte. Straßen, die ins Nichts zu führen scheinen, zackige Fassaden, spitze Winkel – der Einfluss des Weimarer Kinos machte sich deutlich.

So muss auch Diao Yinans Film verstanden werden: Die nie konkret benannte chinesische Stadt des Films basiert auf einer emotionalen Architektur, der mit dem schwammigen Begriff des Realismus nicht beizukommen ist. So entladen sich hier etwa in der Zwischenwelt des Jahrmarkts erotische Spannungen, wird ein gigantischer Neon-Nachtclub zum Ort der Erkenntnis.

Dabei folgt 'Feuerwerk am hellichten Tage' zunächst einer durchaus handfesten Story, die mit verführerischer Eindeutigkeit einen politisch aufgeladenen Thriller zu versprechen scheint. Der Film beginnt mit dem kraftvollen Bild einer abgetrennten Hand in einem Meer aus schwarzer Kohle und dann der Entdeckung der Gliedmaßen durch die verstörten Bergleute beziehungsweise die Polizei. Schnell steht fest, dass ein Mord geschehen ist. Sollte sich der Film tatsächlich in dem eher unsubtilen Kommentar genügen, dass der gemeine chinesische Arbeiter buchstäblich vom monströsen Räderwerk zerkleinert wird?

Schnell wird aber deutlich, dass Yinan einen anderen Weg einschlagen wird als etwa sein Landsmann Jia Zhangke mit dem brutalen Polit-Opus A Touch Of Sin', wohin dieser Weg allerdings führen wird, bleibt bis zum bombastischen Finale des Films schwer einzuschätzen. Schon früh aber streut der Regisseur kleine, verunsichernde Momente ein, die, ohne in surreale Abgründe einzutauchen, die Story nach und nach aus den Angeln heben. In einer frühen, grandiosen Szene etwa lässt die Hauptfigur des Films, der Polizist Zhang, geräuschvoll eine Glasflasche eine lange Treppe hinunter- und somit in die Tiefe der Leinwand hinein rollen. Etwas später steht tatsächlich ein Pferd auf dem Flur. Dann zeigt 'Feuerwerk am hellichten Tage' plötzlich seine Zähne, überrascht mit einer abrupten Schießerei in bester Hongkong-Thriller-Manier und einem fließenden Zeitsprung. Von diesem Punkt an kann man den Film beinahe als eine moderne, chinesische Variante von Howard Hawks‘ Noir-Klassiker 'The Big Sleep' betrachten: Der Plot entfaltet sich zwar einerseits stetig, andererseits aber auch so ruckartig, dass sich zunächst verwirrende Bilder erst einige Minuten später aufklären, andere vielleicht auch gar nicht. Schließlich ist man aber so von der Chemie zwischen Zhang und der mysteriösen Wu Zhizhen, der Frau eines Verdächtigen, gefangen, dass man sich dem sorgfältig konstruierten Fluss des Films bedingungslos hingibt.

Mit einer kühnen Neuinterpretation des zentralen Film-Noir-Motivs der Femme fatale landet Regisseur Yinan dann seinen größten Coup: Wu Zhizhen, von der ein Polizist einmal sagt, jeder der sich ihr nähere, würde ermordet, steht als ambivalente Figur im Zentrum des Plots. In einer der schönsten Szenen dieses visuell berauschenden Films gleitet sie grazil mit erhobenem Kopf und unendlich traurigen Augen über eine Eislaufbahn – eine beinahe überirdische Erscheinung, unmöglich zu durchdringen. So gelingt es dem Film, das zu tun, was seit David Lynchs kreativem Aus niemand mehr versucht hat – Film Noir eben nicht bloß als ikonographische Verkleidung zu verstehen, sondern als düstere, aber eben auch tief romantische Traumlogik, die im krassen Gegensatz zum streberhaften Whodunnit handelsüblicher Krimis steht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 8/2014

Song from the Forest

(D / USA 2013, Regie: Michael Obert)

Falsche Wirtschaft
von Wolfgang Nierlin

Gleißendes Sonnenlicht, in leuchtende Streifen zerlegt, fällt in einen Wald. Dazu erklingt Renaissance-Musik von William Byrd. Sie verwandelt das unwegsame Dickicht in einen sakralen Raum und das Licht in göttliche …

Gleißendes Sonnenlicht, in leuchtende Streifen zerlegt, fällt in einen Wald. Dazu erklingt Renaissance-Musik von William Byrd. Sie verwandelt das unwegsame Dickicht in einen sakralen Raum und das Licht in göttliche Strahlen. Nach einem Schnitt sitzt ein Mann in einem Raum vor einer Wand, die wie ein Triptychon dreigeteilt ist: Während die beiden Außenflügel von Fenstern gebildet werden, die den Blick auf eine großstädtische Hochhausarchitektur lenken, dominiert im zentralen Mittelteil der Wand ein sattes Dunkelgrün. Nach einem weiteren Schnitt folgt die Kamera dem Mann – es ist der Musikethnologe Louis Sarno – durch das dichte Grün des zentralafrikanischen Regenwaldes mit seiner intensiven Geräuschkulisse aus unterschiedlichsten Tierlauten. In der abgeschiedenen Wald-Einsamkeit verschmilzt die Fülle des Lebens mit einem Gefühl der Zeitlosigkeit.

In wenigen Einstellungen versammelt der renommierte Reisejournalist Michael Obert die Themen seines Debütfilms „Song from the Forest“: den Kontrast zwischen Natur und Zivilisation, die „Suche nach spiritueller Gelassenheit“ und dem „großen Ganzen“ (Sarno), die Bedrohung von Lebensräumen einer uralten Kultur sowie die heilsame Kraft der Musik. Denn es waren die polyphonen Gesänge der Bayaka-Pygmäen, die den amerikanischen Musikologen berührten und wie magisch anzogen. Seit mittlerweile 25 Jahren lebt er nun bei den afrikanischen Wald-Nomaden inmitten einer fremden Kultur, die ihn aufgenommen, ja förmlich aufgesogen hat. Dabei findet er in der Zivilisationsferne nicht nur eine ihm gemäße Lebensform, sondern er dokumentiert auch die im Verschwinden begriffene Musik der Baka.

Als sein Sohn Samedi, das gemeinsame Kind mit einer Einheimischen, 13 Jahre alt ist, unternimmt er mit ihm eine Reise nach New York. Immer wieder liefert die Metropole mit ihren Wolkenkratzern und dem permanenten Verkehrslärm extreme Kontraste, die noch verstärkt werden durch Einspielungen der Pygmäen-Musik. So treffen beispielsweise die ekstatischen, von Trommeln und Gesängen befeuerten Tänze der Bayaka auf das hektische Konsumleben einer westlichen Großstadt. Sarno besucht Freunde und Verwandte, zum Beispiel seinen ehemaligen Studienkollegen, den Filmemacher Jim Jarmusch; oder auch seinen wohlhabenden Bruder, der ein ganz anderes Leben führt, sich aber aufgeschlossen und tolerant gegenüber anderen Lebensentwürfen zeigt. Louis Sarno ist in seiner alten Heimat zu einem Fremden geworden, der die „falsche Wirtschaft“ und den „Mangel an Leben“ beklagt. Fast scheint es, als treffe ihn der Kulturschock härter als seinen Sohn Samedie, der sich offensichtlich relativ schnell in der bunten Warenwelt mit ihren Oberflächenreizen und falschen Versprechungen zurechtfindet.

Under The Skin

(GB 2013, Regie: Jonathan Glazer)

Dunkles Fleisch, leere Hüllen
von Wolfgang Nierlin

Ein Lichtpunkt löst sich aus der Dunkelheit, wird größer, wandelt sich zur Sonne, die sich verdunkelt, wird zum Objektiv, zum Auge. Auf die kosmische Metamorphose folgt eine irdische, von Störgeräuschen …

Ein Lichtpunkt löst sich aus der Dunkelheit, wird größer, wandelt sich zur Sonne, die sich verdunkelt, wird zum Objektiv, zum Auge. Auf die kosmische Metamorphose folgt eine irdische, von Störgeräuschen und irrlichternden Sounds unterlegt: In einer in der Dämmerung liegenden Berglandschaft birgt ein unheimlicher Motorradfahrer eine Frauenleiche. Daraufhin blicken wir in einen gleißend hellen Raum, in dem eine andere Frau der Toten die Kleider auszieht, um sie sich wie eine zweite Haut überzustreifen, als nähme sie eine andere Identität an. Im Bild auf bloße, dunkle Silhouetten reduziert und im Ton hyperrealistisch verfremdet, scheint es, als vollziehe sich eine Geburt oder Schöpfung.

Jonathan Glazer spielt in seinem experimentierfreudigen und deshalb umstrittenen neuen Film „Under The Skin“ mit der Idee und den Möglichkeiten der Verwandlung, indem er extreme Kontraste zwischen Licht und Dunkelheit, dokumentarischer Wirklichkeit und künstlichen Settings gestaltet. Er verbindet dabei Elemente des Mystery-Thrillers mit Anleihen beim Science-Fiction-Film, um die rätselhafte, für vielerlei Interpretationen offene Parabel zu erzählen.

Die mysteriöse Fremde (Scarlett Johansson) aus einer anderen Welt, die weder Nahrung noch Wärme zu brauchen scheint, ist eine Femme fatale. Mit starrem Blick, rot angemalten Lippen und schlafwandlerisch mechanischen Bewegungen spricht sie, verfolgt von einer subjektiven Handkamera, männliche Passanten an, um sie zu locken, zu verführen. Gebannt vom sexuellen Begehren, werden diese Männer zu Opfern ihrer Lust: Während sie der gefährlichen Schönen in die Dunkelheit eines verwitterten, alten Hauses folgen, versinken sie nacheinander in einer schweren, öligen Flüssigkeit, gehen dabei unter und bleiben wie in einer engen Haut gefangen, bis schließlich ihr Inneres zerplatzt und eine leere Hülle zurücklässt.

Ist die unheilvolle Fremde eine Abgesandte mit tödlichem Auftrag? Oder befindet sie sich gar auf einem Rachefeldzug gegen die Männerwelt? Weder scheint sie Schuld noch Mitleid zu kennen. Doch als ein Mann mit entstelltem Gesicht und unterdrückter Sexualität in ihren Lieferwagen steigt, erwachen plötzlich ihre Gefühle; und sie entdeckt kurz darauf in ihrem Spiegelbild sich selbst. Ihre „Mission“ beginnt zu scheitern, ein Bruch entsteht, der aus dem weiblichen Alien einen gefühlsbegabten Menschen in einer künstlichen Körperhülle werden lässt. Mit großen Augen blickt die doppelt Fremde jetzt in eine wirklich neue Welt, mit der sie – auch visuell – zunehmend verschmilzt, erlebt eine Art zweiter Geburt und wird zugleich zum Opfer.

Vor allem im zweiten Teil seines mysteriösen Films gewinnt die Handlung an Dynamik und Spannung, verwandelt sich die etwas starre Versuchsanordnung der ersten Hälfte zunehmend in einen psychedelischen Trip. Flucht, Verfolgung, Metamorphose: Der fremde weibliche Eindringling wird bekämpft (wie eine Hexe), löst sich auf, verflüchtigt sich; doch in der zirkulären Struktur des Films führt das Ende zurück zum Anfang.

Drive

(USA 2011, Regie: Nicolas Winding Refn)

Ikone Gewalt
von Tim Lindemann

Wenn talentierte Regisseure sich an Versatzstücken des Trash- und Exploitationkinos bedienen und diese in ein modernes, realistisches Setting transferieren, entstehen oftmals unkonventionelle, faszinierende Genrefilme, die ein denkbar breites Publikum anziehen. …

Wenn talentierte Regisseure sich an Versatzstücken des Trash- und Exploitationkinos bedienen und diese in ein modernes, realistisches Setting transferieren, entstehen oftmals unkonventionelle, faszinierende Genrefilme, die ein denkbar breites Publikum anziehen. Prominente Beispiele der letzten Jahre beinhalten so unterschiedliche Filmemacher wie Martin McDonagh, Lars von Trier sowie die beiden unangefochtenen Experten dieses Stils, David Lynch und Quentin Tarantino. Den beiden letzteren zollt der dänisch-amerikanische Regisseur Nicolas Winding Refn in seinem neuesten Werk liebevoll Tribut, ohne sich jedoch des fatalen Versuches schuldig zu machen, den jeweiligen Stil der beiden Kult-Regisseure zu kopieren. „Kult“ ist ohnehin ein gutes Stichwort für „Drive“ – kann man sich doch sicher sein, dass dieser Film in kürzester Zeit in den diffusen Kanon der sogenannten „Kultfilme“ aufgenommen werden wird, wobei er gleichzeitig interessante Fragen nach dem eigentlich Gegenstand dieser Kategorie aufwirft.

„Drive“ erzählt im Grunde eine Gangster-Geschichte, die an Simplizität ihresgleichen sucht, von einigen kleineren Wendungen einmal abgesehen: Ein ebenso namenloser wie schweigsamer Automechaniker (Ryan Gosling) verdient sich des Nachts als Fluchtwagenfahrer bei Überfällen etwas Geld hinzu – dass er dabei vermutlich der beste Autofahrer aller Zeiten ist, wird dem Zuschauer schon früh durch seine routinierte, ja beinahe maschinelle Ruhe verdeutlicht, die er in der ersten Hälfte des Films zu keinem Zeitpunkt ablegt. Dadurch strahlt er einerseits eine an die schweigsamen Revolverhelden des Westerns erinnernde Coolness, sowie eine beunruhigende, schwelende Aggression aus – eine Stimmung, die der Film geradezu perfekt einzufangen weiß. Der „Driver“ freundet sich durch einen Zufall mit der jungen Mutter Irene (Carey Mulligan) an, deren Ehemann seine letzten Tage im Gefängnis absitzt. Als dieser, wieder auf freiem Fuß, von ehemaligen Mitinsassen zu einem erneuten Diebstahl gezwungen wird, bietet der „Driver“ ihm seine Dienste an und gerät damit in eine kriminelle Verschwörung hinein, die immer weitere Kreise zieht …

Refn konstruiert seinen Film handwerklich brillant um eine kontrastreiche, dualistische Struktur herum. Der erste Teil des Films erscheint wie ein typisch amerikanisches Independent-Drama mit langen, ruhigen Einstellungen, wenigen Dialogen und wunderschönen, teilweise gar an Terrence Malick erinnernden Bildern. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Besetzung der beiden grandios aufgelegten Schauspieler Mulligan und Gosling, die, nicht nur auf Grund ihrer bisherigen Filmografie, so weit von den typischen Protagonisten des Gangster- und Action-Kinos entfernt zu sein scheinen, wie nur möglich. Nichtsdestotrotz spüren wir auch schon in dieser ersten Hälfte die unterschwellige Gewalt, die sowohl unter der Oberfläche des Plots als auch hinter dem unbewegten Gesicht des „Drivers“ schlummert – dafür sorgen ein düster pochender, elektronischer Soundtrack und kurze verstörende Momente, wie eine Szene, in der der „Driver“ einen ehemaligen „Kunden“ seines Fluchtservices plötzlich anfaucht: „How about this – shut your mouth or I’ll kick your teeth down your throat and I’ll shut it for you.“

Die zweite Hälfte des Films, in der sich Goslings Charakter plötzlich mit einer Vielzahl skrupelloser Gegner konfrontiert sieht, ändert den Ton schlagartig und drastisch. Wir befinden uns plötzlich in einem knallharten Gangster-Thriller, der sich, wie oben erwähnt, großzügig bei den Versatzstücken des ruppigen Action-Kinos der 70er und 80er Jahre bedient. Den lässigen Gangster-Sprech borgt sich der Film von Tarantino, die zwischen Idyll und Alptraum schwankende Großstadtatmosphäre erinnert eindeutig an Lynchs spätere Werke. Spannend an diesem Übergang ist vor allem die Transformation der Hauptfigur: Mit der gleichen stoischen, zielgerichteten Ruhe, mit der er zuvor seinen Alltag und seine kleinkriminellen Aktivitäten abgewickelt hat, zieht der „Driver“ nun eine bluttriefende Spur durch die Reihen seiner Gegner. Das darf man hier auch tatsächlich wörtlich verstehen: „Driver“ übertrifft an grafischen Gewaltdarstellungen einige der Grenzen des kontemporären Mainstreamkinos. Die vor Kunstblut nur so spritzenden Gewaltszenen wirken dabei aus zweierlei Gründen weder lächerlich noch überzogen: Zum einen verblüfft und verstört der extrem starke Kontrast zum ruhigen Anfang, zum anderen inszeniert Refn diese Szenen mit einer unangenehm realistischen, detaillierten Körperlichkeit – das Aufsetzen eines spitzen Nagels auf eine Stirn; das beinahe genüssliche Überstreifen von schwarzen Lederhandschuhen, als Einleitung für die darauffolgenden Schläge. Man kann dem Film durchaus vorwerfen, diese Form von Gewalt in viel zu umfassendem Maße um ihrer selbst Willen zu zelebrieren – nicht abstreiten kann man jedoch den beinahe physischen Effekt, den dieser plötzliche Stimmungswandel des Films im Zuschauer erzeugt.

Genau in diesem beiläufigen Verhältnis zu extremer Gewalt liegt zynischerweise sicherlich auch ein großer Teil des Kultpotentials von „Drive“ begründet. Seine von der wirklichen Welt seltsam losgelöste Hauptfigur erinnert an Finchers „Fight Club“, die schwelende, schließlich eskalierende Stimmung an den auch in Titel und Thema verwandten „Taxi Driver“ – beides Filme, die sich, vereinfacht gesprochen, durch die Verbindung einer mysteriös-ikonenhaften Hauptfigur mit Darstellungen extremer Gewalt zu festen Größen der Populärkultur etabliert haben. Refn scheint sich dessen durchaus bewusst zu sein, spielt mit der Idee des untypischen Actionhelden, der durch seine emotionslose Schweigsamkeit nie zur eindeutigen Identifikationsfigur wird – „How can I tell who the bad guys are?“, fragt ihn einmal Irenes kleiner Sohn. Gleichzeitig stattet ihn der Regisseur mit einigen Accessoires aus, die ihn rein optisch zu einer klar definierten Filmfigur und somit popkulturell reproduzierbar machen: So kann man sich mit Sicherheit darauf einstellen, die weiße Lederjacke mit Skorpionmotiv des „Drivers“ bald neben T-Shirts mit den Konterfeis von Vincent Vega, Tony Montana und Tyler Durden im örtlichen Kaufhaus vorzufinden.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 1/2012

Der große Demokrator

(D 2014, Regie: Rami Hamze)

Wunsch- und Alb(t)räume einer Demokratie
von Carsten Moll

Wenn die erste Einstellung das grotesk verzerrte, da von ganz nahem in die Kameralinse lugende Gesicht des Filmemachers Rami Hamze zeigt, ist das vielleicht ein passendes Sinnbild für die kleine …

Wenn die erste Einstellung das grotesk verzerrte, da von ganz nahem in die Kameralinse lugende Gesicht des Filmemachers Rami Hamze zeigt, ist das vielleicht ein passendes Sinnbild für die kleine Welle von Dokumentarfilmer_innen, die derzeit mit einem entschieden subjektiven und dabei vollkommen in sich selbst versunkenen Zugang zu ihren Sujets nerven. Aktuelle Beispiele wären das krude Urlaubsfilmchen „Amma und Appa“ von Franziska Schönenberger und Jayakrishnan Subramanian oder der im Oktober startende „Was bin ich wert?“, in dem es Peter Scharf auf umfassende Weise gelingt, eigentlich interessante politische Fragen auf seine privaten Wehwehchen herunterzubrechen. Auf den ersten Blick scheint sich auch Hamzes Film in diesen Trend einzureihen, folgt auf sein leinwandfüllendes Gesicht doch erst einmal eine ausführliche Selbstbeschreibung der eigenen Person. Im Vergleich zu seinen Kolleg_innen muss man dem jungen Kölner Regisseur und Drehbuchautor allerdings lassen, dass er seine Selbstinszenierung nicht bloß mit sanfter Ironie, sondern auch mit einigem komischen Talent bewältigt. Zwischen trashigem Größenwahn und trockenem Understatement führt Hamze sich selbst als einen Protagonisten ein, der im Grunde weiß, dass er nicht viel mehr als ein langweiliger, privilegierter Normalo ist.

Nach dieser ersten ernüchternden Selbstreflektion gibt sich der nach eigenen Angaben eher unpolitische Filmemacher einen Ruck – und seinem Dokumentarfilm gleich mit. Beseelt von dem vagen Gedanken an demokratischen Wandel und motiviert, etwas politisch Relevantes zu tun, macht sich Hamze nämlich kurzerhand gemeinsam mit seinem Praktikanten Michael und 10.000 Euro im Gepäck (woher die genau kommen, bleibt allerdings rätselhaft) auf in den Kölner Stadtteil Kalk. Die Idee dahinter ist simpel: Mit der großzügigen Spende sollen sich die Bürger_innen dort unter dem Motto „Kalk für Alle“ zusammenfinden und eine große Bewegung für mehr Demokratie starten. In Kalk, einem Viertel, das öfter mal mit seiner relativ hohen Kriminalitätsrate Schlagzeilen macht und zugleich seit Jahren als das nächste große Ding in Sachen Hipness angepriesen wird, hat man aber nicht unbedingt auf den selbsternannten Demokrator gewartet. Nur zögerlich nehmen die Leute mit Hamze Kontakt auf, während der Dokumentarfilmer auf der Suche nach Vorschlägen, was man mit den 10.000 Euro anstellen könnte, durch Kalks Straßen vorbei an Wettbüros, Arbeiterkneipen und Discountern zieht. Ein lautstarker Passant, der wie die Mehrheit der Kalker einen Migrationshintergrund hat, lässt Hamze zudem wissen, dass die richtigen Kalker bei so einer Aktion sowieso nicht mitmachen würden.

Doch der Filmemacher lässt sich nicht entmutigen und tatsächlich tauchen in der provisorisch in einem ehemaligen Fahrradladen eingerichteten Zentrale bald die ersten Gruppen auf, die Ideen mitbringen, wofür das Geld denn nun eingesetzt werden könnte. Die einen wollen den Bau eines Hubschrauberlandeplatzes auf dem Kalkberg verhindern, die anderen wünschen sich einen Abenteuerspielplatz und wiederum andere wollen den Stadtteil mit Grünzeug freundlicher gestalten. Die Frage kommt auf, ob denn von diesen Vorschlägen wirklich alle Bürger_innen profitieren, zumal diese von Leuten kommen, die nicht gerade den Kalker Durchschnitt repräsentieren. Es sind nämlich vor allem die zugezogenen Bildungsbürger_innen aus der Mittelschicht, die sich hier tatkräftig engagieren. Und so macht sich Hamze auf die Suche nach einem anderen Kalk und trifft auf Menschen, die sich abseits der „Kalk-für-Alle“-Maxime längst organisiert und eigene Lebensräume geschaffen haben. Eine Gruppe arabischer Jungs, zu denen auch ein Deutscher gehört, sind der Meinung, dass das Geld lieber an die armen Kinder in Afrika gespendet werden sollte und wünschen sich außerdem, dass mehr Deutsche nach Kalk ziehen, damit es multikultureller wird. Bei einem Frauentreff halten sie auch nicht viel von Spielplätzen und mehr Grün, denn ohne Job und Geld in der Tasche mache so ein Lavendel am Wegesrand halt auch nicht glücklich.

Hamzes naive Vision von einer harmonischen Bürger_innenbewegung bekommt immer mehr Risse und zerbricht schließlich zugunsten einer schillernden Realität. Denn auch in Köln-Kalk, zwischen Shopping Mall und Autonomem Zentrum, Designerbüros und gemeinnütziger Essensausgabe, ist es nicht damit getan, sich auf das ominöse Feindbild „Gentrifizierung“ einzuschwören und mit etwas Geld und guten Absichten schlagartig alles besser machen zu wollen. Wie Hamze beim Scheitern als großer Demokrator ein lehrreicher Dokumentarfilm zwischen Realsatire, Wahlkrimi und Sozialkomödie gelingt, ist dennoch sehenswert. Welche seltsame Blüten seine Utopie in der Wirklichkeit treibt, zeigt sich eindrücklich am Gewinnerprojekt seiner „Kalk-für-Alle“-Aktion: Da ist nämlich mit einem Großteil des Geldes ein Kulturcafé namens „Raum“ entstanden, das mittlerweile um seine Existenz kämpft und auf seiner Homepage mit einem Programm lockt, das neben Liedermachern zu lauschen, zu singen und zu tanzen, Bäume zu pflanzen, Yoga, Kaffekränzchen und Poetry Slams selbstverständlich auch Flüchtlingen zuzuhören umfasst.

Borgman

(NL 2013, Regie: Alex van Warmerdam)

Der Gast, ein böser Zauberer
von Tim Lindemann

Es ist so eine Sache mit dem Fremden, der plötzlich auf der Türschwelle erscheint und um Einlass bittet: Gewährt man ihm den forschen Wunsch nach Nahrung und Unterkunft, lässt man …

Es ist so eine Sache mit dem Fremden, der plötzlich auf der Türschwelle erscheint und um Einlass bittet: Gewährt man ihm den forschen Wunsch nach Nahrung und Unterkunft, lässt man das Unbekannte und potentiell Zerstörerische in das eigene Reich ein. Wehrt man ihn hingegen mit (verbaler oder körperlicher) Gewalt ab, erscheint er vielleicht nur wenig später in anderer, noch unangenehmerer Form. Über diese Tücken der Gastfreundschaft hat der niederländische Regisseur Alex van Warmerdam mit 'Borgman' einen meisterhaften Film gedreht, unmöglich kategorisierbar zwischen Drama, schwarzer Komödie, Mystery und blankem Horror pendelnd.

Der titelgebende Borgman ist auf den ersten Blick ein verwahrloster Landstreicher, der eines Tages vor der Haustür einer reichen Familie steht und um Essen und eine Dusche bittet. Zuvor zeigte bereits eine mysteriöse Eröffnungssequenz, wie er von drei bewaffneten Männern (darunter ein Pfarrer) aus einem unterirdischen Versteck gejagt wird. Auch der reiche TV-Produzent, der Besitzer des modernen, sterilen Hauses, will Borgman zunächst nicht einlassen, schließlich – als Borgman behauptet, seine Frau zu kennen – verprügelt er ihn sogar brutal. Die Ehefrau erkennt den bärtigen Streuner zwar nicht wieder, scheint aber von Beginn an auf merkwürdige Weise von ihm angezogen. So gewährt sie ihm, ohne das Wissen ihres Mannes, schließlich doch eine Unterkunft im Gartenhäuschen des luxuriösen Anwesens.

Was dann geschieht, lässt sich schwer in Worte fassen: Die Anwesenheit des zwielichtigen Borgmans lässt die unterdrückten und unausgesprochenen Konflikte der Familie zunächst zu Tage treten, nur um sie daraufhin langsam von innen zu zersetzen. Van Warmedam erzeugt dabei eine flirrende, traumartige Stimmung, die sich am ehesten mit dem verstörenden Surrealismus des griechischen Dogtooth' vergleichen lässt. Er reflektiert zudem die Gast-Thematik solcher Filme wie Pasolinis 'Teorema' oder Takashi Miikes 'Visitor Q' – ob der Einfluss des Gastes hier zerstörend oder erlösend wirkt, liegt allerdings im Auge des Betrachters. Mehr und mehr zieht der Regisseur jedenfalls die Schraube an, lässt komische Szenen mit emotionalen Tiefschlägen abrupt enden und schreckt auch vor schmerzhaft effektiven Gewaltspitzen nicht zurück.

So geschickt spielt van Warmerdam auch mit Genre-Konventionen: 'Borgman' lässt sich ebenso vortrefflich als allegorische Familienaufstellung wie als schwarzmagisches Schauerdrama rezipieren – und verliert dennoch nie seine einzigartige Undurchschaubarkeit. Wenn der zusehends dominantere Borgman schließlich seine verschrobenen Gehilfen ins Haus der Familie schleust, schließt sich der fatale Kreis der Gastfreundschaft: Der Gast ist zum Gastgeber geworden, die vormaligen Gastgeber wiederum zu schutzlosen Gästen im eigenen Heim. Einmal sagt der schnöselige Hausherr: 'Wir können doch nichts dafür, dass wir reich sind. Wir sind nun einmal West-Europäer.' Hier und in einer späteren Szene offenbart sich kurz der größere Zusammenhang dieser bösartigen, kleinen Geschichte: Die Ängste des weißen Europas vor den 'ungebetenen' Eindringlingen an seinen Grenzen. Van Warmerdam lässt sich aber gleichzeitig nicht zu einer simplen politischen Metapher hinreißen, sondern sorgt gekonnt für unbestimmtes Unbehagen. An einem aber lässt er keinerlei Zweifel: Seine dämonische Macht bezieht der Gast nur aus dem verdrängten Hass seiner Gastgeber – sie haben ihn gewissermaßen heraufbeschworen und so bringt er ihnen mit Vergnügen das Verderben.

Wie in alten Zeiten

(F / GB / USA 2013, Regie: Joel Hopkins)

Vom Kino betrogen
von Carsten Moll

Das Kino, speziell in seiner Daseinsform als Genrefilm, hat auch immer etwas von einer Erfüllungsmaschine. Dabei sind es entgegen der verbreiteten Vorstellung von einer Traumfabrik vielleicht gar nicht so sehr …

Das Kino, speziell in seiner Daseinsform als Genrefilm, hat auch immer etwas von einer Erfüllungsmaschine. Dabei sind es entgegen der verbreiteten Vorstellung von einer Traumfabrik vielleicht gar nicht so sehr die eigenen oder kollektiven Wünsche und Träume, die auf der Leinwand wahr werden, als dass vielmehr die am Kino selbst geschulten Erwartungen des Publikums ihre Bestätigung finden sollen. Die Kunst des Genrefilms – ganz gleich ob es sich nun um eine Liebeskomödie oder einen Katastrophenfilm handelt – besteht darin, das Generische in einer spezifischen Form anzubieten, die das Vertraute mit dem Eindruck des Nie-zuvor-Gesehenen (oder zumindest des Nicht-schon-einmal-genauso-Gesehenen) verbindet. Auf den ersten Blick mag das vor allem unoriginell und berechenbar erscheinen, aber die unausgesprochene Konvention der Erfüllung von Erwartungshaltungen verspricht zugleich auch Sicherheit und Trost: Sicherheit, weil das Publikum weiß, wofür es bezahlt, und Trost, weil beim nächsten Film dieser Art vielleicht wieder alles besser wird, was beim aktuellen für Enttäuschung gesorgt hat.

Bereits mit seinem letzten Spielfilm „Liebe auf den zweiten Blick“ („Last Chance Harvey“, 2008) demonstrierte der Regisseur und Drehbuchautor Joel Hopkins, dass er vor filmischen Klischees und Konventionen nicht zurückschreckt. Auf den Spuren von Richard Linklaters „Before Sunrise“ (1995) erzählte Hopkins nicht gerade subtil die sentimentale Geschichte eines Kennenlernens und -liebens, deren verkaufsträchtiges Distinktionsmerkmal zu ähnlich gelagerten Produktionen allein das Zusammenspiel von Emma Thompson und Dustin Hoffman war. Thompson übernimmt nun auch in diesem neuen Film von Joel Hopkins die Hauptrolle und ebenso sind wieder jede Menge abgedroschene Ideen und müde Klischees mit dabei.

Gemeinsam mit ihrem Kollegen Pierce Brosnan gibt Thompson hier das geschiedene Ehepaar Jones, dessen Trennung anscheinend schon so lange her ist, dass der Film sich für die Hintergründe gar nicht mehr interessieren muss. Und da die beiden Protagonisten selber nicht ganz genau zu wissen scheinen, was sie einmal auseinandergebracht hat, steht einer comedy of remarriage samt Happy End eigentlich nicht viel im Weg. Als Laufzeit füllender Umweg, auf dem die Ex-Eheleute sich wieder näher kommen, muss daher ein Intermezzo in Form einer bewusst altmodischen Gaunerkomödie herhalten, die dennoch einen brisanten Zeitbezug behauptet: Denn ausgerechnet einige Tage vor seinem wohlverdienten Ruhestand muss die Firma von Richard Jones Konkurs anmelden, weil Richard auf den Pariser Anlagebetrüger Vincent Kruger hereingefallen ist. Um das Geld seiner Mitarbeiter und die eigenen Ersparnisse zu retten, macht er sich daher mit der Ex-Frau auf den Weg nach Frankreich. Dort machen sie den skrupellosen Finanzhai ausfindig und planen schließlich, einen wertvollen Diamanten zu klauen, der sich in Krugers Besitz befindet.

Für die Filmemacher wird die romantische Komödie laut eigener Aussage so ganz nebenbei zu einem Kommentar zur Finanzkrise und zu einer Selbstermächtigungsfantasie der kleinen Leute, die sich endlich mal an den großen Geschäftemachern rächen dürfen. Das ist so naiv wie verlogen, wenn man bedenkt, wie realitätsfern Hopkins seine beiden Weltstars hier ohne große Nöte und Konflikte durch ein pittoreskes Frankreich gaunern lässt. Selbst wenn man einmal von solchen Realitätsbezügen absieht, bleibt fraglich, inwiefern die Inszenierung des Stoffes im Stil einer klassischen Screwball-Komödie der 1940er gerechtfertigt ist. Die Frage, warum die Komödien damals so und nicht anders erzählt wurden, scheint sich Hopkins nämlich nicht gestellt zu haben und so wirkt „Wie in alten Zeiten“ so bieder, als wäre der Hays Code nie abgeschafft worden.

Ein bisschen fühlt man sich nach dem Anschauen des Films und dem Investieren von Zeit sowie eventuell Geld selber, als wäre man auf einen schmierigen Betrüger hereingefallen. Außer den großen Namen Thompson und Brosnan wird hier nämlich nicht viel geboten, was den Kinobesuch rechtfertigen könnte. Selbst das Abklappern genretypischer Oberflächenreize und Grundmotive gerät bei Hopkins so lustlos, schlaff und eiskalt kalkuliert, dass die Erfüllungsmaschine nach anfänglichem Stottern rasch ganz den Geist aufgibt.

Beim nächsten Film wird alles besser.

Zärtlichkeit

(F / B 2013, Regie: Marion Hänsel)

Im Einklang
von Wolfgang Nierlin

Fast unmerklich verwandelt sich die weiße Leinwand in eine sanfte Schneelandschaft, in der zwei kleine, schwarze Punkte sichtbar werden. Diese bewegen sich, werden größer. Lautlos und mit gleichmäßigen Bewegungen gleiten …

Fast unmerklich verwandelt sich die weiße Leinwand in eine sanfte Schneelandschaft, in der zwei kleine, schwarze Punkte sichtbar werden. Diese bewegen sich, werden größer. Lautlos und mit gleichmäßigen Bewegungen gleiten die beiden Snowboardfahrer durch Raum und Zeit, bis sie schließlich aus der Totale des Bildes entschwinden. Marion Hänsel eröffnet ihren neuen, sehr sensiblen Film „Zärtlichkeit“ („La tendresse“) mit einem Bild der Ruhe und der Harmonie. In ihm verbinden sich die synchronen Bewegungen des Paars mit der Freiheit der Natur. Auch im Folgenden inszeniert die renommierte belgische Regisseurin immer wieder Momente der Stille und des Innehaltens, gespiegelt im Blick auf Landschaften und in vertraulichen Begegnungen, um ihre Vision von Fürsorge und Liebe auszudrücken.

Kurz darauf, ins Off der Exposition verlagert, ereignet sich ein Unfall. Der junge Skilehrer Jack Vander (Adrien Jolivet), der zum Abschluss der Saison zusammen mit seiner Freundin Alison (Margaux Châtelier) in den Savoyer Alpen unterwegs ist, stürzt und verletzt sich dabei schwer. Die alarmierten Eltern Lise (Marilyne Canto) und Frans (Olivier Gourmet), die seit fünfzehn Jahren geschieden sind, beschließen daraufhin, von Brüssel aus gemeinsam in den ostfranzösischen Wintersportort Flaine zu fahren, um ihren Sohn nach Hause zu holen. Gleich bei ihrer ersten Wiederbegegnung sind eine große Vertrautheit, wahrnehmbar in kleinen Gesten, und eine freundschaftliche Verbundenheit spürbar. Diese hat die alten Differenzen hinter sich gelassen und betrachtet frühere Konflikte mit einem entspannten, milden Lächeln.

Dann beginnt eine 9-stündige Autofahrt und mit ihr ein Roadmovie, in dem die vorbeiziehende Landschaft zum Resonanzraum für gemeinsame Erinnerungen wird. Diese wiederum werden teils grundiert von einem leisen Bedauern. Zwar sind die etwas zerstreute, leicht linkische Lise und der konservative, mit dezenten Machoallüren ausgestattete Frans denkbar verschieden; trotzdem hat ihre vormalige Nähe zu einem neuen Arrangement geführt. In diesem ist auf versöhnliche Weise die elterliche Sorge um das gemeinsame Kind zentral; aus ihr spricht noch immer ein Grundton familiärer Geborgenheit. Auf einer parallelen Handlungsebene verschränkt Marion Hänsel geschickt diese alte Vertrautheit mit dem jungen Liebesglück von Jack und Alison. Hänsels eigentliches Interesse gilt aber der Wiedergewinnung weiblicher Stärke, verkörpert in den Blicken, Gefühlen und Begegnungen ihrer Protagonistin Lise, die leicht selbstironisch von sich einmal sagt: „Jetzt genieße ich meine Einsamkeit.“

The Salvation

(DK / GB / RSA 2014, Regie: Kristian Levring)

Danish Dynamite
von Carsten Happe

Die Farben sind so satt, dass die Augen beinahe schmerzen. So azurblau der Himmel, so weizenblond die Haare der anmutigen Siedlersgattin Marie. Seinen bestechend schönen Look trägt „The Salvation“ vor …

Die Farben sind so satt, dass die Augen beinahe schmerzen. So azurblau der Himmel, so weizenblond die Haare der anmutigen Siedlersgattin Marie. Seinen bestechend schönen Look trägt „The Salvation“ vor sich her wie ein gigantisches Ausrufezeichen: ich bin kein ausgewaschener Spätwestern voller Ambivalenzen, Grenzverwischungen und moralischen Uneindeutigkeiten, nein, stattdessen eine Reise ins Herz des Technicolor-Westerns, aufgehübscht durch eine Art Hyperrealität, ein Hyper-Western, versetzt mit all den bekannten, geschätzten wie verteufelten, Codes des Genres, aus der Zeit, als er seine Daseinsberechtigung nicht als einen weiteren Comebackversuch verstand, sondern die aufrechtesten Mythen und Helden gebar: John Wayne, Gary Cooper, James Stewart, Gregory Peck.

Es mag auf den ersten Blick wie eine gehörige Portion Ironie erscheinen, dass nun ein dänischer Film, vornehmlich in Südafrika gedreht, mit dänischen, britischen, französischen Darstellern besetzt – allein der Bösewicht ein Amerikaner – dieses uramerikanischste aller Genres auf eine derart traditionalistische Art und Weise interpretiert, aber einerseits folgt „The Salvation“ damit lediglich mit einigem Abstand deutschen Regisseuren wie Roland Emmerich oder Wolfgang Petersen, die dem amerikanischen Patriotismus viel hemmungsloser frönten als ihre heimischen Kollegen, und andererseits ahmt der Film nun letztlich die Westwärts-Bewegung seiner Protagonisten nach: dänischen Siedlern, die sich in den Vereinigten Staaten, an der Frontier, ein neues Leben aufzubauen hoffen.

Ob diese Blickrichtung auch für Regisseur Kristian Levring zutrifft, kann nur gemutmaßt werden, aber für den Filmemacher, der seinerzeit mit „The King Is Alive“ den vierten Dogma-Film drehte, ist „The Salvation“ eine 180-Grad-Abkehr von den einstigen Idealen. Ein Film, der in jeder Einstellung den Dogma-Regeln widersprechen würde, und genau damit so unerwartet gut fährt: mit der genüsslichen Übererfüllung der Genre-Konventionen, der grellen Überzeichnung und Archetypisierung bis hin zum Kintopp – große Jungs spielen Western, mit allem, was dazu gehört, und es ist die größte Auszeichnung des Films, dass dieses tausendfach Gesehene nicht zu einem einzigen schalen Klischeegebilde gerinnt, sondern geradezu frisch und bis zum unausweichlichen Showdown einnehmend mitreißend daherkommt.

Entscheidenden Anteil daran hat Hauptdarsteller Mads Mikkelsen, in dessen Filmographie die Rollen des einsamen, getriebenen Outlaws schleichend Überhand nehmen, sei es in „Michael Kohlhaas“, seinerseits bereits in gewisser Weise eine Art Pferdeoper, in Nicolas Winding Refns „Walhalla Rising“, der den klassischen wortkargen Western-Loner ins Nordische übertrug, oder gar in Thomas Vinterbergs „Die Jagd“, der das Motiv des Einzelnen gegen die Dorfgemeinschaft zwar in die Jetztzeit verlagerte, aber eben auch die ewig gültigen Topoi des Western wie Ehre, Recht und Gerechtigkeit verhandelte.

Der Gleichmut hat sich allerdings in „The Salvation“ in einen Stoizismus verwandelt und schließlich vorherrschend sind allein die Rachegelüste, die ein gerechtes, jedoch auch verlustreiches Gleichgewicht herstellen sollen, nachdem die Familie des dänischen Siedlers kurz nach ihrer Ankunft in der neuen Welt niedergemetzelt wird. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die biblische Allegorie, die bis in den Titel hineinsickert, findet hier nur noch in ihrer Negierung statt: Erlösung bietet einzig der aufopfernde Kampf für die gute Sache, egal mit welch fragwürdigen Mitteln. Das Ziel ist das Ziel, nicht der Weg. Und die moralischen Ambivalenzen ein Dickicht, in das sich der Held guten Gewissens nicht verstrickt. So geradlinig sich der Bodycount dem finalen Duell entgegenaddiert, so kompromisslos gelingt „The Salvation“ die Aneignung der klassischen Western-Materie. Mission accomplished.

Master of the Universe

(D / A 2013, Regie: Marc Bauder)

Aura des Geheimnisvollen
von Ricardo Brunn

Solange keine Persönlichkeitsrechte verletzt oder Geschäftsgeheimnisse offen gelegt werden, dürfte den Aufnahmen nichts im Weg stehen. Mit diesen aus dem Off gesprochen Worten und den sakralen Klängen einer Bach-Kantate über …

Solange keine Persönlichkeitsrechte verletzt oder Geschäftsgeheimnisse offen gelegt werden, dürfte den Aufnahmen nichts im Weg stehen. Mit diesen aus dem Off gesprochen Worten und den sakralen Klängen einer Bach-Kantate über die Sündhaftigkeit des Menschen beginnt der Dokumentarfilm „Master of the Universe“ von Marc Bauder. Im Zentrum steht als alleiniger Protagonist, neben den Wolkenkratzern Frankfurt am Mains, der ehemalige Banker Rainer Voss und gibt Auskunft über die ansonsten so verschwiegene Bankenwelt.

Während er durch die leeren Flure eines ehemaligen Bankenhochhauses streift, erzählt Voss von den Grundlagen des Exzesses der Finanzmärkte, von in der Branche allgegenwärtigen Kriegsmetaphern („Es ist letzten Endes wie bei der Armee.“) und Prestigedarwinismus. Es geht um die institutionalisierte Abkopplung von gesellschaftlichen Prozessen, genauso wie um die Firma als Scheinfamilie. Doch als Entlarvung oder Entmystifizierung taugt dies alles wenig. „Im Rückblick verklärt sich manches“, gesteht Rainer Voss irgendwann ein – in der formal-ästhetischen Gestaltung des Filmes ebenfalls.

„Master of the Universe“ suggeriert mit dem eingangs erwähnten Kommentar eine Innenansicht. Der Film ist jedoch als perfekter Wirtschaftsthriller inszeniert. Und im Thriller geht es immer auch darum, dass Dinge im Verborgenen bleiben. Alles in diesem Dokumentarfilm ist umgeben von einer Aura des Geheimnisvollen, in der sich die Bankenwelt seit jeher eingerichtet hat. Denn Marc Bauder setzt ganz bewusst die Verschwiegenheit dieser homogenen Parallelwelt ins Bild und versucht diese auch nicht zu brechen. So ehrfurchtsvoll, wie sich die Kamera zu Beginn des Filmes den Wolkenkratzern des deutschen Bankenzentrums nähert, so formuliert der Regisseur auch die erste Frage an seinen Protagonisten: „Angenommen, ich will da rein, wie muss ich mich verhalten?“

Im weiteren Verlauf des Filmes darf Rainer Voss unverständliche mathematische Formeln an die Fensterscheibe kritzeln und erklären, dass keiner die Rechnungslegung der Deutschen Bank verstünde. Selbst der als Kontrapunkt zuerst einmal überraschende Schauplatz des Gespräches unterstützt die inszenierte Verborgenheit zusätzlich, denn da wo nichts ist, öffnen sich Möglichkeiten zur Spekulation.

Das Geheimnisvolle lebt von der Distanz, vom Vagen und dem Kontrast von Innen und Außen. Es ist das Gegenteil der Transparenz. Aus dementsprechend großer Entfernung zeigt die Kamera Banker in ihren Büros oder wie sie in verspiegelten Luxuskarossen in die Tiefgarage einfahren. Und immer wieder verweigert die Montage Kontexte, verliert sich im Ungefähren, um der Komplexitätsbehauptung des Finanzsystems Genüge zu tun. Natürlich versucht Bauder sich abzusichern, wenn er seinen Protagonisten scheinbar in die Enge treibt und diesem nur die Antwort bleibt, dass er das jetzt nicht aufgezeichnet haben will. Aber auch hier wird das Geheimnis, die Undurchdringbarkeit des Finanzmarkt-Kapitalismus, bewusst in Szene gesetzt. Und zwischen den Interviews erklingen konziliant wabernde Melodien, die sich in ihrer minimalistischen Verspieltheit wie ein Schleier um das Gesagte legen.

Inhaltlich besonders problematisch wird die Verfahrensweise des Regisseurs, wenn Fragen nach der Verantwortung weitestgehend ausgeklammert werden oder die Rolle des Protagonisten innerhalb des Systems unbeleuchtet bleibt. Doch ob Rainer Voss Trader, Quant oder Risikomanager war, ist für eine Einordnung seiner Aussagen von eminenter Bedeutung.

Eine größere Neutralität, wie sie beispielsweise im hervorragenden Porträtband „Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt“ von Claudia Honegger, Sighard Neckel und Chantal Magnin an den Tag gelegt wird, wäre wünschenswert gewesen. In „Master of the Universe“ jedoch behauptet der Regisseur eine Innenansicht, während seine Hauptfigur permanent um die rechte Außendarstellung bemüht ist. Zusammen ergibt das einen wenig informativen, aber dafür umso geheimnisvolleren Film, der am Ende in bester Thrillermanier mit dystopischen Prophezeiungen aufwarten kann.

Erlöse uns von dem Bösen

(USA 2014, Regie: Scott Derrickson)

Padre Masters Satanas as Bana Goes Bananas
von Drehli Robnik

Vom Partner zum Pater, von Dubstep zu den Doors, so läuft das beim Hollywood-Gruseldrama 'Erlöse uns von dem Bösen'. Der Titel wirkt irgendwie vertraut, ebenso das Ausgangssetting: Zwei New Yorker …

Vom Partner zum Pater, von Dubstep zu den Doors, so läuft das beim Hollywood-Gruseldrama 'Erlöse uns von dem Bösen'. Der Titel wirkt irgendwie vertraut, ebenso das Ausgangssetting: Zwei New Yorker Cops, ethnisch und psychologisch wohldifferenziert, fahren auf Zivilstreife, greifen zumeist in Fällen häuslicher Gewalt beherzt ein und durch.

Der eine ist der ostentativ unbeschwerte irischstämmige Partner des anderen; der andere, Italo-Amerikaner, ist ganz bedrückt und halb entrückt und vernachlässigt Frau & Kind im pausenlosen Kampf gegen die tieferen Gründe von all dem Sozialelend um ihn herum, das hier in Ninetiesretrodüsterregen (Hallo, 'Se7en'!) ausgemalt wird. Er bekämpft, so heißt es im Dialog später programmatisch, das 'primäre Böse'. Was ist damit wohl gemeint? Die fortschreitende Kapitalisierung von öffentlichem urbanem Raum? Nein, eher Spirituelles und so. Deshalb feixt der Partner so oft und so unbeschwert: 'Spürst du schon wieder was mit deinem Radar?' Was wohl damit nun gemeint ist? Etwa die ostentativ abstehenden Ohren von Hauptdarsteller Eric Bana? Egal. Jedenfalls hat der Partner mit all seiner Unbeschwertheit sein Leben verwirkt und macht – wenn auch spät – einem Pater an Banas Seite Platz. Der ist Latino und gut in Latein; das führt er beim – wohlgemerkt: sechsstufigen – Exorzismus ('Vade retro, Satanas!') und am Ende beim häuslichen Taufen vor.

Dass der Leibhaftige hier in dem mit eingeritzten Schriftzeichen malträtierten Leib eines Irakkriegsveteranen umgeht, der als Anstreicher in Haushalte, Kellergewölbe und den Brooklyn Zoo eindringt, um Glühbirnen zum Ausbrennen, Löwen zum Auszucken und Branchenkollegen zum Austrinken von Nitroverdünner zu bringen, sei vielleicht noch angemerkt.

Und das gleich zur Warnung: 'Unfreiwillig komisch', das sagt sich allzu leicht. Zumal bei Filmen, wo es uns (wie bei diesem) ja doch immer wieder schaudert und schreckt. Denen, die das alles nicht glauben wollen, lässt auch der Plot dieses Films ein Höflichkeitshintertürchen offen. Den Eingeweihten und Gläubigen aber bietet er mit all seinem Aberwitz einfach noch ein Mehr an Gründen, sich zu beuteln oder die Haare zu raufen. Im Grunde ist das eine tolle filmische Demutsgeste: doppelter Service – plus das schmeichelhafte Gefühl, über den Dingen zu stehen, nämlich einen Horrorschocker als lachhaft durchschaut zu haben, der uns aber doch in Wirklichkeit genau dort haben und genau diese Wellness bereiten will.

Regie bei diesem CopMovie-Satanismushorror-Hybrid in Latex führt Scott Derrickson. Dass er sich spät auf die dahinplätschernde kleine Welle an Exorzismus-Filmen in breiter Genrevariation draufsetzen würde, kann man ihm echt nicht vorwerfen, denn: Noch bevor es Exorzismusfilme mit Autoren-Flair ('Requiem', klasse übrigens), Mockumentary-Look (Der letzte Exorzismus') oder Monsignore Hopkins als Pater Lecter ('The Rite – Das Ritual') gab, da hatte er schon den 'Exorzismus der Emily Rose' absolviert. 2005 war das. 2012 versetzte Derrickson dann in dem Found-Footage-Haunting-Schocker Sinister' häusliche Sounds mit einem synkopisch pulsierenden Score, den Leute wie ich wohl unter Dubstep einordnen würden. Leichter fällt das Musiklabelling nun bei 'Erlöse uns von dem Bösen', ist hier doch das Spukpumpern und Traumaplaudern mit Evergreens von der notorischen Satanistencombo The Doors zusammengemixt. Sehr sinnig erklingen nicht ganz unbekannte Refrains mit zutiefst ominösen Botschaften – Reiter auf dem Sturm. Brich weiter durch. Leute sind seltsam. Sind sie ja wirklich. Aber manche ihrer Filme auch.

Hirngespinster

(D 2014, Regie: Christian Bach)

All work and no play make Hans a dull boy
von Carsten Moll

Einst ein gefeierter Architekt, ist Hans Dallinger im Jetzt nur noch eine arme Wurst, der statt auf dem Titelblatt der „Monopol“ bloß noch auf den bunten Zeichnungen der kleinen Tochter …

Einst ein gefeierter Architekt, ist Hans Dallinger im Jetzt nur noch eine arme Wurst, der statt auf dem Titelblatt der „Monopol“ bloß noch auf den bunten Zeichnungen der kleinen Tochter gewürdigt wird. Und selbst auf den Kunstwerken der Grundschülerin wird der Vater vielsagenderweise um einen ganzen Kopf von Mutti überragt. Der Grund für Hans‘ Versagen als Familienoberhaupt und sein berufliches Scheitern ist aber nicht etwa eine karrieregeile Ehefrau, sondern eine Krankheit: Bereits seit seiner Jugend leidet Hans an paranoider Schizophrenie, die schubweise immer wieder auftritt und dann vor allem die Menschen um ihn herum auf eine harte Probe stellt. Während der Kranke selbst von seiner Psychose nichts wissen will und sich zunehmend in Wahnvorstellungen verliert, sind seine Frau Elli und die beiden Kinder Simon und Maja bemüht, der Außenwelt eine heile Familie vorzuspielen und den Schaden, den Hans anrichtet, auf ein Minimum zu beschränken. Doch als der Architekt sich wie besessen in seine Arbeit stürzt, um sein berufliches Comeback voranzubringen, lösen Stress und Druck einen weiteren paranoiden Schub aus, unter dem nicht nur die Satellitenschüssel der Nachbarn zu leiden hat. Die Situation droht zu eskalieren und besonders für den 22-jährigen Simon wird klar, dass es so nicht weitergehen kann.

Eigentlich war es ja eine Schrotflinte, mit der der Vater eines Jugendfreunds die Nachbarschaft unsicher machte, verrät der Regisseur und Drehbuchautor Christian Bach in einem Interview. Doch so ein Rumgeballer auf der Leinwand war dem Filmemacher für sein Spielfilmdebüt, das auf wahren Begebenheiten beruht und sich eher an den leisen Tönen versucht, dann doch zu übertrieben und unglaubwürdig. Also geht der paranoide Familienvater nun mit einer vergleichsweise alltagstauglichen Axt zu Werke und bespielt damit auch gleich – „Here’s Johnny!“ – ein reizvolles filmisches Referenzsystem. Und zumindest Tobias Moretti in der Rolle des Axt schwingenden Hans scheinen diese Assoziationen an Stanley Kubricks „Shining“ nicht ganz fern zu sein, denn der Österreicher spielt auf, als müsse er neben Jack Nicholson höchstpersönlich bestehen.

Doch „Hirngespinster“ (müsste es nicht „Hirngespinste“ heißen?) schlägt schließlich einen anderen Weg ein und zeigt sich weder an Horror noch an der Filmwerdung von Halluzinationen interessiert. Statt also auf den Spuren Kubricks oder meinetwegen auch Darren Aronofskys zu wandeln und Wahn und Wirklichkeit miteinander zu verweben, erzählt Bach recht nüchtern eine exemplarische Krankengeschichte, der man den Willen zur Aufklärung deutlich anmerkt: Nachdem die Polizei die Axt erst einmal konfisziert hat und Hans in eine psychiatrische Anstalt zwangseingewiesen wurde, hört der Spaß nämlich auf und Bach nutzt seinen Film als Vehikel, um eine Menge Informationen rund um das Thema Schizophrenie unters Volk zu bringen. In bisweilen ganz schön umständlich konstruierten Szenen werden so von der verständnislosen Reaktion der Nachbarn bis zum faktenreichen Arztgespräch eine Vielzahl von Situationen abgeklappert, die eine psychische Erkrankung mit sich bringen kann. Populären Vorurteilen und gefährlichem Halbwissen entgegenzutreten mag ein löblicher Vorsatz sein, doch vieles in „Hirngespinster“ gerät der guten Absicht wegen allzu schematisch und dramaturgisch unmotiviert.

So erscheinen die Welt, in der „Hirngespinster“ spielt, und die Figuren in ihr seltsam flach. Moretti, der auch in seinen klaren Momenten einen unberechenbaren und ein wenig unheimlichen Charakter gibt, wirkt völlig deplatziert in diesem Umfeld, das an die harmlos-biederen Vorabendserien im öffentlich-rechtlichen Programm erinnert: Hier opfert sich die Mutter noch selbstlos auf, der Sohn ist trotz seiner rockigen Lederjacke ein richtiger Ehrenmann und der Familienhund Oskar macht gut gelaunt die Haustüre auf. Nicht minder befremdlich muten die Dialoge an, die zwar in einer lockeren Umgangssprache gehalten sind, aber von den Darstellern aufgesagt werden, als wären es komplizierte Theatertexte, die nur verstanden werden können, wenn auch alles schön sauber artikuliert wird und jeder mit dem Sprechen wartet, bis er an der Reihe ist.

Einmal lässt Bach seinen Protagonisten Simon der kleinen Schwester allerdings ganz anschaulich erklären, was denn mit dem Vater überhaupt los ist. Die Schizophrenie sei wie ein Traum nur ohne Schlaf, sagt der junge Mann da. Vielleicht bringt das die Sache ja ganz gut auf den Punkt. Aber was das alles denn mit dem Kino zu tun hat – die Schizophrenie, der Traum –, diese Antwort bleibt der Film schuldig.

The Texas Chainsaw Massacre (WA)

(USA 1974, Regie: Tobe Hooper)

Meat the Family
von Nicolai Bühnemann

Die Vivisektion eines menschlichen Auges mit den Mitteln des Kinos. Mit jedem Schnitt, ausgeführt wie mit dem Rasiermesser, ist die Kamera noch näher dran am Gesicht der übrigens kürzlich verstorbene …

Die Vivisektion eines menschlichen Auges mit den Mitteln des Kinos. Mit jedem Schnitt, ausgeführt wie mit dem Rasiermesser, ist die Kamera noch näher dran am Gesicht der übrigens kürzlich verstorbene Marylin Burns. Bis im extremen Close-Up nur noch Details ihres Auges zu sehen sind. Rote Äderchen, die Iris, ein Lid, an dem sich eine Träne sammelt. So nah wie die Kamera in dieser Szene von Tobe Hoopers „The Texas Chainsaw Massacre“ an der Figur ist, will der Film auch an uns ran. Seine Zuschauer. Seine Opfer. Er benutzt dazu alle Mittel, die dem Medium zur Verfügung stehen. Verwackelte, grobkörnige Bilder. Grelle Farben. Schrille Schreie und Sounds. Hektische Jump-Cuts. Ein Terror-Film. Film als Terror für die Sinne.

In der Szene mit dem Auge ist Sally (Burns) die einzige Überlebende von den fünf jungen Menschen, die es in den texanischen Backwoods mit der liebenswürdigen Familie zu tun bekamen, die nach der Schließung des örtlichen Schlachthofs sich darauf verlegte, aus Menschen Wurst zu machen („My family always been in meat“). Sie wird von der Familie um Leatherface, den Mann mit der Menschenledermaske und der Kettensäge, zu einem Dinner geladen, bei dem sie selbst der Hauptgang ist. Dass sie schließlich davonkommt, macht sie zum ersten final girl der Filmgeschichte.

Was die blutigen Schauwerte anbelangt, ist Hoopers Meisterwerk für heutige Genre-Maßstäbe beinahe zahm. Die Radikalität des Films liegt aber in dem Versuch, ein ganz und gar physisches Kino zu schaffen, das direkt auf das körperliche (Schmerz-)Erleben des Zuschauers abzielt. Die Gnadenlosigkeit, mit der er alle Mittel, die dem Kino zur Verfügung stehen, nutzt, um dieses Ziel zu erreichen, ist in den vergangenen vier Jahrzehnten kaum jemals erreicht worden. TCM ist weniger ein Film über Menschen in einer ausweglosen Situation, als über Körper, die mit Rasierklingen, Fleischerhaken, Kettensägen und Hämmern geschunden und zerstört werden.

Für weniger als 300.000 Dollar auf 16mm gedreht, ist TCM ein Film voller gelungener Stimmungsbilder und Kamerafahrten, der sich unter Genre-Aficionados zu einem Kultfilm entwickelte und über 30 Millionen eingespielt haben soll. Leatherface wurde zu einer Ikone des Horrorfilms. Die erste Fortsetzung drehte Hooper 1986 selbst mit Dennis Hopper in der Hauptrolle und allerlei texanischer Lokalprominenz in Nebenrollen. Der Regisseur erklärte, dass er die komischen Elemente, die schon im ersten Teil vorhanden gewesen seien, mehr herausarbeiten wollte. Herausgekommen ist ein beispiellos hysterischer Film, der die Saga um die kannibalische Wurstfabrikanten-Familie ins Komödiantisch-Groteske überspitzt. Zwei weitere Sequels, ein Prequel und zwei Remakes folgten, wobei der letztes Jahr auf DVD veröffentlichte „Texas Chainsaw 3D“ gut daran tat, sich ganz auf die Weitererzählung der Ereignisse des Originals zu konzentrieren.

In Deutschland war der Film übrigens in seiner ungeschnittenen Form mehrere Jahrzehnte verboten. Das Label Turbine ist erfolgreich gegen Indizierung und Beschlagnahme vorgegangen und hat den Film 2012 in einer absolut formidablen DVD und Blu-ray-Edition neu und allgemeinzugänglich veröffentlicht. Das sechzigseitige Booklet widmet sich ganz der deutschen Zensurgeschichte des Films. Darin beschrieben ist auch die jahrelange, regelrecht kafkaeske Reise des Labels durch den deutschen Institutionen- und Paragraphen-Dschungel, um etwas zu erreichen, was in fast jedem anderen westlichen Land selbstverständlich ist, nämlich dass sich erwachsene Menschen legal einen Horrorfilm ansehen dürfen.

Da diese Schlacht im Sinne der Fans und all derer, die es werden wollen, ausgegangen ist, kann „The Texas Chainsaw Massacre“ nun zu seinem vierzigsten Geburtstag in einer neuen 4K-Abtastung sein Comeback auf der großen Leinwand feiern.

Maps to the Stars

(CAN / USA / F / D 2014, Regie: David Cronenberg)

Big Trouble in der Lindenstraße
von Ulrich Kriest

„Still it’s just one big happy family ’neath the sun / it’s all full of you and me and he and she and it and everyone / gosh it’s a …

„Still it’s just one big happy family ’neath the sun / it’s all full of you and me and he and she and it and everyone / gosh it’s a goofy loony place that we come from / me i ain’t laughin‘ in fact i’m leavin‘ / you keep the car dear i still don’t need it / don’t tell the children / don’t tell the germans / don’t tell the rockefellers / don’t tell no one…“ – Tonio K. –

„I‘m from Jupiter!“, erklärt Agathe Weiss ihrem Chauffeur, dem arbeitslosen Schauspieler und Möchtegern-Drehbuchautor Jerome, als sie in Los Angeles ankommt. Sie wirkt glamourös und etwas verstört – und sie ist gekommen, um ihre Familie zu besuchen und zu konfrontieren. Doch die Familie will sie nicht, hat sie verstoßen, seit sie, der Schizo, das Haus anzündete und fast den Bruder tötete. Agathe trägt lange Handschuhe, um die Brandwunden zu verdecken und kommt direkt aus der Psychiatrie in Jupiter, Florida. Ihr Bruder Benji ist mittlerweile ein drogenabhängiger Kinderstar, dem bereits Jüngere die Show zu stehlen drohen und dessen weitere Karriere davon abhängt, dass er nachweisen kann, dass er aktuell clean ist. Vater Stafford ist eine Mischung aus New Age-Guru, Masseur und Gesprächstherapeut, der mit Selbsthilfe-Ratgebern gutes Geld macht. Über ihre Twitter-Freundin Carrie Fisher bekommt Agathe zunächst einen Job als persönliche Assistentin der Schauspielerin Havana Segrand, deren Karriere gerade dem Ende entgegen geht. Havana würde gerne die Hauptrolle im Remake des Films übernehmen, der einst ihre Mutter berühmt machte – es handelt sich dabei um eine Art von ödipalem Exorzismus.

Abgesehen von Agathe agieren im neuen Film von David Cronenberg sämtliche Figuren am Rande des Nervenzusammenbruchs und changieren bestenfalls zwischen unsympathisch und zynisch. Fürs Drehbuch zeichnet Bruce Wagner, einer der scharfzüngigsten Chronisten Hollywoods, der hier dem Affen Zucker gibt. „Maps to the Stars“ ist die beste Bret Easton Ellis-Verfilmung, an der Ellis gar nicht beteiligt ist und löst ein, was „The Canyons“ nur versprach. Hier verkleidet sich die Soap Opera als griechische Tragödie oder umgekehrt, bis die (inzestuöse) Kleinfamilie sich gleich in mehrfacher Hinsicht als Terrorzusammenhang gezeigt hat, der sich nach innen und nach außen richten kann.

Cronenberg hat für „Maps to the Stars“ erstmals überhaupt in Hollywood gedreht und kann sich bei seinem derben Abgesang auf die Traumfabrik auf Schauspieler wie Julianne Moore und John Cusack verlassen, die hier weit über die Grenzen dessen hinausgehen, was Stars zu Stars macht. Das liegt auch daran, dass Cronenberg nach seinen beiden diskursiven Vorgänger-Filmen „Eine dunkle Begierde“ und „Cosmopolis“ hier wieder den menschlichen Körper mit seinen Schwächen, Wunden, Narben und Alterungen als Schlachtfeld nutzt. Weshalb man diese forcierte Hollywood-Groteske auch ohne größere Umschweife als Gesellschaftssatire begreifen darf, die den brutal komischen Zeitgeist genau dort in den Blick nimmt, wo er sich seine verführerischen Züge aufschminkt.

Like Father, Like Son

(J 2013, Regie: Hirokazu Kore-eda)

Verführung zur Selbstaufgabe
von Tim Lindemann

Das aktuelle japanische Kino ist im Westen vor allem für seine Extreme bekannt: Auf der einen Seite der überbordende Wahnsinn von Takashi Miike bis Shion Sono, auf der anderen Seite …

Das aktuelle japanische Kino ist im Westen vor allem für seine Extreme bekannt: Auf der einen Seite der überbordende Wahnsinn von Takashi Miike bis Shion Sono, auf der anderen Seite die perfekt konstruierten, beseelten Schmuckstücke des Studio Ghibli. Mit seinem neuen Film 'Like Father, Like Son' schlägt der hierzulande noch eher als Geheimtipp gehandelte Regisseur Hirokazu Kore-eda nun einen Bogen zu einer älteren Form der japanischen Filmkunst: den bedächtigen Familiendramen des Kino-Großmeisters Yasujiro Ozu.

Von Anfang an legt der Regisseur in „Like Father, Like Son“ nämlich großen Wert auf sorgsame Konstruktion der filmischen Räume, ohne dabei jedoch in visuellen Kapriolen zu schwelgen. Die Bilder, meisterhaft eingefangen von Debüt-Kameramann Mikiya Takimoto, strahlen eine minimalistische Eleganz aus, funktionieren in perfekter Zusammenarbeit mit dem treffsicheren Set-Design. Das ist insofern wichtig, als „Like Father, Like Son“ eine klassische Zwei-Welten-Geschichte erzählt: Da ist einerseits das Ehepaar Ryoto und Midori, er erfolgreicher Geschäftsmann, sie eine scheinbar perfekte Hausfrau und Mutter, andererseits das chaotische Pärchen Yukari und Yudai, die sich und ihre drei Kinder mehr schlecht als recht mit einem kleinen Gemischtwarenladen über Wasser halten. Charakterisiert werden diese beiden sozialen Kosmen ohne viele Worte durch die jeweiligen Räume, die sie im Film einnehmen: das geometrische Luxusappartement hier, die mit Nippes gefüllte, enge Familienwohnung da. Die beiden Familien kommen miteinander in Berührung, als ein plötzlicher Telefonanruf ihre Welten kollidieren und verschwimmen lässt: Sie erfahren, dass ihre sechsjährigen Söhne bei der Geburt vertauscht wurden.

Viele andere Filme haben in diesem Thema bereits Nährboden für überkandidelte Komödien gefunden. Kore-eda geht einen anderen Weg: Er nähert sich dem Thema mit aller Ruhe, aber auch mit unerbittlicher Wachsamkeit für die psychologischen Abgründe, die sich zwangsläufig auftun. Gleich zu Anfang informiert der Anwalt des Krankenhauses die Elternpaare, dass sich in solchen Fällen beinahe 100 Prozent der Betroffenen für einen Austausch der Kinder entscheiden. Die ″Blutsverwandschaft″ sei schließlich stärker als bloße Sozialisation. Auch das Umfeld von Ryoto und Midori, denen der Film größtenteils folgt, rät ihnen dazu, den kleinen Keita gegen ihren „echten“ Sohn „umzutauschen“.

Nun entwickelt sich der Film vor allem zu einem Psychogramm des kühlen Managers Ryoto, bei dem die drastische Situation lang verborgene Konflikte zu Tage fördert. Seine erste Reaktion nach der Offenbarung seiner „falschen“ Vaterschaft ist von grausamer, sich selbsterfüllender Logik: „Das erklärt also alles!“ Schon zuvor hat Kore-eda subtil angedeutet, dass der karrieregeile Vater von der zärtlichen und eben kindlichen Art seines Sohns Keita enttäuscht ist. Ständig stellt er ihm Aufgaben, „Missionen“, die sein Erwachsenwerden beschleunigen sollen. Die perfide Möglichkeit, das Kind, das man selbst großgezogen hat, nach ganzen sechs Jahren und vollkommen „offiziell“ als etwas Fremdes zu erkennen, löst in dem unsicheren Ryoto eine Krise aus – sein kaltes, nervöses Verhalten stößt uns als Zuschauer ab, aber nur, weil es so authentisch, ja nachvollziehbar erscheint. Denn zu erkennen, dass sein Kind nicht wirklich sein Kind ist, heißt schließlich einen Teil des Selbst zu verlieren – ob die Blutsverwandschaft dabei aber der entscheidende Faktor ist, stellt Kore-eda deutlich in Frage.

Schließlich muss sich Ryoto den ungelösten Problemen mit seinem eigenen Vater stellen, um durch sein paradoxes, geschäftsmäßiges Verhalten nicht die Möglichkeit, ein Vater zu sein, für immer zu verlieren. Das läuft am Ende vielleicht ein bisschen zu glatt und zu rund ab, um nachhaltig zu überzeugen. Insgesamt aber ist „Like Father, Like Son“ ein mit großer Konzentration durchgespieltes Familienstück und ein handwerklich tadelloser Film, der an die klassischen Zeiten rigoroser kinematischer Raumkonstruktionen anschließt.

Phoenix

(D 2014, Regie: Christian Petzold)

Speak low when you speak, love
von Ulrich Kriest

I „Sie war in den Lagern und sie ist nicht mehr sich selbst; dieses Befinden – nicht sich selbst zu sein – wird von der Handlung des Films veräußerlicht. Die …

I

„Sie war in den Lagern und sie ist nicht mehr sich selbst; dieses Befinden – nicht sich selbst zu sein – wird von der Handlung des Films veräußerlicht. Die Metapher wirft ein grelles Licht auf das Befinden der Selbstfremdheit und führt die Augen über das tiefe Dunkel der Lager. (…) Ich fing damit an, dass ich kein richtiger Dokumentarist sei, und weil ich glaube, dass viele Dinge nur darstellbar sind, indem man sie veräußerlicht und weit von ihrem Platz verbringt.“

– Harun Farocki, Ein Rede über zwei Filme. In: Zelluloid 1988. –

II

Deutschland, Sommer 1945, ein Auto auf dem Weg nach Westen. Auf dem Beifahrersitz eine Frau mit bandagierten Kopf. Nelly, so heißt die Frau, hat Auschwitz überhaupt nur überlebt, weil man sie nach einem Kopfschuss für tot gehalten hat. Ihre Freundin Lene fährt, als sie an einem Kontrollpunkt anhalten müssen. Der amerikanische Soldat will das Gesicht sehen und als er das Gesicht sieht, erschrickt er und winkt das Auto unverzüglich durch. Im Krankenhaus soll Nellys Gesicht operativ wiederhergestellt werden. Nelly, so der Chirurg, habe die Wahl: Zarah Leander? Oder lieber die Söderbaum? Beide allerdings gerade etwas aus der Mode. Vielleicht doch lieber was Internationaleres? Aber Nelly will ihr altes Gesicht zurück, weil sie ihr altes Leben zurück will. Sie beharrt auf einem „Weiter“, wo „Stunde Null“ gehandelt wird. Doch dahin gibt es kein Zurück, selbst wenn sich das Gespenst Nelly sich auf die Suche nach ihrem Ehemann Johnny macht, von dem sie sich Antworten auf ihre Fragen verspricht. Als sich Nelly und Johnny schließlich im Nachtclub „Phoenix“ begegnen, erkennt er sie nicht. Sein Blick geht geradezu durch sie hindurch und macht sie ein weiteres Mal zum Gespenst. Bei genauerem Hinsehen erkennt Johnny jedoch dann eine gewisse Ähnlichkeit Nellys, die sich ihm gegenüber Esther nennt, mit der vermeidlich toten Ehefrau Nelly. Johnny fasst einen Plan: er wird versuchen, aus Esther Nelly soweit zu formen, dass es hinreicht, um an die Erbschaft zu kommen, die ihre ermordeten Familienmitglieder Nelly hinterlassen haben. Johnny braucht das Geld, um neu anzufangen, Esther bekäme einen Anteil. Eine Win-win-Situation! Nelly lässt sich auf den Plan ein – und wird so zu ihrer eigenen Doppelgängerin. Für den Zuschauer ist dieser Punkt der Erzählung ganz entscheidend: er muss bereit sein, sich auf diese forcierte Dialektik von Verkennen und Erkennen einzulassen, um die so intellektuelle wie spröde Konstruktion von „Phoenix“ zu goutieren.

III

Wie schon so oft, haben der Regisseur Christian Petzold und sein ständiger dramaturgischer Mitarbeiter, der kürzlich verstorbene Dokumentarist und Filmtheoretiker Harun Farocki, sich daran gemacht, ein einmal gefundenes Thema mit reichlich Material aus der Film- und Literaturgeschichte auszufüttern, bis das geschichtete Material zu re-sonieren und räsonnieren beginnt. Ausgangspunkt war wohl die psychologische Rache- und Kriminalgeschichte „Der Asche entstiegen“ von Hubert Montheilet, die Farocki Petzold bereits 1988 ans Herz legte. Hitchcocks „Vertigo“ liefert weitere Motive, angespielt wird auf Film noir-Klassiker wie Franjus „Augen ohne Gesicht“ oder Daves‘ „Dark Passage“, aber auch Peter Lorres „Der Verlorene“ und Fassbinders „Die Ehe der Maria Braun“ spielen hier hinein. Aber es geht hier nicht um Cinephilie, sondern eher um die Energien, die bestimmte bekannte Konstellationen („Vertigo“) in einem neuen Erzählzusammenhang produzieren. Präzision durch Differenz. Vor allem aber geht es um das Skandalon, dass »die Deutschen« nach der Befreiung vom Faschismus keine Bilder ihres eigenen Landes in der Manier des italienischen Neorealismus sehen wollten, sondern sich lieber eskapistisch in die Heimat- und Schlagerfilme flüchteten. Diese Fluchtbewegung ist gewissermaßen das Substrat von „Phoenix“, wo nur Nelly daran glaubt, sie könne in ihr altes Leben zurück und den Neuanfang verweigern. Ihre Freundin Lene, aus gutem Haus, hat die NS-Zeit in England und der Schweiz überlebt, arbeitet aktuell für die Jewish Agency und träumt von einem neuen Leben in Palästina. Sie leidet aber auch an ihrem Schuldgefühl, überlebt zu haben. Auch Johnny träumt von einem radikalen Neuanfang, braucht dafür allerdings als Startkapital das Erbe Nellys, die er verraten hat. Folglich ist er daran interessiert, das Modell „Nelly“, das er aus Esther baut, immer auf Distanz zu halten, während Nelly hier ihre Chance wittert, Überschuss zu produzieren und ihn an die alte Liebe zu erinnern. Christian Petzold hat dies verquere Liebesspiel, das „Phoenix“ zeigt, als „Tanz“ bezeichnet, wobei nicht ausgemacht ist, wer wann dabei führt: „Er versucht, die Vergegenwärtigung der Liebe zu verhindern, und versucht, sie wiederzustellen.“ In einer Schlüsselsequenz geht es darum, Nellys Rückkehr zu den alten Freunden zu inszenieren. Johnny hat alles im Griff, er weiß genau, wie die Begegnung am Bahnhof ablaufen wird. Er will Nelly so glamourös, wie die Freunde sie in Erinnerung haben. Just like yesterday! Er weiß, dass Kontinuität gewünscht wird und niemand sich für Nellys Geschichte interessieren wird. Nach dem, was mit ihrer Tätowierung am Unterarm zu tun hat, wird niemand fragen. Man muss die alten Dinge auch mal ruhen lassen. Es ist der Sommer 1945. Johnny wird Recht behalten – und trotzdem, vielleicht, leer ausgehen.

IV

So entwirft dieses bestechend kluge Kammerspiel einen dichten filmischen Raum, dem es nicht nur zu zeigen gelingt, auf welche Schrecken der klassische Film noir ästhetisch zu antworten versuchte (und dies zeitgenössisch nur verklausuliert konnte), sondern auch noch, warum es in der deutschen Filmgeschichte keine oder nur sehr wenige Films noir gegeben hat. Überdies leistet sich Petzold den Luxus, seine Tiefenbohrung in die deutsche Geschichte mit den Schauspielern in den Hauptrollen zu unternehmen, deren Liebesgeschichte der DDR-Film „Barbara“ erzählte, was die ganze Geschichte noch modellhafter und distanzierter erscheinen lässt, bis hin zu jenem Moment, als Nelly noch einmal diesen Song von Kurt Weill („Speak low“) anstimmt, mit dem sie vor ihrer Internierung reüssierte. Ein Moment, der Filmgeschichte schreibt! Der Preis, den Petzold für das Gelingen seines überaus anspruchsvollen und widerspenstigen Projekts zu zahlen bereit ist, ist ein Mangel an jener Lebendigkeit und augenzwinkerndem narrativen Überschuss, der beispielsweise Fassbinders Geschichts-Trilogie „Die Ehe der Maria Braun“, „Lola“ und „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ auszeichnete. Spröde und asketisch ist dieses konzentrierte Szenario. Konsequent, aber fast schon etwas streberhaft positioniert Petzold seine Geschichte unzweideutig mit der Widmung an Fritz Bauer, dem Generalstaatsanwalt, dessen Arbeit die Auschwitzprozesse möglich machte. Damit nur keine Missverständnisse aufkommen, in Zeiten, in denen Filme wie „Unsere Mütter, unsere Väter“ oder „Wolfskinder“ den Deutschen längst wohlfeil und bedenkenlos die Opferrolle zuspielen. Nein, bedenkenlos ist „Phoenix“ gerade nicht, aber soll man das den Machern zum Vorwurf machen?

Wir sind die Neuen

(D 2014, Regie: Ralf Westhoff)

Man muss tanzen!
von Wolfgang Nierlin

„Bin ich langsamer geworden oder alles um mich herum schneller?“, fragt sich die etwa 60-jährige, aber jung gebliebene Anne (Gisela Schneeberger) zu Beginn von Ralf Westhoffs Film „Wir sind die …

„Bin ich langsamer geworden oder alles um mich herum schneller?“, fragt sich die etwa 60-jährige, aber jung gebliebene Anne (Gisela Schneeberger) zu Beginn von Ralf Westhoffs Film „Wir sind die Neuen“ aus dem Off. Damit bringt die verarmte Biologin, der eben ihre noch relativ günstige Wohnung gekündigt wurde, ein Unbehagen am allgemein herrschenden Zeitgeist zum Ausdruck. Die resolute Anne, aus deren Perspektive die ebenso witzige wie nachdenkliche Generationenkomödie erzählt ist, setzt nämlich auf die Beharrungskräfte des Lebens und zehrt von den Erinnerungen an alte Zeiten. Doch jetzt ist sie gezwungen, aufzubrechen und nach einem neuen Domizil zu suchen. Weil die Mieten zu hoch sind, tut sie sich mit dem Sozialjuristen Johannes (Michael Wittenborn) und dem Alt-Revoluzzer Eddi (Heiner Lauterbach) zusammen, um ihre alte Wohngemeinschaft aus Studentenzeiten zu reaktivieren.

Doch die Zeiten haben sich geändert und dabei keine Rücksicht genommen auf die sympathischen Helden, die sich treu geblieben sind und dabei ihre Spleens und Marotten kultiviert und verfestigt haben. Während etwa Johannes, ein Jeanstyp mit stets fettigen Haaren, Frauen gegenüber zu schüchtern ist, hat Charmeur Eddi seine gescheiterte Beziehung hinter sich gelassen. Gemeinsam wollen sie nun an alte Zeiten und die Leichtigkeit vergangener Tage anknüpfen; doch der Blick zurück schürt auch frühere Konflikte und öffnet alte Wunden. „Wir wollten zurück ins Paradies“, sagt die sinnierende Anne einmal im Gefühl der Desillusionierung. „It’s never too late“, singen Steppenwolf; und der gemeinsame Disco-Besuch verdichtet sich zu der Überzeugung: „Man muss tanzen!“ Doch für die gemeinsame Gegenwart fehlt ihnen das Konzept. Und Ralf Westhoff versäumt es, das Leben und die biographischen Hintergründe seiner Protagonisten stofflich zu erhellen.

Stattdessen verlegt er sich auf die Darstellung eines konfrontativ ziemlich zugespitzten Generationenkonflikts, der von seinem versierten Darsteller-Ensemble in geistreich-pointierten Dialogen ausgefochten wird. Rücksichtslos direkt und schamlos gemein geht es da zu, wenn „die Neuen“ sich zum „Antrittsbesuch“ in der Studenten-WG einen Stock tiefer einstellen und dabei mit „seltsam erwachsenen“, ziemlich erfolgsorientierten und auf Karriere getrimmten Jungakademikern konfrontiert werden, die gleich mal anzeigen, dass sie ruhebedürftig sind, „keine Kapazitäten“ haben und „einfach nur Nachbarn“ sein wollen. „Wir waren in der Hölle“, konstatiert darauf Eddi; und es braucht nicht lange, bis sich im nachbarschaftlichen Ideologie- und Lärmkrieg die Fronten verhärtet haben.

Durch den schonungslosen Blick der Alten hindurch entlarvt Westhoff den rücksichtslosen Materialismus der Jungen, deren Charakterzeichnung allerdings etwas eng bleibt. Weil hinter der spießigen Fassade von Katharina (Claudia Eisinger), Barbara (Karoline Schuch) und Thorsten (Patrick Güldenberg) Ängste, Frustrationen und Neurosen lauern und bald auch ausbrechen, führt das im letzten Drittel des Films zu einer zunächst vorsichtigen, schließlich aber versöhnlichen Annäherung der so unterschiedlichen Generationen. Und während noch die Jungen von den Alten lernen, öffnet sich nach diesem „Weckruf“ auch für die Alten ein neues Fenster in die Zukunft.

20.000 Days on Earth

(GB 2014, Regie: Iain Forsyth, Jane Pollard)

Krumme Versionen seiner selbst
von Ilija Matusko

Erfahrungen und Eindrücke aus der Kindheit sind wie Schattenbilder, die in uns schlummern und ihre Geschichte erzählen wollen. Der australische Musiker, Autor, Poet und Schauspieler Nick Cave verhilft den Bildern …

Erfahrungen und Eindrücke aus der Kindheit sind wie Schattenbilder, die in uns schlummern und ihre Geschichte erzählen wollen. Der australische Musiker, Autor, Poet und Schauspieler Nick Cave verhilft den Bildern an die Oberfläche, gibt ihnen eine Stimme und macht daraus eine ganz eigene Geschichte – voller Fiktion und Mythos – und lässt die Welt damit größer, mächtiger und stürmischer erscheinen. Der nun in den Kinos laufende Dokumentarfilm „20.000 Days on Earth“ ist ein weiteres Puzzleteil in der Mythologisierung seiner Welt.

Dabei verfolgt „20.000 Days on Earth“ zunächst ein recht profanes Konzept: Ein Tag im Leben des Musikers, also 24 Stunden mit der Person hinter der Projektionsfläche Nick Cave, womöglich eine Auflösung bisheriger Geheimnisse um diesen eleganten Künstler im schwarzen Anzug. Doch wird schon in der ersten Szene – beim Aufstehen und Rasieren im Bad – schnell klar, worum es geht: Um eine fiktive Überzeichnung des realen Lebens. Der Monolog von Nick Cave wird als Erzählerstimme die Alltags-Ereignisse im Film immer wieder brechen, mit einer eigenen metaphorischen Ebene versorgen und so dem Bild, das man von Nick Cave hat, nur weitere Spekulationen und Geheimnisse hinzufügen. Das passt. Zum einen zu Nick Caves Werk, das immer auf der Suche nach der unausgesprochenen Ebene hinter den Dingen ist. Zum anderen passt es auch zum künstlerischen Zugang der Regisseure Iain Forsyth und Jane Pollard zum verhandelten Thema: Die Verortung einer Erzähl-Maschine im eigenen Erzählen.

Zu dieser Verortung gehören auch die „lebensweltlichen Randbedingungen“: Musizieren am Klavier, Tippen an der Schreibmaschine, Gespräche mit Warren Ellis (Bandmitglied bei „The Bad Seeds“), eine Rückschau auf vergangene Tage im Archiv oder auch das kontrastreiche Wetter in Brighton, Nick Caves Wahlheimat. Alles wird mit Reflexionen angereichert, auch die Entstehungsgeschichte der Songs, und so in die sakrale oder spirituelle Umdeutung der Dinge verwoben. Nick Cave erzählt, spinnt seinen visuellen Erzählfaden weiter und arbeitet doch mit jedem Wort an der Mythologisierung des Gesamtbildes. Und dieses ist fest in der Erfahrungswelt von Nick Cave verankert. Im Grunde, sagt Cave an einer Stelle, produziere er in seinen Geschichten nur krumme Versionen seiner selbst.

Wenn der Film nicht den mythologischen Raum über den Banalitäten einer Autofahrt oder eines Mittagessens – oder vielmehr den Raum darunter – aufspannen würde, könnte man die Trivialisierung wohl auch schwer ertragen. Wer will schon sehen, wie Rockgott Cave vom Himmel herabsteigt und eine Lieferpizza vor laufendem Fernseher isst – ohne narrative Verfremdung. Selbst in der intimen Situation mit einem Therapeuten, mit dem Cave im Film über seine Kindheits- und Familienerlebnisse spricht, wirkt jeder Satz wohlüberlegt und komponiert. Nicht weil die Regisseure dies unbedingt beabsichtigt hätten, nicht weil Cave vor laufender Kamera spricht und auch hier eine Performance liefern muss, sondern weil der Masterplan im Kopf von Nick Cave selbst spricht. Nick Caves Habitualisierung einer schreibenden, schöpferischen Existenz ist beeindruckend, bis in kleinste Körperbewegungen hat sie sich in seinen Körper eingeschrieben. Sie spricht aus ihm, zieht an ihm, lässt ihn auf der Bühne verwandeln.

Man beißt sich als Fan und Zuschauer im Laufe des Films womöglich bei einer Frage die Zähne aus: Hat sich dieser Mann diesen Masterplan von der Berufung zum Welterschaffen vor langer Zeit angeeignet – mit seiner Lust am Kulturgut, seinem Interesse für Literatur, Film und Musik? Oder hat er sich aufgrund seines Suchens nach dem Verborgenen in uns im Laufe der Zeit in diese Erzähl-Maschine verwandelt? In einer Szene erzählt Cave, dass in seinen erschaffenen Welten eine übergeordnete Macht, eine Art Gott existiert, „jemand, der Buch führt“, an den er im echten Leben nicht glauben kann. Cave interessiert aber nicht, ob man an so eine Kraft glaubt oder nicht. Sondern dass man nie wissen kann. Und damit greifen seine Existenz und seine Kunst auf so spannende und so undurchdringbare Weise ineinander.

„20.000 Days on Earth“ ist Dokumentarfilm, Fiktion, Konzertmitschnitt und Portrait eines Mannes, der jeden Strich seines Portraits selbst zeichnen möchte. Und jemandem, der auf so wunderbare Weise mit seinen Worten zeichnen kann, hört und sieht man gerne dabei zu.

Die Innere Zone

(D / CH 2014, Regie: Fosco Dubini)

Äußerungen des Inneren
von Dietrich Kuhlbrodt

Merkwürdig, sehr merkwürdig, dieser Film. Ansehen mochte ich ihn schon, aber er lässt mich ratlos zurück. Der Einstieg ist von hohem Aufmerksamkeitswert. 1969 die Kernschmelze eines Atomreaktors in der Schweiz, …

Merkwürdig, sehr merkwürdig, dieser Film. Ansehen mochte ich ihn schon, aber er lässt mich ratlos zurück. Der Einstieg ist von hohem Aufmerksamkeitswert. 1969 die Kernschmelze eines Atomreaktors in der Schweiz, Tschernobyl vergleichbar. Doch das Unglück verbarg sich in einem Stollen tief unter dem St. Gotthard. Schotten dicht, keine Radioaktivität nach draußen, Geheimhaltung bis heute, nein, bis 2023, denn anscheinend sind wir in einem Science Fiction Film. Also stimmt das Ganze nicht? Dann ist alles, was jetzt zu sehen sein wird, Tüterkram? Man wird ja wohl mal fragen dürfen. Antwort: Man darf nicht. Das Fragen wird einem ausgetrieben. Aber kucken darf man auf die Hauptdarstellerin (Jeannette Hain). Sie soll eine Psychologin darstellen, die draußen vorm Stolleneingang, im menschenleeren Tal, Menschen befragt, die am Klima leiden. Der Luft mangele es an Ozon. Folge seien Wahrnehmungsstörungen. Statt der Gegenwart nehme man Erinnerungen und Wünsche wahr. – Aha, wir sind schon in das Innere der Hauptdarstellerin gelangt, und um den geschmolzenen Reaktor geht’s überhaupt gar nicht.

Äußerlich ist das Gesicht der gepflegten Dame sehr einprägsam, Oberschicht Großbürgertum, würde ich sagen. Häufiger Kostümwechsel im leeren Tal, keinerlei Ausdruckswechsel auf dem Gesicht. Irgendwie eine Maske. Immerhin, jetzt hebt sie die Hand, um die Augen zu beschatten. Die Gebirgssonne scheint, ihr Gesicht ist fotoreif ausgeleuchtet, nix von Schatten auf dem Antlitz. Gefühlte Einstellungslänge: drei Minuten. Ich nehme an, da ich ja nichts fragen darf, dass Regisseur Fosco Dubini ('Thomas Pynchon: A Journey into the Mind', 2001) mit dieser Ausschau-Szene (und den vielen anderen, die folgen werden) die Abkehr von der Äußeren Zone demonstrieren will, und wenn nicht, dass er selbst schon in die Innerlichkeit eingekehrt ist.

Das soll jetzt kein Verriss sein. Ich selbst hab’s dann schließlich auch geschafft, in das fraglose Innere einzutauchen. Auch ein Kritiker muss ja mal loslassen können. Keine Frage, ich will es doch auch. Tja, tief im Stollen ein verrotteter Autozug der SBB. Einfach so. Oder ein knallrotes Kleid. Oder eine großbürgerliche Villa in sattem Grün. Oder ein Licht am Ende des Tunnels. Der Verleih informiert dazu, dass Drehort der U-Boot-Stollen auf der Krim gewesen sei. Im Film kein Wort davon. Wir kommen wortlos aus der Inneren Zone raus. Eventuell ist die Therapie geglückt. Beim Regisseur, bei Frau Hain, bei mir.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 8/2014

Volker Koepp – Landschaften und Porträts. 1970-1987

(DDR 1979, Regie: Volker Koepp)

Segellos in der Strömung
von Wolfgang Nierlin

Meistens eröffnen kurze, prägnante Stichworte zu Geographie und Geschichte der gezeigten Landschaften oder auch persönliche Statements der portraitierten Menschen die kurzen und mittellangen Filme Volker Koepps. Ganz selbstverständlich und in …

Meistens eröffnen kurze, prägnante Stichworte zu Geographie und Geschichte der gezeigten Landschaften oder auch persönliche Statements der portraitierten Menschen die kurzen und mittellangen Filme Volker Koepps. Ganz selbstverständlich und in lakonischer Manier setzen sie beim Zuschauer ein Vorwissen voraus oder aber provozieren eine Nachbearbeitung, ein Nachschlagen und Innehalten. Das wirkt ökonomisch verdichtet und sehr rhythmisch, einerseits beschleunigt und doch auch konzentriert. Für die zwischen 1970 und 1987 für das DEFA-Dokumentarfilmstudio entstandenen Arbeiten, die anlässlich Koepps 70. Geburtstages jetzt als Doppel-DVD unter dem Titel „Landschaften und Porträts“ erschienen sind, ist der Wechsel zwischen Ruhe und Bewegung konstitutiv. Die mannigfaltigen Beziehungen zwischen erinnerter Geschichte und erlebter Gegenwart, zwischen Mensch und Natur spiegeln sich darin. „Und immer greift die alte Zeit in die neue“, heißt es in dichterischer Anmutung, während die meist von Christian Lehmann geführte Kamera mit Schwenks und Travellings die Gegend erfasst. Ganz organisch, einem mehr poetischen Organisationsprinzip folgend, verbindet Koepp Bilder und Worte.

Dabei ist sein Blick nach Osten gerichtet, auf Gebiete diesseits und jenseits alter und neuer Grenzen. Der renommierte Filmkritiker Peter W. Jansen beschreibt das eingangs seines „Ostwärts“ betitelten Essays, der die Veröffentlichung ergänzt und bereichert, folgendermaßen: Koepps „Revier ist das Baltische Meer, sein Fluss die Gilge und seine Insel Rügen, seine Alpen sind die sanften Bodenwellen der Uckermark und die Dünen der Kurischen Nehrung, seine Heimat ist Vineta.“ In den insgesamt vierzehn, unter die Überschriften „Landschaften“ und „Porträts“ aufgeteilten Filmen reist der Filmemacher mit seinem Team unter anderem nach Memleben im Unstruttal, ins mecklenburgische Bad Doberau oder auch, den Spuren des Dichters Johannes Bobrowski folgend, nach „Sarmatien“. Über die Vorbereitung seiner vier Landschaftsfilme „Das weite Feld“, „Hütes-Film“, „Am Fluss“ und „In Rheinsberg“ sagt Volker Koepp in einem Interview, das ebenfalls im beigefügten Booklet abgedruckt ist: „Ich nahm die Landkarte, machte einen Zirkelschlag und drehte im Oderbruch, in einem Dorf bei Gransee, dann südlich von Berlin, in der Vorderröhn, im südlichen Thüringen und in Rheinsberg.“

Dabei sucht er immer wieder die Verbindung zwischen den Menschen und den sie umgebenden Landschaften, deren wechselseitige Veränderungen tief in die Geschichte eingegraben sind. Koepp folgt aber auch Erinnerungs- und Lebensspuren, die sich den Gesichtern der Portraitierten eingeprägt haben und in ihrer Arbeit Ausdruck finden. Immer wieder sehen wir deshalb Menschen auf der Landwirtschaft, im Bergwerk oder auch in einer Schweißerei bei der Arbeit, die sich unter den Bedingungen des Sozialismus und der Technisierung verändert hat. Zwischen Zeitgeist und Tradition, kulturellem Wandel und Heimatverbundenheit suchen die Menschen nach Orientierung und zeigen sich dabei erstaunlich flexibel; auch dort, wo nicht alles zum Besten steht und Verwerfungen und Verluste überwiegen. „Wie soll der Mensch leben?“, fragt Koepp einmal in seiner unnachahmlichen Art jenen Schäfer aus dem Unstruttal, der sich in besonderer Weise mit der Natur verbunden weiß. Vielleicht „segellos in der Strömung“, wie es in einem zitierten Vers Bobrowskis heißt, zu dem wiederum J. S. Bachs Orchestersuite „Air“ erklingt.

Als Gegenentwurf zu dieser Sicht erscheint vor allem in der „Porträt“-Reihe der sozialistische, kämpferische Mensch, der im Kurzfilm „Junge Leute“ (1970) nach seinen „täglichen Taten“ gefragt wird. „Nach vorne denken, ist Pflicht“, heißt es dazu unverhohlen propagandistisch. Oder auch: „Das Erforderliche tun und etwas darüber hinaus.“ „Ideologische Unklarheit“ und eine „laxe Einstellung zum Volkseigentum“, so der Vorwurf an die Mietschuldner im entsprechenden „Belehrungsfilm“, „passen“ demgegenüber „nicht in unsere Zeit“. Koepp lässt hier vor allem die Ankläger und „Aufklärer“ sprechen, dokumentiert sachlich und gewährt damit einen Einblick ins politische System der DDR. Bobrowskis Worte „Ich bin ein Mann, der seine Kinder aufzieht für eine Zeit ohne Angst“ aus dem Film „Grüße aus Sarmatien“ (1972/73) wirken demgegenüber geradezu als Gegengift. Die Spannungen zwischen Politik, Leben und Arbeit setzen sich schließlich fort in den Porträtfilmen „Tag für Tag“ (1979) über die Schweißerin Karin Reier und in „Haus und Hof“ (1980), in dessen Mittelpunkt die Agrarwissenschaftlerin Isolde Sperling und ihre beruflichen Konflikte stehen. Im Hinblick auf das Ringen um die „wahre Kunst“ wird dieser Themenkomplex schließlich erweitert in den Künstlerportraits, die dem marxistischen Filmemacher Slátan Dudow sowie dem Dichter Erich Weinert gewidmet sind, der sich selbst einmal als „roter Feuerwehrmann“ bezeichnet hat.

When Animals Dream

(DK 2014, Regie: Jonas Alexander Arnby)

Das Fremde in mir
von Carsten Happe

Sonderlich hübsch ist sie nicht, zumindest nicht nach den gängigen Next-Topmodel-Kriterien, eher spröde und verschlossen dazu, eigentlich ganz passend für den kleinen, verschlafenen, manchmal unwirtlichen dänischen Küstenort, in dem sie …

Sonderlich hübsch ist sie nicht, zumindest nicht nach den gängigen Next-Topmodel-Kriterien, eher spröde und verschlossen dazu, eigentlich ganz passend für den kleinen, verschlafenen, manchmal unwirtlichen dänischen Küstenort, in dem sie mit ihren Eltern lebt, ihrer Mutter im Rollstuhl und ihrem Vater, der irgendwie den Anschluss verloren hat. Und doch ist Marie eine Außenseiterin, wie sie im (Dreh-)Buch steht, uncooler als ihre gehässigen Klassenkameradinnen, ausgeschlossen von den Männerbünden in der Fischfabrik, in der sie neuerdings jobbt. Sie weiß genau, dass es mit diesem Status Quo nicht mehr lange weitergehen kann, sie spürt bereits die Veränderungen, die sich anbahnen, sich gewaltsam Bahn brechen in ihrem Leben und in ihrem Körper, sie schreckt davor zurück und kann sie doch keineswegs aufhalten, sie sind ihre Bestimmung, wenigstens.

Einzig in ihrem Kollegen Daniel findet sie einen Vertrauten, zumal er nicht minder fasziniert ist von ihr, ihrem wilden, ungestümen Wesen, egal wohin die Liaison sie beide führt, gegen wen sie sie aufbringt, was sie in ihrer Zerstörungswut mit sich in den Abgrund reißt, schließlich ist Marie ein Werwolf, der jüngste in einer langen Familientradition. Und das kontrollierte, unscheinbare Leben schon bald nur mehr ein Schatten der Vergangenheit.

Die offensichtlichen Pubertäts-Metaphern der forcierten Körper-Verwandlung rücken „When Animals Dream“ zunächst in die Nähe von „Carrie“ und ähnlicher gewaltsamer Coming-of-Age-Prozesse. Der Horror des Fremden im eigenen, erblühenden Körper wird zudem noch verstärkt, gespiegelt und limitiert durch den Verfall der vermeintlich engsten Vertrauten, Maries Mutter, und der zunehmenden Hilflosigkeit ihres Vaters. Aber Regiedebütant Jonas Alexander Arnby ist keineswegs an einem grellen Effektspektakel interessiert oder einer Bloßstellung seiner Protagonistin, stattdessen durchzieht eine wohlwollende Empathie die vielerorts sattsam bekannte Geschichte, eine bewusste Nähe zu seiner, ja, Heldin, die gegen Ignoranz und dumpfe Intoleranz aufbegehrt. Dies wäre an politischer Agenda allerdings das höchste der Gefühle, das eine entsprechende Lesart offenbart.

Denn vordergründig ist „When Animals Dream“ ein lupenreiner, ziemlich geradliniger Genrefilm, der seine Hauptattraktion aus der Inszenierung einer atmosphärischen Dichte zieht, die ihn bisweilen in die Nähe des artverwandten schwedischen Vampirhorrors von „Let The Right One In“ rückt, jedoch ohne jemals dessen existenzialistische Tiefe und Beklemmung zu erreichen. Dafür spult Arnby manche Stereotypen des Genres zu generisch und lieblos herunter, anstatt sich durchgängig den Eigensinn zu bewahren, den seine Protagonistin so eindrucksvoll aufrechterhält. Umso erlesener sind dagegen die Bildkompositionen des Kameramanns Niels Thastum, der in jeder Situation stimmige Bilder für die Wildheit und Zerrissenheit Maries und auch für ihre Verlorenheit findet. Newcomerin Sonia Suhl bewältigt ihre anspruchsvolle Rolle mit einer ebensolchen Souveränität und einem Selbstbewusstsein, das sich in der Haltung des Films an sich widerspiegelt: aufrecht und unbeugsam, auch ein wenig schroff, aber nie leidenschaftslos.

Für einen Low-Budget-Erstling also, für einen Werwolf-Thriller aus einem Land mit einer langen Filmtradition im sozialen Realismus – die man auch hier deutlich spürt – ist „When Animals Dream“ letztlich ein durchaus beachtlicher Beitrag, der sich an den Referenzwerken des Genres zwar längst nicht messen kann und es vermutlich auch gar nicht will, aber in seiner europäischen Arthouse-Nische seinen Platz finden kann und vor allem als Talentprobe eines vielversprechenden Regieneulings für die zukünftigen Projekte einiges erwarten lässt.

Sto Spiti – At Home

(GR 2014, Regie: Athanasios Karanikolas)

Erst kommt der Reichtum, dann die Moral
von Ilija Matusko

Hoch oben über dem Meer, in einer modernen Villa am Hang, mit viel Glas und Beton, scheint das Leben leicht und unbeschwert, losgelöst von gesellschaftlichen Problemen. Ein atemberaubender Blick in …

Hoch oben über dem Meer, in einer modernen Villa am Hang, mit viel Glas und Beton, scheint das Leben leicht und unbeschwert, losgelöst von gesellschaftlichen Problemen. Ein atemberaubender Blick in die Ferne, die Sonne glitzert auf dem Wasser, die rauschenden Sträucher imitieren das Meer. Und doch lauert da unten eine existentielle Bedrohung, die langsam den Berg hinaufkriecht.

Der griechische Regisseur Athanasios Karanikolas erzählt in seinem Film „Sto spiti“ (Forumsbeitrag bei der diesjährigen Berlinale) von sozialen Zerreißproben in Zeiten des wirtschaftlichen Verfalls. Dabei will Karanikolas die Erosion des menschlichen Umgangs dort sichtbar machen, wo die Folgen der Wirtschaftskrise vermeintlich am wenigsten zu spüren sind: in der griechischen Oberschicht. Diese hat sich im Falle von „Sto spiti“ in eine Traumvorstellung von Sicherheit und Wohlstand zurückgezogen und lebt in einem modernen Kubus hoch über der Ägäis – weit weg vom städtischen Chaos. Doch der Wind will an dieser erhöhten Stelle einfach nicht zur Ruhe kommen.

Dass der Rückzug der Gutsituierten eher ein psychologischer ist, und Betonwände keine Sicherheit bieten, beweist die Verfassung des Hausherren (Alexandros Logothetis) selbst: Aufgrund von Sorgen rund um die willkürliche Entlassung eines Kollegen bekommt der gute Mann einen Hautausschlag, die Unsicherheit – ob nun berechtigt oder nicht spielt keine Rolle – kriecht also langsam an die Oberfläche. Dabei geht es der Familie ziemlich gut. Zwar muss die klavierspielende Tochter bald auf das eigene Pferd verzichten, doch von existentiellen Sorgen kann (noch) keine Rede sein. Wären da nicht die unerfreulichen Nöte der Anderen, der Angestellten Nadja (Maria Kallimani) zum Beispiel.

Nadja ist eine Frau mittleren Alters und arbeitet bei der wohlhabenden Familie als Haushälterin. Sie kauft ein, putzt, bereitet das Essen zu und kümmert sich um die Tochter. Zur ihr hat sie ein besonderes Verhältnis, vermutlich weil ihre eigene Tochter die Sonne in Griechenland gegen einen Studienplatz im verregneten Deutschland getauscht hat. Obwohl Nadja schon seit vielen Jahren bei der Familie wohnt und Familienkrisen begleitet hat, geht ihre Beziehung zur Familie nicht über ein Arbeitsverhältnis hinaus. „Wir sind wie Freunde, wie Schwestern“, sagt die Ehefrau (Marisha Triantafyllidou) im Film und verweist damit auf das Gegenteil. Nadja ist keine Freundin und kein Teil der Familie. Auch wenn es sich manchmal so anfühlt. Dass diese „Wir“-Beziehung verhandelbar ist, wird spätestens dann deutlich, als bei Nadja eine schwere Nervenkrankheit diagnostiziert wird. Nadja hat keine Krankenversicherung. Daher bleibt in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit aus Perspektive des Familienvaters nur die Entlassung. Zwar hat die Ehefrau damit kurzzeitig ein moralisches Problem, doch fügt sie sich schnell der Ratio ihres Mannes: Wir haben geholfen so gut es geht, jetzt müssen wir uns selbst helfen, bevor wir selbst noch …

Eingebettet ist diese Handlung in klare, ruhige Bilder, die sich in jeder Einstellung der Bedeutung von Räumen und ihrer machtkonstitutiven Wirkung bewusst sind. Fassaden, Wände, Eingänge – sie strukturieren die grundlegenden sozialen Verhältnisse – und bilden sie ab. Zu den klaren räumlichen Setzungen und Linien passt auch die beinahe starr wirkende Inszenierung, ein Verweis auf die begrenzten Möglichkeiten eines Menschen, innerhalb von Grenzen zu reagieren. Gleichzeitig hegen die Bilder den Verdacht, dass solche Grenzen zwar vorgegeben, aber von Menschen gemacht sind. Die Villa ragt mit ihrer wuchtigen Glasfront nicht zufällig ein Stück weit über den Hang hinaus.

Dem Film zu Grunde liegt die Erfahrung des Regisseurs, dass griechische Familien Hausangestellte ausbeuten und ihnen die Illusion geben, zur Familie zu gehören. Wie lange, entscheiden sie. Mit der ökonomischen Überlegenheit beanspruchen sie die ethische Deutungshoheit für sich. Genau damit hat Karanikolas ein Problem. Er thematisiert eine Zeit, in der Würde, Vergebung und Anstand ihren sozialen Nährboden verlieren und menschliche Tugenden umdekliniert werden. Vergebung wird zur Dummheit, nicht auf das eigene Recht zu bestehen. Anstand wird zu Naivität, die sich im Spiel um Ressourcen nicht auszahlt. Die heilsame Lösung: Er schafft in Nadja eine Figur, die sich diesem Spiel widersetzt. Die trotz der erfahrenen Ungerechtigkeit keinen Ausgleich einfordert, die nicht auf ihr Recht pocht. Und so ihre Würde behält. Die gewollte Tragik der Geschichte liegt dann darin, dass diese Erhabenheit leider niemand mitbekommt. Fast niemand. Denn der Zuschauer ist am Ende der einzige Zeuge der moralischen Reinheit der Figur, mit der man in der realen Welt wohl keine Chance mehr hat.

Man fragt sich dann am Ende aber doch, welche moralische Reinheit hier dramaturgisch destilliert wird, in welchen stilisierten Lebensbezügen hier Fragen des Miteinanders abgehandelt werden. Was wäre, wenn die Familie eben doch ein moralisches Problem mit der Entlassung hätte? Oder wenn die Angestellte doch in Erwägung zieht, auf ihr Recht zu pochen? Das wären die interessanteren Fragen. Fragen, die der Film erst gar nicht aufwirft, weil das Problem sonst zu komplex und eine einfache Lösung unmöglich wäre.

Wenn menschlicher Umgang und Fürsorge erodieren – durch welche gesellschaftlichen Entwicklungen auch immer – so gibt es in aller Regel zwei soziale Orte, an denen von diesen Krisen besonders plausibel erzählt werden kann: Ganz unten und ganz oben. So wie der Lehrsatz „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ schon in vielen Krisenszenarien den Rückfall der Bedürftigen in die Unmenschlichkeit erklären konnte, so ist uns dessen soziologisches Spiegelbild ebenso geläufig. Ganz oben geht es beim Ausbruch von Konflikten genauso animalisch zu. Dass zwischen Glasfassaden, Designermöbeln und Massivbetonwänden nur die kalte ökonomische Verfügungsgewalt über Menschen lauert, die sich um Mitmenschen nicht schert, scheint nicht nur wenig überraschend, sondern sogar einen entlastenden Zweck zu erfüllen. Man selbst hätte sich natürlich ganz anders verhalten. (Und als Nadja hätten wir natürlich genauso gehandelt.) Es ist eine alte bürgerliche Idee, sich der eigenen moralischen Überlegenheit gegenüber den Wohlhabenden zu vergewissern. Man hat’s ja schon immer geahnt: Reiche haben keine Moral.

I Origins – Im Auge des Ursprungs

(USA 2014, Regie: Mike Cahill)

Augenschmaus
von Carsten Happe

Deine blauen Augen machen mich so sentimental. – Die Augen sind der Spiegel der Seele. – Sogar das Schweigen ist sinnvoll, wenn die Augen sprechen. – Die Menschheits- und Kulturgeschichte …

Deine blauen Augen machen mich so sentimental. – Die Augen sind der Spiegel der Seele. – Sogar das Schweigen ist sinnvoll, wenn die Augen sprechen. – Die Menschheits- und Kulturgeschichte ist voll von Analogien, Metaphern und hübschen Bildern über unser aller Sehorgan zwischen Poesiealbumsprüchen und philosophischen Einlassungen, die diese kleine Auswahl mit Annette Humpe, Leonardo da Vinci und Albert Camus sicherlich ins Unendliche verlängern ließen. Ian Gray, Student der Molekularbiologie, würde sie wohl allesamt unterschreiben, denn auch wenn er sich streng wissenschaftlich auf die Erforschung der Evolutionsgeschichte des menschlichen Auges spezialisiert hat, lässt er die Tür zur spirituellen Welt stets einen kleinen Spalt offen stehen. Kein Wunder, hat er sich doch auf einer Kostümparty unsterblich in eine Frau verliebt, von der er hinter ihrer Maske nur ihre faszinierenden Augen gesehen hat. Und dass er sie nach ihrem stürmischen Aufbruch anderntags wiedertrifft, nach einer Reihe verblüffender Zufälle, die man einfach glauben muss, ist offensichtlich seine Bestimmung – selbst diesem unwissenschaftlichen Schluss würde der Doktorand vorbehaltlos zustimmen.

Im Spannungsfeld zwischen Wissenschafts- und spiritueller Welt, zwischen Thesenfilm und Love Story hat Regisseur und Autor Mike Cahill auch seinen zweiten Spielfilm „I Origins“ angelegt, nachdem ihm mit der Science-Fiction-Parabel „Another Earth“ bereits ein ähnlicher Spagat auf famose Weise geglückt war. Und einmal mehr beweist er, dass ein mikroskopisch kleines Budget einen Film keineswegs limitieren muss, wenn die Ideen, die ihm zugrunde liegen und sich auf der Leinwand in betörende Gedankenspiele visualisieren, umso größer sind – so groß, dass sie eine zweite Erde einschließen oder die Grenzen der Wissenschaft sprengen.

Sieben Jahre nach der Begegnung mit Sofi, deren Augen ihn dermaßen gefangen nahmen, ist Dr. Ian Gray gemeinsam mit seiner Laborkollegin Karen (Brit Marling, Cahills Co-Autorin bei „Another Earth“) einer Entdeckung auf der Spur, die sowohl das Bild der Wissenschaft wie auch die spirituelle Welt in ihren Grundfesten erschüttern könnte. Die weitreichenden Implikationen hier nur anzuteasern und damit letztlich zu spoilern, würde „I Origins“ einiges an seiner Sogkraft entziehen, daher nur soviel: Auch wenn sich der Film in wissenschaftlicher Hinsicht so manches Mal auf dünnes Eis begibt und dabei die Grenze zur Esoterik haarscharf schrammt, sind seine Thesen und Absichten, seine Schlussfolgerungen und Auflösungen doch so zwingend aufgebaut, dass man ihm alles glauben möchte, so sehr greifen die Überwältigungsstrategien des Kinos einmal mehr bis ins kleinste Zahnrädchen der ausgefeilten Dramaturgie ineinander. Trotz der zunächst unterkühlten Anmutung – Ein Film über Molekularbiologen? Laborkittel als vorherrschendes Kostümdesign? – ist „I Origins“ insbesondere durch seine Liebesgeschichte, die sich auf wundersame Weise äußerst harmonisch mit den übrigen Storyebenen verschränkt, emotional enorm aufwühlend und ebenso mitreißend wie klug.

Umso bemerkenswerter ist allein, dass sich Mike Cahill mit gerade einmal zwei Filmen eine eigene, unverkennbare Handschrift zugelegt hat, sowohl inhaltlich als auch formal, mit seinem down-and-dirty-Look und der Handkamera, die zunächst in krassem Widerspruch zu den großen Ideen zwischen Science-Fact und -Fiction zu stehen scheinen, aber diese vor allem auch erden und aus dem Elfenbeinturm eines überbordenden Production Design oder schwindelerregender Special Effects auf den Boden der Realität zurückholen. Zurück zu den Menschen, die in dieser Welt leben (oder einer anderen), und zu ihren komplexen und faszinierenden Beziehungsgeflechten, die dank „I Origins“ noch ein wenig komplexer und faszinierender geworden sind.

Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste

(D 2013, Regie: Isabell Suba)

Neues vom Nachwux
von Ulrich Kriest

Die nicht mehr ganz junge Filmemacherin Isabell Suba wurde mit ihrem Kurzfilm „Chica XX Mujer“ 2012 nach Cannes eingeladen. Gemeinsam mit ihrem Produzenten David Wendlandt besucht sie das Festival, um …

Die nicht mehr ganz junge Filmemacherin Isabell Suba wurde mit ihrem Kurzfilm „Chica XX Mujer“ 2012 nach Cannes eingeladen. Gemeinsam mit ihrem Produzenten David Wendlandt besucht sie das Festival, um dort zu netzwerken und nach Möglichkeit ein neues Filmprojekt, wie man so sagt, zu pitchen. Leider steht der gemeinsame Ausflug auf das glamouröse Festival an der Cote d´Azur von Anfang an unter keinem guten Stern. Das Wetter ist schlecht, das Hotel ist überbucht, die Sache mit den Gästelisten und Einladungen funktioniert nicht so recht – und immer wieder werden wichtige Termine mit deutschen Provinz-Filmkritikerinnen verpasst, weil das Team Regisseurin/Produzent sich gewissermaßen permanent selbst torpediert.

Schon die Anreise nach Cannes ist ein einziges Missverständnis, aber schnell stellt sich heraus, dass es den beiden Protagonisten an einer gesunden Portion Professionalität mangelt. So hat es beispielsweise Wendlandt versäumt, das Treatment von Subas neuem Projekt zu lesen. Was sich natürlich als dumm herausstellt, wenn man Dritte dafür begeistern will. Aber vielleicht war Wendlandt auch nur professionell schlau, denn als Suba der Arte-Redakteurin Barbara Häbe von ihrem Projekt erzählen soll, erweist sich das Ganze als halbgarer, aber umso prätentiöserer Quatsch. Gäbe es nicht die Vorführung von „Chica XX Mujer“, könnte man „Männer zeigen Filme und Frauen ihre Brüste“ glatt für eine boshafte Satire auf die Selbstermächtigung zweier Talentloser erachten, die „irgendwas mit Film“ machen wollen und nun mit Flausen im Kopf orientierungs- und einfallslos an den Rändern eines bedeutenden Filmfestivals herumstromern.

Auf einer Filmstudentenparty bringt es jemand auf den Punkt: „Eine Hummel dürfte eigentlich nicht fliegen können. Aber sie weiß das nicht und deshalb macht sie es trotzdem!“ Viel wichtiger als das Filmemachen scheinen den beiden Protagonisten ohnehin Fragen der sexuellen Orientierung. Während Suba ihr Lesbisch-sein sehr offensiv nach außen kehrt, begegnet Macho Wendlandt diesem Sachverhalt mit einer derart stumpfen Ignoranz, die man vielleicht in den 1950er ansiedeln würde, die aber in Verbindung mit einem jungen, großflächig tätowierten Filmproduzenten des Jahres 2012 wirklich nur noch als Mittel zu Screwball-Dialogen mit ganz muffigen Pointen taugt („Dose auf Dose“). Auch komisch gemeinte Szenen, wenn beide Protagonisten am Pool konkurrierend mit einem It-Girl flirten und sich dabei verstohlen bis offen brüskiert beobachten, laufen letztlich ins Leere, weil beide Figuren so unsympathisch und verbiestert sind.

So richtig interessant wird es eigentlich erst ganz am Schluss, wenn der Film unvermittelt lakonisch mitteilt, dass die Filmemacherin Isabell Suba im Film von der Schauspielerin Anne Haug gespielt wurde, während der Filmproduzent David Wendlandt der „richtige“ Filmproduzent Matthias Weidenhöfer war und sich Suba unter einer falschen Identität einer Berichterstatterin aufs Festival „geschlichen“ hat, um dort in Guerilla-Manier an fünf Tagen einen Film zu drehen, bei dem nie ganz klar ist, was gespielt, was improvisiert und was dokumentarisch ist.

„Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste“ ist also eine leicht schillernde Mockumentary über das Filmemachen, das Filme feiern und das von Filmen träumen, in der bestimmte Rollen von Schauspielern übernommen wurden, während andere Figuren wie die bereits erwähnte Arte-Redakteurin sich selbst spielen. Der Filmtitel ist übrigens eine brandaktuelle Anspielung darauf, dass im Wettbewerb von Cannes selten Filme von Regisseurinnen zu sehen sind. Hey, hey! Auf diesen „Skandal“ macht Suba/Haug auch nachdrücklich aufmerksam, will auf dem Ticket allerdings selbst nicht reisen, weil sie Anerkennung als Filmemacherin und nicht als Quotenfrau sucht. Bei Licht betrachtet hat Isabell Suba also den Erfolg ihres ersten Filmes dazu genutzt, sich in ihrem zweiten Film über die Kultur des „Dabeisein ist alles“ lustig zu machen – und zwar ausgerechnet in Cannes. Man wird sehen, ob die Branche über hinreichend Selbstironie verfügt, um bei diesem überdrehten Spaß mitzulachen.

Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit

(GB / I 2013, Regie: Uberto Pasolini)

Rest in peace
von Wolfgang Nierlin

Die Abwesenheit von Menschen, die einsam gestorben sind, weil sie allein gelebt haben, hat sich den Dingen eingeprägt. In ihren teils verwahrlosten, teils mit nur wenigen Habseligkeiten bestückten Wohnungen fällt …

Die Abwesenheit von Menschen, die einsam gestorben sind, weil sie allein gelebt haben, hat sich den Dingen eingeprägt. In ihren teils verwahrlosten, teils mit nur wenigen Habseligkeiten bestückten Wohnungen fällt der Blick immer wieder auf Spuren, die eine nur kurz zurückliegende Anwesenheit behaupten: eine Kuhle im Kopfkissen, Tabletten auf dem Nachttisch, ein Brief. Mr. May (Eddie Marsan), „Funeral Officer“ in Diensten der Londoner Stadtverwaltung, kümmert sich um die Nachlässe dieser Verstorbenen und versucht, Angehörige ausfindig zu machen. Der akribisch genau und sehr gewissenhaft arbeitende Protagonist aus Uberto Pasolinis preisgekröntem Film „Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“ („Still Life') ist gewissermaßen ein melancholischer Spurenleser und Rechercheur, der in seinen Bemühungen leider meist enttäuscht wird. Oft ist er bei den Trauerfeiern der einzige Gast, der dann auch noch dem Vortrag seiner von ihm selbst verfassten Trauerrede zuhört.

Denn Mr. May nimmt im Gegensatz zu seiner Umwelt Anteil am Schicksal dieser hoffnungslos einsam Verstorbenen und versucht dabei, ihre jeweilige Persönlichkeit zu imaginieren. Wenn er in seinem dunklen Kellerbüro wieder einmal eine Akte schließt, bewahrt er für sich selbst Fotografien dieser Menschen auf, die er nach Feierabend in ein Album einklebt, als zeigten sie Mitglieder einer weit verzweigten Familie. Denn auch Mr. May ist ein Einzelgänger, der in einer tristen, anonymen Sozialsiedlung lebt und sich schlecht ernährt. Das wird ihm umso schmerzlicher bewusst, als er eines Tages zu einem Todesfall in seiner unmittelbaren Nachbarschaft gerufen wird: Billy Stoke ist zugleich Mr. Mays letzter „Fall“. Während der nachdenkliche und steife Verwaltungsangestellte den Spuren des Eigenbrötlers und Draufgänger, Frauenlieblings und Trinkers folgt, entdeckt er selbst den Geschmack am Leben.

„Ich wollte keinen Film über den Tod machen, sondern einen über das Leben“, sagt Uberto Pasolini, der nach diversen Produzententätigkeiten seine zweite Regiearbeit in ruhigen, statischen Bildern inszeniert hat. In ihnen nisten Einsamkeit und Anonymität eines grauen, tristen Alltags, der sich freudlos in einem fort wiederholt. Lakonisch und stimmungsvoll zeigt Uberto Pasolini diesen nur scheinbar spannungslosen Trott seines Helden, der fast unmerklich Kontur, Farbe und Leben gewinnt; bis sich schließlich in einem ergreifenden Schlussbild die Toten versammeln, um Mr. May die letzte Ehre zu erweisen.

Madame Mallory und der Duft von Curry

(USA 2014, Regie: Lasse Hallström)

Variationen vom Leipziger Allerlei mit Garam Marsala
von Ulrich Kriest

Liebe geht durch den Magen und Kochen ist stets eine Erinnerung. Das gilt für den jungen Hassan aus Mumbai umso mehr, als sein Talent für Garzeiten und Gewürze früh von …

Liebe geht durch den Magen und Kochen ist stets eine Erinnerung. Das gilt für den jungen Hassan aus Mumbai umso mehr, als sein Talent für Garzeiten und Gewürze früh von der eigenen Mutter entdeckt und gefördert wurde, die dann allerdings auf tragische Weise Opfer der Politik wurde. Die Hinterbliebenen machen sich auf nach Europa, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen. Im Gepäck des klapprigen Kleinbusses nur sehr viel Optimismus und eine Kiste mit Mutters geheimnisvollen Gewürzmischungen.

Ausgerechnet dort, wo Südfrankreich besonders pittoresk ist, macht das Vehikel schlapp, was das Familienoberhaupt, der dickköpfige Papa, gleich für einen Wink aus dem Jenseits nimmt. Hier wird man ein Restaurant eröffnen! Dumm nur, dass auf der gegenüberliegenden Straßenseite das Sterne-Restaurant „Le Saule Pleureur“ liegt, das von der gestrengen, traditionsbewussten und auch etwas blasierten Madame Mallory geleitet wird. Sie legt keinen Wert auf ein kunterbuntes indisches Restaurant, weil es die falsche Kundschaft in die Gegend lockt. Man bleibt lieber unter sich.

Es beginnt ein stark komödiantisch gezeichneter Kampf der Kulturen, unterfüttert von romantischen Momenten, denn Hassan verliebt sich sogleich in die ehrgeizige und bildhübsche Sous-Chefin von Madame. Amüsant, wenn das aufgesetzte Traditionsbewusstsein der französischen Haute Cuisine achselzuckend mit dem Hinweis auf das Jahrtausende alte Wissen der ayurvedischen Küche ausgekontert wird! Schluss mit lustig ist erst, als der Kampf der Kulturen nicht länger um die richtige Wachtelbrust-Zubereitung kreist, sondern rassistisch-politische Obertöne bekommt. Jetzt wandelt sich Madame Mallory unversehens vom Saulus zum Paulus – und Helen Mirren darf endlich ins sympathisch-menschelnde Fach wechseln, wo sich vielleicht selbst für Papa noch ein Platz in ihrem großen Herzen finden lässt.

Für Hassan jedoch beginnt erst jetzt die entscheidende ausgedehnte Bildungsreise, die ihn zunächst nach Paris und dann aufs forciert-dekadente Hochplateau der Molekularküche führt, wo Mütterchens Gewürzmischungen problemlos reüssieren. Die Weltkarriere lockt, doch dann obsiegt der Charme der Provinz, wo sich eine überraschende Chance bietet, die alle Erzählfäden auf das Feinste zu einem passenden Sonnenuntergang verknüpft.

Leider erzählt dieser märchenhafte Film mit bunten Bollywood-Momenten von Toleranz und Identitätsfindung im Sterne-Milieu mit den Überraschungseffekten und Geschmackssensationen von Convenience-Food, garniert mit etwas Romantik und Starbesetzung. Wäre die Botschaft vom talentierten Asylsuchenden, der der Kultur des Einreiselandes aufgrund seines Talentes einen dekorativen Farbtupfer verleiht, nicht so unverhohlen reaktionär, man könnte diesen Film für seine eigene Parodie halten. Merke: Wenn gar nichts mehr geht, geht immer noch ein romantisch-sentimentaler Multikulti-Film mit bildfüllender Kulinarik.

Apropos Erinnerung: Man mag gar nicht daran erinnern, dass Lasse Hallström einst seine Karriere mit dem großartigen „Mein Leben als Hund“ begann. Des Filmemachers eigene Erinnerung reicht offenbar nur noch bis „Chocolat“ zurück, dessen zuverlässige Rezeptur hier zynisch aufgewärmt worden ist. Man wendet sich mit Grausen und schwerem Magengrimmen ab von derlei überzuckertem Autopilot-Kino.

Can A Song Save Your Life?

(USA 2014, Regie: John Carney)

Verlorene Sterne
von Wolfgang Nierlin

Der Mittvierziger Dan Mulligan (Mark Ruffalo) ist ein abgehalfteter Musikproduzent, der zu viel trinkt und vor dem beruflichen Aus steht. Wenn er morgens verkatert sein Spiegelbild anblickt, geht er danach …

Der Mittvierziger Dan Mulligan (Mark Ruffalo) ist ein abgehalfteter Musikproduzent, der zu viel trinkt und vor dem beruflichen Aus steht. Wenn er morgens verkatert sein Spiegelbild anblickt, geht er danach lieber noch mal ins Bett. Seit er von seiner Frau Miriam (Catherine Keener) getrennt lebt, versinkt er im Chaos und kümmert sich nur sporadisch um seine 14-jährige Tochter Violet (Hailee Steinfeld). Angeödet von der aktuellen Popmusik, die er auf der Fahrt in seinem Jaguar duchcheckt, hält er unverdrossen an den alten Werten fest. Wenn sein Kompagnon mit modischem Geschäftsgebaren fordert, er müsse sich an die Veränderungen des Business anpassen, kontert Dan: „Wir brauchen Visionen, keine Werbegangs.“

Eine solche Vision, von den Wirkungen des Alkohols befördert, hat der sympathische Loser kurz danach in einem New Yorker Musikklub, wo die junge Gretta James (Keira Knightley) eher unfreiwillig ein noch unfertiges Lied „für Einsame“ zu ihrem verhaltenen Gitarrenspiel vorträgt. Während das Publikum eher gelangweilt auf die Darbietung reagiert, arrangiert Dan in seinem Geist das Stück für weitere Instrumente. Der Zauber dieses filmischen Moments lässt auch den Zuschauer hör- und sichtbar an dieser Vision teilnehmen. „We are all lost stars“, heißt es im Song der Engländerin: Auch Gretta durchlebt gerade eine Enttäuschung, seit sich ihr Freund Dave Kohl (Adam Levine), ein ziemlich erfolgreicher Musiker und Schauspieler, wegen einer anderen Frau von ihr getrennt hat.

John Carneys sehr romantisches Feelgoodmovie „Can A Song Save Your Life?“ („Begin Again“) kreist auf ebenso märchenhafte wie humorvolle Weise um diesen magischen Moment einer nicht nur musikalischen Begegnung in besagtem Kellerlokal. In geschickt konstruierten Rückblenden und unter wechselnden Perspektiven führt der irischstämmige, mit dem Film „Once“ bekannt gewordene Regisseur die Vorgeschichten seiner beiden Protagonisten zusammen. Und tatsächlich beinhalten dieser Augenblick und der im Verleihtitel aufgerufene Song eine lebensverändernde Kraft: Dan und Gretta tun sich für ein sogenanntes „Outdoor-Album“ zusammen, das sie mit altmodischer Aufnahmetechnik, enthusiastischen Mitmusikern, wenig Geld, Improvisationsgeschick und kreativer Leidenschaft an wechselnden Orten der Stadt aufnehmen. Dabei entsteht nicht nur eine originelle, von musikalischen und filmischen Reminiszenzen gespickte Hommage an New York, sondern John Carney, selbst Musiker, gelingt entlang der Konfliktlinien seiner Figuren auch ein satirischer Blick auf das aktuelle Musikgeschäft und seine Verwerfungen.

Strand der Zukunft

(BR / D 2014, Regie: Karim Ainouz)

Ertrunkene Männer und verschluckte Melodramen
von Carsten Moll

Nach einer absurd lang anmutenden Auflistung all der Institutionen, welche mit ihren Fördergeldern die Entstehung dieser deutsch-brasilianischen Koproduktion erst ermöglicht haben, fluten endlich Bild und Sound die Leinwand: Zum düster …

Nach einer absurd lang anmutenden Auflistung all der Institutionen, welche mit ihren Fördergeldern die Entstehung dieser deutsch-brasilianischen Koproduktion erst ermöglicht haben, fluten endlich Bild und Sound die Leinwand: Zum düster pumpenden Suicide-Song „Ghost Rider“ schwenkt die Kamera über den titelgebenden Strand an der brasilianischen Atlantikküste und folgt aus der Distanz zwei Motorradfahrern auf ihrem Weg durch Dünen und Windkraftanlagen. Alles ist Energie und Bewegung, die beiden Gestalten in der Ferne treibt es immer weiter den Strand entlang, runter von ihren Maschinen und schließlich rein in den endlosen Ozean. Selbst hier gibt es kein Halten, noch im Spurt Richtung Wasser werden die Klamotten von den Leibern gestreift.

Der Bruch, den der folgende Schnitt mit sich bringt, könnte härter nicht sein: Der Drive nach Vorne wird zu einem hilflosen Zappeln, der Soundtrack verstummt und statt des weitläufigen Panoramas des establishing shots bleibt nur ein trüber Blick auf einen leblosen Körper, der langsam von der Meeresströmung davon getrieben wird. Mit einem Ertrinkenden endet dieser Prolog, der zugleich auch eindrucksvoll das Prinzip von „Praia do Futuro“ demonstriert. Denn das Taumeln zwischen überlebensgroßer Melodramatik und realitätsnaher Ernüchterung zieht sich – wenn auch nicht so im Extrem ausgespielt wie in der Exposition – als Masche durch den gesamten Film.

Anhand von drei mit eigenen Titeln versehenen Akten erzählt Regisseur und Drehbuchautor Karim Aïnouz von dem Deutschen Konrad (Clemens Schick), der seinen besten Freund am Praia do Futuro verloren hat, und dem Rettungsschwimmer Donato (Wagner Moura), der nicht in der Lage war, besagten Freund vor dem Ertrinken zu retten. Die gemeinsame Suche der beiden Männer nach dem Leichnam des Ertrunkenen gerät dabei schnell zugunsten einer schwulen Liebesgeschichte in den Hintergrund – so abrupt und hart wie vom ersten Aufeinandertreffen der zwei Fremden im Krankenhaus zu deren Fick im Auto geschnitten wird, so plötzlich springt der Film im zweiten Akt in ein gespenstisch graues Berlin und mitten in den Beziehungsalltag von Konrad und Donato.

Dem Melodram – auf das sich „Praia do Futuro“ allein vom Inhalt her abstrahieren ließe und das Aïnouz mit der Inszenierung von uferlosen Seelenlandschaften und eng kadrierten Innenräumen bisweilen durchaus bedient – werden so durch Abschweifungen sowie durch Zeitsprünge und Ellipsen die ganz großen Gesten und Gefühlsausbrüche immer wieder ausgetrieben. Die Konflikte wirken wie verschluckt und hallen wie der Tod des Ertrunkenen bloß noch unter der Oberfläche nach. Dass sich Aïnouz dabei sowohl einer schlüssigen Charakterentwicklung als auch einer stringenten Dramaturgie verweigert, lässt sich einerseits bemängeln, ermöglicht dem Film im gleichen Zug aber auch seinen selbstbewussten Umgang und den radikalen Bruch mit melodramatischen Konventionen.

Denn wo das Melodram typischerweise im Exzess aufgeht und aus der Unangemessenheit der Gefühle ein tragisches Scheitern der Helden erfolgt, da entwickelt sich „Praia do Futuro“ besonders im zweiten Akt zu einem eher unaufgeregten Beziehungsfilm, der homosexuelle Intimität zwischen Frühstückstisch und Clubnächten einfängt. Das erinnert mit seinem post-emanzipatorischen Gestus und den betont beiläufig vor der Kamera baumelnden Schwänzen stark an den schwulen Neorealismus, mit dem Filmemacher wie Ira Sachs („Keep the Lights On“, 2012), Andrew Haigh („Weekend“, 2011) und Travis Mathews („I Want Your Love“, 2012) in den letzten Jahren auf sich aufmerksam machten.

Erst im dritten und finalen Akt taucht gemeinsam mit Donatos Bruder (Jesuita Barbosa) auch das Melodram wieder auf: Mit der Ankunft des Heranwachsenden Ayrtons, der noch ein Hühnchen mit seinem älteren Bruder zu rupfen hat, werden die Dialoge metaphernschwer, die Settings expressiver und das Konfliktpotenzial in Donatos gelebter Homosexualität präsenter. Dass man sich darauf nur bedingt einlassen und dem Film seine Konflikte nicht immer abkaufen will, ist dabei sicherlich auch Aïnouz‘ fragmentarischer Erzählweise geschuldet, die eher in vage Stimmungen und eine dichte Atmosphäre investiert als in nachvollziehbare Handlungen und glaubwürdige Figuren.

Monsieur Claude und seine Töchter

(F 2014, Regie: Philippe de Chauveron)

Du glückliches Frankreich, heirate!
von Lukas Schmutzer

Hochzeiten bieten Komödien einen großartigen Stoff, lassen sich um die aufgebauschten Feiern doch allerlei Streitereien, Intrigen und Skandale konstruieren, die entweder wie ein Damoklesschwert über der herannahenden Zeremonie schweben, oder, …

Hochzeiten bieten Komödien einen großartigen Stoff, lassen sich um die aufgebauschten Feiern doch allerlei Streitereien, Intrigen und Skandale konstruieren, die entweder wie ein Damoklesschwert über der herannahenden Zeremonie schweben, oder, andersherum, denen quasi durch die herannahende Hochzeit als Damoklesschwert ein gewaltsames Ende angedroht wird. So oder so fordert die Hochzeit eine Lösung von Problemen, die durch die Konfrontation von Interessen, Klassen oder Begehren entstanden sind. „Monsieur Claude und seine Töchter“ konfrontiert Kulturen.

Das konservative, wohlhabende, in Chinon an der Loire lebende Ehepaar Claude und Marie Verneuil hat vier Töchter; drei dieser Töchter heiraten zu Beginn des Films allochthone Männer von unterschiedlicher Religion: einen Chinesen, einen Araber, einen sephardischen Juden. Dies missfällt Claude, der seine Töchter am liebsten in den Händen von katholischen, weißen, erfolgreichen Männern sehen würde. Aufgrund der rassistischen Vorurteile, die Claude bei einem Familientreffen in überheblich-chauvinistischer Manier vorträgt – brillant gespielt von Christian Clavier –, kommt es zu einem ersten Eklat, der die Spannungen in einer Familie offenlegt, in der die Männerwahl der jungen Generation wenn nicht als Zufall, so auch als unbewusster Protest gegen die väterlich-konservative Ordnung gelesen werden könnte. Doch sind es nicht nur die Vorurteile des Gaullisten Claude, sondern auch jene der Schwiegersöhne untereinander, die für allerlei Streit sorgen; selten werden politische Inkorrektheiten derart amüsant inszeniert.

Laure, die letzte unverheiratete Tochter, liebt mit Charles einen Schauspieler, der schwarz ist und von der Elfenbeinküste stammt. So haben auch die wundervoll peinlichen Versuche der verzweifelten Eltern, ihre Tochter mit einem Mann nach ihrem Bilde zu verkuppeln, keine Zukunft, und alles steuert auf eine Hochzeit zu, die vor allem deshalb Sprengstoff birgt, weil auch der Vater des Bräutigams von Ressentiments behaftet ist, die ihrer Art nach denen Claudes sehr ähnlich sind. Die solchermaßen prekäre Lage ruft auch noch einmal die Schwiegersöhne auf den Plan, welche sich in ihrem eigenen, hart erkämpften Status bedroht fühlen und eine gemeinsame Front errichten, die sich erstmals über die Familienbande definiert und jene Fremdheit ausgrenzt, die noch nicht deren Teil geworden ist. Auf der anderen Seiten beginnen sich die Fronten der Väter aufzulösen, wenn endlich das geschieht, was von vornherein angelegt war: wenn die Rassismen im Witz zum bloßen Gewand werden, das sich abstreifen lässt.

Angesichts des Wahlerfolges des rechtsrechten Front National in Frankreich kann dieser Film als der Versuch gelesen werden, den Franzosen schlicht „trotzdem vertragen wir uns am Ende alle“ zu sagen und damit dort zu beschwichtigen, wo eigentlich diskutiert werden sollte. Eine solche Lesart, meine ich, vergisst aber das Potential, das die Dialoge einer solchen Konstellation bereithalten: Hier werden Klischees und Gemeinheiten aufeinander losgelassen, über die gelacht werden kann, während sie in anderen Kontexten unsagbar oder grob verletzend wären. Gerade weil Komödien ihre Figuren nicht immer ernst nehmen müssen, lachen wir über und mit den Kulturen und beginnen so, uns über unsere eigenen Ressentiments und über den verletzten Stolz zu erheben.

Die Klischees und Gemeinheiten, die in den Ring geschickt werden, sind allerdings tatsächlich nicht viel mehr als solche; darin liegt auch ein Problem des Films: Die Komik bleibt im Ganzen etwas platt und die Handlung ist vorhersehbar. Zwar setzt der Film noch einige weitere Zeichen, die sich der französischen Wählerschaft einprägen mögen, etwa, wenn er die Schwiegersöhne Verneuils voller Pathos die Marseillaise singen lässt. Dass mit den so genannten „kulturellen Differenzen“ im öffentlichen Bewusstsein zuweilen nur weitaus komplexere Probleme verdeckt werden, das wird leider aber nur am Rande angedeutet.

Kofelgschroa. Frei. Sein. Wollen.

(D 2014, Regie: Barbara Weber)

Bayerische Wurstigkeit und ein Hauch von Punk
von Nicolai Bühnemann

Wo und wann sie angefangen haben, gemeinsam Musik zu machen, wissen die vier Mittzwanziger auch nicht mehr so genau. Jedenfalls gründeten Matthias Meichelböck, die Brüder Martin und Michael von Mücke …

Wo und wann sie angefangen haben, gemeinsam Musik zu machen, wissen die vier Mittzwanziger auch nicht mehr so genau. Jedenfalls gründeten Matthias Meichelböck, die Brüder Martin und Michael von Mücke und Maxi Pongrath 2007 die Blasmusik-Gruppe 'Kofelmusik', benannt nach dem Kofel, dem Hausberg der oberbayerischen Gemeinde Oberammergau, aus der sie stammen. Die Namensänderung geht auf eine Bemerkung des dortigen Gemeindegärtners zurück, bei dem Maxi seine Lehre machte. Als er von der musikalischen Tätigkeit seines Lehrlings erfuhr, soll er gesagt haben: „Des werd scho so a Gschroa sein.“

Ursprünglich spielten die vier mit Tenorhorn, Helikontuba, Flügelhorn und Akkordeon traditionelle Volksmusik. Mit der Zeit wurde ihr Sound eigensinniger – und sie, auch über Bayern hinaus, zu einem Geheimtipp. 2012 veröffentlichten sie ihr erstes Album „Kofelgschroa“. Ihren stets in bayerischer Mundart gehaltenen Texten wird oft eine „dadaistische“ Note nachgesagt. Für Kategorisierungen ihrer speziellen Mischung aus Volksmusik und Pop haben sie sich noch nie sonderlich interessiert. Auf ihrer Internetseite bezeichnen sie sich als „Freizeit-Musiker mit jeder Menge Freizeit“ und über ihre Musik heißt es dort: „Wir spielen gerne Wechseltakte, Mollakkorde und lange Stücke. Die Texte werden geredet, gesprochen, gesungen, oft versetzt und wiederholt. Spontan und bedingungslos spielen, überraschen und dabei belauscht werden, das sind unsere Triebfedern.“

Für den Dokumentarfilm „Kofelgschroa. Frei. Sein. Wollen.“ hat die Regisseurin Barbara Weber die Band drei Jahre lang begleitet. Auf dem Fahrrad oder im charmanten achtziger Jahre-VW-Bus. Bei Proben und auf der Bühne. Bei ihren „Brotjobs“ in einer Schmiede oder auf einem Ziegenhof. Ausführlich spricht sie mit ihnen über einen Lebensinhalt jenseits des Geldverdienens, über die Unterschiede des Lebens auf dem Land und in der Stadt, über Selbstzweifel und das Abwägen zwischen der Musik und einem anderen Beruf.

Herausgekommen ist eher ein dokumentarischer Coming of Age-Film als eine Musikdoku. Vielleicht verdeutlicht sich das am besten in der Mitte des Films, wenn es darum geht, wie sich die Gruppe vorübergehend getrennt hat. In Texttafeln vor Fotos der einzelnen Mitglieder wird berichtet, was sie in der Zeit ohne Kofelgschroa unternommen haben. Sie sind um die Welt gereist, haben sich in Berlin als Straßenmusiker versucht oder geheiratet. Dann taten sie sich wieder zusammen, um weiter gemeinsam Musik zu machen. Von den gängigen Band-Klischees über Streit und Comeback keine Spur.

In der letzten halben Stunde, wenn die Bühnen größer werden und der Weg zu ihnen nicht mehr durch Alpenpanoramen, sondern über die Reeperbahn oder regennasse Berliner Straßen führt, geht es auch um den Erfolg und wie man mit ihm umgeht. So wenig wie sich ihre Musik in gängige Kategorien fügt, scheinen sie sich auch aus dem Rummel der Musikbranche zu machen. In Interviews wird ihre urbayerische Wurstigkeit zu einem Duktus der Rebellion. Die konsequent durchgehaltene Verweigerungshaltung besitzt einen Hauch von Punk. Nur ist das offensichtlich keine bewusst eingesetzte Attitüde. Auf die Frage nach dem schönsten Platz von Oberammergau („Da, ganz im Nord-Osten“) oder zur Zitronenvorlage des Tequila-Witzes haben die Vier – verständlicherweise – einfach keinen Bock.

Dass über sie nun ein Film gemacht werde, sei schon komisch, sagt einer am Beginn. Es gebe da doch eigentlich nicht mehr zu erzählen als über irgendjemand anderen. Damit sind die Qualitäten sowohl der Band als auch des Films auf den Punkt gebracht. „Kofelgschroa. Frei. Sein. Wollen.“ ist ein ruhiges, einfühlsames und angenehm unaufgeregtes Portrait einer angenehm unaufgeregten Band.

Der auf dem DOK.fest München uraufgeführte Film wird ab dem 7. August 2014 in Bayern in die Kinos kommen. Aufführungen in Berlin, Hamburg und anderswo sind in Vorbereitung.

Night Moves

(USA 2013, Regie: Kelly Reichardt)

Wettlauf gegen die Zeitbombe
von Andreas Thomas

Drei Leute sitzen in einem Pickup und fahren durch die Nacht. Sie sind außer Atem. Nach einer kurzen Weile hören sie das Geräusch einer Explosion, kurz darauf ein etwas leiseres, …

Drei Leute sitzen in einem Pickup und fahren durch die Nacht. Sie sind außer Atem. Nach einer kurzen Weile hören sie das Geräusch einer Explosion, kurz darauf ein etwas leiseres, entfernteres Grollen. Sie freuen sich, denn sie haben soeben ein Loch in einen Staudamm gesprengt.

Die Art, in der diese Szene in etwa der Mitte des neuen Films von Kelly Reichardt geschnitten oder besser ungeschnitten ist, verrät viel über den Stil des ganzen Films. Vordergründig steht der Erfolg oder Misserfolg des Anschlags im Mittelpunkt des Interesses der Figuren, des Films und wahrscheinlich auch der Zuschauer. Tatsächlich gibt sich Reichardt viel Mühe, im Thriller-Genre zu bleiben, indem sie einen regelrechten Wettlauf gegen die Zeitbombe inszeniert, aber in einem Moment, wo nach Genre-Standard eine gewaltige Explosion zu sehen wäre, da bleibt dieser Film bei den Figuren, meistens übrigens bei der Hauptfigur, Josh, gespielt von Jesse Eisenberg, über dessen Bewegungen – und bei ihm sind auch die Bewegungen seiner Gedanken in seinem Gesicht ablesbar – wir die Geschichte, und so wird es besonders seine Geschichte, vor allem vermittelt bekommen.

Es gibt (mindestens) zwei Dramen in „Night Moves“, das eine ist das Aufbäumen dreier relativ junger Umweltaktivisten gegen die Zerstörung der Natur, das andere ist das Dilemma und die inneren Konflikte der Figuren (neben Eisenberg Dakota Fanning und Peter Sarsgaard) mit ihrer nicht nur im Positiven folgenschweren Tat. Davon handelt der lange und eher düstere zweite Teil des Films, über dessen Kernhandlung hier nicht viel verraten werden soll.

Eine Atmosphäre der Resignation und der Stagnation, in fast allen Reichardt-Filmen liegt sie über dem Geschehen; vielleicht ist sie und ihre Vermittlung und Sichtbarmachung sogar eine der zentralen Absichten der Regisseurin, zugleich also eine Sensibilisierung nicht nur dafür, dass die Folgen der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Maximen inhuman und unverantwortbar sind, sondern auch dafür, wie klein der Handlungsspielraum eigentlich nur noch ist, den so genannte Weltverbesserer überhaupt noch haben, mit anderen Worten: Das langsame Verschwinden des Engagements und der Solidarität.

Das war in „Old Joy“ (2005) spürbar, wo sich zwei alte Freunde auf einen Wochenendtrip begeben, um dort festzustellen, dass sie offenbar ihre Träume oder Ideale verloren haben (übrigens viel subtiler, als ich das hier formuliere), in „Wendy und Lucy“ (2008) spürt man förmlich die Kälte einer Gesellschaft, die den Begriff „Freiheit“ nur damit gleichsetzt, dass die Schwachen das Recht darauf haben, alleine vor die Hunde zu gehen und in „Meek‘s Cutoff“ (2010) werden schon in ihrer Klarheit wunderbar exemplarisch die Prinzipien Gewalt/Unterdrückung/Ausbeutung und Vertrauen/Solidarität/Kooperation so einander gegenüber gestellt, dass man quasi anprobieren kann, wie verschieden sie sich anfühlen.

Und nun verhandelt „Night Moves“ anhand dreier radikaler Aktivist/innen, ob und wie heute überhaupt Widerstand funktionieren kann, angesichts, und da ist der Film auf der Höhe unserer NSA-Gegenwart, eines totalen Überwachungssystems, das ja nach Edward Snowdens Aussagen praktisch jeden und alles in der Welt bespitzeln und belauschen kann. Und so ist es folgerichtig, dass das Verhalten Joshs zunehmend von Paranoia diktiert wird, einer Paranoia, die von Beginn an im Film zu spüren ist. Überall sind Überwachungskameras, Handy-Telefonate können verräterisch sein, an jeder Ecke, durch jeden Menschen lauert Gefahr. Das Gefühl wird auch genährt durch den minimalistischen, bedrückenden Soundtrack, der fast durchgehend unterlegt ist.

„Night Moves“ ist ein Film über die schiere Unmöglichkeit, die Welt vor ihrem Niedergang zu retten und ein Film über die Auflösung politischen Widerstandes. Man kann ihn thematisch einreihen in eine Linie mit Filmen wie Antonionis „Zabriskie Point“(1969) oder Bressons „Der Teufel möglicherweise“(1977). Diesen drei Filmen gemein ist übrigens auch, dass zu Beginn ein ideologischer Background vermittelt wird. Bei „Zabriskie Point“ ist es eine verfahrene Diskussion unter streikenden Studenten, bei „Der Teufel möglicherweise“ sorgt die Aufführung eines Umwelt-Dokumentarfilms für die Etablierung des Status Quo, und der gleichen Methode bedient sich auch Reichardt in „Night Moves“. Aber nicht nur ihr Thema ist ähnlich, auch Reichardts Souveränität – und ihr Pessimismus – stehen denen ihrer Vorgänger in nichts nach.

Die langen hellen Tage

(GE / F / D 2013, Regie: Nana Ekvtimishvili, Simon Groß)

Brot und Kriege
von Nicolai Bühnemann

Der Weg des täglichen Brotes. Von der langen Schlange an der Ausgabestelle, wo die Menschen sich drängeln, in wüste verbale, dann auch handgreifliche Auseinandersetzungen über die Reihenfolge der Wartenden geraten, …

Der Weg des täglichen Brotes. Von der langen Schlange an der Ausgabestelle, wo die Menschen sich drängeln, in wüste verbale, dann auch handgreifliche Auseinandersetzungen über die Reihenfolge der Wartenden geraten, holen die beiden vierzehnjährigen Protagonistinnen des Films, Eka (Lika Babluani) und Natia (Mariam Bokeria), die Ration Brot für ihre Familie ab. Auf dem Weg nach Hause lauern Eka zwei Jungs auf, machen sie an und schubsen sie. Eines der Brote fällt zu Boden. Zuhause in der Küche schneidet sie die Ecke ab, die dreckig geworden ist, wirft sie in den Müll, legt die beiden Laibe in den Brotkorb. Die Brote Natias sehen wir schließlich auf dem Esstisch der Familie, wo der betrunkene Vater sie, ihre Mutter und ihre Großmutter terrorisiert. Als die Mutter sich wehrt, kommt es zu Handgreiflichkeiten, schließlich zu Geschrei und Scherben in der Küche.

Dass sich gerade anhand des Weges eines täglichen Nahrungsmittels auf den Tisch so viel von den sozialen Realitäten ablesen lässt, von denen Simon Groß‘ und Nana Ekvtimishvilis „Die langen hellen Tage“ erzählt, ist in mehrfacher Hinsicht bezeichnend für diesen Film. Es geht in der Coming-of-Age-Geschichte, angesiedelt im postsowjetischen Georgien im Tiflis des Jahres 1992, um eine soziale Situation, in der es gerade Brot auf dem Tisch gibt, aber kaum viel mehr, und um zerrüttete Familien in einem zerrütteten Land, um patriarchale Macht- und Gewaltverhältnisse. All das versucht der Film so alltäglich wie möglich abzubilden, aus der sehr eng gefassten Perspektive zweier adoleszenter Mädchen. Es ist dieser Perspektivierung geschuldet, dass die militärischen Konflikte in Abchasien zwar immer wieder über Radioberichte oder Dialoge in die Welt des Films eindringen, die Gewalt, von der der Film durchsetzt ist, aber anderer Art ist. Es ist die sozial tradierte Gewalt des Patriarchats. Vom saufenden Schlägervater bis zu den an den Straßenecken herumlungernden Jungs. Von der Zwangsheirat bis zum Mord aus Eifersucht.

Ebenso liegt es jedoch an der Perspektivierung der beiden Mädchen, dass „Die langen hellen Tage“ über weite Strecken ein – nicht nur, aber auch visuell – sehr schöner Film ist. Was das Leben in einem System, das sie unterdrückt und ihrer Selbstbestimmung beraubt, nicht nur erträglich macht, sondern immer wieder mit kurzen Momenten schieren Glücks durchsetzt, sind die kleinen Akte der Rebellion. Die Freundschaft untereinander, das Liedersingen, Zigarettenrauchen und Tratschen, der gemeinsame Ausbruch aus dem autoritär regierten Klassenzimmer zum Vergnügen auf dem Autoscooter. Das Tiflis, durch das die Kamera den beiden Mädchen folgt, oft dicht an ihren Körpern, ist eine Stadt des bröckelnden Putzes, der vergilbten Wände und zersplitterten Kacheln, des brüchigen Betons und der trostlosen Trabantenstadtfassaden. Und doch leuchtet diese Stadt immer wieder in hellen Tönen in der Sonne, ringt ihr der prasselnde Regen eines Sommerwolkenbruchs eine geradezu verwunschene Schönheit ab.

Das Brot, mit dem ich diesen Text begonnen habe, ist aber auch kennzeichnend für die Art des Films, den Dingen einen besonderen Stellenwert in der Handlung einzuräumen. „Die langen hellen Tage“ ist auch ein Film über das Brot, über den Reisepass und einige andere Gegenstände, die Eka immer wieder aus einem Kistchen holt und von denen wir erst nach und nach erfahren, dass sie mit ihrem inhaftierten Vater zusammenhängen. Schließlich und vor allem ist es ein Film über eine Pistole. Die Pistole, die Natia eines Nachmittags von einem Verehrer geschenkt bekommt, der nach der Schule auf sie wartet. Geheimnisvoll fordert er sie auf, ihm an einen unbeobachteten Ort zu folgen, ihre Augen zu schließen. In der Situation, in der man mit Zudringlich- oder Zärtlichkeiten rechnet, überreicht er ihr feierlich eine in ein Handtuch gewickelte Schusswaffe.

Die Pistole, die im Folgenden immer wieder die Hände wechseln wird, gibt den Mädchen ein neues Selbstbewusstsein inmitten einer von maskuliner Gewalt beherrschten Welt. Auf den Punkt gebracht wird das in einer Szene, in der Eka erneut an der Unterführung vorbeikommt, wo ihr die beiden Straßenkinder auflauerten und nun einen anderen Jungen brutal zusammenschlagen. Das Mädchen geht zunächst an ihnen vorbei; zu sehen ist sie nur als Silhouette vor dem Hintergrund der Straße im strömenden Regen. Als sie aus der Unterführung ins Freie tritt, fällt ein Lichtschimmer auf ihr Gesicht. Sie dreht sich um und bringt die beiden Jungs mit vorgehaltener Waffe dazu, von ihrem Opfer abzulassen. Doch die aus dem Genre-Kino hinlänglich bekannte Ermächtigungsphantasie des girl with a gun bleibt aus. Letztlich wird sie den beiden Mädchen nicht dazu dienen, die Gewalt umzukehren, noch kann sie ihre Freundschaft vor den erdrückenden Verhältnissen retten. Die Pistole landet schließlich im See, ohne dass aus ihr ein Schuss abgegeben wurde. Damit endet der Film dann doch hoffnungsvoll.

„Die langen hellen Tage“ ist Ekvtimishvilis abendfüllendes (Co-)Regie-Debüt. Auch das Drehbuch stammt von ihr und ist zumindest insofern autobiographisch, als auch sie vierzehn war im Sommer 1992 in Tiflis. Souverän gelingt ihr die Gratwanderung zwischen einer sehr einfühlsamen Darstellung einer Jugend, die sich vor einer spezifischen, zarten Form der Nostalgie nicht versperrt, und einer ungeschönten Bestandsaufnahme der Verhältnisse einer von Gewalt zerfressenen Gesellschaft.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Die langen hellen Tage'.

Amma & Appa

(D 2014, Regie: Franziska Schönenberger, Jayakrishnan Subramanian)

The Chutneyfication of Kartoffelsalat
von Carsten Moll

Der große Knall bleibt in dieser Culture-Clash-Doku trotz einer dramaturgisch vielversprechenden Prämisse aus, die doch wenigstens für Kulturessenzialisten das Potenzial zum Kulturschocker haben dürfte. Zutiefst entsetzt ist zumindest das Ehepaar …

Der große Knall bleibt in dieser Culture-Clash-Doku trotz einer dramaturgisch vielversprechenden Prämisse aus, die doch wenigstens für Kulturessenzialisten das Potenzial zum Kulturschocker haben dürfte. Zutiefst entsetzt ist zumindest das Ehepaar Subramanian aus dem südindischen Bundesstaat Tamil Nadu, als es erfährt, dass Sohnemann Jay sich ausgerechnet in die Filmstudentin Franziska aus München verliebt hat und zu allem Übel eine Liebesheirat mit der Deutschen plant. Und auch deren traditionsbewusste Eltern hätten sich wohl einen anderen Mann für die Tochter gewünscht; während seine Franzi vom bunten Indien schwärmt, gibt Vater Albert freimütig zu, dass ihm der Schwiegersohn in spe eigentlich zu schwarz ist und verkneift sich schmunzelnd gerade noch eine rassistische Bezeichnung für „die Dunkelhäutigen“. Doch da die Liebe ja bekanntlich grenzenlos ist und die Kinder stur auf ihr Glück beharren, kommt es, wie es kommen muss: Die Bayern machen sich mit Dirndl und Lederhose im Gepäck auf in die tamilische Hafenstadt Cuddalore, um auf ihre Art zur Völkerverständigung beizutragen.

Als krampfhaft auf Charme getrimmte Komödie inszeniert das Regie- und Liebespaar Franziska Schönenberger und Jayakrishnan Subramanian ein eigenes Stück Biografie, aber vor allem das Aufeinandertreffen der beiden Elternpaare. Denn während zu Beginn noch Franziska und ihr erster Besuch bei den Subramanians im Fokus stehen, verabschieden sich die beiden jungen Filmemacher mehr und mehr hinter die Kamera. Der zurückhaltende Jay bleibt als Protagonist fast über die gesamte Laufzeit hinweg vollkommen abwesend, seine Freundin zieht sich schließlich ins Off zurück und kommentiert in einem Tonfall, der seine Zuhörer für nicht ganz zurechnungsfähig zu halten scheint, das wenig komplexe Geschehen auf der Leinwand. Das wiederum wird ganz von der freundlichen Annäherung der Ehepaare Schönenberger und Subramanian beherrscht, die sich beide viel zu gut aufeinander vorbereitet haben, als dass es hier zum Zusammenprall der Kulturen oder so etwas wie Spannung kommen könnte: Jays Familie aus der indischen Mittelschicht hat extra für die deutschen Gäste eine Klimaanlage, eine westliche Toilette und einen Esstisch besorgt, wohingegen Mutter Schönenberger von vorneherein klar ist, dass das Leben in Indien kein Bollywoodfilm ist. Die Missverständnisse, Konflikte und Irritationen bleiben überschaubar und so erzählt „Amma & Appa“ ziemlich ereignislos ein paar harmlose Urlaubsanekdoten, die letzten Endes nicht viel mehr vermitteln, als dass es im exotischen Indien auch bloß halb so wild zugeht.

Richtig zünden mag auch die filmische Umsetzung des Familientreffens nicht, obwohl Schönenberger und Subramanian sichtlich um Originalität und Abwechslung bemüht sind. Geradezu sprunghaft wechselt der Film von konventionellen Interviewszenen zu mit indischen Liebesschnulzen unterlegten Super-8-Aufnahmen oder bunten Animationen. Dass diese Einschübe in ihrer Häufung rasch ermüdend wirken und als Illustration des Offensichtlichen redundant sind, ließe sich vielleicht verschmerzen, wenn sie nicht so hartnäckig zum flachen Feelgood-Faktor des Dokumentarfilms beitragen würden. Denn der gut gelaunte und locker-flockige Ton von „Amma & Appa“ erweist sich spätestens dann als geschmacklos, wenn im interkulturellen Brei nicht nur die Tamilen zu den Bayern Indiens und hinduistische Prozessionen zum Schützenfest erklärt werden. Durch die unreflektierte Herangehensweise der beiden Filmemacher, die alle Differenzen und Kontexte einfach ausblendet, kommt es immer wieder zu fragwürdigen Schlüssen: Deutscher Rassismus und indisches Kastendenken sowie Vernunftehen und Zwangsverheiratungen relativieren sich gegenseitig bis zur Bedeutungslosigkeit.

In Gestalt von Jays Mutter Viruthambal, der mit Abstand interessantesten Figur in „Amma & Appa“, wird diese Marginalisierung zugunsten leicht verdaulicher Unterhaltung besonders schmerzhaft deutlich. Im Rahmen der von den beiden Regisseuren und Drehbuchautoren evozierten Culture-Clash-Komödie bleibt der unbeirrt an ihren Traditionen festhaltenden Frau nur die Rolle einer urigen Witzfigur. „Alles ist verloren“, sagt sie einmal und im Gegensatz zu ihrem Mann kann sie sich nicht einfach damit abfinden, dass ihr Sohn sie verlässt. Jay, dieser seltsam abwesende Protagonist, bleibt auch hier stumm und mit ihm zusammen mag auch der Film keine Haltung zum Leid seiner Mutter einnehmen. Über deren Unversöhnlichkeit fegen die bunten Bilder einfach hinweg und landen zum Finale dort, wo sie vermutlich am besten aufgehoben sind: auf dem Rummel beim Oktoberfest.

A Most Wanted Man

(USA / GB / D 2013, Regie: Anton Corbijn)

Der Spion, der es versiebte
von Nicolai Bühnemann

Philip Seymour Hoffman, der leider im Februar verstarb, ist in seiner letzten Hauptrolle tatsächlich eine gespenstische Erscheinung. Von der Leinwand herab scheint er aus der Vergangenheit des Kinos zu uns …

Philip Seymour Hoffman, der leider im Februar verstarb, ist in seiner letzten Hauptrolle tatsächlich eine gespenstische Erscheinung. Von der Leinwand herab scheint er aus der Vergangenheit des Kinos zu uns herüberzuwinken. Dezent übergewichtig, ergraut, kettenrauchend, den Kaffee schwarz und den Whiskey pur trinkend, spioniert er sich durch ein Hamburg, das seinesgleichen ebenfalls am ehesten in Filmen vergangener Dekaden findet. In Roland Klicks Meisterwerk „Supermarkt“ etwa oder in Peter Kerns Regiedebüt „Crazy Boys – Eine Handvoll Vergnügen“. Durch das beständige Schmuddelwetter ist die Stadt grau in grau gehalten. Auf den Straßen stapeln sich die Müllsäcke und der regennasse Asphalt spiegelt die blinkenden Leuchtreklamen der Sexshops. Hier konkurrieren schummrige Astra-Kneipen mit Moscheen, Obst- und Gemüsehändler und Dönerbuden – schließlich spielt der Film über weite Strecken in der muslimischen Community der Stadt. Was daran doch etwas abgedroschenes Klischee ist, wird durch eine überbordende Liebe zum Detail wettgemacht. In dieser Stadt sind sogar die Hochgeschwindigkeitszüge dreckig grau und im vollgetaggten Hauseingang prangt das Klingelschild mit überwiegend türkischen und arabischen Namen.

Wir haben also einen Film Noir-Helden in einer Film Noir-Stadt. Um die nerdig postmoderne filmhistorische Patina geht es „A Most Wanted Man“ aber gerade nicht. Vielmehr interessiert er sich tatsächlich für desillusionierte, verlorene Menschen inmitten einer kalten, indifferenten Umgebung. Was von den Idealen, die ein Mann wie Günther Bachmann (Hoffman) einmal gehabt haben mag, noch übrig ist, ist nur, dass er seinen Job als Spion für den deutschen Geheimdienst machen möchte, ohne dass es als Kollateralschaden angesehen wird, wenn Unschuldige dabei zwischen die Fronten geraten und auf der Strecke bleiben.

Genau darum geht es, als der Flüchtling Issa Karpov (Grigoriy Dobriygin), halb Russe, halb Tschetschene und gläubiger Moslem, nach Hamburg kommt, um an das Vermögen seines verhassten Vaters zu gelangen. Karpovs Eintreffen ruft sowohl den deutschen Geheimdienst als auch die CIA auf den Plan, die in ihm einen potenziellen Terroristen sehen und sich nach 9/11 keine Patzer erlauben wollen. Wo Bachmann von Karpovs Unschuld überzeugt ist, aber hofft, durch ihn an Hintermänner des Terrorismus zu gelangen, plädieren sowohl die Amerikaner als auch andere deutsche Behörden auf einen schnellen Zugriff. In das Netz der Intrigen und Verwicklungen sind auch der englische Banker Thomas Brue (Willem Dafoe) verwickelt, der für die Bank arbeitet, bei der Karpovs Vater sein Geld anlegte, und die junge engagierte Anwältin Annabel Richter (Rachel McAdams), die sich für die Rechte von Flüchtlingen einsetzt und ein besonderes Interesse für Karpov entwickelt.

So wie der distinguierte, rotweintrinkende Brue einen Kontrast zu dem Protagonisten bietet, steht den dreckigen Straßen die sterile, kalte Welt von Ministerien und Geheimdienstzentralen gegenüber. Die Figur McAdams zeigt, dass soziales Engagement gegen die Geheimdienstinteressen letztlich genauso wenig ausrichten kann wie die unorthodoxen Spionage-Methoden Bachmanns. In Nebenrollen ist übrigens allerlei deutsche Filmprominenz zu sehen. Nina Hoss spielt die Assistentin Bachmanns und Daniel Brühl darf in ein paar Szenen konzentriert auf Monitore starren.

Anton Corbijn inszeniert diese Geschichte auf manchmal doch arg behäbige Weise altmodisch. Auf Action und Thrills setzt sein Film nicht. Dass der vollkommen verstörte, durch Folter gezeichnete Karpov nicht die Gefahr ist, die die Geheimdienste in ihm sehen, ist ebenfalls schnell klar. Auch hier geht es dem Film um eine zerrüttete, durch und durch prekäre Existenz in einem System, in dem Menschen bloß „Marionetten“ sind, wie der deutsche Titel von John Le Carrés Romanvorlage „A Most Wanted Man' lautet. Durch den Bezug zum 11. September und den „Krieg gegen den Terror“ wird diese universale Geschichte über die Entmündigung des Menschen in einer konkreten Gegenwart verortet. Das, der gnadenlos pessimistische Schluss und der grandiose Leinwandabschied Hoffmans lassen über einige Längen und die Tatsache, dass die meisten anderen der vielen Figuren etwas blass bleiben, gerne hinwegsehen.

Concerning Violence

(DK / FI / SW / USA 2014, Regie: Göran Olsson)

'Die Dekolonisation ist immer ein Phänomen der Gewalt'
von Nicolai Bühnemann

(Frantz Fanon, 'Die Verdammten dieser Erde') Frantz Fanon wurde 1925 auf der Karibikinsel Martinique geboren. Der Psychiater, Politiker und Schriftsteller wurde mit seinen Büchern 'Schwarze Haut, weiße Masken' und 'Die …

(Frantz Fanon, 'Die Verdammten dieser Erde')

Frantz Fanon wurde 1925 auf der Karibikinsel Martinique geboren. Der Psychiater, Politiker und Schriftsteller wurde mit seinen Büchern 'Schwarze Haut, weiße Masken' und 'Die Verdammten dieser Erde' zu einem der wichtigsten Vordenker der post-colonial studies. Letzteres schrieb er in den letzten Wochen seines Lebens, bevor er 1961 mit nur 36 Jahren an Leukämie starb. Die Dringlichkeit dieses Buches liegt nicht nur in seiner Entstehungsgeschichte begründet. Man merkt ihm auch an, dass Fanon das Kolonialsystem mit seinen vielfachen Mechanismen der Ausgrenzung und Unterdrückung nicht als akademischer Außenstehender, sondern als direkt von ihm Betroffener beschreibt.

Göran Hugo Olssons Film 'Concerning Violence – Nine Scenes from the Anti-Imperialistic Self-Defence' ist quasi eine Verfilmung des ersten Kapitels von 'Die Verdammten der Erde', das auf Deutsch 'Von der Gewalt' heißt. Montiert werden historische Aufnahmen von den Befreiungskämpfen der MPLA in Angola 1974 oder dem Streik bei der schwedisch-amerikanischen Minen-Gesellschaft LAMCO in Liberia 1966, ein Interview mit Dr. Ph. Tonderai Makoni aus Zimbabwe, der von der Kolonialregierung eingekerkert und gefoltert wurde. Szenen aus dem Alltag der 'zweigeteilten Welt' (Fanon) des Kolonialismus mit ihren krassen Kontrasten zwischen den Kolonisierten und den Kolonialherren, zwischen schwarz und weiß, mit ihren immer klar abgesteckten Machtverhältnissen zwischen Bediensteten und Herrschern. Dazu liest Lauryn Hill, Aktivistin, Sängerin und Rapperin, Ausschnitte aus dem Text Fanons vor.

Dem Untertitel entsprechend ist der Film in neun Kapitel untergliedert, die sich etwa mit den Dekolonisationskriegen, den sozialen Gegensätzen oder dem Umgang mit den Streikenden bei LAMCO befassen. In einem geht es auch um die Rolle der Religion, über die Fanon schreibt: 'Die Kirche in den Kolonien ist eine Kirche von Weißen, eine Kirche von Ausländern. Sie ruft den Kolonisierten nicht auf den Weg Gottes, sondern auf den Weg des Weißen, auf den Weg des Herren, auf den Weg des Unterdrückers.' Das Interview mit einem schwedischen Missionarspaar in Tansania ist eine der interessantesten Szenen des Films, gerade weil das Machtverhältnis zwischen dem Mann und der Frau, die im Vordergrund in die Kamera sprechen, freundlich, engagiert, soft spoken, und den Männern, die im Hintergrund harte Arbeit verrichten, so perfide ist. Sie sagen, dass sie sich in den Jahren, die sie hier sind, sehr verändert haben, die 'natives' hingegen kaum, erzählen von dem starken Einfluss der Kirche auf die Seelen der 'Eingeborenen'. Gerade dass die beiden, die doch mit der Aufgabe betraut sind, den Afrikanern westliche Werte einzutrichtern, so gar nicht in das Bild böser Unterdrücker passen wollen, gibt einen Eindruck davon, wie tief der Kolonialismus die Vorstellung von der Verschiedenheit der Völker, von der Überlegenheit einer Kultur und Religion über andere Kulturen und Religionen in die Menschen einschreibt – und zwar unabhängig von ihrer Hautfarbe. Diese Szene gibt eine Ahnung davon, wie das Kolonialsystem funktioniert, dessen theoretische Grundlage die Ideologie von der Ungleichheit der Menschen ist und das in der Praxis immer weiter reale Ungleichheit produziert.

Gerade im letzten Drittel spart der Film nicht an drastischen Bildern, wie sie typisch sind, um das Elend der „dritten Welt“ zu zeigen. Es gibt einen schier endlosen tracking shot entlang an Reihen von zusammengekauerten, hungernden Menschen in einem afrikanischen Dorf. Bilder von zerfetzten Leichen aus dem Unabhängigkeitskrieg von Guinea/Bissau. Schließlich eine Frau, die bei Kriegshandlungen ihren Arm verloren hat und für die Kamera zunächst als 'schwarze Venus von Milo“ in Szene gesetzt wird, dann während sie ihrem Baby die Brust gibt als „schwarze Madonna mit dem Kinde'. In ihrer Einleitung zum Film verweist die indisch-stämmige Literaturwissenschaftlerin Gayatari Chakravorty Spivak anhand dieser Szene auf die Gender-Aspekte des Kolonialismus, in dem Kolonisierte und Kolonialherren oft einstimmig Frauen gewaltsam gendern und mit großem Pathos die Mutterschaft preisen. Auch in dem Kapitel über den Freiheitskampf der Frelimo in Mozambique wird die Rolle der Frauen im Befreiungskampf thematisiert, der für sie zugleich ein Kampf für Gleichberechtigung ist.

Darüber hinaus ist gerade der fehlende Gegenwartsbezug das größte Problem des Films. Dramaturgisch ist er so geschickt gemacht, dass die 85 Minuten Laufzeit wie im Flug vergehen. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die doppelte Historisierung durch die Archivbilder und den Text Fanons als distanzierendes Moment wirkt. Fanon ist nicht nur mit seiner Mischung aus marxistischen und psychologischen Theoremen seiner Zeit verpflichtet, auch der unmittelbare Eindruck der Unabhängigkeitskriege in Afrika ist seinem Text deutlich anzumerken. Als Geschichtsstunde und Dokumentensammlung zu Kolonialismus und Dekolonisation mag Olssons Film gut funktionieren und durchaus seinen Wert haben. Gerade der Schluss aber, wenn mit Bild- und Wortgewalt die Ablösung der ehemaligen Kolonien vom kulturellen und politischen Erbe Europas, die Schaffung eines „neuen Menschen“ beschworen wird, will offenbar auf mehr hinaus. Es scheint paradox, aber gerade die kritische Distanz zu Fanon, die dem Film weitestgehend abgeht, hätte es wohl gebraucht, um seine abschließenden Worte zu mehr zu machen als einer Utopie vergangener Tage.

Ein Sommer in der Provence

(F 2014, Regie: Rose Bosch)

Gefühle aus der Gewürzmühle
von Carsten Moll

Bei ihrem letzten Film hatte die Regisseurin und Drehbuchautorin Rose Bosch noch das Sujet auf ihrer Seite: „Die Kinder von Paris“ („Le rafle“, 2010) erzählt von einem der dunkelsten Kapitel …

Bei ihrem letzten Film hatte die Regisseurin und Drehbuchautorin Rose Bosch noch das Sujet auf ihrer Seite: „Die Kinder von Paris“ („Le rafle“, 2010) erzählt von einem der dunkelsten Kapitel der französischen Geschichte und bereitete die Massenverhaftung französischer Juden durch die mit den Nazis kollaborierende Pariser Polizei und die daran anschließende Deportationen im Juli 1942 als Spielfilm auf. Freilich war Bosch nicht die erste Filmemacherin, die sich mit den als rafle du Vélodrome d’Hiver bekannten Ereignissen auseinandersetzte (man denke an Joseph Loseys kafkaesken „Monsieur Klein“ von 1976), aber trotzdem punktete Boschs Film bei seinen Befürwortern vor allem durch die Wahl seines Themas und weniger durch die Umsetzung. Nicht zu Unrecht wies die andere Hälfte einer zwiegespaltenen Filmkritik auf Boschs manipulative und wenig visionäre Regie hin und bemängelte hohles Pathos und stumpfe Klischees. Die Regisseurin selbst tat die Kritik an ihrem Werk einfach dadurch ab, indem sie ihren Film mit den historischen Geschehnissen, die er behandelt, gleichsetzte: Wer bei „Die Kinder von Paris“ nicht weinen müsse, könne nur ein Zyniker sein, der menschliche Emotionen genau wie Hitler (!) als Schwäche betrachte, schlussfolgerte Bosch 2010 in einem Interview.

In ihrem neuen Film widmet sich Bosch nun nicht mehr der Weltgeschichte, sondern Bruchstücken ihrer eigenen Biografie. An die Stelle der peniblen Recherche, die die ehemalige Journalistin als Vorbereitung zu „Die Kinder von Paris“ betrieben hat, tritt in „Ein Sommer in der Provence“ der Rückgriff auf Erinnerungen an die eigenen Großeltern sowie an ihre geliebte Heimat im Südosten Frankreichs. Zwischen Olivenbäumen, Dorfbistros und abgelegenen Bauernhäusern entspinnt sich hier eine tragikomische Familiengeschichte um einen mürrischen Großvater (Jean Reno), der zum ersten Mal auf seine drei Enkelkinder aus Paris trifft. Die Hintergründe, die zu dieser verzwickten Ausgangssituation führen, in der Opa und Enkel nichts voneinander wissen wollen und nun aber doch die Sommerferien gemeinsam verbringen müssen, werden umständlich und plakativ in den Dialogen der ersten Szenen ausgebreitet – nachvollziehbar oder auch bloß ansatzweise glaubwürdig werden Geschichte und Figuren dadurch allerdings nicht.

Auf dem Niveau einer TV-Schmonzette inszeniert Bosch ihren Clash der Generationen und es ist schmerzhaft zuzusehen, wie die Regisseurin und Drehbuchautorin dabei auch ihre Schauspieler ans Messer liefert. Während Reno sich tapfer schlägt und immerhin so eine Art Entwicklung durchmachen darf, wirken vor allem die jugendlichen Darsteller hoffnungslos überfordert bei dem Versuch, ihren flachen Figuren Leben einzuhauchen. Anna Galiena müht sich da erfolgreicher ab; mehr als die bis zum Bersten gutmütige Oma zu geben, hat sie aber allerdings auch nicht zu tun.

Selbst die andere große und oft schon großartig in Szene gesetzte Protagonistin dieses Films kommt nicht gut weg: Selten wirkte die sommerliche Provence so steril und totgeguckt wie vor Stéphane Le Parcs Kamera. Mehr als ein paar gleichmäßig ausgeleuchtete und mit leichtem Gelbstich versehene Postkartenmotive ringt er den provenzalischen Landschaften nicht ab. Es herrscht visuelle Dürre in diesem Film, der mit seinen Entjungferungen und Blicken ins Dekolleté doch so gerne von Sinnlichkeit erzählen würde.

Statt die Wirklichkeit zu pointieren und somit in der Kunst etwas, das man Wahrhaftigkeit nennen könnte, zu produzieren, walzt „Ein Sommer in der Provence“ alle Realitäten bloß zu Plattitüden aus. Das Ergebnis ist ein substanzloses Rührstück, über das Bosch munter ihren bunten Mix aus Gefühlen und eine große Portion Provinzkitsch streut. Dazu dudelt ein Soundtrack, der mit dem Film und seinen Figuren selten etwas zu tun hat, aber mit Songs von Mungo Jerry bis Coldplay jedem Formatradio Konkurrenz macht – allein dass zwischendurch nicht noch eine Stimme die größten Hits der 70er bis heute anpreist, irritiert ein wenig. Dass das Leben mehr Fantasie habe als die einzelnen Menschen, darf die Enkeltochter zum Finale hin feststellen, wenn alle – wie unerwartet! – miteinander versöhnt sind und sich Alkoholprobleme sowie emotionale Traumata plötzlich in Luft auflösen. Diese Weisheit klingt im Kontext von „Ein Sommer in der Provence“ in erster Linie nach der Kapitulation der Rose Bosch, die es mit Fantasie gar nicht erst versuchen will.

Das große Museum

(AT 2014, Regie: Johannes Holzhausen)

Von Mal- und anderen Künsten
von Lukas Schmutzer

Das Kunsthistorische Museum in Wien „zählt zu den größten und bedeutendsten Museen der Welt“ (Wikipedia). Es verfügt über so berühmte Werke wie Vermeers Malkunst, oder den Turmbau zu Babel von …

Das Kunsthistorische Museum in Wien „zählt zu den größten und bedeutendsten Museen der Welt“ (Wikipedia). Es verfügt über so berühmte Werke wie Vermeers Malkunst, oder den Turmbau zu Babel von Pieter Bruegel dem Älteren, oder jetzt auch wieder über die Saliera Cellinis, welche es vor einigen Jahren zu tatsächlicher, also massenmedial tauglicher Berühmtheit brachte, als sie durch einen spektakulär anmutenden Raub, den das FBI immerhin zu den „Top Ten Art Crimes“ zählt, von ihrem ordentlichen Ort entfernt wurde. Was sich dann als weitaus weniger spektakulär und vielmehr absurd erwies, ist die Tatsache, dass das Spektakel von der Wachmannschaft verschlafen und die Lücke, die es hinterlassen hat, erst durch die Reinigungskraft bemerkt wurde. Dabei hatte das goldene Salzfass schon seit seiner Entstehung eine bewegte Geschichte hinter sich, und auch seine Entstehung stand ganz und gar im Zeichen des wirren Lebenswandels seines Fertigers, des Bildhauers Cellini (der weitaus mehr als nur Bilder, sondern bereitwillig auch in Gesichter haute).

Aber es muss nicht so weit ausgeholt werden, um die Autorität des Museums befragen zu können. Johannes Holzhausens grandioser Dokumentarfilm „Das große Museum“ erzählt solche Dinge nicht, sondern seziert die verschiedenen Schichten jener Räumlichkeiten, welche die Werke in den Wirren ihres Wandels stabilisieren sollen. Das ist beinah wörtlich zu nehmen, kreist der Film vor allem um die Renovierungsarbeiten der Kunstkammer, eine umfangreiche Sammlung zu der auch Cellinis Saliera zählt, und die nach mehr als zehnjähriger Schließung im vergangenen Jahr unter viel Aufmerksamkeit – vielleicht nicht ganz so viel wie nach dem Raub – neu eröffnet wurde.

Ein anfänglicher Kameraschwenk von der Hofburg innerhalb der Wiener Ringstraße zum Kunsthistorischen Museum gegenüber und außerhalb derselben legt die historische Verzahnung politischer Macht mit Kunst nahe, welche ihre Entstehung und Konservierung garantiert und im Gegenzug von derselben repräsentiert wird. Dass diese Repräsentationen heute vor allem Kassenschlager sind, wird dann in weiteren Folge und nicht unlustig aufgedeckt. Das Museum wandelt sich, geht mit der Zeit, um seine Exponate zu erhalten. Nahe legt dies schon die bereits im Trailer zitierte Weisheit Giuseppe Tomasi di Lampedusas („Es muss sich alles ändern, damit alles bleibt, wie es ist“), die Visconti so eindrucksvoll in Bilder übersetzte; sind es bei ihm allerdings die politischen Ordnungen, die einander ablösen und in denen die Mächtigen ihre Positionen zu halten trachten, schauen wir hier den Restauratoren bei ihren erhaltenden Arbeiten über die Schulter, verfolgen die ökonomischen Debatten der Museumsleitung, hören den Lärm der Bauarbeiter, die die Wände abtragen, oder bekommen gezeigt, wie mit Staub und Ungeziefer umgegangen wird (aber auch die zeitgenössische Bindung des Museums zur Politik wird dokumentiert).

Solcherhand bekommt die Heiligkeit des Museums Risse: einfach, indem ihre profanen Seiten aufgedeckt werden. Vor allem der Schnitt erweist sich hier als exzellenter Komplize, der diese agonalen Elemente meist komisch auflöst. Kennen wir nicht alle diese Kindheitserfahrungen, sei es durch die Schule, sei es durch die Familie, in denen ein gleichermaßen faszinierter wie seriöser Erwachsener uns durch die sakralen Räume geschliffen hat und zugleich zur ständigen Ruhe gemahnt hat? In Johannes Holzhausens Film gibt es Arrangements, die vielleicht all das, was wir damals unterdrückten, wieder aufleben lassen.

Die Perspektive, die dabei eingenommen wird, gibt sich zurückhaltend und bleibt bei aller räumlichen Nähe den Dingen auf Distanz. Das Off bleibt stumm, kein Erzähler schildert uns die großen Zusammenhänge und Bedeutungen der Räumlichkeiten. Zusehends bekommt man das Gefühl, dass es die Kamera selbst ist, die spricht. Dergestalt gewährt „Das große Museum“ nicht nur einen Blick hinter die Kulissen eines großen Museums, sondern entfaltet einen Dialog zwischen dem Medium Film und einer Institution, die Bilder auf ihre eigene Weise ordnet, exponiert oder fast aktengleich schichtet.

No Turning Back

(USA / GB 2013, Regie: Steven Knight)

Bröckelnde Fundamente
von Wolfgang Nierlin

Ivan Locke (Tom Hardy) ist ein Mann mit Prinzipien. In seinen Entscheidungen ist er bestimmt, bei seiner Arbeit als Bauleiter agiert er präzise und verantwortungsvoll. Als er am Ende eines …

Ivan Locke (Tom Hardy) ist ein Mann mit Prinzipien. In seinen Entscheidungen ist er bestimmt, bei seiner Arbeit als Bauleiter agiert er präzise und verantwortungsvoll. Als er am Ende eines langen Tages seine Großbaustelle in Birmingham verlässt, wo für den nächsten Morgen eine gigantische Beton-Lieferung für den Bau eines Hochhaus-Fundaments erwartet wird, ist er müde und erkältet. „ADIO“ lautet die Buchstabenfolge auf dem Kennzeichen seines BMW, was vielleicht ein früher Hinweis darauf ist, dass er als wichtigster Mann bei diesem Unternehmen nicht dabei sein wird. Auch seine Frau Katrina und die beiden Söhne Eddie und Sean, die ihn zur Fernsehübertragung eines Fußballspiels erwarten, werden an diesem Abend vergeblich auf seine Heimkehr hoffen. Denn Ivan Locke ist in ganz anderer Mission unterwegs nach London, wo in einem Kreißsaal die 43-jährige Zufallsbekanntschaft Bethan Maguire ein Kind von ihm erwartet.

„Ich habe keine Wahl“, begründet Ivan gegenüber einem Arbeitskollegen seine unumstößliche Entscheidung. Denn obwohl er die ihm fremde Frau nicht liebt, ist er willens, sich seiner Verantwortung zu stellen und ihr zu helfen. Während seiner anderthalbstündigen nächtlichen Fahrt, die Steven Knights Film „No Turning Back“ (Locke) quasi in Realzeit wiedergibt, kämpft Ivan in einer Art Dauertelefonat, das er über die Freisprechanlage seines Wagens führt, an allen Fronten. Und man kann kaum glauben, dass unser Mann bei so viel emotionalem Stress nicht nur die Fahrtüchtigkeit behält, sondern auch einen klaren Kopf und sich überdies als guter Psychologe erweist. Immer wieder spürt man aber auch die Differenz zwischen den Geschlechtern, wenn Ivan vergeblich um Verständnis bei seiner Ehefrau wirbt oder wenn Bethan Gefühle ausdrückt und verhalten einfordert, die er nicht teilt. Gegenüber seinem Arbeitgeber und bei der gewissermaßen „ferngesteuerten“ Abwicklung seiner Arbeit zeigt er sich wiederum äußerst rational und geradlinig.

Steven Knight spielt mit diesem Topos des männlichen Helden, der die Dinge in die Hand nimmt und seinen Weg geht. Im minimalistischen, kammerspielartigen Setting seines Films geschieht dieses Handeln paradoxerweise auf engstem Raum. Ivan vollzieht Kommunikationshandlungen, während er sich, wie ein Gefangener eingeschlossen in einem Käfig, fortbewegt. Der Ingenieur ist ein Mann des Bauens, dessen private Existenz gleichzeitig bröckelt. Jenseits dieser Metaphorik, deren ziemlich forcierte filmische Konstruktion man als Zuschauer akzeptieren muss, reflektiert Steven Knight in seinem ausgeklügelten Drehbuch aber auch die Frage nach Schuld und Verantwortung, die sich im Falle des Protagonisten aus einer schwierigen Vater-Sohn-Geschichte speist. Von den Stimmen seines Lebens umgeben, transportiert Ivan Lockes nächtlicher Trip nicht zuletzt eine Stimmung aus Anonymität und Einsamkeit. Diese wird durch ein atmosphärisch dichtes, von zahlreichen Spiegel- und Lichteffekten grundiertes Bild-Gewebe, das Kameramann Haris Zambarloukos gestaltet hat, schließlich ins Irreale gesteigert.

Die Karte meiner Träume

(F / USA 2013, Regie: Jean-Pierre Jeunet)

Der neue Leonardo
von Wolfgang Nierlin

„Der Westen“, so lautet die erste Kapitelüberschrift des Films, besitzt weite, grüne Landschaften, die unter einem blauen, luftigen Himmel liegen, und erstrahlt in freundlichem Licht. Paradiesisch könnte man das fast …

„Der Westen“, so lautet die erste Kapitelüberschrift des Films, besitzt weite, grüne Landschaften, die unter einem blauen, luftigen Himmel liegen, und erstrahlt in freundlichem Licht. Paradiesisch könnte man das fast nennen, läge die Coppertop Ranch in den Pioneer Mountains von Montana nicht so entlegen. Nur die vorbeifahrenden, ewig langen Güterzüge suggerieren eine Verbindung zum Rest der Welt und lassen den Ich-Erzähler T. S. Spivet (Kyle Catlett), ein hochbegabtes, genialisch veranlagtes Kind, von einem anderen Leben träumen. Denn der wissbegierige Junge und Hobby-Forscher, der seine Umgebung kartographiert, seine familiären Beziehungen graphisch darstellt und an einem Perpetuum mobile („Der heilige Gral der Erfinder“), bastelt, fühlt sich unverstanden und fehl am Platz. Sein Whiskey trinkender Cowboy-Vater (Callum Keith Rennie) zieht ihm, dem „neuen Leonardo“, seinen praktischer veranlagten Zwillingsbruder Layton vor; seine ältere Schwester hegt Schauspielerinnen-Träume und bezeichnet T. S. als Spinner; und seine Mutter Dr. Clair (Helena Bonham Carter), eine leicht verschrobene Insektenforscherin, hat nur Sinn für Käfer und Larven.

Doch dann erhält T. S. einen Anruf von der berühmten Smithsonian Institution in Washington D.C., das ihm den renommierten Baird-Preis verleihen möchte; und Jean-Pierre Jeunets phantasievoller neuer Film „Die Karte meiner Träume“ (The young and prodigious T. S. Spivit), entstanden nach dem hochgelobten Roman von Reif Larsen, verwandelt sich in ein abenteuerliches Rail- und Roadmovie. Die Lust des französischen Regisseurs am filmischen Fabulieren, sein Spiel mit dem Möglichkeitssinn der Imagination sowie seine detailverliebte Gestaltung eines kindlich-wissenschaftlichen Universums sind auch in der Aneignung eines fremden, wiewohl seelenverwandten Stoffes ungebrochen. Gedreht auf dem nordamerikanischen Kontinent, führt T. S. Spivets heimlicher Trip in Hobo-Manier, begleitet von allerlei skurrilen Gestalten, von West nach Ost, von den Bergen zu den Hochhäusern und aus der wild wuchernden Natur zur rechtwinkligen Architektur der Zivilisation. Dabei transportiert Jeunets Film nicht zuletzt filmgeschichtlich auch einige amerikanische Mythen mit sich.

Im Zentrum des teils märchenhaften Werkes steht jedoch die Verarbeitung und Bewältigung eines Traumas, das über der Familie Spivet als dunkles Schweigen lastet. Seit sich sein Bruder Layton beim gemeinsamen Spielen mit einem Gewehr erschossen hat, leidet T. S. unter Schuldgefühlen. Seine einsame Reise ins Herz der Wissenschaft bewirkt insofern auch eine Öffnung und Verwandlung, die schließlich den Familienzusammenhalt erneuert. Dass dieser mehrfache Initiations- und Reifeprozess ausgerechnet in einem Fernsehstudio vor laufenden Kameras stattfindet, wirkt in der satirischen Überzeichnung allerdings leicht oberflächlich und angestaubt. Die notwendige Kritik an wissenschaftlicher Profilierungssucht, karikierend dargestellt durch die Figur der Miss Jibsen (Judy Davis), und medialen Vermarktungsstrategien ist in Jeunets Kosmos dann doch zu nett und harmlos.

Finding Vivian Maier

(USA 2013, Regie: John Maloof, Charlie Siskel)

Die dunkle Seite der Kunst
von Wolfgang Nierlin

Im Winter 2007 ersteht der junge Makler und Historiker John Maloof bei einer Versteigerung für 380 Dollar eine Kiste voller Negative aus den Beständen einer Lagerräumung. Beeindruckt vom künstlerischen Wert …

Im Winter 2007 ersteht der junge Makler und Historiker John Maloof bei einer Versteigerung für 380 Dollar eine Kiste voller Negative aus den Beständen einer Lagerräumung. Beeindruckt vom künstlerischen Wert der Fotografien, die zum großen Teil alltägliche Begebenheiten, Straßenszenen und Portraits wiedergeben, forscht er nach der unbekannten Urheberin des noch unentdeckten, brachliegenden Werkes. In ihrem beindruckenden, viele Fragen zum Verhältnis von Leben und Kunst aufwerfenden Dokumentarfilm „Finding Vivian Maier“ erzählen Maloof und sein Koregisseur Siskel von dieser äußert spannenden Spurensuche, die zugleich zu einem Künstlerportrait wird. In ihrem Versuch, den Menschen hinter dem Werk sichtbar zu machen, gewinnt auch Vivian Maiers Kunst immer mehr Kontur. Daneben stellt der Film die beunruhigende Frage, warum Maiers Arbeit, die von Experten neben die Werke von Robert Frank, Helen Levitt und Diane Arbus gestellt wird, so lange unentdeckt blieb und vielleicht nur durch einen Zufall vor dem Verschwinden bewahrt wurde.

Der Film „Finding Vivian Maier“ bildet den von Neugier und Empathie getriebenen Rechercheprozess im Austausch mit Zeitzeugen und Kunstkennern ab und verhilft der unbekannten Fotografin zugleich zur Veröffentlichung. Hätte die Portraitierte, die vermutlich zwischen dem Wunsch nach Anerkennung und der Scheu vor dem Rampenlicht hin und her gerissen war, das gewollt, fragt sich John Maloof, um Verständnis bemüht, immer wieder. Denn offensichtlich war Vivian Maier eine verschlossene Einzelgängerin und rätselhafte Frau, die sich hinter verschiedenen Masken versteckte und zeitlebens als Kindermädchen wechselnder Haushalte ihr bescheidenes Auskommen hatte. Sie sei paradox, unerschrocken, exzentrisch und geheimnisvoll gewesen, sagen ihre ehemaligen Schützlinge und Arbeitgeber über sie. Vor allem war Vivian Maier, die nie ohne ihre Rolleiflex aus dem Haus ging, aber eine exzessive Sammlerin, deren streng abgeschirmte Wohnung mit Zeitungsstapeln, Negativen, alten Kleidern und Erinnerungsstücken vollgestopft war.

Von hier aus folgt Maloof wiederum Hinweisen, die der unangepassten Außenseiterin eine „dunkle Seite“ oder gar eine „psychische Störung“ attestieren. So berichten ihre mittlerweile erwachsenen Schützlinge von zeitweiliger Vernachlässigung, seltener auch von Misshandlungen sowie von schockierenden Erlebnissen, denen sie von ihrer Betreuerin ausgesetzt wurden. Möglicherweise habe die 1926 in New York geborene Maier, deren familiäre Wurzeln in einem Bergdorf in den französischen Alpen liegen, unter einem Trauma gelitten. Der Zusammenhang zwischen künstlerischem Genie und seelischem Leiden scheint hier einmal mehr offensichtlich und erklärt zu einem Teil vielleicht auch ihre Abstinenz vom Kunstbetrieb. Aber wie alle Künstler war auch Vivian Maier, die sich mit den Armen identifiziert, sich als Spionin bezeichnet und dabei hinter ihrer Kamera versteckt hat, getrieben von dem Bedürfnis nach Mitteilung.

Wie der Wind sich hebt

(J 2013, Regie: Hayao Miyazaki)

Gaben des Windes
von Lukas Schmutzer

Eigentlich beruht die Berühmtheit der “Kamikaze”-Bezeichnung, die zu einem Synonym für Selbstmordangriffe geworden ist, auf einem Missverständnis. “Kamikaze”, das heißt in etwa “göttlicher Wind” oder “Hauch Gottes” und ist in …

Eigentlich beruht die Berühmtheit der “Kamikaze”-Bezeichnung, die zu einem Synonym für Selbstmordangriffe geworden ist, auf einem Missverständnis. “Kamikaze”, das heißt in etwa “göttlicher Wind” oder “Hauch Gottes” und ist in der tradierten Bedeutung zunächst als ein rettender, beschützender Wind zu verstehen, wie es jene Taifune im 13. Jahrhundert waren, die zweimal die Invasionsflotte Kublai Khans vor der Küste Japans vernichteten. Die Spezialeinheiten der japanischen Marine, die im 2. Weltkrieg Befehl hatten, ihre Flugzeuge in feindliche Ziele zu steuern, wurden “Tokkotai” genannt, was die japanische Entsprechung von “Spezialeinheit” ist; dieser Einheiten gab es mehrere, die wiederum verschiedene Namen trugen. Jene Einheit, die sich am 25. Oktober 1944 erstmals mit fünf zu Bomben umfunktionierten Mitsubishi Zero-Jagdflugzeugen auf die amerikanische Flotte stürzte, flog unter einer Bezeichnung, die nach sinojapanischer Lesart “shinpu;” gelesen werden kann, oder nach japanischer Lesart “Kamikaze”. “Kamikaze”, das bezeichnete keine gesamte Gattung, sondern nur die Abteilung der Zero-Jäger dieser Gattung, die als Wille und Wind Gottes die Feinde in die Flucht schlagen sollten.

“Wie der Wind sich hebt” erzählt aus der Biographie von Jiro Horikoshi, dem Konstrukteur des Zero-Jagdflugzeuges (auch: Mitsubishi A6M); genaugenommen erzählt dieser Film eine Geschichte, die den Zero als ein Meisterwerk erscheinen lässt, auf das diese Biographie von vornherein zugesteuert hat. Der Titel – orig. “Kaze Tachinu”, englisch “The Wind Rises” – ist Paraphrase eines Verses von Paul Valéry, in den dessen nicht so kurzes Gedicht “Le Cimetière Marin” (“Der Friedhof am Meer”) nach ausführlichen Gleichnissen von Vergänglichkeit und Anrufungen unergründbarer Naturerscheinungen mündet: “Le vent se lève! … Il faut tenter de vivre!” (“Der Wind erhebt sich! … Es muss gewagt werden, zu leben!”) Der Film legt diese Zeilen einmal in den Mund des italienischen Flugzeugbauers Giovanni Battista Caproni; sie sind als eine von vielen Äußerungen und Darstellungen des Films zu verstehen, die die Nutzung des Luftraums und die Faszination des Fliegens dem Militär oder – je nach Blickwinkel – dem Vater aller Dinge entreißen wollen. Einen französischen Vers über den Wind, der im Angesicht ewigen Vergehens zum Leben auffordert, als Motto einer japanischen Lebensgeschichte in Stellung bringen, mit deren Schaffen der “Wind” zur Bezeichnung einer berüchtigten Kriegstechnik geworden ist, das ist prekär.

Die Kontroversen, die im Vorjahr in japanischen Medien über diesen Film geführt wurden, lassen sich also im Grunde schon aus dem Ineinander von Titel und Stoff ableiten. Nationalistische Gruppierungen warfen dem Regisseur seine unpatriotische, da von Pazifismus geprägte Darstellung Horikoshis vor, während ihm von links oder seitens südkoreanischer Journalisten ganz im Gegenteil vorgehalten wurde, den Handlanger einer Tötungsmaschinerie rechtfertigen zu wollen. Dass das Studio des Regisseurs die Kriegsflugzeuge bereits im Namen trägt, wirft dabei die Frage auf, ob diese Ambivalenz nicht seit jeher Programm war.

Beim Regisseur handelt es sich um Hayao Miyazaki, der mit seinen Filmen stets in fantastische Welten führte. Entweder wiesen deren Bilder oft nur indirekten Bezug zu unserer Wirklichkeit auf; dann wurde nur an wenigen Stellen ein konkretes Band zu derselben geknüpft, wenn fast beiläufig von Jonathan Swift oder über die “neueste Mode aus Kitzbühel” gesprochen wurde. Oder, andere seiner Filme zeigten im Überschreiten der Wirklichkeit bzw. im Hereinbrechen der Imagination notwendige Formen, um Konflikte darstellen und lösen zu können. Dieser zweiten Richtung ist auch “Wie der Wind sich hebt” zuzurechnen; allerdings hatte noch kein Film Miyazakis direktere historische Referenzen; und in noch keinem seiner Filme wurden die Formen der Imagination auf einen derart spezifischen Bereich begrenzt: Die Imagination wird hier ausschließlich vom Wind getragen. Das demonstrieren die Träume Horikoshis, in denen gesprungen, gefallen, geflogen wird; aber noch mehr tun es die Erfahrungen des jungen Technikers, der am Arbeitsplatz die Kräfte, die potentiell auf seine Flugzeuge wirken, zu imaginieren imstande ist.

Selbst die Liebesgeschichte, die in diese Erzählung über das Schaffen eines Ingenieurs verschachtelt ist, gehorcht der Kraft des sich erhebenden Windes. Darin entzieht sich die schwer kranke Naoko den Liegekuren und der Hermetik des Zauberbergs, um Horikoshi – in seiner Arbeit, wohlgemerkt – nahe sein zu können. Eine Tat, im Übrigen, die voller Hoffnung an eine gleichnamige Figur in Murakamis zwanzig Jahre später angesetztem “Naokos Lächeln” ebenso herangetragen wird.

Mit einem Protagonisten, der ähnlich dicke Brillengläser wie der Regisseur trägt, ist “Wie der Wind sich hebt” als wahrscheinlich letzter Film Miyazakis vielleicht auch dessen persönlichster. In diesem Sinne ließe er sich gerade aufgrund seiner prekären historischen Stellungnahmen als Schlüssel zum gesamten Werk des Regisseurs lesen, welcher die Kehrseiten dessen wundervoller Fiktionen offenbart. So erinnern die am Boden aufgebahrten Überreste eines verunfallten Prototypen Horikoshis in der Art, wie sie gezeigt werden, an einen inaktiven Himmelskrieger aus “Das Schloss im Himmel”, der dort wieder erwachen wird; oder dürfen wir hier eine zum Fliegen konzipierte Festung sehen, die sich erstmals als gänzlich fluguntüchtig erweist, wenn ihre Flügel vom Wind zerrissen werden.

“Wie der Wind sich hebt” bringt den Krieg zur Sprache und zeigt eindringlich, wie er die Konstruktionen der Ingenieure instrumentalisiert, mitsamt den Folgen, die dies birgt; zugleich zeigt er uns die Werke der Imagination als Ausdruck des Lebens, der seinen Zweck nicht im Krieg findet und damit auch keine Verantwortung trägt – Hayao Miyazaki ist der einzige, dem ich das glauben wollte.

Roland Klick Filme – DVD Collection

(D 2014, Regie: Roland Klick)

Schillernde Außenseiterfilme
von Nicolai Bühnemann

Am Ende tritt sie ein, die Katastrophe, die nach Walter Benjamin darin besteht, dass alles so weiter geht. Der Junge zieht sich im Bad selbst die Plastiktüte über den Kopf, …

Am Ende tritt sie ein, die Katastrophe, die nach Walter Benjamin darin besteht, dass alles so weiter geht. Der Junge zieht sich im Bad selbst die Plastiktüte über den Kopf, mit der er zu Beginn seine kleine Schwester erstickt hatte, deren Leiche er hinterher in einem Autowrack „entsorgte“. Nach zwei tiefen Atemzügen reißt er sie herunter, schlurft zu seinen Eltern an den Esstisch. Die erdrückende Stille wird nur von der Aufforderung der Mutter unterbrochen, die Serviette zu nehmen. Dann ist der Film vorbei.

In der letzten Szene von Roland Klicks erstem langen Spielfilm, „Bübchen“, gibt es aus der Spießerhölle, als die die bundesrepublikanische Kleinstadt in den späten sechziger Jahren erscheint, kein Entkommen. Publikum und Kritik lehnten den Film seinerzeit beinahe einhellig ab. Die Begründung, dass der Regisseur die Verhältnisse, die er zeigte, nicht soziologisch und psychologisch deute, erscheint geradezu absurd. Lässt sich doch schwer ein Film vorstellen, dessen Kritik an der Vorstadtgesellschaft düsterer ausfällt, die zur Wahrung der heilen Fassade über (Kinder-)Leichen geht. In „Bübchen“ erscheinen nicht nur verschiedene Formen familiärer Gewalt, die vermeintlichen Träume des „Wirtschaftswunders“ enden hier auch sehr buchstäblich auf dem Schrottplatz. Noch und gerade, wenn bierselig gefeiert wird, liegt eine tief empfundene Traurigkeit über dem Geschehen, und das wahrlich beeindruckende Spiel von Sascha Urs als Titelfigur lässt den Wortsinn des Begriffs Depression erkennen: ein bedrückter Junge in bedrückenden Verhältnissen.

Roland Klick, der am 4. Juli 75 Jahre alt wurde, begründete mit „Bübchen“ 1968 seine Karriere als Filmemacher und blieb im deutschen Filmbetrieb immer ein Außenseiter. Da war auf der einen Seite das Autorenkino des „Neuen Deutschen Films“, aus dessen Reihen der Vorwurf kam, er sei zu „kommerziell“, weil er immer Filme machen wollten, die auch ein Publikum fanden. Da war aber auch der Mainstream, in dem Klick mit seinen zutiefst persönlichen Filmen, seinem unbedingten Willen, soziale Realitäten möglichst unverstellt auf die Leinwand zu bringen, nie wirklich Fuß fassen konnte. Hatte ihm Bernd Eichinger selbst vorgeschlagen, bei „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ Regie zu führen, kam die Zusammenarbeit letztlich doch nicht zustande, weil die Produktionsfirma sich weder mit Klicks Drehbuch anfreunden konnte noch damit, wie er seine Darsteller_innen direkt aus der Drogenszene castete.

Vielleicht rührt von seiner eigenen Außenseiterrolle die kompromisslose Empathie für die Protagonisten seiner Filme her – Außenseiter allesamt. Seine nächsten beiden – und wohl bekanntesten – Filme handeln von Verdammten, Verlorenen, dem Tode geweihten, die sich ein letztes Mal aufzubäumen scheinen, mit allem was sie haben, ankämpfen gegen ihr längst besiegeltes Schicksal – in Filmen, die wirken wie delirante Fieberträume, neunzig Minuten lang ausgedehnte Agonien.

„Deadlock“ (1970) ist ein Western. Irgendwie zumindest. Ein „Italowestern“, der mit überwiegend deutschem Team auf Deutsch in der israelischen Wüste gedreht wurde, und (nicht nur in seiner Produktionsgeschichte) ein Film, wie es keinen zweiten gibt. Marquard Bohm, Mario Adorf und Anthony Dawson kämpfen in einem gott- und menschenverlassenen Wüstenkaff um zwei Pistolen und einen Koffer voll Geld. Betty Segal als alternde Prostituierte und Mascha Rabben als ihre wunderschöne, stumme Tochter sind bei diesen Kämpfen immer irgendwie außen vor – und müssen doch am Ende für ihre bloße Anwesenheit mit dem Leben bezahlen. Angetrieben von den hypnotisch stampfenden Klängen der Gruppe Can, bewegt sich der Film mit seiner einzigartigen Mischung aus Psychedelik, existenzialistischer Vergeblichkeit und einer Härte, wie sie typisch war für das italienische Genre-Kino der Zeit, auf den Abgrund zu. „Deadlock“ ist auch ein durch und durch physischer Film. Ein Film über Körper, die die unerbittlich brennende Sonne im Gegenlicht zu Schatten verwandelt, aus dem Bild zu tilgen trachtet. Ein Film über Gesichter. Marquard Bohms Gesicht zu Beginn, dreckverkrustet. Mario Adorfs Gesicht, über das der Schweiß in Sturzbächen rinnt, während die anderen Männer ihr grausames Spiel mit ihm treiben. Mascha Rabbens Gesicht, umweht von ihren feuerroten Haaren, mit denen der Wind spielt. So gnadenlos wie der Determinismus der Handlung und der Blick der Kamera auf das mörderische Treiben auch sind, da ist doch immer wieder eine sehr eigene Form der Schönheit, die die Trost- und Ausweglosigkeit konterkariert. Danach trachtet, den Figuren eine Würde zurück zu geben, die ihnen ihre Situation längst genommen hat.

Nach „Deadlock“ wurde Klick die Regie für einen Italo-Western angeboten. Der aber wollte sich weder von einer filmischen Strömung noch von einem bestimmten Genre vereinnahmen lassen. Stattdessen ließ er sich einmal mehr von seinem eigenen Leben zu einem Film inspirieren, bei dem er, wie schon beim Vorgänger, für Regie, Buch und Produktion selbst verantwortlich zeichnete. An der Geschichte eines jugendlichen Ausreißers, den er bei sich aufgenommen hatte, orientierte er sich bei dem Drehbuch für „Supermarkt“ (1973). Die Hauptrolle besetzte er mit Charly Wierzejewski, einem Laien, der eine ähnliche Biographie hatte, wie seine Figur. „Das Wesen von „Supermarkt“ ist das Weglaufen, das Rennen, das Sich-nicht-erwischen-lassen“, erklärte Klick, und das bedinge, dass er einen Darsteller brauche, „der wirklich rennen kann (…) und einen Kamermann, der ihm hinterherkommt.“ Tatsächlich ist es vielleicht das Zusammenspiel von dem später nach Hollywood gegangenen Jost Vacano hinter und Wierzejewski vor der Kamera, das „Supermarkt“ zu einem der schönsten Kleinodien der Geschichte des deutschen Films macht. Rastlos folgt die Kamera der Figur durch Hamburg. Zwischen Hafen, Alster und nächtlichem St. Pauli. Zwischen einem engagierten Journalisten, der ihm helfen möchte, von der Straße zu kommen, einem schmierigen Gangster, der ihn immer tiefer in seine kriminellen Machenschaften hineinzieht, und einer Prostituierten, die er „retten“ will, um mit ihr abzuhauen und sein altes Leben hinter sich zu lassen. Zwischen einer Unmittelbarkeit, einer Authentizität des gezeigten Milieus, die der Film durch die extrem agile Kamera und den Verzicht auf künstlich gesetztes Licht erreichte, und der Überhöhung des Outlaws und Outsiders, für die New Hollywood Pate stand. Die einzige extradiegetische Musik ist ein Song, dessen jaulende Gitarren Wierzejewski durch die Stadt treiben. „Celebration“ heißt er und auch der vom Regisseur selbst geschriebene Text gibt den Ton an:
„You know I want my celebration babe before I die
there’s no place were I feel bound.”
“Supermarkt” feiert das Leben, die Stadt und die Nacht – dem Ausgeschlossensein, dem Nicht-davon-kommen-können und dem Tod zum Trotz.

Wenn für Klick das Filmemachen immer auch ein großes Abenteuer war, dann bestand dieses Abenteuer in „White Star“ (1983) darin, Anfang der Achtziger einen Film mit Dennis Hopper zu drehen. Den Drehplan, so erinnert sich der Regisseur in einem Interview, gab die Kokainabhängigkeit des Stars vor, die es ihm nicht ermöglichte, mehr als zwei Stunden am Tag zu arbeiten. Hopper spielte einen skrupellosen Musikproduzenten, der versucht, einen Nachwuchsmusiker zum Star zu machen – mit allen Mitteln. Manisch agierend, wild gestikulierend, fauchend, fluchend und schreiend tut der Schauspieler dem Film, den er in einem fort an sich zu reißen versucht, keinen großen Gefallen. Ein Kritiker soll gesagt haben, „White Star“ sei der brillanteste misslungene Film, den er je gesehen hat. Dem ist wenig hinzuzufügen. Außer vielleicht, dass er als West-Berlin-Film ganz wunderbar ist. Eine Szene zeigt eine Abfolge von Stadtansichten. Im Morgennebel schimmernde Straßen, bröckelnde Fassaden, spielende Kinder, die Mauer. Die Szene wurde nur in den Film eingefügt, um ihn zu strecken, aufzulockern, weil es der Zustand des Hauptdarstellers nur erlaubte, das Allernotwendigste zu drehen. Der eigentümliche Glanz, die verträumte Aura, die sie der typischen Mauerstadt-Tristesse abringt, macht sie zur schönsten des Films.

Von 1987-89 drehte Klick einen weiteren Film in Berlin, der jedoch wegen Problemen zwischen dem Regisseur und der Filmförderung nie offiziell veröffentlicht wurde. Es ist bis heute sein letzter geblieben und zugleich der einzige mit weiblichen Hauptfiguren. „Schluckauf“ ist eine Komödie über die denkbar chaotische Freundschaft, die sich zwischen einer – scheinbar – naiven jungen Frau aus der norddeutschen Provinz und einem – scheinbar – abgebrühten Berliner Model entwickelt. Ist auch „Schluckauf“ durch die widrigen Produktionsbedingungen vielleicht nicht der Film, der er hätte werden können, so entsteht doch wieder in der Zerrissenheit ein sehr adäquates Bild der geteilten Stadt. Zwischen – einmal mehr wundervoll gefilmten – Kreuzberger Straßen und Postkarten- und Werbekitsch (Rio, Segelschiff, Sandstrand), zwischen dem poetisch Verträumten und dem heillos Überkandidelten, dem Onirischen und dem Grotesken, dem Tragischen und dem Komischen liegt oft nur ein einziger Schnitt.

In der auf der diesjährigen Berlinale gezeigten Doku „Roland Klick – The Heart is a Hungry Hunter“ bezeichnet sich Klick selbst als einen „Regie-Junkie“. Für uns ist es jammerschade, dass er sich seit nunmehr 25 Jahren in Abstinenz übt. Darin erzählt er auch, dass er an einem Roman arbeite, aus dem vielleicht auch ein neuer Film werden könnte. Ob und wann er dieses Vorhaben realisieren kann, steht in den Sternen. Bis dahin bleiben eine Handvoll der schillerndsten, exaltierstesten und zärtlichsten Filme, die je in Deutschland entstanden sind. Das Versprechen auf ein anderes deutsches Genre-Kino, das weiterhin seiner Einlösung harrt.

Zu seinem 75. Geburtstags spendierte die Filmgalerie 451, die Klicks Filme stolz als ihr „Herzstück“ bezeichnet, dem Filmemacher, seinen Verehrern und denen, die es werden wollen, eine neue Edition seines Werks. Darin finden sich „Deadlock“, „Supermarkt“ und „White Star“, die in einer eigens angefertigten HD-Abtastung in neuem Glanz erstrahlen. Eine weitere, exklusiv in dieser Box erhältliche Disc enthält „Schluckauf“ und die vier Kurzfilme, die Klick in den Sechzigern drehte. Dazu gibt es noch „The Heart is a Hungry Hunter“. Das üppige Zusatzmaterial bietet unter anderem Audiokommentare und Interviews zu allen Filmen. Ist es immer eine Freude, Klick erzählen und stellenweise über das Erzählte in Gelächter ausbrechen zu hören, bildet das klare Highlight wohl ein vierzig-minütiges Gespräch aus den späten Neunzigern, in dem sich Klick und Jost Vacano über „Supermarkt“ unterhalten. Mit unbändiger Leidenschaft vorgetragen, kann man hier sehr viel – nicht nur – über die technische Seite des Filmemachens erfahren. Abgerundet wird die Edition mit einem sehr schön gestalteten Booklet, das allerlei historisches Text-Material sowie eine ausführliche Biographie und Filmographie bietet.

Dass diese so liebevolle wie sorgfältige Edition nicht ganz vollständig ist (es fehlen neben dem Debüt der 1975 entstandene „Lieb Vaterland, magst ruhig sein“ und die abendfüllende Doku „Derby Fever USA“), ist sehr bedauerlich, hat aber lizenzrechtliche Gründe. Abhilfe schafft zum Beispiel eine Retrospektive, die im Berliner Lichblick-Kino ab dem 19. Juli zwei Wochen lang das Gesamtwerk zeigt.

Der große Kanton

(CH 2013, Regie: Viktor Giacobbo)

Der etwas andere Humor
von Wolfgang Nierlin

Die etwas dürftig veranschaulichten Prämissen dieses Films sind schnell skizziert: Schweizer und Deutsche haben viele kulturelle Gemeinsamkeiten, was eine kurze Einspielung des Schlager- und Volksliedsängers Heino illustrieren soll. Das ist …

Die etwas dürftig veranschaulichten Prämissen dieses Films sind schnell skizziert: Schweizer und Deutsche haben viele kulturelle Gemeinsamkeiten, was eine kurze Einspielung des Schlager- und Volksliedsängers Heino illustrieren soll. Das ist zwar nicht besonders lustig, aber jedenfalls in satirischer Absicht montiert. Schweizer und Deutsche haben aber leider auch ein paar Probleme miteinander, wenn man an Steuerhinterziehung, Schwarzgeldkonten, deutsche Arbeitsimmigranten und grenzüberschreitenden Fluglärm denkt. Die ebenso abwegige wie abstruse Lösung hierfür könnte lauten: Deutschland tritt der Schweiz als nördlichster, dann 27. Kanton bei, verlässt alsbald die EU und vergrößert dadurch in vielfacher Hinsicht die Eidgenossenschaft. So jedenfalls lautet die Arbeitshypothese des beliebten Schweizer Kabarettisten Viktor Giacobbo, mit der dieser in seinem satirischen Dokumentarfilm „Der große Kanton“, der beim Schweizer Publikum ein großer Erfolg war, Politiker und Kulturschaffende beider Länder konfrontiert.

Giacobbos trockener, ernster Gesprächsstil und seine wohl unterschiedliche Bekanntheit in den benachbarten Ländern bewirkt bei den Interviewten unterschiedliche Grade des unernsten Mitspielens bei möglichst seriösem Auftreten. Ihre Reaktionen werden insofern auch zu Gradmessern der Humorfähigkeit, die offensichtlich beim Germanisten Peter von Matt und der Schriftstellerin Elke Heidenreich besser ausgebildet ist als bei dem einen oder anderen deutschen Politiker, wobei der Witz gerade aus dem schmalen Grad zwischen tatsächlichem Ernst und gespieltem Unernst resultiert. Während etwa Cem Özdemir durch die Eingliederung ein Auseinanderbrechen der BRD fürchtet und Gregor Gysi die umgekehrte Variante, also den Beitritt der Schweiz zu Deutschland naheliegender findet, lobt Joschka Fischer in warmen Worten den kriegerischen Mut und die Freiheitstradition der Schweiz. Die Antworten liefern also immer auch Projektionen des jeweiligen Politiker-Egos und werden durch schnelle Zwischenschnitte in satirischer Absicht immer wieder kommentiert.

Mit offensichtlich Verbündeten wie beispielsweise Gerhard Polt taucht Viktor Giacobbo ein in die (Un)tiefen der Schweizer Geschichte diesseits und jenseits historischer und aktueller Grenzen, findet dabei allerlei (kuriose) Spuren, Heldengeschichten und „plastiline“ Eigenschaften historischer Erzählungen und landet dabei immer wieder bei Mentalitätsunterschieden, Sprachdifferenzen und einem ganz und gar nicht deckungsgleichen Demokratieverständnis. Parodistische Spielszenen ergänzen das bunte Potpourri kultureller Besonderheiten und einer letztlich gar nicht so fernen Nähe, in der dann gefühlsmäßig doch die Gemeinsamkeiten überwiegen. Trotz dünner Konfliktlage und mäßigem bis steifem Witz liefert der Film ein facettenreiches, mehr liebevoll als böse gezeichnetes Bild naher Verwandter in einer „privilegierten Partnerschaft“. Offensichtlich pflegen die Eidgenossen auch einen etwas anderen, verhalteneren Humor.

Wolfskinder

(D 2013, Regie: Rick Ostermann)

Durchs wilde Ostpreußen
von Ulrich Kriest

Sommer 1946. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist Ostpreußen von der Roten Armee besetzt. Noch immer sind Menschen auf der Flucht. Da viele Männer tot oder in Kriegsgefangenschaft sind, …

Sommer 1946. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist Ostpreußen von der Roten Armee besetzt. Noch immer sind Menschen auf der Flucht. Da viele Männer tot oder in Kriegsgefangenschaft sind, müssen sich Mütter mit ihren Kindern auf eigene Faust durchschlagen. So wie die Mutter des 14jährigen Hans und seines jüngeren Bruders Fritz. Die kann allerdings sterbend ihren Kindern nur noch raten, sich nach Litauen durchzuschlagen, wo vielleicht ein paar freundliche Bauern sich erbarmen. „Nach Osten!“, lautet ihr letzter Ratschlag, bevor Hans und Fritz zu Waisen werden. Und ihre Herkunft sollen sie nicht vergessen!

Man ahnt schnell, was den Regisseur Rick Ostermann am Stoff von „Wolfskinder“ interessiert hat: ein »richtiger« Abenteuer-FILM mit Kindern vor dem Hintergrund einer atemberaubend fotografierten (Kamera: Leah Striker) wilden Landschaft. „Stunde Null“ meets Terrence Malick! Erinnert sei daran, dass Eberhard Fechner sich dieser Geschichte bereits 1990 mit den Mitteln einer dokumentarischen „Oral History“ angenommen hat. Ostermann macht aus den Erzählungen jetzt einen Western. Exemplarisch werden die Geschicke der „Wolfskinder“, ihre wechselnde Rudelbildung und ihr alltäglicher Kampf ums Überleben geschildert. Da wird schon mal ein Pferd gestohlen und geschlachtet, da werden Frösche gegessen, da gilt es Begegnungen mit einer stets gefährlichen Soldateska zu vermeiden, die schnell zur Waffe greift. Manchmal helfen Bauern oder Fischer, aber nur, wenn sich die Kinder nützlich machen.

Es ist ein zäher, oft wortloser Überlebenskampf, zumal die Kinder nicht recht wissen, wie ihnen geschieht. Ihnen widerfährt der Schrecken des Nachkrieges ohne ein Bewusstsein für die Schuld, die aus ihrer Herkunft rührt. Ihr Weg ist ein Opfergang, gerade weil der Film sich entschieden hat, ihre Geschichte(n) ohne Zeit-Geschichte zu erzählen. Also muss der Zuschauer entscheiden, ob er die Erzählung vom Leiden von Hans und Fritz als existentiell-abstrakte Parabel oder als revisionistische Geschichtserzählung, deren Naivität beklommen macht, verstehen will. Beides scheint indes möglich – und vielleicht sollte man sich noch ein paar Wochen gedulden, bis „Phoenix“ von Christian Petzold in den Kinos anläuft, um nachzufragen, worin sich die Haltung eines Regisseurs, der 1978 geboren wurde, von derjenigen eines Regisseurs unterscheidet, der 1960 geboren wurde. Ältere werden sich noch an Schulatlanten erinnern, in denen die Ostgebiete gerne als „unter polnischer Verwaltung“ geführt wurden.

Die unerschütterliche Liebe der Suzanne

(F 2013, Regie: Katell Quillévéré)

Die Abwesenheit
von Wolfgang Nierlin

Ein dunkler Schatten liegt über der Familie des Fernfahrers Nicolas Merevsky (François Damiens) aus dem südfranzösischen Alès. Seit dem frühen Tod seiner geliebten Frau Isabelle im Jahre 1985 muss der …

Ein dunkler Schatten liegt über der Familie des Fernfahrers Nicolas Merevsky (François Damiens) aus dem südfranzösischen Alès. Seit dem frühen Tod seiner geliebten Frau Isabelle im Jahre 1985 muss der gutmütige, aber überforderte Vater seine beiden ungestümen Töchter Suzanne und Maria allein erziehen. Auch wenn aus seinem Blick Stolz und aus seinen aufopfernden Bemühungen Verantwortung sprechen, resultiert aus dieser Abwesenheit ein sowohl sozialer als auch emotionaler Mangel, der nicht einfach kompensiert werden kann. Ein existentieller Schmerz wird hier zum Ausdruck für die Brüchigkeit des Lebens, die Katell Quillévérés beeindruckenden Film „Die unerschütterliche Liebe der Suzanne“ (Suzanne) in vielen Szenen grundiert. Schon „Ein starkes Gift“ (Un poison violent), das einfühlsame Langfilmdebüt der französischen Regisseurin, die Maurice Pialat zu ihren Vorbildern zählt, handelt von der spirituellen Suche und dem sexuellen Erwachen eines jungen Mädchen, das in diesem Fall unter der Abwesenheit des Vaters leidet.

Für ihre neuerliche Beschäftigung mit dem vielschichtigen Thema des Erwachsenwerdens dehnt Katell Quillévéré den erzählten Zeitraum auf über zwanzig Jahre aus. Jedoch ist ihr episodisch angelegter Film kein Coming-of-Age-Epos oder gar die lückenlose Chronik einer Individuation. Vielmehr werden in ihrer elliptischen, durch abrupte Bild- und Tonschnitte gegliederten Filmerzählung die Leerstellen zum Strukturprinzip. In ihnen wird nicht nur die Abwesenheit selbst in ihren verschiedenen Formen beredt, sondern das dargestellte Leben, sein nahezu schicksalhaftes Werden und Auseinanderbrechen, angetrieben von einer übergroßen Liebessehnsucht und erschüttert von Enttäuschungen, gewinnt durch die Phantasieleistung des Zuschauers Kontur. Quillévérés offene, andeutende Erzählweise strebt nicht nach Ausformulierungen und ist doch reich und genau in der Schilderung des Milieus und in der Darstellung von Gefühlen. Hinzu kommt, dass der soziale Realismus des Films, der musikalisch flankiert wird von Hole, Noir Désir, Electrelane und Nina Simone (die eine wunderbare Gospel-Version des Leonard Cohen-Songs „Suzanne“ singt), immer wieder auch zu poetischen Lösungen findet.

Suzanne (Sara Forestier) ist gewissermaßen die Inkarnation einer verschlossenen, mit sich und den Verhältnissen ringenden Liebesverrückten, die in den schlimmsten Momenten hungrig, ausgesetzt und verloren nach Atem ringt. In ihr setzt sich die Familiengeschichte fort, ohne dass Katell Quillévéré zu sehr auf einen sozialen Determinismus fokussiert. Bereits im Jugendalter bekommt Suzanne unehelich ein Kind, was für ihren Vater der Auftakt zu einer Reihe schmerzlicher Enttäuschungen ist. Denn später verliebt sich seine labile Tochter zunächst vorsichtig tastend, dann immer leidenschaftlicher in den Kriminellen Julien (Paul Hamy), verlässt für ihn ihre Familie, lässt ihren kleinen Sohn Charlie zurück und landet später im Gefängnis, wo sie in Sprachlosigkeit versinkt. Selbst ihre innig geliebte, stets loyale Schwester Maria (Adèle Haenel) kann in dieser Phase kaum noch zu ihr durchdringen. Und auch nach ihrer Entlassung, ihrer Wiederbegegnung mit Julien und neuerlichem Mutterglück brechen die alten Wunden immer wieder auf, als bewegte sich der Prozess ihres Lebens in einer Endlosschleife von generationsübergreifenden Wiederholungen. Trotzdem öffnet sich am Ende Suzannes Blick; und die sich weitende Perspektive des Films richtet sich visuell und musikalisch auf einen Horizont und damit auf eine unausgesprochene Hoffnung.

Violette

(F / B 2013, Regie: Martin Provost)

Fast farblos
von Wolfgang Nierlin

Violette Leducs Schreiben beginnt im Film von Martin Provost („Séraphine“) mit dem Satz: „Meine Mutter nahm mich nie bei der Hand.“ Diese Erfahrung mangelnder mütterlicher Liebe und Zuwendung begleitet die …

Violette Leducs Schreiben beginnt im Film von Martin Provost („Séraphine“) mit dem Satz: „Meine Mutter nahm mich nie bei der Hand.“ Diese Erfahrung mangelnder mütterlicher Liebe und Zuwendung begleitet die französische Schriftstellerin ein Leben lang. Zeitlebens fühlt sie sich hässlich und einsam, leidet unter Zurückweisung, Missachtung und Ablehnung. Ihre lange Erfolglosigkeit als Schriftstellerin erscheint ihr deshalb nur konsequent: „Ich bin eine Wüste, die Monologe schreibt.“ Martin Provosts einfühlsames Biopic „Violette“ beschreibt aus gemessenem Abstand diesen fatalen Determinismus, der sich in fast farblosen Bildern der Enge und Gefangenschaft widerspiegelt. Reduziert auf sieben Kapitel, die fast ausschließlich mit Vornamen betitelt sind und in konzentrierter Form wichtige Begegnungen der aufstrebenden Autorin schildern, charakterisiert Provost seine Heldin immer wieder als Außenseiterin, die mit ihrer unbequemen, zwischen Selbstverzweiflung und hoffnungslosem Liebesbegehren changierenden Art auch den Zuschauer auf Distanz hält.

Das vermittelt schon Leducs (Emmanuelle Devos) heftige Hassliebe zu dem homosexuellen Schriftsteller Maurice Sachs (Olivier Py) im ersten Kapitel des Films, das in der Okkupationszeit angesiedelt ist und ein starkes Zeitkolorit entfaltet. Während sie ihren Unterhalt als Schwarzmarkthändlerin verdient, kommt es in ihrem Versteck in der Normandie immer wieder zu wüsten Gefühlsausbrüchen mit Sachs. Violette Leducs Hunger nach Liebe ist willensstark und besitzergreifend und bleibt vielleicht nicht zuletzt deshalb unerwidert. Je heftiger sie fordert, desto offener wird sie zurückgestoßen. Vor allem in ihrer späteren Beziehung zu Simone des Beauvoir (Sandrine Kiberlain), die sie fördert und unterstützt, wird das deutlich. Violette Leduc empfindet sich als ungewolltes Kind, das nach langen Phasen der Resignation immer wieder verzweifelt um Anerkennung kämpft.

Dass ihr diese spät doch noch zuteil wird, wirkt wie ein tröstlicher Ausgleich für ein unglückliches Leben, dessen Schmerzen Leduc in Literatur verwandelt. „Das Ersticken“, „Die Verhungernde“, „Verheerungen“ und schließlich „Die Bastardin“, so die Titel ihrer rückhaltlos autobiographischen Bücher, zeugen davon. Für Simone de Beauvoir, die Leducs Prosa als „kraftvoll und kühn“ bezeichnet, sind sie (frauen)politischer Sprengstoff und zugleich Nachweis der lebensverändernden Kraft von Literatur. Während die berühmte Philosophin ihrem Schützling stets kühl und reserviert begegnet und Leducs Liebesbegehren entschieden zurückweist, bezeichnet etwa Jean Genet (Jacques Bonnaffé) die erfolglose Außenseiterin als „eine Schwester“. Unterstützt von Arvo Pärts in Kinofilmen häufig zitiertem, meditativem Stück „Fratres“, portraitiert Martin Provost die unerwiderten Sehnsüchte einer unglücklichen Frau und Künstlerin, die ihr Leben in und durch die Literatur rettet und die in einem leerstehenden Haus eines kleinen Dorfes am Fuße des Mont Ventoux, dem windigen „Beschützer“ der Provenzalen, schließlich ein Refugium für sich findet.

Tour du Faso

(D 2014, Regie: Wilm Huygen)

Identitätsstiftendes Vehikel
von Wolfgang Nierlin

Die harten Daten über das größte Fahrradrennen in Afrika werden in der Schule abgefragt: Seit 1987 findet die über zehn Etappen und fast 1300 Kilometer führende Tour du Faso im …

Die harten Daten über das größte Fahrradrennen in Afrika werden in der Schule abgefragt: Seit 1987 findet die über zehn Etappen und fast 1300 Kilometer führende Tour du Faso im westafrikanischen Burkina Faso statt. Bei Temperaturen von bis zu 40 Grad im Schatten geht es dabei über teils unbefestigte Straßen und staubige Sandpisten. Und zum 25-jährigen Jubiläum kommen die insgesamt 15 Teams erneut sowohl aus Afrika als auch aus Europa. Das Fahrradfahren sei in Burkina Faso ein wesentlicher Teil der Identität, die Tour ein nationales Ereignis, sagt der Präsident des Radsportverbandes mit patriotischem Stolz. Der Sieg fürs Vaterland hat also oberste Priorität. Ja, das einst von den ehemaligen Kolonialherren eingeführte Vehikel ist mittlerweile zum (antikolonialistischen) Werkzeug nationaler Selbstbestimmung geworden.

Der Mythos lebt also und der Traum von einem besseren Leben beflügelt die Fahrerherzen, die ihre Vorbilder wiederum in Europa haben. Wilm Huygens differenzierter Dokumentarfilm „Tour du Faso“ beleuchtet diese komplizierten kulturellen Wechselwirkungen und nur scheinbaren Widersprüche. Er zeigt aber auch die kontrastreichen Rahmenbedingungen, unter denen dieses sportliche Großereignis stattfindet. Altmodische Plakatmaler, jugendliche Werbebannerträger, die teilweise Unterbringung der Fahrer in Zelten oder auch die humorvoll-überschwänglichen Siegerehrungen am jeweiligen Etappenziel verraten etwas über Mentalitätsunterschiede und die afrikanische Kunst der Improvisation.

Aus der distanzierten Perspektive des teilnehmenden deutschen Teams um den Fahrer Benjamin Höber fällt der Blick aber auch auf Korruption und vermeintliche Manipulation, vor allem aber auf ein von den eher vorbehaltlos angetretenen Europäern als manchmal unfair empfundenes sportliches Verhalten. „Das ist Afrika!“, lautet der knappe Kommentar eines Fahrerkollegen dazu. Diese Konflikte und Differenzen schmälern aber nicht die sportliche Leistung der verwegenen Fahrradfahrer, deren Strapazen und physischen Kraftanstrengungen vom Filmemacher immer wieder in visuell kontrastreiche Beziehung gesetzt werden zur umgebenden Landschaft und Kultur.

Still

(D 2013, Regie: Matti Bauer)

Bäuerliches Erbe
von Wolfgang Nierlin

„Sie spinnt!“, sagt Mutter Rosie über ihre Tochter Uschi, als diese mit ein paar Kühen und einer Geiß für die Sommermonate auf die Alm zieht. Die junge, selbstbewusste Frau ist …

„Sie spinnt!“, sagt Mutter Rosie über ihre Tochter Uschi, als diese mit ein paar Kühen und einer Geiß für die Sommermonate auf die Alm zieht. Die junge, selbstbewusste Frau ist gern mit sich allein; sie liebt die Abgeschiedenheit inmitten der Natur, geht gerne mit den Tieren um und scheut auch nicht die anstrengende Arbeit. Für Uschi, die zuvor auch schon andere Jobs hatte und auf diversen Reisen viel herumgekommen ist in der Welt, bedeutet das Dasein als Sennerin vor allem Unabhängigkeit. Auf ihre Sehnsucht nach der Alm angesprochen, bekennt sie einmal, „stillesüchtig“ zu sein. Daneben ist ihre vermeintliche Zivilisationsflucht aber auch eine dezidiert ökologische Lebensweise, in der die Bewahrung der Natur mit der Erhaltung einer bestimmten bäuerlichen Kultur einhergeht.

Denn gerade diese steht auf dem Spiel in Matti Bauers einfühlsamer Langzeitdokumentation „Still“, in der der Filmemacher über knapp zehn Jahre hinweg die Bauernfamilie auf ihrem Hof im bayerischen Oberland besucht. Im Verlauf dieser Zeit wird aus dem intimen Portrait einer Frau, die ihren Platz im Leben sucht, immer mehr eine Reflexion über die einschneidenden Veränderungen innerhalb der bäuerlichen Kultur und deren drohenden Verlust. Zwischen Tradition und Moderne ringt Uschi, die im Laufe der Dreharbeiten Mutter wird, mit sich und ihren Eltern um den schwierigen Erhalt des Erbes.

Dabei deutet Matti Bauer die schwelenden Konflikte oft nur an. Unaufdringlich und im scheinbar Nebensächlichen sind sie jedoch stets gegenwärtig, um sich schließlich in Kompromissen, schmerzlichen Verlusten und in neuen Perspektiven auszuprägen. Um eine falsche Idyllisierung des bäuerlichen Lebens zu vermeiden und zugleich die Klassizität des Konflikts zu vermitteln, hat Bauer zusammen mit seinem Bildgestalter Klaus Lautenbacher in Schwarzweiß gedreht. Doch trotz dieser Objektivierung bleibt er immer nahe bei den Portraitierten, die Bauer in einem persönlichen, an die Arbeitsweise des Dokumentaristen Volker Koepp erinnernden Stil befragt und die ihrerseits mal freimütig, mal verhalten in ihrem nicht ganz leicht zu verstehenden bayerischen Idiom Auskunft geben, was schließlich die anvisierte Nähe und Echtheit zusätzlich unterstreicht.

Drachenzähmen leicht gemacht 2

(USA 2014, Regie: Dean DeBlois)

Krieg und Fliegen
von Lukas Schmutzer

Dreamworks entführt erneut in eine fremde Welt. Nun ja, ganz fremd nicht mehr, insofern sie vielen Kinogängern noch aus dem Vorgänger bekannt sein wird. Dort hatte sich Hicks, Sohn von …

Dreamworks entführt erneut in eine fremde Welt. Nun ja, ganz fremd nicht mehr, insofern sie vielen Kinogängern noch aus dem Vorgänger bekannt sein wird. Dort hatte sich Hicks, Sohn von Haudrauf, dem Dorfhäuptling Berks, für einen angemesseneren Umgang mit Drachen eingesetzt: Nicht nur als Gefahr, sondern vor allem als Freund und Helfer der Wikinger sollen sie angesehen und behandelt werden. Damit hat Hicks nicht nur seinem Dorf zu neuer Blüte verholfen, sondern auch seinen eigenen Helden- bzw. Leidensweg angetreten, an dessen vorläufigem Ende er einen Fuß verloren hat. Grazil bleibt er auf seinem fliegenden Gefährten Ohnezahn, welcher aufgrund einer ähnlichen Verletzung zum Manövrieren in der Luft auf seinen Reiter angewiesen ist – die beiden Figuren sind ineinander verzahnt. Den Schauwert dieser Symbolik demonstrieren bereits die ersten Minuten der Fortsetzung, wenn das Drachenreiten mit Kamera-Flügen auf dem Stand des technisch Machbaren inszeniert wird. Solche Szenen, in denen Drachen etwa Mittel zur Erfüllung kühnster Wingsuit-BASE-Jumper-Träume werden, ziehen sich durch den ganzen Film und bilden seinen sensationellen Kern; durch die 3D-Technik werden sie spürbar entfaltet.

Es ist der jugendliche, mitunter naive Tatendrang des Protagonisten, zusammen mit seinem Glauben an die Möglichkeit der Vermittlung selbst zerstrittenster Parteien, der die Filmhandlung vorantreibt. Dieser Drang macht, dass Hicks sich der fremden Welt öffnet, sie erforscht, sie erfliegt, und ihre Gefilde kartiert (was alles liebevoll animiert ist), in denen er bald Konflikte und Konfliktparteien ausmacht: Zunächst geht die recht vage Rede von einer sehr bedrohlichen Armee versklavter Drachen; und dann ist da eine Art Drachenflüsterin, die in einem Idyll gewaltfreier, verständiger Kommunikation in einem Eispalast (ebenso liebevoll animiert) eine weitere Armee gebildet hat (welche natürlich so nicht benannt wird).

Hicks glaubt an die Vermittlung all dieser Parteien, entgegen Mahnungen etwa seines Vaters Haudrauf, dass Menschen sich nicht ändern könnten. Das Urmännliche seines Vaters arrangiert sich so tatsächlich mit dem urweiblichen Flüstertum; mit der perversen, exzessiven Männlichkeit des Antagonisten, der als ein „böser Mensch“ die „guten Drachen“ unter seine Befehlsgewalt gebracht hat, lässt sich aber nicht mehr reden, worin sich das resignierende Urteil Haudraufs auf problematische Weise bestätigt. Dieser Bösewicht namens Drago, so Haudrauf an anderer Stelle, sei „a stranger from a strange land“, ein „Fremder aus einem fremden Land“. Ob den Autoren die biblische Gewalt bewusst war, die in diesen Worten mitschwingt? Als der junge Moses ins Exil nach Midian gegangen ist und zuwartet, bis er den großen Sklavenaufstand in Ägypten anführen kann, nennt er sich selbst einen „Fremdling“ in einem „fremden Lande“ (so die Übersetzung Luthers; die deutsche Einheitsübersetzung setzt an der Stelle „Gast“, welche Differenz noch einmal verdeutlicht, was hier auf dem Spiel steht). Im fremden Land lauert in beiden Fällen die Gefahr für die etablierte Herrschaftsordnung, wenngleich es durch die Form der Äußerungen ganz unterschiedliche Qualitäten erhält. Dort der Prophet, der sich in der Fremde selbst benennt; hier der Häuptling, der mit der Kraft derselben Benennung einen ungeladenen Fremdling in die Fremde zurückweist. Mag diese Versuchsanordnung auch skurril anmuten: Die Verschiebung, die zwischen dem Zitat von Moses und jenem Haudraufs stattfindet, ist symptomatisch; in ihr äußert sich die Ohnmacht gegenüber einer Invasion der Barbaren, auf die nur mehr mit den Mitteln des Kriegs reagiert werden kann – eine Einstellung, die im Produktionsland nach wie vor auf Resonanz stoßen dürfte.

Der jugendliche Idealismus wird also frustriert und es kommt zu einem plumpen Antagonismus, der sich an der Frage „Wie sind Drachen zu zähmen?“ scheidet: Während die eine Seite auf das Band der Freundschaft zählt, setzt die andere auf die blendende Stärke des Willens. Dieser Konflikt wird notwendig in Schlachten ausgetragen, für die man sich großzügig beim Herrn der Ringe und anderen Spektakeln bedient hat (und weshalb Kinder diesen Film auch eher nur in erwachsener Begleitung sehen sollten). Das Schlachtengetümmel ist ebenso mitreißend animiert; für den dramatischen Heldentod aber verhallt es augenblicklich und wiederum noch effektvoller. Kann die denunzierte Willensstärke tatsächlich so schlimm sein, wenn sie uns den hysterischen Heroismus erspart, der im Reich von Freundschaft und Eintracht waltet?

Bis zu einem gewissen Punkt lässt sich in „Drachenzähmen leicht gemacht 2“ mit Spannung verfolgen, wie und ob das anfangs entworfene Geflecht wohl aufgelöst werden wird. Irgendwann beginnen sich Zitate als Klischees zu entblößen sowie das Potential der zunächst charmant präsentierten Nebenfiguren zu erschöpfen (wie jenes von Astrid, der Liebschaft Hicks’, die zuletzt doch nur aufgrund ihrer Kussfunktion in den Film integriert worden zu sein scheint), während die Auseinandersetzung der Hauptfiguren in ihrer blendend schönen Animation über die eigene Fragwürdigkeit hinwegtäuscht.

Cuban Fury – Echte Männer tanzen

(GB 2014, Regie: James Griffiths)

Salsa als Stahlbad und Mittelschichtpflicht
von Drehli Robnik

In einer frühen Version seines 'Kulturindustrie'-Kapitels zur Dialektik der Aufklärung schrieb Theodor W. Adorno, nachdem er wieder einmal angewidert von einer Soirée samt Gesellschaftstanz zu im Radio reproduzierter Big-Band-Musik mit …

In einer frühen Version seines 'Kulturindustrie'-Kapitels zur Dialektik der Aufklärung schrieb Theodor W. Adorno, nachdem er wieder einmal angewidert von einer Soirée samt Gesellschaftstanz zu im Radio reproduzierter Big-Band-Musik mit den Kreativen von Beverly Hills heim an den Schreibtisch gekommen war, den lapidaren Satz 'Salsa ist ein Stahlbad.' Nach einigen Diskussionen, u.a. vor Ort mit Horkheimer und brieflich mit Kracauer in New York, radikalisierte und totalisierte er sein Urteil, indem er es auf das systematisch organisierte Amusement insgesamt ausdehnte, und formulierte seinen kurzen, aber etwas zu sehr in die Alliteration verliebten Satz zur noch kürzeren Fassung 'Fun ist ein Stahlbad' um. Die dergestalt überschriebene Fokusierung auf einen lateinamerikanischen Tanz als Primärziel einer Kritik, die festhält, wie sehr die apriori schematisierte 'Freizeit' doch nur Zurichtung der Subjekte für ihr Funktionieren im Arbeitsprozess ist, kurz: Adornos vielsagende Salsa-Kritik, die gilt es auch heute noch ernst zu nehmen.

Ab hier nun die Filmbesprechung stricto sensu, Oida.

'How can you take something seriously that’s named after a dip?' Der namensgebende Dip, die Tunke, wie die Wienerin sagt, heißt Salsa – wie der Tanz, von dem 'Cuban Fury' handelt. Mit diesem netten Dialoggag, ausgerufen vom Unterlegenen eines der vielen über den Liebesrivalen- und Selbstbeweis-Plot verstreuten Tanzduelle, ist schon viel über diese britische Makeover-Comedy gesagt.

Hier zählt das, was an Leuten, zumal männlichen, eher Dip und Depp (in Wien: Dillo) ist, was also scharf, aber schwabbelig ist – Blut, Schweiß & Soße der im Salsa entfesselten Passion, auch Tunke und Tunte, nämlich die auch im Spielfilm verbreitete Hetero-Angst, als schwul zu gelten, bei gleichzeitiger Manie, andere Männer anzugockeln oder zu bekuscheln (und, so will es die RomCom-Konvention, ab und zu die neue Chefin, die aus den USA in ein Londoner Büro für technische Zeichner gekommen ist).

Das wird hier mal persifliert, mal bloß ausagiert, vor allem im Körper von Nick Frost. Wie viele füllige Komiker vor und neben ihm, von Fatty Arbuckle über Zachi Noy bis Jonah Hill, spielt Frost aus dem Bauch, betont seine Dip-Erscheinung mit Dreiviertelhose und Söckchen als Tanzoutfit, geizt auch nicht mit seinen Sekundärreizen, als da sind Wimpern und Zahnfleisch, etwa wenn er den Einfühlsam-Leidenden macht und seinem einstigen Salsatrainer Vorwürfe oder der angebeteten Chefin ein Mixtape. (Mit diversen Salsa-Standards, die auch den Score des Films ausmachen. Früher mal hätten wir uns davon die Soundtrack-CD kaufen sollen. Heute gibt es die Kompilation nur als Mixtape auf Magnetoskop-Band.)

Ob nun der Tanz nach dem Dip (oder dessen Erfinder) benannt ist oder doch umgekehrt, sollten wir schon wissen, wenn wir dazugehören wollen. Ebenso, ob Adorno das mit dem Stahlbad so formuliert oder nur gemeint hat. Jedenfalls werden in 'Cuban Fury' diverse soziale Skills, wie sie heute für den Normalbetrieb fröhlichen mittelständischen Lebens Voraussetzung sind, durchgetestet: Produktpitch vormittags und Hengsthabitus nachmittags im Büro, Bubengolfrunde am Jourfixe, Therapiegruppe, 80er Retro, Mixtaping. In Nebenrollen spielen Chris O´Dowd und Altspatz Ian McShane, kontratypisch als schwanzgesteuertes Ekel bzw. Hormone verstehender Latin-Dance-Guru besetzt, Olivia Colman (die Policeman-woman-officer aus 'Hot Fuzz') unterfordert, Kayvan Novak (der deppertste Terrorist aus 'Four Lions') amüsant als Diva, die ein Kumpel ist. Rashida Jones als love interest fällt wenig auf.

Freilich: Den Irrwitz und Slapstick der in anmutstanzsportiver Hinsicht nicht unähnlichen 2007er Will Ferrell-Eiskunstläuferkomödie 'Blades of Glory' erreicht 'Cuban Fury' nicht. Dazu wird hier zuviel an Akrobatik über den Schnitt erhascht und verhuscht, anstatt die Körper in all ihrer Pracht und Pose zu exponieren (was ja auch, wie eben in 'Blades of Glory', digital geleistet werden kann. Will denn heute niemand mehr CDs brennen oder digitale Slapstick-Effekte machen?) Vielleicht aber kann etwas wie 'Cuban Fury' vom Ansatz her auch gar nicht mehr irrwitzig lustig sein, heute, da wir uns an den Anblick von Leuten mit nicht ganz aerodynamischem Körperbau in Promipärchen-Dancing-Fernsehshows gewöhnt haben – und nicht zuletzt auch daran, dass Gesellschaftstanz heute zu jenen sozialen Fähigkeiten zählt, deren Beherrschung – im Sinn ordnungsgemäßer Abwicklung eines erfüllten und kreativen Lebens – Mittelschichtpflicht ist. (Zu dieser Pflicht sind dann Chorsingen, Ramones-Coverband-Tätigkeit und Kochen die Kür.) Wurde hier schon gesagt. Eh.

Wir können es auch immanent sehen, sprich: in der ergiebigen, einsichtigen Optik jener Filme, die Frost als Sidekick seines alten Kumpels Simon Pegg gedreht hat, also vor allem der Cornetto-Trilogie aus 'Shaun of the Dead', 'Hot Fuzz' und 'The World‘s End'. Und da zeigt sich: 'Cuban Fury'-Regisseur James Griffiths kann repetitive Alltagsgesten fast so schnell schneiden und am Zapfhahn sich füllende Biergläser fast so steil von oben filmen wie Edgar Wright – nuff respects –, und die Intro-Montagesequenz von der 80er-Kindheit/Jugend des Protagonisten, der es verabsäumt, seinen Tänzertraum bis ganz zur Erfüllung auszuleben und seitdem an diesem Versagungstrauma laboriert, auch das erinnert stark an den grandiosen, männlichkeitsidentitätskritischen 'The World‘s End'. Umso mehr fällt auf, wie sehr in 'Cuban Fury' die ganze Self-Improvement und Lebe-deinen-Traum-du-kannst-es-schaffen-sei-du-selbst-sonst-fristlose-Kündigung-Manie weniger satirisch durchleuchtet und durchkreuzt als vielmehr gefeiert wird. Simon Pegg ist solch ein ideologischer Ausrutscher in seinen britischen Filmen erst einmal passiert (in der Motivations-RomCom 'Run, Fatboy, Run'); an sich macht er sowas nicht. Vielleicht schaut Pegg deshalb so angefressen, als er beim Dance-Off zwischen Frost und O‘Dowd in seinem Cameo kurz durchs Bild fährt.

Und ein Cameo, so nennt man ein Auto ohne Dach. Auch das sollten wir halt wissen, für die nächste Büroparty.

Sag nicht, wer du bist!

(F / CA 2013, Regie: Xavier Dolan)

Lügen oder leben?
von Ulrich Kriest

Der hoch talentierte und enorm produktive franko-kanadische Filmemacher Xavier Dolan wird von der Kritik gerne mit Rainer Werner Fassbinder verglichen. Aufgrund seiner produktiven Arbeitswut, nicht etwa wegen des Koks und …

Der hoch talentierte und enorm produktive franko-kanadische Filmemacher Xavier Dolan wird von der Kritik gerne mit Rainer Werner Fassbinder verglichen. Aufgrund seiner produktiven Arbeitswut, nicht etwa wegen des Koks und der Figur. Sagt Dolan selbst, im Presseheft. Soviel Koketterie muss erlaubt sein.

Da passt es glänzend ins Fassbinder-Bild, wenn er sich nach seiner atemberaubend gelungenen Queer-Trilogie über die (un)glückliche Liebe („I killed my Mother“, „Herzensbrecher“, „Laurence Anyways“) keine Pause gönnt, sondern gewissermaßen zwischendurch ein schnelles Projekt nach dem Theaterstück „Tom on the Farm“ von Michel Marc Bouchard realisiert. Das erklärte Zwischenspiel „Sag nicht, wer du bist“ spielt zudem – eine Herausforderung muss her! – nach den bestens eingeführten Regeln des Thriller-Genres und verblüfft am Ende doch durch Tiefgang, der an den Auteur Dolan erinnert.

Tom, ein schwuler Werber aus Montreal, sensationell zerzaust gespielt vom Regisseur selbst, reist aufs Land, um am Begräbnis seines Partners Guillaume teilzunehmen, der offenbar Selbstmord begangen hat. Leider ahnt man dort nichts von Guillaumes Homosexualität und Guillaumes Bruder Francis will, dass das auch bitteschön so bleibt. Sonst setzt es eine Tracht Prügel! „Bevor ein Schwuler zu lieben lernt, muss er zu lügen lernen“, verrät Dolan dazu im Presseheft.

Hier, in der kanadischen Provinz, regiert zwischen unendlichen Maisfeldern und matschigen Landstraßen noch der Schrecken der gewaltbereiten Zwangsheterosexualität – und Dolan inszeniert ihn nach allen Regeln des klassischen Psycho-Thrillers á la Hitchcock und Lynch, obwohl der Filmemacher schwört, nie einen Film von Hitchcock gesehen zu haben. Was ja auch ein rechtes Kunststück ist. Logiklöcher der Handlung werden mit der wuchtigen Filmmusik Gabriel Yareds gefüllt, die an Bernard Hermann erinnert.

Lange ist völlig ungewiss, worauf der Film eigentlich hinaus will, auf welche Wendungen man sich als Zuschauer einzustellen hat. Doch der zunächst immer etwas arrogante und durchaus selbstsichere Widerstand des Städters gegen das Hinterwäldlertum schlägt allmählich um in ein latent masochistisches Sich-Einlassen auf das falsche Spiel, bis Schmerz und Gewalt sich in einen Tanz der Trauer zu verwandeln wagen – und der Psycho-Thriller zum neugierigen Erotik-Thriller mit einem furiosen Finale wird.

Auf Francis lastet der Fluch einer bösen Tat und Mutter Agathe ist wesentlich aufmerksamer, als man vermuten würde. Aber am unheimlichsten ist Tom, der sich irgendwann durchaus lustvoll für den Schmerz entscheidet und erleben muss, dass Intoleranz manchmal nur ein pervers verdeckter Wunsch nach Nähe ist. Ganz schön queer, diese Volte hätte Fassbinder bestimmt gefallen.

„Sag nicht, wer du bist!“ wurde im vergangenen Herbst in Venedig mit dem Preis der internationalen Filmkritik ausgezeichnet; vor ein paar Wochen in Cannes teilte sich Dolan für seinen neuesten Film „Mommy“ die Goldene Palme mit Jean-Luc Godard. Ein Geheimtipp ist Xavier Dolan also längst nicht mehr, eher schon ein Star des Gegenwartskinos.

Diplomatie

(D / F 2014, Regie: Volker Schlöndorff)

„Wir müssen reden ...“
von Ulrich Kriest

Der letzte Führerbefehl aus Berlin vom Vortag ist recht unmissverständlich formuliert: „Paris darf nicht oder nur als Trümmerfeld in die Hand des Feindes fallen!“ Stadtkommandant General von Choltitz, hoch dekoriert, …

Der letzte Führerbefehl aus Berlin vom Vortag ist recht unmissverständlich formuliert: „Paris darf nicht oder nur als Trümmerfeld in die Hand des Feindes fallen!“ Stadtkommandant General von Choltitz, hoch dekoriert, hat als guter Soldat folgerichtig bereits alle Vorbereitungen getroffen und Kulturdenkmäler wie den Louvre, Notre-Dame oder Sacré Coeur verminen lassen. Alles nur noch eine Frage der Zeit. Durch die Gewalt der Explosionen wird die Seine über die Ufer treten und Teile der Stadt fluten. Unzählige Zivilisten werden sterben. In den frühen Morgenstunden des 25. August geht von Choltitz mit seinem Führungsstab die Abriss-Pläne noch einmal sorgsam Bild für Bild, Kulturdenkmal für Kulturdenkmal durch und beklommen spürbar wird für alle Anwesenden, welch einen barbarischer Akt die geplante Zerstörung von Paris darstellt.

Es ist, wie es im deutschen Film seit jeher ist, wenn Nazi-Uniformen im Spiel sind: Es gibt die Fanatiker, die Befehlsempfänger mit ihrer Verpflichtung auf den geleisteten Eid, die Mitläufer, die Zauderer und Hadernden und die Nachdenklichen, die sich vielleicht eines Besseren belehren lassen. Zu welcher Gruppe von Choltitz zu zählen ist, ist längst nicht ausgemacht. Zumal, weil jetzt das Gegenspiel in Gestalt des schwedischen Generalkonsuls Raoul Nordling auf den Plan tritt – und zwar wie ein Phantom, das sich der Geschichte des Mythos Paris durch ein Wissen um geheime Gänge und Türen versichert, indem es buchstäblich „plötzlich“ im Raum steht.

Nordling fordert von Choltitz zum ultimativen Rededuell über Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Führer oder Pflicht gegenüber dem Kulturerbe der Menschheit im Schatten des großen Tötens eines bereits verlorenen Krieges. Und überhaupt, Kerl! Wie steht es denn um die Ehre im Leib? Im Hintergrund des Rededuells, das hier furios und mitunter an der Grenze zur unfreiwilligen Komik nach allen Regeln der Kunst, aber eben gerade nicht auf Augenhöhe geführt wird, tickt unablässig die Uhr: die Alliierten marschieren auf Paris vor, die Résistence probt den Aufstand, in den Vorstädten wird bereits gekämpft. Paris – der Zuschauer weiß das natürlich – wurde nicht zerstört, sondern blieb sogar vergleichsweise unversehrt, weil von Choltitz aus teilweise heute noch nicht geklärten Gründen dann doch lieber kapitulierte, als Hitlers Befehlen zu gehorchen. Vielleicht, weil er ahnte, was ihm widerfahren würde, fiele er anschließend den Alliierten in die Hände.

Volker Schlöndorffs filmische Adaptation des gleichnamigen Theaterstücks von Cyril Gély, die sogar auf die beiden vorzüglichen Hauptdarsteller der Inszenierung am Pariser Théâtre de la Madeleine setzt, inszeniert das gewichtige Rededuell zweier gegensätzlicher Figuren als psychologisches Kammerspiel, das sich schnell als eine offene und auch autobiografisch unterfütterte Liebeserklärung des Filmemachers an Paris erweist. „Uns bleibt immer Paris!“, heißt es bereits in „Casablanca“. Vielleicht hat der Führer ja im Bunker den Film gesehen und bei sich händereibend gedacht: „Das ist noch nicht ausgemacht!“

Tatsächlich hantiert die rhetorische Auseinandersetzung in „Diplomatie“ immer auch mit den Bildern und Vorstellungskomplexen von „Paris“, die im kollektiven Unbewussten wohlfeil kursieren. Es ist Nordling, der immer wieder ansetzt und die Imagination seines Gegenübers füttert, um dem General klar zu machen, was hier ganz konkret auf dem Spiel steht, wenn er sich in den Befehlsnotstand flüchtet. Jenseits der Rhetorik bleibt allerdings seltsam unbestimmt und mysteriös, wessen Spiel Nordling hier eigentlich spielt, wann er droht oder wann er lediglich blufft. Wenn die Worte keine Wirkung mehr entfalten, tut ein Blick vom Balkon auf Paris ein Übriges – und die Auseinandersetzung geht in die nächste Runde.

Dabei ist zwar verbürgt, dass diese Begegnung historisch stattgefunden hat, aber Schlöndorff und Gély nutzen die Freiheit der Fiktion zur dramatischen Verdichtung. Die Theater-Apparatur bleibt dabei stets sichtbar, wenn wieder mal ein Bote ins Zimmer stürzt oder ein Telefon klingelt, während ein paar konventionell inszenierte Action-Szenen vor dem Hotel Meurice wohl eher ein (überflüssiges) Zugeständnis an ein Kino sind, das darüber hinwegtäuschen möchte, dass es sich eigentlich um ganz altmodisches Schulfernsehen handelt. Schulfernsehen vor Guido Knopp! Wobei das dokumentarische Wochenschau-Material von der Befreiung von Paris, das der Film einsetzt, als „Rahmen“ durchaus hingelangt hätte. „So hätte es gewesen sein können!“

„Diplomatie“ singt auf recht unspektakuläre, ja, papierne Weise ein Hohelied auf die Kraft des Diskurses in dunkler Zeit und fügt – wie zuletzt schon „Monuments Men“ – ein weiteres Puzzleteilchen in das große Bild, wie persönliches Engagement und Zivilcourage Einzelner dazu beigetragen hat, inmitten der Barbarei das kulturelle Erbe zu bewahren. Dass Paris nicht zerstört wurde, bot der deutsch-französischen Nachkriegsgeschichte einen Ansatzpunkt. Dass Paris nicht zerstört wurde, machte die Karriere des Austauschstudenten Volker Schlöndorff überhaupt erst möglich. Dass Geschichte hier wieder von großen Männern geschrieben wird, ist der Preis, den „Diplomatie“ und Schlöndorff dafür zu zahlen bereit sind.

Watermark

(CA 2013, Regie: Jennifer Baichwal, Edward Burtynsky)

Klage über den Verlust
von Wolfgang Nierlin

Mit lautem Getöse stürzen Wassermassen in eine Schlucht, erzeugen dabei grau-braune, dampfende Wirbel und vermitteln in ihrem durchdringenden Rauschen eine elementare Gewalt. Dann ist es plötzlich still und der Blick …

Mit lautem Getöse stürzen Wassermassen in eine Schlucht, erzeugen dabei grau-braune, dampfende Wirbel und vermitteln in ihrem durchdringenden Rauschen eine elementare Gewalt. Dann ist es plötzlich still und der Blick fällt auf eine weite, ausgetrocknete Ebene, die als Delta des Colorado River in Mexiko ausgewiesen wird. Aus der Vogelperspektive betrachtet, zeichnen die Risse und tiefen Furchen Muster in die Landschaft, die wie verzweigte Lebensadern eines Baumes aussehen. Die intensiv bewässerten Monokulturen Südkaliforniens haben dem Fluss das Wasser gestohlen und damit das ökologische Gleichgewicht gestört. Auch die Kreisberegnungssysteme in den High Plains von Texas zehren von Wasserspeichern in der Tiefe, die sich in nicht allzu ferner Zukunft erschöpft haben werden. Aus der Luft sehen die vielen Parzellen aus wie ein riesiger Flickenteppich.

Starke Kontraste, die graphischen Muster von Landschaften und gigantischen Szenerien sowie die kontinuierliche Weitung des Blicks in der Totale kennzeichnen den beeindruckenden Dokumentarfilm „Watermark“ von Jennifer Baichwal und Edward Burtynsky. Der renommierte kanadische Fotograf, selbst Protagonist, interessiert sich in seiner aktuellen Arbeit vor allem dafür, „wie Wasser uns formt und wir das Wasser formen“; also für Prozesse des Austauschs und der Veränderung, mit deren hier dokumentierten ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen er unaufdringlich, aber bestimmt „ein Klagelied auf den Verlust“ anstimmt. Etwa beim Blick in einen jahrhundertealten Stufenbrunnen im indischen Bundesstaat Rajasthan, dem das Wasser fehlt, der gefährlichen Wasserverschmutzung in einem Gerberviertel in Bangladesch oder auch dem Kontrast von extensiver Landwirtschaft und Versteppung im kalifornischen Imperial Valley.

Bei ihren weltweiten Recherchen zum Thema Wasser sprechen die beiden Filmemacher aber auch mit Zeugen des Wandels: Zum Beispiel mit einem Ingenieur der riesigen, noch im Bau befindlichen Xiluodu-Talsperre am Jinsha Jiang in China, wo sich – wie in anderen Szenen des Films – auch Arbeit beobachten lässt; oder auch mit Klimaforschern im ewigen Eis von Grönland, deren Ergebnisse ziemlich genau das vermitteln, was der indigene Bewohner vom Stikine River in British Columbia („wo der Himmel die Erde berührt“) sagt: „Wir sind alle Wasser.“ Neben den ökologischen Folgen der wirtschaftlichen Nutzung dieses so wertvollen Elements handelt der Film aber auch von kulturellen Gegensätzen: Während in Las Vegas Touristen die Wasserspiele einer spektakulären Springbrunnenanlage bestaunen, pilgern im indischen Haridwar anlässlich des Kumbh Mela-Festes Millionen von Menschen zum rituellen Bad im Ganges, um sich von ihren Sünden zu reinigen.

Der wundersame Katzenfisch

(MX 2013, Regie: Claudia Sainte-Luce)

Stiche und Scherben
von Carsten Moll

Ein grauer Tag bricht an in der mexikanischen Industriemetropole Guadalajara. Zur morgendlichen Routine der schweigsamen und selten lächelnden Protagonistin Claudia gehört neben dem Sich-aus-dem-Bett-quälen auch das Sortieren von bunten Cornflakes-Kringeln: …

Ein grauer Tag bricht an in der mexikanischen Industriemetropole Guadalajara. Zur morgendlichen Routine der schweigsamen und selten lächelnden Protagonistin Claudia gehört neben dem Sich-aus-dem-Bett-quälen auch das Sortieren von bunten Cornflakes-Kringeln: Die violetten werden behutsam aus der Milch gefischt und fein säuberlich auf dem Kopfkissen drapiert, während der Rest der eingefärbten Zuckerflocken getrost gegessen werden kann. Eine komische Person also, diese Claudia, die mit ihrer neurotischen Verhaltensauffälligkeit im Kino gut aufgehoben zu sein scheint – als Heldin auf der Leinwand und wohl ebenso im Zuschauersaal.

Irritierender als die Marotte an sich ist da schon der Ton, in dem „Der wundersame Katzenfisch“ seine Hauptfigur und deren merkwürdige Rituale einführt. Denn hier werden nicht mit einer penibel abgestimmten Farbpalette und symmetrischer Strenge liebenswerte Verschrobenheiten vorgeführt, wie es (nicht bloß) im US-amerikanische Independentkino seit Wes Anderson mit ermüdender Beharrlichkeit geschieht. Statt eine humorvolle Distanz zu wahren, wagt sich die zitternde Handkamera in Claudia Sainte-Luces Debütfilm ganz nah ran an den Körper der Protagonistin. Und von der Tonspur dröhnt dumpf und beklemmend ein tiefes, viszerales Unbehagen, das im Skurrilen stets auch ein pathologisches Moment mitschwingen lässt.

Erst nach und nach dringt auch die Außenwelt ans Ohr, das Gefühl von Stumpfsinn aber hallt noch nach. Draußen auf den Straßen blinken nervös die Neonreklamen und kitschiger Weihnachtsschmuck um die Wette, während Claudia sich auf den Weg zu der täglichen, Arbeit genannten Schikane im örtlichen Supermarkt macht. Das Radio im Bus leiert dazu irgendwas von 24 Stunden Emotionen, die mitten ins Herz gehen. Das Organ, das Claudia aber schließlich aus ihrem tristen Alltag reißt, ist ein anderes: Die Appendix vermiformis ist entzündet und mit dem pathologischen Befund beginnt dann auch eine Heilungsgeschichte, die weit über Claudias Eingeweide hinausgehen soll.

Im Krankenhaus macht die vereinsamte junge Frau nämlich eine folgenreiche Bekanntschaft. Sie lernt die an AIDS erkrankte Martha kennen und wird von der alleinerziehenden Mutter kurzerhand in deren chaotisches Familienleben integriert. Wer bei dieser schicksalhaften Ausgangssituation das Schlimmste befürchtet – sowohl für Marthas Leinwandleben als auch für den eigenen Kinobesuch –, kann zumindest teilweise entwarnt werden. Denn selbstverständlich muss Martha am Ende kurz vor dem Abspann dran glauben, aber die Regisseurin und Drehbuchautorin Sainte-Luce erzählt äußerst klug und konsequent an den lauernden Rührseligkeiten ihres Stoffes vorbei und hat auch nie so viel Respekt vor dem Tod, dass sie gleich in Ehrfurcht erstarrt und ihrem Film das ganze Leben austreibt.

Das fängt an mit der Darstellung von Marthas vier Kindern, die sich zwar hilfsbereit um die sterbende Mutter scharen und sie pflegen, sich dabei aber immer einen gesunden Egoismus bewahren und nie ihre eigenen Konflikte aus den Augen verlieren. Da wird sich noch am Krankenbett mit dem kleinen Bruder gekloppt und wenn Marthas Zweitälteste die Nacht an der Seite der Mutter verbringen soll, anstatt auf eine Party zu gehen, zieht sie auch das entsprechende Gesicht. Mit kräftigen Strichen skizziert Sainte-Luce diesen Familienkosmos und bedient dafür auch so manches Klischee, zeigt konsumgeile Teenager, missgünstige Chefinnen und verfressene Dicke.

Effizient erzählt der Film so seine im Kern simple und straighte Geschichte und nutzt seine Ressourcen dann lieber, um immer wieder abzuschweifen und sich in kleinen Episoden zu verlieren. Dass dabei vieles nur angerissen wird, stört nicht, denn gerade in der Auslassung beschwört Sainte-Luce auf eindrucksvolle Weise die Fülle ihres filmischen Universums. Beinahe wie eine Geste der Bescheidenheit wirkt es da, wenn Kamerafrau Agnès Godard sich gemeinsam mit Claudia und einer Handkamera zum ersten Mal in Marthas Zuhause wagt und versucht in einer langen Einstellung möglichst viel von dem lebhaften Treiben aufzuschnappen. Schnell wirkt nicht nur Claudia, sondern auch die Filmkamera verloren im Angesicht dieser Dynamik, die über falschen Pathos und Pointen einfach hinwegfegt.

Dass es in der Realität eh nicht läuft wie im Kino, diese Erfahrung macht auch Martha. Eigentlich hatte sie ja geplant, dass ihre Asche am Meer verstreut wird, so wie sie das in den Filmen gesehen hat. Aber der eigene Trip zum Strand lässt diesen Traum schnell platzen, die Widerhaken der Realität bohren sich ins Fleisch: Die eine Tochter wird von einer Qualle gestochen, der Sohn von einer Biene, eine andere Tochter tritt in eine Glasscherbe und dann kommt Martha auch schon das Kotzen und sie muss zurück ins Krankenhaus. Eine Ode an das Leben sieht anders aus, Sainte-Luces Film ist dann eher ein Haiku über KFZ-Versicherungen, Stiche, Scherben und die guten Chips in der grünen Tüte.

Tanta agua – Nichts als Regen

(UY / MX / NL / D 2012, Regie: Ana Guevara, Leticia Jorge)

Baden verboten
von Wolfgang Nierlin

Es regnet oft und ausgiebig und vor allem echt in diesem schönen, kleinen Film aus Uruguay, der das Wasser bereits in seinem Titel trägt. „Tanta agua – Nichts als Regen“, …

Es regnet oft und ausgiebig und vor allem echt in diesem schönen, kleinen Film aus Uruguay, der das Wasser bereits in seinem Titel trägt. „Tanta agua – Nichts als Regen“, das Spielfilmdebüt der beiden Regisseurinnen Ana Guevara und Leticia Jorge, ist ein sehr trocken und lakonisch erzählter Regenfilm, der sein leitmotivisches Element Wasser sowohl inhaltlich als auch metaphorisch auf vielfältige Weise einsetzt. Unspektakulär, aber bestimmt entsteht so eine fast soghafte Atmosphäre der Langeweile und Tristesse, ein Raum des Stillstands, in dem sich die Mitglieder einer dysfunktionalen Familie zögerlich aufeinander zu bewegen. Verstärkt wird dieses Verlorenheitsgefühl noch durch die vielen distanzierten Blicke durch Fensterscheiben, die einen klaustrophobischen Rahmen setzen und die portraitierten Figuren förmlich einsperren, aber damit auch in eine verschärfte Beziehung zueinander bringen. Die sparsam eingesetzte, irgendwie illusionslos dahinfließende Musik nimmt diese Stimmung kongenial auf. Stilistisch und in seinem tragikomischen Tonfall erinnert „Tanta agua – Nichts als Regen“ mitunter an die Arbeiten des ebenfalls aus Uruguay stammenden Filmemachers Pablo Stoll.

Schon als der geschiedene Familienvater Alberto (Néstor Guzzini), ein korpulenter Chiropraktiker aus Montevideo, seine beiden Kinder Lucía (Malú Chouza) und Federico (Joaquin Castiglioni) bei seiner Ex-Frau Carmen für eine gemeinsame Ferienfahrt abholt, regnet es in Strömen. Während das Wasser unvermindert heftig auf das Dach und die Scheiben des Autos prasselt, dessen Kennzeichen übrigens die Buchstaben „SAD“ trägt, geht es im Wageninnern verstockt und schweigsam zu. Das pubertierende Mädchen ist lustlos und genervt, derweil vermisst ihr jüngerer Bruder die Mama. Alberto wiederum beschränkt seine Kommunikation auf erzieherische Anweisungen und versucht etwas unbeholfen, im Feriendomizil in der Nähe von Salto angekommen, durch trotzigen Aktionismus die Stimmung aufzuheitern: „Schwimmen im Regen ist am schönsten.“ Doch wegen Blitzschlaggefahr ist der Badebetrieb verboten.

Also versucht es Alberto mit einer wenig prickelnden Besichtigung eines Wasserkraftwerks und einer Exkursion zum Río Uruguay. Doch erst die Begegnung mit außenstehenden Figuren bringt etwas Bewegung in das festgefahrene Beziehungsgeflecht der Figuren. Während Albert heimlich einen Urlaubsflirt beginnt und sich „Fedo“ mit einem Gleichaltrigen aus der Nachbarschaft anfreundet, verliebt sich „Lu“ schüchtern in einen etwas älteren Jungen. Als dieser sich jedoch mehr für ihre neugewonnene Freundin Madelón (Sofía Azambuya) interessiert, reagiert Lucía mit Eifersucht und Enttäuschung. Zwar findet sie zögerlich und fast unmerklich doch noch zu einem Austausch mit dem Vater, der sich entschieden und verantwortungsbewusst immer wieder um seine Kinder kümmert, doch im vielschichtigen Schlussbild möchte sie nur noch verschwinden. Auf ebenso originelle wie kunstvolle Weise verbinden Ana Guevara und Leticia Jorge in ihrem Film das stille Drama der Pubertät mit der liebevollen Hommage an einen Vater. Ihren Vätern wiederum haben sie übrigens „Tanta agua“ gewidmet.

Edge of Tomorrow

(AU / USA 2014, Regie: Doug Liman)

Stirb schnell und oft
von Drehli Robnik

Bei Hollywood-Actionkino, wie es seit einiger Zeit gern wieder im Science Fiction-Modus antritt, heißt es oft (und meist aus Bequemlichkeit), die Action, die Special Effects, die Animationen, das sei eh …

Bei Hollywood-Actionkino, wie es seit einiger Zeit gern wieder im Science Fiction-Modus antritt, heißt es oft (und meist aus Bequemlichkeit), die Action, die Special Effects, die Animationen, das sei eh okay; aber die Story – das, wovon unser Deutschlehrer gesagt hat, dass dafür das Kino erfunden bzw. noch nicht abgeschafft worden sei – lasse doch sehr zu wünschen übrig.

Juhu! Mit Doug Limans 'Edge of Tomorrow' gibt es endlich wieder einen Hollywood-Actionfilm, bei dem wir es genau umgekehrt sehen können (und sei es auch nur aus Bequemlichkeit). Die Actionmomente dieses Films, die Kämpfe bei der Rückeroberung Kontinentaleuropas von Alien-Invasoren, die Gestaltung und Moves der Tentakelmonster selbst, Geballer und Pyrotechnik, die Verwüstung französischer Strände, Trailerparks, Bauernhöfe und (vielleicht am wenigsten schade) des Louvre samt Pyramide – das alles ist manchmal nicht viel mehr als lauwarm. Und dass das Zentrum des Alien-Kollektivs reichlich uterin aussieht und der Held leblos darüber im Wasser schwebt, bevor er wieder erwacht, das macht visuell auch keinen schlanken Fuß. Aber es macht zumindest Sinn in einem Zeitreise- und Mindgame-Film, der seine Akzente vom Poltern in den Plot und vom Getrampel ins Temporale verlagert hat.

Ein zu den Landungstruppen strafversetzter PR-Offiziers-Schnösel wird nach jedem Kriegstod im Moment seines verkaterten Aufwachens am Tag davor wiedergeboren und erlebt alle Schrecken, samt dem fatalen Scheitern der Gegenoffensive auf französischen Atlantikstränden, aufs neue; zwecks Rettung der, öh, Menschheit muss er lernen, es besser zu machen, und so nutzt sein Vorwissen über immer mehr Detailabläufe. Das bildet im Kleinen die Erfahrung von Spielstages nach ('Bis hierher weiß ich, was kommt – ab jetzt ist es Neuland' – oder Game Over) und im Großen den Look und die Logistik des D-Day vor genau siebzig Jahren. Hinzu kommt die Erster Weltkriegs-Chiffre im Beinamen einer Superkriegerin, die zum Propaganda-Idol der kampfbereiten Menschheit aufgebaut wurde: Angel of Verdun.

Und da sind wir schon mitten in dem amüsanten Pärchenplot: Tom Cruise, gerade in seinem Grinsen gespalten wie in seinen besten Rollen, wird von besagtem martialischen Engel (souverän wie stets: Emily Blunt) geschult und initiiert; bei jedem Scheitern macht sie an ihm Reset per Kopfschuss. Das male panic-Potenzial dieser abstrusen Prämisse zeitigt Screwball und Slapstick (beim Sich-Zusammenraufen bzw. Gegen-Wände-Laufen), Momente von Montagehumor und Masochismus: Die Erzählung signalisiert, dass sich über die nächsten fehlgegangenen Anläufe des (nicht nur am Schmerz, sondern gar am Tod) Lernenden mit einer Schnellschnittfolge von 'Eh schon wissen'-Bildern flott hinweggehen lässt; und unser Grinsekater Tom landet ständig in Situationen, wo du ihm schadenfreudig 'Ätsch!' zurufen möchtest, wenn er an der Kippe zum Morgen ohnmächtig und tot ins Gestern zurückfällt. Tom Maso ist Tom Morrow: Ätsch of Tomorrow, indeed.

Scherz beiseite: Tatsächlich geht es hier ums Ausspielen masochistischer Phantasmen des Klein-Machens, bei denen wir Cruise als Hass-Objekt beim Geschunden- und vom Bonvivant zum Krieger Bekehrt-Werden zuschauen können; oder wir können uns mit ihm identifizieren, wenn African American Sergeant, Redneck-Unteroffizier, Hispanic Kameradin oder eben Amazone Emily ihn unsanft erniedrigen, rumkommandieren und -schubsen. Ein Star wird geschlagen. (Und unter Prügeln wiedergeboren, sofern er zur Selbstaufgabe bereit ist.)

Der Krieg wird da als Neutralisierer von Klassen-, die (Kampf-)Technik als Umkehrer von Gender-Normalität projiziert. Das ist alles nicht so maliziös in Sachen stilistischer und rhetorischer Fascho-Bellizismus-Emulation wie in 'Starship Troopers' (auch der hatte ja viel Weltkrieg II-Flair in der Optik und im Pflicht-Ethos), auch nicht so queer wie manches in dem Drehbuch, das 'Edge of Tomorrow'-Co-Autor Christopher McQuarrie seinerzeit für Cruisens Stauffenberg-Film 'Valkyrie' geschrieben hat; aber beides klingt da an (etwa im Sand-Insekten- und Kollektivhirn-Design der Invasoren).

Wollten wir zum Source Code (jaja) für 'Edge of Tomorrow' vorstoßen – für diesen Kontrast-durch-Korrespondenzfilm zum stylishen Vorjahres-Selbstspaltung-im-Alienkriegs-SciFi-Drama mit Tom Cruise, dessen Titel wir vergessen haben (weil er Oblivion' lautet) –, dann würde uns wohl manches aus der Cyborg-Neoklassik begegnen: das 'Führe deinen Führer'-Motiv aus 'The Terminator', die hier in ihrer Klobigkeit als dämlich ausgestellten Kampfrobot-Bodysuits aus 'Avatar', 'The Abyss' und dem Showdown von 'Aliens', aus letzterem auch die Besetzung von Bill Paxton als keppelnder Unteroffizier und Blunt als Trägerin einer von Sigourney Weaver entzündeten Fackel (SciFi-Actionheldin) – das sind charmant formulierte Grüße an James Cameron. Ansonsten grüßt hier das Murmeltier – durchaus höflich, warum auch nicht?

Danger 5

(AUS 2012, Regie: Dario Russo)

Reste verwerten
von Carsten Happe

Ich möchte gerne Quentin Tarantino die Verantwortung dafür übertragen, dass es eine Serie wie „Danger 5“ gibt, nicht allein wegen der allzu offensichtlichen Analogien zu dem verspielten Geschichtsrevisionismus der „Inglourious …

Ich möchte gerne Quentin Tarantino die Verantwortung dafür übertragen, dass es eine Serie wie „Danger 5“ gibt, nicht allein wegen der allzu offensichtlichen Analogien zu dem verspielten Geschichtsrevisionismus der „Inglourious Basterds“, die hier zum Auftakt jeder Episode mit einem beherzten „Kill Hitler!“ beinahe in Endlosschleife reproduziert werden, nein, Quentin Tarantino hat ja auch darüber hinaus in seinem gesamten Oeuvre und insbesondere in seiner Fan-Leidenschaft dem B- und C-Movie vergangener Zeiten und versunkener Kinematografien gehuldigt, dass es einerseits eine wahre Freude ist, dem ironischen Zitatenreichtum bis in die letzte Obskurität zu folgen. Andererseits aber, und hier kommt „Danger 5“ wieder ins Spiel, krochen und kriechen im Zuge der Expansion des Tarantino’schen Metaversums unzählige Epigonen aus ihren Nerd-Löchern und hoffen ihrerseits auf ein paar Krümel des Coolness-Kuchens.

Auf dem Papier lässt sich das alles ganz hübsch an: Fünf sexy Spione aus den Reihen der Alliierten treten gegen die aberwitzigsten Auswüchse der Nazi-Gigantomanie an, Sixties-Camp und Japan-Trash flankieren die abstrusen Missionen, die zumindest in den Promillebereich eines James Bond vordringen. In ihren sechs Episoden erschaffen die australischen Serienschöpfer Dario Russo und David Ashby ein wahres Kompendium der Naziploitation: Roboter-Supersoldaten und Nazi-Dinosaurier, immer wieder ein wenig Sleaze um blonde, linientreue Fräuleins in Fetisch-Uniformen, die unvermeidlichen Kunstraubzüge und vermeintlichen Superwaffen der Mad Scientists – alles da, alles wild durcheinandergemixt wie die Cocktails, deren Rezepte als „famous last words“ der dahinscheidenden Verbündeten in jeder Episode als Running Gag zelebriert werden.

Überhaupt wird vieles in „Danger 5“ auf dem Silbertablett dargereicht, jeder visuelle Einfall so lang ausgewalzt, bis er so platt daherkommt wie die restlichen Witzchen, die die Serie ein wenig zu stolz vor sich her trägt. Dabei ist „Danger 5“ nicht vollends ohne Charme, auch wenn sich ihre Macher offenbar entschieden haben, die Ausstrahlung und den Kultappeal mit dem Holzhammer einzutreiben, nein, jede einzelne Episode hat ihre Momente, gerade wenn der Krawallhumor mal einen kurzen Augenblick Pause macht, wenn die Pappkulissen und Miniatureffekte mal nicht so aufdringlich und Beifall heischend in den Vordergrund gedrängt werden, dann ist für eine kurze Weile die aufrichtige Liebe der Macher zu ihrem Subjekt zu spüren, dann überstrahlt sie die fast durchweg amateurhaften Darstellerleistungen – einzig Natasa Ristic als russische Agentin Ilsa (!) ragt bisweilen aus dem Freilichtbühnengeplänkel heraus – dann sind die doppelt und dreifach aus Zitaten, Querverweisen und Hommagen errichteten Barrikaden der Ironie für wenige Augenblicke gefallen.

Aber neben der Liebe zum Subjekt tritt dabei allerdings auch das Unvermögen offen zu Tage, der Serie wenigstens einen Hauch des Eigenständigen zu verleihen, sie aus der Zitathölle zu befreien – wie es eben Tarantino immer wieder schafft, oder ein Wes Anderson, to name just a few. Ähnlich wie bei „Iron Sky“ fehlt jegliches Gespür fürs Timing und die Dosierung der Gags, Albernheit wird mit Humor verwechselt und Penetranz mit der gelungene Pointe. So bleibt ein leidlich schmackhafter Eintopf aus halbgarem Möchtegern-Trash und unterklassiger Puppenkiste – und auch wenn man Quentin Tarantino nun wahrlich einiges ankreiden kann, dies hier ganz sicher nicht.

Boyhood

(USA 2014, Regie: Richard Linklater)

Improvisierte Augenblicke
von Wolfgang Nierlin

Ein kleiner Junge liegt auf dem Rücken im Gras und blickt zum Himmel. Er stellt sich dabei vor, wie sich ein Wassertropfen im Zusammenprall mit der Luft in eine Wespe …

Ein kleiner Junge liegt auf dem Rücken im Gras und blickt zum Himmel. Er stellt sich dabei vor, wie sich ein Wassertropfen im Zusammenprall mit der Luft in eine Wespe verwandelt. Der 6-jährige Mason (Ellar Coltrane) ist ein stilles, verträumtes Kind, das mit schulischer Disziplin noch nicht viel anfangen kann und lieber mit seinem Freund Tony Graffitis sprüht oder in einem Katalog mit Damenunterwäsche blättert. Gegenüber seiner zwei Jahre älteren, ziemlich überkandidelten Schwester Samantha (Lorelei Linklater), die durch vorlaute Besserwisserei und zickige Starallüren nervt, fühlt er sich vernachlässigt und unterlegen. Noch lebt Mason in einer magischen Welt, die jedoch immer deutlichere Risse bekommt. Denn seine junge, alleinerziehende Mutter Olivia (Patricia Arquette) ist in ihrer Doppelrolle als Ernährerin und Erzieherin überlastet und plant einen Umzug von Austin nach Houston, wo ihre Mutter lebt.

In Richard Linklaters Coming-of-Age-Film „Boyhood“, der (mit autobiographischen Anleihen) über einen Zeitraum von zwölf Jahren hinweg von der Kindheit und Jugend eines texanischen Jungen erzählt, sind es immer wieder Umzüge, die schmerzliche Brüche erzeugen. Mason verliert Freunde, muss sich an neue Mitschüler gewöhnen und sich mit wechselnden, meist autoritären Vaterfiguren auseinandersetzen. Einprägsam beschreibt Linklater dieses Spannungsfeld aus Fremdbestimmungen, dessen formenden und manipulierenden Kräften der Junge unfreiwillig ausgesetzt ist. Unter all diesen Einflüssen und Bevormundungen geht es aber auch um die Bewahrung der eigenen introvertierten Identität, die immer wieder in neue Richtungen gelenkt wird und sich im Jugendalter in künstlerischen Ambitionen manifestiert. Einmal sagt Mason zu seiner Freundin Sheena (Zoe Graham), die zugleich seine erste große Liebe ist, er wolle sich lebendig fühlen und könne sich deshalb nicht verbiegen.

„Du bist verantwortlich für deine eigenen Handlungen“, steht auf einem Schild am Eingang zum Klassenzimmer. Dort beginnt der Unterricht mit dem Fahneneid. Mit der Darstellung von Patriotismus, Machogehabe, Waffenkult und christlicher Religion wirft Linklater immer wieder bezeichnende Streiflichter auf den wertkonservativen, teils reaktionären Lebensstil in weiten Teilen der US-amerikanischen Gesellschaft. Seine zeitgeschichtlichen Referenzen auf den Irak-Krieg, Obamas Wahlkampf oder auch die Harry Potter-Manie bleiben jedoch oberflächlich und ohne Vertiefung. Überhaupt neigt die szenische, bruchstückhafte Erzählweise zum Plakativen und zu abfallender Spannung. Auch wenn sich die erzählerischen Lücken imaginativ meist schließen lassen, würde man bei konkreten Anlässen manchmal gerne erfahren, wie’s weitergeht mit den Suchbewegungen des aufwachsenden Jungen.

Trotzdem gibt es viele intensive und vor allem intime Momente, aus dem normalen Alltag herausgegriffen, die Masons Persönlichkeit nachhaltig prägen. Eindrucksvoll werden Entwicklungen schließlich an den Körpern selbst ablesbar, denn Richard Linklater hatte das Glück, für seine fiktionale Langzeitstudie „Boyhood“ über die Jahre hinweg mit den gleichen Schauspielern drehen zu können. „Wer willst du sein?“, wird Mason einmal von einem Lehrer gefragt. Die amerikanischen Selbstermächtigungsmythen, deren Forderungen sich Mason mitunter bewusst entzieht, wirken stark und auf vielen Ebenen dieses Films. Dass es für ein gelingendes Leben hingegen kein Rezept gibt, drückt einmal Masons Vater (Ethan Hawke), selbst noch ein Kindskopf und im Umgang mit seinen Kindern immer etwas überdreht, folgendermaßen aus: „Wir alle improvisieren.“ Mason wiederum wendet diesen spielerisch- ausprobierenden Zugang zum Leben danach ins unkontrolliert Passive, wenn er – auf einem Mushroom-Trip inmitten der Natur – in Abwandlung einer bekannten Sentenz überlegt, dass es vielleicht der Augenblick ist, der „uns (be)nutzt“ – hier und jetzt.