Frisch und sehr pragmatisch verheiratet, wurde der promovierten Chemikerin Nelly Senff und ihrem wohl neunjährigem Sohn Alexej die Ausreise aus der DDR bewilligt. Beim Grenzübertritt 1978 demonstriert das Land, das Nelly endlich hinter sich lassen will, noch einmal borniert seine Macht zur Demütigung der Ausreisewilligen, die sich ihrerseits nicht bemüht, ihre Verachtung für diese Behandlung zu verheimlichen. Man merkt schnell, dass Nelly über eine gewisse Routine im Umgang mit derlei Schikane verfügt und trotzdem zornig und kämpferisch reagiert. Warum? Drei Jahre zuvor ist Alexejs Vater, der russische Wissenschaftler Wassilij, in Moskau unter ungeklärten Umständen bei einem Unfall ums Leben gekommen. So wurde es Nelly von offizieller Seite mitgeteilt, zur Beerdigung durfte sie nicht anreisen.
Nelly hat keine politischen Gründe, die DDR zu verlassen, eher will sie noch einmal ein neues Leben im Westen anfangen. Der, wie man damals gerne sagte, doch leuchtete. Doch zunächst einmal geraten Nelly und Alexej erneut in die Fänge der Bürokratie. 12 Stempel braucht es, bis man sich zur BRD-Staatsbürgerschaft gratulieren kann. So lange lebt man in einem Zimmer im Notaufnahmelager Marienfelde, wo offenbar die Regel gilt: wer hier nicht binnen weniger Tage weg ist, sitzt in der Falle. Nicht immer wird dieser Nicht-Ort zum Übergangslager, zum Transit-Raum. So wie für den geheimnisvollen und zurückhaltenden Hans, der als Politischer schon in Bautzen einsaß, freigekauft wurde, aber keine rechte Neugier auf den Westen entwickeln konnte und jetzt hier festsitzt. Nicht mehr im Osten, aber auch noch nicht im Westen. Er freundet sich langsam mit Nelly und insbesondere Alexej an.
Der Start ins neue Leben erweist sich auch für Nelly schwieriger als erwartet, zumal die zuständigen Behörden ihr mit einer Mischung aus Ignoranz und Vorurteilen begegnen. Und dann sind da noch die bundesdeutschen und amerikanischen Geheimdienste, die sich mit durchaus vergleichbarem Interesse wie ihre Stasi-Kollegen über den Fall des toten Wassilij beugen, der doch für Ostblock-Verhältnisse sehr reisefreudig gewesen sei. Wisse Nelly denn überhaupt mit Bestimmtheit, dass Wassilij tot sei? Es wird unübersichtlich – und der direkte Vergleich der Systeme provoziert.
Der Filmemacher Christian Schwochow hat sich bereits mit seinen atmosphärisch dichten, intimen Spielfilmen „Novemberkind“ und „Die Unsichtbare“ als Spezialist für präzise Frauen-Porträts gezeigt. Mit „Westen“ weitet er aber auf ambitionierte Weise seinen Blick, indem er »die Welt« in seine Film-Welt hineinlässt. Das gelingt auch deshalb, weil er die Poly-Perspektivität von Julia Francks Romanvorlage auf zwei, drei Erzählstränge reduziert und sich dabei ein paar Elemente des klassischen Agententhrillers zu Nutze macht, wobei das Schicksal Wassilijs in Hitchcock-Manier als „MacGuffin“ fungiert. Meint: letztlich geht es nicht um Wassilij, sondern darum, wie versucht wird, Nelly mit Informationen derart zu manipulieren, bis ihr Misstrauen sich zur Paranoia auswächst. Was wiederum ihre Beziehung zu Alexej und Hans auf eine schwere Probe stellt. Ist Hans vielleicht sogar, wie manche vermuten, ein Stasi-Spitzel?
Jördis Triebel überzeugt in ihrem fesselnden Porträt einer starken Persönlichkeit, die zwar Momente der Schwäche zeigt, aber letztlich nie aufgibt, ihre Würde und Souveränität zu verteidigen. Die selbstbewusste und immer etwas undurchschaubare Art und Weise, wie sie die persönliche Auseinandersetzung mit dem farbigen CIA-Agenten John Byrd führt, erinnert mitunter an Fassbinders Maria Braun. Eine künstlerische Nähe, die sich, genauer bedacht, durchaus nicht zufällig einstellt. Wohin die Reise geht, war 1978 noch nicht absehbar. Schwochow lässt folglich vieles offen, nur ganz am Schluss macht er es sich vielleicht etwas zu einfach, wenn er seinen Film auf ein konventionelles Happy End an Weihnachten zusteuern lässt. Aber das könnte auch ironisch gemeint sein.
Ulrich Kriest hat mit dem Regisseur auch dieses Gespräch geführt.