Sicario

(USA 2015; Regie: Denis Villeneuve)

Im Inneren des Ausnahmezustandes

Auf der Suche nach Geiseln stürmt die idealistische FBI-Agentin Kate Macer (Emily Blunt) gemeinsam mit ihrer Spezialeinheit die Räume eines Vorstadthauses in der Nähe von Phoenix. In ihrer tiefschwarzen Polizeimontur mit Helm und Schutzweste hebt sich Kate deutlich von der beigen Umgebung ab. Ihr zielsicheres Vorgehen ist unmissverständlich und gleicht in der Routine beinahe einer Übung. Kate bleibt deshalb gefasst, als im Haus keine Geiseln, dafür aber durch Zufall in den Wänden mehr als dreißig Leichen mit Plastiktüten über den Köpfen entdeckt werden. Sie bleibt gefasst, weil es – der Kontrast ihrer Kleidung zur Umwelt hebt dies hervor – eine klare Ordnung hinter den Dingen gibt, nach der dieses Problem gelöst werden kann. Auf die Frage eines Kollegen, was er der Staatsanwältin über den schrecklichen Fund sagen soll, antwortet Kate dementsprechend knapp: „The truth.“ Doch die Welt in Denis Villeneuves Drogenthriller „Sicario“ hat sich längst von jeder Ordnung und allen Gewissheiten verabschiedet. Hinter der rigipsdünnen Fassade Amerikas ist eine Unterscheidung von Recht und Unrecht unmöglich geworden. Und so endet die Hausdurchsuchung mit einer orientierungslosen Kate im Staub einer plötzlichen Explosion.

In der Folge der Ereignisse bekommt Kate die Möglichkeit als Teil eines Sonderkommandos unter Führung des Regierungsbeauftragten Matt Graver (Josh Brolin) und seines zwielichtigen Adjutanten Alejandro (Benicio del Toro) die Männer aufzuspüren, die für das Massaker im Vorstadthaus verantwortlich sind. Worum es allerdings wirklich geht, lassen Matt und der wortkarge Alejandro nie vollständig durchscheinen, weshalb Kate aufgrund ihres beinahe naiven Gerechtigkeitsglaubens mehr und mehr in das Geschehen hineingesogen wird. Denis Villeneuve inszeniert diesen Sog mit einer Spannung, die ihre Kraft aus einer ungeheuer präzisen Bildsprache und Montage entwickelt und den Zuschauer von Szene zu Szene treibt, ohne dass sich die nervliche Belastung entladen und Figuren wie Zuschauer erleichtern könnte.

Unter dem Druck der Ratlosigkeit und angestiftet von ihrem Kollegen Reggie (Daniel Kaluuya) sucht Kate während eines Auftrags schließlich das Gespräch mit Matt Graver. Wieder scheint an der Oberfläche eine Ordnung zu existieren, denn Graver und Alejandro berichten von einem geheimen Tunnel, der als Drogenroute genutzt wird. Reggies kraftvoller Appell „Just don’t keep us in the dark.“ scheint die Wogen am Ende des Gespräches zu glätten. Allerdings hebelt der Lichteinsatz in dieser als Schuss-Gegenschuss-Montage angelegten Szene alle Aussagen der Protagonisten vollkommen aus. Über den gesamten Dialog hinweg stehen nur Matt und Alejandro im Licht. Und während beide die Szenerie zur einen Seite in den ebenfalls beleuchteten Hintergrund verlassen, gehen Reggie und Kate auf der anderen Seite in die Dunkelheit einer Straße, die nirgendwo hin führt.

Auf diese Weise wird der in jeder Szene des Filmes präsente Wunsch nach Ordnung und moralisch eindeutiger Kategorisierung von der Inszenierung fortwährend unterwandert. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, wie die Landschaft in den exzellenten Bildern des Kameramannes Roger Deakins zu einem eigenständigen Charakter erhoben wird. In zahlreichen Luftaufnahmen gleitet die Kamera über endlos sich erstreckende geisterhafte Landstriche des Niemandslandes zwischen Arizona und Chihuahua. Zu keinem Zeitpunkt will sich irgendeine Orientierung einstellen; selbst bei den Flügen über den schwarzen Grenzzaun zu Mexiko nicht, weil unklar bleibt, auf welcher Seite des Zaunes Amerika liegt. Villeneuve suspendiert in „Sicario“ sämtliche Eindeutigkeiten und Referenzpunkte. Er erschafft mit den Worten Giorgio Agambens eine „Zone der absoluten Unbestimmtheit zwischen Anomie und Recht“. So sehr Kate glaubt sich auf (rechtlich) sicherem Terrain bewegen zu können, so sehr sind Recht und Unrecht ortlose Kategorien geworden. In seiner Annäherung an den Begriff des Ausnahmezustands bestimmt Agamben diesen als einen leeren Raum im Zentrum der Macht. In „Sicario“ ist das die Wüstenlandschaft genauso wie die häufig eingesetzten Hotelzimmer, verglaste und charakterlose Büroräume, Militärbasen oder eben das unfertige Vorortwohnhaus in der ersten Szene des Filmes. Abseits dieser Nicht-Orte findet wirkliches Leben nur an einem einzigen Schauplatz statt. Doch die Wohnung eines mexikanischen Polizisten und seiner Familie, deren Alltag in einer Nebenhandlung verfolgt wird, ist als Gefängnis inszeniert. Konsequent schaut die Kamera durch Türrahmen und Fenster oder nutzt die Gegenstände im Raum um die Protagonisten einzuschließen.

Tatsächlich befindet sich im Zentrum von „Sicario“ ganz wortwörtlich eine Leerstelle. Als sich für Kate nach 60 von 121 Minuten Laufzeit die Gelegenheit bietet, den Akt einer offensichtlichen Geldwäsche strafrechtlich verfolgen zu lassen, intervenieren ihre Vorgesetzten und klären sie darüber auf, dass ihr Sinn für Gerechtigkeit an diesem Punkt nichts bewirken wird, dass andere Wege eingeschlagen werden müssen, denn „The boundaries have been moved“. Die Szene in einem grauen Büro mit grauen Vorhängen, grauen Teppichen, grauen Stühlen und einer grau gekleidete Kate zeigt sehr deutlich, wohin sich diese Grenzen verschoben haben: In die Unbestimmtheit des Ausnahmezustandes.
Neben den dichten Staubwolken der Explosion in der ersten Szene visualisiert Villeneuve diese unscharfen Grenzverläufe, wenn er Schatten über Oberflächen wandern lässt oder bei einem Nachteinsatz die invertierten Bilder einer Wärmebildkamera die Unterscheidung von Freund und Feind nahezu unmöglich macht, weil alle Personen nur als graue Flecken erkennbar sind. Aus dem gleichen Grund bleiben auch die auf den ersten Blick an individuellen Hintergründen recht armen Figuren ganz bewusst auf unbefriedigende Art vage. Und nur so ist es möglich, dass Matt Graver die Aufgaben der Sondereinheit lächelnd mit Worten wie „to create chaos“ oder „to dramatically overreact“ beschreiben kann.

„Sicario“ erzählt von einer Gesellschaft, die ihren moralischen Kompass vollkommen verloren hat. Der permanente Ausnahmezustand, in dem sich Politik und Ökonomie heute nach Belieben bewegen, verunsichert das Individuum und treibt es schlussendlich in die Verzweiflung. Aus diesem Grund verliert sich Kate auch äußerlich immer mehr im Grau, bis sie am Ende des Filmes in hellgrauem T-Shirt und sichtlich mitgenommen auf den Balkon ihres ebenso grauen und in der Dämmerung umso fahler wirkenden Apartmentgebäudes tritt. Auf der leeren Straße dreht sich Alejandro zu ihr um. Vielleicht, weil er spürt, dass Kate eine Waffe auf ihn richtet. Vielleicht als Geste eines Abschieds. Die Inszenierung hebt Kate auf dem Balkon über Alejandro, verleiht ihr auf den ersten Blick die Macht in dieser Sekunde über Leben und Tod entscheiden zu können. Doch das Grau der Szenerie und die Leere in Kates Augen bestimmen den Ausgang dieser ungleichen Duellsituation noch bevor Kate selbst zu einer Entscheidung finden kann. Ein wenig erinnern diese Bilder an die Filme von Michelangelo Antonioni, enden diese doch ebenfalls häufig mit einem tageszeitlichen Übergang und überlassen ihre in diesen Momenten sprachlosen Protagonisten der Leere der Bilder.

Dieser Blickwinkel auf das verunsicherte und erschöpfte Subjekt unterscheidet „Sicario“ dramatisch von einem Film wie „Traffic“ (USA 2000; R: Steven Soderbergh). Auch dort ist der Drogenkrieg längst verloren, aber trotz allem stellt die Dramaturgie am Ende eine klare und den Zuschauer beruhigende Ordnung wieder her: Der kürzlich vereidigte DEA-Stabschef Robert Wakefield (Michael Douglas) schmeißt seinen Job aus moralischen Gründen, seine Tochter wird in eine Entzugsklinik geschickt und der Drogenpolizist Montel Gordon (Don Cheadle) bringt auch nach der größten Niederlage weiterhin motiviert Wanzen in den Häusern Verdächtiger an. Während die letzte Einstellung in „Traffic“ ein hoffnungsvolles Baseballspiel von Jugendlichen zeigt, verweist das Fußballspiel der Kinder am Ende von „Sicario“ (als Reminiszenz an „Traffic“) darauf, dass Ordnung und Sinn nur noch im kindlichen Spiel existieren. Und selbst dieser Moment wird vom Regisseur noch einmal gebrochen und seiner Unschuld beraubt.

Benotung des Films :

Ricardo Brunn
Sicario
(Sicario)
USA 2015 - 121 min.
Regie: Denis Villeneuve - Drehbuch: Taylor Sheridan - Produktion: Basil Iwanyk, Thad Luckinbill, Molly Smith, Trent Luckinbill, Edward McDonnell - Bildgestaltung: Roger Deakins - Montage: Joe Walker - Musik: Jóhann Jóhannsson - Verleih: Studiocanal - FSK: ab 16 Jahren - Besetzung: Emily Blunt, Josh Brolin, Benicio del Toro, Daniel Kaluuya
Kinostart (D): 01.10.2015

DVD-Starttermin (D): 01.02.2016

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt3397884/
Foto: © Studiocanal