Archiv der Kategorie: Filmkritik

Melodys Baby

(B / F / LU 2014, Regie: Bernard Bellefroid)

Stark verletzlich
von Wolfgang Nierlin

Melody (Lucie Debay) wird geleitet vom Wunsch nach Geborgenheit und Schutz. Zugleich sucht sie nach Unabhängigkeit in einem eigenen Leben. Wie beides zusammenhängt, zeigt Bernard Bellefroid in seinem bemerkenswerten, thematisch …

Melody (Lucie Debay) wird geleitet vom Wunsch nach Geborgenheit und Schutz. Zugleich sucht sie nach Unabhängigkeit in einem eigenen Leben. Wie beides zusammenhängt, zeigt Bernard Bellefroid in seinem bemerkenswerten, thematisch aktuellen Film „Melodys Baby“ („Melody'). Bezeichnenderweise beginnt dieser mit einem symbolisch aufgeladenen Bild, das die junge Titelheldin in der Embryonalstellung zeigt und auf eine ambivalente Existenz deutet. Tatsächlich packt Melody kurz darauf ihre Sachen und verlässt die Wohnung eines nicht näher vorgestellten Mannes. Ausgesetzt und ohne Obdach geht die 28-Jährige von Tür zu Tür, um mehr oder weniger erfolglos ihre Dienste als Friseurin anzubieten. Dicht gefolgt und begleitet von einer Kamera, die immer wieder die Nähe sucht zu Melodys offenem Gesicht und ihrem verletzlichen, aber auch starken Körper. Stilistisch ähnelt Bellefroids Film darin den Arbeiten seiner belgischen Landsleute Jean-Pierre und Luc Dardenne.

Weil sich Melody mit ihrem Gewerbe selbständig machen will, was vielleicht nicht sehr realistisch ist, und für die Eröffnung eines Friseursalons sehr viel Geld braucht, bietet sie sich im Internet als Leihmutter an. Der Kontakt zu der alleinstehenden Managerin Emily (Rachael Blake), die sich nach einem Kind sehnt und zunächst als kühle, kontrollierte Geschäftsfrau eingeführt wird, ist schnell und in wenigen Schnitten erzählt. Denn Bernard Bellefroid konzentriert sich im Folgenden vor allem auf die Beziehung der beiden einsamen Frauen, die zunächst von Spannungen und Misstrauen bestimmt wird, allmählich aber in eine zunehmende Annäherung übergeht. „Wir haben doch beide einen Traum. Zerstören wir ihn lieber nicht“, sagt Emily an einem Wendepunkt der Geschichte. Der Schlüssel für dieses wechselseitige Sich-Öffnen, das schließlich über ihre Freundschaft hinaus in einer bewegenden Mutter-Tochter-Beziehung mündet, liegt in einer schmerzlichen Vergangenheit.

Während Emily aufgrund einer schweren Krankheit einst ihre Gebärmutter und den darin wachsenden Embryo verloren hat, wurde Melody nach ihrer Geburt anonym ausgesetzt. Jetzt soll sie ihrerseits ein Kind weggeben, das zwar in ihr wächst, ihr aber nicht „gehört“. Zugleich übernimmt Melody auf zunehmende Weise eine Doppelrolle als Kind bzw. Ersatztochter und werdende Mutter. Zwar erscheint diese Plot-Konstruktion in ihren Wechselwirkungen mitunter etwas konstruiert und bleiben manche (realistischen) Details zugunsten zweier intensiver, hervorragend gespielter Frauenportraits dabei auf der Strecke; zugleich gelingt Bellefroid aber ein starkes, bisweilen tragische Züge annehmendes Drama über ebenso komplizierte wie schwierige „Familienbeziehungen“, die beunruhigende Pflicht zur Verantwortung und den traurigen, vielleicht aber auch tröstlichen Zusammenhang von Tod und Leben. „Schließlich“, so der Regisseur, „finden beide in der Anderen genau das, was sie selbst nie hatten.“

Der kleine Tod

(AUS 2014, Regie: Josh Lawson)

Morbides Liebesglück
von Wolfgang Nierlin

Man könnte sagen, viele Menschen leiden unter dem Problem, keine erfüllte Sexualität zu erleben und damit auch keine befriedigende Beziehung. Zumindest in Josh Lawsons schwarzhumorigem Episodenfilm „Der kleine Tod“ ist …

Man könnte sagen, viele Menschen leiden unter dem Problem, keine erfüllte Sexualität zu erleben und damit auch keine befriedigende Beziehung. Zumindest in Josh Lawsons schwarzhumorigem Episodenfilm „Der kleine Tod“ ist das so, der auf originelle Weise die sexuellen Neurosen einer Reihe von Paaren im besten Alter beschreibt. Einerseits möchte der australische Schauspieler und Regisseur in seinem Spielfilmdebüt „Sex nicht immer so ernst nehmen“; andererseits beansprucht er, einen „Kommentar auf die heutige Gesellschaft und über unsere Vorstellung von Normalität“ zu formulieren. Seine teils abgründigen Geschichten, in denen relativ unverkrampft und offen bizarre Phantasien und sexuelle Perversionen dargestellt werden, besitzen also einen ernsten Kern, der auf die Mitte der Gesellschaft zielt. Lawsons Travestien der Liebe und Lust setzen sich dabei in immer wieder überraschenden Wendungen gegen mögliche Erwartungshaltungen der Zuschauer.

Die gesellschaftlichen Spiegelungen, die Josh Lawson aus den sexuellen Abweichungen seiner Protagonisten ableitet, sind nicht immer leicht auszumachen und besitzen mitunter einen doppelten Boden. In einer um Dacryphilie (d. i. die sexuelle Erregung, die aus der Betrachtung einer weinenden Person resultiert) kreisenden Episode etwa leiden Rowena und Richard unter einem unerfüllten Kinderwunsch. Doch eigentlich erlebt Rowena keinen Orgasmus. Das ändert sich erst, als sie die Tränen ihres Mannes, ausgelöst durch den plötzlichen Tod seines Vater, als sexuelles Stimulans entdeckt. Fortan ist sie bestrebt, Richard durch Täuschungen und gemeine Listen zum Weinen zu bringen. Der kleine Tod des Orgasmus bezieht seine vitale Energie hier also aus der schmerzlichen Erfahrung von Verlust und Trauer. Als Bruder des Schlafes wiederum ist die Todesphantasie in Phils erkalteter Ehe mit Maureen gegenwärtig. Denn nur noch das Bild seiner schlafenden Frau, an dem sich Phil in langen Nächten ergötzt, verschafft dem immer müder werdenden Familienvater eine Art morbides Liebesglück.

Verstärkt und zusammengehalten werden diese Episoden einer dunklen Sexualität von einem vorbestraften, weitgehend unbeachtet bleibenden und deshalb latent bedrohlichen Sexualverbrecher, der sich mit selbstgebackenen (den politisch inkorrekten Namen tragenden) „Golliwogs“ in der Nachbarschaft vorstellt und outet. So etwa bei Paul (von Lawson selbst gespielt) und Maeve, die davon träumt, von ihrem Mann als einem „Fremden“ vergewaltigt zu werden; oder auch bei Evie und Dan, die mit skurrilen Rollenspielen ihrem Sexualleben neue Impulse geben wollen. Doch für Dan wird das Spiel immer mehr zum Fetisch, an den er sich verliert.

Überhaupt ist die Selbstinszenierung von Rollen, befördert durch Lügen, Täuschungen oder aber gezielt hergestellte Fiktionen ein Leitmotiv der insgesamt fünf alternierend miteinander verschränkten Episoden. So visualisiert schließlich Monica, die als „Dolmetscherin“ für Gebärdensprache bei einem Telefondienst arbeitet, die schmutzigen Phantasien eines jungen, taubstummen Comic-Zeichners, für den sie mit einer Sex-Hotline kommuniziert. Dabei verlieben sich die beiden ineinander. Und es liegt eine Mischung aus leiser Wehmut, aufkeimendem Liebesglück, aber auch subtil grausamer Bedrohung über der Szene, wenn Monica, innerlich bedauernd, das unverhofft magische Gespräch beendet und auf dem Heimweg nach einer Autopanne dem Sexualstraftäter begegnet.

Cobain: Montage of Heck

(USA 2015, Regie: Brett Morgen)

Lieder aus der Hölle
von Wolfgang Nierlin

Im Anschluss an seinen fulminanten Dokumentarfilm über den Punkrocker Kurt Cobain erklärt Regisseur Brett Morgan etwas großsprecherisch seine Absichten und gibt Einblick in die produktionstechnischen Hintergründe seines filmischen Portraits “Cobain: …

Im Anschluss an seinen fulminanten Dokumentarfilm über den Punkrocker Kurt Cobain erklärt Regisseur Brett Morgan etwas großsprecherisch seine Absichten und gibt Einblick in die produktionstechnischen Hintergründe seines filmischen Portraits “Cobain: Montage of Heck”. Das zeugt nicht nur von einem starken Ego und wirkt einigermaßen gewöhnungsbedürftig, sondern liefert natürlich auch ein paar nützliche Informationen. Er habe in der Konzentration auf nur wenige Zeitzeugeninterviews (vor allem mit Familienmitgliedern) und den reichhaltigen kreativen Nachlass Cobains ein möglichst intimes inneres Portrait des Musikers schaffen wollen, das sich vor allem aus Selbstzeugnissen zusammensetze. So verdichtet er in seiner „Montage aus der Hölle“ (der Titel stammt von einer Musikkassette Cobains) auf ebenso mitreißende wie eindrucksvolle Weise eine enorme Menge an Homemovies, Tagebuchnotizen, Konzertmitschnitten und eigens animierten Zeichnungen des Künstlers und Rockstars.

Ein solcher wollte Kurt Cobain freilich nie sein, auch wenn er andererseits viel dafür getan hat. Seine ironische Abgrenzung gegenüber sogenannten Rockidolen, seine massiven Probleme mit der eigenen Popularität, aber auch seine radikale Ablehnung traditioneller (Geschlechts-)Rollenzuschreibungen sowie einer leistungsorientierten Elterngeneration und einer verlogenen Politik markieren dieses widersprüchliche Feld. Ihn zum Sprachrohr der Null-Bock-Generation zu stilisieren bzw. seine Verweigerungshaltung zu instrumentalisieren, stößt bei Cobain ebenso auf Ablehnung wie die mediale Ausbeutung seines Privatlebens bei ihm heftige Wut auslöst. Insofern ist Morgans Film auch der eindringliche Versuch, die Rekonstruktion von Kurt Cobains künstlerischem Werdegang mit seiner inneren „Seelenbiographie“ zu verschränken. Die Musik liefert dazu vornehmlich den Soundtrack in seiner heftigsten Form.

Cobains Krankheits- und Leidensgeschichte beginnt 1967 in der prosperierenden Holzfäller-Stadt Aberdeen im Nordwesten der USA, wo der kleine Kurt als zunächst verwöhntes Kind aufwächst, durch seine Hyperaktivität aber seine Eltern überfordert. Nach deren Scheidung wird der 9-jährige Junge, der insgeheim bei seiner Mutter bleiben möchte, innerhalb der Verwandtschaft herumgereicht, stößt aber überall auf Zurückweisung, was während der Pubertät die Ausprägung seines manisch-depressiven Charakters zusätzlich verstärkt. Als sensibler Jugendlicher, der Probleme mit Mädchen und der Sexualität hat und Demütigungen nur schwer erträgt, beruhigt er sich mit Marihuana, entwickelt aber zugleich Gewalt- und Zerstörungsphantasien, die sich vor allem in seinen Zeichnungen niederschlagen, aber auch in der Erfahrung eines energiegeladenen Musikmachens ein Ventil finden.

Die wüsten, selbstzerstörerischen Auftritte mit seiner Band Nirvana geben davon einen starken Eindruck. Zwar findet er mit der Hole-Sängerin Courtney Love und der gemeinsamen Tochter Frances auch privates Glück. Trotzdem nimmt sich Kurt Cobain, von permanenten Magenbeschwerden gepeinigt und von der Heroin-Sucht gezeichnet, mit 27 Jahren das Leben. Zu diesem Zeitpunkt ist das Bild seines Leidens an sich und der Welt im Film durch einen kurzen, von Cobain inszenierten Auftritt im Rollstuhl symbolisiert, längst öffentlich geworden.

Das Zimmermädchen Lynn

(D 2014, Regie: Ingo Haeb)

Aus Liebe zum Schmutz
von Manfred Riepe

Im Kino sind Porträts über Frauen mit Obsessionen in der Minderzahl. Nicht nur im Film, auch in der Psychopathologie scheint Zwanghaftigkeit eine Männerdomäne zu sein. An Lynn Zapatek, Hauptfigur in …

Im Kino sind Porträts über Frauen mit Obsessionen in der Minderzahl. Nicht nur im Film, auch in der Psychopathologie scheint Zwanghaftigkeit eine Männerdomäne zu sein. An Lynn Zapatek, Hauptfigur in Ingo Haebs subtiler Betrachtung einer jungen Einzelgängerin, muss man sich erst gewöhnen. Lynn ist keine gewöhnliche Putzfrau, sie entwickelt einen obsessiven Putzfimmel. Als Zimmermädchen schrubbt und reinigt sie mit kaum zu übertreffender Perfektion. Sogar den Spülrand des Wasserklosetts inspiziert sie mit einem Zahnarztspiegel. Frauen mit solchen Leidenschaften gibt es natürlich. Ein prominentes Beispiel ist Isabella Rossellini, die in der Presse davon berichtete, dass sie leidenschaftlich putzt und welche Reinigungs- und Waschmittel sie bevorzugt.

Bei Lynn ist man zunächst irritiert, weil ihr Putzfimmel die Zwanghaftigkeit eines männlichen Charakters aufzuweisen scheint. Sie ist eine eher literarische Figur. Sie entstammt Markus Orths’ Roman von 2008. In seinem schmalen Bändchen erzählt der Autor von einer labilen 30-Jährigen, die ein halbes Jahr in der Psychiatrie verbrachte. Nach ihrer Entlassung nimmt sie ihren alten Job im Hotel wieder an. Im Gegensatz zum Film erfahren wir in der Buchvorlage, dass Lynn gekündigt wurde weil sie bei den Hotelgästen etwas mitgehen ließ. Sie lebt isoliert und hat nur dann Kontakt zu anderen Menschen, wenn es sein muss. Beschäftigungslose Zeit macht ihr zu schaffen. Orths beschreibt, wie Lynn die Leere ihrer Freizeit zu bewältigen versucht. Ein freier Tag ist für sie schwer auszuhalten. Einmal wöchentlich geht sie zum Therapeuten, den sie nicht mag. Besonders, wenn er sie mit Deutungen traktiert. Spinnen, vor denen sie Angst hat, seien ein Symbol für ihre Mutter. Mit ihr telefoniert Lynn einmal wöchentlich. Die Mutter möchte gerne mehr Kontakt, doch Lynn kann sich weder von ihr abnabeln, noch auf sie zugehen. Zwischen beiden herrscht eine ritualisierte Sprachlosigkeit, die sich in wiederholten Formeln ausdrückt.

Im Gegensatz zur Buchvorlage hat Ingo Haeb (Buch und Regie) die zuweilen etwas redseligen Reflexionen über die psychischen Probleme der Protagonistin radikal zum Schweigen gebracht. Warum sie in der Klinik war, fragt eine Kollegin. „Das ist meine Sache“, sagt Lynn. Im Film erfährt man erfreulicherweise nicht viel über diese Frau, die zu Männern ein instrumentelles Verhältnis hat und ansonsten ein Rätsel bleibt.

Diese Reduktion erzeugt Raum zur Beobachtung. Sorgfältig komponierte Bilder zeigen Lynns Arbeitsalltag in einem Hotel irgendwo am Meer. Die Luxemburgerin Vicky Krieps, ein unverbrauchtes Gesicht, hält sich angenehm zurück. Man hat das Gefühl, dass ihr zum „Schauspielen“ im konventionellen Sinn keine Zeit bleibt, weil sie permanent putzen muss. Zwischendurch schaut sie alte Filme von Jacques Tati und erzählt ihrem Therapeuten Banalitäten. Auch im Film ist das Verhältnis zu ihrer klammernden Mutter (Christine Schorn) distanziert und von einer unverstandenen Sehnsucht geprägt. Plötzlich fachsimpeln beide übers Putzen: ein wirklich komischer Moment, in dem eine schwer fassbare Nähe entsteht.

Die lakonisch-beiläufige Erzählweise zieht den Zuschauer zunehmend in den Bann. Gespannt verfolgt man, dass Lynn eine Getriebene und ihr Job nur Mittel zum Zweck ist. Akribisch wie sie putzt, schnüffelt sie in den Utensilien abwesender Hotelgäste. In deren Privatsphäre sucht sie nach etwas, was in ihrem eigenen Leben fehlt. Diese Situationen spitzen sich mehr und mehr zu: Die prickelnde Gefahr, überrascht zu werden, wenn sie in die Kleider der Hotelgäste schlüpft, verschafft ihr einen wollüstigen Kick. Zum ersten Mal huscht ein befriedigtes Lächeln über das Gesicht der depressiv erscheinenden Außenseiterin.

Einmal überspannt sie den Bogen und muss unters Bett flüchten – von wo aus sich eine ganz neue Perspektive eröffnet. In dieser Schlüsselszene setzt der Film, der sich ansonsten recht eng an die Vorlage hält, einen leicht verschobenen Akzent, der die Figur plausibler erscheinen lässt. Lynn befindet sich unter dem Bett und nimmt aus dieser speziellen Perspektive heimlich am Leben eines ahnungslosen Hotelgastes teil. Solche Situationen werden im Kino nicht häufig aufgegriffen. In der deutschen Komödie „Geliebte Hochstaplerin“ von 1961 (Regie: Ákos von Rátony) flüchtet Walter Giller als blinder Passagier auf einem Dampfer in die Kabine einer Frau, unter deren Bett er sich versteckt. Von dort aus beobachtet er, wie sie sich entkleidet und auf hochhackigen Schuhen immer wieder hin- und her stöckelt. Man muss psychologisch nicht besonders bewandert sein, um zu verstehen, dass Lynn unter dem Bett die Perspektive eines Voyeurs einnimmt. Von hier unten hat man einen guten Blick auf das rätselhafte Etwas, das sich unter dem Rock eine Frau befinden mag. Voyeure sind eigentlich männlich, doch Lynns Interesse für Schmutz hängt ganz konkret mit der Ambivalenz zwischen der Sichtbarkeit und der Unsichtbarkeit des Fetischobjekts zusammen: „Nur weil man den Staub nicht sieht, heißt das nicht, dass er nicht da ist“, sagt Lynn einmal. Hier wird Schmutz auf eine poetische Weise „schmutzig“.

Während die Buchvorlage die Geschlechterproblematik nur aus der Ferne in den Blick bekommt, setzt die Verfilmung hier einen interessanten Akzent. Der im Roman nur angedeutete voyeuristische Blick auf die phallischen Stöckel einer Domina, die einen Hotelgast züchtigt, fasziniert Lynn. Direkt vor ihren Augen scheint das Stiletto den Fuß des Freiers zu penetrieren, was diesen sexuell ungemein stimuliert.

Diese Schlüsselszene wird so im Buch nicht beschrieben. Sie führt dazu, dass Lynn eine – bezahlte – Beziehung zu dieser Prostituierten anknüpft, die sensibel beobachtet wird und auf spannende Weise offen bleibt. Sexuelle Identitäten changieren. Ist Lynn vielleicht ein Mann im Frauenkörper? In einigen Momenten fühlt man sich an Ozon erinnert, und Lena Lauzemis als cooles Callgirl könnte eine Transe aus einem Film von Pedro Almodóvar sein. Gewisse Erinnerungen an „High Heels“ werden wach.

Ingo Haeb gelingt eine unaufgeregte, zarte Gendergeschichte mit liebevoller Nähe zu den Figuren. Gerade weil Lynn von den zuweilen etwas aufgesetzten literarischen Reflexionen der Romanvorlage befreit wird, fragt man sich nun, warum sie für ihr nicht der heterosexuellen Norm entsprechendes Begehren und ihre Liebe zum Schmutz pathologisiert wird, sie mit einem Bein in der Psychiatrie steht? In Orths’ Roman macht das irgendwie Sinn, sein Buch ist eine konventionell psychologisierende Geschichte. Ein Mann denkt sich mit viel Aufwand in die Psyche eine Frau hinein, die eigentlich ein Mann ist. Dieses Changieren bekommt die filmische Adaption überzeugender in den Griff. Gelungen ist das poetische Schlussbild, in dem Lynn ihre Mutter besucht und sich dabei überraschend ein Kreis schließt. Eine Katze, im Buch nur angedeutet, erhält hier eine Symbolfunktion. Dank einer glänzenden Hauptdarstellerin zeichnet Ingo Haebs Literaturverfilmung das fesselnde Porträt einer obsessiven, jungen Frau, die in keine Schublade, dafür aber unter viele Betten passt. Wer diesen Film mag, wird beim nächsten Hotelbesuch garantiert erst einmal unters Bett schauen.

Hier sprach der Preis

(D 2014, Regie: Sabrina Jäger)

Warten auf das Ende
von Wolfgang Nierlin

„Alles muss raus“, heißt es auf den Plakaten des in den Farben Blau und Gelb verlöschenden Heimwerker-Marktes Praktiker. Die Tage der Handelskette sind gezählt, über 200 Filialen schließen, 20.000 Mitarbeiter …

„Alles muss raus“, heißt es auf den Plakaten des in den Farben Blau und Gelb verlöschenden Heimwerker-Marktes Praktiker. Die Tage der Handelskette sind gezählt, über 200 Filialen schließen, 20.000 Mitarbeiter werden entlassen. Der Kaufreize weckende Slogan verheißt also entgegen dem Anschein nichts Gutes, sondern verkündet streng genommen eine Endzeitstimmung: Die Preise purzeln, Waren werden verschleudert, gierige Hamsterkäufe setzen ein, Regale werden für immer leer geräumt, vor allem aber läuft für die Beschäftigten der Countdown in die Arbeitslosigkeit. Das ist im Herbst 2013 auch im Praktiker-Markt von Bruchsal-Heidelsheim nicht anders, wo die langjährigen Mitarbeiterinnen Elena Lerch und Marina Pitler-Gick in einer Mischung aus Frust, Wehmut und Ungewissheit den Niedergang begleiten und verantwortungsvoll die letzten Reste verwalten. Unterstützt werden sie dabei vom Marktleiter Sven Köberlein und dem Engländer Nigel, der die Insolvenzmasse zu Schleuderpreisen veräußert.

In Sabrina Jägers bemerkenswertem Dokumentarfilm „Hier sprach der Preis“, dessen in die Vergangenheitsform gewendeter Titel sich auf einen früheren Werbeslogan der Firma bezieht, liegt diese Untergangsatmosphäre von Anfang an über der Szenerie. Die Flure sind lang und öde, die Räume verlassen und irgendwie verwahrlost; und während draußen ein heftiger Wind bläst, tropft Wasser durchs Dach. An anderer Stelle trocknet ausgelaufene Farbe auf dem Fußboden; oder es finden sich Scherben eines zerbrochenen Spiegels. Mit den immer leerer werdenden Regalen verdichten sich diese Impressionen zu Symbolen des Verlusts und der Auflösung. Diese erhalten mitunter einen bitteren Beigeschmack, wenn etwa neben einem verwelkten Blumenstrauß noch der alte Slogan prangt: „Blühendes Leben – täglich frisch“. Überhaupt verwandelt sich Sabrina Jägers überraschend tragikomischer Film an vielen Stellen in eine pure Realsatire, die ihren schwarzen Humor aus dem Zusammentreffen tatsächlicher Abwicklungsmodalitäten mit den diversen, schnell wechselnden Hinweisschildern bezieht: „Umtausch und Rücknahme nicht mehr möglich“, steht da geschrieben, während gereizte Kunden in geradezu absurder Weise um Prozente und Cent-Beträge feilschen.

Auf einem anderen Plakat heißt es: „Eine Beratung/Bedienung ist nicht mehr möglich. Es ist keiner mehr da.“ Denn die meisten Mitarbeiter haben sich mit Aussicht auf eine Abfindung krank gemeldet. Die, die geblieben sind, warten deprimiert, lustlos und zunehmend genervt auf das Ende und fühlen sich dabei verraten und im Stich gelassen. So „belauscht“ Jäger, die mit ihrer Mini-Kamera oft unbeobachtet aus einem entfernten Versteck zu filmen scheint, immer wieder Gespräche, in denen es um einen als schwer erlebten persönliche Abschied, gleichgültige Arbeitgeber sowie eine mangelnde berufliche Perspektive geht, die wenig Zukunftsoptimismus erlaubt, auch wenn sich am Ende Lösungen andeuten.

Die aus der Region des Drehorts stammende Filmemacherin, die ihren ziemlich spontan und mit reduzierten Mitteln gedrehten Film (zusammen mit Koautor Stephan Weiner) fast im Alleingang realisiert hat, beobachtet einen Zerfallsprozess, in dem sich wiederum eine allgemeinere Krise der Arbeitswelt spiegelt. Im tristen Ausverkauf manifestiert sich schließlich auch eine Machtlosigkeit, die von der in einer Endlosschleife enervierend säuselnden Kaufhausmusik zwar verharmlost, nicht aber kaschiert werden kann.

Eden

(F 2014, Regie: Mia Hansen-Løve)

Keine Kohle, aber gute Laune
von Tim Lindemann

Jugendlicher Hedonismus wird im Kino oft entweder eindimensional glorifiziert oder mittels eines vermeintlich lehrreichen »bösen Endes« dämonisiert. Vor allem die väterlichen Intentionen der bestrafenden Erzählstrategie sind meist mehr als dubios …

Jugendlicher Hedonismus wird im Kino oft entweder eindimensional glorifiziert oder mittels eines vermeintlich lehrreichen »bösen Endes« dämonisiert. Vor allem die väterlichen Intentionen der bestrafenden Erzählstrategie sind meist mehr als dubios – frei nach dem Motto: Kinder, der Spaß ist vorbei, willkommen in der »echten« Welt! 'Eden', der vierte Film der dänischen Regisseurin Mia Hansen-Løve, wählt narrativ wie inszenatorisch einen anderen Weg.

Zunächst einmal räumt die Regisseurin ihrer fiktionalisierten Nacherzählung des Aufstiegs der French Touch genannten House-Musik-Spielart mit über zwei Stunden Laufzeit einen beinahe epischen Rahmen ein. Dadurch kommt es zu einer wohltuenden Entspannung des Plots; oft hat man das Gefühl, die verschiedenen Protagonisten unabhängig vom Erzählbogen des Films in ganz alltäglichen Situationen zu beobachten. Das führt aber nicht zu Langeweile, sondern zu einer Vertrautheit, die ein moralisches Aburteilen ihrer Entscheidungen unmöglich macht. Zudem gelingt Hansen-Løve so der diffizile Spagat zwischen Szeneporträt und figurengebundener Story: Ihr Protagonist ist zwar eindeutig der DJ und Partyveranstalter Paul, ebenso aber erhalten wir einen Panoramablick in die musikalische Jugendkultur im Paris der neunziger und nuller Jahre, in der sich aus House, Techno und Garage eine eigene Variante elektronischer Musik herausgebildet hat.

Neben der akribischen, detailverliebten Ausstattung der illegalen Partys, der Clubs und WG-Wohnzimmer sowie einer auch für szenefremde Zuschauer anregenden Musikauswahl überzeugt vor allem Hansen-Løves Fingerspitzengefühl bei der Kreation des Tonfalls. Denn sicher wäre es einfach gewesen, den raketenhaften Aufstieg des Subgenres als Triumphzug zu inszenieren – 'Eden' deutet das nur an, anhand der Karriere der Szenegewächse und heutigen Superstars Daft Punk. Der Film aber bleibt bei Paul und seinen Freunden, an denen die sorglose Jugend langsam vorbeizieht, ohne dass sie auch nur minimalen finanziellen Erfolg haben. Der elektrisierenden Aufbruchstimmung haben sie alles geopfert, nun müssen sie zusehen, wie der Popmainstream »ihre« Musik langsam vereinnahmt. Das ist traurig, aber 'Eden' ist kein bitterer Film. Er erzählt zwar von der Unmöglichkeit, Jugend zu konservieren, aber auch von dem Rausch, dieses Unmögliche anzustreben.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 5/2015

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Eden'.

Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern

(D / AT / CH 2015, Regie: Stina Werenfels)

Sexuelles Erwachen mit Behinderungen
von Nicolai Bühnemann

„Was ist ein Mongo?“ will die achtzehnjährige Dora von ihrer Mutter Kristin wissen. Die Befragte antwortet mit einer Gegenfrage, will wissen, wo sie dieses Wort her habe, erklärt ihr, dass …

„Was ist ein Mongo?“ will die achtzehnjährige Dora von ihrer Mutter Kristin wissen. Die Befragte antwortet mit einer Gegenfrage, will wissen, wo sie dieses Wort her habe, erklärt ihr, dass niemand das Recht habe, sie so zu nennen. „Ich will nicht behindert sein!“ schreit Dora wütend, unter Tränen. Eine Schlüsselszene in Stina Werenfels‘ Film „Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“, in dem es vielleicht vor allem anderen um eine äußerst schwierige Mutter-Tochter-Beziehung geht. Darum, dass die Tochter (Victoria Schultz) trotz ihrer geistigen Behinderung ein normales, selbstbestimmtes Leben führen möchte und darum, dass es der Mutter (Jenny Schily) aufgrund der Beeinträchtigung ihrer Tochter nur umso schwerer fällt, diesen Ablösungsprozess zuzulassen.

Dora schockiert ihre Eltern mit ihrer heftig erwachenden Sexualität. Dem Vater versucht sie einen schlabbrigen Zungenkuss zu geben. Vor der Mutter masturbiert sie in der Badewanne. Dann lernt sie Peter (Lars Eidinger) kennen. Während ihr Vater Felix (Urs Jucker) den Entwicklungen eher hilflos und passiv zusieht, versucht Kristin mithilfe der Institutionen gegen die Beziehung Doras vorzugehen, stößt dabei jedoch mehr und mehr auf taube Ohren. Wo eine erste Schwangerschaft der Tochter noch auf Drängen der Mutter abgebrochen wird, entscheidet Dora, als sie erneut schwanger wird, das – wie sich herausstellt gesunde – Kind zu behalten. Damit geht Dora auch ein Wunsch in Erfüllung, der ihrer Mutter trotz moderner Reproduktionsmedizin verwehrt bleibt, denn Kristin wünscht sich noch ein zweites Kind.

Regisseurin und Drehbuchautorin Stina Werenfels geht es merklich darum, dieser Geschichte ein Maximum an Ambivalenzen abzugewinnen. Das beginnt mit dem ersten Sex auf der Bahnhofstoilette, der – obgleich es Dora ist, die Peter hierher folgte – von einer Vergewaltigung erst einmal schwer zu unterscheiden ist. Dass das, was hier geschieht, von einem Bedürfnis der Protagonistin ausgeht, das sie treibt, ohne dass sie die Möglichkeit hätte, es ganz zu verstehen oder zu artikulieren, wird erst im Nachhinein allmählich klar. Und das endet nicht mit der Unklarheit darüber, ob der Mann, auf den Dora sich hier einlässt, nun einfach ein totales Arschloch ist oder doch nicht ganz. Wo er sich in den Gesprächen mit ihren Eltern offen feindselig bis schlicht grausam gibt, bleibt sein Verhältnis zu dem Mädchen ziemlich undurchsichtig. Was genau er von ihr will, ob es ihm nur um den Sex geht oder ihm die Ungleichheit zu seiner Partnerin ein Gefühl von Überlegenheit und Macht gibt, lässt der Film absichtsvoll offen. Immerhin entschließt er sich im entscheidenden Moment dazu, Doras Recht auf sexuelle Selbstbestimmung gegen die Übergriffe eines anderen Mannes zu verteidigen.

Wo die Institutionen, bei denen Kirstin Hilfe sucht, ihr das Bild zeichnen, dass ihre Tochter durchaus in der Lage ist, auf sich selbst aufzupassen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, lässt der Film doch Zweifel daran, ob sich Dora um ein Kind kümmern kann. In einem der schön intensiven Momente, von denen sich in der zweiten Hälfte des Films einige finden, übergießt Dora, von den Eltern per Kamera beobachtet, eine Baby-Puppe, mit der sie das Muttersein üben sollte, mit kochendem Nudelwasser. In ihrer Verzweiflung wünscht sich Kirstin, abgetrieben zu haben.

Die filmischen Mittel, die Werenfels wählt, um ihre Geschichte zu erzählen, sind einfach, aber effektiv. Die Neugier und Lebenslust der jugendlichen Protagonistin verdeutlicht der Film mit einer ausgelassen kreisenden, die Umwelt stürmisch erforschenden und ertastenden Kamera. Mit an den Rändern verschwimmenden Point of View-Shots wird die besondere Perspektive Doras akzentuiert (bei dem ersten Sex mit Peter sieht man in einer dieser Subjektiven einen erigierten Schwanz, der eigentlich ziemlich seltsam, aber doch für die neugierigen Augen der Protagonistin unendlich interessant aussieht).

Das Berlin, in dem der Film spielt, ist sorgsam von Wiedererkennungswerten bereinigt. Wo diese Allerweltstadt das Universale der Geschichte um weibliche Lebensabschnitte (Pubertät, Schwangerschaft, Menopause) unterstreichen soll, da ist es gerade die Betonung des Besonderen, was „Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ von gängigen Themenfilmen unterscheidet. Anstatt nur einen gutgemeinten Film über Sexualität bei Menschen mit Behinderung – ein immer noch weitestgehend tabuisiertes Thema – zu drehen, gelingt es ihr mit Unterstützung des gut aufgelegten Darstellerensembles um Victoria Schulz, ein sehr einfühlsames Werk vorzulegen, das seine Figuren und ihre – vielleicht hier und da etwas zu sehr psychologisch ausgedeuteten – Konflikte bedingungslos ernst nimmt.

Kind 44

(USA / GB / RO 2015, Regie: Daniel Espinosa)

Serienkillerhatz im sowjetischen Morast
von Nicolai Bühnemann

Der Prolog zeigt in wenigen Minuten, wie innig die Biographie des Protagonisten mit der Geschichte eines Staates, eines Systems verzahnt ist: der Sowjetunion. Die Eltern von Leo Demidow verstarben, als …

Der Prolog zeigt in wenigen Minuten, wie innig die Biographie des Protagonisten mit der Geschichte eines Staates, eines Systems verzahnt ist: der Sowjetunion. Die Eltern von Leo Demidow verstarben, als er noch ein Kind war, bei der Holodomor, einer Hungersnot, die in den Jahren 1932 und 1933 in der Ukraine mehrere Millionen Opfer forderte. Ob Stalins Politik absichtlich zu dieser Katastrophe führte, wie es die kurzen Texttafeln zu Beginn des Films behaupten, ist in der Geschichtsschreibung umstritten. Jedenfalls erscheint die Sowjetunion in „Kind 44“ von den ersten Sekunden des Films an als böser Vater, der seine unliebsamen Kinder zwar nicht auffrisst, aber doch im Wald sich selbst und dem Hunger überlässt (später im Film wird dieser Staat dann in die Rolle eines alttestamentarischen Gottes schlüpfen, der das Opfer eines nächsten Angehörigen als Loyalitätsbeweis fordert). „Im Paradies gibt es keinen Mord“, diese Worte, als Motto und Leitmotiv dem Film vorangestellt, klingen von Anfang an wie blanker Hohn.

Demidow (Tom Hardy) jedenfalls wurde vom größt denkbaren Verlierer eines Systems zum triumphierenden Helden desselben. Im Mai 1945 lässt ihn das Drehbuch als Soldat für die berühmten Fotos die Fahne der Roten Armee auf dem Reichstag hissen. Wobei er sich jedoch vorher die vielen Uhren, die er an einem Arm trägt, abnehmen muss, um die strahlenden Helden nicht wie Plünderer aussehen zu lassen. (Gut recherchiert, aber eindeutig parteiisch ist der Film – bzw. wahrscheinlich schon der Bestseller-Roman, der ihm zugrunde liegt – auch hier: Tatsächlich wurden die betreffenden Fotos mehrmals retuschiert, wobei unter anderem eine Uhr am Armgelenk des Soldaten entfernt wurde, bei der es sich jedoch auch um einen Kompass aus Armeebeständen gehandelt haben könnte.)

1953, in der Gegenwart der Handlung, arbeitet Demidow für das Ministerium für Staatssicherheit MGB und jagt sehr erfolgreich – vermeintliche – Gegner des sowjetischen Systems. Als der Sohn eines alten Armeefreundes ermordet wird und er sich in die Lage versetzt sieht, gemäß der Doktrin, dass es im Sozialismus kein Verbrechen gibt, die Tat als Unfall zu behandeln, beginnt das, was eine Desillusionierungsgeschichte sein könnte, würde sich in der stalinistischen Sowjetunion, wie sie der Film zeigt, noch irgendjemand irgendwelche Illusionen machen. Wo der historische Stalinismus ja die totalitäre Pervertierung eigentlich einmal sehr humaner Ideen war, gibt es in „Kind 44“ ein System, dessen Handlanger ausschließlich aus Angst handeln oder weil ihre Arbeit ihren soziopathischen Wesenszügen entgegen kommt, wie im Falle von Demidows Kollegen Wassili (Joel Kinaman).

Während sich die Hinweise häufen, dass der ermordete Junge Opfer eines Serienkillers war, der entlang von Bahnlinien an weit entfernten Orten sein Unwesen treibt, laufen die Dinge für Demidow endgültig aus dem Ruder, als ihn sein Vorgesetzter Generalmajor Kuzmin (ziemlich fies: Vincent Cassel) damit beauftragt, seine Frau Raisa (Noomi Rapace) zu beschatten, die im Verdacht steht, eine Verräterin zu sein. Er und seine Frau geraten bei ihrer Suche nach dem Serientäter bald selbst ins Visier des Geheimdienstes.

Der schwedische Regisseur Daniel Espinosa empfahl sich mit dem in seinem Herkunftsland ungemein erfolgreichen, sehr intensiven und hervorragend gespielten Gangsterepos „Easy Money“ (2010) für Hollywood. Dort legte er 2012 den schönen, trotz atemberaubenden Tempos und Happy End grundmelancholischen Geheimdienst-Actioner „Safe House“ vor, der überdies mit Ryan Reynolds und Denzel Washington über ein tolles Männer-Gespann in den Hauptrollen verfügte.

Dass das Vorgängerwerk Espinosas ein Film war, bei dem die westlichen Geheimdienste im Allgemeinen und die CIA im Besonderen gar nicht gut wegkamen (Waterboarding und Mord inklusive), eröffnet noch einmal eine etwas andere Perspektive auf „Kind 44“. Statt der Abrechnung mit einem überkommenen Schurkenstaat mag man im Vordergrund die universellere Geschichte von gebrochenen Männern sehen, die unter Einsatz aller ihrer Kräfte versuchen, sich in einem durch und durch korrupten System zu behaupten, und dabei, so gut es nur geht, moralische Integrität zu bewahren. Diese Geschichte lässt sich eben, so verdeutlicht das Schaffen des Regisseurs, im kriminellen Milieu Stockholms genauso gut erzählen wie in den westlichen Geheimdiensten der Gegenwart oder den sowjetischen der Vergangenheit.

Wo Espinosa schon in seinen vorangegangen Filmen den Schauplätzen große Bedeutung beimaß, darauf bedacht war, sie in sehr spezifische Beziehungen zu Handlung und Figuren zu setzen, komplexe Relationen zwischen Innen und Außen zu schaffen, übertrifft er – und seine Ausstatter und Szenenbilder – sich hier selbst in dem Versuch, die Sowjetunion als einen Ort tristester Trostlosigkeit wieder auferstehen zu lassen. Schon Moskau, das Zentrum der Macht, in dem der Film beginnt, scheint nur aus klaustrophobischen Interieurs zu bestehen. Nirgendwo erlauben es die Breitbilder dem Blick, in die Ferne zu schweifen. Wualsk, die Industriestadt, in die Leo und Raisa verbannt werden, erscheint dann erst recht als ein vollkommen abgewrackter Ort, ein menschgemachter Sumpf, durch den die Eisenbahnen sich bedrohlich, dunklen Drachen gleich, ihren Weg bahnen. Den schwarzbraunen Morast dieses Ortes kann der Film nur noch toppen, indem er seine Hauptfiguren im Showdown im Schlamm miteinander ringen lässt.

Wenn der Serientäter schließlich überführt wird, offenbaren sich tiefe biographische Verbindungen zu dem Mann, der ihn jagte, so als würde der Protagonist in einem dunklen Spiegel seiner selbst gewahr. In seiner Verteidigung, dass Demidow es sich schließlich ausgesucht habe, Handlanger eines verbrecherischen Systems zu werden, während er nicht anders könne, als zu morden, wird Peter Lorres berühmte Verteidigungsrede vor dem Verbrechertribunal am Ende von Fritz Langs „M“ (1931) evoziert, die in dem ikonischen, manisch vorgetragenen „Will nicht! Muss!“ kulminierte. Was sich an „Kind 44“ dann doch etwas falsch anfühlt, mag der Vergleich zu einem anderen Film offenbaren, der ebenfalls den Umgang mit Serienkillern in totalitären Systemen thematisierte, einem der wenigen Filme, die sich in der Bundesrepublik in den Fünfziger Jahren um eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bemühte, der in „M“ vorweggenommen wurde: Robert Siodmaks „Nachts, wenn der Teufel kam“ von 1957. Wo Siodmaks Film an die Möglichkeit des Menschen glaubte, auch in Extremsituationen Entscheidungen zu treffen, nicht aber an das richtige Leben im falschen, findet der gebrochene Held bei Espinosa am Ende doch – wenn auch mit Einschränkungen, denn die Wahrheit, für die er kämpfte, bleibt dabei ein Stück weit auf der Strecke – ebendieses. Auch geht es, wenn er schließlich eine neue Familie finden darf, reichlich rührselig zu.

Eden

(F 2014, Regie: Mia Hansen-Løve)

Lost in Music
von Wolfgang Nierlin

Der Ort ist kaum identifizierbar. Dunkelheit liegt über der merkwürdig unwirklich erscheinenden Szene. Diese spielt nachts in einem Waldstück, das an einen Fluss grenzt. Junge Menschen bewegen sich wie in …

Der Ort ist kaum identifizierbar. Dunkelheit liegt über der merkwürdig unwirklich erscheinenden Szene. Diese spielt nachts in einem Waldstück, das an einen Fluss grenzt. Junge Menschen bewegen sich wie in Trance zwischen den Bäumen, besteigen einen ausrangierten Kahn, in dessen Bauch, nur gedämpft vernehmbar, offensichtlich eine Party stattfindet. Es ist der November 1992, und die Vorboten der aufkommenden Pariser House-Bewegung suchen sich ihre eigenen, ausgefallenen Locations. Eine verschworene Gemeinschaft jungendlicher Hedonisten erfindet für sich Gegenorte für ein heimliches Leben, das die ausgelassene Feier und den entgrenzenden Rausch sucht. Vereint durch die Leidenschaft für die Ekstasen der Musik und den Traum von einem euphorisierten Leben kreieren die Jugendlichen eine parallele Welt aus elektronischen Beats und gefühlvollen Sounds, aus Euphorie und Melancholie. Garage House, apostrophiert als „Gesang der Maschinen“ (nach den gleichnamigen Comics von Mathias Cousin und David Blot) oder einfach nur als „Disco in modern“, wird geboren.

Mia Hansen-Løves neuer, mittlerweile vierter Film heißt deshalb „Eden“. Ihr atmosphärisch dichtes Generationenportrait, das eine Zeitspanne von etwa zwanzig Jahren umfasst, spürt den Energien eines Lebensgefühls nach, ohne dies ins „Paradiesische“ zu verklären. Vielmehr versteht sie ihren Film als „eine Hommage“ an eine Zeit „voller strahlender und glücklicher Augenblicke“, die zugleich voller Schatten ist und schließlich in einer gewissen Ernüchterung respektive Entzauberung mündet. Doch Hansen-Løve destilliert daraus keine moralische Belehrung. Stattdessen zählen für sie die Umwege des gelebten und deshalb stark machenden Lebens, auf denen sie in einer Chronologie der Ereignisse ihren Helden Paul (Félix de Givry), einen aufstrebenden DJ, „durch Licht und Schatten“ begleitet. Diese sanfte und introvertierte Figur, die sich mit Haut und Haaren dem stilbildenden Garage-Sound verschreibt, hat die Regisseurin ihrem Bruder Sven Hansen-Løve, einem DJ des sogenannten „French Touch“, nachempfunden.

Mit einer offenen Dramaturgie, einem geradezu dokumentarischen Realismus und sehr viel tanzbarer Musik folgt der Film einem Leben ohne Haltepunkte, dessen praktische Aspekte sich in einem Nebel aus Drogen, rauschhaften Partys und konstanter Musikverrücktheit auflösen. Zwar ist Paul zunächst noch als – so lässt sich vermuten – Literaturstudent immatrikuliert, doch davon ist nichts zu sehen. Mia-Hansen Løve konzentriert sich vielmehr auf die praktische Arbeit des DJs, beschwört Stimmungen und folgt ihrem Protagonisten durch diverse, wechselnde Liebesbeziehungen (seine Freundinnen werden u. a. von Greta Gerwig und Pauline Etienne gespielt) samt ihren Krisen. Dabei driftet Paul, der zusammen mit seinem Kumpel Stan (Hugo Conzelmann) das DJ-Duo Cheers bildet, immer mehr ab, entwickelt ein „Drogenproblem“ und häuft Schulden an. Fast unmerklich verliert sich die Szene, zerbrechen Freundschaften; als würde Paul, der über die Jahre eine Mansarde bewohnt, aus der Zeit fallen, läuft sein Erfolg nach und nach aus. Unspektakulär und mit feinen Zwischentönen bilanziert der Film die menschliche Seite dieses schillernden Werdegangs, an dessen vorläufigem Ende Robert Creeleys Gedicht „The Rhythm“ über den Rhythmus des Lebens steht.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Eden'.

Leviathan

(RU 2014, Regie: Andrey Zvyagintsev)

Das hässliche Gesicht der Macht
von Wolfgang Nierlin

Schon die ersten, intensiven Bilder einer rauen, ungestümen Natur an den Ufern der Barentssee im äußersten Nordwesten Russlands verheißen nichts Gutes. Verstärkt durch Musik aus Philip Glass‘ Oper „Akhnaten“ branden …

Schon die ersten, intensiven Bilder einer rauen, ungestümen Natur an den Ufern der Barentssee im äußersten Nordwesten Russlands verheißen nichts Gutes. Verstärkt durch Musik aus Philip Glass‘ Oper „Akhnaten“ branden Wellen an massige Felsen, umspülen die Gerippe alter, verrosteter Schiffswracks sowie ein riesiges, als Metapher inszeniertes Walfischskelett. Das tosende Meer speit aus, was es zuvor verschluckt hat; und unter einem schweren, dunkelblau getönten Himmel verliert sich die Landschaft im Unendlichen. Doch das Abgerückte, Ferne ist zugleich gegenwärtig und nah.

Das zeigt sich andererseits in der zerrütteten Familie des cholerischen Automechanikers Kolia (Alexej Serebrjakow), der seinen Frust bevorzugt mit exzessivem Alkoholkonsum niederringt. Mit seinem pubertierenden, aufmüpfigen Sohn Roma (Sergej Pochodajew) aus erster Ehe ist er überfordert; dieser wiederum lehnt seine Stiefmutter Lilia (Jelena Ljadowa) ab, die unglücklich und teilnahmslos wirkt und in einer Fischfabrik arbeitet. Verschärft wird diese familiäre Situation durch ein Enteignungsverfahren, dem sich Kolia beharrlich widersetzt. Denn sein schön gelegenes Anwesen soll einem lokalen Bauprojekt weichen.

In Andrei Swaginzews neuem, hochgelobtem Film „Leviathan“ übernimmt der Moskauer Anwalt Dmitri (Wladimir Wdowitchenkow), Kolias Freund aus seiner Zeit bei der Armee, die Verteidigung. Der formelhaften, kalten Rechtsprechung, die als verlängerter Arm einer korrupten Bürokratie und als politisches Instrument des vulgären Bürgermeisters Vadim (Roman Madjanow) fungiert, will Dmitri Fakten entgegensetzen. Doch seine erpresserischen Methoden sind kaum besser als das perfide Machtgebaren seiner Kontrahenten, die ihre Ansprüche mit offenen Drohungen formulieren und dabei weder vor Beleidigungen noch vor brutaler Gewalt zurückschrecken.

Andrej Swaginzew zeigt auf beeindruckende Weise dieses hässliche „Gesicht der Macht“ in seiner ganzen moralischen Verkommenheit. Ebenso distanziert und sachlich wie ironisch entlarvt er polizeiliche Willkür, eine instrumentalisierte Rechtsprechung, hierarchische Machtstrukturen (und die Abhängigkeiten, die sie erzeugen) sowie die unheilige Allianz aus Kirche und Politik, die glaubt, an der „gleichen Front“ zu kämpfen und auf der Seite der „Wahrheit“ zu stehen. Unter Verwendung von Ellipsen aus verschiedenen Perspektiven erzählt, zeigt der vielschichtige Film aber auch, dass Betrug und Egoismus schon innerhalb der sozialen Beziehungen sowie in den persönlichen Verhältnissen nisten. Der verbreitete, ziemlich drastisch dargestellte Alkoholismus ist dabei nur augenfälligster Ausdruck gestörter Beziehungen und gesellschaftlicher Zerfallsprozesse. Wenn Kolia, der sich als Figur eines modernen Hiob verstehen lässt, am Ende von einem unbezwingbaren (staatlichen) Ungeheuer alles (nämlich Frau, Kind, Haus und persönliche Freiheit) genommen wird, erscheint die alte, schlechte Ordnung zementiert und gefestigt. Genauso schwer wiegt allerdings die trostlose Ausweglosigkeit, die sich darin ausbreitet.

Die Rückkehr – The Return

(RU 2003, Regie: Andrej Swjaginzew)

Die Kraft der Versöhnung
von Wolfgang Nierlin

Gleich bei seiner Uraufführung beim Filmfestival von Venedig, wo Andrej Swjaginzews Spielfilmdebüt „The Return – Die Rückkehr“ 2003 den Goldenen Löwen gewann, wurde der nachhaltig beeindruckende Film mit den Werken …

Gleich bei seiner Uraufführung beim Filmfestival von Venedig, wo Andrej Swjaginzews Spielfilmdebüt „The Return – Die Rückkehr“ 2003 den Goldenen Löwen gewann, wurde der nachhaltig beeindruckende Film mit den Werken des russischen Filmkünstlers Andrej Tarkowskij verglichen. Wie bei seinem Vorbild und Landsmann spürt man auch bei Swjaginzew eine starke innere Haltung und einen unbedingten künstlerischen Ausdruck. Sein Film ist sorgfältig und genau gearbeitet, durch eine klare Gliederung auf das Wesentlichste konzentriert und dabei atmosphärisch dicht erzählt. Zugleich beinhaltet die realistische Fabel eine Reihe religiöser Motive, die zusammen mit dem parabolischen Geschehen verschiedene Lesarten des Films eröffnet. „Die Rückkehr“ ist aber auch ein modernes Roadmovie, das perspektivisch den Raum erschließt und erweitert und dabei eindringlich eine Geschichte vom Erwachsenwerden schildert.

„Der Film versucht zum größten Teil, einen mythologischen Blick auf das menschliche Leben zu werfen“, sagt Andrej Swjaginzew. Sieben Tage, von Sonntag bis Samstag, umfasst der Zeitrahmen der Erzählung, die mit einer Mutprobe und dem Erlebnis der Urangst beginnt und mit einem Tod endet, der den Kulminationspunkt eines Verwandlungsprozesses bildet. Zwei Brüder in der ersten Wirren der Pubertät, die im Prolog des Films entzweit werden, finden in der Auseinandersetzung und Versöhnung mit ihrem übermächtigen Vater wieder zusammen.

Dieser taucht nach jahrelanger Abwesenheit plötzlich und wie aus dem Nichts auf. „Jetzt ist er da“, heißt es über seine schiere Präsenz, die im folgenden zunehmend einer machtvollen Allgegenwart ähnelt und deren Geschichtslosigkeit sich einer Identifizierung entzieht. Allerdings wird diese Tabula rasa neben diversen Spekulationen der Kinder mit biblischen Motiven beschrieben: So zeigt ihn die erste Einstellung in Anlehnung an Andrea Mantegnas berühmtes Bild in der Haltung des toten Christus, bevor er als Familienoberhaupt und Herr des Hauses Brot und Wein austeilt. Später entdecken die beiden Brüder auf dem Dachboden in einem Buch mit Bibelillustrationen ein altes Familienfoto aus glücklicheren Tagen. Die aufgeschlagene Seite zeigt Abrahams Opferung des Isaak.

Unbedingten Gehorsam, Achtung und Respekt fordert der Vater (Konstantin Lawronjenko) auch von seinen Söhnen, die er am nächsten Tag auf eine Reise zu einer entlegenen, menschenleeren Insel mitnimmt. Mit geradezu alttestamentarischer Strenge und unnachgiebiger Autorität versucht der rätselhafte Patriarch seine Kinder zu erziehen und lebenstüchtig zu machen. Immer wieder sind die beiden gezwungen, Mut, Stärke und Selbstdisziplin zu zeigen. Während der ältere Junge Andrej (Wladimir Garin) mit stiller Bewunderung den Befehlen des Vaters folgt, lehnt sich der jüngere, traumatisierte Iwan (Iwan Dobronrawow) offen gegen ihn auf. Seine Frage nach den Motiven des Vaters bleibt unbeantwortet. Gleichwohl ist die Vater-Figur ambivalent angelegt: Hinter dem undurchdringlichen Gefühlspanzer strahlt für Augenblicke eine sorgende Liebe auf, die beschützt und teilt, Selbstvertrauen vermittelt und im Opfer versöhnt. Insofern greift Iwans Behauptung, der Vater brauche seine Kinder nicht, zu kurz. Gerade in der wechselseitigen Abhängigkeit von Lehrer und Schüler liegt für Swjaginzew die sakrale Bedeutung des Verhältnisses zwischen Vater und Sohn.

Hedi Schneider steckt fest

(D 2015, Regie: Sonja Heiss)

Angst hat kein Gesicht
von Manfred Riepe

Beim Thema Angst denkt der Kinogeher wohl zuerst an „Augen der Angst“, den verstörenden Thriller mit Karlheinz Böhm. Sonja Heiss geht es aber nicht um die Furcht vor einem irren …

Beim Thema Angst denkt der Kinogeher wohl zuerst an „Augen der Angst“, den verstörenden Thriller mit Karlheinz Böhm. Sonja Heiss geht es aber nicht um die Furcht vor einem irren Killer, sondern um ein ganz bodenständiges Problem: Manchmal wird ein Familienmitglied von einer unerklärlichen Angststörung heimgesucht. Doch wie gehen die anderen damit um? Mit dieser beklemmenden Problematik setzt die Regisseurin sich auseinander. In ihrem Film ist eine Frau die Hauptfigur. Es geht um Hedi Schneider, die, wie der Titel sagt, „fest“ steckt. Warum das so ist, bleibt (zunächst) auf eine beunruhigende Art unverständlich.

Dabei sieht alles zunächst ziemlich rosig aus. Hedi, gespielt von Laura Tonke, radelt unbeschwert durch Frankfurt. Wir sehen keine stylischen Bilder der Skyline, die Mainmetropole wird eher zurückhaltend fotografiert. Dafür springen die quietschbunten Klamotten der lebensfrohen 40-Jährigen ins Auge, die wie eine Seelenverwandte der liebenswürdigen Sally-Hawkins-Figur aus Mike Leighs Komödie „Happy-Go-Lucky“ erscheint. Ihr eintöniger Job im Reisebüro ist zwar nicht das Gelbe vom Ei. Ihr zwanghaft-nerdiger Mitarbeiter, der ihr eine Art Szene macht, weil sie dessen Kaffeetasse versehentlich benutzt, gibt eine Vorahnung dessen, was Hedi erwartet. Privat scheint bei ihr aber alles im Lot zu sein. Mit ihrem verständnisvollen Partner Uli, von Hans Löw als Bilderbuch-Papa gespielt, und ihrem kleinen Sohn Finn (Leander Nitsche) lebt sie offenbar vergnügt in den Tag hinein.

Plötzlich ist Schluss mit lustig. Hedi wird von einer Panikattacke heimgesucht. Sie glaubt einen Schlaganfall zu erleiden. Der alarmierte Notarzt kann zwar kein medizinisches Problem feststellen, doch der unerklärliche Alpdruck bleibt. Ist Hedi etwa, wie es im „Asterix“-Comic heißt, der Himmel auf den Kopf gefallen?

Ein bemerkenswertes filmischen Sujet, denn Angst hat kein Gesicht. Im Gegensatz zur Furcht vor einer lokalisierbaren Gefahr ist sie objektlos, lässt sie sich nicht wirklich bebildern. Regisseurin Sonja Heiss weiß das aus eigener Erfahrung und versucht gar nicht erst, die Panikattacken mit formalen Tricks wie schrägen oder verwackelten Bildern zu visualisieren. Der Autorenfilmerin, die sich nach ihrem Debüt „Hotel Very Welcome“ von 2007 zurückmeldet, geht es um die Lebenssituation ihrer Heldin. Die „steckt fest“ – so kündigt es bereits der Titel an. Doch wo klemmt es denn in ihrem scheinbar so stressfreien Dasein? Der Fahrstuhl, in dem sie zu Beginn eingeschlossen wird, kann es nicht sein. In dieser klassischerweise furchterregenden Situation zeigt Hedi keine Spur von Panik. Ganz locker schäkert sie via Gegensprechanlage mit dem Reparaturtechniker: „Bitte einen Cheeseburger“.

Die komödiantische Situation im Aufzug erscheint aber wie eine Metapher für Hedis Leben, das sich auf den zweiten Blick schon etwas anders darstellt. Zu Beginn, als die Welt noch in Ordnung schien, tun Hedi, Uli und ihr Sohn so, als würde sie ein erlegtes Stofftier verspeisen. Am Ende verkleiden die drei sich im Norwegen-Urlaub mit lehmverschmierten Gesichtern und Baströcken als Eingeborene, die mit der Natur eins sein wollen. Offenbar denken progressive Eltern sich pädagogisch einfühlsam in die Wahrnehmung ihres Kindes hinein. Nun ja, manchmal wirkt das spielerisch leicht, und man möchte mitmachen. Dem Spiel kommt dabei allerdings eine immer seltsamer werdende Doppelbedeutung zu. Hedi und Uli spielen permanent – vor allem sich selbst, sogar beim Sex. Nicht zufällig beginnen dabei Hedis Panikattacken. Das Spiel erscheint nicht immer spielerisch – hier scheint Hedi irgendwo fest zu stecken.

In einer interessanten Szene gibt Hedis Mutter (Margarita Broich) zu verstehen, dass sie mit dem diffusen Thema Angst nichts anfangen kann und will. Wenn sie, die Mutter, es erwischt, dann nimmt sie eine kalte Dusche. Oder sie isst etwas. Als Hedi das mitgebrachte Essen nicht anrührt, mampft Mama es selbst. Im Stehen. In Szenen wie dieser ist der komödiantische Blick überzeugend.

Mamas buchstäbliche Küchenpsychologie hilft Hedi aber nicht weiter. Es folgen ergebnislose Besuche beim Neurologen, dem Therapeuten und in einer Zoohandlung. Wir erleben das aus Hedis Perspektive wie absurdes Theater. Wenn sie ihre Tranquilizer wie bunte Smarties einwirft, dann startet sie aus der Angstdepression zur Party durch. Absturz inklusive. Filmisch wirkt dieser Trink- und Tablettenexzess zuweilen etwas aktionistisch. Zumal Laura Tonke sich dabei weniger wie eine Frau mit Angststörung, sondern wie ein trotziges Kind aufführt.

Für ihren Mann Uli ist dieser emotionale Pflegefall bald zu viel. Er geht fremd, worauf der Film seine Heldin auffällig lange alleine lässt, um sein Intermezzo mit einer aparten Gehörlosen (Melanie Straub) zu schildern: Interessanterweise ist dies der einzige Moment des Films, in dem die Figuren sich nichts vormachen. Bei seiner Rückkehr scheint Hedi sich gefangen zu haben, bietet aber ein seltsames Bild. Aus dem Kassettenrekorder plärrt das Bratkartoffellied vom Berliner Grips Theater. Mit sichtlich gequältem Blick fordert Hedi ihren zurückgekehrten Mann auf, wie üblich in ein Rollenspiel mit ihrem Kind mit einzusteigen. Routine hilft ihr offenbar aus dem quälenden Würgegriff der Angst heraus. Man möge doch wieder so tun, als wäre man Vater, Mutter und Sohn.

Das diffuse Neben-sich-Stehen bekommt der Film aber nicht wirklich in den Griff. Dazu wird die Hauptfigur, eine schwermütige Pippi Langstrumpf, zu sehr gefeiert. Laura Tonke hat starke Momente, wenn sie sich mit Hans Löw über vermeintliche Kleinigkeiten in die Haare bekommt. Doch ihr Outfit mit den riesigen bunten Kirschen auf dem Pullover drückt eine demonstrative Infantilisierung aus, eine „erlernte Hilflosigkeit“, die im Film weniger reflektiert als zelebriert wird. So hinterlässt das komische Drama trotz berührender Momente einen ambivalenten Eindruck. Laura Tonke spielt die schillernde Hauptfigur zuweilen etwas manieriert, als käme sie von diesem Trip, eine Kindfrau sein zu wollen, nie runter. Sie hat zwar einen kleinen Sohn, doch man hat nicht wirklich das Gefühl, dass sie seine Mutter ist. Nicht nur Hedi Schneider, sondern auch der Film steckt zuweilen fest. Obwohl die Außenaufnahmen Frankfurt zeigen, erinnern die Innenaufnahmen an einen dieser typischen Berlinfilme, in dem die Charaktere immer im eigenen Saft schmoren. Man glaubt zu verstehen, wo Hedi steckengeblieben ist. Sie ist nicht wirklich angekommen in diesem Leben, in dem die Party zu Ende ist und jemand den Müll vor die Tür bringen muss. Sehenswert ist der ambitionierte Versuch über Angst aber dennoch.

Love Hotel

(GB / F / J 2014, Regie: Philip Cox, Hikaru Toda)

Ein locus amoenus im Neonlicht
von Carsten Moll

„Sie sehen so glücklich aus“, bemerkt Herr Sakamoto nachdenklich. Zusammen mit seiner Frau hat er sich in eines der über 37.000 Love Hotels in Japan eingebucht, jetzt sitzt das Ehepaar …

„Sie sehen so glücklich aus“, bemerkt Herr Sakamoto nachdenklich. Zusammen mit seiner Frau hat er sich in eines der über 37.000 Love Hotels in Japan eingebucht, jetzt sitzt das Ehepaar in Unterwäsche auf einem großen Doppelbett und schaut sich einen alten Porno an, den ein ratternder Projektor an die Zimmerwand wirft. Die Sakamotos – er arbeitslos, sie Krankenschwester – sind Stammkunden im „Angelo Love Hotel“ in Osaka und gehören damit zu den mehr als zwei Millionen Japaner_innen, die Schätzungen nach täglich ein Stundenhotel besuchen.

In einem Land, in dem öffentliche Zuneigung verpönt ist und beengte Wohnverhältnisse Intimitäten zusätzlich erschweren, gehören solche Etablissements vielerorts wie selbstverständlich zum Stadtbild und gelten nicht unbedingt als anrüchig. Erwachsene aus allen Schichten und allen Altersgruppen kommen hierher, um dem Alltag für einige Stunden zu entfliehen und ihre sexuellen Bedürfnisse ungestört zu befriedigen.

Der britische Filmemacher Phil Cox und sein Ko-Regisseur Hikaru Toda gewähren mit ihrem Dokumentarfilm nun seltene Einblicke in ein Love Hotel und stellen neben einer Reihe von Gästen ebenso die Mitarbeiter_innen des kleinen Betriebs vor. Trotz einer erstaunlichen, auch körperlichen Nähe zu den Protagonist_innen sowie einiger expliziter Szenen ist der Blick dabei nie ein voyeuristischer. Fernab von triebhafter Geilheit sind die Filmemacher einem anderen Glück auf der Spur: Begleitet von einem schwärmerischen Soundtrack aus Pop-Chansons und der croonenden Stimme Dean Martins zeigt „Love Hotel“ vor allem Momente der Zärtlichkeit, Fürsorge und Nachdenklichkeit in einer von Anpassungszwang und Erfolgsdruck geprägten Welt.

Die Domina Rika erkundigt sich da etwa nach dem Fesselspiel besorgt bei ihrem Klienten, ob der denn auch gut nach Hause komme, und gibt dem unsicheren Geschäftsmann ein paar aufmunternde Lebensweisheiten à la „Niemand ist normal“ mit auf den Weg. Und der Rentner Herr Yamada, dessen Frau nicht mehr mit ihm schlafen möchte und der schon gar nicht mehr weiß, ob er überhaupt noch eine Erektion bekommen kann, sinniert beim einsamen Anschauen einer Porno-DVD über seine Vergangenheit; besonders, dass er die Frauen nicht gut behandelt hat, bereut der 71-jährige heute.

Dass hinter den Kulissen der als Boxring, U-Bahn-Abteil, Dschungel oder Pharaonengrab gestalteten Mottozimmer des Love Hotels alles mit rechten Dingen zugeht, dafür sorgt der Geschäftsführer Ozawa mit seinem Team. Zwischen Rohrpostsystem, Telefonanlage und Videomonitoren bemüht sich das Personal nach allen Kräften, um den Gästen einen möglichst komfortablen und sicheren Aufenthalt im erotischen Refugium zu ermöglichen.

Doch nicht nur die Wünsche der Kund_innen bringen die Angestellten des „Angelo Love Hotel“ in Bedrängnis, aus dem Radio dringen immer wieder beunruhigende Nachrichten an Ozawas Ohr: In einigen Nachbarschaften ist es zu Protesten von Anwohner_innen gegen Love Hotels gekommen und auch die Regierung unter Shinzo Abe setzt den Etablissements mit einer restriktiven Gesetzgebung zu, um von der rezessionsgezeichneten Wirtschaftslage Japans abzulenken.

Die ökonomische scheint sich so mit einer erotischen Krise zu verschränken, vor dem Hintergrund einer konservativer werdenden Gesellschaft werden die Love Hotels zu Orten eines (Auf-)Begehrens gegen erdrückende Normen und einen rigorosen Konformismus. Die junge Frau, die sich nicht in die für sie vorgesehene Rolle als Hausfrau und Mutter zwängen lassen will, findet im „Angelo Love Hotel“ ebenso einen Freiraum und Unterschlupf wie die beiden schwulen Rechtsanwälte, denen ein Doppelzimmer in anderen Hotels verwehrt wird.

Bisweilen mit sentimentaler Verklärung schauen Cox und Toda mit ihrem Dokumentarfilm auf ein bedrohtes, aber längst nicht verschwundenes Milieu. Was für ein Verlust das Ende der Love Hotels bedeuten würde und welch ein locus amoenus sich hier zwischen Bezahlautomaten und Roboterstimmen verbirgt, zeigen die Geschichten der Protagonist_innen dafür umso deutlicher.
Darunter ist auch die von Masa und Rumi, zwei alten Menschen, die sich im „Angelo Love Hotel“ treffen und im nervös flackernden Neonlicht des Diskozimmers einen kleinen Walzer zu tanzen. Sie sehen glücklich aus.

Die Maisinsel

(GE/D/F/CZ/UNG/KAZ 2014, Regie: George Ovashvili)

Im Strom der Zeit
von Wolfgang Nierlin

Der Enguri trägt auf seinem Weg vom Kaukasus ins Schwarze Meer Geröll und Steine mit sich. Dieses angeschwemmte Land bildet immer wieder Inseln, deren fruchtbarer Boden sich für den Maisanbau …

Der Enguri trägt auf seinem Weg vom Kaukasus ins Schwarze Meer Geröll und Steine mit sich. Dieses angeschwemmte Land bildet immer wieder Inseln, deren fruchtbarer Boden sich für den Maisanbau eignet. Es sind fragile, ephemere Gebilde im Strom der Zeit, deren Existenz von den Launen der Natur abhängt. Das bedrohte, vergängliche Inseldasein besitzt in George Ovashvilis preisgekröntem Spielfilm „Die Maisinsel“ neben dieser existentiellen Dimension zwischen Werden und Vergehen aber noch eine politische: Da der Fluss zugleich eine natürliche Grenze zwischen Georgien und Abchasien bildet, an der es immer wieder zu Scharmützeln kommt, liegen die Inseln mitunter in einem gefährlichen Niemandsland, gewissermaßen außerhalb von Raum und Zeit.

Auf einer solchen Insel mitten im Strom hat Ovashvili seine sehenswerte filmische Parabel, die auf Dialoge und Schauplatzwechsel weitgehend verzichtet, angesiedelt. So besitzt das dargestellte Geschehen von Anfang an einen symbolischen Charakter und steht exemplarisch für das menschliche Dasein. Dabei unterstreichen die ästhetisierende Fotografie des erfahrenen Bildgestalters Elemér Ragályi, die Inszenierung elementarer Vorgänge sowie die Kreisstruktur des Films auf eindrucksvolle Weise diese Überhöhung.

Ein alter Abchase (Ilyas Salman), der im Frühjahr in seinem Kahn das Eiland erreicht, prüft und gleich für sich beansprucht, beginnt bald darauf, dieses zu bebauen und fruchtbar zu machen. In mühevoller Handarbeit errichtet er eine wohnliche Holzhütte mit Binsendach, kultiviert die Erde und sät Mais aus, was der Film minutiös und ohne Worte zeigt. Dabei wird er von seiner minderjährigen Enkeltochter (Mariam Buturishvili) unterstützt, einer grazilen, zarten, sehr mädchenhaften Erscheinung, deren sommersprossige Schönheit und kontrolliert abgezirkelten Bewegungen, aus denen auch die Unsicherheit ihres Alters spricht, nicht so recht in die raue Szenerie zu passen scheinen oder diese zumindest kontrastieren.

Tatsächlich geht es George Ovashvili auch mit dieser Figur primär um einen symbolischen Gehalt, indem er etwas gezwungen und mit einem leicht geschmäcklerisch-voyeuristischen Blick das sexuelle Erwachen des Mädchens mit dem Reifen des Maises parallelisiert. Im Verlauf dieses Prozesses wird die Insel zum Refugium und bald auch zum Versteck für einen verwundeten georgischen Soldaten, dessen begehrliche Blicke auf die unschuldige Neugier des Mädchens treffen. So geraten Liebeshoffnungen und Landwirtschaft zwischen die Fronten. Doch geht es dieser mitunter etwas zu forcierten und manchmal auch zu schönen Beispielerzählung nicht um Realismus, sondern um einen humanistischen, überzeitlichen Kern, der im schrecklichen Ende bereits als Samen für einen Neuanfang keimt.

La Buena Vida – Das gute Leben

(D / CH 2015, Regie: Jens Schanze)

Neokolonialistische Krake
von Wolfgang Nierlin

Der Förderturm einer alten Zeche wird gesprengt und fällt in sich zusammen, Hände werden geschüttelt, ein Männerchor singt zur Fördereinstellung. Im Jahre 2018 soll in Deutschland die letzte Kohlemine schließen. …

Der Förderturm einer alten Zeche wird gesprengt und fällt in sich zusammen, Hände werden geschüttelt, ein Männerchor singt zur Fördereinstellung. Im Jahre 2018 soll in Deutschland die letzte Kohlemine schließen. Gleichzeitig werden jedoch neue, hochmoderne Kohlekraftwerke in Betrieb genommen, denn Deutschland bezieht seinen Bedarf an Steinkohle mittlerweile maßgeblich aus dem Ausland, um die Stromerzeugung zu sichern. Über zehn Millionen Tonnen werden jährlich aus dem Norden Kolumbiens importiert, wo sich die Mine „El Cerrejón“, die zu den weltweit größten zählt, im Tagebau wie eine riesige Krake in die Landschaft frisst. 700 km² misst das Loch, das den gewaltigen Raubbau an der Natur als neokolonialistische Ausbeutung durch die reichen Industrienationen versinnbildlicht. Neben der zerstörten Natur- und Tierwelt ist es aber vor allem die einheimische Bevölkerung, die unter der Kohleförderung leidet, weil ihr durch erzwungene Umsiedlungen die Lebensgrundlage entzogen wird.

Zu ihr gehören auch die indigenen, noch traditionell lebenden Wayúu-Familien des Dorfes Tamaquito, deren schier aussichtslosen Kampf Jens Schanze in seinem sehenswerten Film „La buena vida“ („Das gute Leben') dokumentiert. „Wir kämpfen gegen ein Monster. Es heißt Cerrejón“, sagt einer der Aktivisten aus dem Dorf, während linientreue Konzernvertreter schönrednerisch von einer „Verbesserung der Lebensbedingungen“, vom „Projekt eures Lebens“ und von der „Verwirklichung von Träumen“ schwafeln, aber kaum mehr als leere Versprechungen machen. Dabei sind die Wayúu Selbstversorger, die sich von der Jagd und vom Ackerbau ernähren und alles haben, was sie für ihre unabhängige Lebensweise brauchen. Dagegen bietet der neue Ort mit seinen gemauerten Steinhäusern auf ödem Grund und den vermeintlichen Segnungen der Zivilisation, mit denen die Wayúu nichts anfangen können, hauptsächlich Tristesse und Entfremdung.

Jens Schanzes in einem guten Sinne parteiischer Film, der auf Interviews und Kommentare verzichtet, um stattdessen die Protagonisten in den jeweiligen Situationen sprechen zu lassen, lebt von diesen Kontrasten. Sein dialektisches Prinzip, das der inhärenten Dramatik des Umsiedlungsprozesses folgt, macht auf diese Weise die schwerwiegende Entwurzelung der Indigenás erfahrbar. Diese konfrontiert den Zuschauer letztlich mit einer ebenso grundlegenden wie folgenschweren Differenz kulturellen Verstehens; und sie stellt dabei vor allem uns, die wir „im Hellen und Warmen sitzen“, unbequeme Fragen, die unmissverständlich an unser Verantwortungsgefühl appellieren.

Heli

(MEX 2013, Regie: Amat Escalante)

Gott im Land der Verdammten
von Ricardo Brunn

Eine Volkszählung zu Beginn des Filmes gibt nüchtern Auskunft über die Welt des Protagonisten. Heli lebt mit seinem Vater, seiner Schwester Estela, seiner Freundin und seinem kleinen Sohn in einer …

Eine Volkszählung zu Beginn des Filmes gibt nüchtern Auskunft über die Welt des Protagonisten. Heli lebt mit seinem Vater, seiner Schwester Estela, seiner Freundin und seinem kleinen Sohn in einer Zwei-Zimmer-Hütte mit Wellblechtür auf dem mexikanischen Land. Arbeit haben die beiden Männer des Hauses im nahe gelegenen Automobilwerk. Kühlschrank ist vorhanden, Waschmaschine nicht. Mehr gibt es für das Protokoll und über das Leben kaum zu sagen.

Die Nüchternheit dieser Bestandsaufnahme zieht sich durch den Film und seine Erzählung wie ein roter Faden. Mit bestechender Erzählökonomie entwirft Amat Escalante in seinem dritten Langspielfilm dabei ein Bild des mexikanischen Landlebens, das gezeichnet ist vom Erodieren des Machtgefüges und der Umkehrung aller Werte durch die Herrschaft der Drogenkartelle. Es ist eine Welt, in der richtiges Handeln mit der Logik einer mathematischen Gleichung Bestrafung nach sich zieht.

Als Estelas Freund Beto eines Tages Drogen im Wassertank auf dem Dach von Helis Haus versteckt und diese die Leitung zur Dusche verstopfen, handelt Heli instinktiv richtig und vernichtet das gesamte Paket. Doch schon wenig später werden Beto, Heli und Estela von der Spezialeinheit, für die sich Beto zum Drogenpolizisten ausbilden lässt und die gleichzeitig für ein Drogenkartell arbeitet, gefangen genommen. Ganz egal, für welche Seite man arbeitet: wer Drogen vernichtet, vernichtet Geld. Deshalb ist es für die beiden Jungen an der Zeit „Gott im Land der Verdammten“ kennenzulernen.

Dass es in diesem Land Gott, und damit eine gesellschaftliche Ordnung, allenfalls noch als aus Zeitungen und Katalogen ausgerissene und ausgeblichene Chiffre gibt, die Wände und Türen ziert, macht Escalante mit der anschließenden Folterszene mehr als deutlich. Die „Gäste“ werden ins Heim getragen. Die Kinder räumen die Playstation, auf der kurz zuvor noch ein blutiges Action-Spiel gezockt wurde, beiseite und an der Decke wird ein Fleischerhaken befestigt. Auf dem Sofa finden alle Platz, im Hintergrund geht die Mutter in der Küche ihrer Arbeit nach als würde sie von all dem nichts mitbekommen und das Video des Martyriums soll anschließend auf Youtube gestellt werden.

Die Natürlichkeit in der Verwandlung des Wohnzimmers in eine Folterkammer ist es, die die Gewalt hier unerträglich macht und mit einem Mal verdeutlicht, dass die Eroberung des sozialen Raumes durch die Gewalt und die Auflösung des sozialen Gefüges untrennbar miteinander verbunden sind. Die erwachsene Mutter wird infantilisiert, indem ihr nur ein Nebenraum zugewiesen und jede erzieherische Rolle abgesprochen wird. Folterer und Opfer sind hingegen Minderjährige, die die Rollen von Erwachsenen einnehmen. Die so entstehende Verkehrung von Erwachsenen und Minderjährigen mündet in eine Unterschiedslosigkeit, die ein steigendes Gefühl der Verantwortungslosigkeit bewirkt. Die Sorge für einander, deren Basis eine klare Unterscheidung zwischen Eltern und Kindern ist und damit Erziehung und Identifikation mit gesellschaftlichen Werten und Moralvorstellungen erst ermöglicht, wird in „Heli“ kühl suspendiert.

Auf eine extrem kurze Kindheit folgt die erbarmungslose Welt der Erwachsenen: Protagonist Heli ist in seiner Rolle als viel zu junger Vater mit seinem Sohn offensichtlich überfordert. Seine zwölfjährige Schwester redet mit ihrem Freund Beto – der sich zwar bei der Polizei in Ausbildung befindet, jedoch selbst noch fast ein Kind ist – bereits übers Heiraten. Und gerade in der Unbeholfenheit ihrer Küsse zeigt sich der ganze Widerspruch, der die Bilderwelt von „Heli“ beherrscht.

Das frühzeitige Erwachsenwerden der Minderjährigen ist ein Resultat der strukturellen Unmündigkeit der Eltern. Die in den Nebenraum verbannte Mutter in der Folterszene bringt dies ebenso zum Ausdruck, wie Helis Vater, dessen Aufmerksamkeit nach der Arbeit vor dem Fernseher vollständig absorbiert wird, und der somit als Familienoberhaupt ausgedient hat. Aus dieser sozialen Unfähigkeit, Mündigkeit zu entwickeln, entsteht eine mangelnde Bindung an die Dinge der Welt, eine Bewusstlosigkeit gegenüber dem Leben, in der selbst das Wünschen zu groben Trieben (Helis unbeholfene Versuche mit seiner Freundin zu schlafen) verkümmert.

So ist dann auch den Bildern, ähnlich den Blicken der Kinder, die das Folter-Video aufnehmen, ein Tausend-Yard-Starren angesichts eines Lebens im permanenten Ausnahmezustand tief eingebrannt. „Heli“ ist demnach mehr als nur ein Film über die zerstörerische Kraft der Drogenkartelle, denn diese lassen sich problemlos durch zentrale Institutionen unserer Konsumgesellschaft ersetzen.

Hin und wieder überspannt der Regisseur den visuellen Bogen zwar und lässt einige Szenen ins Groteske und Surreale abgleiten, was einen Pakt mit dem allzu Gewollten offenbart. Doch es ist – und darin liegt die Stärke des Filmes – vollkommen gleich, was geschieht, Figuren und Kamera nehmen jede Entwicklung und jede noch so absurde Übertreibung mit stoischer Indifferenz hin. So bleibt sogar ein Akt der Selbstjustiz gegen Ende des Filmes seltsam leer und unbefriedigend und zwingt den Zuschauer gerade dadurch, eine Position zum Gezeigten einzunehmen.

Beyond Punishment

(D 2014, Regie: Hubertus Siegert)

Palavern wir!
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein deutscher Dokumentarfilm, der in drei praktischen Fällen der Frage nachgeht, was nach einem Mordprozess, nach Verurteilung, nach oder während der Verbüßung zwischen Mörder und den Angehörigen der Opfer passieren …

Ein deutscher Dokumentarfilm, der in drei praktischen Fällen der Frage nachgeht, was nach einem Mordprozess, nach Verurteilung, nach oder während der Verbüßung zwischen Mörder und den Angehörigen der Opfer passieren könnte oder sollte. Redet man miteinander? Nie? Oder doch? – Also ein psychosoziales Experiment. Patrick, der Sohn des Gero von Braunmühl, möchte gern von Birgit Hogefeld wissen, warum die RAF 1986 seinen Vater, hoher Beamter im Außenministerium, getötet hat. Sie redet nicht. Er redet mit einem anderen RAF-Mitglied namens Manfred. Klar, der Mord ist juristisch ungeklärt, und „Mord verjährt nicht“.

Keins der drei Experimente führt in diesem Film zum Ergebnis des Miteinanderredens, wohl aber dazu, den Weg intensiv mitzugehen. Der Film selbst kommentiert nicht. Er scheint das jeweilige Ergebnis selbst nicht zu kennen. Das ist spannend. Man geht mit, genauer: ich ging mit. Nach Wisconsin, nach Norwegen. Dort verschließt sich der Vater der Sechzehnjährigen einem Gespräch mit dem Jugendlichen, der seine Tochter getötet hat (aus Eifersucht). Und damit sind wir beim Paradefall (für meine Wahrnehmung des Films). Denn das Reden hätte doch was gebracht. So kommt es während dieses Experiments heraus, dass der Täter vom Opfer bis zur Weißglut gereizt worden war? Per Telefon unterrichtete sie den Eifersüchtigen laufend über den Sex, den sie grade mit dem anderen hatte. Der Fall rückt näher. Juristisch ist alles klar. Mord bleibt Mord. Aber für die Angehörigen des Opfers und für den Täter ist damit nicht alles geklärt (der Jugendliche kommt schon nach wenigen Jahren Jugendstrafe in den Ort der Tat zurück).

Mir fällt die afrikanische Tanzgruppe aus Ghana und der Elfenbeinküste ein. Sie führte im Projekt „Der internationale Gerichtshof in Strafsachen“ (Gintersdorfer/Klaßen) vor, wie in ihrer Heimat solch ein Fall gelöst wird: durch das Palaver. „Palaver“ bittschön ein positives Kriterium. Die Gemeinschaft, Täter/Opfer inklusive, redet so lange, bis eine von allen akzeptierte Lösung gefunden ist. – Sorry, ich bin vom „Beyond Justice“-Film weg, aber bin angeregt, in die Welt zu kucken. Wie war das noch mit der in Asien verbreiteten Auffassung, dass jeder seine Anteile an Schuld und Unschuld hat? Die Welt lässt sich eben nicht spalten in ja oder nein, Gott oder Teufel, Gläubige oder Ungläubige. – Ich hör auf. Palavern wir!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2015

Fassbinder

(D 2015, Regie: Annekatrin Hendel)

„Gegen den Staat, gegen Krieg, gegen Gewalt!“
von Ulrich Kriest

„Jetzt wird er zum Mythos verklärt“, kommentierte Hans-Jürgen Syberberg die Nachricht vom Tod Rainer Werner Fassbinders. Es gab viele betroffene Nachrufe, aber auch viel Material für die sensationslüsterne Boulevardpresse: Fassbinder, …

„Jetzt wird er zum Mythos verklärt“, kommentierte Hans-Jürgen Syberberg die Nachricht vom Tod Rainer Werner Fassbinders. Es gab viele betroffene Nachrufe, aber auch viel Material für die sensationslüsterne Boulevardpresse: Fassbinder, ein Zyniker, der mit Menschen wie Marionetten spielte, der Intrigen inszenierte und nebenbei auch noch Filme drehte, kurzum, „Fassbinder, das geniale Monster“ (so eine Artikelüberschrift). Zwei Jahre nach seinem Tod scheint es an der Zeit, dieses Bild zu revidieren“, schrieb Michael Töteberg 1984 in seinem Vorwort zu der von ihm herausgegebenen Essaysammlung Fassbinders mit dem Titel „Filme befreien den Kopf“. Warum sind diese Sätze plötzlich wieder aktuell? Weil Fassbinder in diesem Jahr 70 Jahre alt geworden wäre. Was sich der Kulturbetrieb nicht zweimal sagen lässt.

Was zwischenzeitlich geschah: Als Rainer Werner Fassbinder am 10. Juni 1982 in München starb, war er gerade 37 Jahre alt geworden. Er hinterließ ein Werk von 44 Filmen, gedreht fürs Kino und fürs Fernsehen, zahlreiche Theater-Arbeiten, Auftritte als Schauspieler in Filmen Dritter, allerlei Interviews und auch verstreut Publiziertes zu u.a. Douglas Sirk oder Claude Chabrol – alles entstanden zwischen 1966 und 1982. Er hinterließ auch ein über die Jahre gewachsenes Team von engen Mitarbeitern und Schauspielern, über dessen interne Dynamiken und Abhängigkeiten in den folgenden Jahren immer wieder einiges zu lesen war. Schon zu Lebzeiten war der Produktionsfuror Fassbinders begleitet von Skandalen. Erinnert sei hier nur an die offen gelebte Homosexualität, die offen gelebte Drogensucht, den Fassbinder-Beitrag zu „Deutschland im Herbst“ oder die Antisemitismus-Vorwürfe um „Die Stadt, der Müll und der Tod“.

Im Pressetext zu Annekatrin Hendels Dokumentation „Fassbinder“ findet sich der Satz: „Kein deutscher Filmregisseur war umstrittener, produktiver und besessener als Rainer Werner Fassbinder.“ Superlative für den Boulevard. 33 Jahre ist Fassbinder jetzt tot. Hierzulande hat er, abgesehen vielleicht von Oskar Roehler, keine Nachfolger gefunden, jedenfalls keine Schule gebildet. Im Ausland könnte man „Fassbinder“ in den Filmen von Ozon, Dolan oder auch von von Trier finden. Die großen Retrospektiven liegen lange zurück. Fassbinder findet in den Kinos und im Fernsehen kaum einmal statt, aber immerhin hat sich die „Fassbinder Foundation“ erfolgreich darum bemüht, die Filme auf DVD zumindest für den Hausgebrauch verfügbar zu halten. Kürzlich kam Schlöndorffs Brecht-Verfilmung „Baal“ mit Fassbinder in der Titelrolle, jahrelang von den Brecht-Erben unter Verschluss gehalten, doch noch auf DVD heraus und setzte den Namen Fassbinder mal wieder kurz auf die Tagesordnung. Und jetzt eben postum der 70. Geburtstag! Eine Ausstellung wird es Berlin geben. Und sonst? Kleines Familienalbum gefällig?

Einen eher erstaunlichen Zugang hat Annekatrin Hendel („Vaterlandsverräter“, „Anderson“) für ihre filmische Recherche gewählt: sie glaubt, dass hinreichend Material vorhanden ist, um den „Filmrebellen“ (Pressematerial) Fassbinder selbst seine Geschichte erzählen zu lassen, „indem sie autobiographische Elemente seiner Werke mit bisher unveröffentlichten Passagen aus seinem schriftstellerischen Frühwerk und Selbstzeugnissen seltener Interviews miteinander verschweißt“ (Pressematerial). Das klingt interessanter, als das Resultat aussieht. Denn Hendel, geboren 1964 in Ost-Berlin, begeht ein weiteres Mal den Fehler, Fassbinders Filme durch seine Biographie und seine Biographie durch die Filme erhellen zu wollen, was nur zur Tautologie führen kann.

Chronologisch wird Fassbinders Karriere von den Anfängen im Action-Theater aufgerollt und dazu werden die üblichen Verdächtigen, sofern noch am Leben, nach Anekdotischem befragt. So plaudern dann Hanna Schygulla, Irm Hermann, Harry Baer, Hark Bohm, Volker Schlöndorff, Günter Rohrbach, Margit Carstensen, Fritz Müller-Scherz, Wolf Gremm und schließlich auch Juliane Lorenz aus dem Nähkästchen. Manchmal hört man die Filmemacherin aus dem Off staunen, was es da alles zu hören gibt. Hauptsächlich Küchenpsychologie: Fassbinder war ja ein Unterdrücker, ein Manipulator, ein Bürgerschreck und stets schlecht gelaunter Rockstar, aber auch ein Engel, der Glanz in so manche Biografie gebracht hat. Er hätte bestimmt gerne richtige Liebesfilme gedreht, hätte er eine glücklichere Kindheit gehabt. Weil dem leider nicht so war, drehte er Filme über sadomasochistische Machtspiele.

Geht es darum, wie Fassbinder das Anti-Theater usurpierte, dann erklären zwei Zeitzeugen, dass dem so war und ein Ausschnitt aus „Fontane: Effi Briest“ scheint den Befund gleich auszusprechen und über Bande zu bestätigen. Geht es darum, dass Fassbinder eine gewisse Laxheit bei Steuerzahlung und Buchführung nachgesagt wird, folgt eine Einstellung, die Fassbinder in einem amerikanischen Sportwagen zeigen. Geht es darum, wie Fassbinder Baer einmal in Paris in eine Schwulensauna lockte, wird eine Schwulensauna aus „Faustrecht der Freiheit“ gezeigt. Und wenn es darum geht, ein Beispiel für die Verzahnung der Fassbinder-Filme zu geben, dann folgt zuverlässig die Erinnerung, dass Margarethe den Plot von „Angst essen Seele auf“ bereits in „Der amerikanische Soldat“ erzählt hatte, allerdings – und das wird hier vergessen – mit einer anderen Pointe. Einmal gibt Margit Carstensen zu Protokoll, dass sie erst spät erfahren habe, dass „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ (auch) eine leicht verschobene Darstellung von Fassbinders Beziehung zu Günter Kaufmann gewesen sei. Hendel friert das Filmbild an einer Stelle ein und verdeutlicht die Übertragung mithilfe der Animation.

Am deutlichsten tritt die konzeptionelle Schwäche des Films zutage, wenn es um das Schicksal von El Hedi Ben Salem »nach Fassbinder« geht. Fassbinders Geliebter und Hauptdarsteller in „Angst essen Seele auf“ sei schließlich in einem französischen Gefängnis ermordet worden. Im Film wird gemunkelt: „Ich weiß nicht, was aus ihm geworden wäre, wenn er in seiner Umgebung einfach geblieben wäre.“ Herrje! Es mag ja durchaus sein, dass Fassbinder sein Privatleben als Material für seine Filme genutzt hat, aber er hat vielfach verschränkte und variierte Abstraktionen doch immer auch auf die Gesellschaft darum herum verallgemeinernd bezogen und wurde dadurch zum Chronisten der west-deutschen Gesellschaft.

Um es mit Thomas Elsaesser zu formulieren: „Der entscheidende Punkt bleibt bei den biografischen und psychoanalytischen Ansätzen ausgeblendet, vielleicht, weil man ihn als selbstverständlich voraussetzt: Was Fassbinder in erster Linie interessant macht, sind seine Filme, ihre emotionale Resonanz und ihre zeitbezogenen Themen.“ Fraglich, ob man diese Dimension in den Blick bekommt, wenn man den Filmemacher auf die Couch legt. Zumal Fassbinder ja selbst öffentlich immer wieder Spuren in diese Richtung gelegt hat. Häufig – und hier auch zu sehen – mit lausbubenhaftem Charme, wenn er zu Protokoll gibt, dass sein Anti-Theater sich „gegen den Staat, gegen Krieg und gegen Gewalt“ richte. Noch fraglicher aber, ob man mit dem Ausbreiten von – älteren Zuschauern eh längst bekannten – Klatschgeschichten der Vermittlung des Fassbinderschen Werkes an eine jüngere Generation dient. Hier macht sich das Fehlen von Filmhistorikern, –kritikern oder auch anderen Regisseuren jenseits von Hark Bohm und Volker Schlöndorff schmerzhaft bemerkbar, weil der Film in der gewählten Form doch sehr oberflächlich bleibt.

Die selbstzerstörerischen Kollektiv-Experimente der 60er und 70er Jahre und ihr Zusammenhang mit den politischen Auseinandersetzungen jener Zeit sind mittlerweile dann doch in eine historische Ferne gerückt, die heutigen Zuschauer eher obskur oder bizarr erscheinen. Fassbinder hat ein folgendes Bild entworfen: „Ich möchte ein Haus mit meinen Filmen bauen. Einige sind der Keller, andere die Wände, und wieder andere sind die Fenster. Aber ich hoffe, daß es am Ende ein Haus wird.“ 33 Jahre nach dem Tode des Architekten wäre eine Hausbesichtigung aus der Distanz dringend angezeigt gewesen; das Aufwärmen alter Klatschgeschichten ist dagegen nicht sonderlich produktiv.

Heute gehe ich allein nach Hause

(BR 2014, Regie: Daniel Ribeiro)

Federnde Leichtigkeit
von Wolfgang Nierlin

So leicht und entspannt wie sich die beiden Jugendlichen in der Eingangsszene an einem Swimmingpool fläzen, um sich im freundlich wärmenden Sonnenlicht den aktuellen Wert auf ihrer persönlichen „Faulheitsskala“ mitzuteilen, …

So leicht und entspannt wie sich die beiden Jugendlichen in der Eingangsszene an einem Swimmingpool fläzen, um sich im freundlich wärmenden Sonnenlicht den aktuellen Wert auf ihrer persönlichen „Faulheitsskala“ mitzuteilen, so unangestrengt und natürlich wirkt auch Daniel Ribeiros preisgekröntes Spielfilmdebüt „Heute gehe ich allein nach Hause“ („Hoje eu quero voltar sozinho“). Die Kamera erfasst die rechtwinklig angeordnete Szenerie dabei aus der Vogelperspektive und etabliert damit auf sanfte Weise jenen Konflikt zwischen zärtlicher Nähe und freiheitsliebender Distanz, der sich im Hinblick auf seine Hauptfigur leitmotivisch durch den Film zieht. Denn zwar ist Leonardo (Ghilherme Lobo) von Geburt an blind, trotzdem oder gerade deshalb wünscht sich der sympathische Teenager aber vor allem Normalität. Wie seine Freunde befindet er sich in einem Alter, in dem Verstand und Sinne nach Selbständigkeit streben. Und das bedeutet für Leo vor allem, sich gegen seine zwar einfühlsamen, aber eben auch sehr besorgen und kontrollierenden Eltern zur behaupten.

Seine beste Freundin Giovana (Tess Amorim), die heimlich in ihn verliebt ist, kultiviert auf ihre Weise diesen Beschützerinstinkt. Dass sie meistens das vergitterte Tor zu Leos gutbürgerlichem Elternhaus aufschließt, spricht diesbezüglich eine deutliche Sprache. Andererseits signalisiert der relative Wohlstand der brasilianischen Mittelschicht, in dem Ribeiros humorvolles Pubertätsdrama situiert ist, eine unverkrampfte, fast selbstverständliche Offenheit. In ihr wächst nicht nur sehr behutsam Leos Freundschaft zu Giovana, sondern mit der ersten Liebe wird auch Leos Sexualität geweckt. Dass diese zunächst übers Ohr vermittelt wird, ist naheliegend, zumal der blinde Jugendliche ein Freund klassischer Musik ist. Denn dass sich Leo in seinen neuen Klassenkameraden Gabriel (Fabio Andi) verliebt, der lieber Belle and Sebastian hört, verstärkt nur noch die gegenseitige Anziehung.

Daniel Ribeiros Film „über das sexuelle Erwachen eines blinden Teenagers“, der im Grunde die Ausarbeitung seines zuvor mit gleicher Besetzung entstandenen Kurzfilms „Eu não quero voltar sozinho“ (dt. „Ich möchte nicht allein zurückgehen“) ist, bezieht die sexuelle Orientierung seiner Helden allerdings primär auf die „universelle Geschichte“ des Erwachsenwerdens. Nicht zuletzt daraus resultiert die ebenso große wie selbstverständliche Freiheit des Films, der den noch unsicheren Schritten seiner Helden immer wieder eine federnde Leichtigkeit verleiht und sie durch innere und äußere Konflikte hindurch ermutigt, ihren eigenen Weg zu gehen.

High Performance – Mandarinen lügen nicht

(A 2014, Regie: Johanna Moder)

Phlegmatisch konzentriert
von Manfred Riepe

Daniel ist schon über 30, hat aber immer noch keine feste Arbeit. Tagsüber probt er mit einer ambitionierten Off-Theatergruppe, deren Inszenierungen mit ihrer prätentiösen Kunstbeflissenheit ein echter Hingucker sind. Um …

Daniel ist schon über 30, hat aber immer noch keine feste Arbeit. Tagsüber probt er mit einer ambitionierten Off-Theatergruppe, deren Inszenierungen mit ihrer prätentiösen Kunstbeflissenheit ein echter Hingucker sind. Um sein Leben für diese ästhetisch ziellose Selbstverwirklichung zu finanzieren, jobbt Daniel in der Markthalle. Das macht müde. Leider wird sein wohlverdienter Schlaf gestört durch ohrenbetäubendes Getrommel. Die Nachbarn zelebrieren einen „angemeldeten Workshop“. Herzlich, aber kompromisslos weisen sie ihn darauf hin, dass ihnen sein Ruhebedürfnis völlig egal ist.

Die furiose Eröffnungs-Szene versetzt einen scheinbar zurück in die 80er Jahre, als Neue Innerlichkeit, tiefenentspanntes „Loslassen“ und das Bauchgefühl angesagt waren. Johanna Moders Debüt spielt jedoch im Wien der Gegenwart. Die abgestandene Esoterik ist schon wieder (oder immer noch?) in Mode. Von Anfang an besticht ihr Film durch seinen klaren, wachen Blick. Gesten, Rederituale und die Wohnsituation dieser Neohippies werden glasklar herausgeschält. Obwohl Daniel mit seiner Adidas-Jacke und seinem Billig-Rucksack selbst wie ein alternativ bewegter Bohemién erscheint, will er mit den ideologisch vernagelten Psychos nichts zu tun haben. Auf der anderen Seite hat er aber auch keinen Draht zur schnieken Geschäftswelt seines Überflieger-Bruders Rudi (Manuel Rubey), in dessen IT-Unternehmen diese zwanghaft entspannte Atmosphäre herrscht, die man aus Reportagen über die Mitarbeiter von „Google“ oder angesagten Werbeagenturen kennt.

Marcel Mohab glänzt in der Rolle dieses ebenso verpeilten wie selbstgefälligen Möchtegern-Schauspielers, der noch nicht realisiert hat, dass er ein Loser ist. Mit seiner nervösen, unterschwellig arroganten und eine Spur zu selbstgefälligen Art eckt er permanent an. Es scheint zunächst, als würde der Film aus seiner Perspektive erzählt, die man gerne einnimmt: Von seinem alerten Bruder Rudi hat Daniel sich eigentlich ziemlich entfremdet. Den Job, den dieser ihm inständig aufdrängt, will er zunächst gar nicht annehmen. Wie es scheint, sucht Daniel händeringend nach einem Rhetorik-Lehrer, der einer seiner Top-Mitarbeiterinnen beibringt, sich und das Firmenprodukt besser zu vermarkten. Wer sollte für dieses Sprechtraining besser geeignet sein als der „professionelle“ Schauspieler Daniel? Als dieser zu verstehen glaubt, dass er eigentlich nur herausfinden soll, ob die aparte Nora (Katharina Pizzrea) ein libidinöses Interesse an Rudi hat, bricht das Eis zwischen den Brüdern. Daniel fühlt sich gebraucht und nimmt den Job an. Dabei verguckt er sich, wie sollte es anders sein, selbst in Nora – und steckt nun tief in einem Konflikt zwischen seinen Gefühlen und der Loyalität zum älteren Bruder.

Der Plot kommt einem bekannt vor. Das sinnentleerte Klischee der Liebeskomödie über zwei unterschiedliche Brüder, die sich in dieselbe Frau vergucken, bildet nur den doppelten Boden in diesem Film, der nicht zufällig „High Performance“ heißt. Mit dieser Floskel aus der Computerbranche bezeichnet Rudi einmal seine Mitarbeiterin Nora. Sie ist nicht die, für die Daniel sie hält. Sie verkörpert die heimliche Hauptfigur dieser Komödie, in der es nebenbei auch um Software, Energieeffizienz und Computerspionage geht. Bei einem Psycho-Spiel, in dem eine Mandarine von Hand zu Hand wandert, erklärt Nora, sie würde ständig eine Maske durch eine andere ersetzen. Es dauert eine Weile, bis man verstanden hat, dass sie mit der Wahrheit lügt.

Die immer einen versteckten Akzent setzende Katharina Pizzera verkörpert weder das passive Objekt der Begierde noch eine Projektionsfläche für Männerphantasien. Johanna Moder rückt die vermeintlich unscheinbare Figur immer mehr ins Zentrum, ohne das Klischee des „Frauenfilms“ zu bedienen. Dabei pflegt die Regisseurin einen erfrischend eigenwilligen, beinahe spröden Stil. Es entsteht immer der leicht irritierende Eindruck, als würden die Figuren nicht ganz nach Drehbuch spielen, als würden sie ihre Rollen mit einem phlegmatischen Touch improvisieren. Die sperrig anmutende Inszenierung erinnert ein wenig an Rudolf Thome. Im Gegensatz zu den gewöhnungsbedürftigen Werken des dienstältesten deutschen Autorenfilmers, in dem Figuren abstrakte Behauptungen bleiben, schließt man die liebenswürdig beobachten Charakteren in „High Performance“ rasch ins Herz. Sogar die erleuchteten Esoteriker – die man zwischendrin erwürgen könnte – sind am Ende weniger unterbelichtet als vermutet. Nicht zu vergessen, der gelungene Einsatz von Filmmusik, die eine dramaturgisch wichtige Funktion erfüllt. Aufgrund des (leider nicht untertitelten) Wiener Akzents der Darsteller muss man als nicht österreichischer Zuschauer die Ohren spitzen. Das kann nicht ganz verkehrt sein. Immerhin erhielt der unterschwellige Computer-Thriller den Publikumspreis des Max-Ophüls-Festivals.

Der Knastcoach

(USA 2015, Regie: Etan Cohen)

Weißer Arsch in Angst
von Drehli Robnik

Will Ferrell wird alt. Das ist für einen Filmkomiker an sich kein Problem; Hans Moser oder Louis de Funès wurden mit fünfzig erst warm. Bei dem 2013 gar vom Wiener …

Will Ferrell wird alt. Das ist für einen Filmkomiker an sich kein Problem; Hans Moser oder Louis de Funès wurden mit fünfzig erst warm. Bei dem 2013 gar vom Wiener Filmfestival Viennale mit Retro und Gala-Auftritt gewürdigten und ja auch tatsächlich sehr superen Ferrell aber ist unklar, wie’s nun weitergehen soll: Sein seit gut zehn Jahren angestammtes Rollenfach – Machokind, das so rücksichtslos wie selbstmitleidig seine Bubengelüste auslebt – wird ihm langsam eng und der damit verbundene Slapsticklevel unhaltbar. Geht’s nun weiter mit more of the same, nur schwächer wie in 'Anchorman II'? Mit Hirnsausenskonzeptkomik wie im Genre-Spanisch von 'Casa de mi padre'? Oder formlos, aber durchaus nicht reizlos wie in 'Get Hard'?

Statt des Supertyps nah am Wasser gibt Ferrell da den gezierten Zyniker: einen Kapitalanlageexperten mit Eliteuni-Ausbildung, vornehmen Manieren und einem Tageseinkommen von ,,enough money to choke a baby'. Als ihm nach einer Betrugsanklage eine Haftstrafe droht, hat er Angst, als Softie im Häfen (so heißt der Knast auf Wienerisch) ständig durchgestrudelt zu werden; also engagiert er zwecks Vorbereitung auf harte Zeiten und Schwänze, die da auf ihn zukommen, einen 'Knastcoach' (so der Synchrontitel, in Ösistan nicht als 'Häfencoach' im Verleih). Hartwerden ist auch nur ein Werden: Das lehrt ihn nun also sein Trainer.

Zweierlei Panik wird da reflexiv ausgestellt (nicht ausagiert, das ist wichtig): homophobe Arschfickangst und vor allem Projektionen von White America auf people of color. Das weiße Weichei mit dem aus lauter Klassendünkel harten Herzen ist überzeugt davon, dass sein schwarzer Autowäscher Gang- und Knasterfahrung hat; also steigt der biedere Reinigungskleinunternehmer und Familienvater, froh über den Coachingjob bei dem reichen Klienten, auf das ihm zugeschriebene Blackness-Gangster-Stereotyp ein und spielt seinerseits die Rolle dessen, der so badass-mäßig hart ist, dass er einen Villenbewohner optimal auf dessen Gangster-Rollenspiel vorbereiten kann.

Es folgt eine lange Montagesequenz von einem Film: Anekdotisches in improvisierten Dekorationen mit dem hauseigenen Tennisplatz als Gefängnishof, dem Weinkeller als Einzelzelle, simulierter prison riot mit Strobo-Licht etc. Weiters allerlei Roleplaying (auch mit dem Latino/Latina-Hauspersonal), das nicht immer wahnsinnig lustig ist, sowie manch luzide rassismuskritische Pointe. Es wird gemunkelt, die Vorstellung seitens weißer Amis, ihre schwarzen Mitbürger, zumal männliche, seien sämtlich kriminell, gefährlich und entsprechend vorauseilend hart zu behandeln, gäbe es wirklich – an sagenumwobenen Orten wie Ferguson oder Baltimore. Jedenfalls: Die Szene, in der Ferrell am Steuer seines fetten Wagens vor Selbstviktimisierungspanik endlos ausflippt, als sein Autowäscher im Büroparkhaus an sein Seitenfenster klopft, um ihn was zu fragen, hat fast soviel Format und Verdichtungsqualität wie der lakonische Gag in dem tollen Will Ferrell-Mark Wahlberg-Vehikel 'The Other Guys' (2010), als zwei weiße Cops (nochmal zwei andere, nicht die Titelhelden) in einer Schule den Kindern Lebensratschläge geben und dabei meinen: 'You wanna know how to stay out of prison? Try your best not to be Black or Hispanic! That’s good advice!'

'Get Hard' hat einen gedoppelten Personality-Makeover-Plot, und das im Titel benannte Hartwerden hat hier gar dreierlei Sinn: Es bezieht sich auf die Kultivierung eines Herzens aus Stein (oder Gold, weil Gold in Euro-Krisen-Zeiten mehr wert ist als Stein), auf das Einüben eines Kämpferhabitus‘ – und schließlich auf das mühsame Performen maskuliner Geilheit, ob nun anfangs mit der Tochter vom Chef (samt Ferrells bzw. seines butt doubles Popo-Print auf der Glasscheibe zur Veranda) oder später beim Fellatiotraining im Brunft-Brunch-Bistro. Das coachende Gegenüber des baumlangen Ferrell wird gespielt von Kevin Hart, einem Mann mit passendem Namen und passendem Kleinwuchs. Der Regisseur des Films hat am tollen 'Tropic Thunder' mitgeschrieben, heißt Etan Cohen und meint das vielleicht auch noch ironisch.

Das alles gibt schon was her: zwar nicht enough to choke baby, aber es reicht bis zum Capoeira-Showdown. Und der ist zwar nicht auf dem Spitzenniveau von 'Blades of Glory' oder 'Stepbrothers', aber was soll’s; 'Cititzen Kane' kommt auch nicht alle fünf Jahre. Das moralische Einmünden in Family- und Familien-Kleinkapital-Values ist verzichtbar. Der hässliche Look des Films – Ferrells Hausregisseur Adam McKay hätte sowas nie zugelassen – geht zur Not als Nineties-Retro durch, Ferrells rötlich aufgedunsene Haut als eine Form subtiler grossout-Komik mit Whiteness-satirischer Note.

The F-Word – Von wegen nur gute Freunde!

(IR / KAN 2013, Regie: Michael Dowse)

„Es ist cool, dass du auch alleine hier bist!“
von Ulrich Kriest

Wenn nichts mehr geht: Wiederholung wiederholen! Man müsste mal eine romantische Komödie drehen mit einem abgebrochenen Medizinstudenten namens Wallace, der ganz und gar verhuscht ist und dem zudem gerade das …

Wenn nichts mehr geht: Wiederholung wiederholen! Man müsste mal eine romantische Komödie drehen mit einem abgebrochenen Medizinstudenten namens Wallace, der ganz und gar verhuscht ist und dem zudem gerade das Herz gebrochen wurde. Der könnte auf einer Party ein lustiges Mädchen namens Chantry treffen, die immer sofort jedem erzählt, dass sie einen Freund hat. Damit keine Missverständnisse aufkommen. Chantry könnte dann zum Beispiel ein Talent als Cartoon-Zeichnerin haben, was der Film wiederum kreativ nutzen könnte, um eine gewisse Leichtigkeit, also Crazyness zu bekommen. Es wäre dann natürlich wichtig, dass man dieses Liebespaar in spe mit einigen interessanten oder zumindest spleenigen Typen umgibt, damit die 90 Minuten bis zur absehbaren Hochzeit nicht allzu zäh geraten. Das Ganze lassen wir in Toronto spielen, dem ja nachgesagt wird, dass es, wenn man die richtigen Blickwinkel wählt, ein wenig wie New York aussieht. Ach was, bevor jetzt jeder sagt, dass es auch Zeit wurde, dass „Harry und Sally“ mal wieder verfilmt wird, schreibe ich lieber ein Theaterstück mit dem nichtssagenden Titel „Zahncreme und Zigarren“. Ein Theaterstück kann man immerhin nicht kaputtsynchronisieren. Das ist doch auch schon was. Positives.

Art Girls

(D 2013, Regie: Robert Bramkamp)

Immer in Bewegung und prinzipiell unberechenbar
von Ulrich Kriest

Kunst in Berlin-Mitte. In der „Zone“ verschwimmt die Grenze zwischen Kunst und Leben. Wenn ein Straßenarbeiter mit einem Pressluftbohrer hantiert, kann nicht ausgemacht gelten, dass es sich dabei nicht um …

Kunst in Berlin-Mitte. In der „Zone“ verschwimmt die Grenze zwischen Kunst und Leben. Wenn ein Straßenarbeiter mit einem Pressluftbohrer hantiert, kann nicht ausgemacht gelten, dass es sich dabei nicht um einen amerikanischen Performance-Künstler handelt, der, wenn er es in Berlin nicht schaffen sollte, immer noch nach New York zurückkehren kann.

Nikita Neufeld und Una Queens sind Teil dieser prekär lebenden Kunst-Szene, nicht erfolgreich am Markt und nicht erfolgreich im Betrieb, der gerne Scheiße in Kunst verwandelt. Prekariat, gepaart mit Midlife-Crisis. Der Blick, den Robert Bramkamp und Susanne Weirich auf die schicke Kunstszene werfen, ist satirisch, boshaft und zeugt von einiger Kennerschaft. Doch dann weitet sich der Blick, kommt die Wissenschaft in Gestalt der Zwillingsbrüder Peter und Laurens Maturana ins Spiel, Bio-Forscher, die an einem revolutionär-riskanten Projekt namens „Biosynchronisation“ arbeiten, das durch L-Strahlung Subjekte kurzzeitig zur einer „Wir-Intelligenz“ formt und kollektiviert. Doch auch hier sind Forschungsmittel knapp geworden.

Nach dem unter „mad scientists“ üblichen Selbstversuch aus Verzweiflung ist Peter gelähmt und arbeitet seither als Kurator, der mit seinem Geheimnis Mehrwert heckt und der Kunst eine Aura verleiht, die vom Künstler nicht mehr ausgeht. Er, der wenig bis nichts von Kunst versteht, träumt von einer Kunst, die Wirkung zeigt. Peter und Nikita gehen eine Geschäftsbeziehung ein, die auf clevere Weise Kunst und Sex kritisch kurzschließt. Die beiden Manturanas ködern die Künstlerinnen mit der gesponserten Ausstellung „Art Gate“, die allerdings nur als Alibi fungiert, um die Wirkung der L-Strahlung an einer größeren Menge von Menschen zu testen.

Der Erfolg ist frappant (und der Film findet dafür schöne Bilder), schlägt aber schnell um ins Katastrophale. Hier wechselt der Film, der zwischenzeitlich auch mal zu einer ironisch gebrochenen Form der romantischen Komödie gefunden hatte, erneut das Genre – und überrascht jetzt mit liebevoll inszenierten Low-Budget-Referenzen an „Transformers“ oder „King Kong“. So bleibt „Art Girls“ immer in Bewegung und prinzipiell unberechenbar: Am Schluss steht die schöne Utopie des „kollektiven Erzählens“, das die Regeln der Genres durch Alternativen und Perspektivwechsel spielerisch torpediert.

Wenn die „Kunstwirkung“, von der bislang nur gesprochen wurde, sich einstellt, greift sie entscheidend in den Film ein und verändert ihn: Die Katastrophe ist nicht zwangsläufig. Während die Kunst-Szene mit all ihrer gar nicht mal verdeckten Abhängigkeiten und Machtspielen eher satirisch zugespitzt vorgeführt wird, bleibt die Kunst selbst – hier zumeist Medienkunst von Künstlerinnen (für die teilweise die Künstlerin Susanne Weirich verantwortlich zeichnet: Manche Video-Installation kann man auch unabhängig vom Film in Galerien sehen) – davon unberührt.

So öffnet sich der mit diversen Erzählfunktionen und Erzählebenen experimentierende Film für allerlei Überraschungen und Spiegelungen, die zwischen Augenzwinkern und forschendem Filmlabor changieren. Passend dazu liefern Bramkamp und Weirich ergänzend und crossmedial nicht nur das „Art Girls“ – Making-of „Neue Natur – Art Girls intern“, das noch vor dem Kinostart von „Art Girls“ auf ARTE Creative zu sehen war (und auch noch länger zu sehen sein wird) und das seinerseits als Mockumentary ein paar weitere Möglichkeiten der „Art Girls“-Konstellation ausprobiert und variierend ergänzt.

Weiterhin wird „Art Girls“ bundesweit mit begleitenden Diskussionen in Kinos und Kunst-Institutionen wie dem Karsruher „ZKM“ zu sehen sein und zudem von Bramkamp selbst mit einer E-Vorlesung zum innovativen Filmemachen im Internet flankiert. Man sollte also besser den reflexiven Gesamtzusammenhang wählen, den „Art Girls“ anbietet, um der Intention des Unternehmens habhaft zu werden. Film als spielerisches Werkzeug zur durchaus ernst gemeinten Infragestellung von medialen Wirklichkeitskonstruktionen zwischen Wissenschaft und Entertainment.

A Blast – Ausbruch

(GR / D / NL 2014, Regie: Syllas Tzoumerkas)

We didn't start the fire
von Sven Pötting

Alles beginnt mit einer nächtlichen Autofahrt. Maria rast irgendwo in Griechenland über eine Autobahn. Sie ist allein. Hinter ihr tobt ein unkontrollierter Waldbrand, auf dem Rücksitz ihres Geländewagens liegt eine …

Alles beginnt mit einer nächtlichen Autofahrt. Maria rast irgendwo in Griechenland über eine Autobahn. Sie ist allein. Hinter ihr tobt ein unkontrollierter Waldbrand, auf dem Rücksitz ihres Geländewagens liegt eine Tasche voller Geld. Im Radio ist von Brandstiftung die Rede. Bereits nach den ersten Minuten besteht für den Zuschauer kein Zweifel, dass sie etwas mit dem Feuer zu tun hat. Das Feuer ist die Konsequenz einer Explosion (im übertragenen Sinne), die Maria zu einer Verzweiflungstat trieb und verbrannte Erde (nicht nur im übertragenen Sinne) hinterlassen hat.

Der griechische Kapitalist, so schrieb der Philosoph Nikos Dimou, benehme sich „wie ein Familienvorstand.“ Entscheidungen fällt er gewöhnlich allein, selten im Familienkreis. Eigeninitiative oder Mitsprache wird eher nicht erwartet, die Öffentlichkeit gemieden. Korruption und Klientelismus können dadurch blühen und gedeihen, Zahlen können dadurch lange frisiert und Partner betrogen werden. Geholfen wird nur Personen, die zur Familie gehören. Der Nachteil: Misswirtschaft kann durch diese Strukturen zumeist erst dann aufgedeckt werden, wenn es eh schon zu spät ist und der Bankrott unabwendbar ist. Auf diese Weise wurde – so scheint es – auch der griechische Staat über Jahrzehnte geführt, bis erst die Kreditwürdigkeit den Bach runterging, dann die ersten sozialen Verwerfungen auftraten und schließlich das Land zu einer Art EU-Protektorat geworden ist.

Der griechische Staat agiert also wie Familie, deren einzelnen Mitglieder weitgehend entmündigt werden. Kein Zufall ist es daher, dass viele Produktionen des aktuellen griechischen Kinos (oftmals dysfunktionale) Familienaufstellungen mit filmischen Mitteln sezieren. Stück für Stück, mit Zeitsprüngen und Rückblenden in die Vergangenheit, enthüllt die teils mehrfach verschachtelte Handlung in „A Blast“, wie und warum es zur eingangs beschriebenen Katastrophe kommen musste. Die Fragmente des Films, die für sich genommen desorientierend wirken, ergeben zusammengesetzt die Chronik eines familiären Elends, das wiederum mit der Krise Griechenlands eng verzahnt ist. Im Mittelpunkt der Ereignisse steht Maria.

Die dynamische, bis zur Hysterie emotionale Frau beginnt ihr Leben als Erwachsene mit handfesten Plänen und hochfliegenden Träumen. Zehn Jahre später ist davon nichts mehr übrig. Ihr Leben wird von der permanenten Dominanz ihrer Familie bestimmt. Für den Familienbetrieb, einen kleinen Kiosk, opferte sie ihr Studium. Für ihren Mann, einen Seemann, opferte sie ihre Freiheit. Während dieser die meiste Zeit auf See ist und dort seinen Affären nachgeht, muss sie ihre drei Kinder alleine aufziehen. Die wenige Zeit, die sie miteinander haben, verbringen sie mit wildem Sex. Die Leidenschaft ist ehrlich, trägt aber auch Verzweiflung in sich. Maria leidet nicht nur unter der ständigen Abwesenheit ihres Partners, auch andere Probleme beginnen ihr zu schaffen zu machen. Für ihre etwas einfältige Schwester Gogo hat ihr Vater einen Mann ausgesucht, mit dem diese sich immer mehr von faschistischen Kreisen vereinnahmen lässt. Wie Maria eher zufällig herausfindet, hat ihre kühle und autoritäre Mutter für den Kiosk schon lange keine Steuern mehr gezahlt. Jahrelang ging das gut, doch in der Krise macht der Staat ernst mit seinen Drohungen, Steuersünder zu jagen. Bankrott, Pfändung und Gefängnis drohen.

Wie die Handlungsfähigkeit des Staates ist die der Familie auch nur noch eingeschränkt. Während ihre Schwester die Schuld bei „den Migranten“ sucht, flüchten sich die Eltern in Apathie. Maria, die zuvor noch am Rande des Nervenzusammenbruchs stand, sieht jetzt klar: Ein Befreiungsschlag muss her. Eine Explosion, die alle festgefahrenen Strukturen zerstört. Ein Ausbruch, mit dem sie sich aus der Fremdbestimmung und der ausweglosen Situation befreien kann. Sie scheut dabei keine Konfrontation. Nicht mit den Behörden, nicht mit der Familie. So kraftstrotzend und wütend, wie sie in einer Szene am Anfang des Films auf einen Sandsack eindrischt, verprügelt sie später auch ihren Schwager. Sie ist brutal und rigoros, auch gegen sich selbst.

Natürlich sind – das gibt auch der Regisseur Syllas Tzoumerkas im Gespräch zu – bei diesem griechischen Drama im Subtext die antiken Tragödien präsent. Marias Träume sind bereits zerstört worden. Jetzt muss sie beinahe schicksalshaft ihren Weg gehen, ihr bisheriges Leben aufgeben und Schuld auf sich laden. Sie zerstört ihre Familie und schließt, um zumindest einen Teil der Steuerschuld zu begleichen, einen Pakt mit einer mafiösen Immobilienfirma.

Aber bedeutet Marias Ausbruch tatsächlich auch eine Katharsis für sie? Eher nicht. In einer der merkwürdigsten Szenen des Films geht sie in ein Internetcafé und ruft Videos auf, in denen die abseitigsten Sexualpraktiken vorgeführt werden. Während die Personen, die um sie herumsitzen, ihren Augen nicht trauen und dabei verlegen und irritiert auf ihren Monitor schauen, zeigt Maria keine Regung. Nach dem Hardcore-Sex betrachtet sie ebenso emotionslos eine Internetseite, auf der hemmungslos geweint wird. Gleichgültigkeit und Entfremdung haben ihre Leidenschaft abgelöst. Sie ist ausgebrannt und hat den Blick eines Zombies: zu stumpf für Mitleid, Trauer und Angst. Vor ihr liegt eine ungewisse Zukunft, die noch schrecklicher sein könnte, als das, das bisher geschehen ist.

Am Ende schließt sich der Kreis. Der Waldbrand am Anfang des Films, verursacht durch Brandstiftung, war die Konsequenz einer Verzweiflungstat und der vorweggenommene Schluss einer tragischen Familiengeschichte. Griechenland steht – metaphorisch und konkret – in Flammen.

„A Blast“ ist in verschiedener Hinsicht Ausdruck einer Krise. Als die Troika 2013 von Griechenland verlangte, tausende Stellen im öffentlichen Dienst abzuschaffen, wurde das öffentlich-rechtliche Fernsehen des Landes über Nacht geschlossen. Damit fiel auch ein wichtiger Geldgeber des Films aus, die Produktion selbst wurde von der Krise eingeholt. Ziemlich viel Improvisation war nötig, um das Wegfallen der bereits eingeplanten finanziellen Mittel zu kompensieren. Hilfreich war dabei, dass die Hauptdarstellerin Angeliki Papoulia und Regisseur Syllas Tzoumerkas bereits seit Jahren zusammen in der „Blitz Theatre Group“ arbeiten.

Andererseits ist „A Blast“ posttraumatisches Kino, so ungefiltert, wie wir es vom Autorenkino aus anderen Krisenstaaten kennen (man denke nur an den mexikanischen Cannes-Gewinnerfilm „Heli“ von Amat Escalante (2013)). Je dramatischer die Situation in einem Land wird, um so besser werden die Filme, so scheint es. Der wirtschaftliche Niedergang wird mit künstlerischen Höhenflügen gekontert.

„A Blast“ ist ein bitterer und experimentierfreudiger Film über ein Land, das schon lange nicht mehr am Abgrund steht, sondern schon hineingefallen ist. Privates und Politisches, das Zerbrechen von Familien und das Zerbrechen eines ganzen Landes an den ökonomischen Verhältnissen, sind nicht voneinander zu trennen.

Marias Ausbruch ist ein Akt der Verzweiflung und eine Rebellion gegen die Elterngeneration, die die Krise verursacht hat und der Ausdruck der Wut einer desillusionierten Generation, die unverschuldet in einer ausweglosen Situation gelandet ist und – mit dem politischen, ökonomischen und moralischen Kollaps ihres Landes konfrontiert – sich mit unterschiedlichen Mitteln aus der Zwangsherrschaft ihrer Herkunft zu befreien versuchen will und muss. „A Blast“ ist authentisches und schonungsloses Krisenkino: Explosiv, impulsiv und ohne Rücksicht auf Verluste.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'A Blast – Ausbruch'.

Big Eyes

(USA 2014, Regie: Tim Burton)

Dekors mit Kulleraugen
von Wolfgang Nierlin

Wenn zu Beginn des Films Margaret Ulbrich (Amy Adams), nachdem sie ihren Mann verlassen hat, zusammen mit ihrer kleinen Tochter im Auto davon fährt, wirkt das wie eine Befreiung. Die …

Wenn zu Beginn des Films Margaret Ulbrich (Amy Adams), nachdem sie ihren Mann verlassen hat, zusammen mit ihrer kleinen Tochter im Auto davon fährt, wirkt das wie eine Befreiung. Die nordkalifornische Landschaft ist weit und hell und leuchtet in allen Farben, die Luft entlang der Küste in Richtung San Francisco lässt die noch junge Frau spürbar durchatmen. Dabei ist eine alleinerziehende Mutter auf Jobsuche im Jahre 1958 alles andere als selbstverständlich; und Margaret, die sich zunächst als Dekorations- und Porträtmalerin verdingt, wirkt noch unsicher und wenig selbstbewusst. Als sie bald darauf den Charmeur und Schwindler Walter Keane (Christoph Waltz) kennenlernt, der sich als „Sonntagsmaler“ impressionistisch angehauchter Pariser Straßenszenen bezeichnet und sein Geld als Makler verdient, empfindet sie das als „einen Segen“. Und es ist schon bemerkenswert, dass sie ihre kitschige Traumhochzeit auf Hawaii als „paradiesisch“ erlebt.

Tim Burton unternimmt in seinem nach wahren Begebenheiten entstandenen Biopic über Margaret Keane zunächst wenig, um die in den 1960er Jahren äußerst populäre Künstlerin aus ihrem Schattendasein als Ehefrau und Mutter zu befreien. Dabei eröffnet er seinen neuen Film „Big Eyes“ mit einem Blick in die Tiefen jener überdimensional großen Augen, die zu ihrem Markenzeichen geworden sind und die sie einmal als „Fenster zur Seele“ bezeichnet. Zwar beharrt sie darauf, dass ihre Kunst „persönlich“ sei; doch als Walter anfängt, mit cleveren Geschäftsstrategien ihre Bilder unter seinem Namen gewinnbringend zu vermarkten, fügt sie sich mit Unbehagen und einem zunehmenden Gefühl der Gespaltenheit dem männlichen Diktat.

Es muss bei Margaret also irgendwann eine zweite Befreiung erfolgen, die sich sowohl männlicher Unterdrückung und Ausbeutung als auch luxuriösen Wohlbehagens und zunehmender weiblicher Selbstverleugnung erwehrt. Doch bis es so weit ist, plätschert der Film streckenweise vor sich hin und schwelgt dabei in ausnehmend schönen Bildern und fein abgestimmten Dekors, statt das innere Seelendrama der Protagonistin und ihre wahre künstlerische Motivation zu vertiefen. Fast scheint es so, als interessiere sich Tim Burton mehr für den schillernden Blender und Spieler Walter, dessen doppelgesichtiger Größenwahn zunehmend gefährliche, ja fast dämonische Züge annimmt. Daraus entstehen zwar etliche tragikomische Szenen (vor allem am Schluss vor Gericht), die Christoph Waltz gewohnt souverän absolviert. Margaret Keanes künstlerisches Außenseiterdasein im Schatten ihres umtriebigen Mannes wird allerdings kaum erhellt; allenfalls durch ihre zahlreich in Szene gesetzten Bilder, die eine eigene Sprache sprechen, erfährt sie eine gewisse Rehabilitation.

Ein Junge namens Titli

(IN 2014, Regie: Kanu Behl)

Ein Schmetterling auf Abwegen
von Nicolai Bühnemann

Titli bedeutet Schmetterling. Und dass der jugendliche Protagonist in Kanu Behls Debütfilm „Ein Junge namens Titli“ seine Flügel aufspannen möchte, um davon zu fliegen, das ist die zunächst einmal sehr …

Titli bedeutet Schmetterling. Und dass der jugendliche Protagonist in Kanu Behls Debütfilm „Ein Junge namens Titli“ seine Flügel aufspannen möchte, um davon zu fliegen, das ist die zunächst einmal sehr konventionelle, tief in den Genre-Mythologien von Gangsterfilm und Film noir verwurzelte Prämisse, der dieser Film folgt.

Titli (Shashank Arora) also möchte raus. Raus aus der engen, schmutzigen Gasse in einem Slum am Rande von Delhi. Raus aus dem Haus, das so winzig ist, dass man beim Essen immer jemandem zuhört, der sehr geräuschvoll seine Zähne putzt (gegessen und Zähne geputzt wird viel in diesem Film, der anstatt auf eine betont reißerische Darstellung des Lebens in einem Armenviertel darauf setzt, dieses möglichst alltäglich zu vermitteln). Raus aus der dysfunktionalen, von patriarchalen Strukturen und Gewalt der Älteren gegen die Jüngeren und der Männer gegen die Frauen geprägten Familie. Raus aus den kriminellen Machenschaften, in die ihn seine beiden älteren Brüder verwickeln, mit denen er gemeinsam Raubüberfälle begeht.

Seine Brüder verheiraten Titli mit einer jungen Frau, Neelu (Shivani Raghuvanshi), die er kaum kennt und mit der ihn doch verbindet, dass auch sie es sich zum Ziel gesetzt hat, dem Dasein als unterdrückte Slumbewohnerin zu entkommen. Der Fluchtpunkt ihrer Sehnsüchte ist jeweils die Skyline der Stadt, die im beständigen Werden begriffen ist, in der Kräne Hochhäuser gen Himmel ziehen, von einer Entwicklung zeugend, die droht, die Menschen an der Peripherie der Städte zu vergessen. Menschen wie Titli und Neelu, die verzweifelt darum kämpfen, ihren Platz in dem neuen Indien zu erhalten, das hier entsteht. Schon die erste Einstellung des Films setzt einen Kontrast zwischen Titlis Kopf, der halbnah von hinten zu sehen ist, und dem im Bau begriffenen Parkhaus eines Einkaufszentrum, in das sich der Junge einkaufen will, um es zu bewirtschaften. 300.000 Rupien braucht er dafür. Titlis Weg von hier nach Hause wird gezeigt als Weg in eine andere Welt, in der der junge Mann mit dem ersten spontanen Gewaltausbruch des Films begrüßt wird. In und an der Skyline arbeitet auch Prince, Neelus Freund, der Bauunternehmer ist und seine Eignung als Projektionsfläche für schmachtende Mädchenphantasien schon im Namen trägt. Die sprechenden Namen der männlichen Figuren geben zugleich Aufschluss über die Perspektivierung des Geschehens. Es sind jeweils die Armen, die Ausgestoßenen, deren Wünsche sich in diesen Namen offenbaren. Es ist ihre Welt, von der dieser Film handelt. Die Wolkenkratzer, bedrohliche und imposante Klötze, wirken in dieser Welt in den Totalen immer wieder wie Fremdkörper, sonderbar entrückt, wie nicht von dieser Welt.

Dem Gesellschaftsportrait, das Behls Film zeichnet, geht es immer wieder um die Kollision gänzlich verschiedener Welten an einem Ort und zu einer Zeit. Da sind die Frauen, die mit den Mitteln der modernen Welt, mit Scheidung, Anwälten und Gerichten gegen das Steinzeitpatriarchat ihrer prügelnden Ehemänner vorgehen. Da ist Titli, der mit seinen sauberen, aber einfachen Klamotten in der eleganten, geschniegelten Welt von Prince‘ Büro und den Appartementhochhäusern, die er baut, wie ein durch und durch Fremder wirkt.

Der Name des Protagonisten suggeriert auch, dass dieser eine Entwicklung durchmachen wird, die Metamorphose von der hässlichen Raupe zum prächtigen Schmetterling. Regisseur Behl erklärt im Interview, dass das ironisch zu verstehen sei, weil Titli eher eine negative Entwicklung durchläuft, bei seinem Kampf darum, der Hölle, in der er lebt, zu entkommen, immer gewalttätiger wird, sich mehr und mehr den Männern anverwandelt, denen er zu entrinnen sucht. Damit ist auch die zentrale Zumutung beschrieben, die „Titli“ für seine Zuschauerschaft bereithält, die dem Jungen, mit dem man sich doch im Rahmen einer against all odds-Geschichte restlos identifizieren soll, dabei zuzusehen, wie er langsam zum Monster wird. Während zu Beginn die Beteiligung an den Carjackings seiner Brüder die eines passiv Zusehenden ist, wendet er gerade in seinem Verhältnis zu Neelu mehr und mehr selbst Gewalt an. Von der versuchten Vergewaltigung in der Hochzeitsnacht über einige handgreifliche Auseinandersetzungen bis zu der Szene, in der er Neelu betäubt und ihr mit einem Hammer die Hand bricht, um einen Unfall vorzutäuschen.

Es verdankt sich unter anderem dem großartigen Spiel von Hauptdarsteller Shashank Arora, dass dabei immer Ambivalenzen bleiben, dass die Getriebenheit des Jungen, der in dem Moment seiner Heirat gemäß der patriarchalen Ordnung der Familien nicht mehr der Schwächste ist, nicht mehr nur Unterdrückter, sondern nun auch Unterdrücker, immer sichtbar bleibt und er doch zugleich fiebrig nach Allianzen sucht, die diese Gesellschaftsordnung unterwandern. Behl öffnet dabei das Arthauskino zum Genre hin und entwickelt in der Erzählung der tragischen Verstrickungen größte Intensität.

Was Titli und Neelu zum Schluss mehr und mehr verbindet, ist ihre Desillusionierung durch die „bessere Gesellschaft“, die sich als hinterhältig und verlogen erweist. Dass die aus dem gesellschaftlichen Zwang geborene Allianz sich durch eine gemeinsame Erfahrung zu einem gangbaren Ausweg entwickeln kann, ist die Hoffnung, mit der „Titli“ sein Publikum entlässt.

Mülheim – Texas: Helge Schneider hier und dort

(D 2015, Regie: Andrea Roggon)

Charmant blödelnde Selbstinszenierung
von Nicolai Bühnemann

„Die Freiheit muss man sich nehmen. Tschüss!“, sprach er, stand mitten im Interview auf und ging, den schwarzen, leeren Sessel allein im Bild zurücklassend. Nur eine kurze Szene in Andrea …

„Die Freiheit muss man sich nehmen. Tschüss!“, sprach er, stand mitten im Interview auf und ging, den schwarzen, leeren Sessel allein im Bild zurücklassend. Nur eine kurze Szene in Andrea Roggons Film „Mülheim – Texas: Helge Schneider hier und dort“, die belegt, dass es ein schwieriges Unterfangen ist, einen Dokumentarfilm über Helge Schneider zu drehen. Unübersichtlich ist das Schaffen des Jazz-Musikers, Komikers, Kabarettisten, Filmemachers, Theaterregisseurs, Entertainers und Autors Helge Schneider. Fünf lange, nun ja, Spielfilme hat er seit 1993 vorgelegt, unzählige Bücher geschrieben und Platten aufgenommen, in diversen Bands gespielt und immer noch geht er regelmäßig auf Tour. Obwohl schon seit den Siebzigern aktiv, entwickelt sich erst in den Neunzigern ein recht rätselhafter Hype um Schneider, der seine sehr eigene Mischung aus Klamauk, abstrusem Humor und Jazz-Klängen in den Mainstream holte, wo er sich jedoch nie ganz heimisch fühlte.

Es ist Regisseurin Andrea Roggon hoch anzurechnen, dass sie gar nicht erst versucht, dieses ausufernde Werk zu erschließen. Archivmaterial gibt es in ihrem Film eher wenig. Eine der Ausnahmen sind einige Szenen aus Werner Nekes‘ „Johnny Flash“, in dem Schneider 1986 seine erste Hauptrolle spielte. Nekes habe ihm eingebläut, erinnert sich Schneider, bloß nicht in Gelächter auszubrechen, weil das die Einstellung ruinieren würde und das Filmmaterial teuer sei. In Schneiders eigenen Filmen, allen voran seinem Debüt „Texas – Doc Snyder hält die Welt in Atem“, nimmt sich Schneider auch die Freiheit, ordentlich verlachte Takes einfach in den fertigen Film zu integrieren. Und eine der schönsten Szenen von „Mülheim – Texas“ zeigt die Gesichter herzlich lachender Menschen bei einem Auftritt des Komikers.

Roggon beobachtet Schneider im Studio, auf der Bühne, beim Malen und bei den Dreharbeiten zu seinem letzten Film „00 Schneider – Im Wendekreis der Eidechse“. Unter den Konzertszenen fand ich die besonders toll, in denen Schneider am Klavier die wunderbare Beatbox-Musikerin Butterscotch begleitet, die auch einen kurzen Auftritt in seinem letzten Film hatte. Es offenbart sich hier, wie anschlussfähig für neue Einflüsse das System Helge Schneider ist, ohne dass es dadurch jemals seinen ganz eigenen Stil verleugnen würde. Bei Proben offenbart Schneider, der, zumindest was sein filmisches Schaffen anbelangt, eher als genialer Dilettant bekannt ist, seine perfektionistische Seite.

„Unterwegs“ lautet einer der Zwischentitel, die den Film gliedern und tatsächlich zieht es sich leitmotivisch durch den Film, dass Helge on the road zu sehen ist. Im Auto auf den Straßen Mülheims. Auf dem Motorrad mit Beiwagen in einer Wüstenlandschaft irgendwo am Mittelmeer. Auf dem Traktor, mit dem er bei dem Versuch, einen Wohnwagen zu ziehen, einen zirkusreifen Stunt hinlegt. Mit dem Paddelboot auf der Ruhr. Die Rastlosigkeit, die einen Mann, der so viel arbeitet wie Schneider, wohl zwangsläufig auszeichnet, kommt dabei schön zum Ausdruck und wird zugleich von der Ruhe, der Gelassenheit kontrastiert, die den Komiker bei all seinem fleißigen Tun auszeichnet.

Roggon filmt das mit viel Stilwillen, was schon in dem für einen Dokumentarfilm recht unüblichen 2,35:1-Breitbildformat zum Ausdruck kommt. Es wiederholen sich Einstellungen, in denen Schneiders bärtiges Gesicht groß am Bildrand zu sehen ist, die Weite des Meeres oder der Landschaft im Hintergrund. Wie aus einem Western wirkt das und eine Western-Parodie (zugegeben, eine etwas hilflose Beschreibung für den Irrsinn dieses Films) war ja auch Schneiders erster Film, auf den Roggon mit ihrem Titel anspielt.

Seine Geheimnisse möchte er nicht preisgeben, sagt Schneider einmal. Man solle nicht über ihn wissen, wie er etwa einkaufen geht. Neben viel charmant blödelnder Selbstinszenierung kriegen wir in den Gesprächen immer wieder schöne biographische Fetzen geliefert. Schneider erzählt, wie er mit fünfzehn in der Schule wegen seiner roten Haare zum Außenseiter wurde und sich ganz in diese Rolle begab, indem er im grünen Anzug auf der Straße Gitarre spielte. Mit achtzehn, so berichtet er, war er von der Sehnsucht erfüllt, aus Mülheim fortzugehen, um in New York als Jazz-Musiker zu arbeiten.

Man merkt Schneider immer wieder an, wie sehr er es genießt, sich für die Kamera in Szene zu setzen. Am deutlichsten wohl bei einem Fototermin, bei dem er sich in einer Karussell-Rakete sitzend am Blitzlichtgewitter regelrecht labt.

Schwer zu sagen, was für einen Film Roggon mit ihren Ambitionen gemacht hätte, wenn sie ein einfacheres, den Verlauf der Inszenierung weniger in jeder Situation genau kontrollierendes Gegenüber vor ihrer Kamera gehabt hätte. Die Art aber, wie Schneider den Film mit seinem Humor und seiner immensen Ausstrahlung dominiert, ihn sich ganz und gar aneignet, tut dem Vergnügen, das „Mülheim – Texas“ dem Zusehenden bereitet, keinen Abbruch. Im Gegenteil.

Ex Machina

(GB 2015, Regie: Alex Garland)

Gut gebaut: Bube, Boss, Beton, Robot
von Drehli Robnik

Postfordismus-Projektionen und künstliche Männer Der Turing-Test – benannt nach dem unlängst in 'The Imitation Game' verkitschten britischen Computerpionier – geht ungefähr so: Kann ich unterscheiden, ob die Intelligenz, die am …

Postfordismus-Projektionen und künstliche Männer

Der Turing-Test – benannt nach dem unlängst in 'The Imitation Game' verkitschten britischen Computerpionier – geht ungefähr so: Kann ich unterscheiden, ob die Intelligenz, die am anderen Ende einer Leitung (also so, dass sie meinem sofort Gewissheit schaffen wollenden Blick entzogen ist) mit mir kommuniziert, menschlich oder künstlich ist? Und (das sagt sich gleich fast von allein dazu) was ist das jeweils – menschlich und künstlich? Seit einiger Zeit ist auch die Sicherheit dieser Unterscheidungskategorien selbst zunehmend einem Test ausgesetzt, ist zur Disposition gestellt, instabil, prekär. Dass das so ist – die Prekarität der Menschlich-Künstlich-Unterscheidung –, davon singen uns manche SciFi-Fiktionen, zumal solche des Kinos, ein Lied: Sobald blade und andere (auch schlanke) Runner mit Ablaufdatum, Cyborgs, Roboter oder andere gebaute Wesen mit eingebauten Denkanlagen ins Spiel kommen, stellt sich der Verdacht, ihre Künstlichkeit sei so etwas wie die wahrere oder höhere Menschlichkeit, fast reflexartig ein.

So weit, so common sense. Der britische Kammerspiel-Techno/Psychothriller 'Ex Machina' macht es kompliziert, weil explizit und offensichtlich. Zum einen ist die Turing-Test-Situation im Plot des Films beim Namen genannt und Thema eines Ablaufs von Sessions, die eine Art Kapitelgliederung liefern. Ausgangssituation: Ein junger, unsicherer Programmierer wird von seinem Konzernboss, einem Software-Mogul und K.I.-Genie, zu sich in sein abgeschiedenes Luxuslabor beordert. Er soll dort, als einziger Gehilfe seines Chefs, testen, wie seine Dialogpartnerin, die sichtbar hinter einer Glasscheibe ihm gegenüber sitzt, programmüberschreitende Kreativallüren, sprich: menschliche Intelligenz, manifestiert. Diese Dialogpartnerin namens Ava ist künstlich, und zwar offensichtlich; sie ist – gut – gebaut, halb junge Frau, halb Robot mit Glasfaserskelett.

Die Frage ist also: Was lässt sie human wirken? Welche Art von sprachlicher, mimisch-gestischer, alsbald auch hetero-erotisch aufgeladener Kommunikation hinter Glas bewirkt, dass Ava als menschlich anmutet – trotz aller Evidenz ihres Technokörpers? 'Ich weiß sehr wohl, dass hier nur technisch vermittelte Erscheinung ist und keine Präsenz in Fleisch und Blut, aber trotzdem lege ich in diese Erscheinung soviel von meinem Gefühl, als hätte ich den Eindruck, dass da etwas ist' – der in diesem Satz ausformulierte Wahrnehmungs- bzw. Verleugnungsmodus galt einmal als das Schema einer Wahrnehmung, die dem Kino insgesamt ganz nah und innig ist, galt als Schema schlechthin für das, was ein*e Filmzuschauer*in erfährt, wenn er*sie im Kino sitzt, also in jener in den Seventies und Eighties als 'ideologischer Verkennungsapparat' analysierten Einrichtung, die uns – so hieß es – Wesen wahrnehmen lässt, wo nur Repräsentationstechnik waltet.

Um Projektion geht es in 'Ex Machina' von vornherein: Nicht dass Projektion stattfindet – d.h.: nicht dass etwas Technisches so wahrgenommen wird, dass sich etwas Wesenhaft-Menschliches in ihm zeigt –, ist hier der Über(raschungs)schmäh, sondern ihre Reichweite. Sprich: Der Schmäh liegt darin, wen das Projizieren aller in seine Eigendynamik hineinzieht. Zwischen Mauern aus Sichtbeton und Monitoren der Totaldurchsicht fällt der Test zunächst auf den jungen Tester zurück, zunehmend aber auch auf seinen testosterongetriebenen Chef – und schließlich die ganze Zeit über auf uns, die wir dem testenen Treiben zusehen, zuhören, es goutieren; die wir vermeinen, all das prüfend zu durchschauen, während wir in unserem Wahrnehmen – auch als 'zerstreute Examinator*innen' im Sinn von Walter Benjamin Button – doch zumindest gebannt sind. Für letzteres, den gut gebauten Bann, sorgt die genaue Gemessenheit im Bild und in den superschicken Beton-, Glas- und Holzarchitekturen, auch im blubbernden Ambient-Score von 'Ex Machina': Das baut und webt uns ein, setzt uns auf unsichere Positionen im Verhältnis zu den Macht- und Beobachtungsspielen, die ein im Wesentlichen dreiköpfiges Mini-Ensemble vorführt: Domhnall Gleeson als der Jungprogrammierer und Alicia Vikander als Ava testen einander, Oscar Isaac ist als Chef undurchsichtig. (Die vierte Figur ist Sonoya Mizuno stumme asiatische Dienerin, in deren Erscheinung an der Peripherie des weißen Beziehungsdreiecks das Motiv vom unerwarteten Eigensinn der zweckbestimmt Gesteuerten noch einmal ethnisch formuliert und postkolonial getönt ist.)

(Und gleich noch eine Klammerbemerkung: Für den grandiosen Hollywood-Neo-Star mit guatemaltekisch-kubanischer Herkunft Oscar Isaac ist die Boss-Rolle in 'Ex Machine' die vorläufige Quersumme aus seinen bisherigen Rollen als mehr oder minder Ungustl – manche davon problematisch, weil im Ressentiment-Stil gezeichnet: einerseits als sexuell und ethnisch anderer Usurpator einer Rolle, die dem filmischen Entwurf zufolge ein Würdigerer einnehmen sollte – Prätendent Prinz John in 'Robin Hood' oder der Ehemann der Mulligan, gezeichnet als zartes blondes, zu rettendes Geschöpf, in 'Drive'; anderseits als charismatischer, obsessiv getriebener Boss eines rücksichtslosen 'Betriebs' – Bordellbetreiber in 'Sucker Punch', Speditionsunternehmer in 'A Most Violent Year'.) (Und, ja, den Llewyn Davis hat er auch gespielt.)

Alex Garland, als Scriptautor von '28 Days Later', 'Sunshine' und 'Never Let Me Go' mit nonhumans in Soziallabors vertraut, variiert in seinem Regiedebüt 'Ex Machina' gekonnt (mitunter aber auch etwas gar klugscheißredselig) das Motiv der seduktiven Maschinenfrau, die menschlich wird, indem sie an Allzumenschliches appelliert, indem sie nämlich erwartungsgemäße männliche Reaktionen auf ihre Erscheinung als zartes, sensibles Geschöpf vorweg kalkuliert. Das Spielen einer (gerade in ihrer Halbnacktheit bzw. Plexiglastransparenz) Undurchschaubaren auf der Klaviatur des maskulinen Masochismus: Es ist gar nicht notwendig, diese Motivik groß auszuwalzen und dadurch womöglich den Spoiler-Alert auszulösen. Denn: Die gewitzeste, auch witzigste, Wendung von 'Ex Machina' liegt nicht im Spiel mit dem Erscheinen von Weiblichkeit, die noirish ist aus Tradition, sondern im Erscheinen der Spiele einer Männlichkeit, die narrisch ist aus Routine (daft by definition). Die Witz-Wendung liegt nicht im Unvorhersehbaren seitens des Robot-Girls, sondern im ganz Vorhersehbaren, ganz Programmgemäßen (das dann in aller Offensichtlichkeit auch noch eintritt) der Reize und Reaktionen einer anderen künstlichen Humanität, eines anderen sozialtechnisch geformten Habitus, nämlich der Powerburschenmännlichkeit in ihren Zwiesprachen und Zwiespalten. Diese Lebensform, gezeugt in den Alltagslaboren der postfordistischen Kapitalakkumulation und Menschen(selbst)führung, wird in 'Ex Machina' ausgestellt.

Das betrifft das allmähliche Keimen einer Ritter-Retter-Phantasie in dem sanften Nerd, der sich für auserwählt hält, die Schöne aus den Fängen des Obszönen zu befreien; und es betrifft mehr noch die Umgarnung des verliebten und gebannten Ritters durch seinen schamlos schönen Boss, der ganz durchtrainierter Dance-Dude ist und barbäuchiges Buddy-Charme-Programm mit Vollbart unter der sexy Glatze und Leichtbier in der einen Hand (die andere braucht er für die vielen Schulterklopfgesten von bro zu bro im Büro, mit denen heute Firmenimperien, Labors und Arbeitsräume regiert werden, die sich von Bobo-Wellness-Hotels nur per Projektion unterscheiden lassen). Dass es in 'Ex Machina' um Phantasiebilder der kalt kalkulierenden Femme Fatale-Maschine gehen soll, ist pure pubertäre Projektion; in Wahrheit ist der deus ex machina, der Gott, der durch seine Herkunft aus der sozialtechnischen Lifestyle- und Führungsstilmaschine bereits prekarisiet ist, und der dennoch so ohne jeden Genierer aus der Maschine springt, dass sein Anblick geil und peinlich zugleich anmutet, das Macher-Männlein mit seinen gläsernen und fleischlichen Sixpacks als unmögliches Subjekt. Die Hommelette in Dispositiv-basierter narzisstischer Selbstverkennung, oder: Spiegel-Eggs Machina.

Übrigens, der Disco-Song, zu dem Isaac und Mizuno tanzen – aber wie! Ein Programm wird Ob-Szene! –, ist 'Get Down Saturday Night' von Oliver Cheatham (Baujahr 1983). If you can’t cheat-ham, join ‚em: 'After a long day of Turing Test, you gotta unwind,' sagt dein geiler Boss und zwingt dich zum Mit-Genießen.

Hubert von Goisern – Brenna tuat’s schon lang

(D / A 2015, Regie: Marcus H. Rosenmüller)

Ein Mann kann eine Brücke sein
von Ulrich Kriest

Wenn Hubert von Goisern nicht gerade back to the roots mit kleinem Geschirr durch österreichische Weltgegenden tourt, wo noch immer „Starsky & Hutch“-Filmplakate an den Kneipenwänden hängen, dann macht er …

Wenn Hubert von Goisern nicht gerade back to the roots mit kleinem Geschirr durch österreichische Weltgegenden tourt, wo noch immer „Starsky & Hutch“-Filmplakate an den Kneipenwänden hängen, dann macht er Projekte, die sich sehr gut lesen, wenn man gerade Kulturhauptstadt ist oder UNESCO-City of Music werden will oder Vertreter für mannshohe „Red Bull“-Werbedosen ist. Dann nämlich hält von Goisern es mit Knut Kiesewetter und ruft: „Fahr mit mir den Fluss hinunter!“ Oder hinauf.

Egal. Donau oder Rhein, einerlei. Hauptsache, es wird „Europa praktiziert“. Und weil Hubert von Goisern mit seinem alpinen Crossover-Rock bei öffentlich-rechtlichen Kultur-Redakteuren immer schon einen Stein im Brett hatte, sind diese Projekte auch bestens dokumentiert. Was natürlich eine Steilvorlage ist, wenn man die brennende Frage in den Raum stellt: „Was hat Hubert von Goisern eigentlich zwischen seinen großen Erfolgen Koa Hiatamadl und Brenna tuat’s guat gemacht? Koan Schimmer?

Ein guter Ausgangspunkt für die Gesamtschau auf ein singuläres Künstlerleben? Fanden jedenfalls die Archivare Marcus H. Rosenmüller (Regie) und Johannes Kaltenhauser (Kamera) – und setzen Alpenrocker Hubert frühmorgens in ein Boot auf dem Hallstätter See. Zum Angeln und zum Philosophieren. Über das Leben und so. Und wie man seinen Platz im Leben und als Musiker seinen Sound findet. Und natürlich noch viel mehr. Dazu Rosenmüller im Presseheft: „Angeln als Motiv, als Metapher und als klares Zeichen, dass man sich Zeit nimmt. (…) Schließlich steht diese Tätigkeit (das Angeln – U.K.) für vieles: Zum einen für einen Charakterzug und eine persönliche Leidenschaft von Hubert von Goisern. Daneben kann sie aber mehrere, für mich als Regisser passende und den filmischen Raum öffnende Interpretationen erlauben. So zum Beispiel als Zeichen der Gefahr, in die sich ein Künstler begibt. Die Gefahr, mit seinem Kahn unterzugehen. Dann die Fähigkeit, sich in Geduld zu üben, den richtigen Köder ausgeworfen zu haben. Aber auch das Vertrauen zu haben, dass es in dem Gewässer der Kunst überhaupt jemanden gibt, der anbeißen könnte. Eine weitere Interpretation wäre das Universelle: als Künstler von einer bestimmten Zeit/Welle/Stimmung getragen zu werden. Mittler zwischen Himmel und Unterwelt (die Spiegelung des Himmels im Wasser). Zuletzt noch die religiöse Interpretationsmöglichkeit: Der Künstler als Fischer, als Glaubensvermittler.“

Nicht unspannend also zu sehen, wie orientierungslos der Angler anfangs seinen Weg als NDW-Epigone machte, bevor er seinen Blues elektrifizierte, seine Texte (leicht) politisierte und seine ganz persönliche Welle fand. Schließlich kommt der Haider Jörg auch aus dem Städtchen, dem der Hubert aus Protest seinen Namen abgetrotzt hat. Da ist auf Fanseite manches Missverständnis möglich, zum Beispiel Alpenrock hören und Haider wählen. Wobei Hubert von Goisern eben auf dem Höhepunkt der Popularität der Alpinkatzen hinwirft und in die Welt hinauszieht, um in Afrika mit Eingeborenen zu rocken (was seiner Musik zum entschiedenen Vorteil gereicht) bzw. die Eingeborenen lächelnd nach seiner Pfeife tanzen zu lassen (was uns beim Zusehen etwas aufstieß): „Damit eine Vertrautheit entsteht zwischen den Kontinenten“, sagt Hubert, der auch nach Austin, Texas reist, um gefühlte 10 Jahre nach FSKs „Pennsylfawnisch Schnitzelbank“ die bierseeligen Amis mit „Alpengrunge“ zu entertainen. „Es sind Dinge entstanden, die sind nicht vorstellbar“, heißt es an einer Stelle des Films.

Auch kaum vorstellbar, aber für die Nachwelt bestens dokumentiert, wie die üblichen Deutschrock- und Kirchentagssoul-Verdächtigen den Rhein hinauffahren, um ihre ganz persönliche Version der „Rolling Thunder-Revue“ zu leben. Der Wecker geht an Bord; Niedecken mit Blumen am Hut. Man muss Risiken eingehen im Leben, sich verschwenden, weiß der Alpen-Philosoph zu raten. Für den enttäuscht sich wendenden Zuschauer heißt das zunächst einmal: für von Goisern bezahlen und Naidoo bekommen. Nepp. The Last Waltz of Europe.

(keine Wertung möglich)

Tod den Hippies!! Es lebe der Punk!

(D 2015, Regie: Oskar Roehler)

Zurück zu No Future
von Andreas Thomas

„Wer sich erinnert, hat nichts erlebt!“ – So oder ähnlich zitiert Oskar Roehlers neuestes Werk den Mastermind der Einstürzenden Neubauten Blixa Bargeld, der mal wieder so anämisch wie amnesisch Wodka …

„Wer sich erinnert, hat nichts erlebt!“ – So oder ähnlich zitiert Oskar Roehlers neuestes Werk den Mastermind der Einstürzenden Neubauten Blixa Bargeld, der mal wieder so anämisch wie amnesisch Wodka hinter der Theke des „Risiko“ randvoll in Wassergläser kippt und dabei z.B. darüber dichtet, dass Gott nicht im Arsch von Sodomisierten existiere. Zum Verwechseln (bis er die Brille absetzt) dem jungen Bargeld ähnlich, wird der gespielt von Alexander Scheer, der sogar den metallisch-näselnden Tonfall des Originals erreicht. Anders als Marc Hosemann, den optische Lichtjahre vom über Jahrzehnte juvenil gebliebenen und dennoch von ihm gespielten Nick Cave trennen,- aber bei allem fragt man sich, um was es denn hier eigentlich geht, um einen Lookalike-Contest, um irgendwelche Jugenderinnerungen eines Oskar Roehler, um das Berlin vor dem Mauerfall, oder gar um die Geschichte des Punk in der Mitte der Achtziger, also als eine sogenannte Bewegung „Punk“ schon lange um die Ecke und Brötchen holen war, um bald danach vornehmlich als Unterhaltungsmusik für als Punks verkleidete Sozialhilfeempfänger auf Sitzbänken zu dienen?

Mit der differenziert auskultierten Frage haben wir auch gleich die differenziert diagnostische Antwort, denn um all das geht es, worauf die zweite Frage sich anschließt, ob solch Gemengelage denn eher dem Gedeih oder dem Verderb des Werkes diene? Und darauf lautet die Antwort: Roehler ist ein Mann der Momente. Ganz stark, da ganz grell ist die erste Filmhälfte, die nicht ansatzweise versucht, „realistisch“ über die Spätphase von Hippietum und Bhagwan zu berichten, sondern schön fäkal, geschmacklos und mit grobem Strich die „Grundzüge“ all der verlotterten Verhältnisse unter der Ägide der Friedensbewegten auf den Punkt bringt, und immer da, wo Roehler die Extreme, auch die eigenen, punkigen, exzessiv über das borden lässt, was eh schon extrem genug war, da macht der Film Spaß. Wunderbar überbordend realistisch auch der Kurzauftritt von „Robert Rothers“ (Tom Schilling) Jugendfreundin, die im political-korrrekten Tonfall schon Jahrzehnte einer gemeinsamen spießigen Zukunft plant.

Wunderbar dann, nach eigencoiffeurischer Kreation eines Iros, seine Ankunft in einem outdoor stets schwarzweißen indoor stets farbigen Berlin-West, das – auch hier ist der Pinselstrich ein grober – zur einen Hälfte aus dem Herzen der Lebensfreude, einem Peepshow-Betrieb besteht, wo sich mitunter auch der Regierende Bürgermeister persönlich einen von der Palme wedelt, aber sonst quasi auch alles, was verheiratet und männlich ist. Die Peepscheiben sind herzförmig und allesamt satt mit Sperma bespritzt. Die Reinigung der Peepshow-Kabinen ist des jungen Mannes erster Job in der großen anonymen Stadt, in der er glücklicherweise ganz unten anfangen kann, was er ja schon immer wollte (statt Tellerwäscher Wixscheibenwäscher halt). Die andere Hälfte von Berlin ist die Kneipe „Risiko“, das Herz von Avantgarde und Punk, wo u.a. Bargeld verbürgt hinterm Tresen stand, und zu 80 Prozent umsonst gesoffen wurde, wenn man nicht mit der Zufuhr von Speed, Koks oder Heroin beschäftigt war. Sehr spaßig verdichtend hier ein Morgen beim Schließen des Lokals, wenn der gesamt ausgeworfene menschliche Gaststubeninhalt auf dem Boden liegt und in den Rinnstein kotzt.

Doch doch, leider leider, so sehr der Filmanfang einstimmt auf eine große Sause, so schnell verzettelt sich Roehler in Nebenschauplätzen, wie in seinem langsam altbekannten Familienroman, der zwar interessant ist, besonders wenn man die Roehler-Mutter Gisela Elsner mit ihrer unverkennbaren Frisur nun schon (nach Hannelore Elsner: „Die Unberührbare“ und Lawinia Wilson: „Quellen des Lebens“) in einer dritten Variation (Hannelore Hoger) und in einer dritten Lebensabschnittsphase von Roehlers Biografie erleben kann, die aber eigentlich herzlich störend ist, wenn man doch gerade Spaß gefunden hatte an Berlin-Exzess, Berlin-Muff und so purer Hippielangeweile, dass das Kino nach Patschuli roch, bevor der Wodka alles überschwemmte.

Zerbrechen muss der Film unter dem Spagat zwischen durchaus autobiografischem, durchaus spürbarem Schmerz gefühlter Zurückweisung durch die Eltern und dem großen Abriss der Welten Punk und Hippietum. Potenziert wird diese Überbelastung beim biografischen Anteil durch das ewige Quäntchen von Überzeichnung und Übertreibung, eben dem, was gerade den weltanschaulichen Anteil so schön zu illustrieren vermochte.

Und zuguterletzt: Ich plädiere dafür, dass Tom Schilling den Michael J. Fox-Preis bekommt. Hier spielt er mit ca. 32 Jahren einen fraglosen Neunzehnjährigen, indem er einfach mal eben ein bisschen seine Stirnfalten strafft.

Eine neue Freundin

(F 2014, Regie: François Ozon)

Ich bin Frau
von Wolfgang Nierlin

Der Leichnam einer schönen jungen Frau wird geschminkt, in ein Hochzeitskleid gehüllt und in einen weißen Sarg gebettet. Dazu läuten Kirchenglocken, die von Wagners sogenanntem „Hochzeitsmarsch“ abgelöst werden. François Ozons …

Der Leichnam einer schönen jungen Frau wird geschminkt, in ein Hochzeitskleid gehüllt und in einen weißen Sarg gebettet. Dazu läuten Kirchenglocken, die von Wagners sogenanntem „Hochzeitsmarsch“ abgelöst werden. François Ozons neuer, provozierend abgründiger Film „Eine neue Freundin“ beginnt mit einer Beerdigung, der trotz des Schmerzes Zeichen des Neuanfangs eingeschrieben sind. Claires (Anaïs Demoustier) beste Freundin („für immer und ewig“) Laura (Isild Le Besco), gerade Mutter geworden, ist gestorben. Ozon erzählt die rund zwanzig Jahre dieser Freundschaft, in der Claire im Schatten Lauras stand, in einer kursorischen, ziemlich rasanten Rückblende, der es um das Exemplarische im Leben geht und die man deshalb etwas trivial finden kann. Jetzt, bei der Trauerfeier, sagt Claire unter Tränen, dass sie ihrer verstorbenen Freundin versprochen habe, sich um ihren Mann David (Romain Duris) und die kleine Lucie zu kümmern.

Doch deren erste Begegnung, noch ganz im Bann der Trauer, beginnt mit einem Schock: Als Claire unangekündigt das Haus des Witwers betritt, das in einer vornehmen, amerikanisch anmutenden Vorort-Siedlung mit weiten, lichtdurchfluteten Rasenflächen und vielen Bäumen liegt, begegnet sie einem David in Frauenkleidern, der in dieser Rolle fortan Virginia heißen wird. Bald darauf entfaltet Davids Transvestitismus, von ihm zunächst als nachgeholtes Vergnügen gerechtfertigt, eine ungeahnte Komplexität. Denn David alias Virginia schlüpft damit nicht nur in die Mutterrolle und verarbeitet damit die Trauer um den Verlust seiner geliebten Frau, sondern er entdeckt und entfaltet immer stärker und lustbetonter seine eigene, bislang unterdrückte Weiblichkeit.

Aus dieser Befreiung resultieren zunächst einige komische Passagen, etwa wenn die beiden „neuen Freundinnen“ gemeinsam shoppen gehen. Der überaus produktive französische Filmemacher François Ozon, der in seinen tabubrechenden Filmen immer wieder die existentielle Dimension von Geschlechterrollen und komplizierte Identitätsfragen untersucht, geht in diesem beunruhigenden Diskurs aber noch einen Schritt weiter, wenn plötzlich auch Claire die Frau in sich neu entdeckt. Claires intensivierte Weiblichkeit, sowohl ausgedrückt in einer leidenschaftlicheren Sexualität mit ihrem eher gewöhnlichen Mann Gilles (Raphaël Personnaz) als auch im anfangs noch geleugneten, auf ihre „neue Freundin“ Virginia gerichteten Begehren, provoziert nicht nur eine „gleichgeschlechtliche“ Liebesgeschichte der etwas anderen Art und damit schließlich auch das Bild einer neuen Familie; sondern mit dieser Lust tritt sie unterbewusst auch aus dem Schatten ihrer verstorbenen Freundin.

Die Trauerarbeit der beiden Protagonisten erfährt so eine ungeahnte und zugleich verstörende Wendung: Lauras früher Tod katalysiert gewissermaßen die jeweilige „Neugeburt“ von David und Claire als Frau. Ozon verknüpft in seinem irritierend vielschichtigen Film, der lose auf der Kurzgeschichte „The New Girlfriend“ von Ruth Rendell basiert und den er zuerst „Ich bin Frau“ betiteln wollte, melodramatische und märchenhafte Elemente und wechselt dabei immer wieder die Tonlage zwischen komischen und tragischen Passagen. Zur letztlich nicht nur gesellschaftspolitischen Dimension seine Films hat der Regisseur erklärt: „Das Wichtigste ist zu sehen, wie jeder die Andersartigkeit des Anderen akzeptiert und seine eigene Identität findet, jenseits von Geschlechterdefinitionen.“

Five Ways to Dario

(D / AR / MEX 2010, Regie: Dario Aguirre)

Ich bin eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu!
von Sven Pötting

Dario Aguirres Geschichte beginnt Ende der 1990er Jahre, als er sich in eine Deutsche verliebt und ihretwegen sein Geburtsland Ecuador verlässt, um künftig in der Heimat seiner Freundin zu leben. …

Dario Aguirres Geschichte beginnt Ende der 1990er Jahre, als er sich in eine Deutsche verliebt und ihretwegen sein Geburtsland Ecuador verlässt, um künftig in der Heimat seiner Freundin zu leben. Trotz aller intensiven Bemühungen, sich anzupassen, fühlt sich der Filmemacher auch nach mehr als zehn Jahren in seiner Wahlheimat wie ein Fremder. Das Fremd-sein ist Teil seiner Identität geworden. Er wird das Gefühl nicht los, dass es mehrere Darios in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen gibt: beispielsweise den stets gestressten ecuadorianischen Dario in Deutschland und den deutschen Dario, der nur mit gemischten Gefühlen nach Südamerika reist.

Wer ist er wirklich? Wer will er sein? Um diese Fragen beantworten zu können, um zu sich selbst zu finden, muss er erst einmal weggehen. Er googelt seinen Namen und stellt fest, dass es hunderte von Männern auf der ganzen Welt gibt, die so heißen wie er. Er schreibt einigen seiner Namensvettern Briefe und E-Mails. Fünf antworten ihm und laden ihn zu sich nach Hause ein. Er begibt sich also auf eine Reise um die halbe Welt und besucht die Menschen, die alle seinen Namen tragen. Für zwei Monate darf der Filmemacher an fünf verschiedenen Leben von anderen Darios teilhaben und wird dabei selbst mit neuen Situationen und Herausforderungen konfrontiert, die es für ihn zu meistern gilt.

Durch die Namensverwandtschaft öffnen sich dem Reisenden Türen zu fünf völlig unterschiedlichen Männern und ihren Lebensläufen. Er trifft einen Psychologen in Mexiko, einen taxifahrenden Rentner in der Vorstadt von Buenos Aires, einen Soldaten in Patagonien, einen Maler in der argentinischen Provinzstadt Córdoba und einen Fußballer, der werdender Vater ist, auf Feuerland.

„Five Ways to Dario“ beschreibt eine Bewegung des Protagonisten ins Mögliche – deswegen hat der Film eine gewisse Affinität zu einem Roadmovie. Auf seinem Weg, der als Reise ins Ungewisse begann, findet der Reisende zu sich selbst. Aber nicht nur er: Allen Dario Aguirres, denen man im Film begegnet, bedeuten die Begegnungen eine Bereicherung. Für sie ist der Namensvetter ein Vertrauter, fast wie ein bislang unbekannter Verwandter. Auch ihnen helfen seine Besuche, sich selbst besser zu verstehen oder zumindest Momente des Glücks und der Zufriedenheit in einer von Unsicherheit geprägten Lebensphase zu finden.
Der Reisende wiederum lernt, seine eigene Vergangenheit zu akzeptieren. Er fragt sich nicht mehr, welchen Lauf sein Leben genommen hätte, wenn er in Lateinamerika geblieben wäre. Dies stärkt auch seine Beziehung zu seiner deutschen Freundin. Einem Happy End steht nun nichts mehr im Weg.

„Five Ways to Dario“ ist sowohl eine sehr persönliche Arbeit als auch „typisch lateinamerikanisch“: Die Identitätsfrage, sowohl in persönlicher, nationaler wie auch kontinentaler Hinsicht, ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein zentraler Bestandteil der intellektuellen Diskussion der lateinamerikanischen Länder. Sie hat sich einerseits in einem umfangreichen essayistischen Schrifttum niedergeschlagen, andererseits bildet sie einen wichtigen Impuls des modernen lateinamerikanischen Romans, wie auch für zahlreiche Filme aus verschiedenen Ländern des Subkontinents.

Wie der vorherige Film von Dario Aguirre, „Césars Grill“ (2013), ist auch „Five Ways to Dario“ ein berührendes und gleichzeitig amüsantes Werk. Ein Thema mit existentialistischer Note wird mit leichter Hand und mit der Neigung zum Spielerischen – sichtbar etwa in den immer wieder eingestreuten Animationen – verhandelt. Es wird stringent erzählt, die Beobachtungen verlieren sich niemals im Banalen oder Belanglosen (wie es etwa bei dem Bonusmaterial des Films, den „deleted scenes“ der Fall ist). Die Ausgangssituation des Films ist allerdings nicht ganz so originell. Auch in anderen Dokumentationen wurde Dario Aguirres Experiment in ähnlicher Form bereits durchgeführt – zu nennen sei etwa Alan Berliners „The Sweetest Sound“ (USA 2001). Dennoch ist der bei „Real Fiction“ auf DVD veröffentlichte „Five Ways to Dario“ interessant und sehr sehenswert.

A Most Violent Year

(USA 2014, Regie: J.C. Chandor)

Über den Prozess der Zivilisation
von Ulrich Kriest

New York 1981. Die Stadt versinkt in Gewalt und Korruption. Man sieht davon nichts oder zumindest nicht viel, aber aus dem Radio dringen andauernd irgendwelche Meldungen über Gewalttaten. Statistisch gilt …

New York 1981. Die Stadt versinkt in Gewalt und Korruption. Man sieht davon nichts oder zumindest nicht viel, aber aus dem Radio dringen andauernd irgendwelche Meldungen über Gewalttaten. Statistisch gilt 1981 als das „most violent year“ der Stadtgeschichte. In dieser in mehrfacher Hinsicht winterlichen Atmosphäre leiht sich der mittelständige Unternehmer Abel Morales von orthodoxen Juden eine große Summe Geld, um damit eine Brache am East River zu kaufen, die es ihm erlauben würde, seine Ware direkt in Empfang zu nehmen und zu distribuieren.

Morales macht in Heizöl, das Grundstück würde sein Geschäft in eine neue Dimension befördern, aber die Bedingungen der Kreditgeber sind alles andere als ein Spaß. Morales steht unter Druck, aber dieses Gefühl braucht er als Ansporn. Doch die Situation ist schwierig; die Konkurrenz schläft nicht. Immer wieder werden Laster voller Heizöl auf offener Straße gekapert und später entladen irgendwo abgestellt. Die Polizei scheint machtlos, weshalb die LKW-Fahrer-Gewerkschaft über eine Bewaffnung der Fahrer nachdenkt.

Es geht hier immer wieder um die Präsenz von Waffen, die zwar selten zum Einsatz kommen, aber gerne gezeigt oder einmal auch »hinterlegt« werden. Die Crux des Ganzen: Abel Morales hat es sich zur Aufgabe gemacht, seinen Aufstieg im Rahmen der Legalität zu vollziehen. Er arbeitet »sauber«, lässt sich nicht provozieren und begegnet seinen Konkurrenten als ein Freund offener Worte. Was er dabei (vielleicht) verdrängt: er hat das Geschäft seinem Schwiegervater abgekauft, einem in Brooklyn stadtbekannten Gangster. Und dessen Tochter Anna führt Abel jetzt die Bücher, weshalb es interessant zu werden verspricht, als ein afroamerikanischer Staatsanwalt Ermittlungen aufnimmt, die schließlich zur Anklageerhebung in mehreren Fällen führen werden. Was wiederum die Banken dazu veranlasst, bereits gegebene Kreditzusagen rückgängig zu machen. Keine einfache Situation für einen Mann, der im Alleingang die Geschäftsbedingungen innerhalb einer durch und durch korrupten Branche zu ändern versucht.

Die Zeichen der Zeit stehen jedenfalls auf Neoliberalismus, damals noch verstanden als Modernisierung und Aufbrechen verkrusteter Strukturen. So ist dieser Balanceakt denn auch nur mit größter Besonnenheit zu vollführen, aber gerade diese fast schon bockige Besonnenheit zeichnet Abel Morales aus. Einmal warnt Anna den Staatsanwalt, er möge Abels Ehrlichkeit bloß nicht mit Schwäche verwechseln, aber mehr als einmal lässt sie auch unmissverständlich durchblicken, dass sie Abels Rigorismus für Schwäche hält. Zumal die Ereignisse sie zu bestätigen scheinen.

Erstmals hat der Filmemacher J. C. Chandor („Margin Call“, „All Is Lost“) jetzt eine widersprüchliche Paarbeziehung zu beschreiben versucht – und das Ergebnis ist nicht weit von Shakespeare entfernt: mit Jessica Chastain als Lady Macbeth. Zugleich sieht „A Most Violent Year“ selbst so aus, als stamme er direkt aus der Zeit, in der er spielt. Die Ausstattung ist perfekt, aber die Figuren selbst scheinen sich in Modefragen von Filmen wie „Der Pate“ haben inspirieren lassen. Mehr als einmal fühlt man sich an die Milieustudien des „New Hollywood“ von Coppola, Friedkin und insbesondere Lumet erinnert.

Passend dazu gewählt ist das »dreckige« Gewerbe der Heizöl-Auslieferung, wo noch mit der Hand gearbeitet wird und Firmen-Vertreter von Tür zu Tür gehen, um der Konkurrenz Kunden abzuwerben. Die richtig großen Geschäften werden drüben am anderen Ufer, in Manhattan, abgewickelt: das Hafengrundstück, um das hier alles geht, erlaubt mehr als einmal einen freien Blick auf die bekannte Skyline. Der amerikanische Traum, den Abel Morales träumt, ist demjenigen von Tony Montana in „Scarface“ durchaus vergleichbar, auch deshalb kommt einem Jessica Chastain als Michelle Pfeiffer irgendwie bekannt vor. Ein Film, der die Krise von den Rändern in den Blick nimmt – und dafür seinerseits das Risiko eingeht, als kleiner, unspektakulärer Film wahrgenommen zu werden. Was auch durchaus nicht falsch ist.

Wenn es blendet, öffne die Augen

(A 2014, Regie: Ivette Löcker)

Die Vergessenen der Geschichte
von Nicolai Bühnemann

Die erste, relativ lange Einstellung zeigt die triste, heruntergekommene Fassade eines Plattenbaus. Dazu erklingen aus dem Off zwei Stimmen, eine männliche und eine weibliche. Wenn das Bild ein Relikt eines …

Die erste, relativ lange Einstellung zeigt die triste, heruntergekommene Fassade eines Plattenbaus. Dazu erklingen aus dem Off zwei Stimmen, eine männliche und eine weibliche. Wenn das Bild ein Relikt eines untergegangenen Systems, eines untergegangene Staates, der Sowjetunion, zeigt, dann erzählen die Stimmen dazu von denjenigen, die bei dem Umbruch, der mit diesem Untergang einherging, auf der Strecke geblieben sind, die nicht mitgenommen wurden, sondern die die Geschichte hier in ihrem Plattenbau vergessen zu haben scheint. Von der Freiheit, die man auch zu nutzen wissen muss, erzählen diese Stimmen, von den Drogen.

Yvette Löcker hatte eigentlich, so sagt sie, einen Ensemblefilm drehen wollen über die Generation, die Anfang der Neunziger jung waren im Russland nach der Perestroika, von denen viele drogenabhängig wurden. Herausgekommen ist jedoch das sehr intime Portrait eines einzelnen Paares in Sankt Petersburg: Shanna und Ljoscha, er hat Hepatitis, sie ist HIV-positiv, beide sind heroinabhängig. Der Zuschauer lernt zunächst ihn kennen – als Streetworker. In einer Einrichtung erzählt er einer schwangeren Abhängigen von den Auswirkungen, die die Opiate auf ihr Kind haben werden, das mit Entzugserscheinungen zur Welt kommen wird. Dann ist die Kamera bei ihm in seinem kleinen Auto, auf dem Weg in die Außenbezirke der Stadt, wo er mit seiner Mutter und seiner Freundin Shanna in einer winzigen, beengenden Plattenbauwohnung lebt.

Der Film setzt die Ankunft in der Wohnung, die er im weiteren Verlauf kaum einmal verlassen wird, als harten Kontrast zu Ljoschas Auftritt als Sozialarbeiter. Hier präpariert er zwei Spritzen mit Methadon, das er sich und Shanna injiziert. Die zurückhaltende, betont beiläufige Art, mit der der Film das zeigt, verweigert sich den beiden Extremen einer glamourösen Überhöhung des Konsums auf der einen Seite ebenso wie seiner sozialpädagogischen Dramatisierung auf der anderen. Für Shanna und Ljoscha gehört das Drogennehmen einfach zum Alltag, den Löckers Film sehr einfühlsam, zärtlich und mit riesiger Neugier skizziert. Wie das Essen, die Gespräche und kleinen Stänkereien, das ständige Rauchen, das Fernsehen und das Spielen mit ihrem Hamster.

Genauso wenig wie der Film seine Protagonisten auf ihre Krankheit reduziert, lässt er sie hinter den historischen Implikationen ihrer Biographie verschwinden. Vor der Geschichte und den Drogen steht in „Wenn es blendet, öffne die Augen“ der Mensch. In erster Linie geht es dem Film darum, uns seine Protagonisten näher zu bringen. Und zwar einerseits jeden für sich und andererseits in dem abhängigen und co-abhängigen Beziehungsgeflecht, das die drei miteinander verbindet und dem der Film eher in seinem Funktionieren auf den Grund zu gehen trachtet als in seiner Dysfunktionalität.

Da ist Ljoscha, der sich teilweise in der Beziehung zu Shanna, die – schon rein körperlich – auf ihn angewiesen ist, gefangen fühlt, der noch Träume hat, etwas anfangen möchte mit seinem Leben. Dann Shanna, die weitestgehend resigniert zu haben scheint, die sich ein cleanes Leben, so sagt sie an einer Stelle, gar nicht mehr vorstellen kann. Dennoch und bei aller körperlichen Gebrechlichkeit und seelischen Gebrochenheit liegt in ihrer Freude am Reden, am ausufernden Erzählen eine große Vitalität, der ihr Freund ein ums andere Mal Einhalt gebietet. Allen Widrigkeiten ihrer Situation zum Trotz scheint ihre Beziehung voller – wenn auch oft sehr sarkastischem – Humor zu sein. Schließlich Ljoschas Mutter, aus deren Versuchen, das Leid des Paares zu mildern – etwa indem sie ihnen ihr Essen eher aufdrängt als anbietet – Hilflosigkeit, aber auch eine sehr große, auf etwas raue Art zärtliche Menschlichkeit sprechen. Angesichts des Lebens von Shanna und Ljoscha sehnt sie sich die Sowjetunion zurück, wo es angeblich keine Drogen gab (eine Behauptung ihrerseits, der Ljoscha sogleich widerspricht und dafür auch Beispiele anführt).

Durch den Film ziehen sich Szenen, in denen das Paar durch alte Fotoalben blättert, der Kamera Bilder aus ihrer Jugend präsentiert, so als ginge es darum, sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit zu machen, einen missing link zu finden zwischen einem Lebensalter, das aufgeladen war mit Hoffnungen und Sehnsüchten – und das in ihrem Falle um so mehr, da es mit einem fundamentalen historischen Umbruch korrelierte – und ihrer Gegenwart. Löcker unterstreicht diesen Aspekt, indem sie an mehreren Stellen im Film – unter anderem direkt zu Beginn, nach dem Prolog – ein Punk-Konzert zeigt, das darauf verweist, dass das Drogennehmen vielleicht auch für Shanna und Ljoscha einst etwas von Aufbruch und Rebellion hatte, von Expressivität, statt der erzwungenen Zurückgezogenheit, zu der es sie in der Gegenwart verdammt.

Dass die Kamera meistens sehr dicht an den Gesichtern der beiden ist, wird schon durch die Enge der Wohnung vorgegeben. Gleichzeitig passt diese Nähe aber auch zu der Vertrautheit zu den Figuren, die der Film nach und nach aufbaut. Die letzte Szene zeigt die beiden in einem Park. Er schiebt sie im Rollstuhl. Die Art, wie das inszeniert ist, nacheinander sind ihre Gesichter im Close-Up und in Zeitlupe zu sehen, scheint einen Bruch mit der nüchternen, funktionalen Ästhetik zu bilden, die den Film bis hierher auszeichneten, sich wesentlich mehr den Konventionen des internationalen Arthouse-Kinos anzunähern (meine Assoziation war etwa der französische Publikumsliebling „Ziemlich beste Freunde“). Dieses Ende bietet aber gleich in mehrfacher Hinsicht einen gelungenen Abschluss für einen hervorragenden Film. Zunächst einmal, weil es die Studie der Gesichter der zwei Hauptfiguren fortsetzt, die dem Film die gesamte Laufzeit über am Herzen liegt, und die immer darauf aus ist, mehr in diesen Gesichtern zu finden als nur die offenkundige Zeichnung durch die Krankheit. Dann scheinen diese Bilder in ihrer Erhabenheit aber auch ein Denkmal für zwei Menschen errichten zu wollen, die die Geschichte vergessen zu haben scheint.

Heute bin ich Samba

(F 2014, Regie: Olivier Nakache, Eric Toledano)

Wo ist Schweiger?
von Jürgen Kiontke

Hochzeit, große Torte, Konfetti-Regen: Im Hotel Vier mal Schwuppdiwupp steppt die Luzie. Der Blick fährt durch den Festsaal, landet im Gang, verweilt bei den Kellnern, schaut durch die Küche, landet …

Hochzeit, große Torte, Konfetti-Regen: Im Hotel Vier mal Schwuppdiwupp steppt die Luzie. Der Blick fährt durch den Festsaal, landet im Gang, verweilt bei den Kellnern, schaut durch die Küche, landet in der Spülabteilung. Je weiter sich die Kamera in die Tiefen der Sterne-Gastronomie vorwagt, desto dunkler werden die Menschen. Vorn tanzt weiße Oberschicht, hinten putzt Südsahelzone. Danach kommen nur noch die Mülltonnen. Wäre der Film „Heute bin ich Samba“ hier zu Ende, es winkte der Auslands-Oscar.

Samba (Omar Sy) ist ein Riesenkerl, der schon zehn Jahre in Frankreich verbracht hat. Ein Illegaler, ein Arbeitsmigrant, der seiner Familie Geld schickt, das er in Sans-Papier-Hinterhöfen verdient. Nun soll er abgeschoben werden.

Erstaunlich lange hat man das Gefühl, das könnte hier noch was werden. Die Filmemacher leuchten viele Ecken des illegalen Prekariats aus, und gar nicht schlecht. Fensterputzer, Security, Asphaltierer – Samba absolviert eine Tour de Force durchs Tagelöhnertum. Gut gemacht!

Dann wird’s Slap und vor allem Sticky: Im Hilfeverein trifft er die Burn-out-geschädigte Karriere-Tussi Alice (Charlotte Gainsbourg), die ihr Ehrenamt als Sinn-Reha versteht. Es knistert zwischen schönem Mann und schöner Frau; erweist sich doch der gute Senegalese als einfühlsamer Therapeut (Psycho wie Physio). Eine Menge Skurriles geschieht und so lustige Menschen drumrum: die schlagfertige Pariserin, der lustige Wuschelkopf … Nun schaut auch die Polizei vorbei, aber schon zwinkert die ganz verschmitzt!

Das erinnert ein bisschen an „Ziemlich beste Freunde“, was kein Wunder ist, teilen sich doch beide Filme Regie und Hauptdarsteller. Wurde ersterer mit seinen politischen Unkorrektheiten in der Gegenüberstellung Proll-Ausländer – reicher Behinderter zum Erfolg, richtet es bei „Samba“ die Kombi Aufenthaltsbescheinigung trifft unterfickte Karrierefrau. Hoffentlich stimmt das auch alles! Manchen schwant da was – die Schauspieler sind ganz schön am schauspielern, Gainsbourgs Augen ganz groß vor so viel Realität. Vielleicht doch noch mal ein Kurs belegen an der Lee-Strasberg-Schule? Der allzu smarte Omar Sy sollte sich mal nach einer Rolle als reicher Schnöselrapper umsehen.

Fazit: Schau an, jetzt dreht man auch in Frankreich schon deutsche Komödien. Aber vielleicht ist das alles ja auch genau richtig so. Und gerade – und nur! – das banalisierte Migrantenschicksal erwärmt die Herzen in großer Menge.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 3/2015

Die Reise zum sichersten Ort der Erde

(AT / D / CH 2014, Regie: Edgar Hagen)

Strahlende Zukunft
von Jürgen Kiontke

Der Schacht Konrad hat seine Anwohner schon vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte getrieben. Kein Wunder: Der alte Stollen bei Salzgitter soll als Atommüllendlager dienen. Wenn in den vergangenen Jahren …

Der Schacht Konrad hat seine Anwohner schon vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte getrieben. Kein Wunder: Der alte Stollen bei Salzgitter soll als Atommüllendlager dienen. Wenn in den vergangenen Jahren irgendwo Radioaktivität drauf stand, war meist die Repression nicht weit. Der Atombetrieb fordert seinen Tribut. Hunderttausende Tonnen Material müssten sicher gelagert werden – und sicher heißt: mindestens für die nächsten 100.000 Jahre.

Welche Folgen das hat, lotet der Film „Die Reise zum sichersten Ort der Welt“ aus. Regisseur Edgar Hagen nimmt uns mit auf eine lustige Reise durch die Erdschichten. Er folgt dem Wissenschaftler Charles McCombie, der auf der Suche nach einer passenden Endlagerstätte ist. Unterwegs lernt man Fachleute kennen und Menschenrechtsaktivisten wie Russell Jim von der Yakama Indian Nation. Auf dem Gelände, wo die früher lebte, befinden sich die Reste der Atombombenherstellung im Zweiten Weltkrieg. Dass damals keine Rücksicht auf den aus Indianersicht sakralen Status des Geländes genommen wurde, geschenkt. Die Krebsrate ist dementsprechend. Man hätte trotzdem mal besser hinschauen sollen, sagt Jim: Der heilige Berg ist aus Basalt und neigt zu Rissen, seit neuestem sickert der Müll in den Columbia River.

In Hagens Film geben sich Gesundheitspolitiker, Umweltschützer und Menschenrechtsexperten zwischen Australien und Lüchow-Dannenberg ein Stelldichein. Der hochinteressante Film stellt jede Menge Fragen über die Verantwortung gegenüber künftigen Generationen, Bürgerrechte heute und morgen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal 2/2015

Selma

(GB / USA 2014, Regie: Ava DuVernay)

Gefühliges Ikonen-Kino
von Jürgen Kiontke

Gleich bekommt Martin Luther King den Friedensnobelpreis. Es ist das Jahr 1964, und der US-Pastor hält seine legendäre Rede: „We shall overcome“, mit der er die Zustände in seinem Heimatland …

Gleich bekommt Martin Luther King den Friedensnobelpreis. Es ist das Jahr 1964, und der US-Pastor hält seine legendäre Rede: „We shall overcome“, mit der er die Zustände in seinem Heimatland anprangert, in deren südlichem Teil Schwarze auf offener Straße getötet werden können, ihnen das Wahlrecht versagt wird, obwohl es Gesetz ist.

Ava DuVernay setzt den legendären Vorkämpfer des gewaltlosen Widerstands in Szene. Sie folgt King in die Stadt Selma, wo Aktivisten den Widerstand gegen Rassendiskriminierung vor Ort organisieren. Die Polizei dort ist besonders gewalttätig – wenn die Bürgerrechtsbewegung hier erfolgreich ist, so die Überlegung, kriegen die mordsüchtigen Weißen kein Bein mehr auf die Erde. Dafür müssen sie eigentlich nur das tun, wofür sie bekannt sind: ihre Brutalität ausleben.

Zeitgleich verhandelt King mit dem Präsidenten Lyndon B. Johnson, wie die Rechte der afroamerikanischen Minderheit durchgesetzt werden können. Die Szenen im Weißen Haus zählen – leider – zu den besten des Films: Denn hier werden Widersprüche offenbar. Während die Figuren im Rest dieses wichtigen Films trotz liebevoller Ausstattung recht eindimensional daher kommen. So bleibt nur der Anfang furios.

Und es mag ja logisch sein, dass man einen Meister der gewaltlosen Worte die meiste Zeit beim Reden zeigt, unterbrochen nur von den immer gleichen Prügelorgien der Polizei, ein bisschen FBI und einer zickigen Ehefrau. Dennoch ist das Ergebnis recht bildarm. Etwas mehr Stilvielfalt mit erzählerischen Nebensträngen wäre womöglich überzeugender gewesen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal 2/2015

Cinderella

(USA 2015, Regie: Kenneth Branagh)

Fifty Shades of Colour
von Jürgen Kiontke

Zum Frühlingsanfang: Eine neue Optik verändert die Sicht aufs Kino. Auf „Fifty Shades of Grey“ folgt „Cinderella“. „Haha, schlecht sehen kann ich gut, aber gut hören kann ich schlecht“ – …

Zum Frühlingsanfang: Eine neue Optik verändert die Sicht aufs Kino. Auf „Fifty Shades of Grey“ folgt „Cinderella“.

„Haha, schlecht sehen kann ich gut, aber gut hören kann ich schlecht“ – der Augenarzt ist ganz schön guter Dinge. Schlechte Optik ist seine Geschäftsgrundlage. Ich bin gekommen, weil ich eine Brille habe, die aber nie anziehe. Außer im Kino und bei der „Sportschau“. Auf dem Fußballplatz wär vielleicht auch nicht schlecht… In den letzten Monaten hat die Sehkraft etwas stark nachgelassen, vor allem im Kino. So ganz sicher bin ich aber nicht, ob das nur an mir liegt – schließlich war neulich auch ein großes Filmfest, wo man 40 Filme und mehr schaut. Da guckt man schon mal etwas verschwommen.
Dann gab es „Fifty Shades of Grey“. Bei dem Titel wundert einen ja nichts. Der Film war entgegen landläufiger Meinung nicht so schlecht, auch wenn die Darsteller weniger gut aussehen, als getan wird. Abgesehen vielleicht von Eloise Mumford, die die Mitbewohnerin von Protagonistin Anastasia Steele (Dakota Johnson) spielt.

Das ist zumindest in der ersten Stunde eine recht kapitalismuskritische Studie über die Liebe: Das Paar betreibt einen irrsinnigen Aufwand für seine Zuneigung. Nicht nur wegen Sadomaso: Der Mann muss Milliardär sein, mindestens mit dem Hubschrauber fliegt er die Liebste zum Essen. Beide haben tolle Eltern, obwohl der Junge Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden ein soll – wie das wohl geht?
Anastasia jobbt im Baumarkt, wo sie billig an Kabelbinder und sonstigen SM-Krempel kommt. Und sie hatte, Achtung, jetzt kommt’s: noch keinen Sex. Und das in ihrem Alter (Anfang 20).

Die zweite Stunde hält der Film dann aber nicht durch. Die beiden müssten jetzt die Welt retten – eine Atombombe entschärfen vielleicht oder einen Schatz finden. So bleibt‘s fade und geht als sehr werkgetreue Literaturadaption durch. Mann trifft Frau, Fesseln, leichte Haue, limitierte Schauspielkunst – das reicht so nicht. Vielleicht hätte man die drei Bücher, die es mittlerweile in der Reihe gibt, in einen Film packen können, nach den ersten 600 Seiten wollen die beiden ja heiraten und eine Familie gründen, na siehste.
Ich hatte das Buch übrigens zu Weihnachten gelesen und wollte das ein oder andere Exemplar verschenken. Aber niemand wollte es haben.
Wie es sich gehört, nehmen Trivialromanfüllsel den meisten Raum ein, leicht modifiziert: Wo die Figuren normalerweise die Lippen schürzen, knabbert Anastasia auf ihrer Unterlippe herum. Das macht sie auf jeder Seite mindestens ein Mal. Im Film dann auch. Alles ganz schön grau in grau.

Es geht aber durchaus noch düsterer, neulich konnte ich den Film „Die Nacht und das Kind“ sehen. Dort ging es um Gewalt, Flucht und Vertreibung. Mit dem Kind ging es ja noch eine Weile, dann wurde es aber zusehends – die Nacht! – dunkel. Erst raschelte es noch, dann war Stille. Zehn Minuten stockduster im Kino. „Zehn Minuten? Na, hör mal, das geht doch noch“, sagte mir ein Filmkritiker. Ja, stimmt auch wieder. Aber ob das dann noch Kino ist? „Das Unsichtbare im Film“ heißt ein Buchprojekt, das ich seit einiger Zeit verfolge. „Die Nacht und das Kind“ müsste unbedingt da rein. Da ist ja quasi alles mit gemeint. Da ist sogar der Film unsichtbar. Nicht zu sehen in „Fifty Shades of Grey“ dagegen sind Spannung, Witz, Entertainment. Es gibt Leute, die gehen nur dafür ins Kino.

Was macht eigentlich der Augenarzt im Film? Im „Minority Report“ (USA 2002) baut er Tom Cruise zwei neue Augen ein. Es gibt auch den Film „Im Augenblick der Angst“ (ES 1987), darin sammelt ein Augenarzt, na: Augen. Von seiner üblen Mutter manipuliert, begeht er grauenhafte Morde. „Ich liebe Brillen, Gleitsicht kommt mir nicht ins Haus. Lieber überall ´ne Lesebrille rumliegen haben“, sagt mein Medizinmann. Ob er ein – dunkles – Geheimnis hat? Eigentlich hat er nur Klamotten aus den achtziger Jahren an, sonst ist er ganz nett.
„So, hier ist ihre Verordnung, damit jeense mal zum Optiker. Viel Spaß von hier aus“, sagt er. Und: „Kino ist mir zu anstrengend, ich guck aber gern 'Dr. House!', ich hab mal im Krankenhaus gearbeitet. Ick hab ja ooch ne Praxis.“ Nun habe ich eine neue Brille. Es geht mir richtig gut. Denke ich zumindest nach dem ersten Film, den ich mit dem neuen Sehgerät gesehen habe. Der ist bunt. Erheblich bunter als alles bisher Dagewesene, selbst bunter als „Grand Budapest Hotel“, dieses öde, aber recht farbenhaltige Exponat.

Ich war in „Cinderella“. Kenneth Brannaghs Film ist alles, was sonst nicht ist: knallig, liebreizend, intelligent. In keiner Sekunde weicht er von den Zuschauererwartungen ab – bloß nicht! Sondern liefert, was im Titel versprochen wird: „Cinderella“. Die – gespielt von einer unglaublich aufgeräumten Lily James – ist so furchtbar blond wie schön, jedoch ins Unglück gefallen. Die Schwiegermutter ist ein ekliges Aas, aber gut besetzt (Cate Blanchett), die Stiefschwestern abgrundtief verrottet; die Tiere aber sind graziös und helfen (Mäusefamilie!). Ein Hoch auf die Freundschaft.
Gläserner Schuh, das große Fest, die gute Fee – bald schon naht die Rettung. Schöner Prinz (Richard Madden), Heirat (heterosexuell), und wenn sie nicht gestorben sind, sind sie auch heute noch glücklich. „Fifty Shades of Colour“ sozusagen, das filmische Gegenstück zur SM-Schmonzette: Hier gibt es alle Farben, nur grau, das gibt es bestimmt nicht. Da Winter, hier Frühling. Aschen-Ella fliegt auch nicht mit dem düsteren Firmen-Heli zum Essen, sondern fährt mit der goldenen Kutsche in die rauschende Ballnacht, die die kleine bunte gute Fee aus einem Riesenkürbis gezaubert hat. Aufwand wird auch hier betrieben, aber mit besseren Ergebnissen. Um zwölf ist Schluss mit dem schönen Zauber, Ella ist wieder die schmutzige Ella. Der Prinz muss sie im ganzen Land suchen lassen.

Geweint wird auch. Aber vor Rührung! Und wo sich das Pärchen in „Fifty Shades of Grey“ um das Grauen eines menschenfeindlichen Finanzsystems dreht, da sind die Statements in „Cinderella“ von geradezu zukunftsweisender Qualität. „Nein, wir brauchen keinen Fachkräfteimport“, sagt der junge Prinz, als er die Staatsgeheimnisse übernommen hat und gerade erschreckt in die Staatskasse geschaut hat. „Wir entwickeln, was wir selbst sind. Unsere eigenen Menschen und Ressourcen.“ Gemeinsam mit Cinderella macht er auf good governance, mit guter Peitsche sozusagen. Alle sehen prima aus, und wer sich nicht benimmt, geht einfach ins Exil. Welches ist jetzt die modernere Liebesgeschichte? Na, in dem Land würde man auch gern leben.

Kenneth Brannaghs Film ist ein flammendes Plädoyer für die Monarchie in Zeiten weltpolitischer Unübersichtlichkeit. Vielleicht sollte man sich diesen Vorschlag aus der Kultur ja mal als Modell für die Europäische Union durch den Kopf gehen lassen. Vorausgesetzt, genau die Personen sind an der Macht, die es im Film auch sind. Abgesehen davon: Im Gegensatz zum Film um Anastasia hält der hier locker zwei Stunden durch. Die Sexszenen sind in beiden vernachlässigungswürdig. Von „Die Nacht und das Kind“ mal nicht zu reden, der läuft nachts um drei bei Arte und wird sofort umgeschaltet. Auch deswegen ist er vorgemerkt für das Unsichtbare im Film. Einen Augenarzt hat „Cinderella“ übrigens nicht, der Prinz ist aber auch nur zeitweise mit Blindheit beschlagen.

Dabei sorgt eine neue Optik durchaus schon mal für neue Augen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Jungle World, 19.03.2015

Broadway Therapy

(USA 2014, Regie: Peter Bogdanovich)

Es war einmal vor langer Zeit in Hollywood
von Daniel Bickermann

Es gibt unter den Filmemachern eine kuriose, stets etwas ungelenke Gattung: die sentimentalen Filmgeschichts-Nerds. In der französischen Nouvelle Vague gehörte es für die Regisseure zum guten Ton, als Kritiker oder …

Es gibt unter den Filmemachern eine kuriose, stets etwas ungelenke Gattung: die sentimentalen Filmgeschichts-Nerds. In der französischen Nouvelle Vague gehörte es für die Regisseure zum guten Ton, als Kritiker oder Filmkurator gearbeitet zu haben und die Meisterwerke vergangener Generationen bis ins Detail zu kennen und geschickt zu zitieren. In Hollywood dagegen sind die Filmgeschichts-Romantiker eine vernachlässigte, aussterbende Art – hier geht es ums Jetzt! Jetzt! Jetzt!, nicht um die Reize längst vergangener Filmepochen. Entsprechend schlecht geht es den weniger verbliebenen Filmnerds in Hollywood: Cameron Crowe, mit seinem Interview-Buch mit Billy Wilder und seiner Vorliebe für die Verlierer-Figuren aus dieser Goldenen Ära der Traumfabrik, sucht derzeit sein verlorenes Publikum. Steven Soderbergh, dessen Noir- und Gauner-Experimente eine vergangene Ästhetik neu erfinden wollte, hat das Filmemachen zugunsten der Kunst aufgegeben. Und Sam Mendes, mit seinen Sirk-esken Vorstadtmelodramen und seine Neo-Noirs, lässt sich nur noch für die ebenfalls sentimentale Bond-Reihe von seiner Theaterarbeit ablenken.

Der König unter diesen herrlichen Narren ist aber sicherlich Peter Bogdanovich. Mindestens ebenso sehr Filmwissenschaftler wie Filmkünstler, hat er sich einst an die längst vergessenen Stars seiner Zunft heran geworfen, an John Ford, Howard Hawks, Orson Welles – mit Retrospektiven und Interviewbüchern für die, die noch stehen konnten, und mit Behausung und Alkoholzufuhr für die, die am Ende waren. Stets träumte er davon, mit seinen eigenen Filmen das Goldene Zeitalter wiederzubeleben und Genres wie das Melodrama, den Kostümschinken oder die Screwball-Komödie neu zu erfinden. Ob er es als Ehre oder bittere Ironie empfindet, dass seine Karriere erstaunlich ähnlich verlief wie die seines großen Vorbilds Orson Welles – nach einigen bejubelten Frühwerken kam viel Mittelmaß und einige inspirierte, aber verkannte Altersarbeiten – darüber kann man nur spekulieren.

Nun hat Bogdanovich nach 13 Jahren Pause seinen ersten Film vorgelegt, und im Gegensatz zu anderen, enttäuschenden Revivals großer Indie-Filmemacher (wie Nicolas Roegs unfreiwillig seltsamem „Puffball“ nach 12 Jahren im Exil oder Whit Stillmans lauwarmem „Damsels in Distress“ nach 13 Jahren Abwesenheit von der Leinwand) ist das hier ein Rückkehrerfilm zumindest auf Augenhöhe mit seinem bisherigen Werk. Nun sollte man für die Nicht-Eingeweihten allerdings klarstellen, was das heißt. Denn nur in den seltensten, inspiriertesten Momenten seiner Karriere (beispielweise in seiner Slapstick-Farce „Is was, Doc?“ oder der sträflich unterschätzten Theater-Revue „Noises Off“) ist es Bogdanovich wirklich gelungen, die sichtbare Anstrengung und Gewolltheit seiner stilistischen Eskapaden zugunsten einer eleganten Leichtigkeit abzuschütteln. Diesen beinahe Zen-artigen Zustand der völligen Immersion in eine Filmepoche oder Ästhetik, die nicht mehr den heutigen Sehgewohnheiten entspricht, erreicht sein neuestes Werk „She’s Funny That Way“ nicht durchgehend. Das macht den Film zu einer etwas anstrengenderen, verkopfteren Erfahrung – aber trotzdem zu einer zutiefst lohnenswerten.

Der „Fehler“ besteht wohl darin, dass Bogdanovich den Stoff, den er bereits seit Jahrzehnten in der Schublade hatte, nicht in die heutige Zeit transportiert bekommt, wie ihm das mit „Is Was, Doc?“ in den Siebzigern oder „Noises Off“ in den Achtzigern gelungen ist. Die Ensemble-Farce „She’s Funny That Way“ um eine Prostituierte, die ein Schauspiel-Engagement erhält und anschließend durch einen Figurensumpf mit einem fremdgehenden Theaterregisseur, einem eifersüchtigen Stammkunden, einem treudoofen Autor und ihrer hysterischen Therapeutin navigieren muss, wirkt, im Guten wie im Schlechten, wie ein Rückfall in die Geschlechtersatiren der 30er oder 40er, mit vertauschten Hotelzimmern, verwechselten Identitäten, Ohrfeigen, Hunden und generell genüsslichem Knallchargentum. Die Schauspieler legen da freudig und größtenteils erfolgreich noch eine Nostalgie-Schippe mit drauf: Imogen Poots gibt die großäugige, großmäulige Hure mit dem Herz aus Gold, die sicherlich nur ein Zelluloid-Klischee ist; Owen Wilson stottert und irrlichtert in seinem besten Woody-Allen-Pastiche, und die praktisch totgesagte Jennifer Aniston beweist ungeahntes Talent, indem sie alle Regler auf 11 dreht und damit beinahe den Film sprengt. Dazu kommen Cameos von alten Bogdanovich-Gefährten wie Tatum O’Neal und Cybill Shepherd oder von aktuellen Stars wie Michael Shannon, der einen so glorios unnötigen Mini-Auftritt für einen so absurd nebensächlichen Oneliner hat, dass man vor Freude japst. Es ist also kein Meisterwerk geworden, das uns beweisen könnte, wie zeitgemäß und passend manche vergessenen filmischen Strategien für die Darstellungen der heutigen Gesellschaft wären. Es fühlt sich eher so an, als würde man eine verschollene Kuriosität wiederentdecken (vielleicht ein Nebenwerk von Preston Sturges), die zweifelsohne von größtem Unterhaltungswert ist, aber uns auch stets an ihr Alter erinnert.

Doch, wie gesagt, das ist nicht das schlechteste Gefühl, das man beim Ansehen eines Films haben kann. Tatsächlich scheint diese leichte Angestaubtheit sogar Teil von Bogdanovichs Agenda zu sein, zumindest spielt er in einigen Momenten durchaus geschickt damit. Beispielsweise gibt er dem Film eine bewusst illusionsbrechende Rahmenhandlung in Form eines Interviews über die Anfänge einer jungen Schauspielerin. Diese, es ist natürlich die vermeintliche Ex-Prostituierte, die es inzwischen nach Hollywood geschafft hat, bekennt sich im Gespräch offensiv zu den Werten des traditionellen Hollywood und beschwört mit beinahe heiligem Ernst die alte Weisheit, dass eine Geschichte erlogen, albern und konstruiert sein darf, solange sie nur unterhaltsam ist – ganz besonders eine Lebensgeschichte. Es geht gar nicht um Abbildung von Realität, sondern um die Perpetuierung von Mythen und den Umgang mit liebevollen Stereotypen. So ist es nicht verwunderlich, dass Wes Anderson und Noah Baumbach unter den Produzenten waren, und ebenso wenig sollte es eigentlich überraschen, dass ausgerechnet Quentin Tarantino einen Gastauftritt hat. Vielleicht geht es dem Verein von Filmnerds und Fantasten in Hollywood ja doch nicht so schlecht, wie man anfangs meinte.

Die langen hellen Tage

(GE / F / D 2013, Regie: Nana Ekvtimishvili, Simon Groß)

Grau und luftig
von Wolfgang Nierlin

„Jeder Georgier sollte eine Waffe haben“, tönt es entfernt und eher en passant aus dem Radio eines Busfahrers. Im Jahre 1992 ist das kaukasische Land an seinen Rändern in kriegerischen …

„Jeder Georgier sollte eine Waffe haben“, tönt es entfernt und eher en passant aus dem Radio eines Busfahrers. Im Jahre 1992 ist das kaukasische Land an seinen Rändern in kriegerischen Konflikten, während sich im Inneren ein gesellschaftlicher Umbruch vollzieht. Es herrscht Mangelwirtschaft, es gibt Versorgungsengpässe und in der Hauptstadt Tiflis, wo der Film „Die langen hellen Tage“ von Nana Ekvtimishvili und Simon Groß spielt, wird in den Schlangen vor der Brotausgabe heftig gerangelt und gestritten. Die Wut der Straße setzt sich in permanenten Händeln innerhalb der Familien fort. In der traditionell patriarchalisch geordneten Gesellschaft kann man die Aggressionen förmlich wandern sehen. Zwischen Stromausfällen und Bohneneintopf kämpft hier jeder gegen jeden, während ein Platzregen niedergeht und die maroden Straßen unter Wasser setzt.

Lange verharrt die Kamera gleich zu Beginn des Films auf dem schönen, stillen Gesicht der 14-jährigen Eka (Lika Babluani), die selbstbewussten Stolz und mutige Unerschrockenheit ausstrahlt. Zwar wirkt Eka in sich gekehrt, gleichwohl ist sie entschieden und eigensinnig. Die Handkamera des renommierten Bildgestalters Oleg Mutu, der zuvor mit Cristian Mungiu und Sergei Loznitsa gedreht hat, ist ihrem forschen, entschlossenen Gang immer dicht auf den Fersen. Aus diesem subjektiven, einfühlenden Blick resultiert eine große Nähe, deren Intensität durch die Dauer der Plansequenzen noch intensiviert wird. Mutu folgt den Bewegungen der Heldin und taucht dabei in die Wirklichkeit des georgischen Alltagslebens ein. Allerdings ist dieses nicht nur grau, zerrüttet und gewalttätig, sondern immer wieder überraschend licht, luftig und warm.

Von eigenen Erlebnissen inspiriert, erzählen Nana Ekvtimishvili und Simon Groß vom Erwachsenwerden inmitten eines rasanten Wertewandels, von der Suche nach weiblicher Identität, von Mädchenfreundschaften und poetischen Gegenwelten. Zwar leiden Eka, deren Vater im Gefängnis sitzt, und ihre enge Freundin Natia (Mariam Bokeria), deren Vater wiederum ein aggressiver Trinker ist, unter den teils chaotischen häuslichen Verhältnissen; trotzdem eröffnen sich ihnen immer wieder Freiräume eines verschworenen, heimlichen Lebens, in denen sich Widerstände und Regelverstöße artikulieren. Mit der Schönheit seiner Protagonistinnen, einer sinnlich-sommerlichen Atmosphäre und der Feier des einfachen Lebens transzendiert der eindrucksvolle Film gewissermaßen die triste Alltagsrealität mit ihren überkommenen, aber noch immer wirksamen Traditionen und Strukturen. Auch wenn diese am Ende auf brutale Weise bestätigt werden, vollzieht sich, von Eka in ihrer beharrlichen Stärke verkörpert, doch auch ein (zumindest individueller) Aufbruch.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Die langen hellen Tage'.

Das ewige Leben

(D / AT 2014, Regie: Wolfgang Murnberger)

Versehrte alte Männer
von Wolfgang Nierlin

Verhärmte, aufgequollene, müde Gesichter blicken uns an. Sie gehören den Wartenden in einem Wiener Arbeitsamt, das mit seinen kalten Fluren und einer gedämpften Atmosphäre typische Tristesse ausstrahlt. Hier sitzt der …

Verhärmte, aufgequollene, müde Gesichter blicken uns an. Sie gehören den Wartenden in einem Wiener Arbeitsamt, das mit seinen kalten Fluren und einer gedämpften Atmosphäre typische Tristesse ausstrahlt. Hier sitzt der ziemlich abgebrannte Simon Brenner (Josef Hader), seit Jahren ohne Job und Einkommen, vor seiner Sachbearbeiterin und formuliert mit mürrischem Understatement, er sei zurzeit in einer „beruflich schlechten Phase“. Derart coole Euphemismen kontert die abgeklärte Fachfrau mit unmissverständlichem Realitätssinn: „Sie sind ein U-Boot.“ Brenners stoische Sicht auf die Wirklichkeit ist eben eine andere. Sein knorriger Eigensinn, seine duldsame Selbstgenügsamkeit sowie eine abgehalfterte Autonomie machen den desillusionierten Außenseiter zum unfreiwilligen Lebenskünstler.

Da trifft es sich nicht schlecht, dass ihm gerade noch rechtzeitig sein seit Jahren leerstehendes Elternhaus in Graz einfällt, das er im strömenden Regen erreicht. Doch das Dach hat ein Loch, die Einrichtung ist ziemlich heruntergekommen und verwahrlost und Strom gibt es auch nicht. Nur eine alte, misstrauische Katze zieht ihre Kreise. Dann besucht Brenner seinen früheren Kumpel Köck (Roland Düringer), einen Entrümpeler und Altwarenhändler, um ihn anzupumpen und ihm eine Pistole zum Kauf anzubieten. Doch Köck ist nicht minder abgerissen; und so rauchen die beiden erstmal zusammen einen Joint.

Der Animals-Song „When I was young“ zieht sich leitmotivisch durch Wolfgang Murnbergers Film „Das ewige Leben“, der erneut nach einem „Brenner-Roman“ von Wolf Haas entstanden ist. Die Erinnerungen an eine ausschweifende Jugend in den siebziger Jahren, vergegenwärtigt durch kurze Flashs, setzen ein, nachdem sich der von Migräne-Attacken geplagte Brenner „versehentlich“ eine Kugel in den Kopf geschossen hat. Mit schwarzem Humor, trockenen Dialogen und einer melancholischen Grundstimmung lässt Murnberger die nicht ganz unkomplizierten Wirkungen der Vergangenheit auf die Ernüchterungen der Gegenwart übergreifen.

Ein Trio ehemaliger Freunde, zu dem sich noch der „bad cop“ Aschenbrenner (Tobias Morett) gesellt, ist auf ungeahnte Weise in Hassliebe miteinander verbunden. Ein misslungener Banküberfall sowie eine gemeinsame Geliebte aus einer verjährten, aber noch nicht vergangenen Zeit, die sehr farbig erinnert wird, führen Jahrzehnte später zu tödlichen Verwicklungen. Die alten, ziemlich desillusionierten Männer dieser souverän inszenierten, pointiert gestalteten Tragikomödie sind allesamt Versehrte. Früher war alles besser („weniger Bürokratie, mehr Persönlichkeit“). Freundschaften enden. Etwas geht weiter. „Jetzt ist schon wieder was passiert.“

3 Herzen

(F 2014, Regie: Benoît Jacquot)

Liebeskranke Implosionen
von Wolfgang Nierlin

Die tiefen, dunklen, deutlich voneinander abgesetzten Streichertöne zu Beginn von Benoît Jacquots Melodrama „3 Herzen“ verheißen nichts Gutes. Eine bedrohliche Schwere und Schicksalhaftigkeit liegen darin, die weit darüber hinausgehen, dass …

Die tiefen, dunklen, deutlich voneinander abgesetzten Streichertöne zu Beginn von Benoît Jacquots Melodrama „3 Herzen“ verheißen nichts Gutes. Eine bedrohliche Schwere und Schicksalhaftigkeit liegen darin, die weit darüber hinausgehen, dass Marc Beaulieu (Benoît Poelvoorde) seinen Zug zurück nach Paris verpasst hat und die Nacht in einer kleinen Provinzstadt verbringen muss. Schon eher klingen aus Bruno Coulais‘ Musik die zukünftigen Liebesschmerzen einer zufälligen Begegnung mitsamt ihren Hoffnungen und Verfehlungen. Kunstvoll ins Bild gesetzt (Kamera: Julien Hirsch) wird sie durch einen Wandspiegel in einer Bar, der den Kontakt zwischen dem aufgekratzten, fahrigen Steuerprüfer und der in sich gekehrten Antiquitätenhändlerin Sylvie Berger (Charlotte Gainsbourg) indirekt vermittelt. In der Nähe liegt also von Anfang an eine Distanz.

Unsicher und nervös, aber auch merkwürdig sprunghaft und ungewöhnlich offen ist dieser erste Dialog zwischen Sylvie und Marc, der sich fortsetzt in einer langen Nacht und ihre Gefühle füreinander wachsen lässt. Dass sich die beiden ein paar Tage später, beim verabredeten Rendezvous in den Tuilerien, verpassen, liegt in der Logik der melodramatischen Konstruktion, die mehr als einmal etwas gewollt forciert erscheint. Man muss das akzeptieren, um sich von den liebeskranken Implosionen dieses Gefühlskinos erfassen zu lassen. Auch die häufigen Perspektivwechsel sowie jener Off-Erzähler, der an wenigen Stellen kurz und knapp aus dem dunklen Nichts auftaucht, um die Handlung zu raffen, liegen in dieser etwas ungelenken Logik. Leider macht Benoît Jacquot an entscheidender Stelle auch vor dem Komödiantischen nicht Halt, wenn er zwei als Witzfiguren dargestellte Chinesen dafür verantwortlich macht, dass der gestresste Marc einen Schwächeanfall erleidet und sein Date verpasst.

Also lernt der gewissenhafte Finanzbeamte, wiederum zufällig, einige Zeit später Sylvies sensible jüngere Schwester Sophie (Chiara Mastroianni) kennen und lieben. Die beiden heiraten, bekommen ein Kind und führen ein „normales, ruhiges Leben“; was in diesem emotionsgeladenen Drama über schicksalhafte Begegnungen, verpasste Gelegenheiten, tiefe Blicke, unmögliches Vergessen sowie ein übermäßiges Leiden an der Liebe natürlich nicht so bleiben kann. Auf dunkle Ahnungen folgt unweigerlich eine Unruhe und Verzweiflung stiftende Realität.

Wenn Sylvie und Marc sich wiederbegegnen, hat er gerade Sophie geheiratet und liegt betrunken auf dem Bett, als er plötzlich förmlich aus dem Dunkel gerissen und ins deutlich verunsichernde Licht gestellt wird. Seine Verletzlichkeit und ängstliche Unruhe, die sich auf den Zuschauer übertragen, erinnern manchmal an das Spiel von Yves Montand in Filmen Claude Sautets. In der sehr melancholischen, seltsam unbehaust und verloren wirkenden Sylvie, die von Charlotte Gainsborug kongenial verkörpert wird, findet er eine Seelenverwandte, die schon bei ihrer ersten Begegnung sagt. „Ich würde gerne in die Wüste reisen.“ Wohin ihrer beider nur kurz dauernde Flucht vor aufgehender Sonne allerdings führt, bleibt ungewiss. Tatsächlich könnte Benoît Jacquots Film „3 Herzen“, so legt der Schluss nahe, auch ein Traum sein oder die Vision eines zwischen Leben und Tod „schwebenden“ Menschen.

Das blaue Zimmer

(F 2014, Regie: Mathieu Amalric)

Ästhetisches Vexierspiel
von Wolfgang Nierlin

„Das Leben ist anders, wenn man es lebt, als wenn man es im Nachhinein zerpflückt.“ Julien Gahyde (Mathieu Amalric), der unter Mordverdacht steht, sagt diesen zentralen Satz zum äußerst gewissenhaften …

„Das Leben ist anders, wenn man es lebt, als wenn man es im Nachhinein zerpflückt.“ Julien Gahyde (Mathieu Amalric), der unter Mordverdacht steht, sagt diesen zentralen Satz zum äußerst gewissenhaften und sehr präzise arbeitenden Untersuchungsrichter (Laurent Poitrenaux), der die Ermittlungen in einem doppelten Mordfall leitet. Dessen kühle, analytische Rekonstruktion einer dunklen Geschichte, die auf Erinnerungen und damit auf die subjektive Wahrheit aller Beteiligten angewiesen ist, schichtet Details auf Details. Und gerade diese fragmentierte, höchst spekulative Analysearbeit macht der französische Schauspieler und Regisseur Mathieu Amalric in seiner filmischen Adaption von Georges Simenons „Das blaue Zimmer“ zum ästhetischen Prinzip.

Aus diesen Details, kurzen Flashs, inneren Bildern und Rückblenden in die Vergangenheit des Protagonisten resultiert nicht nur eine sehr subjektive, letztlich nicht verifizierbare Wahrheit, sondern auch ein erzähltechnisch sehr dicht gefügtes Raum-Zeit-Kontinuum. François Gedigiers ebenso kunstvolle wie virtuose Montage, die Bild und Ton oft voneinander ablöst und asynchron gegeneinander stellt, versetzt die üblichen Koordinaten der filmischen Erzählung in ein freies, assoziatives Spiel. Alles wird zum Ausschnitt, zum Fragment und zur vagen Erinnerung. Überhaupt ist lange nicht klar, worum es in dem Film überhaupt geht, was wiederum die Phantasie des Zuschauers anspornt. Dazu kommt noch, dass sich Mathieu Amalric und sein renommierter Kameramann Christophe Beaucarne für das unübliche, in letzter Zeit von Autorenfilmern aber wieder häufiger verwendete Normalformat (1:1,33) entschieden haben und trotz des engen Bildfensters mit dem Raum und seinen Rändern experimentieren. In erlesen fotografierten Bildern, unterstütz von einem klassisch anmutenden Score (Musik: Grégoire Hetzel), entstehen so immer wieder Verschiebung in den statisch gefügten Arrangements und Bildkompositionen.

In Amalrics ästhetischem Vexierspiel um Wahrheit und Lüge geht es aber zunächst um die leidenschaftliche Affäre zwischen Julien, einem Vertreter für Landmaschinen, und der Apothekerin Esther Despierre (Stéphanie Cléau), die sich am titelgebenden Ort für ihre gemeinsamen Liebesstunden treffen. Dabei wirkt die besitzergreifende, fast bedrohlich erscheinende Esther entschiedener als der sich im Verhör zunehmend abhanden kommende Julien. Als Esthers schwerkranker Mann plötzlich stirbt und Juliens Frau Delphine (Léa Drucker) vergiftet wird, fällt der Verdacht auf die Ehebrecher, deren Verhältnis in dem kleinen Ort nicht lange unentdeckt bleibt. Zwischen öffentlicher Meinung und Intimität, Wahrheit und Lüge entwickeln Mathieu Amalric und seine Koautorin Stéphanie Cléau, die auch privat ein Paar sind, ein spannendes filmisches Rätsel, das seine dunklen Geheimnisse nicht preisgibt.

Whiplash

(USA 2014, Regie: Damien Chazelle)

Düsterer Manipulator
von Wolfgang Nierlin

Am Ende eines langen, dunklen Gangs übt der 19-jährige Musikstudent Andrew Neiman (Miles Teller) auf seinem Schlagzeug. Es sind einsame Exerzitien, die der begeisterte Jazz-Fan in seiner Bewunderung für legendäre …

Am Ende eines langen, dunklen Gangs übt der 19-jährige Musikstudent Andrew Neiman (Miles Teller) auf seinem Schlagzeug. Es sind einsame Exerzitien, die der begeisterte Jazz-Fan in seiner Bewunderung für legendäre Vorbilder wie Buddy Rich und Jo Jones ehrgeizig absolviert. Auch wenn Anflüge von Besessenheit und tiefer Isolation hier bereits aufscheinen, hat sein Eifer zu diesem Zeitpunkt noch eine „gesunde“ Erdung. Der begabte Musiker, am fiktiven Shaffer-Konservatorium in New York immatrikuliert, folgt seinem persönlichen Traum. „Ich möchte großartig sein“, klingt als Wunsch noch relativ unschuldig und unverfänglich, auch wenn sich in ihn bereits Züge einer pervertierten Leidenschaft mischen. Dass Andrews zunehmend rücksichtsloseres Erfolgsstreben und seine Verführbarkeit aus einer Vernachlässigung als Kind resultieren, legt Damien Chazelle im ersten Drittel seines fulminanten Films „Whiplash“ nahe. Da sitzt der mutterlos aufgewachsene, musikverrückte Außenseiter und Einzelgänger einmal im Familienrund und müht sich hilflos damit ab, seine „künstlerischen Leistungen“ in ein angemessenes Verhältnis zu den bewunderten Karrieren seiner Geschwister zu setzen.

Man muss diesen familiären und gesellschaftlichen Erwartungsdruck im Folgenden immer mitdenken, will man Andrews Anfälligkeit für die Manipulationen seines tyrannischen Lehrers Terence Fletcher (J. K. Simmons) psychologisch angemessen verstehen. Der ebenso charismatische wie Furcht einflößende Perfektionist setzt seine Schüler einem knallharten Psychoterror aus und quält sie mit militärischem Drill bis zur Erschöpfung. Fragen nach dem realistischen Gehalt der Darstellung sowie Interpretationen, die darin nur eine konservative Auseinandersetzung mit der amerikanischen Leistungs- und Erfolgsideologie sehen, greifen zu kurz. Denn Chazelles Film spielt in einer parallelen Welt, einer Art Versuchslabor, in dem die Liebe zur Musik nur ein Vehikel ist für die Inszenierung eines abgründigen Machtkampfes, der sich zu einem unentschiedenen Duell auswächst. So wie Andrews Streben aus einer unterdrückten Kränkung kommt, resultiert Fletchers Sadismus aus verdrängtem Schmerz und ungelöster Trauer.

Wenn der sehr männliche, stets schwarz gekleidete Fletcher, dessen biographischer Hintergrund weitgehend im Dunkeln bleibt, zum ersten Mal die Szene betritt, erscheint er geheimnisvoll und unberechenbar. Geradezu dämonisch wirken sein wiederholt plötzliches Auftauchen und Verschwinden. Der glatzköpfige, kraftstrotzende J. K. Simmons verleiht dieser zwielichtigen Figur eine ebenso beeindruckende wie beunruhigende Präsenz. Fletchers menschlich fragwürdige Methode, seine Schüler in einem perfiden Wechselspiel von Ermutigung und Demütigung unter permanenten Erfolgsdruck zu setzen und dabei zugleich in die Selbstzerstörung zu treiben, löst großes Unbehagen aus. Ummantelt von mythischen (Jazz-)Erzählungen des Erfolgs, dessen Bedingung die Überwindung von Grenzen sei, und radikal beseelt von der amerikanischen Selbstermächtigungsideologie, verkörpert der düstere Manipulator aber vor allem die Faszination des Bösen, das seine abhängigen Schützlinge (und mit ihnen ein stückweit auch die Zuschauer) in Bann schlägt, unterwirft und an einen Abgrund führt. Die mitreißend suggestive Montage zum Jazzstandard „Caravan“ (inklusive eines virtuosen Schlagzeugsolos), in der Damien Chazelles „Whiplash“ kulminiert, lässt sich jedenfalls schwerlich als finaler Triumph deuten: Verführer und Verführter, Täter und Opfer kommen sich gefährlich nahe, der Beifall inklusive üblicher Siegerposen bleibt aus und die Leinwand wird einfach nur schwarz.

Verstehen Sie die Béliers?

(F 2014, Regie: Eric Lartigau)

Abnabelungsprozess
von Wolfgang Nierlin

Die Zeichen dieses Films zeigen auf Neubeginn und Veränderung. Auf dem idyllischen Bauernhof der Familie Bélier, irgendwo in der malerischen französischen Provinz, wird ein Kälbchen geboren; und weil seine Hautfarbe …

Die Zeichen dieses Films zeigen auf Neubeginn und Veränderung. Auf dem idyllischen Bauernhof der Familie Bélier, irgendwo in der malerischen französischen Provinz, wird ein Kälbchen geboren; und weil seine Hautfarbe dunkel ist und der kritische Milchbauer und Hollande-Anhänger Rodolphe (Francçois Damiens) eher links steht, bekommt es den Namen „Obama“. Dann enden die großen Ferien und die pubertierende Tochter Paula (Louane Emera), die mit hängenden Schultern geht und bald ihre erste Menstruation erleben wird, muss wieder in die Schule. Die Kamera, die eingangs noch im schwebenden Gleitflug Harmonie verströmt hat, nimmt jetzt, während Paula mit Fahrrad und Bus den langen Schulweg absolviert, Fahrt und Tempo auf. Doch zunächst und vor allem sitzt das Mädchen, dessen rote Kopfhörer ihre Musikalität signalisieren, noch in der Falle ihres Alters und kämpft gegen Windmühlen, wie die Cervantes-Lektüre im Spanisch-Unterricht unmissverständlich nahelegt.

Denn die jugendliche Heldin aus Éric Lartigaus französischem Erfolgsfilm „Verstehen Sie die Béliers?“ (La famille Bélier) steht im Zentrum eines von allen Seiten beanspruchten Kräftefelds. Paula ist nicht nur in ihren neuen, aus Paris stammenden Mitschüler Gabriel (Ilian Bergala) verliebt und dafür mancherlei Sticheleien ausgesetzt, sondern trägt darüber hinaus auch noch „das Gewicht des Andersseins“ (Lartigau). Weil sowohl ihre Eltern als auch ihr jüngerer Bruder taubstumm sind, gehört zu ihrer Mithilfe auf dem Bauernhof immer auch die Rolle der (sprachlichen) Vermittlerin. Éric Lartigaus märchenhaftes Adoleszenzdrama gewinnt zu einem großen Teil daraus sein komisches Potential: Etwa beim „arbeitsteiligen“ Käse-Verkauf auf dem Wochenmarkt; oder beim Frauenarzt, wo die noch immer verliebten Eltern wegen eines Genitalpilzes in Behandlung sind; oder auch bei der gebärdensprachlichen Übersetzung der Fernsehnachrichten. Vornehmlich in der sicht- und hörbaren Diskrepanz oder auch Verdoppelung von Zeichen und Worten liegt hier der Witz und werden zugleich Konflikte ausgetragen.

Dass Paula dabei meistens primär für das Kinopublikum „übersetzt“, ist zwar nicht gerade logisch, aber umso notwendiger für die Darstellung der konfliktreichen, mit einer typisch retardierenden Dramaturgie erzählten Geschichte. Diese spitzt sich schließlich zu in der emotional heftig geführten Auseinandersetzung zwischen der sich allmählich abnabelnden Teenagerin und ihren klammernden Eltern. Denn während die musikbegabte Paula sich auf einen Gesangswettbewerb von Radio France in Paris vorbereitet, daran wächst und sich selbst entdeckt, wird sie von ihrem Vater für seine Bürgermeisterkandidatur beansprucht und überdies von ihrer Mutter Gigi (Karin Viard) emotional unter Druck gesetzt.

Gefördert wird Paulas Unabhängigkeitsstreben von ihrem ebenso kompromisslosen wie einfühlsamen Musiklehrer Thomasson (Éric Elmosnino), einem gescheiterten Idealisten und Michel Sardou-Verehrer, der das Mädchen bezeichnenderweise das Chanson „Je vole“ („Ich fliege (aus“)) einstudieren lässt, in dem sich die Thematik des Films gewissermaßen kondensiert. Es gibt aber noch einen zweiten, nicht minder ergreifenden Höhepunkt: Wenn Paula und Gabriel im Duett bei einem Konzert in der Schule vor der versammelten Elternschaft Sardous „Je vais t’aimer“ anstimmen, übernimmt der Film plötzlich die „akustische“, also „lautlose Perspektive“ der Gehörlosen und vermittelt insofern auch den Kinozuschauern – ein verblüffend intensiver Effekt – die von der Musik ausgelösten Gefühle über die bewegten Mienen des zuhörenden Publikums.

Still Alice – Mein Leben ohne Gestern

(USA 2014, Regie: Richard Glatzer, Wash Westmoreland)

Die Kunst des Verlierens lernen
von Wolfgang Nierlin

Zum fünfzigsten Geburtstag von Alice (Julianne Moore) versammelt sich die Familie im vornehmen Restaurant. Die Howlands sind eine sehr normale, glückliche Familie aus dem amerikanischen Akademiker-Milieu: Vater John (Alec Baldwin) …

Zum fünfzigsten Geburtstag von Alice (Julianne Moore) versammelt sich die Familie im vornehmen Restaurant. Die Howlands sind eine sehr normale, glückliche Familie aus dem amerikanischen Akademiker-Milieu: Vater John (Alec Baldwin) arbeitet als Krankenhausarzt; die älteste, schon verheiratete Tochter Anna (Kate Bosworth) ist Juristin, während ihr Bruder Tom (Hunter Parrish) mit seinem Medizinstudium dem Vater nacheifert; nur Lydia (Kristen Stewart), die Jüngste, schlägt etwas aus der Reihe, weil sie als Schauspielerin ihr Glück in Los Angeles versucht. Ihre Mutter Alice wiederum unterrichtet als Professorin für Linguistik an der Columbia Universität in New York. Als bei ihr, der Sprachwissenschaftlerin, eine frühe, erbliche Form der Alzheimer-Krankheit diagnostiziert wird, stellt das die Familie auf eine harte Belastungsprobe.

Doch die beiden Filmemacher Richard Glatzer, der selbst schwer erkrankt ist (an ALS), und sein Arbeits- und Lebenspartner Wash Westmoreland deuten in ihrem berührenden Film „Still Alice – Mein Leben ohne Gestern“ die daraus resultierenden Konflikte nur an. Vielmehr konzentrieren sie sich in ihrer Adaption des Erfolgsromans der Neurowissenschaftlerin Lisa Genova auf die subjektive Perspektive und innere Erlebniswelt der Protagonistin: Wie Alice etwa immer häufiger unter Erinnerungsstörungen leidet, wie sie einmal beim Joggen die Orientierung verliert, bald ihren Beruf aufgeben muss und sich zunehmend ausgegrenzt fühlt. Die Bilder des renommierten französischen Kameramanns Denis Lenoir, der viel für Olivier Assayas gearbeitet hat, unterstreichen auf intensive Weise diese intime Nähe. Bei einem neurologischen Test beispielsweise ist in einer langen Einstellung nur die antwortende Alice zu sehen. In anderen Szenen verschwimmt der Erkrankten ihr Blick auf die Welt; oder sie findet sich isoliert von ihrer Familie in einer Sofa-Sitzgruppe.

Glatzer und Westmoreland parallelisieren in der Struktur ihres Films Alices Krankheitsverlauf mit der Schwangerschaft ihrer ebenfalls positiv auf Alzheimer getesteten Tochter Anna, die Zwillinge erwartet. Das Leben geht weiter, während Alice gegen ihre inneren Widerstände sich und damit ihre Identität immer mehr verliert. „Es ist, als ob unter mir der Boden wegbricht“, sagt sie nach den ersten Anzeichen „kognitiver Einschränkungen“. Später dann, im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung, als sich ihr Alltag immer weniger aufrecht erhalten lässt, fühlt sie sich, „als fände ich nicht mehr zu mir.“ In dieser Phase, in der Alice „die Kunst des Verlierens erlernt“, wie sie in einem bewegenden Vortrag vor der Alzheimer Gesellschaft ausführt, tauchen immer wieder Erinnerungen in Form von Fotos und Super-8-Familienfilmen auf. Schließlich geht es den beiden Regisseuren mit ihrem Film, der sich am Schluss im Weiß der Leinwand auflöst, während die Buchstaben des Titels „Still Alice“ immer kräftiger hervortreten, nicht zuletzt um familiären Zusammenhalt und die Kraft der Liebe. Julianne Moore wurde übrigens für ihre beeindruckende Darstellung der Titelheldin mit dem Oscar ausgezeichnet.

Als wir träumten

(D 2015, Regie: Andreas Dresen)

Ekstasen der Jugend
von Wolfgang Nierlin

„Jeden Tag tanzen die Erinnerungen“, sagt der Ich-Erzähler aus dem Off des Films. Die Worte und Geschichten stammen aus Clemens Meyers Roman „Als wir träumten“, den Andreas Dresen zusammen mit …

„Jeden Tag tanzen die Erinnerungen“, sagt der Ich-Erzähler aus dem Off des Films. Die Worte und Geschichten stammen aus Clemens Meyers Roman „Als wir träumten“, den Andreas Dresen zusammen mit dem Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase fürs Kino adaptiert hat. In einem solchen, heruntergekommenen Lichtspielhaus beginnt auch der gleichnamige Film. Zwischen der aufblitzenden Flamme eines Feuerzeugs und dem Lichtkegel eines Projektors, zwischen Traum und Erinnerung entfaltet sich das Zeitkolorit der sogenannten „Nachwendegesellschaft“ im Leipzig der späten achtziger Jahre und mit ihm das Lebensgefühl einer Clique von Jugendlichen. Dem (Kino-)Traum und der Phantasmagorie verwandt, ähnelt der Film mit seinen ekstatischen Bildern und anarchisch-entgrenzenden Aktionen infolgedessen mehr einer Rauscherfahrung oder einem Drogentrip denn einem Sozialdrama.

Eher untypisch für seine Filme blendet Andreas Dresen in „Als wir träumten“ soziale Hintergründe und eine differenzierte Charakterzeichnung weitgehend aus; auch folgt sein Film keiner linearen Erzähllogik oder durchgehenden Geschichte. Sein episodisches, in einzelne Kapitel gegliedertes Erzählen im Plural ähnelt in seiner zirkulären Struktur eher einem Kreisen, das überdies zwischen den Zeiten und Medien hin und her springt, um sowohl Kontinuitäten als auch Brüche zu imaginieren. Im Rausch energiegeladener Bewegung oder auch im Takt harter, pulsierender Techno-Beats und zuckender Stroboskopblitze dehnt sich die Zeit und zerplatzen schließlich die Träume.

In diesem Sinne leben die etwa 17-jährigen Freunde Dani, Mark, Rico, Pitbull und Paul einen wüsten anarchischen Traum fast ohne Gestern und mit wenig Sorgen um ein Morgen. Mit Wut im Bauch, dem 'Gewitter im Kopf' und unbestimmter Sehnsucht, dabei immer leidenschaftlich, übermütig und unerschrocken, klauen sie Autos, unternehmen im Suff Spritztouren, zerstören fremdes Eigentum und führen heftige Kämpfe mit rivalisierenden Skinheads. Sie werden straffällig und landen im Arrest; und sind doch auch irgendwie nett, wenn sie einer alten Dame die Briketts aus dem Keller hochschleppen oder eine Frau vor ihrem prügelnden Ehemann schützen. In diesen Szenen entstehen Bilder einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die an anderer Stelle fehlen oder ausgespart bleiben; etwa wenn es um Schule, Elternhäuser oder auch das betreiben der Underground-Diskothek „Eastside“ geht. Einerseits filmisch ausschweifend, atmosphärisch dicht und mit viel Drive, surft Dresens neues Werk andererseits nur auf der Oberfläche der Dinge: Ein Kino der Attraktionen ohne inhaltliche Vertiefung. Gerade – aber nicht nur – hinsichtlich des exzessiven Gewaltaspekts und Formen der (Selbst-)Destruktivität wäre es interessant, „Als wir träumten“ mit Burhan Qurbanis kürzlich veröffentlichten Film „Wir sind jung. Wir sind stark.“ zu vergleichen.

Trotzdem legt Andreas Dresen auch diverse motivische Spuren aus. Gleich zu Beginn und noch vor der politischen Wende, als die Freunde im zarten Alter von 13 Jahren als „Schwerverletzte“ an einer Katastrophenschutzübung ihrer Schule teilnehmen, tritt ein Oberst der Nationalen Volksarmee auf, der davon spricht, wie wichtig es sei, sich „ins Kollektiv einzufügen“, um „ein guter Soldat“ zu werden. Genau diesem stromlinienförmigen Geist und Gleichschritt scheinen sich die Freunde vier Jahre später in ihrem Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit mehr oder weniger unkontrolliert zu widersetzen, während sie von der Liebe träumen, in die Sucht abgleiten, sich verlieren und verraten. Darüber hinaus und vor allem handelt Dresens Film aber von Freundschaften, ihren verwegenen Hoffnungen und unscharfen Utopien, die unter dem inneren und äußeren Druck schließlich zerbrechen oder im Drogenrausch untergehen und verlöschen.

Hier finden Sie außerdem ein Interview mit Regisseur Andreas Dresen.

Focus

(USA 2015, Regie: Glenn Ficarra, John Requa)

Diebe und Liebe
von Nicolai Bühnemann

„Gedränge nur dem Dieb gefällt, drum Augen auf und Hand aufs Geld.“ Mit diesem Reim warnte die Berliner Polizei einst vor Dieben in der U-Bahn. Und „Focus“, ein Film über …

„Gedränge nur dem Dieb gefällt, drum Augen auf und Hand aufs Geld.“ Mit diesem Reim warnte die Berliner Polizei einst vor Dieben in der U-Bahn. Und „Focus“, ein Film über Diebe und ihre groß angelegten Betrügereien, lässt es sich im Gedränge, in der Menschenmenge so richtig gut gehen, fühlt sich hier sichtlich pudelwohl. Die Hand am Geld respektive der Uhr oder den Klunkern haben hier nur Nicky (Will Smith) und seine Bande. Unter vorgehaltenem Stadtplan oder die Augen und Ohren ablenkendem Tohuwabohu entwenden sie den Menschen in der Masse allerlei Wertgegenstände. In einem besonders imposanten Clou wird die Kreditkarte aus einer Tasche gezogen, mit dem mitgebrachten Scanner die Daten aus ihr gelesen und sie dann wieder dahin befördert, wo sie herkam. Die Art, wie die Kamera sich dazu verhält, im Gedränge den Überblick über die blitzschnell zugreifenden Hände und mit allerlei Ablenkungsmanövern beschäftigten Körper behält, zeigt eindeutig: Dieser Film verschreibt sich mit Leib und Seele dem Geschäft seiner Hauptfiguren. Dazu passt gut, dass die Diebe und con artists in dieser Gaunerkomödie keinerlei Gegenspieler auf der anderen Seite des Gesetzes haben. Die Gesetzeshüter, die sich ihnen in den Weg stellen könnten, scheinen diese Profis längst abgehängt zu haben. Gefährlich werden können sie sich nur noch untereinander.

Der Film ist in zwei Teile unterteilt. Der erste spielt zunächst in New York, wo Nachwuchsdiebin Jess (Margot Robbie) Nicky aufsucht, um bei ihm, Profibetrüger in langer Familientradition, in die Lehre zu gehen. Von hier aus folgt sie ihm nach New Orleans, wo das alkoholbefeuerte Spektakel rund um den Super Bowl, also das Finale der Football-Saison, beste Voraussetzungen für einen ausgiebigen Beutezug bietet. Beim Finale werden die ergaunerten 1.2 Millionen Dollar dann beim Wetten mit einem offenbar ultrareichen Sitznachbarn beinahe verspielt. Aber eben nur beinahe. Denn hier stellt sich noch der Kontrollverlust vermeintlicher Spielsucht als Teil einer raffinierten Inszenierung heraus, die ihr Ziel, aus eins zwei zu machen, letztlich nicht verfehlt. Man könnte „Focus“ die Art, wie Nicky (und der Film) hier Jess (und den Zuschauer) hinters Licht führen, schon übel nehmen. Wäre da nicht in dieser ersten Hälfte der offensichtliche Spaß an der Gaunerei, mit dem Film und Figuren zur Sache gehen. Dabei ist Margot Robbie und der geradezu kindliche Eifer, mit dem sie alle Tricks des Meisters lernt, noch um einiges toller als Will Smith, der den Bad Boy hier vielleicht einen Tick zu abgeklärt, ein bisschen zu sehr im Wissen um das eigene Charisma gibt. Ein tolles Film-Paar sind die beiden dennoch – und sollen es doch zunächst nicht werden. Denn nach getaner Arbeit setzt Nicky die Frau, die er vorher so bereitwillig unter seine Fittiche und in sein Bett nahm, kurzangebunden und ihrem deutlichen Widerwillen zum Trotz ins Taxi zum Flughafen. Job erledigt. Für Liebe ist in diesem Geschäft und dem Leben, das es mit sich bringt kein Platz.

Die zweite Hälfte dann, die in Buenos Aires und drei Jahre später spielt, spiegelt die erste darin, dass sie auf einen Höhepunkt zuläuft, auf dem sich alles, was bisher geschah, als Teil einer ausgeklügelten Inszenierung erweist. Zunächst scheint es also, als würde die beiden, die sich nur vermeintlich zufällig am anderen Ende der Welt wieder treffen, die Liebe doch noch einholen. Sie knabbert augenscheinlich noch an der Verletzung darüber, dass er sie einst so eiskalt abservierte. Bei ihm scheint sich Reue mit der narzisstischen Kränkung darüber zu vermengen, dass sie bei seiner Ankunft nicht sofort alles stehen und liegen lässt – insbesondere ihren neuen Mann -, um sich wieder in seine Arme zu stürzen. Die zweite ist die lichte Hälfte des Films. Reflektierte Smith‘ Gesicht an einer intimen Stelle in der ersten Hälfte die rot flackernden Lichter durchs Fenster blinkender Leuchtreklamen, dürfen die beiden sich, als sie schließlich doch wieder im Bett landen, nun im durch die Balkontür fallenden Sonnenlicht baden. Das konträre, weil nunmehr sonnige Close-Up von Smith‘ Gesicht inklusive.

Aber natürlich ist der Film zu sehr auf Cleverness und Raffinesse bedacht, um seinen beiden Protagonisten zu einfach Betrug, Geschäftemacherei und Verletzungen den Rücken kehren zu lassen, um es sich auf der Sonnenseite bequem zu machen. Begehren, Eifersucht und das Verlangen nach Nähe und Aufmerksamkeit werden sich zunächst als berechenbare Größen in einem von allen Seiten abgekarteten Spiel herausstellen. Natürlich nur, damit die Zwei in einer immerhin ordentlich weirden, äußerst gebrechlichen letzten Einstellung doch noch zueinander finden können.

Nicht nur in seinem eigentlich dem Film eher nachgelagerten Happy End findet „Focus“ auch Anschluss an einen anderen Film der laufenden Saison: „The Gambler“. Für die männlichen Antihelden im Hollywood von heute ist das Glück nichts mehr, wofür man hart arbeitet oder was man fleißig erstrebt – es wird am Spieltisch gewonnen oder sich anderweitig ergaunert. Die Liebe wird zu einer kleinen Utopie von einem anderen Leben, zur Möglichkeit vielleicht auf ein richtiges Leben im falschen. (Allerdings fällt mit David Finchers „Gone Girl“ auch gleich ein Hollywood-Film aus der unmittelbaren Vergangenheit ein, der eine Gegenerzählung liefert, in der sich das weiße, heterosexuelle Mittelschicht-Liebesglück zur Hölle auf Erden entwickelt.)

Pepe Mujica – Der Präsident

(D 2015, Regie: Heidi Specogna)

Oh, wie schön ist Uruguay!
von Ulrich Kriest

Erinnert sich noch jemand an Heidi Specognas Film „Tupamaros“ von 1996? Damals porträtierte die Filmemacherin einige ehemalige Mitglieder der legendären Stadtguerilla Uruguays, die sich nach dem Ende der Diktatur und …

Erinnert sich noch jemand an Heidi Specognas Film „Tupamaros“ von 1996? Damals porträtierte die Filmemacherin einige ehemalige Mitglieder der legendären Stadtguerilla Uruguays, die sich nach dem Ende der Diktatur und nach teilweise Jahrzehnte langen Gefängnisaufenthalten dafür entschieden hatten, ihre Politik in einem Linksbündnis in der Legalität zu realisieren. Einer der Porträtierten war José Alberto Mujica, einst Mitte der 1960er Jahre Gründungsmitglied der Tupamaros und zuständig für den militärischen Bereich der Guerilla, die ja eher für die Strategie der bewaffneten Propaganda bekannt war – und weniger für politische Morde.

Mujica, genannt „El Pepe“, wurde wiederholt verhaftet, gefoltert, saß anschließend 14 Jahre im Gefängnis und wurde erst 1985 amnestiert. Mujica wurde wieder Bauer und Blumenzüchter und lebte mit seiner Lebensgefährtin Lucia Topolansky, die er im politischen Kampf kennengelernt hatte, ein einfaches Leben vor den Toren Montevideos. „Tupamaros“ zeigte: die lange weggesperrte Stadtguerilla kehrte ins Leben und in die nun gewaltlose, linke Politik unter den konkret herrschenden Bedingungen zurück. Insbesondere Mujica zeichnete sich damals schon durch einen gewissen Pragmatismus und eine Reserve gegenüber „Kaffeehaus-Philosophie“ aus. Was seinerzeit trotzdem niemand ahnen konnte: beide – Mujica und Topolansky – machten in den folgenden Jahren eine erstaunliche Karriere. Der Abgeordnete Pepe Mujica wurde 2005 Landwirtschaftsminister seines Landes, 2009 schließlich sogar zum Staatspräsidenten gewählt, dessen Amtszeit verfassungskonform dieser Tage endete.

Zum Staatspräsidenten ernannt wurde er qua Protokoll von Topolansky, die dadurch selbst zur „First Lady“ Uruguays wurde. Doch nichts läge ferner als dieser Titel, um den Habitus des Paares angemessen zu beschreiben. Auch während seiner Amtszeit hat sich Mujica darum bemüht, sein eigenwilliges Verständnis von Politik und persönlicher Integrität und Authentizität zu »leben«, indem er im besten Sinne »unkonventionell« in der Öffentlichkeit auftritt. Dass es in Uruguay einen Staatspräsidenten gibt, der mit einem Bruchteil seiner Bezüge auskommt und 90% seines Einkommens NGOs spendet, der sich betont einfach kleidet und sich politisch für die Legalisierung homosexueller Lebensgemeinschaften und gegen den Drogenhandel für die staatliche Regulierung des Marihuana-Marktes engagiert, schien den Medien eine Kapriole der Geschichte und taugte insbesondere im Ausland für manche Geschichte.

Auf Einladung des Paares – der Kontakt war nach „Tupomaros“ nie abgerissen – reiste Heidi Specogna mit einem kleinen Team an den Rio de la Plata, führte Gespräche und sammelte Impressionen. Mal hält Mujica eine Rundfunkansprache, mal eröffnet er ein neues Housing-Projekt, mal erledigt er auf dem eigenen Hof anstehende Arbeiten mit dem Traktor. Instinktiv findet er in jeder Situation den richtigen Ton, gibt sich gleichermaßen bodenständig wie gebildet, pragmatisch wie visionär. Mujica und Topolansky wissen, dass sie nicht den Sozialismus in Uruguay einführen können, sondern eher an die Solidarität der Menschen appellieren müssen. Aber sie können vielen Menschen ihre Würde zurückgeben, indem sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten deren Lebensumstände verbessern. „Besiegt ist erst, wer nicht mehr kämpft!“, weiß Mujica aus eigener Erfahrung zu berichten.

Man merkt dem Film schnell an, wo die Sympathien der Filmemacherin liegen, die davon erzählen will, wie Idealismus und Bodenständigkeit –„Lektionen eines Erdklumpens“ lautete einmal der Untertitel des Films – eine Glaubwürdigkeit verleiht, die man leicht mit Charisma verwechseln könnte. Mujica ist ein Macher, der es durchaus legitim findet, auch einmal auf seinen Anspruch auf Freizeit zu pochen und nicht ans Telefon zu gehen. Eine schöne Utopie! Es ist dann ausgerechnet Angela Merkel, die auf unmissverständliche Weise dafür sorgt, dass die Träume des Zuschauers nicht ins Kraut schießen. Anlässlich eines Staatsbesuchs Mujicas in Berlin behandelt sie den älteren, immer leicht nachlässig gekleideten Repräsentanten eines für Deutschland bedeutungslosen Landes mit einer ungeduldigen Herablassung, als wäre Mujica eine lästige Stubenfliege, die nur von den wirklich wichtigen Geschäften abhält. Das ist zwar eine schöne Pointe, die glücklicherweise auch dokumentiert wurde – trotzdem hätte man sich gewünscht, dass die Impressionen, die Specogna in Uruguay gesammelt hat, etwas »politischer« im Sinne einer konzentrierteren Befragung des Politikers ausgefallen wären.

Mujica zum unverschämten Verhalten Merkels zu befragen, wäre interessant, aber aus diplomatischen Gründen wohl aussichtslos gewesen. So viel Profi ist Mujica bei allem Understatement dann doch. Aber insgesamt fällt Specognas Film etwas zu privatistisch aus, um wirklich zu überzeugen. Wenn man Interviews wie dieses liest, dann zeigt sich Mujica ungleich reflektierter als in Specognas Film, der dem Präsidenten vielleicht nah ist, aber keinen Zugang zur Person findet. Stattdessen bleibt vieles nur anekdotisch.

Kingsman: The Secret Service

(USA / GB 2014, Regie: Matthew Vaughn)

Weltrettungsmarkenpflege mittels Snobtopjob
von Drehli Robnik

'Kingsman: The Secret Servivce', eine britische Agentenaction-Comiccomedy in der Regie von Matt Vaughn, gibt sich posttraumatologisch; soll heißen, der Film lässt in seiner ostentativen Heiterkeit zweierlei Anmutung von Trauma in …

'Kingsman: The Secret Servivce', eine britische Agentenaction-Comiccomedy in der Regie von Matt Vaughn, gibt sich posttraumatologisch; soll heißen, der Film lässt in seiner ostentativen Heiterkeit zweierlei Anmutung von Trauma in seiner unmittelbaren Vergangenheit hinter sich. Zum einen sagt er – wie die Ösis zum Abschied – leise Servus (oder vielmehr sagt er laut Servus) zu den an Leib und Seele lädierten SuperheldInnen in Vaughns Vorgängerfilmen, sowohl in 'X-Men: First Class' als auch in 'Kick-Ass' (der bereits, wie nun 'Kingsman', auf einem Comic von Mark Millar basierte); das Faible der beiden Filme für furiose Zeitlupenaction allerdings behält auch der neue bei. Zum anderen setzt 'Kingsman' sich von der heutigen Marke James Bond, die sich ja im Zeichen von Schwäche, Schmerz & Schwindel neu definiert hat, ab und huldigt eher dem Bond-Stil aus den Tagen Roger Moores. 'Moonraker' und so.

Wo zuvor Reibung, Reflexion und Rache regierten, herrscht nun Retro, sowie Lust am flüssigen Ineinandergreifen und -gleiten von Körperhandlungen – mit einem Touch von Buster und Lester (Keaton und Richard) –, vor allem aber herrscht distinktionsselige Freude an schicken Gadgets, Klamotten, Autos und Drinks. Die Geheimagentensekte der Kingsmen investiert mehr in ihre Anzüge und weniger in Verwaltungsbürokratie als die in Sujet, Plot und Tonlage nicht unverwandten Men in Black. Auf der Gegenseite zu diesen Londoner Weltrettern zieht die Fäden ein lustig lispelnder Archvillain (verlässlich: Samuel L. Jackson), der sein Styling, sein Projekt – ökologisch (nämlich durch eine Elitenkult-Lesart der 'Gaia-Hypothese') motivierte Dezimierung der Erdbevölkerung – und sogar noch sein Schicksal nach dem Vorbild alter Agentenfilme modelt. Deshalb hat er als Adlatin eine hübsche Orientalin mit tödlichen Klingenbeinprothesen – eine Art Hybrid aus dem dicken Typ mit dem Stahlklingenhut, dem 'Beißer' namens Jaws und der biegsamen Grace Jones aus jener Art von edelbescheuerten Bond-Filmen, die hier, bis zum Plakatdesign, Pate stehen.

'Kingsman' ist am besten dort, wo er das – insbesondere in heutiger Sicht – eben bescheuert und umständlich geziert Anmutende seiner Vorbilder direkt umarmt, zumal in visuellen Detailgags; wenn die Inszenierung etwa mitten in brutalen Gruppen- und Massenkampfchoreografien einen ausgeschlagenen Zahn oder blutenden Daumen hervorhebt; oder in der mehr pummelig als böse wirkenden, noch dazu stur wiederholten Drohgeste, mit der das Todesstern-artige (ja, Mark Hamill spielt auch mit, bevor er in 'Star Wars' wieder er selbst wird) Flak-Geschütz langsam seine Rohre hebt und auf Flugzeuge richtet, die sich der in standesgemäßer Hochgebirgslage untergebrachten Kommandozentrale des größenwahnsinnigen Superschurken nähern.

Der Rest ist pflichtgemäße Überdrehtheit. Körperkomik und Kolorit sind OK (und sogar jenseitig in der Showdown-Sequenz mit den Köpfen der weltweiten 'Reichen', die reihum zu 'Pomp and Circumstance' wie knallbunte Feuerwerksblüten explodieren – ein Anblick, halb Ressentiment, halb dessen Aufhebung im Farbrausch), die Ausstattung ist wenn auch mit einigem Recht so doch ein bissl sehr stolz auf sich, der Brit- und Glamrock-Soundtrack geht so, die SchurkInnen sind People of Color, alle Guten sind weiß (wollt ich nur mal gesagt haben), der Jungagentendrillplot ist fascho (oder zumindest nervig in seinem Eliten-Getue, bei dem sich zunehmend Mark Strong kantig in den Vordergrund spielt), das Kingsmanierenlernen und Vom-Proll-zum-Snob-Habitustraining des jungen Basecap-Cockney-Adepten (Taron Egerton) ist halblustig, Michael Caine ist auch hier überflüssig, manche Figur stirbt recht unvermittelt, Hauptdarsteller Colin Firth hat unreine Haut (und viele close-ups), und Austin Powers war besser; allerdings hat 'Kingsman' mit 'Give It Up' den fetzigeren KC & The Sunshine-Band-Hit im Tweed-Ärmel.

183 Tage – Der Auschwitz-Prozess

(D 2014, Regie: Janusch Kozminski)

Unangenehm nahe
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Dokumentarfilm beeindruckt durch die schier unerschöpfliche Fülle von Bild- und Archivmaterial, moderiert von einer emotionslosen Stimme, die der formelhaften Juristensprache in Strafprozessen entspricht. Erste Hälfte der sechziger Jahre. Der …

Der Dokumentarfilm beeindruckt durch die schier unerschöpfliche Fülle von Bild- und Archivmaterial, moderiert von einer emotionslosen Stimme, die der formelhaften Juristensprache in Strafprozessen entspricht. Erste Hälfte der sechziger Jahre. Der Auschwitz-Prozess, initiiert gegen die öffentliche Meinung („Wann ist endlich Schluss?“) vom Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, richtet sich gegen ausgewählte SS-Männer vor Ort, Mörder in eigener Sache, Angeklagte wie Wilhelm Boger („Der Teufel von Auschwitz“), angetrieben von purer Mordlust. – Und das ist das Besondere am Film. Es ging (noch) nicht um den Holocaust (ein noch unbekanntes Wort damals), sondern um Menschen, die in den Aufnahmen der Tatzeit, aber vor allem in den Aufnahmen aus dem Prozess mit ihren harmlosen Mittelstandsgesichtern unangenehm nahekommen, gern auch karrieregeile Akademiker, die „nur ihre Pflicht“ taten. Väter waren das oder Großväter – vor den Leichenbergen, die der Film dem Prozessablauf einfügt. Der Kontrast ist schwer erträglich. Er schreit nach einem Ausbruch, nach Emotion. Der Ausbruch wird nicht geliefert, er wird uns auch nicht durch einen Kommentar, wie wir es heute von unseren TV-Medien gewöhnt sind, abgenommen. Los, Du bist jetzt dran! Mach was draus! Du selber!

Der Film wird eingeleitet von Archivmaterial, das die Vorgeschichte der Judenverfolgung und der Mordaktionen zeigt. Der Mittelteil folgte streng dem Prozessablauf bis zum Urteil vom 19. August 1965, beginnend mit der Entscheidung von Fritz Bauer, fürs erste nur wenige Einzeltäter, stellvertretend für alle anderen, zu zeigen. Und für die Vertreter der Staatsanwaltschaft junge Staatsanwälte einzusetzen, die der Auseinandersetzung mit den „Vätern“ ein neues Gesicht gab. Diese Disposition funktionierte. Als ich exakt zum Schluss des Auschwitzprozesses als junger Staatsanwalt, 32, zur Zentralstelle in Ludwigsburg zur Verfolgung von Nazi-Verbrechen abgeordnet wurde, hatte ich diesen Elan, diesen Zorn, mit dem wir was anfangen konnten. Wir haben uns, hallo, politisiert.

Zurück zum Film, dritter Teil. Prof. Dr. Micha Brumlik kommt auf die Einmaligkeit des Holocaust zu sprechen. Völkermorde gibt es zahlreich, viele uneingestanden (die Armenier). Aber den Mord an Millionen industriell auszuschlachten, blieb dem deutschen Volk vorbehalten. – In den Songs von Hans Söllner schließlich wird gefragt, wie wir heute mit Minderheiten umgehen, die zunächst unerwünscht sind, bis dann zur Tat geschritten und das Asylheim angezündet wird.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 04/2015

Elser

(D 2014, Regie: Oliver Hirschbiegel)

Bis zum Anschlag ausgeleuchtet
von Dietrich Kuhlbrodt

Zweifellos ein aufwändiges Produkt aus dem Genre der 'wichtigen' Filme. Regisseur Oliver Hirschbiegel (Der <<TEXT:UNTERSTRICHEN>Untergang') informiert über das Leben des Attentäters Georg Elser und seine Tat. Im November 1939 hatte …

Zweifellos ein aufwändiges Produkt aus dem Genre der 'wichtigen' Filme. Regisseur Oliver Hirschbiegel (Der <<TEXT:UNTERSTRICHEN>Untergang') informiert über das Leben des Attentäters Georg Elser und seine Tat. Im November 1939 hatte er eine Bombe im Münchner Bürgerbräukeller entzündet, leider 13 Minuten nachdem Hitler das Rednerpult verlassen hatte. Aus ist es mit der halbsonnigen Jugendzeit im schwäbischen Dorf. Elser „der Stenz“, wird Sympathiefigur. – Im zweiten Teil wird Elser (Christian Friedel), Opfer der Gestapo und der SS, ausgiebig gefoltert und im April 1945 im KZ Dachau erschossen. Auch sein Gestapo-Vernehmungsbeamter (Burghart Klaußner), wurde, wie wir zum Schluss überraschend erfahren, umgebracht. Er hatte, aha, 1944 zu den Führerattentätern gehört.

Wie nun? Der Film endet mit 2 Attentätern? Lernen wir, dass von den beiden Nazifolterbeamten der eine böse (SS), der andere (Gestapo) gut ist? Und das alles im Film schnell dahingesagt? Immerhin baut der Film vor dem Galgenende eine prime-time-würdige Empathieszene auf, in der der sympathische KZ-Wächter (Michael Krantz) mit den Tränen kämpft. Ja, das geht zu Herzen. Aber grade weils hier funktioniert, wird deutlich, dass der Film, so viel bunte Bilder und sich jagende Szenenwechsel er auch zeigt, den handelnden Personen niemals nahekommt.

Hirschbiegel hat sich zu viel vorgenommen, andererseits zu viel ausgespart. Immerhin ist alles bis zum Anschlag ausgeleuchtet und prononziert gesprochen (federführender Koproduzent ist der SWR). Bloß, wenn schon deutlich davon gesprochen wird, dass Elser Rotfrontkämpfer und KPD-Wähler war, dann möchten wir ein wenig mehr wissen, als dass er im guten schwarzen Ausgehanzug mit nagelneuem Hut ins dörfliche Festzelt geht, um kleidungsmäßig gegen die uniformierte Volksgemeinschaft zu demonstrieren, die sich dort um den Volksempfänger schart, um der Führerrede zu lauschen. Und der Arbeiter Elser, voll im Bürgerlook, lauscht jetzt mit.

Viel Platz und Zeit für Ungereimtes, kaum Platz und Zeit für Verständigung mit dem einsamen Helden Elser. Der Film ist der guten Absichten voll, volkspädagogisch sicherlich 'wichtig', aber halt oberflächlich.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Konkret 04/2015

Die Hüter der Tundra

(D / NO 2013, Regie: René Harder)

Nicht verschwiegene Härten
von Wolfgang Nierlin

„Krasnoschtschelje ist eine andere Welt, ein ganz anderes Lebensgefühl“, sagt Alexandra, die Ich-Erzählerin des Films, aus dem Off. Weit entfernt von der Zivilisation, auf der zu Russland gehörenden Kola-Halbinsel im …

„Krasnoschtschelje ist eine andere Welt, ein ganz anderes Lebensgefühl“, sagt Alexandra, die Ich-Erzählerin des Films, aus dem Off. Weit entfernt von der Zivilisation, auf der zu Russland gehörenden Kola-Halbinsel im nordöstlichsten Teil Europas, liegt das 500-Seelen-Dorf der Samen inmitten der Tundra. Nach der durch die politischen Veränderungen der letzten Jahre forcierten Landflucht ist es wohl eine der letzten Siedlungen, in denen sich die besondere Lebensart, Kultur und Sprache der Ureinwohner erhalten hat. Als Jäger und Hirten leben die Menschen hier noch immer überwiegend von der Rentierzucht, auch wenn sie für ihre Arbeit mittlerweile motorisierte Schlitten einsetzen, um die Herden der Wandertiere auf ihren langen Wegen zu begleiten.

In stimmungsvollen Bildern vermittelt René Harder in seinem Dokumentarfilm „Die Hüter der Tundra“ einen faszinierenden Einblick in eine sehr alte, traditionelle Lebensweise, deren Existenz allerdings vom Verschwinden bedroht ist. Denn internationale Rohstoffkonzerne wollen die Weidegründe der Tundra ausbeuten, was wiederum der Rentierzucht die Grundlage entziehen würde. Eine, die sich dagegen wehrt, ist die eingangs erwähnte Aktivistin Alexandra, genannt „Sascha“, die den Zuschauer mit der Kultur der Samen vertraut macht und gewissermaßen auch in eigener Sache durch den Film führt. Mit großer Nähe und verschworener Unterstützung begleitet Harder die junge Mutter ins samische Parlament sowie auf ihrer länderübergreifenden Suche nach Unterstützern.

Dabei lässt der Filmemacher, der für sein schwieriges Projekt viel Zeit bei den Samen verbracht hat, keinen Zweifel daran, dass er mit seinem Film diesen Kampf unterstützt. Doch trotz teils gestellt oder inszeniert wirkender Dialoge und Anflügen einer romantisch-folkloristischen Idealisierung der fremden Kultur, findet der Film als „Instrument der Aufklärung“ doch immer wieder genug Abstand, um auch die nicht verschwiegenen Härten einer solchen Lebensweise sachlich zu beschreiben. Schließlich formuliert „Die Hüter der Tundra“ auch ein Plädoyer für Heimatverbundenheit: „Wo man geboren wurde, wird man auch gebraucht“, sagt einer der Samen, der aus der Stadt aufs Land zurückgekehrt ist, weil er sich hier freier fühlt. So gibt es am Ende des Films und nach ersten politischen Erfolgen gleich mehrere kleine Hoffnungsschimmer.

Das Mädchen Hirut

(ETH / USA 2014, Regie: Zeresenay Mehari)

Plädoyer für weibliche Selbstbestimmung
von Wolfgang Nierlin

„Niemand steht über den Gesetzen“, sagt die Anwältin Meaza Ashenafi (Meron Getnet) zu einer Klientin, die von ihrem Mann geschlagen wird. Kurz darauf erfährt die ebenso selbstbewusste wie starke Juristin, …

„Niemand steht über den Gesetzen“, sagt die Anwältin Meaza Ashenafi (Meron Getnet) zu einer Klientin, die von ihrem Mann geschlagen wird. Kurz darauf erfährt die ebenso selbstbewusste wie starke Juristin, die in Addis Abeba eine Frauenrechtsorganisation leitet, von dem Fall der 14-jährigen Hirut (Tizita Hagere). Dieser ereignet sich in einiger Entfernung von der äthiopischen Hauptstadt. Auf dem Heimweg von der Schule zu ihrem Dorf wird das Mädchen von berittenen Männern entführt, in einer Hütte eingesperrt und von demjenigen unter ihnen vergewaltigt, der ihr zukünftiger Ehemann werden will. Was unter der Landbevölkerung des ostafrikanischen Staates gängiger Brauch ist und als „Telefa“ bezeichnet wird. Als Hirut am nächsten Morgen in einem günstigen Augenblick fliehen kann und dabei in Notwehr ihren Peiniger mit dessen Gewehr erschießt, wird sie des Mordes angeklagt.

Dieser aufsehenerregende Fall, der sich 1996 tatsächlich ereignet hat und später zu einer Gesetzesreform führte, diente dem äthiopischen Regisseur Zeresenay Berhane Mehari als Vorlage für sein spannendes Justizdrama „Das Mädchen Hirut“ (OT: „Difret“, d. h. sowohl „mutig sein“ als auch „vergewaltigt werden“). Darin stehen sich eine zutiefst patriarchalische, von uralten Traditionen geregelte Gesellschaftsordnung und das moderne Recht auf weibliche Selbstbestimmung unvereinbar, geradezu unversöhnlich gegenüber. Während die Repräsentanten der alten Ordnung den Standpunkt ihrer männlichen Dominanz durch Berufung auf die überlieferte Sitte sowie durch immer neue bürokratische Hürden scheinbar unumstößlich zementieren, lässt die unerschrockene Anwältin trotzt diverser Rückschläge nichts unversucht, um dem Recht Geltung zu verschaffen. Dabei nutzt sie geschickt ihre Beziehungen zur Presse und in die hohe Politik.

Mehari konzentriert seinen unter schwierigen finanziellen und logistischen Bedingungen realisierten Film auf diesen juristischen Machtkampf, bindet diesen aber zugleich ein in die komplexen sozialen Verhältnisse seines Landes, die von Ungleichheit bestimmt sind. So erschweren Armut, Analphabetismus und kulturelle Unterschiede den Prozess der Verteidigung, der in der Konfrontation mit den Vertretern der Anklage dramatisch zugespitzt wird. Zwar gelingt es dem Regisseur dabei, die thematisierten Konflikte zwischen geltendem und überliefertem Recht glaubhaft zu vermitteln, seine Inszenierung wirkt aber manchmal zu schematisch und in der szenischen Auflösung teils zu unausgereift. Deutlich wird das im Hinblick auf plakative Figurenzeichnungen, auffallend unausgespielte beziehungsweise unentwickelte Szenen sowie holprige Ellipsen. Das ändert jedoch nichts an der Relevanz des Themas, das hier ebenso spannend wie emotional vermittelt wird.

Bande de filles

(F 2014, Regie: Céline Sciamma)

Ziemlich perspektivlos
von Wolfgang Nierlin

Zwei Mädchenmannschaften spielen American Football. Die jungen Frauen, überwiegend schwarze Einwandererkinder, wirken in ihrem mit Pads und Schonern ausgestopften Sportdress wie Kriegerinnen. Derart maskulinisiert, wütend und ehrgeizig werfen sie ihre …

Zwei Mädchenmannschaften spielen American Football. Die jungen Frauen, überwiegend schwarze Einwandererkinder, wirken in ihrem mit Pads und Schonern ausgestopften Sportdress wie Kriegerinnen. Derart maskulinisiert, wütend und ehrgeizig werfen sie ihre Körper in den Kampf um den ovalen Ball. Ihre fließenden, geschmeidigen Bewegungen, in Zeitlupe stilisiert festgehalten und segmentiert sowie in musikalische Endlosschleifen verwoben, verdichten sich zu einem hymnisch-träumerischen Clip. Bis der Jubel der Siegerinnen, vermischt mit den Gratulationen der Unterlegenen, sich allmählich in einem allgemeinen Stimmengewirr auflöst. Dessen freudige Ausgelassenheit dauert noch an auf dem abendlichen Heimweg in eine der Pariser Banlieues, verstummt dann aber abrupt, als sie in der Nähe ihres Wohnblocks auf Gruppen herumlungernder junger Männer treffen und sich schließlich nach und nach voneinander verabschieden.

Céline Sciamma beginnt ihren bemerkenswerten Film „Bande de filles“, in dem sie sich (nach „Water Lilies“ und „Tomboy“) erneut mit dem Thema Adoleszenz und der Konstruktion von Identität beschäftigt, mit einem Bild weiblicher Stärke, Freiheit und Gemeinschaft. Das alles wird mehr oder weniger einkassiert, wenn die 16-jährige Protagonistin Marieme (Karidja Tourè) nach dem Sport die Wohnung ihrer Familie betritt, wo sie mit zwei jüngeren Schwestern, einem älteren Bruder und der Mutter lebt. Diese arbeitet als Putzkraft, der Vater ist abwesend und so gibt Mariemes Bruder unmissverständlich und brutal den Ton an. Unter diesem Macho-Regiment verstummt die Freude der Mädchen, strebt jede ihrer Bewegungen und Äußerungen ins möglichst Unauffällige. Selbst ihre Zuneigung zu dem gleichaltrigen Ismaël (Idrissa Diabaté) muss Marieme verstecken, weil dieser mit ihrem Bruder befreundet ist. Als sie schließlich wegen mangelhafter Leistungen auch noch die Schule verlassen muss, erfährt ihr Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Anerkennung einen erheblichen Rückschlag.

„Ich will normal sein“, schleudert Marieme noch der Lehrerin entgegen, bevor sie von einer coolen Mädchen-Gang aufgefangen und aufgenommen wird. Deren Styles und Moves, körperliche Inszenierungen und Posen, provozierenden Sprüche und respekteinflößend konfrontative Art faszinieren die junge Frau, geben ihr Halt und Mut – und spiegeln eine ganz andere Form von „Normalität“. Fortan nennt sich Marieme „Vic“ (für Victory), wechselt die Klamotten und folgt dem Motto ihrer Anführerin „Lady“ (Assa Sylla), die eigentlich Sophie heißt: „Du musst das tun, was du willst.“ Und so ziehen die Mädchen als Clique durch Einkaufspassagen, begehen kleinere Diebstähle, liefern sich Wortgefechte und Prügeleien und hängen in gemieteten Hotelzimmern ab, die als Refugien und Gegenwelten ihrer geheimen Sehnsüchte und verschworenen Phantasien fungieren. In einer der schönsten und intensivsten Szenen sehen wir sie dort, wie sie, glamourös gestylt und in blaues Licht getaucht, zu Rhiannas „Diamonds“ ausgelassen tanzen und dabei ihren tristen Alltag transzendieren.

Céline Sciamma erzeugt in ihrem Coming-of-Age-Drama mit solchen Stilisierungen immer wieder Durchbrüche in eine andere Realität, in der die Mädchen auf ihrer Suche nach Orientierung Bilder von sich selbst entwerfen oder erträumen. Um den Freiheitsdrang ihrer jugendlichen Heldinnen möglichst authentisch einzufangen, lässt Sciamma die Laienspielerinnen im vorgegebenen Rahmen der Erzählung improvisieren. Daneben hat sie für ihre gemeinschaftlichen, gewissermaßen raumgreifenden Aktionen das Cinemascope-Format gewählt. So ist „Bande de filles“ trotz seiner Darstellung soziokultureller Ausweglosigkeit, die Marieme nach einer kurzen „Karriere“ als Drogendealerin ziemlich isoliert und perspektivlos zurücklässt, keine typische Milieustudie. Vielmehr beschwört der Film noch in Mariemes Negationen („Ich will dieses Leben nicht!“, lautet etwa ihre Antwort auf Ismaëls Heiratsantrag.) und trotz aller Unbestimmtheit, eine Lust an der Entgrenzung sowie die Notwendigkeit einer genuin weiblichen Gegenwelt.

Ruined Heart: Another Lovestory Between a Criminal & a Whore

(D / PH 2014, Regie: Khavn de la Cruz)

Noch einmal ins Gewühl
von Carsten Moll

Das hier ist also noch so eine Geschichte. Und dieses Bewusstsein über das bereits Dagewesene und die eigene Verwicklung darin hat sich von den filmischen Eingeweiden, dem vorbewussten Viszeralen, längst …

Das hier ist also noch so eine Geschichte. Und dieses Bewusstsein über das bereits Dagewesene und die eigene Verwicklung darin hat sich von den filmischen Eingeweiden, dem vorbewussten Viszeralen, längst bis zum ausformulierten Titel vorgefressen. Deshalb versteht es sich quasi von selbst, dass sich Khavn de la Cruz in seinem neuen Spielfilm „Ruined Heart: Another Lovestory Between a Criminal & a Whore“ auch gar nicht mehr ordentlich-narrativ durch eine eh schon bekannte Story erzählen muss.

Zu Beginn werden aber erst einmal ganz manierlich die Hauptakteure dieser Boy-meets-Girl-Variation im kriminellen Milieu von Manila vorgestellt; fein säuberlich aufgereiht stehen sie da und treten einer nach dem anderen vor, um einen Blick in die Kamera zu werfen und sich dem Publikum vorzustellen. Mehr als einen wiedererkennbaren Look und ein eingeblendetes Schlagwort brauchen diese Typen dabei gar nicht, um ausreichend charakterisiert zu werden: Die Liebhaberin, der Kriminelle, der Freund, die Hure und der Pianist, sie alle werden ihre Rolle in „Ruined Heart“ zu spielen haben und machen im Gegensatz zum ungehorsamen Breakfast Club keinerlei Anstalten, mit dem Stereotyp zu brechen oder ihm auch bloß eine unbekannte Facette hinzuzufügen.

Mit seinen durch und durch berechenbaren Figuren als Konstante erlaubt sich der meist nur als Khavn bekannte philippinische Regisseur und Drehbuchautor das ganze Drumherum einfach aufzulösen und lässt seinen Film munter ins Experimentelle treiben. Entgegen der Konvention gibt es da etwa keine Dialoge zu hören, die Schauspieler_innen haben nur zu gucken und zu gestikulieren. Und wenn dann doch mal gesprochen wird, passiert es vernuschelt im auditiven Hintergrund, überlagert von Sounds und Songs. Stille kennt „Ruined Heart“ seiner schweigsamen Protagonisten zum Trotz nämlich keine und daher mag vielleicht auch der sich spontan anbietende Vergleich mit einem Stummfilm nicht ganz greifen, so präsent wie der Ton hier ist: Von einem Stück Musik zum nächsten springt der Film und arrangiert dabei aus den Videoclips zu Chansons von Stereo Total, zu Pachebels Kanon und Gigue in D-Dur, psychedelischem Rock sowie den NDW-Klängen der Schweizer Band Grauzone eine opernhafte Pop-Collage.

Wer schon Kurz- oder Langfilme des äußerst umtriebigen Khavn gesehen hat (von denen der ebenfalls vom Kölner Filmlabel Rapid Eye Movies koproduzierte „Mondomanila“(2012) wohl der bekannteste, aber sicherlich nicht der interessanteste ist), dürfte sich auch in „Ruined Heart“ schnell zurecht finden. Wobei Zurechtfinden vielleicht das Schlimmste ist, was einem hier überhaupt passieren kann, denn eigentlich lag der Reiz von Khavns Filmen doch immer im Krassen, Chaotischen, Unberechenbaren. Es ging hinein ins Gewühl der Slums von Manila, durch verschlungene Gassen voller Müll und Trash, wo sich beiläufig Aufgeschnapptes und mit viel Stilwillen Inszeniertes ebenso in die Quere kamen wie der Spaß und das Unbehagen des Publikums.

'Manila is a ghastly and weird city. It just fucking smelled of cockroaches. Rats were everywhere. There’s no sewage system, and people have nothing there. People with no arms, no legs, no eyes, no teeth', wusste Claire Danes der Vogue im Interview zu berichten, nachdem sie von Dreharbeiten aus der philippinischen Hauptstadt zurückgekehrt war. Das berüchtigte Zitat machte selbstverständlich auch auf den empörten Philippinen die Runde und tauchte schließlich sogar in „Mondomanila“ wieder auf. Mit seinen grellen Filmen hat Khavn zwischen den fasziniert-angeekelten Blick des Westens und seine Heimat immer wieder eine Lupe gehalten, die uns beim vergnügten Blick auf Sex, Gewalt und moralische Orientierungslosigkeit doch zugleich heimtückisch die Netzhäute verbrannt hat.

In „Ruined Heart“ ist davon nicht viel geblieben. Kameramann Christopher Doyle hetzt routiniert durch halbherzig zugerümpelte Filmsets und erbeutet dabei Bilder, die ganz schön, aber auch ein bisschen belanglos sind. Na klar, Blut und Sperma fließen auch wieder, aber so seltsam antiseptisch, da kann selbst Claire Danes nicht meckern. Kaum Spaß, kein Unbehagen. Das hier ist also noch so ein Khavn-Film.

Wiedersehen mit Brundibar

(D 2014, Regie: Douglas Wolfsperger)

Für eine lebendige Erinnerungskultur
von Wolfgang Nierlin

Sie heißen Annika, Ikra und David, kommen aus schwierigen Familienverhältnissen und haben vor allem deshalb schon einiges durchgemacht in ihren jungen Leben. Es gibt für sie biographische Brüche, die ihren …

Sie heißen Annika, Ikra und David, kommen aus schwierigen Familienverhältnissen und haben vor allem deshalb schon einiges durchgemacht in ihren jungen Leben. Es gibt für sie biographische Brüche, die ihren Lebensweg in ein Davor und ein Danach teilen: In eine Vergangenheit mit Drogenerfahrungen, Angstzuständen und familiären Konflikten einerseits; sowie in deren Bearbeitung andererseits. Die Jugendtheatergruppe der Berliner Schaubühne, die dabei hilft und diesen Prozess begleitet, heißt deshalb „die Zwiefachen“. Unter Anleitung der engagierten Theaterpädagogin Uta Plate proben und erarbeiten sich die Jugendlichen Hans Krásas Kinderoper „Brundibár“, die zwischen 1942 und 1944 über fünfzig Mal im KZ Theresienstadt von jüdischen Kindern aufgeführt wurde. Um ihrer kranken Mutter durch den Verkauf von Milch zu helfen, schließen sich in dem Stück Kinder zusammen, um gegen den mächtigen, titelgebenden Leierkastenmann zu kämpfen.

Was hat die Vergangenheit mit der Gegenwart und dem eigenen Leben zu tun?, fragt Douglas Wolfsperger in seinem neuen Dokumentarfilm „Wiedersehen mit Brundibar“. Denn die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen, ist für ihn längst nicht abgeschlossen oder gar „auserzählt“. Vielmehr gilt für ihn: „Wie gestaltet man eine lebendige Erinnerungskultur ohne ritualisierte Gesten?“ Gerade das ist der Punkt, an dem die anfangs wenig begeisterten, von ihrem diesbezüglichen Geschichtsunterricht angeödeten Jugendlichen Möglichkeiten entdecken, ihren persönlichen Erfahrungshintergrund, gewissermaßen ihre „Brüche“, in die Auseinandersetzung mit der Oper einzubringen. Neben den Gesangs- und Spielproben sind es deshalb vor allem diverse Gesprächsrunden, in denen die jungen Theatermacher ihre persönliche Beziehung zur Kinderoper und der dahinter stehenden Geschichte entwickeln.

„Nach Brundibar“ lautet infolgedessen der Titel ihres aktualisierten, eigene Betrachtungen und Spielszenen integrierenden Projektes. Einen entscheidenden Anschub beziehungsweise Durchbruch in ihrer Beschäftigung erfahren die Jugendlichen aber vor allem durch ihre Begegnung mit der herzensguten, sehr offenen und einfühlsamen Zeitzeugin Greta Klingsberg, die, 1929 in Wien geboren, damals in fast allen Aufführungen die Rolle der Aninka sang und zu den wenigen Überlebenden gehört. Ihre lebendigen Erinnerungen, wachgerufen durch eine gemeinsame, vom Filmteam begleitete Fahrt ins Ghetto Theresienstadt, erlauben den jugendlichen Darstellern persönliche Zugänge und Identifikationsmöglichkeiten. So gelingt über die Arbeit an der Oper hinaus auch eine intime Annäherung an den Holocaust. Greta Klingsbergs Erzählung von der Ermordung ihrer jüngeren Schwester Trude zählt diesbezüglich zu den traurigsten und bewegendsten Momenten des Films, der bei einem Gegenbesuch in Jerusalem endet und dem es nicht zuletzt um Versöhnung geht.

Altman

(KAN 2014, Regie: Ron Mann)

Meister der Ambivalenz
von Ulrich Kriest

„Ich denke, es ist angemessen, seine Filme in einer Linie zu sehen, wenn auch nicht in einer geraden.“ – Norbert Grob Am 20. Februar 2015 wäre Robert Altman, gestorben im …


„Ich denke, es ist angemessen, seine Filme in einer Linie zu sehen, wenn auch nicht in einer geraden.“
– Norbert Grob

Am 20. Februar 2015 wäre Robert Altman, gestorben im November 2006, 90 Jahre alt geworden. Ein guter Grund für den Filmemacher Ron Mann, die höchst eigenwillige und eindrucksvolle, sechs Jahrzehnte überdauernde Karriere Altmans noch einmal in Erinnerung zu rufen. Obwohl Altmans Œuvre gerne dem „New Hollywood“ der 1970er Jahre zugerechnet wird, war der Filmemacher bereits 44 Jahre alt, als er mit „M.A.S.H.“ erstmals einen waschechten „Autorenfilm“ realisieren konnte. Zuvor hatte er das Handwerk zunächst bei Industriefilmen erlernt und sich anschließend als einer der Top-Fernseh-Regisseure („Bonanza“) etabliert, obwohl er bei den Produzenten immer wieder durch Themenwahl oder technische Details aneckte. Der industriellen Arbeit am Konventionellen versuchte sich Altman subversiv zu entziehen: er setzte auf Naturalismus, Sozialkritik, Transgression, Widerstand gegenüber Normen und eine gewisse Beharrlichkeit, die schließlich in eine »konsequente« Karriere voller „Ups“ und „Downs“ mündete. Doch immer mal wieder begegnete der „Zeitgeist“ dem Schaffen des Querkopfs Altman und versöhnte mit den zwischenzeitlichen Durststrecken.

Mann konstruiert seinen Film um unterschiedliche Begriffsbestimmungen des „Altmanesken“, mal eher objektiv, mal eher subjektiv und in Hinsicht auf Altmans Biografie formuliert von Weggefährten wie Sally Kellerman, Lily Tomlin, James Caan, Elliot Gould, Keith Carradine oder Bruce Willis. Ihm geht es dabei (leider) nicht um eine filmhistorisch-kritische Werkanalyse, sondern eher um eine lückenhafte autobiografische Erzählung, die möglich wird, weil Mann auf allerlei Interviews, Home Movies und Fotos aus Altmans Archiven zurückgreifen kann.

Altmans internationale Karriere beginnt 1969 mit der Anti-Kriegs-Farce „M.A.S.H.“, die gegen den Widerstand des Studios durchgesetzt wird und in Cannes triumphiert. Es ist ein durchgängiges Motiv des Films, dass es darum geht, den durch Zufall entstehenden Freiraum als Chance zu nutzen, um künstlerische Visionen zu realisieren. Der gewisse Kniff: Bekannte Stoffe, an denen ein wenig geschraubt wird, bis unangenehme Wahrheiten über Amerika erkennbar werden. „Immer muss transparent werden, wie überholt die alten, gängigen Formen inzwischen sind. Das Übliche (die konventionellen Regeln fürs Erzählen) nimmt Altman als Ausgangspunkt, von dem aus er seine Stoffe zu überprüfen und zu verändern sucht – und dann nimmt er Reißaus: in eine andere, oft die entgegengesetzte Richtung. Das Historische: kritisch; das Mythische: aufklärerisch; das Gesellschaftliche: karnevalesk. Das garantiert weder klarere Positionen noch bessere Antworten, nur andere Perspektiven und irritierende Fragen“, hat Norbert Grob in diesem Zusammenhang etwa formuliert.

Der Erfolg von „M.A.S.H.“ trägt Altman gut durch die siebziger Jahre. Er realisiert in steter Folge Klassiker wie „McCabe & Mrs. Miller“, „Der Tod kennt keine Wiederkehr“, „Nashville“ oder „Eine Hochzeit“, vergessene Filme wie „California Split“ oder „Diebe wie wir“ und produziert nebenher noch die ersten Filme von Alan Rudolph und „Die Katze kennt den Mörder“ von Robert Benton. Doch unvermittelt – Manns Film gibt nur hierfür wenig überzeugende Antworten – endeten die Jahre des Erfolgs mit einer Folge von Flops: „Quintett“, „Ein perfektes Paar“, „Der Gesundheits-Kongreß“ und „Popeye“. Das nimmt sich aus wie eine Variante zu Peter Biskinds „Raging Bulls, Easy Riders“ über Aufstieg und Fall von „New Hollywood“. Altman geriet in die Krise, konnte und wollte keine Blockbuster drehen, wich ins Theater aus und landete erst 1988 mit der politisch-karnevalesken Mockumentary „Tanner“ ein Comeback.

Anfang der 1990er Jahre folgten mit „The Player“ und „Short Cuts“ noch einmal zwei Maßstäbe setzende Ensemblefilme. Altmans Spätwerk – durchaus respektabel – entsteht dann allerdings schon unter erheblichen gesundheitlichen Problemen: Herztransplantation, Schlaganfall. 2006, bei der Verleihung des „Oscars“ für das Lebenswerk – fünf Nominierungen waren zuvor erfolglos geblieben – resümiert der Filmemacher, er habe das Glück gehabt, nie einen Film drehen zu müssen, den er nicht habe drehen wollen.

Dass er trotzdem enorm produktiv war, verleiht Manns gerade einmal 95minütiger Dokumentation eine gewisse Kurzatmigkeit und Oberflächlichkeit. Von vielen späten Filmen erscheinen gerade mal die Titel oder die Filmplakate; die wiederholten Krisen und Altmans flexibler Pragmatismus, der eben nicht nur ein Kämpfer gegen das System war, sondern auch jede Gelegenheit zur Arbeit entschlossen zu nutzen verstand, werden etwas forciert und affirmativ überspielt. Am Ende wünscht man sich trotzdem sofort die umfassende Altman-Retrospektive, wissend, dass dies dieser Tage wohl ein Wunschtraum bleiben wird.

Anlässlich seines 90. Geburtstags dankt die filmgazette Robert Altman mit einem ausführlichen Dossier.

American Sniper

(USA 2014, Regie: Clint Eastwood)

Bring The War Home!
von Ulrich Kriest

Am Ende hat es ihn, der einmal Amerikas tödlichste Waffe war, dann doch erwischt. Aber nicht im Irak, sondern irgendwo in Texas auf einem Schießplatz, als er zusammen mit einem …

Am Ende hat es ihn, der einmal Amerikas tödlichste Waffe war, dann doch erwischt. Aber nicht im Irak, sondern irgendwo in Texas auf einem Schießplatz, als er zusammen mit einem Freund einem traumatisierten Veteranen mit Schießübungen neues Selbstbewusstsein einimpfen wollte. In solcherart Sozialarbeit hatte der Scharfschütze Chris Kyle nach vier mehrmonatigen Kriegseinsätzen im Irak mit seinen legendären 160 bestätigten „Kills“ gerade eine neue Mission gefunden, nachdem er selbst einige Zeit recht autistisch seine Rückkehr ins Zivilleben gepflegt hatte. Gefährlich für Hunde in der Nachbarschaft und von der Familie nicht ansprechbar.

„American Sniper“, die Verfilmung der Bestseller-Memoiren von Chris Kyle unter der Regie von Clint Eastwood und mit dem Produzenten Bradley Cooper in der Hauptrolle, hat in den USA eine schöne, polarisierende Kontroverse auslösen können, weil der Film so tut, als behaupte er eine ambivalente Haltung zwischen Heldentum im Krieg (Super!) und dessen Konsequenzen für die Familie daheim (Nicht so super!). Michael Moore meldete sich früh zu Wort und gab zu bedenken, dass Scharfschützen keine Helden, sondern Feiglinge seien, weil sie aus dem Hinterhalt agierten, während Sarah Palin konterte, die Kyle-Kritiker seien nicht einmal würdig, dessen Schuhe zu putzen.

Teilweise wirkt der Film so, als habe er bestimmte Reaktionen darauf bereits antizipiert und daraufhin die Konzeption leicht abgewandelt. Doch der Reihe nach: zu Beginn des Films liegt Kyle auf einem Dach und gibt einigen Kameraden Deckung, die unten auf der Straße Haus für Haus eine Stadt erobern. Plötzlich treten eine verschleierte Frau und ein Junge auf die Straße, bewegen sich auf die US-Soldaten zu und hantieren dabei derart ostentativ mit einer Granate, dass Kyle zum Eingreifen geradezu gezwungen ist.

Klar, Notwehr, um die unmittelbar bedrohten Kameraden zu schützen. Kyle ringt mit dem Finger am Auslöser, aber der Film springt jetzt erst einmal zurück in die Kindheit des Scharfschützen, als er mit dem Vater in Sachen Jagd initiiert wurde. „Merke, Sohn! Es gibt Wölfe, und es gibt Schafe. Und es gibt Hirtenhunde, die die Schafe vor den Wölfen schützen.“ Cooles Bild für einfach Gestrickte! Kyle wird trotzdem erst einmal Rodeoreiter, dann, als er im Fernsehen Bilder vom Al-Kaida-Terror sieht, zum Patrioten – und nach einer Ausbildung an den Waffen zum Hirtenhund in Uniform. Und dann liegt er wieder auf dem Dach und hadert mit seinem Gewissen. Was für Bestien sind das da im Irak, dass er Kinder und Frauen ausknipsen muss!

Der Film bezieht unmissverständlich Stellung, indem er diese Szene durch zwei Nebenhandlungen ergänzt. Zunächst einmal ist da ein zweiter, irakischer Sniper, der nicht etwa Aktionen der Gegen-Seite flankiert, sondern gleich als terroristisch Agierender eingeführt wird, der blutige »Erfolge« seines Wirkens gleich ins Internet stellt. Während Kyle sich nach einem gelungenen Abschuss nicht einmal gratulieren lässt! Und dann ist da ein Al-Kaida-Kader, den man nur „The Butcher“ nennt, weil er gerne und viel foltert und bei Kindern von Kollaborateuren gerne mal die Bohrmaschine zückt.

Mit solchen Gegnern, von Kyle gerne „Wilde“ genannt, hat man es im Irak zu tun. Da ist ein Gewissen Luxus und wenn Kyle von seinen 160 „Kills“ etwas bedauert, dann, dass es nicht wesentlich mehr gewesen sind. Recht schnell wird dem Film auch klar, dass die Beschreibung der Arbeit eines Scharfschützen nicht sehr filmisch ist. Zu Beginn wird Kyle in ein paar Szenen als Scharfschütze eingeführt, was schnell an ein fades Computerspiel erinnert.

Wunderbar, hätte der Film diesen Stumpfsinn ausgehalten! Hat er aber nicht. Deshalb muss Kyle später vom Dach runter auf die Straße und mit in die Häuser reingehen. Schnell mutiert der Scharfschütze zum Terroristenjäger, der sich auf einen vermittelten Zweikampf mit dem irakischen Sniper einlässt, wie er uns schon einmal aus Stalingrad erzählt worden ist. Als er diese Mission schließlich erfolgreich abgeschlossen hat, ruft er noch während des Gefechts zuhause an und sagt, dass er jetzt bereit ist, nach Hause zu kommen.

„Im Felde unbesiegt“ wird er dann das Opfer eines etwas zwielichtig aussehenden Veteranen, aber das zeigt „American Sniper“ nicht, sondern endet stattdessen mit dokumentarischen Bildern vom Begräbnis des Chris Kyle. Weil er zeige, was die Kriegserfahrung auch mit dem Zivilisten Chris Kyle anrichte, so Clint Eastwood, sei sein Film ein echter Antikriegsfilm. Weil er aber weder von Massenvernichtungswaffen, von den Folterungen Abu Ghraib oder von anderen Kriegsverbrechen spricht, weil er den Krieg zu keiner Sekunde in Frage stellt, sondern lieber vom Adrenalin schwärmt, dass das „being in action“ freisetzt, ist „American Sniper“ ein Film geworden, der das große Ganze nicht beschreiben kann, weil er nur den Tunnelblick ins Zielfernrohr verdoppelt. Das Heldengemälde sagt entschieden und echt stur „Ja“ zum Irak-Krieg – und ist als konventioneller Kriegs- und Propagandafilm handwerklich makellos, also mangelhaft.

Blue Ruin

(USA / F 2013, Regie: Jeremy Saulnier)

Gewaltspirale
von Wolfgang Nierlin

Der fremde Mann ist allein, schweigsam und in sich gekehrt. Er trägt lange, zerzauste Haare und einen struppigen Bart. Und er lebt an einem verlassenen Strand in einem verrosteten, von …

Der fremde Mann ist allein, schweigsam und in sich gekehrt. Er trägt lange, zerzauste Haare und einen struppigen Bart. Und er lebt an einem verlassenen Strand in einem verrosteten, von Einschusslöchern überzogenen alten Pontiac, der in Virginia zugelassen ist. In fremden Häusern genehmigt er sich ein Bad, im Wohlstandsmüll findet er seine Nahrung und durch das Sammeln von Plastikflaschen verdient er sich ein bisschen Kleingeld. Mit seiner eingeübten Praxis und routinierten Geschicklichkeit besitzt dieser bestens adaptierte Aussteiger und Überlebenskünstler eine faszinierende Aura. Doch man spürt und bald wird klar, dass ihn eine dunkle Geschichte verfolgt, dass ihn ein lastendes Trauma aus der Bahn geworfen hat.

Wir erfahren, dass die Eltern von Dwight Evans (Macon Blair) vor Jahren ermordet wurden. Jetzt wird der mutmaßliche Täter vorzeitig aus der Haft entlassen und Dwight sinnt auf Rache. Wie in Trance und dabei lautlos wie ein Indianer nimmt er die Verfolgung von Wade Cleland auf, gleitet verloren und abwesend durch Räume, um schon bald dem Verfolgten auf einer Toilette aufzulauern und ihn zu richten. Mit dieser Selbstjustiz beginnt eine nervenaufreibende Rachegeschichte, deren blutige Spur ins Zentrum einer alten Familienfehde führt; und damit in eine geradezu archaische Abfolge von Gewalt und Gegengewalt.

Jeremy Saulniers routiniert und atmosphärisch dicht erzählter Thriller taucht dafür tief ein in die ebenso finstere wie mörderische Selbstverteidigungslogik der US-amerikanischen Gesellschaft. Mit einem genauen Blick für Details, ironische Übertreibungen und einem unterschwellig absurden Humor huldigt der Regisseur und Kameramann (u. a. für die Filme Matthew Porterfields) dabei Genre-Vorbildern, um nicht nur einen übersteigerten Waffenkult, sondern auch den Irrsinn einer blinden, schier unausweichlichen Gewaltspirale zu entlarven. Mag sein, dass am schonungslos blutigen Ende seines spannungsgeladenen Independentfilms ein Funken Hoffnung aufscheint, aber nur ein sehr kleiner.

Café Olympique – Ein Geburtstag in Marseille

(F 2014, Regie: Robert Guédiguian)

Engel im Wunderland
von Wolfgang Nierlin

Im Gleitflug bewegt sich die Kamera auf eine moderne Wohnanlage zu, fliegt über ihre Rasenflächen und schweift schließlich durch Innenräume, die nur dem Anschein nach behaglich sind. Die schöne neue …

Im Gleitflug bewegt sich die Kamera auf eine moderne Wohnanlage zu, fliegt über ihre Rasenflächen und schweift schließlich durch Innenräume, die nur dem Anschein nach behaglich sind. Die schöne neue Wohnwelt, wie als Imagefilm oder Werbeclip inszeniert, gibt sich aufgeräumt und funktional, genormt und steril. Ein farbloser Ort für – ganz bildlich – „graue Menschen“, deren Leben eingesperrt und überschaubar abgezirkelt ist. Oder entstehen gerade in einem solchen Ambiente Träume und Fluchtphantasien? Die komische Heldin Ariane (Ariane Ascaride) aus Robert Guédiguians neuem Film „Café Olympique, der im französischen Original „Au fil d’Ariane“ heißt, flieht jedenfalls entlang ihres ganz persönlichen Ariadnefadens dieser tristen Realität, in der sie eben noch Kuchen gebacken hat. Weil an ihrem 50. Geburtstag die erwarteten Gäste ausbleiben, setzt sie sich kurzentschlossen in ihren Mini Cooper und nimmt Kurs auf Marseille.

Mit ihrem wunderlichen Blick aus ihren großen Augen wirkt sie ein wenig wie Gelsomina aus Fellinis „La Strada“. Und tatsächlich betritt Ariane kurz darauf eine wunderliche Welt, in der die Menschen, angestachelt von einem mediterranen Lebensgefühl, auf öffentlichen Plätzen unbeschwert tanzen oder in die romantisch-wehmütigen Chansons von Jean Ferrat einstimmen. Als zunächst trauriger Clown, der von einer Pechsträhne verfolgt wird, landet sie im titelgebenden Café l’Olympique“, wo ganze Reisegruppen älterer Touristen verköstigt werde. Hier lernt sie eine ganz besondere Gemeinschaft von Menschen kennen, zu der unter anderen Denis (Gérard Meylan), der ebenso kämpferische wie stoische Besitzer des Restaurants, sein englisch sprechender „Hausdichter“ Jack (Jacques Boudet), der afrikanische Andenkenverkäufer Martial (Youssouf Djaoro) sowie ein Taxifahrer (Jean-Pierre Darroussin) gehören, der Katzen liebt und seinen heulenden weiblichen Fahrgast mit Schuberts „Forellenquintett“ tröstet. Und hier, an diesem besonderen Ort zwischen Meer und den dampfenden Schloten des nahen Industriegebiets, verwandelt sich Ariane in einen helfenden, ja heilenden Engel.

Der französische Regisseur Robert Guédiguian, der für seine klassenbewusst kämpferischen Geschichten aus dem Milieu sogenannter „kleiner Leute“ bekannt ist, entwirft mit leichter Hand und spürbarer Lust am Spiel eine „filmische Phantasie“ über den Möglichkeitssinn der Freiheit. Gerade weil seine durchweg sympathischen Helden „bis zum Hals in der Welt stecken“ und einer „verheerenden Wirtschaft“ ausgesetzt sind, huldigt er auf ebenso bezaubernde wie poetische Weise dem Traum als „Einladung“, so Guédiguian, „eine Art Brüderlichkeit neu zu erfinden, die universell ist.“ Geradezu schwerelos und mit sichtbarem Vergnügen an der Übertreibung plädiert „Café Olympique“ zugleich für das persönliche, selbstverantwortliche Wagnis, das darin besteht, „nicht zu wissen, wo man hingeht“, oder auch darin, die „eine Chance“ zu ergreifen. Nicht zuletzt ist Guédiguians mit zahlreichen musikalischen, literarischen und filmischen Referenzen versehene Werk auch eine „Phantasie“ über das Theater respektive die Kunst, die das Leben rettet und schöner macht – imaginiert als Paradies auf Erden.

Citizenfour

(USA / D 2014, Regie: Laura Poitras)

The Matrix is everywhere
von Ricardo Brunn

Die Fakten sind hinlänglich bekannt: Am 20. Mai 2013 checkt Edward Snowden, ein der Öffentlichkeit bis dahin unbekannter Mitarbeiter der Technologieberatungsfirma Booz Allen Hamilton, in das Mira Hongkong ein. Von …

Die Fakten sind hinlänglich bekannt: Am 20. Mai 2013 checkt Edward Snowden, ein der Öffentlichkeit bis dahin unbekannter Mitarbeiter der Technologieberatungsfirma Booz Allen Hamilton, in das Mira Hongkong ein. Von hier aus verschickt er in den folgenden Tagen mehrere als streng geheim klassifizierte Dokumente des US-Geheimdienstes NSA an Journalisten der Washington Post sowie des Guardian. Am 6. Juni 2013 werden Teile dieser Dokumente veröffentlicht, die ein zuvor ungeahntes Ausmaß an staatlicher Überwachung offenbaren. Den Aussagen Snowdens zufolge, kontrolliert und speichert die NSA in Zusammenarbeit mit anderen Geheimdiensten (GCHQ, DSD) die weltweite Internet-Kommunikation.

Die Dokumentarfilmerin Laura Poitras hat jene Tage im Hotel filmisch begleitet und mehr als ein Jahr nach den Ereignissen zu einem aufregenden Gänsehautkrimi verdichtet. Der Titel „Cititzenfour“ bezieht sich dabei auf das Pseudonym, mit dem der Whistleblower Poitras erstmals im Februar 2013 in verschlüsselten E-Mails kontaktiert hatte.

In ihrem sehr persönlichen Film gibt die Regisseurin einen klaren Einblick in die Spionagestrategien des amerikanischen Geheimdienstes, die benutzten Spähprogramme sowie die Beteiligung großer Provider und sozialer Netzwerke wie Facebook, Google und AOL. Durch die kontrastierende Gliederung der Räume (enges Hotelzimmer, Stadtansichten und Landschaftstotalen, E-Mail-Konversationen in Großaufnahme, dem gezielten Einsatz von On und Off) erzeugt der Film trotz wenigen tatsächlich neuen Informationen eine ungeheure Sogwirkung. Das Schicksal der Regisseurin als unverhofft Involvierte dient dabei als roter Faden auf dem Weg in die langsam einsetzende Paranoia. Vor allem aber der Blick auf Snowden, der in den klaustrophobischen vier Wänden seines Hotelzimmers fast lachhafte Agentenfilmszenen evoziert, wenn er sich unter einem Handtuch versteckt, um ein Passwort einzutippen oder bei Anrufen von der Rezeption plötzlich aufgeregt verstummt und sich bereits in Handschellen sieht, potenziert die unangenehmen Gefühle des Zuschauers. In der Fokussierung auf Snowden wird allerdings ein auf den ersten Blick zentraler Anspruch des Whistleblowers missachtet. Denn es gehe, so betont er selbst, bei all seinen Taten und Äußerungen nicht um ihn, sondern allein um die Informationen. Dem Film hingegen geht es um die Erschaffung eines Mythos‘ und damit einhergehenden klaren Fronten.

Bereits auf dem Plakat zum Film ist Snowden in Großaufnahme und damit als Star des Filmes auszumachen. Entscheidend bei diesem Paratext des Filmes ist, dass Snowden mit einem grün-blauen Farbfilter überzogen und von, über die gesamte Fläche laufendem, Code abgedeckt wird. Das Plakat gibt damit bereits eine eindeutige Rezeption von Film und Person vor. Und die Verweise auf „Matrix“ (R: Andy und Lana Wachowski) sind noch vielfältiger. So inszeniert die Regisseurin die ersten Kontaktaufnahmen mit Snowden ganz im Stile dieses Sciene-Fictions-Streifens von 1999. Dabei begibt sie sich stellvertretend für den Zuschauer in die Position von Neo, der eines Nachts plötzlich eine Nachricht auf seinem Monitor entdeckt. Und wie Morpheus bleibt auch Snowden bis er für Neo „Gestalt“ annimmt, lange Zeit ein Phantom, was ihn umso interessanter macht.

Doch Edward Snowden ist nicht nur das Produkt dieser Inszenierungsstrategien. Er ist selbst ein Regisseur und sich, trotz bubihaften Aussehens, seiner Rolle durchaus bewusst. Wie einst in „Matrix“ lässt er die Auserwählten zu sich in ein Hotel kommen (man erinnere sich an das erste Zusammentreffen von Neo und Morpheus), um ihnen von der „Wüste des Realen“ zu erzählen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Hotel als Ort der Täuschung, als Simulacra eines Zuhauses in „Citizenfour“ auf ähnliche Weise wie in „Matrix“ eingesetzt wird. Bezeichnenderweise hat sich Snowden mit dem Mira-Hotel zudem einen Ort herausgesucht, der die Erkenntnis gewissermaßen im Namen trägt.

Gerade in diesen Hotelszenen versucht der Film, sich als historisches Dokument, als authentischer Beleg, wie alles angefangen hat, zu zeigen. Es ist jedoch nur die Simulation dieses historischen Dokumentes, dem jede Distanz zum Objekt fehlt. Geschichte, das wird in diesen Szenen deutlich, ist nicht nur etwas Gelebtes, sondern etwas Konstruiertes, etwas Dramatisiertes. Es handelt sich eben um eine Story und Snowden weiß sehr genau, wie Geschichten erzählt werden. Im Quasi-Begleitbuch zum Film „Die globale Überwachung – Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen“ von Glenn Greenwald ist nachzulesen, dass „Der Heros in tausend Gestalten“ von Joseph Campbell Snowdens Lieblingsbuch ist. Ein Buch also, das sich mit dem Konzept der Reise des Helden befasst. Und damit der Heldenmythos funktionieren und das Gleichgewicht in der Welt wieder hergestellt werden kann, braucht es einen Gegner. An diesem Punkt driftet der Film vollkommen in eine Erzählung über Gut und Böse ab und löst sich zunehmend vom offenen Blick des Dokumentarischen.

Die im Film beschriebene Kontrollgesellschaft des 21. Jahrhunderts kann jedoch nur aus der Entstehung der Disziplinargesellschaft (Foucault) als Teil eines historischen Transformationsprozesses im Angesicht tiefgreifender politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Veränderungen begriffen werden. Genau dieser Multiperspektivität verweigert sich „Citizenfour“ gänzlich und ist damit allem voran Wasser auf die Mühlen der Verschwörungstheoretiker. Diese können sich unter den Klängen der Nine Inch Nails, mit deren Musik (bezeichnenderweise aus dem Album „Ghosts“) der Film düster schattiert wird, tief in die Geheimnisse der Matrix begeben und ein wenig gegen die Agenten aufbegehren.

Nur in einem Nebensatz darf der Internetaktivist Jacob Appelbaum diagnostizieren, dass sich Freiheit heute in Privatheit transformiert habe und wir diesen Raum des Privaten nach und nach verlieren würden. Dass wir uns mit allergrößter Freiwilligkeit digital entblößen, den steten Aufforderungen, immer mehr zu teilen, zu liken und zu posten bereitwillig nachkommen, oder uns permanent einen Vorteil in Form eines Paybacks vorgaukeln lassen, ist nur eine wesentliche Größe in diesem Zusammenhang. Dave Eggers hat in seinem Roman „Der Circle“ dazu eine brillante Analyse abgeliefert. An keiner Stelle kommt es hier zu einer überzeugenden Argumentation, warum der auf absolute Transparenz ausgerichtete Circle aufgehalten werden sollte. Und der Staat als Zentrum der Macht spielt längst keine Rolle mehr.

„Citizenfour“ ist ein cleveres Marketing-Puzzleteil im Kampf gegen Big Brother 2.0. Seinem aufklärerischen Anspruch und dem ungeheuren Mut Edward Snowdens stehen jedoch die Täuschungsmanöver einer hochgradig manipulativen und kurzsichtigen Inszenierung unvereinbar gegenüber.

Land der Wunder

(I / CH / D 2014, Regie: Alice Rohrwacher)

Zentrifugalkräfte
von Wolfgang Nierlin

Wie Lichtpunkte im Dunkeln, die allmählich größer werden und zu einer kleinen Autokolonne von Jägern gehören, schälen sich die Mitglieder einer Familie im kurzen Aufscheinen der vorbeigleitenden Lichtkegel aus ihren …

Wie Lichtpunkte im Dunkeln, die allmählich größer werden und zu einer kleinen Autokolonne von Jägern gehören, schälen sich die Mitglieder einer Familie im kurzen Aufscheinen der vorbeigleitenden Lichtkegel aus ihren Betten. Das Schwebende, Schweifende, Raumgreifende und Offene gehört zugleich zu den Stilmerkmalen von Alice Rohrwachers preisgekröntem Film „Land der Wunder“ (Le meraviglie), der von der renommierten französischen Kamerafrau Hélène Louvart kongenial ins Bild gesetzt wurde; und der sich leicht, fast schwerelos um mehrere Zentren, Figuren und Themen bewegt. Die Freiheit der Bewegung im Raum kontrastiert gewissermaßen die Enge in den Verhältnissen der portraitierten Familie. Entsprechend werden die idealistischen Träume einer anarchistischen Lebensweise mit den Notwendigkeiten der Alltagsrealität konfrontiert.

Alles Erzählte ist gegenwärtiges Ereignis. Was sonst noch an Vorgeschichte, Figurenkonstellationen und Handlungsmotiven im Film steckt, ist entweder implizit immer schon da oder zeigt Wirkungen in den vereinzelten Lichtpunkten und Erhebungen des flächigen Diskurses. Manchmal verliert es sich auch oder bleibt vollständig im Dunkel. Jedenfalls sind die parallelen Bewegungen der Figuren nie ganz voneinander abgekoppelt. Vielmehr wird in ihnen das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft gleich auf mehreren Ebenen verhandelt.

Die Aussteiger-Ideale des chaotischen Familienvaters Wolfgang (Sam Louwyck) haben sich unter den täglichen Arbeits- und Versorgungserfordernissen längst in ein autoritäres Patriarchat verwandelt. Dessen geliebte Imkerei auf einem verfallenen Gehöft in Mittelitalien beansprucht nicht nur die ganze Arbeitskraft der Familie, zu der neben seiner duldsamen Frau Angelica (Alba Rohrwacher) und vier Töchtern auch noch die Kommunardin Cocò (Sabine Timoteo) gehört, sondern wird – neben diesen, metaphorisch gesprochen, inneren Zentrifugalkräften – auch noch von außen bedroht: durch die eingangs erwähnten Jäger, durch Pestizide und Tourismus.

In diesen weiblich dominierten Verhältnissen ersetzt die älteste Tochter Gelsomina (Maria Alexandra Lungu), die gerade ihre Unabhängigkeit entdeckt, den vom Vater vermissten Sohn. Doch Gelsomina, Mitten in den Wirren einer widerständigen Pubertät, entfernt sich bereits vom labilen Familiengefüge und einem Vater, der das nicht recht wahrhaben will. Die scheue Beziehung zu einem straffällig gewordenen Jungen, den die Familie zur Resozialisierung aufnimmt, sowie die titelgebend TV-Show „Land der Wunder“ dienen dem Mädchen dabei als Fluchtpunkte. In dieser feiern ländliche Traditionen, von Geldpreisen geködert, und von der märchenhaften Showmasterin Milly Catena (Monica Bellucci) einfühlsam moderiert, fröhlich verkitschte Urständ. Zwar sind in „Land der Wunder“ am Ende die utopischen Träume von einem besseren Leben ernüchtert, aber – so legt die zärtliche Schlusssequenz nahe – doch noch lange nicht ausgeträumt.

Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)

(USA 2014, Regie: Alejandro González Iñárritu)

Reale Schwerelosigkeit
von Wolfgang Nierlin

Die Buchstaben der Vorspanntitel fügen sich erst nach und nach zur Schrift und damit zu identifizierbaren Namen. Der Rhythmus ihres Erscheinens auf der Leinwand wird von dem ausdrucksstarken Schlagzeug-Spiel des …

Die Buchstaben der Vorspanntitel fügen sich erst nach und nach zur Schrift und damit zu identifizierbaren Namen. Der Rhythmus ihres Erscheinens auf der Leinwand wird von dem ausdrucksstarken Schlagzeug-Spiel des Jazz-Drummers Antonio Sánchez getaktet, dessen virtuose Soli den Film antreiben und nicht zuletzt emotional grundieren. Dieser experimentell verspielte Auftakt von Alejandro González Iñárritus neuem Film „Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)“ erinnert an frühere Godard-Filme. Das Bild und seine Bedeutung resultiert aus der Montage der Teile zu einem Ganzen. Der fragmentierten Zeit des Films setzt Iñárritu den linearen Zeitfluss des Theaters gegenüber. Denn „Birdman“, der in einem Theater am New Yorker Broadway spielt, ist nahezu in Echtzeit gedreht beziehungsweise täuscht das zumindest vor. Scheinbar in einer einzigen langen Einstellung, kunstvoll realisiert vom renommierten Bildgestalter Emmanuel Lubezki, erzeugt die dynamische Kameraführung ein Kontinuum von Raum und Zeit und verweist damit auf die Verschmelzung von Leben und Fiktion im Theater.

Damit ist ein Thema des Films benannt, das im Folgenden noch durch die Wechselwirkungen zwischen dem inszenierten Stück auf der Bühne und den realen Lebenskrisen der Spieler hinter den Kulissen des Theaters verstärkt wird. Überraschend und für seine bisherige Arbeit untypisch hat Iñárritu eine ziemlich schlagfertige und hintergründige Komödie gedreht, in der es unter anderem um die Frage nach der wahren Kunst in Abgrenzung zur kommerziellen Unterhaltungsware, um die Wahrheit des Realismus, vor allem aber um die menschliche Angst vor der Bedeutungslosigkeit geht. „And did you get what/ you wanted from this life, even so?/ I did./ And what did you want?/ To call myself beloved, to feel myself/ beloved on the earth.” Diese “Late Fragment” betitelten Zeilen des amerikanischen Schriftstellers Raymond Carver, die zugleich als Inschrift auf dessen Grabstein stehen, hat Iñárritu seinem Film vorangestellt.

Der alternde Schauspieler Riggan Thomson (Michael Keaton), der früher einmal höchst erfolgreich den Superhelden „Birdman“ in mehreren Blockbuster-Filmen verkörperte, leidet unter Selbstzweifeln und einem zunehmenden Bedeutungsverlust, der zum Mittelpunkt einer allgemeinen Lebenskrise geworden ist. Deshalb versucht er sich an einer Inszenierung von Raymond Carvers Kurzgeschichte „What we talk about when we talk about love“, von der er sich künstlerischen Ruhm abseits oberflächlicher Popularität und einen bleibenden Wert erhofft. Doch der ehemalige Star, der immer wieder von den Einflüsterungen seines „Birdman“-Alter Ego angestachelt wird und mit telekinetischen Fähigkeiten überrascht, stößt zunächst auf vielfältige Schwierigkeiten: Sein arrogant selbstbesoffener Ersatz-Darsteller Mike Shiner (Edward Norton) provoziert ihn mit seinen „super-realistischen“ Darstellungseskapaden, seine Ex-Frau Sylvia (Amy Ryan) möchte offensichtlich am liebsten in ihr altes (Ehe-)Leben mit ihm zurück und seine Tochter Sam (Emma Stone) hat Drogen- und Beziehungsprobleme, wofür sich Riggan als meist abwesender Vater die Schuld gibt.

In einer starken Verdichtung von Raum und Zeit folgt Alejandro González Iñárritu den teils absurden, teils ziemlich durchgedrehten Verwicklungen zwischen Kunst, Leben und Liebe. Sein getriebener, zwischen verzweifelter Hoffnung und Resignation hin und her geworfener Held durchlebt dabei einige Höhen und noch mehr Tiefen und stößt dabei an Grenzen in und außerhalb des Theaters. Dann hilft nur noch sein alter „Birdman“-Trick, der ihm Flügel verleiht und die Schwerelosigkeit so real macht wie einen Film.

Hier gibt’s eine weitere Kritik zu 'Birdman'.

Die Frau in Schwarz 2: Engel des Todes

(GB / USA 2015, Regie: Tom Harper)

Gewissensgeister und Moormütter
von Drehli Robnik

„Die Frau in Schwarz 2: Engel des Todes” fängt gut an. Und das heißt hier: mit ziemlich viel Übel in Überlagerung. Über dem Schwarzbild ertönt ein repetitives Rumpeln, das an …

„Die Frau in Schwarz 2: Engel des Todes” fängt gut an. Und das heißt hier: mit ziemlich viel Übel in Überlagerung. Über dem Schwarzbild ertönt ein repetitives Rumpeln, das an Geisterstunde auf dem Dachboden gemahnt. Dann die Aufblende und ein Titelinsert: Wir sind in der Londoner U-Bahn, die 1941 der Bevölkerung als Luftschutzraum dient, und was da über uns rumpelt, sind Bombenabwürfe der Nazi-Luftwaffe.

Da zeichnet sich eine für einen Gruselfilm eigentlich ergiebige Kombination ab: Geschichtstrauma und Spuk, zwei medial bewährte Erzählformen in Sachen Vergangenheit, die nachlastet. Ersteres hat im Zweiten Weltkrieg, zumal in dessen Spielfilm-Bild, seinen mittlerweile prominentesten Ort, zweiteres sein quasi angestammtes Biotop im abgelegenen alten Landhaus, vorzugsweise mit Moor drumherum. Beides kommt in diesem Sequel zusammen (nachdem der äußerst erfolgreiche erste Teil, zugleich Relaunch des Traditionsfilmstudios Hammer, 2012 noch Anfang des 20. Jahrhunderts gespielt hatte). Nicht dass unter den Horrorfilmen, die in den letzten Jahren Motive untoter Monster oder Geister mit dem Unerledigten des Zweiten Weltkriegs verbunden haben, besondere Glanzleistungen zu verzeichnen wären; aber man wird es ja wohl noch immer wieder versuchen dürfen.

In diesem Film haben nun also alle ihre Gespenster. Die aus dem bombenkriegsgefährdeten London ins Moorinsel-Landhaus verschickten Kinder, darunter Kriegswaisen, plagt der Geist einer einst zwangspsychiatrierten Mutter (vermutlich ist es die selbe, die schon in Teil 1 umgegangen ist, der Plot ist da gegen Ende etwas konfus, aber es handelt sich um einen weiblichen Geist, der sehr dunkel gekleidet ist, und deshalb heißt der Film so). Die junge Erzieherin der landverschickten Zöglinge (Helen McCrory) leidet an alptraumhaften Schuldvisionen, weil sie ihren Sohn gleich nach dessen Geburt aufgegeben hat. Der fesche Pilot (Jeremy Irvine), der immer wieder auf Besuch vorbeischaut und mit der Erzieherin hölzerne Dialoge verrichtet, hat massive Gewissensbisse als einziger Überlebender eines Air Force-Absturzes.

Ansonsten ist alles Attrappe und Adoption. Attrappe, das gilt für die Räume in diesem Film: ein halbverfallenes Landhaus, bei dem der Vermieter so tut, als wäre es für Schulkinder bewohnbar; versperrte Zimmer, deren Türen sich plötzlich öffnen und unwiderstehlichen Drang zum Betreten hervorrufen; traumatische Räume, die sich als bloße Träume entpuppen; schließlich die Attrappe eines Militärflugplatzes, zwecks Täuschung der Deutschen errichtet – ein hübsches Stück Ausstattung, als Spukschauplatz jedoch vergeigt. Die Adoption, das ist in dieser britischen Produktion die bevorzugte zwischenmenschliche Beziehungsform: Die Heldin, die ihr Neugeborenes zur Adoption freigab, adoptiert den eben erst zum Waisen und noch dazu stumm gewordenen Buben in der allmählich schrumpfenden Schulklasse; ihre verbitterte Vorgesetzte spielt sich als gestrenge Ziehmutter für die Kinder und gleich auch noch für die Heldin auf; die Titelfigur will überhaupt reihum alles, was da schlecht schläft und in alten Gemäuern stöbert, unter ihre jenseitsmütterlichen Fittiche nehmen. Kein Wunder, dass aus der angedeuteten Romanze zwischen Heldin und Pilot nix wird (können sie einander doch nicht adoptieren).

Jedenfalls ist hier ein Mann im Einsatz für Kinder und Frauen und sind Frauen am Start als Ersatz für Mütter, die abwesend oder verwest sind, und… – Moment, das ist jetzt aber zuviel des Übels in Überlagerung, vor allem zuviel der üblen Gender-Stereotype! Vielleicht reicht es jetzt auch langsam mit Spukfilmen, die unter Waisen und überforderten Müttern spielen. (Und die entsprechend gelagerten „The Others“ und „The Awakening“ – auch sie Verknüpfungen von Krieg und Spuk, konkret Kriegsende 1945 und Traumata des Ersten Weltkriegs – waren um einiges besser.)

Besonders viel Vertrauen auf seine Eignung als Grusel-Tool legt „Die Frau in Schwarz 2“ aber eh nicht an den Tag. Warum sonst würde die Regie von Tom Harper sich in Spannungsszenenzersäbelung per Parallelmontage flüchten ('Währenddessen, nicht weit entfernt…') und am Ende Actionhektik schinden, ja sogar ProtagonistInnen mit Geistern raufen lassen (ein absolutes No-Go). Von allem, was den ersten Teil zu einem so schlicht unheimlichen Film gemacht hat – Sorgfalt in Ausstattung und Lichtsetzung, Reduktion in Rhythmus und Plot, Freude am Einrichten von Anblicken, die dem Auge Fallen stellen, schließlich: Daniel Radcliffe –, bleibt nur Erinnerung. Und die stellt sich angesichts dieses Abräumersequels weder traumatisch noch spukhaft ein, sondern mit einem Seufzer.

Inherent Vice – Natürliche Mängel

(USA 2014, Regie: Paul Thomas Anderson)

California Über Alles!
von Ulrich Kriest

„Manche meinten vielleicht, ihn zu erkennen, aber alles blieb im Ungefähren, wie vom Dopenebel getrübt.“ Macht man Lesetempo und Lesevergnügen zum Maßstab, dann legte Thomas Pynchon mit „Natürliche Mängel“ nicht …

„Manche meinten vielleicht, ihn zu erkennen, aber alles blieb im Ungefähren, wie vom Dopenebel getrübt.“ Macht man Lesetempo und Lesevergnügen zum Maßstab, dann legte Thomas Pynchon mit „Natürliche Mängel“ nicht nur sein flottestes und zugänglichstes Buch seit „Vineland“ vor, sondern zudem einen Roman, von dem man sich ernsthaft vorstellen konnte, er wäre, abgesehen von einigen sicher notwendigen Kürzungen, tatsächlich verfilmbar. Besser natürlich als vielstündige Fernsehserie! Das mit der Verfilmbarkeit hat Gründe, aber dazu später. Überdies korrespondierte „Natürliche Mängel“ auf vielfältige Weise motivisch mit „Vineland“, insofern es Pynchon ein weiteres Mal erfolgreich gelang, einen historischen Kosmos zu generieren, der eine implizite Beziehung zur Gegenwart augenzwinkernd herstellt – und sei es eben nur über eine blasse Erinnerung an eine bestimmte TV-Serie wie „Dr. med. Marcus Welby“. Überdies könnten Alter und Erinnerungsvermögen des Lesers eine zentrale Rolle dabei spielen, welches Vergnügen Roman wie Verfilmung bereiten. Denn Pynchon, mittlerweile auch schon weit über 70, entwarf in „Natürliche Mängel“ ein Bild von Los Angeles an der Schwelle zu den 1970er Jahren, allerdings hindurch erzählt über die populären Bilderwelten der hard boiled novels von Hammett, Chandler & Co. und der Films noir der 1940er und 1950er Jahre, die ihrerseits ja ihre Retro-Phase zweimal hinter sich haben.

Damit wiederholte der Roman eine Geste, die bereits einigen der schönsten Produktionen des New Hollywood wie „The Long Goodbye“, „Chinatown“ oder „Night Moves“ innewohnte – und die bereits von Filmen wie „L.A. Confidential“ oder „Black Dahlia“ gecovert worden ist. Ein ganzer Haufen von Bildern, Spiegelungen und Verweisen liegt zum kreativen Gebrauch herum. Ganz schön kompliziert? Es wird noch besser, denn Paul Thomas Anderson (geboren 1970), der sich schon mit „Boogie Nights“ ziemlich erfolgreich an den 70er Jahren abgearbeitet hat, nutzt seinerseits Pynchons Roman, um sich wiederum vor dem Spirit von „New Hollywood“ zu verbeugen. Es fehlt eigentlich nur ein Cameo von Elliot Gould, um das seltsam vermittelte Pastiche einer verblassten Erinnerung an „The Long Goodbye“ perfekt zu machen.

Anderson ergreift die Chance, die seit Jahren grassierende Mode der perfekt durchchoreografierten Thriller, die am Ende keine Frage offenlassen, zu dekonstruieren, indem er sich im besten Sinne für Komplett-Vernebelung entscheidet. Richtig: man sollte schon etwas an Pop-Wissen und etwas an Pynchon-Lektüre mitbringen, um den ständig bekifften Privatdetektiv Larry »Doc« Sportello auf seinen Wegen durch Los Angeles angemessen begleiten zu können. Vielleicht reicht auch ein „Contact High“ hin, denn der Film steckt an den Rändern der Cadrage voller seltsamer Halluzinationen.

Wie bei Chandler bringt eine Frau die ganze Geschichte in Gang: Sashta Fay Hepworth, die gerne einmal ein altes, zerschlissenes Country Joe & The Fish-T-Shirt trägt, macht ihren Ex-Lover Sportello auf den Fall des verschwundenen Baulöwen Mickey Wolfman aufmerksam. Der ist Jude, will aber gerne Nazi sein, hat sich ein paar Rocker von der Arischen Bruderschaft als Leibwache gemietet und schätzt es sehr, wenn man seinen Nachnamen mit Doppel-“n“ schreibt. Schnell wird der Fall unübersichtlich: korrupte, gewaltbereite und zugleich manisch depressive Hippie-Hasser-Polizisten wie »Bigfoot« Björnsen (Josh Brolin legt die Rolle als quadratschädelige Comicfigur an, die nebenher ihr Einkommen durch Werbung und Statistenrollen aufbessert) machen dem Detektiv, den man allzu leicht unterschätzt, das Leben schwer. Ein ermordeter Bodyguard, ein verschwundener, vielleicht toter, vielleicht aber auch nur unter neuer Identität lebender Saxophonist der wenig erfolgreichen Surf-Band Boards verkomplizieren die Ermittlungen.

Anderson gelingt es meisterhaft und souverän die mit dem Jahr 1970 verbundene kulturelle Umbruchphase abstrakt zu skizzieren – aber eben nicht mehr als eine vage Skizze: es ist eine Zeit der Ungleichzeitigkeiten. Woodstock liegt gerade mal ein knappes Jahr zurück, doch aktuell halten die Manson-Morde die Polizei in Atem. Das Establishment setzt auf Restauration und im Hintergrund laufen Immobilien- und Drogengeschäfte. Straight is hip. Der Hippietraum ist ausgeträumt; der von Radiohead Johnny Greenwood besorgte Soundtrack stammt nicht von Jefferson Airplane, Jimi Hendrix oder Sly & The Family Stone, sondern von Can oder Neil Young. Journey through the Past. Der Kater ist mit Händen zu greifen.

Der Film erzählt davon, wie der Underground durch FBI-Spitzel infiltriert wird und von einer geheimnisvollen Organisation von Zahnärzten, die Drogenhandel und Entzugskliniken in einer Hand betreibt. Und vor der Küste liegt der Schoner „Golden Fang“ mit seinen roten Segeln, von dem nie ganz klar wird, in welcher Beziehung er zur Handlung steht. So kippt die Hippie-Detektiv-Geschichte um in ein Requiem für die nur noch schwach erinnerten Träume des gegenkulturellen Aufbruchs der 60er Jahre. In den Garten, von dem Joni Mitchell in „Woodstock“ (durch Fernsehbilder inspiriert!) sang, führte schon 1973 kein Weg zurück; der Traum der großen Gemeinschaft scheint ausgeträumt – nur ein paar Versprengte träumen noch „angetrieben von Dope und Frechheit, allgemeiner Menschenliebe und guter Stimmung“ (Pynchon) von einer besseren oder zumindest lässigeren Welt.

Detektiv Sportello, der als sympathischer, allerdings etwas exzentrischer Loser eingeführt wird, wird im Laufe der Handlung immer mehr zu einer Chandler-Figur, die fast instinktiv die richtigen Verbindungen herstellt und letztlich durchaus professionell seinen Job erledigt. Während die Welt um Sportello herum einen falschen Weg wählt, bleibt der Ermittler letztlich immer ein Idealist, der seine kleinen Beiträge leistet, die Welt in Ordnung zu bringen. All dies und noch viel mehr erzählt „Inherent Vice“ mit mal sanfter Ironie, mal bitterem Humor oder auch mit einer Portion Slapstick. Einmal versucht es Sportello doch tatsächlich mit Action, will der Polizei entkommen, indem er den Fluchtweg über ein Auto wählt. Doch er bleibt bereits an der Stoßstange hängen, rollt von der Motorhaube herunter und wird dann fürchterlich verdroschen. Die Szene erinnert ein wenig an ein Kind, das der väterlichen Züchtigung zu entkommen versucht und dabei scheitert.

Wie einst bei Chandler in „Der lange Abschied“ verschwinden Menschen in Kliniken und Psychiatrien, werden komplexe Intrigen ausgeheckt – und am Ende wird all dies immer nur durch Machtgeilheit und Habgier befeuert. „Inherent Vice“, der Film, weitet im Gegensatz zu Pynchons Roman nicht den Blick aufs große Ganze, redet nicht von Vietnam und technologischem Fortschritt. Er verharrt in seiner kleinen kalifornischen Welt, die schon unüberschaubar ist – und mehr als einmal den Eindruck erweckt, hier spielten ein paar kindlich gebliebene Erwachsene noch einmal „Detektivfilm“, wie sie es aus ihrer Jugend erinnern. Abstrakt und tongue-in-cheek zugleich.

Lifelong – Hayatboyu

(D /NL / TR 2013, Regie: Asli Özge)

Eheliches Versteckspiel
von Wolfgang Nierlin

Die Künstlerin Ela (Defne Halman) und der Architekt Can (Hakan Çimenser), ein Ehepaar um die fünfzig, leben zusammen im vornehmen Istanbuler Stadtteil Ni&#351;anta&#351;&#305;. Ihr modernes mehrstöckiges Wohnhaus, geschmackvoll eingerichtet mit …

Die Künstlerin Ela (Defne Halman) und der Architekt Can (Hakan Çimenser), ein Ehepaar um die fünfzig, leben zusammen im vornehmen Istanbuler Stadtteil Ni&#351;anta&#351;&#305;. Ihr modernes mehrstöckiges Wohnhaus, geschmackvoll eingerichtet mit Designermöbeln, gleicht einem transparenten Versteck. Große Fenster und offene Räume schaffen Durchlässigkeit und gewähren Einblicke. Indem sie die Intimität aufheben, stellen sie das Eheleben förmlich aus. Dieses ist andererseits verborgen, reduziert und in relativer Gleichgültigkeit erstarrt. Dafür steht die Unterteilung des „gestapelten“ Raums in mehr oder weniger isolierte Wohn- und Funktionseinheiten, die lediglich oder bezeichnenderweise durch eine Wendeltreppe miteinander verbunden sind. Schritte und Geräusche, Bewegungen von Schatten, oben und unten werden durch sie vermittelt. Trennung bei gleichzeitiger Nähe, Isolation trotz Transparenz sowie gewohnheitsmäßiges wechselseitiges Belauern bilden die Koordinaten dieses erstarrten Ehelebens.

In präzisen Bildkompositionen, entsättigten Farben und einem unterkühlten Tonfall inszeniert die türkische, zeitweise in Berlin lebende Filmemacherin Asl&#305; Özge („Men on the bridge“) in ihrem Film „Lifelong“ die zunehmende Entfremdung von Ehepartner, die in ihrer Beziehung und in ihrem Leben feststecken. Der Status quo ihres Wohlstands, gesichert durch ihren beruflichen Erfolg, verengt ihren Blick auf mögliche Veränderungen, ja lässt diese sogar als Bedrohung erscheinen. Als sehr reales und gegenwärtiges Spiegelbild dieser Unsicherheit und Angst thematisiert Özge die Folgen eines Erdbebens, deren psychische Wirkungen vor allem Can nachhaltig erschüttern und angesichts der Vergänglichkeit sein Gefühlsleben verändern. Als er Elas neue Ausstellung besucht, verliert er sich deshalb förmlich im Farbnebel eines von der Lichtkünstlerin Ann Veronica Janssens inspierten Werkes („Blue, Red, and Yellow“). Orientierungslosigkeit und Kontrollverlust sind die unmittelbaren Folgen.

Den größten Teil ihres ebenso schnörkellosen wie vielschichtigen Beziehungsdramas, das um Einsamkeit und Leere kreist, widmet Asl&#305; Özge allerdings ihrer Protagonistin, die als Künstlerin zwar anerkannt, aber finanziell dennoch von ihrem Mann abhängig ist. Ein riesiger Stein – Reminiszenz an Ay&#351;e Erkmens „Stoned“ -, den Ela für eine Installation über einem Glasdach anbringen lässt, symbolisiert diese Ambivalenz und Zerbrechlichkeit. Während das Paar in Schweigen nebeneinanderher lebt, bemerkt Ela mit zunehmender Gewissheit, dass Can offensichtlich fremdgeht. Doch wird auch dieser Konflikt nicht verbalisiert; vielmehr verlagert er sich nach innen und verursacht bei Ela eine psychosomatische Störung. Diese wird noch verschärft durch ihren Blick auf den eigenen alternden Körper und ihr gleichzeitiges Bedürfnis nach körperlicher Nähe. Einmal sieht man Ela auf einer Aussichtsplattform barfuß im Schnee. Die Ambivalenz der Sehnsucht geht weiter. Der Widerspruch bleibt.

National Gallery

(F / USA / GB 2014, Regie: Frederick Wiseman)

Lebendige Bilder
von Wolfgang Nierlin

Zunächst geht die Bewegung von außen nach innen: Vom repräsentativen Vorplatz der Londoner National Gallery, wo stattlich ein steinerner Löwe thront, in die geweihten, noch menschenleeren Säle des weltberühmten Museums, …

Zunächst geht die Bewegung von außen nach innen: Vom repräsentativen Vorplatz der Londoner National Gallery, wo stattlich ein steinerner Löwe thront, in die geweihten, noch menschenleeren Säle des weltberühmten Museums, durch die das Summen von Staubsaugern hallt. Doch dem mittlerweile 85-jährigen Dokumentarfilmregisseur Frederick Wiseman geht es in seinem neuen Film „National Gallery“ nicht um Zeichen der Macht oder soziale Gegensätze; sein großartiges dreistündiges Werk beschwört vielmehr die Gemälde selbst und mit ihnen die vielgestaltigen Repräsentationen menschlichen Lebens. In einer schnellen Montage unternimmt Wiseman eingangs eine Zeitreise in die Motiv-Welt der Alten Meister: Biblische Geschichten und weltliche Herrscher, rätselhafte Blicke und grässliche Fratzen, nackte Körper und gemarterte Leiber, idyllische Szenen und geheimnisvolle Landschaften folgen aufeinander in einem permanenten Wechselspiel von Schönheit und Schrecken.

Es gibt Momente in dieser fulminanten Montage, in denen die Ahnung des Ganzen emotional erlebbar wird, weil die Bilder förmlich in Bewegung geraten und weil sich der Blick zurück mit der Gegenwart verbindet. „Kunst umfasst alles“, sagt einmal einer der Museumspädagogen über ihren faszinierenden Reichtum und erklärt kurz darauf, warum Gemälde „keine Zeit haben“, also ihre Geschichten im zweidimensionalen Raum des Bildes entfalten. Um diese Geschichten zum Leben zu erwecken, habe er versucht, so Frederick Wiseman, „in das Gemälde zu treten“ und dessen Rahmen vom Wechsel zwischen Totale und Naheinstellung zu überwinden. „Ich wollte vorführen, dass die Bilder leben und eine Geschichte erzählen – und es gibt nichts, keine einzige menschliche Erfahrung, die darin nicht vorkommt.“ Unterstützt wird er dabei von einer Reihe äußerst kompetenter Kunstvermittler und Spezialisten, die das interessierte Publikum mit detaillierten Erläuterungen an ausgewählte Werke heranführen.

Viel Zeit nimmt sich der Altmeister des sich der „reinen“ Beobachtung verschriebenen Direct Cinema, der sich in seinem umfangreichen Œuvre immer wieder mit Institutionen beschäftigt hat, um „das zeitgenössische Leben einzufangen“, aber auch für einen Blick hinter die Kulissen der renommierten Gemäldesammlung. Kommentarlos dokumentiert er Arbeitsgespräche und Meetings, in denen es um Öffentlichkeitsarbeit, Marketingstrategien und Budgetfragen geht; er nimmt an Zeichenkursen teil, beobachtet Ausstellungsvorbereitungen, besucht Werkstätten und hört aufmerksam zu, wenn Restauratoren von ihrer komplizierten, kleinteiligen Arbeit sprechen. Dadurch weitet sich Schritt für Schritt das Bild der Institution und gewinnt dabei eine ähnliche Komplexität wie die Gemälde, die von ihr beherbergt werden. So wie Kunst als kulturelles Gedächtnis fungiert, speichert das Museum durch seine vielfältigen Gewerke das Wissen darüber.

Missverstanden

(I / F 2014, Regie: Asia Argento)

Kunterbunte Katastrophen
von Tim Lindemann

Man kann Asia Argentos mittlerweile dritte Langfilm-Regiearbeit leicht als rein persönliches Projekt begreifen: In 'Missverstanden' folgt die Regisseurin der neunjährigen Aria, Kind eines soziopathischen Schauspielers und einer nymphomanischen Star-Musikerin, durch …

Man kann Asia Argentos mittlerweile dritte Langfilm-Regiearbeit leicht als rein persönliches Projekt begreifen: In 'Missverstanden' folgt die Regisseurin der neunjährigen Aria, Kind eines soziopathischen Schauspielers und einer nymphomanischen Star-Musikerin, durch einige Episoden ihrer unglücklichen Kindheit. Die vom Ruhm verblendeten Eltern lassen Aria und ihren Schwestern nur wenig Liebe angedeihen, so ist die kleine Rebellin weitgehend auf sich allein gestellt. Argento, die Tochter des italienischen Kult-Regisseurs Dario Argento und dessen Stammschauspielerin Daria Niccolodi, hat sich in Interviews schon oft über ihr problematisches Aufwachsen im Schatten des nur selten anwesenden, berühmten Vaters geäußert. Mit 14 Jahren rannte sie zum ersten Mal von zu Hause fort. 'Missverstanden' aber ist weit mehr als eine verfilmte Therapie-Sitzung der Regisseurin, sondern ein zugleich einfühlsames wie drastisches Coming-Of-Age-Drama.

Argento siedelt ihr Jugendportrait im Rom der 80er Jahre an und entwirft das zugehörige Zeitkolorit mit großem Spaß an der Verkleidung und Ausstattung: Von den stylischen Kostümen und Frisuren der jungen Hauptdarsteller bis zur Einrichtung der elterlichen Wohnung erkennt man die Liebe zum Detail, die in die Konstruktion des filmischen Universums geflossen ist. Mehr als in ihren anderen Filmen orientiert sich die Regisseurin dabei auch rein visuell an den prominenten Werken ihres Vaters: Die düstere, zugleich aber quietschbunte Wohnung, die oft einem verwunschenen Labyrinth gleicht, erinnert in ihrer märchenhaften Optik durchaus an die berühmte Ballettschule aus Dario Argentos 'Suspiria'. Vor allem dient dieser Vergleich auch zum besseren Verständnis der Erzählstrategie, die Argento in 'Missverstanden' praktiziert: Ihr Film will von Beginn an als hochgradig subjektive Annahme von Arias kindlicher Perspektive verstanden werden und distanziert sich somit deutlich von stilistischem Realismus.

Die Besetzung von Giulia Salerno als Aria ist in dieser Hinsicht ein Genie-Streich: Nicht selten sind Kinderschauspieler den Visionen der Regisseure noch nicht gewachsen, die kleine Guilia aber geht in ihrer Rolle komplett auf, obzwar ihr Argento einige emotional extreme Szenen zumutet. Da ist einerseits die von Charlotte Gainsbourg verkörperte Mutter Yvonne, die ihren Töchtern zwar alle Freiheiten der Welt lässt, aber auch immer wieder schmierige, drogensüchtige oder cholerische Liebhaber in die Familienwohnung schleppt; da ist andererseits der krankhaft abergläubische Schönling von einem Vater (Gabriel Garko), der Arias Halbschwester Lucrezia (Carolina Poccioni) wie eine Prinzessin verwöhnt, während er in Aria immer nur die mittlerweile verhasste Yvonne sehen kann. Die wüsten Beschimpfungsorgien der beiden verbitterten Elternteile muss Aria ebenso ertragen wie Alkohol- und Drogenexzesse auf den zahlreichen in der Wohnung stattfindenden Parties.

Dennoch wird 'Missverstanden' nie zur tränenziehenden Tragödie, sondern feiert ganz im Gegenteil Arias Lebensmut, Erfindungsreichtum und Furchtlosigkeit mit viel inszenatorischer Energie und Humor. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin stiftet sie in Rom allerlei Schabernack, organisiert eine Fete für die ganze Klasse und selbst als sie von beiden Eltern vor die Tür gesetzt wird, hängt sie einfach gelassen mit den Punks am Tiberufer ab. Und auch die schönen Momente mit den verschrobenen Eltern, wie etwa einen Ausflug zum Konzert der Lieblingsband, verschweigt Argento nicht. Die gelinde gesagt unorthodoxe Erziehung sorgt bei Aria ganz deutlich für einen aufgeschlossenen, lebensfrohen Charakter, der sich in der frischen Mise-en-Scène des Films widerspiegelt.

Erst im letzten Drittel nimmt der Film dann deutlich tragischere Züge an, als auch die letzten Bastionen von Arias Glück langsam wegzubrechen drohen. Mit dem ambivalenten Ende wird es die Regisseurin sicherlich nicht allen recht machen. Letztlich aber ist auch diese Entscheidung konsequent, wenn man den Film weiterhin als reine Spiegelung von Arias Perspektive versteht. 'Missverstanden' ist ein ungewöhnliches, intensives Jugenddrama mit großartigem 80er-Jahre-Flair (und Soundtrack) und stellt bisher den Höhepunkt von Asia Argentos Regie-Karriere dar.

Hier gibt’s eine weitere Kritik zu 'Missverstanden'.

Wir sind jung. Wir sind stark.

(D 2014, Regie: Burhan Qurbani)

Brennende Langeweile
von Ulrich Kriest

„Honky-Tonky-Show Und abends läuft die Honky-Tonky-Show Die Mutter guckt alleine Krimi oder Quiz Und die Tochter ist da, wo die Action ist.“ – Udo Lindenberg, 1974 – Das Foto von …

„Honky-Tonky-Show
Und abends läuft die Honky-Tonky-Show
Die Mutter guckt alleine Krimi oder Quiz
Und die Tochter ist da, wo die Action ist.“

– Udo Lindenberg, 1974 –

Das Foto von dem Mann im Fussballtrikot mit dem glasigen Blick und dem viel sagenden Fleck auf der Jogginghose, der den Arm zum Hitlergruß erhoben hat, dieses Foto habe ich vermisst bei den Feiern zum 25. Jahrestag des Mauerfalls. Das Foto steht für „Rostock-Lichtenhagen“, für die eigenartige Mischung aus Volksfest und Pogrom im Sommer 1992, als klar wurde, dass der Anschluss der DDR nicht als immerwährende Party zu haben sein würde. „Rostock-Lichtenhagen“ steht wiederum für Mölln, Solingen, Hoyerswerda – und die Verschärfung des Asylrechts. Aktuell scheint man sich in der Kritik darauf geeinigt zu haben, dass „Wir sing jung. Wir sind stark.“ von Burhan Qurbani („Shadada“) gerade zum „richtigen Zeitpunkt“ ins Kino kommt, weil Fremdenhass und Islamophobie gerade wieder en vogue zu sein scheinen.

Tatsächlich reiht sich der Film zunächst einmal ein in die Tradition des deutschen Films, sich seine Themen – gerne bestens recherchiert – in der Geschichte zu suchen. Dann sitzt man im Kino und lernt etwas über die Vor-Geschichte der RAF, über die Vor-Geschichte des Auschwitz-Prozesses oder über die politisch motivierten Fehler der Ermittlungsarbeit nach dem Anschlag auf das Oktoberfest. Und bezieht das Gelernte dann irgendwie auf die aktuelle Gegenwart. Geschichtsunterricht, beflissen. Ist Qurbanis Film anders? Etwa Gegenwartskunde? Weil er doch zur „richtigen Zeit“ kommt?

Natürlich hat „Wir sind jung. Wir sind stark.“ konkret wenig bis nichts mit der Pegida zu tun, schon aus Gründen der Produktionsumstände eines Films. Und es gibt auch bereits eine hoch interessante Film-Dokumentation über die damaligen Ereignisse: „The Truth Lies In Rostock“. Qurbani hat das Mittel des semi-dokumentarischen Spielfilms gewählt, weil er nach eigenen Worten, nicht die Ereignisse der Nacht vom 24. auf den 25. August 1992 rekonstruieren wollte, sondern weil mit den Mitteln der Fiktion etwas über das Gefühl des „Nichtwillkommenseins“ erzählen wollte, über die „Infragestellung von Heimat“. Dazu weitet er den Blick auf eine jugendliche Clique, ein paar vietnamesische Vertragsarbeiter und ein paar überforderte, lavierende Politiker. Dass das Ziel der Ausschreitungen zunächst die Anwesenheit von Roma-Flüchtlingen war, zeigt der Film zwar, gibt dieser Opfergruppe aber im Film selbst keine Stimme. Im Presseheft erklärt Qurbani: „Mein Film möchte erinnern. Nicht anklagen, nicht denunzieren, sondern dieses Ereignis, welches eine der größten zivilen Katastrophen der deutschen Nachkriegszeit war, vor dem Vergessen schützen. (…) Hier gibt es keine Helden. Es geht um das sittliche und ideelle Vakuum einer Post-Wende-Gesellschaft, die sich langsam mit Wut gefüllt hat und dann in einer lauen Sommernacht gegen die Wand gefahren ist.“

Qurbani wählt dazu das Gesellschaftspanorama in naturalistischer Manier, wo jede Figur für eine bestimmte Haltung steht und sämtliche Haltungen zusammen eine These ergeben. So versucht der Film, einen anderen, ergänzenden, vielleicht sogar differenzierenden Blick auf die Ereignisse zu werfen, indem er ein paar jugendliche Täter in den Blick nimmt, die mit rechter Gesinnung kokettieren, aber eben (noch) keine Nazis sind. Deren Radikalisierung erfolgt gewissermaßen aus Orientierungslosigkeit, die mit Langeweile gepaart ist. Dabei bedient man sich je nach Situation bei frei flottierenden Ideologemen: hinter dem Rechtsrock ist immer noch die „Internationale“ abrufbar. Oder auch „Live Is Life“!

Die jungen Schauspieler bekommen dabei die Gelegenheit, die Indifferenz ihrer Figuren durch Bockigkeit, Sprücheklopferei und sehr körperliches Spiel zu zeigen, was im Falle von Robbie dazu führt, dass die Figur permanent unter Strom zu stehen und sich fast schon choreografiert durch den Film zu bewegen scheint. Durch Pubertät zum Verbrechen? Vor dem Werfen des ersten Mollies steht noch schnell der erste Sex – wie soll man da die Übersicht behalten? Wie im Falle von „Kriegerin“ zeigt sich ein Versuch, die Dynamik der Täter durch die Wahl der ästhetischen Mittel irgendwie „authentisch jugendlich“ zu gestalten. „Richtige“, ideologisch gefestigte Rechtsradikale bleiben allerdings Nebenfiguren.

Diese Tendenz der Entschärfung ins Allgemeinmenschliche wird dadurch verstärkt, dass der Film noch eine Genealogie von sehr deutschen Generationskonflikten aufmacht: Urgroßvater Faschist, Großvater Kommunist, Vater Demokrat, Sohn? Martin, der Vater des jugendlichen Protagonisten Stefan, ist ein von der Situation völlig überforderter und mit privaten Problemen beschäftigter Lokalpolitiker, der im Zweifelsfall lieber wegschaut als couragiert zu handeln. Die politische Klasse wird als so opportunistisch und kleinkariert dargestellt, dass es nicht wundert, dass sie den Jugendlichen keine Vorbilder sind.

So sammelt der Film lauter kleine Geschichten (die Vietnamesin, die sich für etwas Besseres hält als die Roma-Flüchtlinge vor der Aufnahmestelle), die fast schon zufällig und gewiss nicht politisch motiviert in den Progrom münden. Wenn die Brandschatzung schließlich beginnt, wird der bis dato schwarz-weiße Film farbig und setzt auf Scope-Format. „Plötzlich ist hier endlich mal „was“ los“, scheint dieser Kniff sagen zu wollen. Fragt sich, wer diesen Satz spricht? Immer mal wieder hat der Film bis dahin seine Bilder mit den bekannten historischen Bildern konfrontiert. Zum Finale zeigt der Film noch einmal erstaunliches handwerkliches Geschick in der Inszenierung von „Action“, hat aber gleichzeitig nichts Substantielles zu erzählen, was die damaligen Fernsehbilder übersteigt.

So bleibt letztlich fraglich, ob „Wir sind jung. Wir sind stark.“ die Ereignisse von 1992 überhaupt gebraucht hätte. Plattenbautristesse, gesellschaftliche Verunsicherung, schwache Väter, Probleme beim Erwachsenwerden, Langeweile und hilflose, von der Exekutive im Stich gelassene Opfer, die in letzter Sekunde gerettet werden – eigentlich alles Zutaten eines ganz und gar konventionellen Genrefilms übers Erwachsenwerden.

Hier gibt’s eine weitere Kritik zu ‚Wir sind jung. Wir sind stark.‘.

Von Menschen und Pferden

(IS / D 2013, Regie: Benedikt Erlingsson)

Zaumzeug und Liebesdinge
von Carsten Moll

Verkrachte Existenzen retten, Rennen und Preisgelder gewinnen oder menschliche Stars im Galopp durch die Landschaft tragen, so sieht ein Pferdealltag im Kino meist aus. Dass es auch anders geht, zeigte …

Verkrachte Existenzen retten, Rennen und Preisgelder gewinnen oder menschliche Stars im Galopp durch die Landschaft tragen, so sieht ein Pferdealltag im Kino meist aus. Dass es auch anders geht, zeigte erst im Dezember Monika Treut mit ihrer Coming-of-Age-Story „Von Mädchen und Pferden“ (2014), in der die vierbeinigen Darsteller erstaunlich viel Eigensinn beweisen durften und damit weit mehr waren als bloß eine Metapher menschlicher Bedürfnisse. Ganz ähnlich verhält es sich nun auch mit (Achtung, Verwechslungsgefahr!) „Von Menschen und Pferden“, einer isländisch-deutschen Koproduktion, die auf diversen Filmfestivals bereits für Aufmerksamkeit gesorgt hat und die zudem vergeblich als isländischer Kandidat für die anstehenden Academy Awards vorgeschlagen wurde.

Von typischer Oscar-Kost ist das Spielfilmdebüt des Regisseurs und Drehbuchautors Benedikt Erlingsson dann zugegebenermaßen auch ziemlich weit entfernt, tapfere Pferdehelden wie das Rennpferd Seabiscuit aus dem gleichnamigen Gary-Ross-Streifen von 2003 oder das Halbblut Joey aus Spielbergs „Gefährten“ (2011) sucht man hier vergeblich. Stattdessen widmet sich Erlingssons Film in lose verknüpften Episoden dem Schicksal einer Reihe von meist namenlosen sowie recht stoischen Islandponys, die in einem abgelegenen Idyll aus verschneiten Berghängen, klaren Seen und endlosen Mooslandschaften leben.

Gleich die ersten Einstellungen tasten behutsam aus der Nähe einen Pferdekörper ab, Muskeln, Fell und ein großes schwarzes Pferdeauge beherrschen die Leinwand. Erst danach tritt ein menschlicher Protagonist auf, bezeichnenderweise als Reflexion in der dunklen Pferdepupille: Kolbeinn (Ingvar Eggert Sigurðsson) heißt der Mann, der sich auf geradezu anachronistische Weise herausgeputzt hat, und nun seine weiße Stute sattelt, um der alleinstehenden Solveig (Charlotte Bøving) seine Aufwartung zu machen. Und obwohl die Häuser in dem beschaulichen Tal weit auseinander liegen, ist sich Kolbeinn doch bewusst, dass ihn die Dorfgemeinschaft genau beobachtet, als er über Feldwege zu seiner Solveig töltet – in der Ferne spiegeln die Ferngläser der Zuschauenden das verräterische Sonnenlicht.

Nach einem Kaffeekränzchen mit der Angebeteten, das in seiner adretten Spießigkeit die Dressur des albern trippelnden Pferdegangs fortzusetzen scheint, kommt es dann zur Katastrophe – der obszön baumelnde Pferdepimmel von Solveigs schwarzem Hengst kündigt das Unheil an: Vor lauter Geilheit bricht das Tier aus seinem Gehege aus und besteigt Kolbeinns Stute, als diese ihren Reiter nach Hause tragen soll. Kolbeinn bleibt nichts außer auf dem Rücken seines Pferds auszuharren, bis das demütigende Spektakel vorüber ist, das sich unter den aufmerksamen Augen des gesamten Dorfes abspielt.

Während dieser skurrile Einstieg noch nahelegt, dass die Tiere in Erlinssons Film in erster Linie als symbolischer Spiegel unterdrückter menschlicher Triebe dienen, so wird diese Lesart von den folgenden Episoden unterwandert. Die Beziehungen zwischen Pferden und Menschen erweisen sich als uneindeutiger und komplexer, die einen sind immer mehr als bloß eine zeichenhafte Wiederkehr der anderen. Ebenso ambivalent gibt sich der brillant bebilderte Film in Hinsicht auf Genre und Tonart: Ein wenig zaghafter Gruselfilm, der ebenso von sozialen wie körperlichen Schrecken berichtet, scheint sich hier mit einer lakonisch distanzierten Komödie zu einem Möbiusband zu verflechten, bei dem Horror und Humor nicht mehr zu unterscheiden sind.

Als Kontext für die zwischen anderen Episoden immer wieder auftauchende Geschichte um Kolbeinn und Solveig erweisen sich diese einander durchdringenden Ansätze, das schonungslose Hineingraben bis tief in die Eingeweide sowie das belustigte Zurückweichen im Angesicht des absurden Treibens, letztlich als überaus passend: Zwischen Zaumzeug und Stacheldraht erzählt der bisweilen abschweifende „Von Menschen und Pferden“ nämlich vor allem und auch ganz treffend von Liebesdingen.

Kaptn Oskar

(D 2012, Regie: Tom Lass)

Wie freie Vögelchen
von Wolfgang Nierlin

Fast schon genremäßig dramatisch geht’s los: Oskar (Tom Lass) hat sich von seiner toughen Freundin Alex (Martina Schöne-Radunski) getrennt; weshalb diese ihm, als wütendes Girl mit Benzinkanister, die Bude abfackelt. …

Fast schon genremäßig dramatisch geht’s los: Oskar (Tom Lass) hat sich von seiner toughen Freundin Alex (Martina Schöne-Radunski) getrennt; weshalb diese ihm, als wütendes Girl mit Benzinkanister, die Bude abfackelt. Ganz abstrakt züngeln Flammen, ein wuchtiger Beat hämmert dazu und der Schriftzug „Kaptn Oskar“ erscheint auf der Leinwand. Dieser grell überzeichnete Ausgangspunkt ist natürlich eine Parodie in einem auch sonst eher spielerischen Film, den der Schauspieler und German Mumblecore-Regisseur Tom Lass mit wenig Geld und viel Improvisation, kreativer Lust und überbordendem Freiheitsdrang gedreht hat. Darin driftet Slacker Oskar, gedopt oder gedämpft oder im labilen Gleichgewicht gehalten von Bier, Jägermeister, Wodka und Zigaretten durch den ziellosen Alltag einer gezielten Nichthandlung. Auch wenn Oskar nichts zu tun hat und in einem vergammelten Kellerloch haust, wo die Tapeten aus Zeitungspapier bestehen und Ravioli aus der Dose das Klischeebild eines Lebensgefühls sind, geht es in „Kaptn Oskar“ weder um soziale noch gesellschaftliche Probleme.

Eher um zwischenmenschliche: Denn auf die krasse Alex mit Berliner Schnauze und Hang zum wüsten Sex folgt die eher sanfte, schutzbedürftige Masha (Amelie Kiefer), die Oskar in der U-Bahn aufgabelt und die sich ebenso einsam fühlt wie der Titelheld. Zwar hat diese Sex mit älteren Männern, aber damit scheint Masha vor allem den Verlust väterlicher Nähe zu kompensieren. In ihrer freundschaftlich-geschwisterlichen Liebesbeziehung mit Oskar verabreden die beiden, sich „nicht zu küssen“ und auch „nicht miteinander zu schlafen“. Weshalb ihr mal zärtliches, mal kindlich-verspieltes Zusammensein die Unschuld und Offenheit des ersten Mals atmet, auch wenn sich Oskar, neben Masha liegend, manchmal einen runter holen muss. Ansonsten aber spinnen die beiden ausgelassen rum, betrinken sich, putzen zusammen ihre Zähne – überhaupt erscheint alles Orale, Flüssige und Fließende fast schon obsessiv -, gehen baden an einem See oder kurven mit Inlineskatern um irgendwelche Container.

Schließlich geht es im Kombi und mit Zelt auch noch für ein paar Tage raus aus Berlin, um Abstand zu gewinnen und den Kopf zu durchlüften. Tatsächlich sprechen Oskar und Masha plötzlich kurzzeitig bayrisch und fühlen sich „komplett frei“ „wie zwei Vögelchen“. Man spürt darin die Lust an der Improvisation, am unkonventionellen Spiel und an irgendwie „natürlichen“ Dialogen, die weder das Alberne noch das Peinliche scheuen, um festgelegte Phrasen ironisch zu brechen. Daraus entstehen zwar viele heitere Momente zwischen dem femininen Kindskopf Oskar und der merkwürdig verloren und anhänglich wirkenden Masha; trotzdem ist „Kaptn Oskar“, verstärkt durch die Musik von Justine Electra und Sol Seppy, ebenso melancholisch getönt. Zusammen fühlen sich die beiden manchmal allein oder wissen nichts mit sich und dem anderen anzufangen. Szenisch gebaut und auf eine herkömmliche Dramaturgie verzichtend, lässt Tom Lass in seinem zweiten Langfilm nach „Papa Gold“ auch inhaltlich manches offen. Eine mehrmals wiederkehrende (Traum-)Sequenz zeigt jedenfalls eine nächtliche Straße im Scheinwerferlicht, die ins unbestimmte Dunkel führt und Mysteriöses evoziert.

Missverstanden

(I / F 2014, Regie: Asia Argento)

Ein dysfunktionaler Familienroman
von Nicolai Bühnemann

Es ist das Jahr 1984 und Aria ist neun. Sie driftet durch die nächtlichen Straßen Roms, schwer bepackt mit ihrem riesigen Rucksack und einem Käfig mit ihrer engsten Verbündeten: der …

Es ist das Jahr 1984 und Aria ist neun. Sie driftet durch die nächtlichen Straßen Roms, schwer bepackt mit ihrem riesigen Rucksack und einem Käfig mit ihrer engsten Verbündeten: der schwarzen Katze Dac. Ein Kind ohne einen Platz in der Welt. Nach der ruppig gewaltsamen Trennung ihrer egozentrischen Eltern, deren Zusammenleben bestimmt wurde von Geschrei, Gewalt und gegenseitigen Anschuldigungen, bleibt ihre älteste Halbschwester beim Vater (Gabriel Garko), die mittlere bei der Mutter (Charlotte Gainsbourg). Aria aber, die jüngste und einzige Tochter aus der wahrlich unheiligen Allianz, fällt durchs Raster. Sie wird mal von der Mutter, einer neurotischen Pianistin, (Guilia Salerno), deren beständige Sinnsuche sie zu Kommunismus, Buddhismus und ständig wechselnden Partnern treibt, aufgenommen und wieder verstoßen, dann wieder vom Vater, einem so eitlen wie hysterisch abergläubischen Filmstar.

Asia Argento, die als Darstellerin unter anderem mit Gus Van Sant, George A. Romero und Abel Ferrara zusammenarbeitete, legt mit „Incompresa“ ihre dritte Regie-Arbeit vor. Ihr Debüt, „Scarlet Diva“, entstand im Jahr 2000 und drehte sich um eine junge, attraktive Schauspielerin (gespielt von Argento selbst), hin und her gerissen zwischen Drogenexzessen und ihrer – vermeintlich großen, vor allem aber übermäßig naiven – Liebe zu einem Rock-Musiker. Zwischen ihren Ambitionen, ins Regie-Fach zu wechseln – und zwar mit einem Filmprojekt namens „Scarlet Diva“ – und der sexuellen Ausbeutung zu entgehen. Zwischen allerlei europäischen Metropolen und Los Angeles. In seiner rohen digitalen Ästhetik wirkte das bisweilen wie ein Urlaubsvideo aus der Hölle. Wesentlich professioneller, aber nicht weniger infernalisch geht es auch in ihrem Nachfolger, dem vor zehn Jahren entstandenen „The Heart Is Deceitful Above All Things“, zu, der auch das Thema um ein Kind in einem, gelinde gesagt, dysfunktionalen Familiengefüge aus „Missverstanden“ vorweg nimmt. Dort war es ein Junge, der aus einer Pflegefamilie zurück zu seiner Mutter kam und in Folge die Hölle auf Erden in Form des White Trash-Amerika zu durchleben hatte. Sex, Drogen, Vergewaltigung, prügelnde evangelikale Großeltern u.s.w. Dieser Vorgänger zeigte sich inhaltlich reichlich bemüht, die geballte Schlechtigkeit dieser Erde auf ein paar zarte Kinderschultern zu laden und ließ das Ganze formal – nicht minder bemüht – wie einen besonders bösen Drogentrip aussehen.

Alle Schwächen des vorherigen Schaffens der Regisseurin kehren auch in „Missverstanden“ wieder. Anstelle einer halbwegs funktionierenden Dramaturgie findet sich nur ein – auf Dauer ermüdender – Rausch der Bilder, Farben und Stimmungen. Was auf narrativer Ebene geschieht, die Stationen des Leidenswegs der Protagonistin, wird wie auf einer Strichliste abgehakt. Für den Schauplatz und den Zeitraum der Handlung interessiert sich Argento nur so weit, wie sie einen möglichst grellen Background für die Geschichte liefern. Das Rom, in dem der Film spielt, ist so austauschbar wie irgendwas – ohne dass man hinter dieser Austauschbarkeit eine Funktion erkennen könnte. Die Achtziger sind nichts weiter als ein bizarres Sammelsurium denkbar schriller Klamotten und Interieurs. Ein komplett in pink gehaltenes Zimmer. T-Shirts mit Bowie und Smiley. Möglichst viel Neon und viel zu enge Leggings. Wir verstehen: In dieser Zeit aufzuwachsen, kann nicht sonderlich schön sein.

Dennoch findet sich in der Art, wie sich der Film auf seine kleine Protagonistin fokussiert, der Giulia Salerno eine wirklich eindrückliche Gestalt verleiht, eine Menschlichkeit, die den Vorgängern vollkommen abgeht. Mit viel Empathie wird ein Leben gezeigt, in dem Aria ständig vor verschlossenen Türen steht – mal symbolischen, mal ganz buchstäblichen. Was Aria unentwegt sucht, ist der Halt, den ihre Familie ihr nicht geben kann, nicht so sehr aus schierer Bosheit, sondern aufgrund katastrophaler emotionaler Überforderung. Diese Suche nach Zugehörigkeit führt zu einigen wirklich netten Szenen, die ganz ohne erhobenen Zeigefinger auskommen: Aria, die mit ihrer besten Freundin auf der Schultoilette Zigaretten raucht, was über der vollgekotzten Kloschüssel endet; Aria, die im Park auf einige ältere Herumtreiber trifft; Aria, die mit einem der vielen Freunde ihrer Mutter, einem Punk-Bassisten, im Wohnzimmer randaliert.

Asia Argento betont, dass „Missverstanden“ kein autobiographischer Film sei, trotz der augenfälligen Parallelen zwischen Asia und Aria, deren Vornamen sich nur in einem Buchstaben unterscheiden, die das selbe Geburtsjahr haben und aus einer Familie stammen, die im Show Business tätig ist (Argento ist Tochter des Genre-Maestros Dario Argento und der Schauspielerin Daria Nicolodi). Wie dem auch sei, es scheint, dass Argento mit ihrem Regie-Werk an ihrem ganz eigenen Familienroman arbeitet. Vielleicht hat sie sich in diesen nun, da sie nicht mehr vor der Kamera präsent war, durch die Bezüge zu ihrer Hauptfigur eingeschrieben. Dieses Werk hat mit „Missverstanden“ sein interessantestes, einfühlsamstes Kapitel erhalten. Ob Argento eine wirklich große Erzählerin wird, bleibt aber weiter abzuwarten.

Hier gibt’s eine weitere Kritik zu 'Missverstanden'.

Fräulein Julie

(N/IR/GB/F 2014, Regie: Liv Ullmann)

Wie Schaum auf dem Wasser
von Wolfgang Nierlin

Der Fluss verbindet Anfang und Ende dieses Films: die Unschuld des Kindes mit dem tiefen Fall der späteren Frau, das luftige Grün der Natur mit den kalten Räumen eines herrschaftlichen …

Der Fluss verbindet Anfang und Ende dieses Films: die Unschuld des Kindes mit dem tiefen Fall der späteren Frau, das luftige Grün der Natur mit den kalten Räumen eines herrschaftlichen Anwesens, die Blumen der Erinnerung mit den Blüten des Vergessens. Doch bevor sich seine klaren Wasser nach einer langen Mittsommernacht blutrot färben und sich ein aufreibender Geschlechterkampf seinem vorgezeichneten Schicksal ergibt, heißt es in Liv Ullmanns bemerkenswert theatralischer Adaption von August Strindbergs naturalistischer Tragödie „Fräulein Julie“ zuallererst: „Sie schien für die Leiden dieser Welt nicht geschaffen zu sein.“ Auf einen irischen Landsitz und ins Jahr 1890 verlegt, ansonsten aber mit großer Treue zur literarischen Vorlage, richtet die renommierte schwedische Schauspielerin und Regisseurin ihren Blick auf eine Frau, deren seelische Verletzungen von der Kindheit und dem frühen Verlust der Mutter herrühren und deren Scheitern letztlich in ihr selbst, ihrer starken inneren Zerrissenheit und einer tiefsitzenden Schwermut begründet ist.

Demnach wird Julie sich selbst und ihrem mangelnden Lebenswillen zum Verhängnis; und entsprechend wird sie, gespielt von der wunderbaren Jessica Chastain, als „seltsame Herrin“ eingeführt, die ihren Hund vergiften will und einen melancholisch getönten Nihilismus pflegt: „Wir treiben wie Schaum auf dem Wasser, bis wir untergehen.“ Die ebenso bezaubernde wie betörende Julie, die sich danach sehnt, ihren gesellschaftlichen Stand hinter sich zu lassen, ja „hinunter zu steigen“, kennt sich selbst nicht. Sie will „fallen“ und dabei tief in der Erde versinken wie in einem „schwarzen Loch“. Ganz im Gegensatz zu ihrem Diener, dem ebenso weltgewandten wie verführerischen John (Colin Farrell), der seine bäuerliche Herkunft hinter sich lassen möchte und vom gesellschaftlichen Aufstieg träumt. In einem erotischen Machtkampf zwischen den beiden wird dieser Konflikt im beiderseitigen Wechsel von Dominanz und Unterwerfung verhandelt.

Einzig Johns Verlobte Kathleen (Samantha Morton), die prinzipientreue Köchin des Barons, beharrt auf den für sie naturgegebenen sozialen Unterschieden, während ihre labile Herrin sich in widerstrebendem Wollen den Verführungskünsten ihres Dieners ergibt. Doch nach dem vollzogenen Beischlaf, von den Wirkungen eines übermäßigen Alkoholgenusses benebelt und überdies zerrissen zwischen Gefühl und Verstand, sind die gesellschaftlichen Schranken zwar vordergründig durchbrochen, aber noch lange nicht aufgehoben. Von Fluchtphantasien angestachelt und von Perspektivlosigkeit immer wieder gebremst, erfahren die Protagonisten ihre jeweilige Begrenzung, die schließlich für Julie zum vorgezeichneten Verhängnis wird.

Liv Ullmann zeigt die unausweichliche Verlorenheit ihrer Heldin als hysterisches Abgleiten in den Wahnsinn, während bei ihrem Gegenspieler ein durchaus schwankender, aber letztlich berechnender Charakter obsiegt, der sich in die alte Ordnung fügt. Ihre trockene, fast schon spröde Inszenierung wahrt die klassische Einheit von Zeit, Ort und Handlung und konzentriert sich dabei ganz auf das Gefühlsschauspiel der drei Hauptfiguren, deren leicht unzeitgemäß anmutenden Leidenschaften von den Symmetrien der weitläufigen, kalten Räume förmlich verschluckt werden. Die Lichtregie des Bildgestalters Mikhail Krichman begleitet Julies Absturz entsprechend mit einem Wechsel vom warmen Kerzenlicht ins Fahle, dezent unterlegt mit Musik von unter anderem Schubert, Schuman und Chopin. Mag sein, dass trotz aller Gefangenschaft, in zahlreichen bildlichen Rahmungen vergegenwärtigt, sich Anflüge von Freiheit in die steife Ordnung mischen. Wirklich modern ist dieses geradezu sachliche „Fräulein Julie“ wohl ganz bewusst aber nicht.

Lone Wolf and Cub

(J 1972, Regie: Kenji Misumi, Buichi Saito, Yoshiyuki Kuroda)

Ogami, der Auftragsmörder
von Lukas Schmutzer

Eine Rezension zu einer Serie von Kultfilmen zu verfassen, stellt den Rezensenten vor die Frage, welche Worte denn überhaupt dem (deutschsprachigen) Diskurs über die Filme noch irgendetwas hinzufügen könnten. Eingefleischte …

Eine Rezension zu einer Serie von Kultfilmen zu verfassen, stellt den Rezensenten vor die Frage, welche Worte denn überhaupt dem (deutschsprachigen) Diskurs über die Filme noch irgendetwas hinzufügen könnten. Eingefleischte Fans wissen längst, wie über den einsamen Wolf und sein Kind gesprochen wird, und da könnte der Rezensent entweder einstimmen und sich als einer der ihrigen erweisen; oder er widerspricht und erweist sich als Spielverderber bzw. schlicht und einfach als Ahnungsloser.

Diejenigen, die andererseits weniger mit dem Bild des kinderwagenschiebenden Ronins vertraut sind, können sich im Netz relativ schnell die zentralen Schlagworte zusammenkratzen. Der erste Teil der Serie, der nicht weniger intensiv von Sex und Gewalt erzählt als die folgenden, wird z.B. vom katholischen Filmlexikon als zwar „verstörender Film“ geführt, aber „auf ästhetisch hohem Niveau“. ARTE strahlte die sechs Filme, die nun auf Blu-ray erschienen sind, 2010 interessanterweise in der Kategorie „Trash“ aus. Vielleicht ist damit das Spannungsfeld abgesteckt, welches es so schwer macht, sich hier von Schlagworten zu distanzieren: In „Lone Wolf and Cub“ verliert die ästhetisierte Gewalt ihre Verhältnismäßigkeit und wird zum trashigen Selbstzweck, was einem gefallen kann, oder eben nicht; beginnt man hingegen über diesen Umstand nachzudenken, muss man bald feststellen, dass man nicht mehr über den Film, sondern über ganze Genres spricht. Nicht zuletzt dies verleiht den nicht minder gewalttätigen Zitaten in den Filmen von Tarantino ihre Pointe – die Exzesse von „Kill Bill“ sind selbstreferentiell und verweisen als Zitate dennoch auf ganze Genre-Traditionen. „Kill Bill“ war stark von „Lady Snowblood“ inspiriert, ein Rachefilm, der auf einem Manga von Kazuo Koike basierte. Von diesem Autor stammt auch die Mangaserie „Lone Wolf and Cub“, die von 1972 bis 1974 zum Teil verfilmt wurde.

„Lone Wolf and Cub“ konfrontiert mit einem unbarmherzigen Herrschaftssystem im Japan des 17. Jahrhunderts. Der Shogun wählt brutale Mittel, um seine Macht zu sichern. Die Abfertigung unliebsamer Untergebener ist dabei an drei Klans delegiert: Der Kurokama-Klan soll die Fürsten ausspionieren; der Yagyu-Klan soll Verdächtige liquidieren; und Itto Ogami ist der sog. „Kaishaku-Nin“ des Shoguns – er assistiert beim Seppuku, dem rituellen Selbstmord, indem er den in Ungnade gefallenen Adligen den Kopf abschlägt. Wie um das System zu definieren, mit dem es der Zuschauer nunmehr zu tun bekommt, beginnt der erste Teil, „Das Schwert der Rache“, mit der Enthauptung eines Kindes. Aufgrund einer Intrige des Yagyu-Klans fällt Itto Ogami selbst in Ungnade; seine Familie wird bis auf seinen Sohn Daigoro ermordet; anstatt selbst Seppuku zu begehen, sinnt er auf Rache. Fortan schiebt Itto Ogami als Ronin auf den Spuren Toshiro Mifunes einen schwer bewaffneten und gepanzerten Kinderwagen mit seinem Sohn vor sich her und verdingt sich als Auftragsmörder für den Pauschalpreis von 500 Ryo (der japanische Untertitel, wenn man ihn übersetzt, lautet: „Kind und Fähigkeiten anzubieten“).

Während es der Antagonismus zwischen Itto Ogami und den Yagyus ist, der alle sechs Teile verbindet, sind die jeweiligen Spannungsbögen der Filme mitunter so schwach ausgeprägt, dass die Erzählung in einzelne Episoden zerfällt, was ihnen mehr den Charakter einer TV-Serie verleiht. Der Zuschauer scheint sich dabei zunächst ein wenig in der Rolle Daigoros zu befinden, der aus seinem Kinderwagen relativ unbeteiligt ein Geschehen verfolgt, das aus Intrigen, Blutfontänen und nackter Haut besteht. Spätestens als sich der leicht herangereifte Daigoro dann im fünften Teil („Der weiße Pfad der Hölle“) so diszipliniert wie sein Vater (welcher im 3. Teil eine Folter über sich ergehen ließ) öffentlich auspeitschen lässt, um seine Ehre zu bewahren, fühlt man sich in eine distanziertere Position genötigt. Was zeigen die Filme denn immer wieder aufs Neue? Die Hierarchie einer feudalen Gesellschaft, an der auch der herrenloseste Samurai noch immer zu partizipieren hat; diese ausweglose Hierarchie wird als brutal und ungerecht entlarvt, während die Gewalt, die sie notwendig hervorbringt, ästhetisiert wird. Ähnliche Ambivalenzen wirken in vielen Filmen, „Lone Wolf and Cub“ macht sie aufgrund seiner Bildsprache allerdings besonders eindringlich spürbar. Dass Mise en scène und Montage mitunter exzellent sind, sagt im Grunde bereits das zitierte Urteil des Lexikons.

Zur Blu-ray: Die Filme wurden neu vom Master abgetastet. Das Bild ist gut, nur zuweilen wirkt es leicht körnig. Jeweils zwei Filme wurden auf eine Blu-ray gespielt, die drei Datenträger werden in einer entsprechenden Hülle im Blu-ray-Format verwahrt, die ein Wendecover enthält. Die Plastikhülle steckt in einem Pappkarton-Schuber. FSK 18-Logos prangen zwar auf den einzelnen Datenträgern, weder aber auf der blauen Hülle noch auf dem Karton. In Zeiten, wo sonst vor allem Werbebroschüren beiliegen, sollte das 16-seitige Booklet positiv hervorgehoben werden, für das ein informativer Text verfasst wurde. Als „Bonus“ wurden die jeweiligen Filmtrailer auf die Datenträger gebannt. Die Filme sind nicht synchronisiert, sondern nur mit der Originaltonspur zu sehen. Der meiner Ansicht nach größte Kritikpunkt ist, dass nur deutsche Untertitel zugeschalten werden können.

The Interview

(USA 2014, Regie: Evan Goldberg, Seth Rogen)

Analität des Bösen
von Marit Hofmann

Am 9. Dezember 2014 begab ich mich in Lebensgefahr. Ich besuchte das Hamburger Pressescreening von 'The Interview', dessen Vorführer wie Zuschauer, wie ich erst später erfuhr, 'einem tragischen Schicksal geweiht' …

Am 9. Dezember 2014 begab ich mich in Lebensgefahr. Ich besuchte das Hamburger Pressescreening von 'The Interview', dessen Vorführer wie Zuschauer, wie ich erst später erfuhr, 'einem tragischen Schicksal geweiht' seien. So hieß es in einer der widersprüchlichen Botschaften der mutmaßlichen Sony-Hacker oder ihrer Trittbrettfahrer, gefolgt von den raunenden Worten: 'Erinnert euch an den 11. September 2001.' Dabei erscheint es mir im Nachhinein ziemlich schwierig, ein entführtes Verkehrsflugzeug in das Kino im Erdgeschoss eines vierstöckigen Gebäudes zu steuern. Einen Attentatsversuch gab es dann auch nur im Film selbst: Die CIA will den nordkoreanischen Staatschef mit Hilfe zweier durchgeknallter Radaufernsehjournalisten, die ein Interview mit Kim Jong-un ergattert haben, umlegen lassen und darf am Ende auch dessen Ausschaltung feiern – aus Nordkorea wird Knall auf Fall eine sog. Demokratie nach westlichem Vorbild.

Die dafür aufgefahrenen explodierenden Hubschrauber, Fäkalien und anderen Analitäten gehören nicht gerade zu den letzten Bildern, die ich vor meinem Tod an mir vorüberziehen lassen will. Wie üblich ist bei Pressevorführungen, bei denen Alkoholika (in diesem Fall Glühwein) gereicht werden, damit sich die kritischen Medienvertreter das Prüfobjekt schöntrinken können, Vorsicht geboten. Vereinzelte Lacher entlockten mir anfangs noch die Szenen, in denen die Filmemacher Seth Rogen und Evan Goldberg die US-eigenen Perversionen des TV-Geschäfts vorführen. Unter anderem mit Hilfe des echten Eminem, der durch ein überraschendes Statement Talkmaster James Francos Mimik Achterbahn fahren lässt. Auf ihrem Nordkorea-Trip mutieren der Startalker und sein Produzent aber immer mehr zu langweiligen Moralaposteln, die in Wendungen aus dem Actionkomödienbaukasten die feindliche Propaganda entlarven. Zum patriotischen Helden macht den Talkmaster schließlich, dass er Kim Jong-un als Weichei dastehen lässt, das live on air in Tränen ausbricht und sich in die Hose macht.

Ebenso dürfen sich nun auch die Zuschauer des mittlerweile für die Goldene Himbeere nominierten Klamauks als patriotische Kämpfer für die Meinungsfreiheit fühlen. Verschwörungstheoretiker könnten in dem Wirbel um die Hollywood-Klamotte über einen als Pressecoup getarnten Mordkomplott einen als Mordkomplott getarnten Pressecoup wittern. Denn der Film, der nun doch wie ursprünglich geplant am 5. Februar auch in deutschen Kinos startet, ist dank der transatlantischen Aufregung viel erfolgreicher, als zu erwarten war. Dabei hatte Dokumentarfilmschreck Michael Moore nach der Nachricht von der vorübergehenden Absetzung von 'The Interview' bereits frohlockt und die Sony-Hacker per Twitter gebeten, auch noch für weniger romantische Komödien, Michael-Bay-Produkte und 'Transformer'-Fortsetzungen zu sorgen.

Immerhin bietet der Hype um den Film ungeahnte Möglichkeiten für kreative Kriminelle: Wer 'The Interview' downloaden will, könnte auf einen Trojaner hereinfallen und seine Onlinebankingdaten loswerden. Lebensgefahr besteht aber offenbar nicht. Höchstens die Gefahr tödlicher Langeweile.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 02/2015

Birdman oder (Die unverhoffte Art der Ahnungslosigkeit)

(USA 2014, Regie: Alejandro González Iñárritu)

Highbrow meets Lowbrow
von Tim Lindemann

Ein tröstlicher Gedanke: Irgendwann ist der Superheldenboom des aktuellen amerikanischen Kinos wieder vorbei, die an und für sich talentierten Schauspieler müssen ihre quietschbunten Rüstungen ablegen und sich wieder auf sich …

Ein tröstlicher Gedanke: Irgendwann ist der Superheldenboom des aktuellen amerikanischen Kinos wieder vorbei, die an und für sich talentierten Schauspieler müssen ihre quietschbunten Rüstungen ablegen und sich wieder auf sich selbst besinnen. Die weniger talentierten verschwinden in der Versenkung. Es ist zunächst nicht ganz klar, zu welcher der beiden Kategorien der von Michael Keaton gespielte Riggan in 'Birdman' gehört; deutlich wird allerdings schnell, dass er noch einer anderen Generation der Superheldenmimen angehört: Heutzutage plant die Comicfilmschmiede Marvel ihre 'Franchises' bereits mehrere Jahrzehnte in die Zukunft voraus, für Riggan war nach Teil 3 seiner erfolgreichen 'Birdman'-Serie einfach Schluss. Nun will er ein ernsthaftes Stück am Broadway inszenieren und selbst die Hauptrolle übernehmen, also mit einem Knall von der Pop- in die Hochkultur wechseln. Doch die Dämonen seiner Trash-Vergangenheit wollen nicht ruhen …

Keaton – das gehört zum verschrobenen, postmodernen Charme von Alejandro González Iñárritus Film – ist selbst Superheldenveteran, er war zwei Filme lang Tim Burtons Batman. Im Gegensatz zu seiner Figur Riggan aber ist Keaton ein hervorragender Schauspieler: Er verleiht 'Birdman' mit seiner verbissenen, verzweifelten Performance die nötige Bodenhaftung. Formal schlägt der mexikanische Regisseur hier nämlich über alle Stränge, verbindet virtuos und thematisch passend Populärkino mit wüsten Verfremdungsstrategien à la Godard. Dazu gehört unter anderem ein jazziger Percussion-Soundtrack – hin und wieder sieht man den Schlagzeuger sogar im Hintergrund der Szene sitzen – sowie die Illusion, dass der gesamte Film in einem einzigen Take, also ohne Schnitte, entstanden sei.

So generiert Iñárritu eine atemlose Atmosphäre: Die Kamera, geführt von Terrence Malicks Stammkameramann Emmanuel Lubezki, folgt den herumhetzenden Schauspielern durch die engen Gänge hinter der Bühne, gleitet bei Außenszenen plötzlich wie von Zauberhand in die Luft. Technisch ist 'Birdman' ein wahres Wunderwerk, wenn auch die avantgardistische Inszenierung und die rasend schnellen Dialoge dem Zuschauer den Einstieg in das psychotische Backstage-Universum nicht ganz einfach machen. Zudem übernimmt der Film teilweise den paranoiden Blickwinkel seiner Hauptfigur. In seiner eigenen Welt verfügt der von den Medien und ehemaligen Geschäfts- und Liebespartnern getriebene Riggan nämlich tatsächlich über die wundersamen Fähigkeiten seines alter egos Birdman: Er wirbelt Gegenstände telekinetisch durch die Luft, ist übermenschlich stark und vermag schließlich sogar zu fliegen. Doch von irgendwo außerhalb seines Blickfelds verhöhnt ihn dabei immer eine tiefe Stimme, die psychologische Inkarnation seiner fiktiven Filmfigur: 'Du Versager! Was ist nur aus dir geworden?' Persönlichkeitsspaltung made in Hollywood.

Seit Harmony Korines Spring Breakers' hat kein Film mehr so tief in den ewig klaffenden Abgrund zwischen Kunst und Kommerz geblickt und Kitsch so virtuos mit Anspruch verbunden. Wo Korine sich aber mit dem diabolischen Scherz begnügte, popkulturelle Leere auf Arthouse-Look treffen zu lassen, geht Iñárritu weiter: Er will wissen, was auf dem Spiel steht, wen, wie man auf Englisch sagt, highbrow und lowbrow kollidieren. Seine Antwort ist paradoxerweise ebenso ernüchternd wie humorvoll: Einerseits führt uns 'Birdman' vor Augen, wie die willkürlichen, hierarchischen Geschmacksgrenzen solche Wandler zwischen den Welten wie Riggan in die Knie zwingen können – dafür steht hier vor allem die Instanz der versnobbten Theaterkritikerin. Zum anderen kommentiert und verspottet der Regisseur dieses rigide Kulturklassensystem aber auch mit seiner Inszenierung: Der Sprung von Riggans Auseinandersetzung mit dem Dichter Raymond Carver zum Kampf mit einem überdimensionalen Vogelmonster wird mühelos in wenigen Bildern vollzogen.

Ebenso mühelos wechselt Iñárritu, Regisseur und Autor von so schwerblütigen, grüblerischen Epen wie 'Babel' und Biutiful', hier ins Komödienfach. Wobei die messerscharfen Dialoge in 'Birdman' vor allem wegen des hervorragenden Casts so gut funktionieren: Da sind Edward Norton als Theaterveteran mit extremen Methoden, Emma Stone als Riggans vernachlässigte, drogenaffine Tochter, Zach Galifianakis als Riggans überforderter Manager und Anwalt und viele mehr.

Außerdem gönnt Iñárritu seinem Publikum einige köstliche Momente physischer Slapstickkomik. Absolutes Highlight ist eine Szene, die wie der archaische Alptraum eines jeden Bühnenkünstlers wirkt: Riggan sperrt sich versehentlich während der Vorführung am Bühneneingang aus dem Theater aus und muss es, spärlich bekleidet und per Umweg über den dicht bevölkerten Broadway, durch den Vordereingang wieder betreten.

Auch in diesen kleinen albernen Momenten schwingen stets kluge Überlegungen zum Verhältnis von Mensch und Medium mit: Riggans Einmarsch durch den Zuschauerraum, also sein Bruch mit der 'vierten Wand', wird zu einer Art zweiter Geburt für den vormaligen Leinwandhelden: Er hat die Bühne und die psychotischen Geheimgänge dahinter endlich verlassen und erkennt das Theater als fundamental anderen Raum im Gegensatz zum Kino an – nicht besser oder anspruchsvoller, nur anders, direkter. Auf den Theaterbrettern, das lernt Riggan von Edward Nortons Mike, muss man erst vollkommen Ich sein, um zur jeweiligen Figur werden zu können. Dass auch diese hehre Erkenntnis am Ende zum dramatischen Extrem getrieben werden muss, das hat Iñárritu verstanden, gehört zum Handwerk eines guten Komödianten. Ob das aber schließlich Riggans Triumph, seinen Abstieg in den Wahnsinn oder beides zugleich bedeutet, bleibt offen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 02/2015

Hier gibt’s eine weitere kritik zu 'Birdman'.

Top Girl oder la déformation professionnelle

(D 2014, Regie: Tatjana Turanskyj)

Zur Ökonomisierung des Intimen
von Ulrich Kriest

Mysteriöse Exposition: vier nackte Frauen stolpern unsicher und ungelenk durchs Unterholz. Schnitt. Innen. Eine junge Frau mit Katzenmaske scheint nach getaner Arbeit erschöpft, nebenan schläft ein nackter Mann in kindlicher …

Mysteriöse Exposition: vier nackte Frauen stolpern unsicher und ungelenk durchs Unterholz. Schnitt. Innen. Eine junge Frau mit Katzenmaske scheint nach getaner Arbeit erschöpft, nebenan schläft ein nackter Mann in kindlicher Stellung. In „Top Girl oder la déformation professionnelle“, dem zweiten Teil ihrer geplanten Trilogie über Frauen und Arbeit, nimmt Tatjana Turanskyj („Eine flexible Frau“) das große Ganze aktueller Geschlechterverhältnisse zwischen Abgründigem und Groteskem in den Blick.

Da ist die etwa 30jährige Schauspielerin Helena (die mit der Katzenmaske), die vor der Jahrtausendwende einmal ein TV-Serienstar gewesen ist („Die Mädchenpolizei“), jetzt aber eher erfolglos ist. Was auch damit zu tun haben kann, wie sich die Dinge allgemein entwickeln, denn wir werden Zeuge, wie Helena sich unmissverständlich verweigert, als sie bei einem Casting von zwei aufgekratzten Castingagentinnen aufgefordert wird, ein „notgeiles“ Prosecco-Luder zu spielen. Als alleinerziehende Mutter kann man sich solch eine Verweigerung nicht allzuoft leisten, deshalb verdient Helena seit Jahren unter dem nome de plume »Jacky« ihr Geld als Sexarbeiterin bei einem Escort-Service und einem Bordell. Als selbstständige Dienstleisterin – ohne Zuhälter. Wenn sie auf die Wünsche ihrer männlichen Kunden eingeht, ist der Job gar nicht so viel anders als die Schauspielerei: Man verbringt viel Zeit mit Warten und wenn es heißt: „Du machst, was ich sage!“, dann schlägt die Stunde der Kreativität.

Zum Glück sind die Männer in ihren Wünschen nicht sonderlich einfallsreich: »Jacky« hat zwar das komplette Repertoire von „A/O“ über Wasserspiele bis „BDSM“ im Angebot, aber zumindest im Film bleibt es bei recht harmlosen Rollenspielen und dem Wunsch: „ganz normal GV und danach noch still daneben liegen“. Turanskyj zeigt Helenas nur scheinbar selbstbestimmten Alltag in jeder Beziehung ziemlich unglamourös zwischen Hausarbeit und Sexarbeit. Anschließend werden in recht engem Zeittakt die Tochter betreut, Betten neu bezogen oder Sextoys gereinigt.

Die Ich-AG-Dienstleisterin »Jacky« scheint mindestens so erschöpft wie die Männer, die ihre Dienste nachfragen. Was darauf hinweisen könnte, dass es hier um mehr geht als um eine Kritik paternalistischer Strukturen, denen es ideologisch gelungen ist, sexuelle Dienstleistungen als „normalen Markt“ zu entwerfen und Sexualität zu ökonomisieren. Aber da ist auch noch Helenas Mutter, eine freiberufliche Musiklehrerin, die aus einer Position der klassischen Frauenbewegung der selbstgewählten Abhängigkeit ihrer Tochter skeptisch gegenübersteht. Zwischen Mutter und Tochter wird ein weiterer Konfliktraum etabliert zwischen Old-School-Feminismus und einem post-feministischen Individualismus, der aus freien Stücken zu den Bedingungen des Neoliberalismus agiert, der – wie die Filmemacherin angemerkt hat – Konsum als gesellschaftliche Teilhabe und Emanzipation verkauft. Dieser Konflikt wird vertieft durch den Vortrag einer souverän auftretenden Schönheitschirurgin, die körperliche Selbstoptimierung durch operative Eingriffe als konsequentes Zuende-Denken feministischer Emanzipationsutopien postuliert: „Ich bestimme mein Alter selbst!“

So fügt sich eins zum anderen und zu einem Bild, das seine Stimmigkeit nur ideologisch behauptet, weil der clever-diskursive Post-Feminismus das Spiel des (erschöpften) Patriarchats spielt. Kein Wunder, dass sich der Film als Kammerton A die Haltung bei der Musiklehrerin-Mutter abholt, die ihrem Schüler rät, sich mit einem „Ich habe genug“ locker zu machen. Lange arbeitet der Film an einem Gleichgewicht zwischen der kühlen und immer etwas müden Professionalität Helenas, zurückhaltend gespielt von Julia Hummer, und der raumgreifenden Exaltiertheit ihrer Mutter, gespielt von Susanne Bredehöft. Kurz vor Schluss scheint der Film dann selbst die Geduld verloren zu haben – er schlägt um in eine böse Satire, deren Deutlichkeit ärgerlich machen kann.

Als ein Freier, seines Zeichens Versicherungsvertreter (RP Kahl bewegt sich gewohnt „cool“ in diesem Setting), Helenas Kreativität für ein ganz besonderes Event abruft, ist sie schnell dabei und liefert gewissermaßen vier Kolleginnen ans Messer. Als Regisseurin einer drastischen Performance, die jetzt die Bilder der Exposition »einfängt«. Es ist schon fast ein surreales Szenario, wenn die Männer nach erfolgreicher Jagd ein einschlägiges Lied anstimmen: „Jäger aus Kurpfalz“ – eine etwas überkandidelte Comedy-Pointe. Da tröstet es dann auch nicht mehr richtig, wenn sich der Film die dialektische Pointe gönnt, Hummer/Helena zum Schluss als mondäne Wiedergängerin von Magdalena Montezuma in Ulrike Ottingers „Madame X – Die absolute Herrscherin“ zu inszenieren.

Exodus: Götter und Könige

(GB / USA 2014, Regie: Ridley Scott)

Bale mit Bart und ein Bub als Gott im Plagenpanorama
von Drehli Robnik

Wir müssen viel warten, bis viele waten müssen. Zwar vertreibt uns ein streitwagenintensives Gemetzel an Hethitern, das gleich nach Beginn erfolgt, ein wenig von der Zeit; doch dann dauert es …

Wir müssen viel warten, bis viele waten müssen. Zwar vertreibt uns ein streitwagenintensives Gemetzel an Hethitern, das gleich nach Beginn erfolgt, ein wenig von der Zeit; doch dann dauert es manch langen Dialog, bis der Film 'Exodus: Götter und Könige' zeigt, was er hat (und das ist dann weitgehend auch schon alles): Menschenmassen beim Waten durch Watsch, Blutwasser, sowie kniehohen Frosch-, Fliegen und Heuschreckenbefall in Panoramen der Plagen, die Ägypten heimsuchen, und später noch mal bei Durchquerung des Roten Meeres durch die im Auszug begriffene hebräische Sklavenkarawane samt Ertränkung der sie verfolgenden Kavallerie. Pompös ist das, zumal in 3D, und voll Gusto am Detail: Das Spektakel weidet uns am Anblick der eitrigen Hautausschläge, die Pharaos Höflinge vom Nilwasser kriegen, oder von Haien, die verspeisen, was der Tsunami übriggelassen hat.

Hier ist alles Materie in Aufruhr, Fleisch in Passion (ohne das sich viel davon auf uns übertrüge), und alles hat seine möglicherweise natürlichen Gründe: Wetterkapriolen etwa oder Wahnvisionen des charismatischen Sklavenaufstandsanführers Moische, bei Hof bekannt als Moses. Er hadert mit einem altklugen Buben, den er – und nur er – immer wieder mal sieht (das erste Mal übrigens, als er nach einem Hangrutsch bis zum Hals unter Geröll verschüttet aus der Ohnmacht erwacht, geradewegs vor einem brennenden Dornbusch). Auf Geheiß des Buben verbreitet Moses Terror unter den Sklavenhaltern; der rachsüchtige Bub will mehr davon.

Die Story darf als unbekannt vorausgesetzt werden.

Zu Beginn der Kinogeschichte zählten Filme – Streifen von fünf, zehn Minuten Länge – nach biblischen Stoffen zu jener Lichtspielware, bei der angenommen werden konnte, dass die Leute die jeweiligen szenischen Handlungen erkennen, zumal aus Büchern und Grafiken wiedererkennen, verstehen und mental zu so etwas wie einer Spielfilmhandlung zusammensetzen würden. 2014 ist das anders, da bleibt bei der ganzen Moses-Chose wohl einiges rätselhaft: so etwa wenn der Held zwei Minuten vor Ende, während seine Landsleute sich eine Einstellung lang mit einer goldglänzenden Rindviehstatue befassen, wieder einmal einen psychotischen Schub hat und irgendwas in Steintafeln griffelt. Diese Tätigkeit scheint einen Kompromiss zwischen ihm und seinem inneren Buben zu bedeuten. Jedenfalls packt Moses die Tafeln dann in eine Bundeslade und fährt im Planwagen weiter nach Kalifornien. Später wird Indiana Jones die Lade finden und vor Nazis retten.

Steht denn da was Wichtiges drin? Ein göttlich großes Wort, ein Testament? Das ist zu vermuten. Wie sonst könnte Regisseur Ridley Scott sonst seinen Film mit einer groß prangenden Inschrift beenden? 'For my brother, Tony Scott' heißt es da leinwandfüllend. Tony war Ridleys jüngerer Bruder, hatte Schreckliches wie 'Top Gun' und Gutes wie 'Déjà vu' oder 'Unstoppable' inszeniert und 2012 Suizid begangen.

Das Gesetz der Brüder ist offenbar Gebot der Stunde. Von wegen Zeitpunktbestimmung: Gegenüber von der Inschrift zum Gedächtnis des Bruders, am anderen Ende des Films, also an dessen Anfang, da steht (nicht ganz so leinwandfüllend) ein Titel, der uns frühgeschichtlich verortet: '1300 Jahre vor unserer Zeit'. Diese Ansage, die das bis vor kurzem gängige 'v.Chr.' durch eine gott(essohn)lose Datierung ersetzt und doch nicht gleich an DDR-Tonfall erinnert, ist programmatisch: 'Exodus' kommt – indem er sich naturwissenschaftliche Begründungshintertüren offenlässt, als wär’s eine 'Universum'-Fernsehdoku – ohne Gott aus. Nicht aber ohne Godfather, denn: Wenn Gottvater und sein Gebot (also, eigentlich seine Gebote, es ist deren circa ein knappes Dutzend) wegfallen, weil der Film mit beidem nichts anzufangen weiß, dann treten an deren Stelle die Brüder und ihr Regime. (Das dann wiederum auf Gott rückwirkt, der hier folgerichtig der bübischste Bub unter all den Buben ist.)

Ungleiche Brüder zumal: Moses als der bevorzugte, adoptierte Sohn des Pharaoh einerseits und anderseits dessen leiblicher Sprössling, der aber eitel und unfähig ist. Pharaoh junior kriegt ein paar Szenen, in denen er im Beraterkreis genervt fläzen, dekadent mümmeln und obszön rumbosseln darf, als wäre er Marlon Brando in 'The Godfather'. Der dekadenten Bande am ägyptischen Hof setzt Moses ein forciert rationales Programm entgegen, das allerdings keines ist: Zu schematisch und lippenbekenntnishaft wirken sein Eingangsvotum für 'Vernunft' und später seine Forderung nach gerechten Löhnen für die Sklaven.

Dort, wo Moses nicht gleich das Ethos der Gesetzesfurcht pauschal durch die Segnungen eines unbeirrbaren Fanatismus ersetzt, tritt er also als Vernunftvordenker und Gewerkschafter an. Ein Anachronismus, sicher. Doch der passt gut zu der Unstimmigkeit, wonach dasjenige, wovon der Filmtitel kündet, also der 'Exodus' (der des hebräischen Volkes aus ägyptischer Knechtschaft) im Film kaum vorkommt; kaum zumal im Vergleich mit den gut fünf Minuten, die der jubilierende Aufbruch der Sklavenmassen, samt Vieh und Hausrat, aus ihrem unfreien Domizil in der bis heute kanonischen Verfilmung des Moses-Stoffes dauert, in Cecil B. DeMilles (zweiter Version von) 'Die zehn Gebote', 1956 ein großer Kassenerfolg (aber nur in wenigen Momenten ein großer Film). Ridley Scotts Film heißt 'Exodus', aber er zeigt ihn nicht (sondern springt fast übergangslos von den Auswirkungen der letzten der großen Plagen zu der Verfolgungsjagd zwischen Hebräern und Ägyptern im Gebirge und am Roten Meer).

Der Titel hängt also ein wenig in der Luft. Umso mehr ruft er in Erinnerung, dass es schon einmal einen Hollywood-Film gab, der 'Exodus' hieß und eine historische Staatsmachts- und Befreiungsgeschichte im Nahen Osten erzählte: Otto Premingers 'Exodus' von 1960, u.a. mit Paul Newman, eine monumentale Kinoerzählung von der Gründung des Staates Israel in den Jahren 1945-1948 im Kampf erst gegen die britische Kolonialmacht, dann gegen arabische Nachbarn. Im Zusammenhang mit solchen Nach- oder Beiklängen sind wohl die eigentümlichen Aktualisierungen zu lesen, die Scotts 'Exodus' vornimmt: Das reicht von Anspielungen auf den Nazi-Massenmord am jüdischen Volk – die sich aufdrängen, wenn am Rand des Zwangsarbeitslagers Stapel von ausgezehrten Sklavenleichen verbrannt werden, oder wenn Ben Kingsley hier dem echten Moses, nicht nur einem als solchen angesprochenen metaphorischen namens Schindler, ins Gewissen redet – bis zur Frage des Rückkehrrechts für die Hebräer in ihre alte Heimat Kanaan (und ob das überhaupt dafür steht und nicht ein Leben im Exil-Lager zu bevorzugen wäre), sowie zur Terrorstrategie mit Anschlägen auf die Wohlstandsinfrastruktur und das Sicherheitsgefühl der ägyptischen Bevölkerung, die Moses seiner Guerillatruppe zwecks Angriff auf den haushoch überlegenen gegnerischen Staats- und Militärapparat befiehlt. Mit letzterem vollzieht sich zum Teil eine Art Platztausch im Verhältnis zu den Rollen von Palästinensern und Israelis – sowohl was Vertreibungsgeschichte betrifft als auch in Hinblick auf den jüngsten Gazakrieg und dessen asymmetrische Kriegsführung. Von den antizionistischen Begleitäußerungen dieses Krieges weht der Schmähruf 'Kindermörder!' in den 'Exodus' herüber; das Wort rufen aufgebrachte Ägypter, deren Erstgeborene nachts zu Tode gekommen sind, den davon verschont geblieben Hebräern zu.

In 'Exodus' ist also einiges verschoben, versetzt, verworren, auch verschnitten (sprich: unrhythmisch montiert). Dabei könnte alles so klar und eindeutig sein. Ridley Scott könnte einfach, so wie Cecil B. DeMille mit seinen vorausgeschickten Erklärungen westlicher Freiheiten bei seiner 1956er Version von 'Die zehn Gebote', zu Filmbeginn vor uns hintreten und verkünden: 'Das ist ein besonderer Film. Ich habe nun, nach ‚Robin Hood‘, den ‚Gladiator‘-Stoff zum dritten Mal verfilmt, wieder mit reichlich Digitaltotalen, Jaulchören, schwülstigem Orientalismus und Homophobie gegen effeminierte Männer. Die betreffende Joaquin Phoenix- bzw. Oscar Isaac-Rolle des unwürdigen Thronanwärters spielt diesmal Joel Edgerton – ungut, weil mit viel Kajal. Russell Crowe hatte von ‚Noah‘ noch genug, darum macht diesmal Christian Bale den bodenverbundenen Bartbär. (Mit Gewalthandeln ohne Gesetz und Gebot hat er ja schon aus den Batman-Filmen Erfahrung.) Die einzigen dunkelhäutigen DarstellerInnen, die vorkommen, spielen unsympathische Kleinstrollen. Die meisten Szenen mit Sigourney Weaver – einst Godmother aller Actionheldinnen in meinem besten Film (‚Alien‘) – hab ich rausgekürzt. Lang wird das jetzt trotzdem.'

Ich will mich nicht künstlich aufregen

(D 2014, Regie: Max Linz)

Finanzierungsprobleme und theoretischer Überhang
von Nicolai Bühnemann

„Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße…“ Nur in der ersten Szene regt sich Asta Andersen so richtig auf. Sie liegt da, wälzt sich, rauft ihre roten Haare und wiederholt in einem enervierten …

„Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße…“ Nur in der ersten Szene regt sich Asta Andersen so richtig auf. Sie liegt da, wälzt sich, rauft ihre roten Haare und wiederholt in einem enervierten und enervierenden Singsang das Wort „Scheiße“. Asta (Sarah Ralfs) arbeitet als Kuratorin an einer Ausstellung, die „Das Kino! Das Kunst!“ heißen soll. Als sie in einem Radiointerview kritische Thesen vertritt, gehen ihr die Geldgeber flöten. Sich nicht künstlich aufzuregen, eine geradezu stoische Ruhe zu bewahren, scheint Astas Stärke zu sein in ihrer Odyssee durch die Gremien und das Berlin der Gegenwart. Ob bei dem Zusammensein mit einigen Kreuzberger Türken, die sich in der Initiative „I Love Kotti“ gegen steigende Mieten engagieren oder beim Warten auf einen indischen Geldgeber.

Asta ist äußerst hip und extrem kultiviert. Diedrich Diederichsen schreibt zu ihrem Namen: „Die Hauptfigur Asta heißt wie eine Stummfilmdiva und ein Allgemeiner Studierendenausschuss – wenn das nicht genau die Synthese ist, aus der die hier Handelnden und Portraitierten gebacken sind: Diva und Drittmittelantrag.“ Asta und der Film arbeiten sich zunächst an einem Berg von Theorie ab. Sehr buchstäblich. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Bücher von Kracauer und Luhmann, Ausgaben der Zeitschrift „Frauen und Film“ und das Feuilleton der „Zeit“. Rezitiert, vorgelesen werden Horkheimer und Adorno und Brecht und der Immobilienteil einer Berliner Zeitung, der besagt: die Mieten explodieren. Und zwar unter anderem, unter Astas Regie, von Frauen und Männern mit Down-Syndrom, die offensichtlich das Gelesene selbst nicht verstehen. Dazu gibt es Fassbinder. Asta sitzt so mittig in einer starren Einstellung, umgeben von anderen Menschen wie es, so erklärt sie, Hanna Schygulla in „Acht Stunden sind kein Tag“ tat, um den Mehrwert zu erklären. Und auch bei RWF wurde ja oft gelesen und rezitiert. In „Die dritte Generation“ etwa Rimbaud und Sprüche von den Wänden öffentlicher Toiletten.

Dass es einen Fassbinder im heutigen Medienbetrieb nicht mehr gibt, liegt, so die Kritik von Max Linz‘ erstem Film, unter anderem daran, dass durch die Vergabe von Fördergeldern ein Konsens produziert wird, in dem Dissidenz systematisch der Geldhahn zugedreht wird. Widerspenstigkeit wird, wie es Asta erleben muss, mit einer prekären Situation in der Finanzierung der Projekte bestraft. Dabei verschweigt der Film nicht, dass die Position der Kulturschaffenden dennoch eine privilegierte bleibt. Hat Asta doch zumindest immer noch eine reiche Mutter, auf die sie zurückgreifen kann, und die ihr – man hat ja Beziehungen – zur Seite steht.

„Als die Mauer noch stand,“ sagt Asta an einer Stelle, „konnte der Reaktionär zur Kritikerin sagen: Dann geh doch rüber! Heute heißt es: Vielleicht bist du bei der bildenden Kunst besser aufgehoben.“ Den Dichotomien von hier/drüben, Kino/Kunst setzt Linz eine größtmögliche Integration entgegen. „Ich will mich nicht künstlich aufregen“ ist nicht nur ein Film, der aus vielen kleinen Filmen, aus einer Vielzahl von Miniaturen zusammengesetzt scheint, die eher durch die Präsenz der Hauptfigur zusammengehalten werden als durch einen Plot im eigentlichen Sinne, es geht ihm auch um intermediale Verknüpfungen, darum, Galerie und Online-Archiv, Sitcom und Nachrichtensendung und Videoinstallation in sich aufzusaugen.

Linz‘ Film wurde bei der Berlinale 2014 uraufgeführt und sorgte für einigen Diskussionsstoff. Ob, wie mancherorts behauptet, die Darstellungen des Kulturprekariats in Klischees münden oder die künstliche Aufregung in Linz‘ Auseinandersetzung mit der dunklen Seite des Kulturbetriebs überwiegt, sei dahingestellt. Immerhin erhält das Finanzierungsleid der vielen Berliner Kulturschaffenden in Asta eine reizende Konkretion. Und einige der Miniaturen, die die Bausteine dieses Films ausmachen, sind verdammt hübsch anzusehen. Die Körper, die beim „Brecht-Yoga“ im Top Shot kreuz und quer auf Matten im Raum angesiedelt sind. Das in Arbeiterpathos schwelgende Wandgemälde Astas türkischer Freunde. Asta im vollen, überbordenden Grün eines Brandenburger Waldes, ein Esel gesellt sich zu ihr, in einer Einstellung wie gemalt.

Norte – The End of History

(PH 2013, Regie: Lav Diaz)

Konsequente Abwärtsspiralen
von Wolfgang Nierlin

Der junge, überdurchschnittlich begabte Jura-Student Fabian Viduya (Sid Lucero) ist ein postmoderner Skeptiker, der alles in Frage stellt. Die Eröffnungssequenz von Lav Diaz‘ epischem Film „Norte – The End of …

Der junge, überdurchschnittlich begabte Jura-Student Fabian Viduya (Sid Lucero) ist ein postmoderner Skeptiker, der alles in Frage stellt. Die Eröffnungssequenz von Lav Diaz‘ epischem Film „Norte – The End of History“ zeigt den zunächst sympathischen Intellektuellen im politisch-philosophischen Gespräch mit Kommilitonen in einem Café. Fabian spricht vom Ende aller Gewissheiten, von einem allgemeinen Werteverlust und von der geschichtsvergessenen philippinischen Gesellschaft, in der er lebt. Woraus er für sich die Konsequenz zieht, dem universitären Leben den Rücken zu kehren und auszusteigen, was seine Freunde trotz unverhohlener Ironie aufrichtig bedauern. Doch während er in seiner privaten Lebensführung nach Vereinfachung und Genauigkeit strebt, gewinnt sein starkes Gerechtigkeitsempfinden immer radikalere Züge. Bis er sich schließlich zu einem brutalen Tyrannenmord an einer reichen Geldleiherin und deren Tochter hinreißen lässt.

Der philippinische Filmkünstler Lav Diaz, der seinen widersprüchlichen Protagonisten an Dostojewskis Romanheld Raskolnikov aus „Schuld und Sühne“ anlehnt und mit der Figur zugleich Assoziationen zur Biographie des Diktators Marcos weckt, erzählt im Folgenden von den verzweigten Wirkungen dieser Tat. Sehr nuanciert und detailreich, langsam und präzise entfaltet er in mehreren parallelen Handlungssträngen sowohl die individuellen Dramen der Betroffenen als auch ein höchst differenziertes Gesellschaftsbild. Sein starker Realismus, der nur an wenigen Stellen ins Symbolische durchbrochen wird, zeigt aber nicht nur Fabians schuldbeladene Flucht vor sich selbst, seine Suche nach Vergebung und seine verzweifelten Versuche, seine nicht abstreifbare Herkunft gewaltsam zu zerstören; sondern er thematisiert vor allem auch, wie eine arme, unschuldige Familie an diesem gemeinen Verbrechen zu Grunde geht.

Weil ein ungerechtes, korruptes System den jungen Familienvater Joaquin Atilano (Archie Alemania) unrechtmäßig zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, muss seine Frau Eliza (Angeli Bayani) alle Kräfte aufbieten, um sich, ihre zwei Kinder sowie die mithelfende Schwester durchzubringen. Lav Diaz zeigt ihr Schicksal mit all seinen Implikationen, durchbrochen von wenigen Hoffnungszeichen, in einer konsequenten Abwärtsspirale. Während dort Fabian mit der radikalen Auflösung seiner Familie beschäftigt ist, wird hier der tiefe Zusammenhalt der Familie von widrigen Umständen und schrecklichen Schicksalsschlägen torpediert. Die Armut gebiert immer größere Ungeheuer. Dem gegenüber sucht Fabian jenseits seiner Privilegien einen Weg ins Offene und Unbestimmte. Doch in Lav Diaz‘ Film bestimmt das Sein das Bewusstsein. Es gibt kein Zurück, allenfalls ein Darüber Hinaus, eine Transzendenz oder auch der Glaube an eine „göttliche Gerechtigkeit“, von dem die philippinische Gesellschaft, so legen es die verschiedenen Perspektiven des Films nahe, offensichtlich durchdrungen ist.

Wild Tales

(AR / ES 2014, Regie: Damián Szifrón)

Von Mücken und Elefanten
von Wolfgang Nierlin

Nicht von ungefähr sind die Vorspann-Titel dieses Films mit Tierportraits unterlegt. Der Mensch ist eine Bestie, will uns das bedeuten. Folglich ist „Wild Tales“ „ein Film über Menschen, die explodieren“, …

Nicht von ungefähr sind die Vorspann-Titel dieses Films mit Tierportraits unterlegt. Der Mensch ist eine Bestie, will uns das bedeuten. Folglich ist „Wild Tales“ „ein Film über Menschen, die explodieren“, so die Werbung zu diesem „erfolgreichsten argentinischen Film aller Zeiten“. Und deshalb geht es in dem aus sechs eigenständigen Geschichten zusammengesetzten Episodenfilm hauptsächlich um Rache, die aus scheinbar nichtigen oder nebensächlichen Anlässen entsteht, einen offenen Schlagabtausch auslöst und nach zahlreichen findigen Wendungen in einem oft blutigen, manchmal unappetitlichen, immer aber recht drastischen Finale kulminiert. Das ist relativ schematisch und ohne inhaltliche Vertiefung auf eine Pointe hin erzählt, produziert dort, wo Regisseur Damián Szifrón maßlos übertreibt, absurde Komik und formuliert zugleich den Anspruch, nicht nur die menschliche Natur, sondern auch die gegenwärtige argentinische Gesellschaft zu beleuchten.

Das gelingt noch am besten in der „Bombita“ betitelten Episode, in der ein von Schauspielstar Ricardo Darín gespielter Sprengmeister namens Simon Fisher in die Mühlen korrupter Behörden gerät und darin förmlich zerrieben wird. Was mit einem nicht ganz rechtmäßig abgeschleppten Auto, Strafgebühren und einem verpassten Kindergeburtstag beginnt, mündet schließlich in einer Ehescheidung, einem hasserfüllten Bombenattentat und einem märchenhaften Ende im Gefängnis. Die Ironie soll natürlich das letztlich Unwahrscheinliche dieser Heldendgeschichte abmildern. Die Stärken dieser Fabel über bürokratische Ungerechtigkeit liegen aber in ihrer kleinteiligen Binnenstruktur, wo ein negatives Erlebnis gleich eine ganze Reihe fataler Zwischenfälle miteinander verknüpft. Damián Szifrón verarbeitet hier seine „Probleme mit Autorität“ und sein „Abscheu“ vor „enormen Zwängen“.

Zu diesen „beengenden Angelegenheiten“ gehören für den argentinischen Regisseur auch Hochzeiten, weshalb er die zunächst harmlos und konventionell beginnende Hochzeitsfeier in der Schlussepisode „Bis dass der Tod uns scheidet“ in einen regelrechten Hochzeitskrieg ausarten lässt, der handgreiflich und höchst emotional ausgetragen wird. Das schockt die Gäste und amüsiert die Zuschauer und ist darauf aus, Einsichten in menschliche Verhaltensweisen mit einem kathartischen Effekt zu verbinden. Szifróns durchgehende Thriller-Dramaturgie folgt auch hier dem bewährten Erzählmuster einer permanenten Eskalation: Aus der Mücke wird ein Elefant, aus der gemeinen Provokation ein großer Krieg und aus dem leisen Verdacht ein lautes Spektakel, das im günstigsten Fall Triebe abführt respektive reguliert und durch das schrille Getöse hindurch ein paar Körnchen Wahrheit sickern lässt.

Wild Tales

(AR / ES 2014, Regie: Damián Szifrón)

Zivilisation und Barbarei
von Sven Pötting

In Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires kann man seit einigen Jahren seine Rechnungen für Strom, Gas, Telefon oder etwa Strafzettel an Bezahlstellen namens Rapipago oder Pagofácil begleichen. Meistens funktioniert dies auch …

In Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires kann man seit einigen Jahren seine Rechnungen für Strom, Gas, Telefon oder etwa Strafzettel an Bezahlstellen namens Rapipago oder Pagofácil begleichen. Meistens funktioniert dies auch recht schnell und unkompliziert und für argentinische Verhältnisse auch recht unbürokratisch. Dennoch können manche Kunden nur schwer ihre Wut zurückhalten. Man braucht derzeit gute Nerven in Argentinien und eine feines Gespür für Zahlen: Die Geldentwertung liegt bei mehr als 30 Prozent. Im Vergleich zur argentinischen Hyperinflation der 1980er Jahre ist dies zwar eine Kleinigkeit; auch in puncto Staatsbankrott mussten die Bewohner des Landes bereits eine gewisse Routine sammeln – doch vielen reicht es jetzt.

Die linkspopulistische Landesregierung hat genauso wie neoliberale Provinzregierungen sehr angenehme aber unhaltbare Subventionen zurückgefahren oder eingestellt. Die Folge: Strom- und Gasrechnungen stiegen 2014 auch für Normalhaushalte gleich um mehrere hundert Prozent, auch die Preise für die öffentlichen Verkehrsmittel wurden abrupt drastisch erhöht. Die Maßnahmen wurden von den Verantwortlichen nicht kommuniziert, die hohe Inflation wird im Regierungsdiskurs immer noch verleugnet. Stattdessen schmähen sich Regierung und Opposition, die teilweise aus derselben Partei stammen, ¬gegenseitig und sind auf Konfrontationskurs. Kompromisse werden nicht geschlossen.

In ihrer klugen Doktorarbeit hat die Soziologin Maristella Svampa die Geschichte des Landes vom 19. Jahrhundert bis heute analysiert und ständig auftretende und scheinbar unüberbrückbare Spannungen in der argentinischen Gesellschaft erkannt, die sie als das zentrale Dilemma des Landes bezeichnet. Sie greift auf eine griffige Formel zurück, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts von dem Schriftsteller, Journalisten und späteren Präsidenten Domingo Faustino Sarmiento geprägt wurde und fasst die leitmotivisch auftauchenden Spannungen, die Argentinien prägen, unter der Dichotomie „Zivilisation vs. Barbarei“ zusammen.
Doch wer sind die ‚Zivilisierten’? Wer sind die ‚Barbaren’?

Man bekommt den Eindruck, dass jeder Porteño – so werden die Bewohner von Buenos Aires genannt – jederzeit zum ‚Barbaren’ werden kann. „Ich mache es wie Bombita“, hört man seit einigen Monaten häufiger in den Straßen von Buenos Aires. In den sozialen Netzwerken taucht immer wieder der Eintrag „#TodosSomosBombita“ – „Wir sind alle Bombita“ auf.

„Bombita“ ist eine Figur aus Damián Szifróns „Wild Tales – Relatos Salvajes“. Es handelt sich um den Sprengstoffexperten Simón, der einen ausgesprochen schlechten Tag hat. Weil sein Auto scheinbar ohne Grund abgeschleppt wird, verpasst er den Geburtstag seiner Tochter. Sein Kind ist beleidigt, seine Frau hält die Entschuldigungen ihres Mannes für so fadenscheinig und erlogen, wie so viele andere Ausreden, die sie in den gemeinsamen Ehejahren schon schlucken musste, und zieht die Konsequenz. Sie reicht die Scheidung ein. Simón geht am nächsten Tag zu einem besagten Rapipago und macht einen städtischen Mitarbeiter für sein persönliches Unglück verantwortlich. Als er kein Verständnis erfährt und auch noch ein hohes Bußgeld für sein abgeschlepptes Auto zahlen muss, brennen bei ihm die Sicherungen durch. Mit Gewalt setzt er sich gegen vermeintliche bürokratische Willkür zur Wehr. Dies löst eine Kettenreaktion aus, an deren Ende Simón seinen Job verloren hat und finanziell ruiniert ist. Daraufhin schmiedet er einen Racheplan und setzt seine Gewaltphantasien, die derzeit sehr viele Argentinier latent haben, in die Tat um. Damit wird er wieder zum Gewinner.
Er wird als „Bombita“, der „kleine Bomber“ berühmt. Auch seine Frau und seine Tochter versöhnen sich wieder mit ihm. Selbst Vertreter staatlicher Institutionen zeigen ihm Respekt.
Er war ein Opfer, das keineswegs unschuldig an seiner Situation war – und wird durch Gewalttaten zum Helden.

Die Handlung um „Bombita“ ist nur eine Geschichte des Films. Insgesamt sechs „Wild Tales“, die weder inhaltlich noch personell miteinander verknüpft sind, bilden den Episodenfilm: Sechs Miniaturen, jede in einem leicht anderen Tonfall, in denen es um Gewalt, Mord und Totschlag durch Normalbürger als Folge einer Kettenreaktion und/oder ausgelebte Rache geht.
Alle wichtigen Themenkomplexe, die im zeitgenössischen argentinischen Kino verarbeitet werden, sind in Damián Szifróns Film zu finden: der Stadt-Land-Gegensatz; Korruption; die besonders in Buenos Aires gefühlt hohe Kriminalitätsrate, wie auch die Folgen einer wilden neoliberalen Politik in den 1990er Jahren, die in den Staatsbankrott 2001/2002 mündete. In dessen Folge wurden gleich mehrere Präsidenten innerhalb nur weniger Tage von hunderttausenden Demonstranten aus dem Amt gejagt. „Que se vayan todos!“ – „Sie sollen alle verschwinden“ – war der Schlachtruf der wütenden Menge. Gemeint war eine Politikerkaste, die nur in die eigene Tasche gewirtschaftet und sich vom Volk entfernt hatte.

„Que se vayan todos!“ bildet auch das Grundthema der „Bombita“-Geschichte, die als bissiger Kommentar zu der amtierenden Regierung um die Präsidentin Cristina Kirchner zu deuten ist. Cristina Kirchner und ihr Amtsvorgänger, ihr mittlerweile verstorbener Ehemann Néstor Kirchner, gehören einer Generation an, die sich seit dem Ende der 1960er Jahre politisch engagierte, um das Land umzugestalten. Das Ergebnis sollte ein sozialistisches, gerechteres Argentinien sein. Viele Aktivisten wollten aber nicht den Weg durch die Institutionen gehen, sondern schlossen sich einer Guerilla an, die das Land an den Rande des Bürgerkriegs brachte und sich letztlich mitverantwortlich für den Militärputsch 1976 zeichnete, in dessen Folge, tausende Menschen – egal ob sie zuvor politisch aktiv waren oder nicht – inhaftiert, gefoltert und getötet wurden. Viele der Opfer sind „desaparecidos“, „Verschwundene“, deren Überreste niemals gefunden werden, weil sie von den Militärs im Atlantik versenkt wurden.
Die Kirchners, die seit 2003 regieren, hatten sich das Ziel gesetzt, das „politische Projekt“ ihrer Generation zu Ende zu führen und mit einer paternalistischen und populistischen linken Politik das Land gerechter zu machen.
Die Regierung verschweigt nicht die Mitschuld dieser Generation an den Entwicklungen des Landes in den 1970er Jahren. Opfer, darunter viele Guerillamitglieder, die sich für Bombenanschläge und Entführungen verantwortlich zeichneten, Angehörige von „Verschwundenen“ und Aktivisten, die diese Zeit überlebt haben, wurden von ihr statt dessen zu Helden erklärt.

Die Politik der Regierung Kirchner polarisiert das Land. Zu groß sind die Parallelen, um nicht eine zwar wenig subtile, aber dennoch unaufdringliche Anspielung daran in „Wild Tales' zu erkennen.

Die Kritik an der Regierung ist ein Grund für den grandiosen Erfolg von Damián Szifróns Film, sonst wäre nicht eine Figur wie „Bombita“ schon sprichwörtlich geworden.
Seit August läuft er in den argentinischen Kinos. Bis heute sahen 3,5 Millionen Menschen in dem 40 Millionen-Einwohnerland „Wild Tales'. Mehr Zuschauer hatten nur zwei Produktionen in der nationalen Filmgeschichte. Produktionen mit ähnlich hohen Zuschauerzahlen waren ebenso politische Filme und bildeten ebenso bissige Kommentare zu den politisch, sozial und kulturellen Kontexten ihrer Entstehungszeit – zu nennen sei etwa „La Patagonia Reblede' von Héctor Olivera, („Das rebellische Patagonien', 1974) oder als jüngstes Beispiel der Oscar-Gewinner „El secreto de sus ojos' („Das Geheimnis ihrer Augen', 2009) von Juan José Campanella. „Wild Tales – Relatos Salvajes' reiht sich also in eine Tradition ein.

Die Kritik am Politikbetrieb ist aber nicht das einzige Geheimnis des Erfolges von „Wild Tales': Zunächst einmal öffnete der Name des Co-Produzenten Pedro Almodóvar einige Türen. Zwar garantiert der Name Almodóvar (ebensowenig wie in Deutschland) in Lateinamerika kaum noch ein großes Publikum. Der spanische Regisseur hat scheinbar seinen kreativen Höhepunkt schon überschritten, es dürfte aber sein Name oder sein Einfluss gewesen sein, der „Wild Tales' den Weg zu einigen bedeutenden Festivals sicherte. Denn der Name Damián Szifrón war zuvor nur wenigen Eingehweihten ein Begriff. Der 1975 geborene Regisseur hatte zwar mit „El fondo del mar' (2003) und „Tiempo de valientes' (2005) zwei Kinofilme vorgelegt, die national für Aufsehen gesorgt hatten, in den letzten zehn Jahren war er aber eher als Regisseur und Produzent von Fernseherien tätig.
Grade die positiven Publikums- und Kritikerreaktionen beim Filmfestival von Cannes sorgten für eine Kettenreaktion, die beim argentinischen Kinopublikum ein immer größeres Interesse an dem Film generierte.

Der zweite Grund für den Erfolg ist das hervorragende Schauspielerensemble. Ricardo Darín als „Bombita“ Simón ist der einzige Superstar des argentinischen Kinos. Die Präsenz des ehemaligen Soap-Stars in einem Film ist in Argentinien schon ein Garant für hohe Zuschauerzahlen. Darín steht aber auch für Qualität. Er war Hauptdarsteller in einigen der herausragenden Produktionen der jüngeren Geschichte des argentinischen Kinos. Man könnte etwa die Filme „Nueve Reinas' (2001) und „El Aura' (2006) von dem mittlerweile verstorbenen Fabián Bielinsky nennen oder etwa auch den bereits erwähnten Oscar-Gewinner „El secreto de sus ojos'.

Julieta Zylberberg, die Kellnerin eines Restaurants in der Episode „Die Ratten“, die an einem verregnetem Abend in ihrem einzigen Kunden ausgerechnet den Kredithai erkennt, der ihren Vater in den Selbstmord trieb und vor der resoluten Köchin der Gaststätte laut überlegt, ob sie ihre lange Jahre gehegten Rachepläne tatsächlich in die Tat umsetzen solle, ist mittlerweile in ebenso vielen wie hochklassigen Produktionen zu sehen, wie Ricardo Darín – etwa in „La niña santa' („Das heilige Kind', 2004) von Lucrecia Martel, der ebenfalls von den Brüdern Almodóvar produziert wurde, in „La mirada invisible' („Der unsichtbare Blick', 2010) von Diego Lerman oder in dem Fußballerfilm „El 5 de Talleres' von Adrián Biniéz („Die Nr. 5 von ‚Talleres’', 2014), der in Kürze auch in Deutschland in den Kinos laufen wird.
Andere herausragende Schauspieler, die mehr oder weniger lange Auftritte in „Wild Tales' haben, sind Osmar Nuñez oder Erica Rivas.

Erica Rivas, die auch zu den bekanntesten Theaterschauspielern des Landes zählt (und derzeit mit Ricardo Darín mit der Bergman-Adaption „Szenen einer Ehe' auf Tour geht), spielt in dem Segment „Bis dass der Tod euch scheidet“ eine Braut, die noch während der Hochzeitsfeier, die Untreue ihres Mannes entdeckt. Wieder löst eine Racheaktion eine Kettenreaktion aus, und die Hochzeitsfeier gerät aus dem Ruder. Man fühlt sich zeitweise an Danny de Vitos „Der Rosenkrieg' (1989) erinnert. Wie bei der schwarzen Komödie um ein Ehepaar (gespielt von Michael Douglas und Kathleen Turner), das einen makabren Ehekrieg führt, gibt es witzige Momente, doch ist „Bis dass der Tod euch scheidet“ zeitweise so grausam, dass man kaum lachen kann. Das vermeintliche Happy End hinterlässt dann auch eher gemischte Gefühle.

Immer wieder gibt es in „Wild Tales' Momente, die den cinephilen Zuschauer an andere Regisseure und an andere Filme erinnern. Referenzpunkte sind Italowestern, natürlich verschiedene Werke von Pedro Almodóvar (aus den aus den 1980er und frühen 1990er Jahren), von Quentin Tarantino (speziell dessen Beitrag zum Episodenfilm „Four Rooms' (1995)), Martin Scorseses „Taxi Driver' (1976), Filme von den Coen-Brüdern, von dem Italiener Dino Risi oder von dem Spanier Alex de la Iglesia.
Auch im argentinischen Kino findet Damián Szifrón seine Vorbilder. Zu nennen sei hier etwa Adolfo Aristarains „Tiempo de revancha' („Zeit der Rache') aus dem Jahr 1981.

Dies ist Teil der Erfolgsformel von „Wild Tales'. Elemente aus der Tradition des nationalen Kinos werden mit Elementen des internationalen Independent- und Genrekinos verbunden. Scheinbar ist eine richtige Mischung aus diesen Elementen eine Art Erfolgsformel. In Mexiko und über die Landesgrenzen hinaus ließ ein solcher Mix etwa Alejandro González Iñárritus „Amores perros' (2000) zu einem Blockbuster werden. In Brasilien war dies bei Fernando Meirelles und Kátia Lunds „City of God' (2002) der Fall. In Argentinien fand Fabián Bielinsky (1959-2006) in seinem schmalen Oeuvre (darunter „Nueve Reinas') das richtige Rezept, ebenso wie Juan José Campanella in „El hijo de la novia' („Der Sohn der Braut', 2001) oder in „El secreto de sus ojos'.
Es wird spannend sein zu beobachten, ob Szifrón auch in Zukunft so ein glückliches Händchen haben wird. Es ist zu vernehmen, dass er an einer Reihe von Projekten arbeitet – darunter an einer Science-Fiction- Geschichte, sowie an einem Western; einem Genre, das in Argentinien derzeit so etwas wie eine Renaissance erlebt.

Das Fachblatt Variety erklärte jetzt schon Szifróns Film zu einem der Highlights des Jahres.

Tatsächlich ist „Wild Tales' ist ein unterhaltsamer, aber kein großer Film. Bei einem Episodenfilm gibt es immer stärkere und schwächere Segmente. Letztlich wirkt das Gesamtwerk wie eine Ansammlung von Sketchen, in denen Slapstick mit Gesellschaftskritik gepaart ist. Die Anarchie der Situationskomik erschöpft sich allerdings spätestens nach der vierten Episode und es ist voraussehbar, was passieren wird. Die Handlung muss in diesen Miniaturen schnell vorangetrieben werden, deswegen wirken die Dialoge mitunter künstlich und aufgesetzt.

Am Ende steht die Frage, ob „Wild Tales' auch außerhalb Argentiniens erfolgreich sein wird. Auch wenn nicht alle politischen Anspielungen beim internationalen Publikum ankommen, der schwarze Humor des Films ist universell verständlich. Dies zeigten die Zuschauerreaktionen etwa auf den Festivals in Cannes und in San Sebastián. Zudem gibt es, salopp gesagt, in jedem Land Wutbürger, die mit den Protagonisten mitfühlen können.

Aber dennoch wird der Zuschauer mit dem Gefühl aus dem Kino gehen, dass etwas faul im Staate Argentinien sei. Der Film erweckt den Eindruck eines Panoramablicks auf eine Gesellschaft, die aus den Fugen geraten ist.

Die süße Gier

(I / F 2013, Regie: Paolo Virzì)

Das Leben ist hochspekulativ
von Jürgen Kiontke

Dino Ossola (Fabrizio Bentivoglio) hat einen Traum. Er möchte zu den oberen Zehntausend gehören. Dino ist die leicht verschrobene Kernfigur in „Die süße Gier – Il Capitale Umano“, dem neuen …

Dino Ossola (Fabrizio Bentivoglio) hat einen Traum. Er möchte zu den oberen Zehntausend gehören. Dino ist die leicht verschrobene Kernfigur in „Die süße Gier – Il Capitale Umano“, dem neuen Spielfilm von Paolo Virzì.

Seit der Finanzkrise laufen für Dino, dem kleinen Immobilienmakler, die Geschäfte nicht so richtig. Die Märkte machen nicht nur in Italien was sie wollen. Irgendwie müsste er mal den Sprung nach vorne schaffen. Die eine Ehe ist geschieden und in der nächsten kommt nun das Kind.

Seine Tochter Serena (Matilde Gioli), im besten Teenie-Alter, hat schon die richtige Wahl getroffen. Sie ist mit Massimiliano (Guglielmo Pinelli) zusammen. Beide sind jetzt für Dino das Ticket in die Oberschicht, denn der Junge ist ein Spross der Bernaschis, der reichsten und mächtigsten Familie in der Stadt. Gut, dass das Mädchen seinerzeit aufs Elitegymnasium geschickt wurde, wo sie ihren lockigen Superstar kennenlernte.

Giovanni Bernaschi, der smarte Vater des Freundes, ist der Fürst der Börsenspekulation (Fabrizio Gifuni). Er hat seine „Finger“ in der Hälfte der italienischen Wirtschaft. Beim beiläufigen Tennis-Match auf dem Bernaschi-Anwesen kauft sich Dino in den vom Hausherrn geführten Spitzenfonds ein. Ganz ehrlich ist er dabei nicht. Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen verbieten eigentlich eine Kreditaufnahme zum Erwerb der Anteile. Daran hält sich Dino aber nicht.

Aber selbst der Tycoon Bernaschi muss rigide Regeln einhalten. Denn der Finanzmarkt ist nicht nur etwas Schillerndes; er ist gefährlich, chaotisch und nicht kontrollierbar. Der Kleinanleger Dino wird somit zur finanzpolitischen Handgranate. Sein Fondsmanager Giovanni weiß, dass er selbst am Rande der Großpleite steht. Dino muss es später lernen.

Ganz ehrlich geht es in diesem Film sowieso nicht zu. Während Giovanni Bernaschi das Geld ranschafft, indem er Betriebe fusioniert und Leute auf die Straße setzt, haut seine Ehefrau Carla (Valeria Bruni Tedeschi) alles Geld auf den Kopf, was sie in die Finger kriegt. Einmal bringt sie den Chauffeur auf einer ihrer Shoppingtouren fast um den Verstand, weil sie alle 20 Sekunden die Fahrtrichtung ändern lässt: Handtasche, Friseur oder erst die Schuhe? Sie agiert aber nicht nur komplett sinnlos. Ihr Hobby ist ein altes Theater, in das sie viel Geld reinsteckt. Mit dem Intendanten kommt es schließlich auch zur belanglosen Affäre.

Diese große kapitalistische Erzählung braucht ihren Widerpart. Es ist die Tochter Serena Bernaschi, die ihre eigenen Pläne verfolgt. Sie durchschaut zwar Dinos Interesse an ihrer Beziehung zu seinem Sohn. Aber mit der Gier der Erwachsenen kann sie wenig anfangen. Sie ist gleichgültig, Reichtum ist ihr egal. Weil sie die Berechenbarkeit ihrer Familie anödet, hat sie sich in den größten Loser der Stadt, Luca (Giovanni Anzaldo), verliebt. Der saß schon im Knast, weil ihn sein krimineller Onkel einen Drogendeal in die Schuhe schob. Der Onkel wäre sonst nie mehr aus dem Gefängnis herausgekommen. Klar, der jugendliche „Knacki“ ist der einzig ehrliche im Film.

Dieses recht fragile, klassenübergreifende Filmgebäude muss zwangsläufig ins Wanken geraten. Es folgt das Verbrechen mit Personenschaden. Irgendjemand hat einen Menschen auf dem Gewissen, und nur Serena weiß, wer es ist. Sie schweigt aber darüber, wer nachts mit dem Geländewagen ihres Freundes Massimiliano den Fahrradfahrer überfahren hat. Unterdessen gehen Giovanni die Milliarden flöten und damit auch Dinos Investition. Wird nun der verschuldete Vater seine Tochter ausspionieren und ihren Freund in den Knast bringen, um sich finanziell zu retten?

Während die Polizei ermittelt weichen alle Gewissheiten. Alle Protagonisten kämpfen nun dagegen, lediglich ökonomisches Treibgut zu sein. Was ist der Gesellschaft ein Menschenleben wert? Um Schadenersatzansprüche auszurechnen, hat die Versicherung schon mal kalkuliert: Lebenserwartung, voraussichtliches Einkommen, Qualität und Quantität der menschlichen Bindungen. Im Fall des Fahrradfahrers geht es um 218.976 Euro. Damit kommt eine weitere Facette des Films zum Tragen, der in vielen Schichten arrangiert ist und vor allem flott und spannend ist.

Der Regisseur Paolo Virzì weiß, wie man Geschichten aus der Arbeits- und Finanzwelt kraftvoll erzählt. Schon mit der Komödie „Das ganze Leben liegt vor dir“, in der er über die Arbeit im Callcenter erzählt, hat Maßstäbe gesetzt.

Bei seinem neuen Werk will man keine Sekunde verpassen. Die interessanten Wendungen, intelligenten Lösungen und Dialoge fesseln an die Handlung. Die dargestellte recht reduzierte Welt der Wirtschaft setzt der Regisseur mit perfekter Fotografie, Dramaturgie und immer wieder tollen Schauspielern in Szene. Er macht es, indem er die Ökonomie als Beziehungsgeflecht von Abhängigen darlegt. Geld, das sind wir schließlich alle.

Einerseits gibt es die Spielwiese für die Älteren – die Börse. Dafür stehen Dino und Giovanni. Die prekäre Ökonomie der Kulturszene und ihre haarspalterischen Diskurse repräsentiert Carla mit ihren Mitstreitern. Das Thema Berufseinstieg und Zukunftsplanung im gegenwärtig gebeutelten Italien diskutieren Serena und ihre Klassenkameraden. Für Erotik, Aggression und rasante Action sorgen wiederum alle zusammen.

Virzì lässt seine Schauspieler – von denen viele selbst schon als Regisseure gearbeitet haben – ihre Stärken ausleben. Sie wirken echt und authentisch in ihren Rollen. Auch die Arbeit des Regisseurs tut es. Besondere Fragen solle man besser in der Geschichte, in den Figuren und ihrem Verhalten verbergen, um sie nicht von vornherein wie etikettenhafte Stellungnahmen klingen zu lassen, betont Virzì: „Man kann also sagen, dass es gut ist, bestimmte Dinge ohne zu viel Nachdruck zum Vorschein zu bringen.“ Der Rest laufe unterschwellig mit: „Habgier, Konkurrenz, Wetteifer, Spekulation, Kultur, Generationenkonflikte.“

Konkurrenz, Spekulation, böses Ende? Das klingt wie Schülertheater. Kein Wunder, denn in der Wirtschaft, im Leben wollen alle mitspielen.

Dieser Text erschien zuerst in: Gegenblende. Das gewerkschaftliche Debattenmagazin

Remedy

(USA 2013, Regie: Cheyenne Picardo)

Top, ziemlich weit unten
von Carsten Moll

Beim Stichwort „BDSM“ nicht gleich an den „größten globalen Bestseller der letzten Jahre“ zu denken, dürfte angesichts des bevorstehenden sowie aggressiv vermarkteten Kinostarts der Verfilmung „Fifty Shades of Grey“ noch …

Beim Stichwort „BDSM“ nicht gleich an den „größten globalen Bestseller der letzten Jahre“ zu denken, dürfte angesichts des bevorstehenden sowie aggressiv vermarkteten Kinostarts der Verfilmung „Fifty Shades of Grey“ noch ein wenig schwerer fallen. Als ein rechtzeitig verabreichtes Gegenmittel zur geleckten Hochglanzfantasie erweist sich da schon dem Titel nach Cheyenne Picardos schmal budgetierter Debütfilm „Remedy“. Auch Picardo erzählt von einer jungen Frau, die sich in eine schillernde Grauzone begibt und zwischen Lederfesseln und gepeitschtem Fleisch Dominanz und Unterwerfung am eigenen Leib erfährt – sonst trennen ihr autobiografisch geprägtes Drama allerdings Welten vom konservativen Kitsch einer E. L. James.

Gemeinsam mit seiner namenlosen Protagonistin (Kira Davies) stolpert der Film recht unbedarft in das Leben einer Sexarbeiterin und scheint zu Beginn selbst nicht so recht zu wissen, wo es hingehen soll. Die Heldin, die sich aus einer Laune heraus entschließt, eine Stelle als Domina in einem New Yorker SM-Club anzunehmen und sich von da an „Mistress Remedy“ nennt, stöckelt etwas unsicher und rehäugig durch die einführenden Szenen und gewinnt dabei zusammen mit dem Publikum nicht bloß Einblicke in die Welt des BDSM, sondern legt zugleich auch die Struktur des Films offen: Anhand einzelner Episoden, die oft nicht mehr als die Präsenz der Hauptfigur teilen, entfaltet die Regisseurin und Drehbuchautorin Picardo nach und nach das vielschichtige Portrait eines nur auf den ersten Blick ungewöhnlichen Arbeitsplatzes.

Dabei wirkt „Remedy“ mit seiner billigen Digitaloptik sowie den krassen Stimmungswechseln anfangs beinahe naiv und trashig. Der unfreundliche Empfang durch die Domina-Kolleginnen bietet pures Klischee und bereits Mistress Remedys erster, wegen seiner Vorliebe für Zahnbehandlungen als „Marathon Man“ bekannter Kunde scheint auf eine voyeuristische Freakshow einzustimmen. Doch Picardo unterwandert das sensationalistische Potenzial ihrer Geschichte geschickt, indem sie lieber Gesichter als Genitalien zeigt und gemeinsam mit ihrer talentierten Hauptdarstellerin vor allem den psychologischen Auswirkungen der Sexarbeit auf Mistress Remedy nachspürt.

Die BDSM-Story dient in „Remedy“ nicht als Schablone für seichte erotische Unterhaltung und ist dennoch alles andere als lustfeindlich oder verurteilend. Selbst wenn Mistress Remedy mit voranschreitender Laufzeit erkennen muss, dass ihr neuer Job einige Unannehmlichkeiten und ungewollte Demütigungen mit sich bringt (von denen die Reinigung des Arbeitsplatzes nur die geringste ist), liegt Picardo wohl nichts ferner als aus den Tiefpunkten und Traumata ihrer Figur eine Moralpredigt über gefallene Mädchen herauszudestillieren. Das viszerale Unbehagen, das sich bei der jungen Domina (und wohl auch dem Publikum) immer mehr einstellt, rührt nicht etwa von einer rigiden Sexualmoral her, sondern lässt sich als eine Kapitalismuskritik lesen, die auch Arbeitswelten fernab der Sexindustrie betrifft.

Die dem Anschein nach emanzipatorische Top-Rolle der Mistress Remedy über männliche Bottoms verliert eingebunden in einen kommerziellen Kontext rasch alles Empowernde, die starke Frau dient letztlich doch vor allem der männlichen Befriedigung. Aber nicht nur Mistress Remedys authentisches Begehren stellt sich als verhandelbar, verfügbar und verwertbar heraus, sogar aus ihrer Verweigerung lässt sich noch Kapital schlagen: Als die Heldin selbstbewusst und wortgewandt einen jüdischen Kunden ablehnt, den antisemitische Beschimpfungen erregen, legt dieser als Lohn ein Bündel Bargeld auf den Tisch und pervertiert somit das störrische Unverkäuflichsein zur begehrten Ware.

Als ebenso trügerisch und vielsagend erweist sich eine mehrmals auftauchende Szene, die vortäuscht, einen privaten Augenblick darzustellen. Mistress Remedy und eine Kollegin plaudern ungezwungen bei einer Zigarette, doch was wie eine Raucherpause aussieht, entlarvt die sich zurückziehende Kamera als Arbeitsroutine: Vor den Frauen kniet ein vermummter Mann, auf dessen nacktem Rücken die kettenrauchenden Dominas einen Zigarettenstummel nach dem anderen ausdrücken. Die Geste der Ermächtigung, der Genuss und das Privatsein sind in der Fließbandproduktion aufgegangen.

Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe

(D 2013, Regie: Philipp Hartmann, Jan Eichberg)

Hälfte des Lebens
von Wolfgang Nierlin

In der (statistischen) Mitte des Lebens leidet der Filmemacher Philipp Hartmann unter dem Vergehen einer von ihm zugleich als stillstehend und rasend empfundenen Zeit. „Die lähmende Machtlosigkeit gegenüber der eigenen …

In der (statistischen) Mitte des Lebens leidet der Filmemacher Philipp Hartmann unter dem Vergehen einer von ihm zugleich als stillstehend und rasend empfundenen Zeit. „Die lähmende Machtlosigkeit gegenüber der eigenen Vergänglichkeit“ bezeichnet er deshalb als „Ausgangspunkt“ für seinen kreativ-verspielten Essayfilm „Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe“, den der 1972 in Karlsruhe geborene Regisseur im Alter von „38¼“ Jahren beginnt. Komponiert und zusammengesetzt aus disparaten Materialien sowie verschiedenen Filmformaten, erhebt Hartmann dieses Datum zum äußeren wie inneren Strukturprinzip seines Films, dem er die Dauer von „76½“ Minuten gibt, was, in Jahre übersetzt, der durchschnittlichen Lebensdauer eines deutschen Mannes desselben Jahrgangs entspricht. Dieser persönliche Ansatz, angereichert mit biographischen Details, zahlreichen Erinnerungen sowie Begegnungen mit Freunden und Verwandten, ist für den Film wesentlich. Schließlich geht es in ihm nicht zuletzt um eine Auseinandersetzung mit dem Tod.

Erinnerungsfotos an Philipp Hartmanns Kindheit und Jugend, die sein früh verstorbener Vater aufgenommen hat, eröffnen demgemäß auch den Film. Aus dem Off von Kommentaren und Reflexionen des Regisseurs begleitet, zeigen diese sogenannten „halben Fotos“ jedoch nur die Hälfte der in verschiedenen Lebenskontexten aufgenommenen Szenen. Weil es sich jeweils um die ersten, noch nicht „zählenden“ Bilder eines Films handelt, sind sie auf ihrer linken Hälfte entsprechend weiß: eine Tabula rasa für die Erinnerung. Diese „Fotos von den Momenten vor dem eigentlichen Beginn“ erscheinen dem Filmemacher „wie eine Befreiung“. In ihnen ist die Zeit gewissermaßen noch nicht fixiert, kann die Imagination die Leerstellen der Erinnerung ausfüllen. Das Verhältnis zwischen subjektiver Zeitwahrnehmung, differierend in den wechselnden Lebensphasen, und objektiver Zeitmessung motiviert insofern den Film zu einem beträchtlichen Teil.

Doch auch dem quasi Objektiven ist die Abweichung inhärent wie die Atomuhr in Braunschweig mit ihrer – wegen den Schwankungen der Erdrotation – eingefügten Schaltsekunde ebenso zeigt wie eine der vielen Sanduhren eines verstorbenen Uhrenmachers in Buenos Aires. Hartmann sammelt diese Phänomene an wechselnden Orten und in unterschiedlichen Kulturen weniger, um sie wissenschaftlich zu analysieren, sondern um sie vielmehr poetisch zu durchdringen. „Das einzige, was hier passiert, ist Zeit“, steht auf einer der ausrangierten Lokomotiven, die auf einem Eisenbahnfriedhof in den bolivianischen Anden vom Rost zersetzt werden. Dieser „Cementerio de los Trenes' liegt in der Nähe des Salzsees von Uyuni auf fast 4000 Metern Höhe, der im ausgetrockneten Zustand wie eine gleißende Wüste der Zeitlosigkeit wirkt.

Neben diese zu Projektionsflächen werdenden Orte stellt Hartmann einerseits kleine fiktive, von Ko-Regisseur Jan Eichberg inszenierte Spielszenen, in denen die Zeit zur (schwierigen) Praxis und (Lebens-)Anschauung wird; andererseits unternimmt er, ausgelöst von persönlichen Erinnerungsgegenständen, immer wieder eigene biographische „Zeitreisen“ in die Vergangenheit, zu denen im weitesten Sinne auch Gespräche mit Familienmitgliedern gehören: intime Momente, deren dokumentarische Inszenierung der Filmemacher bewusst sichtbar macht. Dabei geht es nicht zuletzt auch um eine Art Selbsttherapie, die angesichts der Vergänglichkeit durch verschiedene gedankliche Anstöße und Einsichten zu einer leichten Besänftigung führt. In dieser (auch bildlich erhöhten) Perspektive erscheint der Tod als Verwandlung und das Leben als Zyklus wiederkehrender „Glücksschübe“. Schließlich gehe es darum, so eine Kalender-Schreiberin, hinter der man Hartmanns Mutter vermuten darf, der „Banalität des Alltäglichen“ eine Struktur zu geben und damit gewissermaßen auch eine Erinnerung zu bewahren: „Es ist zwar nicht groß was passiert, aber es war etwas da.“ Philipp Hartmanns filmische Strategie folgt vermutlich dieser tröstlichen Einsicht.

Der Fan

(BRD 1982, Regie: Eckhart Schmidt)

Starkult und Kannibalismus
von Nicolai Bühnemann

Die erste Einstellung zeigt Désirée Nosbuschs Augenpartie. Dazu hören wir einen Herzschlag, der sich beschleunigt. 'Italienische' wird diese Art der Einstellung im Fachjargon genannt, nach ihrem beliebten Gebrauch in den …

Die erste Einstellung zeigt Désirée Nosbuschs Augenpartie. Dazu hören wir einen Herzschlag, der sich beschleunigt. 'Italienische' wird diese Art der Einstellung im Fachjargon genannt, nach ihrem beliebten Gebrauch in den Spaghetti-Western von Leone und Co. Es ist bezeichnend für Eckhart Schmidts Film „Der Fan“, dass er, einerseits tief in der popkulturellen Gegenwart der Bundesrepublik im Jahr 1982 verwurzelt, doch andererseits gleich mit dem ersten Bild über die Enge seines filmhistorischen Entstehungskontextes hinausweist.

Das einzige Ziel, das die siebzehnjährige Simone (Nosbusch) vor Augen hat, das, was ihr Herz höher schlagen lässt und ihre Gedankenwelt, in die wir durch ein von ihr gesprochenes Voice-Over Einblick erhalten, bestimmt, ist der Sänger R. Verloren, beinahe schlafwandlerisch, wie in Trance bewegt sie sich durch die Stadt, schwänzt die Schule, wandelt die Treppen des Münsters empor, in Gedanken immer bei R. Wenn sie sich hinabstürzen würde in die Tiefe, einen Abschiedsbrief an ihn in der Tasche, so phantasiert sie, dann müsste er endlich von ihr und ihrer Leidenschaft erfahren. Gleichzeitig suggeriert dieser Anfang auch eine Nähe zur jugendlichen Protagonistin, die für die Erzählung bestimmend ist. Die eintönige Melancholie im ewigen Warten auf eine Antwort auf ihre Briefe an R macht sich der Film selbst zu Eigen, transportiert sie durch ihre Stimme aus dem Off und die immer gleichen Synthesizer-Klänge des Soundtracks der NDW-Gruppe Rheingold. Um auf Antwort zu warten, setzt sich Simone eine Frist von einer Woche. Siebenmal begleitet sie der Film zum Postschalter, um mit steigender Verzweiflung zu erfahren, dass kein Brief für sie gekommen ist.

Ihr Umfeld reagiert hilflos auf ihre Passion. Der Vater droht brüllend mit dem Erziehungsheim. Die Lehrer scheinen in ihrer Aufgabe, durch die Musik aus ihrem Walkman zu der Jugendlichen durchzudringen vollkommen resigniert zu haben. Um die kleinbürgerliche Enge der Verhältnisse geht es auch. Schmidt hat seine Geschichte um die grenzenlose Anbetung eines Stars gespickt mit Anspielungen auf den Nationalsozialismus. Zu Beginn wird ein Bild der Massen, die die Hände zum Hitlergruß erheben, übergeblendet mit der Sammlung von Zeitungsausschnitten von R an Simones Zimmerwand. Das Logo Rs ist ein doppelter Pfeil, der ein zackiges „SS“ ergibt. Schmidt sagt im Interview, dass er sich die Frage gestellt hatte, ob es der Star ist, der das Mädchen gerufen hat oder andersherum, und dass diese Frage sich auch im Bezug auf die deutsche Geschichte stellen lässt. War es Hitler, der die Deutschen gerufen, verführt hat, oder aber waren es die Deutschen, die sich ihren Führer herbeigesehnt haben? Bei den moralischen Ambivalenzen, auf die der Film deutlich hinauswill, ließe sich auch fragen, ob Simones Verehrung, ihre Sehnsucht nach R, zu groß ist oder ob es die Verhältnisse sind, die zu klein sind für eine solche Sehnsucht, in denen diese Form der Leidenschaft keinen Platz hat.

Jedenfalls nimmt das Teenage-Entfremdungsdrama der ersten Hälfte zunächst eine märchenhaft anmutende Wendung. Simone lernt R tatsächlich kennen. Auf der einen Seite gibt es dabei immer wieder die Affektbilder von Nosbuschs noch sehr kindlichem Gesicht. Einmal drückt sie es quietschend gegen einen Spiegel. Dann fährt die Kamera im Close-Up auf ihr Gesicht zu, um schließlich in ihren Mund einzudringen. An anderer Stelle tritt sie aus dem Schatten ins Licht einer Lampe, ihre Züge verfestigen sich, um sich sogleich aufzulösen in Trauer und Wut, in zwei Tränen, die ihr über die Wangen rinnen und zwei Schreien, mit denen sie gegen das Schicksal des verlassenen Groupies rebelliert. Schließlich die Großaufnahmen, in denen sie Blut von einem Messer leckt. Dem gegenüber steht der Star als reine Projektionsfläche für schmachtende Teenager-Sehnsüchte. Bodo Steiger, Sänger von Rheingold, spielt ihn betont steif und leblos. Auch wenn er das Mädchen benutzt und verlässt – oder eher: verlassen will –, scheint er doch nie zu einem eigenständigen Subjekt zu werden, immer Abziehbild für eine zeitspezifische, sehr androgyne Idee von Männlichkeit zu bleiben. Folgerichtig wird er einmal in einer Fernsehsendung umzingelt von Schaufensterpuppen gezeigt.

Schließlich entwickelt sich der Film im letzten Drittel zu dem, was Schmidt im gleichnamigen Blu-ray-Featurette „eine kannibalistische Lovestory“ nennt. Anstatt verlassen zu werden, zum Opfer nicht so sehr des Stars, sondern der eigenen Phantasie zu werden, die keine Entsprechung in der Realität hat, findet Simone einen Weg, ihren Star auf ewig für sich zu behalten. Die Art, wie Schmidt das bebildert, sucht im bundesrepublikanischen Kino ihresgleichen. Nicht nur, weil die logische Fortsetzung des – auch an sich schon verdammt unheimlichen, verstörenden – Hochglanzsex hier Nekrophilie und Kannibalismus sind, sondern auch aufgrund der geradezu atemberaubenden stilistischen Geschlossenheit der Inszenierung. Aufs Äußerste stilisiert, deutlich ästhetisiert werden in unterkühltem Blau Close-Up elektrisches Küchenmesser zu Mitteln der Fragmentierung von Körpern, wobei eher auf die Kraft der Suggestion gesetzt wird als auf blutige Details.

„Der Fan“ widersetzt sich nicht nur der sozialpädagogischen Auseinandersetzung mit seinem Thema und erzählt stattdessen eine wahrlich abgründige Liebesgeschichte, er sprengt auch die Grenzen der Kategorien und Genres und wird so zu einem einzigartigen und – bei allem Achtziger Jahre-Kolorit – zeitlosen Kleinod.

Nachdem „Der Fan“ schon seit Jahren auf einer – ebenfalls sehr ordentlichen – DVD vorlag, gibt es seit November 2014 vom Berliner Label CMV eine mustergültige Blu-Ray-Edition. Außer dem Film in exzellenter Bildqualität und auf Deutsch und Englisch finden sich auf der Disc verschiedene Trailer und Bildergalerien sowie das oben bereits zitierte Interview-Featurette „Eine kannibalistische Lovestory“. Eckhart Schmidt erzählt hier unter anderem auch von dem Skandal, der dem Film vorauseilte, weil Désirée Nosbusch die Nacktszenen beanstandete. Schmidt zufolge soll es ihr dabei lediglich um zwei Einstellungen gegangen sein, die er sich weigerte, aus dem Film zu kürzen, weswegen sie vor Gericht zog.

The Gambler

(USA 2014, Regie: Rupert Wyatt)

Das Glück als Glückssache
von Nicolai Bühnemann

Zielstrebig bewegt er sich durch die zwielichtigen Räume. Vorbei an den Tischen voller Menschen, überwiegend Männer, von denen einige, während sie auf das ganz große Glück warten, nervös an ihren …

Zielstrebig bewegt er sich durch die zwielichtigen Räume. Vorbei an den Tischen voller Menschen, überwiegend Männer, von denen einige, während sie auf das ganz große Glück warten, nervös an ihren E-Zigaretten ziehen. Am Ziel seines Ganges durch diese Unterwelt setzt er alles auf eine Karte, gewinnt zunächst Unsummen, setzt weiter alles auf eine Karte. Unruhig blickt die Dealerin zu ihren Vorgesetzten, der Erlaubnis harrend, das Spiel fortzusetzen. Es sei zu seinem eigenen Schutz, erklärt sie ihm. Doch gerade diesen Schutz will er nicht. Er will weiter spielen, immer alles auf eine Karte, bis er alles verloren hat. Und wenn er das noble Gambling Establishment verlässt, hat Jim Bennett (Mark Wahlberg) 60.000 Dollar Schulden – selbstverständlich bei Leuten, denen man besser kein Geld schuldig bleibt.

Wenn Bennett nicht spielt, arbeitet er als Literaturprofessor und vermittelt den Studierenden seine zynischen Ideen über Camus‘ „Der Fremde“ und das Wesen von Talent. Dass Amy Phillips (Brie Larsson), die einzige seiner Schülerinnen, der er talentiert genug hält für eine Zukunft in der schreibenden Zunft, zu seinem love interest wird, scheint für ihn nur ein weiterer Baustein zu sein zu einem Leben unter beständiger Hochspannung, das diktiert wird von der unermüdlichen Jagd nach Kicks – und seien es auch ganz buchstäbliche, wie die, mit denen er von seinen koreanischen Schuldnern einmal böse zusammengestaucht wird.

Mark Wahlberg soll gesagt haben, er habe sein ganzes Leben auf eine solche Rolle gewartet. Beinahe dreißig Kilo nahm er ab, um dem Mann, der mit seinem Leben spielt, dem ewig Getriebenen eine angemessen schmächtige Statur zu verleihen. Wahlberg macht seine Sache durchaus überzeugend, wirkt aber dennoch etwas angestrengt in der Abgeklärtheit, mit der er sich fürs Charakterfach vorstellt. Gleich in der ersten Einstellung rinnt eine Träne über sein Gesicht, das die folgenden 110 Minuten kaum jemals zur Ruhe kommen wird. Ganz großartig besetzt ist der Film allerdings in den Nebenrollen. Jessica Lange gibt Bennetts Mutter so fies und neurotisch, dass man es durchaus verstehen kann, dass er sich von ihr „freikauft“, indem er sich Geld von ihr leiht, um seine Schulden zu begleichen, welches er anschließend, in einer rauschhaft inszenierten Nacht in der Spielhalle verzockt. Einer der Schuldner wird gegeben von Michael Kenneth Williams, der schon als schwuler Gangster Omar in der Serie „The Wire“ eine geradezu diabolische Coolness an den Tag legte. Ein anderer, der bei dem sich Bennett Geld leiht, um alle anderen auszubezahlen, wird gespielt von John Goodman, der in einer Sauna-Szene seinen nackten, wahrlich Buddha-haften Oberkörper zeigt. Goodman erklärt in einem der grandiosen Dialoge, dass ein entspanntes Leben allein darin bestehen kann, sich in einer Position zu befinden, in der man der Welt mit nur zwei Worten begegnen kann: „Fuck you!“. Schließlich Brie Larsson, der als Amy die Aufgabe zufällt – die vielleicht insgeheim alle Nebenfiguren inne haben – einen Kontrapunkt zu bilden zu Wahlbergs getriebener, rastloser, selbstzerstörerischer Männlichkeit. Ob er sich selbst wirklich so sehr hasst, darf sie ihn einmal fragen.

„The Gambler“ ist ein Remake des gleichnamigen Films von 1974, in dem Drehbuchautor James Toback autobiographische Elemente verarbeitet haben soll, der aber auch lose auf Dostojewskis „Der Spieler“ basiert. Die Vielzahl der Verfilmungen von Dostojewskis kleinem Roman mag Aufschluss darüber geben, welch ein dezidiert filmisches Sujet das Glücksspiel und die sich aus ihm ergebende Abhängigkeit sind. „The Gambler“ führt einmal mehr vor, dass Menschen sich nirgendwo so glamourös und so unterhaltsam in den Ruin stürzen, wie im Casino. Unter den Dostojewski-Adaptionen findet sich eine, die den Titel „The Great Sinner“ trägt und 1949 unter der Regie von Robert Siodmak entstand. Im Hollywood des Production Codes musste der Zynismus einer Gesellschaft, in der es zum guten Ton gehört, Familienangehörige an die Spieltische zu setzen in seine Schranken gewiesen werden, der große und durch und durch verlorene Sünder schließlich zu christlicher Heilsbotschaft, Läuterung und Liebe finden.

Und 2014? Hat, ohne zu viel zu verraten, Gott als Erlöser ausgesorgt und an seiner Stelle steht nur noch das Roulette, über das in Großaufnahme und Zeitlupe die Kugel saust, dass es klingt wie eine Sturmbö. Eine große, schreckliche Schicksalsmacht. Zwar wird Bennett letztlich ein Happy End spendiert, zwar kann ein Mann, der einen Masterplan verfolgt, über dessen Ausgang er nicht die geringste Kontrolle hat, letztlich nur als komödiantischer Held erscheinen. All das täuscht jedoch nicht darüber hinweg, wie grausam eine Welt sein muss, in der das Glück reine Glückssache ist.

Manolo und das Buch des Lebens

(USA 2014, Regie: Jorge Gutierrez)

Der schwere Fehler der komischen Entlastung
von Carsten Moll

„Firlefanz, Gummigans, grüner Elch, Früchtekelch, Schlangenblick, Tortenstück, Frittenfett, Schokomatsch!“ – aus dem Titelsong zu „Cosmo & Wanda – Wenn Elfen helfen“ Will man sich dem Wesen zeitgenössischer TV-Cartoons wie „SpongeBob …

„Firlefanz, Gummigans, grüner Elch, Früchtekelch, Schlangenblick, Tortenstück, Frittenfett, Schokomatsch!“
– aus dem Titelsong zu „Cosmo & Wanda – Wenn Elfen helfen“

Will man sich dem Wesen zeitgenössischer TV-Cartoons wie „SpongeBob Schwammkopf“, „Adventure Time“, „Die fantastische Welt von Gumball“ oder eben „Cosmo & Wanda“ annähern, mag das einleitende, an eine magische Beschwörungsformel erinnernde Zitat vielleicht ein erster Schritt sein, um dieses Phänomen zu begreifen. Das halsbrecherische Tempo, die sprunghafte Ausgelassenheit und der absurde Humor der im Kinderprogramm ausgestrahlten Zeichentrickserien kommen in dem kurzen Dada-Vers schließlich bereits ganz gut zum Ausdruck. Auch Jorge R. Gutierrez, dem Regisseur und Drehbuchautor von „Manolo und das Buch des Lebens“ dürften diese Eigenarten nicht fremd sein, feierte der Animator seinen ersten großen Erfolg doch 2007 mit der Nickelodeon-Produktion „El Tigre: Die Abenteuer des Manny Rivera“.

In der gemeinsam mit seiner Ehefrau Sandra Equihua erdachten Serie erzählt Gutierrez von einem 13-jährigen Jungen mit Superkräften, der in einer fiktiven mexikanischen Metropole aufwächst und erst noch herausfinden muss, ob er nun lieber ein Held oder doch ein Schurke sein will. Dabei verbinden sich in erprobter Manier infantile Freude und abgeklärte Ironie zu einer wahnwitzigen Mischung, die jedoch stets klaren Regeln folgt: Denn so clean und kontinuierlich sich die Konturen um die knallbunten, durchgeknallten Figuren legen, so konsequent werden die kindlichen Allmachtsfantasien von moralischen Lektionen begleitet und in eine letztlich harmlose Überdrehtheit überführt.

In Zusammenarbeit mit dem Animationsstudio Reel FX (das bisher vor allem mit dem fürchterlichen „Free Birds – Esst uns an einem anderen Tag“ (2013) auf sich aufmerksam gemacht hat) hat Gutierrez nun einen Kinofilm erschaffen, der (nicht ganz nahtlos) an die von mexikanischer Volkskunst inspirierte Ästhetik seiner Cartoonserie anknüpft. Die zweidimensionalen Flash-Animationen von „El Tigre“ sind in der Zwei-Männer-buhlen-um-eine-Frau-Story „Manolo und das Buch des Lebens“ größtenteils computergenerierten 3D-Bildern gewichen. Der Dimensionssprung erweist sich dabei bei der Darstellung von üppig ausgestatteten Schauplätzen wie einem mexikanischen Dorf oder einer farbenfrohen Unterwelt zwar als Vorteil, jedoch nicht unbedingt beim Figurendesign. Besonders die angebetete Protagonistin María wirkt mit ihren Augäpfeln von der Größe eines Basketballs sowie einer Taille, für die sogar Disney-Prinzessinnen lange hungern müssten, in all ihrer Räumlichkeit äußerst befremdlich.

Die Idee, die Figuren der Kernerzählung (welche in eine überflüssige Rahmenerzählung gebettet ist, die dem US-amerikanischen Publikum wohl den Zugang zu mexikanischer Folklore erleichtern soll) als Holzpuppen auftreten zu lassen, ist zudem nicht nachvollziehbar und ihre Ausführung wenig gelungen. Bis auf charakteristische Holzmaserungen, die bei Großaufnahmen von Gesichtern zu sehen sind, können die Computeranimationen nie glaubwürdig vortäuschen, dass die Helden des Films aus Holz gefertigt sind. Hölzern im Sinne von ausdruckslos agieren die eindimensionalen Figuren zwar allemal, an die sinnlichen Qualitäten von Hölzern erinnert das hektische digitale Treiben allerdings nie. So bleibt dieser Einfall nicht mehr als ein unnötiges Gimmick, in einem an unnötigen Gimmicks nicht gerade armen Film.
Egal, ob ein Seifenblasen rülpsendes Huhn, ein argwöhnisches Schwein oder aus dem Nichts geschossene Pointen, im Sekundentakt pufft in Gutierrez‘ Kinofilm recht unmotiviert irgendein Firlefanz auf, um die magische Kreativität der Filmemacher zu bezeugen. Was in Zeichentrickserien mit 11-minütigen Episoden gut funktioniert, erweist sich bei „Manolo und das Buch des Lebens“ als schwerwiegende und nervtötende Fehlentscheidung: Das comic relief scheint hier zum Modus Operandi aufgestiegen zu sein und nimmt dem Film, der hilflos versucht, von Liebe und Tod zu erzählen, jedes Gewicht, das Eindruck hinterlassen könnte.

Während TV-Cartoons aufgrund ihrer Kürze emotionalen Tiefgang oder gesellschaftliche Themen oft nur anklingen lassen können und auch bei der Darstellung der Schauplätze gewissen Einschränkungen unterliegen, bietet das Format des Kinofilms eigentlich Potenzial, um auch einmal innezuhalten, zu schwelgen und so Räume, Ideen und Figuren in ihrer Tiefe erfahrbar zu machen. Gutierrez aber hetzt durch seine eigentlich reizvollen Welten, als wären es Achterbahnfahrten, und opfert die Figurenentwicklung einer Flut von zusammenhangslosem Schnickschnack.

Achso, und wer sich vom Namen des Produzenten Guillermo del Toro verführen lassen sollte, ins Kino zu gehen, der sei vorgewarnt, dass hier lediglich mit einem Horror der anderen Art zu rechnen ist. Zumindest in der deutschen Synchronfassung darf nämlich Ex-Bro’Sis-Mitglied und Fernsehnase Giovanni Zarrella den Helden sprechen und auch ein paar schwülstige Balladen singen.

The Imitation Game

(GB / USA 2014, Regie: Morten Tyldum)

Wettlauf gegen die Zeit
von Wolfgang Nierlin

“Ich löse gerne knifflige Aufgaben”, sagt der 27-jährige Alan Turing (Benedict Cumberbatch) bei einem Einstellungsgespräch der besonderen Art, das 1939 in London stattfindet. England ist gerade in den 2. Weltkrieg …

“Ich löse gerne knifflige Aufgaben”, sagt der 27-jährige Alan Turing (Benedict Cumberbatch) bei einem Einstellungsgespräch der besonderen Art, das 1939 in London stattfindet. England ist gerade in den 2. Weltkrieg eingetreten, und der geniale Mathematiker soll im Auftrag der Regierung zusammen mit einem Team von Tüftlern den sogenannten Enigma-Code der Nazis entschlüsseln. Dieser codiert den geheimen Funkverkehr des deutschen Militärs über bevorstehende Kampfhandlungen und gilt wegen seiner Abermillionen täglich wechselnder Kombinationsmöglichkeiten als nicht dechiffrierbar. An geheimem Ort in Blechtley Park arbeitet der unverstandene Eigenbrötler und obsessive „Rätsellöser“, flankiert von Machtkämpfen innerhalb der illustren Gruppe, zu der neben anderen der gewiefte Schachmeister Hugh Alexander (Matthew Goode) und die begabte Mathematikstudentin Joan Clarke (Keira Knightley) gehören, am Unmöglichen; und entwickelt dafür eine riesige Universalrechenmaschine.

Regisseur Morten Tyldum inszeniert seinen nach einer wahren Geschichte entstandenen Film „The Imitation Game“ als spannenden Wettlauf gegen die Zeit, angereichert mit den typischen Versatzstücken des Thriller-Genres und überdeutlich versinnbildlicht durch den wiederholt joggenden Protagonisten. Neben der retardierenden Dramatik, die zielstrebig auf eine Lösung des Problems zusteuert, sind es vor allem interne Konflikte, nicht zuletzt durch die streitbare Arroganz des singulären Wissenschaftlers provoziert, die immer wieder für Rückschläge sorgen. Während der Krieg tobt und unzählige Opfer fordert, was nur am Rande ins Bild gesetzt wird, findet die Gruppe immer stärker einen inneren Zusammenhalt.

Daneben und eher am Rande installieren Morten Tyldum und sein Drehbuchautor Graham Moore eine biographische Erzählung, um Turings „Andersartigkeit“ als Mathe-Genie und Homosexueller zu beleuchten. Die Haupthandlung ist deshalb – nicht immer elegant – verschachtelt mit Rückblenden in dessen traumatische Internatszeit als Schüler sowie mit einem als Rahmen fungierenden Polizeiverhör, in dessen Verlauf der im Nachkriegsengland verfolgte Homosexuelle und Computerpionier lange gehütete Geheimnisse preisgibt. Aus dieser rücksichtslos alle Lebensbereiche und Beziehungen durchdringenden Geheimhaltung gewinnt der Film zugleich sein tragisches Potential.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'The Imitation Game'.

Die Wolken von Sils Maria

(F / CH / D 2014, Regie: Olivier Assayas)

Die Zeit macht nur vor dem Teufel halt
von Ulrich Kriest

Eigentlich ist alles ganz einfach! Da ist die Flüchtigkeit des Theaters, auf dem die junge Schauspielerin Maria Enders die anspruchsvolle Rolle der jungen Sigrid in dem berühmten (fiktiven) Drama „Maloja …

Eigentlich ist alles ganz einfach! Da ist die Flüchtigkeit des Theaters, auf dem die junge Schauspielerin Maria Enders die anspruchsvolle Rolle der jungen Sigrid in dem berühmten (fiktiven) Drama „Maloja Snake“ und in der darauf folgenden (bleibenden?) (fiktiven) Verfilmung so überzeugend interpretierte, dass sich darauf eine internationale Karriere gründen ließ, die souverän zwischen Theater und Arthaus-Kino zu pendeln verstand.

Hochkultur! Jetzt soll eben diese Schauspielerin für den (fiktiven) Autor des Stückes die Laudatio im Rahmen einer Preisverleihung halten, was sie auf nicht immer angenehme, vielleicht sogar heikle Weise mit ihrer Künstler-Biografie konfrontiert. Hat sie den Zenit ihrer Karriere bereits überschritten? Werden noch interessante Projekte angeboten werden? Doch auf dem Weg zur Preisverleihung kommt die Nachricht, dass der Autor Selbstmord begangen hat; das Treffen mit alten Freunden und Kollegen sollte im Zeichen der Trauer stattfinden, kreist jedoch eher um kaum verdeckte Eitelkeiten und buhlende Ambitionen.

Ein forscher deutscher Jung-Star-Regisseur namens Klaus Diesterweg, großartig verkörpert von Lars Eidinger, versucht Maria zu überreden, an seiner Londoner Neu-Inszenierung von „Maloja Snake“ mitzuwirken. Allerdings würde sie jetzt – 30 Jahre später – nicht mehr die Rolle der jungen Verführerin Sigrid spielen, sondern diejenige der älteren Verführten Helena, die in den Selbstmord getrieben wird. Wäre das nicht ein künstlerischer Triumph, beide Rollen in einer Karriere? Maria zögert, erbittet Bedenkzeit, sagt dann doch zu und zieht sich mit ihrer halb so alten Assistentin Valentine in die einsame, erhabene Bergwelt des Engadin zurück, um den Text zu proben.

Dabei fällt Valentine natürlich die Rolle der Sigrid zu – und mehr als einmal scheinen Konflikte der literarischen Vorlage direkt in die Realität der beiden Frauen zu münden: Die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt im Dialogfluss mehr als einmal, zumal sich Valentine ihre Arbeit durch Maria nicht hinreichend gewürdigt sieht. Unklar: Legt die Arbeit am Text verdeckte Konflikte offen oder produziert der Text die Konflikte zu allererst? Als ultimativen Coup seiner Inszenierung hat sich Regisseur Diesterweg mittlerweile die Besetzung der Sigrid mit dem Nachwuchsstar des aktuellen Blockbuster-Kinos Jo-Ann Ellis gedacht, die bislang weniger im Kino als durch ihre YouTube-Präsenz reüssiert hat. Um zu erfahren, mit was hier wohl zu rechnen ist, sehen sich Maria und Valentine ihr aktuelles 3D-Fantasy-Spektakel im Kino an. Maria reagiert mittlerweile absehbar bildungsbürgerlich bis kulturkritisch auf den Quatsch, während Valentine darin doch eine unerhörte Tiefe und Komplexität erkennt.

Mit unerhörter Leichtigkeit und Souveränität gelingt es dem französischen Star-Regisseur Olivier Assayas („Ende August, Anfang September“, „Carlos – Der Schakal“, „Die wilde Zeit“) seine Generationen-Trias als vielfach vernetzten und gespiegelten Kampf um kulturelle Deutungshoheit zwischen Hochkultur, Popkultur und Celebrity-Kultur zu entwerfen. Selbst in der Abgeschiedenheit des Engadin, wohin sich Nietzsche gerne mit seinem philosophischen Hämmerchen zurückzog, sind die Neuen Medien stets präsent. Dauernd klingeln die Mobiltelefone, ständig wird gegoogelt, auch Maria, die einmal von ihrer Verachtung für das Internet spricht, hat stets ein i-Pad zur Hand, wenn neue Namen ins Spiel kommen.

Assayas, seines Zeichens erklärter Autorenfilmer, registriert solche Widersprüche, wertet sie aber nicht. Im Pressematerial zum Film schreibt er dazu: „Maria Enders blickt ins Leere und betrachtet die Frau, die sie mit 20 Jahren war: Im Grunde war sie die gleiche. Geändert hat sich die Welt um sie herum, und die Jugend hat sich verflüchtigt. Die Jugend im Sinne von Unberührtheit und dem Entdecken der Welt. (…) Auf der anderen Seite vergessen wir nie, was die Jugend uns gelehrt hat: dieses permanente Neu-Erfinden der Welt, das Entziffern der Gegenwart und den Preis, den man zu zahlen hat, wenn man dazugehören will.“ Davon erzählt der Film in mehrfach verschränkter Weise vor dem Hintergrund einer Landschaft, „an dem die Zeit keine Spuren hinterlässt“ (Assayas).

Zum Beispiel, indem er eine weitere Meta-Ebene in seinen Film einzieht: In einem Film, der auch davon handelt, wie für eine spektakuläre Theater-Inszenierung die Rollen trefflich besetzt werden, spielt der Film selbst mit den Biografien seiner Stars. Assayas selbst schrieb einst (1985) sein erstes Drehbuch für André Techinés „Rendez-vous“, der der Durchbruch für die junge Juliette Binoche werden sollte. „Twilight“-Star Kristen Stewart darf selbstironisch, oder vielleicht eben auch nicht, vom Reichtum des Kommerzkinos schwärmen und Chloë Grace Moretz, die den skandalumwitterten Hollywood-Nachwuchs spielt, ist tatsächlich Nachwuchs („Kick-Ass“), während der ehemalige Nachwuchs Kristen Stewart mittlerweile schon Richtung Arthaus tendiert. Der Schauspieler und Theaterregisseur Lars Eidinger spielt einen Theaterregisseur und Hanns Zischler, nun ja, einen eitlen Fatzke, der die besten Jahre als Schauspieler hinter sich hat.

Und als sei das alles noch nicht genug, verbeugt sich Assayas auch noch ganz nebenher vor der Filmgeschichte, indem er nicht nur an einen (nicht fiktiven) Bergfilm von Arnold Fanck über das Titel gebende „Wolkenphänomen von Majola“ aus dem Jahre 1924 erinnert, sondern auch noch die „YouTube“-Videos von Jo-Ann Ellis und die Szene aus ihrem Fantasy-Blockbuster selbst inszeniert hat. Da ist sehr viel post-moderne, auf das Mehr-Wissen des Zuschauers setzende Spielerei um Intertexte dabei, aber letztlich geht es sehr ernsthaft und reflektiert um den Wandel der Medienlandschaft, über das neu zu verhandelnde Verhältnis von Kunst und Kommerz und nicht zuletzt darum, großartigen Schauspielerinnen eine hoch intelligent gestaltete (Dreh-)Bühne für ihre (ausgesprochen unterhaltsame) Kunst zu bieten.

Der Film endet schließlich mit der Premiere des Neu-Inszenierung, aber auf dem Weg dorthin ist noch die eine oder andere Überraschung möglich, die aber an dieser Stelle nicht verraten werden soll. Als Filmmusik kommen einerseits Kompositionen von Händel und Pachelbel zum Einsatz, andererseits sind auch Primal Scream mit „Kowalski“ zu hören, was ja seinerzeit auch als eine Hommage an einen fast vergessenen (nicht fiktiven) Film gedacht war. Hauptsache, man bleibt in Bewegung!

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Die Wolken von Sils Maria'.

Serena

(USA 2013, Regie: Susanne Bier)

Der letzte Puma
von Wolfgang Nierlin

„Ort des blauen Nebels“ nennen die nordamerikanischen Cherokee-Indianer die Smoky Mountains in North Carolina. Und wenn man die ersten, in Cinemascope gedrehten Bilder von Susanne Biers neuem Film „Serena“ sieht, …

„Ort des blauen Nebels“ nennen die nordamerikanischen Cherokee-Indianer die Smoky Mountains in North Carolina. Und wenn man die ersten, in Cinemascope gedrehten Bilder von Susanne Biers neuem Film „Serena“ sieht, versteht man auch ein bisschen warum: Durch die sanft geschwungenen Täler dieser majestätischen Waldlandschaft wallen dicke Nebel in einem dämmrigen Licht und verbinden Himmel und Erde. Eine große Stille liegt über der Natur, die jedoch längst nicht mehr unberührt ist. Wir schreiben das Jahr 1929 und die Holzfäller des ehrgeizigen, aber verschuldeten Unternehmers George Pemperton (Bradley Cooper) sind dabei, ihr ebenso intensives wie gefährliches Werk zu verrichten. Der sogenannte Fortschritt schlägt wüste Schneisen in die Naturidylle. Profitgier, sagen die Kritiker, zerstöre die göttliche Schöpfung, die durch einen Park bewahrt werden soll. Und der Puma ist fast schon ausgerottet.

Doch die dänische Regisseurin und Oscar-Preisträgerin Susanne Bier, die mit „Serena“ erneut eine amerikanische Produktion gestemmt hat, lässt diesen Konflikt relativ unentwickelt und benutzt ihn eher als symbolischen Aufhänger. Auch die wirtschaftlichen Zusammenhänge und betrügerischen Machenschaften, in die der männliche, nicht ohne Gewissensbisse agierende Held, der als Jäger eingeführt wird, verstrickt ist, bleiben unscharf. Stattdessen widmet sich die einstige Dogma-Filmerin mit leidenschaftlicher Wucht einem sehr konventionell inszenierten, mit bekannten Motiv-Versatzstücken vollgepackten Liebesdrama, das seine Spannungsmomente mitunter allzu übereilt ausspielt und die Glaubwürdigkeit dabei großzügig vernachlässigt. Das ist altmodisches Hollywood-Kino, mit tragödienhaftem Furor thematisch aufgespannt zwischen Trauma und Liebeswahnsinn, Schuld und Strafe.

Wenn sich die ebenso schöne wie seelisch verwundete Serena (Jennifer Lawrence), eine Inkarnation der blonden Verführerin und gefährlichen Frau, und der hinter ihr her jagende George zum ersten Mal begegnen, reitet sie in roter Bluse auf einem Schimmel. „Ich glaube, wir sollten heiraten“, lauten die ersten Worte, die er an sie richtet. Und eine Szene später ist das schon ins Werk gesetzt. Bald leitet Serena, die selbst aus einer Holzfällerdynastie stammt und deshalb eine Menge Fachwissen mitbringt, zusammen mit George die Firma, wirkt in der rauen Männerwelt aber auffallend deplatziert. Das weckt Neid und Eifersucht, gefolgt von mörderischer Rache, Schuldgefühlen und Entzweiung. Ein unheilvolles Schicksal determiniert die Figuren und muss die Geschichte erfüllen. Weshalb Susanne Bier das tragische (Liebes-)Geschick ihrer beiden Helden außerdem mit den übersinnlichen Fähigkeiten eines unheimlichen Fährtenlesers (Rhys Ifans) verbindet.

Streif – One Hell of a Ride

(AT 2014, Regie: Gerald Salmina)

Kulissen hinter Kulissen
von Lukas Schmutzer

Das Hahnenkammrennen in Kitzbühel ist ein alljährliches Großereignis, bei dem sich in den Disziplinen Abfahrt und Super G Skifahrer die sog. Streif hinunterwerfen, die nur für das Rennen präpariert wird …

Das Hahnenkammrennen in Kitzbühel ist ein alljährliches Großereignis, bei dem sich in den Disziplinen Abfahrt und Super G Skifahrer die sog. Streif hinunterwerfen, die nur für das Rennen präpariert wird und sonst nicht als reguläre Piste gekennzeichnet ist. Es handelt sich um eine der anspruchvollsten wie auch gefährlichsten Abfahrten der Welt. Das stellt ein spannendes und ergiebiges Feld für einen Dokumentarfilm dar, lädt doch nicht nur die Komplexität des Sports, sondern auch dessen mediale Verarbeitung zu einem Blick ein, den sonst nur Eingeweihte besitzen. Der demnächst anlaufende „Streif – One Hell of a Ride“ erlaubt sich allerdings so viele Schnitzer, dass er auf halbem Weg selbst auf der Strecke bleibt. Zum Verhängnis wird ihm, dass das Rennen in Kitzbühel bereits jedes Jahr von den österreichischen Medien dokumentiert wird (Rundfunk, Tageszeitungen etc., und dies mit nicht wenig Aufwand), während der Film „Streif“ es in keinem Moment schafft, eine Bildsprache oder irgendeine Form von Diskurs zu entwickeln, die oder der sich qualitativ von dieser Berichterstattung absetzen würde – der Film reproduziert in erster Linie das, mit dem der sportinteressierte Österreicher ohnehin in jedem Januar betäubt wird. Das Problem ist also nicht die Intention als solche, der Strecke, den Athleten und nicht zuletzt auch den Organisatoren des Rennens ein filmisches Denkmal setzen zu wollen, sondern die Rhetorik des Spektakels, mit der dies geschieht und die das, was der Film an Information enthielte, erstickt. Anstatt eines versprochenen Blicks hinter die Kulissen werden nur neue aufgestellt.

Das mit viel Aufwand gedrehte Material wird in eine Dramaturgie gedrückt, mit der das Rennen gepriesen werden soll, indem eine Bewegung von Einzelheiten (Organisation, Training und Eindrücke der Athleten, Rekapitulation der Geschichte des Rennens) hin zum großen Ganzen (dem Rennen, wie es 2014 abgehalten wurde) vollführt wird. Wenn dann als Höhe- und Schlusspunkt die Abfahrt erstmals am Stück gezeigt wird, ist der Spannungsbogen längst überspannt und der Zuschauer von der vorangegangenen Bilderflut gesättigt. Zwar wird versucht, die Abfahrt in einem unbedarften ästhetischen Kontext zu zeigen, doch auch ungewohnte Kameraeinstellungen und pathetische Musikuntermalung (anstatt Zeitmessung und Kommentar wie in der Live-Übertragung) reichen nicht hin, um hier ausreichend neue Facetten zu eröffnen, geschweige denn zu vermitteln, worin die Herausforderung besteht, diese Strecke abzufahren (um dies zu verdeutlichen, hätte es z.B. gereicht, einfach einmal einen durchschnittlichen Skifahrer auf der Strecke zu filmen). Der Weg, der mit der Dramaturgie bestritten wird, ist insofern ein schwieriger, weil er genau das zum Höhepunkt setzt, was ohnehin bekannt ist; man hätte es sich einfacher gemacht, wenn bei den bekannten Fernseh-Bildern angesetzt worden wäre, um das Material zu sezieren. Stattdessen wird mit weihrauchschwenkenden Mönchen begonnen, und auch wenn die zunächst nur den Ritualcharakter des Ski-Präparierens verdeutlichen sollen, enthalten diese Bilder eigentlich bereits das Programm des Films bis hin zur abschließenden Abfahrt, die nur die Fortsetzung des Weihrauchschwenkens mit aufwändigeren Mitteln darstellt.

Es kommen zahlreiche Athleten zu Wort, die mit dem Hahnenkammrennen zentrale Erfahrungen ihrer Karriere wie auch ihres Lebens verbinden, darunter Didier Cuche, Daron Rahlves, Daniel Albrecht oder Hans Grugger. Hieraus ergeben sich die wertvollsten Momente des Films. Einige medienwirksame „Stars“ werden fast beiseite gelassen (z.B. Bode Miller), dafür wird mit dem Russen Yuri Danilochkin ein Außenseiter eingeführt, was man dem Film nicht zuletzt deshalb zu Gute halten muss, weil mit dessen Mutter und Trainerin eine Frau im Umfeld des männerdominierten Hahnenkammrennens gezeigt wird; neben Hans Gruggers Ehefrau als zweite tragende Frau inszeniert „Streif“ sonst vor allem Dirndln beim Après-Ski.

Doch wird den Worten der Skifahrer entweder misstraut oder zu viel zugemutet. Misstraut wird ihnen, wenn gemeint wird, sie mit eingeschobenen Bildern unterstreichen zu müssen, wo die Mimik des Sprechers mehr als gereicht hätte. Besonders problematisch ist dies in der Aufarbeitung von Daniel Albrechts folgenreichem Sturz, welcher gefühlte vier- bis fünfmal eingeblendet wird, als misstraue man neben nicht nur den Reflexionen des Fahrers, sondern auch der Gedächtnisleistung des Zuschauers. Da wird sogar von einem Mitglied der Streckenaufsicht beklagt, dass unsere heutige Sensationsgier vor allem Stürze zu Gesicht bekommen will – der Film baut keinen Dialog mit dessen Worten auf, stellt sich taub für sie und macht sich selbst zum Teil dieser Maschinerie.

Zu viel zugemutet wird Worten, die für Außenstehende nur mit viel mehr Kontext Sinn ergäben. Während „Du kannst Abfahrt nicht trainieren“ noch aussagekräftig ist (weil es logistisch nicht umsetzbar wäre), mag sich die Bedeutung von Felix Neureuthers Kommentar zum Kitzbüheler Slalom (welcher zwar an einem anderen Hang ausgetragen wird, aber auch angeschnitten wird), nämlich, dass man da „Vollgas pushen pushen pushen“ muss, nur den Rennfahrern im Publikum erschließen. Überhaupt scheitert „Streif“ völlig darin, seinem Publikum das Training der Athleten – welches eigentlich ausführlich begutachtet wird – greifbar zu machen, was in der Inszenierung von Yuri Danilochkin als einem russischen „Rocky“ seinen negativen Höhepunkt erreicht.

Fazit: Wie ein Skifahrer, der falsch trainiert, die Kontrolle über seine Bretter verliert, wird der Film trotz seines Aufwands zum Opfer der Bilder, die er beschwören möchte.

Foxcatcher

(USA 2014, Regie: Bennett Miller)

Erfolgreiche Verlierer
von Nicolai Bühnemann

„Sieger im Sport, Gewinner im Leben und aufrichtige Bürger der USA“, lautet die Trainer-Philosophie von John du Pont. Zu Beginn machen weder seine sportlichen Erfolge noch seine Aufrichtigkeit aus Mark …

„Sieger im Sport, Gewinner im Leben und aufrichtige Bürger der USA“, lautet die Trainer-Philosophie von John du Pont. Zu Beginn machen weder seine sportlichen Erfolge noch seine Aufrichtigkeit aus Mark Schultz einen Gewinner. Die Goldmedaille, die er im Ringkampf bei den olympischen Spielen 1984 holte, kommt in einen Schrein voll anderer Trophäen in seiner kargen, eher ärmlichen Wohnung. Der Himmel ist grau, die Straßen schimmern regennass und die Breitbild-Fotografie scheint vor allem dazu bestimmt, weite Räume zu schaffen, in denen sich die Einsamkeit, die Isolation zeigt, in der Mark (Channing Tatum) lebt. Das Einlösen eines Schecks über 20 Dollar steht auf der Tagesordnung und Instant-Nudeln stehen auf dem Speiseplan. Außerdem trainiert er weiter unermüdlich den Sport, der ihm offenbar kein großes, sonders bislang eher ein ziemlich tristes Leben beschert hat.

Sein Glück scheint sich zu wenden, als der exzentrische Milliardär John du Pont (Steve Carell) zu ihm Kontakt aufnimmt. Du Pont, der mit seiner eiskalten und herrschsüchtigen Mutter (Vanessa Redgrave), die Zuneigung einzig für ihre Pferde zu kennen scheint, in einem riesigen Anwesen residiert, hat es sich in den Kopf gesetzt, den amerikanischen Ringsport zu retten und setzt dabei ganz auf Mark, der sich so zugleich aus dem Schatten seines älteren Bruders, Dave (Mark Ruffalo), zu befreien sucht . Dave hat ihn quasi aufgezogen und war, selber Ringer, auch bei seinen sportlichen Erfolgen sein Mentor. Anfangs will Du Pont auch Dave für sein Vorhaben gewinnen, der ihm aber wegen seiner Familie zunächst eine Absage erteilt.

Aus der wahren Geschichte um die Ringer-Brüder Mark und Dave Schultz und ihren aus einer milliardenschweren Industriellen-Dynastie stammenden Trainer John du Pont machen Regisseur Bennett Miller und seine Autoren 134 Minuten episches Männerkino. Old School, gut abgehangen in seiner Konzentration auf Plot und Schauspieler. So überraschend der finale Plot Point einen auch treffen mag, es scheint doch zwangsläufig zu sein, dass die immer tiefere Verstrickung in Schuld und Abhängigkeit schließlich eine mörderische Dynamik entwickelt. Den Kern der Erzählung bildet die Beziehung von Mark zu Du Pont. Das unbedarfte, furchtbar naive Muskelpaket, dem Channing Tatum eine zugleich einschüchternde und mitleiderregende Präsenz verleiht, auf der einen Seite, der Milliardär, der sich nicht von seiner Mutter, die gut der Fantasie Alfred Hitchcocks entstammen könnte, lösen kann, auf der anderen. Du Pont gewinnt Mark nicht mit den Versprechungen des großen Geldes, von dem Mark so überhaupt keine Vorstellung hat – gefragt, wie viel er für sein Engagement haben möchte, antwortet Mark 25.000 Dollar pro Jahr; die größte Summe, die ihm in den Kopf kam –, sondern mit seinem patriotischen Gerede von Aufopferung und Freiheit. Wenn Du Pont Mark zu sich aufblicken lässt, wie zu einem Vater, und dabei zum Beispiel seine ausgeprägt selbstzerstörerische Seite mit Kokain füttert, reproduziert er das Dysfunktionale, die Fixierung an eine so übermächtige wie gnadenlose Elternfigur, die ihn selbst gefangen hält.

Es liegt quasi in der Natur der Sache, dass Dave zur Nebenfigur wird – trotz eines gut aufgelegten, bärtigen Mark Ruffalos. Das Glück in der bürgerlichen Kleinfamilie – was hier vor allem zu heißen scheint: das Glück mit einer Frau – wird beiläufig und kurz gezeigt, um ein „normales“ Außen zu den überlebensgroßen Neurosen und Ambitionen der Männer im Zentrum des Films zu konstruieren. Es erscheint keineswegs als Zufall, dass den Mittelpunkt dieser Ambitionen das Ringen bildet, ein Sport, in dem sich schweißnasse Männerkörper engumschlungen im Kampf begegnen. Dass Du Ponts Mutter, in der einzigen Szene, in der einer Frau überhaupt etwas mehr als ein paar Sekunden screen time vergönnt sind, deutlich macht, dass sie für die neue Leidenschaft ihres Sohns nichts als Verachtung übrig hat, lässt das Ringen im Film – mehr als sowieso schon – als Flucht vor der Frau erscheinen.

Die Dramaturgie des Sportfilms wird schon dadurch ausgehebelt, dass die eindrücklichste und physischste der Kampfszenen schon relativ zu Beginn des Films vorkommt: ein Trainingskampf zwischen Mark und Dave. Doch die Kritik an der Erzählung vom Außenseiter, der against all odds und mit gutem Karma zum Sieger wird, geht wesentlich tiefer. Es ist die Ideologie, gewinnen zu müssen, die hier angegriffen wird. Über Siege geht der Film auch deshalb so lakonisch hinweg, weil es in ihm niemanden gibt, der in der Lage wäre, sie zu feiern. So bleibt auch am erschütternden Ende vielleicht insgeheim Mark, der weiter kämpfen, weiter gewinnen muss, die tragischste der tragischen Figuren des Films. In einer Welt, in der der Sieg zum Imperativ wird, das Gewinnen zum Muss, gibt es in diesem Film letztlich nur Verlierer.

Bevor der Winter kommt

(F / LU 2013, Regie: Philippe Claudel)

Im Herbst des Lebens
von Wolfgang Nierlin

Die Einrichtungen des langjährigen Ehelebens scheinen perfekt geordnet: Seit über dreißig Jahren sind der erfolgreiche Neurochirurg Paul Natkinson (Daniel Auteuil) und seine Frau Lucie (Kristin Scott Thomas) miteinander verheiratet. Während …

Die Einrichtungen des langjährigen Ehelebens scheinen perfekt geordnet: Seit über dreißig Jahren sind der erfolgreiche Neurochirurg Paul Natkinson (Daniel Auteuil) und seine Frau Lucie (Kristin Scott Thomas) miteinander verheiratet. Während er operiert, widmet sie sich dem Garten. Dort findet eingangs von Philippe Claudels Film „Bevor der Winter kommt“ (Avant l’hiver) auch ein sommerliches Fest mit der Familie, Freunden und den letzten eigenen Erdbeeren der Saison statt. Das dazu gehörende Haus auf dem weitläufigen Anwesen ist geräumig, transparent und hell. Doch die solide Wohlstandsoberfläche, angereichert mit Opernbesuchen und dem Ausgleichssport Tennis, zeigt feine Risse: Der Chefarzt ist chronisch überarbeitet und hat kaum Zeit für seine Frau, diese fühlt sich vernachlässigt und gelangweilt. Lucies psychisch kranke Schwester Mathilde (Laure Killing), die dieses Wohlstandsglück irritiert und stört, bezeichnet das Haus der Natkinsons einmal als einen „gläsernen Sarg“.

Der Riss im brüchigen Arrangement wird größer, als plötzlich unvermittelt und immer vehementer die Farbe Rot in Pauls Leben tritt. Erst sind es Rosensträuße eines unbekannten Absenders; dann das Kleid einer jungen zwielichtigen Frau namens Lou Vallée (Leïla Bekhti), die in Pauls Leben eindringt; und viel später im Film verwandelt sich die Farbe der Liebe und der Sehnsucht nach der verlorenen Unschuld in die Farbe des Blutes. Die vielfältigen Schattierungen von Leben und Tod liegen in Claudels melancholisch gestimmtem Film über den Herbst des Lebens eng beieinander. In der Konfrontation mit der mysteriösen Fremden, die zugleich gegenwärtig und entfernt bleibt wie ein undurchdringlicher Nebel, wird Paul unkonzentrierter, gerät er auf Abwege und in (eine noch sprachlosere) Distanz zu seiner Frau und muss schließlich eine Auszeit nehmen. Paul droht sich zu verlieren und scheint doch etwas zu gewinnen.

Der französische Schriftsteller und Filmemacher Philippe Claudel nimmt sich viel Zeit, um die komplexen Zusammenhänge eines ehelichen Stillstands möglichst differenziert zu beschreiben. Dabei wird er von einem hervorragenden Darsteller-Ensemble unterstützt. Motivisch und atmosphärisch von den Filmen Sautets und Hitchcocks inspiriert, stehen der scheinbaren Offenheit ausgeleuchteter Eheverhältnisse die dunklen Geheimnisse und verschwiegenen Träume eines fast schon vergessenen Lebens gegenüber. In Lous Gegenwart erlebt Paul noch einmal eine durch den soghaften Lebensprozess verloren gegangene Unbeschwertheit. Der Zwang, denken zu müssen, ist für ihn in diesen Momenten aufgehoben. Zugleich thematisiert Claudel auf berührende Weise noch einen tieferen Grund, der den vaterlos aufgewachsenen Mediziner sowohl mit der entwurzelten jungen Marokkanerin als auch mit einer alten jüdischen Patientin verbindet, deren Familie von den Nazis und ihren Helfern ausgelöscht wurde: Und zwar den Versuch, gegen alles Vergessen Namen zu erinnern und zu bewahren, um damit lebendige Spuren einer vergangenen Existenz zu bezeugen und weiterzugeben.

Wir sind jung. Wir sind stark.

(D 2014, Regie: Burhan Qurbani)

Einwandfrei verkuckt
von Dietrich Kuhlbrodt

Rostock-Lichtenhagen 1992. Das Asylantenheim brennt. Vor dem Haus Junge und Alte. Sie applaudieren. Wir kennen die TV-Bilder. Der Film hat dagegen die Situation der Jugendlichen im Blick, desozialisiert nach der …

Rostock-Lichtenhagen 1992. Das Asylantenheim brennt. Vor dem Haus Junge und Alte. Sie applaudieren. Wir kennen die TV-Bilder. Der Film hat dagegen die Situation der Jugendlichen im Blick, desozialisiert nach der Wende. Er beschreibt, wie sie abhängen, Stunden vorm Feuerlegen in der Ostsee baden, gern auch nackt, Sex haben, rumalbern, sich hauen und keinen Plan haben, während der Pappa, Lokalpolitiker (Striesow), der auf seine Weise auch keinen Plan hat, lieber allein zuhaus Kopfhörer aufsetzt und klassische Musik hört.

Ja hallo!? Soll ich jetzt für das, was die Menschen vorm Asylantenheim bewegt, Verständnis aufbringen? Ich werde im Kino erstens hellwach. Zweitens reg ich mich auf, und drittens bin ich drin verwickelt. Denn damals, ein Jahr nach 1992, war ich nach Lichtenhagen gefahren, um als Vater die Eltern der Braut kennenzulernen. Ich kuckte aus dem Fenster des Plattenbaus und hatte die Fassade des Asylantenheims vor mir. „Das muss ja furchtbar gewesen sein“. „Ja“, sagte die gütige, voll sympathische Mutter, „die Ausländer haben auf der dem Rasen kampiert, überall lag Müll, und die Büsche haben sie als Toilette benutzt.“ – „Äh, ich meine das irgendwie anders“. Sie guckte mich ratlos an.

Im Kino kuckte ich ratlos auf die vollgemüllte, vollgeschissene Wiese. Sie sah genauso aus, wie die anständige Bürgerin sie mir damals beschrieben hatte. – Also gibt’s jetzt Fragen. Der Film gibt Hilfestellung. Die Vietnamesin im Haus nebenan, kurz vorm Brand: „Uns passiert nichts; die Wut der Leute richtet sich gegen die Zigeuner auf dem Platz“. – „Es muss Sinti und Roma heißen“, korrigiert der Film. Ist das die Lösung? Oder der Sängerkrieg? „Früher war es wunderbar, da war noch der Führer da, oi oi oi“ gegen „Völker hört die Signale, auf zum letzten Gefecht“. Nein? Oder Leipzig in Lichtenhagen: „Keine Gewalt! Wir sind das Volk!“ gegen das Jungvolk: „Wir sind jung. Wir sind stark“?

Mit seinem Rede-/Gegenredeprogramm hat der Film eine Strategie: die Neutralisierung von sich anbahnenden Positionen. Klar, wohin die Sympathie des Regisseurs, Burhan Qurbani („Shahada“), geht. Sein zweiter Spielfilm jetzt hat starke Bilder. Qurbani hat sich ästhetisch einwandfrei ins Jungvolk verkuckt. Man kanns dabei belassen. Du musst nur Deinen Verstand ausschalten. Zwei Stunden sind genug. Zieh die Notbremse! Da, der Abspann! Aber leider hat sich der Film schon bei mir verhakt. Ich war ja auch involviert gewesen. Ich muss da raus!

Dieser Text erschien zuerst in Konkret 2/2015

Hier gibt’s eine weitere Kritik zu 'Wir sind jung. Wir sind stark'.

Winterschlaf

(TR / F / D 2014, Regie: Nuri Bilge Ceylan)

Im Käfig der Sprache
von Ilija Matusko

In 'Winterschlaf' arbeitet Nuri Bilge Ceylan in einem dreistündigen Kraftakt die tatenlose Selbstbezogenheit der türkischen Intellektuellen auf. Diese haben sich auf hochgelegene Plateaus zurückgezogen, im Welterklären eingerichtet wie in einer …

In 'Winterschlaf' arbeitet Nuri Bilge Ceylan in einem dreistündigen Kraftakt die tatenlose Selbstbezogenheit der türkischen Intellektuellen auf. Diese haben sich auf hochgelegene Plateaus zurückgezogen, im Welterklären eingerichtet wie in einer warmen Stube, und scheuen die Konfrontation mit den Belangen des Volkes. So wie das Leben in der türkischen Gegend in Zentralanatolien, in dem der Film spielt, im jahreszeitlichen Winterschlaf versunken ist, so haben scheinbar auch die Kräfte zur Veränderung in der türkischen Gesellschaft ihren Herzschlag aufgrund einer Kältestarre verlangsamt.

Der vermögende Hotel- und Wohnhausbesitzer Aydin lebt mit seiner jüngeren Frau Nicla und seiner alleinstehenden Schwester Necla in Kappadokien, in einer seltsam mit Erdtürmen und Bergen verwachsenen Landschaft, deren Natur- und Hügelformationen die Touristen anlockt. Im höflichen Umgang mit seinen Gästen zeigen sich die Weltoffenheit und Freundlichkeit eines Intellektuellen, der mit dem Schreiben von Kolumnen seine schöngeistige Ader auslebt und handgreiflichen Konflikten lieber aus dem Weg geht. Das Schuldeneintreiben bei der verarmten Mieterschaft im Dorf überlässt er lieber seinen Angestellten und sieht vom Auto aus zu. Von einer erhöhten Stelle. Als sei er nicht der Machtausübende, sondern ein Unbeteiligter. Dass der Protagonist seine eigene patriarchale Einwirkung in die sozialen Landschaften seiner Umgebung völlig falsch einschätzt, macht gleich zu Beginn das Grundnarrativ des Filmes deutlich: Machtgefüge, die für die einen unhintergehbar wirksam sind, können von anderen ausgeblendet werden.

Der Steinwurf eines Jungen, dessen Familie die Miete nicht mehr bezahlen kann und in die Verzweiflung gezwungen wird, reißt Aydin aus seiner Teilnahmslosigkeit. Eine Autoscheibe geht zu Bruch, die verarmte Familie soll für den Schaden aufkommen. Hinter der Kultiviertheit des Hotelbesitzers wird die Ignoranz und Gerechtigkeitslogik eines Menschen sichtbar, der sich und seine ethische Weltsicht zum Maß der Dinge erklärt. Auch in den Beziehungen zu seiner Frau und zu seiner Schwester wird nach und nach die manipulative Besetzer-Mentalität von Aydin sichtbar. Er maßregelt, mischt sich ein, verunglimpft. Nicht brutal oder aggressiv, sondern immer im Gestus der Wohlerzogenheit, der abwägenden Sprache und der Anständigkeit. Gerade in dieser Immunisierung wirkt die moralische Überlegenheit so bevormundend und herablassend. 'Du bist ein kultivierter, anständiger und gerechter Mann', sagt seine Frau Nihal zu ihm, 'doch manchmal benutzt du diese Eigenschaften, um die anderen zu ersticken.' Seine Umgebung scheint von seinem Charakter kolonialisiert, jeder Wille scheint gebrochen, sogar ein Wildpferd soll sich seiner Zähmung beugen. Damit verschiebt sich der Blick auf das Grundnarrativ: Das Ausblenden der Wirklichkeit ist kein passives Wegschauen mehr, sondern ein aktives Umdeuten der eigenen Position in diesem Gefüge. Mit den Mitteln der Sprache.

In der Sprache ist der Kultivierte zu Hause. Hier werden Missstände verhandelt, hier konstituiert sich für ihn die Wirklichkeit. Dass die moralisierende Position gerade von den ökonomischen Vorteilen lebt, die eine Loslösung vom Existenziellen ermöglichen, bleibt der blinde Fleck des Protagonisten. Aber auch die anderen Figuren stehen mit ihrem moralischen Rüstzeug, die Welt zu erklären, auf verlorenem Posten. Denn dieses Rüstzeug scheint zu tief mit persönlichen Befindlichkeiten und Wertvorstellungen verwachsen. Mit jedem Dialog wird dann ein komplexes Beziehungs- und Machtgeflecht freigelegt – so als sei das Soziale eine ähnlich erstarrte und verwachsende Landschaft wie die Naturfelsen Kappadokiens.

„Winterschlaf“ spielt dann auch in zwei Welten. In der Welt der verschneiten Hügel eines kappadokischen Dorfes, in dem die Bewohner gegen Armut kämpfen, ein Kaminfeuer gegen die Kälte hilft und Steine Autoscheiben kaputt schlagen. (Dass Steinwürfe von Kindern auf Polizeifahrzeuge seit einigen Jahren zu Festnahmen und Gefängnisstrafen in der Türkei geführt haben, scheint hier keine zufällige Anspielung zu sein.) Und er spielt in der Welt der Sprache, die nicht weniger Gefälle, Verräumlichung und Kampfarenen zu bieten hat. Beide Welten sind ineinander verzahnt, aber beide folgen eigenen Gesetzen. Dass diese Parallelität nicht durchbrochen wird, scheint dem Regisseur erklärungsbedürftig. Die intellektuelle Durchdringung von Welt jedenfalls scheint nicht zu genügen – damit meint der Regisseur womöglich auch sich selbst.

Liegt in den moralischen Umkreisungen eine ungeheure Sogkraft, derer man sich als Zuschauer kaum entziehen kann, so hat der wild auswuchernde Film möglicherweise ein Problem: Der Regisseur verfängt sich im intellektuellen Spiel und gefällt sich im Aufwerfen von Fragen. Auch wenn diese Konzeption gerade dem schwierigen Verhältnis des Künstlers zu seiner Umgebung entspricht, das in seiner Hauptfigur seine Spiegelung findet, so hinterlässt der ungeheure Aufwand für diese Einsicht einen ermüdenden Beigeschmack.

Timbuktu

(F 2014, Regie: Abderrahmane Sissako)

Absurde Miniaturen
von Andreas Busche

Es ist wahrscheinlich reiner Zufall, und doch steckt eine zwingende Logik dahinter, dass Göran Hugo Olssons filmischer Essay „Concerning Violence. Nine Scenes from the Anti-Imperialistic Self-Defense“ und Abderrahmane Sissakos neuer …

Es ist wahrscheinlich reiner Zufall, und doch steckt eine zwingende Logik dahinter, dass Göran Hugo Olssons filmischer Essay „Concerning Violence. Nine Scenes from the Anti-Imperialistic Self-Defense“ und Abderrahmane Sissakos neuer Film „Timbuktu“ mit nahezu identischen Einstellungen beginnen. Aus erhöhter Sicht (in Olssons Archivmaterial aus einem Helikopter, bei Sissako von der Ladefläche eines Geländewagens) verfolgt die Kamera eine Antilope, bei voller Fahrt eröffnen die Männer das Feuer auf das panische Tier. „Töte es nicht, mach es müde“, feuern die Jihadisten in „Timbuktu“ den Schützen an, dann folgt ein Schnitt. Über 40 Jahre liegen zwischen den Bildern, aber sie zeigen eine Kontinuität auf, die in Sissakos Film stets als Subtext mitläuft.

Die koloniale Kontinuität weist weit über „Timbuktu“ hinaus, denn das französische Militär, das seit fast zwei Jahren in Mali für „Sicherheit“ sorgt, kommt als Akteur in Sissakos Film nicht einmal vor. Im Sommer startete Frankreich mit der „Operation Barkhane“ die zweite Phase seines Antiterror-Krieges gegen die ausländischen Jihadisten, ein Ende der Intervention ist vorerst nicht abzusehen. Von der Anfangseuphorie über die Befreiung von den religiösen Fundamentalisten um die Ansar-Dine-Gruppe und anderen salafistischen Splittergruppen ist in Mali wenig geblieben. Kritiker zeigen sich angesichts der neuen hegemonialen Bestrebungen der einstigen Kolonialmacht eher besorgt. Die Frage wird laut, ob Mali mit den Gotteskriegern nicht sogar besser bedient wäre als mit einer längerfristigen Präsenz des militärisch-humanitären Komplexes.

Die Besonderheit von Sissakos Film besteht darin, dass er alle diese Themen nur implizit verhandelt, der aktuelle politische Kontext aber unmöglich ignoriert werden kann. Politisches Kino im klassischen Sinn ist „Timbuktu“ also nicht, in diese Kategorie fällt am ehesten Sissakos letzter Film „Bamako“ von 2008. In „Bamako“ sitzen die westlichen Institutionen, die Weltbank und der Internationale Währungsfonds, als verlängerter Arm der alten Kolonialmächte auf der Anklagebank. Abgehalten wird der Prozess in einem staubigen Hinterhof in der malischen Hauptstadt, Kläger ist das afrikanische Volk. (So geht das Leben im Hof während der Verhandlung auch ungerührt weiter, die Männer und Frauen rauchen und hören den Aussagen mehr oder weniger interessiert zu.) Die Plädoyers der Afrikaner sind rechtschaffen wütend, argumentativ schlüssig und bewegend – einem Lehrer fehlen, als er endlich vor dem Richter steht, die Worte.

Auf solche grandiosen Verfremdungseffekte, um der „Sache des Volkes“ Gehör zu verschaffen, verzichtet Sissako in „Timbuktu“. Im gegenwärtigen Weltkino gilt Abderrahmane Sissako trotz gerade mal vier Regiearbeiten als einer der maßgeblichen Filmemacher, weil er die eigene diasporische Erfahrung (Sissako wurde in Mauretanien geboren, wuchs in Mali auf, studierte in der ehemaligen Sowjetunion und lebt seit den neunziger Jahren in Frankreich) und das Gefühl der Entfremdung mit einer unbestechlich klaren Analyse verbindet.

Vor allem aber kommt in seinen Filmen eine Sprecherposition zu ihrem Recht, die seit dem Tod Ousmane Sembènes aus dem postkolonialen Kino der Subsahara nahezu verschwunden ist: eine selbstbestimmte afrikanische Subjektivität als Gegengewicht zum dominanten Afrika-Narrativ in den westlichen Medien, zu dem eben auch die Deutungshoheit über die Ursachen und Folgen des Tuareg-Aufstands in Mali 2012 gehört. Sissako liefert mit „Timbuktu“ keine Gegenerzählung zur offiziellen (westlichen) Version ab, es geht ihm vielmehr um eine alternative Darstellung: in der die Malier nicht untätig auf die Unterstützung der früheren Kolonialherren warteten, sondern aus dem Alltag heraus eigene Formen des zivilen Widerstands entwickelten.

So muss Sissako auch nicht erst umständlich erklären, dass der Aufmarsch der Islamisten lediglich eine Fortsetzung der kolonialen Vergangenheit Malis bedeutete. Stattdessen beschreibt er in knappen, manchmal absurden Miniaturen, wie das Regime der religiösen Fanatiker langsam, aber bestimmt das soziale Gewebe und das öffentliche Leben durchdringt. Musik und Gesang werden verboten, Fußbälle auch (die Jungen spielen trotzdem weiter, ohne Ball, eine Reminiszenz an das pantomimische Tennismatch in Antonionis „Blow Up“), Frauen müssen ihre Körper verschleiern (was zur furiosen Moralpredigt einer aufgebrachten Fischerin gegenüber den bewaffneten Männern führt), und junge Frauen werden entgegen den Gesetzen des Korans mit stolzen Gotteskriegern zwangsverheiratet. Dazu erzeugen die permanenten Lautsprecherdurchsagen in den Straßen eine akustische Dissonanz, die den Alltag der Menschen durchzieht.

Einer von Sissakos Protagonisten ist der Nomade Kidane, der mit seiner Frau Satima und seiner Tochter Toya außerhalb von Timbuktu lebt. Durch einen tragischen Unfall, der den Gewaltverhältnissen im Land geschuldet ist, bekommt er die ganze Härte der neuen Gesetzgebung, die die Fundamentalisten installiert haben, zu spüren.

In Cannes, wo „Timbuktu“ dieses Jahr im Wettbewerb lief (und skandalöserweise leer ausging), erzählte Sissako, dass ihn eine Zeitungsmeldung zu seinem Film inspiriert habe: Zwei Jahre zuvor hatte eine Gruppe Gotteskrieger in Mali ein Paar gesteinigt. Für einen Film über ein religiöses Regime ist das ein starkes Motiv, das in jeder westlichen Produktion als dramatischer Höhepunkt fungieren würde. Bei Sissako stehen die Bilder der Steinigung gleichwertig neben der abstrakten Tanzeinlage eines Jihadisten, dem Plädoyer des lokalen Imam gegen die rücksichtslose Auslegung der Scharia und der verzweifelten Suche Satimas nach ihrem verhafteten Ehemann.

„Timbuktu“ entwirft das gesellschaftliche Mosaik eines Landes unter Besatzung, im ständigen Widerspruch zwischen politischer Fremdbestimmung und kultureller Identität. Hierfür findet Sissako eine filmische Form, die so klar und plausibel ist, dass er auf emotionale Überzeugungsarbeit verzichten kann. „Timbuktu“ liefert anhand religiöser Frontlinien eine realistische Bestandsaufnahme Malis am Übergang in eine neue koloniale Weltordnung. Außerdem ist es der überzeugendste antikoloniale Film des Subsahara-Kinos seit Sembènes „Ceddo“.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/14

2 Herbste 3 Winter

(F 2013, Regie: Sébastien Betbeder)

Ziemlich locker
von Wolfgang Nierlin

Zwei Teile und ein Epilog, jeweils in zahlreiche Kapitel gegliedert, bilden die Erzählstruktur von Sébastien Betbeders tragikomischem Film „2 automnes trois hivers“ („2 Herbste 3 Winter“). Die Nebenordnung und das …

Zwei Teile und ein Epilog, jeweils in zahlreiche Kapitel gegliedert, bilden die Erzählstruktur von Sébastien Betbeders tragikomischem Film „2 automnes trois hivers“ („2 Herbste 3 Winter“). Die Nebenordnung und das Episodische fungieren zugleich als Erzählprinzip der locker verknüpften Handlung, in deren Mittelpunkt hauptsächlich die Protagonisten Arman, Amélie und Benjamin stehen. Diese wiederum erzählen und reflektieren in Monologen, Anekdoten und Erinnerungen die Geschichten und dazugehörenden Hintergründe ihrer Begegnung. Manchmal richten sich die sympathischen Helden dabei direkt an den Zuschauer und durchbrechen so die Illusion. Verspielt und originell wechselt Betbeder dabei zwischen On und Off, Raum und Zeit und erzeugt dadurch über alle chronologischen Sprünge hinweg eine Dichte, die sich vor allem seinem starken Text verdankt. Dessen literarische Qualität basiert auf einem melancholischen, in lockerem Tonfall vorgetragenen Humor.

„Es muss etwas passieren“, lautet eine der ersten, manchmal prosaischen, manchmal poetischen Kapitelüberschriften. Und kurz darauf – es ist der Herbst des Jahres 2009 – stoßen der 33-jährige Arman (Vincent Macaigne) und die 27-jährige Amélie (Maud Wyler) beim Joggen im Park regelrecht zusammen. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch „2 Samstage, 2 Sonntage“ vergeblichen Wartens deuten an, dass sich die beiden vorerst nicht wiederbegegnen werden. Dafür kommt Benjamin (Bastien Boullion), Armans Freund von der Kunstakademie, ins Spiel. Und kurz darauf widerfährt den beiden, fast zeitgleich, ein großes Unglück, das sie jeweils mit der Grenze des Lebens („Weiß. Austritt aus dem Körper No. 1) in Berührung bringt, dann aber glücklicherweise für jeden von ihnen in einer Liebesbeziehung mündet. Arman und Amélie werden also doch noch ein Paar; und Benjamin verliebt sich in seine Logopädin Katja (Audrey Bastien). Später fahren die befreundeten Paare gemeinsam in die Schneeferien.

Bevor sich Amélie und Arman zum ersten Mal umarmen und küssen, sitzen die beiden wie einst Vincent Lindon und Sandrine Kiberlain in Stéphane Brizés Film „Mademoiselle Chambon“ auf einem Sofa und lauschen einer Musik, bis sie von der Spannung verlegener Blicke und körperlicher Zuneigung überwältigt werden. Immer wieder spielt Sébastien Betbeder ebenso lustvoll wie ironisch mit Zitaten und lässt seine Helden dabei über Eugène Green („Le monde vivant“) und Robert Bresson („Vier Nächte eines Träumers“), Judd Apatow („Wie das Leben so spielt“) und Alain Tanner („Der Salamander“) oder auch eine Edvard Munch-Ausstellung kommunizieren. Das verleiht seinem schönen Film über die unsicher vorantastende Suche nach Liebe und einen Platz im Leben eine ganz selbstverständliche Leichtigkeit. Zugleich vermittelt Betbeder mit seiner stilistischen Reminiszenz an die Nouvelle Vague sein filmästhetisches Selbstverständnis, das sich für seinen formalistischen Ansatz gleichermaßen auf Wes Anderson, Marguerite Duras und Alain Resnais beruft.