Immer noch eine unbequeme Wahrheit – Unsere Zeit läuft

(USA 2017; Regie: Bonni Cohen, Jon Shenk)

Immer noch Al Gore

Amerikaner wissen, wie man dramatische Filme dreht. „Dies ist unser Zuhause – lasst euch nicht erzählen, wir würden in Raumschiffe steigen und zum Mars abhauen!“, warnt der US-Präsident. „Es geht um alles, wir müssen die Menschheit retten!“ Das Symphonieorchester weiß, was es zu tun hat.

Du bist nicht in der nächsten „Transformers“-Folge und auch nicht in „Independence Day 3“. Es ist schlimmer. Der Film heißt „Immer noch eine unbequeme Wahrheit“ und ist die unbequeme Fortsetzung von „Eine unbequeme Wahrheit“ aus dem Jahr 2006. Der charismatische Typ, der da redet, ist immer noch der ehemalige US-Vizepräsident Al Gore, der mit 537 Stimmen in Florida gegen George Bush die Wahl verlor. Stattdessen bekam er den Friedensnobelpreis.

„Wir müssen aktiv werden, bevor die USA ein Schurkenstaat werden“, sagt er. Gore würde sich auch heute gut machen als US-Klima-Präsident. Warum bloß hat er nicht noch mal kandidiert? Schade, denkt man. Er wäre wohl passender als Donald Trump. Der tritt hier auch auf, als naturfeindlicher Anti-Gore. Da steht er in einer seiner Wahlversammlungen, die bis heute andauern, und ruft ins Publikum: „Heute soll es 21 Grad warm sein. Es ist aber eiskalt. Wer sagt denn mal: Wir brauchen eine globale Erwärmung?“

Im neuen Film der „Unbequeme Wahrheit“-Macher dient Trump als abschreckendes Beispiel. Gut 100 Minuten lang werden ihm und uns Bilder von Stürmen, Überschwemmungen und Waldbränden entgegengehalten. Den meisten Ärger habe er nach seinem ersten Film mit der Aussage gehabt, das 9/11-Denkmal in New York werde versinken, wenn der Meeresspiegel steigt. 2012 war es beinahe so weit: Hurrikan Sandy setzte ihn immerhin unter Wasser. „Sie hat einen guten Job gemacht“, würde Trump wohl sagen.

Gore hat solche Orte mit einem Kamerateam besucht, schüttelt Hände, stellt sich mit Gummistiefeln in die Pfütze, spricht mit Klimaexperten und Trost zu. Dann flitzt er zum nächsten Schauplatz, steht inmitten tauenden Eises am Süd- oder Nordpol, schaut beim Pariser Klimagipfel vorbei. Er hält seinen berühmten Slideshow-Vortrag und bildet Naturschützer aus.
Wie im Katastrophenspielfilm üblich, kommt bei all dem jede Menge Technik zum Einsatz. Gore benutzt iPhone, iPad, Beamer, VW-Geländewagen – ausgerechnet-, Riesenlimousinen, Heli, das Forschungsschiff und Kapitalismus. Der Klimaretter à la USA ist nicht technikfeindlich, im Gegenteil. Die Technik wird uns helfen. Es drohen viele neue Kohlekraftwerke im Schwellenland? Ein Anruf, schon beginnt in Indien das Zeitalter der Solartechnik. Technik ist was Gutes: Grüne jedenfalls. In den letzten Jahren hat sich die Industrie durchaus zum Positiven entwickelt, sagt Gore.

Der Al Gore dieses Films ist ein moderner und antiker Unternehmer zugleich: Diese gewichtige, visionäre Renaissance-Figur geht mit neuesten Ideen vorneweg. Ein Heinrich der 8. der postfordistischen Produktion. Egal, mit wem er spricht: Er wirkt mitreißend und überzeugend auf seine Gesprächspartner – wenn sie nicht ohnehin schon auf die richtige Seite gekommen sind. Wie jener specknackige Bürgermeister einer texanischen Stadt, die komplett auf erneuerbare Energien umgestiegen ist. Nicht weil es das Klima schont. Sondern weil es billiger ist. Aber richtige Gesprächspartner sind das nicht, die braucht der Protagonist eigentlich nicht. Denn dieser Film ist ein Monolog. Eine Rede an die Erde, mit uns darauf. Der Filmheld wird sie und uns retten, ganz sicher! Vielleicht werden wir mit der Erde zum Mars fliegen.

Benotung des Films :

Jürgen Kiontke
Immer noch eine unbequeme Wahrheit
(An Inconvenient Sequel: Truth to Power)
USA 2017 - 100 min.
Regie: Bonni Cohen, Jon Shenk - Produktion: Richard Berge, Diane Weyermann - Montage: Don Bernier, Colin Nusbaum - Musik: Jeff Beal - Verleih: Paramount Pictures - FSK: ab 6 Jahren - Besetzung:
Kinostart (D): 07.09.2017

DVD-Starttermin (D): 18.01.2018

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt6322922/
Foto: © Paramount Pictures