Im Abspann ihres Films dankt die Filmemacherin explizit ihren fünf Protagonisten dafür, dass sie vier Jahre bei dem Projekt mitgemacht haben. Eine selbstverständliche freundliche Geste, aber auch der Fingerabdruck eines Deals, den man gerne einmal verdrängt. Denn jeder Porträtfilm ist immer auch ein Doppelporträt – und der gemeinsamen Arbeit vor und hinter der Kamera geht immer ein Abwägen der Vor- und Nachteile des Projekts voraus. Und mitunter merkt man in einem Film auch noch an, wenn während der Dreharbeiten Beteiligte meinen, an den Deal erinnern zu müssen. Auch davon erzählt „Die Gewählten“, obwohl er eigentlich etwas Anderes erzählen will.
Dabei fängt alles schon mal durchaus ironisch an. Sehr kurz, gerade einmal vier Jahre, so wird gleich zu Beginn aus dem Off gewarnt, währe eine Legislaturperiode im deutschen Bundestag. Da sollte man sich schon überlegen, wie man am schnellsten in sein Büro findet. Steffen Bilger (CDU) macht es seinen neuen Kollegen vor: einfach mit der Herde mitlaufen, die anderen werden den Weg schon kennen. Im Gegensatz zu Bilger kann man sich aber auch alleine auf den Weg machen und sich in den unübersichtlichen Gängen des Bundestages auf der Suche nach dem richtigen Büro verirren. Sieht natürlich etwas blöd aus, hinterher. Oder? Was aber, wenn man sich wie Agnes Krumwiede (Bündnis 90/Die Grünen) als „kleiner Goldfisch“ im Haifischbecken fühlt? Krumwiede, im bürgerlichen Leben Konzertpianistin, ist mit 32 Jahren die älteste der fünf Bundestagsabgeordneten, die die Filmemacherin Nancy Brandt in einer äußerst unterhaltsamen, aber nicht grundlos auch recht zahmen Langzeitstudie durch die Legislaturperiode begleitet hat.
Brandt, 1979 in der DDR geboren, sieht ihren Abschlussfilm als eine kritische Reaktion auf eine konstatierte allgemeine Politik- und vor allem Politikerverdrossenheit. Ihre fünf Protagonisten, teilweise schon Polit-Profis seit Jugendtagen, teilweise Quereinsteiger, sind zwischen 25 und 32 Jahre alt. Da sind die Konzertpianistin aus Ingolstadt, der Architekt (FDP) aus Forchheim, der Rechtsanwalt aus Ludwigsburg (CDU), der Jurist aus Oberhausen (Die Linke) und die Physikerin aus Leipzig (SPD). Sie alle haben vier Jahre Zeit, sich im politischen Raum zwischen Bundestag und Wahlkreis zu bewähren, um dann erneut für ein Bundestagsmandat zu kandidieren. Nicht allen, so viel sei verraten, ist eine zweite Legislaturperiode gegönnt. Aber zunächst einmal gilt es, die ersten Anlaufprobleme zu bewältigen. Recht früh und etwas überrascht darf Krumwiede ihre »Jungfernrede« zur Kulturpolitik halten. Sie ist sehr stolz darauf, dass sie im Plenum erstmals überhaupt das Wort „HipHop“ ausgesprochen hat.
Doch mehr Eindruck als ihre Ausführungen zur Wichtigkeit von Kultur hat ihr Aussehen hinterlassen. Etwas naiv muss sie erleben, dass der Boulevard sie als „Miss Bundestag“ durch die Manege führt. Sie lernt, dass etwas Abstand zu Journalisten mitunter angeraten ist. Noch etwas geschockt von diesen Ereignissen, stellt sie vor laufender Kamera erst einmal fest, dass sie derzeit Single sei. Weil es sich doch um eine Dokumentation handle. Krumwiede geht es bei ihrer Arbeit darum, die Bedeutung der Kultur für die Gesellschaft offensiv zu unterstreichen. Sie träumt von Mindestgagen und will Kreativität gewertschätzt sehen.
Sebastian Körber von der FDP wäre schon zufrieden, wenn er der Deutschen Bahn endlich einen barrierefreien Zugang in seiner Heimatstadt abringen könnte. Doch die Bahn mauert. Steffen Bilger von der CDU ist der Polit-Profi, der alle Probleme erst mal weglächelt und sich gerne mit seiner Freundin und späteren Ehefrau in der Öffentlichkeit präsentiert. Ein alerter Karrierist, der erleben muss, dass seine Partei in Baden-Württemberg abgewählt wird. Kurz klagt er über den Verlust des kurzen Dienstweges zur Macht, dann bewirbt er sich auf den nächsten Posten, um die Partei von der Basis her zu erneuern. Bilger ist es denn auch, der auf eine unbequeme Frage der Filmemacherin einmal bissig reagiert: „Sie machen hier aber jetzt nicht auf „Panorama“!“ Das war wohl der Deal: immer schön an der Oberfläche der Abläufe bleiben, keine weiter gehenden Fragen.
Niema Movassat von der Linken dagegen setzt eh mehr auf außerparlamentarische Opposition und Inhalte, die für die Medien eher nicht so interessant sind. Und für den Film auch nicht. Eine Karriere, die derjenigen Bilgers nahekommt, gelingt dagegen Daniela Kolbe von der SPD, die sich mit ihrer Umsicht in Gremien bewährt und schließlich sogar einen Auftritt in der „Tagesschau“ hat. Andererseits beschönigt Nancy Brandt auch nichts: mancher Rede im Plenum sind die Adressaten längst abhanden gekommen, wenn die Hinterbänkler an die Reihe des Redens kommen. Man braucht eine große Frustrationstoleranz, viel Geduld und eine Portion Glück, wenn man im Bundestag „die Welt retten“ will, wie es Kolbe einmal formuliert.
Vieles wirkt holprig und linkisch, manches auch läppisch. So muss man versuchen, sich möglichst schnell zu profilieren, zumal man im heimatlichen Wahlkreis als „der aus Berlin“ ungleich bedeutsamer erscheint als in der Fremde. Scheinriesen auf Heimaturlaub. Der Film spielt in der Legislaturperiode 2009 – 2013: der Tsunami in Japan und seine Folgen und „Stuttgart 21“ sorgen für politische Aufregung und dafür, dass mancher in Sachen Verkehrs- und Energiepolitik aufs falsche Pferd setzt.
Brandt zeigt Jungpolitiker, die mit unterschiedlichen Professionalisierungsgraden ihren Job machen, eine wie auch immer definierte Karriere anstreben und sich dabei nach Möglichkeit nicht über Gebühr verbiegen wollen. Was angesichts des Apparates, auf den sie treffen, nicht ganz einfach ist. Von den Großkopferten der Politik, den Medienstars, werden sie schlicht ignoriert und mit leisem Spott auf Distanz gehalten. Nach vier Jahren, die durchaus Spuren hinterlassen haben, wird abgerechnet: die FDP hat ausgespielt und Agnes Krumwiede muss erleben, wie sie Listenplatz um Listenplatz nach hinten rutscht, bis einer weiteren Karriere als Konzertpianistin nichts mehr im Wege steht. Sie hofft, in den vier Jahren selbst „ein kleiner Hai“ geworden zu sein, liegt damit aber wohl nicht ganz richtig.
Um Steffen Bilger dagegen braucht man sich nicht zu sorgen, der wird seinen Weg machen. Lachend. Und so staunt man am Schluss, dass Nancy Brandt es durch die Montage ihres Materials doch auch geschafft hat, dass man zu spüren glaubt, wo ihre Sympathien liegen. Bei der Abnahme des Films wäre man gerne dabei gewesen.