Nocturama

(FR/DE/BE 2016; Regie: Bertrand Bonello)

Krankheit zum Tode

Zu Beginn des Films verknüpft die Montage auf magische Weise die von Rotorengeräuschen unterlegte Vogelperspektive auf Paris mit dem Metro-Untergrund der Weltstadt. Auf den geheimnisvollen Kontrast folgen multiperspektivisch die konspirativen Bewegungen einer Gruppe Jugendlicher von den Rändern ins Zentrum. Unterwegs auf den Straßen und Schienen der Metropole evozieren ihre verschworenen Blicke und Gesten die Abgeklärtheit von Genre-Figuren. Zwar suggerieren die dokumentarisch wirkenden Handkamerabilder und präzise Zeitangaben einen forcierten Realismus, doch tatsächlich geht es Bertrand Bonello in seinem neuen Film „Nocturama“ um fiktive Überhöhung. Im hypnotischen Flow des von ihm selbst komponierten elektronischen Scores folgen wir zunehmend gespannt den parallelen Aktionen der Figuren, über die wir nur das Nötigste erfahren und deren Handlungsmotive mehr schlagwortartig angedeutet werden. Es scheint, als folgten sie einer inneren, nicht näher zu spezifizierenden Notwendigkeit.

Die jungen, unscheinbar wirkenden Protagonisten entstammen als Schüler, Studenten und Arbeitslose offensichtlich unterschiedlichen sozialen Milieus. Was sie eint, sind gemeinsame Feindbilder und ein nicht näher erläutertes Leiden an der Wirklichkeit, vielleicht sogar ein Lebensüberdruss. Diese Krankheit der Jugend, von Bonello als utopische Sehnsucht nach Verweigerung und Zerstörung apostrophiert und ins digitale Zeitalter transferiert, kulminiert und bezeugt sich in der gemeinsamen Planung und Durchführung mehrerer synchroner Sprengstoffanschläge. Über einen Zeitraum von fünf Stunden folgen wir im ersten Teil des Films den Vorbereitungen, registrieren Pannen, Unsicherheiten, Nervosität und Angst und werden zugleich mit schrecklich mörderischen Konsequenzen konfrontiert. Fast unmerklich bricht Bonello die Chronologie auf, fügt zeitliche Überlappungen und kurze Rückblenden in den Fluss der Geschehnisse ein, ohne dabei psychologisieren zu wollen. Als schließlich symbolisch und repräsentativ ein Teil des Innenministeriums, eine Revolutionsstatue, ein Hochhaus in La Défense und eine Reihe von Autos explodieren, wirkt das wie ein Fanal des Abschieds.

„Wir haben getan, was wir tun mussten“, sagt später einmal einer der Attentäter. Nicht Hoffnung und der Wunsch nach Aufbruch motivieren ihr Handeln, sondern eher ein existentieller Fatalismus, dem die Gewissheit letztlichen Scheiterns innewohnt. Auf das Feuer folgt eine gespenstische Stille. Paris verwandelt sich in eine Geisterstadt und die Jugendlichen ziehen sich im zweiten, „nächtlichen“ Teil in ein großes Kaufhaus zurück. Dieses fungiert zunächst als Versteck und schützender Kokon, zugleich aber auch als phantasievolles Traumreich und ambivalente Todeszone. Im Spiegel der Konsumwelt und des künstlichen Scheins begegnen die Protagonisten sich selbst und ihren innersten Wünschen; sie erkennen sich dabei in den Doppelgängern und Abziehbildern einer Welt, die sie selbst bekämpfen.

Unterstützt von prägnanten Musikeinsätzen – etwa Shirley Basseys Version von Paul Ankas Song „My Way“ sowie Blondies „Call Me“ – und schillernden Selbstdarstellungen, inszeniert Bertrand Bonello in diesen Passagen einen ebenso rauschhaften wie melancholischen Tanz vor dem unausweichlichen Untergang. Die Gewissheit des Todes, im künstlichen Stakkato mitleidlos präziser Gewalt (auch akustisch) verdichtet, erzeugt schließlich nur noch nackte Angst und eine verzweifelte Hoffnungslosigkeit: „Helft mir!“, ruft einer von ihnen zuletzt gegenüber dem maskierten Exekutionskommando der Polizei.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Nocturama‘.

Benotung des Films :

Wolfgang Nierlin
Nocturama
(Nocturama)
Frankreich, Deutschland, Belgien 2016 - 130 min.
Regie: Bertrand Bonello - Drehbuch: Bertrand Bonello - Produktion: Edouard Weil, Alice Girard - Bildgestaltung: Léo Hinstin - Montage: Fabrice Rouaud - Musik: Bertrand Bonello - Verleih: Real Fiction Filmverleih - Besetzung: Finnegan Oldfield, Vincent Rottiers, Hamza Medziani, Manal Issa, Martin Guyot, Jamil McCraven, Ilias Le Doré, Adèle Haenel
Kinostart (D): 18.05.2017

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt4795546/
Link zum Verleih: http://www.realfictionfilme.de/filme/nocturama/
Foto: © Real Fiction Filmverleih