Archiv der Kategorie: Filmkritik

Ewige Jugend

(I / F / GB 2015, Regie: Paolo Sorrentino)

Sehnsüchtige Statisten im Theater des Lebens
von Wolfgang Nierlin

Schon vor knapp hundert Jahren diente die Jugendstil-Anlage des damaligen Sanatoriums Schatzalp im Schweizerischen Davos als Schauplatz für Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“. In Paolo Sorrentinos neuem Film „Ewige Jugend“ …

Schon vor knapp hundert Jahren diente die Jugendstil-Anlage des damaligen Sanatoriums Schatzalp im Schweizerischen Davos als Schauplatz für Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“. In Paolo Sorrentinos neuem Film „Ewige Jugend“ („Youth“), einer ebenso phantasievollen wie bildgewaltigen, melancholischen wie hoffnungsvollen Meditation über die vergehende Zeit versammeln sich an diesem geschichts- und mythenträchtigen Ort, der jetzt ein Kurhotel birgt, allerlei skurrile Figuren. Die Flüchtigkeit ihrer Begegnungen, ihr Kommen und Gehen ähneln dem Auf- und Abtreten auf einer Theaterbühne, die hier zur Bühne des Lebens wird; oder, gemäß dem Eingangsmotiv, einer Drehscheibe, die sich in eine fellinieske Revue der Phantasien und Träume verwandelt und auf der sich Künstler und Reiche, Schöne und Gebrechliche um sich selbst und zugleich vor Publikum drehen. Als modernes Wellness-Hotel erleben die Kurgäste, durch Massagen, Bäder und Fangopackungen gestützt, eine Pflege von Körper und Seele. Das entlegene Hotel in den Alpen ist aber auch ein sehr spezielles Refugium, wo Weltflüchtige ihren Erinnerungen und Reflexionen nachhängen.

Zu ihnen gehört der 80-jährige Dirigent und Komponist Fred Ballinger (Michael Caine), der sich im Ruhestand befindet und seit zwanzig Jahren diesen Ort aufsucht. Der alte, prinzipientreue Maestro ist ein entschieden wirkender, sehr nüchterner Rationalist, der dem um einen Auftritt ersuchenden Gesandten der Queen eine strikte Absage erteilt und ansonsten gelangweilt und mit milder Altersweisheit die schillernden Figuren seiner Umgebung betrachtet. Er, der immer nur für seine Musik gelebt hat, war ein schlechter Ehemann und Familienvater. Seine Tochter und Managerin Lena (Rachel Weisz), die eine Ehekrise durchleidet, wirft ihm das in einer sehr bitteren Szene einmal vor, in der Sorrentino die beiden wie aufgebahrte Tote zeigt. Befreundet ist Ballinger mit dem Filmregisseur und Drehbuchautor Mick Boyle (Harvey Keitel), der zusammen mit einer Gruppe junger Autoren in schöner Intimität an seinem Film-Vermächtnis „Des Lebens letzter Tag“ arbeitet. Daneben begegnet Ballinger immer wieder dem Schauspieler Jimmy Tree (Paul Dano), einem stillen Beobachter und Novalis-Leser, der über ein neues Projekt nachdenkt und die lebendig machende Sehnsucht als sein Thema erkennt.

„Wir sind alle nur Statisten“, bricht es einmal aus Boyle heraus: „Emotionen sind alles, was wir haben.“ Bevölkert wird diese Theaterbühne des Lebens unter anderen von einem erst meditierenden, dann schwebenden Mönch in rotem Gewand, einer ebenso schönen wie intelligenten Miss Universum, einem ehemaligen südamerikanischen Fußballstar mit Karl Marx-Rückentatoo, einem schweigenden Ehepaar und einer jungen Masseurin, die gerne tanzt und nebenbei die Erkenntnis lehrt, dass Begreifen essentiell mit Anfassen zu tun hat.

In fließenden, raumgreifenden Bewegungen sowie teils abrupten Szenewechseln inszeniert Meisterregisseur Paolo Sorrentino ein Panoptikum vergänglicher Schönheit, nichtiger Dinge und verlorener Erinnerungen. Einmal verdichtet sich zu Klängen einer Opern-Arie die balletthafte Prozession nackter, alternder Körper zu einem filmischen Tableau über die Zeitlichkeit des Daseins. Zugleich beschwört Sorrentino in opulenten Bildern und surreal-rätselhaften Traumsequenzen auf großartige Weise die Kraft der Freiheit und das Glück der Sehnsucht. Kuhglocken und Kuckucksuhren machen Musik, die nackte Miss Universum verwandelt das Heilbad der alten Männer in ein betörendes Idyll und bezaubert mit dem „Duft der Freiheit“. Sich in der Nachfolge Strawinskys ganz antiintellektuell „Unbeschwertheit erlauben“, steht als Erkenntnis des alten Ballinger über Sorrentinos herausragendem Kinofilm, der überdies mit ironisch-witzigen Dialogen aufwartet und von einem hinreißend originellen Soundtrack musikalisch beflügelt wird. Damit verknüpft ist jenes gelassene Vertrauen ins Eigene, das Jimmy Tree einmal mit einem Novalis-Zitat aufruft: „Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.“

Love 3D

(F 2015, Regie: Gaspar Noé)

Der unsichere Ort der Liebe
von Wolfgang Nierlin

Als „zeitgemäßes Melodrama mit vielen Liebesszenen“ hat Gaspar Noé seinen neuen, in 3D gedrehten Film „Love“ bezeichnet: „Ich will die organische Dimension des Verliebtseins auf Film festhalten.“ In diesem künstlerischen …

Als „zeitgemäßes Melodrama mit vielen Liebesszenen“ hat Gaspar Noé seinen neuen, in 3D gedrehten Film „Love“ bezeichnet: „Ich will die organische Dimension des Verliebtseins auf Film festhalten.“ In diesem künstlerischen Anspruch trifft sich der argentinisch-französische Skandalregisseur mit der Hauptfigur Murphy (Karl Glusman), einem amerikanischen Filmstudenten in Paris, der einmal äußert, er wolle „sentimentale Sexualität anschaulich darstellen.“ An ausführlicher Anschaulichkeit, bekräftigt durch viele, sehr schön gefilmte explizite Sex- und Liebesszenen, mangelt es dem Film tatsächlich nicht. Und auch das 3D-Verfahren findet darin ein paar demonstrativ provozierende, wenngleich eher spekulative Momente. Nur die vielbeschworenen Gefühle und damit Murphys leidenschaftliche Liebe zu der schönen Kunststudentin Electra (Aomi Muyock) bleiben eher Behauptung und erschöpfen sich in hölzernen Dialogen sowie exzessiv übertriebenen Gefühlsausbrüchen.

Insofern könnte man „Love“ auch als einen romantischen Kunstporno etikettieren. Denn Gaspar Noé und sein Stammkameramann Benoît Debie filmen nicht nur schön, sondern verfolgen ein ziemlich formalistisches ästhetisches Konzept. Dieses ist gekennzeichnet durch eine ausgeprägte Farbdramaturgie, eine elliptische, von Schwarzfilm unterbrochene Erzählweise, lange Einstellungen, frontale Perspektiven, eine oft enge Bildkadrierung sowie träumerische Zeitlupen, in denen unter anderem Musik von Johann Sebastian Bach und Erik Satie erklingt. Dabei wechselt die Erzählung permanent die Zeitebene, springt her zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit und läuft dabei öfters ins Leere. Gaspar Noé bebildert in „Love“ sehr fleischlich ein geschlossenes Liebesuniversum, das jenseits seiner obsessiven Gestik kein Außerhalb kennt. Doch der stilisierten Geschichte einer intensiven Amour fou über exzessives Verlangen, Eifersucht und den Schmerz über eine verlorene Liebe mangelt es selbst an „erzählerischem Fleisch“.

Noé versucht das durch Murphys kommentierenden Gedankenstrom aus dem Off zu kompensieren, der sich eigenwillig melancholisch ausnimmt und Anlässe schafft für Rückblicke. Als Murphy an einem Neujahrstag vom klingelnden Telefon aus einem Liebestraum gerissen wird, landet er zunächst einmal im „Alptraum“ seines gegenwärtigen Lebens mit seiner jungen Frau Omi (Klara Kristin) und einem kleinen Kind. Der angehende Filmemacher, den man nie arbeiten sieht und dessen Profession hauptsächlich über diverse Filmplakate (von „The Birth of a Nation“ über „Taxi Driver“ bis „Salò“) beschworen wird, wähnt sich in einem Käfig und aller Geheimnisse ledig. Von der besorgten Mutter seiner früheren, jetzt verschwundenen Freundin Electra angerufen, erinnert er sich in einer Mischung aus Sorge und Verzweiflung an seine große, aber verlorene Liebe. Zwei Jahre sind vergangen, seit sich die beiden kennengelernt haben, um sich kurz darauf in einem Rausch aus Drogen und Sex zu verlieren. Seitensprünge und eine Ménage-à-trois mit der hübschen, noch minderjährigen Nachbarin Omi, die schwanger wird, besiegeln schließlich das Ende ihrer Beziehung, das Murphy in der Rückschau nicht wahrhaben will.

Ein leinwandfüllendes Insert verkündet „Murphys Gesetz: Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen.“ Zwischen Untreue, sexuellen Experimenten und überwältigender Eifersucht empfindet sich Murphy als verliebter Verlierer. Doch sein Scheitern, so deutet es der Film an, hat vermutlich noch tiefere, existentiellere Gründe. Und seine Angst und Schutzbedürftigkeit beschreiben letztlich eine romantische Sehnsucht, wenn er die Liebe als einen Ort definiert, „von dem man nicht weg will.“ In Gaspar Noés Filmen, die mit pathetischer Geste („Ich möchte Filme aus Blut, Sperma und Tränen machen; das ist wie die Essenz des Lebens“, sagt etwa sein Alter Ego Murphy.) immer auch einem künstlerischen Narzissmus huldigen und deshalb oberflächlich und vordergründig wirken, wird deshalb die Zeit als jene dunkle Kraft ins Feld geführt, die alles scheinbar Festgefügte zerrüttet und die Liebenden aus dem Paradies vertreibt.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Love 3D'.

Das brandneue Testament

(B/F/LU 2015, Regie: Jaco Van Dormael)

Der Gorilla, die Deneuve und Gott
von Manfred Riepe

Gott schuf Himmel und Erde. So steht es schon in der Bibel. Weniger bekannt ist, dass er auch die belgische Stadt Brüssel entstehen ließ. Wir, die Kinozuschauer, erfahren dies aus …

Gott schuf Himmel und Erde. So steht es schon in der Bibel. Weniger bekannt ist, dass er auch die belgische Stadt Brüssel entstehen ließ. Wir, die Kinozuschauer, erfahren dies aus berufendem Mund. Die 10-jährige Ea ist nämlich Gottes Tochter. Sie lebt im Himmel über Brüssel, den man so noch nicht gesehen hat: Als muffige Kleinfamilie in einer fensterlosen Wohnung ohne Ein- und Ausgang.

In seinem neuen Film erzählt der hierzulande nicht allzu bekannte belgische Regisseur Jaco van Dormael die aberwitzige Geschichte dieser aufgeweckten Göre. Gespielt wird Ea von Pili Groyne, die man aus „Zwei Tage, eine Nacht“ von den Dardenne-Brüdern kennt. Das Mädchen hat allen Grund, ihren Daddy nicht zu mögen. Der Allmächtige ist nämlich kein gütiger Vater mit weißem Rauschebart. Benoît Poelvoorde, noch gut in Erinnerung als Serienkiller in „Mann beißt Hund“, spielt ihn als übel gelaunten Proleten im Bademantel, der Sportfernsehen glotzt und seiner verschüchterten Frau (Yolande Moreau) nicht viel Freiraum lässt. Dank van Dormaels erfrischendem Erzählstil ist man von dieser skurrilen Fabel augenblicklich fasziniert. Sein Film erzählt nicht nur eine liebenswürdig-schräge Geschichte. Ihm gelingt dies mit phantasievollen Bildern, die er aufreizend lässig auf die Leinwand zaubert – obwohl das Budget sichtbar schmal ist.

Die Wirkungsstädte Gottes zeigt van Dormael als kafkaeske Bürostube, deren Wände rundum aus angestaubten Karteikästen bestehen. In der Mitte des ansonsten leeren Raumes steht ein Schreibtisch mit einem antiquierten PC, wie man ihn vielleicht noch in einer provinziellen Amtsstube findet. Neben der Tatstatur steht ein Whiskyglas. Diese charmante Retro-Anmutung passt perfekt zu jenem buchstäblich „alten Testament“, das dieser grimmige Gott an seinem Steinzeit-Computer verfasst. Statt zehn Geboten ersinnt er eine verwirrende, unüberschaubare Anzahl von Gesetzen und Gesetzchen. Sie machen den Alltag der Menschen zu einer nur allzu bekannten Qual. Das geschmierte Brot fällt immer auf die Marmeladenseite, und das Telefon klingelt, wenn man gerade in der Badewanne sitzt. Augenzwinkernd zeigt der Film, dass diese Enzyklopädie der Neurosen ein Machtinstrument dieses herrschsüchtigen Gottes ist. Schließlich haben die Menschen ihn ja nach ihrem Ebenbild geschaffen.

Zum Glück gibt es die kleine Ea, die Schwester von JC (sprich Dschäi Ssieh), der als redende Porzellanfigur auf der Kommode steht. Die vorwitzige Kleine spielt ihrem Vater einen diebischen Streich. Sie hackt Daddys PC und teilt allen Menschen ihren jeweiligen Todeszeitpunkt mit. Per SMS. Die Menschen sind verdutzt, nehmen ihr Leben aber nun selbst in die Hand. Sie tanzen nicht mehr nach der Pfeife Gottes. Der ist darüber stinksauer und will seiner Tochter eine tüchtige Abreibung verpassen, doch Ea ist spurlos verschwunden. Wie aber verlässt man Gottes Wohnung, die keine Fenster und Türen hat? Richtig, durch die Waschmaschine, von deren Trommel ein geburtskanalähnlicher Tunnel nach draußen in die Welt führt, mitten in einen Waschsalon.

Van Dormael und sein Ko-Drehbuchautor Thomas Gunzig haben die – nun erst wirklich Fahrt aufnehmende – Geschichte mit Liebe zu ihren Figuren ersonnen. In der Welt der Menschen angekommen, schart die von ihrem rachsüchtigen Daddy verfolgte Ea sechs Apostel um sich, deren verfahrene Lebenssituationen in herzzerreißenden Mini-Episoden skizziert werden. Da gibt es einen Peepshow-Besucher, der unter all den Frauen, die er begafft, jene eine sucht, die er als Kind sah, als er am Strand eingebuddelt dalag. Ein anderer Junge wird von Klassenkameraden gehänselt, weil er sich wie ein Mädchen anzieht. Und es gibt einen melancholischen Scharfschützen, der sich in eine depressive Einarmige verliebt.

In seinem erzählerischen Furor hat der Belgier keine Berührungsängste mit visuellen Kalauern. Berichtet die junge Erlöserin beispielsweise, die Stimme ihres ersten Apostels würde klingen wie dreißig Männer, die Walnüsse knacken – dann zeigt der Regisseur eben jene Männer, die an einem ewig langen Tisch sitzen und im Akkord Walnüsse knacken. Anarchische Gaga-Bilder dieser Art werden aber nie zu einer Masche. In seinen Skizzen gescheiterter oder hoffnungsloser Lebensentwürfe changiert van Dormael gekonnt zwischen phantasievollem Klamauk und humorvoll gebrochener Melancholie. Und wenn man einmal das Gefühl hat, jetzt fällt ihm wirklich nichts mehr ein, dann zaubert er plötzlich Catherine Deneuve aus dem Hut, die als frustrierte Ehefrau mit einem Gorilla ins Bett geht. Buchstäblich.

Im Gegensatz zur apokalyptischen Abrechnung mit dem Katholizismus, den sein belgischer Landsmann Vincent Lannoo mit „In the Name of the Son“ bebilderte, schlägt van Dormael eher moderate Töne an. Die Frage, was man mit dem Leben anfängt, wenn man den Todeszeitpunkt kennt, wird nicht mit Kopf zerbrechendem philosophischem Tiefsinn ausgeleuchtet. Es geht nicht um die großen Modelle, sondern eher um individuelle Entwürfe. Tiefsinn findet man eher bei der vermeintlich flachsten Figur des Films: Mit der sicheren Gewissheit, dass ihm bis zu seinem vorhergesagten Todeszeitpunkt ja noch Jahrzehnte bleiben, betreibt der junge Kevin (Gaspard Pauwels) – Vertreter der Generation rundum Sorglos – die Herausforderung des Todes als Fun- bzw. immer drastischere Extremsportart. Kreischend vor Lachen hüpft er am Ende ohne Fallschirm aus dem Flugzeug. Sein blindes Vertrauen darin, dass er schon irgendwie gerettet wird, ist eine Metapher für ein technisiertes Zusammenleben, in dem der ziellose Hedonismus über ethische Verantwortung obsiegt hat.

Befreiung gibt es in dieser Welt nur durch die kleinen und schönen Dinge. In diesem Sinn übernimmt in der wundervoll beiläufigen Schlusssequenz Gottes Frau den PC ihres in den Niederungen der Welt verschollenen Gatten. Bei ihren behutsamen Versuchen, die triste Realität ein wenig aufzuhübschen, entdeckt sie ein Menü, bei dem man für das Hintergrundmuster des Himmels verschiedene vorgegebene Blümchenmuster anklicken kann: Und schon ist die Welt etwas farbenfroher. Das gilt ebenso für das Kino, das durch diese ungebremste Lust am Fabulieren gewinnt.

Mia Madre

(I 2015, Regie: Nanni Moretti)

Gefühle kennen keine Dramaturgie
von Ilija Matusko

Die Mutter liegt im Sterben, ihre Arbeit macht keinen Sinn mehr, die Welt um sie herum zerfällt. In „Mia Madre“ erzählt Regisseur Nanni Moretti vom Einbruch des Unmöglichen in das …

Die Mutter liegt im Sterben, ihre Arbeit macht keinen Sinn mehr, die Welt um sie herum zerfällt. In „Mia Madre“ erzählt Regisseur Nanni Moretti vom Einbruch des Unmöglichen in das Leben einer Frau, deren Gefühlswelt so schwierig und komplex ist wie das moderne Leben selbst.

Margherita ist Filmregisseurin und wird während der Dreharbeiten zu ihrem neuen Film, der sich dem Thema Hoffnung verschrieben hat, mit dem traurigen Abschied von ihrer Mutter konfrontiert. Die alte Frau liegt bereits im Krankenhaus, ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich rapide und es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann sie sterben wird. Margherita und ihr Bruder Giovanni kümmern sich anrührend um die ältere Frau. In gegenseitiger Zuneigung, und trotz der großen Fragen und Ängste, die der bevorstehende Tod der Mutter aufwirft, versuchen die Geschwister ihr Leben, so gut es eben geht, weiterzuleben. Im Lauf der Geschichte wird schnell klar, dass beide damit restlos überfordert sind.

Während sich Giovanni eine Auszeit vom Berufsleben nimmt und versucht auf die Ereignisse mit kühl-nüchterner Gefasstheit zu reagieren, stürzt sich Margherita in die Arbeit an ihrem Film, ein plakativ und hölzern wirkendes Sozialdrama um den Arbeitskampf in einer Fabrik. Das ganze Projekt stellt sich immer mehr als nervenaufreibend und sinnlos heraus, nicht nur, weil sich die Regisseurin mit vergesslichen, exzentrischen Schauspielern herumschlagen muss, sondern zunehmend mit sich selbst, ihren Gefühlen, ihrer Verzweiflung und sogar ihren eigenen Regieanweisungen. Man weiß nicht, was sie da tut, und sie selbst weiß es auch nicht. Dass sie sich von ihrem Freund getrennt hat und ihr die Tochter zu entgleiten droht, komplettiert die Krise. Der Boden unter ihren Füßen wird zusehends weggezogen, nicht schnell und ruckartig, sondern langsam und unbemerkt, so als brauche die schreckliche Gewissheit um das Bevorstehende eine Weile, bis sie in ihre Welt eingedrungen ist.

„Mia Madre“ erzählt auch davon, sich selbst nicht mehr zu vertrauen, den Blick für die Umgebung zu verlieren, und das in einer Welt, in der man abliefern, höflich sein und funktionieren muss. Auch wenn die eigene Mutter im Sterben liegt. Die Welt macht es ihr vor, denn sie dreht sich einfach weiter. Wenn man die Zeit anhalten oder zurückspulen möchte, so wie Margherita, gerät das Leben plötzlich ins Strudeln. Hoffnung, Verzweiflung, Angst und Frustration wechseln sich von Minute zu Minute ab. Die Zustände absoluter Empfindsamkeit und Durchlässigkeit, die keine Trennung nach Arbeit, Familie, Beziehung, keine Grenzen zwischen Wirklichkeit und Projektion, und keine Dramaturgie mehr kennen, macht der Film auf eindringliche Weise spürbar. Nanni Moretti zeigt dieses Gefühlschaos, ohne die Distanz zu seiner Hauptfigur zu verlieren, ohne in Schmerzprosa oder Gefühlspathos zu verfallen. Immer mit einem verständnisvollen Blick für die Unzulänglichkeiten und Schwächen des Menschen.

Die Frage, was nach dem Tod von einem Leben übrig bleibt, schwebt über dem Film und durchzieht alle Bereiche seiner Protagonisten. Besonders greifbar wird sie in der Wohnung der Mutter. Dort wartet stumm das zu Büchern und Notizen aufgetürmte Lebenswerk einer Gelehrten, die ihr Leben dem Wissen und den Büchern gewidmet hat, dessen Ordnung und Struktur aber mit dem dahinsiechenden Geist der Mutter abhanden kommen wird. Unzählige Stunden in der Bibliothek, die Regale voller Bücher, wohin versickert all diese Energie und Anstrengung? Am Ende des Films landet das materielle Spiegelbild dieses Geistes in grauen, unbeschrifteten Kartons. In diesem Bild zeigt sich die schwer erträgliche Wahrheit. Der Tod ist beides, die große Unmöglichkeit, und der vom Leben erzwungene Versuch, irgendwie damit umzugehen.

Weil Nanni Moretti um beide Seiten der menschlichen Existenz, die tragische und die komödiantische, bemüht ist und das Ineinandergreifen der Stimmungen perfekt beherrscht, wirkt der Film alles andere als schwer und gefühlsbeladen, sondern wird von einer für den Regisseur typischen Leichtigkeit und Komik beschwingt. Wenn man so will, ist „Mia Madre“ nicht nur eine Hommage ans Kino und ans Familienleben, sondern eine Art Gegenentwurf zu Michael Hanekes „Liebe“. Nicht im sorgsamen Umgang der filmischen Mittel oder in der inszenatorischen Entschiedenheit, sondern im Zugang zu den großen Fragen um Tod und Vergänglichkeit. „Mia Madre“ beweist, das man ein filmisches Gemälde des Sterbens nicht nur mit intellektueller Entschlossenheit, Restriktion und Konzentration zeichnen kann, sondern eben auch mit etwas mehr Zärtlichkeit, Gefühl und dem Glauben an würdevolle Bilder.

Aus unerfindlichen Gründen

(UNG 2014, Regie: Gábor Reisz)

Die vielen Tode des Àron F.
von Ilija Matusko

Der Film „Aus unerfindlichen Gründen“ läuft etwa so: Man schlägt einen Pflock des Unglücks in die Mitte der Geschichte und bindet den Protagonisten an ein kurzes Seil. Dann sieht man …

Der Film „Aus unerfindlichen Gründen“ läuft etwa so: Man schlägt einen Pflock des Unglücks in die Mitte der Geschichte und bindet den Protagonisten an ein kurzes Seil. Dann sieht man ihm dabei zu, wie er hin und herläuft und nicht weg sondern vor allem sich selbst in die Quere kommt.

Àron hat einen Uniabschluss in Filmwissenschaften und lebt in Budapest – „leben“ ist vielleicht übertrieben, denn er liegt eher apathisch auf Kinderspielplätzen rum, gerade so vom Sauerstoff am Leben gehalten, und imaginiert sich gleich zu Beginn des Filmes lustvoll in seinen eigenen Tod hinein. Wie er auf der Straße einfach zusammenbricht; oder vor dem Museum, im Bus, auch mitten auf der Straße. In der ganzen Stadt verteilen sich tote Àrons, nur scheint das niemanden zu interessieren, denn Menschen und Autos laufen wie an Seilen gezogen einfach weiter.

Recht viel Lebensenergie kann der junge Mann mit den zerzausten Haaren, der Cordhose und dem Hundeblick also gerade nicht aufbringen. Der Grund? Seine Freundin Esther ist weg. Sie hat sich nicht nur von ihm getrennt, sondern auch dazu entschlossen, ihr neu gefundenes Liebesglück in digitaler Form mit der ganzen Welt zu teilen. Ihre Sachen hat sie als kleine Erinnerungspatronen in Àrons Wohnung zurückgelassen. Die Haare im Ausguss, derentwegen sich das Paar öfter gestritten hat, hat Esther aber – zu Àrons Unglück – mitgenommen. Dass Àron sich ohne Plan vom eigenen Leben mit Gelegenheitsjobs durchschlagen muss und, mit knapp 30 Jahren, immer noch bei seinen schrulligen Eltern wohnt, macht seine Situation nicht besser. Obwohl das Leben also schon in großen Schritten voran geht, scheint es ohne ihn abzulaufen. Da passt es, dass er sich im Vollrausch ein Flugticket nach Lissabon kauft, ohne sich daran zu erinnern.

Regisseur Gábor Reisz hat für die Innenräume dieses Menschen nicht nur passende Bilder und originelle Erzählmotive gefunden, er hat sie auch gekonnt und mit einem Gespür für Timing und Rhythmus umgesetzt. Absurde Dialoge, Zeitlupen, surreale Sequenzen und ein Indiesoundteppich aus gezupfter Gitarre und Glockenspiel machen die Loser-Komödie perfekt. Man sieht dem orientierungslosen Melancholiker Àron gern dabei zu, wie er am Herzschmerz leidet, seinen Blick ins Nichts bohrt, seine Gefühlswelt den Dingen überstülpt und in wechselseitigem Unverständnis mit der Welt zwischen magischen, traurigen und komischen Momenten des Alltags hin und her geworfen wird. Das ist nicht nur gut gemacht, sondern wirkt unheimlich nah und vertraut. Man kennt sich eben schon gut in solchen Innenräumen aus.

Gábor Reisz hat solche Momente gut beobachtet – im echten Leben wie in Filmen. Und er weiß, wie man solche Momente in Film überträgt oder daran anknüpft. Ob das alles so gut funktioniert, weil man als Zuschauer solche Situationen gut kennt (verlassen in der Wohnung, verloren auf einer Party, nachdenklich in der Bahn) oder weil man sie schon häufig in Filmen gesehen hat, ist da beinahe irrelevant. Mit ein, zwei Triggern ist das Gewünschte jedenfalls da. Erst später stellt sich das Gefühl ein, dass man erstaunlich wenig über diesen jungen Menschen, seine Probleme oder die Situation der Jugend in Ungarn erfahren hat. Das muss der Film natürlich nicht erzählen, aber es gibt einem als Zuschauer zu denken, dass man dies beinahe nicht bemerkt hätte – bei all den einfallsreichen Spielereien, Befindlichkeiten und putzigen Nebenfiguren.

„Aus unerfindlichen Gründen“ strickt eine wohl bekannte, im Film der letzten 20 Jahre groß gewordene – und dabei schon immer seltsam künstliche – Figur (junger Verlierer mit liebenswürdigen, aber weltinkompatiblen Eigenschaften) mit ein paar guten Ideen und neuen Einfällen weiter, hinterfragt dabei aber kaum, ob die Figur noch etwas mit dem Leben, von dem sie erzählen wollte, zu tun hat. Ungefähr so, als würde man ein Konservengericht mit ein paar frischen Zutaten und Geschmacksverstärkern aufpeppen. Das schmeckt gut, sieht gut aus, nur man kann nicht mehr wirklich sagen, was da eigentlich drin ist.

Spectre

(USA / GB 2015, Regie: Sam Mendes)

Der Spion, der nicht liebte
von Manfred Riepe

Seit der ersten Ian-Fleming-Adaption von 1962 läuft jeder Bond-Film nach einem identischen Schema ab. Auf einen knackigen Action-Prolog, der jeweils das technisch Machbare ausreizt, folgt die kunstvoll gestaltete Titelsequenz. In …

Seit der ersten Ian-Fleming-Adaption von 1962 läuft jeder Bond-Film nach einem identischen Schema ab. Auf einen knackigen Action-Prolog, der jeweils das technisch Machbare ausreizt, folgt die kunstvoll gestaltete Titelsequenz. In einem Zwischenreich zwischen Leben und Tod schweben schematisierte Frauenkörper vorbei, turnen etwa lasziv an einem Revolverlauf wie an einer Reckstange. Als wäre Bond ein Märtyrer, der im Paradies den versprochenen Jungfrauen begegnet.

Daraufhin wird der Agent, der in „Man lebt nur zweimal“ tatsächlich eine Art Wiedergeburt erlebte, mit der neuen Mission betraut. Sein väterlicher Vorgesetzter M mahnt zur Strenge, die mütterliche Sekretärin „Miss“ Monneypenny himmelt ihn an, und der Quartiermeister Q stattet ihn mit den jeweils neuesten technischen Gadgets aus, darunter meist ein Auto und eine Armbanduhr mit Zusatzfunktionen. An exotischen Schauplätzen geht Bond mit ein bis zwei attraktiven Girls ins Bett, die für die Handlung nicht die geringste Rolle spielen. Erst nach einigen Scharmützeln mit einem nicht zimperlichen Grobian trifft er eine Frau, die sein besonderes Interesse erregt – eine geheimnisvolle Schönheit, die auf die auf die eine oder andere Weise mit einem verrückten Wissenschaftler liiert ist, der die Welt erobern will.

Bond begibt sich in den höhlenartigen Stützpunkt dieses Schurken, wo es zum distinguierten Austausch von Höflichkeiten kommt, worauf Letzterer seine unglaublichen Apparate präsentiert und den Agenten dann im Zuge einer kindischen Machtdemonstration töten will. Doch Bond befreit sich, meist mit seiner Armbanduhr, um alles in die Luft zu jagen und sich mit der Frau zu vergnügen. Als er sie einmal heiratet, wird sie erschossen.

Dieses Muster wird auch in „Spectre“, dem 24. offiziellen Bond-Abenteuer, nur geringfügig variiert. Zumindest die ersten Minuten haben es in sich. In einer langen Plansequenz, die Orson Welles’ Eröffnung in „Touch of Evil“ zu übertreffen versucht, taucht die Kamera beim Tag der Toten, einem Karneval in Mexiko, in eine gigantische Menschenenge ein. Alle tragen ein Skelett-Kostüm. Aus diesem furiosen Hingucker entwickelt sich Bonds erste Operation. Mit einer Panzerfaust sprengt der Agent ein Gebäude, das zusammenbricht und ihn selbst dabei zu erschlagen droht. Wie in einem Jump-and-run-Computerspiel muss Bond auf Trümmerstücken balancieren, die immer wieder von neuem wegbrechen. Damit nicht genug, kommt es zu einem Zweikampf in einem Hubschrauber, der dicht über einem Marktplatz mit einer schreienden Menschenmenge dahintaumelt.

Auf dieses Bilder-Stakkato folgt ein vergleichsweise konventionelles Bond-Abenteuer. Da einmal mehr der gesamte Secret Service unterwandert zu sein scheint, muss 007 undercover operieren. Seine ehemalige Vorgesetzte M (Judy Dench), die in der vorangegangenen Episode „Skyfall“ starb, erteilt ihm posthum seinen Auftrag. Erledigt werden muss der Oberschurke, von dem alle Welt glaubt, er sei tot.

Erwartungsgemäß kommt es rasch zum ersten Liebesabenteuer, bei dem Monica Bellucci als Interims-Partnerin einen eher lustlosen Auftritt hat. Nicht minder uninspiriert erscheint der Auftritt des Muskelmanns Dave Bautista als Grobian, der für den Bösewicht im Hintergrund die Schmutzarbeit erledigt. Mit Richard Keel als „Beißer“ in „Moonraker“ oder John Wyman als DDR-Spitzensportler Erich in „In tödlicher Mission“ waren in diesen Rollen schon interessantere Figuren zu sehen.

Und so plätschert das Ganze dahin, bis mit dem großen Bösewicht ein alter Bekannter wieder auftaucht, den man samt seiner weißen Perserkatze bereits im vierten Bond-Film „Feuerball“ gesehen hat. Bei der Besetzung dieses Schurken greifen die Produzenten gerne auf einen Darsteller zurück, der, wie Javier Bardem in „No Country for Old Men“, das Böse neu erfunden hat. In „Skyfall“ verkörperte Bardem den besten Schurken nach Klaus Maria Brandauer. Diesmal fiel die Wahl auf den charismatischen Christoph Waltz, der an seine Performance als sadistischer SS-Offizier in „Inglourious Basterds“ anzuknüpfen versucht. Als durchgeknaller Informations-Tycoon lässt er seinen Widersacher Bond wie so häufig an einen Stuhl fesseln, um ihn mit ferngesteuerten Zahnarztbohrern zu penetrieren. Man hat mehr abgründige Bosheit erwartet, Walz bleibt unter seinen Möglichkeiten.

Eine verlässliche Größe ist allein der gebrochen erscheinende Daniel Craig, der den Martinitrinker etwas anders interpretiert als seine fünf Vorgänger. Bis in die 90er Jahre hinein war der Agent psychologisch ohnehin so flach war wie eine Comicfigur. Erst nach dem Tod des langjährigen Produzenten Albert R. Broccoli gestaltete dessen Tochter Barbara die Figur differenzierter. Der Agent wurde verletzlicher, geheimnisvoller. Avancierte sein letztes Abenteuer „Skyfall“ etwa deswegen zur kommerziell erfolgreichsten Bond-Produktion aller Zeiten, weil 007 hier sogar mit einem Kindheitstrauma ringt?

Dem Zeitgeist entsprechend, soll die Bond-Figur psychologisch mehr durchschattiert werden, dabei aber sich selbst treu bleiben: eine Quadratur des Kreises. Mit etwa 80 verschiedenen Frauen war der kindsköpfige Womanizer während seiner bisherigen Abenteuer im Bett. Und nun soll der Spion, der nicht liebte, plötzlich authentische Gefühle für eine Frau aufbringen. Glaubhaft wirkt das nur, wenn ihm, wie Halle Berry in „Stirb an einem anderen Tag“, eine Frau gegenübertritt, die dem Casanova mehr entgegenzusetzen hat als die Französin Léa Seydoux als vergleichsweise fades Bond-Girl, das in „Spectre“ bloß darauf wartet, dass es von dem Helden aus einer misslichen Lage befreit wird. Hinsichtlich der Frauenfiguren ist der neue Bond ein Rückschritt.

Da auch die Nebenfiguren – mit Ausnahme von Ralph Fines als neuem Vorgesetzen M und Ben Wishaw als Q – nicht wirklich überzeugen, wirkt die psychologisierende, an „Skyfall“ anknüpfende Backstory leider etwas aufgesetzt. Mit zweieinhalb Stunden Spielzeit ist dieser Bond-Film auch entschieden zu lang – und außerdem hapert es mit der Musik. Als Paul McCartney „Live And Let Die“ oder Sheena Easton „For Your Eyes Only“ sangen, lief einem ein Schauer über den Rücken. Der Kastratengesang des Briten Sam Smith, dem Interpreten des aktuellen Titelsongs, passt sich dem Niveau des nicht ganz überzeugenden Bond-Abenteuers an.

The Duke of Burgundy

(GB 2014, Regie: Peter Strickland)

Grau ist keine schöne Farbe
von Carsten Happe

Der Herzog von Burgund ist eine Schmetterlingsart, deren Verbreitung mittlerweile stark gefährdet ist. Unter seinem profanen deutschen Namen Schlüsselblumen-Würfelfalter würde er wohl keinen Filmtitel zieren, als „The Duke of Burgundy“, …

Der Herzog von Burgund ist eine Schmetterlingsart, deren Verbreitung mittlerweile stark gefährdet ist. Unter seinem profanen deutschen Namen Schlüsselblumen-Würfelfalter würde er wohl keinen Filmtitel zieren, als „The Duke of Burgundy“, der zugleich von verblühtem Glanz vergangener Zeiten kündet und eine gewisse Gravität evoziert, entstehen vom ersten Augenblick an jedoch entsprechende Bilder. Mit der Kuriosität, dass im Vorspann ein Credit fürs Parfüm vergeben wird – ohne dass der Film ins Odorama abdriften würde – setzt sich die Suggestion fort, dass hier ein eigenes, aus der Zeit gefallenes Universum erschaffen wurde.

Ähnlich Wes Andersons „Grand Budapest Hotel“, der einen fiktiven südosteuropäischen Karpatenstaat heraufbeschwört, verortet sich „The Duke of Burgundy“ im mitteleuropäischen Nirgendwo – ebenso wie Peter Stricklands Debüt „Katalin Varga“ in Ungarn respektive dem ungarischsprachigen Teil Rumäniens gedreht. Aus der Zeit gefallen, aus der Topographie gleichermaßen. In der Filmgeschichte allerdings findet er seine Heimat, als Nachfahre und Hommage an den Euro-Sleaze der Siebziger Jahre, an schwüle Ausnahmefilme wie Harry Kümels „Blut an den Lippen“, wenngleich weniger spekulativ und keineswegs vampirisch. Auch die gleichgeschlechtlichen Liebesszenen dieser BDSM-Erzählung zweier erratischer Frauen sind kaum voyeuristisch und böten reißerischen Websites nicht den Hauch eines Anlasses für Fotostrecken à la „Heißer Lesben-Sex mit „Borgen“-Star“.

Das Beziehungskonstrukt zwischen der von Sidse Babett Knudsen verkörperten Cynthia und ihrer Gespielin Evelyn (ganz nebenbei, gäbe es passendere Namen?) bezieht seine Brisanz dabei auch weniger aus einer Unterwerfungsstrategie, wie sie ein Christian Grey in seiner Malen-nach-Zahlen-Version durchdekliniert, sondern einer sorgsam freigelegten Komplexität der Bedürfnisse, Erwartungen und Begierden, die keineswegs nur in eine Richtung formuliert werden. Das Erzähltempo ist langsam, bisweilen kurz vor dem Stillstand, doch es gibt der Narration Raum, sich schleichend zu entfalten – analog dem eingangs erwähnten Parfüm – und die betörende Schönheit der morbiden Bilder wie auch der entrückten Filmmusik von Cat’s Eyes, soeben mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet, zu betonen.

Hier offenbart sich ein europäisches Regietalent, das mit seinen drei Langfilmen nicht nur eine eigene Handschrift erkennen lässt, sondern vielmehr eine eigene Agenda verfolgt: Nach dem spröden Rachedrama „Katalin Varga“, das noch einem eher unspezifischen Arthouse-Kino entstammt, durchmisst Peter Strickland mit „Berberian Sound Studio“ und nun mit „The Duke of Burgundy“ einen europäischen Filmraum, der von Subgenres wie dem italienischen Giallo und Filmemachern wie Jess Franco und Dario Argento geprägt wurde und mit einem ausgeprägten Ästhetizismus einhergeht. Dabei aber, und das ist neu und wesentlich für Stricklands Werk, eine Reflektionsebene über das Genrekino direkt mit einbezieht. Die Schönheit seiner Filme, so sehr sie manchmal auch im Verborgenen blüht, ist nie ein l’art pour l’art, nie einfach nur Verbeugung vor den alten, vielfach geschmähten Meistern, sondern eine profunde Weiterentwicklung ihrer nur grob angerissenen Themen und Motive. Und hoffentlich, im Angesicht allgegenwärtiger kommerzieller Erwägungen, nicht allzu schnell vom Aussterben bedroht.

Die Gewählten

(D 2015, Regie: Nancy Brandt)

Unter freundlichen Haien
von Ulrich Kriest

Im Abspann ihres Films dankt die Filmemacherin explizit ihren fünf Protagonisten dafür, dass sie vier Jahre bei dem Projekt mitgemacht haben. Eine selbstverständliche freundliche Geste, aber auch der Fingerabdruck eines …

Im Abspann ihres Films dankt die Filmemacherin explizit ihren fünf Protagonisten dafür, dass sie vier Jahre bei dem Projekt mitgemacht haben. Eine selbstverständliche freundliche Geste, aber auch der Fingerabdruck eines Deals, den man gerne einmal verdrängt. Denn jeder Porträtfilm ist immer auch ein Doppelporträt – und der gemeinsamen Arbeit vor und hinter der Kamera geht immer ein Abwägen der Vor- und Nachteile des Projekts voraus. Und mitunter merkt man in einem Film auch noch an, wenn während der Dreharbeiten Beteiligte meinen, an den Deal erinnern zu müssen. Auch davon erzählt „Die Gewählten“, obwohl er eigentlich etwas Anderes erzählen will.

Dabei fängt alles schon mal durchaus ironisch an. Sehr kurz, gerade einmal vier Jahre, so wird gleich zu Beginn aus dem Off gewarnt, währe eine Legislaturperiode im deutschen Bundestag. Da sollte man sich schon überlegen, wie man am schnellsten in sein Büro findet. Steffen Bilger (CDU) macht es seinen neuen Kollegen vor: einfach mit der Herde mitlaufen, die anderen werden den Weg schon kennen. Im Gegensatz zu Bilger kann man sich aber auch alleine auf den Weg machen und sich in den unübersichtlichen Gängen des Bundestages auf der Suche nach dem richtigen Büro verirren. Sieht natürlich etwas blöd aus, hinterher. Oder? Was aber, wenn man sich wie Agnes Krumwiede (Bündnis 90/Die Grünen) als „kleiner Goldfisch“ im Haifischbecken fühlt? Krumwiede, im bürgerlichen Leben Konzertpianistin, ist mit 32 Jahren die älteste der fünf Bundestagsabgeordneten, die die Filmemacherin Nancy Brandt in einer äußerst unterhaltsamen, aber nicht grundlos auch recht zahmen Langzeitstudie durch die Legislaturperiode begleitet hat.

Brandt, 1979 in der DDR geboren, sieht ihren Abschlussfilm als eine kritische Reaktion auf eine konstatierte allgemeine Politik- und vor allem Politikerverdrossenheit. Ihre fünf Protagonisten, teilweise schon Polit-Profis seit Jugendtagen, teilweise Quereinsteiger, sind zwischen 25 und 32 Jahre alt. Da sind die Konzertpianistin aus Ingolstadt, der Architekt (FDP) aus Forchheim, der Rechtsanwalt aus Ludwigsburg (CDU), der Jurist aus Oberhausen (Die Linke) und die Physikerin aus Leipzig (SPD). Sie alle haben vier Jahre Zeit, sich im politischen Raum zwischen Bundestag und Wahlkreis zu bewähren, um dann erneut für ein Bundestagsmandat zu kandidieren. Nicht allen, so viel sei verraten, ist eine zweite Legislaturperiode gegönnt. Aber zunächst einmal gilt es, die ersten Anlaufprobleme zu bewältigen. Recht früh und etwas überrascht darf Krumwiede ihre »Jungfernrede« zur Kulturpolitik halten. Sie ist sehr stolz darauf, dass sie im Plenum erstmals überhaupt das Wort „HipHop“ ausgesprochen hat.

Doch mehr Eindruck als ihre Ausführungen zur Wichtigkeit von Kultur hat ihr Aussehen hinterlassen. Etwas naiv muss sie erleben, dass der Boulevard sie als „Miss Bundestag“ durch die Manege führt. Sie lernt, dass etwas Abstand zu Journalisten mitunter angeraten ist. Noch etwas geschockt von diesen Ereignissen, stellt sie vor laufender Kamera erst einmal fest, dass sie derzeit Single sei. Weil es sich doch um eine Dokumentation handle. Krumwiede geht es bei ihrer Arbeit darum, die Bedeutung der Kultur für die Gesellschaft offensiv zu unterstreichen. Sie träumt von Mindestgagen und will Kreativität gewertschätzt sehen.

Sebastian Körber von der FDP wäre schon zufrieden, wenn er der Deutschen Bahn endlich einen barrierefreien Zugang in seiner Heimatstadt abringen könnte. Doch die Bahn mauert. Steffen Bilger von der CDU ist der Polit-Profi, der alle Probleme erst mal weglächelt und sich gerne mit seiner Freundin und späteren Ehefrau in der Öffentlichkeit präsentiert. Ein alerter Karrierist, der erleben muss, dass seine Partei in Baden-Württemberg abgewählt wird. Kurz klagt er über den Verlust des kurzen Dienstweges zur Macht, dann bewirbt er sich auf den nächsten Posten, um die Partei von der Basis her zu erneuern. Bilger ist es denn auch, der auf eine unbequeme Frage der Filmemacherin einmal bissig reagiert: „Sie machen hier aber jetzt nicht auf „Panorama“!“ Das war wohl der Deal: immer schön an der Oberfläche der Abläufe bleiben, keine weiter gehenden Fragen.

Niema Movassat von der Linken dagegen setzt eh mehr auf außerparlamentarische Opposition und Inhalte, die für die Medien eher nicht so interessant sind. Und für den Film auch nicht. Eine Karriere, die derjenigen Bilgers nahekommt, gelingt dagegen Daniela Kolbe von der SPD, die sich mit ihrer Umsicht in Gremien bewährt und schließlich sogar einen Auftritt in der „Tagesschau“ hat. Andererseits beschönigt Nancy Brandt auch nichts: mancher Rede im Plenum sind die Adressaten längst abhanden gekommen, wenn die Hinterbänkler an die Reihe des Redens kommen. Man braucht eine große Frustrationstoleranz, viel Geduld und eine Portion Glück, wenn man im Bundestag „die Welt retten“ will, wie es Kolbe einmal formuliert.

Vieles wirkt holprig und linkisch, manches auch läppisch. So muss man versuchen, sich möglichst schnell zu profilieren, zumal man im heimatlichen Wahlkreis als „der aus Berlin“ ungleich bedeutsamer erscheint als in der Fremde. Scheinriesen auf Heimaturlaub. Der Film spielt in der Legislaturperiode 2009 – 2013: der Tsunami in Japan und seine Folgen und „Stuttgart 21“ sorgen für politische Aufregung und dafür, dass mancher in Sachen Verkehrs- und Energiepolitik aufs falsche Pferd setzt.

Brandt zeigt Jungpolitiker, die mit unterschiedlichen Professionalisierungsgraden ihren Job machen, eine wie auch immer definierte Karriere anstreben und sich dabei nach Möglichkeit nicht über Gebühr verbiegen wollen. Was angesichts des Apparates, auf den sie treffen, nicht ganz einfach ist. Von den Großkopferten der Politik, den Medienstars, werden sie schlicht ignoriert und mit leisem Spott auf Distanz gehalten. Nach vier Jahren, die durchaus Spuren hinterlassen haben, wird abgerechnet: die FDP hat ausgespielt und Agnes Krumwiede muss erleben, wie sie Listenplatz um Listenplatz nach hinten rutscht, bis einer weiteren Karriere als Konzertpianistin nichts mehr im Wege steht. Sie hofft, in den vier Jahren selbst „ein kleiner Hai“ geworden zu sein, liegt damit aber wohl nicht ganz richtig.

Um Steffen Bilger dagegen braucht man sich nicht zu sorgen, der wird seinen Weg machen. Lachend. Und so staunt man am Schluss, dass Nancy Brandt es durch die Montage ihres Materials doch auch geschafft hat, dass man zu spüren glaubt, wo ihre Sympathien liegen. Bei der Abnahme des Films wäre man gerne dabei gewesen.

Chuck Norris und der Kommunismus

(GB/RUM/D 2015, Regie: Ilinca Calugareanu)

Notizen aus der Walachei
von Ulrich Kriest

Mitte der 1980er Jahre setzte das Regime Ceausescu auf die komplette Abschottung Rumäniens. Das Fernsehen sendete nur noch ein Programm und nur zwei Stunden pro Tag und nur Propaganda. Ausreisen …

Mitte der 1980er Jahre setzte das Regime Ceausescu auf die komplette Abschottung Rumäniens. Das Fernsehen sendete nur noch ein Programm und nur zwei Stunden pro Tag und nur Propaganda. Ausreisen waren extrem erschwert. Kulturimport fand quasi gar nicht mehr statt. Den Rest besorgten der Geheimdienst Securitate und die Zensur. Dieses Schreckensszenario skizziert die Dokumentation von Ilinca Calugareanu für den Zuschauer: 20 Millionen Menschen werden von einer Diktatur über Jahre in Unwissenheit gehalten. Mit verheerenden Folgen!

Das klingt erschütternd trostlos, doch der Film „Chuck Norris und der Kommunismus“ schlägt eine ganz andere Tonart an. Wurde doch die VHS-Cassette marktfähig. Zwar konnte man in Rumänien keine Video-Recorder kaufen, aber man konnte sie ins Land schmuggeln. Moment! Was ist mit den erschwerten Ausreisebedingungen? Egal! Also, es wurden Raubkopien von Hollywood-Mainstream-Produktionen ins Land geschmuggelt und – wie damals üblich – von nur einer Sprecherin namens Irina Nistor synchronisiert. Wenn man sich jetzt noch einen ziemlich teuren Fernseher besorgte, konnte man diese Raubkopien abends in größerer Runde gegen Eintritt vorführen. An einem Abend konnte man so mehr verdienen als sonst in einem Monat. Ein kleiner Vorgeschmack auf die Marktwirtschaft, die auf den Untergang des real existierenden Sozialismus folgen sollte!

Doch auch diese ökonomische Perspektive verfängt nicht. Vielmehr geht es um die Endverbraucher. So sitzen erwachsene Rumänen feixend vor dunklem Hintergrund und erzählen einander stichwortartig ihre schönsten Video-Erlebnisse, gerne auch illustriert durch entsprechende Filmausschnitte. Ziemlich konventionell das Ganze, gerne auch unterlegt mit einem aufdringlichen Score. Damit nicht genug! Gibt die Anekdote etwas her, dann wird sie durch einen Filmausschnitt exponiert, anschließend re-enacted und selbst wieder hölzern synchronisiert.

Also: In „Rocky“ trainiere die Titelfigur in einem abgewetzten Trainingsanzug vor Tagesanbruch in den Straßen der Stadt, wird erzählt. Weil man als Jugendlicher auch so groß und stark wie Rocky werden wollte, tat man es ihm gleich. Abgewetzte Trainingsanzüge gab es ja zuhauf. Dazu mischt der Film Interview-Parts mit Filmausschnitten aus „Rocky“ und mit Musik unterlegten Re-Enactments. Rohe Eier zum Frühstück im Morgengrauen! Wegen „Rocky“!

Große Heiterkeit, wenig Erkenntnisgewinn! Zum Glück wagt sich der Film nach einiger Zeit aus der schrillen Nostalgie-Ecke und erzählt lieber davon, dass die Raubkopien gewissermaßen subversiv konsumiert wurden. „Imperialistische Filme gucken“ als Akt des Widerstands! Nicht die Handlung war entscheidend, sondern eher das, was es zu sehen gab. Der Video-Underground wusste, dass es ein besseres Leben geben könnte – und zwar aus den Filmen, die von Sportwagen und gut gefüllten Supermärkten, von Mode und Inneneinrichtungen, von Traum-Orten und -Straßen nicht nur erzählten, sondern sie präsentierten. Wenn Eddie Murphy in „Beverly Hills Cop“ staunend durch Hollywood fährt, dann entspricht das in etwa dem Blick der rumänischen Zuschauer auf die fremden Bilderwelten. Außerdem zeigten Figuren wie Rocky, Rambo, Chuck Norris oder Jean-Claude van Damme, dass man sich nicht unterkriegen lassen darf. Eine wahre Apotheose des Hollywood-Kinos, das kapitalistisch profitable Begehrlichkeiten in die Köpfe eines Publikums verpflanzte, das im gleichen Augenblick der Fiktion aufsaß, subversiv zu sein.

Oder waren die Videoabende Opium fürs Volk und lenkten von der Politik ab? Denn die Geschichte wird noch komplizierter: Den Raubkopien gemeinsam war in der Regel, dass alle Figuren von derselben Sprecherin – teilweise etwas eigenwillig – synchronisiert und eingesprochen waren von – wie schon gesagt – Irina Nistor. Sie war im rumänischen VHS-Underground die Stimme ohne Körper, der Beweis für die »Echtheit« der Filme und eine riesige Projektionsfläche für Männerphantasien. Der Film lässt Nistor ausführlich zu Wort kommen und versucht so, etwas Licht in diese eigenwilligen Vertriebswege zu bringen, die letztlich vom Geheimdienst zwar behindert, aber nicht unterbunden und vielleicht sogar kontrolliert wurden. Wie heißt es einmal so schön: „Menschen mit Videorecordern und Farbfernsehern wurde viel Leid angetan!“ Der bis zuletzt undurchsichtige Timur Zamfir, der dieses Geschäft jahrelang betrieb, bringt es einmal auf den Punkt: „Man braucht Mut, um in ein Auto zu steigen und Filme aus einem unbekannten Land zu holen.“ Da hilft es mitunter, zumindest einen korrupten Grenzbeamten zu kennen. Oder selbst beim Geheimdienst zu sein. Vielleicht. Ein etwas zu sehr um Unterhaltung bemühter, simplifizierender, widersprüchlicher und seinerseits undurchsichtiger Film.

Revision

(D 2012, Regie: Philip Scheffner)

Obergrenzen der Intoleranz
von Wolfgang Nierlin

Ein Mähdrescher schneidet sich durch ein weites Getreidefeld an der deutsch-polnischen Grenze in Mecklenburg-Vorpommern, als gelte es, das Dickicht zu lichten. Am 29. Juni 1992 wurden hier, bevor ein Feuer …

Ein Mähdrescher schneidet sich durch ein weites Getreidefeld an der deutsch-polnischen Grenze in Mecklenburg-Vorpommern, als gelte es, das Dickicht zu lichten. Am 29. Juni 1992 wurden hier, bevor ein Feuer die Spuren löschte, zwei Tote entdeckt: Die rumänischen Staatsbürger und Roma Eudache Calderar und Grigore Velcu, beim illegalen Grenzübertritt erschossen von zwei deutschen Jägern, die im frühmorgendlichen Dämmerlicht die beiden Menschen angeblich mit Wildschweinen verwechselten. Die genauen Tatumstände bleiben jedoch unklar; und die beiden Jäger werden Jahre später ohne viel Aufhebens freigesprochen, während die Familienangehörigen der Opfer von den deutschen Behörden noch nicht einmal darüber informiert werden, dass ein Prozess stattfindet. Ein Anwalt wird später in der Rückschau sagen: „Es gibt Dinge im Leben, die es nicht geben dürfte und die es aber trotzdem gibt.“

Philip Scheffners sehr genau gearbeiteter Film „Revision“ rekonstruiert eine „Geschichte mit vielen Anfängen“. Für seine filmische Spurensuche, die der verzweigten Beweisaufnahme eines Kriminalfalles ähnelt, wählt der Regisseur individuelle Einstiege und wechselnde Perspektiven. In Interviews mit Familienangehörigen und persönlich Betroffenen, mit Zeugen und Behördenvertretern erforscht er die Umstände einer Tat, deren Wahrheit zwar letztlich dunkel bleibt, deren Leerstellen aber gerade deshalb umso beunruhigender wirken. Dabei konfrontiert er die Befragten via Videoaufzeichnungen immer wieder mit ihren eigenen früheren Aussagen und damit auch mit ihren Erinnerungen, vagen Vermutungen und Widersprüchen. Im Prozess der Rekonstruktion, in den sich Philip Scheffner als Filmemacher bewusst einbezieht, entsteht so eine permanente Revision des Gesagten und Gefundenen, werden fortgesetzt neue Aspekte sichtbar.

Dabei ähneln die fliehenden Schatten der wiederholt ins Bild gesetzten Windräder auf den Feldern den dunklen Punkten einer schier unglaublichen Geschichte. Deren allmählich sichtbar werdenden Umrisse und Zusammenhänge dokumentieren vor allem ein Klima der Fremdenfeindlichkeit an den Außengrenzen Europas und insbesondere in Deutschland. Ein geschändetes Grab, die ausländerfeindlichen Pogrome im nahe liegenden Rostock-Lichtenhagen, die Verschärfung des Asylrechts und die massenhafte Abschiebung von Roma geben davon trauriges Zeugnis. Scheffner kontrastiert diese unheilige Allianz aus rechtswidrigem Treiben und anonymer Verwaltungspolitik mit dem berührenden Bild von Menschen, denen durch Armut fundamentale Menschenrechte vorenthalten werden und die mit ihrem sprachlos machenden Schmerz allein wären, hätten sie nicht den starken Zusammenhalt innerhalb der Familie.

Alleluia – Ein mörderisches Paar

(B/F 2014, Regie: Fabrice du Welz)

Owner of a Lonely Heart
von Carsten Happe

Unter der Schädeldecke werkeln Probleme an neuen Projekten. Rasende Kopfschmerzen, die von einer heftigen Kopfverletzung herrühren, zwingen Michel Bellmer in die Knie – und in die offenen Arme der einsamen …

Unter der Schädeldecke werkeln Probleme an neuen Projekten. Rasende Kopfschmerzen, die von einer heftigen Kopfverletzung herrühren, zwingen Michel Bellmer in die Knie – und in die offenen Arme der einsamen Gloria, die dem Heiratsschwindler nach einer gemeinsamer Liebesnacht ihr Herz und auch ihr Gespartes schenkt, aber er hat’s doch so schwer, der Versehrte. Ein Auftakt wie ein Einspieler aus „Vorsicht Falle“, dessen Untertitel „Nepper, Schlepper, Bauernfänger“ zum geflügelten Wort geronnen ist und auch stets Typen wie Michel Bellmer mitdachte, wenn Ede Zimmermann mit erhobenem Zeigefinger in der markigen Stimme warnte und mahnte, doch es war eine einzige Sisyphusarbeit angesichts der geballten Gutgläubigkeit in der Welt.

Ganz so monokausal gerät Gloria nicht in die Fänge des Ladykillers, vielmehr klammert sich die alleinerziehende Mutter an das plötzliche Glück der wiederaufflammenden Fleischeslust, einnehmend illustriert in einer ebenso bizarren wie feurigen Traumsequenz. Doch das Geld des ungleichen Pärchens ist knapp, die Frauenwelt willig und Michel durchaus begnadet in seiner selbstgewählten Profession. Wäre da nur nicht Glorias rasch anschwellende Eifersucht, die sie bei jedem Liebesschwur Michels oder Blowjobs der neuen Auserwählten zur Furie werden lässt und auch vor dem Äußersten nicht zurückschreckt.

Eine altbekannte wie auch wahre Geschichte, die „Alleluia“ zu Grunde liegt, die Moritat von Martha Beck und Raymond Fernandez, bekannt und berüchtigt als die „Lonely Hearts Killers“, bereits einmal vom Underground in „The Honeymoon Killers“, einmal von Hollywood mit John Travolta, Salma Hayek und Jared Leto, sowie einmal im internationalen Arthousekinokontext („Profundo carmesí“ von Arturo Ripstein) mit wechselndem Erfolg verfilmt. Anders als das stargespickte Hollywood-Remake, das die polizeilichen Ermittlungen in den Mittelpunkt stellte, konzentriert sich der belgische Regisseur Fabrice du Welz ausschließlich auf das Killerpärchen und die Binnenbefindlichkeiten des fragilen Gespanns, die unweigerlich auf eine finale Katastrophe hinzusteuern.

Doch anders als du Welz vorheriger Film „Vinyan“, der sich Motiven des spanischen Kulthorrors „Ein Kind zu töten“ bediente und den ein undurchdringliches Geheimnis umrankte, verläuft „Alleluia“ ziemlich straight und leider mit zunehmender Spieldauer auch leidlich flach. Originelle Regieeinfälle wie die plötzliche Gesangseinlage Glorias nach der Waschung der ersten Leiche (!) und fiebrige Barszenen durchkreuzen nur höchst selten die ansonsten erstaunlich biedere Inszenierung, die sich augenscheinlich nicht zwischen Charakterstudie – für die sie zu wenig Profil besitzt – und Psychohorror – der bis auf das fiese Finale mit sichtlich gebremstem Schaum daherkommt – entscheiden kann. Während Laurent Lucas überhaupt keine Entwicklung seiner sinistren Figur zugestanden wird, darf zwar Almódovar-Regular Lola Dueñas groß auftrumpfen, doch ihre Performance prallt am bräsigen Rest leider wirkungslos wieder ab.

Aus unerfindlichen Gründen

(UNG 2014, Regie: Gábor Reisz)

Budapest Blues
von Manfred Riepe

Aron ist knapp 30, hat aber noch immer keinen Plan. So etwas ist heutzutage eigentlich nichts Ungewöhnliches mehr. Doch Aron ist in dieser Hinsicht noch etwas seltsamer als gewöhnlich. Er …

Aron ist knapp 30, hat aber noch immer keinen Plan. So etwas ist heutzutage eigentlich nichts Ungewöhnliches mehr. Doch Aron ist in dieser Hinsicht noch etwas seltsamer als gewöhnlich. Er zelebriert seine Orientierungslosigkeit mit einer unglaublichen Akribie. Es scheint, als würde er die Welt von einem jenseitigen Standpunkt aus betrachten. Dafür findet der Film gleich zu Anfang wunderbar schräge Bilder. Aron fällt um und ist tot. Aber nicht nur einmal, sondern permanent. Beim Spazierengehen am Fluss, in der U-Bahn und sogar mitten auf einer befahrenen Straße. Dummerweise niemand nimmt Notiz von seinen gefühlten tausend Toden, und genau das entspricht seinem Lebensgefühl. Also, wer ist dieser Aron?

Der 29-Jährige hat Filmgeschichte studiert. Er hat noch nie gearbeitet. Die Vorschläge, die der Berater vom Jobcenter ihm unterbreitet, werden in seinen Ohren zu einem monotonen Wortbrei. Für Aron macht das alles keinen Sinn. Zum Glück wird er von seinen Eltern finanziert. Die Freundin, mit der er einige Jahre zusammen wohnte, hat ihn verlassen. Dabei hat sie, was Aron am meisten wurmt, nicht einmal ihre Schamhaare im Abfluss zurückgelassen. Kein Zweifel: Dieses Muttersöhnchen ist ein ziemlich schrulliger Typ. Ein Loser, wie er im Buche steht. Aber einer, den man so noch nicht gesehen hat. Wenn er auf der Straße spazieren geht, dann folgt ihm in seiner Phantasie die Ex-Freundin. Allerdings nicht nur in einer Gestalt, sondern in einer ganzen Serie imaginärer Reproduktionen. Diese seltsame Prozession schüttelt der Film mit einer Art Gebrauchs-Surrealismus aus dem Ärmel.

Der ungarische Filmemacher Gábor Reisz taucht in die Gefühls- und Gedankenwelt dieses jungen Mannes überaus phantasievoll ein. Über weite Strecken ist seine melancholische Komödie im Cinema Verité Stil gedreht. Die bewegliche Handkamera erzeugt eine intime, dokumentarische Nähe zu seinem Protagonisten, die jedoch immer wieder aufgebrochen wird durch hinreißend komische traumartige Sequenzen. Zu Beginn etwa liegt Aron unter der Schaukel auf einem Kinderspielplatz, denn in der Erwachsenenwelt ist er noch nicht wirklich angekommen. Ein Handyanruf von seiner dominanten Mutter, zu der er eine enge Bindung hat, reißt ihn aus seiner tagträumerischen Lethargie. Sie trägt ihm auf, er möge sich doch bitte beeilen. Doch das ist nicht seine Sache. Als Reaktion auf diese Anforderung sieht er Passanten auf der Straße, die sprinten, um den Bus noch zu erreichen. Aus Arons Sicht rennen sie jedoch in Zeitlupe – und pfeifen dabei auch noch die fröhliche Titelmusik des Films mit.

Solche szenischen Erfindungen sind keine manieristische Stilübung. Gábor Reisz verbildlicht die Sichtweise eines Menschen auf eine Welt, die sich ohne ihn dreht. Von den „unerfindlichen Gründen“ für diese lähmende Agonie erzählt das Sittenbild über das moderne Ungarn mit selten gesehener Verve.

So soll Aron beispielsweise Blumen zum Namenstag seiner Schwägerin in spe mitbringen, kauft aber nur einen Minikaktus. Als sein Vater nebenbei fragt, ob er sich an diesem „Geschenk“ beteiligen könne, erschließt sich ganz nebenbei ein ganzes psychologisches Koordinatensystem. Mit wenigen Strichen zeichnet Reisz eine bürgerliche Mittelstandsfamilie. Der leise tretende Vater hat nichts zu melden. Die Mutter, die in diesem Haushalt die Hosen anhat, sitzt in leitender Stellung in irgendeiner Behörde, in dem sie ihren Sohn auch gerne unterbringen möchte. Wogegen Aron passiven Widerstand leistet. Sein erfolgsorientierter Bruder führt ein Restaurant. Und wenn seine schwangere zukünftige Schwägerin sich am Esstisch übergibt, dann darf Aron auf dem Boden die Kotze aufsammeln: Alles ist an seinem Platz.

Entsprechend vergnügt folgt man der mäandernden Geschichte. Aron wird beim Schwarzfahren erwischt, was für ihn eher ein Grund zur Freude ist: Er hat sich in die Kontrolleurin verliebt. Der Beamte auf der Bußgeldstelle teilt ihm auf eine zweideutige Weise mit, die Kontrolleurin würde auf den eigentümlichen Namen Eva Tinte hören. Allein schon bei der Suche nach dieser Frau gelingen dem Film herrlich absurde Szenen. Dass Aron im Suff versehentlich ein Flugticket nach Lissabon bucht, macht seine Situation nicht einfacher. Doch diese unfreiwillige Reise wird eine zu sich selbst.

Áron Ferenencik, Freund, Studienkollege und Hauptinspirationsquelle des Regisseurs, verkörpert diesen postsozialistischen Nerd mit schlafwandlerischer Souveränität. Der Film lebt von der Figur dieses skurrilen Eigenbrödlers und verkannten Künstlers. Aron kann nicht arbeiten, weil er sogar beim Spüljob in der Restaurantküche immer wieder innehält, um die schönen Muster auf den schmutzigen Tellern anzustarren. Die einzige „Produktivität“ dieses träumenden Totalverweigerers: Sprechen. Er redet viel, schnell – und vor allem dann, wenn es unangebracht ist. Eine überbordende Fülle solcher schrägen Beobachtungen und Stilbrüche fügt Gábor Reisz in seinem kurzweiligen Debüt und zu einem harmonischen Ganzen: Sein Stilmix ist aus einem Guss: Mit seinem leisen Film über einen verträumten Loser im modernen Budapest gelingt ein großer Wurf. Ein genialer Budapest-Blues, der Szene für Szene verblüfft, und das nicht aus unerfindlichen Gründen.

The Tribe

(NL / UA 2014, Regie: Myroslav Slaboshpytskiy)

System der Gewalt
von Wolfgang Nierlin

In diesem Film sprechen die Körper und die Zeichen der Hände. Denn der ukrainische Regisseur Myroslav Slaboshpytskiy hat ihn mit gehörlosen Laiendarstellern, sogenannten „Kindern der Straße“, gedreht und auf eine …

In diesem Film sprechen die Körper und die Zeichen der Hände. Denn der ukrainische Regisseur Myroslav Slaboshpytskiy hat ihn mit gehörlosen Laiendarstellern, sogenannten „Kindern der Straße“, gedreht und auf eine Untertitelung der Gebärdensprache verzichtet. „The Tribe“ (Plemya), so der Titel seiner „Hommage an den Stummfilm“, ist aber auch jenseits der Gesten und der Mimik radikales Körperkino: Immer sind die Bewegungen der Figuren forciert und heftig, energiegeladen und zielgerichtet. Es gibt in ihnen einen Willen zur Dominanz, eine Fokussierung auf das Zentrum des Handelns, das immer nur eine Entscheidung und keine Unparteilichkeit oder ein Außerhalb zulässt. Deshalb ist die Sprache der Körper in „The Tribe“ ebenso latent wie offen gewalttätig. Fast immer handelt sie von Konflikten, formuliert sie Drohungen oder wird übergriffig und zerstörerisch. Als Gewalt markiert sie den verschiedenen Standpunkt in der Welt, die hierarchische Stellung in der Gruppe, die Autorität in der Stammesgemeinschaft. Und als solche kennt sie weder Gefühl noch Mitleid. Slaboshpytskiy ersetzt in seinem „humanistischen“ Film über „Liebe und Aufnahme“, der „den Eintritt ins Erwachsenenleben inmitten einer grausamen Welt“ zeige, so der Regisseur, die Figurenpsychologie durch eine ebenso minutiöse wie kalte Sachlichkeit des Handelns.

Diese dominiert rücksichtslos und brutal das hermetisch geschlossene System einer Gehörlosen-Anstalt: eine eigengesetzliche Welt mit streng hierarchischer Struktur und das Abbild einer autoritären Gesellschaft im Kleinen. Hierher kommt zu Beginn des Films, und von der dynamischen Handkamera aus subjektiver Sicht begleitet, ein junger Mann, den die Credits als Sergey (Grigoriy Fesenko) ausweisen. Wie dieses System den zunächst scheu wirkenden Ankömmling – aber auch andere Gruppenmitglieder – zur Eingliederung und Anpassung zwingt, indem es ihn maßregelt und unterdrückt, befördert und verstößt, ist gewissermaßen der parabolische Hintergrund, vor dem sich der grausame Realismus dieser sehr elliptisch und im Zeigegestus erzählten Geschichte entfaltet. Als Neuer muss sich Segey zunächst einem Aufnahmeritual stellen, muss kämpfen, sich unterwerfen und die kriminellen Regeln der Zwangsgemeinschaft verinnerlichen. Diese finanziert ihre Mitglieder, zu denen auch Lehrer gehören, nämlich durch den Verkauf von Spielzeugramsch, gemeine Raubüberfälle und Prostitution.

Zwei Mädchen der Gruppe verkaufen nachts auf einem LKW-Parkplatz ihre Körper an Fernfahrer. Als sich Sergey, nach dem Unfalltod eines Zuhälters mittlerweile selbst zum Kuppler aufgestiegen, in Anna (Yana Novikova) verliebt, scheint bald darauf die Katastrophe unausweichlich. Denn seine besitzergreifende, eifersüchtige Liebe, für die er stets bezahlt, bleibt nicht nur unerwidert, sondern sie kollidiert, ja verstößt geradezu gegen das System der Gewalt und wird deshalb gnadenlos geahndet. Indem Myroslav Slaboshpytskiy seine Figuren in archetypische Situationen stellt und damit auch jenseits des gesprochenen Wortes universell verstehbar macht, verhandelt er auch den humanen Kern dieser nahezu archaischen, zutiefst inhuman erscheinenden Stammesgemeinschaft.

Diese situiert der 1947 in Kiew geborene und an den Schauplätzen des Films aufgewachsene Regisseur in einer kaputten, von Verfall gekennzeichneten Umgebung, deren Unwirtlichkeit von grauer, nasser Kälte dominiert wird. Der dokumentarische Realismus der Bilder, aufgenommen von dem ebenfalls als Regisseur arbeitenden Kameramann Valentyn Vasyanovych, mit seinem Wechsel aus mehr oder weniger teilnahmsloser Nähe und nüchterner Distanz steht dabei in einem spannungsvollen Verhältnis zur formalen Geschlossenheit des Films. Genau und schnörkellos ist dieser aus einzelnen, langen Plansequenzen komponiert, die das Gezeigte in Echtzeit wiedergeben und in der leicht variierten Wiederholung einzelner Szenen die Gewichte und Motive der Erzählung entscheidend verlagern. Myroslav Slaboshpytskiy ist ein radikaler Ästhet, der dieses Erzählprinzip in der langen Schlusseinstellung ins schier Unerträgliche steigert. Schließlich lässt er am Ende, wenn alles vorbei ist, den Zuschauer hinter den Türen der Anstalt zurück.

A Perfect Day

(ES 2015, Regie: Fernando León de Aranoa)

Von der Unmöglichkeit, Gutes zu tun
von Aileen Pinkert

Der Frieden scheint zum Greifen nah, doch die Überlebenden des Balkankriegs haben keinen Grund zur Freude: Zerstörung, Wassermangel und Verlust bestimmen Mitte der 1990er Jahre das Leben der meisten. Was …

Der Frieden scheint zum Greifen nah, doch die Überlebenden des Balkankriegs haben keinen Grund zur Freude: Zerstörung, Wassermangel und Verlust bestimmen Mitte der 1990er Jahre das Leben der meisten. Was sich (melo-)dramatisch anhört, wird in Fernando León de Aranoas englischsprachigem Filmdebüt „A Perfect Day“ durchaus ambivalent, an nicht wenigen Stellen gar humorvoll erzählt. Das gelingt, weil im Zentrum des Films nicht die vermeintlich und womöglich auf Mitleid abzielenden Opfer des Krieges stehen, sondern eine bunt gemischte Gruppe von NGO-Mitarbeitern: Abgebrüht, zynisch und idealistisch. Das oft beschworene Ende der Kriegshandlungen bildet nicht mehr als die Kulisse, den Hintergrund eines Problems, der die Gruppe während des Films habhaft zu werden versucht.

Etwas, das fehl am Platz ist, kann nur durch etwas anderes beseitigt werden, das wiederum gar nicht vorhanden ist. Zu viel, zu wenig. Genau in diesem Dilemma steckt die starbesetzte Hilfsorganisation (darunter die beiden Oscar-Preisträger Benicio del Toro und Tim Robbins sowie Olga Kurylenko), die bemüht ist, bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten zu gehen, um einen Wasserbrunnen zu dekontaminieren. Gleich zu Beginn etabliert der Film dieses ungleiche Verhältnis eines Zuviel und eines Zuwenig. Was sich später als eine an einem Seil befestigte und nach oben gezogene Leiche in einem Wasserbrunnen herausstellt, gibt in ihrer Drehbewegung immer wieder Lücken frei für die Credits, die Namen der Schauspieler. Dreht sich der tote und v.a. schwere Körper dabei zu schnell, bleibt kaum noch Zeit, den Namen zu lesen. Das Seil reißt, die Leiche fällt hinab, zurück auf den Boden des Brunnens. Sisyphos steht wieder am Anfang, und die Suche nach einem neuen Strick erweist sich als spielfilmfüllende Herausforderung. Weil es an dieser Stelle nicht weitergeht und um es vorwegzunehmen, dieses Problem auch dank der unpragmatischen Intervention der UN-Blauhelme nicht gelöst werden kann, verlässt die Kamera den Brunnen und heftet sich an die Fersen der Hilfsorganisation von Mambrú, B und Sophie. Zu viel würden sie mit ihren Köpfen im Krieg feststecken, zu wenig von dem wissen, was wirklich Leben ausmacht, sagt Katya, die wenig später die Gruppe komplettiert und als Vorgesetzte kontrolliert, ob sie, angeführt von ihrem Ex-Liebhaber, Aktionen denn auch erfolgreich umsetzen kann.

Sarkastisch mutet es da fast schon an, dass Einheimische die „Hilfe ohne Grenzen“-Truppe auf ihrer Seilsuche unterstützen, sie unbeschwert über verminte Gebiete führen. Da gibt es die Alte, die hinter ihren Kühen hergeht, um nicht von einer Mine zerfetzt zu werden, dann den Jungen Nikola, der die Gruppe durch sein Schicksal, das ihm selbst vorenthalten wird, enger zusammenschweißt und Momente von Dynamik zwischen den unterschiedlichen Charakteren aufblitzen lässt. Desolat und desillusioniert verlassen die Hilfsarbeiter das Elternhaus von Nikola, nachdem sie seinen Ball aus der Garage geholt haben. Aus dem Off dröhnt Marilyn Manson mit dem „Sweet Dreams“-Cover von den Eurythmics. Deplatziert und pathetisch fühlt es sich an und genau das trifft wohl die Stimmung der Szene und v.a. die gefühlte Ohnmacht der Protagonisten. Zu viel gewollt, zu wenig erreicht. Will Sophie, die junge, leicht überambitionierte Hilfsarbeiterin, die an diesem Tag zum ersten Mal und gleich mit mehreren menschlichen Leichen konfrontiert wird, vom Krieg missbraucht werden? Warum man sich einerseits das Leid antut, sich andererseits von einer überbürokratischen UN auf der Nase herumtanzen lässt, fragt der Film in Form von Katya. Eine Antwort darauf können die anderen nicht geben, zu tief stecken sie im Krieg fest, so tief wie die übergewichtige Leiche im Wasserbrunnen. Wer bin schon ich, um zu widersprechen? Jeder ist auf der Suche nach etwas.

Die Stärke des Films liegt in diesen aufgeworfenen und unbeantworteten Fragen, der melancholischen Verbindung von Ernüchterung und stetiger Frustration. Das eigene Angebot der Hilfeleistung, das man gezwungen ist, immer wieder zurückzunehmen. Was tun, wenn der Gemischtwarenhändler sich weigert, ein Seil für eine Brunnenentgiftung zu verkaufen, weil die Seile dafür vorgesehen sind, Menschen an ihnen aufzuhängen? Im Zweifelsfall sind die Hilfsarbeiter ungeschützt. Ein verborgener Sprengsatz nimmt keine Rücksicht auf ein durchgestrichenes Gewehr am Fahrzeug.

De Aranoas Film reiht sich bestens ein in die hochaktuelle Debatte über Flüchtlinge, ohne mit dem Zeigefinger zu drohen oder unnötig tief in Wunden zu bohren. Ein gutes Timing, ein dick aufgetragener Soundtrack, stark geschriebene und gespielte Charaktere zeigen (teils zu) eindrücklich das, was andere Filme schon nicht mehr interessiert: Den Krieg nach dem Krieg – den nie erreichten Friedenszustand. Zahlreiche Vogelperspektiven auf die durch entvölkertes Gebiet fahrenden Jeeps, unterstreichen die Unmöglichkeit, zwischen dem Hier und Dort jemals ans Ziel zu kommen.

A Man Can Make a Difference

(D / AT 2015, Regie: Ullabritt Horn)

Eine Lektion über Völkerrecht
von Manfred Riepe

Die Nürnberger Prozesse markieren den ersten Schritt in der Aufarbeitung der Nazivergangenheit. Hier wurden nicht nur Hauptverantwortliche der Hitler-Diktatur wie Hermann Göring und Joachim von Ribbentrop nach rechtstaatlichen Prinzipien verurteilt. …

Die Nürnberger Prozesse markieren den ersten Schritt in der Aufarbeitung der Nazivergangenheit. Hier wurden nicht nur Hauptverantwortliche der Hitler-Diktatur wie Hermann Göring und Joachim von Ribbentrop nach rechtstaatlichen Prinzipien verurteilt. Ebenso wichtig waren die zwölf Nachfolgeverfahren gegen Industrielle, Ärzte, Juristen und hochrangige Militärs, die den Mechanismus des Massenmordens in Gang hielten. In einem dieser Verfahren, dem sogenannten „Einsatzgruppen-Prozess“ von 1947/48, wurde auch ein gewisser Paul Blobel angeklagt. Der SS-Offizier verantwortete unter anderem jenes Massaker von Babyn Jar, bei dem innerhalb von zwei Tagen 33.000 Juden massakriert wurden.

Von den heute kaum noch vorstellbaren Problemen, vor die sich die Justiz seinerzeit gestellt sah, erzählt Ullabrit Horns Porträt über Benjamin Ferencz, der in diesem Verfahren als Chefankläger fungierte. Ihr Dokumentarfilm schildert nicht nur die bewegende Lebensgeschichte des aus Rumänien stammenden Juden. Er verdeutlicht auch, warum dieser unscheinbar wirkende Jurist „den Unterschied“ ausmacht, auf den der Filmtitel verweist. Vor der Kamera entwickelt der kleinwüchsige Mann, der für die Justiz Großartiges leistete, eine unglaubliche Präsenz. Lebhaft und mit spürbarer Leidenschaft erzählt der heute 95-Jährige, wie seine Eltern nach New York immigrierten, wo er in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs. In „Hells Kitchen“, einem sozialen Brennpunkt, wo Gangs unterschiedlicher Ethnien sich blutige Revierkämpfe lieferten, geriet er immer wieder zwischen die Fronten, aber nie auf die schiefe Bahn. Wenn dieser bescheidene Mensch heute davon erzählt, wie er damals völlig unerwartet ein Stipendium erhielt – und daraufhin sein Jura-Examen mit Auszeichnung bestand –, dann kommen ihm immer noch die Tränen. Ein starker Moment in diesem Film, der vor Augen führt, wie ein Mensch auch am Ende seines Lebens noch dankbar ist für das, was ihm am Anfang geschenkt wurde.

Aufgrund seines Talents kommandierte man den damals 27-Jährigen US-Soldaten schließlich dazu ab, Beweismaterial für Kriegsverbrechen der Deutschen zu sammeln. Hier schlägt der Film das eigentliche Kapitel auf: Was genau heißt eigentlich Kriegsverbrechen? Man kennt diesen Begriff, der schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts in die Genfer Konventionen aufgenommen wurde, aber nach wie vor nicht scharf umrissen war. Ferencz studierte stapelweise Leitzordner aus dem Gestapo-Archiv. Die Zahl der protokollierten Morde wurde immer größer, irgendwann hörte er zu zählen auf.

Die lebendigen Schilderungen dieses Zeitzeugen, der sogar eigenhändig Leichen ausgrub, sind nicht nur emotional mitreißend. Seine faszinierende geistige Beweglichkeit vergegenwärtigt die eigentliche Bedeutung der Nürnberger Prozesse. Vor den Schranken dieses Gerichts verteidigten Nazis sich nämlich nach rechtsstaatlichen Prinzipien, die ihnen ein unerwartetes Schlupfloch boten: Blobel – und vor allem Ferencz’ Hauptangeklagter Otto Ohlendorf – argumentierten, sie hätten unschuldige Zivilisten im Glauben erschossen, dass sie damit einen souveränen Staat, das deutsche Reich, beschützten. „Putativnotwehr“ nennen das Juristen.

Man spürt, dass das unhaltbar ist. Aber spüren allein reicht nicht, denn es gibt kein „gefühltes Recht“. Jedes Hollywood-Justizdrama verdeutlicht, dass Gerechtigkeit eine Sache der peniblen Formulierung ist. Erst dank einer vehementen Anstrengung des Begriffs, die der Film lebhaft vor Augen führt, ist die Aburteilung von Nazi-Gräueltätern kein willkürlicher Racheakt mehr, sondern ein konkreter Tatbestand. Der Film führt vor Augen, wie schwierig es war (und ist), „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ als rechtsstaatlichen Grundsatz in einem Bereich anzuwenden, der über die einzelstaatliche Verantwortlichkeit hinaus reicht.

In diesem Sinne erinnert der Film auch an die Verhandlungen über das Wiedergutmachungsabkommen von 1952, das sogenannte „Luxemburger Abkommen“, an dem Ferencz ebenso maßgeblich beteiligt war. Vor der Kamera erklärt der passionierte Jurist die damaligen Schwierigkeiten. Die neu gegründete Bundesrepublik fühlte sich damals nicht als Rechtsnachfolger des NS-Regimes – also wozu Entschädigungen? Auf der anderen Seite gab es den Staat Israel noch nicht – es gab also noch keine Instanz, die konkrete Rechtsansprüche gegen den NS-Völkermord hätte stellen können. Dass man trotzdem rechtlich verbindliche Verhandlungen zur Entschädigung für nationalsozialistisches Unrecht führen konnte, ist unter anderem Ferencz’ Verdienst.

Dank dieses überaus beeindruckenden Protagonisten kommt der Film mit wenigen Archivfilmen und Fotos aus, die das ohnehin unvorstellbare Leiden der Menschen in den Konzentrationslagern bebildern. Von jedem Motiv zeigt die Regisseurin zunächst nur einen kleinen, kreisrunden Ausschnitt, in dem das ausgemergelte Gesicht eines KZ-Häftlings zu sehen ist. Erst nach und nach vergrößert sich dieser Kreis und gibt den Blick frei auf Leichen, die „wie Holzscheite gestapelt“ sind. Dieser behutsame Umgang mit authentischen Motiven fügt sich gut ein in einen Film, der den Zuschauer nicht mit Gräuelbildern schocken will, sondern die Anstrengung des Begriffs unterstützt.

In einem beeindruckenden Bogen von den Völkermorden in Ruanda und Bosnien bis hin zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs verdeutlicht der Film, dass Ferencz ein Wegbereiter des heute angewandten Völkerrechts ist. Dabei wird Historie auf eine selten gesehene Weise lebendig.

Im Sommer wohnt er unten

(D/F 2015, Regie: Tom Sommerlatte)

Sommerhaus, später
von Ulrich Kriest

Moment mal? Schon wieder eine Familienaufstellung? Schon wieder eine etwas forcierte Behauptung einer Konstellation, die binnen kurzem alles durcheinander wirbelt und lauter Lebenslügen schmerzhaft ans Tageslicht zaubert. Der Schauspieler Tom …

Moment mal? Schon wieder eine Familienaufstellung? Schon wieder eine etwas forcierte Behauptung einer Konstellation, die binnen kurzem alles durcheinander wirbelt und lauter Lebenslügen schmerzhaft ans Tageslicht zaubert. Der Schauspieler Tom Sommerlatte, Jahrgang 1985, hat sich für sein Spielfilmdebüt auf ein vertrautes, im Film und auf dem Theater viel bespieltes Terrain begeben, vielleicht, denkt man zu Beginn noch, um dann mit subtilen Nuancierungen zu punkten.

Das Ganze geht so: Ferienhaus in Frankreich, das die Familie so lange besitzt, dass beide erwachsenen Söhne Jugenderinnerungen teilen. Meistens wechseln die Aufenthalte einander routiniert ab, doch diesmal kommen Banker David und seine Frau Lena eine Woche früher als geplant, um ein Kind zu zeugen. Deshalb treffen sie noch den schlaffen Kiffer Matthias, der mit seiner französischen Freundin Camille und deren Sohn Etienne eine gute Zeit hat, vom Erbe lebt und als eine Art Hausmeister das Anwesen betreut.

David gibt das Alphatier und stellt als routiniertes Arschloch die Hierarchien klar. Matthias setzt, vielleicht aus alter Gewohnheit, auf kontrollierte Defensive und die Politik der kleinen Nadelstiche. Zunächst einmal (Filmtitel!) wird die Zimmerfrage geklärt, dann muss das lärmende Kind weg. Damit ist die Versuchsanordnung klar und das Spiel kann beginnen!

Sommerlatte setzt auf Reduktion: der Film spielt im Ferienhaus mit dem Pool als zweitem zentralen Spielfeld der Handlung. Camille fühlt sich durch Davids Macho-Gehabe herausgefordert und ärgert sich über die windelweiche Nachgiebigkeit von Matthias. David ist Kritik nicht gewohnt und giftet zurück. Bahnt sich da etwa eine Liebesgeschichte an? Schließlich neigt auch Camille dazu, Matthias beizeiten zur Ordnung zu rufen. Matthias ist das alles erst mal nur zu stressig. Und Lena fängt sich bei der erstbesten Gelegenheit eine Sehnenzerrung zu und humpelt von nun an durch den Film. So richtig toll findet sie das Gehabe von Matthias auch nicht mehr.

Der Film plätschert entspannt gespannt dahin. Entscheidend scheint nicht, was passiert, sondern wann passiert, was passieren muss. Wann werden die Brüder im alten Baumhaus ein ernstes Gespräch führen? Wann wird der Rasen gemäht? Und von wem? Wann darf das Kind wieder zurückkommen? Anderseits: Warum provozieren Camille und Matthias David mit lauten Sexspielen, die aus einem ganz anderen Film zu stammen scheinen, der vielleicht „Das lange Elend“ heißt.

Es soll hier nicht allzu viel verraten werden, zumal sich alles im Vorstellbaren bewegt. Während Davids Fassade systematisch von allen Seiten in Angriff genommen wird, bis sein ganzes Elend ausgebreitet daliegt, er sich einen freudschen Versprecher nach dem anderen leistet, bis er seinem Bruder erschöpft den Identitätstausch vorschlägt, bleibt Verschiedenes im Ungefähren.

Jetzt wüsste man doch gerne mal etwas mehr von Lena, die plötzlich die Qualität von Küssen schätzen lernt und überlegt, ob sie David verlassen soll, weil er ja keine Kohle mehr habe. Oder welche Rolle die Eltern in dieser Brüder-Konstellation spielen? Oder, ob Großmutters Erbe wirklich noch auf der Bank liegt? Oder ob Camilles Junge den toughen Onkel, der ihm das Schwert geschnitzt hat, nicht vielleicht doch interessanter findet als den schlaffen Matthias? Und ob Camille da nicht ähnlich denkt? Und warum Matthias kurz vor Schluss Camille und ihr Kind als „Parasiten“ bezeichnet? Weil David ihm das nahegelegt hat?

Vergessen wir die erotischen Spielchen am Pool nicht, die erstaunlich folgenlos bleiben. Weil hier eigentlich alles folgenlos oder im Ungefähren verbleibt. Nur, dass Lena, die im BMW anreiste, mit dem Taxi abreist. So fesselt „Im Sommer wohnt er unten“ hauptsächlich dadurch, dass er bestimmte Erwartungen nicht einlöst und bestimmte Fragen schlicht »überhört«. Was nicht weiter stört, weil man endlich einmal ein paar neue Gesichter auf der Leinwand sieht und dazu recht originell ausgesuchte Musik zu hören bekommt. So geht alles seinen Gang. Kein großes Ding.

Er ist wieder da!

(D 2015, Regie: David Wnendt)

Hitler-Ulk beweist: Das einfache Volk kennt ihn gut – und wir sind gut
von Drehli Robnik

Ein Mann kommt in eine Berliner Wäscherei und gibt Kleidung zur Reinigung. Stück für Stück zieht er seinen grauen Mantel und Anzug aus, steht zuletzt in der Unterwäsche mitten im …

Ein Mann kommt in eine Berliner Wäscherei und gibt Kleidung zur Reinigung. Stück für Stück zieht er seinen grauen Mantel und Anzug aus, steht zuletzt in der Unterwäsche mitten im Laden, zappelt geziert herum – und fragt die leicht irritierte Wäschereifrau, ob sie nicht vielleicht eine 'Ersatzuniform' für ihn habe! Muss man sich vorstellen! Aber nicht anschauen.

Der Mann sieht aus wie Hitler. Ja, genau der. Kanzler ’33 bis ’45 (ab ’34 auch Staatsoberhaupt). Laut Plot von 'Er ist wieder da', David Wnendts Adaption von Timur Vermes‘ Erfolgsroman, ist er es auch. Einfach so, ohne Grund und ohne Staat, im Park eines gegenwärtigen Sozialbaus aufgewacht, torkelt er durchs deutsche Heute, dessen Volk und Medienlandschaft. Zuerst versteht er die Welt nicht mehr, wie ein Zeitreisender vom Typ 'Sleeper' halt; oder wie der von 1943 ins Mittachtziger-München versetzte Stalingrad-Wehrmachtsheld in Herbert Achternbuschs 'Heilt Hitler' (1985), der durch die gänzlich unbeflaggte Stadt geht und sinniert, ob der Nationalsozialismus mittlerweile so erfolgreich sei, dass er öffentlicher Anzeichen nicht mehr bedarf. Eine ähnlich luzide, weitreichende Einsicht entwischt dem 'Er ist wieder da'-Hitler nur einmal, als er, in einer Montagesequenz, in der er News-Bilder gegenwärtiger Politik kommentiert, sich mokiert, neben all den schauspielernden Imitatoren seiner Person gebe es heute auch eine Partei, die bloß 'eine billige Kopie des Nationalsozialismus' sei; im Bild dazu eine Veranstaltung der CSU.

In der Folge hält man ihn (gespielt mit viel R von Oliver Masucci) für einen weiteren Imitator seiner selbst; also wird er als Politkontroversclown zum Star im trashigen Privat-TV- und auf YouTube. Es setzt Kulturverfalls- und Karrierismusbashing im zu erwartenden Ausmaß, dazu Cameos von Fernsehshowprofis wie den 'Circus Halligalli'-Buben und dem Plasberg-Buben, bei denen Hitler zu Gast ist und rumschimpft. Fabian Busch, Katja Riemann und Christoph Maria Herbst spielen mit; der Ösi in mir erkennt den emsigen Michael Ostrowski am Cast-Rand. (Er hält der Riemann einen anklagenden Monolog mit so wenig steirischem Dialekt wie als charmant empfunden wird.) Gäbe es was zu lachen, sollte es wohl im Hals steckenbleiben. 'Schtonk!' ist ein Film aus den Neunzigern.

Der Überschmäh von 'Er ist wieder da' sind allerdings Szenen wie die in der Wäscherei, mehr so auf Doku. Ein Benimmcoach, eine Würstchenbudenfrau, Touristen, Fußballfans, NPD-Leute und andere schütten ihre Herzen aus vor dem freundlichen Mann, der sich in Uniform als er selbst präsentiert und Einschlägiges sagt, von Arbeitslager bis starker Mann, und ihnen damit hier eine beipflichtende Schimpftirade, dort ein Lächeln, auch mal Hoffnungsbekundungen oder zumindest Selfie-Reflexe entlockt. Ein Uniformierter unter Uninformierten, juhu! Die Leute geben sich also vor gänzlich unversteckter Führerbegleitkamera so blöd, provozierbar oder rassistisch wie nötig, um Projektionsflächen für prolophobe Konstrukte umkehrschlüssiger Selbstfeier zu bieten: Ein kulturelles Wir, das die als so rechts vorführen kann, das muss wohl die gesunde Mitte sein, immun gegen alle Unrechtspolitik, gänzlich unbeteiligt an institutioneller Entrechtung von Leuten ohne EU-Pass oder Geld.

Der jugoslawische Essayfilmer Zelimir Zilnik hat 1994 in 'Tito zum zweiten Mal unter den Serben' uniformierte Herrscherwiedergänger-Straßensituationen brisanter entfaltet; vor allem hat er Konfrontationen in den ihnen gemäßen Eigendynamiken, in ihren prekären Räum- und Zeitlichkeiten beobachtet – anstatt wie dieser Film (um ein kulturjournalistisch dankbar aufgreifbares Alleinstellungsmerkmal zu pitchen) Sager abzusammeln und zu ironischer Begleitmusik zu clipschnipseln. 'Er ist wieder da' sieht in seinen Kernbestandsmomenten aus wie sein eigener Trailer und kann so direkt ins Fernseh-Fauteuilleton übernommen werden. Hier vier Zehntelsekunden Hitler beim Schützenverein, da Hitler im Blasmusikgruppenfoto – wollen wir mal nicht so sein, Kino ist geduldig: dreißig Kader locker! Sekunden lang die Begegnung mit einem kostümierten Straßenkünstler vor dem Brandenburger Tor. Und wenn die Konfrontation nicht genug Spaß hergibt oder zu Hitler an sich nicht genug einfällt (dass er offenbar Antisemit war, hebt sich der Film bis zur Augenöffnungsdramapointe mit der Holocaust-Überlebenden-Omi auf), dann kann Besagter ja in einer der diversen am Set und mit Darstellern gedrehten Begegnungen z.B. NDP-Funktionäre als unfähig zusammenscheißen (ganz der cholerische Chef im Büro wie bei Ganz) oder sich in einer Wäscherei ausziehen. Als DVD-Bonustracks dann: Hitler beim versonnenen Nasenbohren in der U-Bahn, Hitler beim Slacklining, Hitler in Sandalen – und mit Socken dazu, erwischt!

Zilniks Film kennt niemand mehr, detto offenbar die Ressentimententlockungsetüden eines Ali G, Borat und Brüno. (Ich weiß schon, der war immer derselbe.) Hitler scheinen viele zu kennen, zumindest liegt kein Bildmaterial vor, in dem PassantInnen ihn z.B. mit, wasweißich, Heydrich verwechseln, wegen der ähnlichen Cap. Was wenn ein Film den wiedererweckten Göring durch Berlin schicken täte? Der würde sicher mit Bormann verwechselt (und jedes Selfie mit falscher Beschriftung gepostet). So wie der sich um jedes Amt bewerbende aktuelle Über-Kandidat der völkischen FPÖ, H.C. Strache, in einer der Doku-Montagen von 'Er ist wieder da' mit seinem Vorgänger Jörg Haider durcheinandergebracht wird.

Was also ist mit alledem entlarvt, dokumentiert, bewiesen? Dass Promiklischees ankommen, wenn man sie (wie hier) ausgiebig melkt. Und dass Demokratie, so die Promo-Pädagogik zum Film, ein 'fragiles Gut' ist. Wie eine Vase im Regal oder ähnlich kostbare Leitkulturstücke.

American Ultra

(USA 2015, Regie: Nima Nourizadeh)

Lass Dich überraschen!
von Ulrich Kriest

Eigentlich ganz beruhigend für etwas konservativere Kinogänger! Klar, Mike, nachlässig gekleidet, hat lange Haare, ist ein stadtbekannter Kiffer und Slacker und Tunichtgut ohne größere Pläne oder gar etwas, was zum …

Eigentlich ganz beruhigend für etwas konservativere Kinogänger! Klar, Mike, nachlässig gekleidet, hat lange Haare, ist ein stadtbekannter Kiffer und Slacker und Tunichtgut ohne größere Pläne oder gar etwas, was zum Lebensentwurf taugt. Er denkt selten weiter als bis zum nächsten Joint. Aber irgendwann haben die trostlosen Schichten im örtlichen Supermarkt hinreichend Kohle abgeworfen, um dann doch einen großen Plan zu schmieden. Dabei geht es – kurz gesagt – um einen Ring, um Dauerfreundin Phoebe und um Hawaii. Großes Kino, also! Warum Phoebe nicht am Elend dauerhaft teilnehmen lassen? Und zugleich ist‘s ein Fluchtversuch. Also endlich mal raus aus dem Provinzstädtchen Liman in West Virginia, wo wirklich der Hund begraben ist.

Doch statt romantisch nach Hawaii führt ihn eine offenbar wenig überraschende Panikattacke direkt auf die Flughafen-Toilette. War mal wieder nichts mit dem Traumurlaub, aber Phoebe nimmt das Scheitern erstaunlich gelassen. Offenbar hat Mike schon länger ein Problem damit, Liman zu verlassen. Dafür spricht auch, dass der Dorfsheriff das junge Paar auf der Heimfahrt vom Flughafen kurz stoppt, um sich einen kleinen Spaß zu machen. Offenkundig sind Mikes Vorlieben stadtbekannt. Es braucht dann schon ein paar Joints, ein angebranntes Ei und eine weitere ereignislose Schicht im wenig frequentierten Supermarkt, bis sich Mike von diesem miesen Tag (oder ist es eine Woche?) einigermaßen erholt hat.

Am Abend oder eines Abends bemerkt er, dass sich zwei Unbekannte an seinem klapprigen Auto zu schaffen machen. Als er sie darauf anspricht, wird er wortlos und professionell attackiert – und setzt sich seinerseits mit außerordentlicher Professionalität und Konsequenz erfolgreich zur Wehr. Mike selbst ist am meisten von seiner Wehrhaftigkeit überrascht und alarmiert aufgeregt und hilflos Phoebe. Ob das Ganze etwas mit der geheimnisvollen Fremden zu tun, die ihm im Supermarkt diese seltsam-bedeutungslosen Worte sagte? Die lokale Polizei greift ein, sieht sich aber ziemlich unvermittelt einer wilden Attacke auf das Revier ausgesetzt. Die Dinge in Liman, West Virginia entwickeln sich für die Gegend ungewöhnlich explosiv. Kurz darauf ist der Notstand ausgerufen, die Kleinstadt von der Außenwelt abgeschnitten – und Mike und Phoebe sind auf der Flucht.

Auf dem Papier mag sie ja noch einigermaßen interessant und originell ausgesehen haben, diese Idee, die „Bourne Identität“ mit dem Slacker-Movie zusammen zu schweißen, um die Tagline von den „kiffenden Killermaschinen“ generieren zu können. Oder die Rollen des Terminator und John Connor in einer Figur zusammen zu denken? Doch der Film von „Project X“-Regisseur Nima Nourizadeh und „Chronicle“-Drehbuchautor Max Landis nimmt sich viel zu wenig Zeit, um dem Protagonisten die nötige Fallhöhe zu verschaffen, die das Zuschauerinteresse wecken könnte.

So ist der erste Trumpf sehr schnell ausgespielt: Mike ist ein in der Provinz geparkter Schläfer, Überbleibsel eines abgebrochenen Experiments, dessen »romantische« Eskapaden jetzt lästig werden, weshalb er ausgeschaltet werden soll. Gerade noch rechtzeitig erinnert sich Mike an all die Überlebenstricks, die ihm einmal antrainiert wurden. Und wenn es ganz dicke kommt, ist da immer noch Phoebe, die natürlich auch ein Geheimnis mit sich herumträgt. So unterentwickelt die Momente der Slacker-Komödie und der Liebesgeschichte sind, die sich letztlich aufs Kiffen und das Zeichnen von Comics beschränken, so ausführlich wird hier brutal-explizite Action zelebriert, die nur in ganz seltenen Momenten als augenzwinkernd charakterisiert werden kann.

Der Film wirkt insofern wie eine unfertige, nicht final durchdachte Bricolage einer Handvoll lustiger Einfälle: da ist das Paar aus „Adventureland“ (Jesse Eisenberg, Kristen Stewart), da ist der stadtbekannte Dealer (John Leguizamo) und da ist der wirklich aberwitzig eingeführte Killer Laugher (Walton Goggins), dessen Potential aber auch nicht ausgereizt wird. Letztlich mangelt es „American Ultra“ vergleichbar an einer Verhältnismäßigkeit der Mittel wie der handlungsstiftenden CIA-Intrige, die kurzerhand eine Kleinstadt in der Provinz abriegelt und aus letztlich wenig plausiblen Gründen allerlei Kollateralschäden der eigenen Bevölkerung in Kauf nimmt. Politisch interessant ist vielleicht noch der längst konventionelle Gedanke, dass die eigentliche Gefahr von alerten, neoliberalen Karrieristen in der Geheimdienst-Bürokratie ausgeht, während eine konservative Fraktion von Handwerkern in der Agency sich durchaus noch auf einen old-fashioned Wertekanon bezieht, zu dem auch der Schutz ehemaliger Spezialagenten gehört.

Dieser Wertekanon diskutiert Loyalität dann tatsächlich über den Vorstellungskomplex der Familie, denn Mike hat nicht nur eine zuverlässige Freundin (und künftige Ehefrau), sondern auch eine schützende Mutter und einen strafenden Übervater in der Agency, der am Ende die Ordnung wiederherstellt. Wobei der Film sich am Schluss dumm stellt und einfach mal behauptet, es könne nach dem, was geschehen ist, wieder eine Ordnung geben, die nicht nur Kulisse ist. Wenn man so will, ist „American Ultra“ ein ungleich eindrucksvollerer Heiratsantrag als die Idee mit dem Flug nach Hawaii. Hauptsache Familiengründung. Fortsetzung nicht ausgeschlossen.

You & I

(D 2014, Regie: Nils Bökamp)

Machtspielchen in der Uckermark
von Ulrich Kriest

Früher, als Rudolf Thome noch Filme drehte, da brachen seine Figuren regelmäßig von Berlin-Chalottenburg aus auf zu Landpartien in die Uckermark, um dort mit Jesus Christus Spaghetti mit Butter und …

Früher, als Rudolf Thome noch Filme drehte, da brachen seine Figuren regelmäßig von Berlin-Chalottenburg aus auf zu Landpartien in die Uckermark, um dort mit Jesus Christus Spaghetti mit Butter und Parmesan zu essen, verwirrende Kussforschung zu betreiben oder Liebesbeziehungen neu auszuhandeln. Das ist nun schon etwas länger her – und so blieb die Sehnsucht nach der magischen Hügellandschaft mit ihrem Licht, ihren Mohnfeldern und Seen zuletzt etwas ungestillt. Die Lust auf Thome-Filme auch. Aber das nur am Rande. In Nils Bökamps „You & I“ ist die Landschaft da, aber der phantastisch-leichte und spielerische Thome-Flair fehlt entschieden. Stattdessen wird eine etwas papierne Geschichte etwas umständlich und hölzern ausgebreitet.

Jonas und Philipp haben sich einst in London kennengelernt, als sie bei der gleichen Agentur, aber in unterschiedlichen Abteilungen arbeiteten. In London haben sie zusammen gewohnt, sind beste Freunde geworden. Dass Philipp schwul ist, interessiert nicht weiter. Jedenfalls nicht Hetero Jonas, der seine Affären hat, dem wütende Frauen den Anrufbeantworter volljammern, weil er trotz des besten Sex nicht zurückruft, sondern sich damit begnügt, sich als ambitionierter Fotograf den Kontakt zu einer kleinen Galerie vermitteln zu lassen. Kurzum: Jonas ist etwas zu laut, zu selbstgefällig und zudem auch noch Stehpinkler, wie der Film unmissverständlich klarstellt.

Zur Vorbereitung einer Ausstellung hat Jonas Philipp zu einer Landpartie durch die Uckermark eingeladen. Eine Landschaft, die nach UNO-Maßstäben als unbesiedelt gelten muss, die aber einiges an Überraschungen bereit hält, wenn man nur lange genug herumfährt. Philipp hat gerade Probleme mit den Ansprüchen seines Vaters, ihn ins Immobiliengeschäft einsteigen zu sehen. Dafür ist Philipp nicht der Typ. Findet auch Jonas, der etwas gespart hat und Philipp ein Zimmer in seiner Berliner Wohnung anbietet: „We‘re safe! Tu es nicht für dich, sondern für mich!“ Beste Freunde eben! So geht es weiter: Bisschen quatschen, bisschen fahren, bisschen fotografieren. Aber nicht die Landschaft, sondern eher Philipps Körper beim Nacktbaden.

Es könnte immer so weitergehen. Bis Boris zusteigt, ein Tramper aus Polen, der den Film dreisprachig werden lässt. Jonas spielt seinen nächsten Trumpf aus: Das Schloss eines befreundeten Professors, mit Küche und Weinkeller, steht zur freien Verfügung gegen ein wenig Gartenarbeit. Bei der Verteilung der Zimmer zieht Jonas erstmals den Kürzeren. Aber Boris und Philipp verstehen sich auch sonst sehr gut. Steht Boris eher auf Frauen oder Männer? Keine Antwort. Doch allein durch Boris‘ Präsenz gelangt Dynamik in die Trio-Konstellation: Es kommt zu Machtspielchen und kleinen rebellischen Aktionen.

Aus dem Reiseleiter Jonas, der alles im Griff zu haben schien, wird jetzt ein Einzelgänger im Ruderboot. Am Schluss ist klar: Jonas brauchte Boris. Fürs Coming out und für seine Kunst. Brauchte. Past Tense. Kurz bevor Jonas den Kampf um Philipp entschieden aufnimmt, setzt er sich zum Pinkeln hin. Was will uns Nils Bökamp damit sagen? Keine Ahnung. Aber man kann „You & I“ auch als latent unangenehme Darstellung eines Klassenkampfes verstehen, bei dem der Katalysator einer Klärung der Verhältnisse unbarmherzig aus dem Spiel gekickt wird. Was bleibt, sind Tränen. Tränen der Wut. Und die sommerlich-pastorale Uckermark, davon komplett unbeeindruckt.

Der Staat gegen Fritz Bauer

(D 2015, Regie: Lars Kraume)

Ein hessischer Held der Pflicht als Nazijäger und Bundes-Moses
von Drehli Robnik

Geheimtreffen, ominöse Wortwechsel, Drohgesten und Drohbriefe – ein Holocaust-Justizdrama als Politkrimi zu Einsätzen von Cool Jazz-Trompeten: So inszeniert Lars Kraume ('Die kommenden Tage', 2010) die Tätigkeit und die leidvollen Erfahrungen …

Geheimtreffen, ominöse Wortwechsel, Drohgesten und Drohbriefe – ein Holocaust-Justizdrama als Politkrimi zu Einsätzen von Cool Jazz-Trompeten: So inszeniert Lars Kraume ('Die kommenden Tage', 2010) die Tätigkeit und die leidvollen Erfahrungen des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer in den späten 1950ern bei der Fahndung nach dem – wie sich herausstellt: in Argentinien – untergetauchten Organisator des Holocaust Adolf Eichmann.

'Der Staat gegen Fritz Bauer': Der in dieser Umkehrung einer Gerichtsformel (so als wäre der Staatsanwalt eines Kapitalverbrechens angeklagt) gemeinte Staat ist – zunächst einmal – die Bundesrepublik. Deren Alltag ist geschichtslos, ihre Ämter sind durchsetzt mit ehemaligen Nazifunktionären, die gegen den Nachforscher und Aufdecker in Sachen NS-Verbrechen konspirieren. Der als Jude und Sozialdemokrat 1933 vom NS-Regime verfolgte Bauer initiierte später die Frankfurter Auschwitzprozesse von 1964 mit. 'Meine eigene Behörde ist Feindesland,' sagt Bauer. Ein leichtes Ziel für feindselige Attacken bietet da die – damals mit Strafe bedrohte – Homosexualität Bauers wie auch des einzigen unter den jungen Staatsanwälten, der sich mit ihm verbündet.

Hatte der themenähnliche Vorjahrsfilm Im Labyrinth des Schweigens' (mit Gert Voss in einer Nebenrolle als Fritz Bauer) in seinen Justiz- und Medien-Drama-Plot die Erzählung einer langjährigen Ehekrise eingearbeitet, so gewinnt nun der Fritz Bauer-Film melodramatische Momente aus einem Drama des Verzichts: Schwule Liebe muss nicht nur geheim-, sondern ganz unterbleiben – erst um der Ehe willen, dann um das hehre Ziel der juridischen Wahrheitsfindung und Strafverfolgung nicht zu gefährden.

Nicht nur aufgrund der Verbindung des Themas institutioneller Homophobie und schwuler Selbstverleugnungserfahrung mit einem anderen, mit Rassenhass assoziierten Problemthema in einem 1950er Setting erinnert 'Der Staat gegen Fritz Bauer' mitunter an Todd Haynes‘ White Racism- und In the Closet-Melodram Far From Heaven'. Was den beiden Filmen darüber hinaus gemeinsam ist, das ist der Gestus, etwas in der Geschichte spät, nachträglich zu seinem Recht kommen zu lassen: Wurde 'Far From Heaven' 2002 als ein Film gesehen und verstanden, der weniger in den 1950er Jahren spielt bzw. aus der Gegenwart in diese zurückführt als dass er einen 1950er Hollywood-Film (auf den Spuren zumal von Douglas Sirk) emuliert, den es so damals nicht geben hätte können – späte Gerechtigkeit also für damals marginalisierte schwule und schwarze bzw. interracial Erfahrungen –, so haftet auch dem Fritz Bauer-Film etwas von diesem setting it right in retrospect an. Schon klar, das allfällige kinobildliche Gegenüber in der Vergangenheit ist im Fall des 1950er-Bilduniversums der BRD von anderem Format als Sirks Imitation of Life, und Lars Kaume ist nicht Todd Haynes (was andererseits, über das offensichtliche Faktum hinaus, so viel auch nicht besagt), aber: Mitunter mutet 'Der Staat gegen Fritz Bauer' so an, als ginge es darum, in ein aufgestautes Repertoire an 1950er (Film-)Bildern einzudringen, Einrichtungen – Institutionen, Mobilar, Situationen – nachzustellen, zu reenacten. Der Eindruck rührt wohl von dem Gespür her, mit dem hier etwa Raumgefühle von Wohnungen, Büros und Autorückbänken oder von Positionierungen tadellos gekleideter Körper zueinander plastisch gemacht sind, schließlich auch der Sound und Look eines HR-Fernseh-Diskussionssendungsauftritts von Bauer ('Heute Abend Kellerclub': Bauers 1964 absolviertes Tischgespräch mit kritischen jungen Deutschen, online leicht einsehbar, ist im Drehbuch um ein paar Jahre zurück, in die Zeit der Eichmann-Fahndung, verlegt); so zeichnet sich eben der Gestus eines rückwirkenden Eingreifens, eines hier Umakzentuierens, dort Neuausrichtens von Bildbeständen ab, die von der Wirtschaftswunderzeit geblieben sind. (Wobei dazugesagt sei: In Österreich ist Fritz Bauer eine weitgehend unbekannte Größe, soll heißen: Er hat in dem Durchreise-Alpenland nicht den Status einer moralischen Autorität, wie ihn die deutsche public history Bauer in Teilen einräumt. Dafür kennt – um bei prägenden Autoritäten der Wirtschaftswunderjahre zu bleiben – in Deutschland ja praktisch niemand einen Peter Alexander oder Peter Kraus.)

Allerdings: Der ausgeprägte Sinn für Ausstattung, für Masken und Metaphorik, also für Übertragungen in Raum und Zeit (und von Räumen und Zeiten), den 'Der Staat gegen Fritz Bauer' an den Tag legt, weist noch in eine andere Richtung, in der geschichtspolitische Fragen rund ums Recht relevant werden. Geht es um Gerechtigkeit oder um eine neue Küche, fragt Bauer im Film (zweimal mit in etwa dieser Entgegensetzungs-Formulierung), und sein Handlungsspielraum im feindlichen Inland ist so eng wie die Zimmer und Hemdkrägen der Leute. Bauer lebt in the closet, ein wenig wie Eichmann – ein deplatzierter Vergleich, den der Film allerdings mit Analogisierungen selbst nahelegt, zumal mit dem vignettenhaften Parallelplot rund um Eichmanns argentinischen Alltag und die (für den flüchtigen SS-Mörder) 'verhängnisvolle' Romanze eines Eichmann-Sohnes mit einer für die 'Gegenseite' agierenden jungen Frau (etwas Ähnliches gibt es auch rund um den jungen Mann an Bauers Seite), und generell darüber, dass die einzigen einem breiteren Publikum bekannten Gesichter unter den Filmfiguren, eben die von Bauer und vor allem Eichmann, mit demselben maskenbildnerischen und schauspielerischen Lookalike-Aufwand in Szene gesetzt sind. Beide, Bauer und Eichmann, treten in dem Film 'in Maske' auf, als Doppelgänger ihrer selbst. (Wieder: Der Wiener erkennt Bauer kaum und Eichmann nur ein wenig, aber auch nicht sehr – und warum auch; der banal-böse Mann stammte ja aus Linz, das ist schon fast Deutschland und geht uns hier nix an.)

Mindestens doppelt, jedenfalls mehrdeutig (ein Masken-Konzept) ist hier auch der filmtitelgebende 'Staat', der eben 'gegen Fritz Bauer' ist – und umgekehrt: Fritz Bauer ist, handelt, steht 'gegen den Staat', als Staatsanwalt wohlgemerkt. In welchem Sinn gilt das, in welchem metaphorisierten Sinn von Staat? (Das Wort selbst ist ja schon Metapher, als 'Zustand', status, der alles wird und alles will.) Der gemeinte Staat ist auch eine bestimmte Logik des Staats, die sich als Staatslogik schlechthin gibt, geläufig unter dem Namen Staatsräson: Die pflanzt sich zunehmend gegen Bauer auf; eben nicht nur die Staatsräson der nachnazistisch administrierten Bundesrepublik, sondern auch jene Staatsräson, deretwegen der vom Mossad in Argentinien gefasste Mörder in Israel vor Gericht kommt – und nicht, wie Bauer es vorhat, an die BRD ausgeliefert wird, wo ein Prozess gegen Eichmann diverse Alt-Nazis in Ämtern auffliegen, Geschichts- und Schuldbewusstsein anstoßen und so nicht weniger als einen Selbstreinigungsprozess von Staat und Gesellschaft initiieren könnte. (So insinuiert es der Film.) Staatsräson verhindert dieses aufklärerische Vorhaben, und ihr entgegen steht Bauer als eine Art kantianischer Bundes-Moses (siehe zumal die starke In-die-Kamera-Schlusseinstellung: ein wachsam-strenger Blick als regulative Idee), ein Mann des Gesetzes, nicht der ausgespielten Macht. (Es weht immer nur ein hessischer Hauch von Fritz-Power, excuse the Kalauer.) Er setzt verfassungspatriotisches Pflicht- und Machtbegrenzungsethos und gar noch (in der Fernsehdiskussionsszene und auch in Verschwörerdialogen von Stauffenberg’schem Pathos, von wegen sein Land verraten, um es zu retten) die Sorge darum, wie die Deutschen auf ihr Land so richtig stolz sein können, kurz: Er setzt hehre Werte und Sinn für Pflicht und 'Grenzen' (jaja) nicht nur gegen die Antisemiten in den Ämtern, sondern auch gegen die Geo- und Realpolitik im Kalten Krieg. Deren Formel lautet quasi 'CIA stützt CDU', oder: Die Amis wollen keinen westdeutschen Gerichts- und Naziskandal, der Adenauer stürzen und die NATO destabilisieren würde. Und schließlich setzt Bauer seine Gesinnung auch – impliziert durch die Szenen in Israel und die antiamerikanische Volte gegen Ende – als eine Alternative zu dem sich nicht begrenzen wollenden, sondern zumal im (Todes-)Urteil über Eichmann seine souveräne Gewalt bekundenden jüdischen 'Macht-Staat'. In dieser Hinsicht ist Bauer ein enger geschichtsfilmbildlicher Verwandter der 2012 per Margarethe von Trotta-Film als israelkritische jüdische Moralistin eingedeutschten Hannah Arendt, auch sie Masken-Double ihrer selbst – mit Hang zum Glimmstengel. (Wobei: Dass ein Moses ohne Mossad nicht auskommt, dass das Gesetz eine Macht braucht, die zugreift, wenn es darum geht, untergetauchten Nazis ihr Recht werden zu lassen, und dass das dann in einer öffentlichen Ressentiment-Optik als ein 'unreines' Verhältnis zu ethischen Werten verurteilt wird – das kennt mensch in Österreich vom Diskurs zur Evaluierung des Wiener Juristen und Nazijägers Simon Wiesenthal: Ihm wurde nach seinem Ableben vorgeworfen, mit dem israelischen Geheimdienst kooperiert zu haben. So als wäre es besser gewesen, wenn Wiesenthal es bei der Strafverfolgung von Mördern bei Wunschdenken oder ineffektivem Handeln belassen hätte.)

Ein enthaltsamer Held – der sich außer Rauchen und einem Weinbrand wenig gönnt, keine Liebe zumal – ist Bauer, aber doch was für einer. Zwischen Fratzen (Sebastian Blomberg als Konspirant), Krätzen (Paulus Manker als Informant) und Ronald Zehrfeld, verlockt, aber diesmal ganz ohne Locken, macht Burghart Klaußner große Figur in der Titelrolle – mit hessisch-heiserem kurzatmigem Knurren, das aus Zigarrenqualm und schlohweißer Mähne rund um ein wackelndes Haupt dringt. Der Hang zum Habitus im Reenactment-Bild schwingt sich auf zu einem Heroismus der Pflicht: Noch wenn Bauer schlurft, waltet Strenge.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Der Staat gegen Fritz Bauer'.

Hier finden Sie ein Interview mit Regisseur Lars Kraume.

Ich und Kaminski

(B / D / F 2015, Regie: Wolfgang Becker)

Gefangener der Verblendung
von Wolfgang Nierlin

Ein fiktiver Maler ist angeblich gestorben. Die internationalen Pressestimmen, die das vermelden, bezeugen seine Berühmtheit. Doch mittlerweile ist Manuel Kaminski, letzter Vertreter der klassischen Moderne, fast in Vergessenheit geraten. Eine …

Ein fiktiver Maler ist angeblich gestorben. Die internationalen Pressestimmen, die das vermelden, bezeugen seine Berühmtheit. Doch mittlerweile ist Manuel Kaminski, letzter Vertreter der klassischen Moderne, fast in Vergessenheit geraten. Eine sehr elaborierte Foto-Montage, mit der Wolfgang Becker seinen Film „Ich und Kaminski“ eröffnet, wirft Streiflichter auf Kaminskis künstlerische Vita und etabliert thematisch zugleich das vielfach reflektierte Verhältnis von Wahrheit und Täuschung, Wirklichkeit und Schein. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Polen geboren, im Paris der Zwischenkriegszeit als Schüler von Matisse und Freund Picassos zum Künstler gereift, reüssiert Kaminski eher unfreiwillig im Kontext der Pop-Art. Als Maler sei er „ein Lügner, der uns die Wahrheit begreifen lässt“, wird Pablo Picasso zitiert, während wir auf die täuschend echten, aber gefakten Bilder seines Lebens blicken, die Kaminski im Kontakt mit allerlei Szene-Berühmtheiten zeigen. Dass der „rastlose Künstler“ angeblich unter einem zunehmenden Verlust der Sehkraft litt und schließlich zum „blinden Seher“ wurde, produziert Spekulationen und markiert zugleich eine weitere Facette des schillernden Themas.

Als wäre das nicht schon genug, wird der Vorspann sogleich als Traum und Wunschphantasie des titelgebenden Ichs enttarnt. Dieses übersteigerte, sich selbst kaum kennende Ego, das gewissermaßen von einer Blindheit ganz anderer Art gezeichnet ist, gehört dem windigen und ziemlich eingebildeten Kulturjournalisten Sebastian Zöllner (Daniel Brühl). Zwischen Ich-Sucht, Erfolgsstreben und Größenwahn oszillierend, verkörpert dieser nicht nur den ruhmsüchtigen Aufschneider, der die effektheischende Legende der Wahrheit vorzieht, sondern auch einen Gefangenen seiner eigenen Verblendung und Uneigentlichkeit. Daniel Brühl spielt diesen Unsympathen als leicht schmierigen, ungehobelten Angeber, der sich zum Biographen Kaminskis aufschwingt, um seinem eigenen Leben eine „Chance“ zu geben; und der in seiner selbstsüchtigen Blindheit zunehmend tragische Züge gewinnt. Das ist letztlich weniger witzig, als es sein soll. Und auch wenn Brühl kräftig und mit teils derbem Humor gegen sein Rollen-Image anspielt, bleibt er nie ganz unsympathisch.

Weil Zöllner also vom Ableben des großen Malers träumt und sich davon einen Aufschwung für die eigene Karriere erhofft, reist er für Recherchen in die Schweizer Alpen, um den alten Kaminski (Jesper Christensen) persönlich aufzusuchen. Schließlich wittert der verschwitzte Eindringling in dem zurückgezogen und abgeschirmt lebenden Maler „die Quelle schlechthin“. Doch seine holprig-dilettantischen Nachforschungen, die er zudem mit unlauteren Mitteln führt und die ihn schließlich zusammen mit Kaminski auf einen Trip an die belgische Küste führen, bleiben irgendwo in der Mitte zwischen Wahrheit und Lüge stecken. Dabei thematisiert Wolfgang Becker auf dieser Reise in die Vergangenheit Kaminskis, die die etwas angestrengt und steif wirkende Komödie mit einem veritablen Roadmovie verbindet, nicht nur die Selbsttäuschungen des Kunstbetriebs, sondern auch die Möglichkeiten zur Selbsterkenntnis im Spannungsfeld zwischen Jugend und Alter. Freilich ohne diese in bezug auf seine Protagonisten allzu offensichtlich einzulösen.

So ist Beckers in acht Kapitel gegliederte Adaption von Daniel Kehlmanns 2003 erschienenem Roman „Ich und Kaminski“ eher ein ernster denn ein lustiger Film geworden. Vom ambitionierten Intro bis zum nicht minder kunstvollen Abspann, der unter den besonderen Vorzeichen des Films einen anspielungsreichen Gang durch die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts unternimmt, spürt man die Sorgfalt und Genauigkeit, mit der Becker, sein renommierter Kameramann Jürgen Jürges, der internationale Cast (zu dem u. a. Amira Casar, Geraldine Chaplin und Denis Lavant gehören) sowie viele andere Kreative den Film gestaltet haben. Nur bleibt dieser, von leichten Zeit- und ironischen Gedankensprüngen (oder auch das Handeln kontrastierenden Monologen) beflügelt, immer wieder etwas unterkühlt, farblos und unentschieden zwischen Illusion und Wirklichkeit hängen. Dabei vermittelt er zumindest in Teilen an manchen Stellen Funken jener aufblitzenden Selbsterkenntnis, die die Titelhelden jeweils mit sich selbst versöhnen könnte.

Der Staat gegen Fritz Bauer

(D 2015, Regie: Lars Kraume)

Die Socken sind kariert!
von Dietrich Kuhlbrodt

Fritz Bauer, der hessische Generalstaatsanwalt der fünfziger Jahre (Auschwitzprozess!), wird mainstreamtauglich. Regisseur Lars Kraume (KKD-Kriminaldauerdienst, ZDF, und Tatort, ARD) bringt uns Bauer als eine Art TV-Kommissar näher, der auch seine …

Fritz Bauer, der hessische Generalstaatsanwalt der fünfziger Jahre (Auschwitzprozess!), wird mainstreamtauglich. Regisseur Lars Kraume (KKD-Kriminaldauerdienst, ZDF, und Tatort, ARD) bringt uns Bauer als eine Art TV-Kommissar näher, der auch seine – au, Mann! – sperrigen Seiten hat, aber vor allem grundsympathisch ist.

Burghart Klaußner vermittelt in seinen vielen, vielen Dialogsätzen Bauers Überzeugung, als Einzelner gegen die in der Adenauerrepublik allseitige Restitution kämpfen zu müssen, d.h. gegen die Nazis, die allüberall nach 1945 ihre alten Positionen besetzt hatten (Globke usw.). Bauer also gegen König, den Bonner Staat. So weit, so gut.

Aber nun kommt Butter an die Fische. Die BRD soll einen Musterprozess bekommen. Gegen Eichmann? Ermitteln wir. Sehen wir im Film. Aber wo bleibt das Persönliche? So richtig zum Große-Augen-machen? „Bauer war schwul“, ist doch ein Aufmerker, oder nicht? Der Film wird jetzt lebhaft. Er hat sein Thema gefunden.

Die Kamera bricht aus dem Kammerspiel aus. Sie macht Großaufnahmen. Von Socken. Bauers Socken sind schwarz. Die vom jungen Staatsanwalt sind kariert. Ein paar Einstellungen weiter: Bauers Socken sind auch kariert. Aha! Die beiden kucken sich in die Augen. Sie verstehen sich. Verstehen wir. Falls nicht: Bauer kriegt noch einen erklärenden Dialogsatz.

Eigentlich wars der Sache nach ja darum gegangen, dass Bauer von den jungen Staatsanwälten hoffte, dass sie gegen die Nazi-Väter aufbegehren und sich für so was wie den Auschwitzprozess engagieren. Die Studentenbewegung der sechziger Jahre kriegte das auch hin. Der Film sagt es, anfangs, aber dann hat er anderes im Sinn. Schon wieder sitzen wir im Transvestitenclub. Der Jungstaatsanwalt (Ronald Zehrfeld) arbeitet dort hart und körperlich an seinem Comingout.

Für eine Geschichtsstunde ist dieser Film ungeeignet. Der Jungstaatsanwalt ist eine fiktive Figur. Bauers Credo war nicht die Homosexualität. Und überhaupt: sollen wir glauben, dass Bauer den Auschwitzprozess aus Verärgerung gegenüber dem Mossad begonnen hat, weil der ihm nicht den Wunschkandidaten Nr. 1 ausgeliefert hat, den Eichmann??

Zurück zum Anfang. Wem das alles egal ist, Geschichtsstunde hin, Geschichtsstunde her, der wird den Film toll finden, supergut gespielt, voll glaubwürdig, so richtig zu Herzen gehend. Klaußner/Bauer ist unser Mann! Oder??

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/2015

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Der Staat gegen Fritz Bauer'.

Hier finden Sie ein Interview mit Regisseur Lars Kraume.

Frank

(GB / IA / USA 2014, Regie: Lenny Abrahamson)

Kryptische Köpfe
von Wolfgang Nierlin

Wenn der junge Jon Burroughs (Domhnall Gleeson) zu Beginn von Leonard Abrahamsons Film „Frank“ durch die aufgeräumten Straßen seiner kleinen Heimatstadt irgendwo an der englischen Küste flaniert, ist alles so …

Wenn der junge Jon Burroughs (Domhnall Gleeson) zu Beginn von Leonard Abrahamsons Film „Frank“ durch die aufgeräumten Straßen seiner kleinen Heimatstadt irgendwo an der englischen Küste flaniert, ist alles so langweilig wie immer: Die Wellen des nahen Meeres kommen und gehen, die Nachbarn grüßen mit höflichem Lächeln aus ihren Vorgärten und in der freundlichen Atmosphäre des elterlichen Domizils sind die Dinge des Lebens geordnet. Der hübsche Rotschopf mit der sicheren Arbeitsstelle leidet unter der Mittelmäßigkeit der Verhältnisse und ist doch ein Teil von ihnen; er träumt sich hinaus in eine Karriere als Popmusiker, doch der innere Leidensdruck und die Inspiration sind nicht stark genug, um sich in Kunst verwandeln zu lassen. Wenn Jon nach seinem Spaziergang versucht, seine alltäglichen Beobachtungen relativ belangloser Ereignisse in einem Song auszudrücken, wird daraus nur eine kitschige Verdoppelung der Wirklichkeit. Die jugendliche Ambition überwiegt bei ihm das musikalische Talent. Jon, der seine Probleme und Hoffnungen online kommuniziert bzw. mit seinen Followern teilt, lebt im Zustand des Wünschens, ohne sich selbst genügend zu kennen. Fast scheint es, als träume er von einem Erfolg, den er sich selbst nicht richtig zutraut.

Da bricht unerwartet der Zufall in sein Leben ein: Als für den örtlichen Gig der experimentellen Artrockband „The Soromprfbs“ der Keyboarder nach einem Selbstmordversuch ausfällt, wird Jon von dem ziemlich schrägen, psychisch labilen Bandmitglied Don (Scoot McNairy) engagiert und kurz darauf fast schon unfreiwillig Mitglied der Gruppe. Im Mittelpunkt der unkonventionellen, gegen den kommerziellen Mainstream operierenden Formation steht Mastermind Frank (Michael Fassbender), der kryptisch-dadaistische Nonsens-Texte deklamiert und permanent einen überdimensionierten Kopf aus Pappmaché trägt. Unter dieser Comic-Maske, die zahlreiche Spekulationen befördert und schließlich auch als Schutz fungiert, versteckt der ziemlich unberechenbare Frank einen Teil seiner Identität. Das erinnert an die künstlerische Attitüde des Gitarrenvirtuosen Buckethead, hat sein Vorbild allerdings in der vom englischen Komiker und Musiker Chris Sievey (1955 – 2010) kreierten Kunstfigur des Frank Sidebottom, auf den sich die Drehbuchautoren des Films Jon Ronson (der eine Zeitlang Keyboarder in Sidebottoms Band war) und Peter Straughan beziehen. Franks geheimes, ebenso geniales wie psychisch gestörtes Wesen, das die Phantasien beflügelt und durch seine Verletzlichkeit zudem eine gewisse Schutzbedürftigkeit ausdrückt, wird vor allem für den noch unsicheren Jon zur Projektionsfläche seiner Erfolgsträume.

Darüber gerät er hauptsächlich mit der düsteren, Theremin und Synthesizer spielenden Clara (Maggie Gyllenhaal) in Konflikt, die den um Ausgleich bemühten Frank eifersüchtig liebt und bewundert und die ihn von allem Kommerz fernhalten will. Bei den ausgedehnten, monatelangen Proben in einer von Wald umgebenen irischen Ferienhütte an einem Ort namens Vetno spitzen sich die Spannungen innerhalb der Band und um Frank schließlich zu. Das klaustrophobische Zusammensein führt zwar zu kreativen Eruptionen, aber auch zu persönlichen Verwerfungen und Zusammenbrüchen. Zwar wirkt Frank mit seiner Offenheit und Toleranz einerseits integrierend; andererseits kaschiert er mit seiner Maske traumatische Erfahrungen, für die seine Kunst zum Ventil wird. Als die Soronprfbs schließlich vom South by Southwest-Festival in Austin/Texas eingeladen werden, sind die persönlichen und musikalischen Auflösungstendenzen im Spannungsfeld zwischen Kunst und Kommerz nicht mehr zu bändigen.

Leonard Abrahamsons ebenso skurrile wie melancholische, witzige wie nachdenkliche Außenseiterkomödie „Frank“ ist aber nicht nur ein schräger, in Teilen merkwürdig abseitiger Film über die dunklen Energien und bizarren Erfahrungen, die das Leben jenseits kommerzieller Erwägungen in Kunst verwandeln. Sondern daneben erzählt der irische Regisseur in verschiedenen Tonlagen und Stimmungen vor allem von der Suche eines jungen Mannes nach sich selbst, von Verletzungen und vom Scheitern, von Trennungen und Zusammenführungen. Dabei spielt die Musik eine wichtige Rolle. Komponiert von Stephen Rennicks, wurde diese übrigens von den Schauspielern selbst auf dem Set live eingespielt.

Schmidts Katze

(D 2015, Regie: Marc Schlegel)

Pyroman auf Sparflamme
von Julia Olbrich

Am Wochenende war ich in meinem Heimatort. Rund 20 000 Menschen leben hier, irgendwo in der Mitte Deutschlands. Der Alltag in meinem Heimatort ist gut sortiert und skandalfrei. Die Vorgärten …

Am Wochenende war ich in meinem Heimatort. Rund 20 000 Menschen leben hier, irgendwo in der Mitte Deutschlands. Der Alltag in meinem Heimatort ist gut sortiert und skandalfrei. Die Vorgärten werden gepflegt, auf der Straße grüßt man sich, Hausfrauen treffen sich zum Kaffeeklatsch in der Dorfbäckerei, und die Feierabende verbringt man im Schoße der Familie. Notgedrungen, denn eine richtige Bar oder Disko gibt‘s hier nicht. Die Jugend muss sich folglich auf dem Platz in der Dorfmitte langweilen, direkt vor dem Dönerladen sitzt sie, raucht und träumt vom Führerschein. Die Polizeistation muss der gemütlichste Arbeitsplatz überhaupt sein. Denn das größte Verbrechen, das in meinem Heimatort passiert, ist wenn samstags der Bürgersteig nicht gekehrt wird.

Genau so ein Setting liegt der deutschen Komödie „Schmidts Katze“ zu Grunde, die Geschichte ist im Schwäbischen angesiedelt. Hauptfigur ist Werner Schmidt (Michael Lott), Mitte 40, ledig, keine Kinder. Seit seine pflegebedürftige Mutter gestorben ist, besteht der Lebensinhalt von Werner aus seiner Arbeit im Baumarkt. Als Verkäufer stellt er gewissenhaft Klobürsten in Reih und Glied, sortiert Schrauben oder flüchtet sich mit seinem Verkäufer-Kumpel Uwe (Michael Kessler) in eine Sauna, die mitten in der Verkaufshalle steht. Hier können sie ungestört über Banalitäten des Tages schwadronieren. Oder darüber, wie Dauer-Single Werner wieder an eine Frau kommen kann. Denn Werner, das meint zumindest sein Kumpel Uwe, muss endlich aus seinem eintönigen Leben befreit werden. Doch ganz so ruhig plätschert dieses Leben nicht vor sich hin. Werner hat schon längst seine Therapie gegen Trübsinn gefunden: Er lässt Autos explodieren! Nachts, wenn alles schläft im schwäbischen Örtchen, schleicht Werner durch die Straßen und lässt seinen pyromanischen Eifer an Nobel-Karossen aus. Und mit diesem Geheimnis hat er das Zeug zu einer formidablen Hauptfigur: Ausgerechnet im Schwabenländle das heiligste Gut der Deutschen in die Luft zu jagen, diese Chuzpe muss man erst mal haben!

Eines Nachts zündelt Werner wieder, aber dieses Mal – oh weh! – befindet sich noch ein Mensch im abgestellten Auto. Eine junge Frau, Sibylle (Christiane Seidel), die Werner keuchend vor dem Flammentod rettet und zu sich nach Hause schleift. Dort erwacht Sibylle aus ihrer Bewusstlosigkeit und brät Werner erst einmal eins über. Hier wird klar: Es ist kein zartes Pflänzchen, das Werner da aus dem Auto gerettet hat. Und dann fordert Sibylle auch noch, bei Werner für ein paar Tage Unterschlupf zu finden.

Jetzt hat Werner also eine Frau im Haus, aber eine, die er gar nicht haben will. Aus Angst, dass sie sein Feuerzündeln verrät, willigt Werner jedoch in die unfreiwillige Wohngemeinschaft ein. Zeitgleich entscheidet sein Kumpel Werner, eine „Bürgerwehr“ zu gründen, um den Auto-Pyromanen dingfest zu machen. Jetzt steht Werner gleich vor zwei Herausforderungen: Die Bürgerwehr vom wahren Täter ablenken – sprich von sich selbst. Und mit seiner neuen Mitbewohnerin Sibylle zurecht zu kommen.

Schön hätte man sich an dieser Stelle auf Uwes Doppelleben und die Eigenheiten des schwäbischen Mikrokosmos konzentrieren können. Doch plötzlich passiert zu viel auf einmal. Denn nicht nur Werner bekommt von den Filmemachern kriminelle Abgründe verpasst. Sondern auch seine neue Mitbewohnerin. Diese besitzt eine Schneekugel-Manufaktur, und aus irgendeinem Grund kommen ihr die schwäbische Immobilien-Mafia und asiatische Investoren in die Quere. Jeder erpresst hier jeden, eine wilde Verfolgungsjagd beginnt, und plötzlich hängt Werner mitten drin. Überblick ist Fehlanzeige in diesem Durcheinander, und das ist aus mehreren Gründen schade.

Es bleibt keine Zeit, zu verstehen, was Sibylle als Mensch ausmacht und warum sie in derart krummen Geschäften steckt. Als Figur bleibt sie dadurch fremd. Und deswegen fällt es schwer, richtig mitzufiebern bei der Liebesgeschichte, die sich zwischen Werner und Sibylle entfaltet. Ja, es werden vom Drehbuch romantische Szenen entworfen, diese sind aber wie vom Reißbrett und füllen sich nicht mit Gefühl. Nicht, als sich Werner und Sibylle in seiner Küche bei der Zubereitung eines „Trollinger-Daiquiris“ fast küssen, nicht, als beide in Sibylles Schneekugel-Fabrik unter einem künstlichen Sternenhimmel liegen und Sibylle künstlichen Schnee herunterrieseln lässt.

Weil Werner so beschäftigt ist, Sibylle aus den Händen ihrer Verfolger zu retten, verliert man seine Probleme aus dem Blick. Sein Zündeln und sein Ausweichen vor der Nachbarschafts-Wehrmacht. Ein Pyroman in einem schwäbischen Provinznest, aus dieser Fallhöhe, aus diesem wunderbar komödiantischen Potential hätte man mehr rausholen können. Mit weniger Handlungssträngen.

Nach der schwäbischen Kino-Produktion „Die Kirche bleibt im Dorf“ von Ulrike Grote (2012) betritt nun auch Regisseur Marc Schlegel mit seinem Debüt-Film „Schmidts Katze“ ein Terrain, das bislang die Bayern großzügig besetzt haben: die Regionalkomödie. Filme wie „Wer früher stirbt, ist länger tot“ (2006), „Eine ganz heiße Nummer“ (2011) und „Sommer in Orange“ (2011) eroberten ein Publikum jenseits des Weißwurscht-Äquators und zeigten, dass Mundart-Klamauk nicht nur den Einheimischen gefällt.

Punkten kann der Film mit seinem hervorragend aufeinander abgestimmten Cast, fast alles Gesichter, die man aus der deutschen TV-Comedy-Landschaft kennt (neben Michael Kessler u.a. Tom Gerhardt, Désirée Nick und Volker Michalowski). Die Dialogsätze, die sich die Schauspieler gegenseitig zuspielen, sind treffsicher und wie auf den Leib geschneidert. Hier liegen eindeutig die Stärken des Drehbuchs. Viele Lacher im Kinosaal erntet gleich der Einstieg, als Werner vom seinem Kumpel Uwe Tipps für das abendliche Speed-Dating in der Kegelhalle bekommt. „Sei selbstbewusschd, du musschd Erotik ausstrahle!“ Konkret bedeutet das für Uwe: „Erwähn dein Haus, mit Betongold bischt du der King!“

Die besten Momente hat die Komödie, wenn es um das Thema Nachbarschaft geht. Diese sind in „Schmidts Katze“ Fluch und Segen zugleich. Denn Nachbarn sind immer da. Wenn man sie gerade nicht braucht, weil man etwas verheimlichen will. Aber eben auch in Krisenzeiten wie am Ende des Films, als Uwe, dieser Prototyp eines proletenhaften Haudraufs, plötzlich ganz still wird und man spürt, dass seine Freundschaft zu Werner jeden Abgrund überwindet. Da kommt echte „Bro-Romantik“ auf!

„Schmidts Katze“ wurde ursprünglich fürs Fernsehen (SWR) konzipiert, und vielleicht passt der Film hier auch besser hin. Mit Spannung und Humor, die gefallen, einen aber nicht so atemlos machen, dass fürs Chips auffüllen und Bierholen keine Zeit bleiben würde. „Schmidts Katze“ ist wie das Leben in meinem Heimatort. Wenn man richtig steil gehen will, muss man woanders hin.

The Look of Silence

(GB/DK/NOR/Indonesien 2014, Regie: Joshua Oppenheimer)

Das Gestern im Heute
von Andreas Thomas

Ein Teilaspekt des unvergleichbaren Dokumentarfilms „The Act of Killing“ aus dem Jahr 2012 bestand in der anthropologisch-psychologisch-ethischen Fragestellung: Was passiert mit Menschen, wenn sie für das, was in den meisten …

Ein Teilaspekt des unvergleichbaren Dokumentarfilms „The Act of Killing“ aus dem Jahr 2012 bestand in der anthropologisch-psychologisch-ethischen Fragestellung: Was passiert mit Menschen, wenn sie für das, was in den meisten funktionablen Gesellschaften als Kapitalverbrechen bewertet wird, wenn sie für vielfache, bestialisch verübte Morde Jahrzehnte im Nachhinein nicht belangt oder bestraft werden, sondern zu Helden des Volkes erklärt werden?

Im Indonesien der Gegenwart, so der Regisseur der Filme „The Act of Killing“ und „The Look of Silence“ Joshua Oppenheimer, fühlte er sich, als würde er 40 Jahre nach dem Holocaust nach Deutschland kommen und die Nationalsozialisten treffen, die noch immer an der Macht wären. Denn der an über einer Million Indonesier Mitte der sechziger Jahre begangene Völkermord, den die durch die USA unterstützte Putsch-Regierung unter Suharto initiierte, wird dort bis heute als einzig legitimes Mittel gegen die vermeintliche Gefahr durch die „Kommunisten“ propagiert.

Was also geschieht mit einem Menschen, der zu einem vielfachen Mörder geworden ist, wenn ihm wiederholt versichert und im Nachhinein bestätigt wird, dass er das Richtige getan hat und wenn er sich das selbst auch sagt? Konkreter: Kann jemand damit unbekümmert und im Einklang mit sich selbst so weiter leben, als wäre nichts geschehen?

Im Film „The Act of Killing“ ließ Oppenheimer eine Reihe der Männer aus den alten Todesschwadronen (es sollen Tausende Männer gewesen sein, die an den Morden beteiligt waren) vor der Kamera darüber berichten, was sie seinerzeit getan hatten, und die meisten waren anscheinend geradezu froh, endlich detailliert über ihre Grausamkeit berichten zu können. Mit einer Mischung aus Prahlerei und Bekenntnis stellten sie sich der Kamera. Viele hatten sogar das Bedürfnis, ein Reenactment aufzuführen, mit Todesschreien, Macheten und Blutschminke. Wenige berichteten auch von Alpträumen, die sie bis jetzt plagten und einen von ihnen befiel am nach Jahrzehnten wieder aufgesuchten Tatort ein hartnäckiger Würgereiz.

Was in „The Act of Killing“ geschah, war einzigartig: Mörder berichteten freiwillig und ausgiebig über ihre Taten, über Morde, die seit Jahren totgeschwiegen wurden, und wenn Film Kunst ist, dann beweist „The Act of Killing“, dass Kunst die Welt verändern kann. Denn als der Film in den Kinos Indonesiens gelaufen war, iniitierte er dadurch eine Auseinandersetzung der indonesischen Öffentlichkeit mit einem lange unter Angst und Terror begrabenen Thema.

Der Film zeigte die Verantwortlichen und er beschäftigte sich mit ihren Taten, aber alles wirkte zugleich irreal und dem Massenmord haftete etwas Phantastisches an, so als existiere er nur in den Köpfen der Täter. Vielleicht lag das zum Teil daran, dass ja bis dato offiziell nie darüber gesprochen werden durfte, und vielleicht lag es auch daran, dass der Film keine Verbindung zur Gegenwart herstellte, denn wovon darin die Rede war, war eine vermeintlich abgeschlossene, eine vergangene Vergangenheit ohne einen biografischen und damit historischen Bezug zum Heute.

Genau diesen Bezug und damit eine „Verifizierung“ der Gräuelgeschichten aus dem Vorgängerfilm schafft nun Oppenheimers neuer Dokumentarfilm, „The Look of Silence“, indem er in seinen Mittelpunkt den Bruder eines in den sechziger Jahren ermordeten „Kommunisten“ platziert, einen Mann, der erst nach dem Tod seines Bruders geboren wurde. Einen heute lebenden Menschen, auch schon Ende der Vierzig, dem vor fast einem halben Jahrhundert der Bruder genommen wurde, und seine zwei Eltern, deren erster Sohn ermordet wurde, drei Personen als Nachweis des Fehlens eines Menschen und zugleich als Verifizierung der Tatsache, dass die Geschichten aus „The Act of Killing“ in keiner Weise übertrieben waren.

Denn was der lebende Bruder Adi über den Tod Ramlis, des älteren erfährt, ist mit dem Begriff „Mord“ nur unzureichend erfasst. Mit Macheten wurde er bei lebendigem Leib verstümmelt und gequält. Man sollte ohnehin meinen, dass die Todesschwadronen besonderen Wert auf äußerste Brutalität legten. Vielleicht weil sie glaubten, dadurch die Rest-Bevölkerung noch mehr einschüchtern zu können.

Die Essenz des Unerträglichen und zugleich die Vergegenwärtigung der Tragödie eines ganzen Volkes entsteht aber erst vollends, weil Oppenheimer Adi mit den Mördern seines Bruders zusammenführt. Offenbar meist unter dem Vorwand, seine Sehstärken zu testen, lenkt er das Gespräch mit dem jeweiligen inzwischen älteren Mann auf jene vergangene Tat, derer der Täter zunächst sich rühmt, bis er erfährt, dass er den Bruder des Ermordeten vor sich hat, der dann sogar wagt ihn von Angesicht zu Angesicht zu fragen, ob er denn seine Tat niemals bereut habe?

„The Look of Silence“ geht als Dokumentarfilm an die Grenzen aller bisher gedrehten Filme über Mord und Verlust oder Schuld und Sühne. Aber er betritt auch als ein rein menschlicher Akt, als den man diesen Film auch verstehen kann, Neuland, indem er die gebräuchlichen Kategorien von Recht und Unrecht, von Gewalt und Gegengewalt, oder schließlich von Verbrechen und Strafe überschreitet und hinter sich lässt. „The Look of Silence“ verhandelt die Gewalt und den Schmerz und eine Geschichte der Gewalt und des Schmerzes, indem er das Schweigen darüber bricht und eine Frage direkt an die Betroffenen stellt. Wie erträglich sind diese Gewalt und dieser Schmerz für die Hinterbliebenen und wie erträglich sind sie eigentlich für die Täter? Im Zulassen und Aushalten dieser Frage liegt seine große Stärke. In Indonesien wurde er zum besten Film des Jahres gewählt.

Der Staat gegen Fritz Bauer

(D 2015, Regie: Lars Kraume)

Ein großes thematisches Paket
von Manfred Riepe

Am Anfang von Giulio Ricciarellis Historiendrama „Im Labyrinth des Schweigens“ konfrontiert ein Journalist Zeitgenossen mit der Frage nach dem Vernichtungslager Auschwitz – und schaut nur in fragende Gesichter. Gut 50 …

Am Anfang von Giulio Ricciarellis Historiendrama „Im Labyrinth des Schweigens“ konfrontiert ein Journalist Zeitgenossen mit der Frage nach dem Vernichtungslager Auschwitz – und schaut nur in fragende Gesichter. Gut 50 Jahre später stöhnen die Schüler in Bora Dagtekins Erfolgskomödie „Fack ju Göthe“ entnervt: „Boah, nicht schon wieder KZ!“.

Zwischen dem Sendungsbewusstsein gut meinender Pädagogen, die ihren Schülern den Holocaust so eintrichtern, wie man Kinder zum Essen von Graubrot zwingt, und dem Totschweigen gibt es eine große Spannweite. In diesem Feld könnte man auch die Person Fritz Bauers situieren, der die Frankfurter Auschwitz-Prozesse – und damit in Deutschland endlich die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust – erzwang.

Während „Im Labyrinth des Schweigens“ die Ereignisse um die Frankfurter Auschwitz-Prozesse aufrollt, die Figur Bauers dabei aber in den Hintergrund rückt, greifen Lars Kraume und sein Koautor Oliver Guez die weniger bekannte Vorgeschichte der juristischen Aufarbeitung der Nazivergangenheit auf. Dabei erinnert das Porträt nicht nur daran, dass Bauer an der Auffindung Adolf Eichmanns maßgeblich beteiligt war (was erst nach seinem Tod bekannt wurde). Es zeigt auch den verletzlichen Menschen aus einer – zumindest im Kino – neuen Sichtweise.

Zu Beginn ertrinkt Fritz Bauer (Burghart Klaußner) unter Alkohol- und Tabletteneinfluss beinahe in der eigenen Badewanne. Seinem untergebenen Kollegen Kreidler (Sebastian Blomberg) und dem Polizeikommissar Gebhardt (Jörg Schüttauf) kommt der vermeintliche Selbstmordversuch sehr gelegen. Die beiden sabotieren Bauers Arbeit nach Kräften. Der „General“, wie er genannt wird, will nämlich den abgetauchten Holocaust-Planer Adolf Eichmann auffinden und in Frankfurt vor ein Gericht stellen. Gelänge ihm dies, dann würden dessen Aussagen zwangsläufig zahlreiche Altnazis bis hinauf zu Adenauers rechter Hand Hans Globke schwer belasten. Eine kurze Einblendung von Kreidlers luxuriösem Landhaus führt braune Karrieren im Wirtschaftswunder-Deutschland vor Augen.

Bauer weiß nur zu gut, dass er sich auf seine Kollegen nicht verlassen kann, in seiner eigenen Behörde verschwinden ständig Akten. Allein der junge Staatsanwalt Angermann (Roland Zehrfeld) erweist sich als solidarisch. Was auch daran liegt, dass beide schwul sind und ihre sexuelle Orientierung verbergen müssen. Mit dieser fiktiven Figur erinnert der Film daran, dass das Ausleben homosexueller Praktiken im düsteren Deutschland der späten 50er Jahre noch unter Strafe steht. Erst ab 1969 wird Homosexualität schrittweise entkriminalisiert.

Für den Film ist das ein Schlüsselthema. Er deutet nicht nur an, wie Angermann seine sexuelle Orientierung mittels einer prekären Ehe verbirgt, deren „Pflichten“ er nicht so recht einzuhalten vermag. Kraume und Guez verdeutlichen zudem, dass Bauer neben seinem politischen Kampf gegen Nazi-Seilschaften auch noch gegen deren Versuche gefeit sein musste, ihm aufgrund seiner Homosexualität eine Falle zu stellen. Ob er tatsächlich schwul war, weiß man zwar nicht mir Sicherheit – tatsächlich wurde er nur einmal im dänischen Exil bei der dortigen Sittenpolizei auffällig. Entsprechend subtil greift der Film dieses Thema auf: In einer „Spiegel“-Anzeige betrachtet Bauer modisch karierte Socken, die er wenig später am Fuß seines jungen Kollegen wieder entdeckt. Hier werden homophile Codes augenzwinkernd angedeutet.

In einem beiläufigen Dialog erklärt Bauer schließlich, dass ein Homosexueller, wird er das erste Mal mit einem Transvestiten-Stricher erwischt, sich damit herausreden könne, er habe nicht gewusst, dass er es nicht mit einer Frau zu tun gehabt habe. Beim zweiten Mal funktioniere das nicht mehr. Nachdem der junge Angermann in einen solchen Hinterhalt gelockt wird, erpresst man ihn, Bauer zu verraten. Die zentrale dramatische Konfliktsituation ist nämlich darauf zugespitzt, dass der Generalstaatsanwalt zur Ergreifung Eichmanns mit dem israelischen Geheimdienst Mossad kooperieren muss. Juristisch gesehen ist dieser schwule Jude, der den Nazis an den Kragen will, also obendrein noch ein Landesverräter.

Dass moralisch integere Kämpfer ihr Land zuweilen verraten müssen, um ihm zu dienen – dieses Erzählmuster kennt man aus patriotischen amerikanischen Polit-Thrillern zur Genüge. Auch die Wendung, dass der junge Angermann sich opfert, weil er weiß, dass die künftige Arbeit seines Vorgesetzten – die in den Frankfurter Auschwitz-Prozessen gipfeln wird – wichtiger ist als sein persönliches Schicksal, kennt man aus Hollywood-Melodramen. In „Der Staat gegen Fritz Bauer“ wirken diese Schemata einigermaßen überzeugend, weil die politische Dimension mit der Homophobie der Adenauer-Ära ineinander gespiegelt wird.

Der Film schnürt ein großes thematisches Paket mit einer gewissen inszenatorischen Eleganz. Er ist nicht, wie man vielleicht denken könnte, nur „gut gemeint“, sondern gut gemacht – auch wenn die Autos wie üblich ein wenig zu geleckt aussehen. Dass die zugespitzten Dialoge zuweilen etwas thesenhaft wirken und es in der Dramaturgie hier und da etwas hakt, merkt man erst nach dem zweiten Ansehen. Die dezente, an Miles Davis erinnernde Jazz-Untermalung drängt sich ebenso wenig in den Vordergrund wie die Ausstattung von Bauers Büro mit der psychedelischen Tapete, die sich an ein bekanntes Foto anlehnt.

Mit einfachen aber wirkungsvollen Mitteln wird Fritz Bauer als einsamer, etwas schroffer Mensch gezeigt, der wie die meisten Männer in den 50ern recht verlebt wirkt. Der Vorspann zeigt einen Archivfilm, in dem er unruhig auf dem Stuhl hin und her rückt, während er ein Thesenpapier abliest. In einem authentischen Fernsehinterview, das der Film vordatiert, um es in die Handlung einzufügen, erklärt Bauer, dass wir weder auf unsere deutschen Wälder, noch auf den berühmten Dichterfürsten stolz sein können – wobei er hier gewissermaßen auch „Fack ju Göthe“ vorwegnimmt –, sondern nur darauf, was der einzelne tut. Gemeint ist jene Zivilcourage, die der Film minuziös vor Augen führt. Burghart Klaußner verwandelt sich diesem Juristen mit großer Glaubwürdigkeit an – auch wenn man zuweilen das Haarspray in seiner zurück gekämmten Frisur zu sehen meint. Neben Roland Zehrfeld als jungem Anwalt überzeugt vor allem Sebastian Blomberg als reptilienartiger Altnazi mit Fistelstimme.

Im Gegensatz zu „Im Labyrinth des Schweigens“ ist Kraumes Film nüchterner. Ricciarelli wählt den emotionalen Zugang. Wenn Hansi Jochmann als Sekretärin den Bericht eines KZ-Überlebenen protokolliert, dann kommen ihr die Tränen. Solche Szenen gibt es in „Der Staat gegen Fritz Bauer“ nicht. Die elliptische Erzählform wirft den Zuschauer mitten hinein in ein komplexes historisches Geflecht, durchquert dabei das eigentliche Labyrinth des Schweigens, dessen vielfältige Bezüge erst nach und nach aufgedröselt werden. Dennoch sollte man beide Filme, die jeweils ihre Stärken und Schwächen haben, nicht gegeneinander abwägen, sondern als unterschiedliche Zugänge zur Kenntnis nehmen.

Hier finden Sie ein Interview mit Regisseur Lars Kraume.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Der Staat gegen Fritz Bauer'.

45 Years

(GB 2015, Regie: Andrew Haigh)

Abgründe der Erinnerung
von Wolfgang Nierlin

Die Vorspanntitel wechseln im Rhythmus eines klickenden Diaprojektors, der später in Andrew Haighs preisgekröntem Film „45 Years“ noch eine wichtige Rolle spielen wird. Dieser subtile Verweis auf eine aus der …

Die Vorspanntitel wechseln im Rhythmus eines klickenden Diaprojektors, der später in Andrew Haighs preisgekröntem Film „45 Years“ noch eine wichtige Rolle spielen wird. Dieser subtile Verweis auf eine aus der Zeit gefallene Bildermaschine, die im Übrigen längst auf dem Dachboden gelandet ist, signalisiert auf diskrete Weise sehr früh die Rückkehr der Vergangenheit in das gleichförmige, beschauliche Leben eines älteren Ehepaares. Zugleich ist daran das Thema der Bilderlosigkeit angeschlossen: Denn die seit 45 Jahren andauernde Ehe von Kate (Charlotte Rampling) und Geoff Mercer (Tom Courtenay), die bereits in ihren Siebzigern sind, ist nicht nur ohne Kinder, sondern auch weitgehend ohne Fotos geblieben. Dass das eine mit dem anderen zu tun haben könnte, deutet der hervorragend gespielte (wofür es gleich zwei silberne Berlinale-Bären gab) und inszenierte Film an. Denn irgendwann und in aller Heimlichkeit begegnet Kate einem Dia, das eine schwangere Frau zeigt oder vielleicht auch nur eine Geste, die auf eine Schwangerschaft hindeuten könnte; und sie wird davon irritiert und zutiefst erschüttert.

Bei der jungen, nur schemenhaft erkennbaren Frau auf dem Bild, dessen Projektion auf eine Ebene zur Betrachterin, also in eine Einstellung gesetzt wird, handelt es sich um Geoffs frühere Verlobte Katya. Die Ähnlichkeit der Namen sowie der äußeren Erscheinung lassen in Kate weitere beunruhigende Ahnungen wachsen. Auslöser für das bis dato verdrängte Gespräch zwischen dem sehr vertraut und liebevoll wirkenden Ehepaar über die frühere Geliebte ist ein Brief, in dem Geoff darüber unterrichtet wird, dass die Leiche seiner deutschen Freundin fünfzig Jahre nach einem tödlichen Unfall in den Schweizer Alpen gefunden wurde. Konserviert im Eis des Gletschers wie in einer Zeitkapsel, wird vor allem für den schon leicht gebrechlichen beziehungsweise tatterigen Geoff die Vergangenheit zur Gegenwart. Während er sich in Erinnerungen an eine Zeit verliert, die ebenso von Sorglosigkeit wie von Unbedingtheit geprägt war, steigt in Kate der beunruhigende Verdacht auf, sie sei zeitlebens für ihren geliebten Mann vielleicht nur eine Platzhalterin, gewissermaßen ein Ersatz gewesen; und dass möglicherweise ihr ganzes Leben unterschwellig von diesem schrecklichen Unglück beeinflusst worden sei.

Andrew Haigh verbindet diesen Diskurs über eheliche Vertrautheit mit einer stillen Betrachtung über die Zufälle, Relativitäten und Täuschungen des Lebens im blinden Unterstrom der Zeit. Diese Meditation artikuliert sich allerdings kaum offen, sondern nur in Details, leisen Andeutungen und nuancierten Zwischentönen, die das Unausgesprochene, emotional Unscharfe (und deshalb schwer auszusprechende) oder auch absichtlich Verschwiegene in Blicken und Gesten evozieren. Strukturiert ist der Film durch die Abfolge der Wochentage, an denen sich die Mercers auf die Party ihres 45. Hochzeitstages vorbereiten, während in ihrem Inneren fast unmerklich die seelischen Beben zunehmen und die melancholische Unruhe wächst. Gespiegelt wird diese Stimmung von einer weitläufigen, nebelverhangenen Landschaft im Herbst (gedreht wurde in den Norfolk Broads), durch die Kate mit ihrem Schäferhund Max allmorgendlich spazieren geht, bis sie gegen Ende der Woche wiederholt verschläft, also geradezu aus dem Tritt kommt.

Auch dies ist ein subtiles Zeichen unmerklicher Verschiebungen in einem äußerst behutsam gearbeiteten Film, den Andrew Haigh in langen Einstellungen, mit pointierten Schärfenverlagerungen und in einem ausgewogenen Wechsel von Nähe und Distanz gedreht hat. Die Perspektive seines ruhig erzählten Films gehört dabei Kate, auf deren nur scheinbar undurchdringlichem Gesicht die Kamera auch dann noch verharrt, wenn die pensionierte Lehrerin nur zuhört. Andrew Haigh und sein versierter Bildgestalter Lol Crawley haben ihren Film über die Abgründe der Erinnerung übrigens mit viel natürlichem Licht, den Geräuschen der Natur und auf neuerdings „altmodischem“, noch nicht ganz aus der Zeit gefallenem Zelluloid realisiert.

Ungefiltert eingeatmet – Die Wahrheit über das Aerotoxische Syndrom

(D 2015, Regie: Tim van Beveren)

Vor der Katastrophe
von Andreas Thomas

Interessant eigentlich, wenn man sieht, wie dieser Tage ein großes Aufsehen gemacht wird um gefälschte Abgaswerte bei VW-Dieselmotoren und wenn man dann erfährt, dass andere, potentiell ebenso gefährliche Gase tagtäglich …

Interessant eigentlich, wenn man sieht, wie dieser Tage ein großes Aufsehen gemacht wird um gefälschte Abgaswerte bei VW-Dieselmotoren und wenn man dann erfährt, dass andere, potentiell ebenso gefährliche Gase tagtäglich mal in kleineren und mal in größeren Mengen in mit Menschen gefüllte abgeschlossene Räume geleitet werden. Und das seit Jahren, und keiner tut was dagegen. Die Rede ist von Flugzeugkabinen und zwar Kabinen sowohl für Passagiere als auch für die Crew, inklusive der Piloten.

Knapp einer Katastrophe entging ein Flug von Wien nach Köln, bei welchem kurz vor der Landung beide Piloten einen merkwürdigen Geruch im Cockpit bemerkten um kurz darauf an Übelkeit, Taubheitsgefühlen und Tunnelblick zu leiden. Beide setzten sich Sauerstoffmasken auf und schafften mit letzter Kraft einer Ohnmacht zu entgehen und die Maschine zu landen, der Kopilot war noch Wochen darauf arbeitsunfähig. Die Öffentlichkeit erfuhr nichts.

Laut Tim van Beveren, dem ehemaligen Piloten, Autoren und Regisseur der filmischen Langzeitrecherche „Ungefiltert eingeatmet“ und einer Reihe unabhängiger Wissenschaftler war dieses Ereignis weder ein Einzelfall noch ein Zufall, denn immer wieder erkrankten Menschen bei oder nach Flügen an ähnlichen Symptomen, die auch als „Gulf War Syndrome“ bekannt sind, Krankheitsbilder, die durch Nervengifte hervorgerufen werden können, z.B. wie den Organophosphaten Sarin und Tabun. Es sind ebenso Organophosphate, die den Triebwerksölen moderner Düsenflugzeuge beigefügt werden, um sie trotz der großen Temperaturunterschiede in den Triebwerken funktionabel zu halten und eben die darin enthaltenen Gifte können in das Innere des Flugzeugs geraten, weil – und die wenigsten Passagiere ahnen das – die Luft in den Passagierräumen ebenso wie die Luft im Cockpit direkt von den Triebwerken abgenommen wird, man nennt diese Luft deshalb auch „Zapfluft“ .

Nachweisbare Folgen dieser Gefahrenquelle waren schwere z.T. irreversible Erkrankungen beim Flugpersonal und Fluggästen, der Tod eines vorher unter schweren posttoxischen Symptomen leidenden Piloten (bei seiner Autopsie waren unnatürlich massive Nervenschädigungen nachweisbar) sowie ein unbeirrbares Schweigen, Ignorieren oder Verharmlosen durch die Verantwortlichen in der Luftfahrtindustrie und in den Fluggesellschaften, die offenbar lieber sehenden Auges das Risiko eingehen, durch schleichende Vergiftungen einzelne Personen zu gefährden, gar im Zweifel den Absturz hunderter Menschen hinnehmen würden, als nur einmal darüber nachzudenken, ob man wenigstens Filter zum Schutz der Kabinenluft einbauen sollte, oder ob man nicht zurückgehen sollte zu einer in den Fünfzigern schon lange erprobten und unbedenklichen anderen Gewinnung der Atemluft.

Doch die Verantwortlichen leugnen die Gefahren, verweigern das offene Gespräch und die Selbstkritik und versuchen zu verheimlichen, dass z.B. das Flugpersonal nach der Landung mit dem Krankenwagen abtransportiert werden muss.

Detailliert und unpolemisch erläutert und zeigt Autor und Regisseur van Beveren das Problem um das „Aerotoxische Syndrom“. Er interviewt Experten, Mediziner, Ingenieure, Besatzungsmitglieder und Augenzeugen. Er trägt eine Vielzahl von aufschlussreichen internen Dokumenten zusammen. Er begleitet zwei Jahre lang die pathologischen Untersuchungen um die Todesumstände des im Jahr 2012 verstorbenen britischen Piloten Richard Westgate, der um seine Art Erkrankung wusste und bewusst seinen Körper der Wissenschaft vermacht hatte, um Erkenntnisse über die Art seiner Vergiftungen zu ermöglichen. Van Beveren scheut keinerlei Anstrengung und er erspart sich keine Mühe, um den Fall, oder soll man sagen: den Skandal, gründlich von allen Perspektiven her auszuleuchten; und wenn man zu wenig von der Perspektive der Verantwortlichen – und dazu zählen auch Politiker, die keine Verantwortung übernehmen möchten – zu sehen bekommt, liegt das vermutlich daran, dass diese bisher nicht ernsthaft diskussionsbereit waren, dass sie lieber schweigen und sich auch begründeten Warnhinweisen nicht stellen wollten.

Vielleicht wird sich das noch ändern, bevor es zu einer Flugkatastrophe als Folge des Aerotoxischen Syndroms gekommen ist. Dieser Film wäre zum Beispiel ein guter Anlass für eine Revision. Die von van Beveren befragten Experten sind sich jedenfalls einig: Nach dieser Katastrophe wird alles ganz schnell möglich sein.

I Want To See The Manager

(D / I 2014, Regie: Hannes Lang)

Impressionen der Globalisierung
von Ulrich Kriest

„After one look at this planet any visitor from outer space would say: ‚I want to see the manager!‘“ Dieses Motto haben sich Hannes Lang (Regie) und Mareike Wegener (Buch) …

„After one look at this planet any visitor from outer space would say: ‚I want to see the manager!‘“ Dieses Motto haben sich Hannes Lang (Regie) und Mareike Wegener (Buch) von William S. Burroughs geborgt, aber die Pointe dieser so cleveren wie stilbewussten Dokumentation liegt nicht so sehr in der Suche nach einem Verantwortlichen, sondern in der Registrierung des globalen Umgangs der Verantwortungslosen mit ihrer aktuellen Lebenssituation und ihren Hoffnungen und Träumen.

Da gibt es dann weitere Pointen, wenn ein suboptimal gekleideter Broker in Mumbai davon erzählt, dass die gegenwärtige Finanzkrise die Karten der globalen Wirtschaftsordnung neu mischt und man besser nicht länger auf die G8-Länder guckt. Die Zukunft liege in China, Indien und Brasilien. Der Mann, der mitten im Müll eines Slums steht, nennt Zahlen und formuliert kühne Thesen, denkt man, während die Kamera Fahrt aufnimmt und sich der Blick allmählich weitet, bis im Hintergrund hypermoderne Architektur sichtbar wird. Eine tolle Metapher! Aber auch ein Beweis der Richtigkeit der Spekulationen des Brokers?

In den bolivianischen Anden werden die Hoffnungen der Bewohner durch Lithiumfunde geweckt. In China ist man schon einen Schritt weiter: hier müssen die Wünsche nach einem eigenen PKW als kontraproduktive Begehrlichkeiten staatlich reglementiert werden. Neuzulassungen werden mittels einer Lotterie vergeben; die Chance auf einen Gewinn beträgt 1%. In Detroit ist man schon einen Schritt weiter: wenn man ohnehin offenbar die Freiheit besitzt, alles zu manipulieren, dann kann man vielleicht auch einmal über die technologische Ermöglichung von Unsterblichkeit nachdenken, oder? Transhumanismus lautet das Stichwort. Die „Tür der Erleuchtung“ stehe schließlich weit offen, heißt es.

In Pompeji können sich Touristen mit einem Gladiator fotografieren lassen: Dienstleistung im Themenpark „Geschichte“. Albern und wenig profitabel. Während in den USA etwas eskapistisch über Transhumanismus als Utopie nachgedacht wird, werden in Mitteleuropa die Alten und Kranken nach Thailand outgesourced. Dienstleistung mit Zukunft. Wird es jetzt polemisch?

Der Film endet in Caracas, wo Obdachlose eine Hochhausruine besetzt haben, um die Regierung auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Geholfen wurde ihnen bislang nicht, aber geräumt wurde auch nicht, so dass hier ein sozialer Raum entstanden ist, der von Armut, aber auch von Improvisation und Pragmatismus erzählt. So materialreich und sinnlich ist „I Want To See The Manager“ als Choreografie von Ungleichzeitigkeiten geraten, dass man den Film vielleicht nicht unbedingt auf eine bebilderte These vom Wandel der globalen Machtverteilung verkürzen sollte. Es mag schon sein, dass das (Über-)Leben in Schwellenländern besser auf die Zukunft vorbereitet hat, als der letztlich recht kurzfristige Luxus der Industriestaaten der ersten Welt. Wenn, wie in Caracas, das Leben in den nicht vollendeten Kathedralen des Finanzkapitalismus weitergeht, dann könnte man diesen Film tatsächlich für Science Fiction ohne Transhumanismus, aber im Transitorischen, Nomadischen halten.

Knight of Cups

(USA 2015, Regie: Terrence Malick)

Wo ist das Problem?
von Janis El-Bira

Es gibt noch immer kein richtiges Leben im falschen – was aber 'falsch' und was 'richtig' sein könnte, das ist in 'Knight of Cups' so offen wie in wohl keinem …

Es gibt noch immer kein richtiges Leben im falschen – was aber 'falsch' und was 'richtig' sein könnte, das ist in 'Knight of Cups' so offen wie in wohl keinem der zwei vorangegangenen Filme von Terrence Malick. Mit diesem schließt Malick 'The Tree of Life' und To the Wonder' zu einer, wie es scheint, Trilogie über Gelingen und Scheitern eines authentischen Weltbezugs zusammen. Wurden in The Tree of Life' noch die großen Fragen nach der individuellen Entfaltungsmöglichkeit in einer dualistisch zwischen 'Natur' und 'Gnade' aufgeteilten Lebenswelt gestellt, so war 'To the Wonder' eher ein Film unterschiedlicher Übersetzungs- und Übertragungsprobleme in der gemeinsamen 'Begriffsarbeit' eines Paares: Liebe, Sehnsucht, Heimat oder Freiheit – kaum etwas scheint in diesem Film sagbar in einer für den anderen durchsichtigen Sprache. Umso heftiger wanden sich die Leiber, streckten die Liebenden die Hände aus nach dem, was sie sprachlich nicht fassen konnten.

'Knight of Cups' nun zieht seinen äußeren Rahmen, das also, was man konventionellerweise eine 'Handlung' nennen könnte, noch einmal enger. Man hat es beinahe mit einem Selbstgespräch zu tun, so engmaschig bleibt die Kamera Christian Bale immerfort auf den Fersen, der als Hollywoodschauspieler Rick in einer Sinnkrise steckt. Wie immer beim Malick der letzten drei Filme hat man es hier mit einem regelrechten Anschlag gesamtkunstwerklich-ästhetischer Art zu tun: Die Bilderströme des großartigen Kameramanns Emmanuel Lubezki fluten die Leinwand und werden zu gewaltigen Meeren der entlegensten Assoziationen montiert, die Musik spielt prominent (aber weniger dröhnend als zuletzt) und Voice-Over verschiedener Beteiligter (von 'Figuren' kann man nicht immer guten Gewissens sprechen) kommentieren und ergänzen.

Zentren des Films sind in alledem neben dem herumirrenden Rick vor allem zwei Metropolen des Scheins: Los Angeles und – in geringerem Ausmaß, aber dafür doppelt wild – Las Vegas. 'Zentrum' heißt hier nicht nur so etwas wie Austragungsort. Denn so sehr alles an Rick zu kleben scheint, so erstaunlich ist doch, wie wenig 'Subjekt' hier überhaupt statthat. Rick, ebenso wie seine Freunde und Gespielinnen, sein Bruder und Vater, mit denen er zuweilen schwere Konflikte austrägt, wirken wie flüchtige Erscheinungen, unverfasste Materialisierungen in einer unverfassten Welt. Dabei ist schönerweise nie gänzlich klar, was hier eigentlich das Problem ist: Sind es die vielen nackten Hollywood-Schönheiten, die Rick in teuren Hotelzimmern den Champagner über den Kopf gießen – oder ist es doch eher die Aufforderung zur Leidensannahme, die Armin Mueller-Stahl als Priester im Licht strahlender Kirchenfenster vor sich herbetet? Man wäre jedenfalls leichtfertig verführt, glaubte man, Malick behaupte hier standfest noch immer die Zugänglichkeit eines Anderen, Unverfälschten oder Höheren hinter all dem schnöden Abglanz. Wenn es das überhaupt gibt, so scheint er vielmehr zu sagen, dann führt der Weg dorthin einzig und allein just durch die Wand – mit dem Kopf voran zwar, aber vor allem mit offenen Augen.

Es ist somit ein Film der unzähligen Angebote, Deutungs-, Sinn- und Spieloptionen geworden, keineswegs einer der fertigen Verlautbarungen. Vielleicht ist auch deshalb die unverhohlene Lust am Zeigen hier so völlig maß- und im besten Sinne differenzierungslos, seien es nun Frauenhintern in engen Höschen, spielende Kinder, die Wunden der Obdachlosen oder das betonverwucherte Gesicht von Los Angeles, das mit mindestens derselben Liebe gefilmt ist wie die wüstenartige Natur drumherum. Sinnsuche, das buchstabiert 'Knight of Cups' wie kein Malick-Film zuvor, bedeutet auch immer wieder das In-Kauf-Nehmen von Sinnzerstäubung, Sinn-Aufschub. So wird der Strand, der am Ende von 'The Tree of Life' die Toten in der leiblichen Auferstehung final zusammenführte, hier in einer Szene wieder von den Lebenden erobert. Sie baden, sonnen sich und schwimmen hinaus.

Dieser Text ist zuerst anlässlich der Berlinale 2015 in der filmgazette erschienen.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Knight of Cups'.

Königin der Wüste

(USA 2015, Regie: Werner Herzog)

Expeditionen unter der Bettdecke
von Janis El-Bira

Triumphierend streckt Gertrude Bells (Nicole Kidman) beduinischer Begleiter Fattuh dem türkischen Beamten eine hochamtliche Reisegenehmigung entgegen, die seiner kleinen Karawane das Weiterziehen durch osmanisches Gebiet ermöglicht. Andere Szene, selber Gestus: …

Triumphierend streckt Gertrude Bells (Nicole Kidman) beduinischer Begleiter Fattuh dem türkischen Beamten eine hochamtliche Reisegenehmigung entgegen, die seiner kleinen Karawane das Weiterziehen durch osmanisches Gebiet ermöglicht. Andere Szene, selber Gestus: Die Forscherin mit der Porzellanhaut bekommt von einem ihr verfallenen Diplomaten einen stattlichen arabischen Hengst geschenkt. Das Pferd ist ergaunert, wie das Dokument zuvor natürlich gefälscht war. 'If you don′t have a shooting permit, fake one', lautet schließlich eine oft zitierte Handlungsmaxime des Filmemachers und Weltreisenden Werner Herzog.

'Queen of the Desert', sein erster nicht-dokumentarischer Film seit knapp sechs Jahren, ist reich an derlei lustvoller Selbstreferenz. Dabei spiegelt sich in Nicole Kidmans ungeheuer hochgewachsener, kerzengerader Erscheinung, mit der sie die allermeisten männlichen Protagonisten um gut und gerne einen Kopf überragt, im Wüsten- und Dromedarsetting des Films eine ähnlich fremdkörperliche Ausstrahlung, mit der Herzog selbst sich andernorts in Höhlen, Gletscherspalten und zwischen Baumwipfeln zu umgeben pflegt. Seine Heldin Gertrude Bell ist ganz und gar Abenteuerin im Sinne einer Herzog-typischen (und erzromantischen) 'Sehnsucht nach dem Unendlichen', wie Friedrich Schlegel sie zur Reisemotivation für den zivilisationsmüden Bürger des 19. Jahrhunderts erhob. Zu sehen ist sie am Beginn des Films als tagträumerische, aber zielstrebige höhere Tochter der britischen Society, an der sie zu ersticken droht. Der Ruf der Ferne ist laut, die exotische Verlockung des Orients gespeist aus der exzessiven Lektüre von Dichtung und Reiseliteratur. 'Read, read, read… read… and read!', trichtert Werner Herzog jungen Filmschaffenden gerne ein.

'Queen of the Desert' imaginiert folglich in angemessen orientalisierenden Operettenkostümen eine nie dagewesene Epoche, in der die 'Aeneis' des Vergil zur selbstverständlichen Verständigungsgrundlage im Beduinenzelt gehört, während die Mitglieder der diplomatischen Zirkel sinn- und verstandlos den Champagner aus Blumenvasen trinken. Der Film ist in diesem Sinne so etwas wie der feuchte Retro-Traum eines den Globus umrundenden Oberbayern, der eher Hölderlin und das abenteuerliche Herz eines Ernst Jünger im geistigen Gepäck hat, als ethnologische Klassiker. Man mag darin eurozentristische, auch verklärende Tendenzen sehen. Geschenkt, ist der weltläufig-romantische Exotismus Herzogs doch in jedem Moment von ganz anderer Art als jener eliminatorische Kolonialismus, der Churchill und Konsorten in der Anfangssequenz des Films das zerfallendene Osmanische Reich unter den Kriegsgewinnern aufteilen lässt. Denn wo jener die Fremdheit des Fremden als notwendigerweise auszuhaltenden Abgrund ausweist, dem alles Gemeinsame wie ein unverhoffter Zauber entsteigt, kennt letzterer nur Adäquation und Einebnung. Insofern ist 'Queen of the Desert' eine konsequente Fortschreibung der distanziert-involvierten Herzog-Dokumentarfilme der letzten Jahre, in denen er sich nicht von ungefähr bevorzugt an die Forscher und Expediteure – Experten der Fremde also – gehalten hat. Eine Schmonzette ist das, ein abgefingertes, vergilbtes Jugendbuch, unter der Bettdecke gelesen, wo die Welt so weit und schauerlich-schön ist, wie eben nur dort.

Dieser Text ist zuerst anlässlich der Berlinale 2015 in der filmgazette erschienen.

Knight of Cups

(USA 2015, Regie: Terrence Malick)

Menschen und Hunde unter Wasser
von Ilija Matusko

Das ist keine Lücke, kein Eindringen in die Welt. Sie hat sich von Rick entfernt und in ihr geschäftiges, buntes Treiben eingeschlossen, ohne Öffnung, ohne Möglichkeit, dort hineinzugelangen. Rick versucht …

Das ist keine Lücke, kein Eindringen in die Welt. Sie hat sich von Rick entfernt und in ihr geschäftiges, buntes Treiben eingeschlossen, ohne Öffnung, ohne Möglichkeit, dort hineinzugelangen. Rick versucht es, mit allen Mitteln, doch bleibt er vom existentiellen Gefühl der Bedeutsamkeit und Tiefe eines Lebens, seines Lebens, ausgesperrt. Je mehr er sich dem Rausch und dem Exzess hingibt, umso ausgepumpter und leerer wirkt er. Der neue Film von Regisseur Terrence Malick handelt von der Sinnsuche eines freudlosen Hedonisten, der die innere Leere und totale Langeweile umso deutlicher spürt, je mehr er sich mit Cocktailpartys und erotischen Abenteuern davon abzulenken versucht. Wie die Tarot-Figur des „Knight of Cups“ kommt der melancholische Ritter stets mit leeren Händen nach Hause. Obwohl er doch alles zu haben scheint.

Rick (Christian Bale) ist kreativ, erfolgreich und gutaussehend. Er lebt in Los Angeles, hängt auf Foto-Sessions oder in Studiolandschaften rum und arbeitet für die Kreativindustrie, als Comedy-Drehbuchschreiber. Er führt sozusagen das Leben, das sich so mancher erträumt, randgefüllt mit Spaß und exquisitem Vergnügen: Schickes Appartement, Cabriolet, Gartenpartys, sexuelle Eskapaden mit Models – dazu am Strand noch ein Appartement, und noch ein Model. Es kann in „Knight of Cups“ gar nicht genug Hedonismus und Erlebnisgenuss aufgefahren werden, um dem Zuschauer einzutrichtern, dass Rick trotz aller (sich wiederholenden) Bemühungen, in Hotelzimmern und an Sonnenuntergangsstränden am Leben teilzunehmen, in diesem von Freude und Lebendigkeit abgeschnitten bleiben wird. Grund: die Sinnkrise hat sich schon zu weit in ihm vorgefressen. Auch abseits des Trubels gibt es keine Rettung, denn als Rick aus dem Rummel der Hochhäuser und Drogenpartys in die Stille und Erhabenheit der Wüste flieht, stößt er dort nur noch auf mehr Fragen, in ihm versteht sich.

Man mag schnell die gescheiterte Beziehung zu seiner Frau (Cate Blanchett) als eine der möglichen Ursachen für seine Melancholie und Tristesse ausmachen – oder gar sein gestörtes Verhältnis zum anderen Geschlecht insgesamt, das ihm jedwede ernste Beziehung unmöglich macht – doch geht es Malick um etwas anderes als um eine Psychologisierung menschlicher Probleme. Es geht um mehr, sprich: Es geht ihm um etwas Tieferes, oder Höheres, wie man’s nimmt. Das Ende der Beziehung zu seiner Frau – herbeigeführt durch Ricks Unfähigkeit zu lieben, also zu geben, also zu empfinden – ist nur das Symptom der existentiellen Orientierungslosigkeit, die Rick beinahe teilnahmslos bis zur Passivität durch den Film wandeln/taumeln lässt. Hin und wieder lauert ein „Ganz entspannt im Hier und Jetzt“-Ratschlag in der Meeresbrandung, aber eigentlich ist nichts zu machen. Da der Spalt, der Rick von der Welt und von seinen eigenen Gefühlen trennt, etwas tiefer liegt (wo genau, weiß er selbst wohl nicht so genau), kann er auch nicht mit den üblichen Mitteln der Seinserfüllung und Harmonielehre geschlossen werden. Lediglich ein Erdbeben – also ein übergroßes, unfassbares Naturereignis, das so schnell wieder im Nichts verschwindet, wie es gekommen war – mag den Protagonisten ein wenig aus seiner Teilnahmslosigkeit holen, ihn ein wenig näher heranbringen an die pure Kraft des Lebens, die ihm innerlich so sehr abgeht.

Man mag an dieser Beschreibung erahnen, dass der Erfolg der Sinnsuche bei Malick keineswegs von äußeren, weltlichen Dingen bestimmt wird, sondern abhängig ist von den Bewegungen des Selbst in den eigenen, inneren Landschaften. Deren filmische Erschließung ist bei Malick Metaphysik im reinsten Sinne. Denn Malick stellt sich seit seinem Film „The Tree of Life“ aus dem Jahr 2011 die Frage, wie beide Seinsbezirke – Inneres und Äußeres – existentiell miteinander verwoben sind. Also unter welchen natürlichen und sozialen Bedingungen eine innere Suche nach Sinn und Transzendenz überhaupt stattfindet. Und wo sie ankommt. In „Knight of Cups“ gerät diese (erfolglose) Sinnsuche zum Sinn selbst, zum Selbstzweck, sowohl im formalen als auch im inhaltlichen Sinn.

Mit einer assoziativ-ästhetisierten Erzählweise, deren Montage eher von einem Bewusstseinsstrom als von einer Geschichte inspiriert ist, erschafft Malick ein Kaleidoskop an Erlebnissen, Bewegungsbildern und Momentaufnahmen eines Menschen, der aus dem eigenen Nihilismus zu entfliehen versucht, und doch keinen Ausweg findet. Die Stimmen der Figuren aus dem Off sind dabei der aktive Part der Sinnsuche. Sie legen sich über die Collagen der Bilder und treiben den Zuhörer ein ums andere Mal an, die Sinnfragen wie Suchschablonen gegen die Bildebene zu halten. Und im Endeffekt: sich davon mitreißen zu lassen. Die größte Paradoxie des Filmes besteht dann darin, dass man nicht berührt, sondern mitgerissen werden soll, und zwar von der Gefühlslosigkeit des Protagonisten und seiner Suche nach Gefühl.

Durch die Bild-Text-Schere entsteht viel Raum für Interpretation, für eigene Antworten. Das mag für den einen willkürlich erscheinen, doch andererseits lässt sich so jedem Bild etwas mehr abgewinnen als nur der Eindruck, ein passendes Bild im Puzzle eines Filmes zu sein. Entrückende, fantastische Aufnahmen unseres Planeten, von der Schönheit der Natur, von Wüstenlandschaften, vom Meer, aber auch vom Eingriff des Menschen und seinem Versuch, dem Chaos der Natur Sinn und Ordnung abzuringen, aufzudrücken, und dabei doch nur wieder neues Chaos zu stiften – mit Großbauten, Wohnanlagen und Straßensystemen.

Man stört sich bei dieser filmischen Suche relativ schnell an der Tatsache, dass Rick allen Klischees von Künstlichkeit ausgeliefert ist, die das Bild eines oberflächlichen, sinnlosen Lebens hergibt: Partys, Drogen, Designermöbel, Villen, Swimmingpools – die Models und die Fotografen dürfen da natürlich auch nicht fehlen. Und umgekehrt, bei der ausgemachten Sinnhaftigkeit im Leben trifft man dann auf die Schönheiten der Natur, elegische Landschaften; oder Menschen unter Wasser, oder Hunde unter Wasser, in Zeitlupe. Leider lässt sich auch sonst auf der Inhaltsebene wenig Gehaltvolles ausmachen. Das mag der Gedankenwelt von Rick entsprechen, dem Film schwebt aber eigentlich etwas anderes vor, nämlich Bedeutungsgenerierung. Und zwar im Hochbetrieb. „Knight of Cups“ stellt alle zwei Sekunden eine andere Sinnfrage, reißt mit jeder neuen Kameradrehung ein neues bedeutendes Lebensthema an, sodass man sich am Ende des Eindrucks nicht erwehren kann, dass Malick hier versucht, die fehlende Tiefgründigkeit und die Diffusion der verhandelten Fragen mit einem Mittel zu kaschieren: Je mehr offene Fragen, umso besser. Das wirkt beim Zuschauer nach einer Weile äußerst ermüdend und kontraproduktiv, denn man mag einem, der ständig „Bedeutung!, Bedeutung!“ schreit – und der versucht, jedes Bildchen philosophisch aufzuladen – nach einer Weile nicht mehr glauben.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Knight of Cups'.

Mediterranea

(D / F / I / USA 2015, Regie: Jonas Carpignano)

Kein Betroffenheitsvoyeurismus!
von Manfred Riepe

Kaum ein Thema beherrscht die Medien in den vergangenen Wochen und Monaten mehr als die nicht abreißenden Flüchtlingsströme. Fast täglich berichten Nachrichten von Schlepperbanden, gekenterten Booten und Hunderten von Menschen, …

Kaum ein Thema beherrscht die Medien in den vergangenen Wochen und Monaten mehr als die nicht abreißenden Flüchtlingsströme. Fast täglich berichten Nachrichten von Schlepperbanden, gekenterten Booten und Hunderten von Menschen, die dabei im Mittelmeer ertrinken. Diese Zahlen bleiben jedoch unvorstellbar. Jonas Carpignano verknüpft sie mit konkreten menschlichen Schicksalen. Sein aufwühlendes Drama macht die beschwerliche Reise zweier Bootsflüchtlinge nachvollziehbar.

Sein bewegender Film erzählt die Geschichte des Afrikaners Ayiva (Koudous Seihon), der seine siebenjährige Tochter in Burkina Faso zurücklässt, um gemeinsam mit seinem besten Freund Abbas (Alassane Sy) nach Europa zu fliehen. Gründe für ihre Migration werden nur indirekt angedeutet. Schmucklose Bilder ohne Exposition konfrontieren den Zuschauer ohne Vorwarnung mit der äußerst beschwerlichen Reise auf überfüllten LKWs und dem Marsch durch die Wüste. Hier werden die Flüchtenden von marodierenden Banden ausgeraubt und teilweise massakriert. Horrorbilder deuten die Überfahrt übers Mittelmeer in einem seeuntüchtigen Motorboot ohne Steuermann an. Mit knapper Not werden die Havarierten gerettet. Die Kerngeschichte spielt in einem süditalienischen Aufnahmelager, aus dem die Schiffbrüchigen wieder abgeschoben werden, falls sie binnen drei Monaten keine Papiere und keine feste Arbeit bekommen. Eigentlich eine Mission Impossible.

Als schwarzer Italo-Amerikaner, der zwischen Rom und New York pendelt, hat Carpignano sich mit der Situation vor Ort vertraut gemacht. Schon sein viel beachteter Kurzfilm „A Chjana“ thematisierte jene blutige Migranten-Revolte im kalabresischen Rosarno, die 2010 ganz Italien schockte. Sein Kinodebüt schildert nun die Vorgeschichte dieses Aufstandes. Carpignano erzählt die Geschichte aus der Sicht zweier entgegengesetzter Charaktere: Während Abbas angesichts der desolaten Situation den Kopf in den Sand steckt, versucht Ayiva mit Tricks, Ausdauer und Optimismus das Beste aus seiner Lage zu machen. Eine Eisenbahnlinie, die an seinem Camp vorbeiführt, bringt ihn auf eine Idee, die der Film mit einer interessanten Ellipse darstellt: So fragt der Zuschauer sich, warum Ayiva den einen Zug besteigt – bis klar wird, dass er einem Reisenden den Koffer klaut. Er macht das zwar ziemlich geschickt, doch die nuancierte filmische Beobachtung zeigt ihn nicht als Gewohnheitskriminellen. Im Gegenteil.

Ein im Koffer gefundener MP3-Player verhilft ihm im Sinne eines minimalen „Startkapitals“ zu einem Geschäft mit einem – hinreißend gezeichneten – Kinder-Dealer. Von nun an geht es Schritt für Schritt aufwärts, doch diese Entwicklung hat nichts Märchenhaftes. Dank seiner Umsicht, seiner Kreativität und seiner Ausdauer gewinnt Ayiva während des beschwerlichen Jobs als Erntehelfer das Vertrauen des Orangenplantagen-Besitzers. In einem ruhigen Moment erklärt dieser ihm, dass auch sein Großvater sich in den USA als nicht gerade willkommener Einwanderer durchsetzen musste. Mit diesem rührenden Dialog knüpft der Film eine beachtliche Querverbindung zur historischen Permanenz von Migrationsbewegungen. Eine gewisse Durchlässigkeit zwischen erster und dritter Welt zeichnet sich ab, weil die Klassenunterschiede nicht als zementierte Barriere dargestellt werden. Indem er den Flüchtlingen den Status von handelnden Subjekten gewährt, die ihr Schicksal – zumindest teilweise – in der Hand haben, verweigert der Film den üblichen Betroffenheitsvoyeurismus.

Doch der vage Hoffnungsschimmer wird konterkariert durch eine beiläufig geschilderte Eskalation. Ein harmloses Handgemenge führt allmählich zu einer blutigen Straßenschlacht. Auch bei dieser Entwicklung zeichnet Carpignano sich durch seinen erstaunlich differenzierten Blick aus. Beiläufig, aber doch sehr bestimmt, arbeitet der Regisseur heraus, dass es unter den Migranten unterschiedliche Mentalitäten gib. Es gibt Menschen wie Ayiva, die gekommen sind, um sich etwas aufzubauen. Und es gibt andere, die vorwiegend auf Konfrontation aus sind.

Von den desolaten Unterkünften bis hin zum herzlichen Umgang der Migranten untereinander ist das alles präzise beobachtet. Die bewegliche Handkamera bleibt dicht an den glaubhaft agierenden Laiendarstellern und gibt der Szenerie eine beklemmende dokumentarische Unmittelbarkeit. Man könnte an italienischen „Neo-Neorealismus“ denken. Doch im Vergleich etwa zu dem Klassiker „Fahrraddiebe“ ist „Mediterranea“ ein betont unsentimentaler Film, der trotz seiner aufwühlenden Geschichte nie auf die Tränendrüse drückt. Stilistisch fühlt man sich eher an die raue Poesie und den vor Dreck strotzenden Naturalismus von „Beasts of the Southern Wild“ erinnert, bei dem Carpignano als second unit director mitarbeitete. Trotzdem ist „Mediterranea“ kein typischer Art House Film. Hier geht es nicht um l’art pour l’art. Selten wurde das Exil in einem Auffanglager so differenziert geschildert wie in dieser hochaktuellen Odyssee zweier Bootsflüchtlinge aus Afrika. Mit „Mediterranea“ gelingt dem jungen Regisseur ein relevanter Film, dessen Vielschichtigkeit sich erst allmählich erschließt.

A Girl Walks Home Alone at Night

(USA 2014, Regie: Ana Lily Amirpour)

Schwarz wie Erdöl, spitz wie Vampirzähne
von Manfred Riepe

Es gibt Filmbilder, die sich sofort ins Gedächtnis einbrennen, weil sie etwas ausdrücken, das man irgendwie erwartet, so aber noch nie gesehen hat: Ein weiblicher Vampir, in einen tiefschwarzen Tschador …

Es gibt Filmbilder, die sich sofort ins Gedächtnis einbrennen, weil sie etwas ausdrücken, das man irgendwie erwartet, so aber noch nie gesehen hat: Ein weiblicher Vampir, in einen tiefschwarzen Tschador gehüllt, surft auf einem Skateboard durch menschenleere Straßen. Diese Kombination mag forciert, vielleicht sogar prätentiös erscheinen. Doch in Ana Lily Amirpours hypnotischem Gruselfilm entwickeln sich dieses und jedes weitere Bild aus dem vorangegangenen mit einer selten gesehenen Selbstverständlichkeit.

„A Girl Walks Home Alone at Night” ist zunächst eine Wiederentdeckung der Langsamkeit. Aufreizend lange steht Arash, ein junge Antiheld mit James-Dean-Tolle, zu Beginn am Spalt eines Bretterzauns, den er schließlich passiert, um wenige Sekunden später mit einer Katze im Arm wieder zu erscheinen. Mit diesem liebevollen Understatement beginnt eine einfach strukturierte Geschichte, die es jedoch in sich hat. Als Arash, gespielt von dem in Teheran geborenen deutschen Darsteller Arash Marandi, zurück nach Hause zurückkommt, hat er Besuch. Saeed (Dominic Rains), ein protzig auftretender Zuhälter und Dealer, will das Geld eintreiben, das er Arashs Junkie-Vater für seinen Stoff vorgestreckt hat. Der Junge kann nicht zahlen. Also nimmt der Drogenhändler ihm sein Auto weg. Aus Verzweiflung und Wut über den Verlust seines Ford Thunderbird, für den er lange gearbeitet hat, schlägt Arash mit der Faust gegen eine Mauer. Die Verletzung, die er sich dabei zuzieht, wird zur unterschwelligen Insignie einer ganz anderen Art von Stärke.

Ihr Kinodebüt, dem eine Kurzfilmfassung voranging, bezeichnet Ana Lily Amirpour als „ersten iranischen Vampir-Western“. Er lief auf dem Fantasy Filmfest und hatte einen Kinostart. Die Kritiken, fast durchweg überaus positiv, lobten die gelungene Mischung aus Gangsterfilm im Retrostil, die durch ihre an Jim Jarmusch erinnernde Schwarzweiß-Fotografie überzeugt. Schaut man sich daraufhin den auf DVD und Blu-ray publizierten Film an, so ist man verblüfft, wie wenig das, was man tatsächlich zu sehen bekommt, in den Besprechungen beschrieben wurde. Man ist vor allem überrascht, dass der stylische Look, der als alleiniges Merkmal hervorgehoben wurde, kein Selbstzweck ist.

Tatsächlich erzählt Amirpour eine Geschichte von faszinierender Geradlinigkeit. In der Parallelmontage führt ihr Film eine namenlose, schweigsame junge Frau ein, die in einer gruftartigen Souterrainwohnung lebt. Sie hört anregenden Disko-Pop im 80er Jahre Stil, der sofort ins Ohr geht, obwohl man ihn nicht kennt. Später nimmt sie den Zuhälter Saeed ins Visier, der in seinem neuen Auto eine Prostituierte trifft. Mit einer Mischung aus Gewaltandrohung und machohafter (Pseudo-)Zärtlichkeit zwingt er sie zum Oralsex. Diese ritualisierte Unterdrückung wird unaufdringlich und doch präzise analysiert: Der in sich selbst verliebte Zuhälter versetzt sich in den Glauben, dass die unterworfene Frau tatsächlich vor seiner „Männlichkeit“ schwach wird.

Wie sehr er sich täuscht, zeigt die anschließende Szene. Saeed begegnet nun jener schweigsamen, jungen Frau im Tschador, die er mit nach Hause nimmt, um sie sie mit seiner üblichen Masche zu betören. Als das rätselhafte Mädchen scheinbar lasziv den Mund öffnet und mit einem laut hörbaren Klack! die spitzen Zähne ausfährt, sehen wir zum ersten Mal, dass die rätselhafte Erscheinung ein Vampir ist. Allein schon mit diesem grandiosen Bild überschreitet die 1980 in England geborene Regisseurin iranischer Abstammung die Grenzen eines bloßen Genrefilms. Es geht ihr weniger darum, dem Genre eine Variante zuzufügen.

„A Girl Walks Home Alone at Night” wurde in Besprechungen als “feministischer Vampirfilm” bezeichnet – ohne dass klar wurde, warum. Die hier beschriebene Szene verschafft Klarheit: Wie zuvor der Prostituierten steckt der Zuhälter ihr verführerisch den Finger in den Mund, der daraufhin – Rasch – einfach abgebissen wird. Der Subtext besteht hier darin, dass er diese symbolische Kastration kaum noch als Subtext darstellt. Und wenn das rabiate Phantom den verdutzten Macho daraufhin aussaugt – was durch eine blitzartig eingeschobene Zeitraffersequenz ziemlich animalisch wirkt –, dann erhält der zusammengefaltete Pimp seine eigene Botschaft in invertierter Form zurück.

Amirpour hat ihren Film in den USA gedreht, doch die zwischengeschnittenen Ölförderpumpen, die Nummernschilder der Autos und die spärlichen Dialoge auf Farsi deuten darauf hin, dass der Schauplatz im Iran liegt. „Ich wollte einen iranischen Film machen, aber die Frage war, wie das möglich sein sollte. Da ich offensichtlich nicht im Iran drehen konnte, lag die Lösung in der Erfindung des gesamten Films. Ich fand eine trostlose, leblose Ölstadt in der Wüste Kaliforniens, die zur fiktiven iranischen Geisterstadt Bad City wurde …“

In dieser iranischen Geisterstadt tritt die schwarz verhüllte Frau als Dämon in Erscheinung. Dass unter ihrem Tschador ein gestreiftes T-Shirt zu sehen ist, zeigt, dass dieses ganz normale Mädchen eine Art Wiederkehr des Verdrängten verkörpert. In diesem Sinn begegnet die durstige Vampirin zwei weiteren Männern, einer jungen und einer alten Variante jenes Zuhälters, den sie nebenbei gefrühstückt hat. Den kleinen Jungen verschont sie, lässt ihm aber im Schnelldurchlauf jene „Erziehung“ angedeihen, die den in der islamischen Kultur traditionell verhätschelten „kleinen Prinzen“ meist fehlt.

Die Begegnung mit dem alten Mann, Arashs drogensüchtigen Vater, ist der Höhepunkt des Films. Der Junkie versucht den auf der anderen Straßenseite beharrlich neben ihm hergehenden Vampir davonzujagen. Doch der Dämon lässt sich nicht verscheuchen. Jede Bewegung, die der Alte ausführt, wiederholt der Vampir synchron. Obwohl der Film das Spiegelthema nicht direkt bebildert, scheint diese Szene doch eine subtile Antwort auf die alte Frage zu sein, warum der Vampir kein Spiegelbild hat. In seinem bekanntem Aufsatz „Der Doppelgänger“ aus dem Jahr 1914 arbeitet der Freud-Schüler Otto Rank heraus, dass der Blutsauger deswegen kein Bild reflektiert, weil er selbst schon das Spiegelbild ist. Ein Gedanke, der sich nicht von selbst versteht. Das Heimliche wird „unheimlich“, weil es plötzlich als ureigenes Selbst erkannt wird. Auf den Film bezogen, heiß das: Arashs drogenabhängiger Vater wird mit jener Sucht konfrontiert, die er sich nicht eingestehen will, weil er sich das Heroin – wie viele Junkies – zwischen die Fußzehen spritzt. Geht er zu einer Prostituierten, so kann er nicht mit ihr schlafen, sondern sie nur mit der Drogenspritze penetrieren. In logischer Umkehrung eines Marx-Spruchs wird deutlich, dass das „Opium fürs Volk“ jene islamische Religion ist, die zwar chiffriert aber dennoch unmissverständlich angeprangert wird. Die von dieser repressiven Religion „kontaminierten“ Männer werden beseitig und in einem ausgetrockneten Flussbett entsorgt, wo die Leichen neben Autoreifen und Kühlschränken verrotten: Im Gegensatz zum Vampirmythos gibt es hier keine Widergänger.

Die Vielschichtigkeit dieser Phantasie ist damit noch nicht erschöpft. Denn nun begegnet das halb-verschleierte Vampirmädchen tatsächlich seinem Spiegelbild – nämlich dem gebrochenen Helden Arash, der sich für eine Kostümparty als Graf Dracula verkleidet hat und nun auf Ecstasy durch die Straßen von Bad City irrt. Der falsche Vampir Arash bemerkt, dass die echte Blutsaugerin eiskalte Hände hat und wirft beherzt seinen Dracula-Umhang über sie, um sie zu wärmen: Das ist melancholisch und komisch zugleich. Eine wundervolle Szene.

Die zärtlich gezeichnete Begegnung zwischen den beiden steht ihm Zeichen jener Verletzung von Arashs Hand, die er sich nach dem Verlust seines protzigen Autos selbst beigebracht hat. Eine „symbolische Kastration“, die signalisiert, dass er sich nicht über jene repressiv zur Schau gestellte Virilität definiert, wie der narzisstische Zuhälter. Außerdem gehört ihm jene Katze, die in „A Girl Walks Home Alone at Night” eine noch wichtigere Rolle spielt als der entlaufene Stubentiger in „Inside Llewin Davis“ von den Coens. Das liebevolle Schlussbild zeigt, wie beide mit dem Auto Bad City verlassen. Die Katze sitzt zwischen ihnen. Eine angedeutete Triangulierung, die leise Hoffung signalisiert.

Diese heterogenen Stilmittel und Erzählfragmente fügt Ana Lily Amirpour zu einem faszinierend bösartigen Vampirmärchen zusammen. Jim Jarmuschs „Only Lovers Left Alive“ wirkt dagegen blass und prätentiös. Mit großem visuellen Reichtum und traumwandlerischer Stilsicherheit gelingt der jungen Regisseurin eines der interessantesten Debüts der vergangenen Jahre. Schwarz wie Erdöl, spitz wie Vampirzähne und elegant wie eine Katze.

I Used to Be Darker

(USA 2013, Regie: Matthew Porterfield)

Die Probleme des Lebens
von Wolfgang Nierlin

Die 19-jährige Taryn (Deragh Campbell) ist abgehauen. Zwei Monate ist es her, dass sie unter falschen Angaben ihr nordirisches Elternhaus verlassen hat, um statt in Wales in den USA unterzutauchen …

Die 19-jährige Taryn (Deragh Campbell) ist abgehauen. Zwei Monate ist es her, dass sie unter falschen Angaben ihr nordirisches Elternhaus verlassen hat, um statt in Wales in den USA unterzutauchen In Ocean City, Maryland besucht sie eine Freundin und jobbt im Lager eines Spielzeugladens. Am Strand dreht sich ein Riesenrad, und Taryn verlässt zornig einer Party, nachdem sie sich mit einem Jungen gestritten hat. Es sind Sommerferien, und die junge Frau mit den rotblonden Haaren und der weißen Haut ist schwanger. Taryn hat keinen Plan. Doch dann meldet sie sich unerwartet bei ihrer Tante Kim (gespielt von der Singersongwriterin Kim Taylor) in Baltimore, um ihren Besuch anzukündigen.

Diesen Auftakt zu seinem Film „I Used to Be Darker“ erzählt Matthew Porterfield, der hierzulande mit „Putty Hill“ bekannt geworden ist, völlig undramatisch. Dabei liefert sein Film eine ganze Reihe von Konflikten, die sich um zerrüttete, dysfunktionale Familien drehen und die immer weitere Kreise ziehen. Allerdings verzichtet Porterfield auf spektakuläre Szenen, die Logik konventioneller Dramaturgien und jegliche Klischees. Stattdessen erzählt er offen, einfühlsam und immer wieder überraschend von instabilen Familienbeziehungen und verunsicherten, desorientierten Jugendlichen im Spannungsfeld elterlicher Trennungskonflikte.

Kim ist nämlich gerade dabei, sich von ihrem Mann Bill (Ned Oldham) zu trennen, als Taryn unverhofft in dem großen Haus mit Pool auftauch. Mit den Worten „Willkommen in der Privathölle“ wir sie von ihrer Cousine Abby (Hannah Gross) begrüßt, die auf ihre Eltern hilflos wütend ist. Beide sind Musiker, die mehr oder weniger von früheren Träumen zehren und ihren Kummer über den schmerzlichen Ablösungsprozess, unter dem vor allem Bill leidet, in Liedern verarbeiten. Das wiederum nutzt Matt Porterfield, um mit dokumentarischem Gestus und wohltuender Ausführlichkeit Musik zu inszenieren, die von den Darstellern selbst gemacht wird.

„I Used to Be Darker“ liefert keine Lösungen für die verhandelten Konflikte. Realistisch, ruhig und genau zeigt der Film in wechselnden Perspektiven vielmehr, wie diese zusammenhängen und dass die Probleme des Lebens, so bestätigt Kim einmal tröstend gegenüber Taryn, weder aufhören noch weniger werden. Doch trotz diverser Auflösungserscheinungen im Zwischenmenschlichen vermittelt Porterfields ebenso berührender wie schöner Film ein Gefühl für Wärme und Zusammenhalt.

Der Sommer mit Mamã

(BR 2015, Regie: Anna Muylaert)

Selbstverschuldete Unmündigkeit
von Manfred Riepe

Eigentlich scheint die Sache sonnenklar zu sein. Die agile Mittfünfzigerin Val (Regina Casé) lebt und arbeitet seit vielen Jahren als Haushälterin bei einer wohlhabenden Familie in São Paulo. Klaglos und …

Eigentlich scheint die Sache sonnenklar zu sein. Die agile Mittfünfzigerin Val (Regina Casé) lebt und arbeitet seit vielen Jahren als Haushälterin bei einer wohlhabenden Familie in São Paulo. Klaglos und mit kaum nachvollziehbarer Hingabe erträgt sie die Launen der zickigen Hausherrin Bárbara (Karine Teles), für deren verwöhnten 17-jährigen Sohn sie eine Ersatzmutter und für deren schwermütigen Mann Carlos eine Art Pflegekraft ist. Während die Herrschaften gelangweilt ihren Luxus genießen, lebt Val eingepfercht in einer winzigen Abstellkammer, vor deren Fenster sich obendrein noch eine hässliche Mauer befindet. Das klingt nicht gerade spannend. Warum sollte man sich diese Geschichte einer Dienerin antun, die mit 110 Minuten noch immer Überlänge hat?

In „Der Sommer mit Mamã“ geht es nicht, wie man erwarten könnte, um das Thema Ausbeutung und Klassengegensätze. Wie der thematisch ähnliche chilenische Film „La Nana – Die Perle“ von 2010 erzählt auch die brasilianische Regisseurin Anna Muylaert von einer zum Teil selbstverschuldeten Unmündigkeit. Von den ersten Augenblicken an überzeugt ihr Porträt einer Haushälterin durch stimmige Beobachtungen eines Mikrokosmos, dessen Gesetzmäßigkeiten man erst allmählich überblickt. Dank der durchdachten Art und Weise der Bildgestaltung hat man von Anfang an Lust, diese Welt zu erkunden. Entsprechend sind die ersten zwanzig Minuten ganz aus dem Tunnelblick der umtriebigen Val erzählt. Meist hält sie sich in der Küche auf, ihr Erscheinen wirkt jedes Mal wie ein kleiner Theaterauftritt. Man spürt: Sie ist der gute Geist in diesem Haushalt, in dem alle missmutig aneinander vorbei leben und beim Essen apathisch auf ihren Smartphones rumwischen.

Spannung baut sich ganz allmählich auf, weil wir diese Lethargie aus der Sicht der Haushälterin wahrnehmen, die jedes noch so kleine Detail ihrer Tätigkeit mit einer unglaublichen Vitalität anreichert. Alles, was sie im Haushalt erledigt, ist – egal, um welche banale Routinetätigkeit es sich handelt – wichtig. Dabei spürt man allmählich, dass Val in ihrem Job nur deswegen so sehr aufgeht, weil sie mit einer Lebenslüge kämpft. Seit über zehn Jahren hat sie ihre Tochter nicht mehr gesehen, die sie nach einem Streit mit ihrem Mann bei einer Freundin im Norden Brasiliens zurück lies. Doch nun bezieht die inzwischen erwachsene Jessica (Camila Márdia) überraschend Quartier bei ihrer Mutter, um sich an einer Elite-Uni einzuschreiben. Ganz selbstverständlich erwartet Val von ihrer Tochter, dass auch sie sich gegenüber den Gastgebern so unterwürfig verhält wie sie. Doch Jessica ist aus einem anderen Holz geschnitzt. Sie verweigert die von ihrer Mutter für sie vorgesehene Rolle und löst so eine vergnüglich inszenierte Kettenreaktion aus. Während der Hausherr und dessen Sohn sich in die selbstbewusste Jessica verlieben, beginnt die Hausherrin der unwillkommenen Konkurrentin das Leben schwer zu machen.

Man denkt hier sofort an das eingebürgerte Modewort „Zickenkrieg“, das in diesem subtilen Film aber völlig unangebracht ist. Existenzielle Krisen und großes Geschrei gibt es in diesem zurückgenommenen Drama nicht. Als Jessica einmal von den Jungs beim Herumalbern in den Pool gestoßen wird, lässt die angewiderte Bárbara, die diese Szene heimlich beobachtet, angewidert das komplette Wasser austauschen. Ohne dass das Thema ausbuchstabiert würde versteht man unmittelbar, welchen Affekt die Hausherrin mit dieser überzogenen Aktion auslebt. Mit solch beiläufigen Beobachtungen schattiert der Film all seine Figuren nuanciert durch, und deswegen ist man als Zuschauer zunehmend gebannt.

Getragen wird „Der Sommer mit Mamã“ von Schauspielern, die nie zu dick auftragen. Camila Márdia spielt eine aufstrebende, junge Architektin, die aus ihrem Leben etwas machen will und sich für ihre Mutter schämt – dieser aber so die Augen öffnet. Regina Casé, brasilianischer TV- und Kinostar, glänzt als vitale Haushälterin, die die Kinder ihrer Arbeitgeber verhätschelt, in die Rolle als Mutter ihrer leiblichen Tochter aber erst hineinwachsen muss.

Die Autorenfilmerin Muylaert hat als Kritikerin gearbeitet und schon einige Filme inszeniert, die aber nicht in deutschen Kinos liefen. „Der Sommer mit Mamã“ verblüfft durch eine klare handwerkliche Linie. Jedes Bild ist mit erstaunlicher Präzision gestaltet. Nur wenige Szenen sind außerhalb dieses Kosmos’ einer modernistisch gestyleten, nicht zu protzigen Villa angesiedelt. Dennoch wirkt das zuweilen slapstickhafte Kammerspiel nie dialoglastig oder theaterhaft, weil die bemerkenswerte Kamera viel Gespür für Räume und Stimmungen beweist. Man lässt sich gerne in diese Szenerie entführen, die europäischen Zuschauern auf erfrischende Weise fremd erscheint, ohne gleich exotisch zu wirken. Das sehenswertes Porträt einer brasilianischen Haushälterin, die durch das unerwartete Auftauchen ihrer verlorenen Tochter eine interessante Entwicklung durchlebt, ist ein Film für Zuschauer, die Geschichten mögen, die sich ganz allmählich aus Detailbeobachtungen entwickeln.

Liebe mich!

(D 2014, Regie: Philipp Eichholtz)

Von Oma gefördert
von Manfred Riepe

Zu Beginn sehen wir das leinwandgroße Gesicht von Sarah (Lilli Meinhardt). Sie hat gerade die erste Nacht mit ihrem langjährigen besten Freund verbracht und strahlt von innen heraus. Ein klein …

Zu Beginn sehen wir das leinwandgroße Gesicht von Sarah (Lilli Meinhardt). Sie hat gerade die erste Nacht mit ihrem langjährigen besten Freund verbracht und strahlt von innen heraus. Ein klein wenig zu überschwänglich bringt sie ihm das Frühstück ans Bett, aber dummerweise braucht der Freund erst einmal „ein bisschen Zeit für mich“. Blitze zucken. Augenblicklich ist klar, dass Sarah eine solche Situation nicht zum ersten Mal erlebt hat. Und wir verstehen auch sofort, dass die klammernde, liebesbedürftige Göre in Punkto Frustrationstoleranz auch diesmal nichts dazu lernen wird. Stattdessen bricht sie einen erbitterten Streit vom Zaun, bei dem sie ihren Laptop nach dem Freund wirft. Das Macbook durchschlägt die Fensterscheibe und zerschellt auf dem Bürgersteig: Einen solchen Power-Filmstart hat man lange nicht mehr gesehen.

In seinem Debüt verblüfft Philipp Eichholtz mit dem Porträt einer jungen Frau Anfang Zwanzig, die sich selbst permanent im Weg steht. Sarah hofft auf einen Job als Grafikdesignerin. Doch dazu muss sie dringend die Daten von ihrem geschrotteten Mac retten lassen. Kostenpunkt: 2000 Euro. Glücklicherweise kann sie für gutes Geld vier Monate lang ihre Wohnung vermieten, sitzt dadurch aber dummerweise auf der Straße. Ihr Vater, der sie widerwillig aufnimmt, meint nur, dies sei „die Lösung einer Hirnamputierten“. Das klingt hart. Doch die Story, die Eichholz sympathisch und geradlinig erzählt, gibt dem leidgeprüften Papa (großartig: Peter Trabner) leider Recht.

Sarah redet auffällig oft davon, dass sie „endlich einmal Spaß haben“ will. Sie lebt die Überzeugung, dass ihr alles zusteht, und zwar ohne Anstrengung hier und jetzt. Dank ihrer aufreizenden Erscheinung trifft sie immer wieder junge Männer, die ihr dabei helfen. Der sympathische Computernerd Oli (Christian Ehrich) karrt ihr sogar ihre Möbel zum Ex, derweil Sarah entspannt Eisessen geht. Doch auch diese Beziehung wird Sarah nach demselben Muster kaputt machen. Der Berliner Alltag, den Eichholtz in diesem Mumblecore-Drama mit einer gelungenen Mischung aus Glitzer und Tristesse filmt, hat sie wieder. Mit ihrer Off-Stimme, eine Art lyrisches Ich, das aus dem Orbit zu uns zu sprechen scheint, beklagt Sarah, dass sie auch dann einsam ist, wenn sie mit anderen zusammen ist.

Ein Psychiater würde sie, je nach Schulzugehörigkeit, als Borderline-Persönlichkeit einstufen oder eine bipolare Störung diagnostizieren. Dieses Schwanken zwischen himmelhoch Jauchzen und zu Tode Betrübtsein verkörpert Lilli Meinhardt mit furioser Intensität. Gedreht hat Eichholtz die tragikomische Geschichte dieser querköpfigen Lolita nach dem „Sehr guten Manifest“ von Axel Ranisch, eine Art Dogma Reloaded, das aber angenehm undogmatisch daherkommt. So ist in jeder Szene spürbar, dass Eichholtz genau weiß, was er will. Dank eines angeblich nur sechs Seiten langen Drehbuchs bleibt den durchweg guten Akteuren Raum für Improvisation, die diesen Film mit prallem Leben füllt. Laut Vorspann ist der kleine, rotzige Geniestreich „Von Oma gefördert“. Von dieser großmütterlichen Produktionsfirma möchte man mehr sehen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Epd Film

Straight Outta Compton

(USA 2015, Regie: F. Gary Gray)

Ziemlich beste Freunde
von Ulrich Kriest

Bisschen Geschichtsunterricht gefällig? Also: es waren einmal fünf Typen, die sich Mitte der 1980er Jahre für HipHop interessierten oder als Drogendealer so viel Geld verdienten, dass sie als Kunst-Mäzenaten tätig …

Bisschen Geschichtsunterricht gefällig? Also: es waren einmal fünf Typen, die sich Mitte der 1980er Jahre für HipHop interessierten oder als Drogendealer so viel Geld verdienten, dass sie als Kunst-Mäzenaten tätig werden konnten. Nennen wir sie der Einfachheit halber doch Dr. Dre, Ice Cube, DJ Yella, MC Ren und Easy-E. Nach einigem Hin-und-Her gründeten sie schließlich eine Crew mit dem Namen N.W.A., was die Abkürzung für Niggaz Wit Attitude ist, die wiederum ihr Debütalbum „Straight Outta Compton“ nannten, weil es genau daher kam.

Compton, ein Stadtbezirk von Los Angeles, galt einmal als der gefährlichste Ort der USA: Drogenhandel, Bandenkriege, Polizeiwillkür, you name it. N.W.A. machten aus Compton „Compton“ – einen Popmythos. Obwohl sie, wie sie selbst sagten, mit ihrer Musik nur ihre Alltagsrealität abbildeten. Signaturtrack von N.W.A. war „Fuck Tha Police“, ein Track, der auf den Index kam, der die CIA beschäftigte, aber auf MTV nicht gespielt wurde.
N.W.A. war eine etwas prollige Partytruppe – wer etwas auf sich hielt, 1988, hörte eh lieber Public Enemy, Boogie Down Productions oder Eric B. & Rakim -, die plötzlich eine politische Trumpfkarte im Gepäck hatten.

Co-produziert von Dr. Dre und Ice Cube erzählt „Straight Outta Compton“ jetzt recht kurzweilig, konventionell und abenteuerlich synchronisiert, die Geschichte von „Fuck Tha Police“ und wie es kam, dass fünf Jungs Gangsta-Rap erfanden. Weil sie tatsächlich eine „Attitude“ hatten und Polizeiwillkür am eigenen Leib erfuhren. Darauf legt der Film sehr viel Gewicht, was dem Film angesichts der Ereignisse von Ferguson bis Detroit eine erstaunliche Aktualität verleiht.

In einer Schlüsselszene des Films stehen die Musiker während einer Arbeitspause essend und trinkend vor dem Studio herum, als sie von Polizisten grundlos gezwungen werden, sich auf den Boden zu legen. Besonders aktiv ist dabei ein farbiger Cop. Erst ein nachdrückliches Eingreifen ihres weißen Managers Jerry Heller befreit die Musiker aus ihrer misslichen Lage. Mit verständlicher Wut im Bauch gehen die Musiker ins Studio und nehmen spontan „Fuck Tha Police“ auf.

Der Track wird ein Hit, aber auf Tour gibt es, klar, Schwierigkeiten, weil, zum Beispiel in Detroit, die Polizei verbieten will, dass der Track performt wird. Sonst … Natürlich lassen sich N.W.A. das Rappen nicht verbieten und werden von dubiosen Gestalten von der Bühne gejagt. Draußen schreit das Publikum: „Fuck Tha Police“! CNN für Niggaz. Auftritt: Rodney King. Und dann die L.A. Riots von 1992. Trotzdem folgt auf den Erfolg die Ernüchterung, weil der (jüdische) Manager Easy E. zum Star machen will und die Kollegen übervorteilt, was zunächst nur der zornige Ice Cube bemerkt und die Crew verlässt, um an der Eastcoast noch zorniger zu rappen. Und mit der Nation of Islam zu liebäugeln, was dem Film aber nur eine Fußnote wert ist.

Ebenfalls nur eine Fußnote sind die ganzen, stets leicht bekleideten (weißen!) Chicks, mit denen Party gemacht wird, als gäbe es kein Morgen. Sexismus? Fehlanzeige! Die Jungs achten ihre Mütter, die stets das Beste wollen und sind auch sonst nur promisk, weil das Geschäft eben so läuft. Schließlich merken auch Easy E. und Dr. Dre, dass dem Manager nicht über den Weg zu trauen ist, aber da steht schon Beef mit den alten Kumpels im Raum. Man kommuniziert nur noch über Diss-Tracks, bis Easy E. in einem lichten Moment Ice Cube die Hand reicht. Versöhnung, Nigga? Dr. Dre, der eigentlich immer nur seine perfekten Beats schrauben wollte, hat plötzlich richtig unangenehme Freunde wie Suge Knight vom Death-Row-Label. Dessen Posse tut nicht nur so, als seien sie Gangsta.

Die haben Kampfhunde, echte Waffen und schlechte Manieren, während aus den Kulissen dann plötzlich Snoop Dog und Tupac auftauchen, die noch ganz am Beginn ihrer Karrieren stehen. Wobei die von Tupac ja eher kurz ausfallen sollte. Aber der Film konzentriert sich jetzt lieber auf Easy E., der plötzlich immer husten muss. Was dem bereits beschlossenen Comeback der Freunde den Garaus macht. AIDS, Mann! Scheiße! Jetzt wird der Film zum zweiten Mal ziemlich sentimental, denn als Dr. Dres kleiner Bruder starb, da war es Easy E., der ewige Treue und Zusammenhalt unter Brüdern beschwor. Keep it real! Fortsetzung folgt. Gern auch von der Eastcoast.

Staatsdiener

(D 2014, Regie: Marie Wilke)

Dein Freund und Helfer?
von Manfred Riepe

Zwei betrunkene Alte geraten in Streit. Der eine ruft die Polizei, weil sein Kumpel die Wohnung nicht verlassen will. Die Situation ist diffus. Trotz Pöbeleien und einem sich anbahnenden Handgemenge …

Zwei betrunkene Alte geraten in Streit. Der eine ruft die Polizei, weil sein Kumpel die Wohnung nicht verlassen will. Die Situation ist diffus. Trotz Pöbeleien und einem sich anbahnenden Handgemenge müssen zwei junge Beamte einen kühlen Kopf bewahren. Plötzlich hört man seitlich aus dem Off das charakteristische Geräusch eines Griffs in die Küchenschublade – und plötzlich ist ein Messer im Spiel: Die Szene ist gestellt, man spürt das irgendwie, doch ganz klar wird das erst im Nachhinein. Der Zuschauer wird mit den beiden verschrobenen Männern nämlich ebenso konfrontiert wie Auszubildende an der Polizeischule, die in realistisch anmutenden Simulationen auf den Berufsalltag vorbereitet werden.

Solche Darstellungen der Polizeiausbildung sind im Kino gang und gäbe. Sie werden immer wieder für ein Spiel mit Fiktion und Realität eingesetzt. Im James-Bond-Film „Sag niemals nie“ beispielsweise wird der Agent 007 zu Beginn von einer befreiten Geisel erstochen. Erst in der nächsten Szene wird klar, dass der Agent in einer simulierten Trainingssituation versagte und deshalb von seinen Vorgesetzten zur Kur geschickt wird.

Im Gegensatz zu solchen fiktiven Darstellungen gibt es in dem Dokumentarfilm „Staatsdiener“, der Auszubildende an der Fachhochschule Polizei in Sachsen-Anhalt beobachtet, keinen doppelten Boden. Eigentlich sollte Marie Wilke einen Imagefilm drehen, doch Werbung für die Polizei wollte sie nicht machen. Der Kontakt blieb, und so entschloss Wilke sich, die Ausbildung angehender Gesetzeshüter zu dokumentieren.

Mit der Kamera begleitet sie zwei Protagonisten, eine junge Frau und einen Russlanddeutschen, die sich bei Schießübungen und im Nahkampf bewähren müssen. Mit zur Ausbildung gehören auch militärisch anmutende Exerzierübungen, bei denen die angehenden Beamten einmal mit ihren Plexiglasschildern wie im Asterix-Comic die „Schildkrötenformation“ bilden. Im Theorieunterricht lernen die Gesetzeshüter sogar etwas über die problematische Rolle der Polizei während der Nazidiktatur. Wie zum Hohn müssen die Polizeianwärter ihres Praktikums bei der Bereitschaftspolizei dann Neonazis eskortieren, die mit dem Megaphon Hetzparolen verbreiten. Aber auch mit gewaltbereiten Hooligans, die nach dem Fußballmatch übel drauf sind, ist nicht gut Kirschen essen. Bei ihren ersten Einsätzen nach absolvierter Ausbildung schließlich rufen die frisch gebackenen Polizisten in einem sozialen Brennpunkt Betrunkene zur Räson, die ihre Frauen verprügeln oder nachts randalieren.

Das alles wirkt ziemlich ernüchternd. Wenn der junge Polizist einem verwirrten Hartz-IV-Empfänger den Rat gibt „Sie brauchen jemanden zum Reden, Herr Schwarz“, dann entsteht der Eindruck, dass der „Freund und Helfer“ bisweilen die Rolle eines Sozialarbeiters, ja gar eines Seelsorgers übernimmt. Man kennt solche Szenen aus einschlägigen Dokusoaps, in denen authentische Polizeibeamte zu filmischen Identifikationsfiguren verklärt werden. Von solchen Unterhaltungsformaten unterscheiden sich Wilkes Beobachtungen aber deutlich. Sie hat bei Harun Farocki studiert, dessen Stil des direct cinema man in „Staatsdiener“ wieder erkennt. Die Kamera fungiert als neutraler Beobachter, der durch seine Präsenz möglichst keinen Einfluss zu nehmen versucht. Dieses Konzept wird seit vielen Jahren intensiv diskutiert. Die spannende Frage, ob nicht jeder Dokumentarfilm durch den Prozess des Beobachtens grundsätzlich als Inszenierung zu werten sei, ist bis heute ungeklärt.

Unabhängig von dieser Fragestellung gelingt Wilke ein fesselndes Stück Kino. Ohne Off-Kommentare, Inserts, sonstige Erklärungen – und ohne Musikuntermalungen – entsteht eine zuweilen bedrückende Nähe zu den beiden Protagonisten. Sieht man in einem ihrer Einsätze eine große Blutlache auf den Boden, dann fiebert man aber trotzdem nicht wie üblich mit. Es geht nicht um den Affekt, sondern um nuancierte Beobachtung eines schwierigen Jobs, den nicht jeder machen möchte. Die Polizei kommt dabei relativ gut weg, doch ein Imagefilm ist „Staatsdiener“ trotzdem nicht. Man spürt deutlich, dass in permanenten Herausforderungen immer etwas aus dem Ruder laufen kann. Soll man einen übergriffigen Kollegen denunzieren, der im Gewühl einer Straßenschlacht einen Demonstranten niederknüppelte? Was denken die Kollegen über diesen Verrat? Neben solchen Problematiken, die von den jungen Polizisten immer wieder spontan angesprochen werden, erfährt man auch, dass die Bereitschaftspolizei „ein Männerverein“ ist. Im Stil einer unsichtbaren Beobachterin wirft Marie Wilke sehenswerte Blicke hinter die Kulissen der Polizeiausbildung. Dank der gelungenen Balance aus Nähe und kühler Unbeteiligtheit vermittelt der Film immer wieder das Gefühl, dass man nicht in der Haut dieser jungen Polizisten stecken möchte.

We Are Your Friends

(GB/F/USA 2015, Regie: Max Joseph)

Straight Outta San Fernando Valley
von Ulrich Kriest

Es ist schon ein lustiger Zufall, dass „We Are Your Friends“ und „Straight Outta Compton“ hierzulande gleichzeitig in die Kinos kommen. Zweimal Coming of Age-Geschichten im Musikbusiness, einmal Electronic Dance …

Es ist schon ein lustiger Zufall, dass „We Are Your Friends“ und „Straight Outta Compton“ hierzulande gleichzeitig in die Kinos kommen. Zweimal Coming of Age-Geschichten im Musikbusiness, einmal Electronic Dance Music, einmal HipHop, einmal fiktiv, einmal gewissermaßen dokumentarisch mit fiktionalen Anteilen, aber in Grundzügen durchaus verwechsel- oder austauschbar. Wie man als Künstler seine eigene Stimme findet. Wie man Realität in der Kunst abbildet. Wie man authentisch bleibt. Wie man Karriere macht. Wie man in Freundschaften loyal bleibt. Wie der Tod eines Freundes einen Verirrten wieder auf das richtige Gleis setzt.

„We Are Your Friends“ leistet sich im Gegensatz zu „Straight Outta Compton“ die Rolle eines Mentors (N.W.A. machen zwar HipHop, haben aber offenbar keine Vorbilder, sondern nur einen windigen Manager) und bietet statt der Bitches eine starke Frau als Tauschobjekt. Was „Straight Outta Compton“ „We Are Your Friends“ an „Realness“ voraus hat, mussten sich die Darsteller in Letzterem sich durch lustige Method Acting-Streiche draufschaffen: So bekam Mixmaster Zac Efron echten Turntable-Unterricht und damit die vier Freunde vier Freunde spielen konnten, mussten sie „ein langes Wochende“ gemeinsam in einem Haus im San Fernando Valley verbringen. Der Aufwand hat sich gelohnt! Here we go:

Erwachsenwerden ist auch im San Fernando Valley nicht einfach. Dauernd muss man Entscheidungen treffen, über deren Konsequenzen man sich erst nach und nach klar wird. Cole und seine besten Freunde Mason, Ollie und Squirrel haben sich gegen altmodische bürgerliche, auf Bildung basierende Karrieren entschieden. Lieber promoten sie Parties, auf denen Cole seine DJ-Talente beweisen kann. Gemeinsam träumt das Quartett von einem Leben jenseits der Valley-Tristesse. Doch der Durchbruch lässt auf sich warten, weshalb man sich zunächst noch mit Brotjobs durchschlagen muss.

Man könnte mitunter meinen, der Film erzählt davon, wie eine Generation junger, gut aussehender Menschen nächtliche Partys feiert, während tagsüber der neoliberale Kapitalismus seine Raubzüge auf dem Immobilienmarkt abwickelt. Doch weit gefehlt. Filmemacher Max Joseph hat seinen recht konventionellen Bildungsroman in die Welt der in den USA derzeit angesagten Welt der Electronic Dance Music verpflanzt, wo DJs auf der Suche nach dem perfekten Beat sind, der ihnen alle Türen öffnen wird, weshalb „We Are Your Friends“ nicht nur eine Geschichte übers Erwachsenwerden, Freundschaft und Loyalität ist, sondern auch ein Kunst- und Künstler-Diskurs gepflegt wird. Denn DJ Cole hat zwar so seine Theorien, was die Dramaturgie eines perfekten Sets angeht (Stichwort: 128 bpm), allerdings klingt seine Musik noch seinen Vorbildern zum Verwechseln ähnlich.

Da trifft es sich, dass er eines Abends zufällig dem weltberühmten und etablierten DJ James Reed trifft, der ihm, obschon selbst künstlerisch ausgebrannt und mit einem Alkoholproblem gesegnet, als Mentor wesentliche Impulse und Denkanstöße vermittelt. Denn Electronic Dance Music klingt zwar so, als sei sie lediglich computergeneriert, aber das bedeutet nicht, dass diese Musik nicht auch Soul haben muss. Folglich muss Cole lernen, seine eigene Stimme zu entwickeln und darauf zu hören, was die Welt ihm zu erzählen hat. Insofern unterscheidet sich ein DJ nicht von einem Jazz-Musiker oder einem Liedermacher, weshalb Reed ihm auch gleich noch die distinktiven Vorzüge analoger Klangerzeuger verklickert.

Doch der Weg zum verdienten Erfolg ist seit Wilhelm Meister bekanntlich mit Hindernissen und Erfahrungen gepflastert, die der Persönlichkeitsbildung dienen. Freundschaften wollen gepflegt sein. Dem schnellen Geld auf Kosten Dritter gilt es ebenso zu widerstehen wie der Versuchung durch die attraktive Freundin des Mentors. Und nicht zuletzt muss man lernen, dass auch Misserfolge zu einer Biografie gehören und dass es nicht hilft, sie zu verdrängen. Cole macht auf seinem Weg nach Oben allerlei Fehler, ist als Freund und Protegé nicht loyal und als potentieller Künstler selbstzufrieden und epigonal. Am Ende dann, nach schmerzhaften Lernprozessen, ist er in der Lage, die Massen mit einer Musik zu begeistern, die sich zwar noch nach Electronic Dance Music anhört, doch recht eigentlich den Gesetzen des Singer/Songwriter-Tums gehorcht. Cole bastelt an seiner Version einer quasi autobiografischen und ziemlich sentimentalen Tanzmusik, die seinen Werdegang und seine Erfahrungen auf geradezu lachhafte Weise quasi dokumentarisch fixiert.: Der Soundtrack des Lebens. Was natürlich nur er selbst (und die Zuschauer im Kino) wissen, die Zeuge einer sehr händischen (und letztlich komplett phantasielosen) Produktionsweise wurden.

Auf vielen Ebenen und durch unterschiedliche Figuren variiert und vermittelt, singt „We are your Friends“ so ein ziemlich konventionelles Lied von der Persönlichkeitsbildung, die dabei hilft, den »richtigen« Platz im Leben zu finden. Dass diese Geschichte von der Überwindung des bloß Hedonistischen zum Verbindlichen zum Sound einer Musik geschieht, die in den USA richtig populär und Mainstream-kompatibel erst wurde, als sie ihre kreative Originalität – bei der ersten Lektion, die Cole von James Reed erhält, fällt explizit der Name des Detroiter Underground-DJs Juan Atkins – hinter sich ließ, ist nicht nur für europäische Zuschauer hoch ironisch, sondern genau der neue Schlauch, in den hier ganz alter Wein für die Party People gefüllt wurde. Anders gesagt: Coles Erfolg mit seiner Musik ist gekoppelt an deren Kritik und Überwindung, was der Film selbst, der davon erzählt, leider künstlerisch nicht nachvollzieht, sondern lieber das Obsolete zum Beispiel durch allerlei Verfremdungseffekte und krause Animationen feiert.

Still the Water

(J / ES / F 2014, Regie: Naomi Kawase)

Von göttlicher Natur
von Wolfgang Nierlin

Das Meer vor der kleinen subtropischen Insel Amami-Ōshima im Süden Japans ist rau und gefährlich. Hohe Wellen branden an ihre Küste. Ein Toter mit tätowiertem Rücken treibt im Wasser, dessen …

Das Meer vor der kleinen subtropischen Insel Amami-Ōshima im Süden Japans ist rau und gefährlich. Hohe Wellen branden an ihre Küste. Ein Toter mit tätowiertem Rücken treibt im Wasser, dessen blaues Band die Horizonte markiert und den Himmel berührt. Den elementaren Kräften der Natur ausgesetzt, muss sich alles menschliche Wollen in Demut üben. „Wir sind nur ein kleiner Teil eines großen Kreislaufes“, sagt Naomi Kawase. Dieser Kreislauf ist für die renommierte japanische Filmemacherin „von göttlicher Natur“. Ihr Film „Still the water“ beginnt deshalb mit der minutiösen Schächtung einer Ziege. Eine Szene, die sich unter anderen Vorzeichen später wiederholt. Im Spiegel der Natur durchringen sich Leben und Tod unablässig.

Kyokos Mutter Isa (Miyuki Matsuda), eine Schamanin, ist todkrank und liegt im Sterben. Im Kreis ihrer Familie und mit Blick auf einen viele Hundert Jahre zählenden Baum erfährt sie Trost und Gelassenheit. Geborgen, fast glücklich erwartet sie, während ihr Angehörigen singen und tanzen, den „Herbstwind“, der sich schließlich zu einem Taifun auswachsen wird. Einmal fragt die 16-jährige Kyoko (Jun Yoshinaga), die den Sinn des Leidens nicht verstehen kann, ihren gleichaltrigen Freund Kaito (Nijiro Murakami): „Warum müssen Menschen geboren werden und sterben?“ Und antwortet sich selbst, als der schweigsame Junge, der unter der Trennung seiner Eltern leidet, keine Antwort weiß: „Es gibt keinen Grund.“ Ihre Mutter, Mittlerin zwischen Göttern und Menschen, hat für ihre Tochter aber einen Trost: Weil die Gedanken und Gefühle der Verstorbenen weitergegeben werden, sind die Leben über den Tod hinaus miteinander verbunden. Und dann sagt sie noch den rätselhaften Satz: „Die Götter sterben auch.“

In einem ganz ähnlichen, mehr innerweltlichen Sinn formuliert auch Kaitos Vater, der mittlerweile als Tätowierer in Tokio lebt und – als Pendant zur Natur verstanden – aus der flirrenden Metropole seine Energie bezieht, die Verbundenheit mit seinem Sohn. In ungewöhnlich offenen, ernsten und langen Gesprächen entfaltet Naomi Kawase in ihrem Film ein ganzes Universum von Zusammenhängen und Entsprechungen. Zugleich ist „Still the water“ ein visuell eindrucksvolles Filmpoem, in dem die Kräfte der Natur, der Kreislauf des Lebens und des Einsseins, das Miteinander der Menschen und die Magie der ersten Liebe einander durchdringen. Denn Kyoko, deren Element das Wasser ist, liebt Kaito, der zunächst das Meer ängstlich scheut. Behutsam und zurückhaltend erzählt Naomi Kawase eine Liebesgeschichte, die sich inmitten der Elemente und in den Tiefen der Natur schließlich erfüllt. Begleitet werden ihre jugendlichen Protagonisten dabei nicht zuletzt von einem weisen Alten.

Die getäuschte Frau

(D / NL / B 2015, Regie: Sacha Polak)

Das Märchen vom Ende der Straße
von Ulrich Kriest

Eine Straße, ein nicht allzu tiefer Kanal, ein roter Kleinwagen, eine verstörte Frau, ein neugieriger Gepard. Mit einem forciert rätselhaften Tableau beginnt der neue Film von Sacha Polak („Hemel“), dessen …

Eine Straße, ein nicht allzu tiefer Kanal, ein roter Kleinwagen, eine verstörte Frau, ein neugieriger Gepard. Mit einem forciert rätselhaften Tableau beginnt der neue Film von Sacha Polak („Hemel“), dessen Originaltitel „Zurich“ bewusst »offen« gehalten ist. Leider verrät der deutschsprachige Verleihtitel bereits die Ursache eines recht frei mäandernden Bilder- und Szeneflusses, die der Film selbst durch betonte Unbestimmtheit und A-Chronologie möglichst lange herauszuzögern versucht. Nach dem Auftakt folgt ein Insert: „Teil 2, Hund“. Eine Frau driftet mit seltsam ausdruckslosem Gesichtsausdruck durch Nicht-Orte wie Autobahn-Raststätten, Trucker-Kneipen und Motels. Sie scheint nirgendwo dazu zu gehören, sucht aber Gesellschaft und Nähe, ohne dabei Präsenz zu zeigen. Einmal nähert sie sich von hinten einem Unbekannten, riecht an ihm, legt schließlich die Arme um ihn und schmiegt sich an. Eine Verwechslung? Eher ein parasitäres Verhalten.

Beim Trampen lernt sie einen deutschen Trucker kennen, der sich auf sie einzulassen versucht. Als sie, die Nina heißt, einen Tag mit ihm und seinen Kindern verbringt, wird es am Abend beim Pizzaessen kritisch: „Wo wohnst du?“ „Hast du auch Kinder?“ „Und einen Mann?“ Schon vorher hatte Nina einen Tramper mitgenommen. „Sind Sie verheiratet?“ „Ich bin geschieden. Er hat mich verlassen. Er ist tot. Er ist gegen die Leitplanke gefahren.“ Es ist spannend zu registrieren, wie der Film rätselhaft bleiben will und gleichzeitig doch die Puzzleteile ausspielt, die dann im zweiten Teil des Films („Teil 1, Boris“) durchaus penibel zusammengesetzt werden, um dann eine Geschichte zu ergeben. Immer in Bewegung bleiben. „These boots are made for walking“, singt Nina, die sich wiederholt als Sängerin bezeichnet, in der Truckerkneipe, bevor sie ein Gesicht im Publikum zu erkennen glaubt. Oder sind das Phantasmagorien? Später, in einer Auseinandersetzung, wird sie (rhetorisch) gefragt: „Was ist los mit dir? Du machst immer dicht!“ Der Film tut es ihr gleich: er macht dicht und auch wieder nicht, denn „Kapitel 2“ erzählt die Folgen von „Kapitel 1“. Und das „Davor“ wird nachgereicht und verknüpft mit den Dingen des „Danach“, die vor uns ausgebreitet bzw. angespielt wurden. Passt – und hat gar nicht so viel Luft.

Der Gravitationspunkt des Films erzählt davon, wie es sich anfühlt, wenn die sicher geglaubte Doppel-Biografie einer gelungenen Partnerschaft nach dem Tod eines Partners sich als Fiktion darstellt. Nina verliert den Boden unter den Füßen und schaltet sich ab, macht dicht, sucht Nähe, aber gibt nichts. Man vergleiche einmal das Schauspiel der Nicht-Schauspielerin Wende Snijders (die tatsächlich eine Sängerin ist) mit Sandra Hüllers Fassungslosigkeit in Jan Schomburgs ganz ähnlich gelagertem „Über uns das All“! Viele Fragen, die Nina gestellt werden, beantwortet an ihrer Stelle dann nach und nach der Film! Und, nein, der Hund, den Nina entführt und „Hund“ nennt, damit das 2. Kapitel einen Titel bekommt, überlebt den Film ebenso wenig wie Boris, der Fernfahrer, der Nina »täuschte«. Und Nina selbst? Das surreale Anfangstableau des Films bleibt ungeklärt. Styx? Der Fluss des Straßenverkehrs, auch davon erzählt der Film in Worten und Bildern, bietet viele Möglichkeiten, ums Leben zu kommen. Manchmal eine Unachtsamkeit, manchmal eine Leitplanke, manchmal ein Baumstamm, manchmal der Lebensüberdruss. Die Straße gibt, die Straße nimmt. Truckerwissen in Transitländern zumal. Sacha Polak erzählt von den Mühen des Überlebens. Sakrale Musik einsetzend. Die Puzzleteile faszinieren, das fertige Bild wirkt etwas – prätentiös?

Gefühlt Mitte Zwanzig

(USA 2014, Regie: Noah Baumbach)

„Youth is wasted on the young!“
von Ulrich Kriest

Hat George Bernard Shaw gesagt, nicht etwa Oscar Wilde, wie man vermuten könnte. Says the internet. „74 is the new 24“ lautet der Titel eines Tracks auf dem neuen Album …

Hat George Bernard Shaw gesagt, nicht etwa Oscar Wilde, wie man vermuten könnte. Says the internet.
„74 is the new 24“ lautet der Titel eines Tracks auf dem neuen Album von Giorgio Moroder (75), der aber dann seine aktuellen Disco-Reminiszenzen doch lieber achselzuckend „Deja-vu“ überschrieben hat. „While We´re Young“ lautet der Originaltitel des neuen Films von Noah Baumbach, dessen deutschsprachiger Verleihtitel „Gefühlt Mitte Zwanzig“ die provozierende Offenheit des Originals leider nicht transportiert, sondern lieber interpretiert („gefühlt“). Man ist so jung, wie man sich fühlt? Oder: „Jetzt seid ihr dran, ihr jungen Hasen und Hüpfer!“ (Die Türen)

Erzählt wird die Geschichte von Josh und Cornelia Srebnick, einem bewusst kinderlos lebenden Mittvierziger-Paar, das mit mulmigem Gefühl erleben muss, dass alle gleichaltrigen Freunde plötzlich eine manische Lust am Nachwuchs packt, was diese fröhlich Richtung Regression treibt. Josh galt vor Jahren als Filmemacher-Talent, mittlerweile ist er Filmemacher mit einem Projekt. Cornelia ist Filmproduzentin und produziert die Arbeiten ihres berühmten Vaters. Aus Josh´ Arbeit hält sie sich heraus, aber das ist durchaus nicht als Krisenindiz zu werten. Ratlos und hilflos flieht das Paar mit dem routinierten Alltag in die Arme eines aufreizend kreativen Mitt-Zwanziger-Hipster-Paares, die irgendwie doch noch inspirierter drauf zu sein scheinen. Jamie macht was mit Medien, Darby ist unterwegs in Sachen „Bio-Eiscreme“.

Baumbach klopft diesen Clash der Generationen auf sein Komödienpotential ab und teilt dabei nach allen Seiten gleichermaßen aus: die Alten machen sich lächerlich, wenn sie mit dem Livestyle-Habitus der Jüngeren kokettieren, sich komische Hipster-Hüte kaufen oder HipHop-Choreografien draufschaffen, wo doch schon die Athritis droht. Die Jungen – Jamie und Darby – dagegen verabschieden sich aus der Gegenwart und feiern das, was die Älteren längst weggeworfen haben: Schreibmaschine, Schallplatten, VHS-Cassetten, Tape-Decks. Wenn Jamie allerdings von Survivors´ „Eye of the Tiger“ schwärmt, kann Josh ziemlich cool replizieren: „Ich kannte den Song schon, als er noch schlecht war.“ Das coole Pop-Wissen scheint den Hipstern abzugehen. Einmal bringt Josh es gegenüber Cornelia auf den Punkt, warum der Kontakt zu dem jüngeren Paar trotzdem befriedigend ist. Erstens: es sei doch gar nicht so lange her, dass sie selbst Mittzwanziger gewesen seien. Und, viel wichtiger, zweitens: „Zum ersten Mal fühle ich mich nicht wie ein Kind, das Erwachsene imitiert.“ Doch damit gibt sich Baumbach nicht zufrieden; er lädt seinen Film ideologisch auf, indem er die Ethik ins Spiel bringt. Josh ist nämlich Dokumentarist, der vor Jahren einen großen Erfolg hatte, jetzt aber schon viel zu lange an einem überambitionierten Nachfolgeprojekt arbeitet. Materialistisch, intellektuell und vor allem sehr lang soll der Film werden. „Ein Sechseinhalb-Stunden-Film, der sieben Stunden zu lang ist“, spottet Joshs Schwieger- und Übervater Leslie Breitbart, eine Art Frederick Wiseman-Figur. Auch Jamie möchte als Dokumentarfilmer arbeiten. Deshalb begegnet er Josh zunächst als erklärter Fan, wird dann zu einer Art Assistent, bevor er dessen „old school“-Ethik mit geschmeidig manipuliertem Material den Rang abläuft. Jamie hat die Zeichen der Zeit erkannt und lernt schnell. Seine Moral ist so indifferent wie sein Musikgeschmack.

Wie schon im Vorgängerfilm „Frances Ha“ spart Noah Baumbach nicht mit Verbeugungen vor Woody Allen. „Gefühlt Mitte Zwanzig“ spielt sehr erkennbar in Brooklyn. Neben dem „Stadtneurotiker“ und „Manhattan“ kommt diesmal über die Dokumentaristen-Schiene dessen Film „Liebe und andere Kleinigkeiten“ ins Spiel. Vielleicht sollte man es tatsächlich vermeiden, innerhalb einer Familie die gleichen Berufsfelder zu bekleiden. Doch der eigentliche Besetzungscoup von „Gefühlt Mitte Zwanzig“ ist die Besetzung der Rolle des Josh, Filmemacher mit politischem Selbstverständnis und Godard zitierender Lehrbeauftragter, mit Ben Stiller, denn diese Entscheidung setzt nicht nur eine Lawine an reizvollen intertextuellen Verweisen in Gang, sondern erlaubt einen neuen Blick auf die eigenwillige wie vielschichtige Karriere Stillers, die tatsächlich in einer Vielzahl von Genres und Genre-Hybriden um Fragen der Identität, der Männlichkeit, der Körperlichkeit und des Alterns zu kreisen scheint.

Stiller, der im November 50 Jahre alt wird, ist der Sohn der sehr, sehr bekannten Komiker Jerry Stiller und Anne Meara und schaffte sehr früh selbst den Einstieg ins Showbusiness. Nach den Stationen „Saturday Night Live“ und „MTV“ arbeitete Stiller als Schauspieler, Regisseur, Produzent, Drehbuchautor und Musiker und schaffte dabei nicht nur einen erstaunlichen Spagat zwischen derben Klamauk („Cable Guy – Die Nervensäge“) und ernsthaften Charakterrollen („Greenberg“ unter der Regie von Baumbach), sondern es gelang ihm überdies diese Spanne mit allerlei Abschattierungen und originellen Mischungsverhältnissen zu füllen. In Filmen wie „Verrückt nach Mary“, „Meine Braut, ihr Vater und ich“ oder auch „Nach 7 Tagen – Ausgeflittert“ stolpert Stiller als relativer Durchschnittstyp von einem Schlamassel ins nächste und kämpft unverdrossen und mit viel Körperkomik gegen sadistische Drehbucheinfälle. Einerseits dreht Stiller mit exzentrischen Filmemachern wie James Toback („Black and White), Wes Anderson („The Royal Tenenbaums“), andererseits ist er ganz selbstverständlich Teil der kindischen Blockbuster-Popcorn-Industrie („Madagascar“, „Nachts im Museum“) und natürlich auch im Fernsehen einschlägig präsent („Die Simpsons“, „Lass es, Larry!“, „King of the Hill“, „Family Guy“). Seine Unberechenbarkeit, sein Mut zur Selbstironie, ein unverhohlener Hang zur Geschmacklosigkeit und seine Nähe zur Pop-Kultur machen Ben Stiller zur Idealbesetzung gleichermaßen von Filmen wie „Starsky & Hutch“, „Zoolander“ oder eben auch „Gefühlt Mitte Zwanzig“.

Beschäftigt man sich etwas intensiver mit Ben Stiller, seinen Rollen und seinen Filmprojekten, dann fällt schon eine gewisse Befasstheit mit Fragen der Identität und den rites de passage auf. In seiner ersten Regiearbeit, dem „Generation X“-Porträt „Reality Bites – Voll das Leben“ (1994) spielt Stiller den ehrlichen Yuppie-TV-Produzenten, der das Dokumentarmaterial der mit dem Erwachsenwerden hadernden Jugendlichen ohne böse Absicht, aber auch ohne größere Bedenken an einen Musiksender weitergibt, der die autobiografischen Notizen in ein knalliges kulturindustrielles Produkt verwandelt. Unter den Bedingungen von 1994 ist die von Stiller gespielte Figur des Michael Grates ein Handlanger des Kapitals. Mit etwas mehr Abstand könnte er auch einfach etwas professioneller als die etwas narzisstischen jugendlichen Quertreiber gewesen sein. An Michael Grates und den selbstgefälligen Außenseiter Troy Dyer sollte man sich jedenfalls erinnern, wenn man jetzt „Gefühlt Mitte Zwanzig“ sieht – und wissen will, was mit der Jugendkultur in den vergangenen 20 Jahren geschehen ist.

„Gefühlt Mitte Zwanzig“ erzählt vom Altern der „Generation X“. Einer Generation, die noch ohne Internet und Social Media aufwuchs, aber gegen den Neoliberalismus der Reagan-Ära eine gewisse moralische Selbstverpflichtung in Anschlag brachte. Dass das heutzutage hinderlich geworden ist, belegt das »ewige« Filmprojekt von Josh, dessen komplexe Analyse des Kapitalismus vielleicht nur hilflos dessen Hybris dokumentiert. In Interviews hat Baumbach wiederholt ausgeführt, dass er sich nicht in der Figur von Josh wiederfinde, sondern eher im pragmatischen und manipulativen Jamie. Andererseits habe ihn an der Figur des scheiternden Dokumentaristen gereizt zu zeigen, wie es sich anfühlen mag, wenn man in einem gewissen Alter erfahren muss, dass der biografische Selbstentwurf nicht länger trägt. Eine Frage bleibt: Welche Rolle in diesem etwas unübersichtlichen Spiel spielt der berühmte Doyen des Dokumentarfilms Leslie Breitbart, dem die alten Ideale mittlerweile etwas am Arsch vorbei zu gehen scheinen? Oder täuscht das? Charles Grodin, der Breitbart spielt, ist Jahrgang 1935. Vielleicht hilft das weiter.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Gefühlt Mitte Zwanzig'.

Gefühlt Mitte Zwanzig

(USA 2014, Regie: Noah Baumbach)

Zurück in die Zukunft
von Manfred Riepe

Josh Screbnic reist zurück in die Zukunft. Doch diese Zeitreise unternimmt der New Yorker Intellektuelle nicht auf den Spuren des Terminators oder von Michael J. Fox in der gleichnamigen Komödie …

Josh Screbnic reist zurück in die Zukunft. Doch diese Zeitreise unternimmt der New Yorker Intellektuelle nicht auf den Spuren des Terminators oder von Michael J. Fox in der gleichnamigen Komödie von 1985. Der von Ben Stiller verkörperte Dokumentarfilmer will seine Jugend noch einmal erleben: Mit der dramatischen Komödie „While we’re young“ – deren deutscher Titel „Gefühlt Mitte 20“ leider in eine andere Richtung deutet – schreibt der New Yorker Autorenfilmer Noah Baumbach ein weiteres Kapitel seines autobiographischen Familienromans über Kulturmenschen, die an ihrer Kreativität leiden.

Danach sieht es zunächst nicht aus, denn Josh und seine Frau Cornelia vermitteln den Eindruck eines sorgenfreien, kulturell arrivierten Paars. Während Cornelia (Naomi Watts) die Filme ihres berühmten Vaters produziert, gibt Josh (Ben Stiller) an der Uni Seminare über Filmästhetik. Schnell wird aber klar, dass es im Leben der beiden zwei große Baustellen gibt. Cornelia hatte zwei Fehlgeburten. Unterdessen haben befreundete Paare ringsum Nachwuchs bekommen. Sie reden fast nur noch über ihre Kinder und werden dabei selbst infantil. Josh und Cornelia fühlen sich ausgeschlossen, sie haben das dumpfe Gefühl, etwas Wichtiges zu verpassen.

Sicher, als kinderloses Paar ist man ungebunden und könnte jederzeit nach Paris jetten. Doch das haben beide das letzte Mal 2006 gemacht. Mit spontanen Entscheidungen, die zweite große Baustelle, ist das nämlich so eine Sache. Seit acht Jahren hadert Josh mit der Fertigstellung seines neuen Dokumentarfilms. Kreativität unlimited. Doch dann lernen die beiden ein unbekümmertes Paar kennen, das gut zwanzig Jahre jünger ist. Darby (Amanda Seyfried) designt Eiscreme und ihr Mann Jamie (Adam Driver) scheint nicht zu wissen, wohin mit all seiner ungestümen Schöpferkraft. Josh ist begeistert – zumal Jamie sich als Fan seiner Dokumentarfilme ausgibt. Man verbringt viel Zeit miteinander. Doch die Frischzellenkur, bei der Josh sich seinem jüngeren Ich in Gestalt des quirligen Jamies immer mehr anzuverwandeln versucht, erweist sich bald als zweischneidig.

Solche überspannten, therapieresistenten Kulturmenschen porträtiert der Independent-Regisseur seit nunmehr zwanzig Jahren. Mit einem Seitenblick auf Woody Allens Stadtneurotiker kartographiert er die Symptome von Scheidungskindern aus dem New Yorker Intellektuellen-Milieu. Dabei fügen Baumbachs Filme sich zu einer autobiographischen Metaerzählung, die einen Grundkonflikt aus verschiedenen Perspektiven durchdekliniert. Schon 1995 inszenierte der früh vollendete 26-Jährige seinen ersten Film. „Kicking and Screaming“ dekonstruiert einschlägige Teenager-Komödien wie „Breakfast Club“ oder „Ferris macht blau“. Vier Freunde, einer davon Baumbachs Alter Ego, hadern nach dem High-School-Abschluss mit dem Erwachsenwerden. Sie trinken aber Whiskey wie gestandene Männer und gleiten dabei übergangslos in die Midlife Crisis: Kinder schlüpfen in die Rolle ihrer Eltern, die selbst Kinder geblieben sind.

Dieses Motiv variiert Baumbach in „Margot and the wedding“, ein komisches Drama, in dem Nicole Kidman als Lifestyle-Autorin glänzt. Sie nennt ihren pubertierenden Sohn Claude (nach Claude Chabrol) und redet mit ihm über ihre amourösen Probleme wie mit einem Gleichaltrigen. Diese Konstellation bestimmt auch „The Squid an the wale“, für dessen Drehbuch Baumbach sogar eine Oscar-Nominierung erhielt. Das Scheidungsdrama erzählt von einem Schriftstellerpaar, das sich – wie Baumbachs Eltern auch – trennt. Während die Mutter mit dem Tennislehrer des jüngeren Sohnes zusammen kommt, beginnt der Vater eine Beziehung mit der Schülerin, in die sein älterer Sohn verliebt ist.

Das Motiv dieser verhängnisvollen Konkurrenz zwischen Eltern und ihren Kindern, die ihre Rollen zu tauschen scheinen, wird auch in „Gefühlt Mitte Zwanzig“ aufgegriffen. Ben Stiller spielt einen Kreativen, dem die Kreativität zum Fluch wird. Wie schon in „Greenberg“ bürstet er dabei sein Image als Klamauk-Komiker gegen den Strich. Sein achtsündiges Filmprojekt, eine kopflastige Welterklärung, ist gefühlte siebeneinhalb Stunden zu lang. Diese Einschätzung ist umso bitterer, als sie von seinem Schwiegervater stammt, einem angesehenen Dokumentarfilmer. Mit Joshs Kreativität hapert es offenbar aus demselben Grund, aus dem auch seine Familienplanung stagniert. Die ödipale Konkurrenz mit dem Über-Schwiegervater, der den Platz „berühmter Dokumentarfilmer“ besetzt hält, lähmt. Ben Stiller spielt hier einen typischen Baumbach-Charakter: Einen akribische Prokrastinierer, der seine Zwanghaftigkeit kultiviert und in einer quälenden Rückkopplung zwischen Perfektionismus und Versagensangst stecken geblieben ist.

Neue Impulse bekommt Josh durch die Begegnung mit „der Jugend“, die bereits im Filmvorspann durch ein ungewöhnlich langes Zitat aus einem Drama von Ibsen angekündigt wird. Im gleichnamigen Stück hat der gealterte Baumeister Solneß Angst vor der Jugend, die ihn zugleich anzieht. Auch Josh empfindet diese Ambivalenz gegenüber dem jungen Studenten Jamie, ein prototypischer „Hipster“, der den festgefahrenen Mittvierziger zunächst sehr inspiriert. Während Josh mit diversem digitalen Schnickschnack krampfhaft dem Zeitgeist hinterher hechelt, lebt der aufgeweckte Mittzwanziger Jamie ihm vor, wie man in einer entschleunigten analogen Retro-Welt mit Vinyl, Dual-Plattenspieler und selbst gebasteltem Schreibtisch ganz entspannt im tatsächlich angesagte Hier und Jetzt lebt. Man schaut Video statt Netflix. Dir fällt ein Wort wie „Marzipan“ nicht ein und du willst es nebenbei mit dem IPhone googeln? So etwas ist out! Smartphones sind Zeitfresser! Natürlich hat Jamie auch keinen Facebook-Account – doch das ist eine vertrackte Geschichte (Spoiler).

Diese Regression in ein prä-digitales Zeitalter wird nicht ohne ironisches Blinzeln zelebriert. Vom Schreiben mit der mechanischen Schreibmaschine bis hin zu schamanischen Kotzpartys mit der Indianerdroge Ayahuasca dekliniert Baumbach die Top Ten der Zeitgeistphänomene spielerisch durch. Für Josh erscheinen diese Stilübungen zunächst inspirierend. Allerdings schlittert er unversehens in eine höchst seltsame Rolle. Er fühlt sich als Mentor des jungen Mannes – und ist doch gleichzeitig dessen gelehriger Schüler. Er wird gewissermaßen zum Sohn seines eigenen Sohnes.

Die Zeitreise zurück in eine Zukunft, die eigentlich eine konstruierte Vergangenheit aus Retrophänomenen ist, wird unter Baumbachs humorvollem Blick zu einer Quelle mannigfaltiger Irritationen und Paradoxien. Je mehr Josh sich abstrampelt, um sich seinem jüngeren Ich anzuverwandeln, desto eklatanter tritt die Differenz zutage. Als er versucht, auf dem Fahrrad mitzuhalten, wird er unversehens von einer schmerzlichen Arthrose im Knie ausgebremst. Schlimmer als diese körperlichen Defizite sind die unheimlichen Begegnungen der popkulturellen Art. Da sein junges Ebenbild Jamie sich mit seiner Piraten-Ästhetik alles aneignet, hört er irgendwann auch „Eye like a Tiger“, den Titelsong aus Sylvester Stallones „Rocky III“. Popmusik wird von Baumbach nicht nur illustrativ eingesetzt, sondern auch – wie in diesem Fall – als ironischer Ausdruck einer seltsamen Zeitverschiebung: Wie jeder kulturell sensible Mensch fand Josh den Ohrwurm von „Survivor“ schon damals, im Jahr 1982, als lärmend. Soll er dem seelenlosen Gassenhauer aus Jamies Retro-Perspektive nun etwas abgewinnen?

Mit dieser subtilen Zuspitzung des Zeitreise-Motivs rächt Baumbach sich auf ästhetisch hohem Niveau an einer Generation von Eltern, die keine Eltern sein wollen, weshalb deren Kinder den Schritt zum Erwachsenwerden immer weiter hinauszögern. Der Überflieger Jamie spiegelt Josh sein eigenes Symptom in umgekehrter Form wider. Ebenso wenig wie dem gutgläubigen Josh fällt dem Kinozuschauer dabei zunächst gar nicht auf, dass der junge Mann fast jede Szene beiläufig mit einer GoPro dokumentiert – trotz seiner proklamierten Techno-Abstinenz. Man übersieht das, weil Baumbach bewusst auf Film-im-Film-Szenen verzichtet. Er erzählt zwar eine Geschichte über drei Generationen von Dokumentarfilmern. Doch deren unterschiedliche Auffassungen über filmische Authentizität wird nicht im Stil postmoderner Selbstreflexivität thematisiert. Noah Baumbach ist nicht Atom Egoyan, statt prätentiöse Vexierbilder zu zeichnen, bleibt er stets dicht bei seinen Charakteren.

Dem sogenannten mumblecore, einem Subgenre des Independentfilms, bei dem mangelndes Budget durch dialoglastige Seelenenthüllungen kompensiert wird, ist der Regisseur mit diesem vergleichsweise aufwendigen New York Tableau nicht mehr zuzurechnen. Seinem entspannt dahinplätschernden Erzählstil ohne forcierte dramatische Höhepunkte bleibt er dennoch treu.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Gefühlt Mitte Zwanzig'.

Ant-Man

(USA 2015, Regie: Peyton Reed)

Gewagter Sprung von der Teppichkante
von Ricardo Brunn

Der schlaue Dr. Pym (Michael Douglas) pimpt den subatomaren Raum. Das von ihm kreierte Pym-Partikel ermöglicht es den Abstand zwischen den Atomen zu verringern und somit Lebewesen als auch Gegenstände …

Der schlaue Dr. Pym (Michael Douglas) pimpt den subatomaren Raum. Das von ihm kreierte Pym-Partikel ermöglicht es den Abstand zwischen den Atomen zu verringern und somit Lebewesen als auch Gegenstände zu schrumpfen. Doch schon bald erkennt er, dass die Erfindung für militärische Zwecke missbraucht werden soll. Er versteckt alle Unterlagen sowie einen für Verkleinerungen konzipierten Anzug hinter schwerem Stahl und zieht sich aus seiner eigenen Firma zurück. Sein ehemaliger Protegé Darren Cross (Corey Stoll) übernimmt daraufhin die Leitung des Unternehmens und will das Pym-Partikel auf eigene Faust herstellen, was ihm nach vielen Jahren und einigen Fehlversuchen schließlich gelingt. Nun benötigt Dr. Pym einen Helfer, der Cross daran hindern soll, das Verkleinerungsserum sowie den dazugehörigen Kampfanzug „Yellowjacket“ an die üblen Schergen von HYDRA zu verschleudern. An dieser Stelle kommt der soeben aus dem Gefängnis entlassene Elektrotechniker Scott Lang (Paul Rudd) ins Spiel, der seiner Tochter endlich ein gutes Vorbild sein will und sich von Dr. Pyms Plänen sowie dessen Ant-Man-Anzug überzeugen lässt. Auf Ameisengröße geschrumpft, macht sich Scott auf die Socken die Welt vor größerem Unheil zu bewahren.

Flugs entwickelt sich ein wilder Ritt, dessen Dynamik sich durch die beständig wechselnden Größenverhältnisse ergibt oder vielmehr ergeben soll. „Ant-Man“ kehrt die Gigantomanie der letzten Marvel-Verfilmungen sowie des aktuellen „Jurassic World“ (USA 2015; R: Colin Trevorrow) vermeintlich um und präsentiert uns einen Mikrokosmos, in dem Ratten und Modelleisenbahnen zu kolossalen Gefahren werden. An der bewährten Formel ändert sich also eigentlich nichts. Eine ins Negativ verkehrte Krawallorgie bleibt eine Krawallorgie, wenngleich die Dosierung hier tatsächlich angenehmer ausfällt. Aber so sehr „Ant-Man“ physische Fallhöhe mithilfe der blitzartigen Umkehrung von Groß und Klein zu erzeugen versucht, so sehr wurde das dramaturgische Gegenstück dazu vernachlässigt. Unter diesem Blickwinkel kann der Film als Metapher für das Grundproblem des gesamten Marvel-Cinematic-Universe (MCU) verstanden werden. Während sich in jedem neuen Film immer größere Gefahren übereinander türmen und dadurch eine dramatische Fallhöhe suggerieren, zerfallen die Dramaturgien der einzelnen Werke sowie die alle Filme verbindende Erzählung zu atomarem Staub.

Wie ein Suchbild im Micky-Maus-Heft mit vielen kleinen Hinweisen auf die Comics und Anspielungen auf noch folgende Teile taumeln die Filme (begleitet von einer endlosen Zahl an TV-Serien weiterer Superhelden) ihrem Finale im Jahr 2019 schematisch entgegen und vergessen darüber ihre Helden. So wie Scott eine halbgare Nebengeschichte um seine Tochter (die in der Comicvorlage todkrank ist) in der Hoffnung angedichtet wird ebenjene erzählerische Fallhöhe herzustellen, so unbeholfen fielen bereits die Avengers ihren ungelenken Backstory-Träumen in „Avengers: Age of Ultron“ (USA 2015; R: Joss Whedon) zum Opfer.
Paul Rudd spielt den Ameisenmann, für den viel zu wenig auf dem Spiel steht, mit einer Überdosis Selbstironie als humorvolle Version Ben Afflecks hölzern an die Wand. Ironie funktioniert eben nur dann, wenn sie die Figur nicht beschädigt. Sie bricht und stärkt als Mittel der Selbstvergewisserung den Charakter gleichermaßen. In ihrem inflationären Gebrauch stellt sie allerdings nur einen verzweifelten Versuch dar miserable Figurenzeichnung zu verschleiern. War die Selbstironie eines Tony Stark in „Iron Man“ (USA 2008, R: Jon Favreau) noch erfrischend, zeugt die Tendenz der aktuellen Marvel-Filme zur Selbstironie von erzählerischen Verlegenheit.

Und auch die visuelle Aufmachung von „Ant-Man“ ist – typisch Marvel – ein Einheitsbrei von solcher Einfallslosigkeit und Uneigenständigkeit, wie sie allgemein unter dem Vorzeichen der gegenwärtigen Serialitätsphantasien zum bemitleidenswerten Standard geworden ist. Die negativen Folgen einer wechselseitigen Beeinflussung von Kino und TV(-Serie) lassen sich derzeit nirgendwo besser beobachten als in den Superheldenfilmen der Marvel Studios. Jeder einzelne Film sieht genau so aus, wie ein Big-Mac schmeckt.

Die schlichte Frage, was aus „Ant-Man“ hätte werden können, wenn er außerhalb des Marvel-Concept-Stores als freie Adaption der Comicvorlage entstanden wäre, wenn das Spiel mit missratenen Verkleinerungsexperimenten („Die Fliege“; USA 1986; R: David Cronenberg) oder düsteren Ängsten davor ewig klein bleiben zu müssen („Die unglaubliche Geschichte des Mr. C“; USA 1957; R: Jack Arnold) tatsächlich ausgereizt worden wäre, dürfte angesichts des mittlerweile zwölften (!) Ablegers des Marvel-Cinematic-Universe ein defätistisches Abenteuer sein. In der aktuellen Versessenheit auf alles seriell Hergestellte bedeutet nichts zu wagen, den größtmöglichen Erfolg zu generieren. Dementsprechend wird uns ein Sprung von der Teppichkante als riskante Unternehmung verkauft.

Maidan

(UA / NL 2014, Regie: Sergei Loznitsa)

Aus dem Inneren des Protests
von Wolfgang Nierlin

Eine vielköpfige Menschenmenge, ein Meer aus Gesichtern, singt inbrünstig die sehr stimmungsvolle ukrainische Nationalhymne. Die unbewegte Kamera zeigt sie frontal, aus einer leicht erhöhten Position und bildfüllend. Vereinzelt werden Kopfbedeckungen …

Eine vielköpfige Menschenmenge, ein Meer aus Gesichtern, singt inbrünstig die sehr stimmungsvolle ukrainische Nationalhymne. Die unbewegte Kamera zeigt sie frontal, aus einer leicht erhöhten Position und bildfüllend. Vereinzelt werden Kopfbedeckungen abgenommen, Hände auf Herzen gelegt, Tränen verdrückt. Im Text dieses patriotischen Freiheits- und Heldenliedes werden der Zusammenhalt der Nation und die Gemeinschaft der Kosaken beschworen. In Sergei Loznitsas ebenso reduziertem wie konzentriertem Dokumentarfilm „Maidan“, der von Mitte November 2013 bis Mitte Februar 2014 die „Revolution der Würde“ auf dem titelgebenden Kiewer „Unabhängigkeitsplatz“ begleitet, strukturiert die Hymne gewissermaßen die Phasen der dramatischen Abläufe bis zu ihrer tödlichen Eskalation. Sie sagt uns aber auch etwas über die Mentalität eines Volkes, das sich hier in seiner Klage über die „kriminelle Bande“ „gesetzloser Blutsauger“ über alle Generationen und gesellschaftlichen Schichten hinweg vereint.

Über Wochen und Monate besetzen die Protestierenden mitten im Winter den zentralen Maidan-Platz, nachdem Präsident Wiktor Janukowytsch das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnet hat. Ihre Forderungen kulminieren schließlich in der Amtsenthebung des Staatsoberhauptes. Währenddessen organisieren sie den Widerstand, errichten Zeltlager und Suppenküchen und mit der zunehmenden Verschärfung der Proteste bald auch Barrikaden. Dabei fällt auf, wie geduldig, konzentriert und einvernehmlich die Menschen zusammenwirken. Plakate werden gemalt, Tee wird verteilt, Sprechchöre skandieren „Nieder mit der kriminellen Bande!“, während auf der entfernten Bühne Dichter patriotische Lyrik vortragen und Geistliche das ungerechte System anklagen sowie Reue fordern. Als der Platz geräumt werden soll und bald darauf der Straßenkampf beginnt, werden Pflastersteine ausgebuddelt und in langen Ketten zur „Frontlinie“ durchgereicht.

Der international renommierte Filmemacher Sergei Loznitsa liefert mit seinem Film eine Innensicht der Ereignisse, die er aus großem Abstand, quasi von den Rändern aus beobachtet. In langen, teils „indirekten“ Einstellungen dokumentiert er den Revolutionsalltag, seine Normalität, die jenseits der bekannten Nachrichten- und TV-Bilder stattfindet. Außer wenigen kurzen Zwischentiteln verzichtet er dabei auf erklärende Kommentare oder Interviews. Während er eine Chronik der zunehmend gewalttätiger werdenden Ereignisse schildert, stehen vielmehr das Volk, sein kollektiver Widerstand und seine Solidarität im Mittelpunkt. Und dabei bleibt auch nicht aus, dass die alten Begriffe von Ruhm, Ehre und Nation beschworen werden. Am Ende sind über hundert Tote zu beklagen, doch „Helden“ – so die Trauernden – „sterben nie!“ Gerade diese Sichtweise sowie die Rückschau auf die Ereignisse vom Maidan und deren politisch-kriegerischen Folgen erneuern die stetige Frage nach dem Sinn von Gewalt.

Unser kurzes Leben

(DDR 1981, Regie: Lothar Warneke)

Wohnungen ohne Stadt
von Wolfgang Nierlin

„Architekten schaffen Raum für das Leben“, lautet einer der ersten Sätze des Films. Geäußert wird er von einem Professor namens Reger (Dietrich Körner), der für sein visionäres, funktionsübergreifendes Bauen, das …

„Architekten schaffen Raum für das Leben“, lautet einer der ersten Sätze des Films. Geäußert wird er von einem Professor namens Reger (Dietrich Körner), der für sein visionäres, funktionsübergreifendes Bauen, das die Begriffe Leben und Wohnen zusammen denkt, bekannt, bei manchen auch berüchtigt ist. „Häuser zu bauen, die ihren Bewohnern das Gefühl von Freiheit und Würde geben, lautet insofern auch das hehre Ideal seiner gelehrigen Schülerin Franziska Linkerhand (Simone Frost). Die 26-jährige, noch ziemlich jung und sehr energisch wirkende Diplom-Architektin strebt aber nach Unabhängigkeit und sucht mutig das „Risiko statt Sicherheit“. Dafür will sie sich weder in Geduld üben noch vorschnell klein beigeben. Franziska stellt Forderungen an sich und an das Leben, möchte bleibende Werte schaffen. Jedoch fühlt sie sich zugleich „mies, alt und verbraucht“. Nacht acht Jahren ist ihre früh eingegangene Ehe mit dem Arbeiter und Trinker Wolf (Uwe Kockisch) gescheitert. Desillusioniert konstatiert sie: „26 Jahre und noch nicht gelebt, nur geträumt.“

Lothar Warneke inszenierte die ersten Szenen seines 1980 entstandenen Films „Unser kurzes Leben“ vor der im Dunst liegenden barocken Stadt-Silhouette Dresdens (worüber neben anderem seine Szenaristin Regine Kühn im Audiokommentar der DVD Auskunft gibt). Entstanden nach Motiven von Brigitte Reimanns unvollendet gebliebenem, posthum 1974 erschienenem Entwicklungsroman „Franziska Linkerhand“ sowie in die Gegenwart verlegt, bricht die idealistisch gesinnte Heldin auf in die Provinz einer mittleren Kreisstadt der DDR, um in einer Mischung aus Unbeugsamkeit und früher Desillusionierung noch einmal von vorne anzufangen. Bezeichnenderweise führt sie ihr Weg zur neuen Arbeitsstelle über den örtlichen Friedhof, wo ein steinerner Engel zum stummen Zeugen und irgendwie auch Tröster ihrer Kämpfe wird.

Dass die von Buch und Film thematisierte Diskussion um ein menschenwürdiges Wohnen schließlich auch die innere Problematik der sozialistischen Gesellschaftsordnung spiegelt, erläutert Lothar Warneke in einem kurzen Zeitzeugengespräch, das sich ebenfalls auf der DVD findet. Demnach bewegt sich der Konflikt zwischen den von der Politik formulierten sozialen Ansprüchen und den begrenzten Möglichkeiten einer „Mangelgesellschaft“. Anschaulich wird das am industriellen Wohnungsbau, der sich mit seiner rein funktionellen Ausrichtung an den Rändern historischer, zunehmend verfallender Altstädte ausbreitet. Genau an dieser kontrastreichen historischen Schnittstelle, an der „Wohnungen ohne Stadt“ entstehen, setzt Franziskas kritische Auseinandersetzung mit ihrem bereits ernüchterten und angepassten Vorgesetzten Horst Schafheutlin (Hermann Beyer) an.

Überraschend offen wird dieser Konflikt um „die Stadt als Kulturvermittlerin“ ausgetragen, wobei Hoffnungen enttäuscht werden, ohne deshalb zu verschwinden. Darüber hinaus vermittelt der soziale Realismus des Films eine detaillierte Ansicht des gesellschaftlichen Lebens, insbesondere in Bezug auf die Situation der Frauen. Zwischen Aufbruch und Desillusionierung, Idealismus und Resignation spricht der Film mit der Stimme seiner Heldin über den Mut zur Veränderung und zugleich über die Vergänglichkeit aller Bemühungen im Strom der Zeit.

About a Girl

(D 2014, Regie: Mark Monheim)

Generation X 2.0
von Manfred Riepe

Sie ist erst 15, doch der Tod steht ihr gut. An den Wänden von Charleens Kinderzimmer hängen Poster diverser Rockstars, die Suizid verübten. Und wenn es regnet, dann hört das …

Sie ist erst 15, doch der Tod steht ihr gut. An den Wänden von Charleens Kinderzimmer hängen Poster diverser Rockstars, die Suizid verübten. Und wenn es regnet, dann hört das Girlie schwermütige Botschaften auf sich herabtropfen. Ihr Berufspraktikum absolviert sie, natürlich, beim Bestatter, der auf den abendlichen Gruß „Bis morgen“ stilecht antwortet: „Wer weiß?“ Auch mit ihrer Familie steht es nicht zum Besten. Der Vater ist irgendwann durchgebrannt, weil er Musiker werden wollte. Und ihre Mutter wird gespielt von Heike Makatsch. Da kann man schon irgendwie verstehen, dass das Mädchen mit den Fön in die Badewanne geht.

In seinem Debütfilm, bei dem er auch am Drehbuch partizipierte, erzählt Mark Monheim die wechselvolle Geschichte eines Selbstmordversuchs, der eine labile 15-Jährige auf Umwegen ins Leben zurück führt. Dem Filmemacher schwebte eine freche Teenie-Komödie vor, die die Fallstricke biederer Pädagogik mit schwarzem Humor zu unterlaufen versucht. In den besseren Momenten gelingt das. Statt im Jenseits landet die Lebensmüde nach stümperhaft gescheitertem Suizidversuch nämlich im Krankenhaus. Als registrierte Selbstmordkandidatin müsste sie eigentlich schnurstracks in die Psychiatrie, wo sie mit Pillen voll gestopft wird. Glücklicherweise kennt ihre Mutter den Krankenhausarzt, der sie an einen eigenwilligen Psychiater verweist.

Nikolaus Frei als unkonventioneller Seelenklempner, der während der Sitzungen schon mal ein Stück Torte verdrückt, zählt zu den Lichtblicken dieses Films, der leider in den Detailbeobachtungen nicht ganz zu überzeugen vermag. In der Rolle von Charleens Mutter ist die tranige Heike Makatsch zu sehen, die als gefühlte Christine Neubauer in einem ansehnlichen Haus lebt – obwohl sie ihr Einkommen nur als „Ebay-Powesellerin“ verdient. Sie wirkt dabei so unglaubwürdig wie Aurel Manthei als leise tretender Altrocker-Vater, der irgendwann wieder auftaucht und in seinem Kombi vor dem Vorgarten nächtigt. Eine hölzern konstruierte Konstellation, die einen an einschlägige Fernsehfilme zur Hauptsendezeit erinnern.

Dennoch. „About a Girl“ überrascht mit Szenen, die das düstere Thema von der Seite anschneiden. In der sich anbahnende Liebesbeziehung zwischen Charleen und Sandro Lohmann als nerdigem Streber gelingen anrührende Momente. Nett anzusehen sind auch die Szenen, in denen Charleens kleiner Bruder nachsehen muss, ob im Zimmer der potentiellen Selbstmordkandidatin alles im grünen Bereich ist. Der Kleine hat aber keine Lust, sich den biestigen Launen der großen Schwester auszusetzen und versucht sich jedes Mal für sein eindringen rechtfertigen. Dabei ist dem armen Jungen schlimmer zumute als der vermeintlichen Todeskandidatin.

Solche witzigen Umkehrungen haben es in sich. Der Film gewinnt hier durch seine Bescheidenheit, die ihm in anderen Aspekten leider abgeht. So ist bereits der Titel ein Verweis auf den gleichnamigen Song jener legendären Popgröße Kurt Cobain, der bekanntlich Hand an sich legte: Geht es nicht eine Nummer kleiner? Überdimensioniert erscheint auch die Besetzung der Hauptrolle mit Jasna Fritzi Bauer. Sie zeigt eine beeindruckende Darstellung, doch genau das ist das Problem. Die inzwischen 26-Jährige kann (trotz ihrer kindlich-pausbäckigen Gesichtszüge) nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie zu reif und zu reflektiert erscheint, um das heillose Gefühlschaos einer 15-Jährigen glaubhaft zu verkörpern.

Das ist schade, denn die Geschichte ist eigentlich interessant. Es geht um die spannende Thematik der Initiation. In primitiven Kulturen ebenso wie in Industriegesellschaften muss der Novize eine symbolische Todeserfahrung durchleben, um die Kindheit hinter sich zu lassen und als sexuelles Wesen wiedergeboren zu werden (eine vulgäre Version davon ist die Mutprobe). Charleen hat das mit dem Tod allerdings etwas zu wörtlich genommen. Streckenweise ist das originell erzählt, und man möchte dranbleiben. Doch jedes Mal, wenn man sich eingelassen hat, folgt schon der nächste filmische Fauxpas. So will Charleens Vater am Ende seine Gefühle ausdrücken, doch ihm fehlen die Worte. Also greift er zu seiner alten E-Gitarre, was im Prinzip OK ist. Allerdings befinden beide sich im Zimmer der kürzlich verstorbenen Großmutter. In dem, wie es der Zufall will, gerade ein – angeschalteter – Gitarrenverstärker steht, in den der Vater ganz beiläufig die Gitarre einstöpselt. In Momenten wie diesen verspielt der Film seine Sympathien.

Himmelverbot

(RO / D 2014, Regie: Andrei Schwartz)

Unzuverlässige Freundschaft
von Ricardo Brunn

In knappen Sätzen, die er offenbar schon so oft wiederholt hat, dass sie wie auswendig gelernt klingen, beschreibt Gabriel Hrieb seine Tat. Aus Wut über eine Äußerung zu seinen jüdischen …

In knappen Sätzen, die er offenbar schon so oft wiederholt hat, dass sie wie auswendig gelernt klingen, beschreibt Gabriel Hrieb seine Tat. Aus Wut über eine Äußerung zu seinen jüdischen Wurzeln hat er eine Staatsanwältin und deren Mann ermordet und wurde anschließend zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach einer Gesetzesänderung wird Hrieb nach 21 Jahren unerwartet auf Bewährung entlassen und steht mit ein paar Geldscheinen in der Hand vor dem Gefängnistor und der Aufgabe ein neues Leben zu beginnen, in welches das alte wie ein ungebetener Gast des Öfteren eintreten wird. Auf seinem Weg, der zugleich ein Weg in das postkommunistische Rumänien ist, wird der hagere Mann, den alle nur liebevoll Gabi nennen, von Andrei Schwartz begleitet. Der Filmemacher hatte den Straftäter vor zehn Jahren für seinen Dokumentarfilm „Geschlossene Gesellschaft“ (RO/D 2005) schon einmal vor der Kamera. Die Lebensgeschichte Gabis hat den Regisseur nie ganz losgelassen und so ist über die Jahre hinweg eine Freundschaft entstanden, die in „Himmelverbot“ zum zentralen Thema wird.

Wieder auf freiem Fuß begibt sich Gabi auf die Suche nach Arbeit, spürt dem verschollenen Vater nach und versucht das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter in den Griff zu bekommen. Er wirkt dabei so unbedarft wie ein Zehnjähriger in der Haut eines erwachsenen Mannes. Als seine Mutter eine Jacke mit Michael-Jackson-Motiv aus dem Schrank im beengten Schlafzimmer der viel zu kleinen Wohnung kramt und davon ausgeht, dass ihr Sohn diese nach all den Jahren noch anziehen würde, steht dieser nur verlegen neben ihr und bemerkt, dass Michael Jackson vor einigen Jahren gestorben sei. Die Irrwege des Lebens, die enttäuschten Hoffnungen, das Driften der Menschen seit den unbeständigen Jahren der Revolution von 1990, in denen sich eine feste demokratische Ordnung nie hat etablieren können, zeichnet „Himmelverbot“ in seinen schönsten Momenten ganz beiläufig und unaufdringlich nach. Über die Freundschaft zwischen Regisseur und Protagonist entstehen dabei Momente großer Intimität.

Wie schwierig ein derart freundschaftliches Verhältnis für einen Film sein kann, zeigt sich, als Schwartz seinem Schützling in Deutschland zu Arbeit verhilft und sich parallel dazu herausstellt, dass dieser den Filmemacher in einem zentralen Punkt seiner Lebensgeschichte anscheinend belogen hat. Ganz Dokumentarist begibt sich Schwartz auf Spurensuche. Doch ist die Lüge, die von nun an im Zentrum steht, an sich kaum der Rede wert. Sie passt einfach in die Welt von Gabi, ist ein Spiegelbild seiner Lebensumstände. Wesentlich interessanter ist die Frage nach dem Verhältnis des Regisseurs zu seinem Protagonisten. Denn dass der Film vor allem aus Freundschaft heraus entsteht, wird mehr und mehr zum Problem. Fallengelassene Handlungsstränge um die ehemalige Freundin oder die familiäre Situation Gabis erzählen davon genauso wie die offensichtlichen Versuche des Regisseurs, seinem Protagonisten eine Beichte in Bezug auf seine Tat abringen zu wollen.

Zwar nimmt sich der Regisseur selbst ins Visier, weil er unverblümt zugibt, seinem Protagonisten aufgesessen zu sein. Was „Himmelverbot“ leider vermissen lässt, ist eine mutigere und damit konsequentere Revision der Herangehensweise, der filmischen Mittel und einer damit verbundenen Analyse der für den Dokumentarfilm so spannenden Frage nach der oftmals heiklen Beziehung von Filmemacher und portraitierter Person. Es ist eine Frage nach den Grundsätzen, die ein Regisseur im Zusammenspiel mit seinen Protagonisten aufstellt und wie er sie einzuhalten gewillt ist. Werner Herzog hat dieses Problem und zugleich seine Lösung einst bemerkenswert klar in einem einzigen Satz zu Beginn seines Filmes „Into the Abyss“ (USA 2011) zusammengefasst: „When I talk to you, it does not necessarily mean, that I have to like you.“

Zwischen Welten

(D 2013, Regie: Feo Aladag)

Die Diebin von Kundus
von Ricardo Brunn

Es ist eine recht einfältige Übertragung des Filmtitels ins Visuelle: Hauptmann Jesper (Ronald Zehrfeld) läuft am Strand entlang, die Kamera zeigt im Vordergrund unscharf das Wasser, dahinter den Strand und …

Es ist eine recht einfältige Übertragung des Filmtitels ins Visuelle: Hauptmann Jesper (Ronald Zehrfeld) läuft am Strand entlang, die Kamera zeigt im Vordergrund unscharf das Wasser, dahinter den Strand und eben Jesper, der gewissermaßen auf der geografischen Grenze von beidem vor etwas davon und nirgendwohin joggt. Ein Wandler zwischen den Welten. Ein deutscher Soldat, der seinen Bruder im Einsatz verloren hat und nicht mehr weiß, wo er hingehört, nur um kurz darauf in Kundus zu landen. Mit seiner Einheit soll er hier ein afghanisches Dorf vor Angriffen schützen.

Auf dem Weg dorthin schöpft „Zwischen Welten“ weiter kräftig aus dem Gestaltungskanon einer Metaphorik des Dazwischen. Eine Parallelmontage führt Jespers afghanischen Übersetzer Tarik und dessen Schwester Nala ein. Tarik hilft den unerwünschten Besatzern und bringt damit sich sowie seine Schwester in große Gefahr, denn eine Ausreise nach Deutschland wird den beiden von den Behörden verwehrt. Tariks Schwester Nala studiert, obwohl sie eigentlich arbeiten sollte, was ihr die Verachtung der Einheimischen einbringt. Das Verortungsdilemma der Protagonisten wird durch unterschiedliche Transitmomente im Laufe des Filmes zusätzlich verdeutlicht: Busse, Motorräder, gepanzerte Fahrzeuge; ständig ist irgendwer irgendwohin unterwegs oder wartet auf irgendetwas. An einer Bahnschranke begegnet Tarik deutschen Soldaten und natürlich ist die Schranke, die wiederholt prominent in Szene gesetzt wird, zugleich als Symbol für den Übergang ins Jenseits lesbar. Irgendjemand wird also früher oder später über den Jordan gehen müssen.

Sehr schnell und sehr deutlich tritt hinter dieser aufwändig dekorierten Fassade die Haltung von Feo Aladag zu Tage. Der Umgang mit den Helfern vor Ort ist ein bürokratisches Tragödienspiel. Der Sinn des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan ist fragwürdig, weil die Soldaten auf verlorenem Posten zwischen Helfen und Zusehen stehen. Und wer das alles nicht gleich kapiert, dem wird in Dauerschleife vor Augen geführt, dass die Übersetzungsarbeiten Tariks als Sinnbild für den missglückenden interkulturellen Dialog zu verstehen sind.

„Zwischen Welten“ möchte einen möglichst exakten Einblick in die kulturellen Spannungen geben und die Regisseurin erzählt uns in Interviews einen vorm Pferd über die Authentizität des Ganzen, weil sie in Afghanistan mit Afghanen und nicht mit türkischen Darstellern in Marokko gedreht hat. Weil das Filmteam im ISAF-Camp gewohnt hat und alle Darsteller vor dem Dreh ein Militärtraining absolvieren mussten. Und diesen ganzen Mist glaubt dann zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung unter dem Titel „Schlaflos ist der Racheengel“, weil es ja im Presseheft steht.

Nun ist all dies aber eben nicht Ausdruck von Authentizität, denn so wie eine Masse an vermeintlich authentischen Details als Ganzes falsch sein kann, so ist es für die Wahrnehmung des Filmes durch den Zuschauer vollkommen unerheblich, wo oder unter welchen Bedingungen der Film entstanden ist. Während „Zwischen Welten“ also vehement Wahrhaftigkeit simuliert, fehlt es im Kern an Reflexionsvermögen.

Diese Unzulänglichkeit offenbart sich zuallererst einmal in Jespers Kollegen, die erschreckend farblos gezeichnet sind. Wie collateral damage streifen sie durch den Film und bleiben nahezu die gesamte Zeit über stumm, da sie sonst Gefahr laufen würden, eine Wahrheit abseits des Presseheftes zu formulieren. Die Uniform muss sauber bleiben! Vielleicht sind die Kampfszenen, die gern so kraftvoll wie in Kathryn Bigelows „The Hurt Locker“ (USA 2011) wären, deshalb so dürftig inszeniert. Vielleicht kommen die Dialoge mit den Einheimischen deshalb über plakative Phrasen wie „Wer seid ihr, dass ihr denkt Afghanistan zu kennen.“ oder „Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit“, die man schon aus anderen medialen Aufarbeitungen des Krieges zu kennen meint, kaum hinaus. Und vielleicht wird der dreckige Tod in „Zwischen Welten“ deshalb mit einer kitschigen Weißblende verharmlost.

Eine ausgelassene Party von Jesper und seinen Kameraden in Frauenunterwäsche weist beachtliche Parallelen zu einer Szene in „Jarhead“ (USA 2010; R: Sam Mendes) auf. Ausgelassen wird sich im Vollsuff die deutsche Staatsflagge durch den Schritt gezogen und gegrölt. Doch was als Tabubruch inszeniert ist, wird seiner vermeintlichen Brisanz gerade dadurch beraubt, dass die Soldaten die Flagge für einen guten Zweck – nämlich Völkerverständigung – entweihen. Mit ihrem Tanz sammeln sie Geld für einen Einheimischen.
An späterer Stelle wird Jesper, ebenfalls der Völkerverständigung wegen, einen Befehl nicht ausführen, was in der dramaturgischen Entwicklung wie auch der moralischen Bedeutung sehr an die von Max Riemelt begangene Gehorsamsverweigerung in „Auslandseinsatz“ (D 2012; R: Till Endemann) erinnert.

Vielleicht ist das alles nur Zufall, doch je länger der Film dauert, umso größer werden die Zweifel an der Originalität und damit an der Glaubwürdigkeit dieses Werkes. Wirklich bemerkenswert ist nämlich eine Szene, in der sich eine Kuh im Stacheldraht verfangen hat. Die Soldaten erlösen sie von ihrem Leid, nur um kurz darauf vom afghanischen Besitzer eine Wiedergutmachung in Höhe von 500 Dollars auferlegt zu bekommen. Exakt die gleiche Szene findet sich im Dokumentarfilm „Restrepo“ (USA 2011; R: Tim Hetherington, Sebastian Junger) über eine Einheit amerikanischer Soldaten, stationiert in einem afghanischen Tal. Nach etwa 40 Minuten Spielzeit kommen die drei Dorfältesten ins Camp der Soldaten und fordern in nahezu identischem Wortwechsel wie er in „Zwischen Welten“ zu hören ist, 500 Dollars für eine tote Kuh, die sich im Stacheldraht verwickelt hatte und deshalb von den Soldaten getötet wurde.

Es stellt sich am Ende von „Zwischen Welten“ unweigerlich ein Gefühl der Beklommenheit gegenüber den Intentionen der Regisseurin ein. Viel zu plakativ trägt sie jene vor sich her, viel zu wenig lassen sie sich zwischenzeilig erspüren. Ohne es zu wollen, ist „Zwischen Welten“ Ausdruck einer Politik, die Authentizität mit der Inszenierung von Authentizität beharrlich verwechselt, die sich in der Wiederholung eingängiger Phrasen der Glaubwürdigkeit derselben versichern möchte.

Wiederholung und Kopiervorgang bedürfen allerdings keiner Eigeninitiative, keiner Kreativität. Sie verhindern im Gegenteil jede aufrichtige Reflexion. Die eigene Haltung kann so nur ein Patchwork an bereits vorgefertigten und unanfechtbar richtigen Meinungen sein. Aladag ist die perfekte Regisseurin für diese Politik. Eine Regisseurin der Mitte. Ihre Absicht ist immer gut, das Risiko minimal, das Ergebnis 'alternativlos'. Dass das Dazwischen, in der Kunst wie in der Politik, nur ein Ort des Ungefähren und der guten Absichten ist, muss sich ihr folgerichtig entziehen.

Slow West

(GB / NZ 2015, Regie: John Maclean)

Arbeit am Mythos
von Wolfgang Nierlin

Der ausgedehnte Raum und die strapaziöse Bewegung darin sind Grundkonstanten des Wildwestfilms. Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben streben die Siedler, dem Verlauf der Frontier folgend, von Ost nach …

Der ausgedehnte Raum und die strapaziöse Bewegung darin sind Grundkonstanten des Wildwestfilms. Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben streben die Siedler, dem Verlauf der Frontier folgend, von Ost nach West. Sie lassen die Heimat zurück, um ihr altes Leben gegen die Ungewissheit eines neuen zu tauschen. In John Macleans mythologischem Spätwestern „Slow West“, der die Bewegung der Glückssucher aufnimmt, bleibt der Raum und seine Geographie jedoch eine weitgehend undefinierte Größe. Seine unerforschte Weite ist lediglich gegliedert durch archetypische Haltepunkte (wie z.B. eine Handelsstation), die von mythologischen Figuren besetzt sind. Wenn sich der 16-jährige Jake Cavendish (Kodi Smit-McPhee), ein kultivierter, aber noch unerfahrener Schotte vornehmer Herkunft, auf der Suche nach seiner geliebten Freundin Rose Ross (Caren Pistorius) in der Neuen Welt bewegt, folgt er einem Kompass. Doch sein erster Blick gilt den fernen Weiten des Sternenhimmels.

Jake ist nämlich nicht nur unerfahren und schutzlos, sondern auch gebildet und zuversichtlich. In ihm lodert ein unerschrockener, vielleicht naiver Pioniergeist, der von mitgeführter Ratgeber-Literatur zusätzlich befeuert wird. Wenn er durch die Rauchschwaden eines niedergebrannten Indianerdorfs hindurch förmlich den Mythos betritt, um seinem zukünftigen Beschützer und Begleiter zu Begegnen, ist er mit Asche bedeckt. Silas Selleck (Michael Fassbender) wiederum, ein grober Kerl und zynischer Loner, verkörpert den Gesetzlosen unter Gesetzlosen. Umgeben von armen Glückssuchern, mordenden Kopfgeldjägern und wilden Indianerhorden, rückt mit ihm das biologistische Gesetz des Stärkeren im Kampf ums Überleben in den Mittelpunkt. Der Raum, nur von vagen Himmelsrichtungen markiert, wird zu einer absurden, anarchischen Größe. Gemessen am Elend, ist es demnach im Osten kaum besser als im Westen, wären angeblich hier nicht die Träume beheimatet.

Dass die Zivilisation irgendwann dann doch kommen muss, wie Rose nach einem ebenso großartigen wie blutigen Showdown meint, kann man kaum glauben. Die Suchbewegung der beiden gegensätzlichen Helden, die wider Willen und durch Schuld hindurch voneinander lernen, kommt darin zu einem tragischen Ende. In wenigen, wechselnden Monologen, in merkwürdigen Begegnungen, Träumen und Erinnerungen erzählt John Maclean ihre Geschichte. Mit makabrem Humor und anarchischem Witz ist der schottische Regisseur dabei der (historischen) Selbstmythologisierung des Wilden Westens und seiner Helden auf der Spur. Wie aus dem Nichts tauchen diese auf, um ihre jeweiligen Legenden zu erzählen und dabei die Konventionen des Genres zu erfüllen. Der antiillusionistische Look des Films und die „tarantinoeske“ Coolness der Gewalt verbinden sich dabei mit einem desillusionierten, allenfalls verhalten optimistischen Blick auf den Menschen. Darin ist „Slow West“ in vielfacher Hinsicht aktueller denn je.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Slow West'.

Becks letzter Sommer

(D 2015, Regie: Frieder Wittich)

Reise ins richtige Leben
von Wolfgang Nierlin

In Reminiszenz an die gute alte Schallplatte hat Frieder Wittich seine Verfilmung von Benedict Wells‘ gleichnamigem Roman „Becks letzter Sommer“ in eine A- und eine B-Seite gegliedert; und daraus gleich …

In Reminiszenz an die gute alte Schallplatte hat Frieder Wittich seine Verfilmung von Benedict Wells‘ gleichnamigem Roman „Becks letzter Sommer“ in eine A- und eine B-Seite gegliedert; und daraus gleich noch eine ziemlich schematische Dramaturgie abgeleitet. Diese funktioniert, sehr grob gesagt, etwa so: Nach unvermeidlicher Bestandsaufnahme und Etablierung des Konflikts läuft für den Protagonisten zunächst alles prima, dann wird seine Euphorie empfindlich gedämpft, es häufen sich die Niederlagen und Abstürze, bis schließlich doch noch für alle Beteiligten einvernehmliche Lösungen gefunden werden. „Im Leben wächst alles irgendwann raus“, lautet insofern der zu bearbeitende Satz im Mittelpunkt einer ebenso leichten wie unterhaltenden Komödie, die im Grunde ein spätes Erwachsenwerden thematisiert.

Der da seinen Jugendträumen als Rockmusiker nachhängt und sich im falschen Leben als Musiklehrer „auf der sicheren Seite“ windet, heißt Robert Beck (Christian Ulmen). Angeödet und lustlos sitzt er seinen Unterricht ab, für den er alte Folien reaktiviert; bis sein verkatertes Lehrer-Dasein durch den musikbegabten Schüler Rauli Kantas (Nahuel Pérez Biscayart) wachgerüttelt wird. Der junge Litauer aus ärmlichen Verhältnissen ist ein brillanter Gitarrist, dessen Talent von Beck sehr schnell erkannt und gefördert wird. Bald schwelgt der eben noch frustrierte Pädagoge zum Soundtrack von Tobias Jundt (aka Bonaparte) in seligen rockmusikalischen Erinnerungen und hofft insgeheim an Raulis sich abzeichnendem Erfolg partizipieren zu können, um gewissermaßen seine eigenen, verloren geglaubten Träume zu reaktivieren.

Dabei ist Beck nicht der einzige. In Spiegelgeschichten konfrontiert Wittich den gescheiterten Philosophiestudenten Charlie (Eugene Boateng), der jetzt depressiv ist und mit Drogen dealt, sowie Becks Freundin Lara (Friederike Becht), die Schneiderin werden möchte, mit ähnlich gelagerten Problemen. Während auf der A-Seite von Wittichs Film über Selbstverwirklichung und Freundschaft ein schwebender, von Überzeichnungen und durchsichtigen Plot-Strukturen dominierter Komödienton vorherrscht, verliert sich die B-Seite mit ihrer aufgesetzten Krimi-Handlung und einigen forcierten Action-Elementen zunehmend im Abstrusen. „Becks letzter Sommer“ verwandelt sich dafür in ein leicht holpriges Roadmovie das kurzerhand von Berlin über Budapest und Bukarest bis nach Istanbul führt und schließlich in einem erkenntnisfördernden Drogentrip kulminiert. So wird das Unterwegssein für alle Beteiligten einmal mehr zur Suche nach dem individuellen Glück und zu einer letztlich versöhnlichen Reise zu sich selbst.

Taxi Teheran

(IR 2015, Regie: Jafar Panahi)

Selfie-Kino
von Jürgen Kiontke

Jafar Panahi ist der Meister der Schlüsselsituation. „Aufhängen!“, brüllt der Mann. „Alle hinrichten!“ Wer andere beklaut, zum Beispiel Autoräder, der muss sofort umgebracht werden, von Staats wegen. „Sagen Sie mal, …

Jafar Panahi ist der Meister der Schlüsselsituation. „Aufhängen!“, brüllt der Mann. „Alle hinrichten!“ Wer andere beklaut, zum Beispiel Autoräder, der muss sofort umgebracht werden, von Staats wegen. „Sagen Sie mal, was arbeiten Sie denn?“, fragt die Frau, die im Taxi neben ihm sitzt. Der entgegnet: „Ich bin selbstständig tätig. Als Straßenräuber.“

Auf die Berlinale geschmuggelt soll der iranische Meisterregisseur seinen Film „Taxi“, der dort dieses Jahr den Goldenen Bären gewann. Eigentlich hat Panahi Berufsverbot und Gefängnisstrafe, die ist jedoch ausgesetzt. Beides nimmt er nicht recht ernst, die iranischen Autoritäten wohl auch nicht: Es ist nun schon der dritte Film des Regisseurs seit der Verurteilung, immer hat er sich auf intelligente Weise mit der jeweiligen Situation arrangiert.

Panahi liebt sein Publikum. In gerade 80 Minuten entwirft er ein Gesellschaftsbild der islamischen Republik Iran, vielleicht sogar ein sympathisches, denn es steigen noch ganz andere Charaktere in Panahis Fahrzeug, der sich hier als Chauffeur verdingt. Und sich und seine Gäste nicht ganz uneitel mit versteckten Kameras filmt.

Dann kommt „Film-Omid“, der mit Raubkopien handelt. Mit dem Taxi als Verkaufsraum und dem Regisseur am Steuer, so der windige Dealer, verkauft sich „Vicky Christina Barcelona“ um einiges besser. „Ich war schon bei Ihnen, sie wollten alle Woody-Allen-Filme haben.“ Ein Vorbereitungsgespräch sozusagen, bis die Hauptdarstellerin dieses wunderbaren Films kommt: Hana, die zehnjährige Nichte Panahis. Sie wird von der Schule abgeholt, heute war Filmstunde. Das Kind weiß natürlich besser als der Profi, wie man Kino zu machen hat, die Lehrerin hat gesagt, wie. Naseweisheit at it‘s best.

Die Sprache dieser Art Kino ist rudimentär und gleichzeitig cool, ihre Struktur die des Selfie. Kino als Introspektion eines globalen Geschehens. Eine Steigerung ist immer möglich: Etwa wenn die Anwältin der jungen Frau namens Ghoncheh Ghavami einsteigt. Ghavami hatte einem Volleyballspiel der Männer zugeschaut, und das ist im Iran verboten. „Ich habe jetzt Berufsverbot“, sagt die Juristin.
So wie Panahi eben. Kino im Kino, genial. „Ich bin Filmemacher“, sagt er. „Ich kann nichts anderes als Filmemachen.“

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 08/2015

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Taxi Teheran'.

Den Menschen so fern

(F 2014, Regie: David Oelhoffen)

Ein Versuch über das Absurde
von Manfred Riepe

Französische Batschkappe statt Cowboyhut. Atlasgebirge statt Monument Valley: Die eigenwillige Literaturverfilmung des Franzosen David Oelhoffen beschwört das Western-Szenario in einer algerischen Steinwüste. Das Experiment funktioniert dank vieler interessanter Regieeinfälle und …

Französische Batschkappe statt Cowboyhut. Atlasgebirge statt Monument Valley: Die eigenwillige Literaturverfilmung des Franzosen David Oelhoffen beschwört das Western-Szenario in einer algerischen Steinwüste. Das Experiment funktioniert dank vieler interessanter Regieeinfälle und dank Oelhoffens inspiriertem Zugriff auf die literarische Vorlage von Albert Camus.

In dessen Roman „Der Fremde“ erschießt ein Franzose einen Araber, den er gar nicht kennt. Die Antriebslosigkeit dieses Mordes galt dem Literatur-Nobelpreisträger als Symbol des „Absurden“, der Sinnlosigkeit menschlichen Daseins. Die gleiche Ausweglosigkeit beschwört der Autor in seiner Kurzgeschichte „Der Gast“, die 1957 als Teil der Novellensammlung „Das Exil und das Reich“ erschien. Wieder beschreibt er eine schicksalhafte Begegnung zwischen einem Franzosen und einem Araber. Mit seiner ambitionierten Adaption dieses Stoffes formuliert David Oelhoffen jedoch eine interessante Antithese zu Camus’ „existenzialistischer“ Haltung. Im Stil eines Westerns erzählt der französische Regisseur in seinem zweiten Spielfilm vom schwierigen Zusammentreffen zweier Männer aus verfeindeten Kulturkreisen, die sich in einer steinigen Wüstenlandschaft unerwartet aufeinender zu bewegen.

Der Franzose Daru, zurückhaltend und dadurch sehr eindringlich dargestellt von Viggo Mortensen, ist ein Reserveoffizier, der im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Franzosen gekämpft hat. In einem kleinen, isolierten Schulhaus auf einem Hochplateau mitten im Atlasgebirge unterrichtet er einheimische Kinder. Erst allmählich erfahren wir, dass er hier als Pied-noir geboren wurde, seine Frau vor zehn Jahren verloren hat und in seiner Heimat nun wie in einem Exil lebt. Wenn er seinen Schülerinnen und Schülern die französischen Flüsse einpaukt, dann wirkt das schon ziemlich seltsam.

Im Auftrag eines befreundeten Gendarms soll er in den Wirren des 1954 sich anbahnenden Algerienkriegs einen Araber, der seinen Cousin ermordete, zur nächsten Polizeistation überführen. Dort wartet auf ihn das sichere Todesurteil. Ein Job, auf den Daru gerne verzichtet hätte. Demonstrativ löst er seinem Gefangenen die Fesseln, doch die Hoffnung, dass dieser nachts türmt, erfüllt sich nicht. Bis hierher hält Oelhoffen sich strikt an die Vorlage, die er jedoch zuspitzt: Der Araber, von dem wir zunächst nicht viel erfahren, scheint irgendwie eine Memme zu sein, ein Lamm, das sich widerspruchslos zur Schlachtbank führen lässt. Wider willen gerät der Lehrer durch ihn nacheinander in die Gewalt von algerischen Rebellen und dann von französischen Milizen. Und er muss für seinen ängstlichen Schutzbefohlenen sogar töten.

Treffen im Western zwei Männer aufeinander, dann kommt es normalerweise zum klassischen Shootout, zum Revolverduell: Du oder ich. Die Tötung des Revolverhelden, der sich dem Gesetz nicht unterwirft, ist ein heroischer, initialer Akt der Gesellschaftsgründung. Obwohl die Zivilisation auf Gewaltverzicht basiert, muss zunächst Gewalt angewandt werden, um diesen Verzicht durchzusetzen. Dieses Drama wird im Western stets aufs Neue variiert. In jenen Filmen, auf die Oelhoffen sich bezieht, muss ein wackerer Marshall einen ausgekochten, hinterhältigen Typen ins Gefängnis überstellen. Dabei muss der Marshall über sich hinauswachsen.

Dieses Motiv variiert „Den Menschen so fern“ allerdings sehr geschickt, denn hier bewegen sich beide auf ihrem Weg durch die Steinwüste unerwartet aufeinander zu. Das ist bei Camus nicht der Fall. In der Vorlage gibt Daru dem Araber die Wahl, doch dieser entscheidet sich für das Gefängnis und somit für seinen Tod. Bei seiner Rückkehr in die Schule liest der Lehrer an der Tafel eine Drohung. Er habe einen Araber ans Messer geliefert und müsse dafür bezahlen.

Von dieser nachvollziehbaren, letztlich aber etwas konstruiert erscheinenden „Absurdität“ weicht Oelhoffen, der auch das Drehbuch verfasste, stark ab. Im Gegensatz zu Camus gibt er dem anonymen Araber zunächst einmal einen Namen. Und er ersinnt auch eine interessante Hintergrundgeschichte, die sein Motiv erklärt: Wie Daru erst allmählich erfährt, musste Mohammed (Reda Kateb) sich gegen seinen korrupten Cousin zur Wehr setzen. Dieser hat von Mohammeds Familie Getreide als Ausgleich für nicht entrichtete Schutzgeldzahlungen eingefordert. Die Ermordung dieses Cousins, eine Verzweiflungstat, hätte nach arabischer Tradition mit Blutrache vergolten werden müssen. In diesem Fall wären auch Mohammeds Brüder, die noch Kinder sind, in diese ausweglose Verstrickung mit einbezogen worden.

Aus diesem Grund hat Mohammed beschlossen, sich an die französische Justiz auszuliefern. Seine Tötung durch eine neutrale Instanz hat gemäß der arabischen Tradition nämlich keine Blutrache zur Folge. Auf diese Weise entbindet er die Brüder von ihrer Schuld. Mohammed hat seine Verurteilung zum Tode also genauestens geplant. Doch im Gegensatz zu Camus’ Gedankenwelt ist sein Motiv keineswegs „absurd“, sondern ehrenhaft. Wie in einem griechischen Drama wird er zum tragischen Helden, um dadurch seinen Brüdern ein Leben ohne Schuld zu ermöglichen, in die alle wider Willen verstrickt werden.

Pointiert und ohne erhobenen Zeigefinger analysiert Oelhoffen eine muslimisch geprägte Gesellschaft, in der Traditionen und ungeschriebene Gesetze heilig und unverrückbar scheinen – obwohl die Mitglieder dieser Gesellschaft sich auf der untersten Ebene der Clans alle gegenseitig betrügen. Diese Geschichte, die leicht ins Pathetische hätte umkippen können, erzählt Oelhoffen verknappt, elliptisch und mit gelungenen Anleihen beim klassischen Western. Männer müssen die Dinge unter sich ausmachen. Dabei kommt es aber nicht wie im Western üblich zum Shootout. Satt dessen kommt Daru ins Staunen. Die Ehrfurcht gegenüber der inneren Größe seines Gefangenen spiegelt sich in beeindruckenden Landschaftspanoramen mit kargen, steinigen Bergrücken und menschenleeren Dörfern. In einer der schönsten Szenen flüchten die beiden vor dem Regen in ein verlassenes Haus. Erst nach dem Betreten bemerken sie, dass es noch immer regnet: Das Haus hat kein Dach; beide sind heimatlos. Als Daru seine Hände pantomimisch an einem imaginären Kaminfeuer wärmt, kommen Mohammed durch diese menschliche Geste plötzlich die Tränen: Ein Western? Ja gewiss, aber die beiden Männer verkörpern nicht gerade die übliche John Wayne Durchhalteparole.

Dass Daru seinem Schutzbefohlenen am Ende zu einem Ausweg aus schicksalhafter Verstrickung verhilft, kann man als gefühlte Wiedergutmachung für jene Menschenrechtsverletzungen während des Algerienkriegs ansehen, die der Film nebenbei anprangert – und mit deren Eingeständnis die Franzosen sich bis heute schwer tun. Mit seiner Interpretation führt Oelhoffen die von Camus behauptete, etwas kopflastig erscheinende Ausweglosigkeit des „Absurden“ sublim ad absurdum. Der leise inszenierte Algerienwestern schlägt so eine Brücke zwischen den Kulturen, ohne dass es menschelt. Der glänzend fotografierte Film funktioniert vielleicht auch ohne diese politische Deutung.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Den Menschen so fern'.

Atlantic.

(NL / B / D / MA 2014, Regie: Jan-Willem van Ewijk)

Verloren im Offenen
von Wolfgang Nierlin

Ein Windsurfer gleitet in die Weite des offenen Meeres einem fernen Horizont entgegen. In der Totale des Bildes, aus der extremen Vogelperspektive aufgenommen, ist er fast eins mit den Elementen, …

Ein Windsurfer gleitet in die Weite des offenen Meeres einem fernen Horizont entgegen. In der Totale des Bildes, aus der extremen Vogelperspektive aufgenommen, ist er fast eins mit den Elementen, als wäre der Ozean seine Heimat. Das Gefühl der Freiheit, das der undefinierte Raum eröffnet, beschreibt hier also zunächst ein Bei-sich-Sein, eine Identität. Von einer unbestimmten Sehnsucht getrieben, zielt das sanfte, ruhige Gleiten durch Wind und Wellen zugleich auf einen Jenseits-Ort, eine Überwindung von Grenzen. In Jan-Willem van Ewijks ebenso poetischem wie bildmächtigem Film „Atlantic.“, der dieses Unbestimmte der Existenz und seine widerstreitenden Gefühle immer wieder suggestiv beschwört, sind die Grenzen zunächst kulturell bedingt, im Weiteren aber auch politisch.

Der 32-jährige Fettah (kongenial verkörpert von dem Windsurfer Fettah Lamara), Sohn eines armen Fischers aus einem kleinen marokkanischen Dorf unweit der Küstenstadt Essaouira, ist unterwegs nach Europa. Der talentierte Windsurfer, ein stiller, zurückhaltender, seelenvoller Charakter, für den die große Welt bereits in Casablanca beginnt, hat sich in die junge Surf-Touristin Alexandra (Thekla Reuten) verliebt, die zusammen mit ihrem Freund Jan (gespielt vom Regisseur) nach einem Ferienaufenthalt wieder abgereist ist. In Off-Monologen, die an wechselnde Adressaten gerichtet sind, reflektiert Fettah Abschied und Heimweh, Liebe und Schmerz sowie jene ungreifbare Sehnsucht, die er wechselnd auf die entfernte Freundin, seine früh verstorbene Mutter oder aber das Meer projiziert. Angezogen von der Macht des verheißungsvollen Fremden und im Widerspruch zwischen Fülle und Mangel gefangen, ähnelt Fettah in seinem Fernweh einem Liebeskranken, der einem Phantom folgt und dem dabei die Gewissheit ständig entgleitet.

„Suche ich nach etwas, das nie wiederkehren wird? Suche ich nach dem Verschwundenen?“ Jan-Willem van Ewijk übersetzt die differente Erfahrung dieses beständigen Gleitens entlang einer geographischen, politischen und nicht zuletzt spirituellen Grenze in eine ästhetisch offene Form. Seine konzentrierte, fast meditative visuelle Erzählung bewegt sich assoziativ durch die Zeit, verknüpft dabei Gegenwärtiges und Vergangenes zwanglos zu einem faszinierenden Filmpoem, lässt die vermeintlichen Enden der angedeuteten Geschichten in die Zeit ragen, hält diese schließlich immer wieder an, um sie in der Schönheit zeitloser Stillleben zu verdichten. Der Blick des Regisseurs auf seinen sehnsuchtstrunkenen, vielleicht verlorenen Helden ist dabei von zärtlicher Nähe und großer Körperlichkeit bestimmt. Nichts ist abgeschlossen in van Ewijks Film „Atlantic.“, während Fettah ins Offene treibt. Das Stoffliche beziehungsweise konkret Greifbare lässt sich allenfalls in der sinnlichen Erfahrung von Kultur, lebendiger Gemeinschaft und in der Auseinandersetzung mit einer überwältigenden Natur fassen.

Señor Kaplan

(UY 2014, Regie: Álvaro Brechner)

Auf dem Sprungbrett des Lebens
von Wolfgang Nierlin

Jacob Kaplan (Héctor Noguera) blickt auf sein Leben zurück und zieht Bilanz. Der 76-jährige Rentner aus Montevideo, der als polnischer Jude einst vor den Nazis nach Uruguay fliehen musste, ist …

Jacob Kaplan (Héctor Noguera) blickt auf sein Leben zurück und zieht Bilanz. Der 76-jährige Rentner aus Montevideo, der als polnischer Jude einst vor den Nazis nach Uruguay fliehen musste, ist seit fünfzig Jahren verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. „Schau niemals zurück“, sagte man ihm bei seiner Bar-Mizwa im Jahre 1937. Doch jetzt fragt sich der lebensmüde Alte mit eigensinnigem Ernst nach dem Nutzen seiner Existenz: „Was habe ich in meinem Leben Denkwürdiges getan?“ Während Jacob in der Einleitung von Álvaro Brechners zweiten, mit trockenem Humor aufwartenden Langfilms „Señor Kaplan“ aus dem Off spricht und diverse Rückblenden diese Lebensbilanz verdichten, steht er als Held von trauriger Gestalt auf dem Sprungbrett eines Swimmingpools. Jacob kann zwar nicht schwimmen, erklärt aber: „Es ist der Instinkt zum Überleben, der einen zum Schwimmen zwingt.“

Einer der täglich schwimmen geht, ist der ein paar Jahre ältere Deutsche Julius Reich (Rolf Becker), der am Strand eine Bar namens „Estrella“ betreibt und Camus liest. Nach einem Fernsehbericht über Nationalsozialisten, die nach dem Krieg in Südamerika untergetaucht sind, ist Jacob überzeugt, in dem Deutschen einen von ihnen entdeckt zu haben. Und so plant er nach dem Vorbild des berühmten Nazijägers Simon Wiesenthal die Gefangennahme und Entführung Reichs als „geheime Operation“. Unterstützt wird er bei seinen dilettantischen Ermittlungen, die von vorschnellen Annahmen, falschen Hypothesen und wirren Träumen geleitet werden, vom ehemaligen Polizisten Wilson Contreras (Néstor Guzzini). Der verstoßene Familienvater und Trinker erscheint zwar zunächst schwerfällig, erweist sich aber bald als sensibel und clever.

Die Stärken von Álvaro Brechners ebenso nachdenklicher wie melancholischer Komödie über den Sinn des Lebens liegen allerdings weniger in der zwar sympathisch-vergnüglichen, aber nur mäßig originellen Agentenfilmparodie. Vielmehr gewinnt er sein tragikomisches Potenzial aus der subtilen Zeichnung von Menschen, die versehrt und traurig in ihren Lebensgeschichten gefangen zu sein scheinen, dann aber doch den Mut aufbringen, zu „springen“. Der einmal geäußerte Satz, man könne seiner Vergangenheit nicht entkommen, bedeutet in der Perspektive von Brechners warmherzigem, vorsichtig optimistischem Film insofern, seinem „Schicksal“ mit Milde, Verantwortung und dem Mut zur Tat zu begegnen.

Mord in Pacot

(F / NR 2014, Regie: Raoul Peck)

Der nackte Mensch
von Wolfgang Nierlin

Eine gespenstische, nahezu apokalyptische Szene eröffnet Raoul Pecks neuen Film “Mord in Haiti” („Meurtre à Pacot“): Im Dunkel der Nacht werden von vermummten Gestalten anonyme Leichen in großer Zahl eingesammelt …

Eine gespenstische, nahezu apokalyptische Szene eröffnet Raoul Pecks neuen Film “Mord in Haiti” („Meurtre à Pacot“): Im Dunkel der Nacht werden von vermummten Gestalten anonyme Leichen in großer Zahl eingesammelt und auf Lastern abtransportiert. Auch wenn Peck für seine tiefschürfende politisch-philosophische Parabel auf Zeit- und Ortsangaben sowie detaillierte Hintergrundinformationen verzichtet, um eine soziale Modellsituation zu etablieren, ist klar, dass sein Film aus einer sehr speziellen Perspektive die Nachwehen des verheerenden Erdbebens vom Januar 2010 beschreibt. Hierfür hat der politisch engagierte Filmemacher, der sich bereits in seiner Dokumentation „Haiti: Tödliche Hilfe“ (2012) auf kontroverse Weise mit der strukturellen Ineffektivität der Katastrophenhilfe beschäftigt hat, in Pacot, einem zerstörten Villenviertel der Hauptstadt Port-au-Prince, eine Art Kammerspiel inszeniert, das die klassische Einheit von Zeit, Ort und Handlung wahrt.

Hier wiederum steht ein wohlhabendes namenloses Ehepaar, gespielt von Alex Descas und der Sängerin Joy Olasunmibo Ogunmakin alias Ayo, vor den Ruinen seiner Villa und damit auch seiner Existenz. Traumatisiert vom Verlust ihres Adoptivkindes, haben sich die beiden Ehepartner entfremdet und verrichten verstockt ihr nutzlos erscheinendes Tagewerk. „Die Stadt ist am Ende, alles ist tot“, sagt einmal der Mann, der immer wieder Botengänge unternimmt, während sich seine Frau bei der ungewohnten Haushaltsarbeit deplatziert fühlt. Die beiden wohnen jetzt in Umkehrung ihres Status in der provisorisch eingerichteten Garage, weil die Hausruine einsturzgefährdet ist. Trotzdem haben sie einen noch intakten Haustrakt an den Katastrophenhelfer Alex (Thibault Vinçon) vermietet, der mit seiner jungen, provozierend lebenslustigen Freundin Andrémise (Lovely Kermonde Fifi) einzieht. Der vom Hausbesitzer skeptisch betrachtete Ausländer wird vor allem für die aus der armen Landbevölkerung stammende Haitianerin zur Projektionsfläche für ein besseres Leben.

Raoul Peck entwickelt aus den komplexen sozialen Beziehungen seiner Protagonisten, zu denen sich schließlich auch noch der frühere Hausdiener Joseph (Albert Moléon) gesellt, ein sehr pessimistisches, nahezu hoffnungsloses Bild des Menschen. Während immer wieder Nachbeben die Szenerie erschüttern und dem Haus neue Risse zufügen, befinden sich die Überlebenden, einerseits vor Angst zitternd, andererseits von sexuellem Begehren getrieben, in einem permanenten Kampf gegeneinander. In diesem sucht fast jeder, obwohl mehr oder weniger desillusioniert, seinen Vorteil. „Wir bleiben Tiere“, heißt es einmal über diesen Sozialdarwinismus, der das Elend der Armen bestätigt und sie dem Status quo der alten, kolonialen Ordnung opfert. „Ich musste tief ins Fleisch schneiden, im wörtlichen wie übertragenen Sinne“, hat Raoul Peck die kompromisslose Radikalität seiner Sicht auf die Macht der Starken und die von ihnen ausgebeuteten Schwachen kommentiert, die unerlöst bleiben.

Fast noch stärker und gewichtiger wirkt in seinem Film allerdings die ins Existentielle gewendete Dimension dieser sozialen Verfassung. Jenseits der Hierarchien und materieller Werte, die im Angesicht der Katastrophe für eine kurze Zeit außer Kraft gesetzt und nivelliert sind, vermittelt der aus Haiti stammende Regisseur ein Bild des nackten, auf sich und sein Dasein zurückgeworfenen Menschen. Während die teils surreal anmutende, in genau komponierten Einstellungen erfasste Szenerie der Zerstörung leitmotivisch vom Geruch der Verwesung durchzogen wird, scheint die Vitalität der Natur, von emsigen Ameisen bevölkert, in ihrem wilden Wachsen ungebrochen. Raoul Peck erzählt hier im übertragenen Sinn, wobei die Handlung durch die Zählung der einzelnen Tage gegliedert ist, eine Art negative Schöpfungsgeschichte beziehungsweise von einem chaotischen Zustand vor allem Anfang. Denn „Mord in Haiti“ endet mit einem Zitat aus der Genesis, das die Dualität des ersten Schöpfungsaktes beschreibt: „Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht.“

Der Räuber

(AT / D 2009, Regie: Benjamin Heisenberg)

Dauer(b)renner
von Ricardo Brunn

Ein Mann läuft im Kreis. Auf einer festen Bahn dreht Johann Rettenberger (Andreas Lust), der wegen Bankraubes einsitzt, stur seine Runden auf dem Gefängnishof. Vom Mittelpunkt des Kreises aus beobachtet …

Ein Mann läuft im Kreis. Auf einer festen Bahn dreht Johann Rettenberger (Andreas Lust), der wegen Bankraubes einsitzt, stur seine Runden auf dem Gefängnishof. Vom Mittelpunkt des Kreises aus beobachtet ihn die Kamera, folgt seinen Bewegungen auf Schritt und Tritt und verhindert so ein Ausbrechen aus der Kadrierung. Dem panoptischen Aufbau dieser Szene ist Stillstand und Bewegung gleichermaßen immanent. Die Kamera im Zentrum des Kreises ist trotz ihrer Bewegung richtungs- und damit ziellos, denn sie führt immer nur an den Anfangspunkt zurück. Der Läufer bewegt sich zwar, ist aber einerseits durch die Gefängnismauern, andererseits durch die feste Kreisbahn ebenfalls zur Bewegung auf der Stelle verdammt. Dieses Spiel aus dem Zusammenfallen von Bewegung und Stillstand erhebt Benjamin Heisenberg in seinem Film „Der Räuber“ zum dramaturgischen Prinzip.

Nach seiner Entlassung läuft Rettenberger weiter, trainiert für Marathonläufe und gewinnt diese auch, doch eigentlich tritt er im beruflichen wie im privaten Leben auf der Stelle. Der Bewährungshelfer (Markus Schleinzer) reizt ihn bei jedem Treffen aufs Neue mit der Frage, wie es denn nun weitergehen soll. Er fordert den Läufer zur persönlichen Initiative auf, über die Jobsuche zu sich selbst zu finden und will ihn den Prinzipien der Leistungsgesellschaft unterwerfen. Doch Johann Rettenberger ist längst an den Selbstoptimierungsanforderungen dieser Leistungsgesellschaft gescheitert.

Laufen steht in „Der Räuber“ nur noch für einen Zustand reiner Hyperaktivität. Der Protagonist misst seine Leistungsfähigkeit, indem er Körperdaten sammelt, auswertet und zu verbessern sucht. Sein Aussehen hingegen wird mit Müdigkeit assoziiert, nicht mit Gesundheit. Der Akt des Laufens stellt keine Befreiung oder Grenzerfahrung mehr dar, sondern führt in seiner Dauerhaftigkeit zielstrebig in die Depression. Wer rennt, (ver)brennt. Es folgt das Burn-out. Andreas Lust spielt diesen ausbrennenden Räuber mit einem mimischen Minimalismus, der bereits in Götz Spielmanns „Revanche“ (Ö, 2008) seiner Figur Leben auf wundersame Weise ein- beziehungsweise ausgehaucht hat.

Auf dem Arbeitsamt, wo ebenfalls Mobilität und Stillstand sowie deren Messbarkeit im Mittelpunkt stehen, trifft Rettenberger eine Bekannte aus der Zeit vor seiner Haft (Franziska Weisz). Eine holprige Liebesgeschichte entspinnt sich, deren kantige Leidenschaft ungelenk im Stillstand verharrt. Aber wie sollte es auch aussehen, wenn die Beteiligten zwischen Bewegung und Ruhe, zwischen Macht und Ohnmacht nicht mehr vermitteln können; wenn sie die eigenen Wünsche und Sehnsüchte nicht mehr kennen. Kamera und Schnitt komponieren unangenehme Szenen der Gleichgültigkeit, die ihre ganze Müdigkeit ausatmen, um Luft zu holen für einen weiteren motivationsarmen Run auf die Banken.

Es ist ein großes Verdienst des Regisseurs, dass es ihm gelungen ist, alle Fettnäpfchen einer sensationslustigen oder psychologisierenden Interpretation des Stoffes (die reale Vorlage des Bankräubers, Johann Kastenberger, wurde von der Presse „Pumpgun-Ronnie“ getauft) zu umgehen. Stattdessen ist ihm eine meisterhafte Zustandsbeschreibung des Leistungsmenschen am Beginn des 21. Jahrhunderts geglückt, dessen Freiheit der Mobilität zum Zwang geworden ist. Vom überwachten (weil inhaftierten und damit dem panoptischen Blick ausgelieferten) hat er eine Verwandlung zum sich selbst kontrollierenden Subjekt durchgemacht. Die stete Suchbewegung, die Hektik des 24/7-Betriebes sowie das kontinuierliche Selbstmanagement führen zu keiner Erkenntnis mehr. Alle Bewegung endet im Stillstand einer rein akkumulativen Konsumroutine. So hortet Rettenberger seine Beute unter dem Bett, einem Zweck wird sie nie zugeführt.

Ganz nebenbei gelingt Heisenberg in der Darstellung einer Gleichzeitigkeit von Bewegung und Stillstand eine großartige Metapher auf das Kino. Wo wir eine Reihe von Standbildern als Bewegung wahrnehmen, täuscht die Hauptfigur auf gleiche Art Bewegung vor. Einmal im Film sehen wir Johann Rettenberger durch den Park laufen. Die Kamera schaut aus erhöhter Position auf ihn herab und es scheint, als würde die Welt sich, einem Laufband gleich, unter seinen Füßen bewegen, als würde er selbst nicht vom Fleck kommen, obwohl er sich doch bewegt. Das ständige Gerenne verschleiert letztlich nur, dass es in der Optimierungsgesellschaft längst keine Bewegung mehr gibt und dass das Anhäufen von Kapital auch nichts bringt. Umso konsequenter ist es daher, dass der Tod im Film während der Bewegung eintritt.

Amy

(USA 2015, Regie: Asif Kapadia)

Amy, wie sie wirklich war
von Ulrich Kriest

Selbst wer ihre erstaunliche Karriere nur aus dem Augenwinkel verfolgt hatte, konnte nicht umhin, von der Nachricht ihres Todes am 23. Juli 2011 nicht überrascht zu sein. Die Agonie der …

Selbst wer ihre erstaunliche Karriere nur aus dem Augenwinkel verfolgt hatte, konnte nicht umhin, von der Nachricht ihres Todes am 23. Juli 2011 nicht überrascht zu sein. Die Agonie der Sängerin Amy Winehouse spielte sich gewissermaßen in aller Öffentlichkeit ab; Bilder ihrer derangierten Auftritte fütterten die Medien; Konzerte und Tourneen wurden abgesagt – und wenn sie nicht im Vorfeld abgesagt wurden, liefen sie auf offener Bühne vor Publikum skandalös aus dem Ruder. Am Schluss dann Herzstillstand infolge massiven Alkoholkonsums: ein dunkles Pop-Gesamtkunstwerk.

Aufnahme in den „Club der 27“. Knapp ein Jahr nach ihrem Tod wurde der britische Filmemacher Asif Kapadia („Senna“) kontaktiert, ob er sich einen Film über Amy Winehouse im Stil von „Senna“ vorstellen könne. Könne er, wiewohl selbst kein Fan der Sängerin. Völlige künstlerische Freiheit vorausgesetzt, wolle er fragen: „Wie kann jemand in unserer modernen Zeit auf diese Art und Weise sterben? Und es war nicht einmal ein Schock.“

Während die Recherche nach verwertbarem Material begann, wurden gleichzeitig Interviews gemacht und schließlich konzeptionell beschlossen, Amy Winehouse programmatisch als Singer/Songwriter zu verstehen. Meint: die Erzählung des Films sollte von den Texten ihrer Songs strukturiert werden. „They tried to make me go to rehab / But I said no, no, no!“ Winehouse war eben nicht nur eine Retro-Soul-Interpretin, sondern sie schrieb ihre Songs selbst.

Hier setzt der Film an, um Ordnung ins vielfältige Material zu bringen. Ein narrativ unverzichtbares Gegengewicht zum Material über die öffentliche Karriere des Stars Amy Winehouse gelang Kapadia durch den Einbezug von Winehouses ältesten Freunden und ihrem ersten Manager Nick Shymansky, der immerhin 12 Stunden Videomaterial der frühen Jahre beisteuern konnte. Hier sehen wir eine hoch talentierte, witzige, aber auch unsichere Sängerin, die erst lange überredet werden musste, ein Album aufzunehmen, von der aber nachdrücklich behauptet wird, dass es durchaus Spaß machte, mit ihr zusammen zu sein.

Natürlich finden sich in „Amy“ auch die heute konventionellen Zutaten einer Musikdokumentation, die Kollegen, die von Talenten nur in Superlativen schwärmen, die Kollegen, die schwören, sie hätte die andere Seite des Drogenwracks kennengelernt, sooo talentiert, soooo eine Stimme, sooooooo much fun. Auftritt: Tony Bennett. Wie bereits im Falle von „Cobain: Montage of Heck“ ist es ganz erstaunlich, über welchen Reichtum an Material Dokumentaristen in Zeiten verfügen können, in denen Aufzeichnungstechnologien digital »demokratisiert« worden sind. Jeder filmt jeden, immer.

Die »Unschuld« der frühen Jahre sorgt dann dramaturgisch für die entsprechende Fallhöhe, wenn es im Film um das lange Sterben der Amy Winehouse geht. Hatte sie selbst nicht schon früh artikuliert, dass sie nicht geschaffen sei für die große Bühne? Allmählich und durchaus subtil gerät der Film zur Anklageschrift. Da ist der coole Junkie Blake Fielder-Civil, in den sich Amy unglücklich verliebt, dem sie die traurigen Songs von „Back To Black“ widmet, der Amy mit harten Drogen anfixt, sie heiratet, die längste Zeit der Ehe im Gefängnis sitzt – und der jetzt vor der Kamera nach bestem Wissen und Gewissen lässig als Mega-Arschloch Auskunft gibt. Da ist Amys Vater, der die Familie früh verlassen hat und sich jetzt im Glanze des Ruhms seiner Tochter sonnt. Der seine eigene kleine Musikerkarriere nun noch einmal im Rampenlicht nachspielte. Dem PR selbst im Urlaub in der Karibik vor die Sehnsucht der Tochter nach etwas Privatheit geht. Der seine Tochter zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht in den Entzug schickte, weil es strategisch dumm gewesen wäre. Der sich durch den fertigen Film jetzt verunglimpft fühlt. Durchaus sehr zu Recht. Da ist das Management, das sich nicht verantwortlich fühlte, in das üble Geschehen einzugreifen, weil man fürs Geschäft, aber nicht fürs Private zuständig war. Da ist Amy selbst, die 2008 bei der „Grammy“-Verleihung ihren größten Triumph nüchtern feiert und anschließend sagt: „Ohne Drogen ist das alles nur langweilig.“ War sie also jemand, der – Kleist zitierend – auf Erden nicht zu helfen war? Oder hat sie eine Gemengelage einander widerstrebender Interessen nicht überlebt?

Der Film selbst hat eine klare Position und lässt sich für die über Jahre sich hinziehende quälende Agonie reichlich Zeit, um den Zuschauer mit Medienschelte und Schuldzuweisungen zu quälen. Wer als Amy-Fan in diesen Film kommt, wird mit dem Gefühl größter Ohnmacht und ohnmächtigem Zorn in den Alltag entlassen. Natürlich war der Preis, den Amy Winehouse für ihre Kunst zu zahlen hatte, zu hoch. Aber wäre Amy Winehouse ohne »Amy Winehouse« zu Amy Winehouse geworden? Ist das nicht genau der Ausweis authentischer Kunst, den das Publikum sehen will?

Dass der parteiliche Film, der den Zuschauer zweifelsohne und ohne große Umschweife emotional manipuliert, in der (kritischen) Darstellung der Agonie sich beim Bilder-Pool der Medien ausgiebig und unkommentiert bedient, ist ein weiterer Punkt, den man an „Amy“ kritisieren kann. Dass diejenigen, die es an der Zeit fanden, eine Dokumentation über Amy Winehouse zu initiieren, jetzt als zumindest amoralische Egoisten erscheinen, ist eine Überraschung. Dass man sich mit dem Mythos des „Tortured Artist“ jetzt an die Neu-Verwertung des Nachlasses machen wird, ist absehbar. Ja, der Film ist sogar der erste Schritt der Leichenfledderei. Gut gemeint, vielleicht, aber nicht nur notwendig Teil des Systems, sondern durchaus mit einem pornografischen Gespür für die Dramaturgie.

Unknown User

(USA 2014, Regie: Levan Gabriadze)

Scroll mit Troll voll Groll
von Drehli Robnik

Der User, die Userin, das unbekannte Wesen: Manchmal ist er/sie nur ein anonymes, geschlechtsloses Symbolbild inmitten netzkonformer Zwickerbussigesichterversammlungen – so wie das zunächst einmal als simpler, lästiger Troll verkannte Rachephantom …

Der User, die Userin, das unbekannte Wesen: Manchmal ist er/sie nur ein anonymes, geschlechtsloses Symbolbild inmitten netzkonformer Zwickerbussigesichterversammlungen – so wie das zunächst einmal als simpler, lästiger Troll verkannte Rachephantom in 'Unknown User'.

Dieser US-Cyberhorror-Thriller in der Regie von Levan Gabriadze bietet einen im Genrekino seltenen Anblick. (Aber mindestens einen Vergleichsfilm gibt es schon: den spanischen Thriller 'Open Windows' ebenfalls aus dem Jahr 2014 mit Elijah Wood vor dem Schirm.) 'Unknown User', Originaltitel 'Cybernatural' bzw. 'Unfriended', zeigt eine Skypekonferenz von white upper middle class kids in Fresno, Kalifornien (könnte aber irgendwo im mittelständisch-weißen Amerika sein) als bildfüllendes Laptopdisplay; Plaudern, Text-Chatten, Surfen, Senden von Archivbildgaben unter drei Buben und drei Mädeln. Dieses ultrarealistische Echtzeit-Gewimmel an Witzchen und Wartezeiten wird erst schleichend, später mit viel Trara und Pathos heimgesucht – vom Geist eines Cyberbullyingopfers (das ist im Plot sofort klar, insofern kann der Spoiler-Alert bzw. die Forderung danach gleich wieder deaktiviert werden).

Da ist viel Eigendynamik im Detail im Spiel: Tasten klickern, Screens splitten, Glitches verformen Gesichter, Freezes suggerieren Erstarrung, wo (noch) keine ist (oder doch?), stummgeschaltete Stimmen murmeln im Hintergrund weiter, ringförmige Wartezeitsymbole muten an wie Munch’sche Münder. Before you die you’ll see The Ring, hieß das am Ende der VHS-Ära – zu jener Zeit, als im Gefolge eines anderen Horrorfilmerfolgsfranchise ('Scream') jedes zweite Karnevalkostüm ein solcher Munch-Mund zierte.

(Nerdige Nebenbemerkung: Die Musik-Playlist der Protagonistin, auf deren Laptop-Schirm alles spielt, kommt mehrmals groß ins Bild; in der Mitte der Liste prangt groß als Titel ausgerechnet 'Safe European Home', eine Postkolonialismus-Klischee-satirische Polit-Punk-Reggae-Hymne von The Clash; das Lied kommt allerdings nicht zum Einsatz.)

Mit 'Unknown User' gibt sich eine – nicht mehr wirklich – neue Medienpraxis ein Selbst-Bild im guten alten Kino, erzählt quasi-filmisch von sich, indem sie auf vertraute Motive zurückgreift: fesche Nervensägen, von denen wir uns wünschen, sie mögen bald weniger werden (und tatsächlich wird dieser Wunsch bald übererfüllt), in niedrigauflösenden Nicht-Bildern wie in 'Cloverfield', All-American homes unter ausschnittweiser elektronischer Dauerbeobachtung wie in den 'Paranormal Activity'-Mockumentaries, Rache eines toten Mitglieds an der jugendlichen Clique wie in 'Scream II' bis 'Scream IV' oder den beiden 'In drei Tagen bist du tot'-Filmen, hochnotpeinliche Wahrheitsspiele wie im 'Saw'-Franchise, am Ende heulende Reue wie im 'Blair Witch Project'. Erstaunlich, wie nahtlos hochflexibler Gebrauch von Social Media mit hocharchaischer, gänzlich asozialer Straf- und Sexualmoral zusammengeht. Als ein Stück Horrorminimalismus ist 'Unknown User' jedenfalls grundunsympathisch, aber semi-effektiv.

Heil

(D 2015, Regie: Dietrich Brüggemann)

Nicht aus einem Guss
von Manfred Riepe

Weltgeschichtliche Ereignisse geschehen bekanntlich zweimal, einmal als Tragödie, dann als Farce. Für die Tragödie bleiben in Dietrich Brüggemanns neuem Film „Heil“ nur wenige Sekunden. Dokumentarische Bilder lassen den Zweiten Weltkrieg …

Weltgeschichtliche Ereignisse geschehen bekanntlich zweimal, einmal als Tragödie, dann als Farce. Für die Tragödie bleiben in Dietrich Brüggemanns neuem Film „Heil“ nur wenige Sekunden. Dokumentarische Bilder lassen den Zweiten Weltkrieg vorüberziehen. Wir sehen Leichenberge und den „Führer“. Schnitt: „70 Jahre später“ befinden wir uns in einem fiktiven Dorf in den neuen Bundesländern. Rechtsradikale sprühen schon wieder Hakenkreuze an die Wand. Angeführt wird das braune Gesocks von Sven (Benno Fürmann), einem Neonazi mit großen Plänen und noch größerem Liebeskummer. Seine Angebetete Doreen, gespielt von Dietrich Brüggemanns Schwester Anna, hat nämlich genug von leeren Stammtischsprüchen. Sie fordert Taten. Und so macht Sven sich eine To Do Liste: Zum Führer werden und in Polen einmarschieren. Leichter gesagt als getan.

Der Zufall in Gestalt des afrodeutschen Sebastian Klein (Jerry Hoffmann) kommt ihm zu Hilfe. Der angesagte Autor eines politisch korrekten Buchs über Integration begibt sich zu einer Lesung nach Prittwitz, wo Neonazis ihn gebührend empfangen: Mit einem Schlag auf den Hinterkopf. Der Schreiber verliert das Gedächtnis und wird zum willfährigen Sprachrohr für Svens rechtsradikale Botschaften. Talkshows reißen sich um den Farbigen mit den rechten Sprüchen. Im Stil einer apokalyptischen Komödie zeigt Brüggemann, wie die Stimmung im Land kippt. Sven ist auf den besten Weg, zum neuen Führer zu werden. Nun braucht er nur noch einen Panzer, um von Polen aus einen Grenzkonflikt zu provozieren …

Ob man über Neonazis lachen dürfe, fragte eine besorgte Kritikerin nach der Pressevorführung von „Heil“. Man würde ja gerne. Doch gibt dieser Film nur gelegentlich Anlass. Brüggemann thematisiert die NSU-Morde und die Unfähigkeit der Verfassungsschützer, die die rechte Szene mit V-Leuten infiltrieren, dabei aber ein nur ein heilloses Bürokratie-Wirrwarr erzeugt. „Haben Sie auch Akten zu vernichten?“ fragt einer, der den Kopf ins Büro hereinsteckt. Ja, gut. Das ist ganz witzig. Aber das war’s dann eigentlich schon.

Wir sehen liberale Intellektuelle, die das Chaos im Fernsehen mit sinnentleerten Rederitualen kommentieren. Diese Medienkritik bleibt aber uninspiriert. Und leider werden einige Gags durch ermüdende Wiederholung nicht zu Running Gags. Während das Chaos ausbricht, versucht die hochschwangere Nina (Liv Lisa Fries) herauszufinden, warum ihr farbiger Freund Sebastian plötzlich braune Sprüche klopft. Dabei stellt sich heraus, dass es ihr eigentlich viel wichtiger ist, dass er nicht zu seiner Exfreundin zurück geht. Ein böser Seitenhieb gegen einen bestimmten Typ hysterischer Frauen mit Versorgungsmentalität. Man registriert das nur mit verhaltenem Schmunzeln, weil die kabarettistisch anmutenden Szenen sich nicht wirklich zu einem homogenen Film fügen.

Nina wird schließlich als vermeintliche Linksterroristin verhaftet und landet vor einem Richter, der auf dem rechten Auge blind ist: und zwar buchstäblich. Über diesen verbildlichten Kalauer aus der Monthy-Python-Schule kann man dann tatsächlich herzlich lachen. Brüggemanns Gesellschaftssatire hat schon ihre Momente, ist aber nur in Ansätzen gelungen, weil sie alles und jeden durch den Kakao ziehen will: Sensationsgeile TV-Reporter und besessene Theatermacher, die der Authentizität wegen mit echten Nazis arbeiten. Dabei verzettelt der Film sich, und das nicht zu knapp. Der Tonfall bleibt immer gleich, und so verflacht die Farce wie in jener Szene ganz am Ende, in der ein Neonazi schweren Herzens seinen geliebten Kampfhund erschießt, weil der sich als schwul entpuppt. Da der Film diese Figur nicht wirklich ernst nimmt, sich nicht in den Kopf dieses Neonazis hineindenkt, kann man den schmerzlichen Verlust nicht wirklich nachfühlen.

Auf solche Weise verpufft so manch böser Gag. Es fehlt in diesem Film die tragische Dimension, weil die Charaktere eindimensional bleiben. Das gilt insbesondere für die Hauptfigur des matten Anführers Sven. Benno Fürmann bleibt als Neonazi so blass wie der völlig unscheinbar agierende Jerry Hoffmann in der Rolle des eitlen Buchautors. Auch Cameoauftritte von Dietrich Kuhlbrodt und Andreas Dresen verleihen dieser Kollage aus kabarettistischen Szenen nicht den rechten Biss. Positiv in Erinnerung bleibt allein die gelungene Karikatur der tranigen Antifa-Bewegung, deren groteske Weltfremdheit in einigen Szenen herrlich auf den Punkt gebracht wird. Doch diese wenigen wirklich gelungenen Beobachtungen reißen es nicht raus. „Heil“ ist, trotz des provokanten Titels, ein Film, der irgendwie niemandem wirklich weh tut.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Heil'.

Der Staat gegen Fritz Bauer

(D 2015, Regie: Lars Kraume)

Transvestitenclub revisited
von Dietrich Kuhlbrodt

Fritz Bauer, der hessische Generalstaatsanwalt der fünfziger Jahre (Auschwitzprozess!), wird mainstreamtauglich. Regisseur Lars Kraume (KKD-Kriminaldauerdienst, ZDF, und Tatort, ARD) bringt uns Bauer als eine Art TV-Kommissar näher, der auch seine …

Fritz Bauer, der hessische Generalstaatsanwalt der fünfziger Jahre (Auschwitzprozess!), wird mainstreamtauglich. Regisseur Lars Kraume (KKD-Kriminaldauerdienst, ZDF, und Tatort, ARD) bringt uns Bauer als eine Art TV-Kommissar näher, der auch seine – au, Mann! – sperrigen Seiten hat, aber vor allem grundsympathisch ist.

Burghart Klaußner vermittelt in seinen vielen, vielen Dialogsätzen Bauers Überzeugung, als Einzelner gegen die in der Adenauerrepublik allseitige Restitution kämpfen zu müssen, d.h. gegen die Nazis, die allüberall nach 1945 ihre alten Positionen besetzt hatten (Globke usw.). Bauer also gegen König, den Bonner Staat. Soweit, so gut. Aber nun kommt Butter an die Fische. Die BRD soll einen Musterprozess bekommen. Gegen Eichmann? Ermitteln wir. Sehen wir im Film. Aber wo bleibt das Persönliche? So richtig zum Große-Augen-machen?

„Bauer war schwul“, ist doch ein Aufmerker, oder nicht? Der Film wird jetzt lebhaft. Er hat sein Thema gefunden. Die Kamera bricht aus dem Kammerspiel aus. Sie macht Großaufnahmen. Von Socken. Bauers Socken sind schwarz. Die vom jungen Staatsanwalt sind kariert. Ein paar Einstellungen weiter: Bauers Socken sind auch kariert. Aha! Die beiden kucken sich in die Augen. Sie verstehen sich. Verstehen wir.

Falls nicht: Bauer kriegt noch einen erklärenden Dialogsatz. – Eigentlich wars der Sache nach ja darum gegangen, dass Bauer von den jungen Staatsanwälten hoffte, dass sie gegen die Nazi-Väter aufbegehren und sich für so was wie den Auschwitzprozess engagieren. Die Studentenbewegung der sechziger Jahre kriegte das auch hin. Der Film sagt es, anfangs, aber dann hat er anderes im Sinn. Schon wieder sitzen wir im Transvestitenclub. Der Jungstaatsanwalt (Ronald Zehrfeld) arbeitet dort hart und körperlich an seinem Comingout.

Für eine Geschichtsstunde ist dieser Film ungeeignet. Der Jungstaatsanwalt ist eine fiktive Figur. Bauers Credo war nicht die Homosexualität. Und überhaupt: sollen wir glauben, dass Bauer den Auschwitzprozess aus Verärgerung gegenüber dem Mossad begonnen hat, weil der ihm nicht den Wunschkandidaten Nr. 1 ausgeliefert hat, den Eichmann??

Zurück zum Anfang. Wem das alles egal ist, Geschichtsstunde hin, Geschichtsstunde her, der wird den Film toll finden, supergut gespielt, voll glaubwürdig, so richtig zu Herzen gehend.
Klaußner/Bauer ist unser Mann! Oder??

Dieser Text erschien zuerst in Konkret 10/15.

Taxi Teheran

(IR 2015, Regie: Jafar Panahi)

Ein Exilfilm aus dem eigenen Land
von Manfred Riepe

Würde man den Filmemacher Jafar Panahi als Frauenregisseur bezeichnen, so wäre das nicht ganz falsch. Im Gegensatz zu Pedro Almodóvar spielen Frauen im Kino des Iraners Panahi eine andere Rolle. …

Würde man den Filmemacher Jafar Panahi als Frauenregisseur bezeichnen, so wäre das nicht ganz falsch. Im Gegensatz zu Pedro Almodóvar spielen Frauen im Kino des Iraners Panahi eine andere Rolle. Sie sind zwar auch „am Rande des Nervenzusammenbruchs“ – aber aus anderen Gründen. In seinem neuen Film „Taxi Teheran“ ebenso wie in seinen früheren Werken zeigt Panahi, dass der religiöse Fundamentalismus seines Landes hauptsächlich auf der Unterdrückung von Frauen basiert.

Machtmechanismen, die dabei am Werk sind, macht Panahi mit Low-Budget-Produktionen sichtbar, die aufgrund ihres halbdokumentarischen Charakters spröde erscheinen – nur auf den ersten Blick. Der Iraner gibt seinen Geschichten nämlich eine unverwechselbare Form, die sich nie als Manierismus in den Vordergrund drängt. Sein Film „Dayereh“ („Der Kreis“) aus dem Jahr 2000 ist aufgebaut wie ein Reigen. Die Geschichte beginnt in einem Krankenhaus, in dem eine ältere Frau erfährt, dass ihre Tochter ein Mädchen entbunden hat. Warum dies kein Grund zur Freude ist, zeigt der Film am Beispiel weiterer Frauenschicksale, die jeweils eine neue Facette desselben Grundproblems sichtbar machen. Im Gegensatz zu einem herkömmlichen Drama, das aus der Perspektive eines einzelnen Charakters erzählt ist, wird hier das Staffelholz der Handlung nach jeder Miniepisode an eine andere Figur weitergegeben.

Acht ineinander greifende Minidramen summieren sich so zum Schicksal der entrechteten Frauen im Islam auf. Dass gelegentlich auftretende Männer, vom Ticketverkäufer bis zum Polizisten, freundlich und hilfsbereit sind, lässt diesen mutigen Einblick in die Parallelwelt der Frauen noch gespenstischer erscheinen. „Der Kreis“ ist der erste iranische Film über Prostitution, die im Land offiziell gar nicht existiert.

Im Unterschied zu diesem bedrückenden Film präsentiert sich „Offside – Frauen im Abseits“ als gespielter Witz über die islamistische Geschlechter-Apartheid. Auch diesen Film strukturiert Panahi wie ein sprechendes Bild. Es geht um eine Gruppe von Frauen, begeisterte Fußballfans, die sich das Länderspiel Iran gegen Bahrain im Teheraner Stadion ansehen wollen. Frauen ist der Zutritt zur Fußballarena jedoch verboten – angeblich, weil Männer hier für Frauenohren ungeeignete Flüche von sich geben. Vor Spielbeginn werden die als Männer verkleideten Frauen entlarvt, an einem Kontrollpunkt festgenommen und in einem Absperrgitter direkt an der Tribünenmauer eingepfercht. Sie hören jeden Aufschrei der begeisterten Zuschauer, ohne das Spiel sehen zu können. Schlimmer noch: Sie müssen den Kommentaren eines Wachsoldaten lauschen, der von Fußball keine Ahnung hat. Mit wachem Blick für Details entlarvt Panahi hier das Schildbürgertum eines Staates, der die Hälfte seiner Bevölkerung in die Abseitsfalle zwingt.

Seit 2010 darf Panahi im Iran nicht mehr als Regisseur arbeiten. Die fundamentalistische Diktatur versucht sein Schaffen mit einem Berufsverbot zu unterbinden. Wer die Filme des Iraners kennt, weiß, dass er nicht einfach im Ausland weiterarbeiten kann. Panahi schöpft sein kreatives Potential aus dem Abarbeiten an der islamistischen Diktatur und der Beobachtung jener vielfältigen Tricksereien, mit denen Frauen sich gewisse Freiräume erkämpfen.

Das gilt auch für „Taxi Teheran“, ein klandestin produzierter Guerilla-Film, bei dem die bemerkenswerte Form wieder einen wesentlichen Aspekt des Inhalts ausmacht. Dass der Regisseur hier als Taxifahrer auftritt und sich so zum Zentrum seines neuen Films macht, kann man als ironischen Kommentar zu seinem Berufsverbot auffassen. Man könnte „Taxi Teheran“ auch als „filmisches Selfie“ bezeichnen. Doch dieser modische Begriff ist nicht recht angebracht, denn es geht Panahi nicht um narzisstische Selbstdarstellung, im Gegenteil. Der Regisseur tritt als eher schweigsamer Beobachter und genauer Zuhörer auf. Mit einer stationären, im Cockpit des Wagens fest installierten Kamera schneidet er die Gespräche seiner Fahrgäste mit. Obwohl das Ganze inszeniert ist, denkt man keinen Augenblick an einschlägige Reality-TV-Fernsehformate.

Wie bei „Der Kreis“ greifen die einzelnen Episoden der nacheinander zu Wort kommenden Fahrgäste subtil ineinander. Einmal mehr zeichnet Panahi ein komplexes Sittenbild der gegenwärtigen iranischen Gesellschaft. Wobei diesmal die Thematisierung der Kamera, der Prozess des Filmens und die Rolle der zensierten Medien in den Fokus rücken – ohne dass der Eindruck einer postmodernen Verspieltheit entstünde. Am humorvollsten ist jene Episode geraten, in der ein umtriebiger Schwarzhändler verbotene Hollywood-Blockbuster und Arthaus-Filme vertickt.

Auch in „Taxi Teheran“ spielen Frauen wieder eine Schlüsselrolle. Eine mit Panahi befreundete Anwältin berichtet über ihre Mandantin, die als politische Gefangene Repressionen ausgesetzt sind. In einer anderen Episode gerät eine Lehrerin in einen heftigen Disput mit einem Fahrgast, weil dieser die Ansicht vertritt, dass allein mit der konsequenten Anwendung der Scharia jeglichem Verbrechen der Garaus gemacht werden könnte. Zwei Diebe, die seinem Cousin kürzlich die Autoreifen abmontiert haben, würde er nach alter Tradition standrechtlich köpfen lassen. Dass er sich beim Aussteigen als professioneller Taschendieb zu erkennen gibt – also selbst außerhalb des Gesetzes steht –, ist für ihn kein Widerspruch. Mit subtiler Ironie spießt Panahi auf, dass die Scharia vehement von denen befürwortet wird, die ihre Regeln bedenkenlos brechen.

Doch solche gewichtigen Themen werden nie dogmatisch deklamiert, sondern geschickt von der Seite angerissen. So steigt in einer späteren Szene Panahis vorlaute Nichte ein, die sich darüber mokiert, dass der berühmte Onkel sie mit einer Schrottkarre von der Schule abholt. Für den Film-und-Foto-Unterricht soll das Mädchen einen „vorzeigbaren Film“ selbst drehen. Doch was heißt „vorzeigbar“? Das Regelwerk hat es in sich. Beachtet werden muss nicht nur die islamische Kleiderordnung. Es dürfen auch keine Berührungen zwischen Frauen und Männern gezeigt werden. Schwarzweißmalerei ist ebenso wenig erlaubt wie Gewaltdarstellung. Positive Figuren dürfen keine Krawatten tragen und müssen auf islamische Namen hören. Wirtschaftliche und politische Themen sind tabu. Für den Zweifelsfall hat die Lehrerin ihren Kids noch eine Art kategorischen Imperativ mit auf den Weg gegeben: Selbstzensur sei besser als potentielle Grenzüberschreitung.

Panahi lässt die Kriterien dieser totalen Schere im Kopf von einer nassforschen Göre aus dem Schulheft ablesen. Durch die Naivität dieses Kindes, das seine „Hausaufgaben“ gewissenhaft zu erledigen versucht, erscheint die Entfremdung noch grotesker. Obwohl die Vermittlung dieser Geschichten zuweilen dialoglastig erscheint, rückt in diesem angenehm leichtfüßigen Film nie der moralisierende Anspruch von Belehrung in den Vordergrund. Mit „Taxi Teheran“ gelingt dem Iraner das Kunststück, einen Exil-Film mitten im eigenen Land zu drehen.

Post Skriptum. Schon am 20. August startet ein Film mit beinahe demselben Titel, in dem erneut das Taxi im Zentrum steht. Romanautorin Karen Duve, die auch das Drehbuch schrieb, lässt ihr Alter Ego durch ein Hamburg der 80er Jahre Taxi fahren. In einer Hauptrolle ist der „Game of Thrones“-Star Peter Dinklage zu sehen. Auf den ersten Blick ist hier nur das Fortbewegungsmittel identisch. Doch diese beiden Taxis begegnen sich an einem Ort, den man auf keinem medienwissenschaftlichen oder kulturtheoretischen Navi findet: demnächst in diesem Theater.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Taxi Teheran'.

The Vatican Tapes

(USA 2015, Regie: Mark Neveldine)

Teufels- und Frauenbilder
von Nicolai Bühnemann

Der Teufel steckt im Detail. Das bedeutet unter anderem, er versteckt sich im Bilderfluss einer Videoaufzeichnung, die vorderhand die junge Angela zeigt, die verzweifelt wieder und wieder beteuert, nur nachhause …

Der Teufel steckt im Detail. Das bedeutet unter anderem, er versteckt sich im Bilderfluss einer Videoaufzeichnung, die vorderhand die junge Angela zeigt, die verzweifelt wieder und wieder beteuert, nur nachhause zu wollen, und kann hier erst per Rückspultaste und freeze frame sichtbar gemacht werden. In einer Welt, in der immer irgendwo eine Kamera läuft, wird der Kampf, den sich die Mächte des Bösen mit dem Vatikan um die Seelen der Menschen liefern (und ja: diese Dichotomie kann man dem Film, wenn man ihn denn so ernst nehmen möchte, durchaus übel nehmen) auch zu einem Kampf der Bilder. „The Vatican Tapes“ besteht, nach einer pre title sequence, die aus – natürlich inszeniertem – Archivmaterial zusammengesetzt ist, das allerlei Fälle von Besessenheit im Verlaufe der Dekaden zeigt, auch weiterhin zu einem großen Teil aus Blicken durch inner-diegetische Kameras: Vom Handyvideo von der Geburtstagsparty über die Aufnahmen von Krankenhausüberwachungskameras bis hin zu den titelgebenden Vatican Tapes, auf denen sich vermeintliche dämonische Aktivitäten dokumentiert finden. Nach einem Aufstand in der Psychiatrie mit tödlichem Ausgang sehen wir die schwankenden Bilder einer kleinen Videokamera, die an ihrem Kabel an einem Balken aufgehängt wurde. Wenn die Bilder nicht mehr dazu dienen, Orientierung zu verschaffen, zu katalogisieren und zu kontrollieren, sondern nur noch bloßer Ausdruck von angerichtetem Chaos sind, dann hat das Böse eine Schlacht gewonnen.

Es ist in Details wie diesen, dass „The Vatican Tapes“ seinen Reiz entwickelt. Ansonsten spult der Film erst einmal relativ lieblos eine Geschichte herunter, wie man sie seit William Friedkins „Der Exorzist“ (1973) des Öfteren im Kino gesehen hat. Angela (Olivia Dudley), auf die die Funktionäre des Vatikans in Videoaufzeichnungen aus der Psychiatrie aufmerksam wurden, ist, so erfahren wir in einem Rückblick, der etwa zwei Drittel des Films ausmacht, 25, hat einen über-protektiven Vater (Dougray Scott) und einen neuen Freund (John Patrick Amedori), der sich durch diesen erheblichem Druck ausgesetzt sieht, aber trotzdem fest zu ihr hält. Mit einem Schnitt in den Finger auf ihrer Geburtstagsparty, also eigentlich erst einmal harmlos genug – auch wenn sich die Inszenierung redlich bemüht, unmissverständlich klar zu machen, dass hier etwas im Busch ist – häufen sich unheimliche Begebenheiten im Leben der jungen Frau. Sie ist ständig durstig, hat mehrere Unfälle, landet einmal im Koma, aus dem sie erst erwacht, als man sie bereits für tot erklärte. Immer wieder tauchen Raben in ihrer Umgebung auf. Die Stationen ihres Leidenswegs, die Institutionen, die ihr nicht helfen können, sondern nur hilflos dabei zusehen, wie sich ihr Zustand weiter verschlechtert und immer mehr Menschen um sie herum zu Tode kommen, geht der Film durch wie von einer Strichliste. Krankenhaus: Check. Psychiatrische Spezialklinik: Check. Ebenso eindeutig, wie der Film nirgendwo den Verdacht aufkommen lässt, dass es eine natürliche Erklärung für die Geschehnisse geben könnte, steuert er auf den Exorzismus als Mittel letzter Wahl zu.

„The Vatican Tapes“ ist der erste Film, bei dem Mark Neveldine alleine Regie führte. Als Teil des Gespanns Neveldine/Taylor brachte er einst mit den beiden „Crank“-Filmen und dem Meisterwerk „Gamer“ neue Impulse ins Action-Kino. „Crank“ wartete mit einer ebenso einfachen wie genialen Prämisse auf: ein Profi-Killer (Jason Statham) wurde vergiftet und kann sich nur am Leben halten, indem er seinen geschundenen Körper pausenlos mit Adrenalin flutet. Der Inszenierung kam nun nur noch die Aufgabe zu, für den fortwährenden Adrenalin-Rausch eine angemessen durchgeknallte Form zu finden. Gerade im Hinblick auf dieses Vermächtnis muss „The Vatican Tapes“ enttäuschen. Zwar lässt sich der beständige formale Overdrive der Vorgänger noch in einigen inszenatorischen Details erkennen, aber nirgendwo entwickelt Neveldine den entfesselten Wahnwitz, der die Filme des Gespanns auszeichnete. Der eine oder andere tracking shot durch ordentlich beklemmend ausgeleuchtete Krankenhausflure (einmal nicht am Boden, sondern unter der Decke entlang) versteht ebenso zu gefallen wie der Umgang mit Split Screens, etwa wenn Angela in ihrem Bett gleichzeitig aus vier verschiedenen Perspektiven zu sehen ist (und es wiederum an dem Dämon ist, durch die Asynchronität der Bilder den Blick zu verwirren). Auch wird der eine oder andere Schockmoment durchaus effektiv in Szene gesetzt. Alles in allem korrespondiert jedoch nur grundsolides formales Handwerk mit dem Inhalt eines Exorzismusfilms von der Stange.

Selbst was den Geschlechterdikurs des Films anbelangt bildet „The Vatican Tapes“ einen deutlichen Rückschritt zu den „Crank“-Filmen (und das obwohl sich gerade „Crank 2 – High Voltage“ im Spiel mit allerlei politischen Unkorrektheiten selbst ein bisschen sehr gefällt). Wo dort Stathams von Amy Smart gespielte Freundin Eve mit ihrer schnoddrigen, bekifften Post-Hippie-Verpeiltheit einen Gegenpol zur adrenalin- und geschwindigkeitssüchtigen Männerwelt schaffen durfte, durch den – nicht nur beim Fick auf der Trabrennbahn im zweiten Teil, sondern immer wieder – produktive Reibung entstand, wo dem bei allem frenetischen Überlebenskampf immer irgendwie todessehnsüchtigen Mann dort eine Frau zur Seite stand, die einfach nur leben wollte (und zwar möglichst gechillt), bleibt Angela als vermeintliche Hauptfigur hier durch und durch be- und gefangen. Sie bleibt ganz ihrer Opferrolle verhaftet, umgeben von einem ganzen Geschwader von Männern, die sie zu retten versuchen.

Wenn das ambivalente Ende wohl von einer Ermächtigungsgeschichte erzählt, dann ist die Frau in dieser nicht Subjekt, sondern Medium, das nicht einmal selbstbestimmt böse sein darf. Sie selbst, wie sie immer wieder für Momente durchleuchtet zwischen den Mächten, die Besitz von ihr ergriffen haben, will vor allem eins sein: nett.

Liebe auf den ersten Schlag

(F 2014, Regie: Thomas Cailley)

Überlebenskämpfe
von Wolfgang Nierlin

Gegensätze ziehen sich an, heißt es. Als der junge Arnaud (Kévin Azaïs) und die etwa gleichaltrige Madeleine (Adèle Haenel) zum ersten Mal aufeinandertreffen, müssen sie gegeneinander kämpfen. Es sind Sommerferien, …

Gegensätze ziehen sich an, heißt es. Als der junge Arnaud (Kévin Azaïs) und die etwa gleichaltrige Madeleine (Adèle Haenel) zum ersten Mal aufeinandertreffen, müssen sie gegeneinander kämpfen. Es sind Sommerferien, und die französische Armee macht an der Atlantikküste im Südwesten des Landes mit Selbstverteidigungskursen Werbung für ihre Sache. Während sich der eher zurückhaltende Beobachter Arnaud nach dem Tod seines Vaters entschieden hat, seinen älteren Bruder Manu (Antoine Laurent) in der elterlichen Schreinerei zu unterstützen, unterzieht sich die ziemlich schroff und aggressiv auftretende Madeleine einem selbstverordneten Überlebenstraining. Das kämpferische Mädchen mit der großen Klappe und dem negativen Weltbild will sich nämlich bei der „härtesten Truppe“ bewerben, um für den von ihr erwarteten Weltuntergang gewappnet zu sein. Zuvor gilt es jedoch, an einem Trainingscamp der Armee teilzunehmen.

Für die zunächst relativ perspektivlos wirkenden Jugendlichen in Thomas Cailleys vielfach prämiertem Coming-of-Age-Drama „Liebe auf den ersten Schlag“ (Les combattants) geht es vor allem darum, im Blick auf das Leben Orientierung zu gewinnen. Ihre teils komischen Konflikte, die uns auf sympathische Art mit den liebenswerten Helden vertraut machen, sind zwar größtenteils ihrer Naivität und Gegensätzlichkeit geschuldet, münden nach einigem Hin und Her, nach scheuem Begehren und unbeholfener Zurückweisung, aber doch noch in eine romantische Liebesgeschichte. Die Protagonisten müssen sich aber erst häuten, müssen den zivilen Panzer ihrer Vorurteile und falschen Vorstellungen durchbrechen, um bei sich, in der Welt und im Leben anzukommen.

Auf quasi umgekehrtem Weg schickt Thomas Cailley deshalb seine Figuren auf eine „Reise von der Realität in die Phantasie“. Bei einem Orientierungslauf in besagtem Armee-Workshop verirren sich Arnaud und Madeleine im Wald, entfernen sich schließlich eigenmächtig von der Gruppe, um in ihr ganz persönliches Überlebens- und Liebestraining einzusteigen. Aus dem Spiel wird Ernst; und aus dem poetischen Waldabenteuer mit seiner wilden Freiheit, die immer wieder auf bedrohliche Grenzen stößt, wird eine Metapher für das Leben und seinen möglichen Sinn. Auf der Metaebene seines vielschichtigen Films verwebt Cailley die Liebes- und Überlebenskämpfe seiner Helden, auf die der französische Originaltitel verweist, mit einer dichten Textur aus visuellen Zeichen, Symbolen und Bezügen.

Dior und ich

(F 2014, Regie: Frédéric Tcheng)

Mode als Dialog
von Wolfgang Nierlin

Der französische Filmemacher Frédéric Tcheng eröffnet seine kurzweilige Fashion-Dokumentation „Dior und ich“ mit einem schwarzweißen Werbeclip aus den 1950er Jahren. Darin präsentiert das traditionsreiche Pariser Modehaus seinen berühmt gewordenen „New …

Der französische Filmemacher Frédéric Tcheng eröffnet seine kurzweilige Fashion-Dokumentation „Dior und ich“ mit einem schwarzweißen Werbeclip aus den 1950er Jahren. Darin präsentiert das traditionsreiche Pariser Modehaus seinen berühmt gewordenen „New Look“, den sein Schöpfer Christian Dior als Hommage an die Weiblichkeit verstand. Dazu wird aus dessen Memoiren zitiert: Gegen die Hektik der modernen Welt mit ihrem Drang nach Veränderung habe er die Bewahrung von Werten gesetzt. Zugleich war für den ebenso scheuen wie stilbewussten Dior Mode aber auch ein Vehikel, um in eine andere Rolle zu schlüpfen und dadurch jemand anderes zu sein.

Dieses gewichtige Erbe, von Tcheng als „Macht der Tradition“ apostrophiert, schwebt über den Ateliers des Hauses, als im Frühjahr 2012 der 1968 geborene belgische Designer Raf Simons als Nachfolger von John Galliano zum künstlerischen Direktor der Damenkollektion berufen wird. Innerhalb von zwei Monaten soll der sensible, kunstinteressierte Modekonzeptualist, der zuvor für Jil Sander gearbeitet hat und Inhaber einer eigenen Herrenmode-Marke ist, seine erste Haute Couture-Kollektion entwickeln, was für den öffentlichkeitsscheuen Chefdesigner im neuen Umfeld und unter großem Zeitdruck eine enorme Herausforderung darstellt. Sein Selbstanspruch, „Codes zu kreieren“ und dabei seine persönlichen Visionen und Ideen mit der Tradition zu verbinden, bildet dabei „Rafs“ künstlerisches Credo. Frédéric Tcheng wiederum nutzt dies leitmotivisch für seinen Film, indem er immer wieder Parallelen zwischen Diors Anschauungen und Raf Simons‘ Suche nach einer persönlichen Handschrift entdeckt und dafür zwischen Gegenwart und Vergangenheit, öffentlichen und privaten Momenten vermittelt.

Seine von ihm als „Chronik einer Emanzipation“ bezeichnete Dokumentation, die etwas gehetzt wirkt, andererseits aber vielstimmig ist, gewährt dabei einen Blick hinter die Kulissen des Modehauses und in die Mechanismen der einflussreichen Ateliers mit ihren subtilen Funktionsweisen und Machtkämpfen. Um in diese ebenso kompetente wie routinierte Dior-Familie aufgenommen zu werden, muss Raf Simons seinem Ruf als großer Kommunikator, der Mode als Dialog versteht, gerecht werden. Schließlich schweißen Verantwortung und enormer Zeitdruck das Team bis zur umjubelten, von vielen Prominenten besuchten Premiere zusammen. Frédéric Tchengs Film zeigt diesen Höhepunkt in stilisierten Bildern als künstlerische Performance und emotionale Katharsis; und er vermittelt daneben eine Ahnung von der logistischen und wirtschaftlichen Dimension eines solchen Ereignisses.

It Follows

(USA 2014, Regie: David Robert Mitchell)

Lost in Time and Genre
von Nicolai Bühnemann

Schon der programmatische Titel „It Follows“ lässt andere Zeiten des Horrorgenres anklingen. „Someone’s watching me!“ hieß ein 1978 entstandener Fernsehfilm von John Carpenter, dessen Ur-Slasher „Halloween“, früher im selben Jahr …

Schon der programmatische Titel „It Follows“ lässt andere Zeiten des Horrorgenres anklingen. „Someone’s watching me!“ hieß ein 1978 entstandener Fernsehfilm von John Carpenter, dessen Ur-Slasher „Halloween“, früher im selben Jahr entstanden, ebenfalls einigen Einfluss auf „It Follows“ hatte, und fasste damit sein Szenario in drei Worten zusammen, die in einem Ausrufezeichen kulminierten, um die Dringlichkeit, die Bedrohung, die diesem Beobachtet-Werden innewohnt, zu unterstreichen.

Was nun genau es mit diesem „Es“ auf sich hat, das die Verfolgung der jugendlichen Protagonistin Jay (Maika Monroe) und einiger ihrer gleichaltrigen Freunde aufnimmt, erfahren wir nicht. „Es“ bleibt unerklärlich, wird nicht psychologisch ausgedeutet, hat weder Ursprung noch Motivation. Alles, was Jay, und mit ihr die Zuschauenden, darüber erfahren, ist, dass es verschiedene Gestalten annehmen kann, die bekannter Personen oder die Fremder, und dass es nicht aufhört, hinter einem her zu sein, langsam gehend, aber scheinbar unaufhaltbar. Außerdem – und das ist ganz wichtig – scheint es sexuell übertragbar zu sein. Jays Freund Hugh (Jake Weary) hat es, so erklärt er ihr, an sie beim Sex weitergegeben und klärt sie nun über die Risiken dieses Verfolgers auf, empfiehlt ihr, es an jemand anderen weiter zu geben.

Die Sexualitätsfeindlichkeit der alten Slasher-Filme, denen Regisseur und Drehbuchautor David Robert Mitchell deutlich Referenz zollt und deren Killer vornehmlich Jugendliche heimsuchten, die sich ausgiebig Alkohol, Gras und vorehelichem Sex hingaben, wird durch das Böse als sexuell übertragbare Krankheit, das auch von Ferne her an die Parasiten in David Cronenbergs „Shivers“ (1975) erinnert, zunächst auf die Spitze getrieben. Um die so bigotten wie heuchlerischen Moralvorstellungen vieler Slasher geht es „It Follows“ aber gerade nicht. Vielmehr gibt diese Idee die Möglichkeit, die Bedrohung tief in das Geflecht des Begehrens der Peer-Group einzuschreiben. Jay gibt den Verfolger weiter an einen Jungen aus der Nachbarschaft, den sie für tough genug hält, mit ihm umzugehen, was sich allerdings als Trugschluss herausstellen wird. Erst gegen Ende schläft sie mit Paul (Keir Glichrist), einem guten Freund von ihr und ihrer Schwester Kelly, der – nicht allzu heimlich – in sie verliebt ist. In einer Szene sitzen Jay und Paul gemeinsam nachts auf dem Sofa und sprechen über ihren gemeinsamen ersten Kuss und eine Kindheitsepisode, die einen Stapel Pornohefte beinhaltete.

Anstatt sie grob abzuurteilen oder zum Kanonenfutter für das Böse verkommen zu lassen, nimmt David Robert Mitchell seine jugendlichen ProtagonisInnen mit ihren Sorgen und Problemen bedingungslos ernst. Dazu kommt, dass Mitchell es in seinem zweiten Film versteht, die alltäglichen Orte von Suburbia, die Häuser mit ihren Vorgärten, die Swimming Pools, Spielplätze und Schulkorridore mit Unheimlichem aufzuladen, das Vertraute fremd und bedrohlich werden zu lassen, wie es einst Carpenter oder Wes Craven in „A Nightmare on Elm Street“ (1984) gelang.

Gedreht wurde der Film in Detroit, wo Mitchell geboren wurde und aufgewachsen ist, und ein Dialog verortet sein Geschehen auch hier. Die Jugendlichen erinnern sich, dass es in ihrer Kindheit für sie verboten war, die 8 Mile Road zu überqueren, die die nördlichen Suburbs von der Stadt trennt, und die fleißigen Filmguckern auch durch Curtis Hansons Rapper-Drama „8 Mile“ (2002) mit Eminem in der Hauptrolle ein Begriff sein könnte. Durch die gespenstische Landschaft des benachbarten Ghettos mit seinen graffitibesprühten Industriehallen, seinen Brachen und zugemauerten Fenstern fahren die Kids mehrmals mit dem Auto. Diese Geisterstadt, dieser Geist einer Stadt, legt sich wie ein dunkler Schatten über den typischen american way of life der Vorstädte, verdeutlicht das Prekäre der eigenen Lebensverhältnisse, die allenthalben vom Zerfall bedroht scheinen. Nur eine Straße trennt „uns“ von den anderen, das eigene Umfeld von der Gefahrenzone, auch wenn das, so wie „It Follows“ seine Schauplätze in Szene setzt, nur bedeutet: eine Form der städtischen Einöde von einer anderen.

Zum Zerfall des Sozialen, von dem der Film erzählt, gehört auch die sonderbare Abwesenheit von Erwachsenen in seiner Teenager-Welt. Die Eltern werden zwar immer wieder in Dialogen erwähnt, ohne aber jemals selbst in Erscheinung zu treten. Auf sich alleine gestellt in einer mehr und mehr bedrohlichen Umwelt, müssen die Adoleszenten lernen, sich selbst zu verteidigen, eigene Entscheidungen zu treffen, was hier vor allem bedeutet, verantwortlich mit der eigenen Sexualität umzugehen.

Durch seine Ausstattung kreiert der Film zudem eine sonderbare Nicht-Zeit, in der sich Vergangenes und Gegenwärtiges vermengen. Ein Handy im Prolog wird das einzige des Films bleiben und verweist ebenso wie ein ziemlich eigenwilliger E-Book-Reader, der aussieht wie ein muschelförmiger Taschenspiegel, auf die Gegenwart. Darüberhinaus scheint der Film vollgestopft mit allerlei obsoleten Technologien. In den Wohnzimmern laufen, wie in „Halloween“, auf alten Röhrenfensehern noch ältere, schwarzweiße Monsterfilme. In einer wunderbar gefilmten Schwimmbadszene gegen Ende versuchen die Jugendlichen, den Verfolger zu töten, indem sie etwa elektrische Schreibmaschinen ins Becken werfen, in dem Jay als Köder schwimmt. Die Figuren des Films sind nicht nur ziemlich verloren in den ins Unheimliche gewendeten Suburbs, sie scheinen auch lost in time zu sein.

Einerseits schafft es „It Follows“, dem Horrorfilm, der immer mal wieder droht, in der Schwemme aus ewigen Sequels und Remakes zu ertrinken, wichtige neue Impulse abzugewinnen, indem er einen sehr eigenen Zugriff auf die Vergangenheit, auf die Geschichte des Genres findet. Mitchell versteht es, über den gekonnten Einsatz einiger jump scares weit hinaus, eine Atmosphäre latenten Grauens und ständiger Bedrohung zu schaffen. Andererseits aber gelingt es dem Nachwuchsfilmemacher auch, das Genre für seine eigenen Zwecke zu nutzen, im Gewand eines Horrorfilms eine sehr persönliche Geschichte über das Erwachsenwerden in einer zerfallenden (urbanen) Welt zu erzählen.

Terminator 3 – Rise of the Machines

(USA / GB / D 2003, Regie: Jonathan Mostow)

Ein Krieg wird kommen
von Drehli Robnik

Der Hudriwudri hat es immer schon gewusst. Schon im Herbst 1991, als 'Terminator 2 – Judgment Day' der teuerste und sechsterfolgreichste Film aller Zeiten war, somit einige Jahre bevor ein …

Der Hudriwudri hat es immer schon gewusst. Schon im Herbst 1991, als 'Terminator 2 – Judgment Day' der teuerste und sechsterfolgreichste Film aller Zeiten war, somit einige Jahre bevor ein Skirennläufer als Herminator verehrt wurde, da trat uns Manfred Deixens Maskottchen einer nach einem anderen Hollywood-Klassiker benannten Zigarettensorte (Casablanca) als Hudrinator in schwarzem Leder entgegen und forderte in barschem Schriftsteirisch: 'Tuats leichte Zigaretten smoken, sonst schiaß i euch a Louch in d´Socken!' Klarer wurde selten formuliert, worin das massenkulturelle Sinnangebot der Marke Terminator besteht: Wie Schwarzenegger bietet auch die Hudrinator-Figur ein hypertrophes Männlichkeits-Image, das zugleich restaurativ und parodistisch, nostalgisch und grotesk ist; wie Arnold appelliert auch Deixens Schweindi ans Gesundheitsbewusstsein ('leichte Zigaretten smoken'); und wie beim Terminator, zumal dem diesjährigen Modell, wird Verzichtsmoral unter despotischer Strafandrohung durchgesetzt.

Nach den Flopps, die Schwarzenegger seit seinem Karriere-Höhepunkt in den frühen Neunzigern gelandet hat, ist Nostalgie, vielmehr: der Wunsch, von der Haltbarkeit von 'Terminator 2' im medialen Gedächtnis zu zehren, verständlich. Deutlich wird dies zumal in allegorischen Momenten, in denen 'Terminator 3' von sich selbst als eventförmigem Dialog mit Zielgruppen und deren Film-Erinnerungen handelt: Wenn der nunmehr 24jährige John Connor, der künftige Anführer der menschlichen Guerilla gegen die Maschinen, den Terminator als seinen Beschützer aus Teenie-Tagen wiedererkennt und ihn fragt, ob er sich nicht an 'Hasta la vista, baby!' erinnere, dann sind unser aller Reminiszenen an Highlights aus T2 angesprochen. Jedoch: Die Alltagskulturgut gewordenen Sager 'Hasta la vista, baby!' und 'I´ll be back!', 1984 in 'The Terminator' geprägt, verwiesen auf ein nächstes Mal und aufs Wiederkommen, mithin auf Ideen von unzerstörbarer Vitalität ebenso wie auf die Tendenz zur Fortsetzung. Das Pendant dieser One-Liner in T3 lautet schlicht 'It is time!', übersetzt mit 'Es ist soweit!'. Im T3-Trailer fungiert der Slogan als Zuruf ans Publikum, das Warten auf den Film habe ein Ende. 'It is time' lässt sich aber auch verstehen als Mahnung an die Zeit, die eben 'ist', und die Wunden nicht nur heilt, sondern auch schlägt. Immerhin: Sollte Arnold nicht gleich 'Governator' werden, sondern noch einen T4 drehen – ein (wenn auch von 'den Maschinen' programmiertes, verhängnisvolles) Wiedersehen von Connor und dem Cyborg in der Zukunft stellt T3 schon in Aussicht.

Das HeldInnen-Team von T2 hatte gegen Filmende dem Verhängnis ein wenig unbestimmte Zukunft, offen wie ein nächtlicher Highway, abgerungen. In T3 hingegen regiert die Zeit als Last dessen, was man so leicht nicht vergisst – im Sinn des Traumas, von dem Psychiater Dr. Silberman in einem Kurzauftritt spricht (sein Darsteller, Earl Boen, spielt neben Schwarzenegger als einziger in allen drei Terminator-Filmen mit), und im Sinn von Zitat und Wiedererkennen: An Nosferatu und Django, zutiefst nekrophile Kino-Ikonen, gemahnt Arnold mit geschultertem Sarg; die Kampfroboter-Prototypen im Showdown könnten aus 'Robocop II' stammen; der TV-Trailer zu T3 verurteilt uns zum Wiedererkennen einer im Filmbild prangenden Packung Manner-Schnitten. Subtiler ist da das Bild- und Wortspiel mit der durch die Wüste schwebenden Blase, die den Terminator ins Heute transportiert: Aus der Zukunft kommend, ist sie zugleich Zitat aus dem SciFi-Noir-Klassiker 'It Came from Outer Space', inszeniert 1953 von einem anderen großen Arnold, dem B-Movie-Wizard Jack Arnold.

Überhaupt, Film Noir: Jonathan Mostow, dessen Thriller 'Breakdown' 1997 Gespür fürs bedrohliche Stimmungspotenzial der Wüste und suburbaner Nicht-Orte bewies, nutzt auch bei der Regie von T3 die Un-Heimeligkeit von Vorstadt und Stadtautobahn, einer Cocktailbar am Wüstenrand, einer nachts ausgestorbenen Einkaufsstraße oder einer düsteren Tierklinik, in der alle Figuren zu einander finden. Wenig geblieben ist dagegen vom vulgärmaterialistischen High Concept-Styling James Camerons, der in T1, T2 oder 'Titanic' die 'Synästhetik des Stahls' – dessen Sound, Härte, Hitze oder bildprägende Blauheit – höchst plastisch inszeniert hatte. Ähnliches gilt für die Schauwerte des Morphing, jener digitalen Bildtechnologie, die 1991 anhand des Flüsssigmetall-Terminators in T2 ihren ersten großen Kino-Auftritt hatte.

An Arnolds diesmaliger Gegnerin – Kristanna Loken, hauptberuflich Model, in der Rolle der Terminatrix – zeigt sich, dass nicht nur Morphs passé oder gar konventioneller Standard sind (weshalb die sich als ostentativ 'analoge' Materialschlachten gebärdenden Actionszenen bessere Figur machen). Ebenso sind – da kann T3 noch so sehr die 'Rebellion der Maschinen' beschwören – intelligente Maschinen heute Alltagsphänomene, kaum tauglich als Bedrohungsbilder wie noch anno 91, als das Terminatoren-Duell zwischen Kraftmaschine und Gestaltwandler als Allegorie eines Übergangs vom disziplinierten Fabrik-System zum flexiblen digital capitalism erschien (und ich meine Falter-Rezension von 'Terminator 2' noch mechanisch auf Papier tippte).

Eine schwache Antagonistin ist die in Nappa-Leder herumstöckelnde Terminatrix auch deshalb, weil sie Gender-politisch zu spät kommt: Sie bleibt bloße Repertoirefigur neben den Girl-Power-Schwundformen von Lara Croft oder den drei Ekeln für Charlie. Überdies ist der Kampf des Good Old Terminator gegen eine Frau nur die pflichtgemäße, mehr sexistische denn spektakuläre Verbuchstäblichung jener Identitätskrisen patriarchaler Männlichkeitsentwürfe, die Schwarzeneggers Figuren von 'Conan', 'Predator' und 'Twins' bis zu seinem Schwanger- respektive Geklont-Werden in 'Junior' und 'The Sixth Day' physisch und affektiv ausagiert haben. Soll heißen: Dem Terminator haftete immer schon etwas vom Hudrinator an. Wenn Arnold in T3 beim Herumdoktern an seinem Body meint, die Terminatrix sei stärker und schneller und er selbst ein veraltetes Modell, dann ist solche Selbstreflexion von männlichem Masochismus zu redundant, um lustig zu sein.

Angesichts der bloß als Negativ-Verkörperung von Arnolds Alterungsprozess ('It is time'…) fungierenden Terminatrix fällt das Fehlen von Sarah Connor schmerzlich auf. Gespielt von Linda Hamilton, die in T1 als pummeliges girl-in-distress angetreten war und sich für T2 beeindruckende Kräfte und Geschmeidigkeit antrainiert hatte, war diese Figur dem Bodybuilder und dem Gestaltwandler ebenbürtig. Als toughe alleinerziehende Mutter des Weltretters, die im Kampfanzug und mit Gewalt den Atomkrieg verhindert, war Sarah Connor – neben Clarice Starling in 'Silence of the Lambs' und Ellen Ripley in 'Aliens' und 'Alien3' – ein zwiespältiges feministisches Role-Model. Zugleich war sie Ikone neuer Spielräume der Selbstermächtigung und für Reform-Optionen innerhalb einer Unterhaltungsindustrie, deren traditionell 'männlichstes' Genre, der Actionfilm, sich um 1990 öffnete, um zum Universalmedium des zeitgenössischen Blockbusters zu werden.

In T3 ist Sarah tot. Die Inschrift auf ihrem Sarg 'Not fate but what we make' wäre als Relikt aus den frühen Neunzigern im Judith Butlerschen, Gender-konstruktivistischen Sinn lesbar; im Gefüge von T3 ist der Spruch Teil eines Weltbildes, das der Filmbeginn in höchster Verdichtung formuliert: Wir seien Schmied unseres Schicksals, sagt John Connors Stimme, während eine Atombombe Los Angeles ausradiert und die von Maschinen regierte Zukunft einleitet. Die in T2 erkämpfte Abwendung des Weltuntergangs entpuppt sich als bloße Verzögerung, und der Terminator ist hier wieder ganz 'Beender' und wandelndes memento mori: Er gemahnt an unsere Endlichkeit, an eine düstere Zukunft und daran, dass der Spaß vorbei ist: 'It is time!'

In seinem Beharren darauf, dass die stets imaginierte Katastrophe schicksalsgleich eintreten und die Vorbereitung auf den Kampf danach zum einzigen Spielraum wird, ist T3 ein waschechter Post-911-Film. Da leuchten US-Fahnen, und die Läuterung John Connors (ein fehlbesetzter Kuschelbär mit dem passenden Namen Nick Stahl) vom alkoholsüchtigen Versager zum charismatischen Führer erinnert an Bush juniors rising to the occasion. Die Herrschaft der Vergangenheit über die Zukunft scheint perfekt, wenn ein väterlicher Air Force-General dafür sorgt, dass Connor und künftige Gemahlin den 'Judgment Day' in einem alten Atombunker des Militärs überleben: Die Kalten Krieger hatten immer schon Recht mit ihrer Vorsorge, und anstelle des offenen Highway von 1991 endet T3 mit dem Bunkerkorridor.

Hasta la vista, baby! In T2 hatte der Terminator lockere Sprüche und Umgangsformen von einem Teenager gelernt, der im Public Enemy-T-Shirt Bankomaten knackte. Camerons Film war fast ein Blockbuster-Pendant zeitgenössischer hood-movies, ein vage antiautoritärer Film, der Los Angeles als multikulturelles Biotop und (im Jahr des Rodney King-beating) den Antagonisten in Polizeiuniform zeigte. In T3 ist es der Terminator, der die Lehren erteilt; er verkörpert einen Zwang zur Anerkennung von Endlichkeit, aus dem sich diesmal nicht das (zaghafte) Ausloten virtueller Lebensentwürfe ableitet wie 1991, sondern reine Disziplinierung als ödipale Initiation: Der Krieg wird kommen, du wirst dich in ihm bewähren und gefälligst eine Familie gründen.

Sein jeweiliges Leder-Outfit besorgt sich der Terminator 1984 von einem Punk, 1991 von einem Motorrad-Rocker und 2003 von einem schwulen Striptänzer. Wenn Arnold kurz eine Elton John-Sternchen-Sonnenbrille aufsetzt, dann ist das Höhe- und Endpunkt der subkulturellen Kostümierungen und Identitätsentgrenzungen, die frühere Schwarzenegger-Filme als ihr gleichsam überschüssiges Befreiungsmoment mit artikuliert haben. Ab dann ist der Spaß vorbei. It is time.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Falter 30, Wien, Juli 2003

Terminator: Genisys

(USA 2015, Regie: Alan Taylor)

Geriator ohne Genierer
von Drehli Robnik

Nach Jahren als kalifornischer Gouverneur und einigen Retro-Action-Vehikeln ist Arnold Schwarzenegger nun wieder als Terminator verfügbar – ein Umstand, aus dem die Macher des fünften Films (Regie: Alan Taylor, 'Thor'-geprüft) …

Nach Jahren als kalifornischer Gouverneur und einigen Retro-Action-Vehikeln ist Arnold Schwarzenegger nun wieder als Terminator verfügbar – ein Umstand, aus dem die Macher des fünften Films (Regie: Alan Taylor, 'Thor'-geprüft) in dem 1984 begonnenen Cyborg-Franchise einiges herauszuholen bemüht sind. So sehen wir also nun in 'Terminator: Genisys' Arnie im Kampf gegen sich selbst: den bösen, jungen 1984er Mittelscheitel-Ur-Terminator, digital reanimiert, gegen den zum Beschützer umprogrammierten Terminator im schwarzledrigen Biker-Look von 'Terminator 2' (1991). Hinzu kommen der ergraute Terminator der Gegenwart und der zum Adoptiv-'Pops' ernannte Schutzengel-Terminator eines kleinen Mädchens in 1970er-Rückblenden. Überhaupt gerät das Entsenden von Mentoren und Zeitkontinuumsklempnern in diverse Vergangenheiten und Doch-nicht-Zukünfte hier allmählich zur Manie, und die Zeit(schleifen)maschine wird zum totalen Tool.

Gute Ansätze sind durchaus vorhanden; so etwa die anfängliche Rückkehr zum Kaputtnik-Urbanismus eines NeoNoir-B-Movie (etwas, das dem ganz im Postapokalyptik-Geböller versinkenden Teil 4, 'Terminator: Salvation' ganz abging). Zweierlei Retro-Action ist hier im Spiel: Zum einen wird eine gewisse Cheesiness in Ausstattung und Gestaltung von Kampfszenen freudig ausgestellt. Zum anderen geht es retroaktiv zu, und das Noir-typische Festlaufen von Handlung und Bewusstsein in Schlingen der Zeit findet hier zu einer durchaus prägnanten Form: Nicht nur wird (wie seit Teil 2 üblich) aus dem Motiv- und Oneliner-Inventar des Gründungsfilms rezitiert; man stellt vielmehr gleich ganze Initialszenen aus dem 1984er Film werk- und materialtreu nach, samt nackter Bodybuilder, die aus Lichtkugeln im Straßenmüll geboren werden, und samt James Cameron’schem Blaustich und Spitzlicht im Bild.

Auch der Flüssigmetall-Terminator in schwarzer Cop-Uniform aus Teil 2 mischt einige Szenen lang mit; 1991 von Robert Patrick laufstark und maliziös gespielt, wird dieser Gestaltwandler nun von dem Koreaner Byung-hun Lee dargestellt. Die Akteure hinter dem konspirativen Cyberdine-Konzern und seinem die Gattungszukunft bedrohenden Skynet werden von African Americans gespielt. Um es in Hinblick auf die racial politics des Films zu sagen: Hier sind nicht alle weißen Figuren automatisch 'gut'; so etwa der kleine Bub, der die humanoide Gestalt des allumfassenden digital-maschinellen Netzes verkörpert, als wäre er ein Hologramm-Kind aus einem alten 'Resident Evil'-Film. Das Netzwerk selbst ist nun eine Universal-App mit scheußlichem Design – umso unglaubwürdiger, dass die ganze Menschheit auf dessen aggressives Marketing hereinfallen und ihm alle ihre Angelegenheiten anvertrauen soll (hätte Facebook so einen Oberflächen-Look, wäre Myspace heute Weltherrscher) – und mit einem doofen Markennamen, der dem Film seinen Titelzusatz leiht: 'Genisys' klingt irgendwie nach Bibel oder Phil Collins‘ alter Band und ist wahrscheinlich eine Anspielung auf Schwarzeneggers steirische Sprachfärbung im Gebrauch von Englisch.

Letztere, längst ein Markenzeichen auch sie, kommt in den Anflügen von Screwball Comedy zum Tragen, die zu den punktuell fast gelungenen Neuerungen dieses (dem forcierten Happy End nach letzten) Terminator-Films zählen. Das Trio Kyle Reese (Zeitreisender aus dem Anti-Maschinen-Widerstand), Sarah Connor (als Mutter des Menschheitserlösers vorgesehen, hier nun allerdings dezidiert nicht zufrieden mit ihrer bloß gebärdenden Rolle) und Titelheld (der unter anderem Höflichkeitsformen wie etwa ein gezwungenes Grinsen gelernt hat) – die drei interagieren mitunter so, dass es wie 'Meine Braut, ihr Terminator-Vater und ich' anmutet, und zu einer Episode im Dauerzank zwischen Schwängerer und Schwiegerpapa läuft 'I wanna be sedated' von den Ramones. Aber ein einstiger Running Man ist kein einstiger Raging Bull, sprich: Schwarzenegger ist nicht DeNiro. Vielleicht soll ja der Terminator, jetzt wo Leonard Nimoy sich nicht mehr wehren kann, in die Fußstapfen von Spock treten – von wegen kaltherziger SciFi-Programmlogiker mit Bittermiene, dem ab und zu ein Hauch von Humanität abgerungen wird und der ob seiner Oneliner zum eben doch knuddligen Publikums-, zumal Kinderliebling avanciert. Aber Arnolds penetrant aufgesagtes 'I’m old, not obsolete' ist kein 'Live long and prosper', sondern macht eher deutlich, dass 'I’ll be back' irgendwas mit Rückenschmerzen bedeutet.

Ansonsten fallen Jai Courtney, Emilia Clarke und Jason Clarke durch jeweils schöne Lippen angenehm auf. J.K. Simmons hat halblustige Auftritte als verwirrter Polizist, der Film hat ein Längenproblem, starken Hang zur Melancholie, zuviel Vertrauen in zuviele Gut-Böse-Wendungen (Doppelbödigkeit als Routineprogramm), reichlich Dialog und zuwenig durchschlagende Effekte. Die Bühnenversion wird besser.

Heil

(D 2015, Regie: Dietrich Brüggemann)

Klatscht die Nazis, klopft die Schenkel
von Jürgen Kiontke

Ich sage nicht, Dietrich Brüggemann hätte 'Heil' nicht drehen sollen, bietet er doch manchmal die ein oder andere brauchbare Detaillösung und gute Darsteller. Aber vielleicht: so nicht. Sebastian, Vorzeige-Deutscher mit …

Ich sage nicht, Dietrich Brüggemann hätte 'Heil' nicht drehen sollen, bietet er doch manchmal die ein oder andere brauchbare Detaillösung und gute Darsteller. Aber vielleicht: so nicht.

Sebastian, Vorzeige-Deutscher mit Migrationshintergrund und Buchautor, landet mit seinem Bestseller in einem ostdeutschen Kaff. Als ihm die ansässige Skinheadschar eins mit dem Baseballschläger verpasst, verliert er den Verstand und plappert künftig alles nach, was ihm die Schlips- und Kragen-Nazis einflüstern. »Ausländer raus« klingt authentischer, wenn’s ein Ausländer sagt, so die Devise. Politiker wie TV-Anstalten nehmen es mit Freuden wahr, Verfassungsschützer überschlagen sich beim Pampern der todbringenden Kameradschaften. Liebe, Antifa und Fettsucht spielen auch mit.

In dieser Komödie geben sich Behördenskandale, mediale wie politische Verwurstung von Neonazis und Integrationsdebatte die Hand. Das hätte was werden können – hätte Brüggemann auch mal was hinterfragt. Statt dessen steht das Kinoformat Deutsche Komödie im Vordergrund: Die deutsche Wirklichkeit bildet nur den Hintergrund für meist simpel gestrickten Humor. Was wäre gewonnen, würden Nazis »White Power« mal richtig schreiben? Schau mal, der Richter ist wirklich blind auf dem rechten Auge, Racial Profiling kann ja so lustig sein!

An den Schauspielern liegt’s nicht. Bestnoten verdient ihre Performance, wenn sie aus dem Komödienstadl heraustreten: etwa der brillante Jacob Matschenz als brutalisierte SA-Nachwuchskraft, der offenkundig ausblendet, dass er in irgend etwas Spaßigem mitspielt.

Aber ehrlich gesagt war der Film für mich schon nach 20 Sekunden beendet. 'Heil' beginnt mit drei kurzen Einstellungen, dazu eingeblendet die Zeile »Deutschland 1945«: Zuerst sieht man die deutsche Wehrmacht im Einsatz, dann Hitler, dann einen Leichenberg im KZ. Dann beginnt der lustige Film. KZ-Opfer als Opener für eine Parade lauwarmer Gags: Brüggemann und seine Geldgeber von der öffentlich-rechtlichen Filmförderung sollten sich mal fragen, ob sie noch alle Tassen im Schrank haben.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 07/2015

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Heil'.

Escobar: Paradise Lost

(F / S / B / PAN 2014, Regie: Andrea di Stefano)

Im Reich des Bösen
von Sven Pötting

„Escobar – Paradise Lost“ ist eine spanisch-französisch-belgische Koproduktion mit Jungstar Josh Hutcherson („Die Tribute von Panem“) als Surferboy Nick, der sich gemeinsam mit seinem Bruder Dylan (Brady Corbet) an der …

„Escobar – Paradise Lost“ ist eine spanisch-französisch-belgische Koproduktion mit Jungstar Josh Hutcherson („Die Tribute von Panem“) als Surferboy Nick, der sich gemeinsam mit seinem Bruder Dylan (Brady Corbet) an der idyllischen kolumbianischen Küste den Traum einer eigenen Surfschule und eines Hippie-Lebens erfüllen will, dann aber in die Fänge von Pablo Escobar gerät.

Wie allgemein bekannt sein dürfte, gab es Pablo Escobar wirklich. Schon Ronald Reagan hatte den berüchtigten Drogenkartell-Chef als psychopathischen Serienkiller eingestuft; George Bush Senior setzte ihn später dann auf die Liste der ultimativen Superschurken und auf eine Stufe mit seinem Erzfeind Saddam Hussein.

Aber wie trifft ein Normalsterblicher auf das personifizierte Böse? Regisseur und Drehbuchautor Andrea di Stefano erklärt dies wenig originell mit einer Liebesgeschichte. Nick begegnet María (Claudia Traisac), der Nichte des Paten, mit der er eine Beziehung eingeht und die ihn in den Familienclan einführt.

Er ist Kanadier und ein wenig unbedarft, was als Erklärung dafür herhalten soll, dass Nick zunächst nicht weiß, dass der Onkel seiner Freundin der meistgesuchte und reichste Verbrecher der Welt ist. Deswegen entscheidet er sich auch dazu, den Traumstrand zu verlassen und freiwillig zum Gefangenen in der irrealen Welt von Escobars Narco-Ranch zu werden. Zunächst glaubt er, seinem Traum vom Paradies näher gekommen zu sein, aber als er eines Tages ein paar Mitarbeiter seines Gastgebers in blutverschmierter Kleidung beobachtet, die Leichen entsorgen, kommt er doch ins Grübeln. Scheinbar ist der Verwandte seiner Freundin, doch nicht der charmante und joviale „Onkel Pablo“, der liebevolle aber manchmal etwas exzentrische Gastgeber, für den er ihn bislang gehalten hat.

Als María – wir schreiben das Jahr 1989 – aus dem Fernsehen erfährt, dass der kolumbianische Präsidentschaftskandidat Luis Carlos Galán, der für den Fall seiner Wahl eine verstärkte Offensive gegen die Drogenmafia angekündigt hatte, im Auftrag ihres Onkels ermordet wurde, kann sie das nur schwer glauben, beschließt aber, zusammen mit ihrem Freund das Land zu verlassen. Bevor die beiden fliehen können, wird Nick zum Paten gerufen. Der kleine „Freundschaftsdienst“, den dieser einfordert und mit dem er Nicks Treue auf die Probe stellt, hat tödliche Konsequenzen.

In dieser kurzen Zusammenfassung wird schon deutlich, dass nicht besonders viel Energie ins Drehbuch gesteckt wurde. Die Handlung ist, obwohl sie lose von einer wahren Begebenheit im Umfeld Escobars inspiriert sein soll, recht unglaubwürdig. Die Figurenkonstellation ist auch nicht neu, sie erinnert stark an Kevin Macdonalds „The Last King of Scotland.“

Man merkt, dass Josh Hutcherson ein guter Schauspieler ist, aber dennoch wird die von ihm verkörperte Figur aufgrund ihrer Naivität und Verblendung niemals zum Sympathieträger. Die Nebenfiguren dagegen bleiben seltsam blass. In wenigen Minuten wird erzählt, wie Nick und María sich kennenlernen und sie ihn in die Familie einführt. Danach taucht sie nur noch als Stichwortgeberin auf. In keinem Moment wird erkennbar, warum oder dass sie Nicks große Liebe ist, für die es lohnt, sich das Leben zu ruinieren. Auch Brady Corbet darf als Dylan ein paar Mal betroffen in die Kamera schauen und seinen Bruder vergeblich warnen und verschwindet dann.

Zurück zu den Tatsachen: Gut geschmiert mit Escobars Dollars verabschiedete der Kongress Anfang der 1990er Jahre eine neue Verfassung, die die Auslieferung kolumbianischer Staatsbürger in die USA verbot. Daraufhin handelte Escobar, obwohl er offiziell auch in Kolumbien ein Public Enemy war, die Bedingungen seiner (freiwilligen) Gefangennahme aus und der Staat baute ihm ein Gefängnis nach seinen Wünschen. Er diktierte also selbst die Bedingungen des Krieges gegen ihn. Diese Begebenheit nimmt der Film in seine Handlung mit auf. Nick soll als Quasi-Verwandter mithelfen, die ökonomischen Ressourcen des Drogenimperiums zu sichern, bevor der Patrón sich ausliefert – und dabei die Zeugen beseitigen. Hier setzt die Handlung ein, die ganze Vorgeschichte wird in einem Flashback erzählt. Das Problem ist, dass die Schachtelkonstruktion recht ungeschickt anmutet und die Chronologie der Erzählung jegliche Spannung im Keim erstickt.

Damit der Zuschauer auch bloß alles versteht, werden entscheidende Szenen nach der langen Rückblende noch einmal wiederholt. Dies ist unnötig und wirkt ein wenig bevormundend.
Regelrecht aufdringlich und voller Klischees ist die Bildsprache. Ein Beispiel: Nachdem Nick letztlich gemerkt hat, wie tief er selbst in die schmutzigen Machenschaften des Medellín-Kartells verstrickt ist und ein großes Problem hat, flüchtet er sich natürlich in eine Kirche. Im wahrsten Sinne des Wortes hat er blutige Hände. Immer wieder werden Kruzifixe in Großaufnahme gezeigt. Begleitet wird diese pathetische Szene von dramatischer Musik.

Anders als Nick ist Pablo Escobar eine schillernde Figur. Wäre der „echte Escobar“ der Psychopath und Serienmörder gewesen, als den ihn die konservativen Politiker in den USA bezeichneten, hätte er niemals zur Legende werden können. Was seine Biographie so faszinierend macht, sind die Widersprüche, die sie vereint.

Escobar betrieb als erster den Drogenhandel als Industrie. Von Medellín aus baute Escobar ein Rauschgiftimperium auf und verdiente mit Kokainschmuggel in die Vereinigten Staaten Milliarden. Seine ehemalige Geliebte Virgina Vallejo, damals Kolumbiens bekannteste Fernsehjournalistin, schrieb später in ihrer Biographie „Amando a Pablo, odiando a Escobar' („Pablo lieben und Escobar hassen“): „In den Häusern Pablos waren die Kleiderschränke vollgestopft mit Dollarnoten.' Das Geld wurde nicht mehr gezählt, sondern gewogen.

Mit seinem Geld erkaufte er sich Macht und zog sogar als Abgeordneter in den kolumbianischen Kongress ein – natürlich um seine eigenen Interessen zu vertreten. Er war ein Unternehmer, mit dem sich zeitweise Regierungsvertreter, Großgrundbesitzer, Banker und auch das Militär arrangiert hatten. Dazu galt er auch als Volksheld. Viele sahen ihn als eine Art Robin Hood, der sich, anders als die traditionellen Politiker Kolumbiens, auch um die Armen kümmerte. Er ließ Krankenhäuser, Fußballplätze und Schulen bauen und sogar Stadtviertel für Menschen errichten, die vorher auf Müllkippen gelebt hatten. Aber gleichzeitig war der Tod immer auch sein Machtinstrument und die Form, sich gegenüber seinen Feinden verständlich zu machen. Auf Politiker, Journalisten, Richter, Polizisten, die nicht auf seiner Seite waren, wurde ein Kopfgeld ausgelobt. Auch Unbeteiligte kamen bei Attentaten zu Tausenden zu Tode.

Als Escobar bei einem filmreifen gescheiterten Fluchtversuch im Dezember 1993 erschossen wurde, gönnten sich seine Häscher mit dem toten Staatsfeind ein Triumphbild. Man sieht darauf lachende Soldaten auf roten Dachziegeln vor einem verdrehten Leichnam mit hochgerutschtem T-Shirt. Es sieht ein bisschen so aus, als hätten Jäger ein Tier erlegt. Diese Fotografie wurde zum ikonischen Bild. Escobar war nun endgültig zum Mythos geworden.

Regisseur und Drehbuchautor Andrea di Stefano will einerseits den Mythos zerstören, andererseits will er aber auch das ganze vielschichtige Bild des Drogenbosses, mit all seinen Details und Facetten in ihrem faszinierenden Zwielicht zeigen. Die Rolle des Pablo Escobar ist mit Benicio Del Toro hervorragend besetzt. Man könnte auch sagen, dieser hat sich selbst besetzt, denn Del Toro fungierte auch als Co-Produzent des Films. Um zu vermeiden, dass der Zuschauer sich allzu sehr mit dem grausam-charmanten Drogenboss identifiziert, der ein hervorragender Entertainer und ein liebevolles Familienoberhaupt sein kann, im nächsten Moment aber die Bedrohlichkeit eines Raubtiers ausstrahlt, greift der Regisseur wieder auf Klischees zurück. Bevor sich Escobar freiwillig ins Gefängnis begibt, wird er als paranoider müder Mann mit wirrem Haar und dichtem Bart gezeigt, der wie Werner Herzogs „Aguirre“ Gott droht. Unweigerlich denkt man bei diesem verwirrten Somnambulen an die ebenfalls ikonisch gewordenen Bilder der Verhaftung Saddam Husseins. Di Stefano möchte mit dieser Analogie wohl sichergehen, dass der Zuschauer auch wirklich verstanden hat, dass Escobar böse ist.

Eine Geschichte über den Mann, der in wenigen Jahren vom Zigarettenzocker und Autoknacker zum Drogenboss und größten Kriminellen des 20. Jahrhunderts aufstieg, hat das Potenzial zum packenden Thriller oder zum Gangsterepos, nur leider nutzt „Escobar – Paradise Lost“ dieses nicht. Besser als diese „Bio-Fiction“, ist der Dokumentarfilm „Pecados de mi padre“ – Die Sünden meines Vaters“, eine öffentlichen Vergangenheitsbewältigung von Sebastián Marroquín, dem Sohn des Paten. Wenn man ein wenig Zeit hat, sollte man in „Escobar, el patrón del mal“ hineinschauen, eine 113-teilige Serie aus Kolumbien (2012), die Escobars ganze Laufbahn und damit den ganzen Wahnsinn der organisierten Kriminalität erzählt.

Den Menschen so fern

(F 2014, Regie: David Oelhoffen)

Zwei gingen zusammen
von Ulrich Kriest

Irgendwo im Atlasgebirge steht einsam ein Schulgebäude und morgens kommen aus dem Nichts plötzlich Kinder unterschiedlichen Alters herbei gelaufen, um von ihrem Lehrer Daru unterrichtet zu werden. Der lehrt sie …

Irgendwo im Atlasgebirge steht einsam ein Schulgebäude und morgens kommen aus dem Nichts plötzlich Kinder unterschiedlichen Alters herbei gelaufen, um von ihrem Lehrer Daru unterrichtet zu werden. Der lehrt sie auch Dinge von geringem Belang, denn noch ist Algerien eine französische Kolonie, wenngleich schon Bürgerkrieg herrscht. Dass Daru im freiwillig gewählten Abseits davon nicht tangiert würde, von dieser Illusion befreit uns der Film schnell.

Daru bekommt den Auftrag, den Mörder Mohamed der französischen Gerichtsbarkeit zuzuführen. Eine Reise, die mehrere Tage in Anspruch nimmt und nicht ganz ungefährlich – wie sich schnell herausstellt. Mohamed will auf eigenen Wunsch der Justiz überstellt werden, um so seine Familie vor der Logik der Blutrache zu schützen. Als sich Daru der Aufgabe nicht entziehen kann, sind die beiden Männer für die Zeit der Reise aneinander gekettet, zumal Mohamed die Gelegenheiten zur Flucht, die der unwillige Daru ihm bietet, nicht nutzt.

Welche Gefahren drohen, wird schnell klar, denn der Frontverlauf im gespaltenen Land ist undurchsichtig. Zudem treten Verwandte von Mohameds Opfer auf, die Rache wollen. Während also Daru und Mohamed durch die karstige Wüstenei wandern, erhalten beide Figuren die Gelegenheit, mehr von sich zu erzählen, ihre Motivation offen zu legen. Auch dies geschieht sehr souverän und zurückhaltend.

1957, drei Jahre nach Beginn des Unabhängigkeitskrieges, veröffentlichte Albert Camus seine parabelhafte Erzählung „Der Gast“, die bei ihm noch kurz vor dem Kriegsausbruch spielt. Unübersehbar geht es hier um den Akt des Handelns, der als Revolte gegen die Ausweglosigkeit, als Freiheit empfunden werden kann. Mohamed wählt den Tod, aber den Tod durch die Guillotine und nicht den Tod durch die Blutrache, der die Gewalt fortschreiben würde. Daru, der sich eigentlich raushalten möchte, um seine Einsamkeit zu bewahren, wird durch Ereignisse gezwungen, Stellung zu beziehen.

Regisseur David Oelhoffen hat aus dem Stoff – eigentlich nahe liegend – von der ersten Szene an einen Western gemacht, ziemlich konsequent und voller Verbeugungen vor Genre-Momenten klassischer Western. Während die beiden Protagonisten sich einander annähern (wobei der Film stets darauf pocht, die kulturell-religiöse Differenz nicht zu negieren), erleben sie abenteuerliche Begegnungen mit fanatischen Siedlern, auf Rache sinnenden Männern aus Mohameds Dorf, mit Kämpfern der FLN und schließlich auch mit französischen Elite-Soldaten, die im Hinterland keine Gefangenen machen. Die Handlung spielt sich ab in einer archaisch-schroffen Natur, die durch Cinemascope die menschenfeindliche Landschaft noch erhabener und die Menschen darin noch kleiner werden lässt.

Am Schluss wird Mohamed tatsächlich die Wahl zwischen Leben und Tod haben, während es für Daru kein Zurück ins alte Leben „den Menschen so fern“ mehr geben kann. Inmitten des herrschenden Krieges wird es keine Versöhnung geben, stattdessen geht es um das nackte Überleben und das Wahren der Menschenwürde. Die Reduktion auf das Essentielle wird noch unterstrichen durch die eindrucksvolle, gleichfalls sehr reduzierte, fast schon abstrakte Filmmusik von Nick Cave und Warren Ellis.

„Den Menschen so fern“ ist vielleicht kein Meisterwerk, aber als philosophischer Western eine schöne Erinnerung an Klassiker von Budd Boetticher oder die frühen Western von Monte Hellman. Und gewiss nicht arm an Momenten, die das Geschehen mühelos auf unsere Gegenwart beziehbar macht. Sehenswert!

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Den Menschen so fern'.

Interstellar

(USA / GB 2014, Regie: Christopher Nolan)

Erzählen in geschichtsloser Zeit
von Ricardo Brunn

Ein spukendes Bücherregal macht den Anfang in Christopher Nolans Science-Fiction Film „Interstellar“. Aufgeweckt vom Geist hinter (oder in) den Büchern schleicht die zehnjährige Murphy (Mackenzie Foy) im Zwielicht des anbrechenden …

Ein spukendes Bücherregal macht den Anfang in Christopher Nolans Science-Fiction Film „Interstellar“. Aufgeweckt vom Geist hinter (oder in) den Büchern schleicht die zehnjährige Murphy (Mackenzie Foy) im Zwielicht des anbrechenden Tages ins Schlafzimmer ihres Vaters Cooper (Matthew McConaughey), der ihr, aufgeschreckt von seinen eigenen Albträumen, zu verstehen gibt: „There’s no such thing as ghosts.“ Begleitet wird diese Szene von zunächst einmal befremdlich wirkenden Interviews. Sie beschreiben parallel zum beginnenden Tag die Lebensumstände der Protagonisten, in denen Sandstürme und ausbleibende Ernten zum Alltag gehören. Es ist eine schlichte, aber gerade darum großartige Eröffnungssequenz, weil sie ganz beiläufig unterschiedliche Arten von Geschichten sowie das jeweilige Vertrauen das diese einfordern in den Mittelpunkt rückt. Christopher Nolans „Interstellar“ ist somit nicht nur Film über die phantastische Reise eines Forscherteams auf der Suche nach einem neuen Zuhause für die Menschheit oder über einen Vater, der für ebendiese Reise seine Tochter verlassen muss, ohne zu wissen, wann er zurückkehren wird. „Interstellar“ ist vielmehr ein Film über die Notwendigkeit des Erzählens in einer geschichtslosen Zeit.

„Wer auf das Erzählen verzichtet,“ schreibt Odo Marquard in „Skepsis in der Moderne“, „verzichtet auf seine Geschichte.“ Erst mit dieser Geschichte – den Erzählungen von Grenzüberschreitungen und das Denken verändernden Erfahrungen – ist ein Zukunftsentwurf überhaupt möglich. Unter den derzeitigen Bedingungen ist das Entstehen von etwas Neuem jedoch unmöglich, da die Gegenwart einen totalitären Anspruch erhebt. Zukunftsorientiertes Handeln erschöpft sich heute nahezu vollständig in den auf Kurzfristigkeit hin ausgelegten Begriffen von Wachstum und Wettbewerb. Jenseits des tagespolitischen Aktionismus im immer schneller schlagenden Takt der Börse ist der Politik jeder Gestaltungswille abhanden gekommen. Resultat ist ein radikaler Zukunftsverlust, der das Wunschbild eines möglichen, anderen Zusammenlebens per se ausklammert.

Geschichten im Sinne einer Utopie werden uns heute vorrangig von transnationalen Konzernen erzählt. Deren Fortschrittserzählung kennt jedoch lediglich das nächste Gadget, das in immer kürzeren Abständen ausgetauscht werden muss. Zukunft ist hier zum großen Teil nur die Vision einer Technik, die darin benutzt wird – alles geht so weiter wie immer, nur eben besser. Der Mensch wird in diesen Utopien vehement auf sein Dasein als Konsument verkleinert. Als solcher benötigt er keine Geschichte, die das Kaufen von Produkten, die selbst keine Geschichte mehr vertragen (sei es nun der kurzlebige Ikea-Schrank oder der per geplanter Obsoleszenz in frühzeitigen Ruhestand versetzte Drucker), nur behindern würde. Andererseits ist er unter dem Diktat einer sich angeblich in konstantem Wandel befindlichen Welt unablässig damit beschäftigt sich zu optimieren und anzupassen und damit eine eigene Geschichte zu inhibieren. Die Pseudogemeinschaften der Sozialen Netzwerke mit ihrem Zwang zur unablässigen Präsenz (der nach Byung-Chul Han zugleich einen Zwang zum Präsens darstellt) erschweren das Entstehen eines zum Handeln fähigen Subjekts oder gar einer Gemeinschaft zusätzlich. In der unablässigen Kommunikation, die diese Netzwerke ausgelöst haben sowie der allgemeinen Informationsflut des Internets werden sämtliche Inhalte gleichwertig und damit herkunfts- und geschichtslos. Denn Informationen benötigen einen Zusammenhang, in dem sich Sinn und damit Geschichte(n) erst entfalten können.

“Interstellar” präsentiert uns in den Anfangsminuten quasi ein mögliches Endstadium dieser Entwicklung. In Murphys Schulbüchern werden die Mondlandungen als Täuschungen dargestellt. Es gibt nur vage Erinnerungen an eine Vergangenheit, die voller Versprechen war und sich nun der Vorstellung entzieht. Was zählt, ist das Hier und Jetzt, eine Welt der “caretakers”, nicht der “pioneers”. Nolans Diagnose ist geprägt von einer großen Skepsis gegenüber dem technischen Fortschritt. Sein Protagonist Cooper kann sich auf seiner Reise durch den interstellaren Raum nur schwer mit den Robotern TARS und CASE anfreunden, weil es ihnen an Intuition und Erfahrung (und damit Bezugnahme auf eine Vergangenheit) mangelt. Er widerspricht ihren Berechnungen (CASE: „It’s impossible“; Cooper: „No, it’s necessary“), bis diese in der spektakulärsten Szene des Filmes – in der es wie an vielen Stellen darum geht, eine Verbindung zwischen Objekten unterschiedlicher zeitlicher oder räumlicher Ordnung herzustellen – einen wahnwitzigen Schritt gehen und Irrationalität zulassen: „Cooper, this is no time for caution.“ Das Misstrauen des Regisseurs schlägt sich überdies in der Produktionsweise des Filmes nieder. Gedreht auf Filmmaterial, beharrt er auf der Verwendung klassischer Spezialeffekte anstatt computergenerierter Bilder. Und tatsächlich entsteht auf diese Weise eine andere, greifbarere Materialität, die im Gegensatz zur Glätte des digitalen Bildes bereits an der sichtbaren Oberfläche an eine Kinotradition anzuknüpfen vermag.

Die erstaunlichste Verbindung auf erzählerischer wie formaler Ebene gelingt „Interstellar“ allerdings mit den so unscheinbar wirkenden Interviewszenen, die in unregelmäßigen Abständen mit der Handlung verflochten werden. Sie entstammen dem Dokumentarfilm „The Dust Bowl“ (R: Ken Burns; USA 2012) über die schweren Sandstürme in Nordamerika zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1930 und die Menschen, die davon betroffen waren. Christopher Nolan verbindet seine Geschichte mit der amerikanischen Geschichte einer Zeit, die ebenfalls von einer großen Krise geprägt war und in der der heute alles bestimmende Neoliberalismus, der die Entkopplung des Menschen von seinen Geschichten maßgeblich vorangetrieben hat, seine Wurzeln hatte. Die Verbindung ist deshalb so außerordentlich gelungen, weil in einigen Interviews, die auf den ersten Blick ja alle aus ‚The Dust Bowl‘ stammen müssten, eine um viele Jahre gealterte und deshalb anfangs nicht zu erkennende Figur aus „Interstellar“ zu sehen ist. Erst ganz am Schluss wird man sich der Retrospektivität des Filmes bewusst. Es ist eine vielschichtige und magische Korrelation von Realität und Fiktion, von Vergangenheit und Zukunft, die in keinem Genre hätte besser erzählt werden können als im Möglichkeitsgenre Science-Fiction.

Wie in keinem anderen Film in den letzten Jahren ist es in „Interstellar“ wieder möglich, etwas zum ersten Mal zu sehen, zu erfahren und ein Gefühl dafür zu bekommen, was es bedeutet, ein Pionier zu sein. Im Gegensatz zu den ewig um sich selbst kreisenden marvelesken Materialschlachten lässt „Interstellar“ den Zuschauer mit jeder Filmminuten näher an den Rand des Kinosessels rücken, lässt ihn tatsächlich Grenzen überschreiten; Grenzen, die unser Vertrauen in Geschichten verlangen, gerade weil sie nicht Eskapismus predigen und vergessen werden können, sondern mithilfe eines Bücherregals, eines Wurmloches und dokumentarischem Material eine Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schaffen. Aus diesem Grund verschränkt Nolan die Interviews aus „The Dust Bowl“ mit der Handlung seines Filmes: um aus Historischem, eine Geschichte über bereits geschehene Zukunft in unserer Gegenwart zu erzählen. Es mag in „Interstellar“ um die klassischen metaphysischen Fragen gehen, im Kern versucht der Film uns jedoch aufzuzeigen, dass die wichtigste Frage unserer Zeit (ganz im Sinne Harald Welzers) die nach der Geschichte ist, die wir von uns selbst in der Zukunft erzählen wollen. Also! Wer wollen wir gewesen sein?

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Interstellar‘.

Härte

(D 2015, Regie: Rosa von Praunheim)

Eiskalter Block
von Wolfgang Nierlin

Er sei ein „harter junger Mann“ und „eiskalter Typ“ gewesen, ein „Block“, der niemanden an sich heran gelassen habe, sagt Andreas Marquardt im Rückblick auf seine Jahre als Berliner Zuhälter. …

Er sei ein „harter junger Mann“ und „eiskalter Typ“ gewesen, ein „Block“, der niemanden an sich heran gelassen habe, sagt Andreas Marquardt im Rückblick auf seine Jahre als Berliner Zuhälter. Stark und unerschrocken, strahlt der vielfache Karatemeister (der mittlerweile Kinder trainiert) auch heute noch schiere Kraft und souveräne Männlichkeit aus. Vielleicht ist es diese Mischung aus körperlicher Energie und Verlässlichkeit, die ihn vor allem für viele labile, schutzbedürftige Frauen so attraktiv machte und ihnen ein Gefühl der Sicherheit gab, auch wenn sie von ihm ausgebeutet und geschlagen wurden. An einer Stelle von Rosa von Praunheims Film „Härte“, der den unter gleichem Titel erschienenen Lebenserinnerungen Marquardts folgt, bemerkt der Portraitierte zu diesem paradoxen Verhalten: „Je brutaler ich zu den Frauen war, desto mehr liefen sie hinter mir her.“

Das gilt vor allem für die hübsche Marion Erdmann (Luise Heyer), die als 16-Jährige den zunächst kleinkriminellen Macho „Andy“ (Hanno Koffler) „anhimmelt“, von seiner „verkehrten Welt“ fasziniert ist und ab ihrer Volljährigkeit für ihn auf den Strich geht. Mit „Zuckerbrot und Peitsche“, mit Komplimenten und Schlägen macht Marquardt die teils naive junge Frau gefügig; und noch Jahrzehnte später bekennt diese geradezu Hörige, er sei „der richtige Mann“ gewesen. Was die beiden jedoch insgeheim verbindet: In ihrer Kindheit und Jugend waren sie Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch. So ist Andreas Marquardt bereits als kleiner Junge nicht nur dem brutalen Sadismus seines Vaters, sondern auch den sexuellen Übergriffen seiner Mutter ausgesetzt, die den Heranwachsenden zum Geschlechtsverkehr mit ihr zwingt. Von Scham, schuldbeladener Lust und Ekel traumatisiert, entwickelt Marquand schließlich einen unbändigen Frauenhass.

Rosa von Praunheims Docufiction, die fließend zwischen den Selbstzeugnissen der Interviewten und nachgestellten, in Schwarzweiß gedrehten Spielszenen wechselt, schildert vor allem das Psychogramm dieser Gewalterfahrung und der daraus resultierenden Geschichte (die damals Therapeuten überforderte und noch heute Unverständnis hervorruft). In exemplarischen, auf das Wesentliche reduzierten Szenen zeigt der stark stilisierte Film, wie aus einem Opfer ein Täter wird, ohne damit dessen Taten zu entschuldigen. Dies gelingt dem Regisseur, indem er das Geschehen in einem künstlichen, fast abstrakten Studio-Setting inszeniert und durch diesen Verfremdungseffekt eine leicht unterkühlte Distanz schafft. Verstärkt wird dieses Konzept noch durch das leicht formelhafte Spiel der Darsteller, das so als Spiel immer sichtbar bleibt. Nur in der Darstellung des kleinen Andreas wechselt von Praunheim eine Zeitlang in die radikal subjektive Perspektive des Kindes und zwingt auf diese Weise auch den Blick des Zuschauers in eine unbehagliche Nähe zum Geschehen.

Bonne Nuit Papa

(D 2014, Regie: Marina Kem)

Das Schweigen des Vaters
von Wolfgang Nierlin

„Dein Schweigen war auch mein Schweigen“, heißt es einmal in Marina Kems vielschichtigem Dokumentarfilm „Bonne Nuit Papa“ über die lange Sprach- und Beziehungslosigkeit zwischen Vater und Tochter. Letztere begibt sich …

„Dein Schweigen war auch mein Schweigen“, heißt es einmal in Marina Kems vielschichtigem Dokumentarfilm „Bonne Nuit Papa“ über die lange Sprach- und Beziehungslosigkeit zwischen Vater und Tochter. Letztere begibt sich mit ihrem sehr persönlichen Film auf die Suche nach ihrem kambodschanischen Vater und seinem zunehmenden Verstummen in den letzten Jahren seines Lebens. Dabei verknüpft sie das starke Gewicht ihrer biographischen Erzählung mit Fragen der kulturellen Identität und den grausamen Wirkungen der politischen Geschichte. Marina Kem erzählt aus dem Off ebenso sachlich wie gefühlvoll von Fremdheit, Annäherung und Versöhnung. Dafür verwendet sie Briefe, Aufzeichnungen und Fotos aus dem Nachlass ihres Vaters, spricht mit Familienmitgliedern und schöpft aus dem reichen Fundus von Archiven.

Im Jahre 1965 kommt der damals 19-jährige Ottara Kem, aufgewachsen als Sohn eines strengen Schuldirektors in einem kambodschanischen Dorf, mit einem Stipendium nach Leipzig, um Maschinenbau zu studieren. Als sehr guter Student macht er zunächst sein Diplom als Ingenieur, um daran anschließend zu promovieren. Als charmanter, gutaussehender junger Mann lernt er seine spätere Frau Monika Bethmann kennen, mit der er drei Töchter hat. Die Familie lebt in dem sächsischen Dorf Bretnig, wo das Ehepaar in der Textilindustrie arbeitet. Während dieser Zeit wird Ottara Kems fernes Heimatland, in das er ursprünglich zurückkehren wollte, vom brutalen Terrorregime der Roten Khmer überzogen, dem fas alle Angehörigen zum Opfer fallen.

Einfühlsam blickt Marina Kem durch die Zeugnisse ihres Vaters auf dessen Leben und beginnt nach und nach zu verstehen: Wie Lebenspläne durch die kleine und große Geschichte verändert oder ganz zunichte gemacht werden; wie unter den Wirkungen einer scheiternden Ehe, kultureller Entwurzelung und kriegerischer Auslöschung ein Leben im Schweigen versinkt; und wie angesichts der innerdeutschen politischen Wende ein hoffnungsvolles Beginnen in Arbeitslosigkeit und Depression mündet. In ihrem überaus reichen, von tiefer Menschlichkeit getragenen Film, der nicht zuletzt auch Trauerarbeit ist, zeigt Marina Kem aber auch einen Weg zur Versöhnung. Schließlich findet sie in der (fremden) Heimat ihres Vaters eine neue Familie.

Freistatt

(D 2015, Regie: Marc Brummund)

„Das kannst du besser, komm schon!“
von Ulrich Kriest

Klar! Wir sollten „Victoria“ den aktuellen Erfolg von Herzen gönnen, darüber aber die Bedeutung der Gegenwart im deutschsprachigen Kino nicht überbewerten. Fakt ist: Geschichte geht immer! Gerade sehr angesagt in …

Klar! Wir sollten „Victoria“ den aktuellen Erfolg von Herzen gönnen, darüber aber die Bedeutung der Gegenwart im deutschsprachigen Kino nicht überbewerten. Fakt ist: Geschichte geht immer!
Gerade sehr angesagt in den Kinos: West-Deutschland, fiktional, dokumentarisch, kreuzweise. Besser noch: the dark side of the alte BRD, wo junge Staatsanwälte alte Nazi-Täter jagen („Im Labyrinth des Schweigens“), eine Generation den antiautoritären Aufbruch probt („Une jeunesse allemande“) und sich die kreative Bohème schließlich desillusioniert auf der Insel der Glückseligen versammelt, um das Hohelied der „Genialen Dilettanten“ anzustimmen („B-Movie“, „Tod den Hippies. Es lebe der Punk!“), bevor die Love Parade den Kudamm erobert.

Oder vielleicht doch noch einmal von der RAF sprechen? Über Bande, gewissermaßen? Stichwort: Schließlich gab es in den Sixties auch Ungleichzeitigkeiten in Form von kirchlichen oder staatlichen Fürsorgeheimen, in die renitente Jugendliche von überforderten oder auch schlicht genervten Eltern mit Hilfe von Jugendämtern abgeschoben werden konnten und in denen noch lange der Muff von tausend Jahren waberte. Die kirchliche Fürsorgeanstalt Freistatt, wunderschön gelegen in norddeutscher Moorlandschaft, galt als besonders harte Verwahranstalt, wo die Persönlichkeit Jugendlicher durch Repression und Zwangsarbeit gebrochen wurde. Gerade erst hat Christian Frosch mit „Von hier an kein zurück“ an Freistatt erinnert, jetzt macht Marc Brummund der berüchtigten Verwahranstalt filmisch den Prozess in Gestalt eines Genre-Films. Froschs Film ist eine ambitionierte Mischung aus Meinhofs „Bambule“ und Fassbinder, Brummunds eher „Working on a Chain Gang“ mit allem „torture porn“-Pipapo: Gewalt, Missbrauch, undurchsichtige Regeln und Machthierarchien, Fluchtversuche, Ohnmacht, Selbstmord, Auflehnung und Widerstand. Brummund zeichnet nach allen Regeln der Kunst (gute Darsteller, großartige Kameraarbeit, wirkungsvolle Filmmusik, Naturmetaphorik) eine autoritäre Welt, die sich erfolgreich abzuschotten weiß gegen die Liberalisierungen der Zeit.

Leider macht der Film selbst die Genre-Schotten dicht, fokussiert die Hauptfigur, interessiert sich nicht weiter für die Geschichte und Motive der Nebenfiguren, was dem sicherlich bestens durchrecherchierten Stoff märchenhafte (Western-)Züge verleiht. Da ist der böse Stiefvater, die hilflos-nette, Kuchen backende Mutter, der aufrechte und gerechte Sohn Wolfgang und sein treuer Gefährte Anton, das afro-deutsche Waisenkind. Da ist der böse Herrenreiter und Hobby-Gärtner Brockmann, seine Schläger- und Missbrauchs-Kapos und sein keckes, Bonanzarad fahrendes Töchterchen Angelika, das in Hamburg vielleicht „was mit Politik“ studieren will. Und da ist der Soundtrack der Revolte aus dem Radio: „Freedom“ singt Richie Havens und „Sometimes I feel like a Motherless Child“ in der vaterlosen Gesellschaft. Wozu soll das führen?

„Freistatt“ setzt auf klassisches Identifikationskino, während „Von hier kein zurück“ seine Geschichte polemischer mit Elementen des Autorenkinos »rahmt«: hier die Schlagerbranche, dort der militante Widerstand als Perspektiven, während Wolfgang erst einmal nur dem Grauen »entkommt«. Durchaus spannend, wenngleich etwas vom »Problem« ablenkend: beide Filme im Zeichen des Strukturalismus hintereinander gucken und auf Spiegelungen, Doppelungen, Weiterungen und Verengungen achten. Notieren! Die monströsen Vater-Figuren (und ihre chargierenden Darsteller: Ben Becker, Uwe Bohm), die hilflosen Mütter, das Straf-Personal, die Mit-Gefangenen, die „Idee“ von Familie als feste Burg, die Momente, in denen der antiautoritäre Aufbruch („Pictures of Matchstick Men“ von Status Quo (sic!)) abgewürgt wird im Zeichen der Disziplinargesellschaft. Wenn dann „Scarborough Fair“ von Simon & Garfunkel in der Version von Sergio Mendes erklingt, ist das bereits der softe Sound der Vorhölle.

Love & Mercy

(USA 2014, Regie: Bill Pohlad)

Das Genie hört Stimmen
von Wolfgang Nierlin

Woher kommt die künstlerische Inspiration? Jenes ungewisse, unkontrollierbare Gut, dessen unwägbares Geheimnis einer göttlichen Gunst zu entspringen scheint und dessen schöpferische Setzung sich dem Kairos verdankt. Dass künstlerische Eingebung nicht …

Woher kommt die künstlerische Inspiration? Jenes ungewisse, unkontrollierbare Gut, dessen unwägbares Geheimnis einer göttlichen Gunst zu entspringen scheint und dessen schöpferische Setzung sich dem Kairos verdankt. Dass künstlerische Eingebung nicht nur nicht erzwingbar ist, sondern auch höchst zerbrechlich, hat die Genies aller Zeiten immer wieder an seelische Abgründe geführt oder in die Verzweiflung gestürzt. Die Angst vor dem Verlust der Inspiration steht deshalb auch am Anfang von Bill Pohlands hervorragendem Film „Love & Mercy“, einem eher untypischen Biopic über Brian Wilson, den genialen Komponisten und insofern musikalischen Kopf der Beach Boys. Konzentriert auf zwei wesentliche Lebensabschnitte, verbindet der Regisseur sehr eindringlich Wilsons künstlerische Kämpfe auf dem Höhepunkt seiner Karriere mit seinen menschlichen Dramen.

Die großen Erfolge der umschwärmten Band zu Beginn der sechziger Jahre, in bunten, körnigen Bildern und einem dynamischen, quasidokumentarischen Handkamerastil aufgenommen, werden insofern nur kursorisch abgehandelt. Stärkeres Gewicht erhält hingegen Brian Wilsons (Paul Dano) künstlerische Abnabelung vom beliebten „Surfsound“, die er gegen seinen autoritären Vater und die Widerstände innerhalb der Band vollzieht und die 1966 schließlich zur Veröffentlichung des Meisterwerks „Pet Sounds“ führt. Auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft, die er in langen Studio-Sessions mit einer Gruppe von Profimusikern kreativ auslebt, wird er allerdings, zunehmend isoliert und unverstanden, immer stärker von seinen inneren Dämonen heimgesucht. Das Genie hört Stimmen, wird wunderlich und sagt nach seinem ersten LSD-Trip, er habe Gott gesehen, der ihm die Zukunft gezeigt habe.

Die Traurigkeit, die dabei in seiner Stimme liegt, hat ihn zwanzig Jahre später im Klammergriff. Der psychisch zerrüttete Wilson (John Cusack), von Drogen gezeichnet und vom Unfalltod eines Bruders Dennis traumatisiert, lebt jetzt wie ein Gefangener in der zweifelhaften Obhut des ebenso zwielichtigen wie tyrannischen Psychiaters Eugene Landy (Paul Giamatti). Dieser scheint selbst wahnhaft zu agieren, indem er seinen labilen, von ihm abhängigen Patienten einer totalen Kontrolle unterwirft und dabei finanziell ausbeutet. In dieser Phase lernt Wilson die einfühlsame Autoverkäuferin Melinda Ledbetter (Elizabeth Banks) kennen, die dem verschreckten, ängstlichen Künstler neuen Lebensmut schenkt.

Bill Pohland verknüpft in seinem ebenso kenntnisreichen wie ausgefeilten Film die Hoffnungen und Kämpfe der bald in eine schwierige Liebesgeschichte verstrickten Protagonisten mit Wilsons künstlerischem Selbstbehauptungswillen Mitte der sechziger Jahre. Dafür wechselt er mit Hilfe einer genauen Montage immer wieder die Zeitebenen und schafft so Entsprechungen und Korrespondenzen. Darüber hinaus gewähren persönliche Erinnerungen seines Helden immer wieder tiefe Einblicke in dessen von konfliktreichen Familienbeziehungen geprägtes Seelenleben, das schließlich auch in seinen Songs Ausdruck findet. Getragen und abgerundet wird der sehr sehenswerte Film nicht zuletzt von dem meisterlichen Spiel eines großartigen Schauspielerensembles.

Ich seh, Ich seh

(AT 2014, Regie: Severin Fiala, Veronika Franz)

The Family Trap(p)
von Drehli Robnik

Ein(ei)igkeit, Konflikt und Staatsmachtgeschichte “Ich seh, Ich seh”: Schon der Titel sagt, dass es hier um eine Doppelung, jedenfalls um ein Mehr an Sehen geht. Also ist es doppelt schwer, …

Ein(ei)igkeit, Konflikt und Staatsmachtgeschichte

“Ich seh, Ich seh”: Schon der Titel sagt, dass es hier um eine Doppelung, jedenfalls um ein Mehr an Sehen geht. Also ist es doppelt schwer, etwas zu sagen, denn: Zum einen muss hier, wie bei vielen rezenten Horror-, Spuk- und Mystery-Thrillern, der spoiler alert zur Anwendung kommen; zum anderen ist schwer zu sagen, was wir da nun sehen – zumal im Rückblick.

Von seinem Ende her tritt diese Ambivalenz an “Ich seh, Ich seh” voll zutage. Zunächst lässt sich sagen: Der Film endet in der perfektionierten Konvention, und auch das in zweifacher Hinsicht: Mit dem Bild der Mutter und ihrer Zwillingsbuben (Susanne Wuest, Elias & Lukas Schwarz), die nicht ganz da sind, aber dafür umso beherzter grinsend 'Weißt du, wieviel Sternlein stehen' in die Kamera singen, ist eine traditionelle Konvention von mütterlich definiertem Familienglück bis zur Perfektion (über)erfüllt und ausgestellt.

Dieses Schlussbild gerät – umso mehr, als es ein Mama-Kinder-Idyll ironisch, also ostentativ wissend ausstellt – zur selbstbezüglichen Signatur des Films und seiner Operation. Und die läuft auf ein mustergültiges Aufpolieren neuerer Horrorfilmkonventionen hinaus: etwa der Mindgame-Film-Plot-Twist-Konvention, der zufolge eine handelnde Figur sich als imaginärer Mitmensch erweist, wobei oft, so auch hier, ein Schuldtrauma im Spiel ist; oder das finale Sich-Fügen-Müssen einer Frau in eine – und sei es adoptionsbedingte – Mutterrolle gegenüber Spukwesen (wie in „The Others“, „The Ring“, „Dark Water“, „Das Waisenhaus“, „Mama“). Das Einschwenken in die Bildlogik der rundum perfektionierten Form, der durch Variation nochmal vitalisierten Konvention, wäre in diesem Sinn das Endergebnis all der Irreführungen, Irritationen und Mysterien, die dieser in Schauspiel, Kamera, Schnitt, Sounddesign und natürlich Veronika Franz‘ und Severin Fialas Regie virtuose Film bietet.

Das betrifft aber nur den ersten Aspekt der Schwierigkeit beim Sagen, was zu sehen ist, eben den, der unters Verdikt des Spoiler Alert fällt. Aber mit diesem Ende ist nicht alles gesagt und nicht alles gesehen, nicht zuletzt auch deshalb, weil der Moment der Retrospektion (Das also war es!), bei dem notorische Blitzmerker sich stolz sagen können, sie hätten es schon lang vorausgesehen ('Ich seh… dead people!' – 'Ich seh… sie auch schon!'), erstens in die Dauer eines Immer-mehr-Dämmerns gestreckt ist und diese zweitens dem Ende lang vorhergeht. Mit dem grinsenden Idyll-Ende ist nicht alles aufgelöst und abgedeckt, was hier an Ominösem und bildlich Eigenlogischem umgeht. Was geht um? Etwas, das nach einem Umgang fragt, der nicht in jenem Dialog zwischen Expertisen besteht, dem zufolge ein schlauer Film vorgibt und ein schlaues Publikum nachvollzieht (oder womöglich oberschlau zuvorkommt: 'Hab‘s eh gewusst!'). Es gilt, diesen Film beim buchstäblichen Bild einer anderen Schlauheit nehmen, einer Einsichtigkeit, die weniger der Virtuosität von FilmemacherInnen oder InterpretInnen entstammt als dem irritierenden (und im Horrorfilm auf perfide Weise mehr als in anderen Genres 'normalen') Haunting von Bildern. Gerade von vertrauten Bildern: von zwei- oder mehrfach gesehenen, die uns somit als „Signs“ im Zustand der „High Tension“ begegnen (um zwei andere Mindgame-Horrorfilme zu nennen, in denen Leute im Maisfeld umgehen).

Dem Ende geht ein immer gewalttätigerer Kampf zwischen Mutter und Zwillingsbuben um die Macht im gemeinsamen, an einem Wald und Teich im sommerlichen Burgenland abgelegenen Haus voraus. Im Verlauf des Kampfes verschieben sich Zuordnungen: Mutter agiert anfangs mit Regeldeklarationen (keine Tiere ins Haus bringen, keine Türen zusperren), auf die die Buben mit Improvisation (Katze verstecken, Türknauf blockieren) antworten; später ist es umgekehrt, und es ist mehr als nur ein Hauch von Folterhorror und Spoiler Alert. Aber auch die Einschätzung, welche Gewalt opferseitige Selbstverteidigung ist und welche ein Terrorregime errichtet, muss revidiert werden – und wohl auch unsere Empathie gegenüber Figuren.

Ohne dass der Film, der fast zur Gänze in der sommerferialen Isolation der Villa und Umgebung spielt, es groß ausformuliert, platziert er seine Aktionen, Äußerungen, Empfindungen in einem Register, das gesellschaftlich ist. Eine Mutter, die mit bandagiertem Gesicht vom Schönheitschirurgen zurückkommt und vielleicht nicht sie selbst ist, wie es den Buben scheint, die ihrerseits aussehen und oft reden wie einer – das ist schon viel Sozietät, da werden Ver-, Auf- und Zuteilung zum Problem. Etwa die Frage, welche Gesten, Sätze, Handlungen einer streng sorgenden Mutter zuzuordnen sind und welche einer Wahnsinnigen, die deren Platz oder Körper usurpiert hat; oder, konfrontiert mit der perfid gestalteten Neutralformulierung und Phrasierung von Sprechakten der Buben, die Frage, ob die Mutter immer erst auf den zweiten reagiert – weil sie den einen nicht hören will? oder weil sie ihn nicht hört, da nämlich… Sie sehen schon. Gesellschaftliche, nämlich Klassen-Aufteilung, kommt auch in der markanten Szene mit zwei Rotkreuz-SpendensammlerInnen ins Spiel, wenn der Sammelmann in plebejischem Soziolekt motzt, das Spendenformular habe wohl ein Doktor ausgefüllt, so unleserlich sei es, und die 50 Euro-Spende der Buben sei schon okay, denn die Villa sehe so aus, als könnten die, die drin wohnen, sich´s leisten.

Das Sozialregister ist hier klarerweise stark überformt/überlagert vom Register der Familie, zumal einem Familienroman der Neurotiker: Während – anders als bei Freud und anders als in Almodovars „Haut, in der ich wohne“ – das Geschlecht der Mutter wie auch das Fortsein des Vaters certissimi sind, ist die Mutterschaft semper incerta, zumal in den Augen der aus Angst zu allem entschlossenen Buben. Etwas distanzierter gesehen, setzt der Plot zwei Optimierungsprojekte gegeneinander: Die Mutter, Alleinerzieherin, TV-Moderatorin von Beruf, will Perfektion im Gesicht und im Heim und will ihrem Nachwuchs etwas abgewöhnen (aber was genau?). Dieser Wunsch erfährt ein Verhindern seitens Kindern, eine Radikalvariante dessen, was viele Frauen zwischen Beruf und Mutterschaft erleben: Wie soviele (Un)Wesen in Horrorfilmen und schrecklichen Realitäten wollen die Buben nur spielen: Sie erzwingen ein Idyll, in dem die Mutter ihnen gehört, und agieren dabei als Loyalisten, verpflichtet auf Echtheit, Wahrheit und deren strenge Vorgaben: Unsere Mama, verkünden sie, würde sowas niemals tun!

Damit kommt zuletzt ein Register des Staates ins Spiel: Staatsmacht zur Feststellung von Identität und Sicherung/Wiederherstellung des Immer-Gewesenen – das begegnet uns in dem (vielen aus „Inglourious Basterds“ bekannten) Spiel mit den Identitäts-Stirnkarten, später in Wahrheitsprozeduren am Leib der Mutter: Bitte beweis‘, dass du unsere Mama bist – indem du etwa das Lieblingslied des einen Buben nennst. Ist es 'Wieviel Sternlein stehen' oder 'Guten Abend, gut Nacht'? (Die beiden Lieder sind so schon schwer genug zu unterscheiden.) Der Staat will wissen, deshalb ist Überwachung sein Geschäft – ein Mehr an Sehen, das sich zum paranoiden Zuviel-Sehen bzw. Zuviele-Sehen auswächst. Mutter und Buben überwachen einander, etwa mittels eines heimlich platzierten Babyfons. Aber schon der Markt ist Überwachung am Heim: Die Buben sehen beim Googeln, dass ihr Haus schon 'am Markt', bis ins Innere durchgesehen und gepostet ist – da können die oft, fast rituell geschlossenen Jalousien nix mehr ändern. Und auch der Markt zirkulierender Filmbilder hat schon vorgeprägt, vorgesehen: Susanne Wuests Figur wirkt wie eine Zehn-Jahre-später-Version ihrer Nebenrolle im Gated-Community-Mystery-Thriller „La Lisière – Am Waldrand“, in dem sie 2010 die Gattin eines Investors spielte, die in ihrer Villa 'ein bisschen fotografiert'; davon sind wohl die bewegungsunscharfen Riesen(porträt?)fotos geblieben, die in „Ich seh ich seh“ die Villa zieren und die die Mutter in einer lynchigen Szene quasi nachstellt, als sie nackt im Wald geht mit dem Bandagenkopf wackelt, bis er unscharf wird.

„Ich seh ich seh“ gibt zu viel zu sehen, das nicht zu sehen ist – und deshalb auch schwer ins Aussagbare überführbar ist: den Kopf, der kein Gesicht zeigt; Momente schwarzer Leinwand; Spiele mit Käfern und Mutters Mund, so grauslich, dass es kaum anzusehen ist. Aber andere Objekte und Wesen versammeln sich zu Symbolen auf Geschichtsterrains, die mit Imaginarien des Schreckens (quasi-)staatlicher Mächte aufgeladen sind: Ein Bunker im Wald drängt sich als Nazi-Ikone oder auch als Ort einer Archäologie von Gewalt im Allgemeinen auf (oder als Genregedächtnisort, an dem das deutsche Mindgamedrama „Was du nicht siehst“ grüßen lässt: Dieser Komplementärfilm zu „Ich seh ich seh“ – schon dem Titel nach – zeigte 2009 ebenfalls Nazi-Bunker, imaginäre Geschwister, Gewalt gegen einen Nicht-Elternteil und ein totes Haustier, sowie den Zentralort 'modernistische Sommerurlaubsvilla', im Euro-Thriller eine Art Parallelort zu all den Summercamps und cabins in the woods der US-Horrortouristik).

Oder zeugen die symbolischen Orte eher vom Nachleben des Katholizismus? Das Beinhaus, der Wiesenfriedhof, die Dorfkirche und ihr Personal, sowie Gott anrufenden Gutenachtlieder, das sind Stationen auf dem Weg der Buben zu ihrer Rolle als veritable (wenn auch nicht allzu christlich motivierte) Hexenjäger und Inquisitoren, die mit Gesichtsmaske und Armbrust antreten, um die aufs Kreuz gelegte Mutter auszufragen und gar nach einem (fehlenden) Mal an ihrem Leib zu suchen.

Zwischen christlichem und Haken-Kreuz schlägt der Film einen überraschenden Haken zum Roten Kreuz, zu Herr und Frau Spendensammler in Uniform, die ins Haus kommen und Schlimmes verhindern könnten, wenn sie mitkriegten, was da läuft. Was sehen/hören wir da? Zum einen ein Gustostückerl der Suspenseformelanwendung, versetzt mit lakonischer Soziokomik (samt Grüßen von Baby Jane). Zum anderen führt besonders der Rotkreuzmann, der nicht relief, sondern nur comic relief bringt, als ostentativ ohnmächtiger Autoritäts-, zumindest Uniformträger uns zurück zur Geschichte von Staatsmächten und ihrer Umformulierung – und zurück vom Ende zum Anfang und damit zum Ende von 'Ich seh ich seh'.

Nämlich: Schon der unmittelbare Anfang des Films ist ironisch und wissend als Vor-Spiegelung des Schlussbildes (Mutter und Buben singen), vor allem aber als Fremdfilmmaterialzitat einer fernen, vergangenen Idyllik von Mutterschaft. Eigentlich ist es ja Adoptivmutterschaft vorm historischen Hintergrund von NS-Terror, jedenfalls ist es „Die Trapp-Familie“ aus Wolfgang Liebeneiners Kinohit von 1956, also Mutter (Ruth Leuwerik) samt Kinderschar in Tracht, wie sie am Filmende 'Guten Abend, gut Nacht' singen und die Mama 'Gute Nacht' in die Kamera sagt; dann beginnt „Ich seh, Ich seh“. In der Totale der Trapp-Familie (deren Schicksal dem noch bekannteren „Sound of Music“ zugrundeliegt) verfangen sich Sehen und Sagen wie in einer Stolperdraht-Falle oder in der blocage symbolique (beides wirkt sich in „Ich seh ich seh“ aus), die im Erzählkino bewirkt, dass das Fortschreiten der Handlungen sich in Rekursionen und Echos verrennt.

Ein Ende als Anfang, Gute Nacht als Opener: Da nimmt eine Nachgeschichte ihren Ausgang, merklich für jene, denen noch Old-School-TV-Bilder im Kopf umgehen – von einem der zwei Buben (keine Zwillinge) in dem von Mutter und fünf Töchtern dominierten Bild, in dem der Vater fehlt, aber einer da ist, der als ewiger Bub den Alten ostentativ überdauert hat. Der Lieben einer, rechts am Bildrand, ist der zwölfjährige Michael Ande, später Kleindarsteller, Synchronsprecher – und als Kriminalassistent Gerd Heymann seit 1977 an der Seite des jeweiligen Titel-Kripo-Helden in der ZDF-Serie „Der Alte“ im Dauereinsatz, mithin dienstältester Staatsgewaltsermittler im deutschsprachigen Fernsehen. Mit diesem laut 'Vieldeutigkeit' schreienden Filmzitat historisiert „Ich seh, Ich seh“ sein Thema der Abwesenheit der Autorität der Alten angesichts der insistierenden Präsenz der Buben. Mutters Maske markiert die Machtübergabe vom hinfälligen Gesetzesstaat ans neofeudale, improvisationsfreudige Überwachungsregime der brutalen Brüder.

Das Thema hallt nach in all den schwachen, einfältigen Männerfiguren: im Vater der Zwillinge, der fort ist; im Rotkreuzler, der Beruhigung brummelt, als seine Kollegin noch argwöhnisch ist; in dem Bauer, der sein Feld abbrennt und so nur noch mehr Nebel erzeugt; in dem Lebensmittellieferanten, der über die viele Tiefkühlpizza schwadroniert und nicht merkt, dass sich hier Leute einbunkern; in dem Pfarrer, der die flüchtenden Kinder ins Haus zurückbringt (aber damit auch Mutters Schicksal besiegelt); in dem debilen Mesner, der auf die Frage 'Können Sie uns helfen?' so eilfertig 'Ja!' antwortet, dass klar ist, dass das nicht stimmt. Der Musikus, der in dem ausgestorben in der Sommersonne brütenden Dorf an der Thaya besoffen seine Quetsche traktiert, ist im Abspann als Akkordeongott betitelt.

Gott der Herr hat sie gezählet, aber er weiß nicht, wie viele es sind. Und morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt; wenn nicht, bist du tot.

Am grünen Rand der Welt

(GB / USA 2015, Regie: Thomas Vinterberg)

Widerspenstige Zähmung
von Manfred Riepe

Ein pittoreskes Dorf in England während 1870er Jahre: Die selbstbewusste und gebildete Bathsheba Everdene erbt überraschend das Gut ihres verstorbenen Onkels. Entgegen der Gepflogenheiten übernimmt die patente selbstbewusste Frau die …

Ein pittoreskes Dorf in England während 1870er Jahre: Die selbstbewusste und gebildete Bathsheba Everdene erbt überraschend das Gut ihres verstorbenen Onkels. Entgegen der Gepflogenheiten übernimmt die patente selbstbewusste Frau die Verwaltung selbst. Schon bald muss sie sich zwischen drei Verehrern entscheiden: Dem aufrechten aber armen Schäfer Gabriel Oak, dem wohlhabenden, etwas älteren, einsamen Besitzer des Nachbargutes, William Boldwood, und dem schneidigen Soldaten Frank Troy. Bathsheba gibt dem Offizier das Ja-Wort, muss aber schon bald einsehen, dass sie einen Fehler beging.

Das klingt nach einem viktorianischen Kostümdrama aus der Mottenkiste. Tatsächlich wurde die Romanvorlage, Thomas Hardys „Far from the Madding Crowd“ von 1874, schon mehrfach verfilmt, 1967 von John Schlesinger, 1998 von Nicolas Renton und 2010 von Stephen Frears. Dank Thomas Vinterbergs Neuadaption erlebt der Zuschauer sein grünes Wunder. Schon in den ersten Einstellungen fokussiert sein Film den Blick so sehr auf die Hauptfigur, ihre Wünsche und ihre Verwurzelung in der traumhaft schön fotografierten englischen Landschaft, dass man sich kaum zu entziehen vermag. Alles an diesem Film ist gerade heraus, unkompliziert und ohne forcierten Ästhetizismus.

Zu sehen ist Carey Mulligan als Bathsheba Everdene auf dem Pferd. Sie trägt ein Kleid und sitzt daher zunächst, wie seinerzeit üblich, züchtig im Damensitz. Doch schon einen Wimpernschlag später hockt sie fest im Sattel und reitet im Galopp über saftig grüne Hügel dahin. Die Landschaft ist geschmackvoll fotografiert. Man kann sich nicht mehr vorstellen, dass Vinterberg sich seinerzeit mit der Unterzeichnung des Dogma 95 zu einer tristen ästhetischen Enthaltsamkeit verpflichtete. In einem kleinen Wäldchen hängen die Äste so tief, dass Bathsheba nur flach auf dem Rücken liegend das Hindernis passieren kann. Ein ebenso schönes wie unprätentiöses Bild für eine Frau, die ihre Leidenschaft auslebt – ohne Mann.

Das muss auch der Schäfer einsehen, ein imposanter Typ, hoch gewachsen wie eine Eiche, der auch noch so heißt, Gabriel Oak. Mit physischer Wucht und zartem Einfühlungsvermögen verkörpert der Belgier Matthias Schoenaerts einen Mann, der viril wirkt ohne sich machohaft zu produzieren – aber dennoch abblitzt. Würde man nicht wissen, dass er Bathsheba einen Heiratsantrag macht, so könnte man glauben, dass Gabriel seiner Nachbarin die Vorzüge eines Geschäftes anpreist. Doch gerade die prosaische Schnörkellosigkeit, mit der die ökonomischen Grundlagen einer Heirat in den Vordergrund gerückt werden, eröffnen hier Raum für Gefühle – die trotz gelegentlich forcierter Musikuntermalung niemals schwülstig erscheinen.

Eine solche Geschichte kann im 19. Jahrhundert allein deswegen funktionieren, weil Bathsheba kurz darauf ein ansehnliches Gut erbt, auf dem sie ihren Traum von geistiger und emotionaler Unabhängigkeit ausleben kann. In einer geradezu magisch erscheinenden Szene verliert Gabriel Oak unterdessen seine Schafherde, die von seinem treuen Hütehund aus unerklärlichen Gründen über die Klippe, den grünen Rand der Welt getrieben werden. Der nunmehr mittellose Schäfer tritt ausgerechnet in Bathshebas Dienste und muss dank dieser Rollenumkehrung als Zaungast geraume Zeit miterleben, wie seine Angebetete von anderen Männern heftig umworben wird.

Ihr wohlhabender Nachbar William Boldwood (Michael Sheen), wie Oak auch Gentleman durch und durch, bewundert Bathsheba, die seine Anträge jedoch beharrlich zurückweist. Erst der buchstäblich schneidige Soldat Frank Troy (Tom Sturridge) vermag ihr bislang unterdrücktes Triebleben so zu entfachen, dass dieser rationalen Frau die Kontrolle entgleitet – und sie das Lusterleben zulässt. Neben den beiden anderen Verehrern, dem schwermütigen Nachbarn Boldwood und dem stilvoll schmachtenden Oak, erscheint der Soldat eine klischeehafte Figur zu sein. Doch dank der Reichhaltigkeit von Thomas Hardys Vorlage kann Vinterberg hier interessante psychologische Details aufblitzen lassen. Als Soldat zählt Troy nämlich zu den Männern, die mit Frauen nicht wirklich etwas anfangen können. Er schien auf nichts anderes gewartet zu haben als sich auf der Hochzeitsfeier mit anderen Männern rituell zu betrinken. Das Gegenteil zu dieser repressiven Form sublimierter Homoerotik verkörpert der zupackende Oak, der unterdessen – und ohne nachzufragen – Bathshebas Ernte und damit deren wirtschaftliche Grundlage vor einem aufziehenden Unwetter rettet.

Im gewissen Sinn ist „Am grünen Rand der Welt“ eine Antithese zu einer anderen Hardy-Adaption. Im Gegensatz zu Bathsheba verfügt Tess in Roman Polanskis gleichnamiger Verfilmung nämlich nicht über wirtschaftliche Unabhängigkeit. So wird sie von dem gewissenlosen Schürzenjäger D’Urberville so heimtückisch ausgebeutet, dass ihr am Ende kein anderer Ausweg als der Mord bleibt. Hardys Figuren erscheinen vielleicht überzeichnet, aber nicht unrealistisch. Deswegen bleibt Vinterbergs Verfilmung bis zuletzt spannend. Was er in den Vordergrund rückt, ist jene Kultivierung des Mannes, die in „Tess“ unmöglich schien. Neben Michael Sheen als William Boldwood – der nicht Manns genug ist, um zu sehen, dass er nicht der richtige ist – verkörpert der als „belgischer Marlon Brando“ bezeichnete Matthias Schoenaerts einen Typen, der von Anfang an illusionslos erscheint. Selten hat man jemanden gesehen, der so stilvoll schweigen kann.

Doch auch er hat noch Reste dieses „Wilden“, „Ungezähmten“, „Hochmütigen“ in sich – verkörpert durch seinen Hund, der nicht zufällig die Schafe über die Klippe treibt. Dieser Hund, den sein Besitzer abgöttisch liebt, ist ein Symbol für das Unzivilisierte im Mann. Zerstörerische Impulse dieser Art muss Oak in sich jedoch domestizieren – eine harte Arbeit. Erst ganz am Ende, als er alles ohne zu verzweifeln aufgegeben und in gewissem Sinn die symbolische Kastration erlitten hat, bekommt er die Frau: Jetzt ist sie für ihn aber kein Ding mehr, kein bloßes Objekt der Triebbefriedigung; beide begegnen sich auf Augenhöhe. So etwas ohne Kitsch zu verfilmen, ist wirklich ein Kunststück.

Insidious: Chapter 3 – Jede Geschichte hat einen Anfang

(USA 2015, Regie: Leigh Whannell)

Nuller Jahre Nostalgie
von Nicolai Bühnemann

James Wan, der einst mit dem ersten „Saw“-Film (2004) als Mitbegründer dessen galt, was KritikerInnen despektierlich als torture porn bezeichneten, wendete sich 2010 anderen, weniger blutrünstigen Gefilden des Horror-Genres zu. …

James Wan, der einst mit dem ersten „Saw“-Film (2004) als Mitbegründer dessen galt, was KritikerInnen despektierlich als torture porn bezeichneten, wendete sich 2010 anderen, weniger blutrünstigen Gefilden des Horror-Genres zu. Mit „Insidious“ legte er einen postklassischen Grusler vor, in dem Geister aus einem The Further genannten Jenseits versuchten, sich Wege ins Diesseits zu bahnen. Heimgesucht wurde dabei die Familie Lambert, deren Männer eine besondere Begabung haben, durch das Further zu driften und dabei Gefahr laufen, böse Geister mit in ihre Welt zu bringen wie eine Art besonders garstiger Parasiten. Im ersten Teil sorgten diese Dämonen dafür, den kleinen Sohn der Familie in eine Art Koma zu versetzen. Im zweiten Teil (2013) wurde vor allem die Vorgeschichte des Vaters weiter beleuchtet, wobei zu dem sowieso schon recht bunten Mix an Genreversatzstücken noch ein Serienkiller mit einem ziemlich gestörten Verhältnis zu seiner Mutter hinzukam.

Die Handlung von „Insidious: Chapter 3“ spielt sich einige Jahre vor den Geschehnissen im Hause Lambert ab und der Film markiert gleich in mehrfacher Hinsicht einen Neuanfang in der Reihe. Zunächst, weil es der erste Teil ist, bei dem die Regie nicht mehr von James Wan übernommen wurde, sondern Leigh Whannell, Wegbegleiter Wans, seit er das Drehbuch für „Saw“ schrieb und auch als Autor sowie Darsteller von Specs an den ersten beiden Teilen beteiligt, zeichnet nun für Buch und Regie verantwortlich. Dann aber auch, weil es statt der Lamberts nun eine neue Familie mit bösen Geistern aus dem Further zu tun bekommt und die Verbindung zu den Vorgängern hergestellt wird durch die bisherigen Nebenfiguren: die Geisterjägerin Elise (Lin Shaye) und später auch ihre nerdigen, mit allerlei obsolet ausschauenden Gerätschaften hantierenden und von ferne her an die „Ghostbusters“ gemahnenden Assistenten Tucker (Angus Sampson) und Specs (Leigh Whannell).

Die siebzehnjährige Quinn Brenner (Stefanie Scott) lebt gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder bei ihrem Vater Sean (Dermot Mulroney), der sichtlich damit überfordert ist, sich nach dem Krebstod der Mutter um die beiden Kinder zu kümmern. Um Kontakt zu ihrer Mutter im Jenseits aufzunehmen, sucht Quinn zu Beginn Elise auf, die sich nach dem Tod ihres Mannes von ihrer Tätigkeit als Seherin zurückgezogen hat. Bald wird Quinn, durch einen schweren Unfall ans Bett gefesselt, von immer drastischeren Erscheinungen und Vorkommnissen geplagt. Es ist Zeit für Elise, aus dem Ruhestand zurückzukehren, wie es sonst im Film vornehmlich alternde Westerner und Profikiller tun, um sich mit Hilfe von Tucker und Specs, die sie erst bei dieser Gelegenheit kennen lernt, daran zu machen, die Dämonen der Vergangenheit, die durch Elise versuchen, ins Diesseits zu gelangen, zu stellen.

Whannell gelingt es, einen weiteren grundsoliden, durchgehend spannenden Grusel-Horror vorzulegen, dessen jump scares einen wie schon in den Vorgängern kräftig im Kinosessel durchschütteln. Der Unfall relativ zu Beginn, bei dem Quinn vollkommen unvermittelt von einem Laster angefahren wird, gibt den Ton an. Wie oft hat man eine Szene, in der jemand (und wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, sind es meist junge Frauen) urplötzlich überfahren wird, schon in Filmen oder Serien gesehen. Das ändert nichts daran, dass der Film diese Situation verdammt effektiv einsetzt. Außerdem variiert er sie auch noch dahin gehend, dass die Protagonistin hier nicht aus dem Leben scheidet, sondern nur vorübergehend im Rollstuhl landet, und mit ihren zwei Gipsbeinen eine umso hilflosere Erscheinung abgibt gegenüber den Mächten, mit denen sie es im weiteren Verlauf zu tun bekommen wird. Nichts Neues in The Further also, aber dafür viel Altbekanntes, das durchaus gekonnt in Szene gesetzt wird.

Dazu passt gut, wie vergangenheitsgesättigt dieser Film ist. Während in das Leben der alles in allem recht glücklichen Lamberts erst durch die übernatürlichen Ereignisse die Tragödie eintrat, wurden die Verlusterlebnisse hier in die Vorgeschichte sowohl der Quinns als auch Elises verlegt. Sich den sehr buchstäblichen Dämonen der Vergangenheit zu stellen, zu trauern, aufzuarbeiten, Wege zu finden, um weiterzumachen, sind die Aufgaben der Protagonisten. Es kommt dazu, dass der Film, dessen Handlung, so lässt sich leicht errechnen, irgendwann in den 2000er Jahren angesiedelt ist, dank der Schnelllebigkeit unserer Zeit beinahe als period picture daherkommt. Das schlägt sich vor allem in den modernen Technologien nieder, die scheinbar gerade im Horror-Genre eine besonders große Rolle spielen. Sie waren im Prinzip die selben wie heute, allerdings waren die MacBooks etwas größer, die Smartphones etwas klobiger und Essensfotos wurden noch nicht auf Facebook oder Instagram geteilt, sondern im Blog gepostet (die schönste Dialogzeile des Films gibt es, als der Vater Quinn dabei zusieht, wie sie ihr Frühstück fotografiert: „Don’t blog it. Eat it.“).

Wo die beiden Vorgänger mit veritablen Cliffhangern endeten, sucht „Insidious: Chapter 3“ mit seiner letzten Einstellung Anschluss an die Geschehnisse des ersten Teils und suggeriert damit, der Abschluss der Reihe zu sein. Aber bei der Vorliebe des gegenwärtigen Hollywoods fürs Serielle kann man das ja nie so genau wissen.

B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979 – 1989

(D 2015, Regie: Jörg A. Hoppe, Heiko Lange, Klaus Maeck)

Geile Insel
von Wolfgang Nierlin

Als der junge Mark Reeder 1979 nach West-Berlin kommt, ist er überrascht vom „kaputten“ Zustand der Stadt, in der es noch Kriegsruinen gibt und die Fassaden bröckeln. „Überall konnte man …

Als der junge Mark Reeder 1979 nach West-Berlin kommt, ist er überrascht vom „kaputten“ Zustand der Stadt, in der es noch Kriegsruinen gibt und die Fassaden bröckeln. „Überall konnte man die Geschichte spüren“, sagt der musikbegeisterte Engländer aus Manchester, der seine sich im Niedergang befindende Heimatstadt flieht, weil sie „hässlich“ und „dreckig“ ist und nur „finstere Aussichten“ bietet; und in der sich zunehmend vehementer der Punkrock als „Musik gegen das Elend“ artikuliert. Zwar spielt auch Reeder in einer nur mäßig erfolgreichen Band namens The Frantic Elevators und arbeitet in einem angesagten Plattenladen, doch insgeheim schlägt das Herz des Uniformfetischisten für die deutschen Elektronikpioniere Tangerine Dream, Ash Ra Tempel, Neu! und Kraftwerk. Seine Entscheidung, als Agent des Labels Factory Records nach West-Berlin zu fahren, hat also noch einen zweiten Grund, der bei seiner Ankunft allerdings enttäuscht wird.

Was der ebenso neugierige wie offene Mark Reeder stattdessen findet und entdeckt, erzählt er in dem Dokumentarfilm „B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979 – 1989“ von Jörg A. Hoppe, Klaus Maeck und Heiko Lange. Als Chronist und Zeitzeuge führt uns Reeder durch die Berliner Subkultur jener wilden Jahre, eines Jahrzehnts der lustvollen Exzesse und avantgardistischer Experimentierfreude. Das jedenfalls vermittelt die unglaubliche Fülle äußerst spannender filmischer Dokumente, deren dynamische Montage nicht nur den Hedonismus und die Zerstörungswut einer ziemlich ausgeflippten Szene lebendig macht, sondern auch den Blick in ein fast schon fernes, jedenfalls kurioses und phantastisches „Punk-Biotop“ erlaubt. Der unschätzbare kultur- und musikgeschichtliche Wert dieser Kompilation wird dabei flankiert von Reeders radikal subjektiver Insider-Perspektive, seiner ansteckenden Begeisterungsfähigkeit und einem nicht minder einnehmendem Humor, der ausgewogen zwischen Beobachtung und Teilnahme vermittelt.

Mark Reeder taucht ein in die bunte Hausbesetzer-Szene Kreuzbergs, die sich aus kreativen Punks, alternativen Künstlern und westdeutschen Wehrdienstverweigerern zusammensetzt. Er wird Zeuge wüster Straßenkämpfe (bei denen 1981 der junge Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay stirbt), bizarrer Kunstaktionen (u. a. von Keith Haring und Martin Kippenberger) und des absurden Prozesses um den „Wahren Heino“. Vor allem aber driftet er durch das schillernde Nachtleben einer den Augenblick auskostenden Bohème, die nie schläft und die als eine einzige große Bande von Verschworenen erscheint. Die angesagtesten Clubs und Kneipen heißen SO36, Risiko, Dschungel und Fabrik. Hier lernt Reeder unter vielen anderen etwa Blixa Bargeld, Christiane F. und Gudrun Gut kennen, für deren Bands Mania D und Malaria! er als Manager zum „Männlein für alles“ wird. Für Joy Division organisiert er im Januar 1980 ein Konzert im legendären Kant-Kino, Nick Cave ist eine Zeitlang sein Mitbewohner und in den Splatterfilmen von Jörg Buttgereit tritt er als Darsteller auf.

Als Teilnehmer, Vermittler und Organisator wird Mark Reeder so zum Szenekenner und „Fremdenführer“ inmitten einer ebenso kreativen wie schrägen Undergroundkultur. Deren hervorstechendstes Merkmal sowie Bedingung ist das Inseldasein West-Berlins, dessen inhärente Freiheit auf paradoxe Weise durch die Begrenzungen der Mauer, ihren Rahmen, garantiert wird. „Alles war geil“, sagt Reeder einmal über die besonders intensive Atmosphäre, die aus dieser als klaustrophobisch und surreal empfundenen geopolitischen Situation resultiert. Als die Szene schließlich zwischen Overkill und Ernüchterung implodiert und die Mauern des Kalten Krieges fallen, tritt mit der von WestBam und anderen angeführten Vorhut der Techno-Bewegung eine neue Generation auf den Plan, die mit dem von Dr. Motte ausgerufenen Motto der ersten Loveparade (mit 150 Teilnehmern) nicht mehr gegen, sondern für etwas demonstriert, nämlich für „Friede, Freude, Eierkuchen“.

Die Liebe seines Lebens – The Railway Man

(GB / AUS / CH 2013, Regie: Jonathan Teplitzky)

From coach to coach
von Drehli Robnik

Der Eisenbahnzug und das Todeslager: Diese (Bild-)Orte sind im medienkulturellen Darstellungsinventar der Nazi-Massenmorde vertraut und nahezu ikonisch geworden; das Autobiografie-basierte britisch-australische Drama 'The Railway Man – Die Liebe seines Lebens' …

Der Eisenbahnzug und das Todeslager: Diese (Bild-)Orte sind im medienkulturellen Darstellungsinventar der Nazi-Massenmorde vertraut und nahezu ikonisch geworden; das Autobiografie-basierte britisch-australische Drama 'The Railway Man – Die Liebe seines Lebens' speist sie nun ein in ein Motivpanorama rund um nachlastende Opfererfahrungen auf dem anderen, dem pazifischen Großschauplatz, des langen Zweiten Weltkriegs – der dieser Tage vor genau siebzig Jahren eben nur in Europa zu Ende war.

(Kleine Anmerkung: In diesen Jahren des Abschieds von den letzten ZeitzeugInnen des Zweiten Weltkriegs und der in dieser Zeit begangenen Massenverbrechen scheint es, als würde das Kino sich dem Holocaust der Nazis, zumindest an dessen Rändern, nun immer öfter humoristisch annähern: Das geschieht in verschiedenen Formaten und Genres, von 'Mein Führer' und Mein bester Feind' bis zur Einarbeitung von Beraubung und Ermordung jüdischer Bevölkerungen in den Klamottentonfall von Monuments Men', manchmal – siehe 'Inglourious Basterds' – auch in sinnvoller Weise. Dagegen scheint der Geschichtsort 'japanisches Todeslager im Zweiten Weltkrieg', zumal wenn seine Inszenierung sich Bildbestände mit der Medialisierung des Holocaust teilt, noch einem genuinen 'Traumakino' der schmerzlichen und gedämpften Stimmungen vorbehalten zu sein; Ausnahmen wie Jerry Lewis im Kistenkäfig eines japanischen Gefangenenlagers in 'Dont Give Up the Ship' von 1959 bestätigen die Regel.)

In 'The Railway Man' gerät ein Engländer als junger Soldat (gespielt von Jeremy Irvine) nach der britischen Kapitulation in Singapur 1942 in japanische Gefangenschaft. In einem Lager in Thailand, in dem die Japaner westliche (und, als bloße Statisterie, asiatische) Zwangsarbeiter beim Bau einer Bahnlinie – der Burma railroad – durch Dschungel und Fels zu Tode schinden, bastelt er heimlich ein Radio. Diese verbotene (zum Spenden von Trost durch BBC-Nachrichten von der sich bessernden Kriegslage gedachte) Tat fliegt auf; es folgen Prügelstrafen, Geheimpolizeiverhör und schier endlose, immer brutalere Folter. Von dieser Erfahrung ist der Mann noch als Mittfünfziger (dargestellt von Colin Firth) traumatisier; quälende Erinnerungsflashes, die in seinen Alltag eindringen und sein Bewusstsein zeitweise verwirren, überspielt er mit stiff upper lip und mit obsessivem Festhalten an seiner lebenslangen Begeisterung (siehe den unnedichen Titelzusatz 'Die Liebe seines Lebens') für Züge und Zugfahrpläne.

Jonathan Teplitzkys Regie springt ambitioniert, mal berührend, aber oft auch zu selbst- und effektbewusst, zwischen Thailand circa 1944/45 und England 1980 hin und her: Montageketten, Sound-Assoziationen, Bi-Lokationen (etwa wenn japanische Unifomierte den Mann aus dem Bett eines schottischen Strandhotels zurück in die Folterkammer zerren), Reenactments mit plakativen Analogien – zumal vom Folter-Verhör zu der Wiederbegegnung des Engländers mit dem Polizeidolmetscher von damals, der seinerseits, als Täter, traumatisiert ist. Nicole Kidman als Krankenschwester, die den alternden Bahnnerd (fast ein trainspotter) heiratet und heilen will, mahnt zur Katharsis: Ein code of silence muss gebrochen werden. Männer müssen weinen können. Als am Ende das Opfer und der reuige Täter einander am Ort des Leidens umarmen, weint sie in Großaufnahme mit.

'The Railway Man' ist meilenweit entfernt von der Kritik maskulinistischer und autoritärer Selbstentwürfe und Handlungsorientierungen in dem sich unvermeidlich zum Vergleich aufdrängenden, zum Teil themen- und schauplatzverwandten Klassiker 'The Bridge on the River Kwai' (1957); aber – zum Glück – auch von den homophoben, ins Rassistische lappenden Lagerfolterpornopassionsspielen im rezenten Pazifik-Durchhaltedrama 'Unbroken'. Der Vergleich mit letzterem, von Angelina Jolie 2014 inszenierten Film ist aufschlussreich: Forcierte 'Unbroken', seinem Titel entsprechend, Bilder des Ertragens von Zwangsarbeitslagergräuel und Folter, die sich zu ungutem identitärem Selbstbehauptungspathos auftürmten – hetero-männlich der Anmache durch den Oberfolterer widerstehend, westlich-liberal dem ureigenen 'Können' vertrauend, christlich ein Stahlbalkenkreuz tragend –, so beschwört der schon 2013 gedrehte 'Railway Man' ein Ethos des 'Zulassens'. Zugelassen wird etwa, im Detail, die Analogie zwischen dem als schier unzeigbar hinausgezögerten Anblick der japanischen Folterung des zarten, bebrillten Engländers durch simuliertes Ertrinken einerseits und dem zur Ikone einer obszönen, inhumanen War-on-Terror-Verhörspragmatik gewordenen Waterboarding anderseits. (Es wird also quasi diffuse Kritik an westlicher Geopolitik und Moral zugelassen.) Und im Generellen geht es ums Zulassen von Vergebung, die auf tätige Reue antwortet, und damit ist eine Art von 'kunstvoll' gebrochener (keineswegs unbroken) Männlichkeit in den Raum gestellt, die Firths Figur einmal im Zeichen der Möglichkeit anspricht, den endlos andauernden Kriegszustand doch endlich zu beenden, die immer noch anziehfertig im Kasten hängende Uniform wegzulegen und quasi den Übergang zuzulassen von der (heute nur noch als Zitat oder krasse Pose praktizierbaren) Opfer-Rolle des nationalen sacrifice zu jener des victim.

Allerdings: Wäre es dem Film mit diesem Vorhaben – so abgeschmackt dieses Akzeptanz-Ethos dann auch ausfiele – ernst, dann müsste er auf die Tätigkeit des (nach 1945 strafrechtlich unbehelligt gebliebenen) Ex-Dolmetschers und insofern Verhör-Folter-Helfers viel interessierter eingehen, dürfte es nicht bei Andeutungen bewenden lassen – aus denen hervorgeht, dass der Japaner am Ort des einstigen Arbeitslagers ein der Lager-Geheimpolizei gewidmetes kleines Museum betreibt; davon kommt vor allem eine Wand mit Täterporträtfotos markant ins Bild, und während die Engländer zunächst unterstellen, dass der Folterer nun sogar noch am Fremdenverkehr Geld mit seinen früheren Untaten verdiene, macht der Japaner geltend, wie sehr auch er an den Erinnerungen leidet und dass er die Reisen zur Arbeit als guide in Thailand als Pilgerfahrten versteht. Das auszuloten wäre spannend gewesen; sintemal die betreffenden Szenen von der Wiederbegegnung in Thailand vor Ort in Kanchanaburi gedreht sind, wo (am Ort der Brücke am Kwai) sowohl ein großes memorial-didaktisches Freiluftmuseum als auch diverse kleine, grotesk bestückte und schamlos exploitative Museen den zahlreichen internationalen Reisenden Auswirkungen japanischer Militärgewalt aus den Besatzungsjahren vermitteln.

Aber das lässt 'The Railway Man' dann eben doch nicht zu; und auch der hommes fragiles-Habitus hat da seine Grenzen. Wenn die von Stellan Skarsgard gespielte Figur des alten Lagerkameraden und einzigen Kumpels des Traumatisierten ominös andeutet, dass das unbewältigt verschwiegene Trauma der damals zu Opfern Gewordenen diese nun nachhaltig ihrer Liebesfähigkeit beraubt – dann tritt an dem Bemühen der Kidman-Figur um Rückgewinnung ihres zu später Hochzeit erblühten Mannes zum einen ein Projekt der Remaskulinisierung hervor: Wer zulässt und bewältigt, kommt am Ende auch mit Nicole Kidman im Bett 'zum Zug' – Vergebung als Viagra der Seligen. Zum anderen fügt sich diese Umformulierung von Geschichtsaufarbeitung zur Universaltraumadiagnose und weiter zur Therapie (das beginnt schon in der Lager-Plot-Episode, die betont, wie sehr das selbstgebastelte Radio den Gefangenen zur Seelenmassage, nicht zur Konspiration oder Planung dient) in das unverkennbare generelle Anliegen des Films, nämlich Sinnkapital aus der rollenbiografischen Erinnerung an Colin Firths King’s Speech'-Welterfolg zu schlagen: Wo Schweigen und Sprachlosigkeit war, muss Aussprache und Rauslassen werden. Und so zeigt sich als das eigentliche Trauma in 'The Railway Man' die Vorstellung des unaussprechlichen Leidens an einem langweiligen britischen Alltagsleben, damals, 1980 (interessanterweise fast aufs Jahr genau bevor der Thatcherismus begann, britisches Leben auf Neoliberal und Lustig umzustellen) – zwischen spießigen Zugabteilfensterausblicken, kalten Stränden, grauen Gesichtern und gedämpften Altherrenclubs, alles oft in rechtwinkliger Frontalität ins Bild gebracht, als wä’s ein Indie-Film-Klischee für pittoreske Kleinstadtlangeweile.

Freilich, die Australierin Kidman ist noch nicht ganz der australische Aussprache-Trainer, der dem als König fürs Weltkriegs-Selbstopfer zum Wohl der Nation (und zum Ertragen von allerlei folterartigen Übungen) bereiten Colin Firth das Raus- und Zulassen beibringt; wir sind noch einen Schritt entfernt von der filmischen Feierstunde zur Erfindung der Segnungen einer heute herrschenden Coachingkultur inmitten trost- und coachloser Zeiten von einst. Der coach ist hier noch der Eisenbahnwagen, noch nicht ganz Mentor, Mediator, Masseur, der dich wo hin bringt. Dass aber, im Jammertal zwischen Bambuskäfig und Strickwestenpanzer, die historische Hoffnung im Keimen des für uns mittlerweile normalen Spirits des Es- und Sich-Aussprechens liegt, das exerziert der Film Zug um Zug durch, bis zum Schluss mit Schluchzen in der Schlucht am Kwai.

Was heißt hier Ende? Der Filmkritiker Michael Althen

(D 2015, Regie: Dominik Graf)

Those were the Days of Wine and Roses
von Ulrich Kriest

2011 ist der viel gelesene und viel bewunderte Filmkritiker und Autor Michael Althen im skandalösen Alter von nur 49 Jahren gestorben. Der Filmemacher Dominik Graf, mit dem Althen wiederholt zusammengearbeitet …

2011 ist der viel gelesene und viel bewunderte Filmkritiker und Autor Michael Althen im skandalösen Alter von nur 49 Jahren gestorben. Der Filmemacher Dominik Graf, mit dem Althen wiederholt zusammengearbeitet hat („München – Geheimnisse einer Stadt“), hat jetzt Althens Familie (total sympathisch), ein paar Freunde und Kollegen und ein paar Filmemacher (Tykwer, Petzold, Karmakar) vor die Kamera geholt, um mittels eines essayistischen Mosaiks aus Stimmen, Fotos, Filmausschnitten und Texten einen filmischen Kranz zu flechten.

Wer sich für Filmkritik interessiert, wird manches erinnern: etwa die legendären Nachrufe auf Robert Mitchum oder Audrey Hepburn oder den eigenwilligen Sound von Althens Dean Martin-Monografie. Dazu spricht Dominik Graf selbst einen Off-Kommentar mit der ihm eigenen Lakonie, die sich auch sehr gut für Althen-Texte mit ihrem mitunter etwas hohen Ton eignete. Man erfährt also etwas über Althens Herkunft aus der Vorstadt Unterhaching und viel über die Clique von jungen Filmkritikern, die sich Mitte der 1980er Jahre aufmachte, eine Wachablösung innerhalb der deutschsprachigen Filmkritik zu realisieren. Ein Sprachrohr dieser sehr Hollywood-affinen Clique war das Magazin „steadycam“, mittlerweile eingestellt.

Um es kurz zu machen: „Was heißt hier Ende?“ ist ein sehenswerter Film, der noch einmal sehr für Michael Althens Schreib- und Herangehensweise einnimmt, wenngleich sie mir persönlich mitunter etwas zu affirmativ und betont cinephil erscheinen mag. Aber ich interessiere mich ja auch nicht für Tom Cruise oder Interviews mit Jacqueline Bisset. Die Haltung, in jedem Film, noch dem misslungensten, stecke etwas, was sich zu entdecken lohne, teile ich nicht. Keine Verrisse, nach Möglichkeit. Okay?

Man könnte trotzdem richtig nostalgisch werden, wenn man noch einmal vorgeführt bekommt, welchen Stellenwert der Film und das Kino einmal im Feuilleton genossen. Und wenn die anderen Exponenten der Filmkritiker-Clique, die Seidls, Höbels, Körtes und Paulis, von ihren lustigen Streichen erzählen, dann spürt man auch, dass damals Kritik auch so gut bezahlt wurde, dass man sich auch mal auf ein Abendessen in Paris verabreden konnte, bei „Schumann’s“ Stammplätze hatte und 1000 Mark im Filmbuchladen ließ. Große Gesten! Hier erzählen müde und matt gewordene Mittfünfziger über Bande von ihrem Weg in bestens bezahlte Redakteursstellen und haben als Establishment die Chuzpe zu behaupten, dass die Zeitungskrise dazu geführt habe, dass jetzt nur noch mittelmäßige Autoren nachfolgen, weshalb jetzt mit ihnen wohl auch die Filmkritik sterbe. Langsam, aber sicher. Oder vielleicht längst gestorben sei.

Man sollte sich vielleicht mal informieren, was Wolfram Schütte als Repräsentant der zuvor abgelösten Kritikergeneration heute im Netz so treibt. Oder sich auf die Suche nach talentiertem Nachwuchs begeben. Oder selbst wieder bessere, kontroverse Texte schreiben. Stattdessen lobt man einen Michael Althen-Preis für Kritik aus, den dann jemand wie Willi Winkler bekommt, dessen „Passion“ fürs Kino leider bislang unerwidert blieb. Hier sind es gerade die Stimmen einiger randständiger Kritiker wie Olaf Möller, Christoph Huber oder Doris Kuhn, die noch etwas vom alten Feuer bezeugen und auch einklagen. Stichwort: Kritik als Service. Jeden Donnerstag.

Interessant und für einen Nicht-FAZ-Leser neu allerdings die Ahnung, die der Film zumindest suggeriert, dass Michael Althens Enthusiasmus für das Tagesgeschäft sich nach dem Umzug nach Berlin rasch erschöpfte und er Inspiration in Nachbarkünsten suchte. Dieser Spur könnte man bei Gelegenheit einmal nachgehen. Wozu gibt es schließlich die schöne und immer wieder gern aufgesuchte Site www.michaelalthen.de?

Victoria

(D 2015, Regie: Sebastian Schipper)

Absolute Dilettanten
von Wolfgang Nierlin

Eine junge Frau tanzt selbstvergessen unter den blendenden Stroboskopblitzen einer Techno-Disco und wirkt dabei ein wenig verloren. An der Bar bestellt sie auf Englisch einen „Schnaps“ und sucht vergeblich nach …

Eine junge Frau tanzt selbstvergessen unter den blendenden Stroboskopblitzen einer Techno-Disco und wirkt dabei ein wenig verloren. An der Bar bestellt sie auf Englisch einen „Schnaps“ und sucht vergeblich nach Anschluss. Das ändert sich, als sie bei ihrem leicht frustrierten Aufbruch vier „echten“ Berliner Jungs in die Arme läuft und in einer Mischung aus Abenteuerlust und Neugier kurzentschlossen mit ihnen um die Häuser zieht. Sonne, Blinker, Boxer und Fuß sind langjährige Freunde und ein wenig betrunken. Vor allem aber sind sie übermütige Sprücheklopfer und liebenswerte Kindsköpfe, die sich mit alten Heldengeschichten brüsten, auf Hausdächern im Flüsterton feiern und dafür höchstens Mal ein paar Flaschen Bier im „Spätkauf“ klauen. Besonders Sonne (Frederick Lau), ein Meister des originellen Flirtens, trifft mit seinem charmanten Englisch und einer sanften Ironie ins Herz der einsamen Spanierin, die plötzlich aufblüht und mutig wird.

Dass sich Victoria (Laia Costa), die Titelheldin aus Sebastian Schippers neuem, gleichnamigen Film, nach einem bezaubernden Flirt mit Sonne und ein paar kleinteiligen Verwicklungen allerdings auf einen bewaffneten Banküberfall mit der Clique einlässt, ist nicht gerade glaubwürdig oder wenigstens plausibel; auch wenn es dabei vor allem um Loyalität, Freundschaft und aufkeimende Liebe geht. Als gescheiterte Pianistin, die seit drei Monaten in Berlin lebt und für wenig Lohn in einem Café jobbt (obwohl sie kaum Deutsch spricht), zeigt die als Fahrerin verpflichtete Madrilenin bald mehr Mut als die kleinkriminellen Amateure. Diese haben nämlich gewaltiges Muffensausen, nachdem sie von einem coolen Verbrecherboss (André M. Hennicke), bei dem Boxer in der Schuld steht und den sie am sehr konspirativen Ort einer Tiefgarage (!) treffen, in die halsbrecherische Mission gezwungen werden.

Weil die sympathischen Freunde unprofessionell und planlos, ängstlich und ein bisschen dumm sind, läuft die gewagte, ziemlich holprige Unternehmung zwar zunächst gut, endet dann aber ziemlich übel. Zu unvorsichtig und naiv ist der Dilettantismus der weichen harten Jungs, die eigentlich nur ein wenig Spaß haben wollen, sowie der starken Frau, die sich nach Nähe und einem anderen Leben sehnt. Während zunächst Euphorie, dann Angst und hektischer Stress das zunehmend unlogische Handeln der Helden bestimmt, werden immer mehr Unschuldige in die unüberlegten Aktionen verwickelt. Das Verbrechen zieht gewissermaßen seine Kreise und erzeugt einen Sog der Bewegung, dem Schipper und sein norwegischer Bildgestalter Sturla Brandth Grøvlen zwischen nächtlichem Dunkel und beginnendem Morgengrauen in einer einzigen langen Einstellung folgen. Der dabei entstehende Drive wirkt manchmal intensiv und atemlos, dann wieder gehetzt und unkontrolliert oder einfach nur langatmig und uninspiriert.

Das formale Konzept eröffnet hier in den besten Momenten zwar eine künstlerische Freiheit, die einerseits Raum schafft für spontanes Agieren und schauspielerische Improvisationen; andererseits wirkt diese Prämisse auch als Korsett für die Handlungslogik und den dramatischen Spannungsbogen. Die starre Form verwässert gewissermaßen den Inhalt, der eh schon etwas dünn und oberflächlich ist. So erzeugt der Zwang zum „gedrängten“ Ereignis immer wieder eine aufgesetzte hektische Dramatik oder einfach nur Leerlauf. Manchmal ist das ein erzählerisches Atemholen, manchmal aber auch ein artifizielles Innehalten: Dann stellt Sebastian Schipper für lange Momente auf stumm und lässt die hypnotischen, schwerelosen Sounds von Nils Frahm „sprechen“.

Jurassic World

(USA 2015, Regie: Colin Trevorrow)

Kräftiges Gebiss, wackliges Bündnis
von Drehli Robnik

Aus Gelb-Rot wird Silbergrau-Blau, im Wechsel der Logosignalfarbenkombination von den 'Jurassic Park'-Filmen der Baujahre 1993, 1997 und 2001 zu deren Update unter dem Titel 'Jurassic World'. Und so wird aus …

Aus Gelb-Rot wird Silbergrau-Blau, im Wechsel der Logosignalfarbenkombination von den 'Jurassic Park'-Filmen der Baujahre 1993, 1997 und 2001 zu deren Update unter dem Titel 'Jurassic World'. Und so wird aus dem Park eine Welt und wird Wasser zu Ei.

Eine kleine Wasseroberfläche, auf der Vibrationswellen von heranstampfendem Unheil künden: Das war das inoffizielle Logo der alten Dino-Trilogie. Es entsprach dem Welt-Bild-Programm von Steven Spielberg (Regisseur der ersten zwei, Produzent aller vier Filme): Die Welt wird zu Bildern; sie erstarrt nicht im Bild, wohlgemerkt, sondern ist im ständigen Ab- und Um-Bilden, alles bildet sich in alles ein (oder listet sich auf), T-Rex-Stampf-Sound wird sichtbar als das Zittern von Wasser (und fühlbar als das Zittern von Publikum), Synästhetik geht nahtlos über in Gedächtnis, durch das die Welt sich erinnert – und mitunter wieder entäußert. ('Dinosaurier sehen und nicht gefressen werden' hieß ein Aufsatz der großen Film- und Kinokultur-Theoretikerin Miriam Bratu-Hansen über Spielbergs Art von senso-realistischem Bild, das fast beißt und dabei dem Durchspielen von Traumata eine Öffentlichkeit bietet.)

Auf totaler Entäußerung als Ausbruch liegt nun der Akzent in 'Jurassic World' (Regie: Colin Trevorrow): Dessen Auftaktbild, nahezu ein Logo, ist ein Ei; die Schale knackt und springt, ein Baby-Velociraptor zeigt Kralle. Ab dann bricht, in oft packenden Wendungen, allerlei monströses Dino-Gezücht aus – aus Stahlkäfigen, umzäunten Gehegen, Vogelkuppeln oder Wasserbecken. Der Jurassic Park ist nun Welt, schon lange eröffnet, gewohnheitsmäßige Attraktion und voller Touris, von denen einige schon leicht fadisiert sind. Zwar kommt der alte, rotgelbe Park hier explizit als Gegenstand von Retro-Kult und -T-Shirts ins Bild; doch die alte Spielberg´sche Logik namens Bild im Gedächtnis weicht einer neuen Logik, die Leben im Bündnis heißt. Um nicht zum unprofitablen Streichelzoo (mit auf Brontosauriern reitenden Kleinkindern und während der Monsterfütterung ihr Smartphone streichelnden Teenies) zu verkommen, muss der Park 'lebendiger', gefährlicher gemacht, also dereguliert werden.

Alles ist gepolt auf Intimkonfrontation mit dem knurrenden Vital-Bestial-Kapital, samt Dressurakt durch einen Raptorenflüsterer. Die ohnehin schon in permanenter Fragilität befindliche Sicherung trudelt in den Totalkollaps – diese Eskalationsdramatik aus dem Happiness-Tonfall heraus kommt nun erstmals seit dem Film von 1993 wieder zum Zug –, und der macht wackelige Allianzen nach dem Prinzip 'Der Feind meines Feindes ist T-Rex' erforderlich.

'Jurassic World' ist ein in Action-Timing, Effekten und räumlichem Dekor – die Stahltore! das Glaskugel-Auto im Maul des Dinos! – makelloses Spektakel. Der Plot-Gliederung in einzelne Pärchen – nervig und mit zu viel Haupthaar: das Teenie-Bruderpaar – und des Sadismus gegenüber zur kaltherzigen Wissensworkoholikerin stilisierten Frauen im Businesskostüm ist hier zu viel. Das Ressentiment gegen Leute britischer Herkunft und der Umstand, dass der Welt-Park sich im Mehrheitseigentum eines allzu abenteuerlustigen indischen Tycoons (Irrfan Khan) befindet, erinnern an den als unseriös gezeichneten frankophon-afrikanischen Besitzer des massentouristischen Underwater Kingdom-Themenparks in 'Jaws 3D', einem Fish-in-your-Face-Vehikel, das 1983 aus dem Massentourismus-Panik-Erfolgsspektakel 'Der weiße Hai' (im Original 'Gebiss', also 'Jaws') gemolken worden war. Vierzig Jahre nach Spielbergs Muttertier aller Sommerblockbuster fällt das 3D-Verfahren kaum unangenehm auf, im Unterschied zu der weiß-gönnerhaft wohldosierten Multiethnizität in den Nebenrollen von 'Jurassic World'. Aus dem Cast des allerersten 'Jurassic Park'-Films ist BD Wong als Dr. Henry Wu wieder mit am Start, der – vielleicht kein Wunder nach 22 Jahren im Gentechnik-Labor – irgendwie ungut geworden zu sein scheint. Von Richard Attenboroughs Gründervaterfigur steht eine Statue in der Lobby.

Ansonsten ist die Besetzung treffend (Vincent 'Todesgebiss-Grinsen' D´Onfrio besingt die Raptoren als die perfekte Waffe – wie einst das titelgebende Stahlmantelgeschoss in seiner Lebensrolle als fetter Rekrut in 'Full Metal Jacket'), lustig im Rahmen eines sexistischen Umerziehungssubplots (Bryce Dallas Howard) und, erstmals im Jurassic-Kosmos, auf einen zugkräftigen Jungstar (Chris Pratt) hin orientiert.

Fazit: Hier ist viel Gefühl im Spiel. Weniger Romantik als vielmehr Gespür dafür, was soziales Leben in allianzpragmatischer Situationselastik (eine Wortschöpfung des österreichischen Verteidigungsministers Klug), in Unsicherheitsroutinen, in Prekaritätskulturen heißt – nah am Abyss, also Gebiss. Kontrolle, so heißt es in 'Jurassic World' programmatisch, gibt es nicht – nur relationships. In einem gewissen Sinn heißt ja Kontrolle so viel wie 'Beziehung' (also: Macht als immer unsichere, nachjustierungsgenötigte, weil von der anderen Seite her unter Druck und auf Trab gehalten – sprich: Hegemonie). In diesem starken, nicht-idyllischen Sinn und auch ostentativ nicht im landläufigen Sinn romantisch sind Beziehungen hier angelegt: entweder als Kämpfe und Jagden unserer Lieblings-Dinos gegen- und aufeinander (nicht so gut wie in 'Godzilla', aber okay) – oder als Human-Hetero-Traumpaar, das sich schlussendlich in Trümmern bildet. Die in Fetzen geläuterte Powerbusinessfrau und der es immer schon gewusst habende Saurier-Coach, sie geben uns einen Satz mit auf den Weg, eine Losung, die den optimistischen Vitalismus aus 'Jurassic Park' – aus den Zeiten der großen Mainstream-Werdung von kulturellen Minderheiten und rechenleistungsbasierten Medienpraktiken (bis hin zum 'Satelllitentelefon' in T-Rex-Scheiße von 'Jurassic Park III') – ablöst: Hieß es damals in Gelb-Rot 'Life will find a way!', so begnügt sich der heutige silbergrau-blaue Krisenvitalismus mit dem Bündnisprogramm 'Let´s stick together for survival'.

Cousin Cousine

(F 1975, Regie: Jean-Charles Tacchella)

Nonkonformistische Liebesutopie
von Wolfgang Nierlin

„Heiraten ist eine ernsthafte Sache“, heißt es irgendwann zu Beginn von Jean-Charles Tacchellas humorvoller Familien- und Gesellschaftssatire „Cousin Cousine“, die strukturiert wird durch zwei Hochzeiten, eine Beerdigung und die Feier …

„Heiraten ist eine ernsthafte Sache“, heißt es irgendwann zu Beginn von Jean-Charles Tacchellas humorvoller Familien- und Gesellschaftssatire „Cousin Cousine“, die strukturiert wird durch zwei Hochzeiten, eine Beerdigung und die Feier des Weihnachtsfestes im häuslichen Rahmen. Dass es bei diesen Zusammenkünften dann mehr oder weniger ausgelassen und wüst zugeht, liegt nicht unbedingt an den Kindern, die mit solchen Sätzen von ihren Erziehern gemaßregelt werden. Vielmehr sind es die Erwachsenen selbst, die über die Stränge schlagen, indem sie sich betrügen und betrinken, belügen und befummeln, prügeln oder einfach nur ihren nackten Hintern zeigen. Die Doppelmoral, die hier witzig und prägnant entlarvt wird, besitzt bei Tacchella allerdings nichts Schweres oder gar Anklagendes. Der Blick des 1925 geborenen französischen Regisseurs auf seine Figuren ist trotz aller Trockenheit und Verknappung stets milde und liebevoll. Dazu passt die ebenso dynamische wie pointierte Erzählweise des Films, seine federleichte Atmosphäre, in die sich unterschwellig auch Anarchisches mischt.

Denn „Cousin Cousine“ ist vor allem eine ziemlich unkonventionelle Liebeskomödie, die der langjährige Filmkritiker aus dem Umfeld von André Bazin und vielbeschäftigte Drehbuchautor Jean-Charles Tacchella – nach seinem späten Regiedebüt mit dem Film „Reise in die große Tartarei' (1973) – im Jahre 1975 als seinen zweiten Spielfilm realisieren konnte; und der zumindest in seinem Heimatland und in den USA ein großer Publikumserfolg war. So begegnen sich bei besagter Hochzeit der Tanzlehrer Ludovic (Victor Lanoux), der alle drei Jahre den Beruf wechselt, weil man „das Leben wie ein Abenteuer ansehen“ müsse, und die unglücklich verheiratete Sekretärin Marthe (Marie-Christine Barrault). Deren Mann Pascal (Guy Marchand) ist ein notorischer Schürzenjäger, der parallel mehrere Affären unterhält und es bei der ausschweifenden Familienfeier gleich noch mit Ludovics depressiver, sich entlang Schlafkuren hangelnder Frau Karine (Marie-France Pisier) treibt. Aus herzlicher Zuneigung, innerer Verbundenheit und ein bisschen aus Rache werden die schöne Marthe und der freigeistige Ludovic ein Liebespaar, das zunächst bewusst auf Sex verzichtet, um sich abzuheben und umso offener ihr freundschaftlich-platonisches Verhältnis zu zelebrieren.

Das verschworene, ganz und gar „öffentliche“ Paar trifft sich zum Plaudern und Naschen, Schwimmen und Tanzen, schwänzt dafür schon mal die Arbeit und erregt damit immer gezielter das Misstrauen und die Eifersucht der jeweiligen Ehepartner; daneben aber auch die mühsam unterdrückte Empörung der Verwandtschaft, deren Mitglieder – um mit einem Bild des Filmes zu sprechen – wie Fische an der Angel zappeln. Deren satirische Überzeichnung wiederum steht im Kontrast zu der natürlichen, sehr sachlichen Selbstverständlichkeit, mit der die Protagonisten agieren. In Abänderung ihres Paktes verabreden diese sich schließlich doch noch für ein langes Liebeswochenende im Hotel, das Tacchella als unkonventionelle, grenzüberschreitende Feier der Lust und Freiheit inszeniert. Die Liebenden werden dabei zum idealen Paar, das sich im phantasievollen Liebesspiel an der Gewöhnlichkeit der anderen rächt und seine (vielleicht) utopische Wahrheit gegen die Konventionen einer verlogenen Gesellschaft setzt.

Diese Dialektik von Wahrheit und Lüge, Freiheit und Gefangenschaft, die von den sympathischen, gesellschaftliche Schranken durchbrechenden Liebeshelden immer wieder transformiert wird, spiegelt sich schließlich auch im klassischen, fast quadratischen 4:3-Bildformat, das der cinephile, filmsprachlich versierte Tacchella für seine ebenso subversive wie charmante Komödie gewählt hat. Vierzig Jahre nach ihrer Entstehung wird diese dem deutschsprachigen Publikum nun endlich auf einer DVD zugänglich gemacht, die sich durch eine hervorragende Bildqualität auszeichnet. Anderen Filmen des großen Regisseurs, die teilweise Mitte der 1980er Jahre im Fernsehen erstaufgeführt wurden, wird diese Ehre hierzulande leider wohl nicht zuteil werden.

Kafkas Der Bau

(D 2014, Regie: Jochen Alexander Freydank)

Die Architektur des Zwangs
von Manfred Riepe

Mit Ende vierzig scheint Franz (Axel Prahl) am Ziel seiner Träume zu sein. Dank seines gut dotierten Jobs hat der Banker für sich und seine Kleinfamilie eine geräumige Eigentumswohnung in …

Mit Ende vierzig scheint Franz (Axel Prahl) am Ziel seiner Träume zu sein. Dank seines gut dotierten Jobs hat der Banker für sich und seine Kleinfamilie eine geräumige Eigentumswohnung in einem luxuriösen Appartementhochhaus gekauft. Fröhlich reißt er beim Einzug die Arme hoch, lässt diesen Moment des Glücks von einem Möbelpacker mit der Videokamera festhalten, die er permanent bei sich führt. Doch schon bald mehren sich seltsame Vorzeichen. Beim Zusehen hat man sich ohnehin schon gefragt, warum der gut situierte Banker in eine Art Industrie-Vorort zieht, in dem aus der Vogelperspektive eigentlich nur triste Bürogebäude und Parkplätze zu sehen sind. So richtig froh scheint Franz nicht zu sein, als er auf seinem Videotagebuch von der trügerischen Stille in seiner neuen Wohnung spricht.

Die Stimmung wird immer bedrückender. Die Türsteher, Wachleute mit Fellmützen, die wie KGB-Agenten aussehen, blicken düster drein. Der neue Nachbar (Roeland Wiesnekker) wirkt mit seinem zynischen Lächeln auch nicht wie jemand, mit dem man Tür an Tür wohnen möchte. Außerdem verdichtet sich das seltsame Gefühl, dass Franz von irgendjemandem beobachtet wird. Kein Zweifel: Das alles wirkt irgendwie – man kann es nicht anders formulieren – kafkaesk. Das ist nicht überraschend, denn mit seinem Kinodebüt, für das er auch das Drehbuch verfasste, verfilmt Jochen Alexander Freydank eine Geschichte des Prager Schriftstellers. Leider kommt das „Kafkaeske“ dabei etwas zu sehr mit Ansage.

„Der Bau“, entstanden in Kafkas letztem Lebensjahr 1923/24, ist eine fragmentarische Erzählung, deren Ende verloren gegangen ist. Ähnlich wie die ungleich bekanntere „Verwandlung“, in der ein gewisser Gregor Samsa sich in einen Käfer verwandelt, geht es auch in „Der Bau“ um die menschliche, allzu menschliche Erlebnisweise eines Subjekts, das jedoch Tier ist. In der Literatur wird der bei Kafka namenlose Ich-Erzähler als Dachs oder als Maulwurf interpretiert. Ein Tier, das immerfort über seinen verzweigten unterirdischen Bau und die Maßnahmen meditiert, ihn zu erhalten und gegen vermeintliche Eindringlinge zu verteidigen. Besonders das zischende Geräusch, das es von irgendwo zu hören vermeint und dessen Ursache es akribisch zu ergründen versucht, setzt ihm zu. Auf seine unnachahmliche Weise erzeugt Kafka so ein genuines Sprachbild, das sich jedoch der konkreten Visualisierung im Sinne einer fotorealistischen Illustration radikal sperrt. Die selbst angelegten Gänge, durch die der Erzähler sich bewegt, sind eine Art Sinnbild für das Labyrinth seiner eigenen Gedanken, in denen er gefangen ist. Minuziös schildert der Text, wie der Erzähler darüber sinniert, dass er eigentlich sofort diese oder jene Maßnahme ergreifen müsse. Die nicht minder minuziös geschilderten Erwägungen, warum diese Maßnahmen sinnlos sein könnten, frieren die Handlungsfähigkeit des Subjekts ein, das in seinem formvollendet beschriebenen Grübelzwang völlig aufgeht.

Für diese Denkobsession, die einem beim Lesen der Geschichte merkwürdig vertraut erscheint, findet Freydank in den besseren Momenten seiner Verfilmung gelungene Bilder. Wenn Franz beispielsweise mit seinem SUV auf einen beinahe leeren Parkplatz fährt und trotzdem auffällig oft rangiert, bis sein Wagen kerzengerade zwischen den Markierungen steht, dann entspricht dieses übertriebene Bemühen um Exaktheit durchaus den Symptomen der Zwangsneurose (um die es bei Kafka geht, auf die man seine Literatur aber keineswegs reduzieren kann). Nicht minder zwanghaft ist es, wenn Franz auf seinem Nachttisch nicht nur einen, sondern gleich drei Wecker postiert, die mit ihrer übergroßen Digitalanzeige ebenso eine gelungene Verbildlichung von Zwanghaftigkeit sind.

Dass die ambitionierte Kafka-Verfilmung, an der Freydank laut eigener Aussage zehn Jahre arbeitete, nicht durchweg überzeugt, liegt zunächst einmal daran, dass er die Geschichte als Psychothriller über einen zunehmend paranoider werdenden Charakter interpretiert. Im Gegensatz zur Erzählung, deren beklemmende Wirkung dadurch entsteht, dass alles in der Schwebe bleibt, fühlt Franz sich beobachtet und verfolgt. Hinter der zugemauerten Tür in seiner Wohnung entdeckt er schließlich eine Vorrichtung, die er anscheinend selbst installierte. Dass Franz ein Psycho ist, das zeigt uns der Film jedoch etwas zu eindeutig und nimmt dadurch viel von der möglichen Wirkung.

Kafka arbeitet in seiner Geschichte mit dem – nie als solchem ausgewiesenen – Kunstgriff des personalen Erzählens, des Erzählens aus der Perspektive der ersten Person Singular. Der Trick dabei ist, dass das, was als objektiv dargestellte Wirklichkeit erscheint, eine Projektion des erzählenden Ichs ist. Die filmische Entsprechung für diesen Tunnelblick überzeugt nicht durchgängig: Franz hätte ein gutes Stück ‚normaler’ erscheinen können. Damit wäre das Abdriften ins Unheilvolle mitreißender geworden.

Dass der abstrakt bleibende, allegorische Dachsbau der Erzählung als luxuriöse Eigentumswohnung verbildlicht wird, geht in Ordnung. Und dass Franz in einem modernen Büro mit seltsamer Betonarchitektur arbeitet und eine Frau hat (die sehr schattenhaft bleibt): auch so kann man Kafka interpretieren. Dessen letzte Lebensgefährtin Dora Diamant soll gesagt haben, sie selbst sei der Burg- oder Hauptplatz des „Baus“. Also hat eine Frau hier durchaus ihren Platz.

Weniger gelungen ist der Umgang mit dem Text selbst, von dem Axel Prahl immer wieder Auszüge monologisch deklamiert. Das wirkt zu stilisiert – oder vielleicht nicht stilisiert genug. Am weitesten entfernt Freydank sich von Kafka, wenn er dessen literarischen Autismus, das permanente, im Grunde statische Kreisen um die eigenen Gedanken, im Sinne einer dramatischen Geschichte dynamisiert. Im Film wird der Protagonist so zu einem sozialen Wesen, das in einen Kampf um den gesellschaftlichen Abstieg verwickelt wird. Beim Einzug ärgert Franz sich schon darüber, dass sich im Treppenhaus Clochards eingenistet haben. Nach und nach verwandelt er selbst sich in einen Penner, in einen Obdachlosen im eigenen Bau. Die Befürchtung eines zunächst gut situierten Büroangestellten, der plötzlich entlassen wird und auf gespenstische Weise in die Armut abgleitet – das ist ein wichtiges Thema. Aber mit Kafka hat das nicht unbedingt etwas zu tun.

Vergisst man, dass dies eine Kafka-Adaption ist, dann nimmt einen der Film vor allem im letzten Drittel durchaus gefangen. Wenn das prätentiös wirkende Aufsagen des Kafkatextes weniger wird und Franz weitgehend stumm durch postapokalyptisch anmutende Industriebauten irrt, dann erzeugen die monochromen Szenarien eine beklemmende Wirkung. Man fühlt sich manchmal an Luc Bessons Erstling „Le dernier combat“ erinnert. Freydank, der für seinen Kurzfilm „Spielzeugland“ mit dem Oscar ausgezeichnet wurde, ist durchaus in der Lage starke, wirkungsvolle Bilder zu inszenieren. Besonders die Innenräume des „Baus“ mit ihrem diffusen Halbdunkel und den irgendwie zu weit voneinander weg stehenden Möbeln – zwischen denen man sich verlorenen fühlt – erzeugen eine ganz eigene, Kafka ästhetisch angemessene Wirkung. Auch im Gespräch mit dem Schlosser (unspektakulär: Devid Striesow), der einen Spezialriegel zur Absicherung einbaut – die aber wertlos zu sein scheint, weil der Handwerker ja selbst noch einen Nachschlüssel behalten könnte –, bewegt der Film sich in kafkaesken Erlebnisbahnen.

Die Beobachtung seines Hauptdarstellers, der einmal verzweifelt ein Regal aufzubauen versucht, gelingt dagegen nicht immer, weswegen auch Axel Prahls Darstellung nur streckenweise überzeugt. Freydank gelingt ein nicht uninteressanter Film über die Architektur des Zwangs, der vor allem gegen Ende zu gefallen weiß – so lange man ihn nicht mit Kafka assoziiert.

Die Lügen der Sieger

(D / F 2014, Regie: Christoph Hochhäusler)

Wahrheitssuche und Lügenmaschinerie
von Nicolai Bühnemann

„Go to a movie. Relax.“ Diesen Rat bekam der Journalist, der in Alan J. Pakulas „Zeuge einer Verschwörung' („The Parallax View“ (1974)) auf die Spur einer groß angelegten Verschwörung kommt, …

„Go to a movie. Relax.“ Diesen Rat bekam der Journalist, der in Alan J. Pakulas „Zeuge einer Verschwörung' („The Parallax View“ (1974)) auf die Spur einer groß angelegten Verschwörung kommt, von seinem Redakteur mit auf den Weg. Die Tatsache, dass dieser Unerschrockene seine Recherchen letztlich mit dem Leben bezahlen wird, zeigt deutlich, dass wir uns hier gerade nicht in einer Tradition des Kinos bewegen, die die Zuschauenden entspannt, mit der Welt versöhnt zurück in ihren Alltag entlässt. Vielmehr waren die US-amerikanischen Paranoia-Thriller der siebziger Jahre, für die Pakulas Film ein Paradebeispiel liefert, Ausdruck einer tiefen Verunsicherung der Menschen gegenüber der Macht. Dass „die da oben“ im Interesse des Volkes handelten, schien im Angesicht von Watergate und Vietnam fraglicher denn je. (Bestimmte Spielarten des Horrorfilms, der in dieser Dekade in den USA ebenfalls florierte, lieferten dazu gewissermaßen das Gegenstück: Statt der Angstphantasie des Mittelschichts-Großstädters vor den Machenschaften der Mächtigen, kam die Bedrohung hier von „unten“. In Form kannibalischer Rednecks in Hoopers „Blutgericht in Texas' („The Texas Chainsaw Massacre“) oder Cravens „Hügel der blutigen Augen' („The Hills have Eyes“) oder Romeros Zombies, die den bürgerlichen Individuen das Land streitig machten, eine neue frontier mitten durch das amerikanische Hinterland verlaufen ließen.)

Während in den USA die Tradition des Paranoiathrillers heute etwa in Fernsehserien wie „House of Cards“ fortgeschrieben wird (allerdings mit einem entscheidenden Perspektivwechsel, bei dem nun nicht mehr das streithafte Individuum im Kampf mit einem durch und durch korrupten System im Mittelpunkt steht, sondern ein Vertreter eben dieses Systems, der sich Journalisten, die zu viel wissen, auch schon mal durch Mord entledigt), hat das Genre hier in Deutschland gar keine Geschichte, die sich fortschreiben ließe. Dabei scheint die Atmosphäre unserer Gegenwart im Angesicht etwa der haarsträubenden Verwicklungen um die Mordserie des NSU oder immer neuer Skandale um die Abhörtätigkeiten der Geheimdienste geradezu dazu einzuladen, den Institutionen und den Mächtigen zu misstrauen.

Da passt es nur zu gut, dass mit „Die Lügen der Sieger“ nun ein veritabler deutscher Paranoiathriller in die Kinos kommt und ebenfalls, dass dieser von Christoph Hochhäusler stammt. In seinen drei bisherigen Kinofilmen zeigte Hochhäusler dezidiert deutsche Wirklichkeiten, die durch Zuspitzungen und Stilisierung ins Unheimliche entrückt schienen. Immer wieder kreisen seine Filme um das Thema Entfremdung in gegenwärtige Arbeitswelten. In „Falscher Bekenner“ (2005) ging es um die Arbeitssuche eines Jugendlichen, der seinen Platz in der Gesellschaft, wie sie ihm von seiner Familie vorgelebt wurde, nicht finden konnte oder wollte. Also flüchtete er sich in masochistische Tagträume. Also wurde er schließlich vom falschen Bekenner zum echten Saboteur. „Unter dir die Stadt“ (2010) erzählte von Investment-Bankern, die Realitäten außerhalb ihrer Glas- und Beton-Türme und ihrer kultivierten Gesellschaftsabende nur noch als voyeuristisches Spektakel wahrnehmen konnten: Einem Junkie zahlt der Protagonist Geld, um ihm dabei zuzugucken, wie er sich einen Schuss setzt.

In „Die Lügen der Sieger“ nun ist der Protagonist, wie bei Pakula in „The Parallax View“ oder dem Watergate-Film „Die Unbestechlichen' („All the President’s Men“ (1976)), ein Journalist, der bei seinen Recherchen auf die Spur einer ganz großen Sache zu kommen scheint. Fabian (Florian David Fitz) lebt auf großem Fuß. Er fährt einen alten Porsche durch die Straßen Berlins und ist hoch verschuldet, weil er immer mal wieder in geheimen Casinos riesige Summen an den Spieltischen verzockt (ordentlich frenetisch sind die Spielszenen gehalten und offenbaren damit die Vielseitigkeit, mit der Hochhäusler sein Handwerk beherrscht). Als Macho-Arschloch bezeichnet ihn Nadja (Lilith Stangenberg) einmal, die Volontärin bei dem Nachrichtenmagazin „Die Woche“, bei dem er arbeitet (und das nicht von ungefähr an den „Spiegel“ erinnert). Nachdem seine Story über den Umgang der Bundeswehr mit Kriegsveteranen stagniert, weil sich sein Informant bedeckt hält, bekommt Fabian Nadja von seinem Chefredakteur zur Seite gestellt und soll nun mit ihr zusammenarbeiten, was den chronischen Einzelgänger zunächst mit größtem Widerwillen erfüllt.

Zunächst einfach nur, um sie irgendwie zu beschäftigen, setzt er Nadja auf die Geschichte eines Mannes an, der im Zoo in Gelsenkirchen ums Leben kam, als er ins Löwengehege sprang. Fabian kann nicht ahnen, dass sich bald ein Zusammenhang auftut zwischen der Veteranen-Geschichte und dem Toten im Zoo. Es scheint dabei um Giftmüllimporte zu gehen und Kriegstraumatisierte, die von der Bundeswehr in dubiosen Recyclingfirmen „entsorgt“ werden. Doch im Geheimen arbeitende und sich in einer PR-Agentur organisierende Lobbyisten sehen die Verabschiedung eines Gesetzes über Giftstoffrichtwerte durch die Recherchen von Nadja und Fabian in Gefahr. Sie beginnen den beiden manipulierte Informationen zu zuspielen, sodass die vermeintliche große Enthüllungsstory, die es letztlich sogar auf den Titel der „Woche“ schafft, letzten Endes zu einem großen Ablenkungsmanöver wird.

Inszenierung und Kamera sind von bestechender Eleganz. Mehr noch als in „Unter dir die Stadt“ werden die Figuren immer wieder durch spiegelnde Scheiben gefilmt, wodurch die rastlosen Bemühungen der beiden Protagonisten etwas seltsam Entrücktes bekommen. Gespräche werden oft nicht in Schuss und Gegenschuss aufgelöst, sondern die Kamera gleitet über die Gesichter der Figuren oder zwischen diesen hin und her, wobei der Fluss von abrupten Schnitten unterbrochen wird. Die Agentur, in der sich die Lobbyisten organisieren, wird in bläulichem Licht gehalten. Einmal ist ihre Büroetage von außen zu sehen, ein unheimliches Zentrum der Macht inmitten des anonymisierten urbanen Raumes. Bei einem Gespräch von einem von ihnen mit einem Minister verhindert die Lichtsetzung, dass man die Gesichter ganz erkennen kann. Die beiden werden zu albtraumhaften Schattengestalten. Während sich Fabian in seinem Auto mit einem Informanten unterhält, beschreibt die Kamera eine komplette Drehung um den Porsche herum, schließt den Protagonisten nicht nur in seinem Statussymbol ein, sondern vergegenwärtigt die Ausweglosigkeit seiner Situation, der letztlich zum Instrument ebenjener Macht wird, der er auf die Schliche zu kommen versucht.

Zur Komposition seiner Bilder wählt Hochhäusler wie immer seit „Falscher Bekenner“ das Cinemascope-Format, aber „Die Lügen der Sieger“ ist der erste seiner Filme, der in seiner Wahlheimat Berlin spielt. Belebte Innenstadtstraßen vermitteln ein Gefühl großer Anonymität, die den perfekten Nährboden für die im Verborgenen operierende Agentur zu liefern scheint. Die Atmosphäre der Paranoia, der allgegenwärtigen latenten Bedrohung, wird vor allem in einer U-Bahn-Szene verdichtet, in der Fabian von einem Unbekannten Informationen zugesteckt bekommt. Der vielleicht schönste der sorgsam ausgewählten Schauplätze ist ein Imbiss, in dem sich Fabian und Nadja betrinken. Ein Schritt zu einer Beziehung zwischen den beiden, die letztlich ins Nichts führen wird – wie ihre Suche nach der Wahrheit.

Denn als Fazit des Films steht am Ende das Zitat von Lawrence Ferlinghetti, dem der Titel entlehnt wurde: „Geschichte wird gemacht aus den Lügen der Sieger. Aber du würdest es nicht erträumen, anhand der Titel der Bücher“. Das System der Manipulation der Medien und der Einflussnahme von Interessenvertretern der Wirtschaft auf politische Prozesse ist so eingespielt, dass es schon mehr braucht als zwei engagierte Journalisten, um ihm das Handwerk zu legen. So entlässt einen „Die Lügen der Sieger“, der ästhetisch avancierteste Film im ästhetisch avancierten Werk seines Regisseurs, nicht mit einem Gefühl der Entspannung und Beruhigung, sondern mit großem Unbehagen aus dem Kinosaal.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Die Lügen der Sieger'.

Big Game

(FI / GB / D / USA 2014, Regie: Jalmari Helander)

Schwaches Finnisch mit Uncle Samuel unter Samen (vormals 'Lappen')
von Drehli Robnik

Welch wirre Konstellation! 'Big Game', ein finnisch-deutsch-britisches Wald-, Berg- und Kidnap-Abenteuer auf den Spuren von 'Cliffhanger', feiert das Finnentum – allerdings gerade als eine Low Tech-Kultur mythomaner Bärenjäger, die in …

Welch wirre Konstellation! 'Big Game', ein finnisch-deutsch-britisches Wald-, Berg- und Kidnap-Abenteuer auf den Spuren von 'Cliffhanger', feiert das Finnentum – allerdings gerade als eine Low Tech-Kultur mythomaner Bärenjäger, die in Klapperkästen als Autos, mit Cassetten-Walkmen und Joghurtbecher-Schnurtelefonen (beides nicht von Nokia – wer´s noch kennt) sowie mit Pfeil, Bogen und großem Respekt vor der waidmännischen Ahnvätergalerie auf die Pirsch gehen. Finnischen Traditions- und Mythenbestand ins Groteske zu ziehen, das gelang 'Big Game'-Regisseur Jalmari Helander 2010 mit seiner Weihnachtsmann-Horrorsatire 'Rare Exports' ganz passabel. Nun aber soll an alten, nordisch-naturnahen Männerbildern offenbar doch etwas genuin Heilsames festgemacht werden; dazu dient die Kontrastfolie einer Maskulinität in der Identitätskrise – und die verkörpert Amerika.

Amerika wird gebasht. Aber nicht konsequent – hier kommt wieder das Wirre, sich selbst im Weg Stehende an der Konstruktion von 'Big Game' zum Tragen –, sondern nur so lange, bis der US-Präsident am Ende wieder gelernt hat, seinen eigenen national-imperialen Machtmythos zu glauben und auszuleben. Besagter Präsident, mit der Air Force One im Anflug zum Staatsbesuch in Helsinki, wird über Lappland abgeschossen und, nunmehr allein mit nur einem Schuh zu Fuß in Schnee, Fels und Moos unterwegs, von entführungslüsternen Verschwörern in den eigenen Reihen und deren arabischen Hintermännern bedrängt. Ein zwecks Bärenjagd-Initiationsritus in den Wald ausgeschwärmter Bub (Onni Tomilla, als Kinderdarsteller schon in 'Rare Exports' dabei) steht dem in der Natur aufgeschmissenen Ami bei, betrachtet ihn als seine 'Großwild'-Beute (eine der in Filmtiteln oft genutzten Mehrfachbedeutungen von 'Big Game') und lehrt ihn, das ganze Rumgetue mit Medienimage und politischem Rollenspiel sein und lieber das Alphatier in sich raus zu lassen. Diese verwirrte Form von Antiamerikanismus verspottet die USA ob ihrer soft power – und ist erst bereit, sie zu respektieren und zu zelebrieren, als die amerikanische Macht sich in bester imperialistischer Gewalttradition präsentiert und der Präsi mit seinem jungen Retter vor zu seiner Rückholung in finnisches Staatsgebiet eingeflogenen NAVY-Seals und digitaler Helicopter-Flotte posiert.

Das ist eine nachgerade masochistische Geste: Lerne im finnischen Ritus, wieder an dich zu glauben, Amerika, und zeig uns deine starken Rotorenblätter, damit wir wieder Grund haben, dich ehrfurchtsvoll zu lieben! Da wäre Gelegenheit gewesen für ein bisschen Perversiönchen mit dem Söhnchen nach Art des oft variierten B-Film-Menschenjagd- und Sadismus-Hobby-Parcours-Klassikers 'The Most Dangerous Game' (USA 1932), auf den 'Big Game' verquer anspielt. Aber nein, man hat sich entschlossen, doch eher als Kinder- und Jugendabenteuer anzutreten. Vielleicht ist diese Hinwendung an kindliche Gemüter mit dafür verantwortlich, dass hier nicht nur wiedergefundener Mannesmut als gut beschworen, sondern auch einem fast schon stilistisch suizidalen Todesmut zur unterbudgetierten Ausstattung: Gezeigt wird der War Room der US-Regierung oder das Wrack der Air Force One, aber jeweils so reduziert im baulichen Aufwand, dass es wie symbolische Dekorationen auf Theaterbühnen wirkt. Wobei die Actionszenen mit dem Eiskasten als Fluchtvehikel am Helicopter-Trageseil und in Stromschnellen eh okay, zumindest semi-bizarr, sind.

Konsequenter im Sinn der filmischen Selbsttorpedierung ist es, dass der US-Präsident, der eben zwecks Heruntermachung von bloßen Image-Formalien (und wohl auch in Anspielung auf die 'Abgehobenheit' und Schwäche, die KritikerInnen Obama immer wieder attestieren) als Weichei hingestellt wird, dass also dieser Softie- und Fake-Präsident mit Samuel L. Jackson besetzt ist; der hat vergleichbare Rollen, eben den fish out of water im Action-Ambiente, Mitte der 1990er gespielt (in 'Die Hard 3' und in 'The Long Kiss Goodnight', neben 'Cliffhanger' einem weiteren Film des einst großen Action-Finnen Renny Harlin) – aber heute ist Jackson doch eher über seine Tough Guy-Parts bei Tarantino oder von 'Shaft' über 'Star Wars' bis zum Avengers-Universum definiert und funktioniert als Präsident von Anfang an überhaupt nicht. Uncle Samuel L. im billig ausgestatteten Präsidentenjumbo – das erinnert unweigerlich an those mutherfucking Snakes on a Plane.

Mit dabei außerdem: Action-Allzweckler Ray Stevenson, in ein zu enges Secret Service-Sakko gezwängt; Mehmet Kurtulus, in ein nur wenig besser sitzendes Lederwams geknöpfelt, als terroristischer Islamist, der keiner ist, aber quasi die Stelle von Graf Zaroff aus 'The Most Dangerous Game' einnimmt; und Jim Broadbent, der sich als kauzig-doppelbödiger Geheimdienstberater einen Drehnachmittag Zeit genommen hat. Er ist ebenfalls fehlbesetzt und isst ein Käsebrot, beides durchgängig.

Die Lügen der Sieger

(D / F 2014, Regie: Christoph Hochhäusler)

„Das ist die Presse, Baby“
von Andreas Busche

Vergangenen Herbst trompeteten Mahnwächter, Montagsspaziergänger und Cybertrolle so lange das Wort von der „Lügenpresse“ in die Welt, bis es verdientermaßen zum Unwort des Jahres gekürt wurde. In Christoph Hochhäuslers drittem …

Vergangenen Herbst trompeteten Mahnwächter, Montagsspaziergänger und Cybertrolle so lange das Wort von der „Lügenpresse“ in die Welt, bis es verdientermaßen zum Unwort des Jahres gekürt wurde. In Christoph Hochhäuslers drittem Film „Die Lügen der Sieger“ erhält die Bezeichnung noch eine etwas andere, subtilere Konnotation: nicht als Kampfbegriff gegen die „Bewusstseinsmedien“, sondern als Inbegriff eines Scheiterns. Insgesamt kommen „die von der Presse“ bei Hochhäusler nicht sonderlich gut weg. Fabian Groys (Florian David Fitz ) ist ein Adrenalinjunkie: ehemaliger Kriegsberichterstatter, Spieler, Porschefahrer, Wrestling-Gucker, Macho-Arschloch. Man ist immer nur so gut wie seine letzte Story, erklärt er der neuen Volontärin Nadja (Lilith Stangenberg), die man ihm gegen seinen Willen zugeteilt hat. Denn Groys ist natürlich auch Einzelgänger, darum serviert er sie mit den Recherchen für einen spektakulären Todesfall im Gelsenkirchener Zoo ab. Ein Kriegsveteran hat sich in das Tigergehege gestürzt. Groys arbeitet derweil an einer Story über die Invalidenpolitik der Bundeswehr. Sein Chefredakteur beim Politmagazin „Die Woche“ drängt auf Resultate und gibt seine Anweisungen auch schon mal in einer Yoga-Stellung.

Hochhäusler ist im deutschen Film eine Ausnahmeerscheinung: ein Filmemacher, der in Bilder denkt und das Kino tatsächlich noch als Erzählmedium versteht. Seine Kinobilder fungieren nie als Beweisketten, die lediglich plot points verbinden, vielmehr erschließen sie gesellschaftliche Zusammenhänge erst. Lebenswirklichkeit wird aus einer nicht gesicherten Beobachterposition heraus beschrieben. Die Kamera ist in Hochhäuslers Filmen wie eine Sonde ständig damit beschäftigt, sich Überblick zu verschaffen.

In „Falscher Bekenner“ von 2005 beginnt ein Achtzehnjähriger aus Langeweile Bekennerschreiben für Taten zu verschicken, die er nicht begangen hat. Hochhäuslers letzter Film „Unter Dir die Stadt“ (2010) stand noch tiefer in der Tradition des amerikanischen Paranoia-Kinos der 1970er-Jahren, angesiedelt im Milieu der Frankfurter Hochfinanz. Ein Bankmanager entwickelt eine Obsession für die junge Frau eines Angestellten und beginnt die Karriere ihres ahnungslosen Mannes zu manipulieren. Die paranoide Logik ist bereits in der gläsernen Architektur der Bürotürme und Innenräume evident, die Transparenz erweist sich als Trugschluss. Hochhäusler hat vor der Filmhochschule Architektur studiert, sein Blick für Räume – auch die sozialen – ist ähnlich analytisch wie die Sprache seiner Figuren.

„Die Lügen der Sieger“ ist nach „Unter Dir die Stadt“ seine zweite Zusammenarbeit mit dem Autor Ulrich Peltzer, aber die Filme unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht. „Unter Dir die Stadt“ war ein Labor, in dem Hochhäusler mit menschlichen Verhaltens- und Sprechweisen experimentierte. Der Bankensektor diente dabei eher als atmosphärischer Hintergrund. Das Milieu selbst interessierte Hochhäusler und Peltzer nur insoweit es etwas über die Menschen verriet. Ihre Dialoge waren Inszenierungen von Sprechakten, die jedoch kaum Einblicke in die Mechanismen der Finanzwelt gewährten. Die Obszönität der Work Hard/Play Hard-Arbeitswelt zeigte sich nicht in geschäftlichen Transaktionen, sondern in den Umgangsformen und Räumen, die diese Menschen bewohnten.

„Die Lügen der Sieger“ will nun entschieden mehr procedural, also ein Genrefilm sein, als bloß eine Mentalitätsstudie der Berliner Republik mit ihren Verflechtungen aus Politik, Medien und Wirtschaft. Hochhäusler beschreibt Abläufe: wie aus einem Unfall ein vorsätzlicher Mord wird, aus verstreuten (Des-)Informationen eine ‚story’ und aus den Einflüsterungen der Chemie-Lobby schließlich ein Gesetz. Es ist ein Spiel um Schein und Anschein, denn am Ende geht es in „Die Lügen der Sieger“ gar nicht um die große Geschichte. Der eigentliche Skandal verschwindet in einer unscheinbaren Überschrift auf den hinteren Seiten des Wirtschaftsteils – genauso nebensächlich wie der Antrag auf eine Novellierung der Gefahrenstoffrichtlinie (Stichwort EU-Harmonisierung!), die im Bundestag von allen Fraktionen im Dämmerzustand durchgewunken wird. Nach getaner Arbeit sitzen die Lobbyisten mit einem Glas Champagner über der Titelgeschichte des Starreporters und fragen feixend, ob sie wohl auch als Autoren genannt werden.

Die Machtverhältnisse klärt Hochhäusler wieder über die Architektur. Die Herrschaftsräume der Konzerne sind gläsern und mondän, die Redaktion der „Woche“ sieht dagegen aus, wie man sich heute die „Spiegel“-Büros in den 1980er-Jahren vorstellt. Hochhäuslers paranoider Blick ist konsequent: Die Handlung besteht aus einer Aneinanderreihung von Orten, an denen nie ganz klar wird, wer hier eigentlich wen beobachtet. Mehrmals schaltet die Kamera in den Observierungsmodus (Schwarz-Weiß-Bilder, verzerrter Ton). Gefilmt wird auch die Probe für das Treffen eines Vertreters der Wirtschaft mit einem hochrangigen Minister. Das Gespräch in einem Berliner Nobelrestaurant verläuft später fast Wort für Wort im Sinne der Lobbyisten. Die Einübung von Sprechakten und Redeweisen wird in „Die Lügen der Sieger“ selbst zu einem Machtinstrument.

Doch so überzeugend Hochhäuslers Inszenierung von den klandestinen Herrschaftsverhältnissen auch ist, es hapert in „Die Lügen der Sieger“ vor allem an der Erzählmatrix. Als procedural im Stil des Watergate-Thrillers „Die Unbestechlichen“ oder der HBO-Serie „The Wire“ interessiert sich der Film zu wenig für die journalistische Arbeit. Karikaturenhaft klingen die Dialoge zwischen Starreporter Groys und seinem Chef, peinlich mitunter die Wortgefechte zwischen Groys und seiner Volontärin: Auch dies sind Sprechakte, allerdings eher aus deutschen Vorabendkrimis, in denen das Ermittlerduo „zynischer alter Hase – naive Assistentin“ bereits Tradition hat. Hochhäuslers Desinteresse geht so weit, dass er entscheidende Plotwendungen wie ein ‚deus ex machina’ einführt, etwa wenn den Journalisten ein gefälschtes Foto untergejubelt wird. Am Ende muss Humphrey Bogart für die zynische Schlusspointe sorgen, als die Druckerpressen bereits auf Hochtouren laufen. „Das ist die Presse, Baby“, ruft ‚Bogey’ in einer Szene aus „Deadline U.S.A.“ (1952) ins Telefon, „dagegen könnt ihr nichts ausrichten.“ „An den Titeln der Bücher“, heißt es in einem Schlusszitat von Lawrence Ferlinghetti, „wird man die Lügen der Sieger nicht erkennen.“

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2015

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Die Lügen der Sieger'.

Mädchen mit Gewalt

(BRD 1969, Regie: Roger Fritz)

Das Kiesgrubenpatriarchat
von Nicolai Bühnemann

Zu den Verheißungen der späten sechziger und frühen siebziger Jahre zählte auch die Möglichkeit eines anderen deutschen Genre-Kinos. Fernab von den Wegen des Neuen Deutschen Films auf der einen Seite …

Zu den Verheißungen der späten sechziger und frühen siebziger Jahre zählte auch die Möglichkeit eines anderen deutschen Genre-Kinos. Fernab von den Wegen des Neuen Deutschen Films auf der einen Seite und dessen, was seine Vertreter abschätzig als „Opas Kino“ bezeichneten auf der anderen Seite, drehten einige junge Regisseure eine Handvoll Filme, die, trotz deutlicher Einflüsse von New Hollywood bis zum Italo-Western, radikal neue und eigene Wege zu beschreiten suchten. Rudolf Thome erzählte in seinem Frühwerk entspannt von Mord und allerlei amourösen Verwicklungen („Detektive“ (1969), „Rote Sonne“ (1970)). Roland Klick schickte seine Figuren im ewigen Kampf miteinander, sich selbst und einer vom Geld regierten Welt zunächst in die Wüste („Deadlock“ (1970)), dann durch schmierige (und in ihrer Schmierigkeit kaum jemals so wunderbar gefilmte) Hamburger Straßen („Supermarkt“ (1974)). Und Rolf Olsen bewies mit seinem Geiselnehmer-Thriller „Blutiger Freitag“ (1972), dass man auch in der alten Bundesrepublik Filme drehen konnte, wie sie sonst vornehmlich aus Italien stammten: knallhart, reißerisch, mit Zuspitzungen ins Psychedelische und ganz dicht am Puls der Zeit ohne einen Hauch von Themenfilm-Allüren.

Mit der ersten Sichtung von „Mädchen mit Gewalt“ muss ich definitiv einen weiteren Namen zu dieser Liste hinzufügen, mit dem doch alles wieder ganz anders wird, die Geschichte des anderen (und in diesem Falle unterschlagenen) bundesrepublikanischen Films von Neuem beginnen muss: Roger Fritz. Während „Rote Sonne“ heute als Kultfilm seiner Zeit gehandelt wird, während Klicks in diversen Editionen zugängliches Werk als ewiger Geheimtipp gilt und von „Blutiger Freitag“ immerhin eine Grabbeltisch-DVD existiert (und eine sorgsame Restauration in Aussicht steht), ist Fritz‘ Schaffen weitgehend vergessen. Nie im Fernsehen gezeigt oder auf Heimmedien erschienen, ist es nur ein paar eingefleischten Cinephilen bekannt, die das Glück hatten, es bei einigen seltenen Gelegenheiten im Kino sehen zu können. Da ist es umso erfreulicher, dass mit „Mädchen mit Gewalt“ nun erstmalig ein Film von Fritz ins digitale Zeitalter gerettet wurde.

Die erste Einstellung des Films zeigt Werner (Klaus Löwitsch) und Mike (Arthur Brauss), die in einem Zimmer einer jungen Frau dabei zusehen, wie sie sich langsam ankleidet. Die beiden Männer, Arbeitskollegen und langjährige Freunde, scheinen ihre Freizeit ausschließlich damit zu zubringen, Frauen hinterherzujagen, immer auf der Suche nach erotischen Abenteuern zu Dritt. Wenig später bei einer anderen Frau merken wir, dass es bei ihrem Treiben bisweilen auch mit recht rohen Zudringlichkeiten zugeht.

Auf der Go-Kart-Bahn lernen sie Alice (Helga Anders) kennen (wunderbar inszeniert ist diese Go-Kart-Szene, die Attraktion in Bewegung, die Blicke: der von Helga Anders unbedarft, fröhlich geradeaus, die von Werner und Mike auf die Frau als potenzielles „Projekt“, potenzielles Opfer gerichtet). So wie der Film als – wenn auch auf sehr spezielle Weise sinistere – erotische Komödie beginnt, um sich im Folgenden immer weiter zu verfinstern, so beginnt auch auf der Go-Kart-Bahn als Spiel, was später immer grausamer wird – aber doch irgendwie immer Spiel bleibt). Alice ist mit einigen Freunden unterwegs (darunter in einer kleinen Rolle: Rolf Zacher), wird aber nach der Kneipe, in der es einige Handgreiflichkeiten gibt, alleine mit den beiden Männern ins Auto steigen. Auf dem Weg in eine Kiesgrube, wo gebadet und auf Alices Freunde gewartet werden soll. Vielleicht schon als Alice das erste Mal mit den beiden Männern im Auto sitzt, spätestens jedoch beim Würstchenbraten am Lagerfeuer kippt die Stimmung. Alice muss bald erkennen, dass ihre Freunde nicht nachkommen werden und sie selbst sich bei Werner und Mike in schlechter Gesellschaft befindet.

So wie sich „Mädchen mit Gewalt“ nur äußerst schwierig auf ein Genre festlegen lässt, so scheinen auch die Machtverhältnisse zwischen den Figuren (vor allem zwischen Werner und Mike, zwischen denen Alice nur als eine Art Puffer zu fungieren scheint) immer wieder neu definiert, neu austariert werden zu müssen. Das gewohnte Spiel der beiden Männer gerät dieses Mal außer Kontrolle, artet aus, eskaliert immer weiter.

Die Logik dieser Eskalation folgt keinem herkömmlichen Spannungsbogen, eher verursacht der Film beim Zuschauenden ein großes Unbehagen, das über mindestens seine letzte Stunde konstant aufrecht erhalten wird, und auch in den Gewaltausbrüchen (Alices Vergewaltigung durch Werner in der Nacht, die Kämpfe der beiden Männer um die Frau am nächsten Tag) kaum ein Ventil findet. Dafür ist es bezeichnend, dass in der fiesesten und vielleicht auch intensivsten Szene des Films eigentlich nichts geschieht, sondern nur gesprochen wird. Am Morgen droht Alice den beiden Männern, zur Polizei zu gehen, um Anzeige wegen Vergewaltigung zu erstatten. Minutiös führt Mike ihr aus, welche Folgen das für sie haben würde. Er schildert ihr die peinlich detaillierte Befragung über den Tathergang durch die Beamten, durch den Richter im Prozess, durch ihren eigenen Vater, wie man sie und ihre Aussagen in Zweifel ziehen wird, weil man meint, sie habe die Beiden provoziert, wie sie immer wieder haarklein wird schildern müssen, was ihr geschah, und wie die Welt voll sein wird von Männern, die ihr größtes Misstrauen entgegenbringen werden. Was er beschreibt – und treffend auf den Begriff einer „gigantischen Vergewaltigung“ bringt – wurde von FeministInnen als „second rape“ bezeichnet, die Frauen in den Institutionen einer patriarchalen Kultur über sich ergehen lassen müssen, nachdem sie Opfer einer Vergewaltigung wurden. Mikes drastische und eindrückliche Schilderungen lassen die beiden Männer nur wie die Spitze des Eisberges erscheinen, wie Agenten einer Phallokratie, in der eine junge Frau keine Chance hat, ihre Sexualität selbstbestimmt und frei auszuleben, ohne sich Anschuldigungen und Abwertungen gefallen lassen zu müssen. „Mädchen mit Gewalt“, von einer zeitgenössischen Kritikerin als „Anleitung zur Vergewaltigung“ verrissen, zeigt anhand der Entwicklung von Helga Anders‘ Figur absolut schonungslos, wie eine solche Gesellschaft eine junge Frau brechen kann.

Sucht man zu „Mädchen mit Gewalt“ mögliche Bezüge in der Filmgeschichte, dann findet man sie wohl vor allem im Schaffen Roland Klicks, den Fritz, so erzählt er im Audiokommentar, in den gemeinsamen Münchner Zeiten gut kannte, mit dem er sich regelmäßig traf, um über Filme zu diskutieren. Die Kiesgrube mit den verstreut herumliegenden LKW-Reifen, der alten Förderanlage, den Autowracks, dem See und den bewaldeten Abhängen rundherum wird zu einer eigenen, in sich abgeschlossenen Welt und zugleich zu einer Seelenlandschaft der Figuren, vielleicht zu dem, was Can in einem der Songs als „Soul Desert“ besingt. In Klicks Debüt „Bübchen“ (1968) ist es ein Schrottplatz, der als äußere Abbildung von Innerem fungiert und für die Kaputtheit eines ganzen Milieus steht, der unteren Mittelschicht in der BRD nach dem Wirtschaftswunder. Auch wirkt „Mädchen mit Gewalt“ streckenweise wie ein Zwillingsfilm zu „Deadlock“ (der wohl ein Jahr später entstand). Die Parallelen ergeben sich auch hier durch die Abgeschiedenheit und Unentrinnbarkeit des Schauplatzes sowie den großartigen Soundtrack von Can. Der Geldschatz, der dort frenetisch und mörderisch umkämpft wird, ist hier Helga Anders, wobei es weniger darum zu gehen scheint, sie sexuell zu „besitzen“ als das die zwei Männer ihren Lustgewinn primär daraus ziehen, die Frau zu brechen, sie zu einem wenn schon nicht willigen so doch willenlosen Opfer zu machen. Wie Marquard Bohm am Ende von „Deadlock“ wird auch Anders nach „Mädchen mit Gewalt“ eine Überlebende sein, für die es doch in der Welt keinen Platz zu geben scheint.

Roger Fritz kommt ursprünglich von der Fotografie, was man seinen sehr genau kadrierten und arrangierten Einstellungen deutlich anmerkt. Genau sind die Figuren im Bild angeordnet, konzentriert sich die Kamera auf ihre Körper und Gesichter und verdichtet das Geschehen zu einem Kammerspiel unter freiem Himmel. Der Einsatz von extremen Close-Ups ist spärlich aber exakt, wohl dosiert. Beim „Versteckspielen“ hilft Werner Alice von einer Leiter herunter. Während er sie im Arm hält zeigen sechs sehr kurze Einstellungen Details von ihren Gesichtern: Augenpartien und Münder in Schuss und Gegenschuss. Diese Szene ist bestimmt durch eine Sinnlichkeit, ein Begehren, das wenig später nur gewaltsam manifestiert werden kann. Bei der Vergewaltigung gibt es wieder Close-Ups, von ihren Brüsten in der aufgerissenen Bluse, von seiner Hand, wie sie seinen Reißverschluss öffnet, ihren Schlüpfer herunterreißt. Parallel montiert wird Mike, der den beiden zusieht, während er mit dem Auto Kreise um sie herumfährt. Die Szene endet mit Großaufnahmen der Autoscheinwerfer, zwei weiß leuchtende Augen in der Nacht, die die Rolle Mikes als Voyeur unterstreichen.

Nach einem Schnitt bricht der Tag an, der Alice ebenso wenig helfen wird wie der Himmel, aus dem am Ende ein Polizeihubschrauber in die Kiesgrube herabschwebt. Die Ordnungsmacht von außen kann das, was hier geschah, nicht nur nicht ungeschehen machen, sie hat auch keine Möglichkeit in die hier entstandene, ganz eigene Dynamik einzugreifen oder auch nur irgendeine Form der Sühne anzubieten. So endet, denkbar pessimistisch, einer der wohl kühnsten und verstörendsten Filme des bundesrepublikanischen Kinos.

Die Blu-ray-/DVD-Kombibox aus dem Hause Subkultur Entertainment, die als vierter Teil ihrer „Edition Deutsche Vita“ erschien, ist ein wahres Prachtstück. Sie präsentiert den Film in einer eigens angefertigten HD-Abtastung, die auch das Originalformat von 1,66:1 beibehält. Für die Edition wurden gleich zwei Audiokommentare eingesprochen. In dem ersten unterhalten sich Christoph Draxtra und Sano Cestnik, Autoren auf dem Blog „Eskalierende Träume“ und Mitveranstalter der Nürnberger Hofbauer-Kongresse, mit Roger Fritz und Arthur Brauss unter anderem über Münchner Filmemacher-Zeiten, das fiese Grinsen von Klaus Löwitsch und die Einordnung des Films in das (mir leider unbekannte) weitere filmische Werk des Regisseurs. Im zweiten bemühen sich Tino Zimmermann von Subkultur Entertainment, Pelle Flesch und wiederum Christoph Draxtra darum, „Mädchen mit Gewalt“ in der deutschen Filmgeschichte zu verorten, gehen auf die (Italo-)Western-Reminiszenzen des Films ein und sprechen außerdem ausführlich über die Schwierigkeit deutsches Filmerbe zu vermarkten oder überhaupt zu erhalten, denn in Deutschland gehen reihenweise Filme verloren, weil an Geldern für die Digitalisierung gespart wird. Abgerundet wird die Edition durch ein Booklet, in dem sich die Grabrede auf Klaus Löwitsch von seinem Freund und Kollegen Dieter Laser befindet. Sowie drei Interviews mit Roger Fritz, Arthur Brauss und Rolf Zacher. Von letzterem musste sich der Interviewer Sadi Kantürk wohl so einiges anhören, so hört man es noch über den Schluss-Credits grummeln: „Ich war schon Amsel, Drossel, Fink und Star, da wart ihr noch im Sack von euerm Alten, ihr kleinen Wichser.“

Slow West

(GB / NZ 2015, Regie: John Maclean)

Entlarvung einer Jungsphantasie
von Nicolai Bühnemann

Vor zunächst schwarz bleibender Leinwand trägt ein Voice-Over in der ersten Person eine Plot-Prämisse vor, wie sie eigentlich einfacher kaum sein könnte: Ein Junge sucht ein Mädchen (vielleicht, auch wenn …

Vor zunächst schwarz bleibender Leinwand trägt ein Voice-Over in der ersten Person eine Plot-Prämisse vor, wie sie eigentlich einfacher kaum sein könnte: Ein Junge sucht ein Mädchen (vielleicht, auch wenn das heißt, vom Anfang auf das Ende vorzugreifen, ist das Problem, das der Junge hat, der Jay mit seinen sechzehn Jahren noch recht deutlich ist, dass er gar kein Mädchen sucht, sondern eine Frau. Jedenfalls stellt sich heraus, ist die gesuchte Angebetete, Rose, einmal gefunden, dass sie mit seiner doch noch recht jungenhaften Idee von romantischer Liebe nicht das Geringste anfangen kann).

Was diese Prämisse verkompliziert – und zwar gleich in vielfacher Hinsicht – sind Zeitpunkt und Ort der Handlung: das Jahr 1870 und der Nordwesten der heutigen USA, wohin Jay (Kodi Smit-McPhee) Rose (Caren Pistorius) aus dem heimischen Schottland gefolgt ist. Zunächst einmal, weil die frontier, an die es Jay verschlägt, das Colorado-Territorium, das erst einige Jahre später in die USA aufgenommen werden sollte, gar kein Ort ist für einen jugendlichen Träumer aus besseren Verhältnissen wie ihn, der einen Reiseführer („Ho! To The West!“) im Gepäck hat, Gedichte rezitieren und in einer gespensterhaft schönen Szene mit einigen Afroamerikanern, die am Wegesrand in ihrem afrikanischen Idiom ein Ständchen geben, auch mal auf Französisch parlieren kann. Als Begleitung, die Jay auf seiner Reise gen Westen bitter nötig hat, bietet sich ihm, selbstverständlich gegen Bezahlung, ein Mann an, den er unterwegs kennenlernt und der das Überleben in der Wildnis zur Kunstform zu erheben scheint: Silas. Michael Fassbender gibt ihn bärtig, einsilbig und immer mit einem Zigarrenstummel im Mund, den er sogar einmal entzündet, als er ziemlich buchstäblich zerschossen, blutend am Boden sitzt.

Dann aber auch, weil John Mcleans Langfilmdebüt „Slow West“, zu dem er auch das Drehbuch schrieb, ein bei aller Reduktion auf das Basale, das blanke Überleben, doch erstaunlich komplexes Bild der frontier zeichnet. Postkolonial reflektiert, ist sie erst einmal Schauplatz eines Genozids. Gleich zu Beginn seiner Reise passiert Jay ein niedergebranntes Indianer-Lager und wird Zeuge, wie einige Männer in Uniform bedingungslose Jagd auf die Menschen machen, die sie als „savages“ bezeichnen. Ein Mann, dem Jay begegnet, gibt sich als Chronist der Ausrottung der Indigenen – und entpuppt sich doch als genauso ein Aasgeier wie fast alle Figuren des Films, der Jay im Schlaf um sein Pferd und sogar seine Kleider erleichtert.

Dann herrscht an diesem Ort aber auch, neben dem Gesetz des Stärkeren, das Jay an einer Stelle gelehrig nach Darwin zitiert, auch das Streben nach Reichtümern, das eben noch von keinerlei zivilisatorischen Instanzen reguliert werden würde. Alles dreht sich um das, was eine junge Frau, die offenbar kaum Englisch spricht, bei einem gründlich und blutig schief gehenden Ladenüberfall energisch und verzweifelt einfordert: „Money, Money, Money!“ Die „Wildnis“, wie „Slow West“ sie zeigt, ist eines ganz bestimmt nicht: unberührt, unschuldig. Vielmehr wird schnell klar, dass an einem solchen Ort niemand, auch nicht Jay, ohne Schuld bleibt, und die Vergangenheit, von der der Film handelt, gerinnt zur Dystopie eines vollends entfesselten Kapitalismus, in dem es nur noch darum geht, seinen Nächsten auch durch List, aber vor allem durch Gewalt um seine Güter zu erleichtern, ohne dass irgendwelche äußerlichen Institutionen oder verinnerlichte Moralvorstellungen das Geschehen irgendwie beeinflussen würden.

Im Voice-Over sinniert Silas einmal darüber, dass dieser Westen für Jay ein Ort der Verheißungen und der Hoffnung sei, während er selbst nur unter jedem Stein, den er umdrehe einen Banditen erwarte, der bereit ist, ihn umzulegen, wenn er sich nur einen Dollar davon verspricht. Bei aller sinisteren Zeichnung und Entmystifizierung, die „Slow West“ seinem Schauplatz im Gegensatz zur alten Mythologie des Western-Genres angedeihen lässt, bleibt doch eine gewisse Verhandlungsmasse als Sache der Perspektive (was auch in den Off-Kommentaren, die eben sowohl von Jay als auch von Silas stammen, seinen Niederschlag findet). Die Weite der Landschaft der Südinsel Neuseelands, die hier als Nordamerika firmiert, ist so beeindruckend fotografiert, dass sie doch trotz allem ein Sehnsuchtsort bleibt.

Eine Frage der Perspektivierung bietet auch die vielleicht denkwürdigste Einstellung des Films. Jay, vorübergehend auf sich alleine gestellt, beäugt auf der Suche nach Essbarem einen Pilz in der Steppe. Von unten gefilmt ragt der eigentlich recht kleine Pilz riesenhaft ins Bild, mit dem hungrigen Jay im Hintergrund. Der glücklich eintreffende Silas informiert seinen Schützling, dass er diesen Pilz essen kann, ja, wenn er nur genug davon esse, könne er gleich zu Rose fliegen.

Ansonsten zeigt sich Macleans inszenatorisches Talent vor allem bei der die Diegese des Films bestimmenden Gewalt. Gleich zu Beginn, als Silas und Jay sich kennenlernen, gibt es ein gekonnt in Szene gesetztes Mexican standoff mit den Indianerjägern. Der Regisseur scheut auch nicht davor zurück, die Gewalt ins Komische zu überzeichnen. Namentlich eine Szene, in der bei einem Indianerangriff Jays schützend vor den Kopf gehaltene Hand Schlimmeres verhindert, aber sich der Jüngling mit dem nun in seiner Hand steckenden Pfeil sichtlich und verständlich überfordert zeigt, ist deutlich so angelegt, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Am Ende gibt es eine Abfolge von gespenstischen Einstellungen, die alle Toten des Films noch einmal zeigen, und so die Handlung, auf Akte der Gewalt reduziert, Revue passieren lassen.

Ich glaube, es wäre falsch, „Slow West“ aufgrund seines Geschichtsbildes als Anti-Western zu etikettieren. Vielmehr geht es Maclean darum, eine Vielzahl den Rahmen eines einzelnen Genres sprengende Erzählungen zu evozieren, um sie gegen den Strich zu erzählen, zu durchkreuzen, zu negieren. Eine Coming-of-Age-Geschichte erzählt der Film gerade nicht, vielmehr ist es Silas, der am Ende eine Entwicklung durchlaufen haben wird, für die Jay essentiell war, und deren letztlicher Ausgang auf sehr schöne Weise ambivalent bleibt. Die Indianer sind zwar Opfer von Landraub und Exterminierung, aber alles andere als edle Wilde, die ihr Schicksal tatenlos über sich ergehen lassen würden. Auch jemand, der so aufs Überleben gepolt ist wie Silas, ist letztlich nicht davor gefeit, von alten Weggefährten übers Ohr gehauen zu werden oder in den Feuergefechten, in denen es nicht mehr darum geht, wer schneller zieht, sondern manchmal darum, wer die bessere Zielvorkehrung an seinem Gewehr hat, ein paar Kugeln abzubekommen.

Schließlich, und damit kehren wir zum Anfang zurück, ist da die Erzählung des Jungen, der sein Mädchen sucht, der Rose, die gepflückt, der Frau, die gerettet werden will. „Slow West“ entlarvt diese Jungenphantasie als Erzählung eines – wenn auch ziemlich weichgespülten, feingeistigen – Patriarchats. Die Kolonialgeschichte ist voll von Bildern der Wildnis als Frau, die von männlichen Konquistadoren und Entdeckern erobert, domestiziert werden will. Die Angebetete hier ist viel zu sehr mit dem Überleben beschäftigt, für das sie, wie wir in einem der Rückblicke erfahren, die die übrigens rein platonische Beziehung zwischen Jay und Rose beleuchten, Kind armer Landarbeiter, auch viel eher gemacht scheint als ihr schmachtender Verehrer, um auf einen Retter zu warten.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Slow West'.

Camino de Santiago

(CH 2015, Regie: Jonas Frei, Manuel Schweizer)

Mit der Drohne auf dem Pilgerweg
von Manfred Riepe

Der Camino de Santiago zählt zu den bekanntesten Pilgerrouten der Welt. Eigentlich führt diese uralte Strecke, zu deutsch: der Jakobsweg, quer durch Europa. Wer beispielsweise in unserem Nachbarland Urlaub macht, …

Der Camino de Santiago zählt zu den bekanntesten Pilgerrouten der Welt. Eigentlich führt diese uralte Strecke, zu deutsch: der Jakobsweg, quer durch Europa. Wer beispielsweise in unserem Nachbarland Urlaub macht, der findet in dem kleinen südfranzösischen Städtchen Pésenas die den Weg markierende Jakobsmuschel. Bekannt geworden ist von dieser Route allerdings nur die Zielgerade, der letzte Abschnitt durch Nordspanien. Die Resonanz in Literatur und Film ist beachtlich. Schon vor zehn Jahren erzielte Coline Serreau mit „Saint Jacques … Pilgern auf Französisch“ einen Arthouse-Hit. Hape Kerkelings autobiografische Beschreibung „Ich bin dann mal weg“ avancierte zum Bestseller und prägte eine gebräuchliche Redewendung. Sogar die ARD schickte Ann-Katrin Kramer und Elmar Wepper in einem populären TV-Movie auf die befreiende Wanderung nach Santiago de Compostela. Die filmischen Beispiele sind damit längst noch nicht erschöpft. Wer also tatsächlich innere Einkehr sucht, sollte sich von diesem touristischen Event besser fern halten. Es wimmelt hier vor Menschen wie in der Fußgängerzone.

Nun begaben sich auch noch die beiden schweizerischen Filmemacher Jonas Frei und Manuel Schweizer auf den ausgetretenen Pfad. Nicht zu Fuß, sondern mit dem Fahrrad. Ist das unsportlich? Unterwegs haben sie Wanderer aus aller Herren Länder in Small Talks mit einem erstaunlich ähnlichen Tenor verwickelt. Von dem ursprünglich christlichen Motiv der Wanderung auf dem Camino de Santiago haben die Pilger von heute kaum mehr eine Vorstellung. Darin gleichen sie dem Film von Jonas Frei und Manuel Schweizer, der den religiösen Hintergrund nur streift. Auch die Wanderer von heute haben es gerne unverbindlich. Sie wollen, so die übereinstimmende Bekundung, dem hektischen Getriebe des Alltags entfliehen und hoffen auf ein, wie es immer wieder heißt, spirituelles Erlebnis. Genau betrachtet, reduziert sich diese Spiritualität light auf eine körperliche Verausgabung. Das selbst auferlegte Martyrium von heute: Es beschränkt sich auf wund gelaufene Füße, die man mit einem Blasenpflaster verarzten kann. Und nach anstrengenden Gewaltmärschen ist eine bescheidene Mahlzeit dann ein göttliches Geschenk.

Was die betulichen Betrachtungen, die mit Off-Kommentator und eingeblendeter Landkarte arbeiten, von anderen Filmen unterscheidet, sind die zum Teil recht bemerkenswerten Aufnahmen. Bereits die Exposition, bei der sich der imposante Blick über Berge und Täler auf eine gefühlte Unendlichkeit hin öffnet, wirkt wie in einem „Herr der Ringe“-Film. Ein unerwartetes Filmerlebnis. Doch dieser visuell überwältigende Wow-Faktor verschleißt sich leider schon bald. Jede Kirche, und davon gibt es auf dem Weg einige, wird mit dem fliegenden Auge einer Kamera-Drohne von oben gezeigt. Es wird rasch deutlich, dass die Fixierung auf diese – anfangs erfrischend neu erscheinende – Perspektive, die sich durch eine rein technische Innovation ergibt, der eigentliche Inhalt dieses Dokumentarfilms ist. Die Menschen auf dem Jakobsweg treten dabei etwas in den Hintergrund. Zwar ist zu erfahren, dass es ein unbeschreibliches Gemeinschaftsgefühl unter den Pilgern gibt, jeder hilft dem anderen, doch die jeweils nur kurzen Erzählungen der Wanderer sind nicht abendfüllend. Das Problem der touristischen Vermassung und der Kommerzialisierung des Jakobswegs wird immerhin angedeutet. Die Filmemacher haben ein spezielles Interesse daran, ihr Sujet nicht madig zu machen: Weil der Film ansonsten sich selbst und seine ach so wunderschönen Bilder nicht mehr unkritisch feiern könnte.

Die konventionelle Dokumentation verlässt sich zu sehr auf nur anfangs beeindruckende Luftaufnahmen. Doch durch die Inflation der Vogelperspektive erscheinen die Beobachtungen irgendwann buchstäblich abgehoben. Durch den Blick von oben, der ja eigentlich auch der Gottesperspektive entspricht, kommt der Film Gott nicht näher. Zumal die sich in den Vordergrund drängend Musikuntermalung schon nach wenigen Minuten nervt. Die filmische Reise kommt gefühlte zehn Jahre zu spät und wirkt, gemessen an ihrem Sujet, nicht wirklich kontemplativ.

The Vatican Tapes – (Nicht online vor 24.7.!)

( 0, Regie: )

Teufels- und Frauenbilder
von Nicolai Bühnemann

Der Teufel steckt im Detail. Das bedeutet unter anderem, er versteckt sich im Bilderfluss einer Videoaufzeichnung, die vorderhand die junge Angela zeigt, die verzweifelt wieder und wieder beteuert, nur nachhause …

Der Teufel steckt im Detail. Das bedeutet unter anderem, er versteckt sich im Bilderfluss einer Videoaufzeichnung, die vorderhand die junge Angela zeigt, die verzweifelt wieder und wieder beteuert, nur nachhause zu wollen, und kann hier erst per Rückspultaste und freeze frame sichtbar gemacht werden. In einer Welt, in der immer irgendwo eine Kamera läuft, wird der Kampf, den sich die Mächte des Bösen mit dem Vatikan um die Seelen der Menschen liefern (und ja: diese Dichotomie kann man dem Film, wenn man ihn denn so ernst nehmen möchte, durchaus übel nehmen) auch zu einem Kampf der Bilder. „The Vatican Tapes“ besteht, nach einer pre title sequence, die aus – natürlich inszeniertem – Archivmaterial zusammengesetzt ist, das allerlei Fälle von Besessenheit im Verlaufe der Dekaden zeigt, auch weiterhin zu einem großen Teil aus Blicken durch inner-diegetische Kameras: Vom Handyvideo von der Geburtstagsparty über die Aufnahmen von Krankenhausüberwachungskameras bis hin zu den titelgebenden Vatican Tapes, auf denen sich vermeintliche dämonische Aktivitäten dokumentiert finden. Nach einem Aufstand in der Psychiatrie mit tödlichem Ausgang sehen wir die schwankenden Bilder einer kleinen Videokamera, die an ihrem Kabel an einem Balken aufgehängt wurde. Wenn die Bilder nicht mehr dazu dienen, Orientierung zu verschaffen, zu katalogisieren und zu kontrollieren, sondern nur noch bloßer Ausdruck von angerichtetem Chaos sind, dann hat das Böse eine Schlacht gewonnen.

Es ist in Details wie diesen, dass „The Vatican Tapes“ seinen Reiz entwickelt. Ansonsten spult der Film erst einmal relativ lieblos eine Geschichte herunter, wie man sie seit William Friedkins „Der Exorzist“ (1973) des Öfteren im Kino gesehen hat. Angela (Olivia Dudley), auf die die Funktionäre des Vatikans in Videoaufzeichnungen aus der Psychiatrie aufmerksam wurden, ist, so erfahren wir in einem Rückblick, der etwa zwei Drittel des Films ausmacht, 25, hat einen über-protektiven Vater (Dougray Scott) und einen neuen Freund (John Patrick Amedori), der sich durch diesen erheblichem Druck ausgesetzt sieht, aber trotzdem fest zu ihr hält. Mit einem Schnitt in den Finger auf ihrer Geburtstagsparty, also eigentlich erst einmal harmlos genug – auch wenn sich die Inszenierung redlich bemüht, unmissverständlich klar zu machen, dass hier etwas im Busch ist – häufen sich unheimliche Begebenheiten im Leben der jungen Frau. Sie ist ständig durstig, hat mehrere Unfälle, landet einmal im Koma, aus dem sie erst erwacht, als man sie bereits für tot erklärte. Immer wieder tauchen Raben in ihrer Umgebung auf. Die Stationen ihres Leidenswegs, die Institutionen, die ihr nicht helfen können, sondern nur hilflos dabei zusehen, wie sich ihr Zustand weiter verschlechtert und immer mehr Menschen um sie herum zu Tode kommen, geht der Film durch wie von einer Strichliste. Krankenhaus: Check. Psychiatrische Spezialklinik: Check. Ebenso eindeutig, wie der Film nirgendwo den Verdacht aufkommen lässt, dass es eine natürliche Erklärung für die Geschehnisse geben könnte, steuert er auf den Exorzismus als Mittel letzter Wahl zu.

„The Vatican Tapes“ ist der erste Film, bei dem Mark Neveldine alleine Regie führte. Als Teil des Gespanns Neveldine/Taylor brachte er einst mit den beiden „Crank“-Filmen und dem Meisterwerk „Gamer“ neue Impulse ins Action-Kino. „Crank“ wartete mit einer ebenso einfachen wie genialen Prämisse auf: ein Profi-Killer (Jason Statham) wurde vergiftet und kann sich nur am Leben halten, indem er seinen geschundenen Körper pausenlos mit Adrenalin flutet. Der Inszenierung kam nun nur noch die Aufgabe zu, für den fortwährenden Adrenalin-Rausch eine angemessen durchgeknallte Form zu finden. Gerade im Hinblick auf dieses Vermächtnis muss „The Vatican Tapes“ enttäuschen. Zwar lässt sich der beständige formale Overdrive der Vorgänger noch in einigen inszenatorischen Details erkennen, aber nirgendwo entwickelt Neveldine den entfesselten Wahnwitz, der die Filme des Gespanns auszeichnete. Der eine oder andere tracking shot durch ordentlich beklemmend ausgeleuchtete Krankenhausflure (einmal nicht am Boden, sondern unter der Decke entlang) versteht ebenso zu gefallen wie der Umgang mit Split Screens, etwa wenn Angela in ihrem Bett gleichzeitig aus vier verschiedenen Perspektiven zu sehen ist (und es wiederum an dem Dämon ist, durch die Asynchronität der Bilder den Blick zu verwirren). Auch wird der eine oder andere Schockmoment durchaus effektiv in Szene gesetzt. Alles in allem korrespondiert jedoch nur grundsolides formales Handwerk mit dem Inhalt eines Exorzismusfilms von der Stange.

Selbst was den Geschlechterdikurs des Films anbelangt, bildet „The Vatican Tapes“ einen deutlichen Rückschritt zu den „Crank“-Filmen (und das obwohl sich gerade „Crank 2 – High Voltage“ im Spiel mit allerlei politischen Unkorrektheiten selbst ein bisschen sehr gefällt). Wo dort Stathams von Amy Smart gespielte Freundin Eve mit ihrer schnoddrigen, bekifften Post-Hippie-Verpeiltheit einen Gegenpol zur Adrenalin- und Geschwindigkeitssüchtigen Männerwelt schaffen durfte, durch den – nicht nur beim Fick auf der Trabrennbahn im zweiten Teil, sondern immer wieder – produktive Reibung entstand, wo dem bei allem frenetischen Überlebenskampf immer irgendwie todessehnsüchtigen Mann dort eine Frau zur Seite stand, die einfach nur leben wollte (und zwar möglichst gechillt), bleibt Angela als vermeintliche Hauptfigur hier durch und durch be- und gefangen. Sie bleibt ganz ihrer Opferrolle verhaftet, umgeben von einem ganzen Geschwader von Männern, die sie zu retten versuchen.
Wenn das ambivalente Ende wohl von einer Ermächtigungsgeschichte erzählt, dann ist die Frau in dieser nicht Subjekt, sondern Medium, das nicht einmal selbstbestimmt böse sein darf. Sie selbst, wie sie immer wieder für Momente durchleuchtet zwischen den Mächten, die Besitz von ihr ergriffen haben, will vor allem eins sein: nett.

Lost River

(USA 2014, Regie: Ryan Gosling)

Grand Guignol meets Wonderland
von Tim Lindemann

Zahlreiche Independentfilmer haben sich in den vergangenen Jahren an den klaffenden Diskrepanzen der US-Gesellschaft mit neorealistischer Nüchternheit abgearbeitet: Spielfilme wie Winter’s Bone' und 'Frozen River' erkunden mit quasidokumentarischem Blick verheerte …

Zahlreiche Independentfilmer haben sich in den vergangenen Jahren an den klaffenden Diskrepanzen der US-Gesellschaft mit neorealistischer Nüchternheit abgearbeitet: Spielfilme wie Winter’s Bone' und 'Frozen River' erkunden mit quasidokumentarischem Blick verheerte Landstriche, gezeichnet von Armut, Verwahrlosung und Gewalt. 'Lost River', das Regiedebüt des Schauspielers Ryan Gosling, konstruiert ein ähnliches Setting, nutzt aber andere Mittel. Sein Film verschreibt sich dem magischen Realismus und fusioniert erstaunlich leichtfüßig die Ästhetik des psychedelischen Kinos der Siebziger mit einem aufrichtigen Interesse an den Außenseitern des amerikanischen Hinterlands.

Dabei stehen sich Kitsch und Kritik gefährlich nah; der Regisseur und Autor Gosling weiß aber zu verhindern, dass diese beiden Pole einander neutralisieren. So beginnt der Film mit stimmungsvollen Bildern einer verlassenen, zerbröckelnden Kleinstadt, deren verbleibende Einwohner zu Recht wie Überlebende einer humanitären Katastrophe wirken: Die Verarmung von Amerikas ländlichen Communitys treibt schauerliche Blüten. Doch – und diesen Schritt muss man bereit sein, mit Gosling zu gehen – das Städtchen Lost River ist eben auch ein verwunschenes Wunderland in der Tradition von David Lynchs 'Twin Peaks': Ein märchenhafter Ort, jedoch nicht im Sinne eines weichgespülten Märchenverständnisses, das sich hinter dem Begriff oft verbirgt. Hier warten versunkene Städte und labyrinthische Bauten, aber eben auch viele brutale Gestalten.

Diese besetzt Gosling wie seine Helden mit phantastischen Schauspielern. Christina Hendricks, Ben Mendelsohn, Saoirse Ronan und andere tragen mit ihrem Offbeat- Charme zum verschrobenen Stil von 'Lost River' bei. Sein größter Streich aber ist die Verpflichtung von Gaspar Noés Stammkameramann Benoît Debie. Durch dessen dunkelbunte Bilder überzeugt der Film, was für das Drehbuch nicht immer gilt. Die visuellen Märchenelemente verbrämen die rurale Ausweglosigkeit nicht, sondern überhöhen sie pointiert. 'Lost River' ist ein amerikanischer Alptraum, ein böser Nachkomme des 'Wizard of Oz' mit Grand-Guignol-Kunstblut und der Farbpalette von Dario Argento.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 06/2015

Underdog

(HU / D / SW 2014, Regie: Kornél Mundruczó)

Ziemlich bestialische Freunde
von Carsten Moll

In „Jurassic World“, dem anderen Tierhorrorfilm, der diesen Monat im Kino startet, kommt es anscheinend zu einer ungewöhnlichen Allianz zwischen zwei Spezies. Zumindest legt das der Trailer nahe, der zeigt, …

In „Jurassic World“, dem anderen Tierhorrorfilm, der diesen Monat im Kino startet, kommt es anscheinend zu einer ungewöhnlichen Allianz zwischen zwei Spezies. Zumindest legt das der Trailer nahe, der zeigt, wie ein Rudel Raptoren bereitwillig und handzahm dem von Chris Pratt verkörperten Helden folgt, als der mit einem Motorrad durch den Dschungel düst. Dass die populären Killermaschinen aus den ersten drei „Jurassic-Park“-Teilen nun mit den Menschen gemeinsame Sache machen sollen, das erscheint erst einmal kontraintuitiv und hat wenig überraschend für eine Kontroverse unter Fans der Dino-Saga gesorgt. Konsequent ist diese Entwicklung jedoch, wenn man einerseits bedenkt, wie den Velociraptoren spätestens mit „Jurassic Park III“ ein komplexes Sozialverhalten abseits von Töten und Fressen zugestanden wurde. Andererseits reicht ein Blick auf die Bestiarien der um Distinktion bemühten Blockbuster der letzten Jahre wie das „Planet der Affen“-Reboot, um zu zeigen, dass eindimensionale Menschenfresser out sind – in der unvermeidlichen Berührung und gegenseitigen Durchdringung von Monströsem und Menschlichem lauert schließlich ein viel größerer Schrecken.

Als unzertrennlich werden auch die beiden Protagonisten von Kornél Mundruczós „Underdog“ vorgestellt: Die Teenagerin Lili (vielversprechend: Zsófia Psotta) lebt zusammen mit ihrer Mutter und deren neuen Freund in Budapest, ihre Liebe gilt jedoch vor allem ihrem Hund Hagen (dargestellt von den 2014 in Cannes mit dem Palm Dog Award ausgezeichneten Hunden Luke und Body). Der gutmütige Mischling soll natürlich auch mit, als das Mädchen für einige Zeit zu seinem entfremdeten Vater Dániel (Sándor Zsótér) ziehen muss, weil die Mutter eine Reise nach Australien plant. Doch für Dániel ist der Hund mehr eine Last als ein bester Freund, und auch die neugierige Nachbarin wird nicht müde zu betonen, dass Promenadenmischungen im Haus unerwünscht sind und registriert werden müssen. Bald schon steht ein Mitarbeiter des Tierheims vor der Tür und verlangt von Lilis Vater Geld, damit er Hagen weiterhin in der Mietwohnung halten darf. Dániel stellt seine Tochter vor die Wahl: Entweder kommt der Hund ins Tierheim oder er wird ausgesetzt. So landet Hagen schließlich auf den gefährlichen Straßen Budapests, wo sich bereits hunderttausende Artgenossen tummeln.

Mit dem schmerzhaften Auseinanderreißen der beiden Hauptfiguren beginnt auch der Film sich zu spalten und streunt munter durch verschiedene Genres: Lilis Coming of Age wird im Modus eines spröden Arthouse-Dramas nachvollzogen, während Hagen zunächst ein Abenteuer auf vier Pfoten erlebt und hinter einer Metzgerei gleich auf ein ganzes Rudel neuer Gefährten trifft. Beinahe niedlich und ziemlich menschelnd inszeniert Mundruczó die hündische Parallelgesellschaft, sodass stellenweise Erinnerungen an Disney-Kitsch wie „Zurück nach Hause – Die unglaubliche Reise“ (1993) geweckt werden. Nicht weniger sentimental, aber deutlich düsterer nimmt sich hingegen Hagens Leidensweg aus, der folgen soll, nachdem der Hund von einem Obdachlosen verkauft und von seinem neuen Besitzer zum Kampfhund ausgebildet wird. Ähnlich wie in Robert Bressons „Zum Beispiel Balthazar“ (1966) verknüpft die Montage die animalische Passionsgeschichte dabei mit dem Heranreifen der menschlichen Heldin und entdeckt dabei verwirrende Parallelen.

„Der Mensch ist des Hundes Wolf“, könnte man formulieren, um die Entwicklung Hagens vom lieben Haustier zur blutrünstigen Bestie durch Menschenhand zusammenzufassen. Im Finale kulminiert die Dehumanisierung des zuvor zum Menschen verklärten Hundes schließlich in einer grausigen Rachefantasie; denn wenn Hagen und seine vierbeinigen Kumpanen schon zu einem Hundeleben verdammt sind, dann soll dieses wenigstens nach selbstbestimmten Regeln erfolgen. Der zähnefletschende letzte Akt beschwört etwas halbherzig die Schreckensvision/Utopie eines Planeten der Straßenköter und bringt nicht nur Lili und Hagen wieder zusammen, sondern erstaunt erneut mit einem krassen Stimmungswechsel.

Wirklich rund ist Mundruczós Film selten, zudem bleiben die politischen Anspielungen beliebig und der Horror zu routiniert, um ernsthaft zu schockieren. Am ehesten vermag „Underdog“ noch als Drama zu überzeugen, das von einer jungen Protagonistin zwischen pubertärem Trotz und stolzem Widerstand sowie ihrer außergewöhnlichen Freundschaft zu einem Hund erzählt. Im poetisch entrückten Schlussakkord, der sich der Fortsetzungslogik der Dino- und Affenbanden entzieht, gelingt Mundruczó zudem doch noch eine treffende Pointe: Mutet das Ende zwar arg versöhnlich an, so lässt sich das doch auch als Errettung einer unangemessenen Fantasie vor der Wirklichkeit verstehen. Mit Hinblick auf die raue Realität ist eine filmische Vision zahmer Friedlichkeit sowie ein sich glatt in Nichts auflösender Konflikt vielleicht bissiger als jedes ins nächste Sequel fortgetragene Unbehagen.

Im Labyrinth des Schweigens

(D 2014, Regie: Giulio Ricciarelli)

Knallgrünes Auschwitz
von Ricardo Brunn

Die Deutschen haben mal wieder die Klüsen zu – diesmal die müden Nachkriegsklüsen. Adenauer will einen Schlussstrich ziehen, das Volk sich am Wirtschaftswunderfeuer wärmen und über die grässliche Vergangenheit das …

Die Deutschen haben mal wieder die Klüsen zu – diesmal die müden Nachkriegsklüsen. Adenauer will einen Schlussstrich ziehen, das Volk sich am Wirtschaftswunderfeuer wärmen und über die grässliche Vergangenheit das grüne Gras wachsen lassen. Nur Alexander Fehling spitzt in der Rolle des jungen Staatsanwaltes Johann Radmann die Ohren und öffnet die blauen Äuglein, als der Reporter Thomas Gnielka (André Szymanski) im Treppenhaus des Frankfurter Gerichts die Wahrheit hallend wiedergibt: dass keiner wissen will, was in Auschwitz geschehen ist. Radmann, ein schwiegersohnbraves Mashup aus den drei Staatsanwälten, die unter der Leitung Fritz Bauers den ersten großen Prozess der deutschen Nachkriegsgeschichte gegen die Täter im nationalsozialistischen Vernichtungslager eingeleitet haben, nimmt sich der Sache trotz anfänglichen Widerstandes aus den eigenen Reihen an. Ein historisch bedeutender Schritt, den Giulio Ricciarelli in seiner ersten Regiearbeit entsprechend würdigt.

Diese Würdigung sieht in „Im Labyrinth des Schweigens“ nun so aus, dass den Film eine ungemeine Klarheit bestimmt. Die Bilder zeichnet eine große Tiefenschärfe aus, alles ist jederzeit sichtbar. Orte werden mit lehrbuchartigen Establishingshots eingeführt, in denen schlecht drapierte Statisten das Kopfsteinpflaster fegen oder auf Krücken durch das Bild humpeln. Wann wir uns wo befinden, stellen diese Einstellungen so offensichtlich aus, dass selbst Wohnhausruinen unangenehm künstlich wirken im Versuch, ein glaubwürdiges Nachkriegsdeutschlandbild zu entwerfen.

Den Figuren ergeht es ganz ähnlich. Sie definieren sich in Ricciarellis Erstling durch ihre in aller Oberflächlichkeit zur Schau gestellte Funktion. Der Auschwitzüberlebende Simon Kirsch (Johannes Kirsch) ist ein symbolisch Leidender und Stichwortgeber für eine erste heiße Spur in Form von Originaldokumenten aus dem Vernichtungslager. Radmanns Sekretärin Schmittchen gibt die moralische Instanz, die Stellvertretertränen vergießen darf, wenn sie in den ersten Anhörungen von all den Gräueltaten im Lager erfährt. Für die Psyche der Protagonisten interessiert sich der Film meist nur dann, wenn durch ihre Regungen Emotionen beim Zuschauer ausgelöst werden können oder es der nächste Plotpoint zulässt.

Selbst die Brüche im Verhalten der Protagonisten gibt es auf Rezept. Der innere Konflikt Radmanns, der während seiner nervenaufreibenden Arbeit erkennen muss, dass sein Vater ebenfalls in der NSDAP gewesen ist, bleibt eine bloße Behauptung, die in plakativen Alkoholeskapaden mit anschließender Streiterei nach außen gekehrt wird. Die wachsende seelische Belastung, das Verlorensein im Labyrinth aus Lügen und dem titelgebenden Schweigen wird nie spürbar, sondern ausschließlich sichtbar.

Da verwundert es nicht, dass die Figuren ferner für die Maximierung des Schauwertes herhalten müssen. Dank Friederike Becht in der Rolle der Freundin Johann Radmanns ergibt sich etwa die Gelegenheit für eine überflüssige Sexszene und einen im Anschluss daran auf der Fensterbank mit nacktem Oberkörper sitzenden und über Auschwitz sinnierenden Alexander Fehling; gut in shape, glatt rasiert, aber so überflüssig wie die gesamte Liebesgeschichte der beiden, die in banalen Erzählkonventionen dahin rieselt und als halbgarer Gegenpol zu den Ermittlungen ein wenig Amüsement in all die Unfassbarkeiten bringen soll, die der hübsche Staatsanwalt so zu Tage fördert.

Es existieren in „Im Labyrinth des Schweigens“ keine Variationen gewohnter Muster, keine Irritationen, die einem die ungeheuerliche Verdrängungsleistung der Deutschen in den 1950er Jahren begreiflich machen könnten. Der Wunsch nach einer authentischen Abbildung der Welt mündet beständig in der Darstellung einfacher Abziehbildchen, in der selbst die sprachlichen Metaphern von einer solchen Einfältigkeit geplagt werden, dass noch der Dümmste in der Lage ist sie zu verstehen. Dementsprechend endet eine Szene, in der Radmann seine Freundin – mittlerweile selbstständige Schneiderin – zurück gewinnen will, mit einem zerrissenen Jackett in der Hand und der Frage, ob es noch zu reparieren sei. Wohl kaum, ist die herzzerreißende Antwort der jungen Dame, der Riss sei einfach zu groß.

Vielleicht sind es die medialen Wurzeln des Fernsehschauspielers Ricciarelli, die hier – gelernt ist gelernt – verzweifelt Halt in einer Ästhetik der Unmissverständlichkeit suchen. Das führt jedoch in „Im Labyrinth des Schweigens“ dazu, dass unablässig Transparenz mit Wahrheit verwechselt wird, wobei Letzteres beharrlich über Ersteres hergestellt werden soll. Es gibt einfach keine Suche in diesem allwissenden Film, der den kategorischen Imperativ des „Nie wieder!“ in aller Aufdringlichkeit vor sich her trägt.

Als vollends grotesk gebärden sich die künstlerischen Entscheidungen des Regisseurs schlussendlich in einer Szene, die Johann Radmann und Thomas Gnielka nach Auschwitz führen. Vor den mittlerweile überwucherten Ruinen des Konzentrationslagers gibt der Film sein bisheriges Konzept der hohen Tiefenschärfe auf und die Protagonisten heben sich plötzlich stark von den Hintergründen ab. Vor dem Stacheldrahtzaun reden Radmann und Gnielka über das, was sie auf der anderen Seite des Zaunes sehen und eigentlich sehen sie nichts. Für sie wie für den Zuschauer bleibt Auschwitz eine unscharfe Textur, offensichtlich per Greenscreen-Verfahren in das Bild hineinkopiert. Der Regisseur lässt seine Protagonisten also nach Auschwitz fahren, ohne dass sie je dort ankommen. Damit geht sich der Film, dessen Handlung so sehr darauf aus ist Unsichtbares sichtbar zu machen, gleich in mehrfacher Hinsicht selbst auf den Leim. So sehr Radmann und Gnielka als Repräsentanten zweier Generationen im knallgrünen Greenscreen-Auschwitz Buße tun, so losgelöst operiert „Im Labyrinth des Schweigens“ in Bezug auf aktuelle Prozesse um rechte Gewalt und das massive Schweigen in diesen Prozessen.

Hier und hier gibt es zwei weitere Kritiken zu 'Im Labyrinth des Schweigens'.

Die Besteigung des Chimborazo

(BRD / DDR 1989, Regie: Rainer Simon)

Ein Horizont ohne Grenzen
von Wolfgang Nierlin

Noch bis ins 19. Jahrhundert galt der Chimborazo in Ecuador, ein über 6000 Meter hoher inaktiver Vulkan mit einer gewaltigen Gletscher-Kuppe, als „höchster Punkt der Erde“ und als „Wahrzeichen Amerikas“. …

Noch bis ins 19. Jahrhundert galt der Chimborazo in Ecuador, ein über 6000 Meter hoher inaktiver Vulkan mit einer gewaltigen Gletscher-Kuppe, als „höchster Punkt der Erde“ und als „Wahrzeichen Amerikas“. Zu diesem „Ort, wo noch niemand war“, unternimmt im Jahre 1802 der 32-jährige Naturforscher Alexander von Humboldt (Jan Josef Liefers) eine Expedition. Zusammen mit dem französischen Arzt und Botaniker Aimé Bonpland (Olivier Pascalin), dem Aristokraten Carlos Montúfar (Luis Miguel Campos) sowie einer Gruppe indigener Lastenträger will der deutsche Forscher, von enormer wissenschaftlicher Unruhe getrieben, Neuland erkunden und vermessen. Denn: „Kein Wort kann die Anschauung ersetzen.“ Die Strapazen der gefährlichen Unternehmung, beispielsweise verdeutlicht an der Überquerung eines reißenden Flusses, sind enorm. Doch dem Regisseur Rainer Simon, der den Film „Die Besteigung des Chimborazo“ 1988 noch für die DEFA an Originalschauplätzen gedreht hat, geht es nicht um die äußere Dramatik der episodisch erzählten Ereignisse, sondern um die innere Reise seines Protagonisten.

Zwar beginnt der Film wie ein psychedelischer, von elektronischer Musik unterstützter Trip durch gleißendes Sonnenlicht, farbige Wolkenmeere und vulkanische Feuersglut, um in faszinierenden Bildern, aufgenommen von Roland Dressel, die unbändigen Kräfte der Natur zu beschwören. Doch bald darauf wird der mal panoramatische, mal dokumentarische Erzählgestus unterbrochen von sepiabraunen Rückblenden in Humboldts biographische Vergangenheit. In nahtlosen Übergängen zwischen den verschiedenen Zeitebenen beleuchtet Simon lose verknüpfte Stationen einer gedanklichen Expedition. Als anspielungsreiche, sehr kalkuliert gebaute Erzählung einer Persönlichkeitswerdung portraitiert der renommierte DEFA-Regisseur einen Forscher, dessen leidenschaftlicher Freiheits- und Erkenntnisdrang in hartem Kontrast steht zu der von ihm als sehr einengend empfundenen preußischen Gesellschaft. Angesteckt vom „Freiheitsbrausen“ der französischen Revolution und einer unbändigen Sehnsucht nach der Ferne, versteht Humboldt das Leben als „einen Horizont ohne Grenzen“.

Gerade dieser Drang, der deutschen Enge zu entfliehen und dabei im Widerstreit mit einer restriktiven Umgebung dem individuellen Traum zu folgen, habe ihn an Alexander von Humboldt interessiert und zur Identifikation eingeladen, bekennt Rainer Simon im Werkstattgespräch mit Michael Hanisch. Dieses ist neben einer mittellangen Dokumentation über eine nachgespielte Legende der Chachi-Indianer Ecuadors („Der Ruf des Fayu Ujmu', 2002) und Simons „Chimborazo-Tagebüchern“ als Bonusmaterial der sorgfältig gestalteten DVD beigegeben. So sei „Die Besteigung des Chimborazo“ nicht nur sein wichtigster Film, sondern dieser habe auch sein Leben verändert, erläutert der Regisseur. Dabei reflektiert er auf versteckte Weise nicht nur die Parallelen zwischen Preußen und der DDR, sondern er weitet den Blick auch auf die kolonialistische Ausbeutung und Unterdrückung in der neuen Welt. Wenn Humboldt, um den Einheit stiftenden Nutzen seiner Mission zu rechtfertigen, gegenüber den Indigenen davon spricht, dass die nach Befreiung strebende Macht eines Volkes in seinem Wissen liege, dann passt das also durchaus ins ideologische Konzept des real existierenden Sozialismus. Daneben klingen allerdings Sätze, die der individuellen Freiheitssuche Humboldts huldigen, geradezu offen (und zugleich verborgen) subversiv, etwa die (rhetorische), auf Emanzipation und Selbstermächtigung zielende Frage: „Warum können wir nicht selbst die Schöpfer unseres Glückes sein?“

Une Jeunesse Allemande – Eine deutsche Jugend

(D / CH / F 2015, Regie: Jean-Gabriel Périot)

Bildergeschichte(n), Geschichtsbilder ...
von Ulrich Kriest

Es beginnt mit einer haarsträubend grundsätzlichen Frage, die Jean-Luc Godard in den Raum stellt: „Ist es möglich, heutzutage in Deutschland Filme zu machen?“ In einem philosophischen Sinne. Es handelt sich …

Es beginnt mit einer haarsträubend grundsätzlichen Frage, die Jean-Luc Godard in den Raum stellt: „Ist es möglich, heutzutage in Deutschland Filme zu machen?“ In einem philosophischen Sinne. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus „Der kleine Godard an das Kuratorium junger deutscher Film“ von Hellmuth Costard aus dem Jahre 1978, aber das erfährt der Zuschauer erst im Abspann. Nach Kriegsende ’45 konnte man, so der nächste gewählte Ausschnitt, nur auf die „jeunesse allemand“ hoffen, weil überall sonst noch immer Nazis saßen. Und die Jugend lässt sich nicht lumpen, sondern provoziert, stellt unbequeme Fragen und muss – ein Ausschnitt aus „Ich bin ein Elefant, Madame“ zeigt‘s – immer damit rechnen, dass die längst wieder feiste Täter-Generation gerne auch mal handgreiflich wird, wenn aufgemuckt wird.

Dem Franzosen Jean-Gabriel Périot, Jahrgang 1974, gelingt das Kunststück, die Geschichte einer Radikalisierung, die auch die Geschichte einer Kommunikationsverweigerung ist, kommentarlos, allein durch die Montage von bereits gefertigten Bildern aus Fernsehnachrichten, Fernsehreportagen, Fernsehdiskussionen und diversen Spiel- und Agitationsfilmen zu erzählen. Es ist eine exemplarische Geschichte, die allerdings keinen Anspruch erhebt, die „ganze Geschichte“ zu erzählen. Selbstredend wären andere, alternative Bilder in den Archiven vorfindbar, könnten andere Akzente gesetzt werden, andere Protagonisten gewählt werden – fraglich aber, ob dies die Geschichte, die erzählt wird, grundlegend veränderte.

Während also im Fernsehen die „Konkret“-Kolumnistin Ulrike Meinhof in Diskussionsrunden und Features Aufklärung fordert und dies aus einer Position heraus betreibt, die heutzutage etwa Jutta Dittfurth oder Sarah Wagenknecht zukommt, wird in Berlin die dffb gegründet, von der, wie Willy Brandt es bei der Eröffnung formuliert, „künstlerische wie organisatorische Impulse“ ausgehen sollen. Diese Hoffnung wird sich erfüllen, aber auf ganz andere Weise als gedacht, denn der erste Jahrgang der Filmstudenten verweigert sich fast ausnahmslos, dem „Apparat der Bewusstseinsindustrie anpassungswillige Film- und Fernsehfachidioten“ zu liefern und macht stattdessen im godardschen Sinne Filme politisch. Holger Meins, Helke Sander, Hartmut Bitomsky, Gerd Conradt und Harun Farocki gehören zu diesem ersten Jahrgang, von dem später knapp die Hälfte relegiert werden wird, als das Gebäude besetzt und in die „Dsiga Vertov-Akademie“ umgetauft wird.

Film als Waffe der sexy Aufklärung, wenn modisch gekleidete Studenten mit der roten Fahne zu flotter Rockmusik durch Berlin laufen oder die legendäre „Anleitung zum Bau eines Molotow-Cocktails“ gezeigt wird. Die Ausschnitte aus einschlägigen Agitationsfilmen zeigen, dass die Studierenden sich mit allerlei Montage-Theorien auseinandergesetzt haben, um ihre Botschaften unmissverständlich zu machen. Aber noch immer geht es vorzüglich um Aufklärung und gegen die „Springer“-Presse“: „Eine unwissende Armee kann den Feind nicht besiegen!“, heißt es einmal in der Manier von Maos kleinem roten Buch, der „Mao-Bibel“.

Nach dem 2. Juni 1967 und der Ermordung Benno Ohnesorgs radikalisieren sich die Auseinandersetzungen: Brandanschläge auf zwei Frankfurter Kaufhäuser, Attentat auf Rudi Dutschke, „Springer“-Blockade, „Schlacht am Tegeler Weg“, Besetzung und Räumung der dffb, der Film sucht sich zielgerichtet sein Personal zusammen – Ulrike Meinhof, Holger Meins, Horst Mahler, Andreas Baader, Gudrun Ensslin (die auch einmal als Schauspielerin zu sehen ist). Diese Konzentration auf die erste Generation der RAF verengt die Dynamik der Bewegung in Richtung Eskalation, spontaneistische Strömungen um die Gruppe Spur, die Subversive Aktion und die Kommune 1 bleiben vergleichsweise unterbelichtet.

Vielleicht die entscheidende Szene des Films spielt im Verlauf der gescheiterten Besetzung der Redaktionsräume von „konkret“, als Meinhof sich den angereisten Journalisten verweigert und diese nachdrücklich auffordert, selbst für ihre eigenen Interessen zu kämpfen. Anschließend könnten sie sich dann ja selbst zur Problematik interviewen. Hier ist eine entschiedene Bruchstelle der dialogischen Kommunikation, die später im Film zur Trennung von Körper und Stimme führen wird. Es ist dann Klaus Lemke, der im Zusammenhang der Dreharbeiten zu „Brandstifter“ davon spricht, gut verstehen zu können, dass manche Akteure dahin manövriert wurden, zu denken, Kaufhäuser anstecken zu müssen. Als Gegenüber agiert die arrogante Täter-Generation je nach Temperament in Gestalt von Franz-Josef Strauß und Helmut Schmidt, über dessen „preußische Sekundärtugenden“ Oskar Lafontaine früh einmal Einschlägiges und Zutreffendes bemerkt hat, während „auf der Straße“ gerne mit schwäbischem Zungenschlag über Lynchjustiz und Todesstrafe „nachgedacht“ wird.

Die Chronologie der Ereignisse zwischen 1966 und dem Oktober 1977 darf wohl als bekannt vorausgesetzt werden, aber trotzdem ist die Logik der Eskalation, wie sie hier durch das montierte Originalmaterial aus Politikerreden und Fernsehnachrichten rekonstruiert wird, gespenstisch und forciert beschleunigt. Die Protagonisten der RAF, die hier lange als die diskursive Auseinandersetzung Suchende vorgestellt wurden, sind längst verstummt handelnd oder agieren als körperlose Stimmen vor Schwarzfilm aus dem Stammheimer Gerichtssaal heraus. „Deutschland im Herbst“: Kurz vor Schluss diskutiert dann Rainer Werner Fassbinder mit seiner Mutter in der Küche über Demokratieverständnis und die Hoffnung auf einen freundlichen Diktator, der es richten möge.

Wenn man so will, ein teuer erkauftes Happy End, denn genau diese nicht freundliche, aber auf Augenhöhe stattfindende Diskussion wurde ja seitens der staatlichen Autoritäten und Repräsentanten lange verweigert, weshalb ja von der APO „die Straße“ als Ort der öffentlichen Auseinandersetzung gewählt werden musste. Was dem Film auch eine böse Aktualität verleiht, denn es existieren Parallelen, wenngleich mit radikal veränderten Vorzeichen, zum aktuellen Umgang mit der Pegida. Aber Horst Mahler ist zumal in der ersten halben Stunde auch hier durchaus prominent vertreten. Wer die Geschichte gerne in dieser Richtung entfalten möchte, greife zu „Die Anwälte“ von Birgit Schulz (2009)!