Blog Archives: 2017

A Ghost Story

(USA 2017, Regie: David Lowery)

Verloren im Strom der Zeit
von Wolfgang Nierlin

Zärtliche Intimität und ein großes Vertrauen verbinden den Komponisten C (Casey Affleck) und seine Frau M (Rooney Mara). Eine lange Einstellung, in der sich das junge Paar tröstend und beschützend …

Zärtliche Intimität und ein großes Vertrauen verbinden den Komponisten C (Casey Affleck) und seine Frau M (Rooney Mara). Eine lange Einstellung, in der sich das junge Paar tröstend und beschützend umschlungen hält, gibt darüber Auskunft. Was die beiden trennt, ist das Haus, in dem sie wohnen und dessen Vergangenheit sich nicht einfach durch das Entfernen von Möbeln entsorgen lässt. Nachts werden die beiden von unerklärlichen Geräuschen geweckt. Doch der unheimliche Schrecken vergeht. Es scheint, als unterhalte C eine schicksalhafte Beziehung zum dem Haus, von der M ausgeschlossen ist. Als er in einer kurz darauf folgenden Szene bei einem Autounfall tödlich verunglückt, bleibt M zunächst allein im Haus zurück. Doch tatsächlich ist C als unsichtbarer Geist, der vielleicht schon früher da war und sich immer neu „materialisiert“, weiterhin präsent.

In David Lowerys minimalistischem Low-Budget-Film „A Ghost Story“ ist der Geist allerdings nur für die handelnden Figuren unsichtbar. Der Zuschauer sieht ihn – und aus dieser Differenz bezieht der melancholische Film einen Teil seiner Spannung – als eine in ein weißes Leintuch gehüllte Gestalt, die den Betrachter durch zwei ausgesparte, dunkle Augenhöhlen anblickt. In ihrer geheimnisvollen, majestätisch unnahbaren Anmutung wirkt diese wie eine Skulptur. Fremd und entrückt dominiert sie den Raum und das fast quadratische Bild durch eine Anwesenheit, die sich hauptsächlich auf eine beobachtende Neugier und Teilnahme beschränkt. Verloren im unendlichen Strom der Zeit und einer kosmischen Langeweile, konzentriert sich der Geist auf einen Raum, der sich durch seine wechselnden Bewohner fortwährend verändert, aufgehoben und neu geschaffen wird.

Lange nach Ms Auszug hält einer von ihnen, gespielt von dem für seine düsteren Songs bekannten Musiker Will Oldham, bei einer Party eine nihilistische Rede. Darin spricht er über das Bedürfnis des Menschen, in seinen (künstlerischen) Schöpfungen etwas Bleibendes zu schaffen, mithin Spuren zu hinterlassen, beurteilt dieses Streben nach Unvergänglichkeit und Dauer allerdings zugleich als Illusion und letztlich als sinnlos. Denn die Zeit zerstöre alles, nichts bleibe, auch wenn der Mensch, um seine vergängliche Existenz zu nähren, einer Hoffnung bedürfe – gegen die Zeit notiert als eine Erinnerung auf einem Zettel, versteckt in einer Mauerritze. Und so zerfällt das Haus und weicht Fundamenten für einen Wolkenkratzer. Menschen kommen und gehen, bewegen sich in einer Zeitschleife, die Vergangenheit und Gegenwart verbindet. Alles befindet sich in einem fortwährenden Wandel. Nur der Geist bleibt, hütet den Ort vor dem Zugriff der Zeit, bis es auch für ihn nichts mehr gibt, was sein Ausharren rechtfertigen würde.

Life During Wartime

(USA 2009, Regie: Todd Solondz)

Teeparty mit Grandma Caligula
von Christian Keßler

Vor kurzem habe ich ja bereits den famosen „Willkommen im Tollhaus“ gekuckt. Nun kam in rascher Folge auch das überschaubare Restwerk von Todd Solondz zum Einsatz. Tatsächlich kannte ich nur …

Vor kurzem habe ich ja bereits den famosen „Willkommen im Tollhaus“ gekuckt. Nun kam in rascher Folge auch das überschaubare Restwerk von Todd Solondz zum Einsatz. Tatsächlich kannte ich nur den Debütfilm und Solondz‘ Zwoten, „Happiness“, der jedermanns Lieblingsfilm zu sein scheint. „Palindromes“ habe ich zudem während eines Umzuges auf einem Miniatur-Fernseher gesehen, aber allenfalls gesehen, nicht erlebt. Nun kamen erst einmal „Storytelling“ hinzu, besagter „Palindromes“ und schließlich „Life During Wartime“, der nicht den Weg nach Deutschland fand und den ich aufgrund seines Titels und seines britischen Covers für eine nostalgische Weltkriegs-Rückbesinnung à la Boormans „Hope & Glory“ hielt.

Das Tolle an Solondz ist, dass ich kaum einen amerikanischen Regisseur der Gegenwart kenne, der sich dermaßen treu bleibt in seinem Privatuniversum. Die Werke passen alle zueinander wie Arsch auf Eimer. Fast genauso toll – wenn auch nicht so schön für den Filmemacher, kommerziell gesehen – ist, dass sich die Meinungen der Zuschauer bei ihm ziemlich entzweien. „Wiener-Dog“ (den ich noch schauen muss) wird in der IMDb teilweise mit regelrechten Hasskaskaden versehen, u.a., weil da am Schluss ein Hund überfahren wird. (Das der Hund selbstredend computeranimiert, also nicht echt ist, scheint niemanden interessiert zu haben.) „Happiness“ war Sundance-kompatibel, weil er seine menschheitspessimistischen Ungeheuerlichkeiten in einem genüsslich süßlichen, geradezu seifigen Ton vortrug, der die herkömmlichen Darreichungsformen von Melodramatik verhohnepiepelte und mit ihnen spielte. Doch die ironische Herangehensweise scheint den Publikumsgeschmack mittlerweile dramatisch zu verfehlen, warum auch immer. Dem Filmemacher wird beispielsweise vorgeworfen, ein Misanthrop zu sein. Dralle Unwahrheit, der Mann ist Künstler, und er berichtet von Missständen, anstatt sich an ihnen zu verlustieren. Er tut dies auf eine unmittelbar wiedererkennbare Weise, man merkt sofort, dass ein Film von ihm ist. Seine Arbeiten sind liebenswürdig scheinende Charakterstudien, sie wirken wie Thornton Wilder für das Nachmittagsprogramm, doch dann entgleist der Zug, und er tut dies in Zeitlupe, so dass der Zuschauer jeden Pickel mitbekommt. Das ist ein wenig so, als würde einem eine nette, alte Dame etwas von einem Besuch auf dem Weihnachtsmarkt erzählen, und während ihres Vortrages verwandelt sie sich in ein fürchterliches Monster, Grandma Caligula.

Bezeichnend für die Filme von Solondz scheint mir zu sein, dass ich immer viel lachen muss, aber es tut mir im selben Moment leid, denn ich merke, worüber ich gerade lache, nämlich über ganz fürchterliche Dinge. „Life During Wartime“ etwa ist eine Art Fortsetzung von „Happiness“, nur dass sämtliche Figuren von anderen Schauspielern gespielt werden und sich häufig auch völlig anders verhalten, als man dies von den vorherigen Interpretationen erwarten würde. Sehr irritierend und sperrig, nobody’s darling. Erzählerisch ist Solondz ein fröhlicher Amokläufer. Er wird gelegentlich darauf reduziert, ein Provokateur zu sein, da er über Themen berichtet, die nicht teepartykompatibel sind, aber tatsächlich würde ich ihn als Entfremdungskünstler bezeichnen. Er zeigt, dass niemand ganz der ist, den man in ihm sieht. Er führt auch das postmoderne Herumhantieren mit dem Schockierenden ad absurdum, da es natürlich auch von sich selbst als alternativ empfindenden Geistern nur dann geschätzt wird, wenn es die eigene Sichtweise stützt und das Unsagbare letztlich erträglicher macht. Solondz handelt aber mit Zerrspiegeln, und da kommt niemand gut weg. Das kleidsam Kaputte, das in meiner Jugendzeit und später der „Generation X“ so geschätzt wurde, ist da ganz weit weg. Misanthropisch ist das aber gar nicht, es legt nur nahe, dass jeder nur mit Wasser kocht, man selber auch. Ich finde das vernünftig. Eines der Hauptthemen von „Life During Wartime“ ist Vergebung, ein ganz gefährliches Ding, da das für gewöhnlich in einem seifigen Erlösungsreigen resultiert, mit Hollywood-Geigen, und danach strömen alle weinend und irgendwie erleichtert aus dem Kino. Nicht so bei Solondz. Der hat eher eine pragmatische „Leb´ damit!“-Einstellung in seinen Filmen, der zwar nichts Tröstliches innewohnt, aber sie scheint mir dichter an der Realität angesiedelt. „Willkommen im Tollhaus“ und „Happiness“ scheinen mir die perfekten Einstiegsfilme zu sein. Aber ich bin mittlerweile ein richtiger Solondz-Fanboy und somit parteiisch.

Der Sommer ihres Lebens

( , Regie: )

Die Vergangenheit einer Altersheimbewohnerin
von Christoph Haas

Als Comic-Zeichner oder -Zeichnerin berühmt zu werden ist schwer genug. Wer Szenarios schreibt, hat es noch um einiges schwerer. Die Evidenz von Bildern ist so stark, dass man sich beim …

Als Comic-Zeichner oder -Zeichnerin berühmt zu werden ist schwer genug. Wer Szenarios schreibt, hat es noch um einiges schwerer. Die Evidenz von Bildern ist so stark, dass man sich beim Lesen eines Comics – ähnlich wie beim Anschauen eines Films – selten bewusst macht, wie wichtig die Person ist, die den Plot, der einen gerade fesselt, ersonnen hat. Kein Wunder also, dass es nur eine Handvoll Szenaristen schaffte, sich einem größeren Publikum einzuprägen; Alan Moore („Watchmen“) etwa oder René Goscinny („Asterix“).

Im deutschsprachigen Raum gibt es keine hauptberuflichen Comic-Szenaristen. Der Markt ist nicht groß genug; dazu kommt, dass im Graphic-Novel-Bereich viele der Künstlerinnen und Künstler gerne ihre eigenen Autoren sind. Umso bemerkenswerter ist es, dass mit dem 1977 geborenen Thomas von Steinaecker nun einer der wichtigsten jüngeren deutschen Schriftsteller ein Szenario für Barbara Yelin („Irmina“) verfasst hat. Ganz überraschend ist das nicht: Steinaecker ist seit Jahren als Comic-Kritiker tätig; außerdem hat er bereits in seinen 2008 erschienenen Roman „Geister“ Comic-Elemente integriert.

Die Hauptfigur in „Der Sommer ihres Lebens“ heißt Gerda Wendt. Sie ist Bewohnerin eines Altenheims. Früher hat sie nicht gerne auf das, was war, zurückgeblickt. Aber jetzt tut sie es. Sie spürt dann, dass sie noch nicht gestorben ist, obwohl ihr dies manchmal so vorkommt. Also erinnert Gerda sich: Wie sie in ihrer Kindheit und Jugend eine Außenseiterin war, weil sie sich stets nur für Zahlen und Sterne interessierte. Wie sie studierte und eine Universitätskarriere als Astrophysikerin abbrach, um dem etwas verbummelten Gitarristen und Musiklehrer Peter eine gute Ehefrau sein zu können. Wie Peter sie betrog und sie wieder allein auf sich gestellt war.

Das Leben Gerdas hat Momente, die für Biografien begabter Frauen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts – und auch heute noch – typisch sind. Ein außergewöhnliches Leben ist es nicht – und dennoch stellt dieser Comic die ebenso schlichte wie erschütternde Wahrheit, dass jeder Mensch eine Welt und jeder Tod ein Weltuntergang ist, in einer Weise vor Augen, wie es, in gleich welchem Medium, nur selten so klug, so eindringlich geschieht.

Das hat viel damit zu tun, wie Steinaecker zu erzählen versteht. So sind die fließenden Übergänge von der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück meisterhaft vermittelt. Wenn Gerda im ersten Stockwerk des Heims vergeblich ihr Zimmer sucht, löst dies die Erinnerung an ihre Schulzeit aus, wo sie in Mathematik stets die Note „Eins“ erhielt. Später verwandelt sich das Soundword „Tapp! Tapp! Tapp!“, das das schnelle Laufen der kleinen Gerda untermalt, in ein „Kwi! Kwi! Kwi“ – das Geräusch, das der Rollator hervorruft.

Darüber hinaus ist „Der Sommer ihres Lebens“ von einem fein gesponnenen Netz der Leitmotive durchzogen. Peter spielt Gerda den „Beatles“-Song „Blackbird“ vor; Amseln flattern durch den Comic und werden zu Seelenvögeln; ist vom Fliegen die Rede, schwingen untergründige Bedeutungen mit. Mehrfach blickt Gerda auch in den Sternenhimmel. Als Kind kann sie den Großen Bären nicht erkennen. „Aber du musst doch nur die Punkte verbinden“, sagt ihr Vater, „die einzelnen Punkte ergeben ein Bild.“ Genau das ist die Aufgabe, die Steinaecker hier dem Leser, der Leserin stellt: einzelne, exemplarische Szenen zum Ganzen eines Lebens zusammenzufügen.

Dass der Autor mit der gleichaltrigen Barbara Yelin eine Partnerin für dieses ambitionierte Projekt gefunden hat, ist ein großes Glück. Wenn Hergé, der Schöpfer von „Tim und Struppi“, der Meister der „Klaren Linie“, der sauber gezogenen Konturen war, dann ist Yelin eine Meisterin des kunstvoll ungenauen Strichs. Sie löscht die Spuren des Arbeitsprozesses nie völlig, sodass ihre Zeichnungen wie kolorierte Scribbles wirken, zugleich detailliert und skizzenhaft. In „Der Sommer ihres Lebens“ wagt sie sich zudem an komplexe, aber nie überspannt-selbstverliebte Panelarchitekturen, die zum Teil über zwei oder drei Seiten reichen.

Ursprünglich sollte „Der Sommer ihres Lebens“ in einer Tageszeitung erscheinen, bevor er zum Webcomic wurde, veröffentlicht auf hundertvierzehn.de, einer Site des Fischer Verlags, wo er nach wie vor einzusehen ist. Fünfzehn Kapitel entsprechen dort jeweils nur einer Seite, die sich durch Scrollen von oben nach unten erschließt. Im Buch besteht jedes Kapitel aus drei bis fünf Seiten. Durch dieses energische Ummontieren verlieren manche der Seitenkompositionen an Kühnheit, andere dagegen sind sogar noch schlüssiger. In welcher Version auch immer: „Der Sommer ihres Lebens“ ist nicht nur ein berührendes Werk, sondern führt auch prägnant vor, wie fruchtbar Teamarbeit im Comic sein kann.

Thomas von Steinaecker (Text), Barbara Yelin (Zeichnungen): „Der Sommer ihres Lebens“.
Reprodukt Verlag, Berlin 2017. 80 Seiten, 20 Euro.

Dieser Text erschien zuerst in der taz.

Der lange Sommer der Theorie

(D 2017, Regie: Irene von Alberti)

Fröhliche Differenz
von Wolfgang Nierlin

„Es darf nicht alles bleiben wie es ist“, lautet die Maxime der drei Protagonistinnen, die in Irene von Albertis dokufiktionalem Film „Der lange Sommer der Theorie“ in einer Berliner Frauen-WG …

„Es darf nicht alles bleiben wie es ist“, lautet die Maxime der drei Protagonistinnen, die in Irene von Albertis dokufiktionalem Film „Der lange Sommer der Theorie“ in einer Berliner Frauen-WG zusammenleben. Die Schauspielerin Katja (Katja Weilandt), die Noise-Punk-Musikerin Martina (Martina Schöne-Radunski) und die Filmemacherin Nola (Julia Zange), deren Rollen ihren Trägerinnen nachempfunden sind, führen prekäre Künstlerinnenexistenzen in einem Leben, das sie „provisorisch“ nennen. Sie sind frei und ungebunden, verfolgen nur „kurzfristige Ziele“ und sind deshalb „immer auf dem Sprung“. Das müssen sie auch sein, denn die Kündigung für ihre spartanisch eingerichtete Wohnung liegt schon auf dem Frühstückstisch, womit Irene von Alberti gleich ein zentrales Thema des Films anspricht: Wie ändert sich die Gesellschaft, wenn die Stadt an Investoren verkauft wird und die letzten Nischen und Freiräume der Gentrifizierung zum Opfer fallen? In ihrem früheren, zusammen mit Miriam Dehne und Esther Gronenborn realisierten Episodenfilm „Stadt als Beute“ (2005) hat sich die Filmemacherin schon einmal mit dem Thema beschäftigt.

Besonders eng verknüpft sind diese Fragen mit dem nicht messbaren Wert künstlerischer Arbeit und der „Willkürlichkeit unserer ökonomischen Grundlagen“. Die kreativen Heldinnen des Films empfinden es als Widerspruch, für ihre Unabhängigkeit zu schuften und fordern ein Recht auf Faulheit; was natürlich auch mit der nach wie vor prekären Rolle der Frau in der Arbeitswelt korreliert. Handelt es sich dabei um „Staatsfeminismus“, wie die Autorinnen Lilly Lent und Andrea Trumann meinen, die Nola für ihren Film im Film interviewt? Jedenfalls spielen Martina, Katja und Nola mit Stil, Witz und Phantasie immer wieder mit den Möglichkeiten anderer „Lebensformen“ – ein Begriff der im Film mit der Philosophin Rahel Jaeggi diskutiert wird – und imaginieren sich in andere Existenzen.

Wie kommt man aber von der Theorie zur Praxis? Ist es möglich, dafür einen gewissermaßen „neutralen“ Standort zu finden? Und wie entgeht man dabei dem zunehmenden Zwang zur Selbstoptimierung? Während in den mehr fiktionalen, bewusst theatralisch gehaltenen Spielszenen des Films diese Fragen mit anarchischem Humor und fröhlicher Differenz behandelt werden, dokumentieren die Interviews mit zeitgenössischen Wissenschaftlern und Philosophen, die Nola für ihren Film inszeniert, theoretische Standpunkte. So glaubt etwa der Historiker Philipp Felsch, dessen kulturgeschichtliches Buch über die geistige Revolte der 68-Generation Irene von Albertis Film inspirierte und ihm seinen Titel gab, dass sich nach dem Ende der Utopie-Gläubigkeit die Geschichte wieder zurückmeldet.

Ist also die Zeit reif für eine neue Revolution und muss man sich dafür, wie der Medientheoretiker Boris Groys meint, wie in einem Film fühlen? Irene von Albertis gewitzter Diskursfilm über den Status quo des Feminismus, Identitätsfallen, den „Stadtkörper“ und die Möglichkeitsbedingungen einer romantischen Revolte angesichts einer erstarkenden politischen Rechten ist weniger trocken, als das hier klingt, sondern vielmehr höchst vergnüglich und leicht, undogmatisch und offen.

Dieses Sommergefühl

(FR/DE 2016, Regie: Mikhael Hers)

Abschied
von Ricardo Brunn

Im Kino fallen Tod und Heilung in der Farbe Blau wie in keiner anderen Farbe in eins. 1993 hat deshalb Derek Jarman seinen letzten Film „Blue“ (GB 1993) programmatisch als …

Im Kino fallen Tod und Heilung in der Farbe Blau wie in keiner anderen Farbe in eins. 1993 hat deshalb Derek Jarman seinen letzten Film „Blue“ (GB 1993) programmatisch als eine einzige Einstellung in monochromem Blau angelegt. Dieser knalligen und schwindelerregenden Farbfläche stellte er eine Collage letzter Geräusche sowie einen persönlichen Bericht über das eigene Erblinden und den nahenden Tod an die Seite. Er wollte damit die Angst vor dem Unbekannten greifbar machen und zugleich Abschied nehmen. Was blieb, war ein unergründliches Blau, das in seiner leuchtenden Transparenz ein Dahinter und damit die Hoffnung auf Erkenntnis genauso in sich birgt wie die Angst vor dem bodenlosen Schwarz, in das es immer zu fallen droht. Blau besitzt eine Größendimension, die ein Erschrecken vor der Unendlichkeit geradezu herausfordert und einem darin die eigene Sterblichkeit vor Augen führt. Wenn Himmel und Meer ineinander verschwimmen, sich die Horizontlinien auflösen, dann erzeugt Blau unüberwindbare Distanzen und kreiert einen irrealen Ort der Leere, der einen erdrückt und zugleich beruhigt, weil in die angstvolle Unergründlichkeit immer auch ein tröstendes Anderswo hineingedacht werden kann.

Diese grundlegende Ambivalenz des Blaus verleiht auch Mikhael Hers Film „Dieses Sommergefühl“ eine ganz eigenwillige Stimmung. Während viele Filme Blau gern symbolisch für Kälte und Einsamkeit verwenden, gibt Mikhael Hers dieser fantastischen Farbe etwas von ihrer geheimnisvollen Tiefe zurück, dient sie doch hier als Auffangbecken für all die nicht in Worte zu fassenden Gefühle, die einen überwältigen, wenn man Abschied nehmen muss.

Gleich zu Beginn schlummert zwischen den Kissen des in voller Schönheit anbrechenden Tages ein Ende: Sahra (Stéphanie Daub-Laurent) lebt mit ihrem Freund Lawrence (Anders Danielsen Lie) in Berlin und ist in einem Künstlerhaus tätig. An diesem luftig-blauen Sommermorgen begleitet sie der Film wie ein unsichtbarer, liebender Verfolger an ihren Arbeitsplatz. Dort angekommen, bereitet sie Farben und Töpfe vor, rakelt eine leuchtend blaue Farbmasse über ein Sieb, spricht kurz mit befreundeten Künstlerkollegen im Haus. All das wird begleitet von einer Collage aus Umgebungsgeräuschen, ganz so, als wären wir wieder bei Jarman oder als entspränge das Gesehene der Vorstellung von Lawrence, der daheim noch in den kühlen, blauen Laken träumt.

Auf dem Heimweg kippt Sarah um. Wenige Tage später ist sie tot. Mit der Erinnerung an das strahlende Blau ihres Shirts werden wir allein gelassen und begeben uns auf die Reise in die brüchige Gefühlswelt der (neuen) Protagonisten. Plötzlich ist Lawrence allein in Berlin, muss sich um die Beerdigung kümmern. Sarahs Familie reist aus Paris an und unterstützt Lawrence so gut sie kann. Doch dem abrupten Ende steht die Frage gegenüber, wie der Abschied von einem geliebten Menschen aussehen soll, der gerade noch neben einem gelegen hat.

Über einen Zeitraum von drei Jahren hinweg, in denen Lawrence losen Kontakt zu Sahras Familie hält und sich nach und nach eine innige Freundschaft zwischen ihm und Sahras Schwester Zoé (Judith Chemla) entwickelt, finden die Beteiligten – im Versuch mit der Trauer über den Verlust Sarahs zurechtzukommen – langsam ins Leben zurück. Lawrence besucht Zoé in Paris, geht später zurück in seine Heimatstadt New York. Zoé gründet eine Familie. Und dann wird es wieder Sommer. Das Wasser glitzert wie verliebt und der Himmel strahlt im allerschönsten Blau, während die Beziehung zwischen Zoé und Lawrence unaufhörlich zwischen großer Nähe und unlösbarer Distanz changiert, bis man sich fragt, warum die beiden sich nicht einfach verlieben und damit auch uns von der Trauer und vom schmerzvollen Abschiednehmen erlösen können. Doch es scheint, als würde Sarah zwischen ihnen stehen, und der Film hält die Erinnerung an sie mit vielen Details in blauer Farbe (Tischdecken, Vorhänge, Hemden), die ein Voranschreiten der Figuren erschweren, ganz bewusst aufrecht. Wie ein Geist ist Sarah in jedem Bild als Farbe anwesend.

Blau als Grundierung der erzählten Geschichte koloriert in „Dieses Sommergefühl“ aber nicht nur die Trauer und die Schwierigkeit des Abschiednehmens, für die es keine adäquaten Bilder und Worte geben kann. In seiner Vieldeutigkeit lässt sich in ihr auch eine romantische Sehnsucht erkennen, sich der Welt in ihrer zielführenden Verwertbarkeit zu entziehen. Sarah war Künstlerin, Lawrence ist Romanautor. Seine Schwester wiederum führt einen Antiquitätenladen und Lawrences Freund will sich der Stupidität der Arbeitswelt am liebsten ganz entziehen. Natürlich kann man hier die so oft gescholtene Generation Y in all ihrer sentimentalen Weltferne erkennen und von oben herab begaffen. Berlin, Paris, New York sind dann auch die Koordinaten dieses Filmes, die eine gewisse Leichtigkeit des Jetsets versprechen. Doch damit gibt sich „Dieses Sommergefühl“ an keiner Stelle zufrieden. In einer viel subtileren und sensibleren Herangehensweise lässt der Film die Hilflosigkeit der Protagonisten auch über die Trauer des Verlustes hinaus erfahrbar werden. Denn auch der Zuschauer kommt an keinem Ort richtig an, muss sich ständig neu orientieren. Nix mit schönem Hipsterselbstdarstellungsbohei, eher noch Nachtschicht an der Hotelrezeption und Burgerwenden mit 35. Hers blickt verständnisvoll auf dieses Lebensgefühl, das im Blau die Suche nach Harmonie und Halt, die unerhörte Weite und damit Möglichkeiten in eins fallen lässt und zugleich eben Ausdruck eines Abschieds ist, vielleicht nicht nur von Sarah, vielleicht von einem Lebensgefühl, einem Moment, der nicht mehr fortführbar oder wiederholbar ist und langsam von neu zu machenden Erinnerungen liebevoll zugedeckt werden wird.

Während die Figuren durch diesen scheinbar nicht enden wollenden transitorischen Zustand in ihrem Leben wandern, sorgt die musikalische Untermalung (Fantastic Something, Ben Watt, Mac Demarco) dafür, dass sich der Kinosessel alsbald wie ein Liegestuhl anfühlt, in den man voll melancholischer Entspannung tief hineinsinkt. So werden die wunderbaren Darsteller und Darstellerinnen zu tatsächlichen Freunden, von denen Abschied zu nehmen am Ende unglaublich schwerfällt.

Die Kamera begleitet die zarthäutigen Figuren auf Zehenspitzen durch die sonnigen Tage und lauen Nächte, lauscht ihren zaghaften Äußerungen, mischt sich nicht ein, hört einfach zu wie ein Freund zuhören sollte. Und die Entscheidung des Regisseurs „Dieses Sommergefühl“ auf 16mm zu drehen, ist in diesen Momenten ein kleiner Segen für diesen schönen Film. Denn in seiner Beschaffenheit kommt das körnige, farbintensive Material den geschilderten Lebensmomenten und Gefühlen viel näher, als es das digitale Bild in seiner Glätte und Eindeutigkeit jemals könnte. Unruhig und vibrierend vor Leben und zugleich voller lebensbejahendem Licht erblüht in den Bildern die Erinnerung an einen Sommer und an eine Liebe, die vergangen ist und doch immer anwesend sein wird. Und so nehmen wir mit Lawrence Abschied in all seinen Nuancen, bis irgendwann genug Zeit vergangen ist für etwas Neues.

Hier und hier finden sich weitere Kritiken zu „Dieses Sommergefühl“.

Wer war Hitler

(D 2017, Regie: Hermann Pölking)

Der Film zur rechten Zeit
von Dietrich Kuhlbrodt

Die dreistündige Kinofassung vergeht wie im Fluge. Die lange Version dauert mehr als das Doppelte. „Wer war Hitler“ anzugucken ist eine Befreiung. Unsere sattsam bekannten Volksbelehrer und -innen hatten keinen …

Die dreistündige Kinofassung vergeht wie im Fluge. Die lange Version dauert mehr als das Doppelte. „Wer war Hitler“ anzugucken ist eine Befreiung. Unsere sattsam bekannten Volksbelehrer und -innen hatten keinen Zutritt. Auch weil sie das und jenes nicht unkommentiert hätten stehenlassen. Im Vordergrund stehen Originalbilder und -filme aus den Jahren bis 1945, darunter erstaunlich viel Material aus weit mehr als hundert Archiven aus aller Welt von Russland bis USA, vor allem aber aus privater Hand. So etwas wie Interviews und Statements sind nicht dabei. Was zu den Bildern gesagt wird, ist eine Quellenangabe, zum Beispiel ein Tagebucheintrag. Die Bildsprache, immerhin ureigenste Sache des Mediums Film, führt zu einem ungleich stärkeren Erlebnis als Schriftzeichen oder pädagogischen Zwecken dienende Wortbeiträge – die bisher bei der sogenannten Aufarbeitung der Nazi-Zeit unerlässlich schienen.

Hitler tritt in diesem Film ständig in Erscheinung: vom Kleinkind um 1890 bis zum zitternden Selbstmörder 1945. Der Effekt ist, dass wir seine Veränderung vom verunsicherten Außenseiter bis zum größenwahnsinnigen Massenmörder selbst wahrnehmen können, ohne dass sie uns eingeredet wird. „Wer war Hitler“ ist auf diese Weise medial modern. Wenn das Beispiel erlaubt ist: Das Magazin „Geo Epoche“ stellt in seinen Themenheften mit verdientem Erfolg die Fotostrecken in den Vordergrund.

Sieht man den Film, stellt sich irgendwann, behaupte ich mal, ein Aha-Erlebnis ein, das uns nicht eingebleut worden ist. Wie war das noch? Der Populist ergreift die Macht, nachdem er Anfang der dreißiger Jahre in der bürgerlichen Mitte angekommen ist? Militär und Industrie standen bereit? Für ein junges Gesicht (Hitler war 37)? Für einen, der volksnah zu reden wusste, der durch seine Person eine Alternative zur Parteimüdigkeit und zur „Schwatzbude“ Reichstag bot, wie es damals allgemeiner Sprachgebrauch war?

Wohlgemerkt: „Wer war Hitler“ schlägt solche Themen mitnichten an, aber es macht meine Wahrnehmung dafür frei. Deshalb: ein Film, der zur rechten Zeit kommt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

Queercore – Liberation is my Lover

(USA/D 2017, Regie: Yony Leyser)

How to punk punk
von Jürgen Kiontke

Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten. Genauer: quer durch den Körper. So jedenfalls empfindet es der junge Aktivist und Filmemacher Bruce LaBruce im heimeligen …

Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten. Genauer: quer durch den Körper. So jedenfalls empfindet es der junge Aktivist und Filmemacher Bruce LaBruce im heimeligen Toronto. Der Künstler träumt von seinem Publikum – das es aber noch nicht gibt: schwul, lesbisch, transgender. Es ist 1980, und er liebt den Punk. Doch Punk ist auch nur Rockmusik; allzu schnell ist aus dem lauten Ausbruch eine reine Macho-Geschichte geworden. Obwohl es schwule Punksänger gibt, mag der Punk die Homosexuellen nicht immer. Gemeinsam mit der Musikerin G.B. Jones gründet LaBruce ein Fanzine und stellt queere Themen ins Zentrum seiner künstlerischen Arbeiten. Daraus entsteht eine Szene, die die aggressive Energie des Punk mit dem schwulen Aktivismus verbindet. Queercore wird erfunden.

„Queer“, weil „Homo“ mittlerweile schon negativ konnotiert ist – zu reich, zu teuer, zu etabliert. Regisseur John Waters, schlechthin der Pate des Queerpunk, sagt in der Doku: „›Schwul‹ war eben nicht genug.“ Man wollte eine andere Bezeichnung und den Punk neu erfinden. Alsbal entstanden in vielen Städten Magazine, Clubs, Bands. Anstatt ausgegrenzt zu werden, grenzte man sich ab. Man wollte sich unterscheiden, keinem Wertekanon folgen und sich auch nicht der Szene fügen. Die Idee des Punk, sei wie du bist, wurde konsequent auf sich selbst angewandt. LaBruce sieht in den queeren Punks „the faggott in the family“. Sie brauchen eine eigene Welt; auf der Welt, die es gibt, ist kein Platz für sie.

Queercore hat natürlich auch einen Sound, er besteht aus Gitarre, Bass, Schlagzeug und Gebrüll. Dazu Sex und Crossdressing. Erste Fingerübungen finden in einem Treff für Taubstumme statt. Im „Deaf Club“ kann man Radau machen. Im Übrigen geht der Bass durch den Körper. Die ersten Bands heißen Anti-Scrunti Faction, Bomb und Fifth Column. Der Film schaut der neuen Szene bei ihrer Entstehung zu: durch Filmclips, Konzertausschnitte, Aktionen. Eine Fusion aus Punk und offensiv selbstbewusster Homo- Bi- und übriger Sexualität, kurz: die ganze Palette an Quergelegtem. Man versteht sich explizit politisch, eine Politik, die das Private umfasst, will umschmeißen, was schon gekippt ist: how to punk punk.

„Du musstest eine neue Familie finden, weil deine eigene dich schlecht behandelt hat“, sagt Musikerin Phranc von Team Dresch. Es sei eine Frage von Leben und Tod gewesen, allein als lesbische Musikerin irgendwo in der Provinz. In ihren Stücken geht es um Diskriminierung und Aufbruch. Ihr gelingt, was innovative Musik ausmacht: laute Ich-Werdung. Das Andere plus Lautstärke – so könnte das Motto des hochemotionalen und energetischen Dokumentarfilms des jungen Regisseurs Yony Leyser lauten. Der Untertitel „How to Punk a Revolution“ trifft es genauso gut. Ausgrenzung führt auch dazu, eine neue Definition von sich selbst zu schaffen. „Alles ist verwertbar, nur der Körper einer Butch-Lesbe nicht“, heißt es im Film. Das soll einen Endpunkt des Kapitalismus beschreiben, eine aus der Not geborene hoffnungsfrohe Botschaft, die heute wohl nicht mehr vermittelbar ist.

Leyser, der in Chicago aufgewachsene, in Berlin lebende Underground-Chronist, erweist sich mit seinem dritten Film als akribischer Dokumentarist, der noch in den entlegensten Archiven Filmschnipsel findet. Er präsentiert seltene Konzertmitschnitte, hat Stars wie Beth Ditto und die Mitglieder der Bands Team Dresch, Bikini Kill (Sängerin Kathleen Hanna: „Ich liebe Bands, die singen, ich solle mich töten.“) und Pansy Division interviewt. Sie alle eint das kreative Außenseitertum, das sie angenommen haben, nachdem sie hineingedrängt wurden. Es ist ein Plädoyer für einen kreativen Umgang mit Widerständen: Wir erschaffen die Welt, in der wir leben wollen. Dieser Ansatz findet sich auch in der Riol-Grrrl-Bewegung und im Grunge, wie ihn etwa Nirwana in Szene setzten. Kurt Cobain: „Ich bin stolz, schwul zu sein, ohne es zu sein.“

Immer noch wirken diese Ideen aus den früheren neunziger Jahren radikal, vor allem, wenn man die Dominanz glattgebügelter Balladen in der Popmusik bedenkt. Bis heute ist eigentlich niemandem dermaßen Revolutionäres eingefallen, was man mit E-Gitarren hervorbringen könnte. Regisseur Leyser sagt, Queercore besitze nicht trotz, sondern wegen seiner Abseitigkeit noch heute Kraft und Relevanz. Er gehörte damals selbst zu der kleinen Szene queerer Punks. Sein erstes queeres Lieblings-Zine war Bimbox – es war „phantastisch, radikal und überaus schwer zu bekommen“.

Sein eigenes hieß The Yonilizer: eine Ansammlung von politischen Kommentaren, Comics, Geschichten und Besprechungen von Shows und Filmen. Es sei um die Jahrtausendwende als Hommage an die damaligen Pioniere und Pionierinnen gedacht gewesen. „Ich habe schon immer mit großer Neugier und Leidenschaft abseitige Sozial- und Kulturgeschichte für mich entdeckt – und gleichzeitig versucht, einen eigenen Beitrag dazu zu leisten.“ Da war Queercore schon in den Kulturbetrieb gesickert: Musikgenres wie Electroclash und queerer HipHop waren entstanden. Sogar der Ausverkauf ließ nicht lange auf sich warten: Gucci benannte eine Schuhkollektion nach Queercore und erntete von den Ureltern LaBruce und Jones harsche Kritik.

Wie immer ging also alles den Bach hinunter: Der eine Flügel kommerzialisierte sich in Werbekampagnen, der andere grenzte sich hermetisch ab. Auch im Politischen sollte jene Ausschließeritis bis in die Jetztzeit überdauern. Es seien Regeln aufgestellt worden, sagt LaBruce, die rigider gewesen seien als in kleinbürgerlichen Vororten. Aber nichts ist endgültig: Abgrenzung ist dem Queercore quasi in die DNA eingeschrieben. Disco war das allerletzte. Madonna? Würg! Doch Beth Ditto überspielte mit ihrer Band Gossip solch popkulturelle Gräben. LaBruce profitierte letztlich auch von der von ihm kritisierten Mainstreamisierung. Er dreht heute Filme, die meist Festivalrenner sind. Gern spielt er mit aus der Rolle gefallenen Geschlechtern. Gerade lief sein Film »Misandrists« erfolgreich in deutschen Kinos: Eine lesbische Frauenarmee braucht Geld für die Revolution und dreht daher queerfeministische Pornos – gutes Gelingen, möchte man da sagen. Das Museum of Modern Art in New York widmete dem Ausnahmekünstler 2014 sogar eine Retrospektive.

Über die Ursprünge all dieser Dinge will Leyser mit seinem Film berichten. „Nur wenige wissen von der phantastischen postmodernen und revolutionären Bewegung, die vor 25 Jahre ihren Anfang nahm“, sagt er und will diese Bildungslücke schließen. Es ist ihm gelungen; der Meilenstein eines Musikfilms.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Jungle World

Ulli Lommel (1944-2017)

( , Regie: )

Die mehreren Leben des Ulli L.
von Christian Keßler

Zuerst bin ich etwas vorsichtig gewesen, als es die Runde machte, aber mittlerweile ist es traurige Gewissheit: Ulli Lommel ist nicht mehr. Wie sehr viele andere Filmfreunde meiner Generation lernte …

Zuerst bin ich etwas vorsichtig gewesen, als es die Runde machte, aber mittlerweile ist es traurige Gewissheit: Ulli Lommel ist nicht mehr. Wie sehr viele andere Filmfreunde meiner Generation lernte ich ihn am Beginn eines seiner neuen Leben kennen, mit dem Horrorfilm „The Boogey Man“, der Anfang der 80er abräumte. Da ich damals noch ein Guppy war, konnte ich ihn nur auf Video schauen und war natürlich viel zu jung dafür. Die Jugendschützer wären entsetzt gewesen. An der Verkommenheit meines späteren Werdegangs trifft den Film aber keine Schuld. Weder wurde ich ein fieser Serienmörder noch peitschte mich eine Neigung zu schlimmen Fesselspielen. Lediglich eine Fixierung auf Spiegel ließ sich zeitweise feststellen, aber das liegt nun auch schon lange zurück, zum Glück. Später dann lernte ich auch Ullis erstes Leben kennen, oder eines seiner ersten Leben, man muss da sehr vorsichtig sein.

Tatsächlich war er schon im Rennen, bevor er in den Fassbinder-Sachen auftauchte, etwa als deutsche Stimme von Robin, dem jungen Kollegen von Batman. Die Stimme bekam aber einen Körper, als er fester Bestandteil des Fassbinder-Ensembles wurde, gleich in dessen erstem Langfilm, „Liebe ist kälter als der Tod“, der immer noch einer meiner Lieblinge des vielbesungenen Regisseurs ist. Schlaksig, gutaussehend und auf sympathische Weise verpeilt wirkend spazierte er durch die sehr spezielle Fassbinder-Welt, an der Seite von Kurt Raab, Margit Carstensen, Hanna Schygulla und den anderen, die diese Welt teilten. Er blieb ihr lange Jahre treu, von einigen Seitensprüngen abgesehen, etwa Robert van Ackerens „Harlis“ oder Daniel Schmids „Schatten der Engel“. Dann endete dieses Leben, und es begann ein neues.

Den Trailer zu „The Blank Generation“ habe ich verlinkt, weil er mir sehr passend scheint. Man sieht einen immer noch jungen Mann, der Ende der 70er Jahre in den USA eintrudelt, um dort mal zu sehen. Warhol winkt, die ganzen Popgrößen jener Tage sind nicht weit weg. Man sieht Ulli, wie er am CBGBs steht. Das kann ich mir sehr gut vorstellen, da ich selber mal die Ehre hatte, im Berliner S.O.36 aufzutreten, für mich vormals ein mythischer Ort, wo einige meiner Helden wohnten, verewigt durch Auftritte aus einer anderen Zeit. Ulli war jetzt ganz nah an Hollywood dran. Als erstes machte er einige Exploitation-Filme, etwa den bereits erwähnten „The Boogey Man“, der meinen Jugendhimmel besternte. Aber auch andere Sachen, wie den morbiden Psychothriller „Olivia – Im Blutrausch des Wahnsinns“, den Hexenfilm „The Devonsville Terror“ oder den durchgeknallten „Cocaine Cowboys“. Erfahrung als Regisseur hatte er bereits während seiner Fassbinder-Zeit gesammelt. Zusammen mit anderen Bestandteilen dieser Familie machte er etwa den exzellenten „Die Zärtlichkeit der Wölfe“, der die nächtliche Betätigung des Hannoveraner Serienmörders Fritz Haarmann zum Thema hatte. Als ziemlich gut habe ich auch das selten gesehene Polizistendrama „Wachtmeister Rahn“ in Erinnerung, das auf Video unter dem Schnullibulli-Titel „Ein Mann dreht durch“ herauskam. Ansonsten waren seine Frühwerke schwer aufzutreiben. Ich biss mir da die Zähne aus.

Ulli stand also am Flughafen, in Deutschland bekannt durch die Fassbinder-Sachen, in Hollywood völlig unbekannt. Er bastelte und bastelte, blieb aber immer am Ball. Die Filme, die er drehte, blieben immer Low-Budget, flogen unter dem Radar meistens durch. Als die Zeit anbrach, in der Video als preisgünstiges Produktionsmittel in Mode kam, ratterte seine Fabrik weiter. Unzählige No-Budget-Filme waren das Ergebnis, vergleichbar etwa mit Jess Franco, der bekanntlich auch nicht stillhalten konnte. Wenn man einmal angefangen hat, Filme zu drehen, dann muss man das auch weiterhin tun, vergleichbar mit dem berühmten Körschgen-Diktum: „Solange man lebt, soll man rauchen!“ Eine gewisse Popularität erlangte der unglaublich bizarre „Daniel der Zauberer“, was am hohen Bekanntheitsgrad des Dschungelbewohners Daniel Küblböck lag. Der Film bekam ziemlich viel Presse, und manch einer erwartete wohl einen der typischen deutschen Promi-Filme, eine weitere halbseidene Reise in den Glamour. Tja, nicht so. Ich weiß nicht, inwieweit das so gewollt gewesen ist, aber sehr viel subversiver geht es nicht. Ich wäre beim ersten Betrachten des Filmes fast geplatzt vor Freude. So oute ich mich an dieser Stelle mal als „Daniel der Zauberer“-Fan!

Vor ein paar Tagen endete also das vorerst letzte Leben des Ulli Lommel. Am Künstlerleben angenehm ist ja wohl, dass man niemals ganz verschwindet. Auch ferne Generationen werden von den garstigen Einflüssen des Boogey Man wohlig verwirrt werden und sich dann durch das Gesamtwerk dieses seltsamen, aber mir sehr ans Herz gewachsenen Zeitgenossen hindurchwühlen. Die Fahrt ist manchmal ruckelig, manchmal aber auch erfreulich, den Blick freigebend auf manch schönen Streckenabschnitt, wie das Leben eben so ist. Es wird niemanden überraschen, aber solche wilden Einzelkämpfer wie Ulli Lommel liegen mir irgendwie mehr am Herzen als jene, die mitten in der prallen Frucht Hollywood sitzen, Fruchtfleisch schlemmen und die Kerne nach außen spucken. Wenn die sterben, finde ich das auch nicht schön, aber ich fühle mich ihnen nicht so nahe, wie das bei diesem merkwürdigen Mann aus Zielenzig der Fall war.

AYA

( , Regie: )

Im Hotel der tausend Sterne
von Christoph Haas

Über den nächtlichen Marktplatz spannt sich ein Van-Gogh-Himmel. Grünblau ist er, überzogen mit weißen Schraffuren und unruhigen schwarzen Schlieren. Ein Sichelmond überstrahlt mit seinem hellen Leuchten die Milchstraße. Tagsüber drängen …

Über den nächtlichen Marktplatz spannt sich ein Van-Gogh-Himmel. Grünblau ist er, überzogen mit weißen Schraffuren und unruhigen schwarzen Schlieren. Ein Sichelmond überstrahlt mit seinem hellen Leuchten die Milchstraße. Tagsüber drängen sich hier im Zentrum von Yopougon, einem quartier populaire der riesigen ivorischen Metropole Abidjan, die Menschen. Jetzt erfüllen die verlassenen Tische und Stände einen anderen Zweck: Von missgünstigen Erwachsenen ungestört, ist es den jugendlichen Anwohnern an diesem Ort möglich, miteinander zu reden, zu flirten und auch Zärtlichkeiten auszutauschen.

Zu den Stammkunden des „Tausend-Sterne-Hotels“, wie es allgemein ironisch genannt wird, zählen die Mädchen Bintou und Adjoua. Sie bandeln beide mit Moussa an, dem eher nichtsnutzigen Sohn des neureichen Bonaventure Sissoko, der die örtliche Bierbrauerei besitzt. In dieser arbeitet wiederum Ignace, der Vater von Aya. Sie ist zwar die beste Freundin von Bintou und Adjoua, kann über deren Affären aber nur den Kopf schütteln. Aya ist nicht primär darauf aus, sich einen Mann zu angeln; ihr großer Traum besteht darin, Ärztin zu werden.

Aya“ ist bereits vor ein paar Jahren vom Carlsen Verlag auf Deutsch veröffentlicht worden. Die Neuauflage von Reprodukt vereint erstmals alle Einzelalben in zwei voluminösen Bänden. Schon anlässlich des ersten Erscheinens wurde darauf hingewiesen, dass dieser Comic sich in erfrischender Weise von dem sonst üblichen, durch Katastrophen geprägten Afrikabild abhebt.

In „Aya“ gibt es also weder Kindersoldaten noch ethnische Konflikte, weder Hungersnöte noch Korruption. Das Abidjan der späten Siebziger, das die dort gebürtige Marguerite Abouet schildert, ist vielmehr Schauplatz alltäglicher, familiärer Konflikte, die überwiegend universalen Charakter besitzen. Das liegt auch daran, dass Abouet sich stark am Vorbild der Soap-Opera orientiert. Zwar kehren bestimmte Motive wieder, dennoch wird in „Aya“ keine zusammenhängende Geschichte erzählt. Stattdessen verknüpft Abouet lose Ereignisse und Konflikte, die teils aufeinander folgen, teils parallel laufen.

So leichthändig Abouet erzählt, so ist doch bedauerlich, dass ausgerechnet die Hauptfigur etwas blass bleibt. Abgesehen davon, dass sie sich hartnäckig dem erwarteten weiblichen Rollenverhalten verweigert, würde man doch gern etwas mehr über Aya erfahren. Sehr geschickt ist die Autorin allerdings darin, das Ernste mit dem Komischen zu verbinden. Wenn junge Männer auf der Straße Aya dreist anquatschen, wird die Grenze zur sexuellen Belästigung schnell überschritten.

Die Eltern von Moussa, die in einem Art-déco-Traumhaus wohnen und arme Mitbürger gern verächtlich als „Bauern“ bezeichnen, verdeutlichen die Kluft zwischen Reich und Arm, zwischen Stadt und Land. Und Albert, der Bruder von Adjoua, leidet unter seinem Schwulsein, das er höchstens sich, nicht aber seiner strikt homophoben Umwelt eingestehen mag.

In den Bildern von Clément Oubrerie dominieren Gelb-, Ocker- und Brauntöne, savannenhafte Farben, von denen sich die bunte Kleidung vor allem der weiblichen Figuren abhebt. Trotz der lockeren Strichführung ist unterschwellig ein Einfluss der Ligne claire zu verspüren. Moussa mit seinem etwas leeren Gesicht und seiner Haartolle wirkt wie ein flegelhafter Halbbruder von Hergés Tim. Sowohl in erzählerischer wie in zeichnerischer Hinsicht verbinden sich in „Aya“ Elemente unterschiedlicher Provenienz zu einem unterhaltsamen Ganzen.

Dieser Text erschien zuerst in der taz.

Marguerite Abouet (Text) und Clément Oubrerie (Zeichnungen): „Aya“
Aus dem Französischen von Kai Wilksen. Reprodukt Verlag, Berlin 2014. 360 Seiten, 39 Euro

Marguerite Abouet (Text) und Clément Oubrerie (Zeichnungen): „Aya: Leben in der City“
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Reprodukt Verlag, Berlin 2014. 376 Seiten, 39 Euro

120 BPM

(F 2017, Regie: Robin Campillo)

Die Krankheit sichtbar machen
von Wolfgang Nierlin

Zunächst ist da nur ein schmaler Türspalt, der die vereinzelten Schatten im undeutlichen Halbdunkel vom Licht der Öffentlichkeit trennt. Kurz darauf stürmt eine kleine Gruppe von Anti-Aids-Aktivisten die Bühne, bewirft …

Zunächst ist da nur ein schmaler Türspalt, der die vereinzelten Schatten im undeutlichen Halbdunkel vom Licht der Öffentlichkeit trennt. Kurz darauf stürmt eine kleine Gruppe von Anti-Aids-Aktivisten die Bühne, bewirft den Redner der staatlichen Präventionsbehörde mit Kunstblut und legt ihm Handschellen an. Die spektakuläre Störaktion schafft Sichtbarkeit und rückt die gravierenden Anliegen einer marginalisierten Minderheit ins öffentliche Bewusstsein. Im wöchentlichen Plenum von Act Up Paris, wo die Regeln der demokratischen Mitbestimmung klar definiert sind, löst das rabiate Vorgehen aber auch kontroverse Reaktionen aus: Wie weit darf eine derart hergestellte Publizität gehen? Ab wann schadet man der eigenen Sache? Durch eine kunstvolle Montage parallelisiert Robin Campillo in seinem Film „120 BPM“ (120 battements par minute) Aktionen und Diskussionen und erzeugt damit zugleich eine Form filmischer Überhöhung.

Nur allmählich lösen sich einzelne Stimmen aus dem vielstimmigen Chor der radikalen Aktivisten, von denen viele HIV-positiv sind und unter ihrer Krankheit sowie der damit verbundenen gesellschaftlichen Stigmatisierung leiden. Campillo inszeniert die langen, intensiven Diskussionen, in denen sich Privates und Politisches durchdringen, in einem dynamischen, immer auch intimen dokumentarischen Stil. Ganz selbstverständlich ist dabei auch die Verwendung einer medizinisch-pharmazeutischen Terminologie, mit der die Aktivisten nicht zuletzt ihre Diskursfähigkeit in der Auseinandersetzung mit Pharmakonzernen, Medizinern und Politikern dokumentieren. Geschickt verzahnt der Film die ebenso dringliche wie polemische Aufklärungsarbeit dieser eingeschworenen Gemeinschaft zu Beginn der 1990er Jahre, ihre Forderungen nach Anerkennung und wirksamer Hilfe, mit berührenden Einzelschicksalen. Dabei werden auch die Konfliktlinien und Verdrängungsmechanismen innerhalb der Community thematisiert.

Act Up will die Krankheit sichtbar machen, denn die von ihr Betroffenen haben nur wenig Zeit, sind meistens jung und gehören überwiegend zu gesellschaftlichen Randgruppen: „120 BPM“ berührt gleich in mehrerer Hinsicht Vorurteile und Tabus und ist deshalb in manchen Passagen nur schwer auszuhalten. An der markanten Schnittstelle von Begehren und Lust, Liebe und Tod begegnen sich schließlich der aidskranke Sean (Nahuel Pérez-Biscayart) und das neue Gruppenmitglied Nathan (Arnaud Valois). Zwischen Gefühl und Verstand ist die unteilbare Verantwortung nicht immer vernünftig. In großartigen Szenen reiner Empfindung und übermächtiger Körperlichkeit vermittelt der Film immer wieder atmosphärisch dichte Momente schwebender Entgrenzung.

Im schmerzlichen Ungleichgewicht zwischen dem noch gesunden Nathan und dem todkranken Sean, die sich nicht zuletzt in den Erzählungen ihrer traurigen Geschichten einander annähern, findet der Film aber auch zu einer intensiven, bewegenden Darstellung des in Angst, Einsamkeit und körperlichen Schmerzen gefangenen Sterbenden. Robin Campillo spiegelt diese individuellen Tragödien wiederum in den symbolisch aufgeladenen Bildern von Demonstrationen und Kämpfen, deren leidgeprüfte Teilnehmer in einer Mischung aus Verzweiflung und Galgenhumor gegen Schweigen und Vergessen kämpfen.

Das Kongo Tribunal

(CH/D 2017, Regie: Milo Rau)

Mehr politische Kunst geht nicht
von Jürgen Kiontke

Wo die Politik versagt, muss es die Kunst richten. Der Film „Das Kongo-Tribunal“ beginnt deswegen auf einer Theaterbühne. Das Gericht, das hier tagt, ist ein symbolisches. Dennoch bleibt seine Arbeit …

Wo die Politik versagt, muss es die Kunst richten. Der Film „Das Kongo-Tribunal“ beginnt deswegen auf einer Theaterbühne. Das Gericht, das hier tagt, ist ein symbolisches. Dennoch bleibt seine Arbeit nicht wirkungslos. Es schafft Öffentlichkeit für einen Konflikt, der mit der modernen Welt und ihrer Kommunikation zu tun hat.

Seit über 20 Jahren tobt der Bürgerkrieg im Kongo, einem der rohstoffreichsten Länder der Erde. Rund sechs Millionen Opfer hat er bisher gefordert – zu Ende ist er nie. Es wird um wichtige Güter gekämpft, an allererster Stelle um Coltan, Grundstoff des Metalls Tantal, ohne den kein Handy funktioniert. Coltan, das Konfliktmaterial schlechthin – verkürzt gesagt: Wer mobil telefoniert, hat also sprichwörtlich Blut an den Händen. Es ist eine Auseinandersetzung ohne Grenzen, Gerechtigkeit, Schutz. Der Abbau des Erzes wird von Milizen kontrolliert und von Kindern unter schlimmsten Bedingungen geleistet, ein Umstand, der von Amnesty International seit Jahren angeprangert wird. Gesteuert wird der Rohstoffhandel von internationalen Konzernen, die in Europa und den USA ansässig sind. Funktionierende staatliche Strukturen im Kongo wären ihnen im Wege: Denn je weniger Barrieren und Kontrollen es gibt, desto eher lassen sich die Preise drücken. Die Konkurrenz der Milizen sorgt für erschwingliche Güter. Eine Situation, von der jeder im Kongo betroffen, in Konflikte hineingezogen werden kann. Und Lösungen sind nicht in Sicht.

Seit einigen Jahren widmet sich der Schweizer Theatermacher Milo Rau dieser Krise in einem der ambitioniertesten Theaterexperimente, das je auf die Bühne kam. Er lud im Kriegsgebiet Opfer, Milizionäre, Regierungsmitglieder, Oppositionelle, Unternehmer und Vertreter internationaler Organisationen zur Teilnahme am Kunstprojekt „Kongo-Tribunal“ ein. Das „Kongo-Tribunal“ setzt eine Idee fort, die von den Philosophen Jean-Paul Sartre und Bertrand Russell stammt: In den sechziger Jahren wurden Kriegsverbrechen der USA in Vietnam vor einer unabhängigen Jury verhandelt – ohne juristische Folgen, dafür in aller Öffentlichkeit. Die Legalität dieses Tribunals bestehe in seiner absoluten Machtlosigkeit und zugleich seiner Universalität, war sich Sartre sicher. Das Gleiche treffe auf das Kongo-Tribunal zu, glaubt Rau. Das Urteil der Jury werde keinerlei Rechtskraft haben. Dabei entstehe aber das Porträt einer entfesselten Weltwirtschaft. Vor- und Beisitz bestritten kongolesische und internationale Experten sowie zwei Anwälte des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Aber nicht spektakulär und anklagend, sondern eher ruhig beginnt Raus Film: mit Luftaufnahmen von einem sehr schönen und sehr grünen Land, auf dessen Hügeln kleine Siedlungen liegen.

Nur allzu bald schon aber folgen Bilder eines Blutbads, dessen Zeuge Rau und sein Team zufällig während einer Recherche-Reise wurden: des Massakers von Mutarule in der Nähe Bukavus im Juni 2014. Über 30 Frauen und Kinder fielen ihm zum Opfer. Erklärungen für den Massenmord ließen sich aber nicht finden. „Dies ist der Grund, warum wir das ‚Kongo Tribunal‘ durchgeführt haben: Um zu verstehen, warum Mutarule, warum all diese Vertreibungen und Massaker stattgefunden haben und weiter stattfinden“, sagt Rau. Und es waren hunderte. Der Grund: Unter dem Grün liegen die Rohstoffe, und wo sie gefunden werden, muss die Bevölkerung mit ihren Ackerflächen weichen.

Der Film dokumentiert diese Inszenierung im Sinne einer Wahrheitsfindung. Ein theatrales Tribunal, sagt Rau, bei dem nichts Kunst, aber alles echt sei: vom Minenarbeiter über den Rebellen und zynischen Minister bis zum Anwalt aus Den Haag spielten sämtliche Teilnehmer nur sich selbst. Gleichzeitig entstehe in dem Film etwas, was eigentlich dokumentarisch gar nicht darstellbar sei: ein Porträt der Weltwirtschaft, eine sehr konkrete Analyse all der Faktoren und Hintergründe, die dazu führen, dass der Bürgerkrieg im Ostkongo seit über 20 Jahren nicht aufhört. Und welche Kräfte ein Interesse daran haben, dass dies auch so bleibt.

Und so teilt sich die Erzählung: Das Massaker im Dorf Mutarule und die gewaltsamen Enteignungen und Zwangsumsiedlungen der Schürfer stehen im Kongo im Fokus. Am zweiten Spielort, Berlin, geht es um die Verwicklungen der Europäischen Union, der Weltbank, der multinationalen Unternehmen in den Konflikt, analysiert von einer Jury um die Afrika-Korrespondentin Colette Braeckman, der Anwalt Edward Snowdens, Wolfgang Kaleck, die Soziologin Saskia Sassen und den Gewaltforscher Harald Welzer. Es werden Handelsvereinbarungen zu Tage gefördert, die für die EU toll, aber für die Minenarbeiter und ihre Familien verheerend sind. Motto der Europäer: Unsere Rohstoffe liegen in Afrika.

Wer verübt die Morde? Oft genug bilden Menschen, die in den Minen keine Anstellung finden, Banden und überfallen ihre Nachbarn. Die Minenarbeiter wiederum bewaffnen sich, um sich und ihre Familien zu schützen. Menschen sind im Weg, weil eine neue Mine gebuddelt werden muss. Menschen sind im Weg, wenn man ihr Wasser für die Metallgewinnung braucht. Eine Konstellation von Mikrokonflikten, die sich in ihrer Brutalität jederzeit ausweiten können.
Die infernalische Situation, wie sie sich in der Region um die beiden ostkongolesischen Städte Bukavu und Goma präsentiere, sagt Rau, sei aus ästhetischer Sicht eine vielleicht einmalige Konstellation. Das sei nicht zynisch gemeint. In dem Konflikt zeige sich eindrücklich und exemplarisch, wie hoch die menschlichen Kosten des globalen Handels mit Rohstoffen sei: „Internationale Multis, durch Bestechung an ihre Gold- und Coltan-Konzession gekommen, vertreiben die Bevölkerung, und wer nicht von alleine geht, wird durch europäische oder amerikanische Monopolgesetze vom Markt gedrängt.“

Weltpolitik mit den Mitteln des Theaters – die Produktion entwickelt durchaus ihre Eigendynamik. Es bleibe ihm bis heute unverständlich, warum der Bergbauminister Albert Murhi und der Innenminister der Provinz Südkivu, Jean-Julien Miruho, beide indirekt mitverantwortlich für das Massaker in Mutarule, freimütig an dem Tribunal teilnahmen, sagt Rau. Beide waren über das Projekt recht schnell ihre Jobs los. „Gott nimmt die Treppe, nicht den Aufzug“, heißt es einmal im Film. Seine Wege sind manchmal unergründlich – wie es das Beispiel der beiden Regierungsvertreter vielleicht zeigt. Wundern tut sich Rau aber bis heute über manches: „Wie es möglich war, dieses im Herz des Bürgerkriegsgebiets durchzuführen – vor 1000 Zuschauern, aufgezeichnet von sieben Kameras, an einem Ort, an dem es kaum genug Strom für ein paar Glühbirnen gibt.“ Und dass schließlich nicht nur die kongolesische Regierung und ihre Opfer, sondern auch die Armee und Rebellengruppen, die UNO, die NGOs, die Vertreter der Weltbank und damit sämtliche westlichen Industrienationen vor die Schranken des Theatertribunals traten – und oft genug unverblümt ihre Verbrechen zugaben. „Die Soldaten der Armee vergewaltigen doch auch“, gibt ein Milizenführer an einer Stelle unumwunden zu.

Sollte sich Gerechtigkeit irgendwann ganz von allein einstellen? Das wahrscheinlich nicht. Es gibt Menschen in diesem Film, die sagen ganz ungöttlich: „Jetzt wollen wir ein richtiges Tribunal.“

Dieser Text ist zuerst erschienen in: amnesty journal 12-2017/1-2018

* * *

Zu Raus Film ist ein Begleitbuch mit Recherche-Ergebnissen, Protokollen, Essays und Statements der Beteiligten erschienen.

Ein Internetprojekt soll die Inhalte des Tribunals in den digitalen Raum verlagern und globale Zusammenhänge transparent machen: www.the-congo-tribunal.com

Auch ein „Doku-Game“ ist dort abrufbar: Im Zentrum steht der fiktive „Zeuge J.“, Opfer des Massakers von Mutarule, dessen Lebensgeschichte in einer interaktiven 3 D-Graphic-Novel animiert wird.

Éric Rohmers filmtheoretische Aufsatzsammlung „Zelluloid und Marmor“

( , Regie: )

Die Rettung der Schönheit
von Wolfgang Nierlin

„Was denkt der Kinoliebhaber über die anderen Künste?“ Zwischen den Monaten Februar und Dezember des Jahres 1955 erscheint in der französischen Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma unter dem Titel „Zelluloid und …

„Was denkt der Kinoliebhaber über die anderen Künste?“ Zwischen den Monaten Februar und Dezember des Jahres 1955 erscheint in der französischen Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma unter dem Titel „Zelluloid und Marmor“ ein filmtheoretischer Aufsatz, der diese Frage zu beantworten sucht. Ihr leidenschaftlicher Verfasser ist der 1920 in Tulle geborene, umfassend gebildete Autor und Filmenthusiast Maurice Schérer, der seinen fünfteiligen Essay mit dem Pseudonym Éric Rohmer zeichnet. Die „Großartigkeit des Kinos“ als primäre Kunst der Gegenwart und in Abgrenzung zu den traditionellen anderen Künsten zu zeigen, macht sich darin der cinephile Autor ebenso entschieden wie nachdrücklich zur Aufgabe. Als Stammgast der Cinémathèque française, wo er zusammen mit seinen Freunden und Kollegen Jean-Luc Godard, Jacques Rivette, François Truffaut und Claude Chabrol die „führende Rolle“ der Filmkunst entdeckt, wächst bei ihm zugleich das Bedürfnis, gegenüber den „Kinoverächtern“ die ästhetische Eigenständigkeit der noch jungen Kunstform zu verteidigen.

Heute gilt „Zelluloid und Marmor“ als „wichtigster filmtheoretischer Grundlagentext der Nouvelle Vague“ und als Manifest der mit ihr assoziierten Filmemacher, wie der Übersetzer und Filmpublizist Marcus Seibert in seinem Nachwort zur deutschen Ausgabe schreibt. Bereits 1963 sollte der Text zusammen mit anderen Aufsätzen unter dem Titel „Das klassische Zeitalter des Films“ veröffentlicht werden. Doch weil der Verleger Dominique de Roux starb, kam das Projekt nicht zustande. Rohmers selbstkritisches Vorwort von damals eröffnet nun die Aufsatzfolge zu Literatur, Malerei, Dichtung, Musik und Architektur, die als Buchausgabe in Frankreich kurz nach dem Tod des Regisseurs im Jahre 2010 erschien. Ein paar Monate zuvor konnten die beiden Herausgeber Noël Herpe und Philippe Fauvel noch umfangreiche Gespräche mit Éric Rohmer führen, in denen dieser höchst lebendig und geistreich seine damalige, nicht immer leicht nachzuvollziehende Position reflektiert, in den historischen Kontext einordnet und mit vielen Beispielen aus seinem reichen Erfahrungsschatz veranschaulicht. Diese komplettieren und ergänzen nun die auf Deutsch vorliegende Edition.

„Nun müsste man aber nicht zeigen, dass der Film eine andere Sprache spricht, sondern dass er etwas anderes sagt, das auszudrücken wir bislang nicht einmal zu träumen wagten“, beginnt Rohmer seine polemische Verteidigungsrede, mit der er stellvertretend für den „anderen Blick“ einer neuen Generation von Cinephilen spricht. In diesem doppelten „Anderen“ verbindet sich das klassische Erbe der Literatur mit der Modernität des neuen Mediums, dessen hervorragendes Merkmal der Realismus des fotografischen Bildes ist. Éric Rohmer bezieht sich hier in seinem späteren Vorwort dezidiert auf die filmästhetischen Überlegungen des Theoretikers André Bazin zum „Mythos eines allumfassenden Realismus“. In dieser Perspektive erscheint der Film als eine „objektive Kunst“ und, so Bazin, als „Vollendung der photographischen Objektivität in der Zeit.“ In diesem Sinne schreibt Éric Rohmer über die „Zeitkunst“ Film: „Die Wirklichkeit einzufangen und zu bewahren ist ihr einzigartiges und bescheidenes Ziel.“

Mit Blick auf die filmischen Meisterwerke seiner erklärten Vorbilder Griffith, Murnau, Renoir und Hawks betont der spätere Autorenfilmer und Regisseur der Filmzyklen „Moralische Erzählungen“ und „Komödien und Sprichwörter“ aber auch, dass der Film sich nicht im dokumentarischen Gestus oder einem „Hunger nach Authentizität“ erschöpfe. Vielmehr nehme er auf eine nur ihm mögliche, gewissermaßen wesensspezifische Weise diese Realität wahr und stelle so „die Schönheit des Lebens selbst“ dar. Vor allem in der Auseinandersetzung mit der Abbildungsfunktion der Malerei sowie mit der durch ihre raum-zeitliche Dimension wesensverwandten Musik gelangt Rohmer, der mit den philosophischen Ästhetiken von Kant und Hegel vertraut ist, zum metaphysischen Begriff einer „Schönheit sui generis“, „die als integraler Bestandteil der Welt von Anbeginn an vorhanden war und nur auf das Instrument gewartet hat, das sie für die Menschen zum Vorschein bringt.“

Zwar bewundert Rohmer die Natürlichkeit und Lebendigkeit einer Romankunst, die für ihn im 19. Jahrhundert ihre Blütezeit hatte, sowie eine unzeitgemäß gewordene Poesie, deren Verse er bevorzugt auswendig rezitiert; doch nur dem filmischen Ausdruck gelinge es, jenseits des metaphorischen Sprechens oder der symbolischen Darstellung jene „prästabilierte Harmonie“ zu evozieren, die die „Existenz der Seele oder eines anderen spirituellen Prinzips“ bezeuge. Éric Rohmer geht es in „Zelluloid und Marmor“ also um nichts weniger als um die Rettung und Erneuerung des klassischen Schönheitsideals im modernen Medium des Films. Das bezeugt schließlich auch sein eigenes, umfangreiches filmkünstlerisches Œuvre, das mit seiner „Magie“ den „geheimen Gesang der Welt“ wecken will.

Éric Rohmer: „Zelluloid und Marmor“.
Herausgegeben von Noël Herpe und Philippe Fauvel. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Marcus Seibert. Alexander Verlag Berlin, 2017. 192 Seiten, 28 Euro

Detroit

(USA 2017, Regie: Kathryn Bigelow)

Damals in Detroit: Folter filmen - Zeugen zeigen
von Drehli Robnik

Die Black History-Lektion in Form eines animierten Murals zu Filmbeginn bleibt kurz, ebenso das staatsmachttaktische Vorspiel und das juridische Nachspiel zu einer Nacht voll tödlicher rassistischer Polizeigewalt im Algiers Motel …

Die Black History-Lektion in Form eines animierten Murals zu Filmbeginn bleibt kurz, ebenso das staatsmachttaktische Vorspiel und das juridische Nachspiel zu einer Nacht voll tödlicher rassistischer Polizeigewalt im Algiers Motel während der race riots in Detroit 1967. Kathryn Bigelow fokussiert – wie etwa auch im U-Boot-Atomreaktor von „K-19: The Widowmaker“ oder anhand der Bombenentschärfungen und Standoffs unter Beobachtung im Oscar-Gewinner von 2010 „The Hurt Locker“ – eine Extremsituation. Mikrodynamik samt Kollisionen von Moral und Pragmatik in einem Motel: In der quälenden Raum-Fixierung pulsieren Blickrelationen und regelrechte Rollenspiele: Wir sehen Beispiele „kreativer“ Folter, wenn African American Verdächtige endlos stehen und zeitweise singen müssen, gesondert misshandelt und simulierter Weise – aber nicht nur simulierter Weise – exekutiert werden.

Der Terror der Demütigungen und Einschüchterungen wiederholt sich vor Gericht; am Ende stehen Freisprüche der weißen Cops und Morddrohungen gegen Zeugen. Eine Art Gegenterror verbreitet Bigelows reißerisch aufputschende Inszenierung, oft im Stakkato von Reißschwenks, Blendlichtern und raschen Umschärfungen.

Immer wieder ertönt dabei Motown-Soul, sei es aus dem Radio, sei es gesungen vor Ort. Einer der Misshandelten war Sänger bei den Dramatics, die an besagtem Abend in Detroit beinah mit den Vandellas aufgetreten wären. Da hallt Bigelows poppiges Race-Riot-Grunge-Feuerwerk „Strange Days“ nach, das 1995 auf den Los Angeles-Aufstand nach Freisprüchen im Fall rassistischer Polizeigewalt gegen Rodney King anspielte. (Dass sowas auf Video kursierte, war damals noch neu.) Auch in „Strange Days“ trug der Schrecken Uniform und eine verschwitzte weiße Grinsgrimasse. In „Detroit“ trägt sie nun Will Poulter (der für diesen Part auf die Clownsrolle in „It“ verzichtete); im Kontrast dazu bebt die Lippe in dem nur mit Mühe ruhig gehaltenen Gesicht John Boyegas als schwarzer Wachmann, der alles mit ansieht, skeptisch beobachtet, aber fast ebenso wenig eingreift wie die weißen Zeugen. Dies zum Teil mit dem Vorsatz, die auf Gewaltexzesse zusteuernde Situation nicht noch zu verschlimmern.

Bigelow ist eine Action-Regisseurin. „Detroit“ ist eine packende Ohnmachts-Oper, die – in jedem Sinn – keinerlei Aktivismus zeigt. Der Film zeigt einen Fall, macht ihn zum Drama. Anstelle eines historischen Kontexts etwa militanzpolitischer oder organisationssoziologischer Art ist der Kontext hier ein durchaus autoreferenzieller, aufgeladen mit der 2013 anhand der enhanced interrogations von islamistischen Informanten geführten Kontoverse zu Folter-Bildern in „Zero Dark Thirty“. Manche Arten des Zeigens gewöhnen uns an ein Handeln (hebeln also eine Gesetzesnorm zugunsten einer vom Faktischen bestimmten Normalität aus), lautete ein Argument von Bigelows Kritikern. Bigelows Programm wäre, so zeigt sich nun, eher dies: Wird Folter nicht gesehen, spielt das Tätern in die Hand, die – wie es in „Detroit“ geschieht – nach Verrichtung ihres Werks allen einbläuen, es gebe hier nichts zu sehen. Und da ist auch ein Genderkontext. Denn: Bigelow ist eine Männerversteherin – also Männlichkeitsrollenbilder-Kritikerin (bis hin zum Faszinosum des uniformierten Gewaltmonopols in Gestalt der weißen Polizistin in „Blue Steel“). Das Wüten der sich als Cowboys stilisierenden Cops, die weiße Tramperinnen beim Flirt mit schwarzen Motelgästen vorfinden, ist auch ein Fall ressentimentgetriebener sexueller Aggression.

Wimbledon Green

( , Regie: )

Melancholische Sammlerwut
von Sven Jachmann

Es gibt in Pixars „Ratatouille“ die berühmte Szene, in der der gefürchtete Restaurantkritiker Anton Ego skeptisch vom ihm dargebotenen Mahl kostet und mit dem ersten Biss schlagartig in seine Kindheit …

Es gibt in Pixars „Ratatouille“ die berühmte Szene, in der der gefürchtete Restaurantkritiker Anton Ego skeptisch vom ihm dargebotenen Mahl kostet und mit dem ersten Biss schlagartig in seine Kindheit an Mutters Küchentisch zurückversetzt wird. Das schönste ästhetische Erlebnis, sagt uns das wohl, ist vor allem die Überwältigung bei der Suche nach jener Erfahrung des Glücks, die uns die größte Geborgenheit versprach, und da kann der Kritiker noch so viel mäkeln, er wird schon verstummen, wenn er auf etwas trifft, was dieses Glück am reinsten konserviert. Man kann das natürlich auch regressiv verstehen, als stoisches Dümpeln im flow der kindlichen Unschuld, als Widerwillen Neues und Anderes zu verstehen, als infantilen Wiederholungszwang, zu dessen Gunsten sogar die Kunst instrumentalisiert wird, weil sie das fragwürdige Versprechen, Essenz des Glücks zu sein, immer wieder bricht.

An diesem Widerspruch kommt der kanadische Zeichner und Autor Seth ins Spiel. Die Figuren in seinen Geschichten bewegen sich an der Schnittstelle von Konservatismus und Extravaganz. Schon deshalb sind sie leicht entzifferbare Chiffren ihres Schöpfers. Der sehnt wie sie eine Zeit herbei, in der die Moderne als Signum für Ordnung und sicherheitsstiftende (eben auch mentale) Serialität, eines zaghaften Fortschreitens zum Besseren, ob nun künstlerisch oder ideologisch, galt. Das ist natürlich pure Projektionsleistung, und deshalb steckt in Seths Figurenarsenal auch stets eine Melancholie, die zwar Veränderungen fürchtet und das Vergangene betrauert, der es noch mehr aber vor ihrer eigenen Erosion graust. In „Eigentlich ist das Leben schön“ liest sich das sehr manifest, wenn Seth als Comic-Figur einen unbekannten, fiktiven Cartoonisten der Zeitschrift New Yorker ausfindig zu machen versucht, vor allen Recherchebemühungen aber seinen Selbstzweifeln und Identitätskrisen das Primat einräumt und seine gelegentliche Abscheu vor Bettlern und Nonkonformisten nur schwer verbergen kann. Bevor ideologiekritisch losgepoltert wird: Diese Xenophobie ist gleichermaßen Teil der Selbstzweifel und rückt vor allem die kultivierte Nostalgie – das Faible für das golden age of comic, überhaupt die Glorifizierung vergangener Jahrzehnte – ins eben auch akut Neurotische. Seths Begeisterung gilt nicht den Außenseitern und Losertypen an sich, sondern den Exzentrikern, die die Nostalgie zur Tugend erhoben haben; um diese Ambivalenz weiß er selbst am besten.

Wimbledon Green ist ganz sicher kein Losertyp. Immerhin ist er, so verrät bereits der Untertitel, der größte Comicsammler der Welt. Und um das zu erreichen, braucht es schon das Kapital eines Großindustriellen. Viel mehr gibt es über ihn eigentlich nicht zu erfahren, denn Wimbledon Green ist zwar die Hauptfigur, aber nicht der narrative Mittelpunkt, genau genommen handelt es sich bei ihm nicht mal um einen runden Charakter: Wenn er auftritt, dann nur mit typisierenden Eigenschaften, irgendwo zwischen gierigem Jäger und unnahbarem Aristokrat, der beharrlich und eitel, aber stets würdevoll seiner Gegner aussticht. Die Geschichte ist ein Mosaik und bedient sich der Stilmittel des Dokumentarfilms: talking heads, ehrfürchtige Bewunderer wie erbitterte Konkurrenten, dominieren die aufs Minimum reduzierten Panels, von denen sich durchaus bis zu 30 auf einer Seite tummeln können, immer die Frage erörternd, wie dieser Green bloß an seine Position gelangen konnte. Klar ist: Der Mann ist ein Unikum. „Er erkannte das Erscheinungsjahr an der Platzierung der Heftklammern“, sagt zu Beginn ein konsternierter Händler.

Es geht hier aber weniger um eine Biographie, auch nicht einzig um eine Hommage. „Wimbledon Green“ ist auf den ersten Blick Oral History, die Apotheose einer vergangenen wie fiktiven Comickultur. Es gibt Bilder der Glanzstücke aus Greens Sammlung, Ausschnitte seiner Lieblingscomics und der reduziert-cartooneske Stil (für den sich der Autor unnötigerweise im Vorwort entschuldigt) scheint mittels seiner Flüchtigkeit mit aller Mühe einer vom Vergessen bedrohten Epoche nachkommen zu wollen, bevor ihre Artefakte unwiederbringlich verloren sind. Die furiose, augenzwinkernd und überspitzt für die Sammlerszene variierte Verfolgungsjagd im Mittelteil, in der in bester Superheldenmanier einige Sammler inklusive Green zur Jagd auf ein besonders rares Heft ansetzen, geht dann jedoch über die Hommage an den dichotomen Kampf zwischen Helden und Antagonisten hinaus. Denn unschwer zu erkennen stilisiert sich Seth selbst in Gestalt des Jonah zu Greens ärgstem, vor Verbrechen nicht zurückschreckendem Widersacher. Eitelkeit, Selbstmitleid, Kulturpessimismus, Narzissmus, Exzentrik, Egozentrik, Bigotterie, allesamt Eigenschaften, derer sich der Seth aus „Eigentlich ist das Leben schön“ immer wieder geißelt, die auch schließlich dafür verantwortlich sein werden, dass Jonah von Green das Handwerk gelegt wird. Wenn also Green im Epilog sinnierend durch die nächtlichen Straßen flaniert (und wir von den talking heads zuvor erfuhren, dass er von einem Tag auf den nächsten verschwunden war), über den Tod seiner Mutter nachdenkt (und wir zuvor im Vorwort erfuhren, dass der Autor während der Entstehung des Werks den Verfall seiner demenzerkrankten Mutter miterleben musste) und dadurch abschließend doch noch mit biographischen Details ausgestattet wird, dann ist das Zepter des vom Selbsthass zerfressenen Egozentrikers an den Melancholiker weitergereicht worden, dessen Sammelmanie urplötzlich wiederum etwas ungemein Trauriges besitzt: das Wissen darum, dass kein Artefakt der Welt das Glück konservieren kann und dass die Suche danach eine unendliche bleiben muss. Sollte Seth vielleicht also immer dieselbe Geschichte erzählen – seine eigene -, dann tut er das beeindruckend variantenreich.

Seth (Text und Zeichnungen): Wimbledon Green. Der größte Comicsammler in der Welt.
Aus dem amerikanischen Englisch von Kai Wilksen und Uli Pröfrock. Edition 52, Wuppertal 2009. 128 Seiten. 25 Euro

Gauguin

(F 2017, Regie: Edouard Deluc)

Paradiesische Verwilderung
von Wolfgang Nierlin

Kaum ist das eröffnende Fernwehbild mit dem Blick auf die Weite des Meeres verklungen, sehen wir den Künstler als Lastenträger. Die thematischen Gegensätze sind in Édouard Delucs Film „Gauguin“ schnell …

Kaum ist das eröffnende Fernwehbild mit dem Blick auf die Weite des Meeres verklungen, sehen wir den Künstler als Lastenträger. Die thematischen Gegensätze sind in Édouard Delucs Film „Gauguin“ schnell und (über)deutlich gesetzt: Weil Paul Gauguin (Vincent Cassel) mit seiner Malerei kein Geld verdient, muss er sich mit schwerer körperlicher Arbeit als Tagelöhner verdingen. Um seiner Armut und der Pariser Enge des Jahres 1891 zu entfliehen, träumt der vielgereiste Abenteurer deshalb von fernen Paradiesen jenseits der Zivilisation und einer ursprünglichen, wilden Natur. „Es ist Zeit, zu verschwinden“, verkündet er engagiert und nicht ohne Enthusiasmus gegenüber seinen Künstlerfreunden, um seinen Überdruss an „abgenutzten“ Lebensformen zu artikulieren. „In Tahiti brauchen wir kein Geld“, lockt er seine Vertrauten aus der Reserve. „Fischen, Ernten, Malen“ – mit diesem Credo beschwört er die zukünftige Künstleridylle. Doch seine Freunde verweigern ihm die Gefolgschaft. Gauguin bleibt mit seinem Traum allein und gewissermaßen auch isoliert.

Édouard Deluc inszeniert den Künstler als einen Getriebenen, von seiner Arbeit und schöpferischer Berufung Besessenen. Noch in Paris kommt es deshalb zum Konflikt mit seiner aus Dänemark stammenden Ehefrau Mette (Pernille Bergendorff), die dem Vater von fünf Kindern Egoismus und Verantwortungslosigkeit vorwirft. Nach seiner Ankunft auf der polynesischen Insel sieht man ihn deshalb geradezu fiebrig Malen, während ein heftiger Tropenregen auf seine primitive, undichte Strandhütte prasselt. Die Überzeichnung dient hier zugleich der Zuspitzung seiner fast krankhaften Manie, die auch am neuen Ort isolierend zu wirken scheint. Als seine Frau in einem Brief ihre Scheidungsabsicht ankündigt, erleidet Gauguin einen Infarkt und bricht zusammen. Doch entgegen ärztlichem Rat verweigert er die Behandlung, um erneut aufzubrechen: „Ich werde in den Wald zurückkehren, um dort von der Ruhe, der Ekstase und der Kunst zu leben.“

Dieser Trip mit seinen Strapazen führt Paul Gauguin tatsächlich zum Unberührten. Zugleich markiert die einsame Reise durchs grüne Dickicht seine künstlerische Selbstvergewisserung: „Ich bin ein Kind. Ich bin ein Wilder.“ Und: „Ich setze meinen Weg fort. Ich habe ein Ziel.“ Tatsächlich findet er in dem Maori-Mädchen Tehura (Tuheï Adams) seine Muse und sein Modell. Die ebenso schöne wie geheimnisvolle junge Frau ist ihm „unberührte Eva“ und Geliebte zugleich. Für eine kurze Zeit verschmelzen für Gauguin Leben, Liebe und Kunst zu einer Einheit. „Um etwas Neues zu schaffen, muss man zur Quelle zurück“, beschwört er sein Ideal „kindlichen Menschseins“.

In den stärksten Momenten überlässt Deluc seinen Film diesem unbestimmten, entgrenzenden und urwüchsigen Sog, der nahtlos von den Farben der Natur zu den Schatten der Nacht wechselt. Doch noch zu oft bemüht er die Mechanik einer aus zeitökonomischen und dramaturgischen Gründen plakativen Erzählkonvention. Delucs freie Adaption von Gauguins unter dem Titel „Noa Noa“ erschienenen Tahiti-Aufzeichnungen handelt schließlich in mancherlei Hinsicht von einer Desillusionierung. Schon auf den ersten Seiten seines Reiseberichts schreibt der Maler: „Das war ja Europa – das Europa, von dem ich mich zu befreien geglaubt hatte!“ Doch trotz dieses dem französischen Kolonialismus geschuldeten „Kulturschocks“ und mancher erlittener Niederlage konstatiert Gaugin bei seiner Abreise im Jahr 1893: „Zwei Jahre älter geworden und um zwanzig Jahre verjüngt gehe ich fort, verwilderter als ich gekommen war und doch gescheiter.“ In seinem Gepäck birgt er einen Gemälde-Schatz.

Song of Granite

(IR/CA 2017, Regie: Pat Collins)

Karge Idyllen einer fernen Zeit
von Wolfgang Nierlin

Die Laternen der Fischer schweben wie vereinzelte Lichtpunkte über dem nächtlichen See. Eine leise, dünne Kinderstimme legt sich mit ihrem verhaltenen Gesang über die Geburtswehen einer werdenden Mutter. Und aus …

Die Laternen der Fischer schweben wie vereinzelte Lichtpunkte über dem nächtlichen See. Eine leise, dünne Kinderstimme legt sich mit ihrem verhaltenen Gesang über die Geburtswehen einer werdenden Mutter. Und aus dem unbestimmten Raum einer weiten, nebelverhangenen Landschaft erklingt das frühe Singen der Vögel. Nacht und Tag, Schmerz und Gesang, Leben und Tod verbinden sich in der Exposition von Pat Collins‘ außergewöhnlichem Film „Song of Granite“, einer biographischen Annäherung und filmischen Hommage an den irischen Folksänger Joe Heaney (1919 – 1984). Wenn in dem abgelegenen Dorf Carna im Westen des Landes abends die Menschen am Feuer zusammensitzen, um den Liedern eines Sängers zu lauschen oder die Lehrerin im Religionsunterricht Glaubenssätze abfragt, gewinnt der Kreislauf des Lebens eine mythische und zugleich spirituelle Dimension.

Alles wurzelt in der Landschaft, in Stein und Fels, in dunklen schweren Wolken und dem Murmeln des Baches. Als kleiner, schüchterner Junge hilft Joe seinem Vater beim Fischen, beim Torfstechen oder auch beim Pflanzen von Kartoffeln. Der geduldige Vater, selbst ein begnadeter Sänger, lässt seinem Sohn Zeit, zeigt ihm alles. In der Schule wird der Junge zu einem Liedvortrag aufgefordert; draußen, in der Natur, kümmert sich Joe um ein Vogelnest – und begegnet sich selbst als alter Mann. Pat Collins‘ berührende Entwicklungsgeschichte siedelt in den kargen Idyllen einer fernen Zeit. Aus diesen muss der werdende Künstler aufbrechen und nach Wanderjahren immer wieder zurückkehren. Der stattliche, sorgsam gekleidete und in sich ruhende Mann wird nach England, Schottland und New York aufbrechen, um zu arbeiten und zu singen.

„Song of Granite“ ist kein konventionelles Biopic. In Schwarzweiß gedreht und elliptisch erzählt, widmet sich Pat Collins in wenigen, konzentrierten Ausschnitten drei Lebensaltern des Portraitierten. Dabei erschafft der irische Filmemacher ein dichtes poetisches Geflecht aus Dokumenten und Fiktion, aus Zeugnissen, mündlicher Überlieferung und inszenierter Realität. Besonders bemerkenswert und bewegend sind dabei die einzelnen Liedvorträge, die in einer Einstellung und in voller Länge wiedergegeben werden. Mit sich allein und völlig konzentriert, lasse er sich vom Lied tragen, sagt Joe Heaney einmal. Dabei ist sein Gesang Ausdruck einer tiefen Verbundenheit mit dem Leben und den überlieferten Erzählungen, in denen dieses als altes Wissen aufbewahrt ist.

Eine in diesem Sinne geradezu emblematische Bildkomposition zeigt, wie im Vordergrund der Gesang von Joes Vater aufgenommen wird, während aus dem Hintergrund, gerahmt durch eine Tür, sich der Junge dem Geschehen nähert. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, schwebend zwischen den Generationen und von ihnen getragen, sind hier in einem ebenso vielschichtigen wie poetischen Bild aus Raum und Zeit verdichtet.

Geschichten aus Teheran

(IR 2014, Regie: Rakhshan Bani-Etemad)

Krisen, keine Versuchsanordnungen
von Nicolai Bühnemann

In der letzten Einstellung geht der namenlose Dokumentarfilmer eine Brücke entlang, während überall um ihn herum der Verkehr weiter fließt. Das Licht der letzten Dämmerung und die gelben Lichter der …

In der letzten Einstellung geht der namenlose Dokumentarfilmer eine Brücke entlang, während überall um ihn herum der Verkehr weiter fließt. Das Licht der letzten Dämmerung und die gelben Lichter der Straßenlaternen, die melancholischen Klavierklänge auf der Tonspur und die Worte des Mannes, die er in sein Handy spricht, dass sein Film eines Tages gesehen werden wird, verleihen der Szenerie eine leise Melancholie. Zwei der Geschichten, die wir eben gesehen haben, spielten sich in Autos ab, und so verweisen die vielen Fahrzeugen in diesem letzten Bild auch darauf, dass es in der großen Stadt tausende weitere Geschichten gibt, mit denen sich noch viele andere Filme wie dieser füllen ließen.

Der Filmemacher taucht in verschiedenen der Episoden auf, die mal lose miteinander verbunden sind, dann wieder ganz für sich stehen. Als Chronist alltäglicher Geschichten aus dem Teheran der Gegenwart ist er gewissermaßen das Alter Ego der Regisseurin Rakhshan Bani-Etemad und anhand dessen, was ihm im Film widerfährt, lassen sich auch die Schwierigkeiten ablesen unter dem iranischen Regime Filme zu machen. Der Kampf mit den Behörden, um Drehgenehmigungen zu bekommen. Die Beschlagnahmung seiner Kamera durch die Polizei als er ArbeiterInnen filmt, die gegen die Schließung ihrer Fabrik protestieren, den Lohn einklagen wollen, der ihnen seit Monaten nicht gezahlt wurde. Bani-Etemad selber drehte, um die Zensur zu umgehen, eine Reihe von Kurzfilmen, die sie später zu einem abendfüllenden Film zusammenfügte.

Eine Arbeiterin wird von einem Kollegen ermahnt, nicht über Politik zu sprechen, und sie antwortet mit einer Gegenfrage, ob es politisch sei, davon zu erzählen, dass ihre Kinder kaum noch etwas zu essen haben. Es geht Bani-Etemad also darum, dem Politischen im Privaten nachzuspüren, indem sie sehr persönliche Geschichten erzählt, die oftmals nur aus einer einzigen Szene, einem einzigen Dialog bestehen. Die Beziehungskrisen, die sich leitmotivisch durch den Film ziehen, fügen sich zusammen zu einem Panorama einer ganzen Gesellschaft in der Krise. Es geht um Drogensucht, Prostitution, HIV, Suizidversuche, Analphabetismus, Eifersucht, menschenfeindliche Bürokratien, Arbeitslosigkeit, Armut, häusliche Gewalt, das Streben der jungen Frauen nach Selbstbestimmtheit und Gleichberechtigung und den Umgang der älteren mit patriarchalen Familienstrukturen.

Die Gratwanderung, die der Regisseurin im Großen und Ganzen gelingt, ist es, die einzelne Figur, den einzelnen Menschen nicht zu einer reinen Funktion ihrer gesellschaftlichen Versuchsanordnung verkommen zu lassen, sondern sie und ihre Schicksale ernst zu nehmen, die zugleich für größere Zusammenhänge, aber auch für sich selbst stehen. Durch die Ruhe und Konzentriertheit, die der Film ausstrahlt, schafft er es, dass seine ziemliche Überfrachtung mit Problemthemen kaum negativ auffällt. Auch findet er zu den drängenden Gefühlen seiner Figuren, ihrer Wut, Verzweiflung und Trauer eine Form, die die Zuschauenden durchaus auf einer emotionalen Ebene anzusprechen vermag, aber dabei niemals ins Rührselige kippt.

Seit Ende Oktober gibt es den Film in der Femmes Totales-Reihe von absolut Medien auf einer recht schmucklosen DVD.

Beuys

(D 2017, Regie: Andres Veiel)

Fettecke forever!
von Andreas Thomas

Jajajajajaja. – Nänänänänänänä. Eure Rede aber sei: Ja! Ja! Nein! Nein! Was darüber ist, das ist vom Übel. Beuys und Bergpredigt. Da hätten wir schon zwei zündende Konnektionen, denn zum …

Jajajajajaja. – Nänänänänänänä. Eure Rede aber sei: Ja! Ja! Nein! Nein! Was darüber ist, das ist vom Übel. Beuys und Bergpredigt. Da hätten wir schon zwei zündende Konnektionen, denn zum einen ist Beuys kein Übertreiber gewesen, aber ein Showhase, und zum anderen hat er diesen Jesusfluch gehabt, nach dem Motto: Meine Verausgabung ist meine Nahrung. Leider denkt die Menschheit viel zu oft in Märtyrerligen, aber das Leben kann auch schön sein, wenn man nicht zu Asche brennt, und das Kind dann aber umso mehr vom Künstlerpapa hat. Aber da steht immer dieser Auftrag im Background, bei Jesus und bei Beuys und wie die alle heißen. Ganz dahinter steht aber auch noch, und auch das ist signifikant: eine tiefe Depression, bei Jesus vielleicht nicht so erwiesen wie bei Beuys, aber schlechthinnig wahrscheinlich, aufgrund der Abwesenheit des eigenen Wohlbefindens ohne Phantasmagorie einer göttlichen Entität. Bei Beuys scheint, und das sagt auch sein bildgebender Regisseur Andres Veiel, den Ausschlag gegeben zu haben eine Äußerung der Mutter seiner frühen Sponsoren: „Wenn du dieses Talent hast, dann bist du ihm was schuldig“. Also fühlte Beuys sich schuldig, ließ das ganz schnell mit dem Selbstmord und versuchte halt die Welt zum Guten zu verändern, indem er sich künstlerisch auf dem Zahnfleisch tätig für die Welt opferte.

Mal ganz davon ab, dass man heute gegenüber manchen traditionellen Künstlerbiografien bezüglich ihres missionarischen Eifers ein leichtes oder schweres Unbehagen entwickeln kann, kann es einen aber auch freuen, den kernigen und lustigen Rheinländer Beuys zu reloaden, um festzustellen: der Mann hat Humor, Witz, das Herz am rechten Fleck und er kommt einem in seiner anarchischen Art schon 1966 so vor, als wäre Punk schon lange gewesen. Alle diese 1960er Menschen, auch diese 1970er Menschen um ihn herum sprechen wie aus bemüht gestelzten feuilletonistischen schwer sprachlich verknoteten Sprechblasen heraus, und man merkt ihnen an, wie wenig direkten Zugang sie haben zur Kraft der Beuysschen Kunst und Aktion und Aktionskunst. Aber Beuys könnte direkt einer von den Fremden sein, mit denen du Arm in Arm aus einem echt geilen Konzert gewankt bist. Ohne Worte weiß jeder, worum es geht und dass wir natürlich Freunde sind, obwohl wir uns nicht kennen.

Schön ist bei Beuys, dass er jede Ideologie abschaffen will, allen voran den Kapitalismus und irgendwie niedlich und etwas größenwahnsinnig ist, dass er meint, die Kunst werde die Rolle der Politik übernehmen müssen und können. Dass überhaupt alles Kunst sei, dass Gedanken schon Skulpturen seien, das ist schön und erweiterte meinen Kunstbegriff auf sinnvolle Weise frühzeitig. Und es erweiterte meinen Menschheitsbegriff auf vielfältige Weise.

Veiel zeigt in seinem mit permanent semidezenter Musik unterlegten Film den Beuys ein wenig auf seine Menschlichkeit reduziert. Vielleicht hätte man auch Beuys‘ Ausflüge in anthroposophische Ideologien (Rudolf Steiner) einbeziehen können. Weltbilder! Beuys hat ja übrigens die Grünen mitgegründet, weil er jedenfalls an die Besserung der Verhältnisse geglaubt hat. Er flog schnell wieder raus bei den Grünen, er solle doch lieber zurück zu seinen „Fettecken“. Die Grünen versuchen derzeit Gemeinsamkeiten mit der CSU zu finden, aber: die „Fettecken“ werden siegen!

L’avventura

(IT 1960, Regie: Michelangelo Antonioni)

Die verschwundene Frau
von Ricardo Brunn

Anna, Sandro und Claudia nehmen an einem Bootsausflug von Freunden teil. Sandro ist mit Anna liiert, Claudia ist eine Freundin von Anna. Man ist heiter und beschwingt. Die Sonne scheint. …

Anna, Sandro und Claudia nehmen an einem Bootsausflug von Freunden teil. Sandro ist mit Anna liiert, Claudia ist eine Freundin von Anna. Man ist heiter und beschwingt. Die Sonne scheint. Nur Anna badet sich in Zweifel. An einer kleinen steinigen und unbewohnten Insel gehen die Ausflügler an Land. Anna geht spazieren und verschwindet spurlos. Eine erste Suche der konsternierten Freunde bleibt erfolglos. Annas Vater schaltet die Polizei ein. Taucher werden auf die wenige Quadratmeter große Insel entsendet. Ein Selbstmord Annas wird in Erwägung gezogen. Doch die Taucher finden keine Leiche. Sandro und Claudia begeben sich nach Sizilien. Ein Reporter will Anna gesehen haben, Bewohner machen Andeutungen, aber die wenigen Spuren verlaufen allesamt im Sande. Auf der weiteren Suche nach Anna werden Sandro und Claudia selbst ein Paar. Am Ende betrügt Sandro Claudia in einem Hotel mit einer Prostituierten. Anna bleibt verschwunden.

Michelangelo Antonionis 1960 entstandener Film „L’avventura“ beginnt durchaus wie ein Kriminalfilm, doch die Frage nach dem Verschwinden der potenziellen Hauptfigur tritt schon bald in den Hintergrund. Zwar kommt das Gespräch immer wieder auf Anna, ihr Verschwinden bleibt jedoch ohne Aufklärung. In seinem sechsten Langspielfilm vollführt der italienische Regisseur damit einen Bruch mit dem klassischen Erzählkino, den er schon in seinen früheren Filmen angedeutet hat, von nun an aber jedes seiner Werke bestimmen wird. Er verzichtet, trotz herkömmlicher narrativer Konstellation zu Beginn des Filmes, auf eine Lösung und setzt an ihre Stelle, wie Umberto Eco schreibt, „eine Reihe von Ereignissen (…), zwischen denen kein dramatischer Zusammenhang im konventionellen Sinn besteht, eine Erzählung, bei der nichts geschieht oder Dinge geschehen, die nicht mehr das Aussehen eines Erzählten, sondern nur mehr eines zufällig Geschehenen haben.“ Und bereits die erste Szene gibt mehr als deutlich Auskunft von dieser Entwicklung: Anna schreitet anmutig (wie es Filmfrauen nur in dieser Phase des Kinos konnten) über den befestigten von Hecken umrandeten Weg einer Villa. Vor den Toren öffnet sich die karge Wüste der Moderne. Im Hintergrund werden Wohnsiedlungen gebaut. Baugruben, Unkraut und Schutt bestimmen das Bild. Anna tritt auf unsicheren Schotter. Die Villa, so bemerkt ein Bauarbeiter, der sich mit Annas Vater unterhält, wird bald umstellt und eingeengt sein. Dass sich die Erzählung verlieren wird, ist diesen ersten Bildern und Sätzen so immanent wie die Gewissheit, dass mit Annas Leben etwas ganz und gar nicht stimmt.

„Wenn die Natur zerstört ist“, fragte Antonioni anlässlich seines Filmes „Il deserto rosso“ (IT, 1964), „sind dann auch unsere Gefühle zerstört?“ Und natürlich haftet diesem Interpretationsansatz bezogen auf „Il deserto rosso“ ein eindeutiger ökologischer Impetus an. Doch lassen sich Landschaften in Antonionis Filmen prinzipiell mit Gefühlszuständen in Zusammenhang bringen. Sie bilden in seinen Filmen sogar nicht nur innere Zustände ab, sie sind fast schon Voraussetzung für die Gefühle überhaupt. In „L’avventura“ ist es neben den ersten Schritten Annas vor allem die Kargheit der Insel, auf der sie verloren geht, die die Gefühlswelt der Protagonistin nicht nur beschreibt, sondern ihr Verschwinden wahrscheinlich erst provoziert. Es sind also der Film und seine Drehorte selbst, die Anna aus dem Material herausdividieren. Die Umgebung verweist hier von Anfang an auf ein Ende, eine Sackgasse.

In einem Dialog von „Professione: Reporter“ (IT 1975) lässt Antonioni seinen Protagonisten (Jack Nicholsen) sagen: „People disappear every day“. Bereits mit „L’avventura“ wird das Verschwinden zentrales Motiv im Werk Antonionis. Menschen gehen verloren, tauchen nicht mehr auf, und mit ihnen verschwinden auch die möglichen Enden der Filme. Am Schluss geschieht nichts mehr, die Narration scheint wie eingefroren. Weder wissen wir in „L’avventura“, was aus Anna geworden ist, noch erfahren wir, wie es mit Sandro und Claudia weitergeht. Es entsteht eine Lücke, die sich auch im Nachhinein nicht schließen lässt. Diese Lücke macht die erzählerische Provokation des Filmes aus. Es entsteht ein Zustand des „Nicht-Mehr“ (Sandro betrügt Claudia) und des „Noch-Nicht“ (denn wir wissen nicht, was aus den Figuren wird). Für den Zuschauer bedeutet dies zum einen, dass es an ihm ist den Faden weiterzuspinnen. Der Film verlängert sich selbst also in den Kopf des Betrachters hinein. Zum anderen veranschaulicht diese Setzung des Filmendes die Künstlichkeit filmischer Erzählung im Allgemeinen. Antonioni unterstreicht diesen Interpretationsansatz, indem er „L’avventura“ in der Morgendämmerung enden lässt, einem Zustand des Übergangs also, der für seine folgenden Filme zum typischen Merkmal wird.

Das Verschwinden ist in seiner Rätselhaftigkeit und Willkürlichkeit jedoch allem voran eine Metapher für das undefinierbare Ende einer Beziehung, das nie wirklich ein Ende bedeutet, immer aber den Anfang von etwas Neuem, in das das Vergangene seine Schatten wirft. Im Grunde genommen schauen wir in „L’avventura“ der Ambivalenz einer sterbenden Liebe beim Atmen zu. Mit 23 Jahren, als ich den Film zum ersten Mal sah, konnte ich all das nicht verstehen. Die schmerzvollen Blicke, die doch noch Küsse zuließen, die Anziehung, die die Abstoßung immer schon in sich trug. Heute, mit 37 Jahren, ist auch mir klar, was es bedeutet, wenn die Liebe dissonante Züge bekommt, wenn ein furchtloser Anfang und eine ratloses Ende sich treffen. Wenn sich plötzlich, weil im Sterben die Zeit unerbittlich komprimiert wird, Verlieben und Aufgeben direkt in die Augen sehen und nicht mehr verstehen können, was dazwischen alles geschehen ist. So wie Anna, kurz bevor sie verschwindet, um Sandros Verständnis bittet und sagt, dass sie ihn liebt und zugleich abstoßend findet. Und auch Claudia umtreibt diese Gefühle wenig später. Was übrig bleibt ist die Empfindung, dass das Ende niemals ein Ende ist, ein Abschluss immer auch Möglichkeiten impliziert, mit denen man zurechtkommen muss, sich richtig und falsch als eindeutige Kategorien nicht mehr auseinanderhalten lassen. Die Offenheit des Endes von „L’avventura“ transportiert diese ganze Unbegreiflichkeit und Überforderung des Scheiterns.

Und weil dieses Absterben in seiner unerhörten Länge von beinahe zweieinhalb Stunden nur schwer zu ertragen ist, schnitt der deutsche Gloria-Verleih 1960 satte dreiundvierzig Minuten aus dem Film heraus. Wenn es nicht so tragisch wäre, könnte man es fast schon als Geniestreich bezeichnen, einem Film über das Verschwinden auch noch ganze Szenen zu stehlen. Und wie schön wäre das, wenn man die eigenen Erinnerungen und die Gedanken an eine unmögliche Zukunft aus dem Bewusstsein herausschneiden könnte, weil sie irreparablen Schaden anrichten und einen Heilungsprozess, ein Loslassen nur unnötig erschweren. Aber andererseits würde man damit auch das Kunstwerk einer einmaligen Liebe zerstören.

Magische Momente 41

( , Regie: )

Toivon tuolla puolen (Die andere Seite der Hoffnung)
von Klaus Kreimeier

Am Anfang blicken wir in das geschwärzte Gesicht eines jungen Mannes, der sich an Bord eines Frachtschiffs aus einer Kohlenkiste herausarbeitet, dann unbeobachtet über Hafenanlagen und Brücken eilt, schließlich in …

Am Anfang blicken wir in das geschwärzte Gesicht eines jungen Mannes, der sich an Bord eines Frachtschiffs aus einer Kohlenkiste herausarbeitet, dann unbeobachtet über Hafenanlagen und Brücken eilt, schließlich in der Tiefe einer Stadt verschwindet. Zur selben Zeit packt ein älterer Mann seinen Koffer, legt Hausschlüssel und Ehering vor den Augen seiner Frau auf den Tisch und verlässt wortlos seine Wohnung. Ein Flüchtling kommt an, ein Bürger steigt aus, beide suchen ein neues Leben.

Beim Betrachten eines Kaurismäki-Films schiebt sich neben die Neugier auf die Geschichte, die der Regisseur uns erzählen will, fast unmerklich eine andere, wenn auch sehr ähnliche Aufmerksamkeit: ein von Bild zu Bild wachsendes Interesse für das, was er uns zu zeigen hat. Die Bilder selbst sind unspektakulär, von ruhiger Einfachheit. Aber sie sprechen mit einer beharrlichen Eindringlichkeit zu uns – so, als wolle Kaurismäki sagen: schaut mal her, so sieht das Stückchen Welt aus, das ich euch zeigen will. Guckt hin. So sieht es aus, wenn ein unfroher Mann in mittleren Jahren seine Frau verlässt. Oder: Hier seht ihr einen Flüchtling, er hat offenbar Strapazen hinter sich, nun kommt er in ein fremdes Land.

Sehr bald erhalten die handelnden Personen in „Toivon tuolla puolen“ (Die andere Seite der Hoffnung, Finnland/Deutschland 2017) einen Namen, wir erfahren einige Einzelheiten aus ihrem Leben und dürfen an ihrem Schicksal teilhaben. Was wir über den Flüchtling Khaled und den Geschäftsmann Wikström erfahren, sind Daten und Fakten, aus denen die Soziologen „Profile“ zusammenstellen würden, um am Ende eine „Typologie“ zu erhalten. Das ist ein didaktisches Verfahren, das sich auch in der Mediengeschichte bewährt hat. Ähnlich haben einst Moritatensänger auf den Dörfern mit ihren Bildtafeln und Versen von den Dingen der Welt, von Gut und Böse berichtet und ihr Publikum aufgefordert, genau hinzusehen und dabei die Moral nicht zu verpassen.

Erstaunlicherweise beschädigt dieser didaktische Blick den Film nicht, vielmehr gewährt er dem Zuschauer eine Distanz zum Gezeigten. Bei Kaurismäki wird wenig gesprochen. Die ruhigen, fast statischen Bilder erlauben uns, Anteil zu nehmen – aber auch über sie zu reflektieren, den sozialen Befund, die Sachlage „hinter den Bildern“ zu überprüfen. Etwas zeigen: Damit begann, vor allem Erzählen, die Geschichte des Kinos. Ohne den Impetus, etwas zu zeigen, kein Attraktionskino. Erstmals wurde unsere bewegte Welt in Bewegtbildern gezeigt: ebendies war um 1900 die große Attraktion. Kaurismäki hat zu Recht ein großes Vertrauen zu dieser ursprünglichen Kinomagie.

Er zeigt uns: Tableaus. Ein Restaurant, das unter dem Druck der Konkurrenz seine Kulissen und Angestellten immer wieder umbauen muss. Einen Straßenmusiker in Helsinki, der seiner Gitarre sehr wilde und sehr herzzerreißende Klänge entlockt. Die Gesichter von Gewinnern und Verlierern, wenn illegal gepokert wird. Und die Gesichter der Menschen, die sich in den Behörden mit dem Flüchtling Khaled befassen, ihn nach den Einzelheiten seiner Flucht aus Aleppo befragen, ihm seine Unterbringung zuweisen und am Ende seinen Asylantrag ablehnen. Kaurismäki denunziert nicht, er entlarvt nicht, und er kritisiert auch nicht, es geht ihm nicht um Psychologie, und die Frage „fiktional oder dokumentarisch“ zählt hier nicht. Kaurismäki zeigt etwas. Wir können die Gesichter betrachten, uns selbst dabei Fragen stellen und über das, was uns gezeigt wird, nachdenken. Der Film lässt uns die Zeit, die wir dafür brauchen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin.

Hier geht’s zu allen Magischen Momenten

Magische Momente 40

( , Regie: )

Fargo
von Klaus Kreimeier

Verschneite Landschaften verführen oft zu filmischer Schwelgerei, der Bergfilm ist dafür zuständig, auch der winterlich verträumte Heimatfilm. Vielleicht wurde „Fargo“ von Joel und Ethan Coen (USA/GB 1996) auch aus diesem …

Verschneite Landschaften verführen oft zu filmischer Schwelgerei, der Bergfilm ist dafür zuständig, auch der winterlich verträumte Heimatfilm. Vielleicht wurde „Fargo“ von Joel und Ethan Coen (USA/GB 1996) auch aus diesem Grund von manchen Kritikern ein Heimatfilm genannt. Doch die Schneefelder in Minnesota und North Dakota, wo die „snow exteriors“ gedreht wurden, sehen nicht so aus, als würde es hier jemals einen Sommer geben. Die Kamera von Roger Deakins legt sie wie ein Leichentuch über das flache Land und die trostlose Welt. Ein schauderhaft weißes Weiß, das nur gelegentlich ins Blaue-Graue spielt, reine Oberfläche, die sich bis zum Horizont erstreckt und unter der begraben sein mag, was die Menschen, die sich durch diesen Film arbeiten, peinigt, was sie verfolgt und ums Leben bringt. Gewiss, ein Heimatfilm: Schnee ist allgegenwärtig, und seine Kristalle haben sich bis in die Seelen gefressen.

Schon unter dem Vorspann geht die Reise in ein weißes Nirgendwo, dass die Augen schmerzen: Autos nähern sich sehr langsam von sehr fern, auf einer Piste, die mit den Feldern, mit dem grellen Himmel eins geworden ist. Sie werden schneller und größer und preschen, Eisstaub aufwirbelnd, an der Kamera vorbei, die Rauchfahnen ihrer Abgase mischen sich in Wolken aus Schnee. Andere Autos kurven über leere Parkplätze und schreiben dem endlosen Weiß kunstvolle Muster ein. Wieder andere sehen aus der Vogelperspektive wie zwischen funktionslose Pflanzenkübel hingewürfelte Spielzeuge auf einem Wachstuch aus. Der Autoverkäufer Jerry Lundegaard (William H. Macy) blickt so auf sie, er steht am Fenster seines Büros und kocht vor Wut. Dann geht er hinunter, steht vor seinem Wagen und schabt, nein: hackt mit aller Gewalt auf die eisstarrende Frontscheibe ein, hackt und hackt…

Schnee kann blind machen, das weiß man – aber er kann wohl auch verrückt machen, und vielleicht macht er Menschen zu Verbrechern, die gar keine Verbrecher sein wollen und es nur werden, weil sie in Schwierigkeiten geraten sind. Eigentlich wollte Jerry bloß mit einer clever eingefädelten Entführung seiner Ehefrau von seinem Schwiegervater ein Milliönchen erpressen, um seine finanziellen Probleme zu beheben. Doch, ist es nun der ewige Schnee oder sein ewiges Pech – er fällt in die Hände zweier Gangster, die auf der vereisten Autobahn erst einen Polizisten und dann zwei Unbeteiligte erschießen, um sodann, bei der Geldübergabe, den Schwiegervater und am Ende Jerrys Frau ins Jenseits zu befördern, bevor sie sich gegenseitig metzeln und die Ordnungsmacht obsiegt. Es tropft also viel Blut in den Schnee, und so manches scheitert an den Unbilden der Natur – ob nun einer der Gangster versucht, seine Beute unter der Schneedecke zu bergen, oder der andere sich abmüht, den Rumpf eines seiner Opfer in einer zugeschneiten Häckselmaschine zu schreddern. „Fargo“ ist, auf eine groteske und zwischen Grauen und grimmigem Humor artistisch ausbalancierte Weise, ein ziemlich ungemütlicher Film, so richtig warm wird einem nicht ums Herz.

Wäre da nicht Frances McDormand, die als hochschwangere Polizistin Marge Gunderson wacker durch die Schneemassen stapft, mit ihren großen Augen beinahe staunend die Leichen betrachtet und darob nicht nur ihren aufs Praktische gerichteten Verstand, sondern auch ihren detektivischen Spürsinn und die Übersicht über das mörderische Chaos behält. Noch das professionelle Misstrauen, das sie gegenüber den Schurken hegt, wurzelt in einer klugen und, alles in allem, menschenfreundlichen Sicht auf die heillose Welt. Sie hat Witz und ist, in jeder Hinsicht, wetterfest; auch der Schnee von North Dakota kann ihr nichts anhaben. Für all das erhielt Frances McDormand 1997 den Oscar als beste Hauptdarstellerin.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin.

Hier geht’s zu allen Magischen Momenten

Wir sind Juden aus Breslau

(D 2016, Regie: Karin Kaper, Dirk Szuszies)

Überlebende einer nicht vergehenden Geschichte
von Wolfgang Nierlin

Menschen und Gesichter, alt und voller Erfahrung: Stumm blicken sie uns an mit ihrem vom Leben gezeichneten Wissen, als wollten sie von uns, den Nachgeborenen, eine Antwort erhalten auf eine …

Menschen und Gesichter, alt und voller Erfahrung: Stumm blicken sie uns an mit ihrem vom Leben gezeichneten Wissen, als wollten sie von uns, den Nachgeborenen, eine Antwort erhalten auf eine nichtgestellte, aber schwelende Frage. Sie alle sind Juden und wurden Mitte der 1920er Jahre in Breslau geboren, als die Stadt noch deutsch war. Sie heißen Stern und Adler, Lewy und Lasker, Rosenberg und Rotenberg und gehören zu einer Generation, die durch Verfolgung, Krieg und Holocaust vertrieben wurde. Jetzt sind sie Zeugen einer nicht vergehenden Geschichte und blicken mit ihren Erinnerungen für uns zurück. Sie sind aber auch Vergessene im traurigen Niemandsland zwischen polnischem Gedenken und deutscher „Vergangenheitsbewältigung“. Mit ihrem Film „Wir sind Juden aus Breslau“ setzen ihnen Karin Kaper und Dirk Szuszies jetzt ein Denkmal, das jenseits einer unmöglichen „Wiedergutmachung“ verloren Geglaubtes ins Bewusstsein rückt, die Erinnerung wach hält und für Gefährdungen sensibilisiert.

Vor dem Krieg, so heißt es, war Breslau sechshundert Jahre lang eine deutsche Stadt, in der Mitte der 1930er Jahre etwa 20.000 Juden lebten und eine der größten jüdischen Gemeinden des Landes bildeten. Eine deutsch-polnische Schülergruppe, angeführt und begleitet von Zeitzeugen, besucht die damaligen Schauplätze, Orte der Geschichte, im heutigen, modernen Wrocław: Die Judengasse, die heute Universitätsstraße heißt, den alten jüdischen Friedhof, eine renovierte Synagoge, aber auch den berüchtigten „Umschlagplatz“, von wo aus die Juden deportiert wurden. Bevor die Novemberpogrome von 1938 alles änderten, war das jüdische Leben in Breslau, so erfahren wir, liberal und vielgestaltig, vor allem aber eng verflochten mit der deutschen Kultur und Geschichte.

Noch einmal sehen wir im Wechsel die Gesichter der insgesamt vierzehn Zeitzeugen. Doch dieses Mal sind sie nicht stumm, sondern erzählen aus dem Off ihre unterschiedlichen Geschichten vom Überleben, von Flucht und Exil, von Tod und den Traumata, die auf ihren zerstörten Familien lasten. Die zeitweise Trennung von Wort und Bild in der Montage wirkt dabei wie eine Entlastung für die Opfer. Desweiteren illustrieren und ergänzen Karin Kaper und Dirk Szuszies diese Erzählungen mit historischem Bildmaterial, das sowohl die Schrecken des Krieges als auch die gleichermaßen von Hoffnung und Angst gekennzeichneten Aufbrüche in ein neues, noch ungewisses Leben in den USA, in Palästina und in Frankreich dokumentieren. „Schwimmen oder Untergehen“, habe die Devise dieser bemerkenswert starken Persönlichkeiten gelautet, die es trotz allem in ein gutes Leben geschafft haben.

Auch wenn gegenwärtig in Wrocław eine neue jüdische Gemeinde entsteht, zeigt doch zugleich ein erstarkender (polnischer) Nationalismus, dass „gegenseitige Achtung“ längst nicht selbstverständlich ist. Und das weiterhin jenes Wort des italienischen Schriftstellers und Auschwitz-Überlebenden Primo Levi gilt, das, entnommen seinem letzten Buch „Die Untergegangenen und die Geretteten“, in der Gedenkstätte für die ermordeten Juden Europas in Berlin zu lesen ist und das auch als Motto über diesem Film stehen könnte: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“

Blade Runner 2049

(USA/GB/CDN 2017, Regie: Denis Villeneuve)

„Is it real?“ – „Ask him.“
von Lukas Schmutzer

Aus der Romantik – einer Strömung, die der erste „Blade Runner“ nicht aufhört, zu zitieren – leitet Walter Benjamin ein Verständnis von Kunstkritik ab, welches nicht auf Beurteilung eines Werkes, …

Aus der Romantik – einer Strömung, die der erste „Blade Runner“ nicht aufhört, zu zitieren – leitet Walter Benjamin ein Verständnis von Kunstkritik ab, welches nicht auf Beurteilung eines Werkes, sondern auf dessen Verhältnis zur Gesamtheit der Kunst abzielt. Nun, mir ist Walter Benjamin nicht immer geheuer, doch habe ich mit diesem Verständnis immer zu schreiben versucht, weil ich mir darin ein ungeheures Potential erhofft habe, mit den Ungeheuern, welche uns die Kunst erschaffen hat, in einen Dialog zu treten. Was die folgende Kritik zu „Blade Runner 2049“ betrifft, so werde ich etwas zurückhaltender vorgehen und diesen vor allem im Verhältnis zu seinem Vorgänger betrachten, um darin jenes Allgemeinere zu umkreisen, das sich Benjamin von solcher Kritik erhofft. Das Interessante am Verhältnis der beiden Filme liegt darin, dass der neue „Blade Runner“ weniger Fortsetzung ist, sondern mit seinem Vorgänger umgeht wie mit einem Zeugen in einem Kriminalfall, der immer wieder befragt wird. Es sind nicht konkrete Handlungsstränge, welche die Filme zusammenhalten, sondern viel mehr Formen des Dialogs, in denen eine fiktive Vergangenheit rekonstruiert wird.

Von den Spannungsbögen des Films wird hier nicht wesentlich mehr gespoilert, als es die Trailer bereits getan haben, wenn ein kurzer Wortwechsel zwischen den Figuren Goslings und Fords zitiert wird: „Is it real?“ erkundigt sich der Blade Runner K. nach dem Hund von Rick Deckard, der wie alle Tiere in der von Philip K. Dick erdachten Zukunft unter Künstlichkeitsverdacht steht. Worauf Deckard erwidert: „Ask him.“ Dieser Dialog lässt sich als eine Binnenerzählung verstehen, in welcher sich der Grundkonflikt spiegelt, aus dem der Film gebaut ist. Es handelt sich bei dem Wortwechsel um ein Zitat einer in „Blade Runner 2049“ vielfach aufgerufenen Szene des ersten Films, dort mit einer Eule statt einem Hund als Referenz: „Is it artificial?“ fragt Deckard und Rachel antwortet: „Of course it is.“ Schon hier werden die Worte zum Spiegelkabinett: Replikantenjäger und Replikantin sprechen über die Künstlichkeit eines Tieres, wobei die Replikantin noch nicht weiß, dass sie eine ist; und je nach Schnittfassung gilt für den Replikantenjäger dasselbe. Geschichte und Interpretationen der Einhornszene (ein Einhorn ist eigentlich ungeheuerlich künstlich, oder?) sind im Vorfeld von „Blade Runner 2049“ wieder diskutiert worden; man erwartete vom neuen Film eine Art Stellungnahme zu der Problematik.

Es waren die verschiedenen Cuts, die die Unsicherheiten über den Status Rick Deckards getragen haben (in der Kritik hat man auf die Ironie hingewiesen, dass ein Film, der über die Manipulation von Erinnerungen handelt, selbst fortwährend manipuliert wird). Wird die Frage – echt oder nicht? – also im Schneideraum beantwortet? Entstanden ist sie jedenfalls schon früher im Produktionsprozess. Wir kennen die Erzählung vom Streit zwischen Harrison Ford und Ridley Scott am Set des ersten Teils über die Frage, ob Rick Deckard selbst das sei, was er jage; doch dies ist nur eine Seite des Komplexes.

Im Äquivalent der aufgerufenen Szene in Philip K. Dicks Romanvorlage – Do Androids Dream of Electric Sheep? – insistiert Rachel auf die Echtheit der Eule, was ihr Deckard nicht glauben will, weil er Eulen ausgestorben zu wissen meint. Dies hat Hampton Fancher im Drehbuch des ersten „Blade Runner“ übernommen und die Szene wurde für den Film entsprechend mit der Dialogzeile „Of course not“ gedreht – und erst im Nachhinein nachsynchronisiert, um dem Zuschauer die Kunstfertigkeit der Replikantenmacher zu demonstrieren anstatt Tyrells Sammlerpassion (nachzulesen bei Paul M. Sammon, „Future Noir“). Wir hören also „of course it is“, während Rachels Lippen „of course not“ sagen – wobei dies, wie ich vermute, im Final Cut korrigiert worden ist. Was in „Blade Runner“ real ist und was künstlich, stand schon in dessen Produktion immer zur Debatte und wurde fortwährend angeglichen.

Davon ausgehend hat Hampton Fancher ein Drehbuch für den Nachfolger geschrieben, das die Frage der Künstlichkeit als eine offene begreift und mit ihr in einem ersten Filmteil wie in einer kriminologischen Untersuchung verfährt – und dann, darauf aufbauend, uns in einem zweiten Teil von einem Real-werden erzählt, welches nicht durch einen festgestellten Status erlangt wird, sondern durch die individuelle Positionierung zu der Frage und die schließliche Emanzipation von ihr. Diese Makrostruktur spiegelt sich im zitierten Wortwechsel (die Narratologie spricht von „mise en abyme“): „Ask him“ ist natürlich der Witz eines alten Grantlers, weil der Hund nicht Stellung nehmen wird; doch ist es ein Witz mit Beziehung zum Unbewussten des Films: Er wendet das Gespräch von dem durch die Echtheitsfrage im Raum stehenden Gerichtsurteil über den Status eines Dritten ab, indem er auffordert, diesen Dritten selbst anzurufen.

Denis Villeneuve und Roger Deakins setzen diese Erzählung im wörtlichen Sinne in vielschichtige Bilder, insofern sie eine Szene des ersten Teils, in der ein Foto seziert wird (ihrerseits ein Zitat aus Antonionis „Blow Up“), in den Exzess treiben: Überall finden wir in „Blade Runner 2049“ Bild in Bild in Bild, von den kriminologischen Analyseinstrumenten bis zu einem erotischen Intermezzo, welches wir in Spike Jonzes „Her“ schon gehört, aber noch nicht gesehen haben. Diese zahlreichen visuellen Ebenen in der Bildsprache des Films provozieren unter anderem Fragen nach ihrer Künstlichkeit – als Handlungsträger bewegen sie sich aber in einem anderen Register: Der Film lenkt unseren Blick weg von der Frage, ob jemand besonders ist, zu der Frage, wie es sein Handeln beeinflusst hat, als ihm gesagt wurde, er sei besonders. Denn aus den verschiedenen Interessen seiner Figuren entwirft er eine Maschinerie aus Manipulation, in die er seine Hauptfigur K. wirft. In einem ersten Teil (der in Grundzügen an den König Ödipus erinnert) beginnt K. diese Maschinerie zu erforschen; in einem zweiten Teil, mit dem ich so nicht gerechnet hätte, findet er allmählich zu seiner politischen Rolle in ihr (diese Gliederung, die den Film vor und nach unsere Begegnung mit einer Erinnerungskonstrukteurin aufteilt, ist als Vorschlag zu verstehen). Dabei ist zu betonen, dass der Film zwar ein komplexes politisches Gefüge entwirft, in seiner narrativen Gestalt aber sich ganz und gar dem Weg des einzelnen Individuums verschreibt – auch wenn er große Revolutionen andeutet, interessiert ihn eigentlich die Emanzipation seiner Hauptfigur. Problematisch wird dies gegen Ende, wo etwas als Parallelstellung zum ersten Teil inszeniert wird, in einem wesentlichen Aspekt aber einen Gegensatz darstellt: Wo Roy Batty als Replikant, dessen Zeit abgelaufen ist, gegen den Skandal seines Endes wütet – sehen wir im Nachfolger eine Art Märtyrer in Akzeptanz seines Todes.

Der Score von Hans Zimmer und Benjamin Wallfisch will nichts als die Wirkung und schlägt immer dort, wo auch die Bilder schlagen sollen; damit hat er seine Momente besonders während der Landschafts- und Städteaufnahmen; und jagt im Showdown Gänsehaut über den Rücken. Zuvor hatte Jóhann Jóhannsson am Score gearbeitet und wurde fallen gelassen, weil er sich scheinbar von Vangelis zu weit entfernt hatte – sein Beitrag wäre vielleicht mutiger und ästhetisch interessanter gewesen.

Wie die Musik sind die Bildkompositionen überwältigend und zugleich detailreich; anders als die Musik entwickeln sie gemeinsam mit dem Drehbuch eine Sprache, die, wie ich versucht habe zu skizzieren, über die Überwältigung hinausreicht; und ich habe mich angesichts der Langsamkeit des nie langweiligen Films gefragt, ob ein Film dort, wo er erzählt, eigentlich nicht immersiv ist und nicht spektakulär. Es würde zahlreiche enttäuschte und erboste Besucherstimmen erklären, von denen ich in den social media gelesen habe und die etwas anderes erwartet zu haben scheinen.

Hier und hier finden sich weitere Kritiken zu „Blade Runner 2049“.

FÜNFTAUSEND KILOMETER IN DER SEKUNDE

( , Regie: )

Wirklich folgenschwere Entscheidungen
von Sven Jachmann

Dass die Menschen im Klammergriff von Flexibilisierung und Mobilität auch in ihrer Konstellation als Liebespaare jederzeit von der Entfremdung eingeholt zu werden drohen, mag kein besonders origineller Befund mehr sein. …

Dass die Menschen im Klammergriff von Flexibilisierung und Mobilität auch in ihrer Konstellation als Liebespaare jederzeit von der Entfremdung eingeholt zu werden drohen, mag kein besonders origineller Befund mehr sein. Trotzdem begibt sich der italienische und nach Zwischenstationen in Berlin und Norwegen nun in Paris lebende Comiczeichner Manuele Fior in seiner vierten Buchveröffentlichung an die Chronik einer Beziehung und mit ihr an all die äußeren wie inneren Hürden, die das Versprechen auf Glück zur ungewollten Tortur derangieren.

Zwar spielt das Thema Liebe in sämtlichen Werken Fiors eine gewisse Rolle, in der 2011 beim Comicfestival von Angoulême mit dem Preis für das beste Album ausgezeichneten Graphic Novel „Fünftausend Kilometer in der Sekunde“ jedoch wächst es zum strukturierenden Element. Viel Gutes weiß Fior der Liebe nicht zu bescheinigen. Bereits der Titel spricht von der Distanz, die die beiden Hauptfiguren Lucia und Piero räumlich trennt und von ihnen auch nicht mental überwunden werden kann. Fünftausend Kilometer liegen zwischen Oslo, wo Lucia ein Auslandssemester antritt, und Kairo, dem Ort von Pieros neuem Arbeitsplatz als assistierender Archäologe. Fünftausend Kilometer und eine Sekunde Zeitverzögerung, die beim behutsamen Telefongespräch ihre Trennung auch zeitlich zementiert. Zu diesem Zeitpunkt sind die zwei bereits kein Paar mehr, aber zumindest Pieros erotische Fieberträume zeugen von immensen Qualen, die sich kaum verarbeiten lassen.

Der narrative Clou besteht nun darin, dass Fior all jene bereits tausendfach kolportierten Elemente, die das Idyll und die Intensität einer jungen Liebe besingen, ausspart. Stattdessen werden in sechs Kapiteln und einem kurzen Epilog die Nachwehen arrangiert, Situationen, denen folgenschwere Entscheidungen vorausgingen, sodass die Liebe selbst zur Leerstelle gerät, die schmerzhafte Konsequenzen erzeugt. Dabei beginnt alles so leichtfüßig wie im französischen Kino: In grün-gelben Wasserfarben und schwüler Atmosphäre beobachtet der schüchterne Piero zusammen mit seinem ruppigen Freund Nicola die neuen Mieter beim Einzug ins Nachbarhaus gegenüber. Aus Langeweile wird Interesse, als sie unter den Neuankömmlingen Lucia erspähen.

Nur wenige Tage und ein paar aufmunternde Jungsgespräche später jubelt Piero auf dem Mofa seinem ersten Date entgegen. Es folgt jedoch kein adoleszenter Liebestaumel, sondern jäh die Trennung. Im anschließenden Kapitel erreicht Lucia ein paar Jahre später ihre norwegische Gastfamilie, verliebt sich in den Mitbewohner Sven, nutzt die neue Umgebung, um sich von der mittlerweile zermürbenden Liaison mit Piero zu befreien. In wechselnder Chronologie, die immer ein paar Jahre ausspart, geht es weiter: Piero kommt in Kairo an und erfährt dort unmittelbar, dass seine neue Freundin schwanger ist. In Oslo wiederum verkracht sich Lucia, die mittlerweile ebenfalls ein Kind erwartet, mit Sven und plant dann ihre Rückkehr nach Italien.

Die die Gefühle der Figuren duplizierenden Farben, die jedem Kapitel eine strenge Signatur verleihen, ersetzen dabei überflüssige Worte. Sie werden zum Platzhalter des in der Erzählung behaupteten, jedoch nie gezeigten Glücks. Nach einem besonders radikalen Zeitsprung, wenn mindestens ein Jahrzehnt verstrichen und das nächtliche Szenario vollends in ein dunkles, verwaschenes Lila getränkt ist, treffen sich Lucia und Piero in einer Pizzeria ihrer alten Heimatstadt wieder: älter, reflektierter, korpulenter, resignierter, aber immer noch von einer gegenseitigen Faszination beflügelt.

Es ist ein bedrückendes, emotionales Niemandsland, in das Fior die zwei sehnsüchtig Darbenden, die sich nur noch verstohlen in Worten nahe sein können, entlässt. Ein kurzer trauriger Augenblick, in dem die beiden auf der Kundentoilette jede Selbstkontrolle fahren lassen, führt ihnen schließlich vor Augen, dass sich die Unschuld aus vergangenen Zeiten nie wiederherstellen lässt. Und es bleibt ununterscheidbar, was eigentlich für dieses Dilemma verantwortlich ist: Eine freie Entscheidung aus der Vergangenheit oder ein Rationalitätsprinzip, das sich als Druck der Verhältnisse zwischen die Liebenden zwängt und ihnen eine unumkehrbare Wahl zwischen Beruf oder Beziehung abverlangt.

Dieser Text erschien zuerst in der taz.

Manuele Fior: „Fünftausend Kilometer in der Sekunde“.
Aus dem Italienischen von Maya della Pietra. Avant Verlag, Berlin 2011. 144 Seiten. 19,95 Euro

Gespräche mit einem Toten: Jean-Claude Carrières Buch „Buñuels Erwachen“

( , Regie: )

Prophet der Leere
von Wolfgang Nierlin

Mit dem Bedauern, nicht mehr zu erfahren, wie es nach seinem Tod weitergehen wird mit „einer ständig sich verändernden Welt“, beendete im Jahre 1980 der große spanische Filmregisseur Luis Buñuel …

Mit dem Bedauern, nicht mehr zu erfahren, wie es nach seinem Tod weitergehen wird mit „einer ständig sich verändernden Welt“, beendete im Jahre 1980 der große spanische Filmregisseur Luis Buñuel seine wunderbar eindrückliche Autobiographie „Mein letzter Seufzer“. Geschrieben hatte der damals Achtzigjährige diese zusammen mit seinem langjährigen Drehbuchautor Jean-Claude Carrière auf der Grundlage ausführlicher Gespräche. Dreißig Jahre später führt nun der ebenso viele Jahre jüngere französische Schriftsteller (Jahrgang 1931) in seinem Erinnerungsbuch „Buñuels Erwachen“ („Le réveil de Buñuel, 2011) diese Konversation fort, um die Neugier des 1983 verstorbenen Surrealisten zu stillen.

Dessen Liebe zum Irrationalen erwidernd, bedient sich Carrière dafür einer ebenso traditionsreichen wie phantasievollen Literaturgattung: Dem sogenannten Totengespräch, in dem sich Erinnerung und Imagination, persönliches Zeugnis und Erfindung unablässig mischen. Die Wehmut über den verlorenen Freund und lebensentscheidenden Arbeitspartner, der Wunsch, Erlebtes zu bewahren und den Tod im Schreiben auf Distanz zu halten, finden darin einen Resonanzraum. Vor allem aber beglaubigt und erweitert Carrières geistreiches Buch noch einmal das lebendige Portrait Buñuels.

Für die gemeinsame Arbeit an der „endgültigen Fassung“ dieser Biographie inszeniert Carrière eine unmögliche Begegnung: Er schleicht sich an einem Frühlingsabend heimlich in Buñuels Gruft auf dem Pariser Friedhof Montparnasse; er öffnet den Sarg und trifft seinen Freund in einem merkwürdigen Zwischenzustand „nicht mehr am Leben, aber auch nicht ganz tot“. Auf dieses erste „Erwachen“ Buñuels folgen weitere „kleine Séancen“, in denen sich die beiden altersweisen Künstler illusionslos und fast schon mit einer Stimme über die politischen Zeitläufte der vergangenen Jahre, über Kriege und die menschliche Lust an der Zerstörung, über Fortschritt und Technik, Wissenschaft und Kunst, Religion, Glaube und Atheismus austauschen. Angesichts der ungebremsten Ausbeutung und Zerstörung der Erde wird der respektlose Skeptiker und lustvolle Kulturkritiker Buñuel, der immer wieder gegen den Lärm der Wirklichkeit opponiert und das Unerklärliche dem Verstehen vorzieht, eher unfreiwillig zum „Propheten der Leere“, der „das Ende von allem“ verkündet.

Jean-Claude Carrière, selbst ein brillanter Denker und Erzähler, mischt Buñuels pessimistische Weltsicht und spöttisch formulierten Einsichten mit feinem, (selbst)ironischem Humor und einem „apokalyptischen“ Lachen. Dabei verbindet er die oft katastrophischen Tagesaktualitäten immer wieder mit Ausflügen in die (gemeinsame) Vergangenheit, die 1963 mit „Tagebuch einer Kammerzofe“ beginnt und sechs Filme umfasst. Noch einmal berichtet er von Luis Buñuels Begegnungen mit Freunden und künstlerischen Weggefährten, von ihrer gemeinsamen Arbeit beim Drehbuchschreiben in ritualisierten „Improvisationssitzungen“, von Buñuels Lust am Schabernack und der Täuschung, seiner „Leidenschaft fürs Träumen“, seiner „sporadischen Sehnsucht nach Wildheit“, seinem antibürgerlichen Wesen und seiner Distanz zum eigenen Werk.

Über all diesen Themen und Anekdoten kreist Carrières Alterswerk aber vor allem und immer wieder um die Frage nach dem Tod, die ihre Spannung gerade aus der Dialektik der fiktiven beziehungsweise unwirklichen Begegnung bezieht. In einer doppelbödigen Selbsttäuschung huldigt der Schriftsteller der Illusion der Literatur sowie dem Tod als zwar unergründlichem, aber nichtsdestotrotz wirklichem Sinnstifter des Lebens. Und so lässt er seinen verstorbenen Freund schließlich resümieren, was er vermutlich selbst denkt: „Es ist der Tod, dem wir alles verdanken. Alles, was wir sind, alles, was wir getan, begehrt, geliebt, kennengelernt, erlebt haben. Unser ganzes Leben. Alles. (…) Denn wir können uns nicht als unwandelbar Lebende vorstellen.“

Jean-Claude Carrière: „Buñuels Erwachen“.
Aus dem Französischen von Uta Orluc unter Mitwirkung von Heribert Becker. Alexander Verlag, Berlin 2017. 296 Seiten. 22,90 Euro

Die Misandristinnen

(D 2017, Regie: Bruce LaBruce)

Cullinan in Ger(wo)many
von Marit Hofmann

„Hättest du mich nicht auch gleich kastrieren können bei der Amputation?“, wütet Clint Eastwood in Don Siegels „The Beguiled“ (1971). Als verwundeten Soldaten hat ihn 1864 ein Mädchenpensionat aufgenommen. Angeblich, …

„Hättest du mich nicht auch gleich kastrieren können bei der Amputation?“, wütet Clint Eastwood in Don Siegels „The Beguiled“ (1971). Als verwundeten Soldaten hat ihn 1864 ein Mädchenpensionat aufgenommen. Angeblich, um ihn zu retten, nimmt ihm die Leiterin das Bein ab, vielleicht aber auch, um ihn zu bestrafen, weil er andere Damen vorzog.

Sofia Coppola präsentierte jüngst eine neue Version dieser Verfilmung von Thomas P. Cullinans Roman A Painted Devil – nicht aus der Machosicht des Soldaten, sondern aus der Perspektive der von unerfüllten Träumen geplagten Frauen. Doch gegen das nun von Bruce LaBruce vorgelegte neuerliche Remake kommen ihre „Verführten“ reichlich bieder daher.

Bei ihm ist der 1999 in „Ger(wo)many“ aufgelesene verletzte Partisan Volker alles andere als eine Bedrohung. Ihn entdeckt auch kein naives kleines Mädchen, sondern Mitglieder der als Klosterschule getarnten Feminist Liberation Army (FLA) verstecken ihn als halbe Leiche im Keller. Männer sind nämlich kein Umgang für Revolutionärinnen, die das Patriarchat stürzen wollen.

Unterm Regiment der Big Mother pauken die Terroristinnen in sexy Schuluniformen Herstory und Parthogenese und halten sich fit für die Attacke. Abweichlerinnen, die sich bei der lesbischen Liebe zurückhalten, haben einen schweren Stand. Auch Volker, der meint, dass Frauenbefreiung von der Revolution ablenke, muss noch viel lernen. Queercore-Begründer LaBruce nimmt die Kastrationsandeutung der Vorlage genüsslich auf.

Abgesehen von einigen Längen ist diese „Feier auf die Ideale des Feminismus“, die gleichzeitig „Satire und Kritik an der radikalen Linken und den Feministinnen der zweiten Welle“ sein will (man könnte auch an Intoleranz in der Queerszene denken), ein lustvoller Spaß, solange man die Vorlage mitdenkt. Die agierenden Stars aus dem queerem Underground (darunter Women of Color, während Coppola die schwarze Sklavin aus dem Buch unterschlägt) erlauben sich anarchische Slapstick-Einlagen und befreiende Kissenschlachten in Traumästhetik.

Der Kritiker frauenfeindlicher Tendenzen in der Schwulenbewegung lässt die zur Herstellung lesbischer Pornos abkommandierten Soldatinnen schwule Vorlagen sowie seine eigene Meinhof-Hommage „Ulrike’s Brain“ als „womanual“ schauen – und ermächtigt die Rezipientinnen so, sich selbst durch eigene „Pornutopia“ zu befreien. Der Pornodreh entblättert alle Geheimnisse. Und Männer, nehmt euch in acht: Am Ende stürmt die FLA den Kinosaal.

Die Misandristinnen schlagen die Maskulisten, die Jan Henrik Stahlberg in seinem etwas zu verkrampft auf Tabubruch zielenden „Fikkefuchs“ (ab 16. November im Kino) vorführt, um Längen. Ehre sei der Mutter und der Tochter und der heiligen Möse.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

Magische Momente 39

( , Regie: )

Down by Law
von Klaus Kreimeier

Und dann, es ist unfasslich, steht da mitten im Mangrovengeschlinge, umgeben von brackigen Wassern, umwimmelt von Schlangen, Amphibiengezücht, von stechenden Mücken und roten Ameisen, roh auf ein paar Pfähle gesetzt, …

Und dann, es ist unfasslich, steht da mitten im Mangrovengeschlinge, umgeben von brackigen Wassern, umwimmelt von Schlangen, Amphibiengezücht, von stechenden Mücken und roten Ameisen, roh auf ein paar Pfähle gesetzt, aus Brettern zusammengehauen: ein Haus. Ein Haus? Na ja, ein Holzverschlag, mit einer Veranda davor, denn selbst in den Fiebersümpfen von Lousiana wäre ein Anwesen ohne Veranda, wie marode auch immer, ein Ding der Unmöglichkeit.

Für das Trio kleinkrimineller, unschuldig in die Mühlen der Justiz geratener Drop-outs ist die Holzkiste, für eine Nacht jedenfalls, ein Palast. Da ist der mangels Brutalität und Skrupellosigkeit gescheiterte Zuhälter Jack (John Lurie), Jim Jarmuschs Komponist und Darsteller seit „Permanent Vacation“, seinem ersten Film (1982). Da ist Tom Waits, der als arbeitsloser Radio-DJ Zack mit seinen mal hemmungslos zerkrächzten, mal dunkel brütenden Songs („Jockey Full of Bourbon“, „Tango Till They’re Sore“) durch Jarmuschs Südstaaten-Hölle rumpelt. Und schließlich der dritte im Bunde: Roberto Benigni, der die beiden anderen mit seiner explosiven Menschenliebe entwaffnet und das übergeschnappte, todesmutig wortwitzdrechselnde Dauergeplapper eines havarierten italienischen Touristen ungefiltert in die Story kippt.

„Down by Law“ (Jim Jarmusch, USA 1986) ist, nimmt man nur den Plot, ein kapitales Ausbrecher-Drama, das seine Protagonisten Hals über Kopf aus einer Gefängniszelle in New Orleans ins breiig-schwüle Jammertal des Mississippi-Deltas katapultiert. Drei verkrachte Haudegen, dazu der singuläre Jarmusch-Soundtrack und Robby Müllers streckenweise bis zum Exzess verlangsamte Schwarzweiß-Kamera ‒ es ist schon eine ziemlich tolle Mixtur, die „Down by Law“ zu einem Kultfilm der Achtziger gemacht hat.

Das Haus also. Und morgen hauen wir ab mit dem Boot, meint Jack. Aber wohin? Überall Moskitos, und wo keine Moskitos sind, ist Wüste, ist der Durst, sind die Verfolger, ist das Gekläff ihrer Bluthunde, Polizeihunde, Gefängnishunde, mal näher, mal ferner: das Gekläff der Zivilisation. Immerhin: ein Haus, drei Pritschen für eine Nacht, und Roberto Benigni stammelt mit ungebremstem Enthusiasmus Walt Whitman auf Italienisch, deklamiert Gedichte von Robert Frost. Zack lallt heiser, hechelt, schon halb schlafend: Yeah, Bob Frost… Ganz plötzlich geht es um amerikanische Literatur. Und Jack träumt vielleicht seinen Traum, den er Nacht für Nacht als Häftling träumte: vier schöne nackte Mädchen in einem weißen Cadillac, die ihn vor dem Gefängnistor erwarten.

Und ganz am Ende, an einem Kreuzweg, steht da wirklich ein richtiges Haus ‒ vier Wände, Tür und Fenster, eine Treppe, eine Veranda, darüber ein Schild: „Luigi’s Tintop“. Die Zikaden zirpen, die Nacht ist friedlich, als wäre sie aus Samt, und das Haus ist eine Insel aus Licht ‒ so adrett, einladend, und freundlich wie ein hingehauchter Wunsch, der obendrein noch in Erfüllung geht, denn im Haus lebt die bildhübsche Italienerin Nicoletta (Nicoletta Braschi), und in ihren Armen findet, wie sollte es anders sein, der besessene Menschenfreund Roberto sein Glück.

In der letzten Einstellung, wieder gabeln und trennen sich die Wege, nehmen Zack und Jack voneinander Abschied. Die allerletzte schreibt das Leben und ist bei Wikipedia nachzulesen: „Benigni and Nicoletta Braschi, whose characters fall in love in the movie, later got married in real life.“

Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin.

Hier geht’s zu allen Magischen Momenten

Magische Momente 38

( , Regie: )

Ma l’amor mio non muore (Aber meine Liebe stirbt nicht)
von Klaus Kreimeier

Auf der Bühne ist die Sängerin noch dabei, ihre Arie zu beenden, während sich in ihrer Garderobe schon die Bukette türmen. Dann aber wird in den Flügeln des großen Toilettenspiegels …

Auf der Bühne ist die Sängerin noch dabei, ihre Arie zu beenden, während sich in ihrer Garderobe schon die Bukette türmen. Dann aber wird in den Flügeln des großen Toilettenspiegels gleich dreifach ihr Abbild zu sehen sein, vielmehr: ihr Rücken mit wallendem Haar, umringt von einer Schar exaltierter junger Herren in Frack oder Smoking. Und schon taucht wie eine Fata morgana, transparent gewandet, die Göttin sebst in den Raum, erwehrt sich lächelnd, mit den Armen wedelnd der aufdringlichen Verehrer, die der Impresario mit Mühe zur Tür hinaus schiebt. Nun steht sie vor dem Spiegel, genießt die dreifachen Reflexe ihrer nackten Arme, ihrer Haare, der Blumenpracht, des ganzen kostbar-schwülen Jugendstildekors: Lyda Borelli, der erste große weibliche Star der Filmgeschichte als Operndiva Elsa Holbein – auch sie selbst ein Abbild des Abbilds, Spiegelbild der verspiegelten italienischen Opernwelt im späten 19. Jahrhundert.

Dass Mario Caserinis großartige Tragödie „Ma l’amor mio non muore“ (Aber meine Liebe stirbt nicht, 1913), eines der ersten „abendfüllenden“ Kinodramen Italiens, in einer für den Stummfilm seltenen technischen Qualität erhalten ist, haben wir der Restauration durch das Labor „L’immagine Ritrovata“ in Bologna zu danken – und dem glücklichen Umstand, dass die „Fondazione Cineteca Italiana“ in Mailand das Kameranegativ konservatorisch gehütet und für die Digitalisierung des Films zur Verfügung gestellt hat.

In seiner Handlung, den Figuren, der extremen Verlangsamung seiner Aktionen ist Caserinis Werk noch der ästhetischen Welt der Oper verhaftet und im Dekor, in den mediterranen Außensets dem Prunk der Belle Epoque. Zugleich blitzen Qualitäten der filmischen Inszenierung auf, die erst Jahrzehnte später ihre gebührende Aufmerksamkeit finden werden. In den vierziger Jahren wird André Bazin auf die Bedeutung der mise en scène in Filmen wie „Citizen Kane“ von Orson Welles (USA 1940) aufmerksam machen. Mit ihr bestimmt nicht die Montage, sondern die innerhalb einer Kameraeinstellung realisierte Inszenierung die Repräsentation. In Caserinis Film bestechen das Raumvolumen, die Ausleuchtung, die Bewegungen der Akteure und die enorme Schärfentiefe des Bildes – jener deep focus, der die vertikale Tiefe des Raums hervorhebt und in eine Beziehung zum szenischen Geschehen im Vordergrund setzt. In langen Einstellungen werden die Distanzen zwischen den Handelnden, ihre Gänge und selbst ihre einzelnen Schritte mit seltener Intensität aufgeladen, die fotografische Qualität triumphiert über alles Opernhafte und entrückt das Bild in den Traum.

Elsas Liebe ist gescheitert, sie kehrt gebrochenen Herzens in die Welt des Theaters zurück. Das Bild zeigt einen südlichen Park, der hinter einer Mauer ans Meer grenzt, eine Bucht, im Hintergrund Berge. Die Kamera blickt von oben auf einen Weg, der in Windungen abwärts führt. Ganz unten, neben der Mauer, taucht Elsas winzige Gestalt auf. Ganz oben am Ende einer Treppe, fast neben der Kamera stehend, erwartet sie ihr Impresario. Elsa schleppt sich sehr langsam, den Kopf gesenkt, den Weg hinauf, verharrt mehrmals, erreicht die unterste Stufe der Treppe, lehnt sich gegen die Balustrade, blickt zurück. Jetzt sieht sie der Impresario, läuft die Treppe hinab und ihr entgegen. Er ergreift ihren Arm, sie scheint sich zu sträuben, dann geht sie wankend neben ihm weiter die Treppe hinauf. In der nächsten Einstellung hat die Kamera ihre Position gewechselt, schwenkt weiträumig über marmorne Säulen und Balustraden; beide Figuren sind jetzt klein und fern im Hintergrund zu sehen, nähern sich schnell und treten, bevor sie den Standpunkt der Kamera erreichen, nach links aus dem Bild.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin.

Hier geht’s zu allen Magischen Momenten

Lady Macbeth

(GB 2016, Regie: William Oldroyd)

Die Ordnung der Gefangenschaft
von Wolfgang Nierlin

Die ersten Bilder sind ganz auf die Heldin des Films, eine schöne junge Frau konzentriert. Sie lösen Katherine (Florence Pugh) zunächst aus dem umgebenden Raum, umschließen ihr Gesicht mit einem …

Die ersten Bilder sind ganz auf die Heldin des Films, eine schöne junge Frau konzentriert. Sie lösen Katherine (Florence Pugh) zunächst aus dem umgebenden Raum, umschließen ihr Gesicht mit einem Schleier. Hinter diesem sind die Blicke noch unruhig und unsicher, als sie zu Beginn von William Oldroyds Spielfilmdebüt „Lady Macbeth“ mit Alexander Lester (Paul Hilton) verheiratet wird. Doch eigentlich wurde Katherine von dessen Vater Boris (Christopher Fairbank), einem reichen Minenbesitzer gekauft, um die Nachkommenschaft der Familie zu sichern. Im viktorianischen England Mitte des 19. Jahrhunderts, wo Theaterregisseur Oldroyd und seine Drehbuchautorin Alice Birch ihre Adaption von Nicolai Leskows Novelle „Lady Macbeth aus Mzensk“ von 1865 spielen lassen, sind die gesellschaftlichen Hierarchien rigide und die Umgangsformen von eisiger Kälte. Diese korrespondiert mit der Stille einer erdrückenden, aus der schieren Leere eines unbewegten Zeitstroms aufsteigenden Einsamkeit.

Katherine ist die Gefangene eines Besitzers. Und das weitläufige Haus, das sie möglichst nicht verlassen soll, ist ihr Gefängnis. Geschnürt in ein Korsett und ausgeschlossen vom gesellschaftlichen Leben, leidet sie unter einer quälenden Langeweile, die William Oldroyd mit formaler Strenge in präzisen, statischen und aufs Wesentliche konzentrierten Einstellungen vermittelt. Männliche, von Macht und brutaler Willkür geleitete Kontrolle und erzwungene weibliche Unterwerfung gipfeln schließlich in einem merkwürdigen sexuellen Paradox: Während der Schwiegervater Katherine wiederholt ermahnt, ihre „ehelichen Pflichten zu erfüllen“, verweigert Alexander in einer Mischung aus Angst, Wut und demütigender Verachtung den geschlechtlichen Vollzug. Selbst die sexuelle Unterwerfung erscheint pervertiert angesichts eines sich herrscherlich gebärdenden Mannes, der gleichermaßen von Hass und Selbsthass zerfressen ist.

Die dumpfe, freudlose Lethargie beginnt aufzubrechen, als die Männer aus (vorgeblich) geschäftlichen Gründen für längere Zeit das Haus verlassen. Auch die naturverbundene Katherine geht entgegen dem Verbot nach draußen. In der weiten, rauen Landschaft, die sich als existentieller Kontrast und als Spiegelbild der Gefühle verstehen lässt, begegnet sie in einer Mischung aus Anziehung und Abstoßung dem aufwieglerischen Stallburschen Sebastian (Cosmo Jarvis). Sich der Etikette, den Vorschriften und dem Standesunterschied wiedersetzend, stürzt sich Katherine wie besessen in eine leidenschaftliche Affäre mit dem dunkelhäutigen Gutsarbeiter. Von Lust und sexueller Gier getrieben, verlieren die beiden alle Vorsicht und Hemmungen. Zu allem bereit, überschreiten sie unumkehrbar Grenzen und werden schuldig. Als Symbol ihrer tödlichen Rebellion gegen patriarchale Strukturen fungiert eine Katze. Fast unmerklich dynamisiert Oldroyd in seinen düsteren Bildern diesen Absturz aus der kompromisslosen Liebe ins kalte Verbrechen, das den Schock verdichtet, die Geschichte der Gewalt fortschreibt und letztlich die Ordnung der Gefangenschaft bestätigt.

El futuro perfecto

(AR 2016, Regie: Nele Wohlatz)

Das Nebeneinander der Communities
von Sven Pötting

In „El futuro perfecto“ (2016) porträtiert die deutsche Regisseurin Nele Wohlatz, die derzeit in Buenos Aires lebt, die chinesische Community in der argentinischen Metropole, reflektiert gleichzeitig aber auch ihre eigene Identität …

In „El futuro perfecto“ (2016) porträtiert die deutsche Regisseurin Nele Wohlatz, die derzeit in Buenos Aires lebt, die chinesische Community in der argentinischen Metropole, reflektiert gleichzeitig aber auch ihre eigene Identität als Migrantin. Nele Wohlatz wurde 1982 in Hannover geboren, studierte Szenografie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe sowie Film im „Laboratorio de Cine“ der Universidad Torcuato Di Tella in Buenos Aires. Sie realisierte verschiedene Kurzfilme, drehte in Argentinien 2013 in Co-Regie mit Gerardo Naumann ihren ersten Langfilm Ricardo Bär, bevor sie mit „El futuro perfecto“ ihr Solo-Erstlingswerk vorlegte, das 2016 in Locarno seine Premiere feierte.

Geschätzt 100.000 „Argenchinos“ sind heute im Großraum Buenos Aires sesshaft – Festland-Chinesen, die zumeist in den 1990er Jahren ins Land eingewandert sind, als die damals streng neoliberal ausgerichtete argentinische Ökonomie einen (scheinbaren) Höhenflug erlebte. Die zweite Generation der chinesischen Migranten bilden die Kinder, die nachgeholt wurden, sobald sich nach entbehrungsreichen Jahren bei ihren Eltern eine gewisse wirtschaftliche Sicherheit eingestellt hatte. Sie sind also „Kinder der Globalisierung“. Die Einwanderer der ersten Generation eröffneten kleine Supermärkte, Kioske, Wäschereien oder Restaurants und verwirklichten ihre eigenen, bescheidenen gesellschaftlichen Aufstiegsträume. Abgesehen davon, dass jeder chinesische Neuankömmling informell auf einen spanisch klingenden Namen getauft wird, handelt es sich um eine nur wenig integrierte, verschlossene Community mit minimalem Kontakt zur argentinischen „Außenwelt“. Dazu passt es, dass das Chinatown der Metropole von den „Porteños“ (den Bewohnern von Buenos Aires) als exotisches Ausflugsziel, nicht als integraler Bestanteil der eigenen Lebenswelt betrachtet wird.

„El futuro perfecto“ ist ein Film über kulturelle Hybridisierung und in sich selber ein Hybrid. Hat die Erzählung zunächst eine dokumentarische Anmutung, wird diese bald schon aufgebrochen. Porträtiert wird Xiaobin, die in China aufgewachsen ist und erst als junge Erwachsene von ihren Eltern nach Buenos Aires nachgeholt wurde. Sie spricht bei ihrer Ankunft in Argentinien kein Spanisch, trotzdem hat sie schon nach ein paar Tagen einen neuen Namen, Beatriz, und einen Job in einem chinesischen Supermarkt. Xiaobin möchte gegen ihre erzwungene Sprachlosigkeit ankämpfen und meldet sich – natürlich ohne das Wissen ihrer Eltern, die für ihre Tochter einen Platz in ihrer chinesischen Parallelwelt vorgesehen haben – für einen Spanischkurs an.

Regisseurin Nele Wohlatz zeigt den Alltag von Xiaobin in ihrer neuen Heimat und macht die Arbeit spürbar, die nötig ist, um sich in einer fremden Kultur zu Hause zu fühlen. Der Zuschauer begleitet die Adaptionsprozesse der jungen Frau an die unbekannte Stadt, unvertraute Sprache und auch eine neue Gefühlswelt. Als ihre Sprachkenntnisse besser und komplexer werden, wirkt das auf ihre soziale und kulturelle Realität aus. Schon bald lernt Xiaobin Argentinier kennen und sie beginnt eine Beziehung mit Vijay, einem Inder, den sie an ihrem Arbeitsplatz kennengelernt hat. Nele Wohlatz zeigt den Entwicklungsprozess von Xiobin fragmentarisch und eher subtil. Vieles bleibt nur Andeutung. Dennoch wird schnell deutlich, dass die junge Frau mit besseren Sprachkenntnissen an Souveränität gewinnt. In dem Moment, in dem sie lernt, sich im Konditionalis, der Möglichkeitsform, auszudrücken, verändert dies auch den Film selber. Auf formaler Ebene – wo eine zunehmende Komplexität und Verspieltheit im Aufbau der einzelnen Szenen zu beobachten ist – wie auch inhaltlich.

Xiaobin schafft es, ihre chinesische mit ihrer neuen Identität zu verbinden – sie entwickelt also ein neues „Ich“. Sie überlegt sich Optionen für ihre eigene Zukunft und greift damit in das Drehbuch ein, wird quasi zur Co-Autorin. Literaturwissenschaftler würden vermutlich von einer „Metalepse“ sprechen; viel treffender ist aber die Bezeichnung des Filmkritikers Roger Koza als „linguistische Komödie“, denn „El futuro perfecto“ reflektiert zwar sehr intelligent Konstruktivismus und die linguistische Komplexität, die unser Leben und Handeln bestimmt, hat aber auch einen lakonischen, gleichzeitig leicht melancholischen Humor. Allemal ist es interessant, dass eine aus Deutschland stammende Regisseurin frischen Wind in das zuletzt etwas stagnierende „Nuevo cine argentino“ gebracht hat. Für seine originellen Sichtwechsel, der neue Perspektiven eröffnet, wurde „El futuro perfecto“ unter anderem beim 69. Internationalen Filmfestival von Locarno (2016) oder zuletzt beim 25. Internationalen Filmfest Hamburg (2017) ausgezeichnet.

Natürlich fließen auch die eigenen Erfahrungen der Regisseurin mit in die Entstehung des Films hinein. Wie sie in einem Skype-Interview verriet, hatte Nele Wohlatz die Idee zum Drehbuch in einem Moment der Krise: Zwar lebte sie schon einige Jahre in Buenos Aires, sprach schon sehr gut Spanisch, wusste aber trotzdem nicht, wie sie ihre Arbeit in einer fremden Kultur ausüben könne. Um Regie zu führen, muss man zwischen den Zeilen lesen können, also auch die Nuancen der Sprache des Gastlandes verstehen und kommunizieren können. Ansonsten kann es sehr leicht passieren, dass wichtige Informationen verloren gehen; die Verbindung zu den Mitarbeitern kann dann nicht mehr gewährleistet werden und im schlimmsten Fall macht sich dann Unzufriedenheit breit – Bayern Münchens Ex-Trainer Carlo Ancelotti wird diese Aussage vermutlich unterschreiben. Nele Wohlatz wollte daher aus der Not eine Tugend machen und einen Film über eine andere Ausländerin und deren Adaptionsprozess in deren neuen Heimat drehen, bei dem eine gemeinsame fremde Perspektive auf Buenos Aires zum Thema gemacht wird. Nele Wohlatz sieht als eines der größten Probleme beim Identitätswechsel durch Migration den „Sprachverlust“. Gemeint ist damit das Problem, komplexe Gedanken und Fantasien nicht mehr in der Muttersprache kommunizieren zu können. Sie wollte weder die ökonomischen Prozesse der Globalisierung, noch die Diskriminierung der Migranten thematisieren, sondern das „Trauma“, das sie und ihre Protagonistin teilen.

Sie machte sich an der Sprachschule, an der sie selbst arbeitete, auf die Suche nach einer Darstellerin und fand Xiaobin, eine junge Frau mit Schauspieltalent und gleichzeitig einer interessanten und starken Persönlichkeit. Sie war erst wenige Monate zuvor nach Argentinien eingereist und besitzt den Ehrgeiz, in ihrer neuen Heimat etwas aus ihrem Leben zu machen, wozu sie in China niemals die Chance gehabt hätte. In Buenos Aires hat Xiaobin erstmals seit ihrer Kindheit ihre Eltern wiedergesehen, die für sie allerdings einen traditionellen, unterordnenden Platz in der Familie vorgesehen haben. Integriert wird in den Film Xiaobins coming-of-age-Prozess, die Durcharbeitung des latenten Konfliktes mit ihnen. Die heimliche Beziehung zu ihrem indischen Freund – die ultimative Provokation und Infragestellung der elterlichen Autorität– ist nahezu ein „Geschenk“ für die Entwicklung einer Dramaturgie der Handlung.

Vor dem Casting hatte die Regisseurin nicht explizit geplant, mit Asiaten zu arbeiten, musste aber feststellen, dass die Spanisch-Kurse für Ausländer fast ausschließlich von chinesischen Schülern besucht werden. Nele Wohlatz sah dies als Herausforderung, die natürliche Distanz zu dem ihr bislang fremden Kulturkreis erkannte sie sogar als Vorteil für den Arbeitsprozess. Die Arbeitssprache beim Dreh war ein bruchstückhaftes, und dann ein immer komplexer werdendes, aber immer noch gebrochenes Spanisch. Kein Übersetzer wurde als Vermittler eingesetzt, dafür spielen aber die absurd anmutenden „Readymade-Dialoge“ in Basis-Vokabular aus den Sprachbüchern, die auch Xiaobin verwendete, eine wichtige Rolle für die Entwicklung und Umsetzung des Drehbuches: „Die Dramatik entstand aus dem Zwang, sich selbst in den vorgegebenen, vorgefertigten Dialogen, die eigentlich Fiktion sind, wiederfinden zu müssen und einen Sinn herzustellen. Es stellte sich die Frage, wie weit man damit kommt und wie man sich hilft, wenn die Sprache einen nicht weiterbringt“. Die kulturelle Adaption ist nicht nur das Thema, sondern wird zur Basis, auf die der Entstehungsprozess des Films, später dann die ganze Filmsprache von „El futuro perfecto“ (Kameraführung, Schauspiel, Dialoge, Montage, mise-en-scène) aufbauen.

„Zunächst haben Xiaobin und ich über einige Monate viel Zeit miteinander verbracht, haben viel unternommen, auch um gegenseitiges Vertrauen zu gewinnen. Dabei habe ich Fragen über ihre Erlebnisse in Argentinien gestellt. Wir haben uns über unsere Erfahrungen als Fremde in Buenos Aires ausgetauscht und ich habe all die Anekdoten, Observationen und Geschichten gesammelt, die für den Film interessant sein könnten. Ich habe auch nach szenischem Material gebohrt. Es ist also in einem Entwicklungsprozess ein Treatment entstanden. Als dann klar war, dass sie sich selber spielen sollte und wollte, stellte sich dann die Frage, wie wir es schaffen, diese Übersetzung zu machen, sodass sie ihr eigenes Leben als Darstellerin repräsentieren kann. Parallel habe ich angefangen, mit ihr Schauspielübungen zu machen. Um eine dramatische Struktur für den Film zu entwickeln und ihre Erfahrungen, die sie mir erzählt hat, szenisch umzusetzen, habe ich Pío Longo als Co-Autor hinzugezogen, der bei den Schauspielübungen dabei war. Wir haben Dialoge geschrieben und zusammen im Drehbuch die Szenen eingearbeitet, bei denen wir das Gefühl hatten, dass Xiaobin diese gut umsetzen könne. Wir haben so etwas wie ein ABC ihrer schauspielerischen Möglichkeiten entwickelt. So hat sie auch Selbstvertrauen entwickelt. Alles verlief parallel. Xiaobins tatsächlicher Sprachlernprozess, all ihre Errungenschaften und Entwicklungen, wurde in die Dreharbeiten als dramatisches Material mit eingebracht. So wurde die Handlung Stück für Stück vervollständigt. Das Ganze lief sehr organisch ab“. Gearbeitet wurde in einem kleinen Team, da es sich bei „El futuro perfecto“ nahezu um eine No-Budget-Produktion handelt; gedreht wurde im argentinischen Sommer – allerdings nur am Wochenende, da Xiobin auch während des Produktionsprozesses weiterarbeiten musste. Selbst die Locations konnten nicht lange angemietet werden, deswegen standen für die Aufnahmen mit den (zumeist) nicht-professionellen Schauspielern auch nur wenige Takes zu Verfügung, was aber kein Nachteil ist und eher die dokumentarische Anmutung des Films unterstreicht.

Es gibt es einige Szenen im Film, die in der Sprachschule spielen. In ihnen werden chinesische Sprachschüler bei ihren Verständnis- und Sprechübungen gezeigt. In ihren Texten kommentieren sie Xiaobins Anpassungsfortschritte und verleihen dem Film gleichzeitig eine feste Struktur wie auch den komischen Grundton: „In dem Moment, in dem das szenische Treatment fertig war und wir das Gefühl hatten, dass Xiaobin in ihren Möglichkeiten als Schauspielerin solide ist, habe ich dann angefangen in der Sprachschule einen Workshop für chinesische Spanisch-Studenten zu geben. Eine Hypothese war gleich zu Beginn des Schreibprozesses, dass es immer diesen Wechsel zwischen Szenen aus Xiaobins Leben und Szenen aus der Sprachschule geben soll und dass diese Unterbrechungen in der Sprachschule chorisch funktionieren sollen. Im griechischen Theater gibt es diesen Chor, der die soziale peergroup des Helden oder der Heldin repräsentiert, das Geschehen kommentiert und auch Warnungen ausspricht. Es war also die Idee, dass das, was wir von Xiaobins Leben erfahren, immer wieder von dem Chor der chinesischen Spanisch-Schüler unterbrochen wird. Sie kommentieren das Ganze mit von uns erfundenen Texten aus einem Sprachlehrbuch. Damit entsteht eine Dynamik und Struktur. Die Geschichte kommt immer dann voran, wenn Xiaobin was Neues gelernt hat. Ihren Input aus der Sprachschule, verarbeitet sie direkt auf der Straße. Sie wendet die gelernten Texte an. Je mehr sie lernt, desto komplexer wird, desto mehr Facetten bekommt ihr Leben in Buenos Aires. Sprache ist ein dynamisches Instrument. Ich dachte dann, dass die Erzählung mit dem Erlernen der Möglichkeitsform aufhören sollte. Also die Form, die – so die Hypothese – zumindest im Spanischen dein Denken vervollständigt, weil du anfangen kannst, in die Zukunft zu projizieren. Zunächst dachte ich noch, dass der Film dokumentarischer werden könnte, als er sich am Ende anfühlt. Ich fand die Idee interessant, dass ein Dokumentarfilm die Zukunft der Hauptfigur miterzählt – was gleichzeitig ein wenig absurd und widersprüchlich ist. Am Ende habe ich Xiaobin erzählt, dass ich diese Idee habe, dass die Lehrerin in der letzten Stunde so etwas wie eine mündliche Prüfung durchführt, wo sie den Gebrauch des condiconal, der Möglichkeitsform im Spanischen, prüft und Xiaobin könnte sich dann vorstellen, was sie wolle. Das Thema müssten nur ihre Eltern und ihr Freund sein. Am gleichen Abend habe ich dann eine Mail von Xiaobin mit dem Betreff ‚Mis futuros’ (‚Meine Zukünfte`) bekommen. Das sind dann genau die Beschreibungen, die dann im Film auch umgesetzt werden“.

Dass es für sie natürlich war, bei ihrer „Übersetzung“ von Xiaobins Adaptionsprozess in filmische Mittel, reale Begebenheiten zu fiktionalisieren, Imagination und Fakt zu vermischen, sieht Nele Wohlatz auch in ihrer eigenen kulturellen Hybridisierung begründet: „In Argentinien gibt es ein anderes Verhältnis zu der Vermischung von Fakt und Fiktion. Nicht so eine strikte Trennung. Manchmal glaube ich, dass es eine eigene Tradition gibt, deren Vertreter beispielsweise die Schriftsteller Jorge Luis Borges, Macedonio Fernández oder Ricardo Piglia sind. In ihrer Literatur, aber auch im Film, finden sich Beispiele, in denen das Medium untersucht, reflektiert und – in einem poetischen Sinn – auch in Frage gestellt wird.“

Ihren eigenen Filmstil sieht sie in der Tradition Robert Bressons verortet. Von ihm hat sie gelernt, „zu akzeptieren das man nicht immer alles versteht – nicht von uns, auch nicht vom Nächsten; dass das Leben einfach ziemlich mysteriös ist und dieses psychologische Spiel, in dem Schauspieler versuchen, die verschiedenen Ebenen ihres Charakters zu erklären, nicht viel Sinn macht“. Beeinflusst haben sie aber auch die selbstreflexiven Filme von Abbas Kiarostami (etwa „Close-up“, Iran 1990), bei denen die brüchige Grenze zwischen Fakt und Fiktion, Darstellung und Wirklichkeit erkundet wird und wo „das filmische Dispositiv auf eine andere Ebene gehoben wird, wo Kategorien aufgelöst werden und etwas passiert, was nur mit Mitteln des Films passieren kann“. Ein Bezugspunkt aus dem argentinischen Kino sieht sie in den Filmen Martín Rejtmans („Dos disparos“, 2015), u.a.). Dieser ist ein Schüler im Geiste von Robert Bresson. Von ihm hat Nele Wohlatz den komischen, gleichzeitig melancholischen Grundton des Films übernommen.

Eine gewisse „Starpower“ bekommt „El futuro perfecto“ durch den Gastauftritt von Nahuel Pérez Biscayart – derzeit einer der wenigen lateinamerikanischen Schauspieler, die gerne in europäischen Produktionen eingesetzt werden (etwa in Maria Schraders „Vor der Morgenröte“ oder in Robin Campillos mehrfach prämierten Film „120 BPM“, der ab Ende November auch in Deutschland in die Kinos kommt). Er repräsentiert die Entwicklung Xiaobins: „Anfangs sind der Aufbau der Szenen sehr einfach und schematisch. Alles Argentinische befindet sich im off. Der ganze Film wird aus der Perspektive von Xiaobin erzählt. Weil sie zu Beginn des Films keinen Bezug, auch keinen kulturellen Bezug zu der neuen Stadt hat, ist Buenos Aires und alles Argentinische zunächst nur schemenhaft sichtbar. In den ersten Szenen hört man Personen Spanisch sprechen, sieht sie aber nicht vollständig, erkennt auch nicht ihre Gesichter. Dies ist ein Mittel, um Xiobins Isolation und Fremdheit zu erzählen. Aus diesem Grund spricht sie anfangs auch kein Chinesisch. Später dann, als sie sich komplexer auf Spanisch ausdrücken kann, macht es Sinn, dass Argentinier, also etwa Nahuel, zu sehen sind. Erst dann kommen auch die Szenen, wo sie die Möglichkeit bekommt, sich auf Chinesisch auszudrücken. Mir ging es darum zu zeigen, wie sie sie es schafft, ihre zwei Identitäten parallel zu leben und ‚zwischen zwei Welten hin und her zu springen’. Aber vor allem habe ich mit den Spanischstunden versucht herauszuarbeiten, dass das Lernen einer neuen Sprache das gleiche ist, wie die Arbeit eines Schauspielers. Im Theater bekommen die Schauspieler ihren Text ausgehändigt und es wird ihnen beispielsweise gesagt: ‚Du bist Hamlet!’ Oder: ‚Du bist Lady Macbeth. Dann durchlaufen die Schauspieler den ganzen Probenprozess, bei dem sie herausfinden müssen – mit der einen Schauspieltechnik oder der anderen – wie sie tatsächlich Hamlet oder Lady Macbeth sein können und der Rolle einen Körper geben können. Die Sprachschule ist eine Art Probebühne für die neue Identität, die man nach der Migration annimmt. Erwachsene müssen sich diese absurden, fiktiven Texte aus den Sprachbüchern aneignen – Dialoge, die im Café, im Zoo oder im Theater spielen. Man spielt die Sprache wie den Text für eine fremde Rolle. Die Kunst liegt darin, die Rolle wirklich zu lernen und darstellen zu können. Man muss sich in die neue Rolle einfinden und ihr Sinn geben und einen Weg finden, um beispielsweise ‚Argentinier zu sein’. Nicht immer hat das einen glücklichen Ausgang“.

Die Parallele zwischen der Arbeit eines Schauspielers und dem Erlernen der Sprache wird noch einmal durch den Auftritt von Nahuel Pérez Biscayart hervorgehoben: „Ich wollte eine Szene, in der deutlich wird, dass es einen Zeitsprung gegeben hat. Zusammen mit ihren Mitschülern setzt Xiaobin außerhalb der Schule auf spielerische Art den Unterricht fort. Es sollte auch ein argentinischer Freund dabei sein. Für diese Szene hatte ich das Motiv des Weinens vorgesehen. Ich dachte, der Freund könnte Schauspieler sein und er könnte ihnen künstlich zu weinen beibringen, weil es da auch wieder darum geht, eine Rolle zu lernen. Ebenso geht es um die Frage, wie Fiktion hergestellt wird. In einer möglichen Zukunft, die sie sich ausmalt, wird Xiaobin aus der Wohnung ihres Freundes von ihrem Vater mit dem Auto abholt. Sie weint, aber weint sie dann wirklich? Oder beherrscht sie die Technik perfekt? Mit dem Auftritt von Nahuel ändert sich der Ton des Films. Der Aufbau der Szenen, die ganze Filmsprache wird komplexer. Nahuel hat an der gleichen Sprachschule, in der wir gearbeitet haben, Chinesisch gelernt. Und ich kannte ihn, weil er bei mir für eine Filmproduktion Deutsch gelernt hat. Es hat also Sinn gemacht, dass er diese Rolle übernommen hat. Man braucht, wenn man Laiendarsteller mit professionellen Darstellern mischt, extrem sensible, gute und professionelle Schauspieler, die es schaffen, sich auf den Ton der Laiendarsteller einzulassen. Nahuel hat dies geschafft“.

„El futuro perfecto“ ist aber nicht die einzige aktuelle argentinische Produktion, die von den asiatischen Communities im Land erzählt. Zumeist stammen diese Filme von Regisseuren, die selbst zur zweiten Einwanderergeneration zu zählen sind.

Juan Martín Hsu, Sohn taiwanesischer Eltern, hebt in seinen Filmen die positiven Aspekte der Interkulturalität hervor. Er sieht Einwandererkinder als Brücke zwischen verschiedenen Kulturen. Er drehte 2014 sein Erstlingswerk „La salada“. Sein Nachfolgefilm, „Diamante mandarín“ (2015), hat sich die größte Zäsur der jüngeren argentinischen Geschichte zum Thema gemacht und erzählt davon, welche sozialen Folgen der Staatsbankrott des Landes im Dezember 2001 für die asiatischen Gemeinschaften hatte. Der aus Buenos Aires stammende Marcos Rodríguez wiederum untersucht aus nahezu kulturanthropologischer Perspektive in „Arribeños“ (2016) das nachbarschaftliche Mit- und Nebeneinander von Argentiniern auf der einen, Chinesen und Taiwanesen auf der anderen Seite in der Chinatown von Buenos Aires. Ein weiteres Beispiel ist „Mi último fracaso“ (2016): Die junge Regisseurin Cecilia Kang präsentiert dem Zuschauer in ihrem dokumentarischen, beziehungsweise dokumentarisch anmutenden Erstlingswerk den Alltag einer Gruppe von Frauen koreanischer Herkunft. Teilweise wurden ihre Protagonistinnen sogar in Argentinien geboren, komplett in ihrer neuen Heimat verankert sind sie aber alle nicht.

Auffällig ist, dass sich alle genannten Filme dem Thema der Migration und den daraus entstehenden kulturellen Zwischenwelten betont sensibel annähern. Allerdings sprechen wir hier vom Independent-Kino; Großproduktionen, wie Sebastián Borenszteins „Un cuento chino“ (2011), um ein Beispiel zu nennen, das auch in Deutschland im Kino zu sehen war, greifen durchaus auf schnelle Pointen und billige Klischees zurück.

Das Interview mit Nele Wohlatz wurde Anfang April 2017 via Skype geführt. Der letzte Abschnitt, ist ein Auszug aus dem Artikel „Neue Perspektiven im argentinischen Kino“, der in der Ausgabe 5/2017 im Filmbulletin erschienen ist.

Untitled

(D/AT 2017, Regie: Michael Glawogger, Monika Willi)

Im Dschungel von Eden
von Wolfgang Nierlin

„Der schönste Film, den ich mir vorstellen kann, ist einer, der nie zur Ruhe kommt“, sagt der österreichische Filmemacher Michael Glawogger. Mit „Untitled“, einem „Film ohne Namen“, wollte er sich …

„Der schönste Film, den ich mir vorstellen kann, ist einer, der nie zur Ruhe kommt“, sagt der österreichische Filmemacher Michael Glawogger. Mit „Untitled“, einem „Film ohne Namen“, wollte er sich im Unterwegssein ganz absichts- und ziellos und ohne thematische Zwänge dieser Bewegung überlassen, um durch zufällige Entdeckungen ein intuitives Bild der Welt zu gestalten. Keine Interviews oder Erklärungen sollten die eingefangenen Beobachtungen lenken. Als Michael Glawogger am 3. Dezember 2013 mit kleinem Team (Kamera: Attila Boa; Ton: Manuel Siebert) aufbrach, wollte er sich ein Jahr lang auf diese Weise durch die Welt treiben lassen. Doch schon im April 2014 endete die Reise abrupt, als der Regisseur in Liberia an einer schweren Form der Malaria erkrankte und kurz darauf starb. Siebzig Stunden Filmmaterial waren bis zu diesem Zeitpunkt entstanden, die postum von der Cutterin Monika Willi, kombiniert mit einigen prägnanten Texten des Filmemachers (gelesen von Birgit Minichmayr) und der experimentellen Musik Wolfgang Mitterers, in eine filmische Form gebracht wurden.

Assoziativ und intuitiv hat Willi das hauptsächlich auf dem Balkan, in Italien sowie in Westafrika gedrehte Material montiert. Wenn in der ersten Einstellung im Hintergrund ein verlassenes „Hotel Eden“ zu sehen ist, über dem riesige Vogelschwärme aufsteigen, besitzt das Bild der Freiheit fast schon etwas Jenseitiges. An anderer Stelle, in nächtlichen Straßenszenen, die Wildheit als „gefährliche Angelegenheit“ beschwören, beklagt Glawogger, dass unter dem allgemeinen Diktat eines primär westlichen Sicherheitsdenkens die aus solcher Freiheit erwachsenden Möglichkeiten zunehmend verloren gehen. „Angst ist ein grausamer Begleiter“, notiert er über diesen „Jungle of Eden“, der zugleich ein „Garden of Hell“ ist, wie es in einem Insert am Schluss des Films heißt.

Wie sehr diese ambivalente Freiheit mit dem arbeitenden und kämpfenden, leidenden und schließlich vergehenden Körper (auch demjenigen der Tiere) verbunden ist, zeigt Glawoggers „Doku-Experiment“ in vielen, teils schockierenden Szenen: Wenn sich beispielsweise Kinder, die Müllberge nach Verwertbarem durchwühlen, um ihre Fundstücke streiten; wenn junge, in Streit geratene Männer miteinander kämpfen, senegalesische Ringer im Wüstenssand trainieren oder einbeinige, offensichtlich kriegsversehrte Fußballer auf Krücken höchst schnell und geschickt ihren Sport ausüben. Die Erfahrung von Kraft und Stärke findet sich zugleich immer wieder in Bildern, in denen die elementaren Kräfte der Natur – Steine und Sand, Feuer und Wasser – eine zentrale Rolle spielen. Wenn die Goldsucher in Sierra Leone mit ihren Schaufeln und Sieben nach wertvollen Edelsteinen schürfen, ähnelt ihre Sisyphusarbeit der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen.

So stellt Michael Glawogger, der mit seinen filmischen Fundstücken keinem Plan folgt und doch insgeheim von allem handelt, immer wieder die Frage nach dem Sinn. Er zeigt Bilder des Reichtums und des Verfalls, der Schönheit und der Vergänglichkeit und träumt selbst vom Verschwinden in der Fremde: in einem Versteck, dass ihn in der allmählichen Assimilation mit seiner Umgebung möglichst unsichtbar machen und dem Nichts näherbringen soll: „Bis ich so lange da war, dass mich keiner mehr sieht.“

Clair Obscur

(TR/PL/DE/FR 2016, Regie: Yesim Ustaoglu)

Seelische Eruptionen, reinigende Flut
von Wolfgang Nierlin

Der Blick der beiden Frauen geht ins Weite, geht übers Meer. Er ist sehnsuchtsvoll und fragend, bekümmert und ängstlich. Das helle Weite ist zugleich das Offene, auch Ungewisse, in dem …

Der Blick der beiden Frauen geht ins Weite, geht übers Meer. Er ist sehnsuchtsvoll und fragend, bekümmert und ängstlich. Das helle Weite ist zugleich das Offene, auch Ungewisse, in dem Erfahrungen aus der Vergangenheit mit Hoffnungen zusammentreffen, die auf die Zukunft gerichtet sind. Das mal aufgewühlte, mal tosende, dann wieder ruhige Meer metaphorisiert dabei die Seelenzustände der Protagonistinnen. Yeşim Ustaoğlu parallelisiert in ihrem neuen Film „Clair Obscur“ (türkisch: „Tereddüt“, d. h. „Bedenken“, „Unentschlossenheit“) zunächst den kontrastierenden Alltag der beiden ungleichen Frauen, die verschiedene soziale Schichten und kulturelle Welten innerhalb der türkischen Gesellschaft repräsentieren; bis sich ihre Wege im Zeichen des Unglücks treffen und sich die Koordinaten von Hell und Dunkel entscheidend verschieben.

Die etwa 30-jährige Psychiaterin Şehnaz (Funda Eryiğit) arbeitet in einem Krankenhaus einer Küstenstadt und lebt in einer auf den ersten Blick glücklichen Fernbeziehung mit dem Architekten Cem (Mehmet Kurtuluş), der in Istanbul wohnt. Materieller Wohlstand, ein gebildeter Freundeskreis und fortschrittliche Werte kennzeichnen ihre moderne Beziehung. Doch hinter vorgeblicher Zufriedenheit und Toleranz, die vor allem von dem selbstverliebten, scheinbar perfekten Cem ausgestrahlt werden, verbergen sich Einsamkeit und sexuelle Frustration. Şhenaz fühlt sich ausgebeutet und unglücklich. Unsicher und schwankend ist letztlich der Untergrund ihrer nach außen scheinbar geordneten Lebensverhältnisse.

Auf ganz andere Weise freudlos ist der triste Alltag der jungen, völlig in sich gekehrten Elmas (Ecem Uzun). Als Minderjährige wurde die sensibel und zerbrechlich erscheinende Frau an einen älteren Mann zwangsverheiratet. Unter dem Diktat von traditionellen Werten und religiös geprägten Moralvorstellungen versieht Elmas wie eine Dienstmagd ihre Pflichten als Haus- und Ehefrau: Sie versorgt ihre strenge, an Diabetes leidende Schwiegermutter und ist unter Schmerzen ihrem Mann sexuell gefügig. Der Ladenbesitzer gibt sich zwar verständnisvoll gegenüber seiner Frau, behauptet zugleich aber seine männliche Dominanz und Autorität. So ist Elmas hilflose Abhängigkeit nahezu total. Als sie nach einer stürmischen Nacht eines Morgens unterkühlt und völlig verstört auf dem Balkon gefunden wird, sind ihr Ehemann und die Schwiegermutter tot.

Die renommierte türkische Filmemacherin Yeşim Ustaoğlu erzählt diese parallelen, in kontrastierenden Lebenswelten spielenden Frauendramen zunächst verhalten und in Andeutungen, dann in abrupten Brüchen. Als die beiden Versehrten schließlich aufeinandertreffen, ist es Şhenaz‘ Aufgabe, die tief traumatisierte Elmas aus ihrer psychischen, von Erstickungsgefühlen gekennzeichneten Gefangenschaft zu lösen. Dabei erlebt die Therapeutin selbst eine Art Befreiung. In intensiven, hervorragend gespielten Therapieszenen folgt Elmas den Spuren ihrer Traumata und vergegenwärtigt diese in geradezu seelischen Eruptionen. Während sich ihre Spannungen und Ängste allmählich zu lösen beginnen, erlebt Şhenaz eine sexuell beglückende Affäre mit einem Kollegen.

Yeşim Ustaoğlu wendet sich in ihrem bewegenden, spiegelbildlich gebauten Film dezidiert gegen destruktive Traditionen und die durch sie forcierte Unterdrückung weiblicher Identität und sexueller Selbstbestimmung. Dabei zeigt sie auch mit aller Härte auf den dünnen Firnis des zivilisatorischen Überbaus. In einer Traumsequenz wird einmal Şhenaz‘ Wohnung von hereinbrechenden Wassermassen überschwemmt, werden die Einrichtungsgegenstände von der Flut in Bewegung versetzt. Es scheint, als bedürfe der radikale Aufbruch in ein neues Leben reinigender Wasserfluten, die das Alte, Überkommene fortspülen.

UNVERGESSENE ZEITEN

( , Regie: )

Schicksalhafter Faden
von Sven Jachmann

Es ist natürlich eine verlockende Vorstellung: Der 40-jährige Robert Andrew Wicks begibt sich in eine Hypnosetherapie, deren Ziel eigentlich darin besteht, ihm endlich das Rauchen abzugewöhnen. Doch anstatt wie vermutet …

Es ist natürlich eine verlockende Vorstellung: Der 40-jährige Robert Andrew Wicks begibt sich in eine Hypnosetherapie, deren Ziel eigentlich darin besteht, ihm endlich das Rauchen abzugewöhnen. Doch anstatt wie vermutet einen spirituell aufgeladenen Spuk zu erleben, befindet er sich urplötzlich wieder auf der High School und erlebt seine Teenagerzeit ein zweites Mal, allerdings mit dem erwachsenen Bewusstsein von seiner eigenen Vergangenheit. Das ist ein popkulturell schon oftmals erprobtes Szenario, und das weiß natürlich auch Robert, der sich sofort ans Zeitreiseparadoxon der „Zurück in die Zukunft“-Trilogie erinnert fühlt. Tatsächlich gleicht das Setting eher dem aus Francis Ford Coppolas High-School-Romanze „Peggy Sue hat geheiratet“ oder Jiro Taniguchis epochaler Jugendreflexion „Vertraute Fremde“.

Robert durchlebt seine Vergangenheit erneut, wenige Tage vor seinem ersten Zug an einer Zigarette. Angespornt von dem Glauben, in dieser Situation bloß triumphierend ablehnen zu müssen und damit die notwendige Katharsis auszulösen, versucht er die jungen Tage zu genießen, holt ein wenig versäumte Rebellion nach, verabredet sich mit dem Mädchen, das ihm früher so unnahbar erschien und begegnet den innerfamiliären Konflikten nun mit mehr Empathie. Trotzdem bleibt eine Leerstelle bestehen. Denn obwohl Robert der angebotenen Zigarette widersteht, kehrt er nicht in sein gegenwärtiges Leben zurück.

Und diese Leerstelle ist es auch, die aus der für Alex Robinsons Verhältnisse außerordentlich kurzen Erzählung im Gewand einer Coming-of-Age-Geschichte eine dramatische Introspektion uneingestandener Ängste zaubert. Bereits in seinen vorherigen, mehrere 100 Seiten umfassenden Mammutwerken „Tricked“ (unter dem Titel „Ausgetrickst“ ebenfalls bei der Edition 52 erschienen) und „Box Office Poison“ tänzelten die Figuren leichtfüßig am Abgrund, zusammengehalten von einem roten, schicksalhaften Faden, der sie vom Glück schlagartig ins existenzielle Elend führte.

Das erinnerte hier und da, insbesondere was die immer bedrohlichere und so unausweichlich erscheinende Engführung der individuellen Krisen betrifft, an „Magnolia“ von Regisseur Paul Thomas Anderson. Und so wie Anderson im Anschluss an „Magnolia“ zunächst einmal Understatement betrieb, indem er „Punch Drunk Love“ drehte, gewinnt man auch bei Robinson den Eindruck, dass sich hier ein Autor nach den zahlreichen Auszeichnungen für seine Vorgänger erst mal Luft verschaffen musste und sich nun an der kleineren Form versucht.

Der Plot kapriziert sich völlig auf Roberts jüngeres Pendant, und dank des Twists am Schluss gerät der heitere Duktus der Schulerlebnisse zum bitteren Durchmarsch ins Herz eines fortwährenden Traumas. Das wirkt umso bedrückender, weil Robinsons schwarzweißen Zeichnungen sich vor allem auf ein differenziertes Minenspiel konzentrieren und Robert eine unwissentliche Unschuld andichten, die er als Erwachsener nur mittels Verdrängung aufrechterhalten kann. Immer wieder brechen die Panels auseinander, überlappen sich in parallelen Montagen, als wollten die verborgenen Erinnerungen in den Erzählkosmos hineinbrechen.

Somit offenbart sich Roberts Odyssee durch seine eigene Vergangenheit auch für den Leser als unerwartetes Puzzlespiel, der wie Robert zum Schluss realisieren muss, dass das Rauchen die sicherlich unbedeutendste Chiffre dieser nachgeholten Sinnsuche war. Letztlich fügt sich also auch Roberts Figur in die Phalanx von Robinsons gebrochenen Alltagshelden, deren mannigfaltige Fluchtversuche stets und meist recht tragisch in der kathartischen Konfrontation mit ihrer mentalen Verdrängungspraxis enden. Dass Alex Robinson dieses Muster auch in ein im Kern humoristisches Sujet brillant zu integrieren schafft, ist nur geringfügiges Zeichen für seine exponierte Stellung innerhalb der gegenwärtigen amerikanischen Comicautorengarde.

Dieser Text erschien zuerst in der taz.

Alex Robinson: „Unvergessene Zeiten“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Plein. Edition 52, Wuppertal 2010. 128 Seiten, 12 Euro

Blade Runner 2049

(USA/GB/CDN 2017, Regie: Denis Villeneuve)

Der Schmerz der Leere
von Ricardo Brunn

30 Jahre sind vergangen, seit der Blade Runner Rick Deckard (Harrison Ford) mit der Replikantin Rachael (Sean Young) durchgebrannt ist. Nach ihrer Flucht kam es in L.A. erst zu einem …

30 Jahre sind vergangen, seit der Blade Runner Rick Deckard (Harrison Ford) mit der Replikantin Rachael (Sean Young) durchgebrannt ist. Nach ihrer Flucht kam es in L.A. erst zu einem Blackout, verursacht durch aufständische Nexus-8-Replikanten der Tyrell Corporation und anschließend zum Verbot ihrer Produktion. Doch von den alten Replikanten, deren besonderes Merkmal eine unbegrenzte Lebensdauer ist, gelang einigen die Flucht. Nun leben sie im Untergrund und keiner weiß, was sie da treiben. Nach wie vor braucht es Blade Runner, um diese Replikanten ausfindig zu machen und in den Ruhestand zu versetzen. Niander Wallace (Jared Leto), der die Tyrell Corporation nach dem Kollaps übernommen und begonnen hat, neue, vollkommen hörige und emotionslose Nexus-9-Replikanten für die Arbeit in den Off-World-Kolonien anzufertigen, stellt auch die Blade Runner zur Jagd auf die alten Modelle zur Verfügung.

Einer von ihnen ist Officer K (Ryan Gosling). Zu Beginn von Denis Villeneuves „Blade Runner 2049“ begibt er sich für einen Routineeinsatz auf eine Farm außerhalb von Los Angeles. Hier stöbert er einen gesuchten Nexus 8 (David Bautista) auf und schaltet ihn in seinem an Gemütlichkeit nicht mehr zu unterbietenden Bauernhaus nach einem brutalen Kampf aus. Allerdings nicht ohne aus dessen letzten Worten die kryptische Andeutung herauszuhören, dass in der Stadt der Engel, die nur noch Sklaven und Götter kennt, ein Wunder geschehen sei. Und so endet der Einsatz nicht nur mit einer rätselhaften Frage, sondern auch mit dem Fund einer Kiste und darin verborgenen Knochen, die auf das angesprochene Wunder verweisen und die etablierte Ordnung zwischen Menschen und Replikanten zum Einsturz bringen könnten.

Das Bemerkenswerte an dieser Eröffnungsszene ist, dass sie auf einem Storyboard für den ersten Teil aus dem Jahre 1982 basiert, damals jedoch von Ridley Scott nicht gedreht wurde. Villeneuves Sequel beginnt demzufolge nicht einfach mit einer Reminiszenz an das Vorbild, sondern mit einer Erinnerung, die sich in der Realität nie zugetragen hat, womit wiederum direkt auf das zentrale Thema dieses erstaunlichen Erzähkosmos’ verwiesen wird: Nach wie vor steht hinter dem Spiel mit (implantierten) Erinnerungen die Frage, was den Menschen ausmacht. Und nach wie vor bestimmt die zugegebenermaßen pessimistische Sichtweise, dass die Möglichkeiten auf jedwede Selbsterkenntnis äußerst beschränkt sind, das Geschehen. „Blade Runner 2049“ spitzt diese Frage sogar weiter zu, wenn wir uns bewusst machen, dass in Villeneuves Vision von der Zukunft die Menschheit ins Altersheim verfrachtet wurde und wir über einen Gutteil der Zeit hinweg ausschließlich Replikanten und Hologrammen dabei zusehen, nach Antworten auf die allermenschlichsten Fragen zu suchen.

Dass mit diesen Replikanten natürlich wir selbst und mit der Zukunft (wie in so vielen Science-Fiction-Filmen) die Gegenwart gemeint sind, wird gleich zu Beginn des Filmes deutlich, wenn in Ks Flug über Proteinanbaugebiete die real existierenden Tomatenplantagen in Almeria (Spanien) mit ihren weißen Gewächshäusern wieder zu erkennen sind. Unter diesem Blickwinkel stellt sich dann die Frage, ob wir heute über Facebook, Instagram und Co. nicht ebenfalls nur Erinnerungen nachhängen, die gar nicht uns gehören, wir unentwegt Illusionen hinterherjagen, Liebe virtualisieren, Berührungen vermeiden, somit vergessen, wer wir selbst sind oder sein wollen und an der Leere in uns ganz langsam verzweifeln. Wie Officer K, dem Ryan Gosling mit wenigen Regungen einen präzisen Ausdruck großer Einsamkeit verleiht. In seinen Augen spiegeln sich die traurigen Überreste einer Welt, die kurz vor ihrer vollständigen Virtualisierung steht. In diesem Zusammenhang beschreibt die im Film umworbene „Off-World“ viel weniger die Kolonien auf fremden Planeten als unsere Flucht in digitale Welten. Die Frage nach dem Menschsein weicht in „Blade Runner 2049“ dann der Frage nach der Überwindung des Menschen und allen damit einhergehenden Konsequenzen. Wozu leben, wenn es weder Vergangenheit noch Zukunft und folglich auch nichts zu verlieren gibt? Was bleibt ist eine endlose Leere. Und der Kameramann Roger Deakins findet atemberaubende Bilder, welche das gedankliche Vakuum der Figuren und all ihre beziehungsweise unsere existentiellen Fragen virtuos spiegeln.

Von Beginn an ist in den Bildern von „Blade Runner 2049“ die dramatische Wucht des Raumes spürbar. Es steckt eine bizarre Leere in den Orten und wie sie von der Kamera eingefangen werden. Waren die Räume in Ridley Scotts „Blade Runner“ noch heruntergekommene und vermüllte Labyrinthe, entleeren Villeneuve und Deakins die Räume im Sequel radikal. Aus der Sichtbarkeit filmischer Räume erwächst keinerlei Möglichkeit einer gewissen Kontrolle und damit Erkenntnisgewinn mehr für die Zuschauerin. Regisseur und Kameramann unterwandern zudem das Konzept, dass der Raum durch die Präsenz von Lebewesen erst zum Lebensraum wird. Beinahe alle Gebäude und Räume erscheinen nicht von Menschenhand gemacht. Ganz im Gegenteil kommt in ihnen die Kehrseite eines kühlen Oberflächendesigns als Entmenschlichung zum Tragen, weshalb die Lebewesen und ihre deprimierenden Beziehungen an diesen Orten fehl am Platz sind. Selbst die Stadtansichten L.A.’s zeigen nicht mehr den brodelnden Moloch, sondern einen sterbenden Ort. Zwar sind die Hauptstraßen nach wie vor grell erleuchtet. Der ganze Rest jedoch ist in Dunkelheit versunken und bezeugt damit einmal mehr die Abwesenheit des Menschen.

Die Räume sind in „Blade Runner 2049“ ganz klassische Seelenlandschaften. Und es braucht nicht lang, bis sich der Schmerz ihrer Leere auf das Publikum überträgt und es sich im Kinosessel in einer ungeheuren Melancholie über die Einsamkeit wiederfindet. Der Versuch, die Figuren im Raum zu verorten und Verhältnisse gerade zu rücken, ermüdet das schauende Auge, weil die Figuren keinen Halt in diesen mal endlosen, mal vernebelten, mal verschatteten Räumen finden. Immer wird etwas gesucht in diesen Räumen und Bildern, und das Auge der Zuschauer sucht ebenfalls. Doch es zerbricht an der Tatsache, dass es in ihnen nichts zu finden gibt.

„Blade Runner 2049“ ist ein Film von großer Traurigkeit, der uns mit unserer eigenen Menschlichkeit im Angesicht unserer selbstgewählten Abschaffung konfrontiert. Leer und ausgebrannt lässt er uns zurück. Selten hat man das Kino verletzlicher verlassen. Aber die Leere bietet immerhin auch die Chance auf einen Neuanfang ganz am Ende dieses übermächtigen und beeindruckenden Filmes.

Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Blade Runner 2049“.

monster

Monster Trucks

(USA 2016, Regie: Chris Wedge)

Fehler in allen Teilen
von Ricardo Brunn

Irgendwo wird ein Loch gebohrt und ein Rohr verlegt. Doch anstatt einen dicken Schwall Öl auszustoßen, fördert das Loch nur schleimige Tentakelwesen zu Tage. Zwei von ihnen können noch vor …

Irgendwo wird ein Loch gebohrt und ein Rohr verlegt. Doch anstatt einen dicken Schwall Öl auszustoßen, fördert das Loch nur schleimige Tentakelwesen zu Tage. Zwei von ihnen können noch vor Ort von der Ölbohrfirma dingfest gemacht werden. Das dritte verkriecht sich im Motorraum eines zerstörten Geländewagens. Kurz bevor dieser in der Schrottpresse landet, macht das Monster Bekanntschaft mit Tripp (Lucas Till), der auf dem Schrottplatz nicht nur gern an seiner Hydraulikpresse spielt, sondern ein Herz für Motoren besitzt und liebevoll einen eigenen Truck zusammenbastelt, in dessen Motorraum sich das schleimige Etwas Obdach sucht. Schnell entdeckt Tripp, dass sich das Vieh wie ein lebender Motor benimmt und seinen alten Truck zu Höchstleistungen anregt. Gemeinsam mit Tripps High-School-Kameradin Meredith (Jane Levy) gilt es nun die Tentakelwesen wieder zu vereinen und in ihr natürliches Umfeld zu entlassen. Wären da nicht die bösen Schergen der Ölbohrfirma, die gern den dunkel glänzenden Ölfilm des Schweigens über die Angelegenheit ausbreiten würden.

So kompliziert es sich für Tripp gestaltet, das Monster in seinem Motorraum unter Kontrolle zu bekommen und die Heldenreise zur Rettung der Tentakelmonster anzutreten, so schwer schien es auch dem Regie-Dompteur Chris Wedge gefallen zu sein, das hanebüchene Drehbuch manierlich durch die Manege zu treiben. Für das Publikum wird es mit jeder Minuten schwieriger, die phantastischen Elemente, kruden Ideen und naiven Figuren dieses Sci-Fi-Fantasy-Stoffes irgendwie zu ertragen. „Monster Trucks“ ist ein Flickenteppich, der Unterhaltung nur unfreiwillig durch Fremdschämen zu erzeugen vermag. Ganz exemplarisch lassen sich die Probleme dieses Machwerks an der Beziehung Tripps zu Meredith fassen. Die rosarotbebrillte Mitschülerin folgt dem stoischen Schönling überall hin, egal wie sehr der sie auch ignoriert. Wo sich in jedem anderen Film langsam Zuneigung und schließlich Liebe entwickeln würde und die Zuschauer ein Interesse am Überleben der Figuren entwickeln würden, ignoriert Tripp konsequent alle Versuche der Annäherung Merediths. Umso überraschender ist es dann, als die beiden doch noch Händchen haltend in den Sonnenuntergang fahren. Noch nicht einmal die grundlegenden Klischees vom durchtrainierten Naturburschen mit ölverschmierten Händen, reinem Herzen und praller Hose, der sich in dralles Blondchen, das es faustdick hinter den emanzipierten Ohren hat, verliebt, wollen „Monster Trucks“ gelingen. Stattdessen tuckert der Film auf einem halben Zylinder rum und verliert ständig Öl, in dem die Erzählung ausrutscht und sich eiskalt das Genick bricht.

Irre auch wie Naturschutz und Truckfahren in „Monster Trucks“ keinerlei Widerspruch darstellen. Im Gegenteil rahmen dicke Autos in grünen Landschaften Beginn und Ende des Filmes. „Monster Trucks“ ist in all seiner stumpfsinnigen Beschissenheit nicht zuletzt damit ein fast schon beschissen guter Film über die Versuche unserer Zeit, Dinge zusammen zu denken, die unmöglich (oder eben nur im Kapitalismus) zusammengedacht werden können, ohne dass irgendein Hahn danach krähen würde. Denn so sehr man sich drüber aufregen könnte, vergegenwärtigen das dicke Auto und die saftige Wiese doch nur unsere eigene Haltung, wenn wir nach wie vor ernsthaft glauben, die überbordende Mobilität eines jeden Einzelnen mit einem simplem Umschwenken auf Elektroautos aufrechterhalten zu können, ganz so, als würde es dadurch keine Ressourcenverschwendung mehr geben. Weiter so!

Paranoia – Riskantes Spiel

(USA 2013, Regie: Robert Luketic)

Tech-Thriller für die Ausklappcouch
von Ricardo Brunn

Früher – das heißt in „Paranoia“ von Robert Luketic vor der Finanzkrise – war alles irgendwie geschmeidiger. Leistung wurde noch mit Aufstieg belohnt. Der amerikanische Traum war noch keine Illusion …

Früher – das heißt in „Paranoia“ von Robert Luketic vor der Finanzkrise – war alles irgendwie geschmeidiger. Leistung wurde noch mit Aufstieg belohnt. Der amerikanische Traum war noch keine Illusion oder zumindest als solche nicht erkennbar. Und auch Apple-Chef Steve Jobs präsentierte seine Produkte noch mit dieser eigenen Mischung aus Messeandacht, Hippe-Happening und Geschichtenerzählen mit Papa. Es war eine schöne heile Start-Up Welt. Alles schien möglich.

Heute hingegen verliert Technikvisionär Adam Cassidy (Liam Hemsworth) die Zusatzversicherung, die die Krankenhausrechnungen für die Behandlung seines Vaters decken sollte, weil sein Arbeitgeber diese kurzerhand wegrationalisiert hat. Doch Adam ist nicht auf den Kopf gefallen und pitcht dem bitchigen Boss, Konzerngründer Nicolas Wyatt (Gary Oldman), kurzerhand eine Idee, die das Smartphone mit dem Fernsehgerät verbindet. Wyatt kann sich allerdings nicht für diese tatsächlich stumpfsinnige Idee begeistern, weshalb Adam aus Wut über die Abfuhr des Chefs seine Kollegen spontan in den heißesten Club der Stadt einlädt und mal eben 16.000 Dollar mit seiner noch nicht gesperrten Firmenkreditkarte verbrät. (Wer’s braucht.) Dass er damit nicht durchkommt, geht Adam am nächsten Tag glühendheiß auf. Prompt wird er vom Ex-Chef für dessen Machenschaften missbraucht. Wyatt steht vor dem Konkurs und will beim Konkurrenten Eikon mittels Industriespionage einen Vorteil gewinnen. Adam soll sich mit Firmenchef Goddard (Harrison Ford) anfreunden und so die neueste Errungenschaft aus dem Hause Eikon stehlen. Macht sich der smarte Goldjunge anfangs als Spielball ganz gut, beginnt er bald eigene Gedanken zu entwickeln, mit dem FBI zusammenzuarbeiten und seine Skills zu nutzen, um doch noch irgendwie heil aus der Sache rauszukommen.

Klar, in den Kontrahenten Wyatt und Goddard lassen sich Patentstreitereien großer Telefonhersteller genauso hineininterpretieren wie die Gründungsmythen einiger amerikanischer Technologieunternehmen. Das war es dann aber schon mit den Fähigkeiten dieses Kuschel-Thrillers. „Paranoia“ will alles richtig machen, als hätte ein Algorithmus das Drehbuch geschrieben und dabei noch die bösen Technologieriesen aus der David-Perspektive mit der eigenen Gier und Machtsucht zu konfrontieren versucht. Doch wie Adams Vater ist die Dramaturgie des Filmes entweder auf der Ausklappcouch vor dem Fernseher hängen geblieben oder schleppt sich träge durch die Zeit. Adams Frauchen, erst ganz thoughe Businessfrau, dann zahm wie ein Hamster auf Prozac, verzeiht dem charming Tech-Boy-Toy auch noch den allergrößten Bockmist mit Augenaufschlägen, bei denen jeder Boxsack Risse bekommt. Kev, Adams Programmierkollege und best buddy, wird der Zielgruppe wegen der Look und das Charisma eines Otacon aus der Metal-Gear-Solid-Videospiel-Reihe übergestülpt. Die einfallslose Kameraarbeit sorgt mit wahllos aneinander gereihten Großaufnahmen immerhin dafür, dass die Zuschauer das Figurenrepertoire prima auf dem Smartphone anschauen können, während sie in der S-Bahn durch die City gurken. Wer braucht schon ein Kino für diesen High-Tech-Schmarn von Film. Hin und wieder werden ein paar Dialogzeilen fluffig wie ein Pustekuchen eingestreut, die nach der ganz großen Big-Data-Kritik klingen sollen.

Wenn alles nichts hilft, fügt man dem Filmtitel einen fetzigen Untertitel hinzu und setzt die Schrift auf dem Filmplakat kursiv. Da kommt die Bewegung auf, zu die der Film sonst nur ansetzt, wenn mal wieder ein neues Fahrzeugmodell in Szene gesetzt werden muss. Das Auto ist in „Paranoia“ Symbol für sozialen Aufstieg und Kontrolle zugleich. Jeder Schritt Adams wird mit einem neuen Wagen honoriert. Passend dazu wird er von den schwarzen SUVs der Schergen Wyatts verfolgt und eingekeilt. Die Darstellung des Autos ist der interessanteste Kniff in „Paranoia“. Noch in der letzten Szene wird ein neues Modell ins Bild geschoben. Adam will seinen Vater nach Hause bringen, der mit Blick auf des Sohnemanns neuen Flitzer sogleich fragt, ob Adam denn nichts aus den Geschehnissen gelernt hätte. Doch, wiegelt der (ganz Werbeprofi) ab, die Karre sei doch nur geliehen.

„Paranoia“ ist so unterhaltsam wie die Vorstellungen des allerneuesten Technik-Mülls aus dem Hause Apple oder Samsung. Die Spannung sackt gnadenlos in sich zusammen angesichts des fehlenden Entwicklungspotentials und Einfallsreichtums. So wie Apple und Co. uns jedes Jahr aufs Neue mit einem neuen Telefon die Revolution versprechen, die sich in seismographisch kaum wahrnehmbaren Verbesserungen des Bestehenden erschöpft, spult auch dieser Streifen sein Programm einigermaßen professionell runter. Irgendwer wird den Mist schon kaufen.

Happy End

(F/AT/D 2017, Regie: Michael Haneke)

Emotionslose Faktensammlung
von Dietrich Kuhlbrodt

Wer erinnert sich noch, wann er das erste Mal auf ein Wimmelbild geguckt hat? Oder später als gelehriger Schüler oder wissensdurstiger Studi auf den mittelalterlichen Bruegel („Triumph des Todes“), auf …

Wer erinnert sich noch, wann er das erste Mal auf ein Wimmelbild geguckt hat? Oder später als gelehriger Schüler oder wissensdurstiger Studi auf den mittelalterlichen Bruegel („Triumph des Todes“), auf Menschen, die nichts zu sagen hatten? Okay, dann ist »Happy End« die Fortsetzung.

Inzwischen, im 21. Jahrhundert, sind wir zivilisierter geworden. In Michael Hanekes in Calais gedrehtem Film sind wir in der gehobenen feinen Gesellschaft, die dort das Sagen hat. Die Elite, geschult in nur ihr zugänglichen Akademien, bewahrt die Contenance – nach außen hin. Intern gibt’s Hauen und Stechen (Wer kriegt die Firma?), untereinander (der Sohn gehorcht nicht, am Ende hilft Isabelle Huppert mit einem kräftigen, aber dezenten Stich in den Bauch), gern aber machen die Angehörigen der standesgemäß disziplinierten Führungsriege mit sich selbst Schluss, der Sippenchef Jean-Louis Trintignant ein ums andere Mal. Keine Sorge! Die Rechtsanwälte machen einen Unfall draus. Die Mutter liegt schon im Sterben, die 13jährige hat’s auch schon versucht. Aber pst!

Und jetzt zu mir. Warum erzähl’ ich den Plot nicht? Was ist mit der narrativen Ebene? Gegenfrage: Gibt’s beim Wimmelbild eine Handlung? Der österreichische Regisseur bietet in seiner emotionslosen Faktensammlung eine mehr als 100 Minuten lange Aufzeichnung naturwissenschaftlicher Art, dokumentarisch. Musik wird nicht eingesetzt. Zwischen den vielen Miniszenen gibt es Pausen. Die Darsteller sehen wir zum guten Teil schweigen. Wenn Geräusche zu hören sind, dann auf der Straße.

Gegen alle Wahrscheinlichkeit wächst beim Anschauen die Anteilnahme, jedenfalls meine. Die 13jährige wird zur (kommunikationslosen, autistischen) Hauptperson. In ihr sind Gefühle gespeichert, zum Bersten voll. Sie schiebt den Rollator mit dem Opa hilfreich ans Wasser, damit endlich der Suizid klappt: im Ärmelkanal. Sie filmt das Event mit ihrem Smartphone.

Der Sohn, der die Firma nicht übernehmen will, übernimmt ein halbes Dutzend schwarze Flüchtlinge aus den Lagern von Calais und schleust sie in das Festdiner ein. Die Oberschichtmänner beginnen, sich zu kloppen.

Und wieso ist das das Happy End? Wer Hanekes Mord- und Selbstmordfilm „Liebe“ gesehen hat, erwartet eine Antwort, eine Antwort anderer Art. Wie wär’s damit, dass die herrschende Elite glücklicherweise mit sich selbst ein Ende macht?

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Happy End“.

Polina

(F 2016, Regie: Valérie Müller, Angelin Preljocaj)

Im Rausch der Bewegung
von Bernd Kronsbein

Die Graphic Novel „Polina“ (dt. bei Reprodukt) von Bastien Vivès ist einer dieser Comics, die man skeptisch beginnt und dann mit zunehmender Begeisterung liest. Die Geschichte einer Ballerina, wie soll …

Die Graphic Novel „Polina“ (dt. bei Reprodukt) von Bastien Vivès ist einer dieser Comics, die man skeptisch beginnt und dann mit zunehmender Begeisterung liest. Die Geschichte einer Ballerina, wie soll das gehen in einem Medium, das Bewegung nur stilisieren kann und auch noch stumm ist? Nicht mal Farben setzt der junge Franzose ein, um die Geschichte zu erzählen. Aber es funktioniert. Sogar atemberaubend.

Valérie Müller und Angelin Preljocaj, die Regisseure der Filmadaption, haben da quasi einen Heimvorteil, denn Bewegung und Musik gehören zu ihrem Medium dazu. Und dennoch gibt es erstaunlich wenig Filme, die sich ernsthaft mit Tanz oder Ballett befassen. Robert Altmans „The Company“ fällt einem ein, „Die roten Schuhe“ von Michael Powell und Emeric Pressburger, mit etwas gutem Willen vielleicht noch Darren Aronofskys „Black Swan“, dann wird es aber auch schon dünn. Um so großartiger, was Müller und Preljocaj da geleistet haben. Denn „Polina“ ist nicht nur eine mehr als würdige Adaption des Comics – mit ganz eigenen Mitteln –, sondern auch ein herausragender Film über eine Ausdrucksform, die irgendwo zwischen Hochleistungssport und Kunst angesiedelt ist.

Polina ist blutjung, als sie beim Ballett abgegeben wird, und schnell ist klar, dass auf ihr die Hoffnungen ihrer Eltern ruhen, dem tristen russischen Alltag einmal zu entfliehen. Irgendwo am Horizont lockt das Bolschoi und damit ein Traum, der sich nur für wenige erfüllt. Aber schon eine sehr frühe Montage im Film zeigt, dass das nicht Polinas Weg sein wird. Denn parallel erleben wir, wie sie im kalten Ballettsaal die immer gleichen Übungen unter den strengen Augen ihres Lehrers durchführt und draußen im Schnee vor den rauchenden Kühltürmen eines Kraftwerks ganz unbefangen und so gar nicht wie eine Ballerina herumtanzt.

„Polina“ ist insofern auch ein Film übers Erwachsenwerden, über die Schwierigkeit, eigene Wege auch gegen Widerstände zu gehen, Scheitern nicht ausgeschlossen, ja nicht einmal unwahrscheinlich. Und tatsächlich ist Polinas Weg steinig. Erst hakt sie das Bolschoi ab, dann kommt sie nach Frankreich, später nach Belgien und ihr Leben wird nicht unbedingt besser. Tatsächlich ziehen Müller und Preljocaj hier eine Ebene ein, die bei Vivès keine große Rolle spielt. Denn Polina hat kein Geld und muss sich irgendwie durchschlagen, wie so viele junge Künstler, die ihren Traum leben und es doch nie richtig schaffen. Und wer jetzt glaubt, am Ende kommt der große Erfolg und alles wird gut, hat nicht mit dem Mut der Filmemacher gerechnet, die sich am Schluss weit von der Vorlage entfernen und ein erheblich offeneres, fast schon mystisches Ende wählen, das viel Spielraum lässt für Interpretationen.

Und auf dem Weg dahin ist „Polina“ ein Rausch der Bilder, der mit typischem Erzählkino eher wenig zu tun hat. Die Geschichte ist der Rahmen für die Tanzdarbietungen, die – und das kann man gar nicht genug betonen – nie zur Nummernrevue werden. Hier geht es vor allem um harte Arbeit, um ständiges Üben und Wiederholen, um Verletzungen und Probleme. Bemerkenswert, dass man nicht einmal auf die Geräusche verzichtet, die die Tänzer zwangsläufig machen; da wird nicht das „Leichte“ suggeriert, indem man den O-Ton ausblendet und die Musik reinregelt. Erst ganz am Schluss sieht man eine ganze Choreografie – und auch das nur: vielleicht.

Diese Kritik erschien zuerst auf: Comic.de

The Square

(SWE, DK, FRK 2017, Regie: Ruben Östlund)

Mechanismen des Wegschauens
von Wolfgang Nierlin

Christian (Claes Bang) ist Kurator für avantgardistische Kunst am fiktiven X-Royal Museum in Stockholm. Zu Beginn von Ruben Östlunds preisgekröntem Film „The Square“ sitzt er zum Interview mit einer englischen …

Christian (Claes Bang) ist Kurator für avantgardistische Kunst am fiktiven X-Royal Museum in Stockholm. Zu Beginn von Ruben Östlunds preisgekröntem Film „The Square“ sitzt er zum Interview mit einer englischen Journalistin in einem leeren Raum, der den Titel trägt: „Du hast nichts“. Christian hat zwei kleine Töchter, lebt aber allein. Er ist attraktiv, kultiviert und überarbeitet, zeigt in Entscheidungsfragen allerdings eine unsichere, schwankende Persönlichkeit. Als er auf dem Weg zur Arbeit entgegen der allgemeinen Gleichgültigkeit um ihn herum eher unfreiwillig eine Hilfe suchende Frau gegenüber einem Verfolger verteidigt, wundert er sich selbst über seinen Mut. Doch dann bemerkt er, dass er bestohlen wurde und wird selbst zum eher zögerlichen Verfolger.

„The Square“ ist ein doppelbödiger, zwischen Ernst und Satire oszillierender Film über die Frage nach dem richtigen, verantwortungsvollen Handeln. Indem er den ironischen Blick auf die schillernde Oberflächlichkeit der Kunstszene mit einer schneidenden Gesellschaftsanalyse verbindet, thematisiert er zugleich den Widerspruch zwischen idealen Werten und persönlichem Handeln, das von Statusdenken, vor allem aber von Angst geprägt ist. Das titelgebende Kunstwerk „The Square“, ein Quadrat der Größe vier mal vier Meter, das von einem Leuchtband eingefasst ist, dient dafür als visuelle Metapher, die sich als Bildmotiv in vielfachen Spiegelungen im Film wiederfindet. Die ihm beigegebene Definition lautet: „Das Quadrat ist ein Zufluchtsort, an dem Vertrauen und Fürsorge herrschen. Hier haben alle die gleichen Rechte und Pflichten.“

Um die Differenz wischen künstlerischer Utopie und Lebensrealität sowie das Vertrauen in soziale Werte zu diskutieren, konfrontiert Östlund seinen Protagonisten immer wieder mit Bettlern und Hilfsbedürftigen, vor allem aber mit einem kleinen, ziemlich energischen Jungen, der sich zu Unrecht als Dieb verunglimpft fühlt. In einer der spannendsten und intensivsten Szenen, in der es sowohl um die gesellschaftliche als auch individuelle Modellierung unterlassener Hilfeleistung geht, verwischt der schwedische Regisseur die Grenze zwischen künstlerischer Performance und realer Gewalt. Nur wer sich ruhig verhalte, keine Angst zeige und sich in der „Herde“ der Anwesenden verstecke, könne der eindringenden, übergriffigen Gefahr entgehen, lautet die ans Publikum gerichtete Handlungsanweisung. Und so macht gerade die reale Gewalterfahrung, als künstlerische Inszenierung ausgegeben und von institutionellem Druck sanktioniert, auf erschreckende Weise soziale Mechanismen des Wegschauens sichtbar.

Es

(USA 2017, Regie: Andy Muschietti)

Verdrängen und vergessen
von Ricardo Brunn

Etwa in der Mitte der Neuverfilmung von Stephen Kings Angstverdrängungsroman „Es“ verfrachtet Regisseur Andy Muschietti den Klub der Loser für ein strategisches Gespräch in die Garage von Bills Elternhaus. Eine …

Etwa in der Mitte der Neuverfilmung von Stephen Kings Angstverdrängungsroman „Es“ verfrachtet Regisseur Andy Muschietti den Klub der Loser für ein strategisches Gespräch in die Garage von Bills Elternhaus. Eine Karte der Stadt wird an die Wand gehängt und über einen Diaprojektor das Abwassernetz der Kleinstadt Derry auf die Karte geworfen. Ben – der die Sommerferien aus Mangel an Freunden ursprünglich in der Stadtbücherei verbringen wollte – klärt die Gruppe mithilfe dieser beiden übereinanderliegenden Bilder darüber auf, dass alle Orte, an denen Es ein Kind getötet hat, und alle Orte, an denen in der Stadtgeschichte Derrys Unglücke geschehen sind, mit dem Abwassersystem verbunden sind. Es, so wird offensichtlich, lauert in den Kanälen, den Adern der Stadt. Wer Es töten will, muss sich nach unten begeben und natürlich ist damit das Unterbewusstsein jedes einzelnen Gruppenmitglieds genauso gemeint wie das der Kleinstadt Derry. Doch kaum ist ausgesprochen, was nun zu tun ist, reißt einer der Jungs angsterfüllt die Karte von der Wand und schaltet das Dia weg. An dessen Stelle erscheint ein Familienbild. Bills toter Bruder George steht da lächelnd Hand in Hand mit Mutter und Vater im Sonnenlicht und plötzlich beginnt der Diaprojektor ein Eigenleben. Nach und nach schaltet er von einem Familienfoto auf das nächste. Immer wieder scheint sich dasselbe Bild dabei zu wiederholen, bis die Bildwechsel schneller werden und eine Art Zoombewegung auf Bills Mutter einsetzt, deren Gesicht nicht zu erkennen ist, weil in den Einzelbildern der Wind ihre Haare umherwirbelt. Erst als aus der unfreiwilligen Diaschau ein Film wird, weil die Bilder immer schneller durch den Projektor rasen, wird hinter den fliegenden Haaren langsam Es in Gestalt des Clowns Pennywise sichtbar. Und in dem Moment da die Angst aller Anwesenden am größten ist, springt der Clown quasi aus der Leinwand heraus mitten in das Garagen-Kino. Entkommen können die Kinder dem raumgroßen Clown nur, indem sie diese Kinosituation auflösen. Als die Garagentür geöffnet wird und somit Tageslicht in den Raum fällt, verschwindet auch Pennywise.

Im Grunde genommen funktioniert „Es“ von Andy Muschietti nach genau diesem Schema. Wie das Kino selbst hat auch der Clown Pennywise seinen Ursprung auf dem Jahrmarkt neben all den „kleinen Ängsten“ von der Achterbahn, über die Geisterbahn bis hin zu den Freak-Shows. Und ganz in der Tradition eines Kinos der Attraktionen wirkt der Horror in „Es“ als stampfendes Affektkino mit fortlaufenden Angriffen auf unsere Sinne. Den Attraktionen des Jahrmarktes gleich wird die Auseinandersetzung mit diesen Ängsten im Kino als Achterbahnfahrt bis zu einem gewissen Punkt (wenn der Saal wieder hell respektive das Garagentor geöffnet wird) zugelassen. Für einen kurzen Moment erwirkt die Überforderungssituation ein lustvolles Hingeben an die Angst. Kurz kommen wir in Berührung mit den Tiefen unseres eigenen Es. Danach fallen die Ängste wieder zurück ins Reich des Unbewussten. Das Publikum kann aufatmen und erleichtert nach Hause gehen. „Es“ bedient sich – und die Garagen-Szene steht dafür exemplarisch – unserer Lust auf die Furcht als Kompensation für die fehlende Beschäftigung mit den eigenen tief in uns schlummernden Ängsten, weshalb der fiese Clown (Bill Skarsgard) am Ende des Filmes noch einmal „Fear!“ dahinsäuseln darf, kurz bevor er in die bodenlose Tiefe stürzt. „Es“ kratzt mit den langen Fingernägeln des Überwältigungskinos an der Oberfläche unserer Ängste wie auf einer Schultafel. Leider gilt dies auch in negativer Hinsicht, was den schönen Ansätzen den Todesstoß versetzt. Denn absichtsvolles Verdrängen steht in diesem Film immer auch gegen desinteressiertes Vergessen, welches im Verlauf des Filmes virulenter wird.

So ist die Kleinstadt Derry ein ganz und gar charakterloser Ort, der in Schauplätze zerfällt, die nie ein organisches Ganzes ergeben wollen. Kleinstädtische Vorurteile, Ignoranz, Patriarchat, Autorität und unterschwelliger Rassismus (allesamt in der Kanalisationsmetapher angelegt) werden zu Beginn oberflächlich abgehandelt und spielen im Gegensatz zur Romanvorlage eine im weiteren Verlauf des Filmes untergeordnete Rolle. Den Kindern der Loser-Truppe mangelt es an charakterlichen Unterschieden. Alles bleibt beispielhaft und damit oberflächlich: der Dicke, der Kranke, das Mädchen und der schüchterne Stotterer. Die spannende Schwelle von der Kindheit hin zur Jugend klappert der Film unter diesen Voraussetzungen nur symbolisch ab, wenn er Beverly verlegen Tampons kaufen lässt, Richie unaufhörlich seine Sexwitzchen reißen darf oder Stanleys Vorbereitungen zur Bar Mizwa gezeigt werden. Das war es dann aber auch schon mit Figurenbeschreibung und Verhandlung des schwierigen Prozesses vom Erwachsenwerden. So verpufft auch die Entwicklung hin zum ausgesprochenen „Nein!“, um elterlicher Autorität zu begegnen, in der oberflächlichen Abarbeitung jugendlicher Befindlichkeiten. Ganz zu schweigen von der Darstellung des Sommers, in dem sich die Zeit so unendlich zu dehnen vermag und Gedankenräume eröffnet. „Es“ nimmt sich, obwohl der Film sich auf die Erzählung der Geschichte der Jugendlichen beschränkt, für all das keine Zeit.

Stattdessen ist der Film darauf erpicht in seinem Horror eine visuelle Überforderung des Publikums zu provozieren, die sich in ihrer visuellen Klarheit jedoch viel zu eindeutig gibt, sich auf Jump-Scares beschränkt und damit schon wieder gar nicht gruselig ist. Es fehlt an der Subtilität des Verdrängten. Es wird gezeigt, anstatt zu verbergen. Zeigen verweist aber auf die Möglichkeit des Vergessens und schlaflose Nächte hat man nach „Es“ gewiss keine. Schlimmer noch verkommen die ästhetischen Entscheidungen, die Handlung des Filmes in die 1980er Jahre zu verlegen, zu reinstem Marketing. Die Leserinnen des Romans von damals sind heute Erwachsene und können noch einmal in der Zeit zurückreisen, in die eigene Kindheit. Abseits hübscher Ausstaffierung (inklusive Airwolf-T-Shirt) interessiert sich der Regisseur herzlich wenig für diese Dekade. Politische Dimensionen, Rassismus oder gar die wirtschaftlichen Implikationen der Reagan-Ära bleiben außen vor. Alles ist Fassade im 80er-Hype. „Es“ ist nicht mehr als ein ästhetischer Nachahmungstäter, dessen Bilder auch leicht mit jenen aus „Stranger Things“ verwechselt werden können und kaum nostalgisches Erinnerungspotential besitzen. So bleibt der Film artifiziell, ohne Seele und ohne Interesse an seinen Figuren, Bildern und Themen. Dabei hätte „Es“ ein Film über die Angst der Überforderung werden können oder eben über die Ängste, die sich durch Erziehung in unser Leben schleichen. Der Film verpasst es hingegen völlig, das Publikum unter der Angstmaschinerie des Horrorkinos Verdrängungsmechanismen spüren zu lassen, unverarbeitete Ängste als unablässig wuchernden Efeu anzudeuten und so auch gerade Teil 2 sinnvoll vorzubereiten. Bis dieser erscheint, gibt es nichts zu verdrängen, nur alles zu vergessen.

Lulu – Die nackte Frau

( , Regie: )

Sie war noch niemals in New York
von Ricardo Brunn

Plötzlich ist sie da. Obwohl sie sich in der Rückschau natürlich über einen längeren Zeitraum angekündigt hat, überrascht ihr Auftritt doch den, den sie erwischt: Die Sehnsucht aus dem eigenen …

Plötzlich ist sie da. Obwohl sie sich in der Rückschau natürlich über einen längeren Zeitraum angekündigt hat, überrascht ihr Auftritt doch den, den sie erwischt: Die Sehnsucht aus dem eigenen Leben auszubrechen. Sehnsucht weniger im Sinne eines Fernwehs, sondern als schmerzvoller Abschied, als Versuch vermeintlichen Sackgassen zu entkommen, weil die Lebenssituation wie ein unauflöslicher Betonklotz erscheint, es keine Außenperspektive mehr gibt, die einen anderen Blick und damit Offenheit suggerieren könnten. Und zuerst ist diese Sehnsucht eine gedankliche Flucht verbunden mit der Frage, in was man da nur hineingeraten ist und Leben nennt. Irgendwann werden die Fragen mehr und gewichtiger, nur gesellen sich zu ihnen keine Antworten. Bleischwer und ausweglos folgt ein Tag auf den anderen. „Noch einmal voll von Träumen sein, sich aus der Enge hier befrei’n“, heißt es bei Udo Jürgens, der Zeit seines Lebens von nichts anderem als der Sehnsucht gesungen hat. Und eines Tages verschwindet man dann tatsächlich aus dem eigenen Leben, lässt alles zurück. So wie Lulu, 40 Jahre alt und Mutter dreier Kinder nach einem missglückten Bewerbungsgespräch plötzlich von ihren Füßen aus dem Alltag heraus getragen wird. Ein Anruf bei der Familie noch, der beruhigend gemeint ist, aber auf der Gegenseite nur Unverständnis provoziert, dann ist sie allein mit dem Schlüssel in der Hand in einem Hotelzimmer. Mit dieser Plötzlichkeit einer sich in Wirklichkeit verwandelnden Sehnsucht beginnt der französische Autor Étienne Davodeau seine nicht weniger als großartig zu nennende Graphic Novel „Lulu – Die nackte Frau“.

Das, was über Lulus Verschwinden bekannt ist, darüber berichten ihre Freunde und die Familie. Und weil es so plötzlich geschehen ist wird auch der Erzähler kurz zurückgepfiffen und gebeten mit seinem Bericht zu warten bis die Kinder ins Bett gebracht wurden. In der Folge werden Vermutungen angestellt und tatsächlich Erlebtes zusammengetragen. Man wechselt sich ab, bleibt ratlos stehen, nimmt den Faden der Erzählung wieder auf, begibt sich auf Spurensuche in das Leben einer Person, die man dachte zu kennen. Lulu selbst liefert keine Antworten für ihr Verhalten. Étienne Davodeau begleitet sie einfach durch die Welt. Nur in zaghaften Nebensätzen wird Lulus Dilemma deutlich, wenn sie sich ausmalt, was in den kommenden Jahren Gutes passieren hätte können und sie darauf einfach keine Antwort findet. Die Beschreibungen und Dialoge nähern sich mit ehrlichem Staunen Lulus unauflösbarem Gefühlsstau. Es ist die Kraft der Berichterstattung, die hier die Reflexion ermöglicht, die nach dem Ende so häufig einsetzt und für verständnisvolle Klarheit sorgt. Auf diese Weise setzt der Autor den vielen Momenten der Erzählung, die allen Klischees des Road Movies sehr nah rücken, eine Ernsthaftigkeit in der Betrachtung der Figur entgegen, die von großem Respekt und Verständnis geprägt ist. Behutsam bewegt sich Davodeau an der Schwelle entlang, an der Sehnsucht in Wirklichkeit kippt, das Ende einen Anfang bedeutet oder irgendwo dazwischen im Moment verharrt.

Wie stark diese Graphic Novel ist lässt sich auch an den unspektakulären Bildern ersehen, denen in ihrer Schlichtheit ein Höchstmaß an Spannung zu Eigen ist. Den pastellig abgelebten und verwaschenen Farben sieht man 40 Jahre Dasein und die Ratlosigkeit der Protagonistin einfach an. Wie Kaffeeflecken auf einer Tischdecke evozieren sie Gedanken an die Vergangenheit. Der unruhige Strich umrandet labil die Bildkader und verleiht den Gesichtsausdrücken eine erdrückende Kraft. Das Ende und einen Neuanfang nie fest im Blick, aber latent in jedem Bild erspürbar, erwachsen aus den zittrigen Zeichnungen knochige und zugleich anmutige Physiognomien, die in ihrer schnoddrigen Einfachheit Raum für die Lebenserfahrung und die Unsicherheit der Figuren lassen. Dicke Wangen, schiefe Nasen und ungekämmtes Haar erzählen von der Enge und den Irrwegen, die das Leben einem manchmal aufzwingt. Und plötzlich bekommen die Bilder eine Breite in denen sich das weiß und die Nacktheit, im Sinne einer neuen Offenheit, ungewohnt und deshalb noch unsicher ausdehen darf, wenn Lulu den Strand erreicht.

Nacktheit ist in „Lulu – Die nackte Frau“ ausschließlich auf die emotionalen Zustände der Protagonisten zu beziehen, die hier von außen (in der Beschreibung von Freunden und Familie) und von innen (wenn wir ganz nah bei Lulu sind) erfahrbar werden und die eigene Nacktheit in der Welt transzendieren. Aus Davodeaus Buch wird jede Leserin geschüttelt und um einige Erfahrungen bereichert ins eigene Leben zurückkehren. Und wie das Leben selbst gern elliptisch seine Bahnen zieht und immer wieder Situationen schafft, die einem bekannt vorkommen, zur Reflexion zwingen oder zum andächtigen Schweigen raten, schwingt auch „Lulu – Die nackte Frau“ – ohne, dass es konstruiert wirken würde – in einer Kreisbewegung aus, entlässt die LeserInnen mit dem Gefühl, dass die belebende Kraft der Flucht auch ins Leben zurück führen kann, weil dadurch erst ein Referenzrahmen geschaffen wird, der das Erlebte mit anderen Augen sehen lässt. Und es liegt eine große Beruhigung darin, dass das Leben diese Ellipsen schlägt, nicht nur erbarmungslos nach vorne prescht und Zurückliegendes in Zurückgelassenes verwandelt. Selbst, wenn manchmal die physische Rückkehr nicht möglich ist, der Geist darf irgendwann beruhigt an den Anfang erinnern, als eine große Offenheit die Angst vor der Nacktheit einfach hinfort gespült hat und einen Sprung ins Leben ermöglicht hat.

Étienne Davodeau: Lulu – Die nackte Frau. Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter Verlag. Bielefeld 2012. 160 Seiten, 24,80 Euro

Dieser Text ist zuerst erschienen in: comic.de

Happy End

(F/D/AT 2017, Regie: Michael Haneke)

Welt ohne Mitleid
von Wolfgang Nierlin

Am Anfang steht der subjektive Blick, aus der Distanz gefilmt mit einer starren Handy-Kamera. Noch wissen wir nicht, wem er gehört und wer zeitgleich dazu die Bilder kommentiert, die eine …

Am Anfang steht der subjektive Blick, aus der Distanz gefilmt mit einer starren Handy-Kamera. Noch wissen wir nicht, wem er gehört und wer zeitgleich dazu die Bilder kommentiert, die eine Frau bei der Abendtoilette zeigen und kurz darauf einen Hamster, der unter den Wirkungen von Antidepressiva in seinem Käfig stirbt. Dann wird der Film scheinbar objektiv, behält aber die subjektive Perspektive bei, wenn er in der erhöhten Totale eine Großbaustelle zeigt, auf der, durch einen Erdrutsch verursacht, ein Unfall passiert. Dazu hören wir ein Telefonat, dessen einer Teilnehmer außerhalb des Bildrahmens sitzt und der unseren Blick teilt. „Happy End“, der neue Film von Michael Haneke, beginnt also mit Unfällen, Schicksalsschlägen, vielleicht Morden. Genauso wichtig ist aber, dass die im Wechsel von subjektiven und objektiven Blickrichtungen dargestellten Ereignisse nicht in verknüpfte Handlungen eingebettet sind, mithin kein Handlungszentrum beanspruchen.

Der renommierte österreichische Regisseur, der für seine Arbeiten vielfach ausgezeichnet wurde, ist ein Meister des fragmentarischen Erzählens und der produktiven Irritation. Weder erklärt er, was er zeigt, noch erleichtert er überhaupt die Identifizierbarkeit des Materials, das ungemein dicht und konzentriert inszeniert ist. Vielmehr muss der Zuschauer die losen Bruchstücke, in denen Bild und Ton oftmals entkoppelt sind und dadurch ihre „eigenen“ Geschichten erzählen, miteinander verknüpfen, auch wenn dann aus der Mehrstimmigkeit nicht unbedingt ein Ganzes entsteht. Überhaupt ist die Summe der Teile selbst ein Fragment. Es ist also nur bedingt legitim, hier so etwas wie eine linear erscheinende Geschichte zu erzählen.

Weil ihre depressive Mutter nach einem angeblichen Selbstmordversuch im Krankenhaus liegt, zieht die 12-jährige Ève (Fantine Harduin) zu ihrem Vater Thomas (Mathieu Kassovitz) nach Calais. Der Arzt und Klinikchef hat nach der Scheidung wieder geheiratet, betrügt aber auch seine neue Frau Anaïs (Laura Verlinden). Einmal sagt er zu Ève, die einsam und traurig ist: „Ich bin es nicht mehr gewohnt, eine Tochter zu haben.“ Die Distanziertheit, ja Liebesunfähigkeit des Vaters korrespondiert mit der emotionalen Verhärtung des Kindes, das in vielfacher Hinsicht vom Tod umlagert ist. Die Sprachlosigkeit zwischen den beiden entspricht wiederum der Gefühlskälte und den instabilen Beziehungen im größeren Kontext der großbürgerlichen Familie Laurent, die im Bausektor ihre Geschäfte macht und deren Wohlstand ein ganz selbstverständliches Distinktionsmerkmal ist, was viele Szenen vermitteln. Während der 85-jährige Familien- und Firmenpatriarch Georges (Jean-Louis Trintignant) unter seinem Alter leidet und nach Wegen sucht, sein Leben zu beenden, führt sein Tochter Anne (Isabelle Huppert) die Geschäfte und ringt zugleich mit ihrem Sohn Pierre (Franz Rogowski), der sich den Erwartungen seiner Mutter verweigert.

Was Michael Haneke in den komprimierten Dramen seiner Erzählfragmente mit kühl analysierendem Blick registriert, sind die Zersetzungs- und Zerfallsprozesse einer großbürgerlichen Familie, die in der Gefühlskälte zerrütteter Beziehungen gefangen ist. Im Rekurs und zugleich in der Fortführung seiner in früheren Filmen etablierten Motive und Formsprache schildert Haneke in „Happy End“ eine Welt ohne Mitleid, die von einem egozentrischen Blick bestimmt ist. Dieser erlaubt es den Figuren leider nicht, durch den Schleier aus Lügen und Wohlstandsäußerlichkeiten hindurch den Anderen und also den Nächsten zu sehen.

Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Happy End“.

Blade Runner 2049

(USA/GB/CDN 2017, Regie: Denis Villeneuve)

Like tears in rain
von Drehli Robnik

Als im Jahre 1982 ein Science-Fiction-Film mit Harrison Ford als Detektiv unter dem Synchrontitel „Der Blade Runner“ in die Wiener Kinos kam, da erklärte mir ein Schulfreund (der sich zuvor …

Als im Jahre 1982 ein Science-Fiction-Film mit Harrison Ford als Detektiv unter dem Synchrontitel „Der Blade Runner“ in die Wiener Kinos kam, da erklärte mir ein Schulfreund (der sich zuvor in London bestens informiert hatte), für solch eine Art von Film gebe es jetzt ein neues Wort. Ich sagte: „Ja, eh – Film Noir.“ Und er meinte, nein, das sei die sogenannte Postmoderne. Sehr mysteriös und kompliziert also, das ganze. (Außerdem klang der Titel für österreichische Ohren nach einem Fall von Fettleibigkeit im Turnunterricht.)

Der neuen Regiearbeit des kanadischen Wunderwuzzis Denis Villeneuve („Prisoners“, „Sicario„, „Arrival„) eilt viel voraus: Das reicht vom Konsenswerk- und Stilbildner-Status des Original-Replikantenfilms bis zu breit gestreuten PR-Kraftakten für Blade Runner 2049″. Dieser ist unweigerlich mehr als eine Fortsetzung, und er operiert virtuos zwischen Reverenz und Revision. Homme triste Ryan Gosling in der Titelrolle ist nun (definitiv) ein Replikant, der im Polizeidienst folgsam auf seinesgleichen Jagd macht und darüber in ständiger Melancholie lebt. Entlang eines Detektivplots und durch Panoramen von ökologisch und posturbanistisch ruinierten Milieus arbeitet der Film seinen Vorgänger durch. Das geschieht sowohl im Modus eines Revisiting von Topoi (Verhör, Wand-Durchbruch, ein Lookalike zur Figur der Pris, eine Entsprechung zum Bradbury Building, paradigmatisch: das Scannen von Räumen auf Kommando) als auch narrativ: Die allmähliche Einsicht in die eigene Herkunft führt zum großen Generationentreffen zwischen Gosling und Ford.

Wie hier Umlenkungen und Phrasierungen gesetzt sind in unserer Erwartung und Erinnerung, sowie in einem vertraut anmutenden ödipalen Phantasma des Besonders- und Auserwählt-Seins, das ist konsequent in Sachen einer Cyborg-Ethik/Politik, die Künstlichkeit als Kategorie anerkennt – und sich dann nach Möglichkeiten von Subjekt-Werdung und Allianzen zwischen verdinglichten Existenzen umschaut. Zugleich aber entsteht an diesem „ideologisch“ spannenden Punkt etwas Krampf und Holpern in einer Story, die ansonsten packend und rührend ist, gerade in ihrer soghaften (im SciFi-Mainstream-Kino bemerkenswerten) Langsamkeit. (Insofern sind zwei der drei den Filmstart online flankierenden Kurzfilme, „Blade Runner 2022“ und „Blade Runner 2048“, in ihrer Krawall-orientierten Grobschlächtigkeit irreführend.) Ähnlich verhält es sich bei der Verbindung des Villeneuve-typischen Sujets „verlorene Kinder“ (seit „Incendies – Die Frau, die singt“ meist in eine etwas betuliche Mindgame-Erzählstruktur eingefasst) mit Motiven der Sklaverei, der Freilassung und der Kooperation mit dem Master, der Sweatshop-Ökonomie und Klassenherrschaft: Das ist politisch begrüßenswert – obwohl: Die Zentralstellung, die hier der Fortpflanzung eingeräumt wird (Auto-Reproduktion als Schlüssel zur Selbstregierung), ist diskutierbar –, aber es wird etwa in den Szenen mit Jared Leto als Konzernherr, Pendant zur Figur des Tyrell von 1982, ein bissl gar redselig. (Insofern ist der dritte Kurzfilm, „Blade Runner 2036“ mit Leto in der Replikanten-Konstrukteurs-Rolle, durchaus nicht irreführend.)

Markant ist hier, wie das Männerduo eingebettet ist in eine Riege von Frauen, die trotzig ihre Traurigkeit herunterschlucken und ihre jeweilige Mission verfolgen: Robin Wright als Polizeichefin, Ana de Armas als Hologramm-Geliebte, Sylvia Hoeks als Killer-Sekretärin. (File under Hommage: Die bedrohlichste und härteste Replikanten-Figur bleibt, wie einst Rutger Hauer, einer Darstellerin aus den Niederlanden vorbehalten.) Wie sehr damit ein rein männlicher Fokus in Sachen experience relativiert oder aber, gerade im Weg seiner Kränkung, bestätigt und in einen Rahmen gesetzt ist, wäre wohl noch auszuschnapsen. Jedenfalls wird auch Sean Youngs Figur der Rachel von 1982 hier regelrecht ein- und abgespielt und bietet vor allem Harrison Ford Gelegenheit zu einer großen Geste. Eine solche wiederum fehlt dem Action-Showdown, einer Hover-Car-Verfolgungsjagd mit anschließendem nächtlichem Nahkampf im strandnahen Meerwasser: Die Szene macht sich ganz selbständig gegenüber ihrem Vorgänger-Pendant, lässt aber auch dessen Prägnanz und moralische Aufladung vermissen.

Super aber ist „Blade Runner 2049“ unter einem Gesichtspunkt, der schon bei Ridley Scotts „Blade Runner“ seit jeher prägend war, nämlich als Eye&Ear-Candy oder, weniger zynisch gesagt, als Motivlandschaft: Wie hier eine sozialräumlich-rhythmische Textur aus Ausleuchtung und Überblendung, Abwarten und Umwerten, Regen und Weinen, Slum und Stille, Gelb und Glitch entfaltet wird, das geht – und zwar nicht im Sinn von „visionärer Kunst“, sondern im Sinn von sinnvoll ins Kino Gehen – in Richtung „I´ve seen things“.

Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Blade Runner 2049“.

Die Geträumten

(AT 2016, Regie: Ruth Beckermann)

Im Schweren beheimatet
von Wolfgang Nierlin

Zwei junge Menschen in einem Raum lesen sich Briefe vor, die auf sehr poetische Weise von der Liebe handeln und von der Literatur. Die Dichter Ingeborg Bachmann und Paul Celan, …

Zwei junge Menschen in einem Raum lesen sich Briefe vor, die auf sehr poetische Weise von der Liebe handeln und von der Literatur. Die Dichter Ingeborg Bachmann und Paul Celan, ein ungleiches, aber seelenverwandte Paar, haben sich diese ab Mitte 1948 geschrieben, nachdem sie sich im Frühjahr in Wien kennengelernt hatten. Jetzt, nach den traumatischen Erfahrungen des Krieges, lebt der 1920 in Czernowitz geborene Jude in Paris, wohin die 23-jährige österreichische Philosophiestudentin ihre sehnsuchtsvollen Zeilen schickt. Dabei wird das räumliche Getrenntsein zum imaginären Raum für eine Liebe, die in knapp zwanzig Jahren nur zu einigen wenigen Begegnungen findet. „Im Schatten beheimatet“, wie Celan einmal schreibt, handelt die aufschlussreiche Korrespondenz vor allem von einem konfliktreichen Wechsel zwischen Nähe und Distanz. Die Last der Geschichte, ungleich verteilter literarischer Erfolg, weibliche Emanzipation und psychische Zerrüttungen sind in ihn eingeschrieben.

Burgtheater-Schauspieler Laurence Rupp und Anja Plaschg, als Musikerin auch unter dem Künstlernamen Soap & Skin bekannt, lesen in Ruth Beckermanns Film „Die Geträumten“ diese Texte über das Hin und Her der Gefühle im Studio 3 des Wiener Funkhauses. Sprache und Sprechen werden zu einem Ereignis, das von der subtilen Inszenierung im Rahmen des reduzierten, kammerspielartigen Settings als ebenso dokumentarisch wie fiktional ausgewiesen wird. So erzeugt die Einbeziehung der Arbeits- und Aufnahmesituation zwar eine fortgesetzte Brechung der Illusion und damit eine gewisse Nüchternheit; andererseits vermittelt die „Verlebendigung“ der Texte durch den Vortrag der Schauspieler starke Emotionen. Diese bewirken, so scheint es zumindest, dass die Sprecher zeitweise aus ihren „Rollen“ heraustreten.

Tatsächlich oder wortwörtlich geschieht das in den Pausen, wenn Plaschg und Rupp zusammen Zigaretten rauchen, die Kantine aufsuchen oder einer Orchesterprobe beiwohnen (von Wolfgang Rihms „Die Eroberung von Mexiko“) und dabei sowohl über Privates plaudern als auch die Situation der Briefeschreiber in ihrem schwierigen Ringen um Leben und Kunst reflektieren. Ihre Begegnungen vor und jenseits der Mikrofone, vermittelt durch Einstellungsgrößen, die Positionen der Sprecher im Raum und zueinander sowie durch wechselnde Lichtstimmungen, werden schließlich auch zu Spiegelbildern jenes Ringens zwischen Nähe und Distanz, in dem die Briefeschreiber gefangen sind.

VALENTINA UNDERGROUND & FRITZ THE CAT

( , Regie: )

Dauergeiler Kater und bizarre Bondage-Posen
von Christoph Haas

Das „Schwarze Quadrat“ von Malewitsch, die Sex Pistols, Oliver Stones Film „Natural Born Killers“ – vieles von dem, was früher mächtig Skandal gemacht hat, ist inzwischen längst ein Klassiker. Aber …

Das „Schwarze Quadrat“ von Malewitsch, die Sex Pistols, Oliver Stones Film „Natural Born Killers“ – vieles von dem, was früher mächtig Skandal gemacht hat, ist inzwischen längst ein Klassiker. Aber es gibt auch den umgekehrten Fall. Manches, das zu seiner Entstehungszeit als aufregend galt, erweist sich später als schlecht gealtert; es ist zum bloßen Dokument geworden. Die zerfließenden Uhren von Dali – sind die eigentlich nicht doch recht kitschig? Und das Spätwerk von Heinrich Böll – ist es nicht ebenso obsolet wie die erbitterten ideologischen Grabenkämpfe der siebziger Jahre?

Auch bei den prachtvollen neuen Ausgaben von Robert Crumbs „Fritz the Cat“ und Guido Crepax’ „Valentina“ lautet die Frage: Wie lesen sich diese Werke heute? Beide Zeichner gehören einer Generation an. Crumb wurde 1943 geboren, der 1933 geborene Crepax verstarb 2003. Beide begannen Mitte der Sechziger, Comics zu machen, die stark vom libertären Geist dieser Ära geprägt sind und zuvor undenkbar gewesen wären – noch in den Achtzigern setzte die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften mehrere Publikationen von Crepax auf den Index.

Der Ruf, den „Fritz the Cat“ genießt, beruht auf gerade 15, zwischen 1964 und 1972 entstandenen Geschichten. Allerdings ist nur ein Drittel mehr als einige Seiten lang; ein paar One-Pager sind auch darunter. In „Hier kommt Fritz“ besucht der Kater zum Auftakt seine Mutter auf dem Land und treibt es bei dieser Gelegenheit gleich mit seiner kleinen, drallen Schwester. In „Ein Groupie geht aufs Ganze“ ist Fritz ein Rockstar, der ein Vogelmädchen, das ihn verfolgt, mit Haut und Federn auffrisst. Zum Schluss, in „Fritz the Cat Superstar“, ereilt ihn dann sein Schicksal: Er wird von einer eifersüchtigen Verehrerin mit einem Schraubenzieher erstochen.

Im Grunde geht es Crumb hier mit gar nicht klammheimlichem Vergnügen immer nur um das eine: Er lässt den Kater sich als asozia­les und dauergeiles Monster aufführen. Das war seinerzeit ein Schock, nicht zuletzt weil diese anthropomorphe Tierwelt der dreckige, subkulturelle Gegenentwurf zu den sauberen Disney-Comics war, in denen Sex und Gewalt nicht die geringste Rolle spielen durften. Dieser Effekt hat sich nun jedoch stark abgenutzt – nicht dass Fritz sympathisch geworden wäre, aber wer Gangster-HipHop und „Game of Thrones“ gewöhnt ist, der findet das wüste Treiben, das hier gefeiert wird, auch nicht mehr völlig ungewöhnlich.

Sehr deutlich wird im Gegenzug, wie sehr „Fritz the Cat“ ein Frühwerk ist. Erst in „Superstar“ hat Crumb sich zeichnerisch ganz gefunden; erst hier besitzen seine schraffurreichen Bilder jene sagenhafte, fast reliefartige Plastizität, für die er berühmt ist. Was die Schilderung von Trieben und Obsessionen angeht, sind seine autobiografisch inspirierten Arbeiten, mit denen er in den frühen Siebzigern anfing, viel differenzierter. Dass er Fritz sterben ließ, hatte daher wohl nicht nur damit zu tun, dass ihn der Rummel nervte, den Ralph Bakshis Zeichentrickversion des Comics ausgelöst hatte: Crumb war dieser Figur vielmehr künstlerisch entwachsen.

Nur wenig später als „Fritz the Cat“ betrat „Valentina“ die Bühne der Erwachsenen-Comics. Die junge Frau ist eine italienische Fotografin. In „Die Lemnos-Kurve“, ihrem ersten, 1965 erschienenen Abenteuer, deckt sie zusammen mit dem amerikanischen Kunstkritiker und Galeristen Phil Rembrandt ein Mordkomplott im Rennfahrer-Milieu auf. Phil wird ihr Partner, außerdem besitzt er eine Doppelidentität: Mit paranormalen psychischen Kräften ausgestattet, bekämpft er unter dem Namen Neutron das Verbrechen. Weitere Abenteuer konfrontieren Valentina und Phil immer wieder mit den „Unterirdischen“, einem Volk, das in den Tiefen der Erde lebt. Die Plots in „Valentina“ sind fast immer teils trivial, teils arg konstruiert oder sprunghaft-verworren. Gern dienen sie auch als Vorwand, die Heldin – oder andere weibliche Figuren – zu entkleiden und in bizarren Bondage-Posen zu zeigen.

Aber das ist eben nicht alles. Zu einer spannenden Lektüre wird der Comic durch die diversen Elemente, mit denen Crepax ihn anreichert und die ihn zu einem hybriden, schillernden Gebilde jenseits von Genregrenzen machen.

Ein wiederkehrendes Motiv sind Partyszenen; die schicken Interieurs und die Gesprächsfetzen zeugen von den künstlerischen und intellektuellen Interessen der damaligen In-Crowd. Die Liebe des Zeichners zum Jazz und den klassischen amerikanischen Zeitungscomics ist ebenso erkennbar wie sein berufliches Vorleben als erfolgreicher Werbegrafiker. Und schließlich gibt es auch einen verdeckt autobiografischen Zug: Phil Rembrandt ist physio­gnomisch Crepax nachgebildet, während dessen Ehefrau Louisa – die sich zur Doppelgängerin des Stummfilmstars Louise Brooks stilisierte – das Vorbild für Valentina abgab.

Ein guter Zeichner im konventionellen Sinne war Crepax nicht. Um korrekte Proportionen, sei es bei der menschlichen Anatomie, sei es bei Raumverhältnissen, kümmert er sich wenig, und seine Figuren haben oft eine marionettenhafte Steifheit. Aber er ist ein Meister im Umgang mit der Tusche; wie er große schwarze Flächen und feine schwarze Linien zu kombinieren weiß, das ist von einer großen Eleganz. Zu seinen Markenzeichen gehört das Arbeiten mit zum Teil sehr kleinen, rechteckigen oder quadratischen Panels, die einen Vorgang in viele Teile zerlegen und mitunter auf merkwürdige Weise den Eindruck entstehen lassen, die Zeit stehe still.

Crepax hat bis in die neunziger Jahre an „Valentina“ gezeichnet. Die Geschichten in den beiden Bänden, die jetzt vorliegen, stammen alle aus der Zeit bis 1972. Die mit Abstand beste ist die kürzeste und untypischste. In „Das standhafte Mädchen aus Papier“ ist die Heldin noch ein Kind, das sich in Andersens Märchen vom Zinnsoldaten hineinträumt. Imagination und Wirklichkeit gehen nahtlos ineinander über, und auf diesen zehn Seiten gelingt Crepax ein einfühlsames, geniales Comic-Äquivalent zur Bewusstseinsstrom-Prosa der literarischen Moderne.

Robert Crumb: „Fritz the Cat“
Aus dem amerikanischen Englisch von Heinrich Anders. Reprodukt Verlag, Berlin 2017. 128 Seiten, 29 Euro

Guido Crepax: „Valentina“ & „Valentina Underground“
Aus dem Italienischen von Günter Krenn und Paolo Caneppele. Avant-Verlag, Berlin 2015 und 2016. 208 bzw. 222 Seiten, jeweils 34,95 Euro

Dieser Text erschien zuerst in: taz

Borg mcenroe

Borg McEnroe

(DK/SWE/FIN 2017, Regie: Janus Metz)

Die Dämonen in uns
von Ricardo Brunn

Durch das Gitternetz der Saiten eines Tennisschlägers blickt der viermalige Wimbledon-Gewinner Björn Borg aus dem Jahr 1980 nach unten auf den Zuschauer im Kinosaal des Jahres 2017. Die untersichtige Großaufnahme …

Durch das Gitternetz der Saiten eines Tennisschlägers blickt der viermalige Wimbledon-Gewinner Björn Borg aus dem Jahr 1980 nach unten auf den Zuschauer im Kinosaal des Jahres 2017. Die untersichtige Großaufnahme lässt den Tennisspieler, der kurz davor steht seinen fünften Sieg auf dem Londoner Grün davonzutragen, überlebensgroß erscheinen. Doch den Zügen seines Gesichtes ist zu entnehmen, dass er dieser Hierarchie nicht gewachsen ist, weshalb der prüfende Blick auf die Saiten des Tennisschlägers wie ein Blick durch Gefängnisstäbe anmutet. Dass Borg nicht nur dieses erste Bild des Filmes gehört, sondern sein Name im Filmtitel ebenfalls an erster Stelle rangiert, unterstreicht die Situation, in der er sich mit seinen 24 Jahren befindet, zusätzlich: Er ist der Star der Tenniswelt, doch damit auch gewaltigem Druck ausgesetzt. Zugleich beschreibt der Filmtitel (und in gewisser Weise auch das den Protagonisten einengende erste Bild), wie sein Kontrahent, der zum damaligen Zeitpunkt erst 21-jährige Rüpel John McEnroe, hinter Borg langsam aber sicher ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt und dem „Eisborg“ den Rang abzulaufen droht.

Entlang dieser Ordnung hangelt sich der dänische Regisseur Janus Metz in seinem Film „Borg McEnroe“, um im Rahmen der zweiwöchigen Vorbereitung auf das berühmte Wimbledon-Finale 1980 das Psychogramm zweier nur auf den ersten Blick ganz und gar unterschiedlicher Spieler zu entwerfen. Dabei führt er das öffentliche Aufmerksamkeitsgefälle auch auf dramaturgischer Ebene weiter. Der Schwede Borg steht im Zentrum der Betrachtung, während sein Kontrahent in der ersten Hälfte des Filmes die eindeutige Nebenrolle zugeschrieben bekommt. Immer geht es nur um Borg, beklagt der aufstrebende McEnroe in einer US-Late-Night-Show. Und tatsächlich wird seine Rolle erst mit dem Näherrücken des Finalspiels stärker, gewährt der Regisseur uns dann auch Einblicke in dessen Gedankenwelt. Und bei aller Rivalität, die der Film über die Parallelmontage zu erzeugen vermag, wird sehr schnell deutlich, dass beide Spieler der Umgang mit den inneren Dämonen, die ihre dunklen Schatten aus der Vergangenheit bis ins gleißend helle Sonnenlicht des Tenniscourts werfen, vereint. Während wir Borg als einen sich selbst bis ins Manische kontrollierenden Menschen erleben, der immer im selben Auto fährt, im selben minimalistischen und keinerlei Ablenkung bietenden Hotelzimmer schläft und sich immer auf dieselbe Art für ein Spiel vorbereitet, um seinen Ängsten den Raum zu nehmen, wird McEnroe als Gegenpol inszeniert, der Hotelwände bekritzelt, dabei laut Musik hört und sich an keinerlei Regeln zu halten scheint. Auf und neben dem Platz ist es gerade sein unorthodoxes Verhalten, das ihm hilft, die Dämonen lautstark zu vertreiben. Und in einer Szene, in der Borg McEnroes Spiel am Fernsehgerät analysiert, wird dem schwedischen Spieler ihre Ähnlichkeit bewußt, wenn er hinter den Wutausbrüchen McEnroes nicht Unsicherheit, sondern Konzentration erkennt.

Im Tennis, so beschreibt es Andre Agassi in seiner Autobiografie „Open“, ist man wie in keinem anderen Sport auf einer Insel. Selbst der als einsam geltende Boxer im Ring hat seinen Trainer in der Ecke. Doch auf dem Court gibt es niemanden, mit dem man reden kann und darf, wenngleich man umgeben ist von Menschen. Im Sport – und das langwierige Tennisspiel steht vielleicht ganz exemplarisch dafür – kämpft man nicht gegen einen Gegner. Man kämpft im Grunde genommen die ganze Zeit gegen sich selbst, gegen die eigenen Dämonen. Selten ist der Gegner einfach nur der bessere Spieler. Vielmehr scheitert man am eigenen Geist, an den eigenen Ängsten, die sich häufig aus der individuellen Sozialisation und Erziehung speisen. Genau deshalb schauen wir sportliche Ereignisse dieser Art so gern. Es geht nicht nur um Sieg oder Niederlage, Macht und Geld, sondern darum zuzuschauen, ob und wie die Rivalen auf dem Platz ihre inneren Dämonen stellvertretend für uns bezwingen. Und für diese Seite des Sports interessiert sich Janus Metz in „Borg McEnroe“.

Dementsprechend wenig beschäftigt sich der Regisseur mit der für Sportfilme typischen Inszenierung von Bewegung. Das Athletische und die Darstellung des kraftvollen Körpers bleiben nahezu außen vor. Die Tennismatches werden in kurze Bildeinheiten zergliedert, selten sieht man einen zusammenhängenden Ballwechsel in aller Ausführlichkeit. Das dynamische Gegeneinander wird in ein energetisches Jeder-für-sich aufgeteilt. Jeder Schnitt ist wie das Netz in der Mitte des Platzes selbst. Zwei Seiten (oder eben zwei Bilder) werden zusammengeführt und bleiben doch streng voneinander getrennt. In jedem Blick von Sverrir Gudnason ist die unterdrückte Anspannung Borgs zu spüren und in jeder Bewegung Shia LaBeoufs steckt die kaum zähmbare Energie eines John McEnroe. Beide Darsteller sind deshalb trotz ihres Alters die ideale Besetzung für diese Charaktere. Ihnen will man als Zuschauerin folgen.

Aber so gut Montage und Hauptdarsteller auch sein mögen, in der Bombast-Inszenierung und der eindringlich um Beachtung ringenden musikalischen Untermalung verliert sich die Grundkonstellation des Filmes in allzu seichter Küchenpsychologie, die mit Rückblenden in die Kindheit und Jugend eine klischeebeladene Ursachenforschung betreibt. Mit viel Tamtam stellt sich der Film somit selbst ein Bein, gibt die Intimität des Blickes auf das Sportlerdasein zugunsten eines übertriebenen Spektakels auf, setzt auf den Effekt und riskiert somit wiederum Ungenauigkeiten in der Figurenzeichnung. Ganz so, als hätte der Film die gleiche Angst, die auch Björn Borg umtreibt, nämlich in Vergessenheit zu geraten, ist er (John McEnroes Auftreten nicht unähnlich) lauter, als er es nötig gehabt hätte.

Mother!

(USA 2017, Regie: Darren Aronofsky)

Ich bin ich
von Wolfgang Nierlin

Aus der Asche des Feuers, das vernichtet, entsteht das Neue, in dem sich das Alte wiederholt. Vergangenheit und Zukunft fallen in eins. Darren Aronofskys Film „Mother!“ beginnt mit einer Transformation …

Aus der Asche des Feuers, das vernichtet, entsteht das Neue, in dem sich das Alte wiederholt. Vergangenheit und Zukunft fallen in eins. Darren Aronofskys Film „Mother!“ beginnt mit einer Transformation und einem Erwachen. Er erzählt in Wiederholungsschleifen und konzentrischen Kreisen. Rund ist auch das oktogonale viktorianische Holzhaus, das sich wie eine abgeschiedene Insel inmitten der Natur erhebt. Hier durchstreift an einem Morgen die namenlose Titelheldin (Jennifer Lawrence) die Räume auf der Suche nach ihrem namenlosen Mann (Javier Bardem). Ihre Bewegungen sind ahnungsvoll und haptisch, ihr Geist wirkt angespannt. Als Hüterin des Hauses, die mit seiner sorgsamen Renovierung beschäftigt ist, hat die Frau eine besondere, geradezu körperliche Beziehung zu ihrem Heim. Wenn sie die Wände berührt, ist es, als spüre sie dessen geheimen Pulsschlag. Die langen, subjektiven Kamerabewegungen von Matthew Libatique sind ganz nah und eng mit der Heldin und ihrer symbiotischen Beziehung verflochten. Diese sagt einmal über das Haus: „Ich will daraus ein Paradies machen.“

Doch hinter ihren zögerlichen, vorsichtigen Bewegungen lauern Angst und Schrecken, den Aronofsky in typischer Horror-Manier von Anfang an auf den Zuschauer überträgt. Die Kontrollverluste, die die Protagonistin fortan und immer gravierender erleidet, erleben auch wir. In deren Mittelpunkt steht zunächst ein unausgesprochener ehelicher Konflikt zwischen der Frau und ihrem um etliche Jahre älteren Mann, einem erfolgreichen Schriftsteller, der sich seit dem Hausbrand in einer Schaffenskrise befindet. Verstärkt und katalysiert werden diese Spannungen, hinter denen auch ein unerfülltes Sexualleben und ein unausgesprochener Kinderwunsch stehen, durch zwei unerwartete fremde Gäste, die nacheinander eintreffen: einen todkranken Arzt (Ed Harris) und seine ziemlich tabulose Frau (Michelle Pfeiffer). Die beiden geben sich nicht nur zunehmend aufdringlich, indiskret und besitzergreifend, sondern initiieren durch ausufernde Familien- und Erbschaftsstreitereien eine irritierende Invasion. Bald stören immer mehr Fremde das Gewohnte und versetzen das Haus in einen Zustand der Unordnung. Während die unfreiwillige Gastgeberin einen nervlichen Alptraum erlebt und sich vom Eigenen zunehmend ausgeschlossen fühlt, begrüßt ihr Mann die willkommene Abwechslung und den Austausch.

„Das Haus ist zu groß für uns beide“, sagt der Schriftsteller, der das „Leben ins Haus lassen“ will und dessen Inspiration dadurch neue Nahrung zu bekommen scheint. In der Folge bietet Darren Aronofsky ziemlich viel abgründige Phantasie und surreale Alpträume auf, um das häusliche Paradies in eine wüste Hölle und seinen untergründigen Psychothriller in einen ebenso monströsen wie blutigen Horrorfilm zu verwandeln. Dieser steigert die subtil inszenierte Ehekrise in ein maßlos überspanntes, im Krieg der Geschlechter und den Gewaltexzessen fanatischer Anhänger des Schriftstellers kulminierendes Künstlerdrama über eine geradezu kannibalistische Schöpfergestalt, die sich vom Mütterlichen nährt und, als narzisstischer Heiliger verehrt, zum Anführer einer Sekte wird.

Aronofsky beschreibt mit zeitgeschichtlichen Bezügen deren chaotisches Eindringen ins Haus als anarchische Okkupation des Eigenen durch das Fremde. Dabei weckt sein vieldeutiges, Konventionen, Tabus und Grenzen überschreitendes Werk Assoziationen an Filme von Hitchcock, Polanski, Kubrick und Romero. Auf der symbolischen Ebene folgt Aronofskys negative Heilsgeschichte über einen gefräßigen, das männliche Prinzip verkörpernden Schöpfer-Gott allerdings vor allem biblischen Motiven. Diese reichen von der Vertreibung aus dem Paradies bis hin zum christlichen Opfermythos, der hier gewissermaßen als heidnischer Selbstkult zelebriert wird. Darin spiegelt der Film „Mother!“ nicht zuletzt eine düstere, verstörende und zugleich fatalistische Vision der Menschheitsgeschichte, die mit der vom nunmehr wieder produktiven Schriftsteller geäußerten Tautologie des „Ich bin ich“ und insofern mit einem dezidiert männlichen Zerstörungsakt unheilvoll beginnt und endet.

grandfilm felicite

Félicité

(FRK/SN/BEL/D/LB 2017, Regie: Alain Gomi)

Gedehnte Zeit
von Wolfgang Nierlin

Bevor die Musik beginnt, gehen die Stimmen der Barbesucher hin und her, schweift die bewegte Handkamera zwischen Gesichtern und Körpern, die bald tanzen oder in stoischer Trance verharren. Auch in …

Bevor die Musik beginnt, gehen die Stimmen der Barbesucher hin und her, schweift die bewegte Handkamera zwischen Gesichtern und Körpern, die bald tanzen oder in stoischer Trance verharren. Auch in der Musik der Kasaï Allstars, die kurz danach zu spielen beginnen, überlagern sich die Gesangsstimmen in Schichten wiederkehrender Phrasen, die einander in einem schier endlosen Zirkel zu antworten scheinen und dabei die Intensität der Monotonie zum Delirium steigern. Bewegung und Rausch, Ekstase und Vergessen bilden auch in Alain Gomis‘ preisgekröntem Film „Félicité“ eine Einheit. Mit dokumentarischen Mitteln an Originalschauplätzen der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa gedreht, ist der Film vor allem ein Dokument der gedehnten Zeit, in deren Flächigkeit sich die Kontraste, Handlungen und Absichten verlieren.

Nacht für Nacht singt die von Véro Tshanda Beya gespielte Titelheldin mit dem Musiker-Kollektiv, das es tatsächlich gibt (sonst allerdings mit der Sängerin Muambuyi besetzt ist); bis der Alkohol die Glieder schwer macht oder ein Gerangel unter den Gästen die Party auflöst. Als Félicités Sohn Samo (Gaetan Claudia) nach einem Motorradunfall schwer verletzt im Krankenhaus liegt, wird die mutige Frau zur Bittstellerin und resoluten Geldeintreiberin. Denn nur eine teure Operation kann das gebrochene Bein ihres Sohnes retten. Gomis begleitet seine Heldin auf ihrem Gang durch eine Stadt voller Widersprüche und sozialer Kontraste. Dabei erfährt sie sowohl Zuspruch und Hilfsbereitschaft als auch mitleidlose Kälte. Als sie schließlich die nötige Geldsumme zusammen hat, ist es zu spät für die Rettung von Samos Bein.

Was nun folgt, ist ein Stillstand der Bewegungen und Gefühle. Genährt vom Schmerz des Verlusts und der Verzweiflung legt sich ein tiefes Schweigen zwischen die Figuren. Selbst die Musik der Band ist reduziert, wenn deren Mitglieder einmal zusammen mit Félicité einen melancholischen A-cappella-Gesang anstimmen. Alain Gomis strukturiert und kommentiert die minimalistische Handlung seines Films mit Musik und verwendet dafür auch Aufnahmen eines Amateur-Sinfonieorchesters, des Orchestre Symphonique Kimbanguiste, das gerade Arvo Pärts „Fratres“ probt. Immer öfter wechselt er dabei zu geheimnisvollen Traumsequenzen, die die gleißende Helligkeit der tristen Realität gegen das Dunkel einer brüderlichen Nacht tauschen; und in denen Félicité, von der es heißt, sie sei als Kind schon einmal tot gewesen, in einen Fluss eintaucht, darin versinkt, um kurz darauf gestärkt wieder aufzutauchen. „Man muss neu anfangen. Wieder und wieder“, sagt ihr Freund Tabu (Papi Mpaka) einmal im Alkoholrausch.

Paradies

(RUS/D 2016, Regie: Andrei Konchalovsky)

Die Geister der Getöteten
von Wolfgang Nierlin

Die Monologe der drei Protagonisten sind in einem betont nüchternen, dokumentarischen Stil vor neutralem Hintergrund inszeniert. Im kontrastlosen Schwarzweiß dieses leeren Raums, gegliedert durch abrupte Schritte und die zeitlichen Begrenzungen …

Die Monologe der drei Protagonisten sind in einem betont nüchternen, dokumentarischen Stil vor neutralem Hintergrund inszeniert. Im kontrastlosen Schwarzweiß dieses leeren Raums, gegliedert durch abrupte Schritte und die zeitlichen Begrenzungen des Schmalfilmmaterials, wenden sich die Figuren direkt an den Zuschauer. Das unsichtbare Gegenüber für diese gewissenhaften Lebensbeschreibungen, rückhaltlosen Selbstbekenntnisse und mehr oder weniger selbstbewussten Rechtfertigungen sind also zunächst (aber nicht ausschließlich) wir als nachgeborene Zeugen ihrer Geschichten, die uns Andrei Konchalovskys Film „Paradies“ dann dazwischen auf andere Weise erzählt; und in denen die Wirkungen der politischen Geschichte während der Zeit des Nationalsozialismus bis in die Gegenwart andauern. Der russische Regisseur (Jahrgang 1937) alterniert zwischen vorgeblichem Dokument und Fiktion und verknüpft fern jeglicher Melodramatik in parallelen Erzählsträngen die erschütternden Schicksale seiner Figuren.

Im Jahre 1942 wird die russische Aristokratin Olga (Julia Vysotskaya) als mutmaßliches Mitglied der Résistance in ein französisches Gefängnis gesperrt. Wir hören zu Beginn des Films die Schließgeräusche aus dem Off, bevor im Kontrast dazu der Titel „Paradies“ über der verschlossenen Zellentür erscheint. Die attraktive Moderedakteurin soll zwei jüdische Kinder versteckt haben, was sie im Verhör mit dem doppelgesichtigen französischen Polizeipräfekten Jules (Philippe Duquesne) abstreitet. Der Mitläufer und materielle Privilegien genießende Kollaborateur, der ganz selbstverständlich zwischen trautem Familienleben und seinen Aktivitäten bei der brutalen Folter-Behörde wechselt, verkörpert als kalt berechnender Realist die Banalität des Bösen. Als er ermordet wird, landet Olga in einem Konzentrationslager, wo sie auf den deutschen Adligen Helmut (Christian Clauß) trifft, dem sie schon einmal vor dem Krieg bei einem (noch) unbeschwerten Aufenthalt in der Toskana begegnet ist.

Der gebildete Slawist und mit militärischen Ehren bekränzte Antisemit fungiert, von Reichsführer Himmler in einer düsteren Szene dazu bestimmt, als SS-Sonderermittler, der Korruption und Diebstahlsdelikte in den eigenen Reihen aufspüren soll. Der junge, kultivierte Standartenführer besitzt eine gespalten Persönlichkeit und lebt wie die anderen Figuren in Widersprüchen. Er fliehe die Realität durch seine Beschäftigung mit der russischen Literatur, sagt Helmut einmal. Er sieht Deutschland in einem „ekelerregenden Sumpf“ versinken und findet doch keine Alternative zu seiner patriotischen Treue. Helmut ist ein williger Ideologe, der noch in Untergang und Resignation an seinem Ideal des „Übermenschen“ und eines „deutschen Paradieses auf Erden“ festhält, während er doch von den Geistern der Getöteten verfolgt wird. Zwar versucht er Olga, in die er noch immer verliebt ist, zu helfen, doch deren schmerzliche Erfahrung der Entmenschlichung führt sie inmitten von Grausamkeit und Tod durch eine selbstlose Tat schließlich zurück ins Humane. Konchalovskys vielschichtiger, präzise und schnörkellos gestalteter Film stellt die Frage nach der persönlichen Verantwortung angesichts ungeheuerlicher Verbrechen; und er beschwört gegen diese mit verhaltener Geste die Kraft von Liebe und Menschlichkeit.

Mr. Long

(JP/HK/TW/CN/DE 2017, Regie: Sabu)

Neugeburt eines Killers
von Wolfgang Nierlin

Die bewegten Bilder nächtlicher, in Neonlicht getauchter Hochhausschluchten von Kaohsiung und Tokio werden getragen von einem sphärisch-schwebenden, feierlich-melancholischen Klangteppich, der wie eine Ouvertüre alles Folgende grundiert. Noch in seinen losen, …

Die bewegten Bilder nächtlicher, in Neonlicht getauchter Hochhausschluchten von Kaohsiung und Tokio werden getragen von einem sphärisch-schwebenden, feierlich-melancholischen Klangteppich, der wie eine Ouvertüre alles Folgende grundiert. Noch in seinen losen, repetitiv verschlungenen Enden stützt der Soundtrack von Junichi Matsumoto die gegenläufigen Bewegungen aus Ruhe und Dynamik, Stille und Gewalt, motion und emotion. Die Genre-Typologien, in die der japanische Regisseur Sabu die Geschichte und Figuren seines Films „Mr. Long“ einhegt, vermitteln die Wirklichkeit fast ausnahmslos in Stilisierungen. Wo das Handeln vornehmlich fatalistisch gedeutet wird und die Welt in den (filmischen) Koordinaten von Hell und Dunkel, Gut und Böse, Liebe und Tod gefangen ist, liegen auch Kunst und Kitsch eng beieinander.

So ist natürlich auch Titelheld Long (Chen Chang), ein schweigsamer taiwanesischer Killer, mit ikonischen Eigenschaften ausgestattet: Sein starrer, kühler Blick gehört einem einsamen Samurai, der konzentriert, mit äußerster Präzision, kaltblütig und mit schier übermenschlichen Fähigkeiten mordet. Weil er sein blutiges Geschäft mit einem Messer ausübt und dabei stets allein gegen alle kämpft, paaren sich Stille und Dynamik mit körperlicher Geschicklichkeit und brutaler Gewalt. Diese genau choreografierten und montierten Kampfszenen, in denen schließlich auch die Martial-Arts-Traditionen fortleben, versehen den Film mit einem blutroten Rahmen.

Nach einem gescheiterten Auftrag in der japanischen Hauptstadt erlebt der schwer verwundete Long in der Helle eines heruntergekommenen, verlassenen Viertels von Tokio eine Art Neugeburt als Mensch und soziales Wesen. Der schweigsame Ausländer kümmert sich nämlich um den kleinen Jun (Runyin Bai) und seine drogensüchtige Mutter Lily (Yiti Yao), eine ehemalige Prostituierte, die eine tragische, nicht enden wollende Geschichte in sich trägt. Sabu erzählt von dieser Liebe im Zeichen des Todes in einer langen Rückblende und hat auch sonst keine Scheu, die lineare Plot-Konstruktion durch verschiedene, bevorzugt kulturelle Unterschiede thematisierende Exkursionen aufzubrechen. Im Zentrum der versöhnlichen Völkerverständigung steht dabei Longs Kochkunst, mit der er nicht nur neue Freunde und eine Ersatzfamilie gewinnt, sondern bei aller Tragik, mit der die Schrecken der Vergangenheit zurückkehren, auch ein neues Leben entwirft.

Der Preis

(MEX/FRK 2011, Regie: Paula Markovitch)

Im Versteck
von Wolfgang Nierlin

Dichter Nebel hängt über dem Meer und entzieht den Bildern von Wasser, Sand und Schilf die Farben. Ein langsamer Kameraschwenk in der Totale erfasst die Weite und in ihr ein …

Dichter Nebel hängt über dem Meer und entzieht den Bildern von Wasser, Sand und Schilf die Farben. Ein langsamer Kameraschwenk in der Totale erfasst die Weite und in ihr ein sich näherndes Kind, das sich auf Rollschuhen den Strand entlang schleppt. Dieses beschwerliche, auch befremdliche Gehen korrespondiert mit der Enge der kleinen Behausung in den Dünen, wo das 7-jährige Mädchen mit seiner Mutter lebt. Die zugige, spärlich ausgestattete Einraumwohnung wirkt wie ein spartanisches Refugium, ein vorübergehendes Versteck für Fremde, die ihren Lebensmittelpunkt verloren haben. Mutter und Tochter reden nicht viel miteinander, die Atmosphäre ist bedrückend trostlos, und die Radiowellen liefern nur Störgeräusche, die sich wiederum mit sparsam eingesetzten dissonanten Pianoklängen (von Sergio Gurrola) verbinden. Einmal fragt die kleine Cecilia (Paula Lucía Galinelli Hertzog) ihre schweigsame, in sich gekehrte Mutter Lucía (Laura Agorreca): „Was bedeutet ‚Pessimist‘?“

Über Zeit, Ort und Hintergründe der unspektakulären Handlung in Paula Markovitchs preisgekröntem Spielfilmdebüt „Der Preis“ (El Premio) erfährt man zunächst fast nichts. Konsequent aus der Perspektive des Kindes und mit einem reduzierten, fast absichtslosen Zeigegestus erzählt, lenkt die mexikanische Regisseurin argentinischer Herkunft in ihrem stillen, subtil beobachteten Film den Blick auf Details: In der neuen Schule soll Cecilia die wahre Identität der Eltern verschweigen; zusammen mit der Mutter vergräbt sie Bücher im Sand. Einmal klagt das Kind, das sich öfters langweilt und sich meist selbst überlassen ist, über Heimweh, während die immer apathischer werdende Mutter sagt: „Ich habe Angst.“

Mit minimalistischen Mitteln beschreibt Paula Markovitch in ihrem autobiographisch getönten Film einen Stillstand, ein Verharren und eine individuelle Lähmung, deren gesellschaftliche Ursachen nach und nach sichtbar werden. In der Schule, deren ärmliches Ambiente von militärischer Disziplin auf groteske Weise zusammengehalten werden soll, treten Soldaten auf, rufen einen patriotischen Wettbewerb auf die argentinische Nationalflagge aus und beschwören die unselige Allianz von „Bildung und Waffen, Schule und Armee“. Wir beginnen zu ahnen, dass Cecilias Vater zu jenen „Verschwundenen“ (Desaparecidos) gehört, die während der argentinischen Militärdiktatur Ende der 1970er Jahre in geheimen Gefängnissen inhaftiert und gefoltert wurden – und deren ungewisses Schicksal die Familien und angehörigen (teils bis heute) belastet (vgl. dazu Marco Bechis‘ erschütternden Film „Garage Olimpo“).

Markovitchs verhaltener Film über eine innere Emigration zeigt die impliziten, psychischen und innerfamiliären Wirkungen der Diktatur. Als Cecilia, die gut Lesen und Schreiben kann, den Wettbewerb gewinnt, kommt es zu Spannungen und Konflikten mit ihrer besten Freundin Silvia (Sharon Herrera), vor allem aber mit ihrer Mutter. Die spärlichen Reste von Geborgenheit und symbiotischer Zweisamkeit im Abgeschiedenen scheinen vollends aufzubrechen und sich zu verflüchtigen, während ein unaufhörlicher Wind den Schmerz darüber weiterträgt.

Django

(FRK 2017, Regie: Etienne Comar)

Nicht mal die eigenen Ohren sind frei
von Jürgen Kiontke

Eine Künstlerbiografie der besonderen Sorte ist „Django“, das filmische Porträt des genialen Gitarristen Django Reinhardt, dem Noten erstmal fremd sind. Denn der Film thematisiert das ambivalente Verhältnis von Kunst und …

Eine Künstlerbiografie der besonderen Sorte ist „Django“, das filmische Porträt des genialen Gitarristen Django Reinhardt, dem Noten erstmal fremd sind. Denn der Film thematisiert das ambivalente Verhältnis von Kunst und Diktatur. Ausgerechnet Reinhardt, der durch einen Unfall zwei Finger an der linken Hand verlor und gerade deshalb eine besondere Spielweise entwickelte und damit in den vierziger Jahren zum König des „Gipsy Swing“ aufstieg, wollten die Nazis als Soundtrack für ihre Tanzveranstaltungen einspannen. Seine Musik sollte gegen die amerikanische „Negermusik“ anklingen.

Reinhardt, der in diesem Eröffnungsfilm der Berlinale 2017 als ein in politischen Dingen unentschiedener Charakter geschildert wird, steckt sich eine Zigarette an und beginnt zu spielen. Mit den Füßen zu wippen, ist streng verboten. Und während andere schon ins KZ unterwegs sind, ist Reinhardt aufgrund seines Pop-Status noch recht sicher.
Bis ihn Hitlers Kulturpolitiker auf Deutschland-Tour schicken wollen. Seine Flucht beginnt – die Nazis immer dicht auf den Fersen.

Regisseur Etienne Comar porträtiert einen Künstler und Freigeist, dem das Leben so beiläufig mitspielt wie er selbst seine Musik. „Django“ ist ein mitreißender Film, vor allem in den musikalischen Sequenzen, von denen es viel zu wenige gibt. Denn seine Musik symbolisiert am besten, was faschistische Politik bedeutet: Nicht mal die eigenen Ohren sind frei.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal

Wenn Gott schläft

(D/USA 2017, Regie: Till Schauder)

Verfolgte Musik
von Jürgen Kiontke

Wenn Gott so mächtig ist, warum habt ihr dann solche Zweifel?“ Diese Frage stellt der Rockmusiker Shahin Nayafi, der aus dem Iran flüchten musste, seinen konservativen Verfolgern. Er selbst hält …

Wenn Gott so mächtig ist, warum habt ihr dann solche Zweifel?“ Diese Frage stellt der Rockmusiker Shahin Nayafi, der aus dem Iran flüchten musste, seinen konservativen Verfolgern. Er selbst hält sich für einen Atheisten, und so sehen auch seine Texte aus. Im Jahr 2012 veröffentlichte er einen satirischen Rap, der dazu führte, dass er mit einer Todes-Fatwa belegt wurde. Wer Najafi umbringt, kann mit 100.000 Dollar Belohnung rechnen.

Seit seiner Flucht lebt Nayafi in Deutschland im Exil. Seine Musik ist ein Statement des Lebens, eine Selbstbehauptung. In Till Schauders Nayafi-Dokumentation „When God Sleeps“ lernt man Internet-Tutorials kennen, die zeigen, wie der Sprengstoff zu mischen ist, mit dem man den Musiker von der Bühne pusten kann. Bei der Sicherheitsberatung der deutschen Polizei nennt man das „abstrakte Bedrohung“. Es kommen Mitmusiker zu Wort, die Konzerte aus Angst absagen, Günther Wallraff gibt ein Interview, er hat den Künstler einige Monate beherbergt. Original-Prügelvideos aus dem Iran sind zu sehen, wie auch beiläufig-ironische Alltagsszenen des Musikerlebens, etwa wenn der Gitarrist ein Riesenpeniskostüm für einen Auftritt erwirbt. Zusammen ist er mit der Enkelin eines ehemaligen iranischen Ministerpräsidenten. Najafis Musik zählt nicht zu dessen Vorlieben. Den Freund seiner Tochter nennt er einen „Anarchisten“. Nayafis Fazit: „Frauen sind stärker als Männer.“

„When God Sleeps“ ist ein beeindruckendes filmisches Porträt.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal

Die Nile Hilton-Affäre

(DE/DK/SW 2017, Regie: Tarik Saleh)

Ein politischer Mord
von Jürgen Kiontke

„Vergiss Gerechtigkeit“ – das ist einer der ersten Sätze, der in Tarik Salehs sehenswertem Thriller „Die Nile Hilton-Affäre“ fällt. Und er bleibt Programm für diese Geschichte über den ägyptischen Polizisten …

„Vergiss Gerechtigkeit“ – das ist einer der ersten Sätze, der in Tarik Salehs sehenswertem Thriller „Die Nile Hilton-Affäre“ fällt. Und er bleibt Programm für diese Geschichte über den ägyptischen Polizisten Noredin (Tares Tares), die einen wahren Fall zum Aufhänger nimmt: 2008 wurde die Sängerin Suzanne Tamim in Dubai ermordet. Die Spuren führten damals zu einem der einflussreichsten Männer Ägyptens, einem Bauunternehmer mit besten Verbindungen nach oben. Der Fall sorgte in den arabischen Ländern für viel Aufsehen. Ging es doch um persönliche Abhängigkeiten, Erpressung und Korruption. Regisseur Saleh hat aus diesem Gebräu einen spannenden Film gemacht und die Handlung ins Kairo der „Arabellion“, ins Jahr 2011, verlegt.

An den Hauswänden wird noch für den Aufbau des Landes von Präsident Mubarak geworben – und noch viel mehr für die neuen Eigentumswohnungen, die der Bauunternehmer Hatem Shafiq hat errichten lassen. Der steht aufgrund seiner politischen Aktivitäten unter Immunität, gerät aber bald unter Verdacht, die Sängerin Lalena umgebracht zu haben. Die war blutüberströmt in einem Hotelzimmer aufgefunden worden und die zentrale Figur eines Verbrechersyndikats gewesen, das Prominente erpresst. Noredin soll den Mord aufklären. Und er ist ein bisschen überfordert: Denn normalerweise beschäftigt er sich damit, Schutzgeld von Straßenhändlern und Kleinkriminellen zu erpressen. Die Polizei erscheint hier als Familienbetrieb und Geldeinzugszentrale: Denn Noredins Onkel hält als Chef der Polizeiwache nicht nur beide Hände über die krummen Geschäfte. Nein, er fordert von seinen Beamten sogar mehr Umsatz.

Da ist das Kapitalverbrechen streckenweise nur der Hintergrund, vor dem die Machenschaften der Beamten erzählt werden: Am Tatort bestellen sich die Ermittler erst mal das Mittagessen auf Rechnung der Toten – der sie umgehend das Bargeld aus der Handtasche klauen. Vor allem erpressen sich die Polizeieinheiten verschiedener Bezirke auch untereinander, wichtige Zeugen sterben in der Untersuchungshaft im Beisein eines ganzen Polizeireviers. Ermittlungsergebnis: Selbstmord.

In diese Melange hinein gerät die junge Putzfrau Salwa. Die wichtigste Zeugin des Verbrechens hält sich illegal in Ägypten auf – viel größer kann die soziale Distanz zwischen den Milieus eigentlich nicht sein. Während Bauunternehmer Shafiq im Luxus schwelgt, werden Salma und ihre Mitbewohner unter Druck gesetzt, indem man ihnen die Pässe abnimmt, sie zusammenschlägt, einige (?) tötet. Mit Salmas Hilfe will Noredin das Verbrechen aufklären – in dem er bis zum Hals drinsteckt, ohne es gewusst zu haben.

„Die Nile Hilton Affäre“ ist ein Polizeifilm der komplett anderen Art: Er zeigt ein korruptes Behördensystem, dessen Auswirkungen – Missachtung der Gesetze und Vorteilsnahme – bei den Protesten auf dem Kairoer Tahrir-Platz öffentlich angeprangert wurde. Einer der Auslöser der „ägyptischen Revolution“ war der Tod des Bloggers Chaled Said. Der junge Mann war von zwei korrupten Polizisten zu Tode geprügelt worden. Ein Mord, der ein „Schlaglicht auf die von ägyptischen Sicherheitskräften Tag für Tag ausgeübte brutale Gewalt wirft“, wie Amnesty International damals befand. Mit einigen Jahren Abstand schlägt der Film nun in die gleiche Kerbe.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal

Die Wunde

(ZA/D/NL 2017, Regie: John Trengove)

Unglückliche Liebe
von Wolfgang Nierlin

Sehr lange blicken wir in das verstockte Gesicht des Gabelstaplerfahrers Xolani Radebe (Nakhane Touré), während dieser durch eine Lagerhalle im südafrikanischen Queenstown fährt und dabei förmlich zu schweben scheint. Der …

Sehr lange blicken wir in das verstockte Gesicht des Gabelstaplerfahrers Xolani Radebe (Nakhane Touré), während dieser durch eine Lagerhalle im südafrikanischen Queenstown fährt und dabei förmlich zu schweben scheint. Der zurückhaltende, introvertierte junge Mann lebt allein und ohne Mitte. Wenn er kurz danach auf der Ladefläche eines Pick-ups sitzt, der ihn in die Berge der Provinz Ostkap zu einem Initiationsritus der Xhosa bringt, wirkt er verloren. Auch wenn ihn dieses alljährliche Treffen, bei dem er als Betreuer der Initianden fungiert, seiner Liebessehnsucht näher bringt. Xolani ist nämlich homosexuell und seit Jahren mit dem verheirateten Vija (Bongile Mantsai), einem anderen Betreuer, befreundet. Wenn sich die beiden heimlich zum Sex treffen, wird schnell klar, dass Xolani ein unglücklich Liebender ist, ein Abhängiger, der nur mühsam seine Gefühle unterdrücken kann.

Denn unter den Xosha ist Homosexualität ein schweres Tabu; besonders an einem Ort, an dem die alten Traditionen mit Vehemenz gepflegt und glorifiziert werden und Jünglinge zu Männern reifen sollen. Ein rabiat durchgeführtes, ebenso schmerzhaftes wie gefährliches Beschneidungsritual gilt als erstes Zeugnis dieser Transformation zur Männlichkeit. Xolani, der einst selbst stark darunter gelitten hat, ist nun dem jungen Kwanda (Niza Jay Nicogini) aus Johannesburg zugeteilt. Dieser gilt innerhalb der Gruppe als verweichlichter „Stadtjunge“, zumal er offensichtlich aus Wohlstandsverhältnissen stammt und sich offensiv den Traditionen verweigern möchte. Tatsächlich ist der jugendliche Außenseiter ebenfalls schwul und durchschaut sehr schnell Xolanis Doppelleben: „Du hast Angst zu tun, was du willst“, schleudert er ihm entgegen. Dabei scheint sich sein eigenes Begehren zunehmend auf den provozierend attraktiven Vija zu richten.

Der weiße südafrikanische Filmemacher John Trengove, der sich mit dieser Außenseiterposition identifiziert, um sich dem komplexen Thema zu nähern, erzählt in seinem Langfilmdebüt „Die Wunde“ (Inxeba) zwar dramatisch verhalten, aber sehr intensiv und spannend von den lauernden, brodelnden Gefühlen seiner Protagonisten. In deren fragilem Beziehungsdreieck muss sich jeder auf seine Weise mit den dominanten, lebensbestimmenden Traditionen auseinandersetzen, deren patriarchalisches Konzept der Männlichkeit Homosexualität ausschließt. John Trengove, der die intimen Rituale und Spannungen innerhalb dieser zeitlich befristeten Männer-Gemeinschaft in einem dokumentarischen, gegen Darstellungsklischees arbeitenden Stil aufzeichnet, registriert das Geschehen, ohne es zu bewerten oder gar Lösungen für die thematisierten Probleme anzubieten. In seinem Film folgt vielmehr alles – gerade auch die impulsiven, schier unvermeidlichen Ausbrüche schwelender Gewalt – der inhärenten Logik notwendiger Bewegungen.

Alain delon eiskalte engel

Der eiskalte Engel

(FRK 1967, Regie: Jean-Pierre Melville)

Der Kodex der Einsamkeit
von Wolfgang Nierlin

Es gibt Leoparden, Schakale und Schafe. (J.-P. Melville, L’Ainé des Ferchaux) 1. Jean-Pierre Melvilles 1967 entstandener Film „Le Samuraï“, der in der deutschen Verleihfas­sung „Der eiskalte Engel“ heißt, ist mittlerweile …

Es gibt Leoparden, Schakale und Schafe.
(J.-P. Melville, L’Ainé des Ferchaux)

1.

Jean-Pierre Melvilles 1967 entstandener Film „Le Samuraï“, der in der deutschen Verleihfas­sung „Der eiskalte Engel“ heißt, ist mittlerweile zum Inbegriff des klassischen französischen Gangsterfilms geworden. Er gehört damit zu jenen seltenen Werken, die nicht altern und denen die Zeit nichts anhaben kann, weil sie sich ihrem Zugriff entziehen. Was Melvilles Film zeigt, ist so wirklich wie die Wirklichkeit und doch zugleich so künstlich wie es nur eine hermetisch abgeriegelte Kunstwelt sein kann. Seine bis ins Detail akribische Inszenierung folgt einer Obsession, die der Film thematisiert und zugleich abbildet: dem Ideal des Lebens als Ritual, das sich in strengen Ordnungen, festgefügten Gewohnheiten und kompromisslosem Handeln mit kalter Präzision manifestiert. In der Gesetzmäßigkeit von Melvilles Gangsterwelt spielt der Zufall keine Rolle. Vielmehr ist es der Verrat an ehernen Grundsätzen, menschliche Schwäche oder ein kleiner Fehler in einer auf Perfektion ausgerichteten Kalkulation, die die Figuren aus ihrem Gleichgewicht bringt und ihre unbedingte Stellung in dem sie bedingenden System in Frage stellt. So kann der Killer Jeff Costello (Alain Delon) von sich sagen: „Ich verliere nie – niemals wirklich.“ Leben und Arbeit sind bei ihm untrennbar miteinander verknüpft. Streng und unnachgiebig gegen sich und andere versucht er, das sich selbst auferlegte Gesetz zu erfüllen, um im kompromisslosen Handeln seine Integrität zu wahren. In der Evidenz einer solchen Existenz liegt zugleich ihre Verwundbarkeit: Einmal im Ungleichgewicht, kann Costello nur durch die äußerste Konsequenz seines Freitodes das Gleichgewicht wiederherstellen. Die in seinem Ehrenkodex niedergelegte Klarheit der Einsamkeit rettet ihre Unabhängigkeit in der letzten aller möglichen Selbstbestimmungen: in der Unangreifbarkeit eines heldenhaften Todes. Wie ein Samurai, der sich der Schmach der Gefangennahme durch Harakiri entzieht, erfüllt Costello das Ideal seiner Existenz.

* * *

2.

So wie Regisseur Melville ein Meister der Konzentration ist, dessen funktionale Ästhetik Raum, Zeit und Aktion in größtmöglicher Dichte miteinander verknüpft und damit durch Reduktion seiner Elemente größtmögliche formale Geschlossenheit und Transparenz erreicht, ist seine Kunstfigur Joseph Costello eine Meister der Askese, der das Tageslicht meidet und sich durch die Stadt vorzugsweise in der Untergrundbahn bewegt. Seine spärlich eingerichtete Einzimmerwohnung ist zugleich Klause und Zelle, Zufluchtsort und provisorische Unterkunft: das innenräumliche Pendant zum Außenraum der Stadt. Schon die Metapher des Vogels im Käfig, zu dem Costello bezeichnenderweise eine wortlose, instinktive Beziehung unterhält, die jenseits von Misstrauen, Zweifel und Betrug liegt, verweist durch ihren Status als integrativer Bestandteil des dramatischen Geschehens auf diese Ambivalenz. So ist der Vogel im Käfig nicht nur ein Spiegelbild für die existentielle Situation des Helden und für die Ambiguität seiner Einsamkeit zwischen Selbstschutz, Selbstvervollkommnung und Selbstzerstörung, sondern an der Aufgeregtheit und Nervosität des Tieres kann Costello zugleich den Grad seines eigenen Bedrohtseins ablesen, da dieses mit Veränderungen im Raum und mit der Anwesenheit fremder Eindringlinge korreliert, was die Unruhe des Vogels wie ein Indikator anzeigt. Zugehörigkeit zu einem Raum, die Bewegung in ihm, seine Okkupation: Konstituenten einer existentiellen Zuspitzung, deren Suggestion den Zuschauer erfasst und bannt, seinen Körper zur Identifikati­on mit dem Körper des Samurais bringt. So vollzieht sich der Fatalismus der griechischen Tra­gödie im kathartischen Raum eines Films, von dem Melville sagt, dass es ein japanischer sei.

* * *

3.

Fast sprichwörtlich geworden ist das vom Regisseur erfundene Motto des Films, das er dem Samurai-Buch „Bushido“ entnommen haben will: „Es gibt keine größere Einsamkeit als die eines Samurai, es sei denn die eines Tigers im Dschungel.“ Als „einsamen Wolf“ bezeichnet der Kommissar (François Périer) an einer Stelle des Films seinen Kontrahenten, um damit sein un­angreifbares Einzelgängertum zu beschreiben, das sich jeglichem Zugriff zu entziehen versucht, indem es die Abhängigkeiten von Beziehungen meidet. Obwohl Costello sowohl bei der Konstruktion als auch bei der Aufrechterhaltung seines Alibis auf Menschen angewiesen ist und sich also in eine für ihn gefährliche Abhängigkeit begibt, verbindet sich damit nur scheinbar sein Verhängnis. Denn die Beziehungen, die er unterhält oder eingeht, gründen nicht auf einem Vertrag, der den Ausgleich zwischen den wechselseitigen Ansprüchen des Gebens und Nehmens regelt, sondern auf der persönlichen Integrität singulärer Individuen, die sich an überzeitlichen Idealen bemisst und Begriffe wie Ehre und Treue in allgemeiner Weise zu verwirklichen sucht. Das konkrete Ereignis mit seinen zu gewärtigenden Widrigkeiten oder Anfechtungen ist lediglich ein Prüfstein, um die Stärke einer Persönlichkeit zu erweisen. So sind es nicht in erster Linie die Gefühle, die die beiden Hauptzeuginnen, Costellos Geliebte Jeanne (Nathalie Delon) und die schwarze Pianistin Valérie (Cathy Rosier), veranlassen, diesen zu entlasten und vom Verdacht des Mordes am Besitzer des Nachtclubs „Martey’s“ freizuspre­chen, sondern deren sich selbst verpflichtete Unabhängigkeit, die eine einmal getroffene Entscheidung streng und konsequent verfolgt. Moralische Erwägungen spielen dabei eine un­tergeordnete Rolle, weshalb die Pianistin eine Komplizin der Verbrecherorganisation sein kann und Costellos Freundin dem Kommissar gegenüber äußern darf, dass sie ihren Freund nicht liebe. Beide beharren unerschütterlich darauf, die Wahrheit zu sagen.

* * *

4.

Überraschenderweise wird hier ein vermeintliches Männerideal in gleicher Weise von Frauen verkörpert. Denn „Le Samuraï“ ist vor allem ein Film über Männer und deren Rituale, die von der Kleidung des Gangsters als einer Rüstung des Kriegers bis zum klassischen Polizeiverhör und der damit verbundenen Gegenüberstellung, in der wiederum die Kleidung als dramaturgi­sches Element zum Indiz für die Relativität von Wahrheit in Abhängigkeit von der subjektiven Wahrnehmung wird, die Handlung durchziehen. Dazu gehört sowohl der obligatorische Blick Costellos in den Spiegel beim Verlassen des Zimmers, der den Sitz des Hutes prüft, wobei die Hand über die Hutkrempe streicht, als auch die westernmäßige Duellsituation, in der Costello immer den gegnerischen Griff zur Waffe abwartet, ehe er selbst schießt. In der rituellen Handlung manifestiert sich die Unbedingtheit eines kompromisslos sich selbst verpflichteten Lebens, das sich in der Arbeit eines streng ausgeübten Handwerks vollzieht und in der konsequenten Verfolgung eines bestimmten Ziels die kleinsten Veränderungen bzw. Störungen registriert und integriert oder aber als irrelevant ausschließt, beispielsweise wenn das Desinteresse des Killers gegenüber der Persönlichkeit seiner Opfer thematisch wird. Am offensichtlichsten wird diese Arbeits- und Lebensregel, die einer Übung in Askese gleich­kommt, wenn Costello bei seinen Autodiebstählen unerschütterlich und – dabei einen patrouillie­renden Streifenpolizisten provokativ ignorierend – die Schlüssel seines mit großer Auswahl bestückten Schlüsselbundes nach keinem anderen Prinzip als dem der Reihenfolge durchpro­biert. Das Erreichen des Zieles ist nur eine Frage der Zeit, der Geduld, der sich selbst bewuss­ten Coolness. Das mechanische, kalkulierte Handeln ist die Entsprechung für ein rigides Bewusstsein. Dass die Polizei beim Einbruch in Costellos Wohnung ebenso verfährt, illustriert lediglich Melvilles These, dass zwischen Gangster und Polizist kein prinzipieller Unterschied besteht. Deshalb kann der sich als liberal gebende und bei seinen Ermittlungen mit Einschüch­terungen und psychischen Manipulationen arbeitende Kommissar alle Spekulationen in bezug auf den möglichen Täter, seine Strategie und Verfolgungsmethoden zurückweisen, indem er sagt: „Ich denke niemals.“

* * *

5.

Jean-Pierre Melville hat mit „Le Samuraï“ einen Film gemacht, der seine Bedingungen zeigt und die sich daraus ergebenden Konsequenzen vollzieht. Die Ordnung des Lebens, die sich in der Einsamkeit des Helden widerspiegelt, der den Tod als äußerste und zugleich letzte Möglichkeit versteht, diese Einsamkeit zu verwirklichen, ist die Ordnung eines Übermenschen, dessen Ehre sich in seinem Handeln erweist. Vermutlich folgt die formale Perfektion des Films der perfekten Einsamkeit seines im Verborgenen lebenden Schöpfers, der als Samurai in seinem amerikanischen Ford Galaxy die Außenbezirke des nächtlichen Paris durchstreifte.

Adieu au langage

(CH 2014, Regie: Jean-Luc Godard)

Im Wald der Bilder
von Wolfgang Nierlin

Vielleicht nähert man sich den Filmen aus dem Spät- und Alterswerk Jean-Luc Godards am besten in der Negation, also indem man beschreibt, was sie nicht sind und dabei die Möglichkeiten …

Vielleicht nähert man sich den Filmen aus dem Spät- und Alterswerk Jean-Luc Godards am besten in der Negation, also indem man beschreibt, was sie nicht sind und dabei die Möglichkeiten der Rezeption zu diesem Nicht-Sein in Beziehung setzt. Godardfilme, wie Klaus Theweleit sie einmal genannt hat, erzählen keine Geschichten, auch wenn sie manchmal so tun. Sie stehen jenseits des konventionellen Erzählkinos, sagen aber nicht, was sie sind und wo genau ihr Ort ist. Weil sie nichts erzählen oder nur so tun, ist der Zusammenhang dessen, was sie zeigen, ebenso willkürlich und zufällig wie flüchtig. Godardfilme bestehen insofern aus Teilen oder Fragmenten, aus Bildern und Tönen, die in der Montage zwar miteinander verknüpft sind, aber sich nicht notwendigerweise aufeinander beziehen oder miteinander zusammenhängen. In diesen Fragmenten entkoppelter Bilder und Töne verflüchtigt sich das Ganze. Die Synthese ist gewissermaßen auf der Flucht. Die Dekonstruktion der Form zersetzt zugleich den Inhalt oder das, was man traditionell als Thema eines Films bezeichnet. Wenn es keine Antworten gibt, dann gibt es vielleicht auch keine Fragen.

Godardfilme sind postmoderne Sammlungen verschiedener visueller und akustischer Materialien von unterschiedlicher Güte und Qualität. Sie beinhalten sowohl Dokumente in Form audiovisueller Zitate und gefilmter Tatsachen als auch Fiktionen. Nur sind die immer rudimentärer werdenden Spielszenen nicht mimetisch: Sie bilden keine Wirklichkeit ab, sind nicht die Inszenierung von Charakteren, die Gefühle oder Seelenzustände darstellen, sondern reine Handlung beziehungsweise Aktion oder auch „Körperbild“. Sie resultieren nicht aus einem Handlungsgrund, der wiederum eine Absicht verfolgen würde. Ihr improvisierender Gestus fügt sich vielmehr gleichrangig ein in die assoziativ, spontan und zufällig organisierte Struktur. Jenseits der Erzählhierarchien sprechen die Teile, deren Summe zwar kein Ganzes, aber vielleicht eine Kohärenz ergibt.

Wer aber spricht tatsächlich, ließe sich fragen angesichts der wechselnden Stimmen, die sich nicht ohne weiteres einem Träger zuordnen oder überhaupt identifizieren lassen. Godardfilme erzeugen Orientierungsverluste, indem sie dem Rezipienten Identifizierungsmöglichkeiten vorenthalten. Sie überfordern durch eine größtmögliche Zahl gleichzeitiger Ereignisse. Trotzdem oder gerade deshalb vermitteln sie starke ästhetische Erlebnisse, sind sie persönlich, eigentümlich und poetisch. Sie verwirren das Sehen und Denken und wirken physisch nach. Noch in den Abspanntiteln negieren Godarfilme das Subjekt des Künstlers, dessen eigenwillige Handschrift andererseits zuvor doch alles organisiert hat.

Jean-Luc Godard, der als Meister des Zitats die Autorenschaft seiner späten Filme förmlich ablehnt, liebt das Spiel mit Nivellierungen, Umkehrungen, Paradoxien und Kalauern, was immer auch komisch ist. Der Unernst und damit das Uneigentliche ist den Werken dieses großen Verweigerers, Bilderstürmers und Rebellen eingeschrieben, der mit jeder neuen Arbeit die Differenz fortschreibt. „Ich bin hier, um nein zu sagen“, heißt es wiederholt in seinem 3-D-Filmexperiment „Adieu au langage“. Dieses Nein ist in dem verzweigten Filmessay wörtlich und bildlich, direkt und indirekt zu verstehen, formuliert Kritik und ist zugleich künstlerisches Prinzip. Godards Nein bezieht sich auf die gesellschaftliche Zurichtung des Individuums, meint insofern individuelle und politische Unfreiheit, aber auch der zerstörerische Determinismus von Geschichte, die Logik des Krieges und ganz allgemein die „Demütigungen“ der menschlichen Existenz.

In „Adieu au langage“ richtet sich das Nein vorzugsweise aber auch gegen die filmische Illusion. „Wer keine Phantasie hat, flieht in die Realität“, lautet der paradox erscheinende erste Satz des Films, der das Analoge von Sprache und Schrift der digitalen Bilderwelt entgegensetzt. Deren Zerstörungen, in denen sich Gegenwart und Kunst gleichermaßen verflüchtigen, markieren für Godard eine Zuspitzung der Realität. Der Filmemacher, der sich als Künstler im Widerspruch zwischen Leben und Kunst gefangen sieht, antwortet darauf, indem er mit den Mitteln des Films und hier besonders der 3-D-Technik die „Realitätserfahrung“ noch forciert. In „Adieu au langage“ schweben die Buchstaben und Wörter im Raum, verdeckt der Vordergrund öfters das Dahinterliegende, streben die Bilder über ihren Rahmen hinaus, sind die Proportionen der Gegenstände und Körper verzerrt und immer wieder sehr nah oder wird gar das stereoskopische Bild quasi „gespaltet“ und auf zwei parallele Handlungen „verteilt“.

Godards visuelle Experimente bewirken anstrengende Seherfahrungen, die die Bedingungen filmischer Illusion fortwährend befragen und den Rezipienten in eine Reflexionsdistanz setzen. Die Welt der Bilder als undurchdringliches Dickicht erscheint hier nicht weniger als ein Wald als die reale Welt, um eine im Film aufgerufene Metapher zu verwenden. Jean-Luc Godards stets erneuerte Flucht vor den Identitätsfallen im Sprechen und Denken, in Film, Kunst und Literatur führt als geradewegs – den Weg vom Menschen zum Tier eingeschlossen – in die Natur.

The Night of the Virgin

(ES 2016, Regie: Roberto San Sebastián)

Die dunkle und schleimige Höhle, in der wir wohnen
von Nicolai Bühnemann

In einem sehr treffenden Artikel beklagte Rajko Burchard, dass der Filmvorspann im Gegenwartskino eine ausgestorbene Kunst sei. Das stimmt natürlich – größtenteils. Ein Gegenbeispiel bietet „La noche del virgén“. Hier …

In einem sehr treffenden Artikel beklagte Rajko Burchard, dass der Filmvorspann im Gegenwartskino eine ausgestorbene Kunst sei. Das stimmt natürlich – größtenteils. Ein Gegenbeispiel bietet „La noche del virgén“. Hier sehen wir zunächst in einem winzig kleinen Fenster, mittig auf der Leinwand, eine Fernsehsendung, in der eine Moderatorin und ein Moderator, der eine Dracula-mäßige Kutte trägt, uns auf einen Jahreswechsel einstimmen sollen und zwar den von 2015 auf 2016. Wie vieles später in diesem Film scheinen die beiden und ihre Sendung irgendwie aus der Zeit gefallen zu sein. Weder das 4:3-Bildformat, die Artefakte, die es durchflimmern, noch die ganze Aufmachung scheinen sonderlich viel mit der zweiten Hälfte der 2010er zu tun zu haben.

Während die beiden, mäßig komisch, aber sehr sonderbar, über ihre Schwangerschaft, von der sie nichts weiß, darüber, dass im Jahr, das kommt, doch bitte weder David Bowie noch Prince noch George Michael sterben müssen (oder wenn doch einer von ihnen, dann nur letzterer), über die Religiosität von Festen (Weihnachten ist doch wohl ein religiöses Fest, schließlich wurde da unser Herr, Jesus Christus, geboren) und über die Migranten, die unten vor dem Tor gefälschte Fußballtrikots verkaufen, wird ihr kleines Fenster immer größer, bis es schließlich die gesamte Scope-Leinwand ausfüllt. Die Fernsehsendung wird also nach und nach zu dem Film, den wir sehen, nur um dann wieder aus ihm ausgelagert zu werden, in den Hintergrund des Geschehens in seiner ersten Szene, die in einem Club spielt, in dem Menschen ins neue Jahr hinein feiern und tanzen.

Hier lernen wir auch unseren Protagonisten kennen, der Nico heißt (Javier Bódalo) und die Jungfrau aus dem Titel ist (der spanische Originaltitel, der übrigens leinwandfüllend, in sehr ansprechend gestalteten Lettern vor rotem Hintergrund eingeblendet wird, was wiederum sehr schön ist, verrät übrigens, anders als seine deutschen oder englischen Übersetzungen, bereits, dass es sich um eine männliche Jungfrau handelt). Nico ist auf der Suche nach einer Frau, tanzt dann zunächst auch mit einer, die jung und attraktiv, aber auch so breit ist, dass die beiderseitige Annäherung abrupt damit endet, dass sie auf die Tanzfläche kotzt. Schließlich geht er, der mit seinem schiefen Blick und seinem sonderbaren Gebiss nicht eben als Schönheit zu bezeichnen ist, nun doch mit einer Frau mit, die aber nun bedeutend älter ist als er.

Als sie in ihrer Wohnung ankommen, wird es dann schnell so weird, wie es schon der Vorspann vermuten ließ, auch wenn uns dieser sicherlich nicht vollends auf die geballte Sonderbarkeit vorbereiten konnte, die uns erwartet – ich glaube, nichts könnte das. In ihrer Wohnung also gibt sie ihm zunächst die Anweisung, nicht auf die Kakerlaken zu treten, die hier überall über den Boden flitzen, das bringe nämlich Pech. Dass er dann doch auf eine tritt, der Film zeigt uns die zertretene Kakerlake, die er sich nun von seinem Schuh abpult und in seine Hosentasche steckt, im Close-Up, ist wohl der Grund für das, was ihm im weiteren Film widerfahren wird, wenn es denn dafür irgendeines Grundes bedarf.

Jedenfalls erzählt sie in ihrer einmalig versifften Wohnung von mythischen Kriegerinnen, hat eine buddhistische Statue rumzustehen und heißt denn auch, passend zu all dem, Medea (Miriam Martín). Er lügt darüber, mit wie vielen Frauen er Sex hatte (drei und dazu noch einige Huren, deren Zahl variiert). Medea und wir wissen natürlich, dass er noch Jungfrau ist. Über WhatsApp unterhält er sich mit einem Kumpel über das bevorstehende Glück, wird von diesem in mit sexuellen Kraftausdrücken gespickter Sprache dazu angefeuert, der Oma mal zu zeigen, wo der Hammer hängt – und Fotos zum Beweis zu machen. Zunächst holt sie ihm dann bald einen runter, hält aber Inne, ehe er fertig ist. Er beendet dann, was sie angefangen hat, zunächst an einem ihrer Slips riechend, der offenbar so stinkt, dass er es nach dem zweiten Versuch aufgibt. Als Vorlage verwendet er übrigens ein altes Fotoalbum von ihr. Der Schnitt, der nicht nur hier ziemlich toll ist, zeigt in immer schnellerem Wechsel, das sich zu einem Stakkato steigert, sein Gesicht, seinen Schwanz in seiner Hand und die sonderbar aufreizenden Fotos in dem Album. Schließlich kommt er. Und wie! Sein – übrigens recht kleiner – Schwanz wird regelrecht zum Feuerwehrschlauch, aus dem es spritzt und schäumt, dass es nur so eine Art hat.

Es kommt bald ihr Freund hinzu, der von draußen, aus einem Außen, das es in diesem Film eigentlich längst nicht mehr zu geben scheint, gegen die von ihr sorgfältigst verriegelte Tür hämmert und brüllt, droht und flucht, was das Zeug hält. Er heißt übrigens Araña (spanisch für „Spinne“, Víctor Amilibia). Wer lernen möchte, auf Spanisch zu fluchen, dem sei die Originalversion von „La noche del virgén“ ans Herz gelegt, in der wohl, mehr als einmal, jedes nur erdenkliche Schimpfwort vorkommt, das diese Sprache zumindest im iberischen Raum zu bieten hat. Daran hat dann eben Araña hinter der Tür den größten, wenn auch sicherlich nicht den einzigen Anteil. Das I-Phone von Nico, übrigens ein auch zum Zeitpunkt der Handlung schon ziemlich veraltetes Modell, mit dem er die Polizei rufen will, lässt Medea, die von dieser Idee nichts hält, dann verschwinden – in ihrer Möse.

Bei zwei Fluchtversuchen aus der Wohnung hängt unsere tapfere, im Verlauf des Films mehr und mehr geschundene Jungfrau aus dem Fenster, wo ihr in zwei Szenen jeweils zwei Männer nicht helfen wollen. Das erste Männer-Paar erscheint in einem Fenster über ihm, zunächst ein Kopf, der stöhnt und sich rhythmisch vor und zurück bewegt, dann hört das Stöhnen und die Bewegung auf und neben dem Kopf erscheint ein zweiter, sie beschimpfen ihn nicht nur ziemlich wüst, sondern werfen ihm schließlich auch ein benutztes und gut gefülltes Kondom ins Gesicht. Der Abspann, in dem alle Figuren noch einmal zu sehen sind, und ihre Rollen- und Darstellernamen eingeblendet werden, stellt sie uns übrigens als aktiver und passiver Sodomit vor. Ob das nun homophob oder einfach nur geschmacklos ist, spielt im Kontext dieses Films kaum eine Rolle. Denn Tabubruch und Geschmacklosigkeit dienen hier nicht, wie bei, sagen wir, Rolf Olsen, Paul Verhoeven oder in „You Don’t Mess with the Zohan“ (Denis Dugan, USA 2008) dazu, unter dem Teppich hervorzuholen, was der gute Geschmack und das, was heute political corectness genannt wird, lieber gründlich unter ihn gekehrt wissen, sondern sind reiner Selbstzweck.

Das zweite Männerpaar ist dann nicht über, sondern unter ihm, zwei Penner auf der Straße, die sich zunächst einfach über ihn lustig machen, indem sie vorgeben, mit einem schon wieder aus der Zeit gefallenen Telefon, dessen Kabel ins Nichts läuft, die Polizei zu rufen, dann aber auch dazu übergehen, ihn mit Kraftausdrücken zu traktieren. Man würde den Film wohl zu ernst nehmen, wenn man fragen würde, ob Schwule und sozial Benachteiligte einfach so sind, es geht eben nur darum, dass er die im Exploitationkino ja immer vorherrschende Tendenz, dass die Menschen nicht sonderlich freundlich oder hilfsbereit sind – man kann für dieses Kino mehr oder minder verallgemeinern, was Jacques Rievette in denkwürdigen Worten über die Filme Paul Verhoevens sagte: „Es geht ums Überleben in einer Welt, die von Arschlöchern bevölkert wird“ – auf die Spitze zu treiben. Es geht dabei aber, und dafür ist es dann doch wieder bedeutend, dass die Arschlöcher hier schwul und obdachlos sind, wiederum nur darum, zu provozieren. Das will auch gute Exploitation, aber sie will, das ist wohl der maßgebliche Unterschied zu schlechter Exploitation, mehr als das.

So geht das weiter. Ohne zu verraten, wie genau (der Film ist über weite Strecken so eigenartig, dass es einen Gutteil seines Reizes ausmacht, dass man keine Ahnung hat, wo das noch hinführen soll), sei doch so viel gesagt: Ein Kind wird geboren werden. An der Kinotür beim Screening auf dem diesjährigen Fantasy Filmfest wurden übrigens Kotztüten verteilt und auch wenn sie wohl niemand im Saal tatsächlich benutzt hat, saut der Film dann im Finale so sehr rum, dass es auch hartgesottenen Genrefans etwas flau im Magen werden kann. Am Ende sind der ganze Film, die Wohnung, die Figuren und Telefone imprägniert mit Kotze, Blut, Scheidensekret und wohl noch anderen Körperflüssigkeiten, von deren Existenz wir zuvor wahrscheinlich nicht mal ahnten. In der vor Dreck geradezu starrenden Wohnung, in der der Großteil des Films spielt, befinden wir uns wohl im Inneren eines Körpers, in der dunklen und schleimigen Höhle, in der wir wohnen. Man darf wohl, den Themen von Geburt et al entsprechend, davon ausgehen, dass es sich um einen Mutterleib handelt.

Und nun? Tja, ich war gebannt, hab mich geekelt, bin mir bewusst geworden, dass das Leben und sein Zyklus, dass Geburt und Tod und alles, was zwischen ihnen liegt, verdammt schmerzhaft sein können (was immerhin eine Erkenntnis ist, wenn auch keine sonderlich neue) und habe mich im Endeffekt dann aber doch nur gefragt: Was soll der Scheiß?

Bullitt

(USA 1968, Regie: Peter Yates)

Ohne Grund zur Arbeit
von Nicolai Bühnemann

Dies ist eine Einführung zu „Bullitt“, die ich auf dem dritten KARACHO – Festival des Actionfilms gehalten haben, das vom 8. bis 10. September 2017 im Nürnberger KommKino statt fand. …

Dies ist eine Einführung zu „Bullitt“, die ich auf dem dritten KARACHO – Festival des Actionfilms gehalten haben, das vom 8. bis 10. September 2017 im Nürnberger KommKino statt fand.

Wie gestern möchte ich auch heute mit einem Zitat beginnen, das diesmal von einem Kritikerkollegen stammt, der hier im KommKino schon sehr oft ein sehr gerne gesehener Gast war. Oliver Nöding schreibt in seiner Kritik zu „Touch of Evil“ auf seinem Blog Remember it for later: „Orson Welles hat mit „Touch of Evil“ sowohl inhaltlich wie formal das Kunststück vollbracht, im Jahr 1958 nicht nur die Fünfziger-, sondern sogar schon die Sechzigerjahre hinter sich gelassen zu haben. Wir sind hier schon im pessimistischen, ja, zynischen Polizeifilm der Siebzigerjahre angelangt, nur noch Versatzstücke sowie Lokal- und Zeitkolorit erinnern uns daran, wo wir uns wirklich befinden.“

Der von Orson Welles selbst gespielte rassistische Quinlan, laut Oliver „fulminant fett und furchteinflößend“, nimmt also demnach schon die großen und großartigen Erzreaktionäre Dirty Harry Callahan und Jimmy „Popeye“ Doyle vorweg, die uns in den frühen Siebzigern zu atemberaubenden Reisen ins Herz der Finsternis einluden, das zu dieser Zeit nicht im Kongo oder Kambodscha schlug, sondern auf den Straßen von San Francisco und Brooklyn, aber vor allem in den Figuren selbst, die wir durch den concrete jungle begleiten. Es gab denn auch einen linken Gegenentwurf zu den zuvor genanten: Frank Serpico. Egal auf welcher Seite der ideologischen Grabenkämpfe der Zeit sie stehen, sie eint nicht nur ihre tiefe Zerrissenheit, sondern auch, dass sie sich, vielleicht das wichtigste Narrativ im Kino der Zeit überhaupt, aber insbesondere des sogenannten New Hollywood, im Kampf mit einem System befanden. Dieses ist, auch hier ist die politische Ausrichtung egal, der Polizeiapparat. Bei Callahan ist er nach den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Sechziger so „liberal“, dass er ihn hindert, seinen Job zu machen, mit knallharter Hand und .357 Magnum so richtig aufzuräumen, mit den Worten eines anderen großen Faschisten des amerikanischen Kinos der Siebziger, all den Abschaum von den Straßen zu spülen. Bei Serpico hingegen ist er so korrupt, ja, mafiös organisiert, dass die einzigen Verbrecher, die er überhaupt noch bekämpfen kann, Verbrecher with a badge sind.

Warum erzähle ich das alles? Nun, weil wir heute Abend mit „Bullitt“ von Peter Yates einen Polizeifilm sehen werden, der genau aus der Dekade stammt, die Welles überspringt, und ich die Frage interessant finde, wie sich ein berühmter Filmcop aus einem berühmten Copfilm in den Sechzigerjahren zu seinem Vorgänger und seinen Nachfolgern verhält, die sich ja, folgt man Oliver, was ich an dieser Stelle unbedingt tue, recht ähnlich sind.

Doch fangen wir am Anfang an. Rajko Burchardt beklagte einst in einem Artikel, dass die große Kunst des Filmvorspanns leider im Gegenwartskino größtenteils ausgestorben sei. Ein vortreffliches Beispiel dafür, wie Vorspann einst ging, aber eben leider nicht mehr geht, können wir in „Bullitt“ bewundern. Zu dem funky swingenden Score von Lalo Schifrin sehen wir Räume und die Männer in ihnen im Chrom eines Lampenschirms gespiegelt. Da fliegen die Credits auf uns zu und übernehmen die Rolle von Überblenden, lassen ein Bild ins nächste gleiten, wobei die Bilder mal farbig, mal schwarz-weiß sind und Männer zeigen, die ihrem hier absolut undurchsichtig bleibenden Gangsterhandwerk nachgehen. Ein nicht nur in sich abgeschlossenes, sondern auch absolut hermetisches kleines Kunstwerk ist dieser Vorspann.

Steve McQueen gibt die Titelfigur mit extremen Understatement. Schon darin könnte er von der Schmiere von Welles Quinlan, dem Knurrigen von Eastwoods Callahan oder dem Cholerischen von Hackmans Doyle kaum weiter entfernt sein. Mit Pacinos Serpico verbindet ihn immerhin, dass er dem Film seinen Titel gibt und sie den gleichen Vornamen teilen: Frank. Ansonsten allerdings auch rein gar nichts. Bullits stoische Ruhe scheint den ganzen Film anzustecken, der im allgemeinen ziemlich slow paced ist und sein Tempo dann immer nur in seinen Actionszenen abrupt steigert.

Auch Bullitt, der zu Beginn den Auftrag erhält, einen Mann zu beschützen vor einer Organisation, die immer nur „die Organisation“ genannt wird, wird sich mit seinem Auftraggeber anlegen. Jedoch bedeutet das bei ihm so gut wie nichts. Steht das Entstehungsjahr des Films, 1968, oft geradezu synonym zum Menschen in der Revolte, dann liefert Yates uns eine große Gegenerzählung, indem er von einem Mann erzählt, der längst aufgegeben hat. Wenn er denn jemals ein Kämpfer war, des Kämpfens wohl schon vor langer Zeit endgültig müde geworden ist und nur noch wie ein Roboter funktioniert. Er raucht nicht, er säuft nicht, er stopft keine Hot-Dogs in sich hinein, er flucht selten und haut niemandem auf die Fresse, kurz gesagt, er tut nichts von all dem, was so vielen anderen Bullen der Filmgeschichte vielleicht eine kurzfristige Linderung von ihrem sonst ziemlich tristen Dasein verschafft. Käuflich ist er zwar nicht. Was sollte er aber auch mit dem Geld, das er verdienen könnte, wenn er es wäre, machen? Eine Freundin hat er zwar und eine äußerst attraktive noch dazu, weiß mit ihr aber augenscheinlich so gar nichts anzufangen. Mit dieser, gespielt von Jacqueline Bisset, führt er an einer Stelle folgenden Dialog: Sie: „Ist dein Inneres je berührt? Wirklich berührt? Oder kommt nichts mehr an dich heran? Du lebst im Morast. Tag für Tag.“ Er: „Man kann dem nicht entfliehen.“ Sie: „Ich weiß, aber ich will es nicht sehen. All das Hässliche um uns herum. Du lebst mit Gewalt und dem Tod.“ Er schweigt und durch sein Schweigen spricht hier einer, der längst resigniert hat gegenüber dem Grauen, aber vor allem gegenüber der Tatsache, dass er nichts an ihm ändern wird. Wenn es einen Grund dafür gibt, dass Frank Bullitt immer noch jeden Morgen aufsteht und zur Arbeit geht, dann erfahren wir ihn in den 114 Minuten des Films nicht mal im Ansatz.

Über „Bullitt“ kann man sicherlich nicht sprechen, ohne seine große Verfolgungsjagd zu erwähnen, die zehn Minuten und 53 Sekunden dauert und eine der berühmtesten der Filmgeschichte ist – schon gar nicht im Kontext eines Festivals, das sich ganz dem Actionfilm widmet. Sie geht betont langsam los und steigert sich in einem großen Crescendo, wenn der Verkehr immer dichter wird und die Verfolgten aus ihrem Dodge Charger mit einer Schrotflinte das Feuer auf Bullitts Ford Mustang eröffnen. Sie endet mit einem Knall, mit erheblichem pyrotechnischen Aufwand und damit, dass die buchstäblich zur Strecke gebrachten Gangster im Feuer schmoren.

Mit einem Gedanken zu dieser denkwürdigen Szene möchte ich dann auch schließen. Wenn es einen Abschnitt auf der IMDb-Seite eines Films gibt, den ich immer geflissentlich ignoriere, dann sind es die Goofs. Gestern habe ich eine Ausnahme gemacht und mit Grauen, wohlgemerkt: vor der Seite, nicht dem Film, festgestellt, dass an dieser Stelle zu „Bullitt“ insgesamt 53 Filmfehler gelistet werden. Sensationelle 23 davon nur bei der Verfolgungsjagd. Wenn also, um nur den markantesten und bekanntesten der „Fehler“ zu nenne, der Dodge wesentlich mehr als vier Felgen verliert, dann gibt es wohl Leute, die das als reine Schlampigkeit abkanzeln, ich hingegen möchte es lieber als ein starkes Statement für die künstlerische Autonomie des Kinos begreifen, das sich eben, wenn überhaupt, nur an seine eigenen Regeln zu halten hat, sich von dem, was man gemeinhin Realität nennt, immer wieder emanzipieren darf, ja, vielleicht sogar muss. Oder, etwas anders ausgedrückt: man kann diese Szene auch so lesen, dass der Film mit ihr den Erbsen-, Filmfehler- und Felgenzählern des Internetzeitalters über die Jahrzehnte hinweg den Mittelfinger zeigt.

Immer noch eine unbequeme Wahrheit – Unsere Zeit läuft

(USA 2017, Regie: Bonni Cohen, Jon Shenk)

Immer noch Al Gore
von Jürgen Kiontke

Amerikaner wissen, wie man dramatische Filme dreht. „Dies ist unser Zuhause – lasst euch nicht erzählen, wir würden in Raumschiffe steigen und zum Mars abhauen!“, warnt der US-Präsident. „Es geht …

Amerikaner wissen, wie man dramatische Filme dreht. „Dies ist unser Zuhause – lasst euch nicht erzählen, wir würden in Raumschiffe steigen und zum Mars abhauen!“, warnt der US-Präsident. „Es geht um alles, wir müssen die Menschheit retten!“ Das Symphonieorchester weiß, was es zu tun hat.

Du bist nicht in der nächsten „Transformers“-Folge und auch nicht in „Independence Day 3“. Es ist schlimmer. Der Film heißt „Immer noch eine unbequeme Wahrheit“ und ist die unbequeme Fortsetzung von „Eine unbequeme Wahrheit“ aus dem Jahr 2006. Der charismatische Typ, der da redet, ist immer noch der ehemalige US-Vizepräsident Al Gore, der mit 537 Stimmen in Florida gegen George Bush die Wahl verlor. Stattdessen bekam er den Friedensnobelpreis.

„Wir müssen aktiv werden, bevor die USA ein Schurkenstaat werden“, sagt er. Gore würde sich auch heute gut machen als US-Klima-Präsident. Warum bloß hat er nicht noch mal kandidiert? Schade, denkt man. Er wäre wohl passender als Donald Trump. Der tritt hier auch auf, als naturfeindlicher Anti-Gore. Da steht er in einer seiner Wahlversammlungen, die bis heute andauern, und ruft ins Publikum: „Heute soll es 21 Grad warm sein. Es ist aber eiskalt. Wer sagt denn mal: Wir brauchen eine globale Erwärmung?“

Im neuen Film der „Unbequeme Wahrheit“-Macher dient Trump als abschreckendes Beispiel. Gut 100 Minuten lang werden ihm und uns Bilder von Stürmen, Überschwemmungen und Waldbränden entgegengehalten. Den meisten Ärger habe er nach seinem ersten Film mit der Aussage gehabt, das 9/11-Denkmal in New York werde versinken, wenn der Meeresspiegel steigt. 2012 war es beinahe so weit: Hurrikan Sandy setzte ihn immerhin unter Wasser. „Sie hat einen guten Job gemacht“, würde Trump wohl sagen.

Gore hat solche Orte mit einem Kamerateam besucht, schüttelt Hände, stellt sich mit Gummistiefeln in die Pfütze, spricht mit Klimaexperten und Trost zu. Dann flitzt er zum nächsten Schauplatz, steht inmitten tauenden Eises am Süd- oder Nordpol, schaut beim Pariser Klimagipfel vorbei. Er hält seinen berühmten Slideshow-Vortrag und bildet Naturschützer aus.
Wie im Katastrophenspielfilm üblich, kommt bei all dem jede Menge Technik zum Einsatz. Gore benutzt iPhone, iPad, Beamer, VW-Geländewagen – ausgerechnet-, Riesenlimousinen, Heli, das Forschungsschiff und Kapitalismus. Der Klimaretter à la USA ist nicht technikfeindlich, im Gegenteil. Die Technik wird uns helfen. Es drohen viele neue Kohlekraftwerke im Schwellenland? Ein Anruf, schon beginnt in Indien das Zeitalter der Solartechnik. Technik ist was Gutes: Grüne jedenfalls. In den letzten Jahren hat sich die Industrie durchaus zum Positiven entwickelt, sagt Gore.

Der Al Gore dieses Films ist ein moderner und antiker Unternehmer zugleich: Diese gewichtige, visionäre Renaissance-Figur geht mit neuesten Ideen vorneweg. Ein Heinrich der 8. der postfordistischen Produktion. Egal, mit wem er spricht: Er wirkt mitreißend und überzeugend auf seine Gesprächspartner – wenn sie nicht ohnehin schon auf die richtige Seite gekommen sind. Wie jener specknackige Bürgermeister einer texanischen Stadt, die komplett auf erneuerbare Energien umgestiegen ist. Nicht weil es das Klima schont. Sondern weil es billiger ist. Aber richtige Gesprächspartner sind das nicht, die braucht der Protagonist eigentlich nicht. Denn dieser Film ist ein Monolog. Eine Rede an die Erde, mit uns darauf. Der Filmheld wird sie und uns retten, ganz sicher! Vielleicht werden wir mit der Erde zum Mars fliegen.

The Last Boy Scout

(USA 1991, Regie: Tony Scott)

Helden der 90er
von Nicolai Bühnemann

Dies ist eine kleine Einführung zu Tony Scotts „The Last Boy Scout“, die ich vor dem Screening auf dem dritten KARACHO – Festival des Actionfilms gehalten habe, das zwischen dem …

Dies ist eine kleine Einführung zu Tony Scotts „The Last Boy Scout“, die ich vor dem Screening auf dem dritten KARACHO – Festival des Actionfilms gehalten habe, das zwischen dem 8. und 10. September 2017 im Nürnberger KommKino stattfand.

Ich beginne mit einem Zitat. Laut der wundervollen, mustergültigen Definition von Rainer Knepperges ist „Der Film Noir eine Kunstform des Nachkriegs, die Mitleid mit Menschen hat, die ihre Seele verloren haben.“

Der Film, den wir gleich sehen werden, „The Last Boy Scout“, 1991 unter der Regie von Tony Scott entstanden, ist ein Neo-Noir, wenn es jemals einen gegeben hat. Der Kalte Krieg war damals gerade vorbei, aber viel entscheidender ist wohl, dass dieser Film von Menschen bevölkert wird, die wohl ihre Seelen verloren haben, wenn man es freundlich ausdrückt. Anders und weniger freundlich gesagt, sind sie vollkommen kaputt und abgefuckt. Zumindest die männlichen und unter ihnen, insbesondere die Hauptfigur: der von Bruce Willis gespielte Privatdetektiv Joe Hallenbeck.

Wie diese Figur eingeführt wird, spricht Bände. Er schläft nämlich in seinem Auto einen gewaltigen Rausch aus, als ihm ein paar Kinder ein totes Hörnchen durch das geöffnete Autofenster in den Schoß werfen. Er kommentiert das wenig später mit den Worten: „I think I fucked a squirell to death.“

Tief gefallen ist auch der Mann, mit dem er sich später zusammenraufen muss, um ein paar Verbrecher zur Strecke zu bringen. „The Last Boy Scout“ ist also auch ein buddy moviefrom hell.

Hallenbecks anfänglicher Partner in spe wird gespielt von Damon Wayans. Halle Berry und Michelle Harris runden den großen Neunziger-Cast ab.

Scott out-noirt hier den klassischen Noir, was wohl nicht zuletzt an der Zeigefreudigkeit seiner Entstehungszeit liegt. Hatte das Hollywood-Kino der Vierziger und Fünfziger unter den rigiden Zensurbestimmungen des Hays Codes zu leiden, sind dem, was Scott 1991 an Sex und Gewalt zeigen durfte, kaum Grenzen gesetzt. So gibt es gleich zu Beginn eine ziemlich widerwärtige Szene von sexueller Gewalt, in der ein fetter Mann, eine nur mit einem Bikiniunterteil bekleidete Frau und ein Whirl-Pool vorkommen. Wenn dem sinistren Treiben des Mannes schließlich mit einem sehr gezielten Footballwurf Einhalt geboten wird, ist mir nach Applaudieren zumute. Nur ein Beispiel dafür, wie geschickt Scott hier auf unserer emotionalen Klaviatur spielt. „The Last Boy Scout“ ist, von Anfang bis Ende, großes Affektkino. Später macht das Gehirn eines Mannes, der besser auf Hallenbecks Warnungen gehört hätte, Bekanntschaft mit seinem Nasenbein.

Schließlich muss, weil wir uns immer noch in einem Mainstreamactionfilm befinden, wenn auch eben in einem sehr harten, auch der Oberschurke das Zeitliche segnen. Wie er das genau tut, soll hier nicht verraten werden. Nur so viel: Wie Hans Gruber in „Die Hard“, den vielleicht der eine oder andere hier im Saal gesehen hat, fällt auch er, nur landet er noch wesentlich unbequemer. Es gibt hier also eine deutliche Steigerung. Von 1988 zu 1991. Von John McTiernan zu Tony Scott. Der letzte Vergleich stammt übrigens nicht von mir. Ich habe ihn vor sehr langer Zeit in einem mehr oder minder zeitgenössischen Text zu „The Last Boy Scout“ gelesen. Ich glaube in der Cinema. Wenn der Text tatsächlich aus der Cinema stammt, die ja bekanntlich nicht eben für qualitativ hochwertigen Filmjournalismus bekannt ist, dann gilt hier wohl: Auch ein blindes Huhn trinkt mal ’nen Korn. Das tut auch Bruce Willis als Joe Hallenbeck. Manchmal vielleicht auch mehr als einen.

Verschiedene Poetiken der Affektbilder: Ein Bericht vom 3. KARACHO – Festival des Actionfilms

( , Regie: )


von Nicolai Bühnemann

Vom 8. bis 10. September 2017 lud das Nürnberger KommKino bereits zum dritten Mal zum KARACHO – Festival des Actionfilms. Auch wenn ich die beiden ersten, ebenfalls sehr toll kuratierten …

Vom 8. bis 10. September 2017 lud das Nürnberger KommKino bereits zum dritten Mal zum KARACHO – Festival des Actionfilms. Auch wenn ich die beiden ersten, ebenfalls sehr toll kuratierten Ausgaben nicht besucht habe, war ich schon öfter auf Festivals aus dem Dunstkreis dieses Kinos und des sogenannten Hofbauer-Kommandos und wusste, dass mich hier ein Fest des Kinos und der Liebe zu ihm erwarten würde. Das liegt daran, dass zum einen auch hier die policy eingehalten wird, alle Filme von 35mm zu zeigen, von zumeist historischen Filmkopien. Zum anderen, dass das Team um Andreas Beilharz und Nikolas Schuppe auch hier, wie auf dem ebenfalls von Andreas mitkuratierten Terza Visione – Festival des italienischen Genrefilms, darauf wert legt, das Programm so zu mischen, dass große Klassiker des Genres, die die Aficionados, aus denen sich das Publikum zu einem großen Teil rekrutiert, wohl häufig in- und auswendig kennen, aber vielleicht noch nie auf der großen Leinwand und dann auch noch in ihrer ursprünglichen analogen Form gesehen haben, vollkommen gleichberechtigt neben Ultraobskurem stehen. Auf dem diesjährigen KARACHO lief „The Last Boy Scout“ von Tony Scott neben „The Beastmaster“ von Don Coscarelli, „Hard-Boiled“ von John Woo neben „Frankensteins Kung Fu Monster“ von Ling Chong-Guang, „Bullit“ von Peter Yates neben „The Devil’s Eight“ von Burt Topper.

Wo das Terza Visione auch die schier unfassbare Bandbreite des italienischen Genrekinos der 1950er – 80er zeigte (man kann argumentieren, dass die vierzehn Filme, die bei der letzten Ausgabe im Juli dieses Jahres dort liefen, vierzehn verschiedenen Genres zugerechnet werden können), geht es auch dem KARACHO darum, eine Vorstellung davon zu geben, wie vielfältig das Actionkino ist, wozu einerseits gehört, dass die Filme vollkommen verschiedenen historischen und kulturellen Kontexten entstammen (die zwölf Filme entstanden zwischen 1968 und 1996 in fünf verschiedenen Ländern), aber auch, dass unterschiedlichste Subgenres bedient werden: Es liefen u.a. Eastern, Heroic-Bloodshed-, Polizei- und Barbarenfilme.

Es ist unbestreitbar, dass der Actionfilm neben dem Horrorfilm wohl das Affektgenre ist. Natürlich ist er ein sehr körpertbetontes Genre. Es geht um Körper in Bewegung, um gestählte (meist Männer-)Körper und sicherlich nicht zuletzt um die Zerstörung von Körpern, die, wenn sie gut inszeniert ist, eben eine direkt physische Wirkung nicht verfehlt, weil wir durch sie die Zerstörbarkeit des eigenen Körpers vor Augen geführt bekommen. In einem Heroic-Bloodshed-Film von John Woo ebenso sehr wie in einem Zombiefilm von George A. Romero, in „The Last Boy Scout“ wie in „The Texas Chainsaw Massacre“. Es nimmt dann wenig wunder, dass es Splatter, verstanden als eine bestimmte Wundästhetik und also als eine Art, die Zerstörung von Körpern zu ästhetisieren, im Actionfilm ebenso sehr zuhause ist wie im Horrorfilm. Mit „Lone Wolf and Cub 3“ lief auf dem Festival denn auch ein eindeutiger Splatterfilm, in vielen anderen gab es zumindest (mehr oder minder ausgewalzte) Splattereinlagen.

Dass der erste Festivalfilm für mich geradezu ein Erweckungserlebnis darstellte, lag nicht zuletzt darin, dass er mir eine ganz neue Poetik des Affektbildes eröffnete, eine mir bislang weitestgehend unbekannte Art, Gewalt und eben ihre Auswirkungen auf den Körper, dem sie angetan wird, zu ästhetisieren und zu poetisieren. Das wiederum eröffnete mir, dass es sehr verschiedene Poetiken des Affektbildes gibt, die sowohl aus der individuellen Handschrift von Genre-Auteurs entstehen als auch, dass sie an verschiedene Kinematographien gebunden sind. John Woo hat eine vollkommen andere als Tony Scott, das japanische Exploitationkino der 70er eine, die sich von dem US-amerikanischen derselben Dekade kaum mehr unterscheiden könnte. Diese Überlegungen bilden für mich die Grundlage, auf der ich nun die einzelnen Filme des Festivals – mehr oder minder kurz – besprechen werde.

© Rapid Eye Movies

„Lone Wolf and Cub 3“ (Kenji Misumi, Japan 1972)

Eröffnungsfilme von Festivals haben bei mir meist einen schweren Stand. Oft bin ich noch zu sehr damit beschäftigt, mich in dem Kino „einzuleben“, in dem ich in den folgenden Tagen viele Stunden verbringen werde, in einer Stadt, in der ich erst wenige Stunden zuvor angekommen bin, um dem Film meine volle Aufmerksamkeit zu widmen. Diese Mal ging es aber los mit einem Knall(er). Der Film, dessen deutscher Titel „Japango“ lautet, ist der dritte Teil der „Okami“-Reihe (international unter dem Titel „Lone Wolf and Cub“ vermarktet) um einen Samurai, der sein Kind in einem Wagen durch das Land schiebt und sich dabei mit seinem Schwert durch ganze Heerscharen von Gegnern metzelt. -*

Die auf einem Manga beruhende und nicht nur in Japan, sondern auch international sehr populäre Reihe startete 1972 mit „Okami – Schwert der Rache“. Die nächsten drei Filme folgten noch im selben Jahr! 1973 und 74 jeweils ein weiterer. Dass es sich hier um ein wohl ziemlich schnell heruntergekurbeltes Industrieprodukt handelt, macht diesen Film nur umso erstaunlicher. Dass er mich nachhaltig beeindruckte, liegt aber hauptsächlich daran, dass sich mir durch ihn quasi eine vollkommen neue Welt erschloss. Ich kenne so einige US-amerikanische, italienische, spanische und deutsche Exploitationfilme der Siebziger, kannte aber vor diesem wohl tatsächlich nicht einen einzigen japanischen. Die Überschneidungen gerade zum italienischen Genrekino der Zeit liegen auf der Hand. Da sind die Härte und der Sadismus, aber auch der stilistische Exzess, der sich oft der gleichen filmischen Ausdrucksmittel bedient. So gibt es, um nur ein sehr markantes Stilmittel zu nennen, Momente, in denen eine Augenpartie die ganze Scope-Leinwand ausfüllt, eine Art der Einstellung, die nach ihrer Verwendung bei Leone und Co. „Italienische“ genannt wird. Auch erinnert eine Szene, in der der Protagonist, ausnahmsweise nicht mit seinem Schwert, sondern mit einem selbstgebauten Maschinengewehr eine regelrechte Armee von Angreifern zur Strecke bringt, zufällig oder auch nicht an Sergio Corbuccis „Django“ (1966).

Dennoch könnte dieser Film, von seinen europäischen und amerikanischen Zeitgenossen nicht weiter entfernt sein. Er hat eine ganz eigene Ästhetik, Atmosphäre, Poesie und Poetik des Affektbildes. Da sind die Blutfontänen, die Tarantino in „Kill Bill, Vol. 1“ so exzessiv zitierte, aber da ist vor allem eine schier unglaubliche Vergewaltigungsszene, die mit dem Close-Up der blutigen Zunge endet, die das Opfer dem Täter abbeißt und dann auf den Boden spuckt. Ich habe mir fest vorgenommen, mich in Zukunft mehr dem asiatischen Kino zu widmen, in dem es wahrscheinlich verdammt viele solcher Szenen zu entdecken gibt. Erst mal aber gilt für mich: nie war Gewalt so schauderhaft schön!

© CMV Laservision

„Der Silberspeer der Shaolin“ (Ting Mei Sung, Taiwan 1977)

Dieser Film stand eigentlich nicht auf dem Programm. Die Kopie des vorgesehenen „Lone Wolf and Cub 4“, der mir, da bin ich mir ziemlich sicher, noch wesentlich besser gefallen hätte, war aber nicht verfügbar, so dass spontan ein Eastern aus dem Archiv des KommKinos gezeigt wurde. Auch solche Filme habe ich nur vereinzelt gesehen, aber das große Aha-Erlebnis des Vorgängers blieb hier definitiv aus. Nett war er trotzdem. Besonders gut gefiel mir, wie er aus seiner kruden Machart, seinen hölzernen DarstellerInnen, herzigen Studiokulissen wie aus dem China-Restaurant um die Ecke und seinen ausgiebigen Kampfszenen, die besonders durch ihre krachige Vertonung ihren eigenen Charme entwickelten, dann doch immer wieder bewegende Momente großer Dringlichkeit entwickelte, die es schaffen, den Quatsch, der dieser Film als Ganzes dann doch ist, zu transzendieren.

© Warner

„The Last Boy Scout“ (Tony Scott, USA 1991)

Zu diesem Film habe ich, ziemlich aufgeregt, die erste Einleitung zu einem Film überhaupt gehalten, deren Wortlaut hier nachzulesen ist.

Ansonsten: ich hatte von dem Film vor kurzem nur die erste Viertelstunde gesehen. Die letzte komplette Sichtung vor dem Festival war schon wieder einige Jahre her. Aufgefallen ist mir eigentlich nur, wie finster das alles ist. Das Testosteron-Gehabe der beiden Protagonisten, die Weltsicht (insbesondere, aber sicherlich nicht nur) der Bruce Willis-Figur, die reaktionär zu nennen schon sehr euphemistisch wäre. Die Frage, ob der Film dem kritisch gegenübersteht, interessiert mich schon brennend, letztlich ist es aber auch ziemlich egal. Ein Blick in tiefste Abgründe und damit ein Meisterwerk ist er so oder so.

Übrigens waren gleich die drei ersten Filme des Festivals in Cinemascope, was, wenn es von 35mm auf eine große Leinwand geworfen wird, der Gipfel der Erhabenheit des Kinos ist. Toll.

© LCJ Editions

„Der Linkshänder“ („L’arbalète“, Sergio Gobbi, Frankreich 1984)

Filme zu schauen gleicht oft Reisen durch Zeit und Raum. Das Geschehen auf der Leinwand nimmt einen mit an Orte, die man nicht kennt, in Zeiten, zu denen man vielleicht noch gar nicht geboren war. In Paris war ich schon mal, auch wenn es inzwischen schon wieder viel zu lange her ist. 1984 gab es mich schon, ich war allerdings noch ein kleines Kind. Trotzdem hat mich dieser Film mitgenommen in eine Welt, die ich nicht nur nicht kannte, sondern die wahrscheinlich auch längst untergegangen ist. Darin lag für mich sein – unterm Strich dann doch ganz beträchtlicher – Reiz. Diese Welt ist der Underbelly der sogenannten Stadt der Liebe. Im Jahr 1984. Die Schauplätze sind Gassen in Stadien des Verfalls, wie man sie eher in Entwicklungsländern oder den Slums US-amerikanischer Großstädte vermuten würde, Boxclubs, Schwulendiskos und andere zwielichtige Orte.

Hier treffen wir auf den titelgebenden Linkshänder, den guten Bullen, der sich in eine schwer heroinabhängige Frau verliebt und am Ende die vietnamesische und die schwarze Gang des Viertels vereint und in den Kampf führt gegen die Neonazi-Gang, mit der sein großer Widersacher, der böse Bulle, ein brutales und reaktionäres Arschloch durch und durch, paktiert. Außerdem gibt es eine arabische Gang, Dealer, Junkies, Prostituierte. In der Welt dieses Films warten alle auf die nächste große Drogenlieferung, die gerade nicht kommt – mehr muss man über sie eigentlich nicht wissen.

Als Genrefilm, eine neonoireske Mischung aus Polizei- und Gangfilm, geht das absolut klar. Die Kämpfe und Shoot-Outs, gerade im Finale, sind ordentlich inszeniert, wobei auch immer wieder auf Zeitlupen gesetzt wird, auch wenn das sicherlich noch nicht die Slow-Mo-Ultrakunst war, die uns im folgenden Verlauf des Festivals erwarten sollte. Als Zeitdokument aber, also eben als Reise an Orte, die es in dieser Form längst nicht mehr gibt, ist der Film absolut unbezahlbar, wobei er eben auch nicht ganz so schwarzmalerisch ist, wie man anhand meiner bisherigen Ausführungen vermuten könnte. Er findet im Moloch dann nämlich doch noch, zumindest in einzelnen Szenen, den Schmelztiegel, einen Ort, an dem Menschen aus verschiedenen Kulturen zueinander finden und miteinander leben können.

© Warner

„Bullit“ (Peter Yates, USA 1968)

Auch zu diesem Meisterwerk habe ich eine, diesmal sogar recht ausführliche und detaillierte, Einführung gehalten.

Ich habe ihn hier im Kino zum zweiten Mal binnen drei Tagen gesehen und wieder ziemlich anders als davor. Das betrifft vor allem die Hauptfigur, über deren Wesen ich mir nun wesentlich weniger klar bin, als es sich in meiner Einführung anhört. Im Gespräch nach dem Film mit Christoph Draxtra sagte er zu mir, dass „Bullitt“ in seiner Polizeiarbeit genauso sehr aufgeht wie er selbst in seinem ausufernden Engagement für das Kino. Eine Deutung der Figur, die meiner ursprünglichen natürlich absolut diametral entgegenläuft. Es sind ebensolche Konversationen über die Filme, die einem manchmal ganz neue Perspektiven auf sie eröffnen, die cinephile Festivals so auszeichnen. Gerade dass er so vieldeutig, unergründlich, opak bleibt, macht die große Faszination dieser Figur aus. Die Filmgeschichte hat viele Bullen, aber definitiv nur einen Bullitt. In der großartigen letzten Einstellung blickt er in den Spiegel. Nur, wen sieht er da?

(Und dann natürlich die Verfolgungsjagd. Sie geht ja, dem allgemeinen Tempo des Films entsprechend, langsam los, damit, dass Bullitt zunächst hinter den Gangstern herfährt, bevor sie anfangen zu rasen. Das Röhren der Motoren, wenn die Fahrer schließlich richtig Gummi geben, war im Kino absolut ohrenbetäubend und atemberaubend. Aber eben auch nur dort.)

© Paramount

„Die Kampfmaschine“ („The Longest Yard“, Robert Aldrich, USA 1974)

Das Einzige, was mich am Programm des Festivals zunächst etwas skeptisch gemacht hat, ist die Tatsache, dass viele der großen, von mir heiß verehrten Actionmimen fehlten. Mit dem Beginn von „The Longest Yard“, der auf eine äußerst fiese Weise coolsten Szene des Festivals, war für mich klar: Wer braucht Schwarzenegger, Stallone oder Seagal, wenn er Burt Reynolds haben kann.

Die Kamera fährt über seine haarige Brust, während sich eine Frau, aufreizend im roten Negligee, an ihn schmiegt. Sie will vögeln, er will weiterschlafen. Er dreht sich weg, sie legt sich auf ihn. Er schmeißt sie mit gehörigem Plumps vom Bett. Das ist das erste Mal, dass sie in dieser Szene auf dem Boden liegt. Sie beschimpft ihn mit Worten so scharf wie Rasierklingen, nennt ihn eine Hure, die sich aushalten lässt. Als er einfach gehen will, stellt sie sich vor ihn, befiehlt ihm, nicht ihren Maserati zunehmen, gibt ihm eine Ohrfeige, er greift ihr Gesicht, schmeißt sie zu Boden.

Das auf den Kopf gestellte Machtverhältnis von weiblicher Freierin und männlicher Hure, das in der Gewalt von ihr gegen ihn gipfelt, muss er wieder richtigstellen (im Sinne der patriarchalen Ordnung), indem er die Frau sehr buchstäblich unterwirft. Das zugleich Tolle und Teuflische der Szene ist, dass er, wenn er schließlich, wie über den Dingen schwebend, sich die Trainingsjacke über dem nackten Oberkörper zuzieht, so cool ist, dass wir ihm schon fast wieder verziehen haben. Natürlich nimmt er das Auto, das wenig später im Wasser untergehen wird.

Was so beginnt, wird sich schnell zu einer Sportkomödie im Exploitationmodus entwickeln. Was Exploitation unter anderem immer wieder gegenüber dem sogenannten Qualitätskino auszeichnet, ist, wie sie es in ihrer Drastik schafft, Machtverhältnisse zur Kenntlichkeit zu entstellen. Und in diesem Film wimmelt es geradezu von Machtverhältnissen aller Art. Das beginnt mit dem Plot selbst: Er, der früher ein erfolgreicher Footballspieler war, gerät sehr schnell mit dem Gesetz in Konflikt, kommt in den Knast. Man droht ihm, seine Haft immer weiter zu verlängern, wenn er sich weigert, die anderen Gefangenen in einem Spiel gegen die Wärter anzuführen. Man hat ihn in der Hand, verfügt über seine Freiheit und also sein Leben. Das setzt sich nahtlos fort in den Szenen, in denen die Gefangenen Schlamm schaufeln müssen unter so motivierenden Kommandos wie: „An die Arbeit, ihr Arschlöcher.“ In einer Szene wird ein schwarzer Gefangener vor seinen ebenfalls schwarzen Leidensgenossen von den Wärtern grob schikaniert und mit rassistischen Witzen bedacht. Was habe ich mir gewünscht, dass die Untedrückten ihre Überzahl gegenüber den Unterdrückern ausnutzen und aufbegehren. Genau das passiert nicht. Das ist hart – und schonungslos ehrlich.

Schließlich kommt es zum großen Finale, zum großen Spiel, das eine halbe Stunde des Films in Anspruch nimmt. Man könnte sagen, dass Aldrichs Inszenierung regelrecht DePalmaeske Züge annimmt, wäre da nicht der kleine Haken, dass DePalmas große Formexzesse 1974 noch vor ihm lagen. Jedenfalls benutzt der Film Split Screens und die letzten Sekunden des Spiels werden mit extremen Zeitlupen schier unendlich zerdehnt. Oliver Nöding schreibt, dass alle guten Actionfilme Filme über stillschweigende Übereinkünfte zwischen Männern sind. Im Finale von „The Longest Yard“ geht es hauptsächlich darum, dass Übereinkünfte zwischen Männern gebrochen werden. Die übliche Dramaturgie des finalen Spiels/Kampfes in Sportfilmen (die Helden liegen hinten, scheinen auf verlorenem Posten zu stehen, beginnen schließlich eine nervernzehrende Aufholjagd und gewinnen am Ende denkbar knapp) wird hier noch dadurch bestärkt, dass sich die Reynoldsfigur nach und nach frei machen muss von den Ketten, in denen sie gehalten wird, sich schließlich nur noch ihrem Gewissen und der Loyalität gegenüber ihren Männern beugt. Aus der Hure vom Anfang ist am Ende ein klassenkämpferischer Held geworden. Wenn zu Beginn des Spiels der in gleich drei Bildabschnitte gesplittete Kader die amerikanische Flagge zeigt und Menschen, die sich zur Hymne die Hand aufs Herz legen, wirkt das im Kontext dieses Filmes trotzdem nur wie purer Hohn.

© e-m-s

„Hard-Boiled“ (John Woo, Hongkong 1991)

Affektkino. Großes Affektkino. Fangen wir mit dem an, wofür John Woo nun einmal steht: den Actionszenen. Hier scheinen die Regeln der Schwerkraft außer Kraft gesetzt zu sein. Hier fliegt alles. Die Kugeln, die Funken, die Menschen, die Motorräder, die Teekessel. Und die exzessiv eingesetzte Zeitlupe macht aus dem Fliegen oft ein Schweben. So unverkennbar die Autorenhandschrift John Woos in diesen Szenen ist, so sehr verwundert es mich dann doch, dass sie sich trotzdem stark voneinander unterscheiden, keine der anderen gleicht, obwohl in jeder von ihnen unterm Strich das Gleiche passiert: Menschen werden erschossen. In Zeitlupe.

Schön ist, dass es in diesem Film, in dem die Guten und Bösen eigentlich noch klar voneinander getrennt bleiben, dann doch nicht so einfach ist, nicht nur weil es, wie in „The Killer“ (1989), um die Annäherung, die sich entwickelnde Freundschaft zwischen zwei Männern geht, die auf verschiedenen Seiten des Gesetzes stehen. Gut und Böse sind keine unveränderbaren Kategorien, sondern man kann überlaufen, sich im entscheidenden Moment nur noch auf die Seite seines Gewissens stellen. Das passiert auch in der mit Abstand härtesten Szene des Films, wenn in dem Krankenhaus, das sich im fulminanten Showdown des Films in ein flammendes Inferno verwandelt, eine Gruppe vollkommen unschuldiger, unbeteiligter Menschen niedergeschossen wird, die auch noch durch ihre weißen Patientenhemden in ihrer sowieso schon prekären Stellung als Kranke gekennzeichnet sind.

Was mich aber am meisten begeistert hat, ist Woos Arbeit mit Close-Ups von Gesichtern. In ihnen entwickelt der Film seine größte affektive Kraft. Im Gesicht des blutjungen Polizisten, als er erkennt, dass er im Eifer des Gefechts einen Kollegen erschossen hat. Im Gesicht des Babys, das Chow Yun Fat aus dem Krankenhaus rettet und das Blutspritzer zieren (welch ein Bild dafür, dass es in eine Welt hineingeboren wurde, in der die Gewalt regiert!). Schließlich am Ende in den Gesichtern von zwei Männern, von denen der eine dem anderen, seinen Körper schützend vor sich, eine Pistole an den Kopf hält.

„Frankensteins Kung Fu Monster“ (Lin Chong-Guang, Taiwan 1975)

Das Gehirn verkümmert, wehrt sich, weiß einfach nicht mehr, wohin mit sich und gibt dann schließlich doch endgültig auf. Ich habe viel gelacht während der 75 Minuten, die dieser Film dauerte. Was blieb mir denn auch anderes übrig? Schön ist natürlich, dass Frauen auf diesem stählernen Kindergeburtstag völlig gleichberechtigt, ja, unterschiedslos mitspielen dürfen, gerade wenn man sieht, wie stiefväterlich Actionfilme aus Hongkong oder den USA noch in den Neunzigern mit ihren weiblichen Figuren umgehen (große Ausnahme natürlich: der absolut grandiose „Beyond Hypothermia“, auf den ich noch zu sprechen kommen werde). Ansonsten war das Interessanteste an diesem Film, wie die, gelinde gesagt, ungelenke Form und der horrende Schwachsinn des Inhalts die Erhabenheit von Cinemascope auf der großen Leinwand konterkarieren. Dass die Kopie verdammt runtergerockt war, passte in diesem Fall sehr gut. Mehr gäbe es denn wohl auch nicht zu sagen, wenn, ja, wenn da nicht seine eine absolut großartige Szene gewesen wäre. Eine Modenschau from hell. Die wahrscheinlich mit Abstand trübste und tristeste Modenschau der Filmgeschichte. Eine Frau läuft über den Laufsteg in einem weißen Kleid mit roten Pünktchen und einer Schleife, das so durch und durch hässlich ist wie alles an dieser Szene. Die Moderatorin kommentiert: „Das ist ein weißes Kleid mit Pünktchen und einer Schleife.“ (Natürlich aus dem Gedächtnis zitiert und also ohne Gewähr für den genauen Wortlaut, vom, nun ja, Sinn her stimmt es aber. Der schier unfassbaren Deliranz dieser Szene können Worte aber so oder so nicht gerecht werden.)

„Beyond Hypothermia“ (Patrick Leung, Hongkong 1996)

Affektkino. Noch größeres Affektkino als „Hard-Boiled“. Das ist schon deshalb etwas tragisch, weil der Regisseur Patrick Leung zwar seit 1990 Filme dreht (sein letzter Film ist von 2012), aber doch hauptsächlich im Schatten Woos steht, bei dem er oft als Regie-Assistent tätig war – unter anderem eben auch bei „Hard-Boiled“. Als jemand, der im Hongkong- wie überhaupt im asiatischen Kino sehr unbewandert ist, kenne ich keinen seiner anderen Filme. In „Beyond Hypothermia“ aber out-woot er Woo relativ mühelos.

Erzählt wird von einer Profikillerin (Chien-Lien Wu), die die einzige Protagonistin dieses Festivals war. Eiskalt geht sie zu Beginn ihrem blutigen Geschäft nach in einem Film, wie er stylischer nicht sein könnte, ohne dass in ihm alles im Stilexzess ertrinken würde. Ganz im Gegenteil, sehr vieles in diesem Film ging mit verdammt nah. Die Killerin isst an einem Nudelsuppenstand auf einer Straße Hongkongs, verliebt sich zunächst in die Nudeln, die sie, so erzählt sie per Voice-over, auf Anhieb süchtig machen. Sie muss nun, jedes Mal nachdem sie einen Menschen getötet hat, wieder diese Nudeln essen. Schließlich verliebt sie sich auch in den Betreiber des Standes, wird relativ spät im Film auch Subjekt eines ziemlich stürmischen Begehrens für ihn, was dann aber weitaus zärtlicher zugeht als bei der Frau zu Beginn von „The Longest Yard“.

Es gibt die mit Abstand schönste Liebesszene des Festivals, wenn die beiden im strömenden Regen auf einem Gummiboot eine lange, stark abfallende Straße hinabsausen. Ich liebe Regen, nicht nur, aber eben auch im Kino. Auch Regenszenen sind, wenn sie gut inszeniert sind, tolle Affektszenen, und wer wissen will, wie unterschiedlich die Affekte sind, die Regen im Kino hervorrufen kann, muss nur diese mit der anderen großen Regenszene dieses Festivals vergleichen, dem Footballspiel mit mörderischem Ausgang zu Beginn von „The Last Boy Scout“.

Liebesfilm und Gangsteractioner laufen fast über die gesamte Laufzeit nebeneinander her. Dann gibt es eine Szene, die vorführt, warum es mit den beiden nichts werden kann. Wenn schließlich ein Mann, den sie erschossen hat, auf der Straße zwischen ihnen steht, verdeutlicht der Film per Bildanordnung, dass das, was sie immer voneinander trennen wird, ihr Leben ist, aus dem es für sie kein Entkommen gibt. Schließlich werden die beiden Genres eins, findet das Paar doch zueinander, allerdings nur im Tod – und zwar in einer der atemberaubendsten Abschlussszenen, die ich jemals in einem Film gesehen habe. Woody Allen beschreibt am Anfang von „Play it Again, Sam“ (Herbert Ross, USA 1972), wie kalt einen die Realität begrüßen kann, wenn man aus der Geborgenheit eines Kinos kommt. Genau vor diesem Moment hatte ich am Ende von „Beyond Hypothermia“ Angst. Ich wollte einfach, dass dieser Film, aber ganz besonders dieses Finale, niemals endet.

(Es gibt dann übrigens hier auch, wahrscheinlich tatsächlich noch vor der Zunge aus dem „Lone Wolf“ und den Woo-Close-Ups, das Affektbild dieses Festivals: das Blut eines Erschossenen, das sich in Zuckerwatte frisst.)

„Die teuflischen Acht“ („The Devil’s Eight“, Burt Topper, USA 1968)

Die Einführung von Christoph, in der neben dem Film auch noch „Furious 7“ (James Wan; USA, Japan 2017), Quentin Tarantino, John Milius und American International Pictures vorkamen, war toll. Wie sollte sie es bei dieser Mischung auch nicht sein. Zum Film kann ich nicht wirklich viel sagen. Ich war bei dem Screening ziemlich müde, meine Konzentration fast auf dem Nullpunkt. Im Kontext der anderen hier gesehenen Filme fand ich ihn interessant. Einerseits bot die rohe Ungeschliffenheit eines ziemlich niedrig budgetierten amerikanischen Expoitationfilms aus den 60ern einen interessanten Kontrast zum Überstyle von „Beyond Hypothermia“ zuvor. Andererseits gab es einige Überschneidungen zu „The Longest Yard“, am augenscheinlichsten wohl in einer Szene, in der Männer im Schlamm miteinander ringen. Wie Filme, die man nur sehr grob einem Genre zuordnen kann, wenn man sie im Laufe von drei Tagen im Kino sieht, miteinander zu kommunizieren beginnen, finde ich hoch spannend. „The Devil’s Eight“, soweit ich das unter den, wie gesagt, ziemlich suboptimalen Rezeptionsbedingungen sagen kann, für sich genommen eher nicht.

© Schröder Media

„The Beastmaster“ (Don Coscarelli, USA 1982)

Auch dieser Film war nicht sonderlich überzeugend. Was nicht zuletzt daran liegt, dass an Don Coscarelli, den gerade Horrorfans wohl vor allem wegen seinen vier „Phantasm“-Filmen kennen, eher kein großer Actionregisseur verloren gegangen ist. Die diversen Kampfszenen in diesem Barbarenfilm sind sehr einfach, was ziemlich freundlich formuliert ist. Über seine Laufzeit von 94 Minuten hat mich der Film dann doch empfindlich gestählt, ich wünschte mir sehr bald, dass er schnell vorbei sein möge. Eine tolle Szene gibt es dann aber doch, das Äquivalent zur Modenschau in „Frankensteins Kung Fu Monster“ ist hier eine Einstellung, in der der Protagonist, gespielt von Marc Singer, der durch nichts auffällt, außer seine perfekt definierten Muskeln, die er, die gesamte Laufzeit nur mit einem Lendenschurz bekleidet, hemmungslos zur Schau stellen darf, in Zeitlupe mit einem Panther wettrennt.

Dieser großartige Moment bringt mich zu einer Überlegung, die ich wesentlich interessanter finde als den Film an sich. An welche Zielgruppe richtet sich die starke Sexualisierung des durchtrainierten Männerkörpers, die es ja nun weiß Gott nicht nur in diesem Actionfilm gibt? Drehte man schon damals Actionfilme, die sich zumindest auch an ein weibliches Publikum richteten oder sind die potenziellen Kinokartenkäufer auch Männer, die gar nicht unbedingt schwul sein müssen, sondern einfach nur queere Anteile haben, die ja nun mal jeder Mensch besitzt? (Mit „Tango & Cash“ gab es jedenfalls am entgegengesetzten Ende der Dekade einen vollkommen anderen und ungleich besseren Film dieses Genres, der sich nicht unbedingt ausgiebig darüber lustig macht, wie schwul das alles ist, sondern eher darüber, dass Hollywood damals immer noch so verklemmt war, dass das Schwule daran ein mehr oder minder versteckter Subtext war, der hier nun ziemlich lustvoll an die Oberfläche gekehrt wurde.)

Übrigens gibt es in „The Beastmaster“, der Titel verrät es bereits, auch ziemlich viele Tiere, mit denen der Protagonist eine Art telepathische Verbindung pflegt, die ihm also dienen. Am Ende wird es dann noch mal ganz besonders tierisch, was gerade in seiner Geballtheit ziemlich hübsch anzusehen ist.

© Marketing

„Der Söldner“ („The Soldier“, James Glickenhaus, USA 1982)

Auch hier gilt, dass ich nach der Ultrakunst, nach all den anregenden Unterhaltungen der vergangenen Tage, viel zu unkonzentriert war, um „The Soldier“, dem Abschlussfilm, noch meine volle Aufmerksamkeit zu widmen. Erschwerend hinzu kommt, dass es sich um eine Art Agententhriller handelt, also um ein Genre, in dem ich immer meine liebe Not habe, den Plots zu folgen. Wie sich der Film zum Kalten Krieg verhält, von dem er handelt, ob er also, wie die zeitgenössische Kritik bemängelte, einfach die platteste Art von Antikommunismus bediente oder, wie es spätere Rezensenten wohl behaupteten, diese auf die Schippe nahm, halte ich für eine spannende Frage. Ich habe viel zu wenig von ihm mitbekommen, um sie beantworten zu können. Als großer, wenn auch absolut nicht komplettistischer Klaus Kinski-Fan, der ihn noch nie auf der großen Leinwand gesehen hat, fühlte ich mich dann doch etwas verarscht, dass sein Auftritt hier eher ein Cameo war, das gefühlte dreißig Sekunden dauerte. Immerhin ist die Verfolgungsjagd auf Skiern toll, bei der der Protagonist in der Luft eine 180-Grad-Drehung beschreibt, um mit der Maschinenpistole auf seine Widersacher zu schießen.

Eine Schlammcatchszene gibt es übrigens auch hier, anders als in „The Longest Yard“ und „The Devil’s Eight“ sind es diesmal Frauen, die in einem Club für die Augen eines überwiegend männlichen Publikums (auf und vor der Leinwand) sich im Morast wälzen dürfen (auch wenn bei der Schlägerei, die sich hier entwickelt, wiederum Männer in dem Schlammbecken landen). Mir ist dabei aufgefallen, dass ich als Hete doch lieber Männern dabei zugucke, wie sie im Schlamm miteinander ringen, als Frauen. Auch eine Erkenntnis.

Dass der Film wegen seiner Gewaltdarstellungen stark kritisiert wurde, sogar in den USA für ein R-Rating geschnitten werden musste, wundert mich etwas. So brutal finde ich ihn dann (auch und gerade im Kontext seiner Entstehungszeit) eigentlich nicht. Aber „The Soldier“ ist, das ganz bestimmt, ein Film kalt wie Eis. Was denn auch eine gute Überleitung zu meinem finalen Statement ist. Es mag nach den bisherigen Ausführungen etwas verwundern, aber ich liebe diesen Film und hätte mir keinen besseren Abschluss dieses Festivals wünschen können. Warum? Nun, weil „The Soldier“ so ein unglaublich toller West-Berlin-Film ist. Wer braucht schon einen wirklichen stimmigen Film, wenn er den nächtlichen Ku’Damm der frühen 80er haben kann? Wenn die Kamera etwa beim Schwenk aus dem Fenster das Astor ins Bild rückt, in dem ich als Filmkritiker oft bin, was ich mir natürlich sonst nicht leisten könnte, das aber eben damals noch die alte Marquee besaß, ging mir schier das Herz über vor Glück. Die finale Verfolgungsjagd endet damit, dass der Protagonist in seinem Porsche und in charmanter weiblicher Begleitung über die Mauer springt – und sie dabei quasi einreißt. Pures Cine-Glück eines gebürtigen West-Berliners. Am Schluss gibt es dann noch Panoramaufnahmen von Lower Manhattan, wobei die Kamera schließlich auf der Freiheitsstatue zum stehen kommt, das Bild einfriert und die Credits anfangen. Auch sehr schön.

Epilog

Etwas traurig machte mich bei diesem Festival der Zustand vieler Kopien. Rotstiche, Laufstreifen und andere starke Artefakte und Filmrisse sind an der Tagesordnung. Abgesehen davon, dass ich, mit Ausnahme des Rotstichs, den ich immer schrecklich finde (als großer Analogfilmfetischist freute ich mich etwa nach der Kinosichtung von „Blutiger Freitag“ von einer Kopie, die, wie es ein Cinefreund mal formulierte, mortadelafarben leuchtete, dann doch auf die farbechte Blu-ray), all dem auch etwas abgewinnen kann, sieht man hier dem analogen Kino beim Sterben zu. Es gab aber auf diesem Festival, das eben Licht und Schatten des Kinos wunderbar zu vereinen verstand, ebenfalls Kopien, die so makellos funkeln, dass sie Hoffnung darauf machen, dass sich auch folgende Generationen noch an Filmen in der schönsten Art, in der man sie nur sehen kann, erfreuen werden können. In Deutschland gibt es dafür übrigens zurzeit wohl kaum einen besseren Ort als das KommKino.

The Circle

(USA 2017, Regie: James Ponsoldt)

Share dich zum Teufel!
von Ulrich Kriest

Herrschaften, hereinspaziert! Hier kommt der Dieselgipfel unter den politischen Filmen, der eindrucksvoll belegt, wie man ein schlechtes Buch kongenial verfilmt und dabei immer noch so tut, als würde ein heißes …

Herrschaften, hereinspaziert! Hier kommt der Dieselgipfel unter den politischen Filmen, der eindrucksvoll belegt, wie man ein schlechtes Buch kongenial verfilmt und dabei immer noch so tut, als würde ein heißes Eisen angepackt. Schöne neue Datenwelt, in der es sexy ist, wenn man sich umfassend transparent macht, damit man umfassend bekümmert werden kann. Sharing ist schließlich caring! Und der Mensch des Datenkraken Follower: Privatsphäre ist doch so was von Neunziger.

Der Internetkonzern The Circle, eine Mischung aus Facebook, Google, Twitter etc., arbeitet an der Zusammenführung aller Daten eines Individuums unter einer einzigen Internetidentität: eine große Dienstleistungsutopie, die Service, Antizipation und sanften Zwang zusammendenkt. Zugleich ist »The Circle« ein Musterbeispiel der schönen, neuen Campus-Arbeitswelt: hip, chic, grün, sportiv, flache Hierarchien, sozial engagiert. Schön, ein Teil dieses Zirkels zu sein, der sich wie eine Community anfühlt. Protagonistin Mae, als Figur völlig unterentwickelt und von Emma Watson darstellerisch exekutiert, arbeitet zunächst in einem öden Callcenter, später, als sie dank persönlicher Kontakte Teil des exklusiven Circle wird, malocht sie eben in einem hypermodernen Callcenter, bis sie zum Prototyp einer lachhaft naiven Angestellten wird, die alles mit sich machen lässt. Warum? Weil Vati an MS erkrankt und zu schlecht krankenversichert ist, um sich eine Behandlung leisten zu können. Da springt generös der Circle ein. Im Gegenzug macht sich Mae exemplarisch transparent, lässt sich, ihr Leben und ihre Kommunikation 24/7 mit der Kamera begleiten und in die Cloud stellen. Sex hat sie eh nicht, und am Toilettenbesuch ist der Circle (noch) nicht interessiert.

Auch sonst ist in James Ponsoldts Bestsellerverfilmung alles schön sauber nach Daily-Soap-Regeln verteilt: erst die Ausbreitung der Verlockungen, dann deren Janusköpfigkeit. Einmal pro, einmal contra, hü und hott. Hier der lockere charmant-charismatische CEO, dort sein sinister-mephistophelischer Gegenpart. Und in den Katakomben vom Circle, dort, wo die Rechner der Datenkrake summen, begegnet Mae dem einst idealistischen Cogründer der Firma, der längst vom Glauben abgefallen ist und nun die naive junge Frau über die Gefahren der totalen Transparenz aufklärt. Gemeinsam schmiedet man einen Plan, dem Circle das Handwerk zu legen. Vielleicht durch ein kostengünstiges Software-Update?

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

What Our Fathers Did: A Nazi Legacy

(GB/AT/PL 2015, Regie: David Evans)

Die Söhne der Nazis
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Film zum Aufregen. Eine Spielfilmlänge lang beharken sich die Söhne der beiden Nazi-Schlächter von Lemberg. Was halten sie heute von ihren Papas? Kontrovers. Ohne dramatöse Dramaturgie. Ohne Kommentar. Ohne …

Ein Film zum Aufregen. Eine Spielfilmlänge lang beharken sich die Söhne der beiden Nazi-Schlächter von Lemberg. Was halten sie heute von ihren Papas? Kontrovers. Ohne dramatöse Dramaturgie. Ohne Kommentar. Ohne Schauspieler. Ohne Ende.

Und? Um es gleich zu sagen, ich wurde in die Bilder dieses Dokumentarfilms hineingesogen. Die Kinder sind heute 70plusplus, die Väter des Judenmassakers von 1941 längst tot. Aber noch gärt es in den Köpfen. Egal, ob’s ein Trauma ist oder nicht. Es ist da, und die Söhne, eigentlich befreundet, wollen einander bekehren. Frank jr. nimmt jetzt Platz dort, wo damals sein Vater Hans im Nürnberger Prozess saß, als ihn das Gericht zum Tod durch den Strang verurteilte – seinen Papi, den berüchtigten Generalgouverneur von Polen, ganz oben in der Hierarchie der Nazis. Den Galgen hat er verdient, sagt Sohn Niklas.

Sein Kontrahent, Horst von Wächter, ist dagegen von der Unschuld seines Vaters Otto, des Nazi-Gouverneurs von Galizien, überzeugt, und er bleibt dabei, auch wenn die beiden mit Drehbuchautor Philippe Sands am Ort des Verbrechens stehen, am längst zugewachsenen Massengrab. Holocaust-Forscher Sands hat die Söhne zusammengebracht. Er selbst hat viele Mitglieder seiner jüdischen Familie im Holocaust verloren.

Zwischengeschnitten sind viele, kaum oder gar nicht bekannte Fotos und Filme. Unversehens bleibt der Film stehen. Ein Ende ohne Ende. Keiner der beiden Freunde/Kontrahenten wird zum Sieger ausgerufen. „What our Fathers did“ enthält sich einer expliziten Stellungnahme. Man hört förmlich die Entrüstungsschreie unserer Volkspädagogen: Der deutsche Zuschauer muss doch belehrt werden. Er ist doch zur eigenen Stellungnahme gar nicht fähig.

Okay, also unbedingt angucken und (sich) selbst etwas dazu sagen. Papa war der Beste. Papa ist ein Massenmörder. Was unsere Väter taten, betrifft auch uns, die wir im Kino sitzen. Was eigentlich holt uns ein, was genau ist das Unerledigte?

Die Söhne sind in der Ukraine bei einer Gedenkveranstaltung. Die Veteranen von 1941 feiern jetzt ihren Einsatz von damals. In den alten Uniformen. Ein Wehrmachtskübelwagen steht herum. Horst von Wächter kriegt leuchtende Augen. Zum ersten Mal in diesem Film. Er ist es jetzt, der gefeiert wird, der Sohn des Massakervaters.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

Körper und Seele

(HU 2017, Regie: Ildikó Enyedi)

Die Macht der Träume
von Wolfgang Nierlin

Zwei Hirsche, eine Kuh und ein Bock, durchstreifen auf der Suche nach Nahrung den winterlichen Wald. Vertraut, fast zärtlich ist ihr Zusammensein unterwegs, wenn sie sich beschnüffeln, sich leicht berühren …

Zwei Hirsche, eine Kuh und ein Bock, durchstreifen auf der Suche nach Nahrung den winterlichen Wald. Vertraut, fast zärtlich ist ihr Zusammensein unterwegs, wenn sie sich beschnüffeln, sich leicht berühren oder ihre Körper aneinander wärmen. Was in den ersten, seltsam fernen Bildern von Ildikó Enyedis Film „Körper und Seele“ Natur ist, wird kurz darauf, beim Blick in ein Schlachthaus, zum bloßen Objekt einer künstlichen Welt. Das gefangene, schließlich getötete Tier ist hier nur noch ein Ding, das mit routinierten Handgriffen zur Ware verarbeitet wird. Besonders monströs wird das in den Pausen, wenn die Arbeit ruht und die Metzger rauchend in der Sonne stehen, während die Tiere auf ihren Tod warten.

An diesem unwirklichen Ort, einer Parallelwelt, treffen zwei Versehrte aufeinander, über deren persönliche Vergangenheit wenig ausdrücklich gesagt wird. Maria (Alexandra Borbély) ist die neue, penibel nach Dienstvorschrift arbeitende Qualitätskontrolleurin in dem Betrieb, der von dem etliche Jahre älteren Endre (Géza Morcsányi) kollegial und umsichtig geleitet wird. Über Maria, die steif wirkt, wenig spricht und unter einem Ordnungszwang leidet, sagen die Kollegen bald: „Sie hockt allein im Dunkeln.“ Nur Endre, der ebenso einsam ist wie die junge, neurotische Außenseiterin, scheint sich für sie und ihr merkwürdiges Verhalten zu interessieren.

Was die beiden, die einander lieben, ohne es sich zu sagen, aber vor allem verbindet, sind ihre Träume. Ein psychologischer Test, der im Rahmen einer polizeilichen Ermittlung in dem Betrieb durchgeführt wird, bringt das ans Licht: Maria, die sich vor körperlicher Berührung fürchtet, und Endre, der in gewisser Weise genug davon hat, träumen Nacht für Nacht denselben Traum; und zwar von jenem Hirsch-Paar, in dem sich gewissermaßen ihre Beziehung einer zögerlichen Annäherung spiegelt.

Ildikó Enyedi erzählt diese ungewöhnliche Liebesgeschichte zweier Seelenverwandter, die ihre Gefühle zurückhalten, lakonisch, trocken und in leicht stilisierten Bildern. Deren Tendenz zum poetischen Detail und zur Abstraktion wird ausbalanciert durch einen nuancierten, sehr konkreten Blick auf die Wirklichkeit. Die ungarische Regisseurin wurde für die melancholische Schönheit dieses abstrakten Realismus mit dem Goldenen Bär der Berlinale ausgezeichnet.

Tangerine Dream

Revolution of Sound: Tangerine Dream

(D 2017, Regie: Margarete Kreuzer)

Viel Affirmation, wenig Distanz
von Ulrich Kriest

Die Berliner Psychedelic-Formation Tangerine Dream, bereits 1967 vom Keyboarder Edgar Froese gegründet, gehört retrospektiv sicher zu den Pionieren der elektronischen Musik aus Deutschland, deren internationales Renomeé heutzutage wohl nur noch …

Die Berliner Psychedelic-Formation Tangerine Dream, bereits 1967 vom Keyboarder Edgar Froese gegründet, gehört retrospektiv sicher zu den Pionieren der elektronischen Musik aus Deutschland, deren internationales Renomeé heutzutage wohl nur noch von Kraftwerk und Can übertroffen wird. Neben Klaus Schulze, der in der Frühphase auch einmal als Drummer der Band fungierte, Ash Ra Tempel und Kluster resp. Cluster widmeten sich die Exponenten der sogenannten „Berliner Schule“ früh ihrem Entwurf einer „Kosmischen Musik“. Seltsam, dass die Band ausgerechnet mit wachsendem Erfolg in den USA hierzulande etwas aus dem Blick geriet und jetzt, ein paar Jahre nach Froeses Tod, wiederentdeckt werden darf.

Ob allerdings Margarete Kreuzers etwas arg unkritisch geratenes Porträt für ein durchaus anstehendes Tangerine-Dream-Revival taugt, muss bezweifelt werden. Obschon die Filmemacherin nach eigener Aussage Mitte der 1980er Jahre auch vom Sound Tangerine Dreams ins Subkultur-Paradies West-Berlin gelockt worden war, kam es erst zu einem ersten persönlichen Kontakt mit Froese, als Kreuzer zu einer David-Bowie-Geschichte recherchierte. Über die Jahre entwickelte sich ein kontinuierlicher Kontakt, der auch dazu führte, dass die Filmemacherin postum Zugang zum umfangreichen filmischen und fotografischen Nachlass Froeses bekam, da jener offenbar systematisch seinen Alltag zu dokumentieren pflegte. Leider ein Danaergeschenk. Die Filmemacherin, die Froese im Presseheft als explizit „mehr als hochintelligent“ charakterisiert, versteht ihr Band-Porträt als Hommage an den Bandleader. Was auch dazu führt, dass neben allerlei Archivmaterial, ein paar Band-Kollegen und ein paar befreundeten Musikern wie Jean-Michel Jarre oder Brian May nur noch Freunde, Familie und der unvermeidliche Jim Rakete zu Wort kommen. So bietet diese filmische Hagiografie wesentlich eine durch keinerlei musikhistorische Reflexion oder auch kulturkritische Anmerkung angekränkelte Innenansicht der Bandgeschichte, die hier chronologisch und affirmativ aufgerollt wird.

Interessant sind die Anfänge allerdings schon, denn Froese hatte auch vor Tangerine Dream eine Beatband, pflegte Kontakte in die Kunstszene und war Teil der Berliner Szene um das legendäre West-Berliner „Zodiak Free Arts Lab“. Mit bedeutungshubernden Alben wie „Electronic Meditation“, „Alpha Centauri“, „Zeit“ und „Atem“ entwickelten sich Tangerine Dream binnen kurzer Zeit von einer Free-Rock-Band mit Avantgarde-Touch zu einem Synthesizer-Trio, für das sich nicht nur der „Virgin“-Label-Gründer Richard Branson begeisterte, auf dessen Label die wichtigsten Alben von Tangerine Dream erscheinen sollten. Leider bleibt zumindest in Kreuzers Dokumentation die Frage ungeklärt, wie die Band ihren erstaunlichen Maschinenpark an Equipment überhaupt finanzierte. Immerhin: die nächsten Karriere-Stationen werden brav und unterfüttert mit privatem Archivmaterial abgehakt, wobei die sich auftuenden Lücken sprechender sind als der Film selbst. Zwei Beispiele: Legendär ist das Konzert von Tangerine Dream in der Kathedrale zu Reims vom Dezember 1974, das eben nicht nur 6000 begeisterte Fans, sondern auch ein beschädigtes Gebäude zurückließ, weil man die Toiletten vergessen hatte. 1977 entdeckte dann „Hollywood“ in Gestalt von William Friedkin („Scorcerer“) und Michael Mann („Thief-Der Einzelgänger“) das Filmmusik-Potential der Band. In der Folge lieferten Tangerine Dream in diversen, immer wieder wechselnden Besetzungen Soundtracks für Filme von Paul Brickman, Ridley Scott oder Kathryn Bigelow, mutierte aber in den folgenden Jahrzehnten durch Einbezug von weiteren Instrumentalisten zu einer Art New Age-Band in weißen Kostümen. Auch hier glänzt der Film mit Lücken. William Friedkin war offenbar nicht an einer Mitwirkung interessiert, weshalb erste Kontakte in die USA nicht etwa analytisch aufbereitet werden, sondern stattdessen mit albernen Pool-Bildern illustriert werden. Aufschlussreich dann wieder ein Interview mit Michael Mann, während die Gründe für die zahlreichen Umbesetzungen der Band nicht weiter thematisiert werden. Lustig immerhin ein Ausschnitt aus dem obskuren Pohland-Film „Warum die UFOs unseren Salat klauen“ von 1980, in dem Edgar Froese in Strumpfhosen neben Curd Jürgens einen Außerirdischen spielt.

Die Filmemacherin hat nach eigener Aussage Edgar Froese längere Zeit mit der Kamera begleitet. Doch nur wenige Bilder haben in den Film gefunden, weil Froese 2013 bei einem Sturz schwere Kopfverletzungen und einen Kieferbruch erlitt und infolgedessen mit schweren Artikulationsproblemen zu kämpfen hatte. Weil die Filmemacherin „die Legende Edgar Froese nicht zerstören“ wollte (Presseheft), entschloss sie sich, stattdessen Texte aus Froeses Autobiografie auf dem Off von Alexander Hacke (Einstürzende Neubauten) einsprechen zu lassen. Doch Hacke ist kein professioneller Sprecher und die ausgewählten Texte sind in ihrer Kürze zumeist lapidar. Auch dies eine weitere Schwäche einer Musikdokumentation, die geflissentlich ignoriert, dass es durchaus Gründe gegeben hat, sich Tangerine Dream in den 1970er Jahren auch ironisch zu nähern, wenn es darum ging, sich mit dem Auftreten der Musiker auseinander zu setzen. Damals schrieb Lester Bangs eine Kritik mit dem Titel: „Ich sah Gott und/oder Tangerine Dream“. Und ein anderer Kritiker ergänzte: „Die Jungs sitzen an ihren Geräten wie Hohepriester vor ihren Altären und (…) zelebrieren (den) Kult männlicher Macht und Herrlichkeit.“ Will sagen: ein wenig kritisch-ironische Distanz zum Phänomen und zum Material hätte dem Film sicher gut getan, war aber vielleicht aufgrund der Nähe zum Objekt nicht mehr zu haben. Oder gewollt.

Dieser Text ist zuerst erschienen im Filmdienst.

On the Milky Road

(RS/GB/USA 2017, Regie: Emir Kusturica)

Und wer schreibt das Attest?
von Jürgen Kiontke

Das Schwein wird geschlachtet, das Blut kommt in die Wanne, die Gänse baden darin, die Fliegen setzen sich auf die Federn, der Falke frisst die Schlange, die Zwiebeln sind geschnitten, …

Das Schwein wird geschlachtet, das Blut kommt in die Wanne, die Gänse baden darin, die Fliegen setzen sich auf die Federn, der Falke frisst die Schlange, die Zwiebeln sind geschnitten, der Hubschrauber fliegt über das Dorf. Emir Kusturicas neuer Film ist eine große surreale Oper, die Naturgesetze sind außer Kraft, die Ereignisse stehen nebeneinander statt ordentlich chronologisch sortiert. Hier wird Atmosphäre generiert, es ist Kino wie gemalt und nicht gefilmt.

Im Zentrum der Handlung, sofern man davon reden mag, gibt es den Krieg, seine Gräben und jemanden, dessen Handwerk die Grenzüberschreitung ist. Der Krieg ist das Lieblingsmaterial des serbisch- kosmopolitischen Regisseurs; er hasst ihn und schreibt ihm zugleich Lieder. In seinem neuen Film „On the Milky Road“ ist der Held ein Grenzgänger, damit schließt Kusturica an frühere Werke wie „Underground“ an, seine großangelegte Auseinandersetzung mit dem Jugoslawienkrieg.

Milchmann Kosta, von Kusturica selbst hintergründig verletzlich gespielt, passiert täglich auf dem Esel die diffuse Front eines Bürgerkrieges. Der hat seine Zeiten, und wenn die Turmuhr läutet, fliegen Kugeln und Granaten. Kosta scheint es nur beiläufig wahrzunehmen, zur Sicherheit dient ihm und den Milchkanistern ein schwarzer Schirm. Er schaut nicht hervor. Worüber soll er sich auch aufregen, erklärt man sich im Ort – der talentierte Musiker musste als Kind mit ansehen, wie sein Vater mit der Kettensäge geköpft wurde.

Die Zeit geht rum mit Schnaps und Zigaretten. Man kann förmlich zusehen, wie sie sich die Beine abrauchen! Aber raus kommt der Qualm bitte schön bei den Ohren. Skurrile Szenen nennt man das in anderen Zusammenhängen. Im Stummfilm anno 1919 würde es auch gut passen.

Die Milky Road ist der Weg durch ein sterbendes, blühendes Europa der Länder, einer durch die Natur. Schlangen begleiten den Boten, und wenn die Milch aus den zerschossenen Kanistern fließt, baden die Reptilien in den Pfützen. Ein mystisches Geschehen, von dem es einige gibt in diesem aus der Zeit gefallenen Film, in dem sich Hühner im Spiegel betrachten und Falken schwofen wie die tanzende Cola-Dose. Kusturica riskiert selbst eine Menge, ganz sprichwörtlich. In einer Szene frisst ihm ein riesiger Bär Apfelsinenstücke aus dem Mund. Nicht nur das Belebte ist belebt, auch die Gegenstände machen mobil: Ist es nicht die Turmuhr, die den Menschen in die Hand beißt?

Man dünkt sich in einem Film über das Leben kurz vor dem Tod. Ein Spätwerk des angejahrten großen Regisseurs, der hier viele Genres verknüpft; so ein Gehirn streamt, was es will. Eben auch Klischees: harte Krieger, liebestolle Frauen. Warum nicht mal fünf Minuten verschlafen, die Filmfiguren tun das doch auch! Nei-e-n, volle Konzentration: weil du nicht weißt, was im nächsten Moment passiert. Vielleicht zerreißt eine Granate das Dorforchester. Mutters Bett hat Rollen; Monica Bellucci, in der Fischreuse gefangen! Spezialeffekte – bei Ein-Euro-Ebay gekauft. Die beiläufige Story lässt einen verzweifeln, und manchmal glaubt man, Tele 5 zu gucken.

Die attraktive Milena (Sloboda Mićalović), Exturnmeisterin von Jugoslawien, will Kosta heiraten. Und wenn sie nicht zur Musik von „Flashdance“ so dilettantisch in den Handstand geht, dass man sofort weiß, sie wird irgendwo festgehalten, träumt sie von der Doppelhochzeit, gemeinsam mit ihrem Bruder Žaga (Predrag Manojlović), der irgendwie in Afghanistan zum einäugigen Kriegshelden wurde. Der hat sich eine geheimnisvolle Italienerin (Bellucci) bestellt. Kaum taucht sie auf, ist es um Kosta geschehen. Und auch sie, die nur »die Braut« heißt, ist Kosta mehr verfallen als dem Kriegsfürsten. Liebe im Film, keine Einbahnstraße. Als Milena und Žaga den beiden auf die Schliche kommen, bleibt dem Liebespaar nur durchzubrennen.

Lange währt das Glück nicht, wird »die Braut« doch auch von ihrem Ex gejagt, einem britischen General. Der hat seine Gattin für sie umgebracht, nun will er die Geliebte zurück. Dafür lässt er die komplette Szenerie und den mittlerweile geschlossenen Friedensvertrag von Spezialeinheiten in Schutt und Asche schießen.

Hä, Heirat, Hochzeit, noch ’ne Hochzeit – wen soll das interessieren? »Nach drei Geschichten und vielen Phantasien« sei der Plot geschaltet, so verklickert es uns die Einblendung. Den Soundtrack mal beiseite, der – für dieses Mal schließe ich mich dem Urteil des verstorbenen brasilianischen Kritikers José Carlos Avellar an, Filmmusik brauche kein Mensch, sie könne den Bildfluss erheblich stören – in Kusturicas Gesamtwerk die Konzentrationsfähigkeit wegtrötet, scheint es nicht um das reale Erleben zu gehen, sondern um die Lebensrennerei an sich. Zumindest wird den Rest des Films hindurch geflohen.

„On the Milky Road“ ist ein Crossover in die bildende Kunst. Du sollst dir die Einstellung merken, das Bild im Kopf mit anderen teilen. Der Film produziert regelrecht »Sharepics«, Standbilder für die Erinnerung, eine prägnante optische Aufarbeitung von Krieg. Etwa, wenn Kosta, um sich und die Braut zu schützen, eine Schafherde in ein Minenfeld treibt: Kadaverteile fliegen nur so umher.

Seinen Hang zur Darstellung extremer Grausamkeit lebt der Regisseur aus Bosnien-Herzegowina, der heute in Serbien und Paris wohnt, auch an anderer Stelle aus. Es wird gern mal lebendig verbrannt. Viel Liebe zum Detail lässt sich in diesem Theater of Hate ausmachen – andere Szenen wirken rüde geschlampt.

Was will dieser Film? Er will Bilder schöpfen. Und Sprache:

– Wann unterhalten wir uns mal?

– Nach dem Krieg.

– Er schnupft Staaten wie andere Koks.

– Ich bin nicht mehr, wer ich einmal gewesen bin.

– Vielleicht willst du sterben. Ich muss die Kinder durchs Studium bringen.

– Ich suche nach einer Wand, an die ich meinen Kopf schlagen kann.

»Ihr spinnt wohl«, sagt der Feldarzt, als er mehrere Opfer mit den gleichen charakteristischen Wunden operieren soll. »Ihr sagt, sie wurden von einer Uhr gebissen? Schwester, schicken Sie diese Leute zum Psychiater!« Kann gut sein, dass man nach diesem Film einen braucht.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

Paris Barfuß

Barfuß in Paris

(FRK/BEL 2016, Regie: Dominique Abel, Fiona Gordon)

Glückliche Zufälle
von Wolfgang Nierlin

Der Blick von oben, der den Film rahmt und einschließt, betrachtet das Leben als menschliche Komödie. Die Übergänge zwischen dem kleinen kanadischen Dorf im Schneesturm, das aus der Vogelperspektive wie …

Der Blick von oben, der den Film rahmt und einschließt, betrachtet das Leben als menschliche Komödie. Die Übergänge zwischen dem kleinen kanadischen Dorf im Schneesturm, das aus der Vogelperspektive wie eine Miniatur erscheint, und der großen Metropole an der Seine sind fließend. In beiden Fällen handelt es sich um einen Mikrokosmos, in dem sich die Figuren und Wege fortwährend kreuzen, die Dinge ihr Eigenleben führen und alles miteinander zusammenhängt. Die Filmkomödie „Barfuß in Paris“ von Abel & Gordon erinnert diesbezüglich an die absurden, kreisförmigen Dramen von Otar Iosseliani. Hier wie dort sind die typisierten Figuren, Orte und Handlungen in einem ständigen Austausch, der die Wiederholung beziehungsweise Wiederbegegnung als (glücklichen) Zufall deklariert. In „Barfuß in Paris“ ist die französische Hauptstadt ein Dorf, das inmitten der Seine auf der Île aux Cygnes liegt, die sich vom nahen Eiffelturm aus vortrefflich beobachten lässt.

An diesem verwunschenen, künstlichen Ort sucht die kanadische Bibliothekarin Fiona (Fiona Gordon) nach ihrer verschwundenen Tante Martha (Emmanuelle Riva). Die 88-jährige Tänzerin, die noch immer ihr tägliches Hanteltraining absolviert, ist nämlich ausgebüxt, um sich einer Einlieferung ins Altersheim zu entziehen. Zuvor hat sie aber noch einen Hilferuf an ihre schusselige, irgendwie verpeilte Nichte abgeschickt. Deren Ankunft in der fremden Stadt provoziert eine Kette von Pannen und Missgeschicken, die dazu führen, dass die ziemlich unbedarfte Fiona ihre Habe verliert; wobei, wie gesagt, in den Erzählschleifen dieses liebenswerten Films natürlich nichts wirklich verloren geht. Die Suche, die das Geschehen vorantreibt, ist vielmehr mit einem vielfältigen Finden verbunden. Und so trifft Fiona erst einmal auf den Clochard und Lebenskünstler Dom (Dominique Abel), der in einem Iglu-Zelt an der Seine „wohnt“ und ganz zufällig den knallroten Tramper-Rucksack der Touristin aus dem Fluss gefischt hat.

Insofern erzählt „Barfuß in Paris“ natürlich auch eine Liebesgeschichte mit Hindernissen. Das belgisch-kanadische Komiker-Paar Abel & Gordon, das sich in den Hauptrollen ihres Films selbst inszeniert, tut dies in der Tradition von Jacques Tati und Pierre Étaix mit pantomimischem Witz, humorvollem Slapstick und bezaubernden Tanzeinlagen. Respektlos und ein bisschen anarchisch setzen die beiden Komiker kleinere Unfälle und vertrackte Verwicklungen in Szene, die vom Sturz in die Seine bis zu der in der Fahrstuhltür eingeklemmten Nase nie schlimm enden, sondern mit einem fröhlichen Augenzwinkern und unverkennbarer Lust an absurden Situationen die Tücke von Objekten in den Blick nehmen. Wenn die komischen Helden am Schluss, bei einer intimen Trauerfeier mit „biologisch abbaubarer Urne“, eine Schweigeminute abhalten, setzt just zu diesem Zeitpunkt ein heftiger Regenschauer ein. Der natürlich keine Sekunde länger dauert als die verabredete Gedenkzeit. Und der dem traurig-komischen Geschehen eine melancholische Note beimischt.

Das ist unser Land!

(F 2017, Regie: Lucas Belvaux)

Keine gute Analyse
von Jürgen Kiontke

Wir lernen Pauline als umtriebige und vertrauenswürdige Krankenpflegerin kennen, die sich für ihre Patienten aufopfert, sich um den brummeligen Kommunistenvater kümmert und auch noch zwei Kinder allein großzuziehen hat. All …

Wir lernen Pauline als umtriebige und vertrauenswürdige Krankenpflegerin kennen, die sich für ihre Patienten aufopfert, sich um den brummeligen Kommunistenvater kümmert und auch noch zwei Kinder allein großzuziehen hat. All das ohne große Klage in einer vom wirtschaftlichen Niedergang gezeichneten Gegend im Norden Frankreichs. Sie schaut täglich ins Leben ihrer Klienten hinein. Es versteht sich von selbst, dass sie allseits beliebt ist. Pauline ist authentisch.

So wird sie für die Politik interessant. Ihre Glaubwürdigkeit will sich die nationalistische Partei, deren Parteiführerin Agnès Dorgelle ohne Zweifel an Marine Le Pen erinnert, zunutze machen. Ihr Repräsentant vor Ort, der Dorfarzt, wirbt sie als Kandidatin für die Bürgermeisterwahlen an. Und Pauline ist gut: Gerade die alten Wähler vertrauen ihr, da muss sie gar nicht viel reden. Das besorgt der Le-Pen-Verschnitt. Probleme gibt es trotzdem. Denn Pauline hat ihren Schulfreund wiedergetroffen und sich verliebt. Und der Liebste gehört zur faschistischen Schlägertruppe, die das Sauberfrau-Image stört.

Die erste Runde geht klar an den Film. Er entwirft das rechte Milieu sehr überzeugend und mit kleinen Beobachtungen an der Seitenlinie – etwa wenn ein Vater sich über den Pornokonsum seines Sprösslings sorgt, der sich aber in Wahrheit als Nazi-Videoblogger betätigt. Regisseur Lucas Belvaux trickst das Publikum meisterlich aus: Was würdest du tun, wenn du Paulines Möglichkeiten hättest, Arschloch?

Die Ambivalenz hält er allerdings nicht durch. Alsbald weiß man, dass die Rechten – ob mit Glatzkopf oder im Kostüm – Dumpfbacken sind. Da dürften sich Regisseur und Publikum bald einig werden. Allzu plakativ agiert die Bande, entlarvt hat man sie schnell. Dabei wäre es einfach gewesen, weiter auf dem Glatteis zu bleiben. Was, wenn es einen Anschlag des IS geben würde – vielleicht auf ein Konzerthaus mit vielen Toten? Was würde dann der Film aus seinem Publikum machen?

Friktionsflächen dieser Art fehlen, und das macht aus dem Film ein antifaschistisches Statement. Verständlich ist das, auch legitim. Eine gute Analyse, die kritische und vor allem komplizierte gesellschaftliche Zustände zeigt, ist das nicht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

Eine weitere Kritik zu „Das ist unser Land!“ findet sich hier.

„Wenn ich einen Film mache, dann mache ich den Film aus dem Wunsch heraus, was ich sehen möchte.“

( , Regie: )

„Wenn ich einen Film mache, dann mache ich den Film aus dem Wunsch heraus, was ich sehen möchte.“
von Ulrich Kriest

Ein Gespräch mit Angela Schanelec über ihren neuen Film „Der traumhafte Weg“, ihre Art des filmischen Erzählens und die fehlende Notwendigkeit, darauf detektivisch zu reagieren. Ulrich Kriest: Frau Schanelec, ärgert …

Ein Gespräch mit Angela Schanelec über ihren neuen Film „Der traumhafte Weg“, ihre Art des filmischen Erzählens und die fehlende Notwendigkeit, darauf detektivisch zu reagieren.

Ulrich Kriest: Frau Schanelec, ärgert es Sie eigentlich manchmal, dass es zu ihren Filmen Pressehefte gibt?
Angela Schanelec: Wieso sollte mich das ärgern? Das ist doch allgemein so üblich.

Ich komme darauf, weil im Presseheft zu „Der traumhafte Weg“ ja auch eine Inhaltsangabe zu lesen ist, die gewissermaßen dem Rätselhaften, den Andeutungen, dem Elliptischen ihres Films diametral entgegenarbeitet. Es ist wie die Lösung eines Rätsels. Oder auch die Kanalisierung meiner Fantasie als Zuschauer. Da stehen dann plötzlich Sätze wie „Theres erscheint ihm als Rettung, aber es fehlt ihm die Kraft, sie erneut zu gewinnen.“ Eine Information, die man vielleicht aus einer ganzen Reihe von Eindrücken gewinnen kann, aber nicht muss. Oder auch: Wie zeigt man, dass es sich bei David um einen erfolgreichen Anthropologen handelt? Gibt es überhaupt erfolgreiche Anthropologen? Im Film selbst sieht das ganz anders aus. Da fahren junge Leute mit einem Bus auf einen Platz, rollen ein Transparent aus, worauf ganz kurz zu lesen ist, dass es wohl 1984 ist. Aber wie ist der konkrete historische Zusammenhang dieser Szene? Was genau muss ich wissen, um mit den Bildern etwas anfangen zu können?
Aber es sind doch Bilder, keine Informationsträger. Es geht doch nicht um das genaue Datum und die konkreten politischen Zusammenhänge! Es geht darum: man nimmt wahr, dass es Sommer ist. Man sieht: es ist Griechenland. Der Bus, die Kostüme. Dass es ein Verschwimmen mit dem Heutigen gibt, war mir wichtig. Ich wollte ja schließlich keine Fleißarbeit hinlegen, was Authentizität betrifft. Ich wollte junge Leute zeigen, die in dieser Zeit damit beschäftigt sind, sich mit der Situation ihres Landes zu befassen. Da spielt es keine Rolle, ob es 1983 oder 1984 ist.

Immerhin sind Sie es gewesen, die dieses Plakat mit dem kurz lesbaren Datum vor der Kamera platziert hat. Da fragt man sich schon…
Das ist richtig. Aber ich muss es nicht so lange zeigen bis ich sicher sein kann, dass auch der letzte Zuschauer es gelesen hat. (lacht) Es ist da. Es kann wahrgenommen werden. Aber ein Film ist doch keine Schnitzeljagd. (lacht)

In gewisser Weise ist doch jeder Film bis zum gewissen Grad eine Art von Freistil-Schnitzeljagd, weil der Zuschauer gehalten ist, sich aus dem Angebot, das ihm multimedial gemacht wird, einen Reim zu machen. In Echtzeit. Ein Beispiel: Das junge Paar singt zusammen „The Lion Sleeps Tonight“. Was erzählt mir das? Ist das kontingent? Es könnte doch auch ein Dylan-Song, „Love The One You´re With“ oder – um im Bild zu bleiben – ein aktueller Hit von 1984 gewählt worden sein.
Aber dann müsste man doch wissen, dass der Hit von 1984 ist, oder? Ich arbeite so nicht. Ich arbeite viel intuitiver. Ich habe zwei Darsteller, die möchte ich besetzen. Die werden zusammen singen. Da treffen wir uns, probieren etwas aus. Und dann – aber das kann man jetzt überhaupt nicht verallgemeinern! – in diesem speziellen Fall überlegen wir zusammen. Toby ist Sänger. Miriam hat auch einen Bezug zum Singen, weil sie es auf der Bühne tut. Die beiden haben dann dieses Lied vorgeschlagen. Und es klang schön. Das war noch keine endgültige Entscheidung, aber die Schönheit des Klangs wirkte fort in mir. Warum also nicht „The Lion Sleeps Tonight“? Was spricht dagegen?

Nichts, natürlich.
Ich reagiere etwas irritiert, weil ich weder meine Filme noch andere Film mit einer solch detektivischen Haltung anschaue. Weil es mich um das eigentliche Ereignis brächte. Es geht doch um eine Seherfahrung. Auf dem Platz in Griechenland sind junge Leute, die haben etwas zu sagen, was ganz einfach ist. Aber auf dem Platz sind auch andere junge Leute mit einer anderen Nationalität, die sind mit etwas ganz Anderem befasst. Darum geht es. Die bekommen eine Nachricht. Diese Nachricht bedeutet etwas für das junge Paar und für die Geschichte. Es gibt so viel zu sehen. Was ich am Anfang vielleicht wollte, ist Vergangenheit. Es gibt jetzt diesen Film.

Das ist richtig, aber der Film ist so eigen in sich, dass er mich reizt, mehr erfahren zu wollen. Zum Beispiel über bestimmte künstlerische Entscheidungen, die mir durchaus humorvoll erscheinen.
Humorvoll?

Nehmen wir die Nachricht am Telefon, deren Gewicht zunächst nur über körperliche Reaktionen erzählt. Der Mann bricht zusammen, wird aufgefangen. Die Frau blickt fragend erschrocken. Im Vorübergehen wird dann vom Sicherheitsmann eine Augenzeugin aufgeklärt, dass die Mutter des Mannes verunglückt sei. Da musste ich schmunzeln, weil hier das Geschehen einerseits rätselhaft bleibt, aber dann doch noch eine etwas zu präzise Erklärung nachgerecht wird.
Die Szene spielt sich auf einem öffentlichen Platz ab. Es geht ums Sehen und Gesehenwerden. Da ist es doch ganz normal, dass man sich austauscht. Auch die jungen Aktivisten schauen doch neugierig aus dem Bus heraus. Es passiert hier nichts Ungewöhnliches. Man hat das schon häufig gesehen. Man kennt das. Man ist erwachsen, und die Eltern sterben. Wenn ich so etwas erzählen möchte, dann frage ich mich: Wieso komme ich auf so etwas? Warum interessiert mich das? Was interessiert mich daran? Und dann kam ich darauf, dass mich nicht interessiert die Charakterisierung der Figur, weil dies etwas Allgemeingültiges ist. Mich interessierte vielmehr der Zustand, in den der Körper dadurch gerät. Ich musste also, wollte ich den Zustand losgelöst vom Charakter zeigen, nur den Körper zeigen. Um das herauszustellen, sollte das auch von Anderen, nicht nur vom Zuschauer gesehen werden. Weil daran nichts Ungewöhnliches ist, habe ich auf die Fantasie des Zuschauers vertraut. Da passiert etwas ganz Einfaches. Nur, dass es etwas anders gezeigt wird.

Eben! Daraus bezieht Ihr Film seinen Reiz, weil Sie ganz andere Lösungen gefunden haben, als man sie üblicherweise, geschult auch am Konventionellen, erwarten würde. Diese Differenz ist reizvoll, weil dem Zuschauer etwas abverlangt wird, was man auch Angebot nennen könnte.
Der Film ist ja nicht mehr neu. Er ist international auf vielen Festivals gezeigt worden; es gibt bereits allerlei Reaktionen darauf. Wenn man jetzt eine Pressevorführung des Films besucht, beschäftigt man sich nicht vorher damit, was man zu sehen bekommen werden wird?

Nein. Es wäre ja total bescheuert, erst zu lesen, was irgendjemand auf irgendeinem Festival dazu geschrieben hat, um sich dann davon zu überzeugen, ob das vielleicht gut beobachtet und formuliert ist. Vielleicht ist es manchmal so, dass man etwas liest, was es sinnvoll erscheinen lässt, eine bestimmte Pressevorführung zu besuchen. Man guckt sich schließlich auch nicht jeden Quatsch an, nur weil es eine Pressevorführung gibt. Aber in diesem speziellen Fall reichte allein die Tatsache, dass es „der neue Schanelec“ war, den es zu sehen gab.
AS: Ich fragte, weil es mich wirklich interessiert. Weil es mir fast so scheint, als erwarte die Filmkritik hierzulande … Erwartung ist vielleicht sogar falsch gewählt. Als wolle man im Kino etwas sehen, was man schon kennt.

Nein, gerade nicht. Insofern gebe ich als Zuschauer in diesem Fall sogar Kredit. Weil 80 % der deutschen Kinofilme noch nicht einmal besonders aufwändig verkleidete Fernsehspiele sind, wartet man auf die anderen 20 %, die hoffentlich anders sind.
Aber wir müssen doch über Kino reden!

Sie leben in Berlin! Ich gehe hier in Stuttgart oder Tübingen ins Kino, wo es seit Jahren ohne größere Aufregung kein kommunales Kino mehr gibt. Wenn Sie jetzt von Kino reden und dabei an ein Weltkino denken, dann muss ich leider sagen, dass davon in Stuttgart so gut wie nichts zu sehen ist. Hier herrscht die Arthaus-Feelgood-Konfektions-Not härtester Spielart und entsprechend reagiert die brave Provinz-Filmkritik bei Ihrem Film erst einmal instinktiv populistisch mit „Kunscht“-Verdacht.
Mich beunruhigt der Gedanke, dass man den Film nicht wahrnehmen kann, weil man gewohnt ist, etwas anderes zu sehen und auch sehen zu wollen.

Ich würde diesen Gedanken ganz gegen meine Art jetzt gerne ins Positive wenden. Es geht um die Differenz. Nach zehn Minuten ist klar, dass hier noch 80 Minuten Abenteuer zu haben sind. Und dann kommen die Szenen zwischen Mutter und Kind, die Szenen in der Schule, im Wald und im Schwimmbad mit den Kindern. Ich sehe das und frage mich gleichzeitig, wie wohl die Arbeit mit den Kindern war. Wenn die Mutter ihr Kind abholt und nach Berlin aufbrechen will und das Kind ganz enttäuscht nach der Großmutter fragt und sich auch nicht auf Berlin freut. Zwei, drei Sätze erzählen eine weitere Geschichte. Später, die zweite Geschichte, wenn Maren Eggert betrunken ist, kommt ihr Kind und setzt sich dazu (wie zuvor das andere Kind im Wald) und lernt Vokabeln. Latein, esse heißt sein. Und dann bin ich im Kopf wieder am Anfang der ersten Liebesgeschichte. Europa, Athen, abendländische Kultur, „The Lion Sleeps Tonight“.
Es ist alles kein Zufall, was zu sehen ist. Der kleine Junge hat ja keine große Rolle. Es gibt nicht viele Szenen mit ihm. Aber ich möchte erzählen, dass ihn üblicherweise die Oma abholt. Dann muss ich schon überlegen, was kann er sagen. Da passiert etwas Einschneidendes. Das wird verstärkt durch die Kindergruppe, die ihm nachschaut und dann durch die Waldszene. Dass die Kinder die Erwachsenen beschützen, war für mich ein grundlegender Gedanke für den Film. Die Schwäche der Erwachsenen und die Stärke der Kinder. Mir ist wichtig: Die Mutter ist müde. Und es ist kein schreckliches, sondern ein schönes Bild. Und die andere Szene: das Kind muss lernen, aber sich auch um die Mutter kümmern. Das geht von etwas ganz Normalem aus. Die Vokabeln sind tatsächlich die ersten Vokabeln im Buch. Ich habe die nicht extra ausgesucht, um die komplexe Bedeutung wieder aufzunehmen. Aber jemand hat wahrscheinlich darüber nachgedacht, welche Vokabeln am Anfang des Buches stehen sollen. Und meine Kinder besuchen ein humanistisches Gymnasium.

Ja. Und deshalb ist es doch total legitim, wenn ich registriere, was ich sehe und dann für mich verschiedenen Spuren und Momenten nachgehe und gucke, ob da noch etwas mehr ist. Sie haben nur eine Szene in der Leihbücherei und da geht Glas zu Bruch. Da frage ich mich doch …
(lacht) Gut, die Leihbücherei… Eigentlich möchte da so nicht drüber reden. Je länger ich ihnen zuhöre, desto deutlicher wird, dass sie alles gesehen haben. Um einmal zum erfolgreichen Anthropologen zurückzukommen: wenn man ein Buch publiziert hat, belegt das meines Erachtens einen gewissen Erfolg. Mich hat das interessiert: wie sieht das Buch aus, was kann ich darüber erzählen? Und: wie stoßen wir im Film auf das Buch unter Rücksicht auf die bis zu diesem Zeitpunkt entwickelten Konstellationen? Finden sie es nicht etwas langweilig, wenn ich das so erzähle?

Leider nein, tut mir sehr leid.
Wir haben es mit einem Ehepaar zu tun, das in einer gemeinsamen Wohnung lebt. In deren Bücherwand steht das Buch sicher auch. Aber würde sie es dort zur Hand nehmen? Ich glaube: nein! Weil es ihr Mann ist, weil sie das Buch wahrscheinlich kennt. Jetzt stößt sie auf das Buch in einem anderen Kontext, in der Leihbücherei. Und weil diese Begegnung so merkwürdig ist, geht das Glas kaputt. Sie weiß selbst nicht wie und weshalb. Ich weiß es auch nicht. Ich zeige es nicht. Wichtig ist, dass es kaputtgeht. Weil es eine Überwindung braucht. In erster Linie für die Figur – und dann auch für den Zuschauer. Das Buch ist weg von ihr wie der Mann weg von ihr ist. Verstehen sie? (lacht)

Ja. Aber aufgelöst wird das Ganze dann dadurch, dass ein Mitarbeiter der Leihbücherei völlig unbeteiligt und unaufgeregt sagt: „Ich hole einen Besen.“ Und dann doch lieber mit Maren Eggert den Ort des Geschehens verlässt. Da musste ich an „Klassenverhältnisse“ von Huillet/Straub. Ich musste jedenfalls lachen. Schlimm?
Der wird wohl den Besen holen. Aber natürlich dürfen sie lachen, jederzeit.

Aber ich lache nicht über die Handlung, sondern eher darüber, wie sie gefilmt und montiert wurde. Wie beim Fußball, wenn plötzlich ein unerhörter Trick gezeigt wird, um den Ball in Richtung Tor zu befördern. Man lacht, weil man von der gefundenen Lösung überrascht wird. Bei „Der traumhafte Weg“ geschieht das im Minutentakt. Hat man verstanden, wie der Hase läuft, wäre man blöd das Angebot dieses Films nicht anzunehmen. Wie zum Beispiel bei der Szene mit der Kapelle. In „Klassenverhältnisse“ gibt es eine vergleichbare Szene, wenn der Heizer sein Gejammer unterbricht, um in Echtzeit der Hymne zuzuhören und dann fortfährt, als sei nichts gewesen.
Das Spielen ist vorbei, aber man hat es ja gehört. Ich wollte von Anfang an, diese Trennung von Hören und Sehen. Für mich fühlt sich das richtig an. Film arbeitet ja mit der vergehenden Zeit. Immer. Und wenn man die Musiker dann sieht, ist etwas anderes vergangen. Es entstehen zwei Zeitlichkeiten. Aber ich habe da zuvor nicht drüber nachgedacht, sondern erst jetzt, als sie das ansprachen.

Aber das ist jetzt doch ziemlich komplex, oder?
Ja, aber diese Komplexität ist keine intellektuelle, sondern Ausdruck einer körperlichen Erfahrung, einer Seh- und Hörerfahrung. Der Zuschauer muss darüber nicht nachdenken, aber er kann das bemerken und dazu eine Fantasie entwickeln. Für mich ist wichtig, dass man wahrnimmt, aber nicht, dass man ständig intellektuell arbeitet.
Wissen sie, ich höre ihnen wirklich gerne zu. Aber – nehmen sie das jetzt bitte nicht persönlich – es ist keine Freude für mich, über meine Arbeit zu sprechen. Ich glaube, ich mache meine Filme, um nicht sprechen zu müssen. Und nun fügt es sich (lacht) … Ich mache es ja, um es nicht erklären zu müssen. Oder auch nicht erklären kann. Ich möchte etwas erzählen, nicht, weil ich weiß, was es bedeutet, sondern weil ich mich frage, was es bedeutet.

Im „Cargo“-Gespräch sagten Sie, dass Sie sich von anderen Filmen oft verschaukelt fühlen. Sie würden sich häufig genötigt fühlen, etwas zu verstehen, was sie nicht interessiert. Ich zitiere: „Zuschauer sind ja frei, in dieser Freiheit liegt die Chance, ein Bild zu entwickeln, eine Fantasie, und ich muss nicht meine Fantasie aufdrängen.“ Das ist ja ein hehres Verständnis von Zuschauer. Ist das eigentlich zeitgemäß oder idealistisch?
Es ist mein Bild. Zeitgemäß muss es sein, weil ich lebe heute. Und gehe heute ins Kino. Wenn ich einen Film mache, dann mache ich den Film aus dem Wunsch heraus, was ich sehen möchte. Ich bin ja der Zuschauer. Idealistisch ist es nicht, weil ich ganz real bin. Diese Vorstellung hat mich zum Kino gebracht. Ich bin in einer Kleinstadt am Bodensee aufgewachsen, wo im Kino ganz normale, kommerzielle Kinofilme gezeigt wurden. Dann wurde es ein Porno-Kino. Ich bin also ganz ohne Kino aufgewachsen, habe die ersten Filme erst gesehen, als ich schon am Theater war und Mitte 20. Diesen Wunsch, dieses Bedürfnis des Sehens, von dem ich gesprochen habe, den gab es von Anfang an. Der hat auch nichts mit meinem Studium zu tun. Wenn man das abgleicht mit der Wirklichkeit heute, derjenigen, die ins Kino gehen und derjenigen, die Filme machen, dann kann ich verstehen, wenn man sich auf die Suche macht und fragt: ist das noch zeitgemäß? Das mag sein, beschäftigt mich aber in meiner Arbeit nicht.

Tja?
(lacht) Na, diese anderen Filme gibt es doch sowieso. Da muss ich doch nicht auch noch …

Gibt es denn auch eine gewisse Lust, diesen anderen Filmen etwas entgegenzusetzen? Eine Freude, über Schuhe und Wollpullis zu erzählen und eben nicht Psychogramme zu bebildern? Ich kann das erzählen, was ich erzählen will, es ist ungemein präzise und stimmig, aber es sieht eben anders aus.
Hmm, Spaß? Als wir in Griechenland die Einstellung mit der Mütze gedreht haben, da kommen ja verschiedene Schuhe ins Bild. Da mussten wir bei der Komparserie auch darauf achten, was die an den Füßen tragen. Da wurde dann doch im Team gelacht, als wir uns darauf konzentriert haben. Also, ich habe schon ein Vergnügen an diesen Dingen. Ich möchte präzisieren: es handelt sich um ein freundliches Vergnügen. Es richtet sich gegen niemanden, will niemanden ausschließen. Ein freundliches Vergnügen und Entgegenkommen. Ein Angebot, das zu unterbreiten mir selbst Freude bereitet. Wenn ich einen Bahnsteig habe und ein Paar Schuhe, dann ist die Arbeit am Bild schon eine sehr schöne Arbeit.

Vielen Dank für das Gespräch!

Tango & Cash

(USA 1989, Regie: Andrey Konchalovskiy)

Patriarchat und Homophobie ins Gesicht lachen mit dem schönsten (Nicht-)Paar der Actionfilmgeschichte
von Nicolai Bühnemann

Am Anfang ist der eine ein Upper-Class-Super-Cop und der andere ein White-Trash-Super-Cop. Aber Liebe kennt ja bekanntlich keine (Klassen-)Grenzen (zumindest nicht im Hollywood-Kino, ach was, der Kunst im Allgemeinen). Liebe? …

Am Anfang ist der eine ein Upper-Class-Super-Cop und der andere ein White-Trash-Super-Cop. Aber Liebe kennt ja bekanntlich keine (Klassen-)Grenzen (zumindest nicht im Hollywood-Kino, ach was, der Kunst im Allgemeinen). Liebe? Ja, Liebe. Denn „Tango & Cash“ ist ein Film über zwei Männer, die kein Paar werden dürfen. Darin liegt die tiefe Tragik dieser Komödie. Und zugleich weiß der Film, dass wir wissen, dass seine beiden Protagonisten nur so zueinander finden können, wie zwei Männer eben in einem Buddy-Movie zueinander finden dürfen, und daraus zieht er einen Großteil seiner Komik.

Der Plot gibt sich ausgeklügelt, läuft aber in a nutshell darauf hinaus, dass die beiden Superbullen einigen Gangstern unter Führung des von Jack Palance gespielten Oberschurken ein Dorn im Auge sind. Von diesen zunächst ausgetrickst und in die Bredouille bzw. den Knast gebracht werden, aus dem sie dann relativ schnell wieder ausbrechen können, um ihre Widersacher zur Strecke zu bringen. Dass das so generisch ist, dass es letztlich vollkommen egal ist, mag Absicht sein oder auch nicht. So oder so gibt es dem Publikum die Möglichkeit sich ganz auf das Wesentliche in diesem Film zu konzentrieren: die beiden Hauptfiguren und ihre Beziehung zueinander.

Da ist Ray Tango (Sylvester Stallone), der gerne teure Anzüge trägt und sich nebenher im Finanzbuisness etwas dazu verdient. In diesem Kontext gibt es die vielleicht schönste Dialogzeile dieses an schönen Dialogzeilen nicht eben armen Films, in der ihm in seinem Büro mitgeteilt wird: „What is a margin call? Your stockbroker just called.“ Nur scheinbar ist der Schauspieler – der damit berühmt wurde, dass er einen Boxer spielte, der es aus den Slums ganz nach oben schaffte – hier gegen sein Image besetzt. Denn der Action-Held ist immer ein Prolet. Vielleicht ist es der Sturzregen, der hier in der sehr langen Szene fällt, in der die beiden Männer aus dem Knast ausbrechen, der nicht nur ihre gut definierten Muskeln zum Glänzen und Glitzern bringt, sondern auch das ganze Schicki-Micki-Gehabe von Tango abwäscht und ihn das tun lässt, was er am besten kann: Kicking some ass. Wenn er sich dann fürs große Finale wieder richtig herausputzen darf, dann ist er eben wieder ein Action-Held-Prolet in einem teuren Anzug.

Dann ist da Gabe Cash (Kurt Russell), der zunächst sein Rivale für den Titel des Super-Cops von Los Angeles ist, und bei seiner Einführung in den Film ebenfalls auf Verbrecherjagd geht. Selbstverständlich im Ghetto. Selbstverständlich mit Vokuhila und in Jeans. Und als Mann der Straße ist er dann auch selbstverständlich für eher harte Verhörmethoden bekannt. Der asiatische Gangster, den er jagt und fängt, überlegt sich das mit dem Nicht-Englisch-Sprechen im Angesicht des drohenden Erstickungstodes ganz schnell anders.

„Tango & Cash“ ist postmodernes Zitate-Kino. Eine Meta-Actionkomödie. Ein Meta-Buddy-Movie. Ein Meta-Achtziger-Jahre-Film. Der Film hat kaum angefangen, schon muss sich Tango von seinen Kollegen anhören, dass er sich wohl für Rambo halte und darf äußerst bescheiden antworten: „Rambo is a pussy.“ Sein Zugriff auf das Genre der Buddy-Actionkomödie ist ein durch und durch ironischer, was sich nicht nur, aber doch zum Großteil eben in seiner Rekurrenz auf den homoerotischen Subtext des Genres niederschlägt. Buddy-Movies sind Filme, in denen zwei denkbar unterschiedliche, einander zunächst meist feindlich gesinnte Männer sich zusammenraufen müssen, sehr oft um ein paar Verbrecher zur Strecke zu bringen. Frauen fungieren oft nur als störendes Beiwerk. Es geht im Kern immer um die Männerfreundschaft, auch explizit als Alternative zu Familie, Sex, etc. (Natürlich gibt es Buddy-Movies inzwischen auch mit weiblichen Hauptfiguren, etwa Paul Feigs schönen „The Heat“ (USA 2013) mit Melissa McCarthy und Sandra Bullock. Hier geht es aber eben um das männliche Genre-Archetyp.).

Dabei ist es durch die Konventionen des Genres gesetzt, dass die Männer eben Buddys werden müssen, aber niemals fuck buddys bzw. ein Liebespaar werden dürfen. Was an dieser Spielart des Genrekinos immer schon mehr oder minder versteckt homoerotisch war (in Chaplins „City Lights“ (USA 1931), der vielleicht erste, zumindest aber frühe Film dieser Art), ist nun in „Tango & Cash“ ganz offensichtlich. Damit ist der Film zugleich auch der bessere „Thelma & Louise“ (USA 1991; R: Ridley Scott).

Über die mindestens tendenziell homophobe Prüderie des Genres macht sich der Film dann eben in einem fort lustig. Am weitesten geht er wohl in einer Szene, in der Tango und Cash im Gefängnis ankommen und gemeinsam unter die Dusche gehen, wobei denn auch ihre knackigen Körperrückseiten in voller Blöße zu sehen sind. Cash geht vor Tango auf die Knie, was letzteren zunächst mit großem Unbehagen erfüllt. Doch seine Sorge ist unbegründet, denn sein Partner will natürlich nur (was sonst?) die Seife aufheben, natürlich ohne ihm den Rücken zuzuwenden, und er muss dann noch gleich die Größe des Geschlechtsteils seines Gegenübers bemängeln („peewee“!). Wo die beiden Männer hier nicht Subjekt eines gleichgeschlechtlichen Begehrens werden dürfen, das dann aber dennoch irgendwie da ist, werden sie eine Szene später, bei ihrem Gang durch den Knast, zum Objekt von Männerhass und Männerbegehren.

Darin spiegelt der Film denn auch die Rezeptionshaltung seiner Zielgruppe. Mehr als in anderen Mainstreamfilmen seiner Zeit hat man in „Tango & Cash“ das Gefühl, dass sich die Sexualisierung des durchtrainierten Männerkörpers nicht nur an ein weibliches, sondern auch an ein männliches Publikum richtet. Abgerundet wird das Ganze durch den Schwanzvergleich, bei dem bemängelt wird, dass der eine einen größeren hat als der andere. Ballermann natürlich. Was auch sonst? Und last, aber sicherlich nicht least durch Russells Auftritt in Frauenkleidern und mit sehr dick aufgetragenem Lippenstift, der großartig und sehr sexy ist.

Eine Frau braucht es natürlich auch noch. Die ist Tangos Schwester und Cashs love interest. Das Patriarchale an der Frau, die nur dazu da ist, damit sie der eine liebhaben, der andere beschützen kann, ist so offensichtlich, dass es nur noch ein Witz ist. Das Patriarchat ist, genau wie die eng mit ihm verbundene und in ihm verwurzelte Homophobie, hier immer für einen Lacher gut. Teri Hatcher spielt als erotische Tänzerin Catherine durchaus eine selbstbestimmte Frau, ganz emanzipieren kann sie sich von der Rolle als reine Plot-Funktion, die der Film ihr zuweist, aber leider doch nicht.

Während es vorher zum running gag wurde, dass die beiden Protagonisten sich high five geben wollen, es aber schließlich doch nicht tun, sondern vorher innehalten, endet der Filme damit, dass sich ihre Hände nun doch heroisch in der Luft treffen, triumphierend auf der Titelseite einer Zeitung, die verkündet, dass nun alles gut ist, Tango und Cash wieder vollständig rehabilitiert sind. Der Film ist natürlich klug genug, um zu wissen, dass das eine reine Ersatzhandlung ist. Am Ende finden endlich Hände zueinander, wo Körper nicht zueinander finden dürfen.

Abluka

Abluka – Jeder misstraut jedem

(FRK/QA/TUR 2015, Regie: Emin Alper)

Moloch der Macht
von Wolfgang Nierlin

Der Terror kommt zunächst von der Tonspur: Detonationen von Bomben, markerschütternder Maschinenlärm, dröhnendes Hämmern und Schreie grundieren die endzeitliche Szenerie von Emin Alpers preisgekröntem Film „Abluka – Jeder misstraut jedem“ …

Der Terror kommt zunächst von der Tonspur: Detonationen von Bomben, markerschütternder Maschinenlärm, dröhnendes Hämmern und Schreie grundieren die endzeitliche Szenerie von Emin Alpers preisgekröntem Film „Abluka – Jeder misstraut jedem“ aus dem Jahre 2015. In den schmutzigen Straßen der Istanbuler Außenbezirke brennen die Müllcontainer, Fernsehbilder zeigen Straßenschlachten, Spezialkommandos der Polizei durchkämmen die Quartiere auf der Suche nach Terroristen und errichten dafür Straßensperren. Die Metropole am Bosporus mit ihren gigantischen Verkehrsströmen und heterogenen Stadtlandschaften befindet sich im Ausnahmezustand und versinkt zunehmend im Chaos. Emin Alper filmt diesen alles verschlingenden Moloch aus Schönheit, Dreck und Gewalt im fahlen, nebelgrauen Licht des Winters und in entsättigten Farben.

In diesem Klima des Misstrauens und der Verunsicherung, der Denunziationen und Verhaftungen situiert der türkische Regisseur die Geschichte zweier Brüder. Kadir (Mehmet Özgür), der Ältere, wird vorzeitig aus einer langjährigen Haft entlassen unter der Bedingung, dass er für die Geheimpolizei Spitzeldienste übernimmt. Dafür durchwühlt er zusammen mit anderen Männern den Müll der radikalisierten Problemviertel auf der Suche nach Sprengstoff und verdächtigen Chemikalien. Kadirs treue, bald übermotivierte Ergebenheit zeigt ihn als williges, manipulierbares Werkzeug der Macht. Sein Bruder Ahmet (Berkay Ates) wiederum, von Frau und Kindern verlassen, lebt einsam und zurückgezogen und hat einen nicht minder miesen Job: In staatlichem Auftrag tötet und „entsorgt“ er streunende Hunde. Einmal sagt er zu Kadir über das drastisch veränderte, von zunehmender Isolation geprägte gesellschaftliche Leben: „Jeder sitzt in seinem Loch.“

Loyalitätskonflikte, gesteigert zu persönlichen Krisen, bestimmen im Weiteren das Schicksal der Figuren. Während Kadir, der im Haus eines mit Ahmet befreundeten Ehepaars wohnen kann, unter dem Druck seiner Auftraggeber, und von unterdrücktem Begehren getrieben, seine Nächsten verrät, pflegt Ahmet entgegen seinen Weisungen einen angeschossenen Hund gesund. Beide geraten dabei in einen existentiellen Zwiespalt, der sie von sich und den anderen entfremdet, was Emin Alper als einen zunehmenden Realitätsverlust inszeniert. In Zeitschleifen, wechselnden, bevorzugt subjektiven Perspektiven sowie Alpträumen verwandelt sich die surreale Wirklichkeit in eine wahnhafte Zwangsvorstellung, die zu fatalen Entscheidungen und Handlungen führt. In Emin Alpers eindringlich gestaltetem, dystopischem Psychothriller „Abluka“, was übersetzt „Blockade“ heißt, gibt es keinen Ausweg aus der Paranoia. Als filmische Parabel auf politische Krisen und Unrechtssysteme ist er auf verstörende Weise ebenso zeitlos aktuell wie visionär.

Axolotl Overkill

(D 2017, Regie: Helene Hegemann)

Fetter Überdruss
von Ulrich Kriest

Ob bei einer nächtlichen Taxifahrt, im Zimmer der Schuldirektorin oder in der Mensa ihrer Schule: Mifti provoziert gerne, fordert Reaktionen heraus – nicht immer oder nur sehr bedingt zu ihrem …

Ob bei einer nächtlichen Taxifahrt, im Zimmer der Schuldirektorin oder in der Mensa ihrer Schule: Mifti provoziert gerne, fordert Reaktionen heraus – nicht immer oder nur sehr bedingt zu ihrem Vorteil. Mifti kokettiert mit Vergewaltigungsfantasien, muss aber auf dem Weg dorthin ganz schön einstecken. Mal bekommt sie ein Portion Spaghetti ins Gesicht, mal einen Becher frisch gebrühten Kaffees. Und dann ist da ja auch noch der Taxifahrer, der sich die günstige Gelegenheit auf eine schnelle Nummer nicht entgehen lässt. Mifti scheint über derlei Feedback mitunter erstaunt, aber durchaus nicht unerfreut. Immerhin passiert mal was!

Nach dem Tod ihrer Mutter lebt die 16-jährige Mifti mit ihren Halbgeschwistern Anika und Edmond in einer Berliner WG und ist zumeist vorzugsweise irritiert. Was sie allerdings mit kessen Sprüchen und coolen Gesten gekonnt überspielt. Mifti driftet durch ihren Alltag, nächtens, was die Option eines regelmäßigen Schulbesuchs zumeist erfolgreich hintertreibt. Aber gleichaltrige Freunde hat Mifti eh nicht. Wie auch, wenn man als 16-Jährige vielleicht sogar noch etwas jünger aussieht, sich aber mit dem Erfahrungshorizont einer Mittdreißigerin durchs Leben bewegt. Von ihrer Familie hat Mifti nicht viel zu erwarten. Der Vater lebt mit seiner Geliebten in einem Designerhaus, schwadroniert über Terrorismus als zeitgemäße Karriereoption und nimmt die Welt nur noch als ästhetisches Phänomen wahr. Schwester Anika, selbst zuverlässig hysterisch, würde gern als Miftis Ersatzmutter agieren, besäße sie auch nur einen Funken Autorität. Bruder Edmond ist lethargisch und ohne jedes Interesse. Bleiben noch die Erinnerungen an die elegante Mittvierzigerin Alice, coole Drogendealerin für die Hautevolee der Hauptstadt, mit der Mifti eine offenbar längere Affäre hatte. Und ganz aktuell: Ophelia, Fernsehstar, wegen Volltrunkenheit am Steuer zu Sozialstunden in der Küche von Miftis Schule verdonnert. Auch Ophelia ist damit beschäftigt, ihrer Verzweiflung durch ständige Action keinen Raum zu lassen.

Ganz schön fett, was hier an umfassenden Überdruss aufgeboten wird! Dass es Helene Hegemann („Torpedo“) gelungen ist, selbst die Regie bei der Verfilmung ihres vom Feuilleton erst gefeierten, dann geschmähten Bestseller-Debüts „Axolotl Roadkill“ zu übernehmen, ist als Glücksfall zu werten. Bot sich ihr doch mit etwas zeitlichem Abstand die Chance, eine Wiederholung der in ihren Augen ärgerlichen Fehlrezeption des Stoffes als Coming-of-Age-Geschichte oder gar Generationen-Porträt zu unterbinden. Ziemlich konsequent hat Hegemann einer konventionell psychologisierenden Charakterisierung ihrer Protagonistin filmische Hindernisse in den Weg gelegt, die das Rätselhafte des Geschehens profilieren. Gegenüber der literarischen Vorlage wechselt die Verfilmung konsequent die Erzählperspektive, wechselt von der Ich-Erzählung ins personale Erzählen, wodurch „Axolotl Overkill“ gewissermaßen zu einer objektivierten Variante von „Axolotl Roadkill“ wird, was für Leser des Buches ein durchaus spannendes Angebot ist.

Zugleich aber verweigert der Film Chronologie und Linearität der Erzählung und gerät dadurch zu einer Folge zugespitzer Szenen, die gerne auf komische oder provokante, politisch unkorrekte Pointen hin gearbeitet sind. Zudem setzt Hegemann auf episch-distanzierende Erzählstrategien, auf surreale Einsprengsel, verblüffende Auftritte von Pinguinen, Alpakas und Einhörnern und einen stupend gut getimeten Deadpan-Humor.

Wie bereits im Fall ihres Filmdebüts „Torpedo“ kann sich die Filmemacherin auf einen glänzend zusammengestellten (Theater-)Cast mit Mavie Hörbiger oder Bernhard Schütz verlassen. Perfekt ist die Besetzung der verwirrten, gegen Familie, Schule, Umwelt und vor allem ihr Alter revoltierenden Protagonistin mit der stets und zuverlässig faszinierenden Jasna Fritzi Bauer („Ein Tick anders“, „Scherbenpark“, „About a Girl“). Durch den Verzicht auf Linearität und Chronologie kommt der Film zwar nicht so recht vom Fleck, aber dieses Problem teilen Protagonistin und Film nicht grundlos, sondern bewusst mit dem titelgebenden Schwanzlurch.

Dieser Text erschien zuerst in: Filmdienst

Hier findet sich ein Interview mit Regisseurin Helene Hegemann.

Viral

Viral

(USA 2016, Regie: Henry Joost, Ariel Schulman)

Von Parasiten und Zungenküssen
von Nicolai Bühnemann

Der Vorspann ist reichlich generisch. Unter dem Mikroskop sehen wir Bilder von Bakterien, Viren, Würmern. Dazu hören wir Fetzen von Nachrichtensendungen, die von einer drohenden Epidemie künden. In Taiwan. In …

Der Vorspann ist reichlich generisch. Unter dem Mikroskop sehen wir Bilder von Bakterien, Viren, Würmern. Dazu hören wir Fetzen von Nachrichtensendungen, die von einer drohenden Epidemie künden. In Taiwan. In den USA. Die Welt droht unterzugehen. Mal wieder.

Die erste Einstellung zeigt, sicherlich nicht minder generisch, einen amerikanischen Suburb aus der Luft. In der zweiten Einstellung wird dann leidenschaftlich rumgeknutscht. Die, die bei dem Spiel sich liebkosender Zungen außen vor ist, in die Situation einer reinen Beobachterin, ja, einer Spannerin verbannt, heißt Emma Drakeford (Sofia Black-D’Elia) und wird die Hauptfigur dieses Films sein. Wenig später bekommt sie eine SMS von Luzifer persönlich. Hinter dem Namen des Leibhaftigen versteckt sich ihre Schwester Stacey (Analeigh Tipton), die mit ihr gemeinsam auf die High School geht. „Viral“ führt den Konflikt zwischen zwei Schwestern, der einer der zentralen des Films sein wird, durchaus geschickt ein. Stacey jedenfalls beordert Emma auf die Mädchentoilette, weil sie einen Tampon braucht. Dass sie mit der Hand, die sie gerade in ihrem Intimbereich hatte, der Schwester nun durch die Haare fährt, findet diese eher weniger appetitlich. In dem Film wird es also um Körper gehen, um Körperflüssigkeiten und deren Austausch, später dann um Parasiten, die sich in Körper einnisten und diese zerstören und dazu bewegen, andere zu zerstören. „Viral“ ist in einem Wort: Body-Horror.

Natürlich assoziiert der geschulte Genre-Fan mit diesem Wort vor allem einen Namen: David Croneneberg. Hierzu passt, dass dieser mit „Shivers“ 1975 die Mutter des modernen Parasitenhorrors und ein Meisterwerk des polymorph-perversen Kinos schuf. Dort bekamen es die BewohnerInnen eines Luxusappartementhauses außerhalb von Montreal mit Parasiten zu tun, die aussahen wie eine Mischung aus Phallus und Exkrement und, wie es in einer Szene heißt, eine Mischung aus Aphrodisiakum und Geschlechtskrankheit sind. Jedenfalls verwandeln sie die Menschen in eine Art Zombies, die es hier nicht aufs Fressen, sondern aufs Ficken abgesehen haben. Da werden zwei junge Mädchen an der Leine durchs Haus geführt (ob Cronenberg hier von Pasolini oder doch Pasolini von Cronenberg geklaut hat – „Salò“ ist wie „Shivers“ von 1975 – ist von einigem filmhistorischen Interesse, interessiert mich jedenfalls brennend, ist aber wohl nicht endgültig zu klären. Vielleicht hatten auch einfach nur zwei transgressive Filmemacher die gleiche Idee). Da treibt es der alte Vater mit der jungen Tochter. Jeder mit jedem und jede mit jeder. Am liebsten aber alle zusammen. Und zwar in einer wunderbar orgiastischen und orgasmatischen Szene im Pool.

Was erst mal vielleicht wie eine kleinbürgerlich-reaktionäre Phantasie von Gegenkultur und „sexueller Revolution“ aussehen mag (wussten die Spießer nicht immer schon, dass die Hippies genau so leben?) oder aber wie eine Unterschichts-Phantasie von der Oberschicht (wussten wir hier unten nicht immer schon, was die da oben in den Pools ihrer Appartementhäuser so treiben?), ist bei Cronenberg wesentlich schwieriger auf einen ideologischen Nenner zu bringen. Wenn am Ende, wie eine Dekade zuvor in „The Fearless Vampire Killers“, das Böse (oder eben doch nur: das vermeintliche Böse?) hinaus in die Stadt, in die Welt getragen wird, kann man darin wohl auch eine sehr eigene, ziemlich fiese Utopie sehen: Die sexuelle Revolution hat gerade erst begonnen. Let’s quit the foreplay and let’s fuck!

Der Vergleich ist sicherlich ungerecht, denn natürlich hat „Viral“ weder die gesellschaftspolitische noch die filmgeschichtliche Relevanz eines „Shivers“. Cronenberg ging sowohl in der Verquickung von Sex und Splatter als auch in der Graphik von deren Darstellung weiter, als es sich das junge Regie-Duo Henry Joost und Ariel Schuhmacher je erlauben würde. Was man dem Film, wenn man es gut mit ihm meint, und ich sehe keinen Grund, das nicht zu tun, hoch anrechnen kann, ist, dass er auch keine derartigen Ambitionen hat. Es ist ein absolut nicht wichtigtuerischer Film. Ebenfalls für ihn spricht die Ernsthaftigkeit, mit der er seine Geschichte erzählt. Die klassische Moderne des nordamerikanischen Horrorfilms ist hier sicherlich irgendwie da, aber sie ist es sicherlich nicht in Form von dämlichen Verweisen, die von einem eher kümmerlichen Ironieverständnis zeugen, oder dem postmodernen Spiel mit Zitaten und Versatzstücken.

Wenn es dann in „Viral“, wie in unzähligen Teenie-Horrorfilmen zuvor, eine Szene gibt, in der wir einer Unterrichtsstunde beiwohnen, dann will der Film eben nicht nur darauf hinaus, dass wir das kennen und wiedererkennen, sondern es erfüllt gleich mehrere narrative Zwecke. Zunächst einmal befinden wir uns im Biologieunterricht, wo es natürlich um Parasiten geht, die der Lehrer mit wirklich nicht schönem Anschauungsmaterial seinen SchülerInnen näher bringt, nicht ohne eine gewisse sadistische Freude an ihrem Ekel. Aber noch wichtiger ist, dass der Lehrer von Emma und Stacey gleichzeitig ihr Vater ist, der übrigens von Michael Kelly gespielt wird, den ich durch seinen Auftritt als trockenen Alkoholiker in wichtiger politischer Funktion in der Serie „House of Cards“ sehr ins Herz geschlossen habe.

Damit wären wir bei dem, was in erster Linie für diesen Film spricht, nämlich seine gerade in ihrer Verunsicherung äußerst sympathischen Figuren. Auch wenn es in seiner zweiten Hälfte Standard-CGI-Bilder von Menschen gibt, die sich unter dem Parasitenbefall in zombieartige Monster verwandeln, die andere Menschen, unter denen auch ihre eigenen Angehörigen sind, erbarmungslos angreifen, bleibt der Film doch bis zum Schluss vor allem character driven. Der Zerfall der äußeren Ordnung korreliert hier mit dem Zerfall der Familie. Der Vater hat die Mutter mit einer seiner Studentinnen betrogen, die Mutter sich von ihm und der Familie abgewandt. Im Film kommt sie nur noch in den dringlichen Fragen ihrer Töchter an den Vater vor. Auch das ist, gelinde gesagt, nicht neu, aber eben weil ich die Figuren so mochte, interessierten mich auch ihre Konflikte untereinander und mit sich selbst.

Am Ende ist die Welt weit davon entfernt, gerettet zu sein, aber Emma darf nun zu ihrem Schwarm finden – und also endlich auch selber rumknutschen. Immerhin.

(„Viral“ ist von 2016, als Barack Obama Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika war. Damals. Letztes Jahr. Er kommt hier tatsächlich auch vor, in einem Fernsehauftritt, in dem er im Angesicht der Epidemie zu Besonnenheit aufruft. Wahrscheinlich muss man sich nicht einmal übermäßig für Politik interessieren, um bei dieser Szene nostalgisch zu werden. Was für ein Charisma hat dieser Mann, was für eine sympathische Erscheinung ist er – nicht nur, aber eben ganz besonders im Vergleich zu seinem Nachfolger.)

western

Western

(D/AT/BG 2017, Regie: Valeska Grisebach)

Spannung des Nichtverstehens
von Wolfgang Nierlin

Ganz klassisch kommt der Held des Films allein und geschichtslos aus der Tiefe des Bildes auf den Betrachter zu. Meinhard (Meinhard Neumann) ist in Valeska Grisebachs unkonventionellem Genre-Film „Western“ ein …

Ganz klassisch kommt der Held des Films allein und geschichtslos aus der Tiefe des Bildes auf den Betrachter zu. Meinhard (Meinhard Neumann) ist in Valeska Grisebachs unkonventionellem Genre-Film „Western“ ein schweigsamer, melancholischer loner ohne Heimat und Familie, der bei einer Berliner Baufirma anheuert. „Was bist du für einer?“, wird der „Neue“ von einem Kollegen gefragt. „Ich bin hier, um Geld zu verdienen“, entgegnet dieser pragmatisch knapp und ein bisschen geheimnisvoll. Der distanzierte Baggerfahrer ist zunächst in seiner Beobachterposition präsent, von der aus er an den Ränken, Machtspielen und Witzeleien seiner männlichen Kollegen teilnimmt. Als die Truppe für den Bau eines Wasserkraftwerkes nach Bulgarien aufbricht, verschärft sich seine Rolle als Außenseiter. Der ehemalige Fremdenlegionär, der sich unabhängig und freiheitssuchend gibt, wird in der Fremde nämlich nicht nur zum Vermittler zwischen seinen Kollegen und den Einheimischen, sondern gerät auch zwischen ihre Fronten.

Valeska Grisebachs fast absichtsloses, szenisch beobachtendes Erzählen begleitet unaufdringlich und mit dokumentarischem Blick Schritt für Schritt einen ambivalenten Prozess der Anziehung und Abstoßung und gewinnt dabei zunehmend an Intensität und Gewicht. Meinhard nähert sich zögerlich, aber bestimmt der Dorfbevölkerung an, erwirbt ein Pferd und findet Freunde. Bezeichnenderweise an der griechischen Grenze gelegen, wird das Dorf zum Austragungsort sprachlicher und kultureller Differenzen. Immer wieder kommt es zu Missverständnissen und Konflikten, bleiben die Fremden entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis fremd und Grenzen auf fast natürliche Weise nahezu unverrückbar. Es gibt in Valeska Grisebachs Inszenierung der schwierigen und mitunter komischen Kommunikationssituation aber auch eine Spannung des Nichtverstehens, gewissermaßen ein Verstehen jenseits sprachlicher Codes.

In dem mit nicht-professionellen Schauspielern besetzten eindrucksvollen Film geht es aber, forciert durch die Konfrontation mit dem Fremden, auch um das Duell zweier Männer. Getrieben von Rivalität und Eifersucht, kommt es immer wieder zur Konfrontation zwischen dem besonnenen Meinhard und seinem impulsiven Vorgesetzten Vincent (Reinhardt Wetrek). Grisebachs authentische Milieu- und Figurenzeichnung, eingebettet in ein sehr sinnliches „Natur-Setting“ und getragen von einem starken Interesse am gewöhnlichen, alltäglichen Leben, entfaltet diesen Konflikt höchst realistisch. Ihr dokumentarischer Realismus, der die Sprache der Gesichter ebenso integriert wie eine moderne elliptische Erzählweise, verbindet sich wiederum ganz selbstverständlich mit Genre-Elementen. Obwohl Meinhard, der für sich das Gesetz des Stärkeren verinnerlicht hat, stets aus der Deckung und fast schon „zurückhaltend“ kämpft, wirkt er am Ende in seinen bescheidenen Siegen wie ein Verlorener, der sich von seinem einheimischen Freund Adrian (Syuleyman Alilov Letifov) fragen lassen muss: „Was suchst du hier?“

Hier gibt es einen weiteren Text zu ‚Western‘.

traumhaft weg

Der traumhafte Weg

(D 2016, Regie: Angela Schanelec)

Ein schwebendes Mobile
von Ulrich Kriest

Etwas geschieht – und etwas (davon) wird sichtbar. Ein junges Paar erklimmt mühevoll einen Anhang zu einem Platz. Oben angekommen wird gemeinsam musiziert: „The Lion Sleeps Tonight“. Straßenmusik. Dann kommen …

Etwas geschieht – und etwas (davon) wird sichtbar. Ein junges Paar erklimmt mühevoll einen Anhang zu einem Platz. Oben angekommen wird gemeinsam musiziert: „The Lion Sleeps Tonight“. Straßenmusik. Dann kommen andere junge Menschen hinzu, die ihrerseits eine Agenda haben. Ein Plakat wird ausgebreitet. Sommer 1984, der EU-Beitritt Griechenlands steht bevor und ist mit einigen Hoffnungen verbunden. Als der junge Mann, nennen wir ihn Kenneth, einen Anruf tätigt, erhält er eine Nachricht, die ihn zusammenbrechen lässt. Eine Beobachterin der Szene wird aufgeklärt, dass Kenneths Mutter einen Unfall erlitten habe. Kurz darauf kommt es zu einer erneuten Begegnung des Paares, diesmal in ihrer Heimatstadt. Eine gewisse Entfremdung ist nicht zu übersehen. Trotzdem werden Zukunftspläne geschmiedet. Jeder für sich. Die junge Frau, nennen wir sie Theres, will Lehrerin werden. Griechisch und Latein.

„Der traumhafte Weg“, der neue Film von Angela Schanelec, ist angelegt wie ein schwebendes Mobile aus Einzeleinstellungen, die ein genaueres Hinsehen erfordern, wenn man der/die Geschichte(n), die sie (auch) erzählen, auf die Spur kommen will. Vertrauend auf die Neugier und die Phantasiebegabung des Zuschauers belastet die Filmemacherin ihre Figuren nicht mit Geschichte oder psychologischen Profilen, sondern nimmt stattdessen die Körper und die Textur ihrer Kleidung als Medien. Hier wird buchstäblich über Schuhe und Pullover erzählt. Hatten die Filmemacherin und ihr beständiger Kameramann Reinhold Vorschneider in früheren Filmen ihren Einfluss auf die Figuren/Darsteller durch lange Plansequenzen beschränkt, so inszenieren sie in „Der traumhafte Weg“ durch Ausschnitte und Einstellungen, deren Manier an Robert Bresson („Das Geld“; F 1983), Jean-Luc Godard („Nouvelle Vague“; F 1990) oder Jean-Marie Straub und Danièle Huillet („Klassenverhältnisse“; D 1984) erinnert – und durchaus von einem spezifischen Humor oder einer Freude am vermittelten Erzählen zeugt.

Der Film folgt den Geschichten des Paares, das sich aus den Augen verloren hat. Da ist die Geschichte von Kenneth, der mit seinem Schicksal hadert, Junkie wird, gemeinsam mit dem fast blinden Vater die im Koma liegende Mutter erlöst, als gerade die Ostdeutschen den Reiz österreichisch-ungarischer Grenzgebiete entdecken. Da ist die Geschichte von Theres, die ein Kind bekommt, studiert und schließlich mit dem Kind nach Berlin zieht. In Berlin, dem Berlin der Gegenwart, kommt eine weitere Geschichte vom Ende einer Beziehung hinzu: Eine Schauspielerin versucht sich von einem Anthropologen zu trennen, mit dem sie eine Tochter hat. Auch hier wirkt manches auf den ersten Blick mysteriös, fragmentarisch und isoliert, aber, wenn man die Puzzleteilchen an Informationen zusammenlegt, wird auch hier deutlich, wie präzise der Erzählfluss des Films, wie durchdacht und sinnig jedes Detail in Szene gesetzt ist. „Der traumhafte Weg“ – der Filmtitel bezeichnet ziemlich präzise das Erzählverfahren und seine Freiheit(en) – fungiert dabei durchaus auch als Intervention gegenüber dem konventionellen und überdeterminierten Fernsehspiel-Realismus, wie er hierzulande mittlerweile auch 80% der Kinofilme zu eigen ist, aber nicht im Sinne einer destruktiven und frustrierenden Hermetik, sondern eher als Geste freundlichen Entgegenkommens auf der Basis gegenseitigen Respekts.

Wenn die Geschichten, die in „Der traumhafte Weg“ vorgestellt werden, auf der Zielgeraden – nach mehr als 30 Jahren! – dann enggeführt werden, ist es das Privileg des aufmerksamen Beobachters die Spannung dieser Engführung zu genießen. Den Figuren bleibt sie verborgen, weil sie nichts voneinander wissen. Am Ende: ein Verschwinden, ein Schuh auf dem Bahnsteig. Und der Film? Der hat sich wesentlich um einen Ort bekümmert, an dem die Engführung, die keine Begegnung ist, »plausibel« ist. Wenn Angela Schanelec davon spricht, dass sie schließlich auch die Zuschauerin ihres Films sei, dann sollte man das als Angebot verstehen, ihr ein wenig dabei in die Karten schauen zu dürfen, wie sie selbst sich eigene Fragen beantwortet und dafür ungewöhnliche künstlerische Lösungen findet. Ausgangspunkte von „Der traumhafte Weg“ waren vielleicht die Begegnung mit Obdachlosen im Alltag und die Fragen nach deren Geschichten, ergänzt vielleicht durch eine Lektüre von „Traurige Tropen“ von Levi-Strauss, die Begegnung mit Thorbjörn Björnsson und die Lust, einmal mehr mit Maren Eggert zu drehen. Was daraus wurde? Ein Kinofilm im emphatischen Sinne und eine Einladung, sich auf das Abenteuer des Sehens und des Nachdenkens einzulassen.

Hier gibt es einen weiteren Text zu ‚Der traumhafte Weg‘.

Eine fantastische Frau

(CH/D/USA/ESP 2017, Regie: Sebastián Lelio)

Im Fluss der Trauer
von Wolfgang Nierlin

Orlando Onetto (Francisco Reyes) ist ein kultivierter, ausgeglichen wirkender Mann Mitte sechzig, der zu Beginn der Films eine Sauna besucht. Entspannt und nachdenklich liegt er ausgestreckt auf der Massagebank. Dabei …

Orlando Onetto (Francisco Reyes) ist ein kultivierter, ausgeglichen wirkender Mann Mitte sechzig, der zu Beginn der Films eine Sauna besucht. Entspannt und nachdenklich liegt er ausgestreckt auf der Massagebank. Dabei sieht er aus wie ein Toter. Später am Abend trifft er in einem Nachtclub von Santiago de Chile die Sängerin Marina Vidal (Daniela Vega), die vierzig Jahre jünger ist als er und die gerade singt: „Deine Liebe ist wie eine Zeitung von gestern“. Der von seiner Familie getrennt lebende Orlando und die als Kellnerin arbeitende Marina sind auf selbstverständliche Weise ein Paar. Der Ältere begegnet der Jüngeren, die an diesem Tag Geburtstag feiert, mit sanfter Aufmerksamkeit. Die beiden lieben sich. Als später in der Nacht Orlando über starkes Unwohlsein klagt, kurz darauf infolge eines Treppensturzes das Bewusstsein verliert und auf dem Weg ins Krankenhaus plötzlich stirbt, ist das ein Schock, der lange nachwirkt.

Überwältigt von Schmerz und Trauer muss sich Marina trotzdem einer peinigenden, polizeilichen Befragung unterziehen. Denn der behandelnde Arzt und die herbeigerufene Polizei begegnen ihr mit Misstrauen und Vorurteilen. Marina, deren amtlicher Vorname Daniel lautet, besitzt nämlich eine schillernde, zwischen den Geschlechtern oszillierende transsexuelle Identität, die starker Diskriminierung ausgesetzt ist. Sebastián Lelio vermittelt das in seinem bei der Berlinale gleich mehrfach (Silberner Bär, Teddy Award) ausgezeichneten Film „Eine fantastische Frau“ indirekt über die deutlichen Vorbehalte und abschätzigen Reaktionen von Marinas Gegenspielern. Von Orlandos Ex-Frau wird sie etwa als „Schimäre“ bezeichnet: „Wenn ich dich ansehe, weiß ich nicht, was sich sehe.“ Marina ist eine Ausgestoßene, die überall auf Ablehnung trifft und durch ihr Anderssein zur Projektionsfläche für die Aggressionen der anderen wird.

Marina geht still leidend, aber mutig gegen den Wind, was Sebastián Lelio in seinem magisch zwischen Erinnerungen und Visionen changierenden Film bildlich nimmt. Sein visuell eindrucksvoll gestaltetes Werk, von dem der chilenische Regisseur sagt, es besitze eine „multiple Identität“, entfaltet Marinas Kampf gegen Vorurteile und für das Recht, in Würde trauern zu dürfen, nämlich vor allem in atmosphärischen Stimmungen und faszinierenden Bildern. Lelio zeigt eine Frau, die durch ihren unbeugsamen Widerstand Stärke gewinnt und dabei einen Weg findet, sich gegen alle Anfeindungen in einem Prozess der Trauer von Orlando zu verabschieden. „Alles fließt“, könnte man mit Heraklit angesichts der von Sebastián Lelio in seinem bewegenden Film etablierten Wassermetaphorik sagen, die in Fontänen, Dampfbädern und den beeindruckenden Wasserfällen von Iguazú ihren Ausdruck findet. Und sich schließlich kongenial mit dem Song „Time“ des Alan Parson Project verbindet: „But time keeps flowing like a river to the sea“.

blutiger freitag

Blutiger Freitag

(BRD/IT 1972, Regie: Rolf Olsen)

Ausbruch aus der BRD-Hölle? Nicht mit Rolf Olsen!
von Nicolai Bühnemann

Das Regie-Werk Rolf Olsens beginnt mit einer sehr bezeichnenden Texttafel, auf der steht: „Alle Gerüchte wonach dieses Filmwerk mehrfach preisgekrönt wurde, weisen wir empört zurück“. Der augenzwinkernde Mittelfinger in Richtung …

Das Regie-Werk Rolf Olsens beginnt mit einer sehr bezeichnenden Texttafel, auf der steht: „Alle Gerüchte wonach dieses Filmwerk mehrfach preisgekrönt wurde, weisen wir empört zurück“. Der augenzwinkernde Mittelfinger in Richtung festival circuit, Qualitätskino und des guten Geschmacks mag nicht nur exemplarisch stehen für den Film, der ihm folgt, die Cross-Dressing-Schlagerklamotte „Unsere tollen Tanten“ (1961), in der denn auch Dialogzeilen aufgesagt werden dürfen wie: „Edeltraud, Sie haben Ansichten wie ein Filmkritiker“, sondern für das Kinoverständnis des Schauspielers, Drehbuchautors und Regisseurs Rolf Olsen. Zwischen 1961 und 1990 hat Olsen, der seine Drehbücher in der Regel selbst schrieb, bei 33 Spielfilmen und einer Fernsehserie Regie geführt. Darunter sind Schlagerfilme, Krimis, Komödien, ein Western und in seinem Spätwerk mit den beiden „Shocking Asia“-Filmen und anderen der seltene bundesrepublikanische Ausflug in die Gefilde des Mondo-Films. Nach Olsens Auffassung ist das Kino durch und durch populär, ist Unterhaltung, pulp, Exploitation, Kolportage, kurz: alles, was den Verfechtern des Kinos als einer „seriösen“ Kunst ein Dorn im Auge ist.

Was ihn dabei von anderen „Schundfilmern“ unterscheidet, ist nicht so sehr eine ausgefeilte Autorenhandschrift als vielmehr die Dringlichkeit, mit der er seine Szenarien (oder zumindest einzelne Szenen) ernst nimmt und, mit tatkräftiger Unterstützung der großartigen Kamera von Franz X. Lederle, immer wieder inszeniert, als ob es kein Morgen gäbe. Zwei Beispiele: In „Der Arzt von St. Pauli“ (1968) bekommt die gute, von Curd Jürgens gespielte Titelfigur als Antagonisten den eigenen Bruder gegenübergestellt, der ebenfalls Arzt ist, in diesem Fall ein in allerlei kriminelle Machenschaften verstrickter Gynäkologe. Biblische Gravitas legt sich über St. Pauli und den Groschenromanplot. Wenn Jürgens hier in einer Szene, die mit dem gnadenlosen Ticken einer Wanduhr unterlegt ist, um das Leben eines Kindes kämpft, ist das lupenreine Suspense, wie man sie selten in solcher Intensität erlebt. In „Käpt’n Rauhbein aus St. Pauli“ (1971) wird ein Unfall, bei dem der wiederum von Jürgens gespielte Protagonist seine Frau aus Versehen ein Treppenhaus hinunter und in den Tod stürzt, ebenfalls mit beträchtlichem Können und ausufernder Dramatik gefilmt. Ganz so, als wüssten die Beteiligten nicht, dass der Film, der auf diese Szene folgt, ziemlicher (wenn auch verdammt spaßiger) Unfug ist, der sich um die derartige Traumatisierung seiner Hauptfigur nicht im Geringsten schert.

Ich habe bislang nur eine Handvoll Olsen-Filme gesehen, zumeist Krimis, aber glaube dennoch sagen zu können, dass sein Kino mit „Blutiger Freitag“ eine Art Apotheose erreicht. Einerseits, weil Olsens unbestreitbares inszenatorisches Talent hier ganz im Dienst einer Erzählung steht. Andererseits, weil das Populäre, für das der Filmemacher steht, hier auf einmal eine so große gesellschaftliche Relevanz entwickelt, wie sie auch dem „Kunstkino“ nur in den besten Momenten eigen ist. Philipp Stiasny und Thomas Groh schreiben in ihrem Artikel zum Film: „Fassbinders langjähriges Projekt, die Problematisierung dessen, ob und wie man in diesem Land leben kann, gesellt sich hier ein unerwarteter Bündnispartner aus der krachledernen Kolportage zur Seite.“

Der Film beginnt wiederum mit einer Texttafel: „Die hier gezeigten Ereignisse beruhen auf ähnlichen Begebenheiten der jüngsten Zeit. Aus naheliegenden Gründen wurden Fakten und Namen geändert. Mit der Wesentlichkeit gewisser Realitäten hat dies nichts zu tun.“ Zunächst einmal wollen diese Worte natürlich möglichst reißerisch einen Bezug des Films zu den Banküberfällen mit Geiselnahme herstellen, die in den frühen 1970er Jahren die Bundesrepublik erschütterten, namentlich dem in der Münchener Prinzregentengasse am 4. August 1971, aber auch zu den Verbrechen der RAF.

Dann hat es aber mit den „gewissen Realitäten“ auch noch eine andere Bewandtnis, weil der Film von 1972 wie kaum ein anderer ein Gesellschaftspanorama und Stimmungsbild der BRD seiner Zeit liefert. Welche Hoffnungen auf eine bessere Welt es in den späten Sechzigern auch immer gegeben haben mag, in den frühen Siebzigern, wie sie „Blutiger Freitag“ porträtiert, sind sie längst verflogen. Wir befinden uns in einem Land, das förmlich zerrissen ist zwischen erdrückend spießiger Kleinbürgerlichkeit und dem (in letzter Instanz reichlich fehlgeleiteten) Aufbegehren gegen sie, zwischen alten Nazis und jungen Wilden, zwischen der Entfremdung in kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnissen und der ungezügelten Gewalt, die hier als letzte Alternative zu ihr erscheint.

Wie so oft ist es gerade die Exploitation, die in der hemmungslosen Überzeichnung ihrer Szenarien der Wirklichkeit näher kommt als der Autorenfilm im ursprünglichen Sinn des Wortes, das so genannte „Qualitätskino“. So wie es fünfzehn Jahre später eine so zynische, brutale und obszöne Satire wie „Robocop“ brauchte, um den Zynismus, die Brutalität und die Obszönität des Neoliberalismus gebührend zur Kenntlichkeit zu entstellen, so braucht es die am zeitgenössischen italienischen Genrekino geschulte Härte (es verwundert keineswegs, dass es sich hier um eine italienische Koproduktion handelt), die Kompromisslosigkeit und Rohheit eines „Blutiger Freitag“, um der Ausweglosigkeit der Situation vieler junger Menschen im West-Deutschland der frühen Siebziger gerecht zu werden.

Hauptdarsteller Raimund Harmstorf wurde ein Jahr zuvor durch seine Darstellung der Titelfigur in dem TV-Vierteiler „Der Seewolf“ nach Jack London bekannt, bei dem übrigens Wolfgang Staudte die Regie übernahm, der eine weitere Größe des bundesrepublikanischen Kinos (nicht nur, aber auch des Genrekinos) war, die es wiederzuentdecken gilt. Schon dort gab er mit seinem hünenhaften Äußeren einen gebrochenen Bösewicht, der absolut larger than life war. Hier also spielt er Heinz Klett, den muskelbepackten Rotschopf mit Vollbart und dem im Mundwinkel klemmenden dünnen Zigarillo, den markigen Macho, der seine Sonnenbrille auch nachts nicht absetzt und dessen schwarze Lederhose im Schritt imposant ausgebeult wird. Den Gewaltproleten mit der Maschinenpistole. Den Mörder und Vergewaltiger. Das Schicksal des Darstellers nahm einen ähnlich tragischen Lauf wie das seiner großen Figuren. An Parkinson erkrankt, führte seine ausufernde Selbstmedikation zu Depressionen, wegen derer er auch stationär behandelt werden musste. Als die Bild-Zeitung dann titelte: „Harmstorf in der Klapsmühle“ hängte sich der damals 58-jährige 1998 auf. In einer besseren Welt wäre Klett (mindestens in Deutschland) eine zur popkulturellen Allgemeinbildung gehörende Kultfigur, eine Ikone des Bösen wie Darth Vader oder Travis Bickle. So ist er nur ausgesuchten Aficionados des deutschen Genrekinos vergangener Dekaden überhaupt ein Begriff.

Seine Mitstreiter bei dem vermeintlichen großen Coup sind sehr heterogen. Sie eint aber, dass ihnen dieses gottverdammte Land zu einem riesigen Gefängnis geworden ist. Da nimmt es wenig wunder, dass der Film mit einem Ausbruch beginnt. Mithilfe zweier Komplizen flieht Klett zu Beginn auf dem Weg zu seiner Gerichtsverhandlung wegen kleinerer Delikte aus dem Gerichtsgebäude. Die beiden Polizisten, die ihn bewachten, bekommen gehörig auf die Fresse. Klett ist wieder frei, sein Kompagnon Stevo wird bei der Aktion erwischt. Um Klett scharen sich der italienische „Gastarbeiter“ Luigi (Gianni Macchia), der in seinem Job und darüber hinaus immer wieder mit dem schwelenden Rassismus der Gesellschaft konfrontiert wird. Am deutlichsten wohl in einer Szene, in der ihn ein fetter reicher Unsympath als Kunde der Tankstelle, an der er arbeitet, wüst verbal traktiert und zum Abschied als „Arschloch“ beschimpft (gespielt wird dieser von Rolf Olsen, der sich mit seinem Cameo selbst lustvoll in das Establishment einschreibt, das der Film so vernichtend zeichnet). Luigis Freundin Heidi (Christine Böhm) verzweifelt an ihrer Arbeit in einem Großraumbüro ebenso wie an den kleinbürgerlichen Vorstellungen vom Glück als Mischung aus Familie und Konsum, die ihr ihre Kolleginnen vorleben. Schließlich ist da ihr Bruder Christian (Amadeus August), der aufgrund ewiger Schikanen durch seine Vorgesetzten von der Bundeswehr desertiert ist.

Sie alle überfallen also eine Bank in München mit der festen Überzeugung, dass es nur der richtigen Planung bedarf, um nicht in die gleiche Falle zu tappen wie ihre realen Vorbilder. Zwar scheint es das Glück zunächst gut mit ihnen zu meinen, wenn sich unter ihren Geiseln auch die Tochter (Gila von Weitershausen) eines steinreichen Kaufhausbesitzers findet, doch bald gibt es erste Tote, gerät die Lage immer mehr außer Kontrolle, was sicherlich nicht zuletzt am steigenden Alkoholpegel Kletts liegt.

Es passt zur düster pessimistischen Weltsicht des Films, dass es keinen Silberstreif am Horizont gibt. Groh und Stiasny schreiben: „Selten hat ein deutscher Unterhaltungsfilm so mit Sympathiepotenzialen gegeizt.“ Auch für die Zuschauenden gibt es in dieser Welt längst keine Möglichkeit der (positiven) Identifikation mehr. Der Film lässt die Gegensätze aufeinanderprallen im Konflikt zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen, zwischen verschiedenen Weltbildern. Am drastischsten wohl in der in dokumentarischem Duktus gefilmten Szene vor der Bank, bei der ein Fernsehteam die Schaulustigen auf der Straße interviewt, wobei ein unüberwindbarer Abgrund aufklafft zwischen den Älteren, die hartes Durchgreifen und die Todesstrafe fordern, und den Jüngeren, meist Bärtigen, die die Ursachen des Verbrechens in den gesellschaftlichen Zu- und Missständen suchen. So ätzend wie der Film das kleingeistige, verschlossene, von alter Naziideologie durchtränkte, fremdenfeindliche Establishment auch zeichnet, macht er doch keine Hoffnung darauf, dass mit den jungen Verzweifelten, die Marx in den immergleichen klassenkämpferischen Phrasen von sozialer Ungerechtigkeit vulgarisieren, eine Revolution vor der Tür stehen würde oder auch nur möglich wäre.

Alle Vorstellungen von einer anderen besseren Welt der Rebellierenden bleiben denn auch denkbar unbeholfen und naiv. Wo soll die Beziehung von der schwangeren Heidi und Luigi, die wohl einfach nur ungestört zusammen sein wollen, hinführen, wenn nicht wieder in die Kleinbürgerlichkeit, der sie zuallererst entfliehen wollten? Und was sagt Kletts Fantasie von dem Geschäft mit Fleischkonserven im Ausland schon anderes als: „Ich will hier raus?“ Anstatt seine wirklich revolutionäre Agenda zu erschaffen, träumen die Antihelden von „Blutiger Freitag“ nur noch davon, die bestehenden Verhältnisse zu reproduzieren – natürlich mit sich selbst nunmehr auf der Gewinnerseite. Letztlich handelt es sich hier weder um einen linken noch um einen rechten, sondern um einen (nicht nur, aber eben auch politisch) nihilistischen Film, der vom gewaltsamen Zusammenhalt einer an allen Ecken erodierenden Ordnung erzählt. Die einzige Gewissheit, die den Figuren bleibt, lässt sich mit den Worten Jim Morrisons zusammenfassen: „No one here gets out alive“.

Das wirklich Großartige an „Blutiger Freitag“ ist allerdings, wie er es schafft, Gesellschaftsporträt und Genrefilm kurzzuschließen. Der Dreh an Originalschauplätzen mit der höchst mobilen, sich in ständiger Bewegung befindenden Kamera von Lederle unterstreicht einerseits die ungefilterte, rohe Authentizität des Gezeigten, andererseits bestimmt sie auch das atemberaubende Tempo und die Spannung des Films, die mit den Themen von Ausbruch und Flucht korreliert. Denkwürdig unter den immer recht blutig ausgewalzten Gewaltszenen bleibt wohl die Splattereinlage, in der sich ein Polizist auf eine Handgranate wirft, mit der zuvor ein kleiner Junge spielte, den er so mit dem Preis seines eigenen Lebens rettet (die wohl einzige wirklich heldenhafte Tat in diesem Film), und von dessen Oberkörper nur noch ein einziger Matsch aus Blut und Eingeweiden bleibt, der sich über die Straße ergießt. In dieser Szene und einer Montagesequenz bei einer Vergewaltigung gegen Ende, die den brutalen Akt mit Bildern von in einer Metzgerei zerhackten Tierkadavern und einem lesbischen Stelldichein kurzschließen, das (nur in der nun erstmals auf DVD und Blu-ray vorliegenden Langfassung) explizite Aufnahmen von weiblichen primären Geschlechtsorganen liefert, lässt Olsen alle Hemmungen fallen, überantwortet sich ganz dem Exzess und zitiert damit nicht nur die Deliranz italienischer Vorbilder, sondern schafft es sogar noch, diese zu überbieten.

Schon die Breite des DVD/Blu-ray-Digipacks aus dem Hause Subkultur Entertainment zeigt, dass wir es bei ihrer Veröffentlichung des Films buchstäblich mit einem ganz dicken Ding zu tun haben. Als Extras gibt es zwei Audiokommentare, einen von den Filmgelehrten Christian Keßler und Pelle Felsch, den anderen von Daniela Giordano und Giacomo de Nicolò, die zweistündige (!) Dokumentation „Der kalte Tag“, für die, wie bei diesem Label üblich, Sadi Kantürk verantwortlich zeichnete, der sich ausgiebig und informativ mit den Beteiligten unterhält, die noch am Leben sind. Abgerundet wird das Paket durch Trailer, eine Bildergalerie und das Booklet mit dem oben bereits zitierten Text von Thomas Groh und Philipp Stiasny. Diese Edition war nicht nur überfällig, weil der Film bislang nur auf fürchterlichen Grabbeltisch-DVDs erhältlich war und die erhaltenen 35-mm-Kopien wie so viele aus dieser Zeit extrem rotstichig sind. Das Label hat auch nicht die Mühe gescheut, eine Langfassung des Films anzufertigen, die der Version entspricht, die ursprünglich vorgesehen war, aber fürs Kino an einigen Stellen zensiert werden musste. Die Langfassung ist nicht nur wegen der Lesbenpornoszene der Kinofassung klar vorzuziehen. Weil Subkultur aber nun mal Subkultur ist, hat das Publikum die Wahl: auf den vier Discs, zwei DVDs, zwei Blu-Rays, befinden sich beide Versionen und noch eine italienische Variante des Films. Ein abgespeckte Single-Disc-Version für den kleineren Geldbeutel gibt es übrigens auch noch. So soll es sein.

chance 2000

Chance 2000 – Abschied von Deutschland

(D 2017, Regie: Kathrin Krottenthaler, Frieder Schlaich)

Fracking für Kultur
von Andreas Thomas

Wer sich dieser Tage mal die documenta 14 anschaut, wird vielleicht bemerken, dass es ihr an zwei Dingen mangelt: an Ironie bzw. Humor und an Provokation im kreativen Sinne. Mittlerweile …

Wer sich dieser Tage mal die documenta 14 anschaut, wird vielleicht bemerken, dass es ihr an zwei Dingen mangelt: an Ironie bzw. Humor und an Provokation im kreativen Sinne. Mittlerweile 20 Jahre ist es her, als Christoph Schlingensief und sein Mitarbeiter Bernhard Schütz es schafften, für die Kunstperformance „48 Stunden Überleben für Deutschland“ auf der documenta 10 polizeilich abgeführt und kurzzeitig festgenommen zu werden. Heute ist dergleichen auf der documenta undenkbar, auf der bierernst und über jeden inneren Diskurs erhaben, ausgestellt und angeprangert wird, in welch unerträglichem Zustand unsere Welt sich befindet – mit Recht einerseits und eben auch leblos, weil eine nur leicht getönte Kopie von was auch immer eben wenig Kunst ist und selten neues hervorzubringen vermag. Man hat den Eindruck, dass die documenta lediglich das moralisch angezeigte schlechte Gewissen streicheln und hegen soll, aber verändern, bewegen, anstoßen, aktivieren, ins Herz der Besucher zu gehen, das scheint sie nur in Ansätzen zu wollen oder wenigstens zu schaffen.

Schlingensief hat es damals vorgemacht, wie man Dinge bewegt und gleichzeitig gezeigt, was Kunst sein und tun kann. Er griff damals auf, was Joseph Beuys als „Soziale Plastik“ entworfen und entwickelt hatte. Was bei Beuys noch ein eher positiver und kulturell und politisch gestalterisch und basisdemokratischer Ansatz war, wurde bei Schlingensief zu einem Fracking für kulturelle Blähungen. Er setzte Sprengsätze an, übte Druck auf gesellschaftlich neuralgische Punkte aus, und fand immer wieder, in seinem integrativen Charisma vergleichbar mit Fassbinder, Anhänger, Ausführende dieser Sozialen Plastiken. Soziale Skulpturen, die immer auch in Gestalt von seinen Filmen, Theaterstücken, Talkshows oder eben Kunstaktionen entstanden, mit Schlingensief als crazy agent, die Dynamiken der Gruppe(n) und der Individuen aktivierend und provozierend.

Auch die sich über anderthalb Jahre erstreckende Kreation der Partei „Chance 2000“ mit ihrem programmatischen Motto „Scheitern als Chance“ gehört zu den großen Sozialen Plastiken Schlingensiefs. Ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl 1998 registriert Schlingensief die „Stimmung im Lande“ angesichts der 16 Jahre währenden Amtszeit des Bundeskanzlers Helmut Kohl, eine Art Übersättigung, einen Stillstand, gepaart mit dem Gefühl, keinen Einfluss auf die Politik mehr zu haben, und modelliert, triggert daraus einen der wenigen politisch-künstlerischen Aufreger dieser Jahre, in denen es noch keinen IS gab, in denen Selbstmordattentate noch etwas Makaber-Exotisches waren, eine Zeit, in der das Skandalöseste, was ein US-Präsident tun konnte, war, sich oral von einer Praktikantin befriedigen zu lassen. Es war eine verhältnismäßig friedliche Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges, aber auch eine Zeit, in der man realisierte, dass der Traum einer sozial gerechteren Welt schier ausgeträumt war, denn es gab ja keine „real existierenden“ Modelle dafür mehr, es gab nur noch funktionierenden und enthemmten Kapitalismus, der mehr und mehr zu einer rücksichtslosen Globalisierung mutierte, ausgebeutete Arbeitskräfte in den Billiglohnländern, Arbeitslose in den traditionellen Industrienationen. Auch hier setzte „Chance 2000“ thematisch an. Wenn, in typisch schlingensiefscher Manier, anstatt von etwa damals 4 Millionen Arbeitslosen von 6 Millionen Arbeitslosen die Rede ist, „sechs Millionen Unsichtbaren“, die wieder „lebendig werden müssen“, dann liest Schlingensief deutsche Geschichte quer und konnotiert den Mord an 6 Millionen Juden mit den in „Vergessenheit geratenen“ 4 Millionen Arbeitslosen in Deutschland. Ein gewagter und politisch ziemlich inkorrekter Vergleich, an den eine Kunstaktion der documenta 2017 erinnert, wo die europäische Ignoranz des Sterbens tausender Bootsflüchtlinge im Mittelmeer mit dem Wort „Auschwitz on the Beach“ charakterisiert wird. Beide Vergleiche brechen Tabus, Schlingensiefs etwas verstecktere Konnotation noch weit unverschämter als der Gedankengang, das „Salzwasser des Mittelmeers sei das neue Zyklon B“. Beides will aber nicht den Holocaust verharmlosen und verniedlichen, sondern provozieren und zu bedenken geben, welche politischen Bedingungen und Haltungen generell Tendenzen zur Unmenschlichkeit begünstigen.

Natürlich muss man die Gleichsetzung der Arbeitslosen 1998 mit den ermordeten Juden bei Schlingensief in einem völlig anderen Kontext verstehen. Bei Schlingensief geht es um Verdrängung, Ignoranz, ums Totschweigen als etwas dem Töten Verwandtes, deutsche „Tugenden“ also, die typisch deutsche Pathologien charakterisieren und wieder neue Pathologien produzieren. Der Gesamtrezipient Schlingensief stürzt sich auf und in diese Pathologien und bringt sie zum Schwingen und Vibrieren, indem er gleichermaßen diffus und agitatorisch durch Fernsehtalkshows tingelt, auf unzähligen Parteiveranstaltungen wirkt wie ein Rudi Dutschke, quasi ein neuer Messias – und dabei sinngemäß skizziert, dass er keine Antwort habe und dass eben das seine Antwort sei. So sieht ihn Deutschland bei Polit-Talkerin Sabine Christiansen in Gegenwart von Bernhard Brink proklamieren: „Wir sind die Partei, wir sind der Bodensatz“, bei Alfred Biolek (ein Förderer der ersten Stunde) in Gegenwart von Hannelore Elsner und Hella von Sinnen: „Aus ‚Tötet Helmut Kohl‘ ist ‚Helft Helmut Kohl‘ geworden.“ Schlingensief redet vom „Scheitern als Chance“ proklamiert Verstörendes wie „ Wähle dich selbst, töte dich selbst!“, Erkenntnisse wie „Alle Minderheiten zusammen sind die Mehrheit!“, „Wir wollen nur wieder merken, dass wir was gemacht haben“. Mit gekonnten, eingängigen Slogans solcher Art (je widersprüchlicher, desto faszinierender) jongliert er mit den Ängsten und Hoffnungen und schließlich unbewussten Schichten seiner Anhänger und Parteimitglieder, dabei jeder/m ihren/seinen ganz individuellen Entfaltungsraum gebend, ja geradezu ihn einfordernd. „Chance 2000“ ist wie ein schnell wachsendes Bäumchen, dessen Wurzel Schlingensief ist, dessen Nahrung aber die Individuen seiner MitmacherInnen sind. Mit dabei: Dietrich Kuhlbrodt in seiner Eigenschaft als Ex-Oberstaatsanwalt, Carl Hegemann, Tom Tykwer, Harald Schmidt als Vereinsgründungsmitglied und viele Schauspieler, Behinderte und Artisten.

Die spektakulärste Aktion von „Chance 2000“: Mit möglichst vielen (es waren vielleicht maximal 100 Leute) der „6 Millionen Arbeitslosen“ den Urlaubsort von Helmut Kohl besuchen, gemeinsam baden gehen und dadurch den Pegel des Wolfgangsees so weit ansteigen lassen, bis der Ferienbungalow des Kanzlers unter Wasser steht. Auch hier ist die Idee das Revolutionäre, nämlich die Vorstellung, dass das die „Unsichtbaren“ sichtbar und spürbar werden könnten, real werden könnten. Rein physikalisch, erzählt Schlingensief nebenbei, hätten 6 Millionen Körper den Pegel des Wolfgangsees lediglich um 2-3 Zentimeter angehoben. Aber hier geht es um die Welt als Vorstellung, um gefühlte Utopie und nicht nur um Kunst, die dann eben keine Wirkung mehr hat, wenn man sie als solche bezeichnet.

Das Schlingensief-Feeling fehlt uns heutzutage, und es scheint keiner in Sicht zu sein, der da anknüpft, wo er, der Getriebene, mit 49 Jahren vor heute, 2017, sieben Jahren aufgehört hatte. Die Dokumentation „Chance 2000“ von Frieder Schlaich und Kathrin Krottenthaler ist ein posthum aus 90 Stunden vorhandenem Filmmaterial zusammengestellter, unkommentierter Rückblick von heute auf ein Gestern, in dem die Welt noch so beruhigend langweilig war, dass man dankbar für jeden Wirbel war. Ein Rückblick, der trotz aller inhaltlichen Vitalität des gezeigten Aktionismus, wie ein Blick in eine entfernte Welt schaut, der man nachtrauern kann, aber die unwiederholbar zu sein scheint. Das Feuer von Schlingensiefs Spektakeln, das einen in Filmen wie etwa Paul Poets „Ausländer Raus!“ heute immer noch direkt anspringt, geht dieser sorgfältigen Chronologie der Ereignisse manchmal ein wenig ab. Gucken Sie sie trotzdem an, denn es brennt darin immer noch heiß genug!

„Es geht mir um den Abbau von Sicherheiten!“

( , Regie: )

„Es geht mir um den Abbau von Sicherheiten!“
von Ulrich Kriest

Ein Gespräch mit Helene Hegemann über „Axolotl Overkill“, faule Rezeption, Humor als Mittel der Irritation und die Tendenz, Kinozuschauern mal wieder die übliche Kaffeefahrt zu ersparen und dafür mit Abenteuern …

Ein Gespräch mit Helene Hegemann über „Axolotl Overkill“, faule Rezeption, Humor als Mittel der Irritation und die Tendenz, Kinozuschauern mal wieder die übliche Kaffeefahrt zu ersparen und dafür mit Abenteuern zu konfrontieren.

Ulrich Kriest: In ihrem Statement zum Film, abgedruckt im Presseheft, sprechen sie explizit von einer „faulen Rezeption“ ihres Romans „Axolotl Roadkill“ seinerzeit und von ihrem Eindruck, dass diese sich bei einer anstehenden Verfilmung wiederholen könnte. Was meinen sie damit? Den Skandal?
Helene Hegemann: Nein, den Skandal würde jetzt mal ausklammern. Ich beschreibe damit meine Wahrnehmung der Rezeption davor: die Kette von euphorischen Lobhudeleien, die in mir Panik und auch Unwohlsein auslöste, weil der Text so schnell eingeordnet wurde als Dokument einer exzessiven Jugend in Clubs mit Drogen, Sex und Ausgehen. Vielleicht war ich auch blöd, weil ich den Text so, als Upgrade von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ nämlich, nie verstanden habe. Dieses Missverständnis drohte sich bei der Verfilmung tendenziell zu wiederholen. Ich sah im Kopf schon so ein knalliges Musikvideo »entstehen«, in dem sich eine arme 16jährige wahllos verschwendet.

Wie hatten sie denn ihren Text verstanden?
Für mich ist es die Geschichte eines Menschen, der jenseits der Standards funktioniert.

Sie sprechen jetzt aber von Fehl-Lektüren, was ja durchaus diskutierbar ist. Aber „faule Rezeption“ beschreibt für mich etwas, was in der Filmkritik, aber auch im Kulturbetrieb allgemein eine Tendenz ist. Es hat etwas mit dem Selbstverständnis der Kritik zu tun, mit dem Berufsethos. Kultur, die Arbeit einfordert, wird aus der Perspektive des Mainstreams verworfen. Es gibt Kritiker, die den Begriff „Kunst“ pejorativ gebrauchen.
Ganz genau! Und das ist dann tatsächlich Faulheit, die um sich greift, keine Arroganz. Ich beobachte das etwas irritiert. Ich erlebe das auch bei den ersten kritischen Reaktionen auf „Axolotl Overkill“. Da ist von Fehlern die Rede, wenn es sich um Referenzen an Filme der 1970er Jahre handelt. Da werden Szenen nicht in Beziehung zum aktuellen Mainstream gesetzt. Da wird schon gar nicht recherchiert. Lieber eine Meinung als ein Gedanke! Das war damals bei dem Buch zwar teilweise auch schon so, aber die Tendenz hat sich verstärkt. Da haben Leute den Film gesehen und schreiben Ankündigungen, in denen von Heroin und Techno die Rede ist, was ja de facto im Film nicht vorkommt. Seltsam! Wahrscheinlich ist die Bezahlung zu schlecht, um sich ernsthaft mit etwas auseinanderzusetzen.

Nun handelt es sich ja um eine Flaschenpost aus dem Jahre 2010…
Das Buch wurde 2010 publiziert, geschrieben habe ich es 2008 und 2009.

Ich war 2008 bei den Filmtagen in Hof, als ihr Filmdebüt „Torpedo“ zum Festival-Hit wurde. Ich habe seinerzeit den Film besonders dafür gelobt, dass er mit dem Vorurteil aufräume, dass zwar Erwachsene Kinder- und Jugendfilme drehen können, aber Jugendliche keine Erwachsenenfilme.
(lacht) Sehr schön.

„Axolotl Roadkill“ war in diesem Sinne auch gerade kein Jugendbuch und schon gar kein Generationenroman.
Genau das wurde dann daraus gemacht. Obwohl es noch nicht mal von der Generation handelt, zu der ich – vom Alter her – gehöre. Es gibt ja keine Teenager im Buch. Im Film übrigens auch nicht. Und Mifti ist ja nun wirklich alles andere als repräsentativ für die Jugend. (lacht)

Mifti ist erwachsener als die Erwachsenen, denen sie begegnet. Im Film ganz groß und sensationell: die Familienszene, in der der Vater, gespielt von Bernhard Schütz, seinen fassungslosen Kindern, ganz cool und intellektuell sein Konzept vom Terrorismus als zeitgenössischer Karriere-Option darlegt. Terrorismus, mal als schöne Kunst betrachtet. Da wird ja ein spezifisches Milieu beschrieben und zugleich ist das umwerfend komisch.
Fand ich auch. Und auch inhaltlich interessant. Ein Milieu, in dem Terrorismus vielleicht nur noch ästhetisch betrachtet wird. Der Vater wird da ja auch als eine Figur charakterisiert, der man blutend auf dem Küchenboden dahinscheiden könnte – und sie würde auch darauf mit ästhetischen oder philosophischen Reflexionen reagieren. Die Szene ist durchaus charmant und auch politisch interessant, aber zugleich auch unheimlich hart. Weil der Vater darin geübt ist, die realen Schläge mit seinem Kunstbegriff zu neutralisieren. Es geht in der Szene ja auch um die Urnenbeisetzung der Mutter. Aber alles verwandelt sich hier durch eine Art von intellektuellem Geplauder in etwas Anderes.

Wie kam es jetzt konkret zur Wiedervorlage des Stoffes? Die Geschichte der Produktionsumstände liest sich im Presseheft etwas kompliziert.
Die Finanzierung war nicht ganz einfach. Drei, vier Jahre haben wir immer wieder vergeblich eingereicht, bevor es dann schließlich klappte. Und zwischendurch liegt so ein Projekt natürlich immer auf Eis, weil die Leute ihr Geld verdienen müssen. Und auch ich mein Geld verdienen muss. Das zog sich also relativ lange hin, aber auch nicht länger als jeder andere Film mit vergleichbarem Budget.

Stand zu befürchten, dass ein Anderer den Stoff verfilmen könnte?
Eine akute Bedrohung gab es nie, weil ich die Filmrechte einbehalten hatte. Als sich der Skandal um das Buch etwas gelegt hatte, habe ich die Chefs diverser Firmen kontaktiert. Da gab es ein paar unausgegorene Ideen. Die waren auch nicht richtig schlimm. Wenn es sehr gut gelaufen wäre, wäre daraus vielleicht so etwas wie „Feuchtgebiete“ von David Wnendt geworden. Aber das Risiko, dass es am Ende doch nur einer dieser Teenie-Filme wird, war mir zu groß. Als Bedrohung empfand ich mich phasenweise selbst, weil ich nicht so recht wusste, ob das Thema mir mittlerweile etwas zu ausgereizt ist.

Ist das Lesen in alten Tagebüchern nicht gerne schmerzhaft bis peinlich?
Es war ja in gewisser Weise das Lesen in alten Tagebüchern von jemand Anderem. Also eher fremdschämen. Daraus resultiert dann wieder der Ehrgeiz, was ganz Anderes daraus zu machen. Was gar nicht schlecht war. Ich frage mich manchmal, wie der Film geworden wäre, wenn wir den gleich hätten machen können. So mit dem Schwung vom Buch noch. Das wäre vielleicht etwas schmissiger geworden, wäre wilder gewesen und hätte wohl einen anderen Drive gehabt. Aber als Experiment ist es für mich interessanter, wie es jetzt gelaufen. Der Abstand von sechs Jahren gab mir die Möglichkeit, mich zu meinem jüngeren Ich zu verhalten und die anderen Perspektiven aufs Geschehen differenzierter zu gestalten. Ich musste den Stoff nicht mehr nur durch die Augen einer 16jährigen sehen und zu beurteilen. Es ist ja letztlich auch nicht viel übrig von „Axolotl Roadkill“ in „Axolotl Overkill“. Gut, die Struktur ist dieselbe, das Personal ist dasselbe. Aber sonst…

In der spektakulären Taxi-Szene wird die Differenz zwischen Roman und Film, zwischen den unterschiedlichen Erzählperspektiven besonders augenfällig. Wir bekommen jetzt in gewisser Hinsicht eine objektivierte Version des Geschehens geboten. Man sieht jetzt, worauf Mifti reagiert und dass sie reagiert.
Und dass sie anders reagiert, als man es erwarten würde, weil man das Buch gelesen hat. Im Buch verausgabt sie sich gedanklich geradezu, aber im Film sitzt sie ziemlich lässig auf der Rückbank herum.

Ihre Vorstellungskraft und Sprachmacht im Roman wirkt jetzt den Umständen unangemessen – und ihr Gestus lässt sie viel geerdeter erscheinen.
Genau! Man erwartet eine Figur, die von allen guten Geistern verlassen scheint, und bekommt eine zwar etwas exaltierte, aber doch vergleichsweise ganz normale Figur geboten.

Was ist mit dem Pinguin? Den habe ich im Buch nicht gefunden.
Den gibt’s da auch nicht. Das Pinguin-Material war ursprünglich geplant als Schnitt-Material für eine der Zwischenszenen, die zwischen Miftis Therapiesitzungen platziert werden sollten. Ich dachte mir: „Das ist übertrieben, das kostet zu viel. Lass uns den Pinguin rausstreichen!“ Der Produzent aber liebte die Idee und erinnerte daran, dass „Die Reise der Pinguine“ ja so ein Kassenschlager war.

Genau, den Pinguin in den Kino-Trailer packen und darauf hoffen, dass die Fans der „Reise“ sich dann davon auch zu „Axolotl Overkill“ locken lassen. Ein genialer, teuflischer Plan!
Und ich habe in die Hände geklatscht und gerufen: „Let´s go for it!“ Und dann ist Deutschlands einziger Film-Pinguin aus Baden-Württemberg angereist, und wir haben die Szene in der Wohnung gedreht. Das war dann viel zu schön, um es als lustigen Zwischen-Gag zu verschwenden. Relativ schnell haben Bettina Böhler, die den Film geschnitten hat, und ich gewusst, dass der Pinguin eine gewisse Traurigkeit auffangen muss. Und zwar relativ weit hinten, gegen Ende des Films, wenn Mifti von ihrer Familie verstoßen wurde oder sich von der Familie losgesagt hat. Da gefiel mir der Pinguin sehr gut, weil der so etwas Reelles bekommt, obwohl seine Anwesenheit dort ja absurd ist. Was für mich als Stimmungsbild echt und traurig wirkt.

Und eine stimmige Metapher für das, was in Buch und Film verhandelt wird, ist das Bild vom Pinguin im Altbau ja ohnehin. Reden wir also über Freiheit und ihr Gegenteil! Und machen etwas Namedropping! „Axolotl Overkill“ erzählt ja (auch) die Geschichte von Miftis »Auswilderung«, was mich darauf bringt, dass der erste Name bei der Danksagung im Roman eben Coco ist, womit unschwer zu erkennen Nicolette Krebitz gemeint ist. In deren Beitrag zum Omnibus-Film „Deutschland 09“ haben sie sich selbst in einer fiktiven Begegnung mit Susan Sontag und Ulrike Meinhof gespielt. In „Torpedo“ waren Caroline Peters, Jule Böwe, Alice Dwyer, Lars Eidinger und Matthias Matschke dabei. Im neuen Film sehen wir Laura Tonke, Mavie Hörbiger, Bernhard Schütz Nikolai Kinski und Christopher Roth. Auf Jasna Fritzi Bauer kommen wir noch ausführlich zu sprechen. Sie sind also bestens vernetzt in einer bestimmten Berliner Szene.
Ich habe wohl großes Glück, wenngleich es vernetzter aussieht, als es de facto ist. Klar kannte ich ein paar Leute, die wieder ein paar Leute kannten. Aber ich habe doch auch viele Rollen ganz konventionell gecastet.

Aber es ist ein bestimmtes Milieu, eine gewisse Vertrautheit im souveränen Umgang mit kulturellen Artefakten? Stichwort: Volksbühne.
Ich bin mit 14 nach Berlin gekommen, da war mein Vater schon nicht mehr an der Volksbühne, sondern hat schon in Leipzig gearbeitet. Ich habe mir das aber natürlich angeguckt. Wusste auch, dass Mavie am Burgtheater ist. Sagen wir es so: Ich bin da pubertär reingeraten.

Ersetzt das Reingeraten in ein solches Milieu eventuell auch ein Abitur?
(stöhnt) Hmmm. Ich glaube nicht, dass man ein Abitur so leicht ersetzen kann. Sich dem Milieu aussetzen, sich Stücke angucken und dann in der Kantine Schauspieler belauschen, das ist viel weniger produktiv, als man vermuten könnte. Man muss da schon reflexiv aktiv werden, und dafür braucht es einen extremen Impuls.

Aber man wird doch Zeugin eines bestimmten Habitus, sieht Bücher herumliegen oder Magazine, die nicht „Bunte“, „Frau im Spiegel“, „Kicker“ oder „Auto Motor Sport“ heißen. Leute, die andere Medien als das Fernsehen nutzen …
Das mit den Magazinen stimmt. Aber Fernsehen? Ich habe geglotzt, das glaubst du nicht! Meine Mutter hat mir Fernsehen erlaubt – und ich habe es ausgenutzt: 20 Stunden am Tag, mal Spongebob, mal Godard. Egal, alles toll! Ich glaube, dass mein Filmemachen mehr mit dem wirklich exzessiven Fernsehen zu tun hat als mit dem Theaterkontext.

Im Zusammenhang mit dem Krebitz-Beitrag zu „Deutschland 09“ las ich die Frage: „Wie lassen sich politische Überzeugungen auf das Leben anwenden?“ Hat diese Frage nicht auch etwas mit Mifti zu tun, wenn man den Begriff des Politischen etwas weiter fasst?
Ich sehe da schon Parallelen. In Nicolettes Film ging es schon um eine Art von weiblicher Selbstverwirklichung. Ich begegnete als Teenager der Nullerjahre diesen beiden Frauenfiguren, die am Set immer als Feministinnen gehandelt wurden, und sollte die wohl, ganz begriffen habe ich das damals nicht, auch etwas in Frage stellen. Nämlich, inwieweit deren Lebensentwürfe im Widerspruch stehen zu dem, was sie geschrieben haben. Was nun aber Jasna Fritzi Bauer auszeichnet, ist, dass sie etwas extrem Weibliches und etwas extrem Männliches hat. Nicht im Sinne des queeren Mädchens mit kurzen Haaren, wie es gerade »in« ist, sondern auf eigentümliche Weise gleichzeitig. Ohne, dass sich das vermischt. In „Deutschland 09“ gab es diesen Satz: „Hamlet hat Menschheitsprobleme und Medea hat Frauenprobleme“. Und ich wollte beim Dreh gerne hinzufügen: „Und ich habe einfach nur Probleme!“ Nicolette wollte das damals nicht, aber mir scheint diese Haltung in der Jetztzeit absolut plausibel, wenn man über Geschlechterverhältnisse nachdenkt. Und Mifti scheint diese Haltung sehr gelungen zu verkörpern. Es gibt in „Axolotl Overkill“ keine gestörten Geschlechterverhältnisse mehr, weil Mifti so ist, wie sie ist.

Zugespitzt gefragt: Brauchte Mifti also die Begegnung mit Jasna, um Mifti werden zu können?
Wir waren schon beide aufeinander angewiesen. Es war in der Figur angelegt, aber es gibt eben sehr viele, einander ähnelnde Schauspielerinnen, deren Look, deren Stimmen derart besetzt sind, dass sie Mifti nicht spielen können. Mifti kann nicht von einer Schauspielerin gespielt werden, die schon mal ein Vergewaltigungsopfer im „Tatort“ gespielt hat. Das klingt jetzt blöd. In anderen Ländern sind Teenager-Darstellerinnen viel diverser als in Deutschland. Jasna fällt da komplett heraus, aufgrund ihres Aussehens und aufgrund ihres Gestus, der mit den Widersprüchen ihres Aussehens zu tun hat. Insofern war unsere Begegnung ein echter Glücksfall.

Es gibt aktuell einen zarten Trend im deutschen Film zu beobachten, der sich abwendet vom konventionellen psychologischen „Tatort“-Realismus, der auf Surreales, Leerstellen und Unaufgelöstes setzt. Eine wichtige Rolle spielen dabei Improvisation und Humor. Ich denke an Filme wie „Love Steaks“, „Tiger Girl“, „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“, „Dazu den Satan Zwingen“. Oder auch an „Toni Erdmann“ oder „Die Blumen von gestern“. Weg vom 08/15-Fernsehspiel der Woche-Quatsch mit einer Dramaturgie, nach der man die Uhr stellen kann. Um Robert Bramkamp zu zitieren. Fügt sich ihr Film in diese Reihe?
Durchaus! Ich denke sowieso, die Verweigerung von Prime Time-Konventionen ist der Ehrgeiz von jedem, der Filme macht! Die meisten der genannten Filme kenne ich leider noch nicht oder nur Ausschnitte daraus. „Toni Erdmann“ schafft es, den Zuschauer immer wieder zu überraschen, ist aber gleichzeitig total durchdacht, extrem gut konstruiert und strukturiert, was man aber erst bemerkt, wenn den Film mehrfach sieht. In „Tiger Girl“ gibt es auch eine Grundidee, die bis zum Schluss durchgeprügelt wird, was nicht negativ gemeint ist. Da gibt es ein Konzept und das wird durchgezogen, aber zwischendurch wird es mal lustig oder das Timing stimmt nicht ganz oder ist zumindest anders als üblich. Ich reihe „Axolotl Overkill“ da also durchaus ein. Was da passiert, ist extrem logisch! Vielleicht muss man den Film dafür einfach dreimal angucken. Es ist alles da, aber ich habe zugleich extrem viel weggelassen. So werden keine Beurteilungen von Situationen geliefert. Der Zuschauer ist frei, seine Sympathien zu verteilen und sich seinen Teil zu denken. Es wird nichts erklärt, es werden keine Wertungen abgegeben, der Protagonistin wird nicht subtil geraten, an wen sie sich zu halten hat. Der Zustand der kompletten Aufgeschmissenheit und Verlorenheit sollte nicht behauptet, sondern eher ästhetisch vermittelt werden. Es geht mir um den Abbau von Sicherheiten! Ich mag das Diffuse, das Verstörende, Widersprüchliche und Unkalkulierbare. Der Humor sorgt dann für zusätzliche Irritationen. Ist das noch lustig, wenn die folgende Szene extrem hart ist? Ich könnte mir vorstellen, dass das ein Trend ist unter Leuten, die mit ihrer Kunst eben nicht nur Geld verdienen wollen. Damit die falschen Geschichten zumindest nicht alternativlos in der Welt stehenbleiben.

Dieses Interview ist zuerst erschienen in: Filmdienst

western

Western

(D/AT/BG 2017, Regie: Valeska Grisebach)

Cowboys in Europa
von Ulrich Kriest

Direkt aus der heruntergekommenen Sammelunterkunft geht es für eine Gruppe deutscher Bauarbeiter ins bulgarisch-griechische Grenzgebiet, wo sie für ein größeres Bauvorhaben die Infrastruktur schaffen sollen. Mit schwerem Gerät und viel …

Direkt aus der heruntergekommenen Sammelunterkunft geht es für eine Gruppe deutscher Bauarbeiter ins bulgarisch-griechische Grenzgebiet, wo sie für ein größeres Bauvorhaben die Infrastruktur schaffen sollen. Mit schwerem Gerät und viel Körpereinsatz. Die Männer leben in einer Hütte in der Nähe der Baustelle. Erste Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung am Fluss verlaufen unglücklich und sorgen für Verstimmungen.

Die reisefreudigen unter den deutschsprachigen FilmemacherInnen begeben sich gerne einmal auf Erkundungsreise gen Osten: nach Tschechien, in die Slowakei, die Ukraine oder nach Rumänien. Erinnert sei nur an Filme wie „Blue Moon“ (2002), „Slumming“ (2006), „Import/Export“ (A 2007) oder jüngst „Toni Erdmann“ (D 2016; R: Maren Ade). Mit Bildern und Konstellationen ihrer TV-Western-Sozialisation im Kopf hat Valeska Grisebach („Sehnsucht“; D 2009) die frontier mit mehr als überzeugenden Ergebnissen in den Wilden Osten verlegt.

Im Gegensatz zu Thomas Arslans „Gold“ (D 2015) kann Grisebach durch das klug gewählte Setting auf historische Kostümierung verzichten und einen »modernen Western« drehen. Hier wird einerseits mit modernen Baumaschinen das agrarisch geprägte Hinterland urbar gemacht, andererseits auf Pferden geritten, Flagge gezeigt und Tauschhandel mit den Eingeborenen betrieben. Die vorhandene Sprachbarriere erfordert besondere Sensibilität, Zurückhaltung und Respekt im interkulturellen Umgang, Qualitäten, die in unterschiedlichen Charakteren unterschiedlich ausgeprägt sind, was innerhalb der Männergruppe schnell zu Reibereien und Rivalitäten führt. Allesamt Motive und Konflikte, die in unzähligen Western ausbuchstabiert wurden, aber auch hier bestens und höchst unterhaltsam tragen, unterstützt und befördert durch die immer wieder überraschende und den Blick öffnende Bildgestaltung von Bernhard Keller. Hinzu kommt, dass Grisebach komplett auf Laiendarsteller gesetzt hat, was dem ruhigen Bilderfluss quasi dokumentarische Qualitäten verleiht.

„Western“ ist auch ein genau beobachteter Film über Männer mit Statusinkonsistenzen, die „auf Montage“ in der Fremde teilweise eine etwas altmodisch erscheinende Form von Männlichkeit »genießen« oder dies als Selbstentwurf zumindest einmal versuchen. Andererseits – und dies ist nun die Pointe von „Western“ – ist die Frontier-Erfahrung der Bauarbeiter, die Stimmigkeit der Western-Motive in der Wahrnehmung des Zuschauers natürlich immer als eine Projektion erkennbar, ein bewusst konstruiertes Narrativ, ein Rollenspiel mit Ungleichzeitigkeiten, Resultat der hintersinnigen Konstruktion Valeska Grisebachs.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

ana mon amour

Ana, mon amour

(RO 2017, Regie: Calin Peter Netzer)

Dem bösen Wolf gegenübertreten
von Wolfgang Nierlin

Ana (Diana Cavallioti) und Toma (Mircea Postelnicu) studieren Literatur und sind ein Paar. Am Anfang von Călin Peter Netzers sozialpsychologischer Beziehungsstudie „Ana, mon amour“ sitzen sie zusammen in einem Zimmer …

Ana (Diana Cavallioti) und Toma (Mircea Postelnicu) studieren Literatur und sind ein Paar. Am Anfang von Călin Peter Netzers sozialpsychologischer Beziehungsstudie „Ana, mon amour“ sitzen sie zusammen in einem Zimmer ihres Studentenwohnheims in Bukarest und lernen sich erst noch kennen. Sie diskutieren mit einer gewissen Ironie und offensichtlich ineinander verliebt über Nietzsches Moralbegriff, während im Zimmer nebenan geräuschvoll gevögelt wird. Die unruhige Kamera erfasst dabei intuitiv und tastend ihre Gesichter und Hände, wandert über ihre Körper und streift Details. Andrei Buticá filmt unmittelbar und direkt, ebenso flüchtig wie insistierend Bilder großer Nähe und Intensität, die von der mit dem Silbernen Bären ausgezeichneten Cutterin Dana Bunescu zu einem nervösen, unkalkulierbaren Rhythmus montiert werden. Als Ana plötzlich eine Panikattacke erleidet und um Luft ringt, wird die Intimität noch gesteigert. Denn Toma mildert die Symptome durch seine körperliche Nähe.

Die Liebesbeziehung der beiden fußt also von Beginn an in einer Schwäche, einer Krankheit, einem unbewussten Trauma. Toma braucht Ana, um sich um sie zu kümmern und ihr quasi in Sorge und Pflege nahe zu sein. Dabei quält ihn selbst eine uneingestandene Versehrtheit. Aus dem Hintergrund eines Rockkonzertes, das die beiden besuchen, taucht eine Textzeile auf: „Ich bin der, der in dir wohnt.“ Überhaupt ist die unterschwellig und sehr gedimmt mit Musik bespielte Tonspur beredt. Als die beiden wechselseitig in den jeweiligen Elternhäusern des anderen zu Gast sind, kommt es hier wie dort zu lautstarken, gar handgreiflichen Konflikten. Netzers ungeschönt realistischer Blick deutet gesellschaftspolitische Verwerfungen an und akzentuiert zugleich die dunklen Stellen im jeweiligen Familienkontext. Denn Anas unbestimmten Angstzustände und ihre daraus resultierende Tablettensucht haben Gründe, die sie selbst noch nicht versteht.

Sie unterzieht sich deshalb einer Psychoanalyse, bearbeitet ihre Probleme, wächst daran, während Toma in seinem symbiotischen Abhängigkeitsverhältnis gefangen und infolgedessen stehen bleibt: „Ich liebe dich unendlich“, insistiert Toma, während Ana ihm vorwirft, sich von ihrer Krankheit zu nähren. Als sie schwanger wird, verstärken sich diese unguten Beziehungsmuster bis zur Beklemmung und einem wohl unausweichlichen Scheitern der Liebe.

Auch Toma vertraut einem Psychoanalytiker (Adrian Titieni) seine Geschichte an, was Călin Peter Netzer wiederum für die nicht-chronologische Erzählstruktur seines psychologisch vielschichtigen Films nutzt. In Ausschnitten und Fragmenten wechselt dieser zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Traum und konstruiert dabei eine sehr subjektive, nicht eindeutige Wirklichkeit. Offensichtlich wiederholen sich die Konflikte über Generationen hinweg geradezu schicksalhaft und ohne Ausweg. Einmal sucht Toma seinen Beichtvater auf, der ihm zur unbedingten Offenheit in Beziehungen rät: Man müsse „dem bösen Wolf gegenübertreten.“

Herbst in der Hose

( , Regie: )

Altersgerecht altern
von Jürgen Kiontke

Das Thema Rente gilt als gnadenlos unhip, aber was heißt das schon. ­Viele junge Menschen beteiligen sich zum Beispiel an der derzeitigen ­Alterssicherungskampagne der Gewerkschaften. Kein Wunder, sie ­müssen noch …

Das Thema Rente gilt als gnadenlos unhip, aber was heißt das schon. ­Viele junge Menschen beteiligen sich zum Beispiel an der derzeitigen ­Alterssicherungskampagne der Gewerkschaften. Kein Wunder, sie ­müssen noch ein ganzes Leben schuften, da will man sich irgendwann ausruhen.

Die, die es in den Ruhestand geschafft haben, finden ihn wahrscheinlich auch ganz gut. Es sei denn, sie brauchen einen Nebenjob, um sich das altersbedingte Nichtstun zu ­finanzieren. Dann gibt es noch die Sandwich-Generation: Die ist, wie der Comiczeichner Ralf König, zwischen 50 und 60 Jahre alt und sagt sich schon ein Leben lang: „Ich bekomme sowieso nichts.“ Das stimmt. Nur dass dieser Umstand so langsam, aber sicher auch für diejenigen näherrückt, die ihr Leben dem Spaß gewidmet haben. Mit den Worten von Königs schwulen Figuren gesagt: „Ob wir uns später das Opernabo noch leisten können?“

Bald ist es so weit! Auch, dass das Leben für die älteren Semester dreimal so schnell vorübergeht wie für einen, der auf die Führerscheinzulassung wartet, ist Thema von Königs Prachtband mit dem sein Sujet etwas ins Alberne ziehenden Titel „Herbst in der Hose„. Trotz der Brisanz des Themas: Viele Comics über die Rente gibt es wohl nicht. Dabei schafft es König spielend, daraus Funken zu schlagen. Die beiden Hauptfiguren des für seine Knollennasen berühmten Zeichners, Konrad und Paul, sind in die Jahre gekommen. Königs Helden, homo­sexueller Durchschnitt, erlauben ihrem Schöpfer eine drastische Sprache – ein Markenzeichen neben seiner zeichnerischen und dramatur­gischen Genialität. Und so begibt sich der Leser auf eine knapp 200seitige Abenteuerreise Richtung alters­bedingter Mittellosigkeit. Die macht sich zwar zunächst in der schwulen Hose bemerkbar, dabei wird es aber nicht bleiben. Das Altern ist universell.

Das Buch ist pointiert gezeichnet und mehraktig im Stil einer griechischen Tragödie erzählt. Lustig ist es mitnichten, aber zugespitzt. In der Welt gezeichneter Bücher nimmt es eine Mittelstellung ein. Ein anderer Zeichner machte neulich darauf aufmerksam, dass Graphic Novels vom gagorientierten Comic weg zum endlos-langweiligen Brabbeln führen. Dementsprechend ist Königs neues Werk eindeutig ein Comic. Im Zentrum des Geschehens steht die Andropause, die Zeit der Wechseljahre für den Mann: Die Lederhose passt nicht mehr, ich kriege keinen mehr hoch.

Heiligabend wurde mit einer Rotweinflasche und Sissi-Filmen verbracht. Und die Freunde? Brigitte hat Hitzewallungen. Sie sagt: „Silvester war ich allein, und jetzt bloß keine Betroffenheit.“ Ins Bett gegangen ist sie vor Mitternacht und es hat ihr nicht mal was ausgemacht. Allein ist sie damit nicht. Die Partys haben sich seltsam verändert. Es gibt keine mehr.
Warum zieht es einen nicht mehr raus? Am schlimmsten sind die schleichenden Prozesse. Paul war im Club und musste entdecken, dass er kein Sexobjekt mehr ist. Da bleibt man gern zu Hause.

Königs Figuren, ob Mann oder Frau, sind sich einig: Frech ist, wenn hinter einem hergepfiffen wird. Schlimmer ist, wenn keiner hinter einem herpfeift. Dazu der Alltag: Wenn Paul und Konrad die heterosexuellen Freunde besuchen, kriegen sie die neue Gastherme gezeigt. Man wird nachlässig in der Öffentlichkeit. Die Knackarschhose für die Disko geht nicht mehr zu? Zieh doch einfach den Slip drüber! „Früher dachte ich: Schon eine Brille tragen ist der Tod“, heißt es an einer Stelle.

Altersgerecht altern, das wär’s. Der Verfall des eigenen Körpers ist jetzt alltägliche Realität. Die einzige Chance, der Depression zu entgehen. ­besteht darin, das Alter vorzuziehen. „Ich bin in einer Seniorenwandergruppe und es stört mich nicht“ – so lauten die neuen Strategien der Entlastung. Mit Jack-Wolfskin-Sandalen und North-Face-Jacke sieht man nur dann doof aus, wenn man auch wahrgenommen wird. Aber alte Menschen sieht man nicht. Wer jünger ist, schaut schon aus Gründen der Scham einfach woanders hin. Nicht nur draußen, sondern auch im House-Club.

Zwischen den Kapiteln nehmen die Jammergestalten von Königs antikem Chor ihren Platz ein. Bald ist nur noch ein schmerzverzerrter Mund zu sehen, der die ganze Seite einnimmt. Eine Schreckensmaske, ein Abbild des Alters. Ein Mund, der ­keine Zähne hat.

König hat eine philosophische Comic Novel geschaffen. Am Ende steht der Tod, das wissen wir zwar alle, aber man spürt es erst im höheren Alter. König lässt den Tod – noch – nicht richtig heran an seine gezeichnete Alterskohorte 50 plus. Es sind die Hochbetagten, die im ­Altersheim, denen es richtig schlecht geht. Die Eltern der Knubbelfiguren übernehmen diesen Job, sie leben noch, so gerade. „Ich empfinde ­sogar mein Ableben als spannenden Vorgang“, lässt König einen 90jährigen sagen. Ebenso beiläufig lässt er mitteilen, dass man sich ab 80 die Hoden in den Hintern stecken kann, das habe er durch Zufall entdeckt („Das geht jetzt“). Viel wird von dem berichtet, was sonst in der Hose los beziehungsweise nicht mehr los ist. Die Witze schließen häufig unter der Gürtellinie ab.

Ich habe das Buch mitgenommen ins Bateau Ivre, eine schön-schrammelige, semihippe Kneipe in Berlin-Kreuzberg. Man sitzt dort draußen an der Hauswand; wer unter 30 ist, nimmt sein Frühstück um 17 Uhr flüssig ein und trägt die mit prekären Jobs finanzierten Tattoos zur Schau. Am Nebentisch sitzen die Comic­figuren in echt, sie sind jung und haben zerrissene Hosen. Man redet über Jobs, in denen weder Hosenlöcher noch Tätowierungen gebraucht werden. Sie wissen nicht, wie man den Job kriegt, geschenkt. Sie wissen auch nichts von den Nierensteinen und kaputten Knien von Königs ­Figuren. Beziehungsweise von meinen. Haben die es gut.

Auf Seite 89 fühle ich mich direkt angesprochen: „Jürgen rief gerade an. Georg hatte einen Herzinfarkt. Die Einschläge kommen näher.“ ­Gerade kommt einer, es ist ein recht alter Einschlag. Er ist schon der Zehnte, der binnen kurzer Zeit den Mülleimer nach Pfandflaschen durchwühlt.

Ein Blick zurück ins Buch: „Es gibt nicht mal schwule Altenheime“, ­werfen Konrad und Paul dazwischen. „Wir könnten sie auch gar nicht ­bezahlen.“ – „Sei sparsam – mit Geburtstagen, davon wird man alt.“ Für das Alter gibt es in Königs Buch sogar eine Definition: wenn aus ­Drogen Medikamente werden. „Wusstest du, dass viele Schwule im Alter entweder depressiv werden – oder gleich Suizid begehen?“

Ich muss eine Pause machen, lege das Buch weg und schaue mir den Facebook-Account an. Ein Kollege hat Folgendes gepostet: Auf einer indonesischen Insel werden alle drei Jahre die Toten aus den Gräbern geholt, abgestaubt und fein angezogen. Dann feiert man ein Fest mit ihnen. Gut zu wissen, dass es ein Leben nach dem Leben gibt.

„Ein Werk der Reife also und eine ganz unverlogene Auseinander­setzung mit dem Unvermeidlichen“, schreibt der Verlag zu Königs Buch. Manchmal wünscht man sich mehr Härte von ihm, aber er ist eine freundliche Frohnatur. Für sein ­Lebenswerk wird der Comizeichner Ralf König mit dem diesjährigen ­Wilhelm-Busch-Preis ausgezeichnet. Zu Recht.

Ralf König: „Herbst in der Hose“
Rowohlt, Hamburg 2017. 176 Seiten. 22,95 Euro

Dieser Text erschien zuerst in: Jungle World

sapienza

Das Licht der Weisheit

(IT 2014, Regie: Eugène Green)

Heilung ist möglich
von Wolfgang Nierlin

Der Blick auf den Lago Maggiore öffnet den Raum für die Musik von Claudio Monteverdi. Der Geist des Barock schwebt über den Wassern, bevor er sich materialisiert im Stein von …

Der Blick auf den Lago Maggiore öffnet den Raum für die Musik von Claudio Monteverdi. Der Geist des Barock schwebt über den Wassern, bevor er sich materialisiert im Stein von Gebäuden, Fassaden und Skulpturen. Die kunstvoll komponierte Montage in der Exposition von Eugène Greens Film „La Sapienza“ (dt. Das Licht der Weisheit) strebt absichtsvoll zur Kuppel, zum Licht, zum Raum, in dem das Göttliche wohnt. Wenn kurz darauf der Architekt Alexandre Schmidt (Fabrizio Rongione) in einer aus dem Off kommenden, weihevoll anmutenden Sprache für sein Lebenswerk geehrt wird, sehen wir Bilder einer grauen, großstädtischen Architektur. In meisterhafter Verdichtung von Wort und Bild etabliert Eugène Green zu Beginn seines motivisch überaus reichen Films einen Antagonismus zwischen Spiritualität und Materialismus. Alexandre, der sich selbst in seiner Dankesrede als Materialist und Laizist bezeichnet, verwirklicht sein humanes Anliegen in funktionalistischen Bauten.

„Ich glaube, dass der Mensch sich selbst genügt“, formuliert der introvertierte Architekt mit finsterem Blick. Doch tatsächlich befindet er sich in einer Sinn- und Schaffenskrise, Selbstzweifel nagen an ihm. Zudem liegt ein Schatten über seiner Ehe mit Aliénor (Christelle Prot Landman), einer Psychologin, die sich mit dem unglücklichen Bewusstsein sozialer Randgruppen beschäftigt. Um über ihre beruflichen und ehelichen Probleme nachzudenken, nehmen sie sich eine Auszeit und fahren an die oberitalienischen Seen. In gewisser Weise handelt es sich dabei um eine Referenz an Roberto Rossellinis „Viaggio in Italia“ („Liebe ist stärker“, IT 1954). Noch leben die beiden nebeneinanderher, was Green in seine statuarische, von seiner barocken Theaterarbeit herstammenden Inszenierung integriert. Darin übersetzen die Figuren durch ihr stilisiertes Spiel keine psychologischen Vorgänge oder ein emotionales Befinden. Vielmehr adressieren sie ihre klar und konzentriert artikulierte Rede direkt an den Zuschauer.

Dieses nicht-mimetische, analytische Konzept zielt jedoch nicht auf eine Brechung der Illusion, sondern auf eine Evokation des Verinnerlichten und Eingeschriebenen, das sich in einem energetischen Sinn gewissermaßen verflüssigt. Das Unsichtbare, das in Greens Film stets auch das Göttliche meint, soll sichtbar und erfahrbar werden, ohne zuvor vom Schauspieler eine individuelle Formung zu erfahren. Obwohl Eugène Green mit professionellen Darstellern arbeitet, bezieht er sich dabei auch auf Robert Bressons filmtheoretische Überlegungen zur Arbeit mit sogenannten „Modellen“. Darüber hinaus gestaltet der 1947 in New York geborene, seit Ende der 1960er Jahre in Frankreich lebende Regisseur und Autor in seinem Film eine dichte Anordnung von Bezügen, symmetrischen Entsprechungen und motivischen Spiegelungen, die ineinandergreifen, um jene „spirituelle Energie“ auszudrücken oder zu vermitteln, die sich einer planen Repräsentation widersetzt. Dabei ist der Film immer in seinem Zentrum. Nie gibt es eine Abschweifung oder gar etwas Überflüssiges. Jeder Satz und jedes Bild ist „bedeutsam“.

Das Unterwegssein in „La Sapienza“ verbindet die Suche nach sich selbst und nach dem anderen mit einer komplexen, mehrfachen Bildungsreise. Alexandre, von der raschen Vergänglichkeit seines eigenen Schaffens ernüchtert, folgt in Italien den Spuren des Barockarchitekten Francesco Borromini (1599–1667), um in seiner beruflichen Auszeit eine Studie über ihn zu schreiben. Als er und seine Frau in Stresa dem überaus ernsten und kultivierten Geschwisterpaar Goffredo (Ludovico Succio) und Lavinia (Arianna Nastro) begegnen, entwickeln sich daraus trotz oder gerade wegen des großen Altersunterschiedes höchst spannende Lehrer-Schüler-Verhältnisse. Während sich Aliénor mit der egelhaften, an periodisch wiederkehrenden Schwächeanfällen leidenden Lavinia anfreundet, begeben sich die beiden Männer auf Studienfahrt nach Turin und Rom. Der 18-jährige, sehr bestimmt wirkende Goffredo, der in Alexandre auch einen Vaterersatz findet (so wie dieser umgekehrt in dem Schüler einen Sohn) und bald ein Architekturstudium in Venedig aufnehmen möchte, erweist sich dabei als der Spirituellere von beiden. Immer wieder reflektiert er über die Notwendigkeit, Räume zu schaffen, die von Licht und damit – so Goffredos Überzeugung -von göttlicher Präsenz erfüllt werden.

In manchem entspricht ihr Verhältnis der Rivalität zwischen Borromini, dessen Werk einen „mystischen Barock“ verkörpert, und seinem „rationaleren“ Zeitgenossen und Kollegen Gian Lorenzo Bernini (1598–1680). Doch während Alexandre dem aufgeschlossenen Goffredo die architektonischen Besonderheiten der beiden erklärt, lernt er zugleich von dem Jüngeren und identifiziert sich zunehmend stärker mit dessen spiritueller Position. Parallel zu dieser Erweckungs- und Erleuchtungsgeschichte, die schließlich immer deutlicher um den Opfergedanken kreist, erleben die beiden Frauen – jede auf ihre Weise – ihrerseits eine Form der Heilung. Dabei spielt ein Theaterbesuch (gegeben wird Molières „Der eingebildete Kranke“ in einer Inszenierung des „Théâtre de la Sapience“, d. i. Greens Gruppe) sowie das dramatische Schicksal eines chaldäischen Flüchtlings und Sehers, der von Eugène Green selbst gespielt wird, eine zentrale Rolle. Wo beim einen Paar die symbiotischen geschwisterlichen Bande einer Lockerung bedürfen, braucht es bei den Ehepartnern die Überwindung einer Distanz. In jedem Fall aber, so der christliche Sternendeuter „aus der Ebene von Ninive“, bedürfe es eines Ortes, wo das Licht Gottes empfangen werden könne. Sonst sei man unglücklich.

agnus dei

AGNUS DEI – die Unschuldigen

(F/P 2016, Regie: Anne Fontaine)

Wie lange kann ein Glauben halten und wie lange der Glauben an Gottes Willen?
von Britta Rotsch

„Mein Auftrag ist, unser Geheimnis zu bewahren“, sagt die Mutter Oberin, die in der Hierarchie des Klosters ganz oben steht und von der eine Kälte und Bestimmtheit ausgeht, der man …

„Mein Auftrag ist, unser Geheimnis zu bewahren“, sagt die Mutter Oberin, die in der Hierarchie des Klosters ganz oben steht und von der eine Kälte und Bestimmtheit ausgeht, der man sich nur unterwerfen kann – so scheint es zumindest.
Während in Polen im Jahr 1945 Krieg herrscht, schwingt ein dunkles Geheimnis um das abseits gelegene Kloster. Stille, Totenstille hüllt sich um die hohe, steinerne Mauer, die ein tragisches Kollektivschicksal der Nonnen verbirgt.

Der Film „Agnus Dei“ basiert auf einer wahren Begebenheit und erzählt die Geschichte von sieben schwangeren Nonnen, die während der Besatzung von russischen Soldaten verfolgt, vergewaltigt und geschwängert wurden und nun, befleckt mit dieser Schande, um ihr Leben, den Ruf des Klosters und um die Verurteilung durch Gott bangen müssen.

Letztlich steht immer wieder eine Frage im Raum: Was ist der richtige Weg?

Aus dem Nichts hört man ab und an eine Bombendetonation hinter dem schneebedeckten Wald, die bis ins Innenleben des Klosters schallt und an den Krieg erinnert, der draußen in einer anderen Welt herrscht. Als eine Nonne, an den dunklen schneebedeckten Waldboden angepasst, wie ein Chamäleon mit ihrer schwarz-weißen Kutte, zu einer Auffangstation der im Krieg verletzten Soldaten gelangt und eine Ärztin um Hilfe bittet, lehnt diese erst ab, unwissend, welches große Geheimnis von der Bitte der Nonne ausgeht. Doch die französische Ärztin Mathilde überwindet sich, denn in ihr tobt die Erinnerung an die unterlassene Hilfeleistung und ebenso die Neugierde, wohin die Nonne sie bringen möchte. Sie macht sich auf den Weg zu dem Kloster, abseits von geradlinigen Straßen, quer durch den Wald. Das Eindringen hinter die Mauern des Klosters bringt die junge Ärztin zur eigenen Glaubensprobe, denn als Mathilde bemerkt, was im Frauenkloster vor sich geht, möchte die Ärztin am liebsten alle ärztlichen Schwüre und Eide über Bord werfen. Doch genauso wie die Nonnen an ihre Gelübde gebunden sind, muss sich auch die Ärztin an ihren abgelegten Eid erinnern.

Auch im Film gelangen wir immer wieder visuell und metaphorisch an Kreuzungen. Wohin geht man und wem gehorcht man? Dem Glauben, den Vorschriften? Dieser Fragen bedient sich die französische Regisseurin Anne Fontaine, die für die Recherchen zum Film selbst in ein Kloster ging, um die Strukturen einer Glaubensgemeinschaft zu durchdringen und ein Gefühl für das Leben hinter den Mauern zu bekommen. Auch wenn heutzutage anders in einem Kloster gelebt wird als zu den Zeiten des Zweiten Weltkriegs, so leben dennoch die Glaubensvorstellungen fort, die der Film vorführt.

Dieses Schicksal ist eine harte Prüfung für die keuschen Gottesfrauen. Nicht nur, dass die Ungeborenen zur Welt gebracht werden müssen, auch wird den Frauen das Mutterdasein von der Mutter Oberin verwehrt. Diese nimmt sich der Neugeborenen an und bringt sie in die Welt jenseits der Klostermauern. Ein weiteres, stilles Tabu tut sich auf. Um die drohende Schließung des Klosters abzuwenden, darf nicht publik werden, was hinter den Mauern vor sich geht.

Wie viel Leid kann ein einzelner Mensch ertragen und sich für andere und den Glauben aufopfern?

Doch auch die Mutter Oberin trägt eine schwere Last. Weil sie den Ruf und die Zukunft des Klosters retten will, muss sie Entscheidungen treffen, die ihr christliches Ethos torpedieren. Auch sie hadert mit den strengen Regeln der Kirche. Nichts ist in Stein gemeißelt, und dennoch sind alle Frauen von den christlichen Regeln eingenommen. Sich von diesen zu befreien, hieße Gott und die eigene Identität zu verraten. Manchmal muss man also Opfer bringen für eine größere Mission, oder?

Es ist kein Zufall, dass Anne Fontaine den Filmtitel „Agnus Dei“ gewählt hat. Übersetzt bedeutet es „das Lamm Gottes“ und ist ein Symbol für Jesus Christus und sein Kreuzesopfer. Im übertragenen Sinne sind die Lämmer Gottes die neugeborenen Kinder der Nonnen und symbolisieren durch ihren Tod ebenso das Kreuzesopfer Jesus Christi.

„An irgendetwas muss man ja glauben“

Das Hadern entwickelt sich sukzessive: „Ich kann meinen Glauben nicht mehr mit diesen schrecklichen Ereignissen vereinbaren“, sagt eine schwangere Nonne. Jeden Tag aufs Neue erinnert sich die Glaubensschwester an die Vergewaltigungen, immer noch verfolgt sie der Geruch der Soldaten. Ein weiteres Thema – Vergewaltigung als Kriegswaffe. Auf dem Rückweg vom Kloster wird auch die Ärztin Mathilde Opfer einer Vergewaltigung, auch sie findet Zuflucht im Kloster.

Es ist die Angst, die die Frauen verbindet. Angst vor der Verdammung und der Hölle. 24 Stunden zu hoffen und eine Minute zu glauben, lautet der Konsens. „Hinter jeder Freude steht das Kreuz“, sagt eine Nonne zu Mathilde. Hinter jedem menschlichen Gedanken kann die göttliche Strafe lauern.

Der Film rechnet in dem Sinne nicht mit der Kirche und dem christlichen Glauben ab. Jedoch wirft er viele Glaubens- und Sinnfragen auf: Kann es wirklich Gottes Wille sein, solche Brutalitäten noch dazu an solch heiligen Orten zuzulassen? Der Film erinnert daran, was hinter heiligen Mauern passieren kann, dass kein Ort vor Gewalt geschützt, weder vor Pädophilie noch Kriegsverbrechen gefeit ist – damals wie heute.

kobane

KOBANE CALLING

( , Regie: )

Gegenaufklärung – Zerocalcare in Rojava
von Sven Jachmann

Der italienische Comic-Künstler Zerocalcare (ein Pseudonym für Michele Rech) blickt im Prolog seiner Comicreportage „Kobane Calling“ unter sternklarem Himmel aus drei römischen Metrostationen Entfernung auf die Stadt Kobane und lässt …

Der italienische Comic-Künstler Zerocalcare (ein Pseudonym für Michele Rech) blickt im Prolog seiner Comicreportage „Kobane Calling“ unter sternklarem Himmel aus drei römischen Metrostationen Entfernung auf die Stadt Kobane und lässt sich von Widerstandskämpfer Gasip, dem „Asterix aus Mesopotamien“, die Akustik des Krieges dechiffrieren: „Wenn du Ratatata hörst, ist es der IS. Hörst du Tum Tum Tum, sind wir es.“ „Und Boom?“ „Kommt drauf an. MG-Feuer und dann Boom, das sind die Amerikaner. Boom und sonst nix, das ist der IS. Feuer von links nach rechts ist der IS. Von rechts nach links, das sind wir. Ganz flach, knapp über dem Boden, sind die Türken.“ – „… Was zur Hölle mache ich hier?“

Comic-Reportagen haben zur Zeit einen guten Stand, vielleicht weil die Welt ihn längst verloren hat. Die großen Namen des Genres – Sarah Glidden, Guy Delisle, Joe Sacco – haben bemerkenswerte Werke geschaffen; sie entwickeln ihre Arbeiten mit dem Ethos des gewissenhaften Journalisten. Was im Umkehrschluss meist bedeutet: Haltung (und das ist im Comic unweigerlich eine visuelle Komponente) ist allenfalls ein Nebenprodukt, und wenn sie doch in Erscheinung tritt, etwa in Saccos Gaza, in dem israelische Soldaten ohne Ausnahme mit hasserfüllten Gesichtern gezeichnet sind und Antisemitismus wie Terrorismus keine Rolle spielen, sobald letzterer nicht Israel zugeschrieben wird, dann in den Grenzen medialer Narrative wie dem Evergreen „Israelkritik“ und der daran gekoppelten mahnenden Empörung aus, versteht sich, steter freundschaftlicher Verbundenheit.

Haltung hat Zerocalcare reichlich zu bieten. Das erklärt sich aus seinem politischen Werdegang. Erst Punk, Straight Edger, Hausbesetzer, Anarchist, dann nachhaltig politisiert durch den Mord an Carlo Giuliani bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua 2001. Seit vielen Jahren lebt er im linken römischen Viertel Rebibbia, und seine starke Verbundenheit mit diesem Ort, der Alltag als linksgrün versiffte Zecke prägt denn auch das Gros seiner autobiografischen Comic-Erzählungen, die in Italien als Webcomic rege gelesen werden und sogar als gedrucktes Buch Bestseller sind.

„Kobane Calling“, sein neuestes und das erste ins Deutsche übersetzte, verkaufte sich dort rund 150.000mal. (Selbst mit einer Null weniger wäre das, gemünzt auf hiesige Verhältnisse, jenseits der Stammarken bereits ein Riesenerfolg. Wann hört das endlich auf?) Darin verlässt Zerocalcare sein geliebtes Viertel (das gleichwohl weiterhin eine große Rolle spielt) und fährt zweimal, 2014 und 2015, ins kurdische Autonomiegebiet Rojava, das sich aus syrischen, türkischen, iranischen und irakischen Teilen zusammensetzt, um, so lautet das selbsterklärte Ziel der Gruppe Autonomer, humanitäre Hilfe zu leisten und eine Medienkampagne aufzubauen, in deren Mittelpunkt die von kurdischen Milizen gegen den IS verteidigte syrische Stadt Kobane steht. Beim ersten Mal blickt man noch von türkischem Boden aus auf die vom IS besetzte Stadt, die zweite Reise führt die Gruppe mitten hinein.

Was Zerocalcares Werk von anderen unterscheidet: Er nimmt sich mit, das heißt sowohl ein in früheren Comics erprobtes fiktives Figurenarsenal, beispielsweise ein Mammut, das Rebibbia repräsentiert und ihn ständig der Doppelmoral überführen will, als auch seine westliche Sozialisation, die er nicht nivelliert, sondern ständig als Folie für Vergleiche nutzt. Darum wimmelt es in dem Buch von Figuren aus „Fist of the North Star“, „Dragon Ball“, den „Simpsons“, „Star Wars“, „Spider-Man“, „Monsters in my Pocket“, den „Muppets“ und zig weiteren Popkulturerscheinungen. Die verbinden sich mit der linken Erkenntnis, dass von Kriegsbildern kaum mehr als eine mediale Strategie kursiert. Beispiel: Auf einem Panel steht ein maskierter IS-Kämpfer mit Zeigestock vor einer Tafel, auf der die meistgeklickten Top-3-Netz-Videos zu sehen sind: 1. Kätzchen fällt in Torte, 2. Enthauptung einer US-Geisel, 3. alles über Eros Ramazotti. – „Wir können noch besser werden.“

„Kobane Calling“ ist der Versuch einer Gegenaufklärung als unabgeschlossener Prozess, dauernd betont Zerocalcare seine dramaturgischen Entscheidungen. Nebenbei eignet sich dieses Vorgehen, die sarkastische Selbstkritik in Permanenz und ganz grundsätzlich der phantastische karikatureske Zeichenstil, die Traditionen des US-amerikanischen Undergroundcomics als politische Hebebühne an.

Schließlich macht Zerocalcare keinen Hehl aus seiner Begeisterung für den demokratischen Föderalismus der Kurden, wie er im Gesellschaftsvertrag von Rojava fixiert ist (das „Recht auf die eigene ethnische, religiöse, geschlechtliche, sprachliche und kulturelle Identität“, auf Bildung, soziale Sicherheit, Gesundheit und Arbeit), vor allem die feministische Praxis hinterlässt starke Eindrücke. Diese Emphase führt nicht nur zu einigen die Doppelzüngigkeit der türkischen Regierung entlarvenden Passagen – sie leistet dem IS stillschweigend und skrupellos Beihilfe im Kampf gegen die Kurden –, sondern am Ende und Höhepunkt des Buches sogar in die irakisch-iranischen Kandil-Berge zu den geheimen Militärcamps der PKK – wo der Punk Zerocalcare, unerwartet wie die Leser/innen, auf Cemil Bayık trifft, Mitgründer der PKK und Nummer zwei nach dem Vorsitzenden Öcalan. Ich habe selten im Comic das Saukomische mit der Sensation so eng tanzen sehen.

Zerocalcare: „Kobane Calling“
Aus dem Italienischen von Carola Köhler. Avant-Verlag, Berlin 2017. 268 Seiten. 24,95 Euro

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

rodin

Auguste Rodin

(F/B 2017, Regie: Jacques Doillon)

Im Ringen um Wahrhaftigkeit
von Wolfgang Nierlin

Im Paris der beginnenden 1880er Jahre arbeitet der 40-jährige Bildhauer Auguste Rodin (Vincent Lindon) an seinem von Dantes „Göttlicher Komödie“ inspirierten Bronzeportal „Das Höllentor“, das für den Eingang des neuen …

Im Paris der beginnenden 1880er Jahre arbeitet der 40-jährige Bildhauer Auguste Rodin (Vincent Lindon) an seinem von Dantes „Göttlicher Komödie“ inspirierten Bronzeportal „Das Höllentor“, das für den Eingang des neuen Musée des Arts Décoratifs im Louvre gedacht ist. Unterstützt wird er dabei von seiner 24 Jahre jüngeren Schülerin Camille Claudel (Izïa Higelin), mit der ihn auch eine Liebesbeziehung verbindet. Zu Beginn von Jacques Doillons sehr konzentriertem Film „Auguste Rodin“, der den biographischen Stoff seines vielschichtigen Künstlerportraits in sanft ausschwingenden Fragmenten destilliert, sieht man die beiden im Werkstattgespräch über die Einzelskulptur „Der Kuss“ inmitten der Verdammten. In der Kunst der beiden spiegelt sich das Leben, besonders aber immer wieder ihre Beziehung, die durch Höhen und Tiefen zehn Jahre andauert. In ihren unterschiedlichen Interpretationen ihrer jeweiligen Werke zeigen sich wiederum Projektionen individueller Wünsche und Sehnsüchte.

Die schwierige, in Teilen aber auch schwerelose Beziehung zwischen dem eher melancholisch und nachdenklich wirkenden Rodin und der ebenso selbstbewussten wie lebenshungrigen Camille Claudel, die im Schatten des Meisters unter mangelnder Anerkennung leidet, bildet eine thematische Konstante des Films. Eng verknüpft ist diese mit der Beobachtung von Rodins schöpferischem Tun, seiner konkreten Arbeit in der Werkstatt sowie den Krisen und Selbstzweifeln, die das Ringen des Künstlers um Wahrhaftigkeit begleiten. Doillon gibt dieser wortlosen Spannung des Schaffensprozesses Raum und Zeit, indem er zusammen mit seinem Bildgestalter Christophe Beaucarne die Bewegungen der Figuren in langen Plansequenzen choreographiert. Die matte Farbigkeit seines Films, der teils an Originalschauplätzen gedreht werden konnte, korrespondiert dabei mit dem aus dem Dunkel skulptierten Licht beziehungsweise den schwach beleuchteten Körpern in der grau-schwarzen Werkstattdämmerung.

Indem Jacques Doillon fast dokumentarisch Rodins schöpferische Auseinandersetzung mit einzelnen zentralen Werken nachzeichnet, vermittelt er zugleich dessen wesentliche künstlerische Ideen. Während die geradezu spielerisch improvisierte Arbeit an einer Büste Victor Hugos und die Figurengruppe „Die Bürger von Calais“ noch verhältnismäßig glimpfliche Reaktionen provozieren, ist das Urteil seiner zeitgenössischen Auftraggeber über seine in jahrelangem Ringen geschaffene Balzac-Skulptur geradezu vernichtend. Denn obwohl Auguste Rodin, der sich immer wieder unverstanden fühlt, in seiner Arbeit pure, kraftvolle Lebendigkeit ausdrückt, sehen seine Kritiker darin nur einen „Haufen unförmiger Masse“. Tatsächlich habe ihn dieses Werk wie kein anderes verändert, bekennt der leidenschaftliche Bildhauer, dessen unbedingte Modernität der Film immer wieder unterstreicht. Diese zeigt sich nicht zuletzt auch in der Schönheit des Unvollendeten, von der Rodin sagt: „Mit dem Fleisch ist man nie fertig.“

Hände Mutter schwarz jessica

Die Hände meiner Mutter

(D 2016, Regie: Florian Eichinger)

Sachliche Auseinandersetzung
von Ricardo Brunn

Familienfeste bergen reichlich Eskalationspotential in sich und sind schon allein deshalb im Kino gern gesehener Ausgangspunkt für die Erforschung innerfamiliärer Konfliktherde und gesellschaftlicher Zustände. Das weiß die aufmerksame Zuschauerin nicht …

Familienfeste bergen reichlich Eskalationspotential in sich und sind schon allein deshalb im Kino gern gesehener Ausgangspunkt für die Erforschung innerfamiliärer Konfliktherde und gesellschaftlicher Zustände. Das weiß die aufmerksame Zuschauerin nicht erst seit Thomas Vinterbergs „Das Fest“ (DK 1998). Als Motiv hat das „Familienfest“ (D 2015; R: Lars Kraume) einen wehrhaften Schützengraben auch durch das deutsche Kino gezogen, widmet sich der Vergangenheit und fragt „Was bleibt“ (D 2012; R: Hans-Christian Schmid), wenn man selbst erwachsen geworden ist und meint, die Zwänge der Familie weitgehend hinter sich gelassen zu haben. Wie im Kaspertheater, wo jeder weiß, dass der kostümierte Spaßvogel trotz Schusseligkeit dem bösen Krokodil am Ende immer eins überbrät, folgen Familienfeiern gern einer Dramaturgie absichtsvoller Eintönigkeit. Die Leute tun das, was von ihnen erwartet wird und stellen damit sicher, dass all das sorgsam Verdrängte nicht ans Tageslicht gelangen kann, bis es naturgemäß doch herausbricht und sich eitrig über die Anwesenden ergießt.

Florian Eichingers Familiendrama „Die Hände meiner Mutter“ beginnt dieser filmischen Tradition folgend auf solch einem Fest mit der geschätzten Sippe. Papa (Heiko Pinkowski) wird 60 und auf einer Bootsfahrt sehen die Eltern ihre Kinder wieder, die längst selbst zu Eltern geworden sind und ihre eigenen Kinder vorzeigen. Peinliches „Du bist aber groß geworden!“ und kunstvolles Sich-aus-dem-Weg-gehen wechseln mit lieb gemeint schlimmen Geburtstagsständchen und -reden. Und gerade noch klärt Markus (Andreas Döhler) seinen Sohn Adam über das seltsame Kaspertheater der Erwachsenen an derlei Festtagen auf, schon fällt er selbst aus der Rolle. Ein Kratzer am Kopf seines Sohnes löst Erinnerungen aus. Etwas ist in Markus’ eigener Kindheit vorgefallen und sucht sich jetzt einen Weg an die Oberfläche. Erst als verwirrter Blick, dann als Stimme aus dem Off, schließlich als konkretes Bild aus der Vergangenheit. Alles muss raus, weshalb Markus die Familienfeier von Übelkeit geplagt verlassen muss.

Schnell nähert sich der Film dem Ursprung des Unwohlseins, findet über Markus’ Erinnerungen an den sexuellen Missbrauch durch die Mutter und knappe Auseinandersetzungen mit Freunden und Familie überraschend zu einem nüchternen Geständnis. Dadurch tritt die Frage wie das passieren konnte in den Hintergrund und der Film konzentriert sich auf seinen Protagonisten und dessen Versuch mit dem aufgewirbelten Familienstaub irgendwie zurechtzukommen. Schon die allererste Einstellung des Filmes legt diesen Schluss nahe. In einer Prospektive werden Markus und seine Frau Monika (Jessica Schwarz) im Bett gezeigt. Die Frage, wie es weitergehen soll, steht ungelöst zwischen ihnen, und auch die innige Umarmung Monikas kann die emotionale Distanz zwischen dem Paar nicht auflösen. Im Umschnitt fährt das Schiff der Geburtstagsgesellschaft genau an der Stelle entlang, wo zuvor der eine Körper sich an den anderen zu schmiegen versuchte und betont noch einmal den Graben zwischen den beiden. Als links und rechts neben dem von oben gezeigten Boot die Namen der Schauspieler eingeblendet werden, öffnet sich eine weitere Dimension. Auf der einen Seite steht die Elterngeneration, auf der anderen die der Kinder. Wie ein Keil treibt das Boot damit unaufhaltsam zwischen den Personen und Generationen hindurch der oberen Bildbegrenzung entgegen und verweist auf die Tatsache, dass das, was Markus in der Kindheit widerfahren ist, sich jetzt nicht nur auf ihn selbst und die Menschen in seinem näheren Umfeld auswirken wird, sondern sich als ein intergenerationelles Problem darstellt.

Von der ersten unscharfen Erinnerung bis zur Erkenntnis, dass sich der Missbrauch durch mehrere Generationen der Familie zieht, gibt sich „Die Hände meiner Mutter“ erzählerisch und visuell ambitioniert. Isolation und Trennung bekommen deutliche Bilder. Die Kamera hält Markus nicht nur im Fokus, sie engt ihn durch gezieltes Spiel mit der Tiefenschärfe oder Rahmungen ein, und in Dialogen wird er in beklemmende Positionen gebracht, steht unter Dachschrägen oder sitzt (oftmals in geduckter Haltung) mit dem Rücken zur Wand. Die reduzierte Farbpalette tut ein Übriges, um die Zuschauerin die bedrückende Situation des Protagonisten nachempfinden zu lassen. Sobald es allerdings um die therapeutische Aufarbeitung der Erlebnisse geht, versachlicht der Film seine Handlung und seine Figuren immer stärker und folgt einer mit Bedacht und Blick auf den richtigen Gehalt hin durchexerzierten Dramaturgie vermeintlicher Objektivität; ganz so, als würde der Film selbst im Therapeutensessel Platz nehmen und mit aller gebotenen Neutralität ausdruckslos Fragen an den Patienten richten. Direkt und wenig subtil werden verschiedenste therapeutische Ansätze vorgestellt, die Familienmitglieder in Beziehung zueinander gesetzt und Lösungsansätze gesucht. Zeigen, ertragen, ratlos bleiben. Raum für überraschende Entwicklungen lässt der Film ab diesem Zeitpunkt nur wenig. Reden ist in „Die Hände meiner Mutter“ immer Trumpf und scheinbar auch sehr einfach. Irritationen und die schwere emotionale Verarbeitung des Erlebten entwickeln im Fluss der Erzählung eine gewisse Gleichförmigkeit, und der Film beginnt – wie das Ausflugsboot vom Anfang – gemächlich voranzusteuern, wodurch Beklemmung und Ausbruch, Eskalation und Rückzug auf eine größtmögliche Rationalität heruntergekocht werden. So sehr „Die Hände meiner Mutter“ damit nicht auf das Spektakuläre schielt, so sehr geht ihm dann doch auch Spannung und die Möglichkeit zur Einfühlung verloren. Dramaturgische Einfälle, wie ein angedeuteter Perspektivenwechsel durch Einblendung von Namen als Kapitelüberschriften, scheinen dem entgegenwirken zu wollen, bleiben aber skizzenhaft und wirken sich eben nicht auf die Handlung, die Figuren oder die Erzählperspektive aus.

Rosa von Praunheims „Härte“ (D 2015) wählte zu einem vergleichbaren Thema einen ungleichsam vielversprechenderen Ansatz. In der Vermischung von dokumentarischer Erzählung und kulissenhafter Reinszenierung der Ereignisse spiegelt sich der schwierige Versuch Erinnerungen abzubilden, derer man sich eigentlich entziehen wollte. Gerade weil in der kriminologischen Nachstellung der Erlebnisse nicht auf Realismus gesetzt wird, werden Mechanismen des Missbrauchs und die damit verbundenen Verdrängungsleistungen erfahrbar. Auch das Punktuelle und Fragmentarische der Erinnerungen, die selten erzählerischen Charakter besitzen, wird so erfahrbarer. „Die Hände meiner Mutter“ ist dagegen ein um gehaltvolle Sachlichkeit bemühter Film, der alles so richtig machen möchte, dass die zentralen Themen Vergessen und Verdrängen gerade nicht dazu führen, dass man nach diesem Film selbst verdrängen will, um vergessen zu können. Stattdessen überwiegt das Gefühl einem sehr guten Lehrfilm beigewohnt zu haben.

Hier gibt es einen weiteren Text zu ‚Die Hände meiner Mutter‘.

Mohnblumen aus dem Irak

( , Regie: )

Knubbelnasen im Krieg
von Sven Jachmann

Ein Künstler- und Ehepaar: Lewis Trondheim ist gegenwärtig der beste humoristische Comiczeichner, den Frankreich zu bieten hat, Brigitte Findakly hat seit den frühen Achtzigern als Koloristin wiederum die Werke der …

Ein Künstler- und Ehepaar: Lewis Trondheim ist gegenwärtig der beste humoristische Comiczeichner, den Frankreich zu bieten hat, Brigitte Findakly hat seit den frühen Achtzigern als Koloristin wiederum die Werke der wichtigsten Comiczeichner Frankreichs, die die Gegenwart zu bieten hat, visuell perfektioniert, darunter Joann Sfar, Manu Larcenet, Riad Satouff und Trondheim selbst. Mit „Mohnblumen aus dem Irak“ legt das Paar nun gemeinsam eine Graphic Novel vor, eine autobiografische Geschichte über Findaklys Jugend im Irak, den sie 1973 14jährig verließ, als die Familie nach Frankreich emigrierte.

An Satouffs „Der Araber von morgen“ erinnern Thema und ästhetisches Programm. Hier wie dort sind überaus niedliche Knubbelfiguren einem autoritären religiösen Regime ausgesetzt, und der Schock sitzt tief, sobald man den meist tragischen, manchmal komischen Passagen die süßen Zeichnungen entreißt und sie an eine ganz reale Lebensgeschichte knüpft.

Es ist eine Geschichte über das Durchhalten, den schmalen Grat zwischen Opportunismus und Opposition zu meistern, ohne der Verzweiflung anheimzufallen. Die Eltern – beide Christen, der Vater ein Militärarzt, die Mutter Hausfrau – sind sichtlich bemüht, Findakly eine sorgenfreie Kindheit im Irak der Sechziger zu bereiten. Aber der Spielraum ist begrenzt: Fahnenappell und Hymnengesang in der Grundschule; Frauenzeitschriften und Lexika, aus denen Israel getilgt ist; abgehörte Telefonate, bei denen der lauschende Zensor zu schimpfen beginnt, sobald die Gesprächspartner vom Arabischen ins Französische wechseln; eine Klassenfahrt nach Mossul, um den Schülerinnen und Schülern die an Straßenlaternen aufgeknüpften Leichen gelynchter Baath-Millizionäre zu präsentieren; vor Kinofilmen platzierte Texttafeln, die zur Denunziation von Dissidenten aufrufen.

Findaklys und Trondheims Bildeinfälle, die sich nie von Verbitterung versehren lassen, sind genial: Leitmotivisch werden immer wieder laufende Soldaten ins Bild gesetzt, bewaffnet, den Blick zum Himmel gerichtet, treu ergeben, stilistisch absolut kaffeetassenkompatibel. Meist sind es fünf, wenn nach einem Putsch wieder mal einstige Verbündete massakriert wurden, gelegentlich auch nur drei. Die laufen dann und wann in die entgegengesetzte Richtung. Das Wesen des Krieges streift auch deshalb die Groteske, weil es so fürchterlich mechanisch ist.

Brigitte Findakly, Lewis Trondheim: „Mohnblumen aus dem Irak“
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Reprodukt. Berlin 2017, 112 Seiten, 18 Euro.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

coppola

Die Verführten

(USA 2017, Regie: Sofia Coppola)

Schöne Lenden blenden, bis sie in bleichen Händen böse enden
von Drehli Robnik

Der eine, die vielen; der Mann, die Frauen; der Nordstaatler, die Südstaatlerinnen. Die auf ein halbverlassenes Mädchenseminar im Virginia des US-Bürgerkriegs beschränkte Welt in „Die Verführten“ ist streng aufgeteilt; der …

Der eine, die vielen; der Mann, die Frauen; der Nordstaatler, die Südstaatlerinnen. Die auf ein halbverlassenes Mädchenseminar im Virginia des US-Bürgerkriegs beschränkte Welt in „Die Verführten“ ist streng aufgeteilt; der Originaltitel „The Beguiled“ aber lässt offen, wer hier verführt (oder, wie das für ältere Ohren klingt, regelrecht begeilt) wird: Sie, er oder alle? Die Frauen hinter dem griechischen Villenportal ihres Instituts, die den verwundeten Feind bei sich verstecken – aber nur, so heißt es, bis er gesund genug ist, um in Kriegsgefangenschaft zu gehen –, wodurch die streng geregelte Damenwelt in Unruhe gerät? Oder der Soldat, der sich über die Zuneigung täuscht, die ihm entgegenbracht wird, mit üblen Folgen für sein leibliches Wohl?

Jedenfalls fangen fast alle der Frauen ein jeweils altersgemäßes Gspusi mit ihm an: Schwärmerische kleine Myladys wollen Aufmerksamkeit und Freundschaft, die älteste Schülerin (Elle Fanning) will Sex, Miss Französischlehrerin (Kirsten Dunst) sucht Wege aus der Verzopftheit und Ma’am Schulleiterin (Nicole Kidman) verhehlt nur mit Mühe ihre Angetanheit vom Beistand eines Galans, der ihre Stärke als Frau mit schmeichlerischen Worten würdigt und ihren verwilderten Garten mit imposantem Körpereinsatz pflegt.

„The Beguiled“ ist zu weiten Teilen ein Remake. Gegenüber Don Siegels Erstverfilmung des Romans „A Painted Devil“ von Thomas Cullinan (1966) allerdings gibt es Akzentverlagerungen, De- und Rezentrierungen, und da sticht schon die Besetzung ins Auge: Stand im Beguiled-Film von 1971 Clint Eastwood als der He-Man-Western-Weltstar schlechthin, dessen unbeirrte Roheit routinemäßig in entfremdete Milieus einbricht, einem Cast von weitaus weniger prominenten Darstellerinnen gegenüber (Geraldine Page in der Rolle der Schulleiterin), so sind nun Kidman & Kirsten Kaliber, angesichts derer Colin Farrell in der Blaurock-Rolle mittelgewichtig und passenderweise ins Eck getrieben wirkt; vor allem aber mutet er eher als schöner Leib denn als Tatmensch an.

Überhaupt ist hier der Mann ein leicht verängstigter Körper, der sich reihum prostituiert, der Lenden, Innuendo und grünen Daumen einsetzt, um zu überleben; die Frauen hingegen sind ganz gemessener Geist und gefesselte Form, Sprachkunde und Betstunde in Spitzenkleid und Kerzenlicht. Wie so oft bei Sofia Coppola, die für „The Beguiled“ den Regiepreis in Cannes erhielt, sind die Mädchenkleingruppen narzisstisch und etherisch-bleich, siehe „The Bling Ring“ oder „The Virgin Suicides“. (Die schwarze Haussklavin, 1971 eine Nebenfigur, kommt bei ihr nicht vor.) Und die Baumkronen, kunstvoll durchzogen von Sonnenstrahlen und Dunstschwaden, Sommerflirren, fernem Kanonendonner und Synthie-Flächen von Phoenix (J-Boy als Toyboy), kurz: das Atmosphärische des Naturraums fungiert hier mehr als schwelgender Hintergrund denn als dampfende Kampfmetapher (wie 1971, auf einem Höhepunkt der Zweiten Frauenbewegung) – in einem erwartungsgemäß attraktiven und gut, aber schematisch funktionierenden Drama.

le pen

Das ist unser Land!

(F 2017, Regie: Lucas Belvaux)

Marionette rechtspopulistischer Machenschaften
von Wolfgang Nierlin

Der Morgen dämmert über der fiktiven nordfranzösischen Kleinstadt Hénart. Noch ist alles ruhig auf den Plätzen und Straßen, in denen die gleichförmigen Häuser schnurgerade aufgereiht sind. In den ehemaligen Arbeitersiedlungen …

Der Morgen dämmert über der fiktiven nordfranzösischen Kleinstadt Hénart. Noch ist alles ruhig auf den Plätzen und Straßen, in denen die gleichförmigen Häuser schnurgerade aufgereiht sind. In den ehemaligen Arbeitersiedlungen des Départements Pas-de-Calais herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit, die Menschen fühlen sich abgehängt und vergessen. Der lange, intensive Arbeitstag der ambulanten Krankenpflegerin Pauline Duhez (Émilie Dequenne), die sich ziemlich gehetzt von einem Ort zum anderen bewegt, saugt die Sorgen und Nöte ihrer Patienten förmlich auf und liefert damit gewissermaßen ein Spiegelbild der umgebenden Gesellschaft. Die alleinerziehende Mutter zweier Kinder ist engagiert und deshalb beliebt. Das erkennt auch der geschätzte Arzt und Politiker Philippe Berthier (André Dussollier), der ihr zudem attestiert „einfach, couragiert, intelligent und sympathisch“ zu sein und sie deshalb als Bürgermeisterkandidatin für seine rechtspopulistische Partei gewinnen will.

„Frankreich braucht neue Kräfte“, schmeichelt der doppelgesichtige Berthier der Umworbenen und gibt sich dabei volksnah. Weil sie das Leben und die Menschen kenne, könne sie etwas bewirken und dabei auch ihre eigene Situation verändern. „Man kämpft im Jetzt – für die Zukunft“, gibt sich der Arzt engagiert, womit er als aufrechter Patriot („Mein Volk, mein Land“) natürlich vor allem die Zukunft seines Heimatlandes meint. Bald findet sich Pauline inmitten einer nationalen Volksbewegung, die sich Rassemblement National Populaire (RNP) nennt und sich nach außen Mühe gibt, ihre Herkunft aus rechtsradikalen Zusammenhängen zu kaschieren oder auch zu eliminieren. Zu dieser dunklen Vergangenheit gehört auch der militante Rechtsextremist Stéphane Stanko (Guillaume Gouix), Paulines zwielichtiger Jugendfreund, in den diese sich gerade erneut verliebt.

Lucas Belvaux inszeniert sein um Aufklärung bemühtes Politdrama „Das ist unser Land!“ (Chez Nous) erkennbar absichtsvoll und zielgerichtet. Im Sozialen geerdet, beleuchtet sein ebenso spannender wie vielschichtiger Film die Hintergründe, Verflechtungen und dunklen Machenschaften des Rechtspopulismus. Belvaux ist damit ein hochaktuelles Werk gelungen, das am Beispiel einer unbescholtenen Frau, die zur Marionette der Macht wird, nicht nur die manipulative Kraft doppelgesichtiger Demagogen zeigt, sondern auch die gesellschaftlichen Konflikt- und Trennungslinien, die sich schmerzlich durch Freundeskreise und Familien ziehen.

Eine weitere Kritik zu „Das ist unser Land!“ findet sich hier.

transformers bay

Transformers 5: The Last Knight

(USA 2017, Regie: Michael Bay)

Scheiße aus Gold
von David Auer

In einer bezeichnenden Szene im vierten „Transformers“-Teil, mit dem passenden Untertitel „Age of Extinction“ (2014), moniert der Besitzer eines ausrangierten Kinos, dass Filme, zumal unter Einfluss von Sequelitis und Remake-Mania, …

In einer bezeichnenden Szene im vierten „Transformers“-Teil, mit dem passenden Untertitel „Age of Extinction“ (2014), moniert der Besitzer eines ausrangierten Kinos, dass Filme, zumal unter Einfluss von Sequelitis und Remake-Mania, heutzutage „a bunch of crap“ seien. Der von Mark Wahlberg gespielte Protagonist, ein müllaffiner Erfinder, kauft ihm einen alten aber funktionstüchtigen Lastwagen ab. Der Frage seiner Tochter, warum er diesen Schrotthaufen überhaupt erworben habe, entgegnet er unbedarft: „Look at the junk and see the treasure“. („Überraschenderweise“ stellt sich der Lastwagen später als Optimus Prime, Chef der Autobot-Clique, heraus.) Keine Frage, hier adressierte Michael Bay jene Unkenrufer, die das Spielwarenadaptionsfranchise in Eintracht als veritable Katastrophe fürs Kino betrachten. Das Publikum schert das recht wenig, die kontinuierlich phänomenalen Box Office-Zahlen sprechen dafür. Und wie die Figuren im Bayversum oft nur untätig und mit weit aufgerissenen Augen und Mündern bloß zuschauen können, während die massiven Roboter über ihren Köpfen hinweg ihr brachiales Unwesen treiben, bleibt auch angesichts von „The Last Knight“ kaum mehr, als es ihnen gleichzutun und sich der Materialschlacht hinzugeben.

Selbst ein sich kritisch dünkender Geist muss sich nämlich auch diesmal ab spätestens der Halbzeit der üblicherweise mehr als zweieinhalbstündigen Ungetümer von Transformers-Filmen geschlagen geben, zumal Bay versiert darin ist, das Sensorium überzustrapazieren. Als prononcierter Edeljunk-Dealer versteht er es nicht nur, mittels einer gelungenen Melange aus computergenerierten und praktischen Effekten die Leinwand zu einem überwältigenden Mosaik zu verwandeln – der hektische Schnitt trägt einiges dazu bei –, sondern auch, Geschichte, Mythologie und Gegenwart zu einem Gordischen Knoten zu verknüpfen. Der Parallelisierung der König Artus-Sage, die er als Barbarenbezwingung mithilfe von Robo-Rittern inszeniert, mit der Gegenwart, in der die Rede ist von „endless waves of alien beings“, die die (westliche) Welt bedrohen – dieser Parallelisierung eine böse Botschaft zu attestieren, gliche des Knotens einseitiger Auflösung. Genauso wie den Bilder von vor illegalisierten guten Bots wimmelnden No-go Zones, die von der kaum positiv konnotierten durchmilitarisierten „New World Order“ patrouilliert werden, und des „… to punisch and enslave“-Schriftzugs (anstatt von „… to serve and protect“) auf einem Polizeiauto eine dezidiert politische Schlagseite abzugewinnen. Sprich: Diese bits und pieces bieten sich zu allerlei Allegorisiererei an – inmitten des üblichen Bayhem, das heißt Pyro-Porno, Robo-SloMo und Schauplatz-Stakkato lassen sie sich aber auch schlichtweg als schlecht recycelter Diskursmüll abtun.

Die Transformers-Reihe, samt der der dringlichen Kritik daran, ist Mist, der nur schwer voneinander zu trennen ist: Wo jene immer wieder und nicht enden wollend auf den Kollaps der Menschheit sowie der Erde zusteuert, schreibt diese im angestrengt-cinephilen Pflichtbewusstsein mantraartig den Untergang des Kinos durch Bay herbei. Dass beides so weitergeht, ist nur eine kleine Katastrophe, die Antwort auf die Frage, warum es das muss, Symptom einer weitaus größeren, schon längst eingetroffenen. Das Festhalten an der feinsäuberlichen Trennung von Hoch- und Niedrigstkunst, wenn man so will, ist nämlich nur noch reine Prätention, sie kann auf den Abfallhaufen der Geschichte. Eine Wahrheit, die sich durch Bays Schaffen ausdrückt – aber auch noch lange kein Beweis dafür, dass jeder Trash gleich Treasure ist, nur weil Marky Mark es behauptet. Weniges nämlich, das in „The Last Knight“ im perfekten CGI glänzt, ist golden, dennoch ist vieles davon schön anzuschauen, wenn auch nur schwer auszuhalten.

helle nächte

Helle Nächte

(D/NOR 2017, Regie: Thomas Arslan)

Suche nach Nähe in der Weite
von Wolfgang Nierlin

Melancholie und Trauer, Abschied und Aufbruch sind von Anfang an gegenwärtig in den Bildern, die Reinhold Vorschneider für Thomas Arslans stillen, großen Film „Helle Nächte“ in Cinemascope aufgenommen hat: Der …

Melancholie und Trauer, Abschied und Aufbruch sind von Anfang an gegenwärtig in den Bildern, die Reinhold Vorschneider für Thomas Arslans stillen, großen Film „Helle Nächte“ in Cinemascope aufgenommen hat: Der Blick auf eine triste Baustelle, auf Kräne, Halbfertiges und Betonverschalungen, unterlegt mit einem monotonen, gedehnten Orgelton des Musikers und Komponisten Ola Fløttum. In sich versunken und stumm sitzt Bauingenieur Michael (Georg Friedrich, der für seine Darstellung mit dem Silbernen Bären der Berlinale ausgezeichnet wurde) in seinem Büro, flankiert von mehreren Bildschirmen und schmutzigen Scheiben. Die Kamera zeigt ihn von hinten und aus der Distanz. Michaels Vater ist an einem Herzinfarkt gestorben und hat verfügt, dass er an seinem letzten Wohnort in Norwegen beerdigt wird. Man erfährt, dass die familiären Bande und Michaels Verhältnis zum Vater nicht sehr eng waren. Trotzdem wirkt es wie eine doppelte Verlassenheit, als der Trauernde kurz darauf von seiner Lebensgefährtin Leyla (Marie Leuenberger), einer Journalistin, erfährt, dass diese für ihre Zeitung ein Jahr lang in Washington arbeiten möchte.

Thomas Arslan verknüpft in „Helle Nächte“ mit großer Offenheit und untergründiger Spannung das Genre des Roadmovies mit einer Vater-Sohn-Geschichte. Denn kurz darauf sehen wir Michael zusammen mit seinem 14-jährigen Sohn Luis (Tristan Göbel) durch die nebelverhangene Landschaft im äußersten Norden Norwegens fahren. Die beiden verstehen sich nicht und kennen sich kaum, weil Luis bei seiner Mutter aufgewachsen ist und sein Vater sich nicht um ihn gekümmert hat. Die beiden sind sich fremd, schweigen sich an oder streiten miteinander. Michaels wiederholte Versuche, die (kommunikative) Distanz aufzubrechen und Nähe herzustellen, blockt Luis genervt und feindselig ab. Weder will sich dieser bevormunden lassen noch interessieren ihn überhaupt die Belange des Vaters. Dass seine teils aggressive Haltung nicht nur in persönlichen Verletzungen seinen Grund hat, sondern auch in einem Generationenkonflikt, macht der Film an vielen Stellen deutlich.

Unterwegs durch die großartige, nahezu menschenleere Landschaft der Region Troms wird die raue Natur zum Resonanzraum für eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung. Michael sucht die Nähe zu seinem Sohn in der Weite und will die Distanz zwischen ihnen durch Bewegung überwinden. So setzen sie nach der Beerdigung des Vaters ihre gemeinsame Reise noch fort, erleben Widerstände und wechselseitige Abhängigkeiten, den Leerlauf der Zeit und die Konfrontation mit sich selbst. Das alles geschieht in der stumpfen Helligkeit des polaren Mittsommers mit seiner besonderen Atmosphäre halbbewusster Wachheit. In einer der schönsten, fast schon unheimlichen Szenen des Films taucht die Kamera in subjektiver Perspektive während einer minutenlangen Fahraufnahme immer tiefer hinein in die schier unendlichen Nebel jenseits der Baumgrenze. Und das wirkt wie ein archetypischer Übertritt in eine andere Welt, in der etwas Neues, vielleicht eine zarte Nähe zwischen den einander Fremden entstehen könnte. Thomas Arslans intensiver, bildstarker Film eröffnet hier einen Möglichkeitsraum, in dem der Sohn nicht mehr ausgesetzt, sondern von seinem Vater gesucht und getragen wird.

 

innen leben

Innen Leben

(B/F/LBN 2017, Regie: Philippe Van Leeuw)

Innere und äußere Gewalt
von Jürgen Kiontke

Was macht eigentlich die Zivilbevölkerung im Krieg? In Philippe van Leeuws Spielfilm „Innen Leben – Insyriated“ erlebt sie den Krieg vom Balkon aus wie weiland die Menschen bei Sokrates das …

Was macht eigentlich die Zivilbevölkerung im Krieg? In Philippe van Leeuws Spielfilm „Innen Leben – Insyriated“ erlebt sie den Krieg vom Balkon aus wie weiland die Menschen bei Sokrates das Höhlengleichnis. Indirekt, halbblind, vom Hörensagen, als Unsicherheit: Außer der philippinischen Haushaltshilfe Delhani traut sich niemand an die Luft, und auch die sieht nur Schatten. Die künden davon, wie Scharfschützen Menschen auf der Straße umlegen. Kein Wasser, kein Strom und draußen stirbt gerade jemand – ist es gar der Mitbewohner? Es sieht aus, als trüge der Verletzte seine Schuhe…

Van Leeuw hat sein Bürgerkriegskammerspiel, das drei Frauen ins Zentrum stellt, in die Außenbezirke der syrischen Hauptstadt verlegt. Hausherrin Oum harrt mit Schwiegervater, Delhani und drei Kindern in ihrer Wohnung im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses aus. Außerdem gewährt die kleine Gruppe einem jungen Paar aus der ausgebombten Nachbarswohnung, Halima und Samir sowie dem Freund der Tochter Asyl, der bei einem Besuch von schweren Gefechten überrascht wurde.

Welch ekelhafte innere die äußere Gewalt produziert, dafür bringt der Film ein schlimmes Beispiel. Zwei üble Gesellen verschaffen sich Zutritt zu der Wohnung, Halima hat es mit ihrem Baby nicht in die sicheren, verbarrikadierten hinteren Räume geschafft. Die Typen werden sich an ihr vergehen, die anderen erleben das Verbrechen durch verschlossene Türen mit.
Werden sie helfen? Würden wir helfen? Der Film ist sich da nicht so sicher. Leeuw stellt den Schmerz in den Raum, will die ganze Aufmerksamkeit seines Publikums, verhandelt existenzielle Fragen. Soll ich mich in Gefahr bringen, um andere zu retten, wenn ich womöglich selbst dabei Schaden nehme?

Erzählt wird mit Spannung, Filme wie „Panic Room“ von David Fincher oder besser noch „Sieben“ bilden die Referenz. Je weniger man sieht, desto mehr Bilder entstehen im Kopf. Wenn man denn noch einen hat.

Über den Syrien-Krieg hinaus stelle er nach Nachforschungen zu Menschenwürde an, sagt der Regisseur. Hat er gemacht, keine Gegenrede. Ihm ist ein fieser Antikriegsfilm gelungen, der Gewalt mit minimalen Mitteln darstellt und gerade damit zeigt, welche Verwüstungen sie in den Menschen anrichtet.

Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes

(D 2017, Regie: Julian Radlmaier)

Kommunismus ohne Kommunisten
von Wolfgang Nierlin

Die Schriftgestaltung des Filmplakates erinnert an Veröffentlichungen aus dem Suhrkamp Verlag. Und auch der leicht absurd klingende Filmtitel „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ könnte sich ganz selbstverständlich in eine theoretische Schriftenreihe …

Die Schriftgestaltung des Filmplakates erinnert an Veröffentlichungen aus dem Suhrkamp Verlag. Und auch der leicht absurd klingende Filmtitel „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ könnte sich ganz selbstverständlich in eine theoretische Schriftenreihe des traditionsreichen Verlagshauses einfügen. Julian Radlmaiers vielgelobte „politische Komödie mit magischen Wendungen“, vom jungen Filmemacher zudem als ein „burlesker Essayfilm“ bezeichnet, ist zunächst ein postmodernes ironisches Spiel mit Zitaten, Referenzen und Anspielungen. Wenn eingangs auf mattroter Leinwand die Credits erscheinen und dazu aus dem Off die auf einem E-Piano gespielte Internationale erklingt, sind mit feinem Humor die ersten politischen Farbtupfer gesetzt. Wenn sich kurz darauf dann auch noch Julian Radlmaier selbst in der Rolle des von ihm verkörperten Regisseurs Julian zu Wort meldet, verbindet sich das Politische auf selbstreferentielle Weise mit der selbstironischen Betrachtung des eigenen künstlerischen Tuns.

Der utopische Anspruch ist diesem auf augenzwinkernde Weise implementiert: Wie lassen sich Leben, Arbeit und Liebe im Geist des Kommunismus so miteinander verbinden, dass sich Individuum und Gemeinschaft, Freiheit und Notwendigkeit in einer möglichst herrschaftslosen, von Unterdrückung und Ausbeutung befreiten Balance befinden? Und ist insofern ein „Kommunismus ohne Kommunisten“ möglich? Der angehende Filmemacher Julian, der „ästhetisch-politisch“ arbeiten will, dafür aber keine finanzielle Förderung erhält und deshalb von Sozialhilfe leben muss, ist jedenfalls gefangen zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Als er vom Arbeitsamt zum Ernteeinsatz auf einer ostdeutschen Apfelplantage namens „Oklahoma“ abkommandiert wird, beschließt er, diesen gleichzeitig für ein Filmprojekt über die Arbeitsbedingungen im Spätkapitalismus zu nutzen. Und weil er sich daneben auch noch in die kanadische Kunststudentin Camille (Deragh Campbell) schwärmerisch verliebt hat, „engagiert“ er diese kurzerhand als Drehbuch-Assistentin.

Natürlich ist das nur ein Vorwand für eine „romantische Offensive“, die bei dem verliebten Helden ebenso unentschlossen ins Leere läuft, wie es seinem irgendwie halbherzigen Projekt zu ergehen scheint. Doch tatsächlich sehen wir als unmerklichen Film-im-Film mit dem Titel „The Persuit of Happiness“ bereits das schillernd doppelbödige „Ergebnis“ seines Aufenthaltes auf der Plantage, bei dem Julian mehr oder weniger distanzierter Beobachter bleibt. Ganz im Gegensatz zu den beiden entlassenen Museumswärtern Hong (Kyung-Taek Lie) und Sancho (Beniamin Forti), die ganz naiv an das „Paradies auf Erden“ glauben und dafür innerhalb einer ziemlich heterogenen Gruppe von Individualisten kämpfen; bis sie schließlich von einem stummen Mönch, der den Rat von Vögeln einholt, ins gelobte Land Italien geschickt werden. Denn natürlich folgt die von der Gutsbesitzerin Elfriede Gottfried als „lustige Ernte-Olympiade“ apostrophierte Apfellese vor allem den Gesetzen des globalen Kapitalismus.

Julian Radlmaiers ebenso witzige wie beziehungsreiche filmische Vermittlung von Theorie und Praxis nutzt das doppeldeutige Spiel mit unterschiedlichen Graden der Fiktion, um das Scheitern seiner idealistischen Klassenkämpfer abzumildern. Multiperspektivisch und zugleich sehr statisch betrachtet und analysiert er in seinem trotzdem sehr durchlässigen und unterhaltenden Film „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ ein Dilemma, in dem nicht nur der Regisseur und seine Protagonisten stecken, sondern wir alle; und für das es nur in der Kunst – so die These – als einer Möglichkeit, das Andere zu „realisieren“, vorübergehend Rettung gibt.

Hier gibt es eine weitere Kritik zum Film.

Der Ornithologe

(P/FRK/BRA 2016, Regie: João Pedro Rodrigues)

Weg der Verwandlung
von Wolfgang Nierlin

„Wer sich dem Geist nähert, wird seine Wärme spüren und sein Herz wird sich in neue Sphären erheben“, heißt es in der berühmten Pfingstpredigt des heiligen Antonius aus dem Jahre …

„Wer sich dem Geist nähert, wird seine Wärme spüren und sein Herz wird sich in neue Sphären erheben“, heißt es in der berühmten Pfingstpredigt des heiligen Antonius aus dem Jahre 1222. Der portugiesische Filmemacher João Pedro Rodrigues stellt dieses Wort als Motto an den Anfang seines neuen Films „Der Ornithologe“. Daraufhin folgen Bilder, in denen die Natur zur reinen Gegenwart wird; und in denen sie in Gestalt von Vögeln zurückblickt auf den Menschen. Diese Interaktion zwischen Blick und Gegen-Blick bestimmt das Verhältnis zwischen dem titelgebenden Ornithologen und den Vögeln, die er durch sein Fernglas beobachtet. Wobei der jeweilige Wechsel in die subjektive Perspektive den Zuschauer zum Mitbeobachter des jeweils anderen macht. Der stark und sehr männlich wirkende Fernando (Paul Hamy), der als gut angepasster Naturforscher einen intensiven Umgang mit den Elementen pflegt, ist andererseits auf die Vermittlung seines Vergrößerungsglases angewiesen. Zwischen Nähe und Distanz bleibt sein Verhältnis zur Natur also zunächst ambivalent.

Das ändert sich, als er auf seiner vogelkundlichen Expedition in einer abgelegenen Flusslandschaft im Norden Portugals mit seinem Kajak in Stromschnellen gerät und kentert. Im weiteren Verlauf der nach einzelnen Stationen gegliederten Handlung, die gleichermaßen eine Odyssee und eine Selbstsuche beschreibt, scheint Fernando mehrere Tode zu sterben. In der vom Leben und von den Legenden des heiligen Antonius inspirierten Geschichte, die phantasievoll und natürlich die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, Überlieferung und Mythos überschreitet, ist Fernando zunächst eine Wasserleiche, die von zwei chinesischen Pilgerinnen zum Leben erweckt wird. Weil der bekennende Atheist aber kurz darauf in Fesseln erwacht und bekehrt werden soll, entzieht er sich heimlich der Folter durch einen Akt der Selbstbefreiung. Rodrigues zitiert hier die Ikonographie der Märtyrer-Darstellungen.

Der Weg zurück zum Ausgangspunkt wird daraufhin für Fernando zu einem Weg der Verwandlung, wobei er sich unterwegs durch einen magischen Wald immer mehr von seinem alten Leben löst. „Hier geht etwas Seltsames vor sich“, spricht er bald darauf in sein Diktiergerät. Nachts beobachtet er ein wüstes, heidnisches Stammesritual; am Tag darauf begegnet er einem taubstummen Ziegenhirten namens Jesus (Xelo Caglao), mit dem er eine zärtliche Liebe erlebt und an den ihn zugleich eine schmerzliche Schuld kettet. Um sich von dieser zu befreien, muss sich Fernando aber erst in António (gespielt von Rodrigues selbst) verwandeln. Diesen Prozess erfährt er als „unergründliches Geheimnis“ der Neugeburt, in deren Verlauf er zu den Fischen predigt („Warum sucht ihr nicht nach klaren Gewässern?“) und den toten Jesus, der jetzt in der Rolle des zunächst maskierten (ungläubigen) Tomé erscheint, zum Leben erweckt.

„Ich wollte herausfinden, wie der heilige Antonius in mir existiert“, hat João Pedro Rodrigues über seine spirituelle filmische Selbstsuche gesagt. „Ich bin nicht mehr derselbe“, bekennt wiederum sein Alter Ego am Ende des Films; und fühlt sich zugleich in einem ganz säkularen Sinn befreit für die (gleichgeschlechtliche) Liebe.

Der Tod von Ludwig XIV.

(FRK 2016, Regie: Albert Serra)

Am qualvollen Ende der absoluten Macht
von Wolfgang Nierlin

Der alte König ist geschwächt und muss das Bett hüten. Das leichte Zittern seiner Hände, ein Zucken um die Mundwinkel, zunehmende Bewegungsunfähigkeit und ein mühevolles Sprechen deuten auf eine Krankheit. …

Der alte König ist geschwächt und muss das Bett hüten. Das leichte Zittern seiner Hände, ein Zucken um die Mundwinkel, zunehmende Bewegungsunfähigkeit und ein mühevolles Sprechen deuten auf eine Krankheit. Ablesbar ist diese Vermutung auch an den sorgenvollen Gesichtern seiner Dienerschaft, die ihn umgibt, und an den zwischen Neugier und Verunsicherung schwankenden Blicken der Hofgesellschaft. Ihrer auffordernden Bitte, Ludwig XIV. (großartig gespielt von Jean-Pierre Léaud) möge sich zu ihnen gesellen, entgegnet der greise „Sonnenkönig“ knapp: „Ich würde gerne, ich kann nicht.“ Im Kontrast zwischen Wollen und nicht Können, zwischen einstiger Stärke und zunehmender Schwäche vollzieht sich in Albert Serras tief beeindruckendem Film „Der Tod von Ludwig XIV.“ das Schicksal des absolutistischen Herrschers (1638 – 1715). Dabei erfreut er sich eingangs auf fast kindlich-naive Weise noch an seinen Hunden, hegt immer noch ein neugieriges Interesse an weiblichen Reizen sowie eine Liebe zur Musik. Mit den Worten: „Was zählt, ist der Verstand!“, versucht der König einmal erfolglos, die Hinfälligkeit des gebrechlichen Körpers zu negieren.

Ludwigs bemühter Leibarzt Dr. Fagon (Patrick d’Assumçao), der die Augenfarbe des Kranken untersucht, vermutet den Krankheitsherd zunächst unterhalb der Nieren und verordnet Eselsmilch. Doch der appetitlose Regent klagt über „furchtbare Schmerzen im linken Bein“ und hat schlimme Nächte. Als an seinem Fuß schließlich schwarze, übel riechende Flecken sichtbar werden, vermutet man einen Wundbrand, ohne genau zu wissen, was das ist und wie er zu therapieren sei. Die hinzugezogenen Mediziner der Sorbonne empfehlen einen Aderlass, eine Amputation wird erwogen, aber zugleich als unwürdige Verstümmelung abgelehnt; und das krude, aus Stierblut und Froschwasser bestehende Elixier eines Wunderheilers aus Marseille erweist sich schließlich als unwirksam. Der Film thematisiert hier die Grenzen und das Scheitern der zeitgenössischen Medizin zwischen mechanistischen Vorstellungen, Aufklärung, Naturheilkunde und Wunderglaube.

Was Albert Serras stilles, in Dunkelheit und Kerzenlicht getauchtes Kammerspiel auf ebenso nüchterne wie bewegende Weise aber vor allem zeigt, ist der Prozess eines qualvollen Sterbens unter den Bedingungen königlicher Etikette. Konzentriert auf die gedämpfte Geräuschkulisse des fürstlichen Schlafgemachs und das leidvolle Antlitz Ludwigs, erzählt der katalanische Filmkünstler langsam und bedächtig von Apathie und Schmerz, Siechtum und Agonie, die einmal in einem ungewöhnlichen Moment mit einem Ausschnitt aus Mozarts c-Moll-Messe zugespitzt und in der Schwebe gehalten wird. Auf außerordentlich spannende und ergreifende Weise verdichtet Serra den Stillstand des Handelns und das Ende aller Wünsche im Angesicht des Todes. Bevor Ludwig aber beichtet, seine letzte Ölung empfängt und bald darauf stirbt, erteilt er seinem noch kindlichen Thronfolger in Reue einen Rat: Er solle seine, also Ludwigs eigene „Bauwut“ und „Kriegslust“ nicht übernehmen; vielmehr möge er Gott zurückgeben, was ihm gebühre und das Leben des Volkes erleichtern. Aus der Absage an den Absolutismus schimmert am Ende also zugleich die Vision zukünftiger Revolutionen.

Nocturama

(FR/DE/BE 2016, Regie: Bertrand Bonello)

Krankheit zum Tode
von Wolfgang Nierlin

Zu Beginn des Films verknüpft die Montage auf magische Weise die von Rotorengeräuschen unterlegte Vogelperspektive auf Paris mit dem Metro-Untergrund der Weltstadt. Auf den geheimnisvollen Kontrast folgen multiperspektivisch die konspirativen …

Zu Beginn des Films verknüpft die Montage auf magische Weise die von Rotorengeräuschen unterlegte Vogelperspektive auf Paris mit dem Metro-Untergrund der Weltstadt. Auf den geheimnisvollen Kontrast folgen multiperspektivisch die konspirativen Bewegungen einer Gruppe Jugendlicher von den Rändern ins Zentrum. Unterwegs auf den Straßen und Schienen der Metropole evozieren ihre verschworenen Blicke und Gesten die Abgeklärtheit von Genre-Figuren. Zwar suggerieren die dokumentarisch wirkenden Handkamerabilder und präzise Zeitangaben einen forcierten Realismus, doch tatsächlich geht es Bertrand Bonello in seinem neuen Film „Nocturama“ um fiktive Überhöhung. Im hypnotischen Flow des von ihm selbst komponierten elektronischen Scores folgen wir zunehmend gespannt den parallelen Aktionen der Figuren, über die wir nur das Nötigste erfahren und deren Handlungsmotive mehr schlagwortartig angedeutet werden. Es scheint, als folgten sie einer inneren, nicht näher zu spezifizierenden Notwendigkeit.

Die jungen, unscheinbar wirkenden Protagonisten entstammen als Schüler, Studenten und Arbeitslose offensichtlich unterschiedlichen sozialen Milieus. Was sie eint, sind gemeinsame Feindbilder und ein nicht näher erläutertes Leiden an der Wirklichkeit, vielleicht sogar ein Lebensüberdruss. Diese Krankheit der Jugend, von Bonello als utopische Sehnsucht nach Verweigerung und Zerstörung apostrophiert und ins digitale Zeitalter transferiert, kulminiert und bezeugt sich in der gemeinsamen Planung und Durchführung mehrerer synchroner Sprengstoffanschläge. Über einen Zeitraum von fünf Stunden folgen wir im ersten Teil des Films den Vorbereitungen, registrieren Pannen, Unsicherheiten, Nervosität und Angst und werden zugleich mit schrecklich mörderischen Konsequenzen konfrontiert. Fast unmerklich bricht Bonello die Chronologie auf, fügt zeitliche Überlappungen und kurze Rückblenden in den Fluss der Geschehnisse ein, ohne dabei psychologisieren zu wollen. Als schließlich symbolisch und repräsentativ ein Teil des Innenministeriums, eine Revolutionsstatue, ein Hochhaus in La Défense und eine Reihe von Autos explodieren, wirkt das wie ein Fanal des Abschieds.

„Wir haben getan, was wir tun mussten“, sagt später einmal einer der Attentäter. Nicht Hoffnung und der Wunsch nach Aufbruch motivieren ihr Handeln, sondern eher ein existentieller Fatalismus, dem die Gewissheit letztlichen Scheiterns innewohnt. Auf das Feuer folgt eine gespenstische Stille. Paris verwandelt sich in eine Geisterstadt und die Jugendlichen ziehen sich im zweiten, „nächtlichen“ Teil in ein großes Kaufhaus zurück. Dieses fungiert zunächst als Versteck und schützender Kokon, zugleich aber auch als phantasievolles Traumreich und ambivalente Todeszone. Im Spiegel der Konsumwelt und des künstlichen Scheins begegnen die Protagonisten sich selbst und ihren innersten Wünschen; sie erkennen sich dabei in den Doppelgängern und Abziehbildern einer Welt, die sie selbst bekämpfen.

Unterstützt von prägnanten Musikeinsätzen – etwa Shirley Basseys Version von Paul Ankas Song „My Way“ sowie Blondies „Call Me“ – und schillernden Selbstdarstellungen, inszeniert Bertrand Bonello in diesen Passagen einen ebenso rauschhaften wie melancholischen Tanz vor dem unausweichlichen Untergang. Die Gewissheit des Todes, im künstlichen Stakkato mitleidlos präziser Gewalt (auch akustisch) verdichtet, erzeugt schließlich nur noch nackte Angst und eine verzweifelte Hoffnungslosigkeit: „Helft mir!“, ruft einer von ihnen zuletzt gegenüber dem maskierten Exekutionskommando der Polizei.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Nocturama‘.

Kein Platz für wilde Tiere / Serengeti darf nicht sterben

(D 1956, Regie: Bernhard Grzimek, Michael Grzimek / Bernhard Grzimek)

Afrikabilder
von Nicolai Bühnemann

Am Anfang war der Niedergang. Zeichentrickanimationen künden von Bevölkerungsexplosion, Verstädterung, Vertrocknung und Verwüstung einst fruchtbarer Landschaften. Auch in Afrika, wie Bilder des chaotischen Verkehrstreibens in Nairobi belegen sollen, gibt es …

Am Anfang war der Niedergang. Zeichentrickanimationen künden von Bevölkerungsexplosion, Verstädterung, Vertrocknung und Verwüstung einst fruchtbarer Landschaften. Auch in Afrika, wie Bilder des chaotischen Verkehrstreibens in Nairobi belegen sollen, gibt es immer weniger Platz für wilde Tiere.

Zu den Bildern von bettelnden Schwarzen und den wuchernden Slums an den Rändern der großen Städte verkündet das Voice-Over mit bitterem Pathos von den Kehrseiten der sich auf dem Kontinent ausbreitenden Zivilisation. „Kein Platz für wilde Tiere“, der Film, den der Tierforscher und langjährige Direktor des Frankfurter Zoos Prof. Dr. Bernhard Grzimek zusammen mit seinem Sohn Michael 1956 realisierte, bedient damit die Erzählung von der vermeintlichen Zivilisierung der Erde als Verlust, die einhergeht mit einer Sehnsucht zivilisationsmüder Okzidentalen nach Natur, Ursprünglichkeit, Unberührtheit. Wir kennen diese Erzählung aus dem Western ebenso wie aus Alejo Carpentiers ebenfalls in den Fünfzigern entstandenen Roman „Die verlorenen Schritte“, dessen namenloser Protagonist sich aus der Entfremdung seines Dasein in New York in die Wildnis Südamerikas flüchtet, wobei seine Reise nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit zu führen scheint, von der westlichen Metropole der Gegenwart bis zu Menschen, die scheinbar noch in der Steinzeit leben.

Solche nostalgischen Verklärungen sind dem wissenschaftlichen Ansatz der Grzimeks fremd. Dennoch ist ihr lobenswerter Kampf für den Erhalt der letzten Naturparadiese schon hier, aber vor allem in dem programmatisch betitelten und 1959 mit dem Oscar ausgezeichneten Nachfolgefilm „Serengeti darf nicht sterben“ der gleichen tief in der Mythologie des Kolonialismus verwurzelten Sehnsucht geschuldet. Wenn die Welt klein ist, wie Kolumbus lakonisch feststellte, und in dem Maße, wie sie durch Globalisierungsschübe wie jener, die die Fahrten des mailändischen Seemanns einleiteten, immer kleiner wird, sehnt sich der westliche Mensch nach der „jungfräulichen“ von ihm unberührten Natur. Seit Kolumbus stehen die Erzählungen vom Guten Wilden und dem bösen Kannibalen als Extreme der Darstellung kultureller Alterität. Projektionen sind sie beide. Wo erstere das Gute im Fremden sucht, in dem bitteren Bewusstsein, dass dieses durch die Berührung durch das koloniale Subjekt auf immer verloren gehen wird, steht letztere für die eigenen Grausamkeit und zugleich als Rechtfertigung für dieselbe.

Auch wenn „Kein Platz für wilde Tiere“ natürlich in erster Linie ein Tierfilm ist, spuken durch ihn doch auch diese westlichen Gemeinplätze im Umgang mit den Menschen der Fremde, hier Afrikas, was ihn noch um einiges interessanter macht als seinen Nachfolger. Wo der Anthropomorphismus des Voice-Overs im Bezug auf die Tiere die Unmöglichkeit verdeutlicht, im Anderen etwas anderes als Spieglungen des eigenen Selbst wahrzunehmen, ist der Umgang mit den afrikanischen Menschen, die den Forschern auf ihrer Reise begegnen, wesentlich komplexer. Es kann im zeitlichen Kontext der Entstehung des Films durchaus verblüffen, dass zunächst von Schwarzen anstatt von Negern die Rede ist. Noch bemerkenswerter ist dann aber die Art, wie das „N-Wort“ schließlich doch noch zu seinem Recht kommt. Als Neger werden nämlich nicht alle Afrikaner bezeichnet, sondern nur die, die schon von der westlichen Zivilisation verdorben sind, in Abgrenzung von den noch ganz ursprünglich lebenden Pygmäen, die der Film den auch mit paradiesisch anmutenden Bildern zeigt. Der „Neger“ wird als Fortsetzung der eigenen zivilisatorischen Bemühungen wahrgenommen. Er ist gerade als Komplize des Europäers der böse Wilde, was sich auch in seinem Begehren für die Pygmäenfrauen ausdrückt, die er in einer Szene für einen Haufen Geldscheine bei den Männern des Stammes kauft. Er ist einerseits ganz Agent der westlichen Welt, aber andererseits noch nicht mit deren moralischen Begrenzungen ausgestattet. Dass der „Neger“ ganz unser Produkt ist, ist eine der Wahrheiten über den kolonialistischen Diskurs, die sich implizit aus dem Film ablesen lässt.

Seinen tollkühnsten und wahrhaftigsten Moment hat der Film denn auch in der Darstellung nicht wilder Tiere, sondern wilder Menschen. Zu Bildern eines ekstatisch tanzenden Stammes in voller Kriegsbemalung wird betont reißerisch von der Wildheit der Batussi gesprochen – nur damit das Treiben sich nach einem Schnitt als Teil einer Inszenierung für die Augen westlicher Reisender herausstellen darf. Neben dem Seitenhieb auf die neokolonialistischen Züge des modernen Massentourismus, für den das vermeintlich Archaische in den Zusammenhängen einer durch und durch kapitalisierten Welt ebenso zur Ware wird wie Tierfelle, nimmt sich diese Szene auch geradezu prophetisch im Hinblick auf ein Subgenre des europäischen Genrekinos aus: den erst 1962, also sechs Jahre nach „Kein Platz für wilde Tiere“, durch „Mondo Cane“ begründeten Mondofilm, in dem unter anderem die Riten „archaischer“ Völker dafür herhalten müssen, das Bedürfnis des Publikums nach blutigen Schauwerten zu befriedigen.

Die ätzende Kritik des Films an den Praktiken der ebenfalls touristisch ausgeschlachteten Großwildjagd untermauert der Film gegen Ende mit den bedrückenden Bildern einer durch Schüsse verletzten Elefantenkuh, die im Wasser Linderung ihrer Schmerzen sucht (Ulrich Seidls „Safari“ habe ich noch nicht gesehen, könnte mir aber vorstellen, dass er mit seiner Darstellung des Tötens als Sport in eine ähnliche Kerbe schlägt).

Der große Erfolg dieses Films, ermöglichte es drei Jahre später „Serengeti darf nicht sterben“ zu drehen, in dem dokumentiert wird, wie das Team um die Grzimeks den Serengeti-Nationalpark vermisst, um ihn so einzurichten, dass es den hier lebenden Tierherden möglich bleibt, ihre Wanderungen zu unternehmen. Der Kampf gegen Wilderer wird ebenso thematisiert wie die großen Gefahren, die das Team für seine Arbeit auf sich nimmt. Tatsächlich bezahlte Michael Grzimek sein Engagement mit dem Leben. Er starb während der Dreharbeiten bei einem Flugzeugabsturz.

Universal Music Familiy Entertainment/Karussell macht die beiden Filme nun erstmals digital restauriert in HD zugänglich. Die Blu-ray bietet neben den Filmen im deutschen Original und auf Englisch eine Bildergalerie. Etwas mehr Informationen zur Biographie der Filmemacher wären schön gewesen. Anders als es die zum Glück falschen Angaben auf dem Cover befürchten lassen, liegen die Filme auch im korrekten Bildformat von 1:1,33 vor. Die Erhabenheit der Tiere und der Landschaft, durch die sie sich bewegen, kann so in neuem Glanz erstrahlen.