Blog Archives: 2017

Zärtlichkeit

(F / B 2013, Regie: Marion Hänsel)

Im Einklang
von Wolfgang Nierlin

Fast unmerklich verwandelt sich die weiße Leinwand in eine sanfte Schneelandschaft, in der zwei kleine, schwarze Punkte sichtbar werden. Diese bewegen sich, werden größer. Lautlos und mit gleichmäßigen Bewegungen gleiten …

Fast unmerklich verwandelt sich die weiße Leinwand in eine sanfte Schneelandschaft, in der zwei kleine, schwarze Punkte sichtbar werden. Diese bewegen sich, werden größer. Lautlos und mit gleichmäßigen Bewegungen gleiten die beiden Snowboardfahrer durch Raum und Zeit, bis sie schließlich aus der Totale des Bildes entschwinden. Marion Hänsel eröffnet ihren neuen, sehr sensiblen Film „Zärtlichkeit“ („La tendresse“) mit einem Bild der Ruhe und der Harmonie. In ihm verbinden sich die synchronen Bewegungen des Paars mit der Freiheit der Natur. Auch im Folgenden inszeniert die renommierte belgische Regisseurin immer wieder Momente der Stille und des Innehaltens, gespiegelt im Blick auf Landschaften und in vertraulichen Begegnungen, um ihre Vision von Fürsorge und Liebe auszudrücken.

Kurz darauf, ins Off der Exposition verlagert, ereignet sich ein Unfall. Der junge Skilehrer Jack Vander (Adrien Jolivet), der zum Abschluss der Saison zusammen mit seiner Freundin Alison (Margaux Châtelier) in den Savoyer Alpen unterwegs ist, stürzt und verletzt sich dabei schwer. Die alarmierten Eltern Lise (Marilyne Canto) und Frans (Olivier Gourmet), die seit fünfzehn Jahren geschieden sind, beschließen daraufhin, von Brüssel aus gemeinsam in den ostfranzösischen Wintersportort Flaine zu fahren, um ihren Sohn nach Hause zu holen. Gleich bei ihrer ersten Wiederbegegnung sind eine große Vertrautheit, wahrnehmbar in kleinen Gesten, und eine freundschaftliche Verbundenheit spürbar. Diese hat die alten Differenzen hinter sich gelassen und betrachtet frühere Konflikte mit einem entspannten, milden Lächeln.

Dann beginnt eine 9-stündige Autofahrt und mit ihr ein Roadmovie, in dem die vorbeiziehende Landschaft zum Resonanzraum für gemeinsame Erinnerungen wird. Diese wiederum werden teils grundiert von einem leisen Bedauern. Zwar sind die etwas zerstreute, leicht linkische Lise und der konservative, mit dezenten Machoallüren ausgestattete Frans denkbar verschieden; trotzdem hat ihre vormalige Nähe zu einem neuen Arrangement geführt. In diesem ist auf versöhnliche Weise die elterliche Sorge um das gemeinsame Kind zentral; aus ihr spricht noch immer ein Grundton familiärer Geborgenheit. Auf einer parallelen Handlungsebene verschränkt Marion Hänsel geschickt diese alte Vertrautheit mit dem jungen Liebesglück von Jack und Alison. Hänsels eigentliches Interesse gilt aber der Wiedergewinnung weiblicher Stärke, verkörpert in den Blicken, Gefühlen und Begegnungen ihrer Protagonistin Lise, die leicht selbstironisch von sich einmal sagt: „Jetzt genieße ich meine Einsamkeit.“

The Salvation

(DK / GB / RSA 2014, Regie: Kristian Levring)

Danish Dynamite
von Carsten Happe

Die Farben sind so satt, dass die Augen beinahe schmerzen. So azurblau der Himmel, so weizenblond die Haare der anmutigen Siedlersgattin Marie. Seinen bestechend schönen Look trägt „The Salvation“ vor …

Die Farben sind so satt, dass die Augen beinahe schmerzen. So azurblau der Himmel, so weizenblond die Haare der anmutigen Siedlersgattin Marie. Seinen bestechend schönen Look trägt „The Salvation“ vor sich her wie ein gigantisches Ausrufezeichen: ich bin kein ausgewaschener Spätwestern voller Ambivalenzen, Grenzverwischungen und moralischen Uneindeutigkeiten, nein, stattdessen eine Reise ins Herz des Technicolor-Westerns, aufgehübscht durch eine Art Hyperrealität, ein Hyper-Western, versetzt mit all den bekannten, geschätzten wie verteufelten, Codes des Genres, aus der Zeit, als er seine Daseinsberechtigung nicht als einen weiteren Comebackversuch verstand, sondern die aufrechtesten Mythen und Helden gebar: John Wayne, Gary Cooper, James Stewart, Gregory Peck.

Es mag auf den ersten Blick wie eine gehörige Portion Ironie erscheinen, dass nun ein dänischer Film, vornehmlich in Südafrika gedreht, mit dänischen, britischen, französischen Darstellern besetzt – allein der Bösewicht ein Amerikaner – dieses uramerikanischste aller Genres auf eine derart traditionalistische Art und Weise interpretiert, aber einerseits folgt „The Salvation“ damit lediglich mit einigem Abstand deutschen Regisseuren wie Roland Emmerich oder Wolfgang Petersen, die dem amerikanischen Patriotismus viel hemmungsloser frönten als ihre heimischen Kollegen, und andererseits ahmt der Film nun letztlich die Westwärts-Bewegung seiner Protagonisten nach: dänischen Siedlern, die sich in den Vereinigten Staaten, an der Frontier, ein neues Leben aufzubauen hoffen.

Ob diese Blickrichtung auch für Regisseur Kristian Levring zutrifft, kann nur gemutmaßt werden, aber für den Filmemacher, der seinerzeit mit „The King Is Alive“ den vierten Dogma-Film drehte, ist „The Salvation“ eine 180-Grad-Abkehr von den einstigen Idealen. Ein Film, der in jeder Einstellung den Dogma-Regeln widersprechen würde, und genau damit so unerwartet gut fährt: mit der genüsslichen Übererfüllung der Genre-Konventionen, der grellen Überzeichnung und Archetypisierung bis hin zum Kintopp – große Jungs spielen Western, mit allem, was dazu gehört, und es ist die größte Auszeichnung des Films, dass dieses tausendfach Gesehene nicht zu einem einzigen schalen Klischeegebilde gerinnt, sondern geradezu frisch und bis zum unausweichlichen Showdown einnehmend mitreißend daherkommt.

Entscheidenden Anteil daran hat Hauptdarsteller Mads Mikkelsen, in dessen Filmographie die Rollen des einsamen, getriebenen Outlaws schleichend Überhand nehmen, sei es in „Michael Kohlhaas“, seinerseits bereits in gewisser Weise eine Art Pferdeoper, in Nicolas Winding Refns „Walhalla Rising“, der den klassischen wortkargen Western-Loner ins Nordische übertrug, oder gar in Thomas Vinterbergs „Die Jagd“, der das Motiv des Einzelnen gegen die Dorfgemeinschaft zwar in die Jetztzeit verlagerte, aber eben auch die ewig gültigen Topoi des Western wie Ehre, Recht und Gerechtigkeit verhandelte.

Der Gleichmut hat sich allerdings in „The Salvation“ in einen Stoizismus verwandelt und schließlich vorherrschend sind allein die Rachegelüste, die ein gerechtes, jedoch auch verlustreiches Gleichgewicht herstellen sollen, nachdem die Familie des dänischen Siedlers kurz nach ihrer Ankunft in der neuen Welt niedergemetzelt wird. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die biblische Allegorie, die bis in den Titel hineinsickert, findet hier nur noch in ihrer Negierung statt: Erlösung bietet einzig der aufopfernde Kampf für die gute Sache, egal mit welch fragwürdigen Mitteln. Das Ziel ist das Ziel, nicht der Weg. Und die moralischen Ambivalenzen ein Dickicht, in das sich der Held guten Gewissens nicht verstrickt. So geradlinig sich der Bodycount dem finalen Duell entgegenaddiert, so kompromisslos gelingt „The Salvation“ die Aneignung der klassischen Western-Materie. Mission accomplished.

Master of the Universe

(D / A 2013, Regie: Marc Bauder)

Aura des Geheimnisvollen
von Ricardo Brunn

Solange keine Persönlichkeitsrechte verletzt oder Geschäftsgeheimnisse offen gelegt werden, dürfte den Aufnahmen nichts im Weg stehen. Mit diesen aus dem Off gesprochen Worten und den sakralen Klängen einer Bach-Kantate über …

Solange keine Persönlichkeitsrechte verletzt oder Geschäftsgeheimnisse offen gelegt werden, dürfte den Aufnahmen nichts im Weg stehen. Mit diesen aus dem Off gesprochen Worten und den sakralen Klängen einer Bach-Kantate über die Sündhaftigkeit des Menschen beginnt der Dokumentarfilm „Master of the Universe“ von Marc Bauder. Im Zentrum steht als alleiniger Protagonist, neben den Wolkenkratzern Frankfurt am Mains, der ehemalige Banker Rainer Voss und gibt Auskunft über die ansonsten so verschwiegene Bankenwelt.

Während er durch die leeren Flure eines ehemaligen Bankenhochhauses streift, erzählt Voss von den Grundlagen des Exzesses der Finanzmärkte, von in der Branche allgegenwärtigen Kriegsmetaphern („Es ist letzten Endes wie bei der Armee.“) und Prestigedarwinismus. Es geht um die institutionalisierte Abkopplung von gesellschaftlichen Prozessen, genauso wie um die Firma als Scheinfamilie. Doch als Entlarvung oder Entmystifizierung taugt dies alles wenig. „Im Rückblick verklärt sich manches“, gesteht Rainer Voss irgendwann ein – in der formal-ästhetischen Gestaltung des Filmes ebenfalls.

„Master of the Universe“ suggeriert mit dem eingangs erwähnten Kommentar eine Innenansicht. Der Film ist jedoch als perfekter Wirtschaftsthriller inszeniert. Und im Thriller geht es immer auch darum, dass Dinge im Verborgenen bleiben. Alles in diesem Dokumentarfilm ist umgeben von einer Aura des Geheimnisvollen, in der sich die Bankenwelt seit jeher eingerichtet hat. Denn Marc Bauder setzt ganz bewusst die Verschwiegenheit dieser homogenen Parallelwelt ins Bild und versucht diese auch nicht zu brechen. So ehrfurchtsvoll, wie sich die Kamera zu Beginn des Filmes den Wolkenkratzern des deutschen Bankenzentrums nähert, so formuliert der Regisseur auch die erste Frage an seinen Protagonisten: „Angenommen, ich will da rein, wie muss ich mich verhalten?“

Im weiteren Verlauf des Filmes darf Rainer Voss unverständliche mathematische Formeln an die Fensterscheibe kritzeln und erklären, dass keiner die Rechnungslegung der Deutschen Bank verstünde. Selbst der als Kontrapunkt zuerst einmal überraschende Schauplatz des Gespräches unterstützt die inszenierte Verborgenheit zusätzlich, denn da wo nichts ist, öffnen sich Möglichkeiten zur Spekulation.

Das Geheimnisvolle lebt von der Distanz, vom Vagen und dem Kontrast von Innen und Außen. Es ist das Gegenteil der Transparenz. Aus dementsprechend großer Entfernung zeigt die Kamera Banker in ihren Büros oder wie sie in verspiegelten Luxuskarossen in die Tiefgarage einfahren. Und immer wieder verweigert die Montage Kontexte, verliert sich im Ungefähren, um der Komplexitätsbehauptung des Finanzsystems Genüge zu tun. Natürlich versucht Bauder sich abzusichern, wenn er seinen Protagonisten scheinbar in die Enge treibt und diesem nur die Antwort bleibt, dass er das jetzt nicht aufgezeichnet haben will. Aber auch hier wird das Geheimnis, die Undurchdringbarkeit des Finanzmarkt-Kapitalismus, bewusst in Szene gesetzt. Und zwischen den Interviews erklingen konziliant wabernde Melodien, die sich in ihrer minimalistischen Verspieltheit wie ein Schleier um das Gesagte legen.

Inhaltlich besonders problematisch wird die Verfahrensweise des Regisseurs, wenn Fragen nach der Verantwortung weitestgehend ausgeklammert werden oder die Rolle des Protagonisten innerhalb des Systems unbeleuchtet bleibt. Doch ob Rainer Voss Trader, Quant oder Risikomanager war, ist für eine Einordnung seiner Aussagen von eminenter Bedeutung.

Eine größere Neutralität, wie sie beispielsweise im hervorragenden Porträtband „Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt“ von Claudia Honegger, Sighard Neckel und Chantal Magnin an den Tag gelegt wird, wäre wünschenswert gewesen. In „Master of the Universe“ jedoch behauptet der Regisseur eine Innenansicht, während seine Hauptfigur permanent um die rechte Außendarstellung bemüht ist. Zusammen ergibt das einen wenig informativen, aber dafür umso geheimnisvolleren Film, der am Ende in bester Thrillermanier mit dystopischen Prophezeiungen aufwarten kann.

Erlöse uns von dem Bösen

(USA 2014, Regie: Scott Derrickson)

Padre Masters Satanas as Bana Goes Bananas
von Drehli Robnik

Vom Partner zum Pater, von Dubstep zu den Doors, so läuft das beim Hollywood-Gruseldrama 'Erlöse uns von dem Bösen'. Der Titel wirkt irgendwie vertraut, ebenso das Ausgangssetting: Zwei New Yorker …

Vom Partner zum Pater, von Dubstep zu den Doors, so läuft das beim Hollywood-Gruseldrama 'Erlöse uns von dem Bösen'. Der Titel wirkt irgendwie vertraut, ebenso das Ausgangssetting: Zwei New Yorker Cops, ethnisch und psychologisch wohldifferenziert, fahren auf Zivilstreife, greifen zumeist in Fällen häuslicher Gewalt beherzt ein und durch.

Der eine ist der ostentativ unbeschwerte irischstämmige Partner des anderen; der andere, Italo-Amerikaner, ist ganz bedrückt und halb entrückt und vernachlässigt Frau & Kind im pausenlosen Kampf gegen die tieferen Gründe von all dem Sozialelend um ihn herum, das hier in Ninetiesretrodüsterregen (Hallo, 'Se7en'!) ausgemalt wird. Er bekämpft, so heißt es im Dialog später programmatisch, das 'primäre Böse'. Was ist damit wohl gemeint? Die fortschreitende Kapitalisierung von öffentlichem urbanem Raum? Nein, eher Spirituelles und so. Deshalb feixt der Partner so oft und so unbeschwert: 'Spürst du schon wieder was mit deinem Radar?' Was wohl damit nun gemeint ist? Etwa die ostentativ abstehenden Ohren von Hauptdarsteller Eric Bana? Egal. Jedenfalls hat der Partner mit all seiner Unbeschwertheit sein Leben verwirkt und macht – wenn auch spät – einem Pater an Banas Seite Platz. Der ist Latino und gut in Latein; das führt er beim – wohlgemerkt: sechsstufigen – Exorzismus ('Vade retro, Satanas!') und am Ende beim häuslichen Taufen vor.

Dass der Leibhaftige hier in dem mit eingeritzten Schriftzeichen malträtierten Leib eines Irakkriegsveteranen umgeht, der als Anstreicher in Haushalte, Kellergewölbe und den Brooklyn Zoo eindringt, um Glühbirnen zum Ausbrennen, Löwen zum Auszucken und Branchenkollegen zum Austrinken von Nitroverdünner zu bringen, sei vielleicht noch angemerkt.

Und das gleich zur Warnung: 'Unfreiwillig komisch', das sagt sich allzu leicht. Zumal bei Filmen, wo es uns (wie bei diesem) ja doch immer wieder schaudert und schreckt. Denen, die das alles nicht glauben wollen, lässt auch der Plot dieses Films ein Höflichkeitshintertürchen offen. Den Eingeweihten und Gläubigen aber bietet er mit all seinem Aberwitz einfach noch ein Mehr an Gründen, sich zu beuteln oder die Haare zu raufen. Im Grunde ist das eine tolle filmische Demutsgeste: doppelter Service – plus das schmeichelhafte Gefühl, über den Dingen zu stehen, nämlich einen Horrorschocker als lachhaft durchschaut zu haben, der uns aber doch in Wirklichkeit genau dort haben und genau diese Wellness bereiten will.

Regie bei diesem CopMovie-Satanismushorror-Hybrid in Latex führt Scott Derrickson. Dass er sich spät auf die dahinplätschernde kleine Welle an Exorzismus-Filmen in breiter Genrevariation draufsetzen würde, kann man ihm echt nicht vorwerfen, denn: Noch bevor es Exorzismusfilme mit Autoren-Flair ('Requiem', klasse übrigens), Mockumentary-Look (Der letzte Exorzismus') oder Monsignore Hopkins als Pater Lecter ('The Rite – Das Ritual') gab, da hatte er schon den 'Exorzismus der Emily Rose' absolviert. 2005 war das. 2012 versetzte Derrickson dann in dem Found-Footage-Haunting-Schocker Sinister' häusliche Sounds mit einem synkopisch pulsierenden Score, den Leute wie ich wohl unter Dubstep einordnen würden. Leichter fällt das Musiklabelling nun bei 'Erlöse uns von dem Bösen', ist hier doch das Spukpumpern und Traumaplaudern mit Evergreens von der notorischen Satanistencombo The Doors zusammengemixt. Sehr sinnig erklingen nicht ganz unbekannte Refrains mit zutiefst ominösen Botschaften – Reiter auf dem Sturm. Brich weiter durch. Leute sind seltsam. Sind sie ja wirklich. Aber manche ihrer Filme auch.

Die Innere Zone

(D / CH 2014, Regie: Fosco Dubini)

Äußerungen des Inneren
von Dietrich Kuhlbrodt

Merkwürdig, sehr merkwürdig, dieser Film. Ansehen mochte ich ihn schon, aber er lässt mich ratlos zurück. Der Einstieg ist von hohem Aufmerksamkeitswert. 1969 die Kernschmelze eines Atomreaktors in der Schweiz, …

Merkwürdig, sehr merkwürdig, dieser Film. Ansehen mochte ich ihn schon, aber er lässt mich ratlos zurück. Der Einstieg ist von hohem Aufmerksamkeitswert. 1969 die Kernschmelze eines Atomreaktors in der Schweiz, Tschernobyl vergleichbar. Doch das Unglück verbarg sich in einem Stollen tief unter dem St. Gotthard. Schotten dicht, keine Radioaktivität nach draußen, Geheimhaltung bis heute, nein, bis 2023, denn anscheinend sind wir in einem Science Fiction Film. Also stimmt das Ganze nicht? Dann ist alles, was jetzt zu sehen sein wird, Tüterkram? Man wird ja wohl mal fragen dürfen. Antwort: Man darf nicht. Das Fragen wird einem ausgetrieben. Aber kucken darf man auf die Hauptdarstellerin (Jeannette Hain). Sie soll eine Psychologin darstellen, die draußen vorm Stolleneingang, im menschenleeren Tal, Menschen befragt, die am Klima leiden. Der Luft mangele es an Ozon. Folge seien Wahrnehmungsstörungen. Statt der Gegenwart nehme man Erinnerungen und Wünsche wahr. – Aha, wir sind schon in das Innere der Hauptdarstellerin gelangt, und um den geschmolzenen Reaktor geht’s überhaupt gar nicht.

Äußerlich ist das Gesicht der gepflegten Dame sehr einprägsam, Oberschicht Großbürgertum, würde ich sagen. Häufiger Kostümwechsel im leeren Tal, keinerlei Ausdruckswechsel auf dem Gesicht. Irgendwie eine Maske. Immerhin, jetzt hebt sie die Hand, um die Augen zu beschatten. Die Gebirgssonne scheint, ihr Gesicht ist fotoreif ausgeleuchtet, nix von Schatten auf dem Antlitz. Gefühlte Einstellungslänge: drei Minuten. Ich nehme an, da ich ja nichts fragen darf, dass Regisseur Fosco Dubini ('Thomas Pynchon: A Journey into the Mind', 2001) mit dieser Ausschau-Szene (und den vielen anderen, die folgen werden) die Abkehr von der Äußeren Zone demonstrieren will, und wenn nicht, dass er selbst schon in die Innerlichkeit eingekehrt ist.

Das soll jetzt kein Verriss sein. Ich selbst hab’s dann schließlich auch geschafft, in das fraglose Innere einzutauchen. Auch ein Kritiker muss ja mal loslassen können. Keine Frage, ich will es doch auch. Tja, tief im Stollen ein verrotteter Autozug der SBB. Einfach so. Oder ein knallrotes Kleid. Oder eine großbürgerliche Villa in sattem Grün. Oder ein Licht am Ende des Tunnels. Der Verleih informiert dazu, dass Drehort der U-Boot-Stollen auf der Krim gewesen sei. Im Film kein Wort davon. Wir kommen wortlos aus der Inneren Zone raus. Eventuell ist die Therapie geglückt. Beim Regisseur, bei Frau Hain, bei mir.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 8/2014

Sto Spiti – At Home

(GR 2014, Regie: Athanasios Karanikolas)

Erst kommt der Reichtum, dann die Moral
von Ilija Matusko

Hoch oben über dem Meer, in einer modernen Villa am Hang, mit viel Glas und Beton, scheint das Leben leicht und unbeschwert, losgelöst von gesellschaftlichen Problemen. Ein atemberaubender Blick in …

Hoch oben über dem Meer, in einer modernen Villa am Hang, mit viel Glas und Beton, scheint das Leben leicht und unbeschwert, losgelöst von gesellschaftlichen Problemen. Ein atemberaubender Blick in die Ferne, die Sonne glitzert auf dem Wasser, die rauschenden Sträucher imitieren das Meer. Und doch lauert da unten eine existentielle Bedrohung, die langsam den Berg hinaufkriecht.

Der griechische Regisseur Athanasios Karanikolas erzählt in seinem Film „Sto spiti“ (Forumsbeitrag bei der diesjährigen Berlinale) von sozialen Zerreißproben in Zeiten des wirtschaftlichen Verfalls. Dabei will Karanikolas die Erosion des menschlichen Umgangs dort sichtbar machen, wo die Folgen der Wirtschaftskrise vermeintlich am wenigsten zu spüren sind: in der griechischen Oberschicht. Diese hat sich im Falle von „Sto spiti“ in eine Traumvorstellung von Sicherheit und Wohlstand zurückgezogen und lebt in einem modernen Kubus hoch über der Ägäis – weit weg vom städtischen Chaos. Doch der Wind will an dieser erhöhten Stelle einfach nicht zur Ruhe kommen.

Dass der Rückzug der Gutsituierten eher ein psychologischer ist, und Betonwände keine Sicherheit bieten, beweist die Verfassung des Hausherren (Alexandros Logothetis) selbst: Aufgrund von Sorgen rund um die willkürliche Entlassung eines Kollegen bekommt der gute Mann einen Hautausschlag, die Unsicherheit – ob nun berechtigt oder nicht spielt keine Rolle – kriecht also langsam an die Oberfläche. Dabei geht es der Familie ziemlich gut. Zwar muss die klavierspielende Tochter bald auf das eigene Pferd verzichten, doch von existentiellen Sorgen kann (noch) keine Rede sein. Wären da nicht die unerfreulichen Nöte der Anderen, der Angestellten Nadja (Maria Kallimani) zum Beispiel.

Nadja ist eine Frau mittleren Alters und arbeitet bei der wohlhabenden Familie als Haushälterin. Sie kauft ein, putzt, bereitet das Essen zu und kümmert sich um die Tochter. Zur ihr hat sie ein besonderes Verhältnis, vermutlich weil ihre eigene Tochter die Sonne in Griechenland gegen einen Studienplatz im verregneten Deutschland getauscht hat. Obwohl Nadja schon seit vielen Jahren bei der Familie wohnt und Familienkrisen begleitet hat, geht ihre Beziehung zur Familie nicht über ein Arbeitsverhältnis hinaus. „Wir sind wie Freunde, wie Schwestern“, sagt die Ehefrau (Marisha Triantafyllidou) im Film und verweist damit auf das Gegenteil. Nadja ist keine Freundin und kein Teil der Familie. Auch wenn es sich manchmal so anfühlt. Dass diese „Wir“-Beziehung verhandelbar ist, wird spätestens dann deutlich, als bei Nadja eine schwere Nervenkrankheit diagnostiziert wird. Nadja hat keine Krankenversicherung. Daher bleibt in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit aus Perspektive des Familienvaters nur die Entlassung. Zwar hat die Ehefrau damit kurzzeitig ein moralisches Problem, doch fügt sie sich schnell der Ratio ihres Mannes: Wir haben geholfen so gut es geht, jetzt müssen wir uns selbst helfen, bevor wir selbst noch …

Eingebettet ist diese Handlung in klare, ruhige Bilder, die sich in jeder Einstellung der Bedeutung von Räumen und ihrer machtkonstitutiven Wirkung bewusst sind. Fassaden, Wände, Eingänge – sie strukturieren die grundlegenden sozialen Verhältnisse – und bilden sie ab. Zu den klaren räumlichen Setzungen und Linien passt auch die beinahe starr wirkende Inszenierung, ein Verweis auf die begrenzten Möglichkeiten eines Menschen, innerhalb von Grenzen zu reagieren. Gleichzeitig hegen die Bilder den Verdacht, dass solche Grenzen zwar vorgegeben, aber von Menschen gemacht sind. Die Villa ragt mit ihrer wuchtigen Glasfront nicht zufällig ein Stück weit über den Hang hinaus.

Dem Film zu Grunde liegt die Erfahrung des Regisseurs, dass griechische Familien Hausangestellte ausbeuten und ihnen die Illusion geben, zur Familie zu gehören. Wie lange, entscheiden sie. Mit der ökonomischen Überlegenheit beanspruchen sie die ethische Deutungshoheit für sich. Genau damit hat Karanikolas ein Problem. Er thematisiert eine Zeit, in der Würde, Vergebung und Anstand ihren sozialen Nährboden verlieren und menschliche Tugenden umdekliniert werden. Vergebung wird zur Dummheit, nicht auf das eigene Recht zu bestehen. Anstand wird zu Naivität, die sich im Spiel um Ressourcen nicht auszahlt. Die heilsame Lösung: Er schafft in Nadja eine Figur, die sich diesem Spiel widersetzt. Die trotz der erfahrenen Ungerechtigkeit keinen Ausgleich einfordert, die nicht auf ihr Recht pocht. Und so ihre Würde behält. Die gewollte Tragik der Geschichte liegt dann darin, dass diese Erhabenheit leider niemand mitbekommt. Fast niemand. Denn der Zuschauer ist am Ende der einzige Zeuge der moralischen Reinheit der Figur, mit der man in der realen Welt wohl keine Chance mehr hat.

Man fragt sich dann am Ende aber doch, welche moralische Reinheit hier dramaturgisch destilliert wird, in welchen stilisierten Lebensbezügen hier Fragen des Miteinanders abgehandelt werden. Was wäre, wenn die Familie eben doch ein moralisches Problem mit der Entlassung hätte? Oder wenn die Angestellte doch in Erwägung zieht, auf ihr Recht zu pochen? Das wären die interessanteren Fragen. Fragen, die der Film erst gar nicht aufwirft, weil das Problem sonst zu komplex und eine einfache Lösung unmöglich wäre.

Wenn menschlicher Umgang und Fürsorge erodieren – durch welche gesellschaftlichen Entwicklungen auch immer – so gibt es in aller Regel zwei soziale Orte, an denen von diesen Krisen besonders plausibel erzählt werden kann: Ganz unten und ganz oben. So wie der Lehrsatz „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ schon in vielen Krisenszenarien den Rückfall der Bedürftigen in die Unmenschlichkeit erklären konnte, so ist uns dessen soziologisches Spiegelbild ebenso geläufig. Ganz oben geht es beim Ausbruch von Konflikten genauso animalisch zu. Dass zwischen Glasfassaden, Designermöbeln und Massivbetonwänden nur die kalte ökonomische Verfügungsgewalt über Menschen lauert, die sich um Mitmenschen nicht schert, scheint nicht nur wenig überraschend, sondern sogar einen entlastenden Zweck zu erfüllen. Man selbst hätte sich natürlich ganz anders verhalten. (Und als Nadja hätten wir natürlich genauso gehandelt.) Es ist eine alte bürgerliche Idee, sich der eigenen moralischen Überlegenheit gegenüber den Wohlhabenden zu vergewissern. Man hat’s ja schon immer geahnt: Reiche haben keine Moral.

Volker Koepp – Landschaften und Porträts. 1970-1987

(DDR 1979, Regie: Volker Koepp)

Segellos in der Strömung
von Wolfgang Nierlin

Meistens eröffnen kurze, prägnante Stichworte zu Geographie und Geschichte der gezeigten Landschaften oder auch persönliche Statements der portraitierten Menschen die kurzen und mittellangen Filme Volker Koepps. Ganz selbstverständlich und in …

Meistens eröffnen kurze, prägnante Stichworte zu Geographie und Geschichte der gezeigten Landschaften oder auch persönliche Statements der portraitierten Menschen die kurzen und mittellangen Filme Volker Koepps. Ganz selbstverständlich und in lakonischer Manier setzen sie beim Zuschauer ein Vorwissen voraus oder aber provozieren eine Nachbearbeitung, ein Nachschlagen und Innehalten. Das wirkt ökonomisch verdichtet und sehr rhythmisch, einerseits beschleunigt und doch auch konzentriert. Für die zwischen 1970 und 1987 für das DEFA-Dokumentarfilmstudio entstandenen Arbeiten, die anlässlich Koepps 70. Geburtstages jetzt als Doppel-DVD unter dem Titel „Landschaften und Porträts“ erschienen sind, ist der Wechsel zwischen Ruhe und Bewegung konstitutiv. Die mannigfaltigen Beziehungen zwischen erinnerter Geschichte und erlebter Gegenwart, zwischen Mensch und Natur spiegeln sich darin. „Und immer greift die alte Zeit in die neue“, heißt es in dichterischer Anmutung, während die meist von Christian Lehmann geführte Kamera mit Schwenks und Travellings die Gegend erfasst. Ganz organisch, einem mehr poetischen Organisationsprinzip folgend, verbindet Koepp Bilder und Worte.

Dabei ist sein Blick nach Osten gerichtet, auf Gebiete diesseits und jenseits alter und neuer Grenzen. Der renommierte Filmkritiker Peter W. Jansen beschreibt das eingangs seines „Ostwärts“ betitelten Essays, der die Veröffentlichung ergänzt und bereichert, folgendermaßen: Koepps „Revier ist das Baltische Meer, sein Fluss die Gilge und seine Insel Rügen, seine Alpen sind die sanften Bodenwellen der Uckermark und die Dünen der Kurischen Nehrung, seine Heimat ist Vineta.“ In den insgesamt vierzehn, unter die Überschriften „Landschaften“ und „Porträts“ aufgeteilten Filmen reist der Filmemacher mit seinem Team unter anderem nach Memleben im Unstruttal, ins mecklenburgische Bad Doberau oder auch, den Spuren des Dichters Johannes Bobrowski folgend, nach „Sarmatien“. Über die Vorbereitung seiner vier Landschaftsfilme „Das weite Feld“, „Hütes-Film“, „Am Fluss“ und „In Rheinsberg“ sagt Volker Koepp in einem Interview, das ebenfalls im beigefügten Booklet abgedruckt ist: „Ich nahm die Landkarte, machte einen Zirkelschlag und drehte im Oderbruch, in einem Dorf bei Gransee, dann südlich von Berlin, in der Vorderröhn, im südlichen Thüringen und in Rheinsberg.“

Dabei sucht er immer wieder die Verbindung zwischen den Menschen und den sie umgebenden Landschaften, deren wechselseitige Veränderungen tief in die Geschichte eingegraben sind. Koepp folgt aber auch Erinnerungs- und Lebensspuren, die sich den Gesichtern der Portraitierten eingeprägt haben und in ihrer Arbeit Ausdruck finden. Immer wieder sehen wir deshalb Menschen auf der Landwirtschaft, im Bergwerk oder auch in einer Schweißerei bei der Arbeit, die sich unter den Bedingungen des Sozialismus und der Technisierung verändert hat. Zwischen Zeitgeist und Tradition, kulturellem Wandel und Heimatverbundenheit suchen die Menschen nach Orientierung und zeigen sich dabei erstaunlich flexibel; auch dort, wo nicht alles zum Besten steht und Verwerfungen und Verluste überwiegen. „Wie soll der Mensch leben?“, fragt Koepp einmal in seiner unnachahmlichen Art jenen Schäfer aus dem Unstruttal, der sich in besonderer Weise mit der Natur verbunden weiß. Vielleicht „segellos in der Strömung“, wie es in einem zitierten Vers Bobrowskis heißt, zu dem wiederum J. S. Bachs Orchestersuite „Air“ erklingt.

Als Gegenentwurf zu dieser Sicht erscheint vor allem in der „Porträt“-Reihe der sozialistische, kämpferische Mensch, der im Kurzfilm „Junge Leute“ (1970) nach seinen „täglichen Taten“ gefragt wird. „Nach vorne denken, ist Pflicht“, heißt es dazu unverhohlen propagandistisch. Oder auch: „Das Erforderliche tun und etwas darüber hinaus.“ „Ideologische Unklarheit“ und eine „laxe Einstellung zum Volkseigentum“, so der Vorwurf an die Mietschuldner im entsprechenden „Belehrungsfilm“, „passen“ demgegenüber „nicht in unsere Zeit“. Koepp lässt hier vor allem die Ankläger und „Aufklärer“ sprechen, dokumentiert sachlich und gewährt damit einen Einblick ins politische System der DDR. Bobrowskis Worte „Ich bin ein Mann, der seine Kinder aufzieht für eine Zeit ohne Angst“ aus dem Film „Grüße aus Sarmatien“ (1972/73) wirken demgegenüber geradezu als Gegengift. Die Spannungen zwischen Politik, Leben und Arbeit setzen sich schließlich fort in den Porträtfilmen „Tag für Tag“ (1979) über die Schweißerin Karin Reier und in „Haus und Hof“ (1980), in dessen Mittelpunkt die Agrarwissenschaftlerin Isolde Sperling und ihre beruflichen Konflikte stehen. Im Hinblick auf das Ringen um die „wahre Kunst“ wird dieser Themenkomplex schließlich erweitert in den Künstlerportraits, die dem marxistischen Filmemacher Slátan Dudow sowie dem Dichter Erich Weinert gewidmet sind, der sich selbst einmal als „roter Feuerwehrmann“ bezeichnet hat.

Phoenix

(D 2014, Regie: Christian Petzold)

Speak low when you speak, love
von Ulrich Kriest

I „Sie war in den Lagern und sie ist nicht mehr sich selbst; dieses Befinden – nicht sich selbst zu sein – wird von der Handlung des Films veräußerlicht. Die …

I

„Sie war in den Lagern und sie ist nicht mehr sich selbst; dieses Befinden – nicht sich selbst zu sein – wird von der Handlung des Films veräußerlicht. Die Metapher wirft ein grelles Licht auf das Befinden der Selbstfremdheit und führt die Augen über das tiefe Dunkel der Lager. (…) Ich fing damit an, dass ich kein richtiger Dokumentarist sei, und weil ich glaube, dass viele Dinge nur darstellbar sind, indem man sie veräußerlicht und weit von ihrem Platz verbringt.“

– Harun Farocki, Ein Rede über zwei Filme. In: Zelluloid 1988. –

II

Deutschland, Sommer 1945, ein Auto auf dem Weg nach Westen. Auf dem Beifahrersitz eine Frau mit bandagierten Kopf. Nelly, so heißt die Frau, hat Auschwitz überhaupt nur überlebt, weil man sie nach einem Kopfschuss für tot gehalten hat. Ihre Freundin Lene fährt, als sie an einem Kontrollpunkt anhalten müssen. Der amerikanische Soldat will das Gesicht sehen und als er das Gesicht sieht, erschrickt er und winkt das Auto unverzüglich durch. Im Krankenhaus soll Nellys Gesicht operativ wiederhergestellt werden. Nelly, so der Chirurg, habe die Wahl: Zarah Leander? Oder lieber die Söderbaum? Beide allerdings gerade etwas aus der Mode. Vielleicht doch lieber was Internationaleres? Aber Nelly will ihr altes Gesicht zurück, weil sie ihr altes Leben zurück will. Sie beharrt auf einem „Weiter“, wo „Stunde Null“ gehandelt wird. Doch dahin gibt es kein Zurück, selbst wenn sich das Gespenst Nelly sich auf die Suche nach ihrem Ehemann Johnny macht, von dem sie sich Antworten auf ihre Fragen verspricht. Als sich Nelly und Johnny schließlich im Nachtclub „Phoenix“ begegnen, erkennt er sie nicht. Sein Blick geht geradezu durch sie hindurch und macht sie ein weiteres Mal zum Gespenst. Bei genauerem Hinsehen erkennt Johnny jedoch dann eine gewisse Ähnlichkeit Nellys, die sich ihm gegenüber Esther nennt, mit der vermeidlich toten Ehefrau Nelly. Johnny fasst einen Plan: er wird versuchen, aus Esther Nelly soweit zu formen, dass es hinreicht, um an die Erbschaft zu kommen, die ihre ermordeten Familienmitglieder Nelly hinterlassen haben. Johnny braucht das Geld, um neu anzufangen, Esther bekäme einen Anteil. Eine Win-win-Situation! Nelly lässt sich auf den Plan ein – und wird so zu ihrer eigenen Doppelgängerin. Für den Zuschauer ist dieser Punkt der Erzählung ganz entscheidend: er muss bereit sein, sich auf diese forcierte Dialektik von Verkennen und Erkennen einzulassen, um die so intellektuelle wie spröde Konstruktion von „Phoenix“ zu goutieren.

III

Wie schon so oft, haben der Regisseur Christian Petzold und sein ständiger dramaturgischer Mitarbeiter, der kürzlich verstorbene Dokumentarist und Filmtheoretiker Harun Farocki, sich daran gemacht, ein einmal gefundenes Thema mit reichlich Material aus der Film- und Literaturgeschichte auszufüttern, bis das geschichtete Material zu re-sonieren und räsonnieren beginnt. Ausgangspunkt war wohl die psychologische Rache- und Kriminalgeschichte „Der Asche entstiegen“ von Hubert Montheilet, die Farocki Petzold bereits 1988 ans Herz legte. Hitchcocks „Vertigo“ liefert weitere Motive, angespielt wird auf Film noir-Klassiker wie Franjus „Augen ohne Gesicht“ oder Daves‘ „Dark Passage“, aber auch Peter Lorres „Der Verlorene“ und Fassbinders „Die Ehe der Maria Braun“ spielen hier hinein. Aber es geht hier nicht um Cinephilie, sondern eher um die Energien, die bestimmte bekannte Konstellationen („Vertigo“) in einem neuen Erzählzusammenhang produzieren. Präzision durch Differenz. Vor allem aber geht es um das Skandalon, dass »die Deutschen« nach der Befreiung vom Faschismus keine Bilder ihres eigenen Landes in der Manier des italienischen Neorealismus sehen wollten, sondern sich lieber eskapistisch in die Heimat- und Schlagerfilme flüchteten. Diese Fluchtbewegung ist gewissermaßen das Substrat von „Phoenix“, wo nur Nelly daran glaubt, sie könne in ihr altes Leben zurück und den Neuanfang verweigern. Ihre Freundin Lene, aus gutem Haus, hat die NS-Zeit in England und der Schweiz überlebt, arbeitet aktuell für die Jewish Agency und träumt von einem neuen Leben in Palästina. Sie leidet aber auch an ihrem Schuldgefühl, überlebt zu haben. Auch Johnny träumt von einem radikalen Neuanfang, braucht dafür allerdings als Startkapital das Erbe Nellys, die er verraten hat. Folglich ist er daran interessiert, das Modell „Nelly“, das er aus Esther baut, immer auf Distanz zu halten, während Nelly hier ihre Chance wittert, Überschuss zu produzieren und ihn an die alte Liebe zu erinnern. Christian Petzold hat dies verquere Liebesspiel, das „Phoenix“ zeigt, als „Tanz“ bezeichnet, wobei nicht ausgemacht ist, wer wann dabei führt: „Er versucht, die Vergegenwärtigung der Liebe zu verhindern, und versucht, sie wiederzustellen.“ In einer Schlüsselsequenz geht es darum, Nellys Rückkehr zu den alten Freunden zu inszenieren. Johnny hat alles im Griff, er weiß genau, wie die Begegnung am Bahnhof ablaufen wird. Er will Nelly so glamourös, wie die Freunde sie in Erinnerung haben. Just like yesterday! Er weiß, dass Kontinuität gewünscht wird und niemand sich für Nellys Geschichte interessieren wird. Nach dem, was mit ihrer Tätowierung am Unterarm zu tun hat, wird niemand fragen. Man muss die alten Dinge auch mal ruhen lassen. Es ist der Sommer 1945. Johnny wird Recht behalten – und trotzdem, vielleicht, leer ausgehen.

IV

So entwirft dieses bestechend kluge Kammerspiel einen dichten filmischen Raum, dem es nicht nur zu zeigen gelingt, auf welche Schrecken der klassische Film noir ästhetisch zu antworten versuchte (und dies zeitgenössisch nur verklausuliert konnte), sondern auch noch, warum es in der deutschen Filmgeschichte keine oder nur sehr wenige Films noir gegeben hat. Überdies leistet sich Petzold den Luxus, seine Tiefenbohrung in die deutsche Geschichte mit den Schauspielern in den Hauptrollen zu unternehmen, deren Liebesgeschichte der DDR-Film „Barbara“ erzählte, was die ganze Geschichte noch modellhafter und distanzierter erscheinen lässt, bis hin zu jenem Moment, als Nelly noch einmal diesen Song von Kurt Weill („Speak low“) anstimmt, mit dem sie vor ihrer Internierung reüssierte. Ein Moment, der Filmgeschichte schreibt! Der Preis, den Petzold für das Gelingen seines überaus anspruchsvollen und widerspenstigen Projekts zu zahlen bereit ist, ist ein Mangel an jener Lebendigkeit und augenzwinkerndem narrativen Überschuss, der beispielsweise Fassbinders Geschichts-Trilogie „Die Ehe der Maria Braun“, „Lola“ und „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ auszeichnete. Spröde und asketisch ist dieses konzentrierte Szenario. Konsequent, aber fast schon etwas streberhaft positioniert Petzold seine Geschichte unzweideutig mit der Widmung an Fritz Bauer, dem Generalstaatsanwalt, dessen Arbeit die Auschwitzprozesse möglich machte. Damit nur keine Missverständnisse aufkommen, in Zeiten, in denen Filme wie „Unsere Mütter, unsere Väter“ oder „Wolfskinder“ den Deutschen längst wohlfeil und bedenkenlos die Opferrolle zuspielen. Nein, bedenkenlos ist „Phoenix“ gerade nicht, aber soll man das den Machern zum Vorwurf machen?

Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste

(D 2013, Regie: Isabell Suba)

Neues vom Nachwux
von Ulrich Kriest

Die nicht mehr ganz junge Filmemacherin Isabell Suba wurde mit ihrem Kurzfilm „Chica XX Mujer“ 2012 nach Cannes eingeladen. Gemeinsam mit ihrem Produzenten David Wendlandt besucht sie das Festival, um …

Die nicht mehr ganz junge Filmemacherin Isabell Suba wurde mit ihrem Kurzfilm „Chica XX Mujer“ 2012 nach Cannes eingeladen. Gemeinsam mit ihrem Produzenten David Wendlandt besucht sie das Festival, um dort zu netzwerken und nach Möglichkeit ein neues Filmprojekt, wie man so sagt, zu pitchen. Leider steht der gemeinsame Ausflug auf das glamouröse Festival an der Cote d´Azur von Anfang an unter keinem guten Stern. Das Wetter ist schlecht, das Hotel ist überbucht, die Sache mit den Gästelisten und Einladungen funktioniert nicht so recht – und immer wieder werden wichtige Termine mit deutschen Provinz-Filmkritikerinnen verpasst, weil das Team Regisseurin/Produzent sich gewissermaßen permanent selbst torpediert.

Schon die Anreise nach Cannes ist ein einziges Missverständnis, aber schnell stellt sich heraus, dass es den beiden Protagonisten an einer gesunden Portion Professionalität mangelt. So hat es beispielsweise Wendlandt versäumt, das Treatment von Subas neuem Projekt zu lesen. Was sich natürlich als dumm herausstellt, wenn man Dritte dafür begeistern will. Aber vielleicht war Wendlandt auch nur professionell schlau, denn als Suba der Arte-Redakteurin Barbara Häbe von ihrem Projekt erzählen soll, erweist sich das Ganze als halbgarer, aber umso prätentiöserer Quatsch. Gäbe es nicht die Vorführung von „Chica XX Mujer“, könnte man „Männer zeigen Filme und Frauen ihre Brüste“ glatt für eine boshafte Satire auf die Selbstermächtigung zweier Talentloser erachten, die „irgendwas mit Film“ machen wollen und nun mit Flausen im Kopf orientierungs- und einfallslos an den Rändern eines bedeutenden Filmfestivals herumstromern.

Auf einer Filmstudentenparty bringt es jemand auf den Punkt: „Eine Hummel dürfte eigentlich nicht fliegen können. Aber sie weiß das nicht und deshalb macht sie es trotzdem!“ Viel wichtiger als das Filmemachen scheinen den beiden Protagonisten ohnehin Fragen der sexuellen Orientierung. Während Suba ihr Lesbisch-sein sehr offensiv nach außen kehrt, begegnet Macho Wendlandt diesem Sachverhalt mit einer derart stumpfen Ignoranz, die man vielleicht in den 1950er ansiedeln würde, die aber in Verbindung mit einem jungen, großflächig tätowierten Filmproduzenten des Jahres 2012 wirklich nur noch als Mittel zu Screwball-Dialogen mit ganz muffigen Pointen taugt („Dose auf Dose“). Auch komisch gemeinte Szenen, wenn beide Protagonisten am Pool konkurrierend mit einem It-Girl flirten und sich dabei verstohlen bis offen brüskiert beobachten, laufen letztlich ins Leere, weil beide Figuren so unsympathisch und verbiestert sind.

So richtig interessant wird es eigentlich erst ganz am Schluss, wenn der Film unvermittelt lakonisch mitteilt, dass die Filmemacherin Isabell Suba im Film von der Schauspielerin Anne Haug gespielt wurde, während der Filmproduzent David Wendlandt der „richtige“ Filmproduzent Matthias Weidenhöfer war und sich Suba unter einer falschen Identität einer Berichterstatterin aufs Festival „geschlichen“ hat, um dort in Guerilla-Manier an fünf Tagen einen Film zu drehen, bei dem nie ganz klar ist, was gespielt, was improvisiert und was dokumentarisch ist.

„Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste“ ist also eine leicht schillernde Mockumentary über das Filmemachen, das Filme feiern und das von Filmen träumen, in der bestimmte Rollen von Schauspielern übernommen wurden, während andere Figuren wie die bereits erwähnte Arte-Redakteurin sich selbst spielen. Der Filmtitel ist übrigens eine brandaktuelle Anspielung darauf, dass im Wettbewerb von Cannes selten Filme von Regisseurinnen zu sehen sind. Hey, hey! Auf diesen „Skandal“ macht Suba/Haug auch nachdrücklich aufmerksam, will auf dem Ticket allerdings selbst nicht reisen, weil sie Anerkennung als Filmemacherin und nicht als Quotenfrau sucht. Bei Licht betrachtet hat Isabell Suba also den Erfolg ihres ersten Filmes dazu genutzt, sich in ihrem zweiten Film über die Kultur des „Dabeisein ist alles“ lustig zu machen – und zwar ausgerechnet in Cannes. Man wird sehen, ob die Branche über hinreichend Selbstironie verfügt, um bei diesem überdrehten Spaß mitzulachen.

Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit

(GB / I 2013, Regie: Uberto Pasolini)

Rest in peace
von Wolfgang Nierlin

Die Abwesenheit von Menschen, die einsam gestorben sind, weil sie allein gelebt haben, hat sich den Dingen eingeprägt. In ihren teils verwahrlosten, teils mit nur wenigen Habseligkeiten bestückten Wohnungen fällt …

Die Abwesenheit von Menschen, die einsam gestorben sind, weil sie allein gelebt haben, hat sich den Dingen eingeprägt. In ihren teils verwahrlosten, teils mit nur wenigen Habseligkeiten bestückten Wohnungen fällt der Blick immer wieder auf Spuren, die eine nur kurz zurückliegende Anwesenheit behaupten: eine Kuhle im Kopfkissen, Tabletten auf dem Nachttisch, ein Brief. Mr. May (Eddie Marsan), „Funeral Officer“ in Diensten der Londoner Stadtverwaltung, kümmert sich um die Nachlässe dieser Verstorbenen und versucht, Angehörige ausfindig zu machen. Der akribisch genau und sehr gewissenhaft arbeitende Protagonist aus Uberto Pasolinis preisgekröntem Film „Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“ („Still Life') ist gewissermaßen ein melancholischer Spurenleser und Rechercheur, der in seinen Bemühungen leider meist enttäuscht wird. Oft ist er bei den Trauerfeiern der einzige Gast, der dann auch noch dem Vortrag seiner von ihm selbst verfassten Trauerrede zuhört.

Denn Mr. May nimmt im Gegensatz zu seiner Umwelt Anteil am Schicksal dieser hoffnungslos einsam Verstorbenen und versucht dabei, ihre jeweilige Persönlichkeit zu imaginieren. Wenn er in seinem dunklen Kellerbüro wieder einmal eine Akte schließt, bewahrt er für sich selbst Fotografien dieser Menschen auf, die er nach Feierabend in ein Album einklebt, als zeigten sie Mitglieder einer weit verzweigten Familie. Denn auch Mr. May ist ein Einzelgänger, der in einer tristen, anonymen Sozialsiedlung lebt und sich schlecht ernährt. Das wird ihm umso schmerzlicher bewusst, als er eines Tages zu einem Todesfall in seiner unmittelbaren Nachbarschaft gerufen wird: Billy Stoke ist zugleich Mr. Mays letzter „Fall“. Während der nachdenkliche und steife Verwaltungsangestellte den Spuren des Eigenbrötlers und Draufgänger, Frauenlieblings und Trinkers folgt, entdeckt er selbst den Geschmack am Leben.

„Ich wollte keinen Film über den Tod machen, sondern einen über das Leben“, sagt Uberto Pasolini, der nach diversen Produzententätigkeiten seine zweite Regiearbeit in ruhigen, statischen Bildern inszeniert hat. In ihnen nisten Einsamkeit und Anonymität eines grauen, tristen Alltags, der sich freudlos in einem fort wiederholt. Lakonisch und stimmungsvoll zeigt Uberto Pasolini diesen nur scheinbar spannungslosen Trott seines Helden, der fast unmerklich Kontur, Farbe und Leben gewinnt; bis sich schließlich in einem ergreifenden Schlussbild die Toten versammeln, um Mr. May die letzte Ehre zu erweisen.

Madame Mallory und der Duft von Curry

(USA 2014, Regie: Lasse Hallström)

Variationen vom Leipziger Allerlei mit Garam Marsala
von Ulrich Kriest

Liebe geht durch den Magen und Kochen ist stets eine Erinnerung. Das gilt für den jungen Hassan aus Mumbai umso mehr, als sein Talent für Garzeiten und Gewürze früh von …

Liebe geht durch den Magen und Kochen ist stets eine Erinnerung. Das gilt für den jungen Hassan aus Mumbai umso mehr, als sein Talent für Garzeiten und Gewürze früh von der eigenen Mutter entdeckt und gefördert wurde, die dann allerdings auf tragische Weise Opfer der Politik wurde. Die Hinterbliebenen machen sich auf nach Europa, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen. Im Gepäck des klapprigen Kleinbusses nur sehr viel Optimismus und eine Kiste mit Mutters geheimnisvollen Gewürzmischungen.

Ausgerechnet dort, wo Südfrankreich besonders pittoresk ist, macht das Vehikel schlapp, was das Familienoberhaupt, der dickköpfige Papa, gleich für einen Wink aus dem Jenseits nimmt. Hier wird man ein Restaurant eröffnen! Dumm nur, dass auf der gegenüberliegenden Straßenseite das Sterne-Restaurant „Le Saule Pleureur“ liegt, das von der gestrengen, traditionsbewussten und auch etwas blasierten Madame Mallory geleitet wird. Sie legt keinen Wert auf ein kunterbuntes indisches Restaurant, weil es die falsche Kundschaft in die Gegend lockt. Man bleibt lieber unter sich.

Es beginnt ein stark komödiantisch gezeichneter Kampf der Kulturen, unterfüttert von romantischen Momenten, denn Hassan verliebt sich sogleich in die ehrgeizige und bildhübsche Sous-Chefin von Madame. Amüsant, wenn das aufgesetzte Traditionsbewusstsein der französischen Haute Cuisine achselzuckend mit dem Hinweis auf das Jahrtausende alte Wissen der ayurvedischen Küche ausgekontert wird! Schluss mit lustig ist erst, als der Kampf der Kulturen nicht länger um die richtige Wachtelbrust-Zubereitung kreist, sondern rassistisch-politische Obertöne bekommt. Jetzt wandelt sich Madame Mallory unversehens vom Saulus zum Paulus – und Helen Mirren darf endlich ins sympathisch-menschelnde Fach wechseln, wo sich vielleicht selbst für Papa noch ein Platz in ihrem großen Herzen finden lässt.

Für Hassan jedoch beginnt erst jetzt die entscheidende ausgedehnte Bildungsreise, die ihn zunächst nach Paris und dann aufs forciert-dekadente Hochplateau der Molekularküche führt, wo Mütterchens Gewürzmischungen problemlos reüssieren. Die Weltkarriere lockt, doch dann obsiegt der Charme der Provinz, wo sich eine überraschende Chance bietet, die alle Erzählfäden auf das Feinste zu einem passenden Sonnenuntergang verknüpft.

Leider erzählt dieser märchenhafte Film mit bunten Bollywood-Momenten von Toleranz und Identitätsfindung im Sterne-Milieu mit den Überraschungseffekten und Geschmackssensationen von Convenience-Food, garniert mit etwas Romantik und Starbesetzung. Wäre die Botschaft vom talentierten Asylsuchenden, der der Kultur des Einreiselandes aufgrund seines Talentes einen dekorativen Farbtupfer verleiht, nicht so unverhohlen reaktionär, man könnte diesen Film für seine eigene Parodie halten. Merke: Wenn gar nichts mehr geht, geht immer noch ein romantisch-sentimentaler Multikulti-Film mit bildfüllender Kulinarik.

Apropos Erinnerung: Man mag gar nicht daran erinnern, dass Lasse Hallström einst seine Karriere mit dem großartigen „Mein Leben als Hund“ begann. Des Filmemachers eigene Erinnerung reicht offenbar nur noch bis „Chocolat“ zurück, dessen zuverlässige Rezeptur hier zynisch aufgewärmt worden ist. Man wendet sich mit Grausen und schwerem Magengrimmen ab von derlei überzuckertem Autopilot-Kino.

Can A Song Save Your Life?

(USA 2014, Regie: John Carney)

Verlorene Sterne
von Wolfgang Nierlin

Der Mittvierziger Dan Mulligan (Mark Ruffalo) ist ein abgehalfteter Musikproduzent, der zu viel trinkt und vor dem beruflichen Aus steht. Wenn er morgens verkatert sein Spiegelbild anblickt, geht er danach …

Der Mittvierziger Dan Mulligan (Mark Ruffalo) ist ein abgehalfteter Musikproduzent, der zu viel trinkt und vor dem beruflichen Aus steht. Wenn er morgens verkatert sein Spiegelbild anblickt, geht er danach lieber noch mal ins Bett. Seit er von seiner Frau Miriam (Catherine Keener) getrennt lebt, versinkt er im Chaos und kümmert sich nur sporadisch um seine 14-jährige Tochter Violet (Hailee Steinfeld). Angeödet von der aktuellen Popmusik, die er auf der Fahrt in seinem Jaguar duchcheckt, hält er unverdrossen an den alten Werten fest. Wenn sein Kompagnon mit modischem Geschäftsgebaren fordert, er müsse sich an die Veränderungen des Business anpassen, kontert Dan: „Wir brauchen Visionen, keine Werbegangs.“

Eine solche Vision, von den Wirkungen des Alkohols befördert, hat der sympathische Loser kurz danach in einem New Yorker Musikklub, wo die junge Gretta James (Keira Knightley) eher unfreiwillig ein noch unfertiges Lied „für Einsame“ zu ihrem verhaltenen Gitarrenspiel vorträgt. Während das Publikum eher gelangweilt auf die Darbietung reagiert, arrangiert Dan in seinem Geist das Stück für weitere Instrumente. Der Zauber dieses filmischen Moments lässt auch den Zuschauer hör- und sichtbar an dieser Vision teilnehmen. „We are all lost stars“, heißt es im Song der Engländerin: Auch Gretta durchlebt gerade eine Enttäuschung, seit sich ihr Freund Dave Kohl (Adam Levine), ein ziemlich erfolgreicher Musiker und Schauspieler, wegen einer anderen Frau von ihr getrennt hat.

John Carneys sehr romantisches Feelgoodmovie „Can A Song Save Your Life?“ („Begin Again“) kreist auf ebenso märchenhafte wie humorvolle Weise um diesen magischen Moment einer nicht nur musikalischen Begegnung in besagtem Kellerlokal. In geschickt konstruierten Rückblenden und unter wechselnden Perspektiven führt der irischstämmige, mit dem Film „Once“ bekannt gewordene Regisseur die Vorgeschichten seiner beiden Protagonisten zusammen. Und tatsächlich beinhalten dieser Augenblick und der im Verleihtitel aufgerufene Song eine lebensverändernde Kraft: Dan und Gretta tun sich für ein sogenanntes „Outdoor-Album“ zusammen, das sie mit altmodischer Aufnahmetechnik, enthusiastischen Mitmusikern, wenig Geld, Improvisationsgeschick und kreativer Leidenschaft an wechselnden Orten der Stadt aufnehmen. Dabei entsteht nicht nur eine originelle, von musikalischen und filmischen Reminiszenzen gespickte Hommage an New York, sondern John Carney, selbst Musiker, gelingt entlang der Konfliktlinien seiner Figuren auch ein satirischer Blick auf das aktuelle Musikgeschäft und seine Verwerfungen.

I Origins – Im Auge des Ursprungs

(USA 2014, Regie: Mike Cahill)

Augenschmaus
von Carsten Happe

Deine blauen Augen machen mich so sentimental. – Die Augen sind der Spiegel der Seele. – Sogar das Schweigen ist sinnvoll, wenn die Augen sprechen. – Die Menschheits- und Kulturgeschichte …

Deine blauen Augen machen mich so sentimental. – Die Augen sind der Spiegel der Seele. – Sogar das Schweigen ist sinnvoll, wenn die Augen sprechen. – Die Menschheits- und Kulturgeschichte ist voll von Analogien, Metaphern und hübschen Bildern über unser aller Sehorgan zwischen Poesiealbumsprüchen und philosophischen Einlassungen, die diese kleine Auswahl mit Annette Humpe, Leonardo da Vinci und Albert Camus sicherlich ins Unendliche verlängern ließen. Ian Gray, Student der Molekularbiologie, würde sie wohl allesamt unterschreiben, denn auch wenn er sich streng wissenschaftlich auf die Erforschung der Evolutionsgeschichte des menschlichen Auges spezialisiert hat, lässt er die Tür zur spirituellen Welt stets einen kleinen Spalt offen stehen. Kein Wunder, hat er sich doch auf einer Kostümparty unsterblich in eine Frau verliebt, von der er hinter ihrer Maske nur ihre faszinierenden Augen gesehen hat. Und dass er sie nach ihrem stürmischen Aufbruch anderntags wiedertrifft, nach einer Reihe verblüffender Zufälle, die man einfach glauben muss, ist offensichtlich seine Bestimmung – selbst diesem unwissenschaftlichen Schluss würde der Doktorand vorbehaltlos zustimmen.

Im Spannungsfeld zwischen Wissenschafts- und spiritueller Welt, zwischen Thesenfilm und Love Story hat Regisseur und Autor Mike Cahill auch seinen zweiten Spielfilm „I Origins“ angelegt, nachdem ihm mit der Science-Fiction-Parabel „Another Earth“ bereits ein ähnlicher Spagat auf famose Weise geglückt war. Und einmal mehr beweist er, dass ein mikroskopisch kleines Budget einen Film keineswegs limitieren muss, wenn die Ideen, die ihm zugrunde liegen und sich auf der Leinwand in betörende Gedankenspiele visualisieren, umso größer sind – so groß, dass sie eine zweite Erde einschließen oder die Grenzen der Wissenschaft sprengen.

Sieben Jahre nach der Begegnung mit Sofi, deren Augen ihn dermaßen gefangen nahmen, ist Dr. Ian Gray gemeinsam mit seiner Laborkollegin Karen (Brit Marling, Cahills Co-Autorin bei „Another Earth“) einer Entdeckung auf der Spur, die sowohl das Bild der Wissenschaft wie auch die spirituelle Welt in ihren Grundfesten erschüttern könnte. Die weitreichenden Implikationen hier nur anzuteasern und damit letztlich zu spoilern, würde „I Origins“ einiges an seiner Sogkraft entziehen, daher nur soviel: Auch wenn sich der Film in wissenschaftlicher Hinsicht so manches Mal auf dünnes Eis begibt und dabei die Grenze zur Esoterik haarscharf schrammt, sind seine Thesen und Absichten, seine Schlussfolgerungen und Auflösungen doch so zwingend aufgebaut, dass man ihm alles glauben möchte, so sehr greifen die Überwältigungsstrategien des Kinos einmal mehr bis ins kleinste Zahnrädchen der ausgefeilten Dramaturgie ineinander. Trotz der zunächst unterkühlten Anmutung – Ein Film über Molekularbiologen? Laborkittel als vorherrschendes Kostümdesign? – ist „I Origins“ insbesondere durch seine Liebesgeschichte, die sich auf wundersame Weise äußerst harmonisch mit den übrigen Storyebenen verschränkt, emotional enorm aufwühlend und ebenso mitreißend wie klug.

Umso bemerkenswerter ist allein, dass sich Mike Cahill mit gerade einmal zwei Filmen eine eigene, unverkennbare Handschrift zugelegt hat, sowohl inhaltlich als auch formal, mit seinem down-and-dirty-Look und der Handkamera, die zunächst in krassem Widerspruch zu den großen Ideen zwischen Science-Fact und -Fiction zu stehen scheinen, aber diese vor allem auch erden und aus dem Elfenbeinturm eines überbordenden Production Design oder schwindelerregender Special Effects auf den Boden der Realität zurückholen. Zurück zu den Menschen, die in dieser Welt leben (oder einer anderen), und zu ihren komplexen und faszinierenden Beziehungsgeflechten, die dank „I Origins“ noch ein wenig komplexer und faszinierender geworden sind.

Wir sind die Neuen

(D 2014, Regie: Ralf Westhoff)

Man muss tanzen!
von Wolfgang Nierlin

„Bin ich langsamer geworden oder alles um mich herum schneller?“, fragt sich die etwa 60-jährige, aber jung gebliebene Anne (Gisela Schneeberger) zu Beginn von Ralf Westhoffs Film „Wir sind die …

„Bin ich langsamer geworden oder alles um mich herum schneller?“, fragt sich die etwa 60-jährige, aber jung gebliebene Anne (Gisela Schneeberger) zu Beginn von Ralf Westhoffs Film „Wir sind die Neuen“ aus dem Off. Damit bringt die verarmte Biologin, der eben ihre noch relativ günstige Wohnung gekündigt wurde, ein Unbehagen am allgemein herrschenden Zeitgeist zum Ausdruck. Die resolute Anne, aus deren Perspektive die ebenso witzige wie nachdenkliche Generationenkomödie erzählt ist, setzt nämlich auf die Beharrungskräfte des Lebens und zehrt von den Erinnerungen an alte Zeiten. Doch jetzt ist sie gezwungen, aufzubrechen und nach einem neuen Domizil zu suchen. Weil die Mieten zu hoch sind, tut sie sich mit dem Sozialjuristen Johannes (Michael Wittenborn) und dem Alt-Revoluzzer Eddi (Heiner Lauterbach) zusammen, um ihre alte Wohngemeinschaft aus Studentenzeiten zu reaktivieren.

Doch die Zeiten haben sich geändert und dabei keine Rücksicht genommen auf die sympathischen Helden, die sich treu geblieben sind und dabei ihre Spleens und Marotten kultiviert und verfestigt haben. Während etwa Johannes, ein Jeanstyp mit stets fettigen Haaren, Frauen gegenüber zu schüchtern ist, hat Charmeur Eddi seine gescheiterte Beziehung hinter sich gelassen. Gemeinsam wollen sie nun an alte Zeiten und die Leichtigkeit vergangener Tage anknüpfen; doch der Blick zurück schürt auch frühere Konflikte und öffnet alte Wunden. „Wir wollten zurück ins Paradies“, sagt die sinnierende Anne einmal im Gefühl der Desillusionierung. „It’s never too late“, singen Steppenwolf; und der gemeinsame Disco-Besuch verdichtet sich zu der Überzeugung: „Man muss tanzen!“ Doch für die gemeinsame Gegenwart fehlt ihnen das Konzept. Und Ralf Westhoff versäumt es, das Leben und die biographischen Hintergründe seiner Protagonisten stofflich zu erhellen.

Stattdessen verlegt er sich auf die Darstellung eines konfrontativ ziemlich zugespitzten Generationenkonflikts, der von seinem versierten Darsteller-Ensemble in geistreich-pointierten Dialogen ausgefochten wird. Rücksichtslos direkt und schamlos gemein geht es da zu, wenn „die Neuen“ sich zum „Antrittsbesuch“ in der Studenten-WG einen Stock tiefer einstellen und dabei mit „seltsam erwachsenen“, ziemlich erfolgsorientierten und auf Karriere getrimmten Jungakademikern konfrontiert werden, die gleich mal anzeigen, dass sie ruhebedürftig sind, „keine Kapazitäten“ haben und „einfach nur Nachbarn“ sein wollen. „Wir waren in der Hölle“, konstatiert darauf Eddi; und es braucht nicht lange, bis sich im nachbarschaftlichen Ideologie- und Lärmkrieg die Fronten verhärtet haben.

Durch den schonungslosen Blick der Alten hindurch entlarvt Westhoff den rücksichtslosen Materialismus der Jungen, deren Charakterzeichnung allerdings etwas eng bleibt. Weil hinter der spießigen Fassade von Katharina (Claudia Eisinger), Barbara (Karoline Schuch) und Thorsten (Patrick Güldenberg) Ängste, Frustrationen und Neurosen lauern und bald auch ausbrechen, führt das im letzten Drittel des Films zu einer zunächst vorsichtigen, schließlich aber versöhnlichen Annäherung der so unterschiedlichen Generationen. Und während noch die Jungen von den Alten lernen, öffnet sich nach diesem „Weckruf“ auch für die Alten ein neues Fenster in die Zukunft.

20.000 Days on Earth

(GB 2014, Regie: Iain Forsyth, Jane Pollard)

Krumme Versionen seiner selbst
von Ilija Matusko

Erfahrungen und Eindrücke aus der Kindheit sind wie Schattenbilder, die in uns schlummern und ihre Geschichte erzählen wollen. Der australische Musiker, Autor, Poet und Schauspieler Nick Cave verhilft den Bildern …

Erfahrungen und Eindrücke aus der Kindheit sind wie Schattenbilder, die in uns schlummern und ihre Geschichte erzählen wollen. Der australische Musiker, Autor, Poet und Schauspieler Nick Cave verhilft den Bildern an die Oberfläche, gibt ihnen eine Stimme und macht daraus eine ganz eigene Geschichte – voller Fiktion und Mythos – und lässt die Welt damit größer, mächtiger und stürmischer erscheinen. Der nun in den Kinos laufende Dokumentarfilm „20.000 Days on Earth“ ist ein weiteres Puzzleteil in der Mythologisierung seiner Welt.

Dabei verfolgt „20.000 Days on Earth“ zunächst ein recht profanes Konzept: Ein Tag im Leben des Musikers, also 24 Stunden mit der Person hinter der Projektionsfläche Nick Cave, womöglich eine Auflösung bisheriger Geheimnisse um diesen eleganten Künstler im schwarzen Anzug. Doch wird schon in der ersten Szene – beim Aufstehen und Rasieren im Bad – schnell klar, worum es geht: Um eine fiktive Überzeichnung des realen Lebens. Der Monolog von Nick Cave wird als Erzählerstimme die Alltags-Ereignisse im Film immer wieder brechen, mit einer eigenen metaphorischen Ebene versorgen und so dem Bild, das man von Nick Cave hat, nur weitere Spekulationen und Geheimnisse hinzufügen. Das passt. Zum einen zu Nick Caves Werk, das immer auf der Suche nach der unausgesprochenen Ebene hinter den Dingen ist. Zum anderen passt es auch zum künstlerischen Zugang der Regisseure Iain Forsyth und Jane Pollard zum verhandelten Thema: Die Verortung einer Erzähl-Maschine im eigenen Erzählen.

Zu dieser Verortung gehören auch die „lebensweltlichen Randbedingungen“: Musizieren am Klavier, Tippen an der Schreibmaschine, Gespräche mit Warren Ellis (Bandmitglied bei „The Bad Seeds“), eine Rückschau auf vergangene Tage im Archiv oder auch das kontrastreiche Wetter in Brighton, Nick Caves Wahlheimat. Alles wird mit Reflexionen angereichert, auch die Entstehungsgeschichte der Songs, und so in die sakrale oder spirituelle Umdeutung der Dinge verwoben. Nick Cave erzählt, spinnt seinen visuellen Erzählfaden weiter und arbeitet doch mit jedem Wort an der Mythologisierung des Gesamtbildes. Und dieses ist fest in der Erfahrungswelt von Nick Cave verankert. Im Grunde, sagt Cave an einer Stelle, produziere er in seinen Geschichten nur krumme Versionen seiner selbst.

Wenn der Film nicht den mythologischen Raum über den Banalitäten einer Autofahrt oder eines Mittagessens – oder vielmehr den Raum darunter – aufspannen würde, könnte man die Trivialisierung wohl auch schwer ertragen. Wer will schon sehen, wie Rockgott Cave vom Himmel herabsteigt und eine Lieferpizza vor laufendem Fernseher isst – ohne narrative Verfremdung. Selbst in der intimen Situation mit einem Therapeuten, mit dem Cave im Film über seine Kindheits- und Familienerlebnisse spricht, wirkt jeder Satz wohlüberlegt und komponiert. Nicht weil die Regisseure dies unbedingt beabsichtigt hätten, nicht weil Cave vor laufender Kamera spricht und auch hier eine Performance liefern muss, sondern weil der Masterplan im Kopf von Nick Cave selbst spricht. Nick Caves Habitualisierung einer schreibenden, schöpferischen Existenz ist beeindruckend, bis in kleinste Körperbewegungen hat sie sich in seinen Körper eingeschrieben. Sie spricht aus ihm, zieht an ihm, lässt ihn auf der Bühne verwandeln.

Man beißt sich als Fan und Zuschauer im Laufe des Films womöglich bei einer Frage die Zähne aus: Hat sich dieser Mann diesen Masterplan von der Berufung zum Welterschaffen vor langer Zeit angeeignet – mit seiner Lust am Kulturgut, seinem Interesse für Literatur, Film und Musik? Oder hat er sich aufgrund seines Suchens nach dem Verborgenen in uns im Laufe der Zeit in diese Erzähl-Maschine verwandelt? In einer Szene erzählt Cave, dass in seinen erschaffenen Welten eine übergeordnete Macht, eine Art Gott existiert, „jemand, der Buch führt“, an den er im echten Leben nicht glauben kann. Cave interessiert aber nicht, ob man an so eine Kraft glaubt oder nicht. Sondern dass man nie wissen kann. Und damit greifen seine Existenz und seine Kunst auf so spannende und so undurchdringbare Weise ineinander.

„20.000 Days on Earth“ ist Dokumentarfilm, Fiktion, Konzertmitschnitt und Portrait eines Mannes, der jeden Strich seines Portraits selbst zeichnen möchte. Und jemandem, der auf so wunderbare Weise mit seinen Worten zeichnen kann, hört und sieht man gerne dabei zu.

When Animals Dream

(DK 2014, Regie: Jonas Alexander Arnby)

Das Fremde in mir
von Carsten Happe

Sonderlich hübsch ist sie nicht, zumindest nicht nach den gängigen Next-Topmodel-Kriterien, eher spröde und verschlossen dazu, eigentlich ganz passend für den kleinen, verschlafenen, manchmal unwirtlichen dänischen Küstenort, in dem sie …

Sonderlich hübsch ist sie nicht, zumindest nicht nach den gängigen Next-Topmodel-Kriterien, eher spröde und verschlossen dazu, eigentlich ganz passend für den kleinen, verschlafenen, manchmal unwirtlichen dänischen Küstenort, in dem sie mit ihren Eltern lebt, ihrer Mutter im Rollstuhl und ihrem Vater, der irgendwie den Anschluss verloren hat. Und doch ist Marie eine Außenseiterin, wie sie im (Dreh-)Buch steht, uncooler als ihre gehässigen Klassenkameradinnen, ausgeschlossen von den Männerbünden in der Fischfabrik, in der sie neuerdings jobbt. Sie weiß genau, dass es mit diesem Status Quo nicht mehr lange weitergehen kann, sie spürt bereits die Veränderungen, die sich anbahnen, sich gewaltsam Bahn brechen in ihrem Leben und in ihrem Körper, sie schreckt davor zurück und kann sie doch keineswegs aufhalten, sie sind ihre Bestimmung, wenigstens.

Einzig in ihrem Kollegen Daniel findet sie einen Vertrauten, zumal er nicht minder fasziniert ist von ihr, ihrem wilden, ungestümen Wesen, egal wohin die Liaison sie beide führt, gegen wen sie sie aufbringt, was sie in ihrer Zerstörungswut mit sich in den Abgrund reißt, schließlich ist Marie ein Werwolf, der jüngste in einer langen Familientradition. Und das kontrollierte, unscheinbare Leben schon bald nur mehr ein Schatten der Vergangenheit.

Die offensichtlichen Pubertäts-Metaphern der forcierten Körper-Verwandlung rücken „When Animals Dream“ zunächst in die Nähe von „Carrie“ und ähnlicher gewaltsamer Coming-of-Age-Prozesse. Der Horror des Fremden im eigenen, erblühenden Körper wird zudem noch verstärkt, gespiegelt und limitiert durch den Verfall der vermeintlich engsten Vertrauten, Maries Mutter, und der zunehmenden Hilflosigkeit ihres Vaters. Aber Regiedebütant Jonas Alexander Arnby ist keineswegs an einem grellen Effektspektakel interessiert oder einer Bloßstellung seiner Protagonistin, stattdessen durchzieht eine wohlwollende Empathie die vielerorts sattsam bekannte Geschichte, eine bewusste Nähe zu seiner, ja, Heldin, die gegen Ignoranz und dumpfe Intoleranz aufbegehrt. Dies wäre an politischer Agenda allerdings das höchste der Gefühle, das eine entsprechende Lesart offenbart.

Denn vordergründig ist „When Animals Dream“ ein lupenreiner, ziemlich geradliniger Genrefilm, der seine Hauptattraktion aus der Inszenierung einer atmosphärischen Dichte zieht, die ihn bisweilen in die Nähe des artverwandten schwedischen Vampirhorrors von „Let The Right One In“ rückt, jedoch ohne jemals dessen existenzialistische Tiefe und Beklemmung zu erreichen. Dafür spult Arnby manche Stereotypen des Genres zu generisch und lieblos herunter, anstatt sich durchgängig den Eigensinn zu bewahren, den seine Protagonistin so eindrucksvoll aufrechterhält. Umso erlesener sind dagegen die Bildkompositionen des Kameramanns Niels Thastum, der in jeder Situation stimmige Bilder für die Wildheit und Zerrissenheit Maries und auch für ihre Verlorenheit findet. Newcomerin Sonia Suhl bewältigt ihre anspruchsvolle Rolle mit einer ebensolchen Souveränität und einem Selbstbewusstsein, das sich in der Haltung des Films an sich widerspiegelt: aufrecht und unbeugsam, auch ein wenig schroff, aber nie leidenschaftslos.

Für einen Low-Budget-Erstling also, für einen Werwolf-Thriller aus einem Land mit einer langen Filmtradition im sozialen Realismus – die man auch hier deutlich spürt – ist „When Animals Dream“ letztlich ein durchaus beachtlicher Beitrag, der sich an den Referenzwerken des Genres zwar längst nicht messen kann und es vermutlich auch gar nicht will, aber in seiner europäischen Arthouse-Nische seinen Platz finden kann und vor allem als Talentprobe eines vielversprechenden Regieneulings für die zukünftigen Projekte einiges erwarten lässt.

Night Moves

(USA 2013, Regie: Kelly Reichardt)

Wettlauf gegen die Zeitbombe
von Andreas Thomas

Drei Leute sitzen in einem Pickup und fahren durch die Nacht. Sie sind außer Atem. Nach einer kurzen Weile hören sie das Geräusch einer Explosion, kurz darauf ein etwas leiseres, …

Drei Leute sitzen in einem Pickup und fahren durch die Nacht. Sie sind außer Atem. Nach einer kurzen Weile hören sie das Geräusch einer Explosion, kurz darauf ein etwas leiseres, entfernteres Grollen. Sie freuen sich, denn sie haben soeben ein Loch in einen Staudamm gesprengt.

Die Art, in der diese Szene in etwa der Mitte des neuen Films von Kelly Reichardt geschnitten oder besser ungeschnitten ist, verrät viel über den Stil des ganzen Films. Vordergründig steht der Erfolg oder Misserfolg des Anschlags im Mittelpunkt des Interesses der Figuren, des Films und wahrscheinlich auch der Zuschauer. Tatsächlich gibt sich Reichardt viel Mühe, im Thriller-Genre zu bleiben, indem sie einen regelrechten Wettlauf gegen die Zeitbombe inszeniert, aber in einem Moment, wo nach Genre-Standard eine gewaltige Explosion zu sehen wäre, da bleibt dieser Film bei den Figuren, meistens übrigens bei der Hauptfigur, Josh, gespielt von Jesse Eisenberg, über dessen Bewegungen – und bei ihm sind auch die Bewegungen seiner Gedanken in seinem Gesicht ablesbar – wir die Geschichte, und so wird es besonders seine Geschichte, vor allem vermittelt bekommen.

Es gibt (mindestens) zwei Dramen in „Night Moves“, das eine ist das Aufbäumen dreier relativ junger Umweltaktivisten gegen die Zerstörung der Natur, das andere ist das Dilemma und die inneren Konflikte der Figuren (neben Eisenberg Dakota Fanning und Peter Sarsgaard) mit ihrer nicht nur im Positiven folgenschweren Tat. Davon handelt der lange und eher düstere zweite Teil des Films, über dessen Kernhandlung hier nicht viel verraten werden soll.

Eine Atmosphäre der Resignation und der Stagnation, in fast allen Reichardt-Filmen liegt sie über dem Geschehen; vielleicht ist sie und ihre Vermittlung und Sichtbarmachung sogar eine der zentralen Absichten der Regisseurin, zugleich also eine Sensibilisierung nicht nur dafür, dass die Folgen der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Maximen inhuman und unverantwortbar sind, sondern auch dafür, wie klein der Handlungsspielraum eigentlich nur noch ist, den so genannte Weltverbesserer überhaupt noch haben, mit anderen Worten: Das langsame Verschwinden des Engagements und der Solidarität.

Das war in „Old Joy“ (2005) spürbar, wo sich zwei alte Freunde auf einen Wochenendtrip begeben, um dort festzustellen, dass sie offenbar ihre Träume oder Ideale verloren haben (übrigens viel subtiler, als ich das hier formuliere), in „Wendy und Lucy“ (2008) spürt man förmlich die Kälte einer Gesellschaft, die den Begriff „Freiheit“ nur damit gleichsetzt, dass die Schwachen das Recht darauf haben, alleine vor die Hunde zu gehen und in „Meek‘s Cutoff“ (2010) werden schon in ihrer Klarheit wunderbar exemplarisch die Prinzipien Gewalt/Unterdrückung/Ausbeutung und Vertrauen/Solidarität/Kooperation so einander gegenüber gestellt, dass man quasi anprobieren kann, wie verschieden sie sich anfühlen.

Und nun verhandelt „Night Moves“ anhand dreier radikaler Aktivist/innen, ob und wie heute überhaupt Widerstand funktionieren kann, angesichts, und da ist der Film auf der Höhe unserer NSA-Gegenwart, eines totalen Überwachungssystems, das ja nach Edward Snowdens Aussagen praktisch jeden und alles in der Welt bespitzeln und belauschen kann. Und so ist es folgerichtig, dass das Verhalten Joshs zunehmend von Paranoia diktiert wird, einer Paranoia, die von Beginn an im Film zu spüren ist. Überall sind Überwachungskameras, Handy-Telefonate können verräterisch sein, an jeder Ecke, durch jeden Menschen lauert Gefahr. Das Gefühl wird auch genährt durch den minimalistischen, bedrückenden Soundtrack, der fast durchgehend unterlegt ist.

„Night Moves“ ist ein Film über die schiere Unmöglichkeit, die Welt vor ihrem Niedergang zu retten und ein Film über die Auflösung politischen Widerstandes. Man kann ihn thematisch einreihen in eine Linie mit Filmen wie Antonionis „Zabriskie Point“(1969) oder Bressons „Der Teufel möglicherweise“(1977). Diesen drei Filmen gemein ist übrigens auch, dass zu Beginn ein ideologischer Background vermittelt wird. Bei „Zabriskie Point“ ist es eine verfahrene Diskussion unter streikenden Studenten, bei „Der Teufel möglicherweise“ sorgt die Aufführung eines Umwelt-Dokumentarfilms für die Etablierung des Status Quo, und der gleichen Methode bedient sich auch Reichardt in „Night Moves“. Aber nicht nur ihr Thema ist ähnlich, auch Reichardts Souveränität – und ihr Pessimismus – stehen denen ihrer Vorgänger in nichts nach.

Strand der Zukunft

(BR / D 2014, Regie: Karim Ainouz)

Ertrunkene Männer und verschluckte Melodramen
von Carsten Moll

Nach einer absurd lang anmutenden Auflistung all der Institutionen, welche mit ihren Fördergeldern die Entstehung dieser deutsch-brasilianischen Koproduktion erst ermöglicht haben, fluten endlich Bild und Sound die Leinwand: Zum düster …

Nach einer absurd lang anmutenden Auflistung all der Institutionen, welche mit ihren Fördergeldern die Entstehung dieser deutsch-brasilianischen Koproduktion erst ermöglicht haben, fluten endlich Bild und Sound die Leinwand: Zum düster pumpenden Suicide-Song „Ghost Rider“ schwenkt die Kamera über den titelgebenden Strand an der brasilianischen Atlantikküste und folgt aus der Distanz zwei Motorradfahrern auf ihrem Weg durch Dünen und Windkraftanlagen. Alles ist Energie und Bewegung, die beiden Gestalten in der Ferne treibt es immer weiter den Strand entlang, runter von ihren Maschinen und schließlich rein in den endlosen Ozean. Selbst hier gibt es kein Halten, noch im Spurt Richtung Wasser werden die Klamotten von den Leibern gestreift.

Der Bruch, den der folgende Schnitt mit sich bringt, könnte härter nicht sein: Der Drive nach Vorne wird zu einem hilflosen Zappeln, der Soundtrack verstummt und statt des weitläufigen Panoramas des establishing shots bleibt nur ein trüber Blick auf einen leblosen Körper, der langsam von der Meeresströmung davon getrieben wird. Mit einem Ertrinkenden endet dieser Prolog, der zugleich auch eindrucksvoll das Prinzip von „Praia do Futuro“ demonstriert. Denn das Taumeln zwischen überlebensgroßer Melodramatik und realitätsnaher Ernüchterung zieht sich – wenn auch nicht so im Extrem ausgespielt wie in der Exposition – als Masche durch den gesamten Film.

Anhand von drei mit eigenen Titeln versehenen Akten erzählt Regisseur und Drehbuchautor Karim Aïnouz von dem Deutschen Konrad (Clemens Schick), der seinen besten Freund am Praia do Futuro verloren hat, und dem Rettungsschwimmer Donato (Wagner Moura), der nicht in der Lage war, besagten Freund vor dem Ertrinken zu retten. Die gemeinsame Suche der beiden Männer nach dem Leichnam des Ertrunkenen gerät dabei schnell zugunsten einer schwulen Liebesgeschichte in den Hintergrund – so abrupt und hart wie vom ersten Aufeinandertreffen der zwei Fremden im Krankenhaus zu deren Fick im Auto geschnitten wird, so plötzlich springt der Film im zweiten Akt in ein gespenstisch graues Berlin und mitten in den Beziehungsalltag von Konrad und Donato.

Dem Melodram – auf das sich „Praia do Futuro“ allein vom Inhalt her abstrahieren ließe und das Aïnouz mit der Inszenierung von uferlosen Seelenlandschaften und eng kadrierten Innenräumen bisweilen durchaus bedient – werden so durch Abschweifungen sowie durch Zeitsprünge und Ellipsen die ganz großen Gesten und Gefühlsausbrüche immer wieder ausgetrieben. Die Konflikte wirken wie verschluckt und hallen wie der Tod des Ertrunkenen bloß noch unter der Oberfläche nach. Dass sich Aïnouz dabei sowohl einer schlüssigen Charakterentwicklung als auch einer stringenten Dramaturgie verweigert, lässt sich einerseits bemängeln, ermöglicht dem Film im gleichen Zug aber auch seinen selbstbewussten Umgang und den radikalen Bruch mit melodramatischen Konventionen.

Denn wo das Melodram typischerweise im Exzess aufgeht und aus der Unangemessenheit der Gefühle ein tragisches Scheitern der Helden erfolgt, da entwickelt sich „Praia do Futuro“ besonders im zweiten Akt zu einem eher unaufgeregten Beziehungsfilm, der homosexuelle Intimität zwischen Frühstückstisch und Clubnächten einfängt. Das erinnert mit seinem post-emanzipatorischen Gestus und den betont beiläufig vor der Kamera baumelnden Schwänzen stark an den schwulen Neorealismus, mit dem Filmemacher wie Ira Sachs („Keep the Lights On“, 2012), Andrew Haigh („Weekend“, 2011) und Travis Mathews („I Want Your Love“, 2012) in den letzten Jahren auf sich aufmerksam machten.

Erst im dritten und finalen Akt taucht gemeinsam mit Donatos Bruder (Jesuita Barbosa) auch das Melodram wieder auf: Mit der Ankunft des Heranwachsenden Ayrtons, der noch ein Hühnchen mit seinem älteren Bruder zu rupfen hat, werden die Dialoge metaphernschwer, die Settings expressiver und das Konfliktpotenzial in Donatos gelebter Homosexualität präsenter. Dass man sich darauf nur bedingt einlassen und dem Film seine Konflikte nicht immer abkaufen will, ist dabei sicherlich auch Aïnouz‘ fragmentarischer Erzählweise geschuldet, die eher in vage Stimmungen und eine dichte Atmosphäre investiert als in nachvollziehbare Handlungen und glaubwürdige Figuren.

Monsieur Claude und seine Töchter

(F 2014, Regie: Philippe de Chauveron)

Du glückliches Frankreich, heirate!
von Lukas Schmutzer

Hochzeiten bieten Komödien einen großartigen Stoff, lassen sich um die aufgebauschten Feiern doch allerlei Streitereien, Intrigen und Skandale konstruieren, die entweder wie ein Damoklesschwert über der herannahenden Zeremonie schweben, oder, …

Hochzeiten bieten Komödien einen großartigen Stoff, lassen sich um die aufgebauschten Feiern doch allerlei Streitereien, Intrigen und Skandale konstruieren, die entweder wie ein Damoklesschwert über der herannahenden Zeremonie schweben, oder, andersherum, denen quasi durch die herannahende Hochzeit als Damoklesschwert ein gewaltsames Ende angedroht wird. So oder so fordert die Hochzeit eine Lösung von Problemen, die durch die Konfrontation von Interessen, Klassen oder Begehren entstanden sind. „Monsieur Claude und seine Töchter“ konfrontiert Kulturen.

Das konservative, wohlhabende, in Chinon an der Loire lebende Ehepaar Claude und Marie Verneuil hat vier Töchter; drei dieser Töchter heiraten zu Beginn des Films allochthone Männer von unterschiedlicher Religion: einen Chinesen, einen Araber, einen sephardischen Juden. Dies missfällt Claude, der seine Töchter am liebsten in den Händen von katholischen, weißen, erfolgreichen Männern sehen würde. Aufgrund der rassistischen Vorurteile, die Claude bei einem Familientreffen in überheblich-chauvinistischer Manier vorträgt – brillant gespielt von Christian Clavier –, kommt es zu einem ersten Eklat, der die Spannungen in einer Familie offenlegt, in der die Männerwahl der jungen Generation wenn nicht als Zufall, so auch als unbewusster Protest gegen die väterlich-konservative Ordnung gelesen werden könnte. Doch sind es nicht nur die Vorurteile des Gaullisten Claude, sondern auch jene der Schwiegersöhne untereinander, die für allerlei Streit sorgen; selten werden politische Inkorrektheiten derart amüsant inszeniert.

Laure, die letzte unverheiratete Tochter, liebt mit Charles einen Schauspieler, der schwarz ist und von der Elfenbeinküste stammt. So haben auch die wundervoll peinlichen Versuche der verzweifelten Eltern, ihre Tochter mit einem Mann nach ihrem Bilde zu verkuppeln, keine Zukunft, und alles steuert auf eine Hochzeit zu, die vor allem deshalb Sprengstoff birgt, weil auch der Vater des Bräutigams von Ressentiments behaftet ist, die ihrer Art nach denen Claudes sehr ähnlich sind. Die solchermaßen prekäre Lage ruft auch noch einmal die Schwiegersöhne auf den Plan, welche sich in ihrem eigenen, hart erkämpften Status bedroht fühlen und eine gemeinsame Front errichten, die sich erstmals über die Familienbande definiert und jene Fremdheit ausgrenzt, die noch nicht deren Teil geworden ist. Auf der anderen Seiten beginnen sich die Fronten der Väter aufzulösen, wenn endlich das geschieht, was von vornherein angelegt war: wenn die Rassismen im Witz zum bloßen Gewand werden, das sich abstreifen lässt.

Angesichts des Wahlerfolges des rechtsrechten Front National in Frankreich kann dieser Film als der Versuch gelesen werden, den Franzosen schlicht „trotzdem vertragen wir uns am Ende alle“ zu sagen und damit dort zu beschwichtigen, wo eigentlich diskutiert werden sollte. Eine solche Lesart, meine ich, vergisst aber das Potential, das die Dialoge einer solchen Konstellation bereithalten: Hier werden Klischees und Gemeinheiten aufeinander losgelassen, über die gelacht werden kann, während sie in anderen Kontexten unsagbar oder grob verletzend wären. Gerade weil Komödien ihre Figuren nicht immer ernst nehmen müssen, lachen wir über und mit den Kulturen und beginnen so, uns über unsere eigenen Ressentiments und über den verletzten Stolz zu erheben.

Die Klischees und Gemeinheiten, die in den Ring geschickt werden, sind allerdings tatsächlich nicht viel mehr als solche; darin liegt auch ein Problem des Films: Die Komik bleibt im Ganzen etwas platt und die Handlung ist vorhersehbar. Zwar setzt der Film noch einige weitere Zeichen, die sich der französischen Wählerschaft einprägen mögen, etwa, wenn er die Schwiegersöhne Verneuils voller Pathos die Marseillaise singen lässt. Dass mit den so genannten „kulturellen Differenzen“ im öffentlichen Bewusstsein zuweilen nur weitaus komplexere Probleme verdeckt werden, das wird leider aber nur am Rande angedeutet.

Kofelgschroa. Frei. Sein. Wollen.

(D 2014, Regie: Barbara Weber)

Bayerische Wurstigkeit und ein Hauch von Punk
von Nicolai Bühnemann

Wo und wann sie angefangen haben, gemeinsam Musik zu machen, wissen die vier Mittzwanziger auch nicht mehr so genau. Jedenfalls gründeten Matthias Meichelböck, die Brüder Martin und Michael von Mücke …

Wo und wann sie angefangen haben, gemeinsam Musik zu machen, wissen die vier Mittzwanziger auch nicht mehr so genau. Jedenfalls gründeten Matthias Meichelböck, die Brüder Martin und Michael von Mücke und Maxi Pongrath 2007 die Blasmusik-Gruppe 'Kofelmusik', benannt nach dem Kofel, dem Hausberg der oberbayerischen Gemeinde Oberammergau, aus der sie stammen. Die Namensänderung geht auf eine Bemerkung des dortigen Gemeindegärtners zurück, bei dem Maxi seine Lehre machte. Als er von der musikalischen Tätigkeit seines Lehrlings erfuhr, soll er gesagt haben: „Des werd scho so a Gschroa sein.“

Ursprünglich spielten die vier mit Tenorhorn, Helikontuba, Flügelhorn und Akkordeon traditionelle Volksmusik. Mit der Zeit wurde ihr Sound eigensinniger – und sie, auch über Bayern hinaus, zu einem Geheimtipp. 2012 veröffentlichten sie ihr erstes Album „Kofelgschroa“. Ihren stets in bayerischer Mundart gehaltenen Texten wird oft eine „dadaistische“ Note nachgesagt. Für Kategorisierungen ihrer speziellen Mischung aus Volksmusik und Pop haben sie sich noch nie sonderlich interessiert. Auf ihrer Internetseite bezeichnen sie sich als „Freizeit-Musiker mit jeder Menge Freizeit“ und über ihre Musik heißt es dort: „Wir spielen gerne Wechseltakte, Mollakkorde und lange Stücke. Die Texte werden geredet, gesprochen, gesungen, oft versetzt und wiederholt. Spontan und bedingungslos spielen, überraschen und dabei belauscht werden, das sind unsere Triebfedern.“

Für den Dokumentarfilm „Kofelgschroa. Frei. Sein. Wollen.“ hat die Regisseurin Barbara Weber die Band drei Jahre lang begleitet. Auf dem Fahrrad oder im charmanten achtziger Jahre-VW-Bus. Bei Proben und auf der Bühne. Bei ihren „Brotjobs“ in einer Schmiede oder auf einem Ziegenhof. Ausführlich spricht sie mit ihnen über einen Lebensinhalt jenseits des Geldverdienens, über die Unterschiede des Lebens auf dem Land und in der Stadt, über Selbstzweifel und das Abwägen zwischen der Musik und einem anderen Beruf.

Herausgekommen ist eher ein dokumentarischer Coming of Age-Film als eine Musikdoku. Vielleicht verdeutlicht sich das am besten in der Mitte des Films, wenn es darum geht, wie sich die Gruppe vorübergehend getrennt hat. In Texttafeln vor Fotos der einzelnen Mitglieder wird berichtet, was sie in der Zeit ohne Kofelgschroa unternommen haben. Sie sind um die Welt gereist, haben sich in Berlin als Straßenmusiker versucht oder geheiratet. Dann taten sie sich wieder zusammen, um weiter gemeinsam Musik zu machen. Von den gängigen Band-Klischees über Streit und Comeback keine Spur.

In der letzten halben Stunde, wenn die Bühnen größer werden und der Weg zu ihnen nicht mehr durch Alpenpanoramen, sondern über die Reeperbahn oder regennasse Berliner Straßen führt, geht es auch um den Erfolg und wie man mit ihm umgeht. So wenig wie sich ihre Musik in gängige Kategorien fügt, scheinen sie sich auch aus dem Rummel der Musikbranche zu machen. In Interviews wird ihre urbayerische Wurstigkeit zu einem Duktus der Rebellion. Die konsequent durchgehaltene Verweigerungshaltung besitzt einen Hauch von Punk. Nur ist das offensichtlich keine bewusst eingesetzte Attitüde. Auf die Frage nach dem schönsten Platz von Oberammergau („Da, ganz im Nord-Osten“) oder zur Zitronenvorlage des Tequila-Witzes haben die Vier – verständlicherweise – einfach keinen Bock.

Dass über sie nun ein Film gemacht werde, sei schon komisch, sagt einer am Beginn. Es gebe da doch eigentlich nicht mehr zu erzählen als über irgendjemand anderen. Damit sind die Qualitäten sowohl der Band als auch des Films auf den Punkt gebracht. „Kofelgschroa. Frei. Sein. Wollen.“ ist ein ruhiges, einfühlsames und angenehm unaufgeregtes Portrait einer angenehm unaufgeregten Band.

Der auf dem DOK.fest München uraufgeführte Film wird ab dem 7. August 2014 in Bayern in die Kinos kommen. Aufführungen in Berlin, Hamburg und anderswo sind in Vorbereitung.

Die langen hellen Tage

(GE / F / D 2013, Regie: Nana Ekvtimishvili, Simon Groß)

Brot und Kriege
von Nicolai Bühnemann

Der Weg des täglichen Brotes. Von der langen Schlange an der Ausgabestelle, wo die Menschen sich drängeln, in wüste verbale, dann auch handgreifliche Auseinandersetzungen über die Reihenfolge der Wartenden geraten, …

Der Weg des täglichen Brotes. Von der langen Schlange an der Ausgabestelle, wo die Menschen sich drängeln, in wüste verbale, dann auch handgreifliche Auseinandersetzungen über die Reihenfolge der Wartenden geraten, holen die beiden vierzehnjährigen Protagonistinnen des Films, Eka (Lika Babluani) und Natia (Mariam Bokeria), die Ration Brot für ihre Familie ab. Auf dem Weg nach Hause lauern Eka zwei Jungs auf, machen sie an und schubsen sie. Eines der Brote fällt zu Boden. Zuhause in der Küche schneidet sie die Ecke ab, die dreckig geworden ist, wirft sie in den Müll, legt die beiden Laibe in den Brotkorb. Die Brote Natias sehen wir schließlich auf dem Esstisch der Familie, wo der betrunkene Vater sie, ihre Mutter und ihre Großmutter terrorisiert. Als die Mutter sich wehrt, kommt es zu Handgreiflichkeiten, schließlich zu Geschrei und Scherben in der Küche.

Dass sich gerade anhand des Weges eines täglichen Nahrungsmittels auf den Tisch so viel von den sozialen Realitäten ablesen lässt, von denen Simon Groß‘ und Nana Ekvtimishvilis „Die langen hellen Tage“ erzählt, ist in mehrfacher Hinsicht bezeichnend für diesen Film. Es geht in der Coming-of-Age-Geschichte, angesiedelt im postsowjetischen Georgien im Tiflis des Jahres 1992, um eine soziale Situation, in der es gerade Brot auf dem Tisch gibt, aber kaum viel mehr, und um zerrüttete Familien in einem zerrütteten Land, um patriarchale Macht- und Gewaltverhältnisse. All das versucht der Film so alltäglich wie möglich abzubilden, aus der sehr eng gefassten Perspektive zweier adoleszenter Mädchen. Es ist dieser Perspektivierung geschuldet, dass die militärischen Konflikte in Abchasien zwar immer wieder über Radioberichte oder Dialoge in die Welt des Films eindringen, die Gewalt, von der der Film durchsetzt ist, aber anderer Art ist. Es ist die sozial tradierte Gewalt des Patriarchats. Vom saufenden Schlägervater bis zu den an den Straßenecken herumlungernden Jungs. Von der Zwangsheirat bis zum Mord aus Eifersucht.

Ebenso liegt es jedoch an der Perspektivierung der beiden Mädchen, dass „Die langen hellen Tage“ über weite Strecken ein – nicht nur, aber auch visuell – sehr schöner Film ist. Was das Leben in einem System, das sie unterdrückt und ihrer Selbstbestimmung beraubt, nicht nur erträglich macht, sondern immer wieder mit kurzen Momenten schieren Glücks durchsetzt, sind die kleinen Akte der Rebellion. Die Freundschaft untereinander, das Liedersingen, Zigarettenrauchen und Tratschen, der gemeinsame Ausbruch aus dem autoritär regierten Klassenzimmer zum Vergnügen auf dem Autoscooter. Das Tiflis, durch das die Kamera den beiden Mädchen folgt, oft dicht an ihren Körpern, ist eine Stadt des bröckelnden Putzes, der vergilbten Wände und zersplitterten Kacheln, des brüchigen Betons und der trostlosen Trabantenstadtfassaden. Und doch leuchtet diese Stadt immer wieder in hellen Tönen in der Sonne, ringt ihr der prasselnde Regen eines Sommerwolkenbruchs eine geradezu verwunschene Schönheit ab.

Das Brot, mit dem ich diesen Text begonnen habe, ist aber auch kennzeichnend für die Art des Films, den Dingen einen besonderen Stellenwert in der Handlung einzuräumen. „Die langen hellen Tage“ ist auch ein Film über das Brot, über den Reisepass und einige andere Gegenstände, die Eka immer wieder aus einem Kistchen holt und von denen wir erst nach und nach erfahren, dass sie mit ihrem inhaftierten Vater zusammenhängen. Schließlich und vor allem ist es ein Film über eine Pistole. Die Pistole, die Natia eines Nachmittags von einem Verehrer geschenkt bekommt, der nach der Schule auf sie wartet. Geheimnisvoll fordert er sie auf, ihm an einen unbeobachteten Ort zu folgen, ihre Augen zu schließen. In der Situation, in der man mit Zudringlich- oder Zärtlichkeiten rechnet, überreicht er ihr feierlich eine in ein Handtuch gewickelte Schusswaffe.

Die Pistole, die im Folgenden immer wieder die Hände wechseln wird, gibt den Mädchen ein neues Selbstbewusstsein inmitten einer von maskuliner Gewalt beherrschten Welt. Auf den Punkt gebracht wird das in einer Szene, in der Eka erneut an der Unterführung vorbeikommt, wo ihr die beiden Straßenkinder auflauerten und nun einen anderen Jungen brutal zusammenschlagen. Das Mädchen geht zunächst an ihnen vorbei; zu sehen ist sie nur als Silhouette vor dem Hintergrund der Straße im strömenden Regen. Als sie aus der Unterführung ins Freie tritt, fällt ein Lichtschimmer auf ihr Gesicht. Sie dreht sich um und bringt die beiden Jungs mit vorgehaltener Waffe dazu, von ihrem Opfer abzulassen. Doch die aus dem Genre-Kino hinlänglich bekannte Ermächtigungsphantasie des girl with a gun bleibt aus. Letztlich wird sie den beiden Mädchen nicht dazu dienen, die Gewalt umzukehren, noch kann sie ihre Freundschaft vor den erdrückenden Verhältnissen retten. Die Pistole landet schließlich im See, ohne dass aus ihr ein Schuss abgegeben wurde. Damit endet der Film dann doch hoffnungsvoll.

„Die langen hellen Tage“ ist Ekvtimishvilis abendfüllendes (Co-)Regie-Debüt. Auch das Drehbuch stammt von ihr und ist zumindest insofern autobiographisch, als auch sie vierzehn war im Sommer 1992 in Tiflis. Souverän gelingt ihr die Gratwanderung zwischen einer sehr einfühlsamen Darstellung einer Jugend, die sich vor einer spezifischen, zarten Form der Nostalgie nicht versperrt, und einer ungeschönten Bestandsaufnahme der Verhältnisse einer von Gewalt zerfressenen Gesellschaft.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Die langen hellen Tage'.

Amma & Appa

(D 2014, Regie: Franziska Schönenberger, Jayakrishnan Subramanian)

The Chutneyfication of Kartoffelsalat
von Carsten Moll

Der große Knall bleibt in dieser Culture-Clash-Doku trotz einer dramaturgisch vielversprechenden Prämisse aus, die doch wenigstens für Kulturessenzialisten das Potenzial zum Kulturschocker haben dürfte. Zutiefst entsetzt ist zumindest das Ehepaar …

Der große Knall bleibt in dieser Culture-Clash-Doku trotz einer dramaturgisch vielversprechenden Prämisse aus, die doch wenigstens für Kulturessenzialisten das Potenzial zum Kulturschocker haben dürfte. Zutiefst entsetzt ist zumindest das Ehepaar Subramanian aus dem südindischen Bundesstaat Tamil Nadu, als es erfährt, dass Sohnemann Jay sich ausgerechnet in die Filmstudentin Franziska aus München verliebt hat und zu allem Übel eine Liebesheirat mit der Deutschen plant. Und auch deren traditionsbewusste Eltern hätten sich wohl einen anderen Mann für die Tochter gewünscht; während seine Franzi vom bunten Indien schwärmt, gibt Vater Albert freimütig zu, dass ihm der Schwiegersohn in spe eigentlich zu schwarz ist und verkneift sich schmunzelnd gerade noch eine rassistische Bezeichnung für „die Dunkelhäutigen“. Doch da die Liebe ja bekanntlich grenzenlos ist und die Kinder stur auf ihr Glück beharren, kommt es, wie es kommen muss: Die Bayern machen sich mit Dirndl und Lederhose im Gepäck auf in die tamilische Hafenstadt Cuddalore, um auf ihre Art zur Völkerverständigung beizutragen.

Als krampfhaft auf Charme getrimmte Komödie inszeniert das Regie- und Liebespaar Franziska Schönenberger und Jayakrishnan Subramanian ein eigenes Stück Biografie, aber vor allem das Aufeinandertreffen der beiden Elternpaare. Denn während zu Beginn noch Franziska und ihr erster Besuch bei den Subramanians im Fokus stehen, verabschieden sich die beiden jungen Filmemacher mehr und mehr hinter die Kamera. Der zurückhaltende Jay bleibt als Protagonist fast über die gesamte Laufzeit hinweg vollkommen abwesend, seine Freundin zieht sich schließlich ins Off zurück und kommentiert in einem Tonfall, der seine Zuhörer für nicht ganz zurechnungsfähig zu halten scheint, das wenig komplexe Geschehen auf der Leinwand. Das wiederum wird ganz von der freundlichen Annäherung der Ehepaare Schönenberger und Subramanian beherrscht, die sich beide viel zu gut aufeinander vorbereitet haben, als dass es hier zum Zusammenprall der Kulturen oder so etwas wie Spannung kommen könnte: Jays Familie aus der indischen Mittelschicht hat extra für die deutschen Gäste eine Klimaanlage, eine westliche Toilette und einen Esstisch besorgt, wohingegen Mutter Schönenberger von vorneherein klar ist, dass das Leben in Indien kein Bollywoodfilm ist. Die Missverständnisse, Konflikte und Irritationen bleiben überschaubar und so erzählt „Amma & Appa“ ziemlich ereignislos ein paar harmlose Urlaubsanekdoten, die letzten Endes nicht viel mehr vermitteln, als dass es im exotischen Indien auch bloß halb so wild zugeht.

Richtig zünden mag auch die filmische Umsetzung des Familientreffens nicht, obwohl Schönenberger und Subramanian sichtlich um Originalität und Abwechslung bemüht sind. Geradezu sprunghaft wechselt der Film von konventionellen Interviewszenen zu mit indischen Liebesschnulzen unterlegten Super-8-Aufnahmen oder bunten Animationen. Dass diese Einschübe in ihrer Häufung rasch ermüdend wirken und als Illustration des Offensichtlichen redundant sind, ließe sich vielleicht verschmerzen, wenn sie nicht so hartnäckig zum flachen Feelgood-Faktor des Dokumentarfilms beitragen würden. Denn der gut gelaunte und locker-flockige Ton von „Amma & Appa“ erweist sich spätestens dann als geschmacklos, wenn im interkulturellen Brei nicht nur die Tamilen zu den Bayern Indiens und hinduistische Prozessionen zum Schützenfest erklärt werden. Durch die unreflektierte Herangehensweise der beiden Filmemacher, die alle Differenzen und Kontexte einfach ausblendet, kommt es immer wieder zu fragwürdigen Schlüssen: Deutscher Rassismus und indisches Kastendenken sowie Vernunftehen und Zwangsverheiratungen relativieren sich gegenseitig bis zur Bedeutungslosigkeit.

In Gestalt von Jays Mutter Viruthambal, der mit Abstand interessantesten Figur in „Amma & Appa“, wird diese Marginalisierung zugunsten leicht verdaulicher Unterhaltung besonders schmerzhaft deutlich. Im Rahmen der von den beiden Regisseuren und Drehbuchautoren evozierten Culture-Clash-Komödie bleibt der unbeirrt an ihren Traditionen festhaltenden Frau nur die Rolle einer urigen Witzfigur. „Alles ist verloren“, sagt sie einmal und im Gegensatz zu ihrem Mann kann sie sich nicht einfach damit abfinden, dass ihr Sohn sie verlässt. Jay, dieser seltsam abwesende Protagonist, bleibt auch hier stumm und mit ihm zusammen mag auch der Film keine Haltung zum Leid seiner Mutter einnehmen. Über deren Unversöhnlichkeit fegen die bunten Bilder einfach hinweg und landen zum Finale dort, wo sie vermutlich am besten aufgehoben sind: auf dem Rummel beim Oktoberfest.

A Most Wanted Man

(USA / GB / D 2013, Regie: Anton Corbijn)

Der Spion, der es versiebte
von Nicolai Bühnemann

Philip Seymour Hoffman, der leider im Februar verstarb, ist in seiner letzten Hauptrolle tatsächlich eine gespenstische Erscheinung. Von der Leinwand herab scheint er aus der Vergangenheit des Kinos zu uns …

Philip Seymour Hoffman, der leider im Februar verstarb, ist in seiner letzten Hauptrolle tatsächlich eine gespenstische Erscheinung. Von der Leinwand herab scheint er aus der Vergangenheit des Kinos zu uns herüberzuwinken. Dezent übergewichtig, ergraut, kettenrauchend, den Kaffee schwarz und den Whiskey pur trinkend, spioniert er sich durch ein Hamburg, das seinesgleichen ebenfalls am ehesten in Filmen vergangener Dekaden findet. In Roland Klicks Meisterwerk „Supermarkt“ etwa oder in Peter Kerns Regiedebüt „Crazy Boys – Eine Handvoll Vergnügen“. Durch das beständige Schmuddelwetter ist die Stadt grau in grau gehalten. Auf den Straßen stapeln sich die Müllsäcke und der regennasse Asphalt spiegelt die blinkenden Leuchtreklamen der Sexshops. Hier konkurrieren schummrige Astra-Kneipen mit Moscheen, Obst- und Gemüsehändler und Dönerbuden – schließlich spielt der Film über weite Strecken in der muslimischen Community der Stadt. Was daran doch etwas abgedroschenes Klischee ist, wird durch eine überbordende Liebe zum Detail wettgemacht. In dieser Stadt sind sogar die Hochgeschwindigkeitszüge dreckig grau und im vollgetaggten Hauseingang prangt das Klingelschild mit überwiegend türkischen und arabischen Namen.

Wir haben also einen Film Noir-Helden in einer Film Noir-Stadt. Um die nerdig postmoderne filmhistorische Patina geht es „A Most Wanted Man“ aber gerade nicht. Vielmehr interessiert er sich tatsächlich für desillusionierte, verlorene Menschen inmitten einer kalten, indifferenten Umgebung. Was von den Idealen, die ein Mann wie Günther Bachmann (Hoffman) einmal gehabt haben mag, noch übrig ist, ist nur, dass er seinen Job als Spion für den deutschen Geheimdienst machen möchte, ohne dass es als Kollateralschaden angesehen wird, wenn Unschuldige dabei zwischen die Fronten geraten und auf der Strecke bleiben.

Genau darum geht es, als der Flüchtling Issa Karpov (Grigoriy Dobriygin), halb Russe, halb Tschetschene und gläubiger Moslem, nach Hamburg kommt, um an das Vermögen seines verhassten Vaters zu gelangen. Karpovs Eintreffen ruft sowohl den deutschen Geheimdienst als auch die CIA auf den Plan, die in ihm einen potenziellen Terroristen sehen und sich nach 9/11 keine Patzer erlauben wollen. Wo Bachmann von Karpovs Unschuld überzeugt ist, aber hofft, durch ihn an Hintermänner des Terrorismus zu gelangen, plädieren sowohl die Amerikaner als auch andere deutsche Behörden auf einen schnellen Zugriff. In das Netz der Intrigen und Verwicklungen sind auch der englische Banker Thomas Brue (Willem Dafoe) verwickelt, der für die Bank arbeitet, bei der Karpovs Vater sein Geld anlegte, und die junge engagierte Anwältin Annabel Richter (Rachel McAdams), die sich für die Rechte von Flüchtlingen einsetzt und ein besonderes Interesse für Karpov entwickelt.

So wie der distinguierte, rotweintrinkende Brue einen Kontrast zu dem Protagonisten bietet, steht den dreckigen Straßen die sterile, kalte Welt von Ministerien und Geheimdienstzentralen gegenüber. Die Figur McAdams zeigt, dass soziales Engagement gegen die Geheimdienstinteressen letztlich genauso wenig ausrichten kann wie die unorthodoxen Spionage-Methoden Bachmanns. In Nebenrollen ist übrigens allerlei deutsche Filmprominenz zu sehen. Nina Hoss spielt die Assistentin Bachmanns und Daniel Brühl darf in ein paar Szenen konzentriert auf Monitore starren.

Anton Corbijn inszeniert diese Geschichte auf manchmal doch arg behäbige Weise altmodisch. Auf Action und Thrills setzt sein Film nicht. Dass der vollkommen verstörte, durch Folter gezeichnete Karpov nicht die Gefahr ist, die die Geheimdienste in ihm sehen, ist ebenfalls schnell klar. Auch hier geht es dem Film um eine zerrüttete, durch und durch prekäre Existenz in einem System, in dem Menschen bloß „Marionetten“ sind, wie der deutsche Titel von John Le Carrés Romanvorlage „A Most Wanted Man' lautet. Durch den Bezug zum 11. September und den „Krieg gegen den Terror“ wird diese universale Geschichte über die Entmündigung des Menschen in einer konkreten Gegenwart verortet. Das, der gnadenlos pessimistische Schluss und der grandiose Leinwandabschied Hoffmans lassen über einige Längen und die Tatsache, dass die meisten anderen der vielen Figuren etwas blass bleiben, gerne hinwegsehen.

Concerning Violence

(DK / FI / SW / USA 2014, Regie: Göran Olsson)

'Die Dekolonisation ist immer ein Phänomen der Gewalt'
von Nicolai Bühnemann

(Frantz Fanon, 'Die Verdammten dieser Erde') Frantz Fanon wurde 1925 auf der Karibikinsel Martinique geboren. Der Psychiater, Politiker und Schriftsteller wurde mit seinen Büchern 'Schwarze Haut, weiße Masken' und 'Die …

(Frantz Fanon, 'Die Verdammten dieser Erde')

Frantz Fanon wurde 1925 auf der Karibikinsel Martinique geboren. Der Psychiater, Politiker und Schriftsteller wurde mit seinen Büchern 'Schwarze Haut, weiße Masken' und 'Die Verdammten dieser Erde' zu einem der wichtigsten Vordenker der post-colonial studies. Letzteres schrieb er in den letzten Wochen seines Lebens, bevor er 1961 mit nur 36 Jahren an Leukämie starb. Die Dringlichkeit dieses Buches liegt nicht nur in seiner Entstehungsgeschichte begründet. Man merkt ihm auch an, dass Fanon das Kolonialsystem mit seinen vielfachen Mechanismen der Ausgrenzung und Unterdrückung nicht als akademischer Außenstehender, sondern als direkt von ihm Betroffener beschreibt.

Göran Hugo Olssons Film 'Concerning Violence – Nine Scenes from the Anti-Imperialistic Self-Defence' ist quasi eine Verfilmung des ersten Kapitels von 'Die Verdammten der Erde', das auf Deutsch 'Von der Gewalt' heißt. Montiert werden historische Aufnahmen von den Befreiungskämpfen der MPLA in Angola 1974 oder dem Streik bei der schwedisch-amerikanischen Minen-Gesellschaft LAMCO in Liberia 1966, ein Interview mit Dr. Ph. Tonderai Makoni aus Zimbabwe, der von der Kolonialregierung eingekerkert und gefoltert wurde. Szenen aus dem Alltag der 'zweigeteilten Welt' (Fanon) des Kolonialismus mit ihren krassen Kontrasten zwischen den Kolonisierten und den Kolonialherren, zwischen schwarz und weiß, mit ihren immer klar abgesteckten Machtverhältnissen zwischen Bediensteten und Herrschern. Dazu liest Lauryn Hill, Aktivistin, Sängerin und Rapperin, Ausschnitte aus dem Text Fanons vor.

Dem Untertitel entsprechend ist der Film in neun Kapitel untergliedert, die sich etwa mit den Dekolonisationskriegen, den sozialen Gegensätzen oder dem Umgang mit den Streikenden bei LAMCO befassen. In einem geht es auch um die Rolle der Religion, über die Fanon schreibt: 'Die Kirche in den Kolonien ist eine Kirche von Weißen, eine Kirche von Ausländern. Sie ruft den Kolonisierten nicht auf den Weg Gottes, sondern auf den Weg des Weißen, auf den Weg des Herren, auf den Weg des Unterdrückers.' Das Interview mit einem schwedischen Missionarspaar in Tansania ist eine der interessantesten Szenen des Films, gerade weil das Machtverhältnis zwischen dem Mann und der Frau, die im Vordergrund in die Kamera sprechen, freundlich, engagiert, soft spoken, und den Männern, die im Hintergrund harte Arbeit verrichten, so perfide ist. Sie sagen, dass sie sich in den Jahren, die sie hier sind, sehr verändert haben, die 'natives' hingegen kaum, erzählen von dem starken Einfluss der Kirche auf die Seelen der 'Eingeborenen'. Gerade dass die beiden, die doch mit der Aufgabe betraut sind, den Afrikanern westliche Werte einzutrichtern, so gar nicht in das Bild böser Unterdrücker passen wollen, gibt einen Eindruck davon, wie tief der Kolonialismus die Vorstellung von der Verschiedenheit der Völker, von der Überlegenheit einer Kultur und Religion über andere Kulturen und Religionen in die Menschen einschreibt – und zwar unabhängig von ihrer Hautfarbe. Diese Szene gibt eine Ahnung davon, wie das Kolonialsystem funktioniert, dessen theoretische Grundlage die Ideologie von der Ungleichheit der Menschen ist und das in der Praxis immer weiter reale Ungleichheit produziert.

Gerade im letzten Drittel spart der Film nicht an drastischen Bildern, wie sie typisch sind, um das Elend der „dritten Welt“ zu zeigen. Es gibt einen schier endlosen tracking shot entlang an Reihen von zusammengekauerten, hungernden Menschen in einem afrikanischen Dorf. Bilder von zerfetzten Leichen aus dem Unabhängigkeitskrieg von Guinea/Bissau. Schließlich eine Frau, die bei Kriegshandlungen ihren Arm verloren hat und für die Kamera zunächst als 'schwarze Venus von Milo“ in Szene gesetzt wird, dann während sie ihrem Baby die Brust gibt als „schwarze Madonna mit dem Kinde'. In ihrer Einleitung zum Film verweist die indisch-stämmige Literaturwissenschaftlerin Gayatari Chakravorty Spivak anhand dieser Szene auf die Gender-Aspekte des Kolonialismus, in dem Kolonisierte und Kolonialherren oft einstimmig Frauen gewaltsam gendern und mit großem Pathos die Mutterschaft preisen. Auch in dem Kapitel über den Freiheitskampf der Frelimo in Mozambique wird die Rolle der Frauen im Befreiungskampf thematisiert, der für sie zugleich ein Kampf für Gleichberechtigung ist.

Darüber hinaus ist gerade der fehlende Gegenwartsbezug das größte Problem des Films. Dramaturgisch ist er so geschickt gemacht, dass die 85 Minuten Laufzeit wie im Flug vergehen. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die doppelte Historisierung durch die Archivbilder und den Text Fanons als distanzierendes Moment wirkt. Fanon ist nicht nur mit seiner Mischung aus marxistischen und psychologischen Theoremen seiner Zeit verpflichtet, auch der unmittelbare Eindruck der Unabhängigkeitskriege in Afrika ist seinem Text deutlich anzumerken. Als Geschichtsstunde und Dokumentensammlung zu Kolonialismus und Dekolonisation mag Olssons Film gut funktionieren und durchaus seinen Wert haben. Gerade der Schluss aber, wenn mit Bild- und Wortgewalt die Ablösung der ehemaligen Kolonien vom kulturellen und politischen Erbe Europas, die Schaffung eines „neuen Menschen“ beschworen wird, will offenbar auf mehr hinaus. Es scheint paradox, aber gerade die kritische Distanz zu Fanon, die dem Film weitestgehend abgeht, hätte es wohl gebraucht, um seine abschließenden Worte zu mehr zu machen als einer Utopie vergangener Tage.

Ein Sommer in der Provence

(F 2014, Regie: Rose Bosch)

Gefühle aus der Gewürzmühle
von Carsten Moll

Bei ihrem letzten Film hatte die Regisseurin und Drehbuchautorin Rose Bosch noch das Sujet auf ihrer Seite: „Die Kinder von Paris“ („Le rafle“, 2010) erzählt von einem der dunkelsten Kapitel …

Bei ihrem letzten Film hatte die Regisseurin und Drehbuchautorin Rose Bosch noch das Sujet auf ihrer Seite: „Die Kinder von Paris“ („Le rafle“, 2010) erzählt von einem der dunkelsten Kapitel der französischen Geschichte und bereitete die Massenverhaftung französischer Juden durch die mit den Nazis kollaborierende Pariser Polizei und die daran anschließende Deportationen im Juli 1942 als Spielfilm auf. Freilich war Bosch nicht die erste Filmemacherin, die sich mit den als rafle du Vélodrome d’Hiver bekannten Ereignissen auseinandersetzte (man denke an Joseph Loseys kafkaesken „Monsieur Klein“ von 1976), aber trotzdem punktete Boschs Film bei seinen Befürwortern vor allem durch die Wahl seines Themas und weniger durch die Umsetzung. Nicht zu Unrecht wies die andere Hälfte einer zwiegespaltenen Filmkritik auf Boschs manipulative und wenig visionäre Regie hin und bemängelte hohles Pathos und stumpfe Klischees. Die Regisseurin selbst tat die Kritik an ihrem Werk einfach dadurch ab, indem sie ihren Film mit den historischen Geschehnissen, die er behandelt, gleichsetzte: Wer bei „Die Kinder von Paris“ nicht weinen müsse, könne nur ein Zyniker sein, der menschliche Emotionen genau wie Hitler (!) als Schwäche betrachte, schlussfolgerte Bosch 2010 in einem Interview.

In ihrem neuen Film widmet sich Bosch nun nicht mehr der Weltgeschichte, sondern Bruchstücken ihrer eigenen Biografie. An die Stelle der peniblen Recherche, die die ehemalige Journalistin als Vorbereitung zu „Die Kinder von Paris“ betrieben hat, tritt in „Ein Sommer in der Provence“ der Rückgriff auf Erinnerungen an die eigenen Großeltern sowie an ihre geliebte Heimat im Südosten Frankreichs. Zwischen Olivenbäumen, Dorfbistros und abgelegenen Bauernhäusern entspinnt sich hier eine tragikomische Familiengeschichte um einen mürrischen Großvater (Jean Reno), der zum ersten Mal auf seine drei Enkelkinder aus Paris trifft. Die Hintergründe, die zu dieser verzwickten Ausgangssituation führen, in der Opa und Enkel nichts voneinander wissen wollen und nun aber doch die Sommerferien gemeinsam verbringen müssen, werden umständlich und plakativ in den Dialogen der ersten Szenen ausgebreitet – nachvollziehbar oder auch bloß ansatzweise glaubwürdig werden Geschichte und Figuren dadurch allerdings nicht.

Auf dem Niveau einer TV-Schmonzette inszeniert Bosch ihren Clash der Generationen und es ist schmerzhaft zuzusehen, wie die Regisseurin und Drehbuchautorin dabei auch ihre Schauspieler ans Messer liefert. Während Reno sich tapfer schlägt und immerhin so eine Art Entwicklung durchmachen darf, wirken vor allem die jugendlichen Darsteller hoffnungslos überfordert bei dem Versuch, ihren flachen Figuren Leben einzuhauchen. Anna Galiena müht sich da erfolgreicher ab; mehr als die bis zum Bersten gutmütige Oma zu geben, hat sie aber allerdings auch nicht zu tun.

Selbst die andere große und oft schon großartig in Szene gesetzte Protagonistin dieses Films kommt nicht gut weg: Selten wirkte die sommerliche Provence so steril und totgeguckt wie vor Stéphane Le Parcs Kamera. Mehr als ein paar gleichmäßig ausgeleuchtete und mit leichtem Gelbstich versehene Postkartenmotive ringt er den provenzalischen Landschaften nicht ab. Es herrscht visuelle Dürre in diesem Film, der mit seinen Entjungferungen und Blicken ins Dekolleté doch so gerne von Sinnlichkeit erzählen würde.

Statt die Wirklichkeit zu pointieren und somit in der Kunst etwas, das man Wahrhaftigkeit nennen könnte, zu produzieren, walzt „Ein Sommer in der Provence“ alle Realitäten bloß zu Plattitüden aus. Das Ergebnis ist ein substanzloses Rührstück, über das Bosch munter ihren bunten Mix aus Gefühlen und eine große Portion Provinzkitsch streut. Dazu dudelt ein Soundtrack, der mit dem Film und seinen Figuren selten etwas zu tun hat, aber mit Songs von Mungo Jerry bis Coldplay jedem Formatradio Konkurrenz macht – allein dass zwischendurch nicht noch eine Stimme die größten Hits der 70er bis heute anpreist, irritiert ein wenig. Dass das Leben mehr Fantasie habe als die einzelnen Menschen, darf die Enkeltochter zum Finale hin feststellen, wenn alle – wie unerwartet! – miteinander versöhnt sind und sich Alkoholprobleme sowie emotionale Traumata plötzlich in Luft auflösen. Diese Weisheit klingt im Kontext von „Ein Sommer in der Provence“ in erster Linie nach der Kapitulation der Rose Bosch, die es mit Fantasie gar nicht erst versuchen will.

Das große Museum

(AT 2014, Regie: Johannes Holzhausen)

Von Mal- und anderen Künsten
von Lukas Schmutzer

Das Kunsthistorische Museum in Wien „zählt zu den größten und bedeutendsten Museen der Welt“ (Wikipedia). Es verfügt über so berühmte Werke wie Vermeers Malkunst, oder den Turmbau zu Babel von …

Das Kunsthistorische Museum in Wien „zählt zu den größten und bedeutendsten Museen der Welt“ (Wikipedia). Es verfügt über so berühmte Werke wie Vermeers Malkunst, oder den Turmbau zu Babel von Pieter Bruegel dem Älteren, oder jetzt auch wieder über die Saliera Cellinis, welche es vor einigen Jahren zu tatsächlicher, also massenmedial tauglicher Berühmtheit brachte, als sie durch einen spektakulär anmutenden Raub, den das FBI immerhin zu den „Top Ten Art Crimes“ zählt, von ihrem ordentlichen Ort entfernt wurde. Was sich dann als weitaus weniger spektakulär und vielmehr absurd erwies, ist die Tatsache, dass das Spektakel von der Wachmannschaft verschlafen und die Lücke, die es hinterlassen hat, erst durch die Reinigungskraft bemerkt wurde. Dabei hatte das goldene Salzfass schon seit seiner Entstehung eine bewegte Geschichte hinter sich, und auch seine Entstehung stand ganz und gar im Zeichen des wirren Lebenswandels seines Fertigers, des Bildhauers Cellini (der weitaus mehr als nur Bilder, sondern bereitwillig auch in Gesichter haute).

Aber es muss nicht so weit ausgeholt werden, um die Autorität des Museums befragen zu können. Johannes Holzhausens grandioser Dokumentarfilm „Das große Museum“ erzählt solche Dinge nicht, sondern seziert die verschiedenen Schichten jener Räumlichkeiten, welche die Werke in den Wirren ihres Wandels stabilisieren sollen. Das ist beinah wörtlich zu nehmen, kreist der Film vor allem um die Renovierungsarbeiten der Kunstkammer, eine umfangreiche Sammlung zu der auch Cellinis Saliera zählt, und die nach mehr als zehnjähriger Schließung im vergangenen Jahr unter viel Aufmerksamkeit – vielleicht nicht ganz so viel wie nach dem Raub – neu eröffnet wurde.

Ein anfänglicher Kameraschwenk von der Hofburg innerhalb der Wiener Ringstraße zum Kunsthistorischen Museum gegenüber und außerhalb derselben legt die historische Verzahnung politischer Macht mit Kunst nahe, welche ihre Entstehung und Konservierung garantiert und im Gegenzug von derselben repräsentiert wird. Dass diese Repräsentationen heute vor allem Kassenschlager sind, wird dann in weiteren Folge und nicht unlustig aufgedeckt. Das Museum wandelt sich, geht mit der Zeit, um seine Exponate zu erhalten. Nahe legt dies schon die bereits im Trailer zitierte Weisheit Giuseppe Tomasi di Lampedusas („Es muss sich alles ändern, damit alles bleibt, wie es ist“), die Visconti so eindrucksvoll in Bilder übersetzte; sind es bei ihm allerdings die politischen Ordnungen, die einander ablösen und in denen die Mächtigen ihre Positionen zu halten trachten, schauen wir hier den Restauratoren bei ihren erhaltenden Arbeiten über die Schulter, verfolgen die ökonomischen Debatten der Museumsleitung, hören den Lärm der Bauarbeiter, die die Wände abtragen, oder bekommen gezeigt, wie mit Staub und Ungeziefer umgegangen wird (aber auch die zeitgenössische Bindung des Museums zur Politik wird dokumentiert).

Solcherhand bekommt die Heiligkeit des Museums Risse: einfach, indem ihre profanen Seiten aufgedeckt werden. Vor allem der Schnitt erweist sich hier als exzellenter Komplize, der diese agonalen Elemente meist komisch auflöst. Kennen wir nicht alle diese Kindheitserfahrungen, sei es durch die Schule, sei es durch die Familie, in denen ein gleichermaßen faszinierter wie seriöser Erwachsener uns durch die sakralen Räume geschliffen hat und zugleich zur ständigen Ruhe gemahnt hat? In Johannes Holzhausens Film gibt es Arrangements, die vielleicht all das, was wir damals unterdrückten, wieder aufleben lassen.

Die Perspektive, die dabei eingenommen wird, gibt sich zurückhaltend und bleibt bei aller räumlichen Nähe den Dingen auf Distanz. Das Off bleibt stumm, kein Erzähler schildert uns die großen Zusammenhänge und Bedeutungen der Räumlichkeiten. Zusehends bekommt man das Gefühl, dass es die Kamera selbst ist, die spricht. Dergestalt gewährt „Das große Museum“ nicht nur einen Blick hinter die Kulissen eines großen Museums, sondern entfaltet einen Dialog zwischen dem Medium Film und einer Institution, die Bilder auf ihre eigene Weise ordnet, exponiert oder fast aktengleich schichtet.

Die unerschütterliche Liebe der Suzanne

(F 2013, Regie: Katell Quillévéré)

Die Abwesenheit
von Wolfgang Nierlin

Ein dunkler Schatten liegt über der Familie des Fernfahrers Nicolas Merevsky (François Damiens) aus dem südfranzösischen Alès. Seit dem frühen Tod seiner geliebten Frau Isabelle im Jahre 1985 muss der …

Ein dunkler Schatten liegt über der Familie des Fernfahrers Nicolas Merevsky (François Damiens) aus dem südfranzösischen Alès. Seit dem frühen Tod seiner geliebten Frau Isabelle im Jahre 1985 muss der gutmütige, aber überforderte Vater seine beiden ungestümen Töchter Suzanne und Maria allein erziehen. Auch wenn aus seinem Blick Stolz und aus seinen aufopfernden Bemühungen Verantwortung sprechen, resultiert aus dieser Abwesenheit ein sowohl sozialer als auch emotionaler Mangel, der nicht einfach kompensiert werden kann. Ein existentieller Schmerz wird hier zum Ausdruck für die Brüchigkeit des Lebens, die Katell Quillévérés beeindruckenden Film „Die unerschütterliche Liebe der Suzanne“ (Suzanne) in vielen Szenen grundiert. Schon „Ein starkes Gift“ (Un poison violent), das einfühlsame Langfilmdebüt der französischen Regisseurin, die Maurice Pialat zu ihren Vorbildern zählt, handelt von der spirituellen Suche und dem sexuellen Erwachen eines jungen Mädchen, das in diesem Fall unter der Abwesenheit des Vaters leidet.

Für ihre neuerliche Beschäftigung mit dem vielschichtigen Thema des Erwachsenwerdens dehnt Katell Quillévéré den erzählten Zeitraum auf über zwanzig Jahre aus. Jedoch ist ihr episodisch angelegter Film kein Coming-of-Age-Epos oder gar die lückenlose Chronik einer Individuation. Vielmehr werden in ihrer elliptischen, durch abrupte Bild- und Tonschnitte gegliederten Filmerzählung die Leerstellen zum Strukturprinzip. In ihnen wird nicht nur die Abwesenheit selbst in ihren verschiedenen Formen beredt, sondern das dargestellte Leben, sein nahezu schicksalhaftes Werden und Auseinanderbrechen, angetrieben von einer übergroßen Liebessehnsucht und erschüttert von Enttäuschungen, gewinnt durch die Phantasieleistung des Zuschauers Kontur. Quillévérés offene, andeutende Erzählweise strebt nicht nach Ausformulierungen und ist doch reich und genau in der Schilderung des Milieus und in der Darstellung von Gefühlen. Hinzu kommt, dass der soziale Realismus des Films, der musikalisch flankiert wird von Hole, Noir Désir, Electrelane und Nina Simone (die eine wunderbare Gospel-Version des Leonard Cohen-Songs „Suzanne“ singt), immer wieder auch zu poetischen Lösungen findet.

Suzanne (Sara Forestier) ist gewissermaßen die Inkarnation einer verschlossenen, mit sich und den Verhältnissen ringenden Liebesverrückten, die in den schlimmsten Momenten hungrig, ausgesetzt und verloren nach Atem ringt. In ihr setzt sich die Familiengeschichte fort, ohne dass Katell Quillévéré zu sehr auf einen sozialen Determinismus fokussiert. Bereits im Jugendalter bekommt Suzanne unehelich ein Kind, was für ihren Vater der Auftakt zu einer Reihe schmerzlicher Enttäuschungen ist. Denn später verliebt sich seine labile Tochter zunächst vorsichtig tastend, dann immer leidenschaftlicher in den Kriminellen Julien (Paul Hamy), verlässt für ihn ihre Familie, lässt ihren kleinen Sohn Charlie zurück und landet später im Gefängnis, wo sie in Sprachlosigkeit versinkt. Selbst ihre innig geliebte, stets loyale Schwester Maria (Adèle Haenel) kann in dieser Phase kaum noch zu ihr durchdringen. Und auch nach ihrer Entlassung, ihrer Wiederbegegnung mit Julien und neuerlichem Mutterglück brechen die alten Wunden immer wieder auf, als bewegte sich der Prozess ihres Lebens in einer Endlosschleife von generationsübergreifenden Wiederholungen. Trotzdem öffnet sich am Ende Suzannes Blick; und die sich weitende Perspektive des Films richtet sich visuell und musikalisch auf einen Horizont und damit auf eine unausgesprochene Hoffnung.

Wolfskinder

(D 2013, Regie: Rick Ostermann)

Durchs wilde Ostpreußen
von Ulrich Kriest

Sommer 1946. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist Ostpreußen von der Roten Armee besetzt. Noch immer sind Menschen auf der Flucht. Da viele Männer tot oder in Kriegsgefangenschaft sind, …

Sommer 1946. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist Ostpreußen von der Roten Armee besetzt. Noch immer sind Menschen auf der Flucht. Da viele Männer tot oder in Kriegsgefangenschaft sind, müssen sich Mütter mit ihren Kindern auf eigene Faust durchschlagen. So wie die Mutter des 14jährigen Hans und seines jüngeren Bruders Fritz. Die kann allerdings sterbend ihren Kindern nur noch raten, sich nach Litauen durchzuschlagen, wo vielleicht ein paar freundliche Bauern sich erbarmen. „Nach Osten!“, lautet ihr letzter Ratschlag, bevor Hans und Fritz zu Waisen werden. Und ihre Herkunft sollen sie nicht vergessen!

Man ahnt schnell, was den Regisseur Rick Ostermann am Stoff von „Wolfskinder“ interessiert hat: ein »richtiger« Abenteuer-FILM mit Kindern vor dem Hintergrund einer atemberaubend fotografierten (Kamera: Leah Striker) wilden Landschaft. „Stunde Null“ meets Terrence Malick! Erinnert sei daran, dass Eberhard Fechner sich dieser Geschichte bereits 1990 mit den Mitteln einer dokumentarischen „Oral History“ angenommen hat. Ostermann macht aus den Erzählungen jetzt einen Western. Exemplarisch werden die Geschicke der „Wolfskinder“, ihre wechselnde Rudelbildung und ihr alltäglicher Kampf ums Überleben geschildert. Da wird schon mal ein Pferd gestohlen und geschlachtet, da werden Frösche gegessen, da gilt es Begegnungen mit einer stets gefährlichen Soldateska zu vermeiden, die schnell zur Waffe greift. Manchmal helfen Bauern oder Fischer, aber nur, wenn sich die Kinder nützlich machen.

Es ist ein zäher, oft wortloser Überlebenskampf, zumal die Kinder nicht recht wissen, wie ihnen geschieht. Ihnen widerfährt der Schrecken des Nachkrieges ohne ein Bewusstsein für die Schuld, die aus ihrer Herkunft rührt. Ihr Weg ist ein Opfergang, gerade weil der Film sich entschieden hat, ihre Geschichte(n) ohne Zeit-Geschichte zu erzählen. Also muss der Zuschauer entscheiden, ob er die Erzählung vom Leiden von Hans und Fritz als existentiell-abstrakte Parabel oder als revisionistische Geschichtserzählung, deren Naivität beklommen macht, verstehen will. Beides scheint indes möglich – und vielleicht sollte man sich noch ein paar Wochen gedulden, bis „Phoenix“ von Christian Petzold in den Kinos anläuft, um nachzufragen, worin sich die Haltung eines Regisseurs, der 1978 geboren wurde, von derjenigen eines Regisseurs unterscheidet, der 1960 geboren wurde. Ältere werden sich noch an Schulatlanten erinnern, in denen die Ostgebiete gerne als „unter polnischer Verwaltung“ geführt wurden.

Violette

(F / B 2013, Regie: Martin Provost)

Fast farblos
von Wolfgang Nierlin

Violette Leducs Schreiben beginnt im Film von Martin Provost („Séraphine“) mit dem Satz: „Meine Mutter nahm mich nie bei der Hand.“ Diese Erfahrung mangelnder mütterlicher Liebe und Zuwendung begleitet die …

Violette Leducs Schreiben beginnt im Film von Martin Provost („Séraphine“) mit dem Satz: „Meine Mutter nahm mich nie bei der Hand.“ Diese Erfahrung mangelnder mütterlicher Liebe und Zuwendung begleitet die französische Schriftstellerin ein Leben lang. Zeitlebens fühlt sie sich hässlich und einsam, leidet unter Zurückweisung, Missachtung und Ablehnung. Ihre lange Erfolglosigkeit als Schriftstellerin erscheint ihr deshalb nur konsequent: „Ich bin eine Wüste, die Monologe schreibt.“ Martin Provosts einfühlsames Biopic „Violette“ beschreibt aus gemessenem Abstand diesen fatalen Determinismus, der sich in fast farblosen Bildern der Enge und Gefangenschaft widerspiegelt. Reduziert auf sieben Kapitel, die fast ausschließlich mit Vornamen betitelt sind und in konzentrierter Form wichtige Begegnungen der aufstrebenden Autorin schildern, charakterisiert Provost seine Heldin immer wieder als Außenseiterin, die mit ihrer unbequemen, zwischen Selbstverzweiflung und hoffnungslosem Liebesbegehren changierenden Art auch den Zuschauer auf Distanz hält.

Das vermittelt schon Leducs (Emmanuelle Devos) heftige Hassliebe zu dem homosexuellen Schriftsteller Maurice Sachs (Olivier Py) im ersten Kapitel des Films, das in der Okkupationszeit angesiedelt ist und ein starkes Zeitkolorit entfaltet. Während sie ihren Unterhalt als Schwarzmarkthändlerin verdient, kommt es in ihrem Versteck in der Normandie immer wieder zu wüsten Gefühlsausbrüchen mit Sachs. Violette Leducs Hunger nach Liebe ist willensstark und besitzergreifend und bleibt vielleicht nicht zuletzt deshalb unerwidert. Je heftiger sie fordert, desto offener wird sie zurückgestoßen. Vor allem in ihrer späteren Beziehung zu Simone des Beauvoir (Sandrine Kiberlain), die sie fördert und unterstützt, wird das deutlich. Violette Leduc empfindet sich als ungewolltes Kind, das nach langen Phasen der Resignation immer wieder verzweifelt um Anerkennung kämpft.

Dass ihr diese spät doch noch zuteil wird, wirkt wie ein tröstlicher Ausgleich für ein unglückliches Leben, dessen Schmerzen Leduc in Literatur verwandelt. „Das Ersticken“, „Die Verhungernde“, „Verheerungen“ und schließlich „Die Bastardin“, so die Titel ihrer rückhaltlos autobiographischen Bücher, zeugen davon. Für Simone de Beauvoir, die Leducs Prosa als „kraftvoll und kühn“ bezeichnet, sind sie (frauen)politischer Sprengstoff und zugleich Nachweis der lebensverändernden Kraft von Literatur. Während die berühmte Philosophin ihrem Schützling stets kühl und reserviert begegnet und Leducs Liebesbegehren entschieden zurückweist, bezeichnet etwa Jean Genet (Jacques Bonnaffé) die erfolglose Außenseiterin als „eine Schwester“. Unterstützt von Arvo Pärts in Kinofilmen häufig zitiertem, meditativem Stück „Fratres“, portraitiert Martin Provost die unerwiderten Sehnsüchte einer unglücklichen Frau und Künstlerin, die ihr Leben in und durch die Literatur rettet und die in einem leerstehenden Haus eines kleinen Dorfes am Fuße des Mont Ventoux, dem windigen „Beschützer“ der Provenzalen, schließlich ein Refugium für sich findet.

Drachenzähmen leicht gemacht 2

(USA 2014, Regie: Dean DeBlois)

Krieg und Fliegen
von Lukas Schmutzer

Dreamworks entführt erneut in eine fremde Welt. Nun ja, ganz fremd nicht mehr, insofern sie vielen Kinogängern noch aus dem Vorgänger bekannt sein wird. Dort hatte sich Hicks, Sohn von …

Dreamworks entführt erneut in eine fremde Welt. Nun ja, ganz fremd nicht mehr, insofern sie vielen Kinogängern noch aus dem Vorgänger bekannt sein wird. Dort hatte sich Hicks, Sohn von Haudrauf, dem Dorfhäuptling Berks, für einen angemesseneren Umgang mit Drachen eingesetzt: Nicht nur als Gefahr, sondern vor allem als Freund und Helfer der Wikinger sollen sie angesehen und behandelt werden. Damit hat Hicks nicht nur seinem Dorf zu neuer Blüte verholfen, sondern auch seinen eigenen Helden- bzw. Leidensweg angetreten, an dessen vorläufigem Ende er einen Fuß verloren hat. Grazil bleibt er auf seinem fliegenden Gefährten Ohnezahn, welcher aufgrund einer ähnlichen Verletzung zum Manövrieren in der Luft auf seinen Reiter angewiesen ist – die beiden Figuren sind ineinander verzahnt. Den Schauwert dieser Symbolik demonstrieren bereits die ersten Minuten der Fortsetzung, wenn das Drachenreiten mit Kamera-Flügen auf dem Stand des technisch Machbaren inszeniert wird. Solche Szenen, in denen Drachen etwa Mittel zur Erfüllung kühnster Wingsuit-BASE-Jumper-Träume werden, ziehen sich durch den ganzen Film und bilden seinen sensationellen Kern; durch die 3D-Technik werden sie spürbar entfaltet.

Es ist der jugendliche, mitunter naive Tatendrang des Protagonisten, zusammen mit seinem Glauben an die Möglichkeit der Vermittlung selbst zerstrittenster Parteien, der die Filmhandlung vorantreibt. Dieser Drang macht, dass Hicks sich der fremden Welt öffnet, sie erforscht, sie erfliegt, und ihre Gefilde kartiert (was alles liebevoll animiert ist), in denen er bald Konflikte und Konfliktparteien ausmacht: Zunächst geht die recht vage Rede von einer sehr bedrohlichen Armee versklavter Drachen; und dann ist da eine Art Drachenflüsterin, die in einem Idyll gewaltfreier, verständiger Kommunikation in einem Eispalast (ebenso liebevoll animiert) eine weitere Armee gebildet hat (welche natürlich so nicht benannt wird).

Hicks glaubt an die Vermittlung all dieser Parteien, entgegen Mahnungen etwa seines Vaters Haudrauf, dass Menschen sich nicht ändern könnten. Das Urmännliche seines Vaters arrangiert sich so tatsächlich mit dem urweiblichen Flüstertum; mit der perversen, exzessiven Männlichkeit des Antagonisten, der als ein „böser Mensch“ die „guten Drachen“ unter seine Befehlsgewalt gebracht hat, lässt sich aber nicht mehr reden, worin sich das resignierende Urteil Haudraufs auf problematische Weise bestätigt. Dieser Bösewicht namens Drago, so Haudrauf an anderer Stelle, sei „a stranger from a strange land“, ein „Fremder aus einem fremden Land“. Ob den Autoren die biblische Gewalt bewusst war, die in diesen Worten mitschwingt? Als der junge Moses ins Exil nach Midian gegangen ist und zuwartet, bis er den großen Sklavenaufstand in Ägypten anführen kann, nennt er sich selbst einen „Fremdling“ in einem „fremden Lande“ (so die Übersetzung Luthers; die deutsche Einheitsübersetzung setzt an der Stelle „Gast“, welche Differenz noch einmal verdeutlicht, was hier auf dem Spiel steht). Im fremden Land lauert in beiden Fällen die Gefahr für die etablierte Herrschaftsordnung, wenngleich es durch die Form der Äußerungen ganz unterschiedliche Qualitäten erhält. Dort der Prophet, der sich in der Fremde selbst benennt; hier der Häuptling, der mit der Kraft derselben Benennung einen ungeladenen Fremdling in die Fremde zurückweist. Mag diese Versuchsanordnung auch skurril anmuten: Die Verschiebung, die zwischen dem Zitat von Moses und jenem Haudraufs stattfindet, ist symptomatisch; in ihr äußert sich die Ohnmacht gegenüber einer Invasion der Barbaren, auf die nur mehr mit den Mitteln des Kriegs reagiert werden kann – eine Einstellung, die im Produktionsland nach wie vor auf Resonanz stoßen dürfte.

Der jugendliche Idealismus wird also frustriert und es kommt zu einem plumpen Antagonismus, der sich an der Frage „Wie sind Drachen zu zähmen?“ scheidet: Während die eine Seite auf das Band der Freundschaft zählt, setzt die andere auf die blendende Stärke des Willens. Dieser Konflikt wird notwendig in Schlachten ausgetragen, für die man sich großzügig beim Herrn der Ringe und anderen Spektakeln bedient hat (und weshalb Kinder diesen Film auch eher nur in erwachsener Begleitung sehen sollten). Das Schlachtengetümmel ist ebenso mitreißend animiert; für den dramatischen Heldentod aber verhallt es augenblicklich und wiederum noch effektvoller. Kann die denunzierte Willensstärke tatsächlich so schlimm sein, wenn sie uns den hysterischen Heroismus erspart, der im Reich von Freundschaft und Eintracht waltet?

Bis zu einem gewissen Punkt lässt sich in „Drachenzähmen leicht gemacht 2“ mit Spannung verfolgen, wie und ob das anfangs entworfene Geflecht wohl aufgelöst werden wird. Irgendwann beginnen sich Zitate als Klischees zu entblößen sowie das Potential der zunächst charmant präsentierten Nebenfiguren zu erschöpfen (wie jenes von Astrid, der Liebschaft Hicks’, die zuletzt doch nur aufgrund ihrer Kussfunktion in den Film integriert worden zu sein scheint), während die Auseinandersetzung der Hauptfiguren in ihrer blendend schönen Animation über die eigene Fragwürdigkeit hinwegtäuscht.

Still

(D 2013, Regie: Matti Bauer)

Bäuerliches Erbe
von Wolfgang Nierlin

„Sie spinnt!“, sagt Mutter Rosie über ihre Tochter Uschi, als diese mit ein paar Kühen und einer Geiß für die Sommermonate auf die Alm zieht. Die junge, selbstbewusste Frau ist …

„Sie spinnt!“, sagt Mutter Rosie über ihre Tochter Uschi, als diese mit ein paar Kühen und einer Geiß für die Sommermonate auf die Alm zieht. Die junge, selbstbewusste Frau ist gern mit sich allein; sie liebt die Abgeschiedenheit inmitten der Natur, geht gerne mit den Tieren um und scheut auch nicht die anstrengende Arbeit. Für Uschi, die zuvor auch schon andere Jobs hatte und auf diversen Reisen viel herumgekommen ist in der Welt, bedeutet das Dasein als Sennerin vor allem Unabhängigkeit. Auf ihre Sehnsucht nach der Alm angesprochen, bekennt sie einmal, „stillesüchtig“ zu sein. Daneben ist ihre vermeintliche Zivilisationsflucht aber auch eine dezidiert ökologische Lebensweise, in der die Bewahrung der Natur mit der Erhaltung einer bestimmten bäuerlichen Kultur einhergeht.

Denn gerade diese steht auf dem Spiel in Matti Bauers einfühlsamer Langzeitdokumentation „Still“, in der der Filmemacher über knapp zehn Jahre hinweg die Bauernfamilie auf ihrem Hof im bayerischen Oberland besucht. Im Verlauf dieser Zeit wird aus dem intimen Portrait einer Frau, die ihren Platz im Leben sucht, immer mehr eine Reflexion über die einschneidenden Veränderungen innerhalb der bäuerlichen Kultur und deren drohenden Verlust. Zwischen Tradition und Moderne ringt Uschi, die im Laufe der Dreharbeiten Mutter wird, mit sich und ihren Eltern um den schwierigen Erhalt des Erbes.

Dabei deutet Matti Bauer die schwelenden Konflikte oft nur an. Unaufdringlich und im scheinbar Nebensächlichen sind sie jedoch stets gegenwärtig, um sich schließlich in Kompromissen, schmerzlichen Verlusten und in neuen Perspektiven auszuprägen. Um eine falsche Idyllisierung des bäuerlichen Lebens zu vermeiden und zugleich die Klassizität des Konflikts zu vermitteln, hat Bauer zusammen mit seinem Bildgestalter Klaus Lautenbacher in Schwarzweiß gedreht. Doch trotz dieser Objektivierung bleibt er immer nahe bei den Portraitierten, die Bauer in einem persönlichen, an die Arbeitsweise des Dokumentaristen Volker Koepp erinnernden Stil befragt und die ihrerseits mal freimütig, mal verhalten in ihrem nicht ganz leicht zu verstehenden bayerischen Idiom Auskunft geben, was schließlich die anvisierte Nähe und Echtheit zusätzlich unterstreicht.

No Turning Back

(USA / GB 2013, Regie: Steven Knight)

Bröckelnde Fundamente
von Wolfgang Nierlin

Ivan Locke (Tom Hardy) ist ein Mann mit Prinzipien. In seinen Entscheidungen ist er bestimmt, bei seiner Arbeit als Bauleiter agiert er präzise und verantwortungsvoll. Als er am Ende eines …

Ivan Locke (Tom Hardy) ist ein Mann mit Prinzipien. In seinen Entscheidungen ist er bestimmt, bei seiner Arbeit als Bauleiter agiert er präzise und verantwortungsvoll. Als er am Ende eines langen Tages seine Großbaustelle in Birmingham verlässt, wo für den nächsten Morgen eine gigantische Beton-Lieferung für den Bau eines Hochhaus-Fundaments erwartet wird, ist er müde und erkältet. „ADIO“ lautet die Buchstabenfolge auf dem Kennzeichen seines BMW, was vielleicht ein früher Hinweis darauf ist, dass er als wichtigster Mann bei diesem Unternehmen nicht dabei sein wird. Auch seine Frau Katrina und die beiden Söhne Eddie und Sean, die ihn zur Fernsehübertragung eines Fußballspiels erwarten, werden an diesem Abend vergeblich auf seine Heimkehr hoffen. Denn Ivan Locke ist in ganz anderer Mission unterwegs nach London, wo in einem Kreißsaal die 43-jährige Zufallsbekanntschaft Bethan Maguire ein Kind von ihm erwartet.

„Ich habe keine Wahl“, begründet Ivan gegenüber einem Arbeitskollegen seine unumstößliche Entscheidung. Denn obwohl er die ihm fremde Frau nicht liebt, ist er willens, sich seiner Verantwortung zu stellen und ihr zu helfen. Während seiner anderthalbstündigen nächtlichen Fahrt, die Steven Knights Film „No Turning Back“ (Locke) quasi in Realzeit wiedergibt, kämpft Ivan in einer Art Dauertelefonat, das er über die Freisprechanlage seines Wagens führt, an allen Fronten. Und man kann kaum glauben, dass unser Mann bei so viel emotionalem Stress nicht nur die Fahrtüchtigkeit behält, sondern auch einen klaren Kopf und sich überdies als guter Psychologe erweist. Immer wieder spürt man aber auch die Differenz zwischen den Geschlechtern, wenn Ivan vergeblich um Verständnis bei seiner Ehefrau wirbt oder wenn Bethan Gefühle ausdrückt und verhalten einfordert, die er nicht teilt. Gegenüber seinem Arbeitgeber und bei der gewissermaßen „ferngesteuerten“ Abwicklung seiner Arbeit zeigt er sich wiederum äußerst rational und geradlinig.

Steven Knight spielt mit diesem Topos des männlichen Helden, der die Dinge in die Hand nimmt und seinen Weg geht. Im minimalistischen, kammerspielartigen Setting seines Films geschieht dieses Handeln paradoxerweise auf engstem Raum. Ivan vollzieht Kommunikationshandlungen, während er sich, wie ein Gefangener eingeschlossen in einem Käfig, fortbewegt. Der Ingenieur ist ein Mann des Bauens, dessen private Existenz gleichzeitig bröckelt. Jenseits dieser Metaphorik, deren ziemlich forcierte filmische Konstruktion man als Zuschauer akzeptieren muss, reflektiert Steven Knight in seinem ausgeklügelten Drehbuch aber auch die Frage nach Schuld und Verantwortung, die sich im Falle des Protagonisten aus einer schwierigen Vater-Sohn-Geschichte speist. Von den Stimmen seines Lebens umgeben, transportiert Ivan Lockes nächtlicher Trip nicht zuletzt eine Stimmung aus Anonymität und Einsamkeit. Diese wird durch ein atmosphärisch dichtes, von zahlreichen Spiegel- und Lichteffekten grundiertes Bild-Gewebe, das Kameramann Haris Zambarloukos gestaltet hat, schließlich ins Irreale gesteigert.

Die Karte meiner Träume

(F / USA 2013, Regie: Jean-Pierre Jeunet)

Der neue Leonardo
von Wolfgang Nierlin

„Der Westen“, so lautet die erste Kapitelüberschrift des Films, besitzt weite, grüne Landschaften, die unter einem blauen, luftigen Himmel liegen, und erstrahlt in freundlichem Licht. Paradiesisch könnte man das fast …

„Der Westen“, so lautet die erste Kapitelüberschrift des Films, besitzt weite, grüne Landschaften, die unter einem blauen, luftigen Himmel liegen, und erstrahlt in freundlichem Licht. Paradiesisch könnte man das fast nennen, läge die Coppertop Ranch in den Pioneer Mountains von Montana nicht so entlegen. Nur die vorbeifahrenden, ewig langen Güterzüge suggerieren eine Verbindung zum Rest der Welt und lassen den Ich-Erzähler T. S. Spivet (Kyle Catlett), ein hochbegabtes, genialisch veranlagtes Kind, von einem anderen Leben träumen. Denn der wissbegierige Junge und Hobby-Forscher, der seine Umgebung kartographiert, seine familiären Beziehungen graphisch darstellt und an einem Perpetuum mobile („Der heilige Gral der Erfinder“), bastelt, fühlt sich unverstanden und fehl am Platz. Sein Whiskey trinkender Cowboy-Vater (Callum Keith Rennie) zieht ihm, dem „neuen Leonardo“, seinen praktischer veranlagten Zwillingsbruder Layton vor; seine ältere Schwester hegt Schauspielerinnen-Träume und bezeichnet T. S. als Spinner; und seine Mutter Dr. Clair (Helena Bonham Carter), eine leicht verschrobene Insektenforscherin, hat nur Sinn für Käfer und Larven.

Doch dann erhält T. S. einen Anruf von der berühmten Smithsonian Institution in Washington D.C., das ihm den renommierten Baird-Preis verleihen möchte; und Jean-Pierre Jeunets phantasievoller neuer Film „Die Karte meiner Träume“ (The young and prodigious T. S. Spivit), entstanden nach dem hochgelobten Roman von Reif Larsen, verwandelt sich in ein abenteuerliches Rail- und Roadmovie. Die Lust des französischen Regisseurs am filmischen Fabulieren, sein Spiel mit dem Möglichkeitssinn der Imagination sowie seine detailverliebte Gestaltung eines kindlich-wissenschaftlichen Universums sind auch in der Aneignung eines fremden, wiewohl seelenverwandten Stoffes ungebrochen. Gedreht auf dem nordamerikanischen Kontinent, führt T. S. Spivets heimlicher Trip in Hobo-Manier, begleitet von allerlei skurrilen Gestalten, von West nach Ost, von den Bergen zu den Hochhäusern und aus der wild wuchernden Natur zur rechtwinkligen Architektur der Zivilisation. Dabei transportiert Jeunets Film nicht zuletzt filmgeschichtlich auch einige amerikanische Mythen mit sich.

Im Zentrum des teils märchenhaften Werkes steht jedoch die Verarbeitung und Bewältigung eines Traumas, das über der Familie Spivet als dunkles Schweigen lastet. Seit sich sein Bruder Layton beim gemeinsamen Spielen mit einem Gewehr erschossen hat, leidet T. S. unter Schuldgefühlen. Seine einsame Reise ins Herz der Wissenschaft bewirkt insofern auch eine Öffnung und Verwandlung, die schließlich den Familienzusammenhalt erneuert. Dass dieser mehrfache Initiations- und Reifeprozess ausgerechnet in einem Fernsehstudio vor laufenden Kameras stattfindet, wirkt in der satirischen Überzeichnung allerdings leicht oberflächlich und angestaubt. Die notwendige Kritik an wissenschaftlicher Profilierungssucht, karikierend dargestellt durch die Figur der Miss Jibsen (Judy Davis), und medialen Vermarktungsstrategien ist in Jeunets Kosmos dann doch zu nett und harmlos.

Finding Vivian Maier

(USA 2013, Regie: John Maloof, Charlie Siskel)

Die dunkle Seite der Kunst
von Wolfgang Nierlin

Im Winter 2007 ersteht der junge Makler und Historiker John Maloof bei einer Versteigerung für 380 Dollar eine Kiste voller Negative aus den Beständen einer Lagerräumung. Beeindruckt vom künstlerischen Wert …

Im Winter 2007 ersteht der junge Makler und Historiker John Maloof bei einer Versteigerung für 380 Dollar eine Kiste voller Negative aus den Beständen einer Lagerräumung. Beeindruckt vom künstlerischen Wert der Fotografien, die zum großen Teil alltägliche Begebenheiten, Straßenszenen und Portraits wiedergeben, forscht er nach der unbekannten Urheberin des noch unentdeckten, brachliegenden Werkes. In ihrem beindruckenden, viele Fragen zum Verhältnis von Leben und Kunst aufwerfenden Dokumentarfilm „Finding Vivian Maier“ erzählen Maloof und sein Koregisseur Siskel von dieser äußert spannenden Spurensuche, die zugleich zu einem Künstlerportrait wird. In ihrem Versuch, den Menschen hinter dem Werk sichtbar zu machen, gewinnt auch Vivian Maiers Kunst immer mehr Kontur. Daneben stellt der Film die beunruhigende Frage, warum Maiers Arbeit, die von Experten neben die Werke von Robert Frank, Helen Levitt und Diane Arbus gestellt wird, so lange unentdeckt blieb und vielleicht nur durch einen Zufall vor dem Verschwinden bewahrt wurde.

Der Film „Finding Vivian Maier“ bildet den von Neugier und Empathie getriebenen Rechercheprozess im Austausch mit Zeitzeugen und Kunstkennern ab und verhilft der unbekannten Fotografin zugleich zur Veröffentlichung. Hätte die Portraitierte, die vermutlich zwischen dem Wunsch nach Anerkennung und der Scheu vor dem Rampenlicht hin und her gerissen war, das gewollt, fragt sich John Maloof, um Verständnis bemüht, immer wieder. Denn offensichtlich war Vivian Maier eine verschlossene Einzelgängerin und rätselhafte Frau, die sich hinter verschiedenen Masken versteckte und zeitlebens als Kindermädchen wechselnder Haushalte ihr bescheidenes Auskommen hatte. Sie sei paradox, unerschrocken, exzentrisch und geheimnisvoll gewesen, sagen ihre ehemaligen Schützlinge und Arbeitgeber über sie. Vor allem war Vivian Maier, die nie ohne ihre Rolleiflex aus dem Haus ging, aber eine exzessive Sammlerin, deren streng abgeschirmte Wohnung mit Zeitungsstapeln, Negativen, alten Kleidern und Erinnerungsstücken vollgestopft war.

Von hier aus folgt Maloof wiederum Hinweisen, die der unangepassten Außenseiterin eine „dunkle Seite“ oder gar eine „psychische Störung“ attestieren. So berichten ihre mittlerweile erwachsenen Schützlinge von zeitweiliger Vernachlässigung, seltener auch von Misshandlungen sowie von schockierenden Erlebnissen, denen sie von ihrer Betreuerin ausgesetzt wurden. Möglicherweise habe die 1926 in New York geborene Maier, deren familiäre Wurzeln in einem Bergdorf in den französischen Alpen liegen, unter einem Trauma gelitten. Der Zusammenhang zwischen künstlerischem Genie und seelischem Leiden scheint hier einmal mehr offensichtlich und erklärt zu einem Teil vielleicht auch ihre Abstinenz vom Kunstbetrieb. Aber wie alle Künstler war auch Vivian Maier, die sich mit den Armen identifiziert, sich als Spionin bezeichnet und dabei hinter ihrer Kamera versteckt hat, getrieben von dem Bedürfnis nach Mitteilung.

Roland Klick Filme – DVD Collection

(D 2014, Regie: Roland Klick)

Schillernde Außenseiterfilme
von Nicolai Bühnemann

Am Ende tritt sie ein, die Katastrophe, die nach Walter Benjamin darin besteht, dass alles so weiter geht. Der Junge zieht sich im Bad selbst die Plastiktüte über den Kopf, …

Am Ende tritt sie ein, die Katastrophe, die nach Walter Benjamin darin besteht, dass alles so weiter geht. Der Junge zieht sich im Bad selbst die Plastiktüte über den Kopf, mit der er zu Beginn seine kleine Schwester erstickt hatte, deren Leiche er hinterher in einem Autowrack „entsorgte“. Nach zwei tiefen Atemzügen reißt er sie herunter, schlurft zu seinen Eltern an den Esstisch. Die erdrückende Stille wird nur von der Aufforderung der Mutter unterbrochen, die Serviette zu nehmen. Dann ist der Film vorbei.

In der letzten Szene von Roland Klicks erstem langen Spielfilm, „Bübchen“, gibt es aus der Spießerhölle, als die die bundesrepublikanische Kleinstadt in den späten sechziger Jahren erscheint, kein Entkommen. Publikum und Kritik lehnten den Film seinerzeit beinahe einhellig ab. Die Begründung, dass der Regisseur die Verhältnisse, die er zeigte, nicht soziologisch und psychologisch deute, erscheint geradezu absurd. Lässt sich doch schwer ein Film vorstellen, dessen Kritik an der Vorstadtgesellschaft düsterer ausfällt, die zur Wahrung der heilen Fassade über (Kinder-)Leichen geht. In „Bübchen“ erscheinen nicht nur verschiedene Formen familiärer Gewalt, die vermeintlichen Träume des „Wirtschaftswunders“ enden hier auch sehr buchstäblich auf dem Schrottplatz. Noch und gerade, wenn bierselig gefeiert wird, liegt eine tief empfundene Traurigkeit über dem Geschehen, und das wahrlich beeindruckende Spiel von Sascha Urs als Titelfigur lässt den Wortsinn des Begriffs Depression erkennen: ein bedrückter Junge in bedrückenden Verhältnissen.

Roland Klick, der am 4. Juli 75 Jahre alt wurde, begründete mit „Bübchen“ 1968 seine Karriere als Filmemacher und blieb im deutschen Filmbetrieb immer ein Außenseiter. Da war auf der einen Seite das Autorenkino des „Neuen Deutschen Films“, aus dessen Reihen der Vorwurf kam, er sei zu „kommerziell“, weil er immer Filme machen wollten, die auch ein Publikum fanden. Da war aber auch der Mainstream, in dem Klick mit seinen zutiefst persönlichen Filmen, seinem unbedingten Willen, soziale Realitäten möglichst unverstellt auf die Leinwand zu bringen, nie wirklich Fuß fassen konnte. Hatte ihm Bernd Eichinger selbst vorgeschlagen, bei „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ Regie zu führen, kam die Zusammenarbeit letztlich doch nicht zustande, weil die Produktionsfirma sich weder mit Klicks Drehbuch anfreunden konnte noch damit, wie er seine Darsteller_innen direkt aus der Drogenszene castete.

Vielleicht rührt von seiner eigenen Außenseiterrolle die kompromisslose Empathie für die Protagonisten seiner Filme her – Außenseiter allesamt. Seine nächsten beiden – und wohl bekanntesten – Filme handeln von Verdammten, Verlorenen, dem Tode geweihten, die sich ein letztes Mal aufzubäumen scheinen, mit allem was sie haben, ankämpfen gegen ihr längst besiegeltes Schicksal – in Filmen, die wirken wie delirante Fieberträume, neunzig Minuten lang ausgedehnte Agonien.

„Deadlock“ (1970) ist ein Western. Irgendwie zumindest. Ein „Italowestern“, der mit überwiegend deutschem Team auf Deutsch in der israelischen Wüste gedreht wurde, und (nicht nur in seiner Produktionsgeschichte) ein Film, wie es keinen zweiten gibt. Marquard Bohm, Mario Adorf und Anthony Dawson kämpfen in einem gott- und menschenverlassenen Wüstenkaff um zwei Pistolen und einen Koffer voll Geld. Betty Segal als alternde Prostituierte und Mascha Rabben als ihre wunderschöne, stumme Tochter sind bei diesen Kämpfen immer irgendwie außen vor – und müssen doch am Ende für ihre bloße Anwesenheit mit dem Leben bezahlen. Angetrieben von den hypnotisch stampfenden Klängen der Gruppe Can, bewegt sich der Film mit seiner einzigartigen Mischung aus Psychedelik, existenzialistischer Vergeblichkeit und einer Härte, wie sie typisch war für das italienische Genre-Kino der Zeit, auf den Abgrund zu. „Deadlock“ ist auch ein durch und durch physischer Film. Ein Film über Körper, die die unerbittlich brennende Sonne im Gegenlicht zu Schatten verwandelt, aus dem Bild zu tilgen trachtet. Ein Film über Gesichter. Marquard Bohms Gesicht zu Beginn, dreckverkrustet. Mario Adorfs Gesicht, über das der Schweiß in Sturzbächen rinnt, während die anderen Männer ihr grausames Spiel mit ihm treiben. Mascha Rabbens Gesicht, umweht von ihren feuerroten Haaren, mit denen der Wind spielt. So gnadenlos wie der Determinismus der Handlung und der Blick der Kamera auf das mörderische Treiben auch sind, da ist doch immer wieder eine sehr eigene Form der Schönheit, die die Trost- und Ausweglosigkeit konterkariert. Danach trachtet, den Figuren eine Würde zurück zu geben, die ihnen ihre Situation längst genommen hat.

Nach „Deadlock“ wurde Klick die Regie für einen Italo-Western angeboten. Der aber wollte sich weder von einer filmischen Strömung noch von einem bestimmten Genre vereinnahmen lassen. Stattdessen ließ er sich einmal mehr von seinem eigenen Leben zu einem Film inspirieren, bei dem er, wie schon beim Vorgänger, für Regie, Buch und Produktion selbst verantwortlich zeichnete. An der Geschichte eines jugendlichen Ausreißers, den er bei sich aufgenommen hatte, orientierte er sich bei dem Drehbuch für „Supermarkt“ (1973). Die Hauptrolle besetzte er mit Charly Wierzejewski, einem Laien, der eine ähnliche Biographie hatte, wie seine Figur. „Das Wesen von „Supermarkt“ ist das Weglaufen, das Rennen, das Sich-nicht-erwischen-lassen“, erklärte Klick, und das bedinge, dass er einen Darsteller brauche, „der wirklich rennen kann (…) und einen Kamermann, der ihm hinterherkommt.“ Tatsächlich ist es vielleicht das Zusammenspiel von dem später nach Hollywood gegangenen Jost Vacano hinter und Wierzejewski vor der Kamera, das „Supermarkt“ zu einem der schönsten Kleinodien der Geschichte des deutschen Films macht. Rastlos folgt die Kamera der Figur durch Hamburg. Zwischen Hafen, Alster und nächtlichem St. Pauli. Zwischen einem engagierten Journalisten, der ihm helfen möchte, von der Straße zu kommen, einem schmierigen Gangster, der ihn immer tiefer in seine kriminellen Machenschaften hineinzieht, und einer Prostituierten, die er „retten“ will, um mit ihr abzuhauen und sein altes Leben hinter sich zu lassen. Zwischen einer Unmittelbarkeit, einer Authentizität des gezeigten Milieus, die der Film durch die extrem agile Kamera und den Verzicht auf künstlich gesetztes Licht erreichte, und der Überhöhung des Outlaws und Outsiders, für die New Hollywood Pate stand. Die einzige extradiegetische Musik ist ein Song, dessen jaulende Gitarren Wierzejewski durch die Stadt treiben. „Celebration“ heißt er und auch der vom Regisseur selbst geschriebene Text gibt den Ton an:
„You know I want my celebration babe before I die
there’s no place were I feel bound.”
“Supermarkt” feiert das Leben, die Stadt und die Nacht – dem Ausgeschlossensein, dem Nicht-davon-kommen-können und dem Tod zum Trotz.

Wenn für Klick das Filmemachen immer auch ein großes Abenteuer war, dann bestand dieses Abenteuer in „White Star“ (1983) darin, Anfang der Achtziger einen Film mit Dennis Hopper zu drehen. Den Drehplan, so erinnert sich der Regisseur in einem Interview, gab die Kokainabhängigkeit des Stars vor, die es ihm nicht ermöglichte, mehr als zwei Stunden am Tag zu arbeiten. Hopper spielte einen skrupellosen Musikproduzenten, der versucht, einen Nachwuchsmusiker zum Star zu machen – mit allen Mitteln. Manisch agierend, wild gestikulierend, fauchend, fluchend und schreiend tut der Schauspieler dem Film, den er in einem fort an sich zu reißen versucht, keinen großen Gefallen. Ein Kritiker soll gesagt haben, „White Star“ sei der brillanteste misslungene Film, den er je gesehen hat. Dem ist wenig hinzuzufügen. Außer vielleicht, dass er als West-Berlin-Film ganz wunderbar ist. Eine Szene zeigt eine Abfolge von Stadtansichten. Im Morgennebel schimmernde Straßen, bröckelnde Fassaden, spielende Kinder, die Mauer. Die Szene wurde nur in den Film eingefügt, um ihn zu strecken, aufzulockern, weil es der Zustand des Hauptdarstellers nur erlaubte, das Allernotwendigste zu drehen. Der eigentümliche Glanz, die verträumte Aura, die sie der typischen Mauerstadt-Tristesse abringt, macht sie zur schönsten des Films.

Von 1987-89 drehte Klick einen weiteren Film in Berlin, der jedoch wegen Problemen zwischen dem Regisseur und der Filmförderung nie offiziell veröffentlicht wurde. Es ist bis heute sein letzter geblieben und zugleich der einzige mit weiblichen Hauptfiguren. „Schluckauf“ ist eine Komödie über die denkbar chaotische Freundschaft, die sich zwischen einer – scheinbar – naiven jungen Frau aus der norddeutschen Provinz und einem – scheinbar – abgebrühten Berliner Model entwickelt. Ist auch „Schluckauf“ durch die widrigen Produktionsbedingungen vielleicht nicht der Film, der er hätte werden können, so entsteht doch wieder in der Zerrissenheit ein sehr adäquates Bild der geteilten Stadt. Zwischen – einmal mehr wundervoll gefilmten – Kreuzberger Straßen und Postkarten- und Werbekitsch (Rio, Segelschiff, Sandstrand), zwischen dem poetisch Verträumten und dem heillos Überkandidelten, dem Onirischen und dem Grotesken, dem Tragischen und dem Komischen liegt oft nur ein einziger Schnitt.

In der auf der diesjährigen Berlinale gezeigten Doku „Roland Klick – The Heart is a Hungry Hunter“ bezeichnet sich Klick selbst als einen „Regie-Junkie“. Für uns ist es jammerschade, dass er sich seit nunmehr 25 Jahren in Abstinenz übt. Darin erzählt er auch, dass er an einem Roman arbeite, aus dem vielleicht auch ein neuer Film werden könnte. Ob und wann er dieses Vorhaben realisieren kann, steht in den Sternen. Bis dahin bleiben eine Handvoll der schillerndsten, exaltierstesten und zärtlichsten Filme, die je in Deutschland entstanden sind. Das Versprechen auf ein anderes deutsches Genre-Kino, das weiterhin seiner Einlösung harrt.

Zu seinem 75. Geburtstags spendierte die Filmgalerie 451, die Klicks Filme stolz als ihr „Herzstück“ bezeichnet, dem Filmemacher, seinen Verehrern und denen, die es werden wollen, eine neue Edition seines Werks. Darin finden sich „Deadlock“, „Supermarkt“ und „White Star“, die in einer eigens angefertigten HD-Abtastung in neuem Glanz erstrahlen. Eine weitere, exklusiv in dieser Box erhältliche Disc enthält „Schluckauf“ und die vier Kurzfilme, die Klick in den Sechzigern drehte. Dazu gibt es noch „The Heart is a Hungry Hunter“. Das üppige Zusatzmaterial bietet unter anderem Audiokommentare und Interviews zu allen Filmen. Ist es immer eine Freude, Klick erzählen und stellenweise über das Erzählte in Gelächter ausbrechen zu hören, bildet das klare Highlight wohl ein vierzig-minütiges Gespräch aus den späten Neunzigern, in dem sich Klick und Jost Vacano über „Supermarkt“ unterhalten. Mit unbändiger Leidenschaft vorgetragen, kann man hier sehr viel – nicht nur – über die technische Seite des Filmemachens erfahren. Abgerundet wird die Edition mit einem sehr schön gestalteten Booklet, das allerlei historisches Text-Material sowie eine ausführliche Biographie und Filmographie bietet.

Dass diese so liebevolle wie sorgfältige Edition nicht ganz vollständig ist (es fehlen neben dem Debüt der 1975 entstandene „Lieb Vaterland, magst ruhig sein“ und die abendfüllende Doku „Derby Fever USA“), ist sehr bedauerlich, hat aber lizenzrechtliche Gründe. Abhilfe schafft zum Beispiel eine Retrospektive, die im Berliner Lichblick-Kino ab dem 19. Juli zwei Wochen lang das Gesamtwerk zeigt.

Der große Kanton

(CH 2013, Regie: Viktor Giacobbo)

Der etwas andere Humor
von Wolfgang Nierlin

Die etwas dürftig veranschaulichten Prämissen dieses Films sind schnell skizziert: Schweizer und Deutsche haben viele kulturelle Gemeinsamkeiten, was eine kurze Einspielung des Schlager- und Volksliedsängers Heino illustrieren soll. Das ist …

Die etwas dürftig veranschaulichten Prämissen dieses Films sind schnell skizziert: Schweizer und Deutsche haben viele kulturelle Gemeinsamkeiten, was eine kurze Einspielung des Schlager- und Volksliedsängers Heino illustrieren soll. Das ist zwar nicht besonders lustig, aber jedenfalls in satirischer Absicht montiert. Schweizer und Deutsche haben aber leider auch ein paar Probleme miteinander, wenn man an Steuerhinterziehung, Schwarzgeldkonten, deutsche Arbeitsimmigranten und grenzüberschreitenden Fluglärm denkt. Die ebenso abwegige wie abstruse Lösung hierfür könnte lauten: Deutschland tritt der Schweiz als nördlichster, dann 27. Kanton bei, verlässt alsbald die EU und vergrößert dadurch in vielfacher Hinsicht die Eidgenossenschaft. So jedenfalls lautet die Arbeitshypothese des beliebten Schweizer Kabarettisten Viktor Giacobbo, mit der dieser in seinem satirischen Dokumentarfilm „Der große Kanton“, der beim Schweizer Publikum ein großer Erfolg war, Politiker und Kulturschaffende beider Länder konfrontiert.

Giacobbos trockener, ernster Gesprächsstil und seine wohl unterschiedliche Bekanntheit in den benachbarten Ländern bewirkt bei den Interviewten unterschiedliche Grade des unernsten Mitspielens bei möglichst seriösem Auftreten. Ihre Reaktionen werden insofern auch zu Gradmessern der Humorfähigkeit, die offensichtlich beim Germanisten Peter von Matt und der Schriftstellerin Elke Heidenreich besser ausgebildet ist als bei dem einen oder anderen deutschen Politiker, wobei der Witz gerade aus dem schmalen Grad zwischen tatsächlichem Ernst und gespieltem Unernst resultiert. Während etwa Cem Özdemir durch die Eingliederung ein Auseinanderbrechen der BRD fürchtet und Gregor Gysi die umgekehrte Variante, also den Beitritt der Schweiz zu Deutschland naheliegender findet, lobt Joschka Fischer in warmen Worten den kriegerischen Mut und die Freiheitstradition der Schweiz. Die Antworten liefern also immer auch Projektionen des jeweiligen Politiker-Egos und werden durch schnelle Zwischenschnitte in satirischer Absicht immer wieder kommentiert.

Mit offensichtlich Verbündeten wie beispielsweise Gerhard Polt taucht Viktor Giacobbo ein in die (Un)tiefen der Schweizer Geschichte diesseits und jenseits historischer und aktueller Grenzen, findet dabei allerlei (kuriose) Spuren, Heldengeschichten und „plastiline“ Eigenschaften historischer Erzählungen und landet dabei immer wieder bei Mentalitätsunterschieden, Sprachdifferenzen und einem ganz und gar nicht deckungsgleichen Demokratieverständnis. Parodistische Spielszenen ergänzen das bunte Potpourri kultureller Besonderheiten und einer letztlich gar nicht so fernen Nähe, in der dann gefühlsmäßig doch die Gemeinsamkeiten überwiegen. Trotz dünner Konfliktlage und mäßigem bis steifem Witz liefert der Film ein facettenreiches, mehr liebevoll als böse gezeichnetes Bild naher Verwandter in einer „privilegierten Partnerschaft“. Offensichtlich pflegen die Eidgenossen auch einen etwas anderen, verhalteneren Humor.

Tour du Faso

(D 2014, Regie: Wilm Huygen)

Identitätsstiftendes Vehikel
von Wolfgang Nierlin

Die harten Daten über das größte Fahrradrennen in Afrika werden in der Schule abgefragt: Seit 1987 findet die über zehn Etappen und fast 1300 Kilometer führende Tour du Faso im …

Die harten Daten über das größte Fahrradrennen in Afrika werden in der Schule abgefragt: Seit 1987 findet die über zehn Etappen und fast 1300 Kilometer führende Tour du Faso im westafrikanischen Burkina Faso statt. Bei Temperaturen von bis zu 40 Grad im Schatten geht es dabei über teils unbefestigte Straßen und staubige Sandpisten. Und zum 25-jährigen Jubiläum kommen die insgesamt 15 Teams erneut sowohl aus Afrika als auch aus Europa. Das Fahrradfahren sei in Burkina Faso ein wesentlicher Teil der Identität, die Tour ein nationales Ereignis, sagt der Präsident des Radsportverbandes mit patriotischem Stolz. Der Sieg fürs Vaterland hat also oberste Priorität. Ja, das einst von den ehemaligen Kolonialherren eingeführte Vehikel ist mittlerweile zum (antikolonialistischen) Werkzeug nationaler Selbstbestimmung geworden.

Der Mythos lebt also und der Traum von einem besseren Leben beflügelt die Fahrerherzen, die ihre Vorbilder wiederum in Europa haben. Wilm Huygens differenzierter Dokumentarfilm „Tour du Faso“ beleuchtet diese komplizierten kulturellen Wechselwirkungen und nur scheinbaren Widersprüche. Er zeigt aber auch die kontrastreichen Rahmenbedingungen, unter denen dieses sportliche Großereignis stattfindet. Altmodische Plakatmaler, jugendliche Werbebannerträger, die teilweise Unterbringung der Fahrer in Zelten oder auch die humorvoll-überschwänglichen Siegerehrungen am jeweiligen Etappenziel verraten etwas über Mentalitätsunterschiede und die afrikanische Kunst der Improvisation.

Aus der distanzierten Perspektive des teilnehmenden deutschen Teams um den Fahrer Benjamin Höber fällt der Blick aber auch auf Korruption und vermeintliche Manipulation, vor allem aber auf ein von den eher vorbehaltlos angetretenen Europäern als manchmal unfair empfundenes sportliches Verhalten. „Das ist Afrika!“, lautet der knappe Kommentar eines Fahrerkollegen dazu. Diese Konflikte und Differenzen schmälern aber nicht die sportliche Leistung der verwegenen Fahrradfahrer, deren Strapazen und physischen Kraftanstrengungen vom Filmemacher immer wieder in visuell kontrastreiche Beziehung gesetzt werden zur umgebenden Landschaft und Kultur.

Wie der Wind sich hebt

(J 2013, Regie: Hayao Miyazaki)

Gaben des Windes
von Lukas Schmutzer

Eigentlich beruht die Berühmtheit der “Kamikaze”-Bezeichnung, die zu einem Synonym für Selbstmordangriffe geworden ist, auf einem Missverständnis. “Kamikaze”, das heißt in etwa “göttlicher Wind” oder “Hauch Gottes” und ist in …

Eigentlich beruht die Berühmtheit der “Kamikaze”-Bezeichnung, die zu einem Synonym für Selbstmordangriffe geworden ist, auf einem Missverständnis. “Kamikaze”, das heißt in etwa “göttlicher Wind” oder “Hauch Gottes” und ist in der tradierten Bedeutung zunächst als ein rettender, beschützender Wind zu verstehen, wie es jene Taifune im 13. Jahrhundert waren, die zweimal die Invasionsflotte Kublai Khans vor der Küste Japans vernichteten. Die Spezialeinheiten der japanischen Marine, die im 2. Weltkrieg Befehl hatten, ihre Flugzeuge in feindliche Ziele zu steuern, wurden “Tokkotai” genannt, was die japanische Entsprechung von “Spezialeinheit” ist; dieser Einheiten gab es mehrere, die wiederum verschiedene Namen trugen. Jene Einheit, die sich am 25. Oktober 1944 erstmals mit fünf zu Bomben umfunktionierten Mitsubishi Zero-Jagdflugzeugen auf die amerikanische Flotte stürzte, flog unter einer Bezeichnung, die nach sinojapanischer Lesart “shinpu;” gelesen werden kann, oder nach japanischer Lesart “Kamikaze”. “Kamikaze”, das bezeichnete keine gesamte Gattung, sondern nur die Abteilung der Zero-Jäger dieser Gattung, die als Wille und Wind Gottes die Feinde in die Flucht schlagen sollten.

“Wie der Wind sich hebt” erzählt aus der Biographie von Jiro Horikoshi, dem Konstrukteur des Zero-Jagdflugzeuges (auch: Mitsubishi A6M); genaugenommen erzählt dieser Film eine Geschichte, die den Zero als ein Meisterwerk erscheinen lässt, auf das diese Biographie von vornherein zugesteuert hat. Der Titel – orig. “Kaze Tachinu”, englisch “The Wind Rises” – ist Paraphrase eines Verses von Paul Valéry, in den dessen nicht so kurzes Gedicht “Le Cimetière Marin” (“Der Friedhof am Meer”) nach ausführlichen Gleichnissen von Vergänglichkeit und Anrufungen unergründbarer Naturerscheinungen mündet: “Le vent se lève! … Il faut tenter de vivre!” (“Der Wind erhebt sich! … Es muss gewagt werden, zu leben!”) Der Film legt diese Zeilen einmal in den Mund des italienischen Flugzeugbauers Giovanni Battista Caproni; sie sind als eine von vielen Äußerungen und Darstellungen des Films zu verstehen, die die Nutzung des Luftraums und die Faszination des Fliegens dem Militär oder – je nach Blickwinkel – dem Vater aller Dinge entreißen wollen. Einen französischen Vers über den Wind, der im Angesicht ewigen Vergehens zum Leben auffordert, als Motto einer japanischen Lebensgeschichte in Stellung bringen, mit deren Schaffen der “Wind” zur Bezeichnung einer berüchtigten Kriegstechnik geworden ist, das ist prekär.

Die Kontroversen, die im Vorjahr in japanischen Medien über diesen Film geführt wurden, lassen sich also im Grunde schon aus dem Ineinander von Titel und Stoff ableiten. Nationalistische Gruppierungen warfen dem Regisseur seine unpatriotische, da von Pazifismus geprägte Darstellung Horikoshis vor, während ihm von links oder seitens südkoreanischer Journalisten ganz im Gegenteil vorgehalten wurde, den Handlanger einer Tötungsmaschinerie rechtfertigen zu wollen. Dass das Studio des Regisseurs die Kriegsflugzeuge bereits im Namen trägt, wirft dabei die Frage auf, ob diese Ambivalenz nicht seit jeher Programm war.

Beim Regisseur handelt es sich um Hayao Miyazaki, der mit seinen Filmen stets in fantastische Welten führte. Entweder wiesen deren Bilder oft nur indirekten Bezug zu unserer Wirklichkeit auf; dann wurde nur an wenigen Stellen ein konkretes Band zu derselben geknüpft, wenn fast beiläufig von Jonathan Swift oder über die “neueste Mode aus Kitzbühel” gesprochen wurde. Oder, andere seiner Filme zeigten im Überschreiten der Wirklichkeit bzw. im Hereinbrechen der Imagination notwendige Formen, um Konflikte darstellen und lösen zu können. Dieser zweiten Richtung ist auch “Wie der Wind sich hebt” zuzurechnen; allerdings hatte noch kein Film Miyazakis direktere historische Referenzen; und in noch keinem seiner Filme wurden die Formen der Imagination auf einen derart spezifischen Bereich begrenzt: Die Imagination wird hier ausschließlich vom Wind getragen. Das demonstrieren die Träume Horikoshis, in denen gesprungen, gefallen, geflogen wird; aber noch mehr tun es die Erfahrungen des jungen Technikers, der am Arbeitsplatz die Kräfte, die potentiell auf seine Flugzeuge wirken, zu imaginieren imstande ist.

Selbst die Liebesgeschichte, die in diese Erzählung über das Schaffen eines Ingenieurs verschachtelt ist, gehorcht der Kraft des sich erhebenden Windes. Darin entzieht sich die schwer kranke Naoko den Liegekuren und der Hermetik des Zauberbergs, um Horikoshi – in seiner Arbeit, wohlgemerkt – nahe sein zu können. Eine Tat, im Übrigen, die voller Hoffnung an eine gleichnamige Figur in Murakamis zwanzig Jahre später angesetztem “Naokos Lächeln” ebenso herangetragen wird.

Mit einem Protagonisten, der ähnlich dicke Brillengläser wie der Regisseur trägt, ist “Wie der Wind sich hebt” als wahrscheinlich letzter Film Miyazakis vielleicht auch dessen persönlichster. In diesem Sinne ließe er sich gerade aufgrund seiner prekären historischen Stellungnahmen als Schlüssel zum gesamten Werk des Regisseurs lesen, welcher die Kehrseiten dessen wundervoller Fiktionen offenbart. So erinnern die am Boden aufgebahrten Überreste eines verunfallten Prototypen Horikoshis in der Art, wie sie gezeigt werden, an einen inaktiven Himmelskrieger aus “Das Schloss im Himmel”, der dort wieder erwachen wird; oder dürfen wir hier eine zum Fliegen konzipierte Festung sehen, die sich erstmals als gänzlich fluguntüchtig erweist, wenn ihre Flügel vom Wind zerrissen werden.

“Wie der Wind sich hebt” bringt den Krieg zur Sprache und zeigt eindringlich, wie er die Konstruktionen der Ingenieure instrumentalisiert, mitsamt den Folgen, die dies birgt; zugleich zeigt er uns die Werke der Imagination als Ausdruck des Lebens, der seinen Zweck nicht im Krieg findet und damit auch keine Verantwortung trägt – Hayao Miyazaki ist der einzige, dem ich das glauben wollte.

Cuban Fury – Echte Männer tanzen

(GB 2014, Regie: James Griffiths)

Salsa als Stahlbad und Mittelschichtpflicht
von Drehli Robnik

In einer frühen Version seines 'Kulturindustrie'-Kapitels zur Dialektik der Aufklärung schrieb Theodor W. Adorno, nachdem er wieder einmal angewidert von einer Soirée samt Gesellschaftstanz zu im Radio reproduzierter Big-Band-Musik mit …

In einer frühen Version seines 'Kulturindustrie'-Kapitels zur Dialektik der Aufklärung schrieb Theodor W. Adorno, nachdem er wieder einmal angewidert von einer Soirée samt Gesellschaftstanz zu im Radio reproduzierter Big-Band-Musik mit den Kreativen von Beverly Hills heim an den Schreibtisch gekommen war, den lapidaren Satz 'Salsa ist ein Stahlbad.' Nach einigen Diskussionen, u.a. vor Ort mit Horkheimer und brieflich mit Kracauer in New York, radikalisierte und totalisierte er sein Urteil, indem er es auf das systematisch organisierte Amusement insgesamt ausdehnte, und formulierte seinen kurzen, aber etwas zu sehr in die Alliteration verliebten Satz zur noch kürzeren Fassung 'Fun ist ein Stahlbad' um. Die dergestalt überschriebene Fokusierung auf einen lateinamerikanischen Tanz als Primärziel einer Kritik, die festhält, wie sehr die apriori schematisierte 'Freizeit' doch nur Zurichtung der Subjekte für ihr Funktionieren im Arbeitsprozess ist, kurz: Adornos vielsagende Salsa-Kritik, die gilt es auch heute noch ernst zu nehmen.

Ab hier nun die Filmbesprechung stricto sensu, Oida.

'How can you take something seriously that’s named after a dip?' Der namensgebende Dip, die Tunke, wie die Wienerin sagt, heißt Salsa – wie der Tanz, von dem 'Cuban Fury' handelt. Mit diesem netten Dialoggag, ausgerufen vom Unterlegenen eines der vielen über den Liebesrivalen- und Selbstbeweis-Plot verstreuten Tanzduelle, ist schon viel über diese britische Makeover-Comedy gesagt.

Hier zählt das, was an Leuten, zumal männlichen, eher Dip und Depp (in Wien: Dillo) ist, was also scharf, aber schwabbelig ist – Blut, Schweiß & Soße der im Salsa entfesselten Passion, auch Tunke und Tunte, nämlich die auch im Spielfilm verbreitete Hetero-Angst, als schwul zu gelten, bei gleichzeitiger Manie, andere Männer anzugockeln oder zu bekuscheln (und, so will es die RomCom-Konvention, ab und zu die neue Chefin, die aus den USA in ein Londoner Büro für technische Zeichner gekommen ist).

Das wird hier mal persifliert, mal bloß ausagiert, vor allem im Körper von Nick Frost. Wie viele füllige Komiker vor und neben ihm, von Fatty Arbuckle über Zachi Noy bis Jonah Hill, spielt Frost aus dem Bauch, betont seine Dip-Erscheinung mit Dreiviertelhose und Söckchen als Tanzoutfit, geizt auch nicht mit seinen Sekundärreizen, als da sind Wimpern und Zahnfleisch, etwa wenn er den Einfühlsam-Leidenden macht und seinem einstigen Salsatrainer Vorwürfe oder der angebeteten Chefin ein Mixtape. (Mit diversen Salsa-Standards, die auch den Score des Films ausmachen. Früher mal hätten wir uns davon die Soundtrack-CD kaufen sollen. Heute gibt es die Kompilation nur als Mixtape auf Magnetoskop-Band.)

Ob nun der Tanz nach dem Dip (oder dessen Erfinder) benannt ist oder doch umgekehrt, sollten wir schon wissen, wenn wir dazugehören wollen. Ebenso, ob Adorno das mit dem Stahlbad so formuliert oder nur gemeint hat. Jedenfalls werden in 'Cuban Fury' diverse soziale Skills, wie sie heute für den Normalbetrieb fröhlichen mittelständischen Lebens Voraussetzung sind, durchgetestet: Produktpitch vormittags und Hengsthabitus nachmittags im Büro, Bubengolfrunde am Jourfixe, Therapiegruppe, 80er Retro, Mixtaping. In Nebenrollen spielen Chris O´Dowd und Altspatz Ian McShane, kontratypisch als schwanzgesteuertes Ekel bzw. Hormone verstehender Latin-Dance-Guru besetzt, Olivia Colman (die Policeman-woman-officer aus 'Hot Fuzz') unterfordert, Kayvan Novak (der deppertste Terrorist aus 'Four Lions') amüsant als Diva, die ein Kumpel ist. Rashida Jones als love interest fällt wenig auf.

Freilich: Den Irrwitz und Slapstick der in anmutstanzsportiver Hinsicht nicht unähnlichen 2007er Will Ferrell-Eiskunstläuferkomödie 'Blades of Glory' erreicht 'Cuban Fury' nicht. Dazu wird hier zuviel an Akrobatik über den Schnitt erhascht und verhuscht, anstatt die Körper in all ihrer Pracht und Pose zu exponieren (was ja auch, wie eben in 'Blades of Glory', digital geleistet werden kann. Will denn heute niemand mehr CDs brennen oder digitale Slapstick-Effekte machen?) Vielleicht aber kann etwas wie 'Cuban Fury' vom Ansatz her auch gar nicht mehr irrwitzig lustig sein, heute, da wir uns an den Anblick von Leuten mit nicht ganz aerodynamischem Körperbau in Promipärchen-Dancing-Fernsehshows gewöhnt haben – und nicht zuletzt auch daran, dass Gesellschaftstanz heute zu jenen sozialen Fähigkeiten zählt, deren Beherrschung – im Sinn ordnungsgemäßer Abwicklung eines erfüllten und kreativen Lebens – Mittelschichtpflicht ist. (Zu dieser Pflicht sind dann Chorsingen, Ramones-Coverband-Tätigkeit und Kochen die Kür.) Wurde hier schon gesagt. Eh.

Wir können es auch immanent sehen, sprich: in der ergiebigen, einsichtigen Optik jener Filme, die Frost als Sidekick seines alten Kumpels Simon Pegg gedreht hat, also vor allem der Cornetto-Trilogie aus 'Shaun of the Dead', 'Hot Fuzz' und 'The World‘s End'. Und da zeigt sich: 'Cuban Fury'-Regisseur James Griffiths kann repetitive Alltagsgesten fast so schnell schneiden und am Zapfhahn sich füllende Biergläser fast so steil von oben filmen wie Edgar Wright – nuff respects –, und die Intro-Montagesequenz von der 80er-Kindheit/Jugend des Protagonisten, der es verabsäumt, seinen Tänzertraum bis ganz zur Erfüllung auszuleben und seitdem an diesem Versagungstrauma laboriert, auch das erinnert stark an den grandiosen, männlichkeitsidentitätskritischen 'The World‘s End'. Umso mehr fällt auf, wie sehr in 'Cuban Fury' die ganze Self-Improvement und Lebe-deinen-Traum-du-kannst-es-schaffen-sei-du-selbst-sonst-fristlose-Kündigung-Manie weniger satirisch durchleuchtet und durchkreuzt als vielmehr gefeiert wird. Simon Pegg ist solch ein ideologischer Ausrutscher in seinen britischen Filmen erst einmal passiert (in der Motivations-RomCom 'Run, Fatboy, Run'); an sich macht er sowas nicht. Vielleicht schaut Pegg deshalb so angefressen, als er beim Dance-Off zwischen Frost und O‘Dowd in seinem Cameo kurz durchs Bild fährt.

Und ein Cameo, so nennt man ein Auto ohne Dach. Auch das sollten wir halt wissen, für die nächste Büroparty.

Sag nicht, wer du bist!

(F / CA 2013, Regie: Xavier Dolan)

Lügen oder leben?
von Ulrich Kriest

Der hoch talentierte und enorm produktive franko-kanadische Filmemacher Xavier Dolan wird von der Kritik gerne mit Rainer Werner Fassbinder verglichen. Aufgrund seiner produktiven Arbeitswut, nicht etwa wegen des Koks und …

Der hoch talentierte und enorm produktive franko-kanadische Filmemacher Xavier Dolan wird von der Kritik gerne mit Rainer Werner Fassbinder verglichen. Aufgrund seiner produktiven Arbeitswut, nicht etwa wegen des Koks und der Figur. Sagt Dolan selbst, im Presseheft. Soviel Koketterie muss erlaubt sein.

Da passt es glänzend ins Fassbinder-Bild, wenn er sich nach seiner atemberaubend gelungenen Queer-Trilogie über die (un)glückliche Liebe („I killed my Mother“, „Herzensbrecher“, „Laurence Anyways“) keine Pause gönnt, sondern gewissermaßen zwischendurch ein schnelles Projekt nach dem Theaterstück „Tom on the Farm“ von Michel Marc Bouchard realisiert. Das erklärte Zwischenspiel „Sag nicht, wer du bist“ spielt zudem – eine Herausforderung muss her! – nach den bestens eingeführten Regeln des Thriller-Genres und verblüfft am Ende doch durch Tiefgang, der an den Auteur Dolan erinnert.

Tom, ein schwuler Werber aus Montreal, sensationell zerzaust gespielt vom Regisseur selbst, reist aufs Land, um am Begräbnis seines Partners Guillaume teilzunehmen, der offenbar Selbstmord begangen hat. Leider ahnt man dort nichts von Guillaumes Homosexualität und Guillaumes Bruder Francis will, dass das auch bitteschön so bleibt. Sonst setzt es eine Tracht Prügel! „Bevor ein Schwuler zu lieben lernt, muss er zu lügen lernen“, verrät Dolan dazu im Presseheft.

Hier, in der kanadischen Provinz, regiert zwischen unendlichen Maisfeldern und matschigen Landstraßen noch der Schrecken der gewaltbereiten Zwangsheterosexualität – und Dolan inszeniert ihn nach allen Regeln des klassischen Psycho-Thrillers á la Hitchcock und Lynch, obwohl der Filmemacher schwört, nie einen Film von Hitchcock gesehen zu haben. Was ja auch ein rechtes Kunststück ist. Logiklöcher der Handlung werden mit der wuchtigen Filmmusik Gabriel Yareds gefüllt, die an Bernard Hermann erinnert.

Lange ist völlig ungewiss, worauf der Film eigentlich hinaus will, auf welche Wendungen man sich als Zuschauer einzustellen hat. Doch der zunächst immer etwas arrogante und durchaus selbstsichere Widerstand des Städters gegen das Hinterwäldlertum schlägt allmählich um in ein latent masochistisches Sich-Einlassen auf das falsche Spiel, bis Schmerz und Gewalt sich in einen Tanz der Trauer zu verwandeln wagen – und der Psycho-Thriller zum neugierigen Erotik-Thriller mit einem furiosen Finale wird.

Auf Francis lastet der Fluch einer bösen Tat und Mutter Agathe ist wesentlich aufmerksamer, als man vermuten würde. Aber am unheimlichsten ist Tom, der sich irgendwann durchaus lustvoll für den Schmerz entscheidet und erleben muss, dass Intoleranz manchmal nur ein pervers verdeckter Wunsch nach Nähe ist. Ganz schön queer, diese Volte hätte Fassbinder bestimmt gefallen.

„Sag nicht, wer du bist!“ wurde im vergangenen Herbst in Venedig mit dem Preis der internationalen Filmkritik ausgezeichnet; vor ein paar Wochen in Cannes teilte sich Dolan für seinen neuesten Film „Mommy“ die Goldene Palme mit Jean-Luc Godard. Ein Geheimtipp ist Xavier Dolan also längst nicht mehr, eher schon ein Star des Gegenwartskinos.

Diplomatie

(D / F 2014, Regie: Volker Schlöndorff)

„Wir müssen reden ...“
von Ulrich Kriest

Der letzte Führerbefehl aus Berlin vom Vortag ist recht unmissverständlich formuliert: „Paris darf nicht oder nur als Trümmerfeld in die Hand des Feindes fallen!“ Stadtkommandant General von Choltitz, hoch dekoriert, …

Der letzte Führerbefehl aus Berlin vom Vortag ist recht unmissverständlich formuliert: „Paris darf nicht oder nur als Trümmerfeld in die Hand des Feindes fallen!“ Stadtkommandant General von Choltitz, hoch dekoriert, hat als guter Soldat folgerichtig bereits alle Vorbereitungen getroffen und Kulturdenkmäler wie den Louvre, Notre-Dame oder Sacré Coeur verminen lassen. Alles nur noch eine Frage der Zeit. Durch die Gewalt der Explosionen wird die Seine über die Ufer treten und Teile der Stadt fluten. Unzählige Zivilisten werden sterben. In den frühen Morgenstunden des 25. August geht von Choltitz mit seinem Führungsstab die Abriss-Pläne noch einmal sorgsam Bild für Bild, Kulturdenkmal für Kulturdenkmal durch und beklommen spürbar wird für alle Anwesenden, welch einen barbarischer Akt die geplante Zerstörung von Paris darstellt.

Es ist, wie es im deutschen Film seit jeher ist, wenn Nazi-Uniformen im Spiel sind: Es gibt die Fanatiker, die Befehlsempfänger mit ihrer Verpflichtung auf den geleisteten Eid, die Mitläufer, die Zauderer und Hadernden und die Nachdenklichen, die sich vielleicht eines Besseren belehren lassen. Zu welcher Gruppe von Choltitz zu zählen ist, ist längst nicht ausgemacht. Zumal, weil jetzt das Gegenspiel in Gestalt des schwedischen Generalkonsuls Raoul Nordling auf den Plan tritt – und zwar wie ein Phantom, das sich der Geschichte des Mythos Paris durch ein Wissen um geheime Gänge und Türen versichert, indem es buchstäblich „plötzlich“ im Raum steht.

Nordling fordert von Choltitz zum ultimativen Rededuell über Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Führer oder Pflicht gegenüber dem Kulturerbe der Menschheit im Schatten des großen Tötens eines bereits verlorenen Krieges. Und überhaupt, Kerl! Wie steht es denn um die Ehre im Leib? Im Hintergrund des Rededuells, das hier furios und mitunter an der Grenze zur unfreiwilligen Komik nach allen Regeln der Kunst, aber eben gerade nicht auf Augenhöhe geführt wird, tickt unablässig die Uhr: die Alliierten marschieren auf Paris vor, die Résistence probt den Aufstand, in den Vorstädten wird bereits gekämpft. Paris – der Zuschauer weiß das natürlich – wurde nicht zerstört, sondern blieb sogar vergleichsweise unversehrt, weil von Choltitz aus teilweise heute noch nicht geklärten Gründen dann doch lieber kapitulierte, als Hitlers Befehlen zu gehorchen. Vielleicht, weil er ahnte, was ihm widerfahren würde, fiele er anschließend den Alliierten in die Hände.

Volker Schlöndorffs filmische Adaptation des gleichnamigen Theaterstücks von Cyril Gély, die sogar auf die beiden vorzüglichen Hauptdarsteller der Inszenierung am Pariser Théâtre de la Madeleine setzt, inszeniert das gewichtige Rededuell zweier gegensätzlicher Figuren als psychologisches Kammerspiel, das sich schnell als eine offene und auch autobiografisch unterfütterte Liebeserklärung des Filmemachers an Paris erweist. „Uns bleibt immer Paris!“, heißt es bereits in „Casablanca“. Vielleicht hat der Führer ja im Bunker den Film gesehen und bei sich händereibend gedacht: „Das ist noch nicht ausgemacht!“

Tatsächlich hantiert die rhetorische Auseinandersetzung in „Diplomatie“ immer auch mit den Bildern und Vorstellungskomplexen von „Paris“, die im kollektiven Unbewussten wohlfeil kursieren. Es ist Nordling, der immer wieder ansetzt und die Imagination seines Gegenübers füttert, um dem General klar zu machen, was hier ganz konkret auf dem Spiel steht, wenn er sich in den Befehlsnotstand flüchtet. Jenseits der Rhetorik bleibt allerdings seltsam unbestimmt und mysteriös, wessen Spiel Nordling hier eigentlich spielt, wann er droht oder wann er lediglich blufft. Wenn die Worte keine Wirkung mehr entfalten, tut ein Blick vom Balkon auf Paris ein Übriges – und die Auseinandersetzung geht in die nächste Runde.

Dabei ist zwar verbürgt, dass diese Begegnung historisch stattgefunden hat, aber Schlöndorff und Gély nutzen die Freiheit der Fiktion zur dramatischen Verdichtung. Die Theater-Apparatur bleibt dabei stets sichtbar, wenn wieder mal ein Bote ins Zimmer stürzt oder ein Telefon klingelt, während ein paar konventionell inszenierte Action-Szenen vor dem Hotel Meurice wohl eher ein (überflüssiges) Zugeständnis an ein Kino sind, das darüber hinwegtäuschen möchte, dass es sich eigentlich um ganz altmodisches Schulfernsehen handelt. Schulfernsehen vor Guido Knopp! Wobei das dokumentarische Wochenschau-Material von der Befreiung von Paris, das der Film einsetzt, als „Rahmen“ durchaus hingelangt hätte. „So hätte es gewesen sein können!“

„Diplomatie“ singt auf recht unspektakuläre, ja, papierne Weise ein Hohelied auf die Kraft des Diskurses in dunkler Zeit und fügt – wie zuletzt schon „Monuments Men“ – ein weiteres Puzzleteilchen in das große Bild, wie persönliches Engagement und Zivilcourage Einzelner dazu beigetragen hat, inmitten der Barbarei das kulturelle Erbe zu bewahren. Dass Paris nicht zerstört wurde, bot der deutsch-französischen Nachkriegsgeschichte einen Ansatzpunkt. Dass Paris nicht zerstört wurde, machte die Karriere des Austauschstudenten Volker Schlöndorff überhaupt erst möglich. Dass Geschichte hier wieder von großen Männern geschrieben wird, ist der Preis, den „Diplomatie“ und Schlöndorff dafür zu zahlen bereit sind.

Zeit der Kannibalen

(D 2014, Regie: Johannes Naber)

So ist das nun mal!
von Ulrich Kriest

Schöne Sache das. Dem Affen Zucker geben! Absurden Zuständen mit absurden Filmen begegnen. Wäre es nicht schön zu wissen, dass die internationalen Strippenzieher des Finanzkapitals hinter ihrer Maske aus Professionalität …

Schöne Sache das. Dem Affen Zucker geben! Absurden Zuständen mit absurden Filmen begegnen. Wäre es nicht schön zu wissen, dass die internationalen Strippenzieher des Finanzkapitals hinter ihrer Maske aus Professionalität und Zynismus ganz und gar kümmerliche Wichtel sind? Wenn man, wie Johannes Naber, ins Presseheft zu „Zeit der Kannibalen“ so tolle Sätze schreiben kann wie: „Die Heldenreise der Protagonisten führt von ihrer apotheotischen Hybris hinab ins Schafott ihrer Kümmerlichkeit. Dort fallen die letzten Hüllen der neuen Elite. Was bleibt, ist die Hilflosigkeit der Verführten, nachdem das Verführende das Interesse an ihnen verloren hat.“ Der Neoliberalismus frisst seine mediokren Apologeten, darauf spielt der Titel des neuen Films von Johannes Naber („Der Albaner“) an.

Worum geht es? Seit sechs Jahren reisen die beiden Unternehmensberater Öllers und Niederländer gemeinsam um die Welt. Flugmeilen sammelnd. Heute hier, morgen dort oder in Lagos. Sie wissen sehr gut um ihre Stärken, aber auch um ihre Schwächen. Sie wissen einander zu schätzen – in mehrfachem Sinn. In immer denselben Konferenzräumen treffen sie auf Kunden und unterbreiten stets dieselben Vorschläge zur gewünschten Profitmaximierung: Zerschlagung intakter Strukturen und Verlagerung der Produktion in Länder, wo Arbeitskraft noch billiger zu haben ist. Indien war gestern, heute sollte man einmal vorurteilsfrei über Pakistan oder Afghanistan nachdenken. Taliban hin, Terror her.

Nach getaner Arbeit geht es zurück in die immer gleichen Hotelzimmer mit immergleicher Mini-Bar, Prostituierten, Drogen und regelmäßigen Telefonaten mit den Lieben in der Heimat, die sich allmählich frei machen vom Warten-Müssen. Nach all den Jahren globaler Fron wäre es eigentlich an der Zeit, auch einmal demonstrativ belohnt zu werden, indem man innerhalb der hier etwas undurchsichtigen Firmen-Hierarchie zum „Partner“ aufsteigt. Aktuell ist das dem Teamkollegen Hellinger gelungen, was bei den Zurückgebliebenen auf Unverständnis stößt. Das Nächste, was man von Hellinger hört, ist, dass er sich aus dem Fenster gestürzt hat. Das Nächste, was man aus der Firmenzentrale sieht, ist die junge Kollegin Bianca, die Hellinger vor Ort ersetzt. Öllers und Niederländer, beide auf ihre Art Machos und Zyniker, sind entsetzt, müssen Zeichen lesen und deuten, sich neu orientieren. Was wird gespielt? Mit welchem Auftrag ist Bianca zum Team gestoßen? Während im Hintergrund Geräusche der Außenwelt, die auf Bürgerkrieg und Terroranschläge hindeuten, allmählich lauter werden, liegen die Nerven blank, fliegen die Fetzen.

Naber hat ein Drehbuch von Stefan Weigl („Waschen Schneiden Legen“) als groteskes Kammerspiel realisiert. Der Film macht keinen Hehl aus der konsequenten Entscheidung, dass die Welt außerhalb der Nicht-Orte Hotel und Konferenzraum hier nur zeichenhaft existiert und der Blick aus dem Hotelfenster stets ein abstraktes Bild für eine Dritte-Welt-Metropole zeigt, die aufgrund der Luftverschmutzung eh nicht zu erkennen wäre. Naber zeichnet die Welt des entfesselten Kapitalismus mit den Mitteln des Absurden und der Groteske, dabei vertrauend auf die Komik, die entsteht, wenn weitreichende ökonomische Entscheidungen vor dem Hintergrund kleinkarierter Marotten und verkaterter Tagesform gefällt werden. Der Film vertraut dabei ganz auf seine famosen Darsteller Devid Striesow, Sebastian Blomberg und Katharina Schüttler, denen aller Raum gelassen wird, mit Verve ihre Konflikte und Intrigen pointenreich, böse und voller Witz auszutragen.

Der Film ist Schauspieler-Theater par excellence. Passend zu den Nicht-Orten, an denen „Zeit der Kannibalen“ spielt, agieren die Figuren auf der Basis flottierender Identitäten, die auf bestimmte Situationen nur mit Versatzstücken von Ideen, aber nicht mit einer geschlossenen Ideologie reagieren können. Die Figuren improvisieren. Öllers möchte die Welt zu einem besseren Ort machen, indem er die traditionellen Gesellschaften der Dritten Welt untergehen lässt. Niederländer überrascht mit dem Eingeständnis, in Erfurt geboren zu sein und träumt stattdessen davon, die Transiträume dieser Welt innenarchitektonisch so zu vereinheitlichen wie den Geschmack der Speisen bei McDonalds. Bianca dagegen gibt sich emanzipiert und voller Bewusstsein für political correctness, zeigt sich aber dann doch schnell korrupt und egoistisch. Staunend gestehen die neoliberalen Strippenzieher einander, welche interessanten Farben ihre politischen Biografien streiften.

Solcherart verdichtet und abstrahiert, gibt „Zeit der Kannibalen“ lange Zeit eine schwarze Komödie, die auf engem Raum unter mitteleuropäischen Bedingungen „The Wolf of Wall Street“ oder „Glengarry Glen Ross“nachspielt, bis irgendwann dann doch die Moral von der Geschicht(e) in den Film kracht. Als die Firma verkauft wird, resultiert daraus ein erstaunlicher Aufstieg, dem umgehend ein Fall ins Bodenlose folgt. Dieser Niedergang letztlich unprofessioneller Akteure, die sich leichthin opfern lassen, wird seinerseits flankiert von einem Überfall islamistischer Terroristen auf das Hotel, in dessen Verlauf die drei Helden des entfesselten Kapitalismus zu hilflos-greinenden Wichteln werden.

Die Revolution, so der etwas zu pathetische Schluss, wird die drei Protagonisten hinwegfegen und sie als Pappkameraden im „Krieg gegen den Terror“ missbrauchen. Aber: ihre Nachfolger stehen längst bereit, um ihre Arbeit fortzusetzen und es durch Ehrgeiz, Skrupellosigkeit und Erfolgsorientierung im besten Fall zum „Partner“ zu bringen. In einem Interview (film-dienst 11/2014) hat Naber zu seinem Filmemachen mit politischem Anspruch ausgeführt: „Ich glaube fest daran, dass Filme die Welt verändern können. Sie setzen Themen, eröffnen Blickwinkel, können polarisieren und aufwecken. Es ist ein machtvolles Medium! Film ist immer auch ein Kommentar über den Zustand der Gesellschaft und als solcher per se politisch, egal ob Komödie oder Drama. Wenn Filmemacher diese Verantwortung nicht erkennen oder annehmen wollen, dann sollten sie den Beruf wechseln.“ Gut gebrüllt!

Fraglich nur, ob die Strategie grotesker Überzeichnung dazu taugt. Naber/Weigl führen gut geölt vor, wie viel Lust es bereiten kann, „Verführte“ der gehoben mittleren Etage zum „Schafott ihrer Kümmerlichkeit“ zu führen. Das ist eine schöne, sadistische Abfuhr, aber auch eine kleinbürgerliche Geste der Hilflosigkeit, denn Christoph Hochhäusler hat uns in „Unter dir die Stadt“ ja bereits gezeigt, wie die Bilder der Getöteten in Frankfurt wirken.

Watermark

(CA 2013, Regie: Jennifer Baichwal, Edward Burtynsky)

Klage über den Verlust
von Wolfgang Nierlin

Mit lautem Getöse stürzen Wassermassen in eine Schlucht, erzeugen dabei grau-braune, dampfende Wirbel und vermitteln in ihrem durchdringenden Rauschen eine elementare Gewalt. Dann ist es plötzlich still und der Blick …

Mit lautem Getöse stürzen Wassermassen in eine Schlucht, erzeugen dabei grau-braune, dampfende Wirbel und vermitteln in ihrem durchdringenden Rauschen eine elementare Gewalt. Dann ist es plötzlich still und der Blick fällt auf eine weite, ausgetrocknete Ebene, die als Delta des Colorado River in Mexiko ausgewiesen wird. Aus der Vogelperspektive betrachtet, zeichnen die Risse und tiefen Furchen Muster in die Landschaft, die wie verzweigte Lebensadern eines Baumes aussehen. Die intensiv bewässerten Monokulturen Südkaliforniens haben dem Fluss das Wasser gestohlen und damit das ökologische Gleichgewicht gestört. Auch die Kreisberegnungssysteme in den High Plains von Texas zehren von Wasserspeichern in der Tiefe, die sich in nicht allzu ferner Zukunft erschöpft haben werden. Aus der Luft sehen die vielen Parzellen aus wie ein riesiger Flickenteppich.

Starke Kontraste, die graphischen Muster von Landschaften und gigantischen Szenerien sowie die kontinuierliche Weitung des Blicks in der Totale kennzeichnen den beeindruckenden Dokumentarfilm „Watermark“ von Jennifer Baichwal und Edward Burtynsky. Der renommierte kanadische Fotograf, selbst Protagonist, interessiert sich in seiner aktuellen Arbeit vor allem dafür, „wie Wasser uns formt und wir das Wasser formen“; also für Prozesse des Austauschs und der Veränderung, mit deren hier dokumentierten ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen er unaufdringlich, aber bestimmt „ein Klagelied auf den Verlust“ anstimmt. Etwa beim Blick in einen jahrhundertealten Stufenbrunnen im indischen Bundesstaat Rajasthan, dem das Wasser fehlt, der gefährlichen Wasserverschmutzung in einem Gerberviertel in Bangladesch oder auch dem Kontrast von extensiver Landwirtschaft und Versteppung im kalifornischen Imperial Valley.

Bei ihren weltweiten Recherchen zum Thema Wasser sprechen die beiden Filmemacher aber auch mit Zeugen des Wandels: Zum Beispiel mit einem Ingenieur der riesigen, noch im Bau befindlichen Xiluodu-Talsperre am Jinsha Jiang in China, wo sich – wie in anderen Szenen des Films – auch Arbeit beobachten lässt; oder auch mit Klimaforschern im ewigen Eis von Grönland, deren Ergebnisse ziemlich genau das vermitteln, was der indigene Bewohner vom Stikine River in British Columbia („wo der Himmel die Erde berührt“) sagt: „Wir sind alle Wasser.“ Neben den ökologischen Folgen der wirtschaftlichen Nutzung dieses so wertvollen Elements handelt der Film aber auch von kulturellen Gegensätzen: Während in Las Vegas Touristen die Wasserspiele einer spektakulären Springbrunnenanlage bestaunen, pilgern im indischen Haridwar anlässlich des Kumbh Mela-Festes Millionen von Menschen zum rituellen Bad im Ganges, um sich von ihren Sünden zu reinigen.

Der wundersame Katzenfisch

(MX 2013, Regie: Claudia Sainte-Luce)

Stiche und Scherben
von Carsten Moll

Ein grauer Tag bricht an in der mexikanischen Industriemetropole Guadalajara. Zur morgendlichen Routine der schweigsamen und selten lächelnden Protagonistin Claudia gehört neben dem Sich-aus-dem-Bett-quälen auch das Sortieren von bunten Cornflakes-Kringeln: …

Ein grauer Tag bricht an in der mexikanischen Industriemetropole Guadalajara. Zur morgendlichen Routine der schweigsamen und selten lächelnden Protagonistin Claudia gehört neben dem Sich-aus-dem-Bett-quälen auch das Sortieren von bunten Cornflakes-Kringeln: Die violetten werden behutsam aus der Milch gefischt und fein säuberlich auf dem Kopfkissen drapiert, während der Rest der eingefärbten Zuckerflocken getrost gegessen werden kann. Eine komische Person also, diese Claudia, die mit ihrer neurotischen Verhaltensauffälligkeit im Kino gut aufgehoben zu sein scheint – als Heldin auf der Leinwand und wohl ebenso im Zuschauersaal.

Irritierender als die Marotte an sich ist da schon der Ton, in dem „Der wundersame Katzenfisch“ seine Hauptfigur und deren merkwürdige Rituale einführt. Denn hier werden nicht mit einer penibel abgestimmten Farbpalette und symmetrischer Strenge liebenswerte Verschrobenheiten vorgeführt, wie es (nicht bloß) im US-amerikanische Independentkino seit Wes Anderson mit ermüdender Beharrlichkeit geschieht. Statt eine humorvolle Distanz zu wahren, wagt sich die zitternde Handkamera in Claudia Sainte-Luces Debütfilm ganz nah ran an den Körper der Protagonistin. Und von der Tonspur dröhnt dumpf und beklemmend ein tiefes, viszerales Unbehagen, das im Skurrilen stets auch ein pathologisches Moment mitschwingen lässt.

Erst nach und nach dringt auch die Außenwelt ans Ohr, das Gefühl von Stumpfsinn aber hallt noch nach. Draußen auf den Straßen blinken nervös die Neonreklamen und kitschiger Weihnachtsschmuck um die Wette, während Claudia sich auf den Weg zu der täglichen, Arbeit genannten Schikane im örtlichen Supermarkt macht. Das Radio im Bus leiert dazu irgendwas von 24 Stunden Emotionen, die mitten ins Herz gehen. Das Organ, das Claudia aber schließlich aus ihrem tristen Alltag reißt, ist ein anderes: Die Appendix vermiformis ist entzündet und mit dem pathologischen Befund beginnt dann auch eine Heilungsgeschichte, die weit über Claudias Eingeweide hinausgehen soll.

Im Krankenhaus macht die vereinsamte junge Frau nämlich eine folgenreiche Bekanntschaft. Sie lernt die an AIDS erkrankte Martha kennen und wird von der alleinerziehenden Mutter kurzerhand in deren chaotisches Familienleben integriert. Wer bei dieser schicksalhaften Ausgangssituation das Schlimmste befürchtet – sowohl für Marthas Leinwandleben als auch für den eigenen Kinobesuch –, kann zumindest teilweise entwarnt werden. Denn selbstverständlich muss Martha am Ende kurz vor dem Abspann dran glauben, aber die Regisseurin und Drehbuchautorin Sainte-Luce erzählt äußerst klug und konsequent an den lauernden Rührseligkeiten ihres Stoffes vorbei und hat auch nie so viel Respekt vor dem Tod, dass sie gleich in Ehrfurcht erstarrt und ihrem Film das ganze Leben austreibt.

Das fängt an mit der Darstellung von Marthas vier Kindern, die sich zwar hilfsbereit um die sterbende Mutter scharen und sie pflegen, sich dabei aber immer einen gesunden Egoismus bewahren und nie ihre eigenen Konflikte aus den Augen verlieren. Da wird sich noch am Krankenbett mit dem kleinen Bruder gekloppt und wenn Marthas Zweitälteste die Nacht an der Seite der Mutter verbringen soll, anstatt auf eine Party zu gehen, zieht sie auch das entsprechende Gesicht. Mit kräftigen Strichen skizziert Sainte-Luce diesen Familienkosmos und bedient dafür auch so manches Klischee, zeigt konsumgeile Teenager, missgünstige Chefinnen und verfressene Dicke.

Effizient erzählt der Film so seine im Kern simple und straighte Geschichte und nutzt seine Ressourcen dann lieber, um immer wieder abzuschweifen und sich in kleinen Episoden zu verlieren. Dass dabei vieles nur angerissen wird, stört nicht, denn gerade in der Auslassung beschwört Sainte-Luce auf eindrucksvolle Weise die Fülle ihres filmischen Universums. Beinahe wie eine Geste der Bescheidenheit wirkt es da, wenn Kamerafrau Agnès Godard sich gemeinsam mit Claudia und einer Handkamera zum ersten Mal in Marthas Zuhause wagt und versucht in einer langen Einstellung möglichst viel von dem lebhaften Treiben aufzuschnappen. Schnell wirkt nicht nur Claudia, sondern auch die Filmkamera verloren im Angesicht dieser Dynamik, die über falschen Pathos und Pointen einfach hinwegfegt.

Dass es in der Realität eh nicht läuft wie im Kino, diese Erfahrung macht auch Martha. Eigentlich hatte sie ja geplant, dass ihre Asche am Meer verstreut wird, so wie sie das in den Filmen gesehen hat. Aber der eigene Trip zum Strand lässt diesen Traum schnell platzen, die Widerhaken der Realität bohren sich ins Fleisch: Die eine Tochter wird von einer Qualle gestochen, der Sohn von einer Biene, eine andere Tochter tritt in eine Glasscherbe und dann kommt Martha auch schon das Kotzen und sie muss zurück ins Krankenhaus. Eine Ode an das Leben sieht anders aus, Sainte-Luces Film ist dann eher ein Haiku über KFZ-Versicherungen, Stiche, Scherben und die guten Chips in der grünen Tüte.

Tanta agua – Nichts als Regen

(UY / MX / NL / D 2012, Regie: Ana Guevara, Leticia Jorge)

Baden verboten
von Wolfgang Nierlin

Es regnet oft und ausgiebig und vor allem echt in diesem schönen, kleinen Film aus Uruguay, der das Wasser bereits in seinem Titel trägt. „Tanta agua – Nichts als Regen“, …

Es regnet oft und ausgiebig und vor allem echt in diesem schönen, kleinen Film aus Uruguay, der das Wasser bereits in seinem Titel trägt. „Tanta agua – Nichts als Regen“, das Spielfilmdebüt der beiden Regisseurinnen Ana Guevara und Leticia Jorge, ist ein sehr trocken und lakonisch erzählter Regenfilm, der sein leitmotivisches Element Wasser sowohl inhaltlich als auch metaphorisch auf vielfältige Weise einsetzt. Unspektakulär, aber bestimmt entsteht so eine fast soghafte Atmosphäre der Langeweile und Tristesse, ein Raum des Stillstands, in dem sich die Mitglieder einer dysfunktionalen Familie zögerlich aufeinander zu bewegen. Verstärkt wird dieses Verlorenheitsgefühl noch durch die vielen distanzierten Blicke durch Fensterscheiben, die einen klaustrophobischen Rahmen setzen und die portraitierten Figuren förmlich einsperren, aber damit auch in eine verschärfte Beziehung zueinander bringen. Die sparsam eingesetzte, irgendwie illusionslos dahinfließende Musik nimmt diese Stimmung kongenial auf. Stilistisch und in seinem tragikomischen Tonfall erinnert „Tanta agua – Nichts als Regen“ mitunter an die Arbeiten des ebenfalls aus Uruguay stammenden Filmemachers Pablo Stoll.

Schon als der geschiedene Familienvater Alberto (Néstor Guzzini), ein korpulenter Chiropraktiker aus Montevideo, seine beiden Kinder Lucía (Malú Chouza) und Federico (Joaquin Castiglioni) bei seiner Ex-Frau Carmen für eine gemeinsame Ferienfahrt abholt, regnet es in Strömen. Während das Wasser unvermindert heftig auf das Dach und die Scheiben des Autos prasselt, dessen Kennzeichen übrigens die Buchstaben „SAD“ trägt, geht es im Wageninnern verstockt und schweigsam zu. Das pubertierende Mädchen ist lustlos und genervt, derweil vermisst ihr jüngerer Bruder die Mama. Alberto wiederum beschränkt seine Kommunikation auf erzieherische Anweisungen und versucht etwas unbeholfen, im Feriendomizil in der Nähe von Salto angekommen, durch trotzigen Aktionismus die Stimmung aufzuheitern: „Schwimmen im Regen ist am schönsten.“ Doch wegen Blitzschlaggefahr ist der Badebetrieb verboten.

Also versucht es Alberto mit einer wenig prickelnden Besichtigung eines Wasserkraftwerks und einer Exkursion zum Río Uruguay. Doch erst die Begegnung mit außenstehenden Figuren bringt etwas Bewegung in das festgefahrene Beziehungsgeflecht der Figuren. Während Albert heimlich einen Urlaubsflirt beginnt und sich „Fedo“ mit einem Gleichaltrigen aus der Nachbarschaft anfreundet, verliebt sich „Lu“ schüchtern in einen etwas älteren Jungen. Als dieser sich jedoch mehr für ihre neugewonnene Freundin Madelón (Sofía Azambuya) interessiert, reagiert Lucía mit Eifersucht und Enttäuschung. Zwar findet sie zögerlich und fast unmerklich doch noch zu einem Austausch mit dem Vater, der sich entschieden und verantwortungsbewusst immer wieder um seine Kinder kümmert, doch im vielschichtigen Schlussbild möchte sie nur noch verschwinden. Auf ebenso originelle wie kunstvolle Weise verbinden Ana Guevara und Leticia Jorge in ihrem Film das stille Drama der Pubertät mit der liebevollen Hommage an einen Vater. Ihren Vätern wiederum haben sie übrigens „Tanta agua“ gewidmet.

Oktober November

(AT 2013, Regie: Götz Spielmann)

Fragen, größer als die Sprache und das Denken
von Ulrich Kriest

Als im vergangenen Herbst „Oktober November“, der neue Film des österreichischen Autorenfilmers Götz Spielmann, im Rahmen der Hofer Filmtage gezeigt wurde, stach er gerade durch seine Zärtlichkeit und Achtsamkeit auf …

Als im vergangenen Herbst „Oktober November“, der neue Film des österreichischen Autorenfilmers Götz Spielmann, im Rahmen der Hofer Filmtage gezeigt wurde, stach er gerade durch seine Zärtlichkeit und Achtsamkeit auf fast schon obszöne Art und Weise aus dem herrschenden Mittelmaß der deutschsprachigen Filmproduktion heraus. Im Rahmen einer durchaus nicht unkonventionell, dafür aber extrem präzise angelegten und nicht in Dialog überführte psychologische Familiengeschichte ist es Spielmann mit großer Meisterschaft gelungen, anhand diverser, miteinander eng verzahnter und einander spiegelnder Konfliktfelder mustergültig einen ganzen Katalog von Fragen um das Thema der Identität aufzufächern, Schicht um Schicht.

Anhand der scheinbar nur skizzierten, tatsächlich aber seriös in der Tiefe verankerten Lebensläufe seiner Figuren stellen sich Fragen wie „Warum bin ich so, wie ich bin?“ oder auch „“Bin ich das, was ich sein kann?“ Das klingt jetzt vielleicht philosophisch schwerblütig, aber es gelingt Spielmann, seinem Kameramann Martin Gschlacht und einem Ensemble erstklassiger Darsteller wie Ursula Strauss, Nora von Waldstätten oder Peter Simonischek diese komplexe Familienaufstellung so packend wie einen Abenteuerfilm zu gestalten – ohne auf die Klaviatur des Melodrams zu setzen. Wie in seinem „Oscar“-nominierten Vorgänger „Revanche“ (2008), der auch bereits von Freiheit und Schicksal, von Träumen und Illusionen erzählte, wählt Spielmann einen separaten Zugang zu seinen Figuren, bevor er die Handlungsebenen miteinander verschränkt.

Da ist Sonja, die einst die väterliche Gastwirtschaft in der österreichischen Provinz hinter sich ließ, um in Berlin ein Filmstar zu werden. Wir erleben Sonja als professionell und unterkühlt, wenn sie mit einem Kollegen Essen geht oder sich mit Produzenten trifft und souverän-ehrgeizig bei der Arbeit an einem Fernsehkrimi. Begegnungen mit einem Ex-Geliebten und vor allem mit dessen Ehefrau offenbaren dagegen Sprünge und Widersprüche zwischen öffentlicher Maske und ihrer Persönlichkeit. Von einer Depression ist kurz die Rede. Sonjas Schwester Verena ist im Dorf geblieben, ist dem patriarchalen Vater beigestanden, als die Mutter früh starb. Sie hat einen gutmütigen Mann geheiratet und ist Mutter eines Sohnes. Sie, die es wohl nicht mögen würde, »bodenständig« genannt zu werden, überrascht uns mit einem Verhältnis zum Landarzt Andreas, der sich seinerseits für ein zurückgezogenes Leben mit seinen Büchern entschieden hat. Er wird wohl seine Gründe dafür gehabt haben.

In diese Konstellation kommt nun Bewegung, als der übermächtige Vater, schon länger nicht gesund, einen schweren Herzinfarkt erleidet, den er nur überlebt, weil Verena geistesgegenwärtig genau das Richtige tut. Nach seiner Nahtoderfahrung scheint der Vater verändert, ganz im Reinen mit sich und der jetzt in seinen Augen vernünftigen Weltordnung. Auch Sonja reist ans Krankenbett und damit zurück in eine Welt, die sie hinter sich gelassen zu haben glaubt. Alte, längst verdrängte Konflikte brechen auf.

Spielmann hat „Oktober November“ im Gespräch als ein „episches Kammerspiel“ bezeichnet, als episch erzähltes Kino ohne den Aufwand des epischen Erzählens. Die Fragen nach der Identität, die der Film jetzt entschieden aufwirft, führen weit zurück in die Kindheit der beiden Schwestern, die sich ja längst einen (nicht stimmigen) Reim auf ihr Leben gemacht haben, der das Gegenüber immer mitdenkt. Auch dies ein Grundmuster autobiografischen Erzählens, das Spielmann nicht nur konstatiert, sondern vielleicht auch kritisiert. Und jetzt heißt es plötzlich mit Nachdruck: „Bin ich das, was ich sein will, vielleicht sein kann?“ Sonja ist ein Profi darin, ihr Leben so oberflächlich zu erzählen, dass es ein rundes, stimmiges Bild ergibt. Dass dies einer Kraftanstrengung bedarf, die bald nicht mehr zu leisten sein wird, wird ihr klar, als der Arzt Andreas ihr Flirtangebot kühl abweist: „Bewundert und geliebt zu werden? Geht das überhaupt zusammen?“

Es bedarf keiner theatralisch inszenierter Invektiven, um die scheinbar massive Beziehungslandschaft dieser Familie im Angesicht des Todes und im Bewusstsein der Sterblichkeit zu verflüssigen, aber der Film leistet sich trotzdem den Luxus eines Theatercoup, der die komplette Familiengeschichte in ein anderes Licht rückt, bestimmte gut eingeübte Zuschreibungen auflöst und das Motiv des Ehebruchs als Variation der Frage „Bin ich das, was ich sein kann?“ erscheinen lässt. Spielmann wertet auch hier nicht, sondern macht seine Erzählung durch diesen Schachzug so kompliziert und unberechenbar, dass zumindest für Sonja der Boden unter den Füßen wegbricht.

„Oktober November“ gibt keine Antworten, sondern beschränkt sich gewissermaßen ganz auf die Kunst, mit großer Verbindlichkeit präzise Fragen zu stellen. Mit einer großen Selbstverständlichkeit, die auch im Falle von „Revanche“ überraschte und überzeugte, wagt sich Götz Spielmann heran an die spirituelle Dimension seiner Geschichte, die sie in seinen Augen erst zur Kunst macht. „Kunst ist doch überhaupt erst dann relevant, wenn sie auch eine spirituelle Ebene hat. Wo die fehlt, ist es bloß bebilderte Ideologie für eingeweihte Konsumgruppen, die sich wechselseitig ihre Urteile und Vorurteile bestätigen“, erklärt der Filmemacher selbstbewusst auf Nachfrage. So selbstbewusst, dass er sogar das unerhörte Risiko eingeht, das präzise und auf genauer Beobachtung basierende Spiel seiner Darsteller mit dem mittelmäßigen Filmemachen am Fernsehspiel-Set zu kontrastieren. Das ist schon ein unerhörter Streich! Mittelmäßige Kunst durch große Kunst, die hier durch Achtsamkeit, Humanismus und Kritik am status quo entsteht, nicht nur zu kritisieren, sondern ihr sogar einen Platz im Diskurs einzuräumen, ist nicht zuletzt ein riskantes Kompliment in Richtung des Kinozuschauers, auf dessen wachen Verstand Götz Spielmann setzt. Er geht mit seinem Meisterwerk gewissermaßen in Vorleistung. Und es ist natürlich auch eine Herausforderung für Nora von Waldstätten, die in einem gelungenen Film gleichzeitig auch noch den Star in einem mittelmäßigen Film geben muss, der wiederum für Spielmann durchaus repräsentativ fürs Ganze sein dürfte.

Boyhood

(USA 2014, Regie: Richard Linklater)

Improvisierte Augenblicke
von Wolfgang Nierlin

Ein kleiner Junge liegt auf dem Rücken im Gras und blickt zum Himmel. Er stellt sich dabei vor, wie sich ein Wassertropfen im Zusammenprall mit der Luft in eine Wespe …

Ein kleiner Junge liegt auf dem Rücken im Gras und blickt zum Himmel. Er stellt sich dabei vor, wie sich ein Wassertropfen im Zusammenprall mit der Luft in eine Wespe verwandelt. Der 6-jährige Mason (Ellar Coltrane) ist ein stilles, verträumtes Kind, das mit schulischer Disziplin noch nicht viel anfangen kann und lieber mit seinem Freund Tony Graffitis sprüht oder in einem Katalog mit Damenunterwäsche blättert. Gegenüber seiner zwei Jahre älteren, ziemlich überkandidelten Schwester Samantha (Lorelei Linklater), die durch vorlaute Besserwisserei und zickige Starallüren nervt, fühlt er sich vernachlässigt und unterlegen. Noch lebt Mason in einer magischen Welt, die jedoch immer deutlichere Risse bekommt. Denn seine junge, alleinerziehende Mutter Olivia (Patricia Arquette) ist in ihrer Doppelrolle als Ernährerin und Erzieherin überlastet und plant einen Umzug von Austin nach Houston, wo ihre Mutter lebt.

In Richard Linklaters Coming-of-Age-Film „Boyhood“, der (mit autobiographischen Anleihen) über einen Zeitraum von zwölf Jahren hinweg von der Kindheit und Jugend eines texanischen Jungen erzählt, sind es immer wieder Umzüge, die schmerzliche Brüche erzeugen. Mason verliert Freunde, muss sich an neue Mitschüler gewöhnen und sich mit wechselnden, meist autoritären Vaterfiguren auseinandersetzen. Einprägsam beschreibt Linklater dieses Spannungsfeld aus Fremdbestimmungen, dessen formenden und manipulierenden Kräften der Junge unfreiwillig ausgesetzt ist. Unter all diesen Einflüssen und Bevormundungen geht es aber auch um die Bewahrung der eigenen introvertierten Identität, die immer wieder in neue Richtungen gelenkt wird und sich im Jugendalter in künstlerischen Ambitionen manifestiert. Einmal sagt Mason zu seiner Freundin Sheena (Zoe Graham), die zugleich seine erste große Liebe ist, er wolle sich lebendig fühlen und könne sich deshalb nicht verbiegen.

„Du bist verantwortlich für deine eigenen Handlungen“, steht auf einem Schild am Eingang zum Klassenzimmer. Dort beginnt der Unterricht mit dem Fahneneid. Mit der Darstellung von Patriotismus, Machogehabe, Waffenkult und christlicher Religion wirft Linklater immer wieder bezeichnende Streiflichter auf den wertkonservativen, teils reaktionären Lebensstil in weiten Teilen der US-amerikanischen Gesellschaft. Seine zeitgeschichtlichen Referenzen auf den Irak-Krieg, Obamas Wahlkampf oder auch die Harry Potter-Manie bleiben jedoch oberflächlich und ohne Vertiefung. Überhaupt neigt die szenische, bruchstückhafte Erzählweise zum Plakativen und zu abfallender Spannung. Auch wenn sich die erzählerischen Lücken imaginativ meist schließen lassen, würde man bei konkreten Anlässen manchmal gerne erfahren, wie’s weitergeht mit den Suchbewegungen des aufwachsenden Jungen.

Trotzdem gibt es viele intensive und vor allem intime Momente, aus dem normalen Alltag herausgegriffen, die Masons Persönlichkeit nachhaltig prägen. Eindrucksvoll werden Entwicklungen schließlich an den Körpern selbst ablesbar, denn Richard Linklater hatte das Glück, für seine fiktionale Langzeitstudie „Boyhood“ über die Jahre hinweg mit den gleichen Schauspielern drehen zu können. „Wer willst du sein?“, wird Mason einmal von einem Lehrer gefragt. Die amerikanischen Selbstermächtigungsmythen, deren Forderungen sich Mason mitunter bewusst entzieht, wirken stark und auf vielen Ebenen dieses Films. Dass es für ein gelingendes Leben hingegen kein Rezept gibt, drückt einmal Masons Vater (Ethan Hawke), selbst noch ein Kindskopf und im Umgang mit seinen Kindern immer etwas überdreht, folgendermaßen aus: „Wir alle improvisieren.“ Mason wiederum wendet diesen spielerisch- ausprobierenden Zugang zum Leben danach ins unkontrolliert Passive, wenn er – auf einem Mushroom-Trip inmitten der Natur – in Abwandlung einer bekannten Sentenz überlegt, dass es vielleicht der Augenblick ist, der „uns (be)nutzt“ – hier und jetzt.

Edge of Tomorrow

(AU / USA 2014, Regie: Doug Liman)

Stirb schnell und oft
von Drehli Robnik

Bei Hollywood-Actionkino, wie es seit einiger Zeit gern wieder im Science Fiction-Modus antritt, heißt es oft (und meist aus Bequemlichkeit), die Action, die Special Effects, die Animationen, das sei eh …

Bei Hollywood-Actionkino, wie es seit einiger Zeit gern wieder im Science Fiction-Modus antritt, heißt es oft (und meist aus Bequemlichkeit), die Action, die Special Effects, die Animationen, das sei eh okay; aber die Story – das, wovon unser Deutschlehrer gesagt hat, dass dafür das Kino erfunden bzw. noch nicht abgeschafft worden sei – lasse doch sehr zu wünschen übrig.

Juhu! Mit Doug Limans 'Edge of Tomorrow' gibt es endlich wieder einen Hollywood-Actionfilm, bei dem wir es genau umgekehrt sehen können (und sei es auch nur aus Bequemlichkeit). Die Actionmomente dieses Films, die Kämpfe bei der Rückeroberung Kontinentaleuropas von Alien-Invasoren, die Gestaltung und Moves der Tentakelmonster selbst, Geballer und Pyrotechnik, die Verwüstung französischer Strände, Trailerparks, Bauernhöfe und (vielleicht am wenigsten schade) des Louvre samt Pyramide – das alles ist manchmal nicht viel mehr als lauwarm. Und dass das Zentrum des Alien-Kollektivs reichlich uterin aussieht und der Held leblos darüber im Wasser schwebt, bevor er wieder erwacht, das macht visuell auch keinen schlanken Fuß. Aber es macht zumindest Sinn in einem Zeitreise- und Mindgame-Film, der seine Akzente vom Poltern in den Plot und vom Getrampel ins Temporale verlagert hat.

Ein zu den Landungstruppen strafversetzter PR-Offiziers-Schnösel wird nach jedem Kriegstod im Moment seines verkaterten Aufwachens am Tag davor wiedergeboren und erlebt alle Schrecken, samt dem fatalen Scheitern der Gegenoffensive auf französischen Atlantikstränden, aufs neue; zwecks Rettung der, öh, Menschheit muss er lernen, es besser zu machen, und so nutzt sein Vorwissen über immer mehr Detailabläufe. Das bildet im Kleinen die Erfahrung von Spielstages nach ('Bis hierher weiß ich, was kommt – ab jetzt ist es Neuland' – oder Game Over) und im Großen den Look und die Logistik des D-Day vor genau siebzig Jahren. Hinzu kommt die Erster Weltkriegs-Chiffre im Beinamen einer Superkriegerin, die zum Propaganda-Idol der kampfbereiten Menschheit aufgebaut wurde: Angel of Verdun.

Und da sind wir schon mitten in dem amüsanten Pärchenplot: Tom Cruise, gerade in seinem Grinsen gespalten wie in seinen besten Rollen, wird von besagtem martialischen Engel (souverän wie stets: Emily Blunt) geschult und initiiert; bei jedem Scheitern macht sie an ihm Reset per Kopfschuss. Das male panic-Potenzial dieser abstrusen Prämisse zeitigt Screwball und Slapstick (beim Sich-Zusammenraufen bzw. Gegen-Wände-Laufen), Momente von Montagehumor und Masochismus: Die Erzählung signalisiert, dass sich über die nächsten fehlgegangenen Anläufe des (nicht nur am Schmerz, sondern gar am Tod) Lernenden mit einer Schnellschnittfolge von 'Eh schon wissen'-Bildern flott hinweggehen lässt; und unser Grinsekater Tom landet ständig in Situationen, wo du ihm schadenfreudig 'Ätsch!' zurufen möchtest, wenn er an der Kippe zum Morgen ohnmächtig und tot ins Gestern zurückfällt. Tom Maso ist Tom Morrow: Ätsch of Tomorrow, indeed.

Scherz beiseite: Tatsächlich geht es hier ums Ausspielen masochistischer Phantasmen des Klein-Machens, bei denen wir Cruise als Hass-Objekt beim Geschunden- und vom Bonvivant zum Krieger Bekehrt-Werden zuschauen können; oder wir können uns mit ihm identifizieren, wenn African American Sergeant, Redneck-Unteroffizier, Hispanic Kameradin oder eben Amazone Emily ihn unsanft erniedrigen, rumkommandieren und -schubsen. Ein Star wird geschlagen. (Und unter Prügeln wiedergeboren, sofern er zur Selbstaufgabe bereit ist.)

Der Krieg wird da als Neutralisierer von Klassen-, die (Kampf-)Technik als Umkehrer von Gender-Normalität projiziert. Das ist alles nicht so maliziös in Sachen stilistischer und rhetorischer Fascho-Bellizismus-Emulation wie in 'Starship Troopers' (auch der hatte ja viel Weltkrieg II-Flair in der Optik und im Pflicht-Ethos), auch nicht so queer wie manches in dem Drehbuch, das 'Edge of Tomorrow'-Co-Autor Christopher McQuarrie seinerzeit für Cruisens Stauffenberg-Film 'Valkyrie' geschrieben hat; aber beides klingt da an (etwa im Sand-Insekten- und Kollektivhirn-Design der Invasoren).

Wollten wir zum Source Code (jaja) für 'Edge of Tomorrow' vorstoßen – für diesen Kontrast-durch-Korrespondenzfilm zum stylishen Vorjahres-Selbstspaltung-im-Alienkriegs-SciFi-Drama mit Tom Cruise, dessen Titel wir vergessen haben (weil er Oblivion' lautet) –, dann würde uns wohl manches aus der Cyborg-Neoklassik begegnen: das 'Führe deinen Führer'-Motiv aus 'The Terminator', die hier in ihrer Klobigkeit als dämlich ausgestellten Kampfrobot-Bodysuits aus 'Avatar', 'The Abyss' und dem Showdown von 'Aliens', aus letzterem auch die Besetzung von Bill Paxton als keppelnder Unteroffizier und Blunt als Trägerin einer von Sigourney Weaver entzündeten Fackel (SciFi-Actionheldin) – das sind charmant formulierte Grüße an James Cameron. Ansonsten grüßt hier das Murmeltier – durchaus höflich, warum auch nicht?

Danger 5

(AUS 2012, Regie: Dario Russo)

Reste verwerten
von Carsten Happe

Ich möchte gerne Quentin Tarantino die Verantwortung dafür übertragen, dass es eine Serie wie „Danger 5“ gibt, nicht allein wegen der allzu offensichtlichen Analogien zu dem verspielten Geschichtsrevisionismus der „Inglourious …

Ich möchte gerne Quentin Tarantino die Verantwortung dafür übertragen, dass es eine Serie wie „Danger 5“ gibt, nicht allein wegen der allzu offensichtlichen Analogien zu dem verspielten Geschichtsrevisionismus der „Inglourious Basterds“, die hier zum Auftakt jeder Episode mit einem beherzten „Kill Hitler!“ beinahe in Endlosschleife reproduziert werden, nein, Quentin Tarantino hat ja auch darüber hinaus in seinem gesamten Oeuvre und insbesondere in seiner Fan-Leidenschaft dem B- und C-Movie vergangener Zeiten und versunkener Kinematografien gehuldigt, dass es einerseits eine wahre Freude ist, dem ironischen Zitatenreichtum bis in die letzte Obskurität zu folgen. Andererseits aber, und hier kommt „Danger 5“ wieder ins Spiel, krochen und kriechen im Zuge der Expansion des Tarantino’schen Metaversums unzählige Epigonen aus ihren Nerd-Löchern und hoffen ihrerseits auf ein paar Krümel des Coolness-Kuchens.

Auf dem Papier lässt sich das alles ganz hübsch an: Fünf sexy Spione aus den Reihen der Alliierten treten gegen die aberwitzigsten Auswüchse der Nazi-Gigantomanie an, Sixties-Camp und Japan-Trash flankieren die abstrusen Missionen, die zumindest in den Promillebereich eines James Bond vordringen. In ihren sechs Episoden erschaffen die australischen Serienschöpfer Dario Russo und David Ashby ein wahres Kompendium der Naziploitation: Roboter-Supersoldaten und Nazi-Dinosaurier, immer wieder ein wenig Sleaze um blonde, linientreue Fräuleins in Fetisch-Uniformen, die unvermeidlichen Kunstraubzüge und vermeintlichen Superwaffen der Mad Scientists – alles da, alles wild durcheinandergemixt wie die Cocktails, deren Rezepte als „famous last words“ der dahinscheidenden Verbündeten in jeder Episode als Running Gag zelebriert werden.

Überhaupt wird vieles in „Danger 5“ auf dem Silbertablett dargereicht, jeder visuelle Einfall so lang ausgewalzt, bis er so platt daherkommt wie die restlichen Witzchen, die die Serie ein wenig zu stolz vor sich her trägt. Dabei ist „Danger 5“ nicht vollends ohne Charme, auch wenn sich ihre Macher offenbar entschieden haben, die Ausstrahlung und den Kultappeal mit dem Holzhammer einzutreiben, nein, jede einzelne Episode hat ihre Momente, gerade wenn der Krawallhumor mal einen kurzen Augenblick Pause macht, wenn die Pappkulissen und Miniatureffekte mal nicht so aufdringlich und Beifall heischend in den Vordergrund gedrängt werden, dann ist für eine kurze Weile die aufrichtige Liebe der Macher zu ihrem Subjekt zu spüren, dann überstrahlt sie die fast durchweg amateurhaften Darstellerleistungen – einzig Natasa Ristic als russische Agentin Ilsa (!) ragt bisweilen aus dem Freilichtbühnengeplänkel heraus – dann sind die doppelt und dreifach aus Zitaten, Querverweisen und Hommagen errichteten Barrikaden der Ironie für wenige Augenblicke gefallen.

Aber neben der Liebe zum Subjekt tritt dabei allerdings auch das Unvermögen offen zu Tage, der Serie wenigstens einen Hauch des Eigenständigen zu verleihen, sie aus der Zitathölle zu befreien – wie es eben Tarantino immer wieder schafft, oder ein Wes Anderson, to name just a few. Ähnlich wie bei „Iron Sky“ fehlt jegliches Gespür fürs Timing und die Dosierung der Gags, Albernheit wird mit Humor verwechselt und Penetranz mit der gelungene Pointe. So bleibt ein leidlich schmackhafter Eintopf aus halbgarem Möchtegern-Trash und unterklassiger Puppenkiste – und auch wenn man Quentin Tarantino nun wahrlich einiges ankreiden kann, dies hier ganz sicher nicht.

X-Men: Zukunft ist Vergangenheit

(USA 2014, Regie: Bryan Singer)

Schweben und schweben lassen (und ein Fläschchen Zeit)
von Drehli Robnik

Dieser Film bietet viel (manches davon durchaus wert, es anzunehmen). Zumal tut er das per Fusion zweier Zeitebenen der X-Men-Saga. Unter dem Titel 'X-Men: Days of Future Past' bzw. 'X-Men: …

Dieser Film bietet viel (manches davon durchaus wert, es anzunehmen). Zumal tut er das per Fusion zweier Zeitebenen der X-Men-Saga. Unter dem Titel 'X-Men: Days of Future Past' bzw. 'X-Men: Zukunft ist Vergangenheit' scheint die Zeit zunächst als großes Füllhorn zu fungieren, aus dem es Goodies regnet. Zwei Zeiten heißen dieser Logik zufolge eben zunächst: doppelt so viele Figuren!

Es treten also auf: ein zwergwüchsiger Mutantenhasser und Kampfroboterentwickler, des Weiteren das junge Ich jenes experimentierfreudigen Offiziers, der Wolverine sein Stahlskelett-Trauma verpasst hat bzw. haben wird, sowie der historische US-Präsident mit dem Franchise-adäquatem Schurkenstatus, Pfrnak im Gesicht und X im Namen – Nixon heißt er – im military-industrial-complex-Plot, der anno 1973 spielt (und zwar zunächst in Paris, bei den Verhandlungen, die das US-Engagement in Vietnam beenden).

Dann sind superheroische Akteur*innen im Spiel, die seit dem Abschluss der linear ablaufenden X-Men-Trilogie anno 2006 nicht mehr mit dabei waren, so etwa Halle Berry als Storm oder Anna Paquin als Rogue; ihr Ort ist ein düsteres, irgendwie billig dekoriert wirkendes Tempelgelände in China, wo der Zeitreise-Plot seinen Ausgang nimmt und der eine, weitaus schwächere Strang der ineinander montierten Showdowns stattfindet.

Relevanter allerdings ist das Auftreten von Regulars in Doppelbesetzung: Ian McKellen und Michael Fassbender als alter und junger Magneto, Patrick Stewart und James McAvoy als Professor Xavier im Zwiegespräch mit sich (und mit Stoppel- bzw. Vollbart). Überhaupt zählt in diesem Film die Kampfkunst der Überredung viel; und da zeigt sich vielleicht am deutlichsten, was es wert ist, dass hier mit Bryan Singer derjenige Regisseur tätig ist, der anno 2000 das X-Men-Kinofilm-Franchise begonnen hat (und der 2003 mit 'X-2' den vermutlich besten Film der Reihe vorgelegt hat; den besten neben 'X-Men First Class', mit dem 2011, in der Regie von Matt Vaughn, die zur Zeit der Kubakrise 1962 jungen Xavier, Mystique und Magneto eingeführt und die schmerzlichen Themen einer Herkunft aus dem Holocaust fortgeführt worden waren).

Singer brilliert in seiner dritten X-Men-Inszenierung weniger als Actionregisseur – das hat er eher bei den schwindelerregenden Fallhöhenspielen im Vorjahrs-Fantasyfilm 'Jack the Giant Slayer' getan – denn als einer, der auch an ausufernden Rededuellen noch deren handlungs- und selbstverhältnisethischen Gehalt herauszustellen vermag. (An diesem Punkt werden auch Kontinua mit älteren Singer-Filmen deutlich: Was sind 'The Usual Suspects' und vor allem der ins Mutantisch-Versehrte gequeerte Stauffenberg-Film 'Valkyrie – Operation Walküre' anderes als Dramen, in denen versucht wird, jemanden, zum Teil auch mittels eindrucksvoller Fingierungen, zu überreden?)

Alles läuft auf prekäre und riskante Konstruktionen und auf die Notwendigkeit zu, diese auszuhalten, einzuhalten, aufrecht zu erhalten – eben gerade in ihrer Unsicherheit, die Voraussetzung dafür ist, dass die Konstruktion nicht kollabiert: Ein Kollaps würde entweder durch Selbstzerstörung erfolgen (Xaviers zeitweise Verlotterung und Haartrachtverzottelung als Alkoholiker und Schmerzmittel-Junkie) oder, wahrscheinlicher, durch die Errichtung lückenlos fester Sozialgebäude, was die Verfolgung und Zerstörung der jeweils Störenden voraussetzt.

Im X-Men-Jargon heißt das: Vertraue der Bereitschaft der Anderen, dir zu vertrauen (auch wenn beides unsicher ist)! Akzeptiere Schmerz- und Schwebezustände anstelle totaler Sicherheit und Integrität. Neben dem mittlerweile zum Hollywood-Standard gewordenen Imperativ, sich dem eigenen Trauma zu stellen, gewinnt solches Ethos hier doch einige spannende Facetten, etwa anhand der X-Men-typischen Variationen auf Coming out-Themen, anhand Xaviers Entscheidung, seine menschlich gesunden Beine für sein mutantisches Netzwerkgehirn zu opfern, generell anhand der komplizierten Franktionierungen und kurzzeitig gegen gemeinsamen Außenfeinde konstellierten Bündnisse und sonstigen Zweck-Setzungen; da reißt es vor allem Mystique, vormals Raven, ziemlich herum. Jennifer Lawrence spielt diese Figur – 2000 bis 2006 von Rebecca Romijn als süffisanter blaubusiger Vamp angelegt – als veritable Leidensikone. (Naja, und Logan vulgo Wolverine, die überschätzteste und per Spinoffs im Kino am häufigsten präsente Figur der ganzen Saga, kommt auch viel vor, muss ja.)

Zeit ist hier also auch Spaltung, immer neue Zerteilung der Figuren in ihren Beziehungen zu sich und zueinander. Zeit ist aber auch, was rasch vergeht und dadurch Begehren in uns weckt – sei es als den Wunsch, Momente mögen länger dauern (was ja bedeutet, dass sie grade kurz genug sind), oder als Pop- und Stil-Nostalgie. Anders gesagt: Die regelrechte Botschaft, dass es gut ist, sich im Vorläufigen und Unreinen (im Mit-Sein mit nie restlos kalkulierbaren Anderen) aufzuhalten, und falsch, aufs Totale und Erfüllte zu zielen, die gilt auch für den Film selbst: 'X-Men: Days of Future Past' macht recht gute Figur in episodisch kurzen Einzelszenen (etwa wenn Magneto mit Schlapphut ins Pentagon geht, um sich seinen hinter Panzerglas gelagerten geliebten Helm und Körperpanzer zu holen) und in witzigen Detailmomenten – so etwa in der Auffächerung des Geschehens durch Wahrnehmungsapparate, die mit dead media-Retro-Gusto ausgestellt werden: Super8-Amateurkamera-Bilder; skulpturale TV-Monitor-Wände; ein Videorecorder, der alle drei (!) bundesweiten Fernsehprogramme gleichzeitig aufzeichnen kann; ein mit Schmalfilm-Screen ausgestatteter Proto-Laptop; eine Telefonzelle, Vorläuferin des cell phone.

Unförmig, banal und schlicht hässlich ist der Film hingegen im Ganzen und dort, wo er voll aufdreht: in den Holocaust-Analogien der vom Krieg gegen Kampfroboter verdüsterten Zukunfts-Rahmenhandlung (wie aus einem 'Terminator'-Ripoff), in den Action-Kloppereien (-Dögeleien, sagt die Ösi), in den animierten Fahrten ins Innere genetischer und robotischer Körper, überhaupt bei den straighten Rein-Raus-Quasi-Kamerabewegungen, sowie im triumphalen Gestus, die Zeit als große Offenheit (Vergangenheit als unbekannte neue Welt) und zugleich als das, was alle Wunden heilt, erscheinen zu lassen: Eh kriegt er sein Mädel am Ende halb wieder, der Wolverine, und rote Haare hat sie diesmal, und ihr eifersüchtiger Gemahl ist auch gleich mit Argusaugen dabei…

Wie gesagt: Nicht im Straighten und im Heilen findet dieser Film sein Glück, sondern in Schwebezuständen. Und die werden auch im physischen Sinn anschaulich: etwa wenn Magneto aufsteigt, um sogleich ein ganzes, gänzlich leeres Stahlbeton-Sportstadion vom Boden loszureißen und mit hoch zu nehmen (das dann, als Paraphrase auf den Ring des Pentagon und die im Film ausgiebig bildwirksame Frühsiebziger-Brutalismus-Architektur, als ringförmige Abschottung des Weißen Hauses dienen wird); oder wenn – und auch hierin hallt die irre White House-Szene vom Beginn von 'X-2' ebenso nach wie die in suspense hochgehobenen Kalter-Kriegs-Flotten oder die Hakenkreuzmünze im Zeitlupenflug in 'X-Men: First Class' – ein junger mutierter Pink Floyd-Fan mit etwas anachronistischer Varsity-Jacke und der Fähigkeit, Sekundenbruchteile zu seiner endlosen Zeit-Spielwiese auszudehnen, einen eingefrorenen Moment lang durch einen Raum im Pentagon saust und schwebt und die fast reglosen Menschlein und endlos dahinfliegenden Revolverkugeln neu arrangiert, während dazu Jim Croces zarte Ballade 'If I Had Time in a Bottle' erklingt.

Stereo

(D 2014, Regie: Maximilian Erlenwein)

Und du, mein Freund, bist der Böse …
von Harald Steinwender

Was ist eigentlich mit dem deutschen Kino los? Da hat man sich bequem in seinen Vorurteilen eingerichtet und ein für alle Mal beschlossen, dass die Deutschen einfach kein Genrekino können …

Was ist eigentlich mit dem deutschen Kino los? Da hat man sich bequem in seinen Vorurteilen eingerichtet und ein für alle Mal beschlossen, dass die Deutschen einfach kein Genrekino können (bzw. es nicht einmal mehr versuchen). Und dann begegnet einem mit Andreas Prochaskas „Das finstere Tal“ ein exzellenter deutsch-österreichischer Western, kurz darauf mit Jakob Lass‘ Mumblecore-Indiefilm „Love Steaks“ eine tatsächlich lustige Komödie – und nun mit Maximilian Erlenweins „Stereo“ auch noch ein Thriller, der sich ganz bewusst auf das Formelhafte des Genrefilms bezieht und wider Erwarten sowohl campy als auch effektiv ist.

Dabei fängt „Stereo“ scheinbar so vorhersehbar und fernsehfilmtauglich-seriös an: Jürgen Vogel spielt einen Motorradfan und Mechaniker, der die Großstadt Berlin hinter sich gelassen hat und nun in der brandenburgischen Provinz mit der etwas verhuschten alleinerziehenden Julia (Petra Schmidt-Schaller) zusammenlebt. Erik, von Vogel sehr physisch angelegt – verschwitzt, mit Glatze, knarzender schwarzer Lederjacke und Motoröl an Armen und im Gesicht, aber durch ein albernes „Halunke“-Tattoo als Softie unter harter Schale markiert – kümmert sich liebevoll um Julias Tochter und hat sich auch sonst gut in die kleinbürgerliche Idylle eingefügt. Doch, ach, unser Held hat einen Psychoknacks: Er sieht immer wieder einen merkwürdigen Mann im Kapuzenpulli, der ihn beobachtet. Hinzu kommt, dass auf der Straße dubiose Gestalten herumlungern, die sich bald als Roma-Gangster entpuppen, die – der Zwangscharakter kann es sich wohl nicht anders zurechthalluzinieren – flugs die blond-blauäugige Tochter Julias bedrohen. Der medial hysterisierte angebliche Kindsraub eines blonden Mädchens durch „Zigeuner“ im letzten Jahr wird hier also gleich mitverarbeitet.

Es kommt schließlich, wie es kommen muss: der mysteriöse Fremde im Kapuzenpulli (Moritz Bleibtreu, hier erstmals zusammen mit Jürgen Vogel gemeinsam in einem Film) erweist sich als Einbildung. Was nun aber zum Melodram mit Betroffenheitsbotschaft werden könnte, unterläuft Regisseur Maximilian Erlenwein gleich wieder, indem er die Handlung kurz darauf den nächsten Haken schlagen lässt und entschlossen in die Richtung schwarzer Humor wechselt. Denn Henry (Bleibtreu) gibt sich nicht mit der Funktion als ärgerliche bis potentiell gefährliche Halluzination zufrieden, sondern geriert sich im Folgenden als böses Alter Ego des Helden und versucht, diesen mit mephistophelischen Einflüsterungen zum Bösen zu verführen. Etwa: die nette, aber auch ziemlich normal-langweilige Freundin mal so richtig durchzuvögeln (ohne Vorspiel und Kuscheln danach, von hinten über dem Küchentisch zum Beispiel). Oder: die Ersatz-Kleinfamilie einfach zu verlassen und mit den dubiosen Gestalten, die Erik noch immer belagern und im Gegensatz zu Herrn Bleibtreu bedeutend realer sind, gemeinsame Sache zu machen und einen Mord zu begehen. Der Besuch beim Psychiater hilft auch nicht, bietet aber eine wunderbare Möglichkeit für Fabian Hinrichs, seine Rolle aus Doris Dörries „Alles inklusive“ ganz großartig zu variieren und eine weitere gnadenlos herablassende und bevormundende Arztfigur abzuliefern. Bald darauf kommt dann Georg Friedrich, der sowieso jeden Film veredelt, als tätowierter Oberlude und antisozialer Gangsterboss ins Spiel; Vogel und Bleibtreu wechseln zu dem schönen Satz: „Und du, mein Freund, bist der Böse…“, die Rollen – und der Film vollzieht beherzt die Volte ins endgültig Irreale: Twilight Zone Germany.

Von diesem Punkt aus könnte man Erlenweins Film nun rückblickend als den Versuch eines verunsicherten Familienvaters in der Midlife-Crisis lesen, sich eine Vergangenheit als ein ganz anderer zu erfinden, als betont männlicher und rücksichtsloser Mann, als Gangster; sich jedoch für diesen Tagtraum sogleich zu bestrafen, indem er seine Phantasie mit einer imaginierten tragischen Vergangenheit ausstattet. Oder aber man versteht „Stereo“ als Geschichte einer Psychose, ausgelöst durch ein Trauma, das sich ganz konkret im Erleben und Körper materialisiert (ähnlich etwa Cronenbergs Wutmutationen in „The Brood“ / „Die Brut“; 1979). Aber auch wenn solche Lesarten fraglos in Erlenweins Psychothriller angelegt sind, so möchte „Stereo“ doch letztlich von seinem Publikum als deftiger Ausflug ins Genrekino verstanden werden. Was alles andere als eine schlechte Herangehensweise ist.

Das Ergebnis jedenfalls ist technisch und ästhetisch elaboriert. Besonders hervorzuheben sind das wuchtige Sounddesign, der Elektro-Score von Enis Rotthoff und die eleganten Bilder des deutsch-vietnamesischen Kameramanns The Chau Ngo. Die Kamera ist in „Stereo“ sehr oft in Bewegung: Sie schweift und gleitet, umzirkelt und kreist, zitiert einmal sogar in einer direkten Referenz Michael Ballhaus‘ berühmten 360-Grad-Schwenk aus „Martha“ (1974). Mit solchen oft überdeutlich ausgestellten Stilmitteln erschafft Erlenwein eine dezidiert antinaturalistische Atmosphäre, durch die sich „Stereo“ zwischen den drastischen Traditionen des Exploitation-Kinos und den Kunstwelten des US-amerikanischen, europäischen und asiatischen Independent-Genrefilms verortet. Dabei arbeiten die Bilder, die mehr als einfach nur sehr gutes Handwerk sind, von Anfang an gegen die geweckten und bald hintertriebenen Erwartungen. Da wirkt ein 70er-Jahre-Camper inmitten der brandenburgischen Landschaft weniger wie ein Relikt der Vergangenheit als ein Brückenpfeiler hinüber in das Backwood-Americana von Tobe Hoopers Terrorfilm-Klassiker „The Texas Chain Saw Massacre“ („Blutgericht in Texas“; 1974). Wobei das hier evozierte Blutbad tatsächlich gegen Ende des Film eingelöst wird, als „Blutgericht in Brandenburg“ gewissermaßen, in einem heftigen letzten Akt, der sich in einem Club ereignet, der ebenso an die osteuropäischen Neon-Folterhöllen aus den „Hostel“-Filmen (2005-2011) erinnert wie er metaphorisch als Reise ins Innere funktioniert – des Körpers, der Psyche, der Vergangenheit, und vor allem: der Gewaltgeschichte des Protagonisten, die hier mit aller Macht an die Oberfläche drängt.

Visuell und thematisch bezieht sich Erlenwein dabei auf Vorbilder, die die Latte ziemlich hoch hängen: Da wäre Martin Scorseses „Amazing Stories“-TV-Episode „Mirror, Mirror“ (1986), „Mindfuck“-Filme wie David Finchers „Fight Club“ (1999) und David Cronenbergs „Spider“ (2002), ebenso Cronenbergs „A History of Violence“ (2005) und Chan-wook Parks „Oldboy“ (2003). Hinzu kommen Schnipsel und Momente aus unzähligen anderen Filmen, die für die filmische Sozialisation des Filmemachers offenbar prägend waren. Der Regisseur nennt in Interviews gerne Henry Kosters James-Stewart-Vehikel „Harvey“ („Mein Freund Harvey“; 1950). Aber da ist noch vieles mehr: Da gibt es etwa einen Mexican standoff, der an „Reservoir Dogs“ („Reservoir Dogs – Wilde Hunde“; 1992) erinnert. Oder Verwesungsfarben wie im Neo-Körperhorrorkino der letzten Dekade (Berlin erstickt hier geradezu in giftigsten gelb-grünen Farbfiltern). Visuelle Motive wie Aufsichten von nach innen gewundenen Treppenhäusern evozieren selbstbewusst die Bildwelten des klassischen Film Noir und des neoklassischen Paranoia-Kinos. Und wenn Moritz Vogel/Jürgen Bleibtreu sich zu pulsierenden Beats in eine Disco-Unterwelt begibt, um sich Friedrichs schmierigem Zuhälter entgegenzustellen und um seine Frau zu kämpfen, dann erinnert das bestimmt nicht zufällig an Christian Slaters psychotischen Elvis-Fan in Tony Scotts „True Romance“ (1993). Das wirklich Überraschende ist: dass das alles weder anmaßend noch epigonal wirkt. Es ist vor allem eine Verortung in einem generischen Referenzraum und gegenüber filmischen Vorbildern, die zu den stilprägenden Werken der letzten Jahre zählen. Und das ist letztlich auch ein Ausweis dafür, dass die Filmemacher etwas von ihrem Handwerk verstehen.

Lügen macht erfinderisch

(USA 2009, Regie: Ricky Gervais, Matthew Robinson)

Lügen, 24 mal in der Sekunde
von Harald Steinwender

In einer Parallelwelt, in der die Menschheit nie die Fähigkeit zu lügen erlernt hat, vertrödelt der Drehbuchautor Mark Bellison (Ricky Gervais) sein ereignisloses Leben. Als Mark sich in die unnahbare …

In einer Parallelwelt, in der die Menschheit nie die Fähigkeit zu lügen erlernt hat, vertrödelt der Drehbuchautor Mark Bellison (Ricky Gervais) sein ereignisloses Leben. Als Mark sich in die unnahbare Anna (Jennifer Garner) verliebt und von seinem Arbeitgeber gefeuert wird, vollbringt er das Unmögliche: Er lügt. Rasch verschafft ihm seine neue Begabung Reichtum, ungeahnten Erfolg bei den Frauen und ein berufliches Alleinstellungsmerkmal, das ihn zum besten Drehbuchautor der Welt macht. Als er obendrein zum Religionsstifter wird, gerät Marks Leben endgültig aus den Fugen.

Wie sähe eine Welt aus, in der das Lügen gänzlich unbekannt ist? Im Großen und Ganzen kaum anders als unsere heutige Welt. Das zumindest behaupten Ricky Gervais („The Office“) und Matthew Robinson in ihrer gemeinsam inszenierten Fantasykomödie „The Invention of Lying” („Lügen macht erfinderisch“). Der wesentliche Unterschied: Der Umgangston ist deutlich rauer. Da ist es an der Tagesordnung, dass wildfremde Menschen dem Protagonisten unverlangt mitteilen, er sei fett und unsympathisch oder er selbst einem suizidalen Bekannten zum Selbstmord als einzigem Ausweg aus seiner Misere rät. Und noch etwas ist anders in dieser Welt: Ohne die Lüge gibt es keine Fiktion. So existiert das Kino einzig in der Form dröger Geschichtslektionen, die statisch abgefilmt von oberlehrerhaften Dozenten vorgetragen werden. Und Mark hat das Pech, ausgerechnet die Pestjahre des dunklen Mittelalters adaptieren zu müssen.

Mit skurrilen Ideen und voller selbstreflexiver und antiillusorischer Verweise auf die Film- und Fernsehindustrie eröffnet das Regisseursgespann Ricky Gervais und Matthew Robinson ihre sarkastische Fiktion. Doch leider stagniert die Komödie nach dieser fulminanten Exposition. Es gelingt den beiden Regiedebütanten nicht, ihre teils sehr amüsanten Einzelepisoden zu einer wirklich originellen und kohärenten Geschichte zu verbinden. Ein Regisseur wie Michel Gondry hätte die Ausgangsidee wohl genutzt, um eine verschrobene Welt mit den ihr eigenen Spielregeln zu erschaffen. „Lügen macht erfinderisch“ dagegen entwickelt sich bald zur vorhersehbaren romantischen Komödie, in der die Verkupplung des von Ricky Gervais und Jennifer Garner gespielten Paars den Dreh- und Angelpunkt des Plots bildet.

Überraschend bleiben allenfalls einige an Monty Pythons „Life of Brian“ („Das Leben des Brian“; 1979) geschulte absurd-subversive Tiefschläge gegen die monotheistischen Religionen. Daneben bietet „Lügen macht erfinderisch“ amüsante Gastauftritte von Schauspielerkollegen wie Rob Lowe, Philip Seymour Hoffman und Edward Norton, die sich, in der Maske teils bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet, zum Affen machen. Als weitgehend anspruchsloser Spaß bleibt die Komödie jedoch deutlich hinter ihrer fast philosophischen Prämisse zurück.

Diese Kritik ist zuerst erschienen auf www.br.de

Fall 39

(USA 2009, Regie: Christian Alvart)

Who Can Kill a Child?
von Harald Steinwender

Dem amerikanischen Horrorfilm sind die Ideen ausgegangen. Die Liste der offenen und verdeckten Remakes, der Sequels und Prequels, Relaunches und Updates bekannter Stoffe in den letzten Jahren ist endlos. Aus …

Dem amerikanischen Horrorfilm sind die Ideen ausgegangen. Die Liste der offenen und verdeckten Remakes, der Sequels und Prequels, Relaunches und Updates bekannter Stoffe in den letzten Jahren ist endlos. Aus der Masse der kulturindustriellen Kopien stechen als vergleichsweise originäre Spielart bestenfalls die oft als „torture porn“ abgeurteilten Varianten heraus, die „Hostel“-Filme von Eli Roth (2005/2007) oder die „Saw“-Reihe (2004-2010) etwa. Auf der Suche nach neuen Stoffen hat Hollywood auf asiatische und europäische Genreinnovatoren wie Ryûhei Kitamura („The Midnight Meat Train“; 2008) und Alexandre Aja („Mirrors“; 2008) zurückgegriffen. Mit Christian Alvart durfte sich nun auch ein deutscher Regisseur für die Paramount an einem Horrorfilm versuchen, die abgesehen von Marcus Nispels „Friday the 13th“-Remake von 2009 in den letzten Jahren kaum Genreproduktionen vorzuweisen hat.

Herausgekommen ist auch hier nur ein Potpourri bekannter Motive und mehr oder weniger gelungener Reminiszenzen als ein neuer Impuls für das Genre, das aktuell in Frankreich reüssiert. Wie in „The Omen“ („Das Omen“; 1976; Richard Donner) gibt es ein kleines Kind, süß anzusehen, doch todbringend für seine Bezugspersonen; das Thema der dämonischen Besessenheit ist u. a. in „The Exorcist“ („Der Exorzist“; 1973; William Friedkin), „Ringu“ („Ring“; 1998; Hideo Nakata) und seinen amerikanischen Remakes abgehandelt worden. Mit der Ermittler-Figur von Ian McShane (der großartige Al Swearengen aus der HBO-Serie „Deadwood“) werden Motive des Polizeifilms eingebracht, die Morde selbst sind als set-pieces mit Anklängen an die „Final Destination“-Reihe inszeniert. Und wenn die Kamera Hagen Bogdanskis, der u. a. „Das Leben der Anderen“ (2006; Florian Henckel von Donnersmarck) und „Die Unberührbare“ (2000; Oskar Roehler) fotografiert hat, das Haus einer Unterschichtfamilie erkundet, dann erscheinen die Innenräume wie in jedem x-beliebigen Backwood-Horrorfilm verwittert, mit den obligatorischen korrodierten Flächen, matter Patina, allerlei ungesundem Moder und verdächtigen Schrammen. So entsteht letztlich ein Flickwerk, das ästhetisch durch die Verwendung kalter, blaugrauer Farbtöne zusammengehalten wird, die durch den exzessiven Einsatz von Farbfiltern und durch das Setdesign nahezu alle filmischen Räume bestimmen. Schlaftabletten sind blau, Pappbecher in einer Nervenheilanstalt mit blauem Design bedruckt und Erbsen so blau-grün wie in Scorseses „The Aviator“ (2004). Manchmal wirken die Menschen wie bleiche Zierfische in einem überdimensionierten Aquarium. Und wenn die von Renée Zellweger gespielte Heldin ihr Haus in Brand setzt, dann rettet sie, was auch sonst, lieber ihren Goldfisch als ihr neues, teuflisches Adoptivkind.

Alvart hat früher das Filmmagazin X-TRO herausgegeben und nach seinem Debütfilm „Curiosity & the Cat“ (1999) mit „Antikörper“ (2005) einen deutschen Serienmörderthriller inszeniert. Fraglos kennt er sich mit der Geschichte des Genres aus. Aber ähnlich wie in „Antikörper“ bleibt hier vieles zu offensichtlich, zu durchschaubar, zu sehr auf den Effekt hin angelegt. „Antikörper“ versprach mit einem Dostojewski-Zitat am Anfang, der authentischen dörflichen Szenerie und guten Schauspielerleistungen existenziell Tiefgründiges, um letztlich als halbgare Variation von „The Silence of the Lambs“ („Das Schweigen der Lämmer“; 1991; Jonathan Demme) zu enttäuschen. Auch „Case 39“ erzählt im Kern einen für das Genre eigentlich ungewöhnlichen Stoff. Die Geschichte der Sozialarbeiterin Emily (Zellweger), die unerwartet zur alleinerziehenden Mutter wird, als sie die kleine Lillith (Jodelle Ferland) aufnimmt, ist in einem von teenage angst beherrschten Genre als Allegorie für die Überforderung einer alleinerziehenden Mutter nicht unbedingt ein Allerweltsstoff. Schnell entwickelt sich das kleine Mädchen zur veritablen häuslichen Tyrannin – Nomen est Omen: ein enfant fatal – und Freunde und Bekannte sterben auf mysteriöse Weise. Metaphorisch erzählt Alvart davon, wie der unfreiwilligen Mutter alle sozialen Kontakte wegbrechen, das Leben nur mehr an ihr vorbeirauscht, ganz wörtlich in den Szenen im Büro, in denen er Zeitraffer einsetzt. Bald erscheint jede im nervigen Singsang vorgetragene Bitte als Erpressung, eingeforderte Liebesbekundungen werden mit geheuchelten Notlügen beantwortet; am Ende steht Vereinzelung, häusliche Gewalt und Paranoia. Doch wenn Alvart dann diese Metaebene direkt thematisiert, indem er in Rückblenden von der unglücklichen Kindheit Emilys erzählt, dann vollzieht er keine Wendung zum psychologischen Horror. Es bleibt nur ein halbherziger Versuch und ein Wink mit dem Zaunpfahl für besonders begriffsstutzige Zuschauer. Was zur bösen Variante von „Rosemary’s Baby“ (1968; Roman Polanski) als Geschichte getrübter Wahrnehmung hätte werden können – und damit spielt der Regisseur mehrmals – geriert zum bierernsten Dämonenhorror. Dafür geht Alvart allerdings Sam Raimis irrwitzige Überdrehtheit ab, die selbst dem PG-13-Horrorfilm „Drag Me to Hell“ (2009) noch einen eigenen Reiz verlieh. Wenn erst einmal die Fratze des Dämons das Kindergesicht verzerrt, dann ist dem Stoff endgültig die Ambivalenz ausgetrieben. Wie viel unheimlicher war da doch Narciso Ibáñez Serradors „¿Quién puede matar a un niño?“ („Ein Kind zu töten…“; 1976), in dem wir netten, lachenden Nachbarskindern begegneten, die einen Alten einfach totschlagen und ihn dann aufzurren, um ihn mit einer Sichel bewehrt als Piñata zu verwenden. Aber die wilden 70er Jahre sind lange schon vorbei.

Was der Handlung an Tiefgang abgeht, versucht das Sounddesign mit Krawall und Dauerberieselung zu übertünchen. Immer wieder werden unerwartete Geräusche als akustische Schockmomente eingesetzt: ein Hund, der überraschend bellt; eine Hand, die urplötzlich an eine Scheibe klopft; ein Wecker, der losrasselt. Ein, zwei, vielleicht auch ein drittes Mal funktioniert das. Aber wieder und wieder den gleichen Effekt einzusetzen, bewirkt Gewöhnung und schließlich Langeweile. Einmal wird das Surround-Sounddesign effektiv eingesetzt: in einer gelungenen Szene, wohl eine Reminiszenz an „Candyman“ („Candymans Fluch“; 1992; Bernard Rose) und „The Believers“ („Das Ritual“; 1987; John Schlesinger), wenn Hornissen wütend surrend quer durch den Kinoraum rauschen und nachdrücklich zur Intensität des Terrors auf der Leinwand beitragen. Grundsätzlich aber fällt auf, wie überladen der Soundtrack ist; fast ununterbrochen klimpert, raunt oder dröhnt es. Wie viel drohender wäre da wenigstens einmal eine unerwartete Abwesenheit von Geräuschen, Musik und Atmo gewesen, statt ein weiteres Mal eine dämonische Macht gegen Türen anrennen oder Schlösser zerdreschen zu lassen, dass es nur so rumpelt und scheppert. Stilistisch erinnert der Film dabei an eine moderate Version dessen, was David Bordwell als Stil einer „intensivierten Kontinuität“ beschrieben hat: nicht eigentlich eine Abweichung vom klassischen, kausal-narrativen Stil Hollywoods, aber doch eine auffällige Dominanz von Großaufnahmen (hier als Teleeinstellungen der Protagonisten vor unscharfem Hintergrund) und scheinbar unmotivierter Kranfahrten und Aufsichten. Oder wie Mike Figgis es formulierte: „If somebody goes for a piss these days […] it’s usually a crane shot.“

Völlig verschenkt ist auch „Case 39“ nicht. Bogdanskis Kameraarbeit hat ihren Reiz, und letztlich ist der Film durchaus kurzweilig. Nur etwas Neues bekommt man nicht geboten. Aber vielleicht tut man Alvart auch unrecht, denn einige abrupte Momente lassen eine nicht ganz glückliche Produktionsgeschichte dieses Films vermuten, dessen Dreharbeiten bereits 2006 begonnen wurden. Warten wir einmal ab, denn mit „Pandorum“ hat Alvart bereits sein nächstes Projekt abgeschlossen.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Splatting Image, Nr. 79, September 2009

Godzilla

(USA / J 2014, Regie: Gareth Edwards)

Echse homo: Godzen-Dämmerung im Blackout-Blockbuster
von Drehli Robnik

Dieser „Godzilla“ hat zweierlei in großem Stil und in mehrerem Sinn: Monster und Blackouts. Der Monster hat er viele. Auch wenn man nicht groß auf die Fan-Expertise in Sachen der …

Dieser „Godzilla“ hat zweierlei in großem Stil und in mehrerem Sinn: Monster und Blackouts. Der Monster hat er viele. Auch wenn man nicht groß auf die Fan-Expertise in Sachen der vor genau sechzig Jahren gestarteten japanischen Riesenechsenfilmreihe zurückgreift (die zum Kinostart massiv in Umlauf gebracht wird) – in der medialen Erinnerung ist zumindest irgendwie präsent, dass es in diesen als kindisch geltenden fernöstlichen Produktionen oft mehrere Großgeschöpfe gab. Die befetzten sich zwischen Hochhausmodellen, und ihr Status gegenüber den Menschen war oft ambivalent: Tödlicher Feind? Heimlicher Freund? Destruktives Double? (Oder allzu verdiente Städtezertrümmerungsstrafe für böse Taten der alten, Augenklappe tragenden Kriegsherrengeneration wie in Inoshiro Hondas todernstem „Godzilla“ von 1954?)

2014 ist „Godzilla“ demonstrativ monströs: Der Film lässt die turmhohe Titelfigur gegen ein Rieseninsektenpärchen beim kernkraftbasierten – also „schnellen“ – Brüten antreten; er erweist japanischen, kunstvoll-klobigen Monster-Looks und Locations bis hin zu einem zeitversetzten Quasi-Fukushima Reverenz, und er liefert einige schlicht umwerfende Actionpanoramen mit bröckelnden Bauten oder einer Eisenbahnbrücke im nächtlichen Nebel zu Orchesterscore samt Drones und Fanfaren.

Eine weitaus kürzere Monstertradition führt zu „Monsters“, zu dem 2010 noch bescheiden gestarteten Debüt des britischen „Godzilla“-Regisseurs Gareth Edwards. „Monsters“ kam im Modus eines Liebes-Roadmovie durch eine alien-infected-zone in Mexiko daher und bezog sich in Bild- und Tonmotiven immer wieder auf „Apocalypse Now“, quasi als neokolonialer Reisefilm und insofern dunkles Schattenbild zur Traditionen des Flucht- und Dschungelfilms. (Ein Bilder-Komplex, den ‚Godzilla‘ immer wieder recht direkt ansteuert, sind die Knochenarchitektur-Designs des unlängst verstorbenen H.R. Giger in „Alien“.)

Vor allem aber warf Edwards‘ „Monsters“ – dessen Titel zu prägnant war, um nicht die Frage, wer gemeint ist, nahezulegen – einen skeptischen Blick gerade auf Grenzregimes und Notstandsverwaltungen, die beim „humanen“ Umgang mit unerwünschten – und, so zeigte sich, an sich harmlos verschmusten – Fremdexistenzen errichtet werden. Am Ende wurde das Liebesverhalten brünftiger Menschen und Monstren recht unverblümt analog gesetzt, als etwas, das jeweils von der bewaffneten Staatsmacht (und ihren Anti-Immigrationsmauern) brutal unterbunden wird.

Edwards‘ Hollywood-Einstand enthält nun Reste dieser Staatssicherheits-Kritik; er verrät viel vom Gespür des Regisseurs im Umgang mit bizarren Ruinen (zumal im Dschungel gestrandetem Kriegsgerät); er zeigt Schwärzungen nach Art von Geheimdienstakten in den Credits (die dann im Paranoia-Investigationsplot mit Bryan Cranston wiederhallen), versetzt übrigens die Anfänge von Godzillas Wiederauftauchen zurück zu den US-Atombombentests im Pazifik nach 1945 – nachdem Roland Emmerichs Hollywood-Godzilla-Film von 1998 vom Vorspann an rezenten französischen Kernwaffentests die Schuld gegeben hatte (dafür setzt Edwards‘ Vorgeschichte nun just 1999, im Jahr 1 nach Emmerichs Echse, ein); und schließlich zeigt der neue Godzilla viel US-Militär aller Waffengattungen im Großeinsatz. Mitunter kommt er da dem Echsenshooter-Gestus von Emmerichs Version (die vom Autor dieser Zeilen 1998 in der Wiener Zeitschrift Falter unter dem Titel „In Godzilla We Trust“ zu Recht verrissen wurde) zu nah. Dann wird, zumal seitens Ken Watanabe (in Japan ein Star), durch Sager mit ominösem Öko-Gleichgewichts-Pathos und Hiroshima-Vergleich eher unelegant gegengerudert.

Blackout heißt der stilistische Ausweg aus dieser ideologischen Unentschiedenheit. Um dem Handlungsschema ‚Tatmenschen vs. Volksfeind‘ zu entgehen, betont der in Japan, Honolulu, Nevada und San Francisco spielende Film seinen disaster movie-Aspekt: Tsunami, Super-GAU, Stromausfall (nicht in dieser Reihenfolge). Hinzu kommt die Art, wie Hauptfiguren jäh eliminiert und Szenen unerwartet per Schwarzblende abgebrochen oder durch die Optiken von Neben- bzw. ohnmächtigen Figuren aufgefächert werden: die Perspektiven kleiner Kinder hier, eines Schulbusfahrers dort, und immer wieder der in jedem Sinn gebrochene Blick des in ein vielstimmiges Ensemble eingebetteten Protagonisten. Der junge Mann betont, dass er sich mit Bomben nur deshalb auskennt, weil er für die US-Streitkräfte an deren Entsorgung und Entschärfung arbeitet. Gespielt wird er von Aaron Taylor-Johnson, dem hilfsbedürftigen Wannabe-Hero der „Kick-Ass“-Filme.

Zackig ist an dem immer wieder angenehm gemessen inszenierten Film letztlich nur der Rücken, den der Titelheld uns zukehrt (wie schon programmatisch auf dem Postersujet). Insgesamt präsentiert sich „Godzilla“ als der nicht allzu häufige Fall eines Blockbusters, der nicht nur malerisch ist (wie etwa Peter Jacksons unterschätzter „King Kong“), sondern oft regelrecht traumwandlerische Noten hat: frontaler Monsterauftritt in lang gehaltener, grauer Totaleinstellung mit roten Lampions im Vordergrund, dazu ein Ton auf dem Klavier; Fallschirmsoldaten im freien Fall, dies nicht als Bungeejump oder sonstiger Sport inszeniert (wie es etwa noch in Guillermo de Toros vorjähriger Japan-Monster-Hommage „Pacific Rim“ geschah), sondern als ein Dämmern vor einem Inferno, mit subjektivem Eigen-Atemhören und heulendem Ligeti-Score aus Kubricks „2001“, bevor wir in ein Soundloch fallen. Vieles hier ist gewagt und gewaltig.

Im Namen des …

(PL 2013, Regie: Malgoska Szumowska)

Einsam am Arsch der Welt
von Ulrich Kriest

Hot Fun in the Summertime. Eine Gruppe Kinder und Jugendlicher vergnügt sich mit einem halbnackten Erwachsenen bei dümmlichen Macho-Imponier-Spielchen. Ein junger Mann, offenbar mit Behinderung, steht gutmütig lächelnd daneben. Plötzlich …

Hot Fun in the Summertime. Eine Gruppe Kinder und Jugendlicher vergnügt sich mit einem halbnackten Erwachsenen bei dümmlichen Macho-Imponier-Spielchen. Ein junger Mann, offenbar mit Behinderung, steht gutmütig lächelnd daneben. Plötzlich werden die Kinder ihm gegenüber erst ausfällig, dann schnell körperlich aggressiv. Er kann sich nicht wehren. Kurz darauf: halbnackte junge Männer beim Fußballspiel. Auch hier ist körperliche Gewalt im Spiel. Es wird geflucht, gepöbelt und geboxt. Männlichkeitsrituale, Hackordnungen. Eine unangenehme Atmosphäre: zum allgegenwärtigen Alkohol gesellt sich später auch noch ein nicht nur unterschwelliger Antisemitismus. Hier, wo der Film spielt, scheint Polen noch ein gutes Stück von der Moderne entfernt. Polen?

Einerseits ja, andererseits verweisen die Aufdrucke einiger Kleidungsstücke der Jugendlichen („Bulls“) und auch die prominent eingesetzte Musik der US-Indie-Rock-Band Band of Horses darauf, dass die Geschichte sehr wohl mit allgemein gültigem Anspruch auftritt. Der Priester Adam (schlicht großartig: Andrzej Chyra) und der Sozialarbeiter Michal leiten hier ein Camp für delinquente Jugendliche. Mit harter Hand und freundlich-ruhigem Verständnis. Good Cop und Bad Cop. Michal diszipliniert die Jungen mit harter Hand und Gebrüll, während Adam eher zurückhaltend am Rande steht und das Gespräch sucht. Er ist ein Beobachter, freundlich, aber immer etwas auf Distanz bedacht. Wenn gefeiert wird, bleibt Adam lieber nüchtern. Wer ihn aber beim Joggen beobachtet, könnte schon auf die Idee kommen, dass der Mann vor etwas davon läuft. Doch dagegen spricht vorerst seine gütige, freundliche Ausstrahlung, die ihn bei den Jugendlichen beliebt macht. Später im Film wird höheren Orts von den außerordentlichen pädagogischen Erfolgen Adams noch geschwärmt werden. Völlig uneitel sei er zudem.

Im Rahmen einer Predigt erzählt Adam, wie er einst zur Kirche fand. Es ist nicht die übliche Biografie des Ministranten, der anschließend Theologie studiert und in kirchlichen Kreisen verkehrt. Adam erzählt, dass er eines Tages, als er allein war, die Präsenz seines kurz zuvor verstorbenen Vaters derart substantiell erfuhr, dass er fortan bewusst in die Kirche ging. Er sei damals 21 Jahre alt gewesen und habe plötzlich gewusst, dass er sein Leben ändern müsse, um seine Seele zu retten. Ihm sei klar geworden, dass seine Selbstsucht ein Gefängnis gewesen sei und er sich daraus befreien müsse. So gäbe es in jedem Menschen einen Punkt, der unschuldig und frei von Sünde sei. Während dieser nachdenklichen, fast schon philosophischen Predigt scheint Adam in sich hinein zu horchen, um die richtigen Worte zu finden.

Die Kamera mustert derweil den Kirchenraum und registriert die Wirkung seiner Worte in den Gesichtern der Gläubigen. Ewa blickt versonnen, Michal dagegen scheint geradezu empört. Und dann ist da noch der junge Lukasz (Mateusz Kosciukiewicz), der mit seiner Familie in der Nähe wohnt, als Brandstifter auffällig geworden ist und deshalb als Heimschläfer zum Camp gehört. Er, selbst ein Außenseiter, begegnet Adams Worten mit unverhohlener Zärtlichkeit, ahnt eine Seelenverwandtschaft. Vielleicht ist ihm auch nur aufgefallen, dass Adam sagte: „Als ich allein war.“

Als die polnische Filmemacherin Malgorzata Szumowska („33 Szenen aus dem Leben“, „Das bessere Leben“) ihren Film im Wettbewerb der „Berlinale“ 2013 vorstellte, sagte sie in einem Interview: „Ich kann mir keinen einsameren Menschen vorstellen als einen Priester!“ Bevor der Priester und der Außenseiter sich füreinander öffnen, muss Adam sich noch der Avancen der Dorfschönheit Ewa (Maja Ostaszewska) erwehren, die nicht anders kann als die Versetzung Adams an den Arsch der Welt für eine Strafe zu halten. Doch wofür nur? Als sie ihn verführen will, konstatiert Adam matt: „Ich bin bereits vergeben.“ Überhaupt scheint die Sexualität eines Priesters ein Reizthema, Gegenstand schlüpfriger Imagination.

Kurz nach der Begegnung mit Ewa diskutieren ein paar Jungs über Adams Sexualität. Vielleicht denke der ja gar nicht ans Ficken, habe ganz andere Hobbies. Schließlich habe er ja sein Herz der Kirche gegeben. Okay, aber was ist mit dem Körper? Vielleicht ficke er ja die Hirsche, wenn er durch den Wald jogge. Gleich darauf nimmt Adam einem seiner Jugendlichen die Beichte ab. Grovy hat im Verlauf einer Party einen Fremden betrunken oral befriedigt und fürchtet nichts mehr als dass dies herauskommt. Adam weist ihn auf das Beichtgeheimnis hin und fordert ihn auf, jeden Tag eine Stunde zu joggen. Das sei wie ein Gebet.

Allmählich verliert Adam die Fassung, fällt aus seiner Rolle: „Glaubt ihr, Christus war an irgendetwas anderem interessiert, als an sich selbst?“, fragt er eine Gruppe von Jugendlichen, die ihn fassungslos und verunsichert anstarren. Mühsam nur macht er daraus dann noch einen Witz für Dummköpfe. Das „Outing“ steht dann als Menetekel an der Wand, rot hingesprayt. Es ist dann Michal, der einst das Priesterseminar verließ, weil er sich in Ewa verliebt hatte, der Adam beim Bischof denunziert.

Wer von der atmosphärischen Grundierung des Films ausgehend jetzt mit einer Wiedervorlage der „Jagdszenen in Niederbayern“ rechnet, wird allerdings gleich mehrfach überrascht werden. Als Adam und Lukasz einmal gemeinsam einen Markt besuchen, werden sie zwar durch kollektive Blicke stigmatisiert, aber gerade diese Blicke befreien Adam aus dem Gefängnis der steten Selbstverleugnung. Auf der Rückfahrt kann er sich Lukasz endlich öffnen und hingeben. Höchst atmosphärisch fügt Szumowska die einzelnen Puzzleteilchen aneinander, bis sich beinahe ein stimmiges Bild ergibt.

Filmischer Höhepunkt ist eine halluzinatorische Begegnung von Adam und Lukasz in einem sommerlichen Maisfeld, als es ihnen für Momente gelingt, die Gesellschaft um sich herum für kurze Zeit komplett auszublenden. Doch braucht es immer noch eine Figur, die die immanenten Widersprüche der Figuren zuspitzt und dynamisiert. Der geheimnisvolle Adrian (Tomasz Schuchardt), kräftig, mit blondierten Haaren, cool bis hin zur Arroganz, ist eine regelrechte Pasolini-Figur, ein dramaturgisches Scharnier, ein Schmiermittel. Adrian verfügt über ein Wissen, das ihn instinktiv Dinge durchschauen lässt. Und er offenbart dieses Wissen, indem er provozierende Blicke aussendet oder auf Blicke provozierend reagiert. Szumowska inszeniert den Kampf um den Blick als regelrechte Choreografie einer ménage à trois, wenn Adam aus dem Fenster dabei zuschaut, wie Adrian seinen Platz in der Rangordnung der Jugendgruppe durch Armdrücken bestimmt. Adrian blickt ihn dabei provozierend an, während Adam leicht amüsiert scheint. Es ist Lukasz, der in dieser Szene als Fensterputzer agiert, der Adam zunächst die Sicht nimmt, bevor er im Wortsinne für Durchblick sorgt. Die wortlose Rivalität zwischen Lukasz und Adrian kulminiert in einer handgreiflichen Auseinandersetzung, als Adrian öffentlich macht, dass Adam eine „alte Schwuchtel“ ist. Als er Hilfe sucht, findet er kein Gehör. Seiner Schwester, die im Ausland lebt, ist er zu betrunken – und ein Priester ist nicht zu sprechen, weil die Kirche gerade gereinigt wird. Wäre es nicht so furchtbar, man müsste lachen.

„Im Namen des …“, auf der Berlinale 2013 mit dem „Teddy-Award“ ausgezeichnet, hat in konservativen Kirchenkreisen Polens schon für Proteststürme gesorgt, dabei ist der Film als Kritik an der Kirche keinesfalls polemisch, sondern politisch eher zurückhaltend. Szumowska erzählt zunächst einmal ganz allgemein von der Sehnsucht des Menschen nach Zuwendung und erst in zweiter Linie am Beispiel der Einsamkeit im Zölibat. Der Film ist kein Pamphlet und auch kein Plädoyer, sondern eher eine Fallstudie über Gewaltstrukturen mit Anspruch auf Verallgemeinerung. Immer wieder findet der Film prägnante Bilder (Kamera: Michal Englert, der auch am Drehbuch mitgearbeitet hat) für Adams Einsamkeit, wenn sich die Kamera nach oben schraubt und ihn in der Natur isoliert zeigt.

Doch gerade seine Verzweiflung, sein Hadern, sein mühsames Ringen um die Selbstverleugnung verleiht ihm eine Verletzlichkeit, die sein Charisma als Priester ausmacht. Am Ende wird der Fall „Adam“ durchaus routiniert abgewickelt werden: der Priester wird ein weiteres Mal versetzt und bleibt als böses Gerücht seiner Gemeinde in Erinnerung. Doch Polen ist nicht allzu groß – und diesmal hat es nur noch zu 60 Kilometern gelangt. Eine Entfernung, die für Lukasz kein Problem darstellt. Doch der Film ist längst viel zu komplex in der ästhetischen Durchdringung seiner Problematik, um auf ein Happyend der Zweisamkeit hinauszulaufen. Vielmehr mündet er in einer Pointe, die aus dem Bildinventar des Horror-Genres stammt. Man könnte sagen, hier hat sich jemand ein Beispiel genommen. Aber man könnte auch sagen, hier wird ein Problem wider besseres Wissen auf Dauer gestellt.

Il Futuro – Eine Lumpengeschichte in Rom

(I / CL / D / ES 2013, Regie: Alicia Scherson)

Golden, radikal und schön
von Nicolai Bühnemann

Der Vorspann ist einer der schönsten, die ich seit langem gesehen habe. Ein gelber Fiat fährt eine Straße in den Bergen entlang. Die Sonne taucht den Fiat, die Straße, die …

Der Vorspann ist einer der schönsten, die ich seit langem gesehen habe. Ein gelber Fiat fährt eine Straße in den Bergen entlang. Die Sonne taucht den Fiat, die Straße, die Berge und den Himmel in golden-gleißendes Licht. Zu den goldenen Bildern vom Mann am Steuer, der eine Zigarette anzündet und sie der Frau auf dem Beifahrersitz gibt, dem Tuch der Frau, das golden aus dem Autofenster in der goldenen Luft weht, spricht die Stimme Manuela Martellis aus dem Off die ersten Sätze von Roberto Bolaños „Lumpenroman“: „Jetzt bin ich Mutter und auch eine verheiratete Frau, aber vor gar nicht langer Zeit war ich eine Kriminelle. Mein Bruder und ich hatten unsere Eltern verloren. In gewisser Weise rechtfertigt das alles. Wir hatten niemanden. Und das alles buchstäblich von heute auf morgen.“ Dann kommt der Titel auf uns zugeflogen: „Il futuro“ steht da, in goldenen Lettern, die aus der Vergangenheit des Kinos zu uns herüber zu leuchten scheinen (vielleicht aus einem peplum, einem jener Sandalenfilme, die in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern das Gros der italienischen Filmproduktion ausmachten und die in „Il futuro“ eine gewisse Rollen spielen werden).

Wenn das grell goldene Sonnenlicht den Titel vollständig aus dem Bild getilgt hat, ist der Blick frei auf einen grauen und ganz und gar gegenwärtigen Himmel. Von hier wandert die Kamera langsam über ein paar gesichtslose Wohnblocks, über die Autobahn zu einem Schrottplatz, wo die knapp zwanzigjährige Bianca (Manuela Martelli) und ihr etwas jüngerer Bruder (Luigi Ciardo) besichtigen, was von dem elterlichen Auto noch übrig ist. Aschgrau verkohlt ist das Auto, von dem Bianca meint, es müsse doch gelb sein. Ihr Bruder erklärt ihr, dass das durch den Zusammenstoß komme, der alles verändere, die Form, die Farbe, alles. Tomás heißt der Bruder im Film, der im Roman namenlos bleibt wie alle männlichen Figuren – bis auf eine, die so viele Namen hat, dass sie, mehr noch als die Namenlosigkeit der anderen Männer seine Identität nicht preisgibt, sondern eher hilft, sie zu verbergen.

Bianca und Tomás müssen sich nun alleine in der elterlichen Wohnung zurechtfinden. Zur Schule gehen sie bald nicht mehr. Bianca wäscht in einem Friseursalon Haare, Tomás putzt in einem Fitness-Studio. Von dort bringt er eines Nachmittags zwei Männer mit, die fortan bei ihnen wohnen werden, im Schlafzimmer der Eltern. Bianca schläft mit ihnen, mal mit dem einen, mal mit dem anderen. Gemeinsam mit dem Bruder entwerfen die beiden einen Plan, dessen Ausführung Bianca übernehmen soll. Es geht dabei um Maciste (Rutger Hauer), der einst als Schauspieler in pepla zum Star wurde und es als Bodybuilder bis zum Mister Universum brachte. Seit er bei einem Autounfall das Augenlicht verloren hat, lebt er vollkommen zurückgezogen in seinem riesigen Anwesen. Bianca soll ihm Gesellschaft leisten, Sex mit ihm haben – mit dem Ziel, den Tresor zu finden, in dem er, so glauben zumindest die beiden jungen Männer, seine verbleibenden Reichtümer versteckt.

Bolaños „Lumpenroman“ zu verfilmen, erscheint zunächst als eine denkbar undankbare Aufgabe. Hinter der Kleinheit dieses Büchleins (von der im spanischen Original-Titel der Diminutiv kündet: „Una novelita lumpen“) versteckt sich eine denkbar große Radikalität. Diese Radikalität besteht darin, den Bericht einer jungen Frau von allem zu befreien, was ihm von außen aufgepfropft erscheint. Entwicklungsroman, Coming-of-Age, Sozialdrama, die psychologische Erzählung von der Verarbeitung eines Traumas, die feministische Erzählung der Emanzipation einer jungen Frau, die sich in einer Männerwelt ihren Platz und ihre Unabhängigkeit erkämpft; all das muss wohl zwangsläufig mitgedacht werden, aber eben als etwas Abwesendes – wie die Eltern. Der „Lumpenroman“ ist ganz und gar Biancas Roman.

Das „Ich“, das vom ersten Satz des Romans an zu uns spricht, formiert sich doch erst nach und nach, während des Sprechens, es ist kein vorgefertigtes, sondern im ständigen Werden begriffen. Die radikale Subjektivität Biancas, die auf nichts weniger hinauswill als die Utopie eines Subjekts, das kein bürgerlich psychoanalytisches und kein normativ gegendertes ist, entsteht im Roman unter anderem durch die Entsubjektivierung der anderen-, der Männerfiguren. Über ihren ersten Eindruck von den beiden Männern berichtet die Ich-Erzählerin: „Der eine war Bologneser, der andere Libyer oder Marokkaner. Trotzdem sahen sie aus wie Zwillinge. Der gleiche Kopf, die gleiche Nase, die gleichen Augen. Sie erinnerten mich an eine Tonskulptur, die ich vor kurzem in einer Zeitschrift im Friseursalon gesehen hatte.“ Eine der nächtlichen Zusammenkünfte mit einem der beiden beschreibt sie mit den Worten: „An manchen Abenden (…) öffnete ich einem der Freunde meines Bruders die Tür, ließ aber das Licht aus und hielt die Augen geschlossen, denn unter keinen Umständen wollte ich wissen, wer von beiden mit mir schlief, und gab mich mechanisch hin und kam manchmal mehrmals hintereinander, worauf ich zuweilen mit heftigen, überraschenden Wutausbrüchen reagierte. Der Freund meines Bruders fragte mich dann, ob es mir nicht gut gehe, ob etwas mit mir sei, ob ich meine Tage kriegte, bevor er weiter redete und am Ende noch seine Identität verriet, erwiderte ich, er solle den Mund halten, oder machte Schscht, und er verstummte und vögelte wortlos weiter, so groß war die Überzeugungs- oder Überredungs- oder Ausredungskraft, die meine Worte mittlerweile besaßen.“

Es ist schwierig, diese Geschichte in Bildern zu erzählen. Die Geschichte einer Frau, die wird, von Männern, die verschwinden; einer Frau, die nur in dem Maße werden kann, wie die Männer um sie herum verschwinden. Die visuelle Abbildung hat etwas viel „Fertigeres“, „Kompletteres“ an sich als das geschriebene Wort, das durch diesen Umstand wesentlich geeigneter erscheint, bruchstückhaft von einer bruchstückhaften Biografie zu erzählen. Bianca, die Frau, die erst wird, hat im Film von Anfang an einen „fertigen“ Körper und ein Gesicht, während die Männer, die langsam verschwinden, ihre Körper und ihre Gesichter behalten.

Wie stellt sich die in Chile geborene Regisseurin Alicia Scherson, die auch das Drehbuch verfasste, dieser Aufgabe? Nun, zum Beispiel mit Bildern von Gesichtern, die in den Spiegelungen in Scheiben verschwimmen oder sich in Zigarettenrauch aufzulösen scheinen. Mit gleißend hellem und immer wieder golden scheinendem Licht. Mit einem sehr präzise beobachtenden Kamera-Blick, der eine Fülle winziger alltäglicher Details offenbart, die ihn aber mehr als Dinge an sich interessieren, in Hinblick auf ihr – irgendwie geheimnisvolles – Sein, als weil sich irgendwelche sozialen Realitäten von ihnen ablesen ließen. Mit teilweise recht langen und statischen Einstellungen, die mitunter von überwältigender Schönheit sind. Nur zwei Beispiele: In drei Einstellungen ist der Wohnblock zu sehen, in dem die Geschwister leben. Eigentlich denkbar trist mit der verrußten Fassade, den Sattelitenschüsseln und dem Gewusel von Fernsehantennen auf dem Dach, bekommen die Häuser vor dem Abendhimmel, an dem Wolken vorüberziehen, eine entrückte Schönheit, eine Würde, die mit gängiger Ghettoromantik nichts zu tun hat. In einer Szene sieht Bianca mit ihrem Bruder und den beiden Männern fern. Durch den Rahmen der Tür gefilmt, sieht man die vier jungen Menschen auf dem Sofa sitzen, die Fernsehbilder werden reflektiert durch einen Spiegel an der Wand hinter ihnen. Einer der jungen Männer isst eine Banane, ein anderer beantwortet die Fragen aus der Quizshow im Fernsehen, bevor die Kandidaten dort es tun. Als Bianca die Männer auffordert, leise zu sein, verstummen die Gespräche. Dass die Hierarchien nichts mit gängigen Sozialdramen-Familien-Hierarchien gemein haben, gibt dem Alltäglichen dieser Szene einen utopischen Anstrich, der weit jenseits eines jeden „Realismus“ liegt.

Schließlich ist da das wunderbare Zusammenspiel von Manuela Martelli und Rutger Hauer. Zwischen dem Mann, der nichts hat außer seiner Vergangenheit und der Frau, die nichts hat außer eine Zukunft, die ganz ihre sein wird, besteht von der ersten Szene an eine Verbindung, die Bianca zu den gleichaltrigen Männern niemals finden könnte. Dass die Dialoge zwischen ihnen in Englisch sind, während sie mit den anderen Männern Italienisch spricht, mag hiervon Zeugnis ablegen. Wenn er ihren ganzen Körper mit Öl einreibt, ist es wieder da, dieses golden glänzende Licht, das im Vorspann mit den Eltern mit der Vergangenheit assoziiert wurde. Hauer tut nichts, um der jungen Frau die „Show zu stehlen“. Überhaupt tut er nicht viel, außer präsent zu sein, als eine ständig im Verfall begriffene Männlichkeit, die er eher verkörpert als spielt. Wie insgesamt die Virilität in diesem Film eine sehr brüchige ist, deren heterosexuelle Performance beständig in den reinen Camp kippt – sei es in den alten Sandalenfilmen, die sich Bianca ansieht, sei es in einem Bodybuilding-Contest.

Dem entgegen steht der weibliche Körper, der wird, indem er sich seiner selbst und der eigenen Lust bewusst wird. Der sich nicht ausbeuten, nicht für männliche Pläne instrumentalisieren lässt. Eine Weiblichkeit, die weder „Zuhälter“ noch „Retter“ braucht. So leuchtet der Abendhimmel in der letzten Einstellung rötlich, ins Gelbgoldene spielend nur noch für Bianca.

Alicia Scherson hat aus Roberto Bolaños schön radikalem Büchlein einen radikal schönen Film gemacht.

„Il futuro“ wird am 28. Mai von good!movies / Real Fiction auf einer mal wieder auffallend schlichten DVD veröffentlicht. Darauf zu finden ist der Film in italienisch-englischem Original-Ton oder deutscher Synchronisation, zudem gibt es deutsche Untertitel und zwei Trailer. Auf weitere Extras und ein Wendecover muss man leider verzichten.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Wie haben Sie das gemacht? – Filme von Frauen aus fünf Jahrzehnten 1+2

(D 2014, Regie: (Herausgeberinnen) Bettina Schoeller-Bouju, Claudia Lenssen)

Die Ahnung der Freiheit
von Wolfgang Nierlin

„Wie haben Sie das gemacht?“, lautet der prosaische, etwas unscharfe Titel einer zweiteiligen DVD-Veröffentlichung, auf der mit einer Spieldauer von rund fünf Stunden 24 Kurzfilme „von Frauen aus fünf Jahrzehnten“ …

„Wie haben Sie das gemacht?“, lautet der prosaische, etwas unscharfe Titel einer zweiteiligen DVD-Veröffentlichung, auf der mit einer Spieldauer von rund fünf Stunden 24 Kurzfilme „von Frauen aus fünf Jahrzehnten“ versammelt sind. Dass dabei der Fokus auf Filmemacherinnen aus dem deutschsprachigen Raum liegt, bleibt der Titel schuldig. Dieser spielt natürlich auf Francois Truffauts berühmtes Interview-Buch mit Hitchcock an, was eigentlich wenig Sinn macht, denn hier „sprechen“ allein die Filme. Eher geht es um das Was als um das Wie, also um eine Bestandsaufnahme der vielfältigen Formen und Inhalte, um eine Rückschau, Sichtung und Sicherung weiblicher Filmarbeit der letzten fünfzig Jahre. Unter künstlerischen Gesichtspunkten erscheint das mitunter beliebig, auch wenn die beiden Herausgeberinnen Bettina Schoeller-Bouju und Claudia Lenssen das heterogene Material den beiden Teilen „Spielen und Dokumentieren“ sowie „Neue Formen“ zugeordnet haben, was nicht immer zwingend ist. Doch leider gibt es keine begleitenden Informationen, die etwa die Konzeption erläutern oder die Auswahl begründen würden. Auch zu den Filmen und ihren Macherinnen fehlen jegliche Angaben. Vermutlich wird die parallel erscheinende Buchveröffentlichung der beiden Herausgeberinnen diesen Mangel ausgleichen.

May Spils verspielt-anarchische Talentprobe „Das Portrait“ aus dem Jahre 1966 mit ihren provozierenden Bild- und Tonmontagen, den ironischen Überblendungen und dem poppig-bunten Look hätte man natürlich auch der Abteilung „Neue Formen“ zuordnen können. Andererseits gilt das auch umgekehrt, wenn man etwa den mehr „gespielten“ und „dokumentierenden“ Film „Umwege“ von Susanne Beyeler sieht. Hier folgen wir einer jungen Frau, die im Aufbruchsjahr 1968 ihrem Schweizer Elternhaus und der Schule den Rücken kehrt, um in einer Münchner Kommune unterzutauchen. Zwischen politischem Kampf, der Bevormundung durch ihren Freund und dem Wunsch nach Selbstbestimmung geht sie mutig ihren Weg der Emanzipation. Mit viel Zeitkolorit und authentischem Material inszeniert Beyeler eine ebenso aufklärerische wie augenzwinkernde Milieustudie.

In beiden genannten Filmen kann man Einflüsse Jean-Luc Godards entdecken. Ästhetik und Politik, oftmals autobiographisch gefärbt, sind auch die Eckpfeiler, zwischen denen das breite Spektrum der ausgewählten Arbeiten aufgefächert ist. Dabei kommt der sich ändernden Frauenrolle, dem weiblichen Selbstverständnis und dem Streiten für mehr Gleichberechtigung eine besondere Bedeutung zu. Mit dem semidokumentarischen Spielfilm „Für Frauen – 1. Kapitel“ hat Cristina Perincioli 1971 ein interessantes Experiment gewagt: „Dieser Film wurde von Verkäuferinnen und Hausfrauen gemacht“, heißt es zu Beginn dieses geradezu sozialistischen Lehrstücks, das vom revolutionären Zeitgeist erfüllt ist und mit plakativen Mitteln die von männlicher Unterdrückung bestimmte Lebens- und Arbeitssituation der (sich mehr oder weniger selbst spielenden) Frauen darstellt. Der teils witzige Agitpropfilm zeigt aber auch, wie die revoltierenden Frauen durch kämpferische Solidarität die Ausbeutungsverhältnisse verändern, gemäß dem Text des von der Band Ton Steine Scherben gesungenen Abspannliedes: „Alles verändert sich, wenn du es veränderst. Doch du kannst nicht gewinnen, solange du allein bist.“

Am ästhetischen Gegenpol dazu steht – neben anderen Arbeiten wie zum Beispiel dem experimentellen Dokumentarfilm „Färblein“ – Milena Gierkes intimes Frauenportrait „Volver“ (2009). Allein mit ihrer Super-8-Kamera und dem Objekt ihres (fotografischen) Begehrens – einer jungen, sommerlich leicht bekleideten, bald nackten Frau auf einem roten Sofa im Freien – filmt Gierke ganz ohne Ton, wie sich die Portraitierte ihre Nägel pflegt, diese rot lackiert, Musik hört, liest, Mate trinkt und raucht. Vor allem aber filmt sie in poetischen Detailansichten ihren fragmentierten Körper, das sinnliche Spiel von Licht und Schatten darauf und vermittelt dabei eine schwebend-erotische Atmosphäre, die von einem aufmerksamen, fast verliebten (Kamera)blick evoziert wird. „Volver“ ist eine ebenso sensible wie zärtliche Hommage an das Weibliche, ein romantisch-verträumtes Filmgedicht und zugleich die Ahnung der Freiheit.

Harms

(D 2013, Regie: Nikolai Müllerschön)

Ein Herz für alte Männer
von Nicolai Bühnemann

Der Gangster-Film ist im deutschen Gegenwartskino quasi nicht vorhanden. Die wenigen Versuche, hierzulande an internationale Vorbilder von Scorsese bis Kusturica, von den Coens bis Guy Ritchie anzuschließen, setzen meist vor …

Der Gangster-Film ist im deutschen Gegenwartskino quasi nicht vorhanden. Die wenigen Versuche, hierzulande an internationale Vorbilder von Scorsese bis Kusturica, von den Coens bis Guy Ritchie anzuschließen, setzen meist vor allem auf Härte, auf Drastik. Mit dem seit dem klassischen Film Noir im Genre beliebten fatalistischen Existenzialismus, unvermittelt direkter und exzessiver Gewalt und einem Hang zum Hartgekochten, Derben und politisch Unkorrekten (das über ein Sarrazin’sches „Das wird man doch noch sagen dürfen“ selten hinausgeht, oder auch nur: hinauswill), versuchten sich in der vergangenen Dekade zum Beispiel Regisseure wie Detlev Buck („Knallhart“) oder Yilmaz Arslan („Brudermord“) am Genre.

Schon mit den ersten Bildern von „Harms“, den Regisseur und Autor Nikolai Müllerschön und Hauptdarsteller Heiner Lauterbach ohne Fördergelder selbst produziert haben, ist klar, dass dieser Film da keine Ausnahme macht. Zunächst sehen wir eine Betonwand, dann das Close-Up einer Kakerlake, die eingefangen und in ein Glas gesperrt wird. Die eigentliche Handlung beginnt in einer klaustrophobischen Knast-Welt, die so knallhart ist, dass in ihr selbst eine Zahnbürste zur tödlichen Waffe wird. Sechzehn Jahre hat Harms (Heiner Lauterbach) gesessen, am nächsten Tag wird er entlassen. Sein verkniffenes Gesicht ziert ein üppiger Schnauzer, unter das rechte Auge hat er eine Träne tätowiert, auf den linken Arm ein Kreuz mit dem Wort „Faith“. Mit diesen äußeren Merkmalen korrespondieren eine Handvoll innere Eigenschaften: Treue, Loyalität, eine tiefe, stets spürbare, aber selbstverständlich nie ausgesprochene Traurigkeit ob des eigenen Scheiterns, der eigenen Antiquiertheit. (Und das Bild einer mafiösen Männlichkeit, das Lauterbach, der Aufhebung von Innen und Außen entsprechend, nicht darstellt, sondern verkörpert, ist tatsächlich so traurig antiquiert, dass man es sich ohne die unters Auge tätowierte Träne gar nicht vorstellen möchte.) In den 98 Filmminuten kann man sich vielleicht dies oder jenes über die Titelfigur zusammenreimen, erfahren tut man aber nicht mehr über ihn als in der ersten Szene im Gefängnis: Er ist ein Mann, der zu seinem Wort steht und für seine Freunde alles tun – nun, zumindest für sie töten und sterben – würde. Müllerschön und Lauterbach träumen vom Gangster als Figur in wenigen groben Strichen: ein Mann wie aus einem Stück geschnitzt. Fragt sich nur, was sie mit dieser Figur vorhaben.

Nun, zunächst einmal spulen sie einen gängigen Genre-Plot in wenigen groben Strichen herunter. Harms trifft draußen auf seine alten Kumpels und Komplizen. Mit ihnen beginnt er – wer hätte es gedacht? – bald das ganz große Ding zu planen: Einen Überfall auf die Bundesbank. Initiator der Aktion ist deren ehemaliger Vorstand, Menges (Axel Prahl), der – natürlich! – nicht nur gieriger und skrupelloser ist als die ganze Gangster-Gesellschaft zusammen, sondern sich letztendlich auch als brutaler herausstellt. So gerät der große Überfall – man hält‘s nicht für möglich! – zum großen Fiasko.

Der selige James Gandolfini sagte als Tony Soprano einst zu seiner Serien-Tochter, dass in der Welt da draußen vielleicht die 1990er seien, in seinem Haus aber sind immer noch die 1950er. In „The Sopranos“ ging es um die Kollision des so konstituierten Innen und Außen als Kollision verschiedener Epochen, verschiedener und – nur scheinbar? – unversöhnlicher Weltbilder und Wertsysteme wie Omerta und Psychotherapie. Das heißt auch, dass es in der Serie immer ein Außen zur Welt des Mafia-Bosses gibt, und die Handlung wird erst durch ein Verwischen der Grenze in Gang gesetzt: der Mafioso sucht sich Hilfe bei einer Therapeutin.

Für das Außen seiner Figur aber, für die Welt, die einen wie Harms vollständig abgehängt zu haben scheint, interessiert sich „Harms“ nicht wirklich. Folgerichtig führen die Milieustudien-Ambitionen, die Versuche, altbekannte Genre-Versatzstücke an die deutsche Gegenwartsrealität anzuschließen, ins Nichts. Am markantesten wohl, wenn sich Wettke (André Hennicke), einer von Harms Kompagnons, dessen Lieblingswort „Fotze“ ist, in einer – immerhin ziemlich komischen – Tirade gegen das Job Center ergeht. Aber auch was das unvermeidliche love interest des Protagonisten, die Prostituierte Jasmin (Valentina Sauca), anbelangt, die kaum mehr ist, als eine Aufwärmung des alten Klischees der Hure mit dem guten Herzen. Als Harms sie fragt, warum sie für den Sex mit ihm kein Geld nimmt, und sie nicht antworten will, wird er böse wegen diesem „Scheiß, den er nicht versteht“ – und den zu verstehen auch der Film keine ernsthaften Bemühungen unternimmt.

Das Prekäre am Gangster-Dasein, die nicht gerade fröhlich dreinblickenden, betagten Herren, die sich mit kleineren Geschäften über Wasser halten und ihre Zeit sonst mit „Risiko“ spielen zubringen, erinnert an „Donnie Brasco“. Ging es Mike Newell aber in seiner brillanten Satire um die Dekonstruktion eines glorifizierenden medialen Bildes des organisierten Verbrechens, darum, „die Familie“ als dysfunktionalste aller Familien zu zeigen, voller leerer Phrasen und anachronistischer Rituale, deren Mitglieder eigentlich ziemlich jämmerliche Witzfiguren sind – was sie aber nur umso gefährlicher macht –, zeichnet sich „Harms“ durch eine sonderbare Empathie für seine Figuren aus – hauptsächlich, aber beileibe nicht nur für den Protagonisten.

Am ehesten mag man dabei an Sam Peckinpah denken, auf dessen „The Wild Bunch“ dann auch zweimal relativ deutlich angespielt wird: in der einen Szene, in der Kinder einen Käfer quälen und dann, wenn die blutrünstigste der insgesamt nicht zimperlichen Action-Szenen eingeleitet wird, durch eine Reihe von Close-Ups der schallend lachenden Männergesichter. Natürlich erscheint das zunächst einmal alles furchtbar unsympathisch. Die Art, wie ein Welt- und Männerbild, das schon zu Peckinpahs Zeiten furchtbar unzeitgemäß war, einfach nur rekonstruiert wird (allerdings ohne die Reflexion über die eigene Unzeitgemäßheit und die formale und erzählerische Meisterschaft). Dass es in dem Film seiner Anlage nach nichts gibt, was sich der unentwegten hate speech seiner Männerfiguren gegen so ziemlich alles, was nicht deutsch, männlich und heterosexuell ist, widersetzen würde. Der Plot, der da, wo er nicht absolut altbekannt ist, sich von den Konventionen zu befreien sucht, nur umso berechnender wird. Trotzdem, ich kann mir nicht helfen: die schnörkellose effektive Inszenierung und die bedingungslose Liebe, die er seiner Hauptfigur entgegen bringt, machen ihn dann doch wieder auf recht sympathische Weise zu old school.
(Die Bemerkung, dass man von „Harms“ kaum erwarten sollte, dass er dem deutschen Gangsterfilm den Weg in die Zukunft weise, erübrigt sich wohl).

Workers

(D / ME 2013, Regie: José Luis Valle)

Versehrte Helden
von Wolfgang Nierlin

Die Spannung in den genau komponierten Bildern von José Luis Valles beachtlichem Spielfilmdebüt „Workers“ resultiert zum einen aus den vielfältigen Beziehungen zwischen den Bildelementen, zwischen Vorder- und Hintergrund; zum anderen …

Die Spannung in den genau komponierten Bildern von José Luis Valles beachtlichem Spielfilmdebüt „Workers“ resultiert zum einen aus den vielfältigen Beziehungen zwischen den Bildelementen, zwischen Vorder- und Hintergrund; zum anderen aus einem verzögerten Informationsfluss in den langen Einstellungen. Das gilt im Übrigen auch für den ganzen Film, dessen Zusammenhänge erst nach und nach sichtbar werden. Valles indirekter Erzählstil verlagert immer wieder die Aufmerksamkeit und bewirkt dadurch überraschende Wendungen. Sein unaufgeregter, lakonischer Tonfall unterstreicht überdies die Verlorenheit der Figuren in einem eintönigen, beschädigten Leben.

In zwei parallelen Handlungssträngen erzählt der Film von Rafael (Jesús Padilla) und Lidia (Susana Salazar), die vor vielen Jahren einmal ein Paar waren, bevor sie durch eine traumatische Erfahrung getrennt wurden. Jetzt steht der wortkarge Raumpfleger, der in einem Trailerpark wohnt, nach dreißig Arbeitsjahren kurz vor der Pension. Diese wird dem „Illegalen“ aus El Salvador in Mexiko aber verweigert. Auch Lidia, die seit 35 Jahren als Haushälterin in einer großen Luxusvilla am Meer von Tijuana arbeitet, kann nicht einfach in den Ruhestand gehen, als die reiche Señora stirbt. Vielmehr soll das gesamte Personal weiterhin der Haupterbin, einer Windhündin namens „Prinzessin“, zu Diensten sein.

Als Gefangene des alltäglichen Trotts in einem freudlosen Leben sinnen die Protagonisten insgeheim auf Rache, um sich ihr Recht zu verschaffen und ihre Würde zu wahren. „Mein Leben ist vorbei und ich hatte nie etwas“, sagt Lidia stellvertretend für ihre Kollegen einmal über die Erfahrung von Armut und Ausbeutung angesichts der vergehenden Zeit. Illusionslos und genau situiert Valle seine versehrten Helden überdies in der sie umgebenden Gesellschaft. Doch trotz aller existentiellen Tristesse gewährt er ihnen am Ende eine kleine subversive Utopie, vielleicht sogar einen späten Neubeginn.

Una Noche – Eine Nacht in Havanna

(GB / CU / USA 2012, Regie: Lucy Mulloy)

Schutzlose Körper
von Wolfgang Nierlin

Übermütig springen die Kinder und Jugendlichen von einer Mauer ins strahlend blaue Meer, hängen sich waghalsig auf ihren Fahrrädern an fahrende Autos oder tanzen auf der Straße. Lebenslust, Körperlichkeit und …

Übermütig springen die Kinder und Jugendlichen von einer Mauer ins strahlend blaue Meer, hängen sich waghalsig auf ihren Fahrrädern an fahrende Autos oder tanzen auf der Straße. Lebenslust, Körperlichkeit und Sex, eingefangen in einem unmittelbaren, dokumentarischen Stil, vermitteln etwas von den helleren Seiten der kubanischen Hauptstadt Havanna. In ihrem sinnlich-prallen Debütfilm „Una noche“ zeigt Lucy Mulloy aber auch die Schattenseiten der Wirklichkeit: Armut und heruntergekommene Wohnungen, Schwarzmarktgeschäfte und Tauschhandel, Prostitution und polizeiliche Überwachung. In den Fluchtbewegungen der Protagonisten erscheint Havanna immer wieder als kaputte, labyrinthische Stadtlandschaft voller Verstecke. Doch eine allgemeine Perspektivlosigkeit lastet über allem.

„Es gibt keine Veränderung“, sagt die junge Lila einmal aus dem Off. Dabei ist der Traum von einer anderen, hoffnungsvolleren Welt stets gegenwärtig und manchmal fast real zu greifen. Nachdenklich und melancholisch erzählt das Mädchen von sich und ihrem innig geliebten Zwillingsbruder Elio, der sich von ihr entfernt, als er dem gleichaltrigen Raúl begegnet. Die beiden arbeiten in einer Hotelküche und planen heimlich die Flucht in das nur 90 Meilen entfernte Miami. Während sie alte Autoschläuche, Bretter und einen Motor für ihr primitives Floß organisieren, erzählt Lucy Mulloy auch von familiären Konflikten, von schwierigen Entscheidungen und zarten Liebesbanden.

Nach einigen dramatischen Verwicklungen und Fluchten erscheint die gefährliche Überfahrt zunächst wie ein Endpunkt im Grenzenlosen. Zugleich wirkt die sehr spontane und improvisierte Unternehmung irgendwie unwirklich. Fast ohne Hilfsmittel begeben sich die drei Jugendlichen auf ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Dabei ist die Nähe ihrer nackten, schutzlosen Körper auf engstem Raum fast alles, was sie haben gegen die Weite des Meeres, das zugleich Fluch und Versprechen ist.

Kreuzweg

(D 2014, Regie: Dietrich Brüggemann)

Verheerte Seelen
von Wolfgang Nierlin

„Jesus wird zum Tode verurteilt“, lautet die erste der insgesamt vierzehn Stationen des Kreuzweges, der in Erinnerung an die Passion Christi dessen Leiden und Sterben nachzeichnet. „Kreuzweg“ heißt auch der …

„Jesus wird zum Tode verurteilt“, lautet die erste der insgesamt vierzehn Stationen des Kreuzweges, der in Erinnerung an die Passion Christi dessen Leiden und Sterben nachzeichnet. „Kreuzweg“ heißt auch der neue, formal strenge Film von Dietrich Brüggemann, der analog dazu in vierzehn langen, ausgefeilten Bildeinstellungen diesen Weg der Schmerzen mit der Opfergeschichte eines jungen, heranwachsenden Mädchens synchronisiert. Im ersten Bild, dessen Komposition entfernt an Leonardo da Vincis „Abendmahl“ erinnert und in dessen Mitte der junge, äußerst eloquente Pater Weber (Florian Stetter) dominiert, wird gewissermaßen der Keim für das nachfolgende Verhängnis gelegt. Der katholische Geistliche einer fiktiven fundamentalistischen Gemeinde namens St. Paulus, deren Religionsverständnis an die Piusbrüdergemeinschaft angelehnt ist, unterrichtet eine Gruppe von Jugendlichen, die kurz vor ihrer Firmung stehen. Zu seiner rechten sitzt die 14-jährige Maria Göttler (Lea van Acken), eine ebenso gelehrige wie empfindsame Schülerin, deren Opfergang der Film im Folgenden zeigt.

Während der Priester als freundliche, aber bestimmte Autorität Glaubensinhalte abprüft oder vermittelt, reagieren die aufgeforderten Firmlinge nur mit knappen, eingeübt wirkenden Antworten. Dabei spürt man die ganze Unsicherheit ihres Alters, ihre offene, verletzliche Suche nach Orientierung, die so leicht manipulierbar ist. Und man ahnt und sieht, wie ihre Seelen in der Konfrontation mit religiösen Ideen, die auf Entsagung, Verzicht und Opferbereitschaft zielen, in Unruhe geraten und wie ihr Gewissen einem immensen Druck ausgesetzt wird. Ihr dozierender Lehrer spart dabei nicht an Kriegsmetaphorik, um den schwierigen Konflikt zwischen Glauben und profaner Gesellschaft in seinem Sinn zu befeuern: Die Firmlinge seien „Soldaten Jesu Christi“, die für ihren Glauben in eine „Schlacht“ zögen, in der sie notfalls auch bereit sein müssten, zu sterben. Zu dieser letzten Konsequenz sieht sich zunehmend Maria gezwungen.

Das Spannungsfeld, in dem dies geschieht, wird durch drei weitere Figuren bestimmt. Während ihr Mitschüler Christian (Moritz Knapp), ein für sein Alter ungewöhnlich einfühlsamer und rücksichtsvoller Junge, Marias Nähe und Freundschaft sucht, wird alles „Weltliche“ und deshalb potentiell Sündige von ihrer unnachgiebig strengen Mutter (Franziska Weisz) torpediert, die unbedingten Gehorsam fordert, in der Charakterzeichnung aber mitunter zu holzschnittartig wirkt. Als große, um Ausgleich bemühte Vermittlerin der gegensätzlichen Pole fungiert wiederum das französische Au-pair-Mädchen Bernadette (Lucie Aron), zu dem sich Maria besonders hingezogen fühlt. In einer der intensivsten und erschütterndsten Szenen, die in einer Arztpraxis spielt, sieht man dem eskalierenden Zerren und Ringen um die Seele des hilflosen, in eine schier ausweglose Situation geratenen Mädchens zu, das unter dem Psychoterror ihrer Erzieher förmlich zerbricht.

Konzentriert und genau erforscht Dietrich Brüggemann die Gewissensnöte eines jungen Menschen, der den Freiheitsentzug und die fremden, manipulativen Übergriffe adaptiert und auf letztlich eigensinnige Weise in die Logik des verinnerlichten Systems integriert. Darin liegt sowohl eine zeitlose Aktualität als auch – bezogen auf den dargestellten besonderen Fall – eine verstörende Konsequenz. Dass auf Marias Opfer schließlich ein Wunder folgt, mag auf den ersten Blick, als würde die implizite Religionskritik damit relativiert, irritieren, könnte aber auch als schutzsuchende Flucht aus dem Glaubensdilemma sowie vor den Zumutungen ihrer Umwelt verstanden werden.

Gold

(D 2013, Regie: Thomas Arslan)

Wortkarg ins Ungewisse
von Michael Schleeh

Die deutsche Amerikaeinwanderin Emily Meyer (Nina Hoss) schließt sich im Jahr 1898 einem Goldsuchertreck an, der in den hohen Norden Kanadas zieht, um zu den sagenumwobenen Goldfeldern am Klondike River …

Die deutsche Amerikaeinwanderin Emily Meyer (Nina Hoss) schließt sich im Jahr 1898 einem Goldsuchertreck an, der in den hohen Norden Kanadas zieht, um zu den sagenumwobenen Goldfeldern am Klondike River zu gelangen. Obwohl ihnen mehrfach davon abgeraten wird, nehmen sie die Strapazen auf sich und versuchen ihr Glück – doch bald schon gibt es erste Rückschläge. Die raue Wildnis fordert ihren Tribut: Erst stehen gefährliche Flussüberquerungen an, dann bricht der Planwagen mit den Küchenutensilien zusammen, es folgt ein Schlangenbiss, Alkoholismus und Begehren, später die leider etwas allzu gerechte Bestrafung des Bösewichts durch die Bärenfalle. Einmal dann auch Wahnsinn. Es dauert also nicht lange, bis auch innerhalb der siebenköpfigen Gruppe die Konflikte ausbrechen müssen. Es ist natürlich auch die Erschöpfung, die der Gruppe zusetzt, ebenso wie die zunehmende Unsicherheit, ob das Unternehmen denn überhaupt gelingen könnte.

In Arslans Spätwestern ist zunächst einmal spannend, wie sich die Figuren innerhalb der Gruppe positionieren, welche Allianzen gebildet werden, wie die einzelnen Personen harmonieren. Schon früh gibt es ein erstes und erwartbares Gerangel um Emily, die alleinreisende Frau – Rosa Enskat, die Köchin (Maria Dietz), weiß mit souveränem, vielleicht auch neidischem Blick, dass hier nur Unheil entstehen kann. Gleichwohl hält sich der Film dann dahingehend zurück, er besinnt sich auf größere Konflikte. Und Emily weiß selbst sehr wohl, wie man sich die Männer vom Hals halten kann – und wie den Herren mit einem einzigen, kleinen Lächeln eine schlaflose Nacht zu bereiten ist. Überraschend, um wie viel komplexer und detaillierter das Spiel der Hoss hier dann doch ausfällt, nachdem man allerorten und vor allem in der Berichterstattung nach der Berlinale 2013 von der „eiskalten, reglosen Nina Hoss“ lesen konnte. Das ist Unfug, ganz großartig schlägt sie feinste, nuancierte Töne an.

Der Film strebt, anstatt auf ein Ziel hin, ins Ungewisse, ins Offene. Das mag schwer erträglich sein für viele, die unter einem geglückten Kunstwerk ein in sich geschlossenes Ganzes verstehen. Toll wie da Lars Rudolph ausreißt, sich in seiner größten Szene sinnbildlich und konkret zugleich die Kleider vom Leib reißt und davonrennt, hinein in seinen Wahnsinn oder sonst was – und einfach (aus dem Film) verschwindet. Man weiß nicht, wie ihm geschieht, und der Film sagt es einem nicht. Und: Lange Sequenzen von Landschaftsbildern takten diesen Film, geben ihm seinen Groove – Panoramen, Wälder, das Abendlicht, Berghänge und Flusstäler. Das war zwar alles schon mal da, aber selten so poetisch, atmosphärisch, dicht (Kamera: Patrick Orth). Hier muss man ein Stück weit ablassen können vom üblichen Diktat der Handlungsabfolge, wie man es vom herkömmlichen Erzählkino gewohnt ist. Man muss sich Zeit nehmen für die mäandernden Abschweifungen und die visuellen Reize, dann wird 'Gold' ganz groß.

Die DVD, bei good!movies / Piffl Medien erschienen, ist ausgezeichnet gelungen. Sehr schönes Cover, mit ausführlichem Booklet, das ein Interview mit Thomas Arslan als auch mit Nina Hoss beinhaltet, wie auch eine kurze historische Einführung zum „Klondike Goldrush“. Die Bildqualität des Films ist ausgezeichnet, der 96minütige Film strahlt förmlich aus dem Fernseher. Es sind deutsche wie englische Untertitel (zuschaltbar) verfügbar. Auf der DVD befinden sich ausnehmend lohnende Extras: ein Interview mit Arslan zum Topos Abenteuerfilm/Heldenfigur, ein Making Of, das seinen Namen verdient mit Impressionen vom Dreh sowie Vertiefung durch weitere Interviews einiger Beteiligter, ein „Recherche“-Film, der Arslans Team bei ersten Kanada-Aufenthalten begleitet, sowie ein kompletter Audiokommentar zum Film selbst. Außerdem eine Fülle weiterer Trailer. Eine ganz ausgezeichnete Veröffentlichung.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

20 Feet from Stardom

(USA 2013, Regie: Morgan Neville)

And the coloured girls go „doo doodoo ...“
von Ulrich Kriest

Wow! Wer ist „weiß“, wer „schwarz“? Wer vorne im Rampenlicht? Wer (fast) unsichtbar im Hintergrund? Der Boss kniet nieder, Ike agierte wie ein Zuhälter, Sting richtet Scheinwerfer, David holt Luther …

Wow! Wer ist „weiß“, wer „schwarz“? Wer vorne im Rampenlicht? Wer (fast) unsichtbar im Hintergrund? Der Boss kniet nieder, Ike agierte wie ein Zuhälter, Sting richtet Scheinwerfer, David holt Luther für sein Soul-Album ins Studio, Mick kann sich nicht vorstellen, immer nur „Ahhh“ und „Uhhh“ zu singen – und Phil war immer schon ein Asi. Die Rock- und Popgeschichte ist reich an Fußnoten und Anekdoten, die noch darauf warten, erzählt zu werden. Erzählt uns von der Working Band des „Motown“-Labels! Sucht nach Sixto Rodriguez! Wir würden gerne noch einmal die Geschichte von James Taylor und Carole King erzählt bekommen! Oder die Geschichte der Girl Group „The Blossoms“, die Ende der 1950er Jahre begannen, mit dem Pfund zu wuchern, das sie in der Kirche gelernt hatten. Call & Response! Sie waren „Dancer“ und keine „Reader“ wie die weißen Konkurrentinnen. Das sollte in der Folgezeit noch wichtig werden, als die ganzen jungen Musiker aus England in die USA kamen, die ihren Sound gerne „dunkel“ färben wollten und eine große Liebe zu Blues und Soul verspürten. Call & Response!

Erzählt uns die Geschichten von einigen der bekanntesten unbekanntesten Background-Sängerinnen, die bei einigen der bekanntesten Hits dabei waren, den Songs den Stempel ihrer Stimmen aufdrückten. „What’d I Say“, „Gimme Shelter“. „Young Americans“. „Walk On The Wild Side“. Der Filmemacher Morgan Neville richtet abendfüllend einen Blick auf die Künstler, die auf der Bühne in der zweiten Reihe stehen. Manchmal durchaus mit Absicht, manchmal gezwungenermaßen, nie grundlos. Denn den Sprung ins Rampenlicht, den muss man wagen und wollen, der ist nicht ganz ungefährlich und nicht notwendig eine Frage des Talents. Das glaubt man Mick Jagger, Sting oder auch Bruce Springsteen ohne zu zögern.

„20 Feet from Stardom“, die „Oscar“-prämierte Hochglanz-Musikdokumentation holt die unglaublichsten Sängerinnen und Sänger vor die Kamera, von denen man »noch nie« gehört hat, um gleich darauf klarzustellen, dass dem natürlich nicht so ist. Denn die ausgewählten Sängerinnen (und Sänger wie Luther Vandross) wie Darlene Love, Merry Clayton, Lisa Fischer, Claudia Lennear oder Judith Hill sind sämtlich so prominent, dass sich mit ihnen eine mit viel exquisitem Footage-Material angereicherte »oral history« der Pop-Musik erzählen lässt, garniert mit allerlei Ehrbekundungen der (weißen) Jungs aus der ersten Reihe. Hier wird einiges an Material und an Thesen und Einfällen zusammengetragen, um einen leichtgewichtigen und unterhaltsamen und schwer nostalgischen Ausflug in die Pop-Geschichte zu unternehmen, die nach Möglichkeit nicht in den Ruch von Cultural Studies-Seriosität geraten soll. Weshalb etwas schmutzige Wäsche gewaschen wird (Stichworte: Phil Spector, Ike Turner, „Brown Sugar“), die allerdings nach Möglichkeit weder politisch noch gender-theoretisch aufgeladen werden soll.

Tatsächlich, so wird sich zeigen, haben alle Porträtierten irgendwann im Laufe ihrer langen Karrieren einmal versucht, sich als Solisten zu entwerfen – und sind aus unterschiedlichsten Gründen gescheitert. Und auch wieder nicht, denn immerhin fand sich in den Archiven hinreichend Material, um die Karrieren fast lückenlos zu rekonstruieren. Je schwärzer die Pop-Musik wurde, desto wichtiger wurden die Backgroundsänger für die weißen Pop-Stars. Merry Clayton veredelt „Gimme Shelter“ der Rolling Stones und ist auch – Ironie der Geschichte! – auf „Sweet Home Alabama“ von Lynyrd Skynyrd zu hören, Luther Vandross auf David Bowies „Young Americans“ und Judith Hill arbeitet auf Augenhöhe mit Michael Jackson. Und schließlich agieren die beiden Backgroundsängerinnen der Talking Heads gar nicht mehr im Hintergrund, sondern teilen sich mit David Byrne das Bühnenzentrum und die Aufmerksamkeit des Publikums.

Man ist Teil des internationalen Rock’n‘Roll-Jet Set – und auch wieder nicht. Claudia »Brown Sugar« Lennears Weg führt von den Ikettes zu den Stones und von den Stones zum „Playboy“; Lisa Fischer gewinnt einen „Grammy“ – und schafft trotzdem keinen Absprung in die Solo-Karriere. Darlene Love hört einen ihrer alten Hits irgendwann im Radio, als sie gerade als Putzhilfe arbeitet. Doch die Dokumentation ist eben durchdrungen von US-amerikanischer Ideologie, weshalb es hier immer um das Wieder-Aufstehen nach der Niederlage geht – und deshalb endet der Weg von Darlene Love natürlich konsequent in der Rock’n‘Roll Hall of Fame. Erfolg oder Misserfolg – „Life’s what you make it!“ Roll another one!

Ich hätte noch zwei Anekdoten im Köcher. Und unerhörtes Material im Archiv gefunden. Die Geschichte von Tina Turner und den Ikettes sparen wir uns lieber für den nächsten Film auf. Denn in Zukunft gehören die Backgroundsänger auf die rote Liste der bedrohten Arten: aktuelle Entwicklungen im Musik-Business (Castingshows; Autotune; Heimstudio) verheißen dem Job des Backgroundsängers ohnehin eine wenig glamouröse Zukunft. Wenn überhaupt.

Studio H&S – Walter Heynowski und Gerhard Scheumann: Filme 1964-1989

(DDR 1964, Regie: Walter Heynowski, Gerhard Scheumann)

Das Unsichtbare hinter den Dingen
von Dietrich Kuhlbrodt

Ja, ich gebs zu, ich hab auch zuerst gedacht: das ist ja filmhistorisch sicherlich wertvoll, jetzt durch eine DVD-Werkausgabe eine Lücke zu schließen. Die Filme der DDR-Dokumentaristen Walter Heynowski und …

Ja, ich gebs zu, ich hab auch zuerst gedacht: das ist ja filmhistorisch sicherlich wertvoll, jetzt durch eine DVD-Werkausgabe eine Lücke zu schließen. Die Filme der DDR-Dokumentaristen Walter Heynowski und Gerhard Scheumann (Studio H&S) waren, dem Kalten Krieg geschuldet, in der BRD kaum bekannt, und sie sind, fürchte ich, heute nahezu unbekannt. Jetzt also eine Box mit fünf DVDs: Filme 1964-1989. Zu meiner großen Überraschung sind die Filme nicht nur was für historisch interessierte Lückenschließer, sondern etwas für alle, die erleben wollen, wie man Filme als Waffe benutzen kann, um hinter das dokumentierte Abbild zu kommen, nämlich zur Wahrheit hinter den Dingen. Weniger nebulös ausgedrückt: Heynowski und Scheumann machen in ihren Filmen das Unsichtbare sichtbar. Ihre Methode: die Dinge, die sie vor ihrer Kamera haben, vor allem aber die Menschen sprechen zu lassen.

Ergebnis: „Der lachende Mann“, Major Müller, Kongo-Müller (gedreht 1965) redet sich um Kopf & Kragen. Die Massaker der Einheit, die er befehligte, das Kommando 52, kommentierte er, wie immer lächelnd, mit Sätzen wie „Gefangene haben wir nicht gemacht“. Die Kamera fängt das Eiserne Kreuz an seiner Brust ein, das Hakenkreuz inklusive. – Ja, dem Schlächter vom Kongo fällt niemand ins Wort, aber er wird eingebettet in Aufnahmen seiner Einheit, die mordet, Hütten abbrennt und halt geschäftig ist. Hinterher sitzen die Soldaten beisammen und unterhalten sich darüber, dass sie doch eigentlich Mörder sind. Die Soldaten lächeln nicht. Sie sind nicht zynisch. Sie machen ihre Arbeit.

„Der lachende Mann“ macht mich wütend- Vor fünfzig Jahren gedreht, und ich werde heute wütend. Was ist zu tun? Was kann ich tun? – Wieder falsch: was hätte ich tun können? Wie war die Wirkung des Films in der BRD der sechziger, siebziger Jahre? Antwort: Filme von H&S unterlagen dem bundesdeutschen Verbringungsverbotsgesetz. Hatte 1966 jemand privat von der Leipziger Messe einen solchen Film in die BRD gebracht, bekam er Besuch von der Kriminalpolizei. Das Gesetz galt für alle Filme aus dem Osten. Über eine eventuelle Freigabe entschied ein anonymes Gremium, getarnt als Verwaltungsakt des Bundesamtes für gewerbliche Wirtschaft.

Das Besondere an den Filmen von H&S, gesehen von Augen, die von Westdokumentarfilmen deformiert sind: es gibt keinen begleitenden Off-Kommentar. Auch dienen die Bilder nicht dazu, die Meinung des unsichtbaren Sprechers zu illustrieren und zu bestätigen. Unterhalten werden wir auch nicht. Und mit dem, was sichtbar wird, müssen wir selbst fertig werden. Mit anderen Worten: werd aktiv, Genosse! Äh, Zuschauer, wollt ich sagen.

Damit sind wir bei den Kalten-Kriegs-Einwänden gegen die H&S-Filme. Kommunistische Agitation! Unfairer und moralisch anstößiger Journalismus! War dem Kongo-Müller klar gewesen, dass er es mit einem DDR-Team zu tun hatte? Das Vorgespräch hatte der westdeutsche Kameramann Peter Hellmich geführt (mit dem H&S nebenbei gesagt eine Offene Handelsgesellschaft gebildet hatten). – War der Major etwa unter Alkohol gesetzt worden? – (Er war es, mit dem letzten Westgeld der Filmemacher, wie im Kassetteninterview zu hören ist.) – Also Verstoß gegen die journalistische Lehre? – Und ob! Sagte ich es nicht schon: H&S-Filme sind eine Waffe, die Wahrheit zu Gesicht zu bekommen.

Etwas mulmig wird mir schon, wie ich hier auf die aktuelle Wirkung abstelle. Heynowski und Scheumann haben ihre Methode als die des dialektischen Dokumentarfilms bezeichnet. Das ist nachvollziehbar und gleichzeitig eine einwandfreie Absicherung gegenüber den politischen Instanzen in der DDR, die ihrem Studio ungewöhnliche Freiheiten eingeräumt hatten (Unabhängigkeit von der DEFA, weitgehend problemlose Westreisen) – bis zum fatalen IV. Kongress des Verbandes der Film- und Fernsehschaffenden der DDR 1982.

Im höchst willkommenen Bonus-Material der Kassetten findet sich ein lesenswerter Essay von Georg Seeßlen, der es unternimmt, die 26 Filme der DVD-Edition dialektisch vorzustellen und kritisch zu bewerten. Hinter der Wahrheit lauert das Grauen (Seeßlen). Im Fünf-Minuten-Film „400 CM3“ von 1966 registriere ich in einem Krankenhaus übel verletzte und böse deformierte Menschen (Vietnamesen), dazwischen gebettete Bürger und Bürgerinnen (aus der DDR). Ein anspruchsvoller a capella Chor (Paul Dessau) verkündet Großartiges – oder Schreckliches. Die Einsicht kommt am Schluss. Blut spenden für Vietnam! Wirkung: Ich bin dabei! (2014: zu spät!)

Oder: 1971, sechs Minuten. „100“. Jemand liegt am Boden. Die Zahlen laufen rückwärts. 99, 98. Liegestützen. Bei 48 ein Zusammenbruch. Weiter. Es ist zum Erbarmen. Warum? Der Jemand ist Soldat. Er hört penetrant die drei Worte: dog, pig, monkey. Ein US-soldier, der einen Vietnamesen Vietnamesen nennt, hat die Liegestützstrafe verdient. Denn korrekt handelt es sich wie gesagt um dogs, pigs, monkeys, so die Instruktion.

Gemeinsam ist diesen und den anderen Filmen, dass man selbst hinter die Wahrheit kommt, die hinter ihnen lauert. „Am Wassergraben“ (1978). Das Massaker von My Lai. Zehn Jahre danach. Truppenführer Calley, Mörder der Frauen und Kinder, lebt als freier Mann, frei auch jeder Reue. – Ich denke an aktuelle Einsätze, Massaker, und ich bin kein Freund der Army geworden. Wieder die Wut im Bauch. Fuck you, US-Army!! Auch werd ich mir kein Bier vom lächelnden Vietnamesen in Washington zapfen lassen, wenn ich schlussendlich sehe, wie er als Chef der südvietnamesischen Polizei namens Ngoc Loan öffentlich einen vorgeführten Gefangenen erschießt. – Bilder ohne Kommentar!

Chile. „Der Krieg der Mumien“, der Kapitalisten (1974, 90 Minuten). 1973 sind die jetzt neoliberalen Faschisten an der Macht. Zum Sieg von CIA und Kapitalisten hat auch Hamburg beigetragen. Im Freihafen sind zur Weiterverarbeitung in Hamburg große Flächen mit chilenischem Kupfer gestapelt und von den Behörden beschlagnahmt worden. Allende hatte die Kupferminen verstaatlicht. Enteignete US-Minen-Besitzer klagten. Die H&S-Kamera ist im Sitzungssaal des Hamburger Landgerichts. Wieder kein Kommentar. Die Rede wird den neoliberalen Verteidigern überlassen. Wurde der eine nicht danach CDU-Bürgermeister? In Santiago ist der Büroturm wieder mit den drei Stockwerke hohen Buchstaben verziert: ITT. Die Farbwerke Hoechst danken Pinochet. Der Kapitalismus hat gesiegt … – Vorerst, wie wir wissen, dank H&S und der geschichtlichen Wahrheit.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 7/2014

Beziehungsweise New York

(F 2013, Regie: Cédric Klapisch)

Ein Trümmerhaufen namens 'Leben'
von Wolfgang Nierlin

„Casse-tête chinois“, der Originaltitel von Cédric Klapischs neuem Film „Beziehungsweise New York“, bedeutet in etwa „Kopfzerbrechen auf chinesisch“. In seiner aktuellen Beziehungskomödie, die die 2002 begonnene „L’auberge espagnole“-Trilogie komplettiert, ist …

„Casse-tête chinois“, der Originaltitel von Cédric Klapischs neuem Film „Beziehungsweise New York“, bedeutet in etwa „Kopfzerbrechen auf chinesisch“. In seiner aktuellen Beziehungskomödie, die die 2002 begonnene „L’auberge espagnole“-Trilogie komplettiert, ist damit ein Geschicklichkeitsspiel aus Holz gemeint, dessen Einzelteile der Spieler wie ein Puzzle zusammensetzen muss. Im sehr kunstvoll gestalteten Vorspann des Films, der mit groovendem Soul unterlegt ist, fügen sich einzelne Bilder und Szenen zu Fragmenten aus dem Leben des knapp 40-jährigen Schriftstellers Xavier Rousseau (Romain Duris), der an einem Roman mit dem Titel „Chinesisches Puzzle“ arbeitet. Während er auf einer Dachterrasse im New Yorker Stadtteil Chinatown sitzt, blickt er zurück auf die turbulenten Ereignisse des vergangenen Jahres, die sich im Schreiben zur Kunst verdichten. Denn bei Klapisch folgt die Kunst dem Leben.

Über sein Leben wiederum sagt der Ich-Erzähler Xavier aus dem Off des Films, es sei chaotisch und kompliziert und erscheine mitunter unsinnig. Weder verlaufe es geradlinig von einem Punkt A zu einem Punkt B, noch habe es ein bestimmtes Ziel, vielmehr strebe es in verschiedene Richtungen. „Im Grunde ist mein Leben ein Trümmerhaufen“, konstatiert Xavier ernüchtert und spinnt dabei die Metapher von den Fragmenten weiter. Trost findet er allein bei den deutschen Philosophen Hegel („Alles Nichts ist nichts, woraus etwas resultiert.“) und Schopenhauer, der das Leben mit einem gestickten Bild vergleicht: Das Gewirr der Fäden auf der Rückseite zeige, wie alles gemacht ist. Erfindungsreich und phantasievoll überschreitet Cédric Klapisch, der die beiden Philosophen hier leibhaftig auftreten lässt, immer wieder die Grenzen der realistischen Darstellung.

Das Puzzle des Lebens, zerstreut durch die Krisen in der Lebensmitte, materialisiert sich im Bild von Xaviers Patchworkfamilie: Seine Frau Wendy (Kelly Reilly) trennt sich von ihm und zieht mit den beiden Kindern nach New York; Xavier folgt ihr und geht dort eine Scheinehe mit einer Chinesin ein; dazwischen spendet er seinen Samen für seine lesbische Freundin Isabelle (Cécile de France) und wird so nochmals Vater; schließlich taucht auch noch seine frühere Freundin Martine (Audrey Tautou) auf und befeuert damit zunehmend eine alte Liebe. In vielschichtigen Bildern, witzigen Dialogen und mit erzählerischer Ökonomie verbindet der französische Regisseur das Beziehungschaos seiner Protagonisten sowohl mit den veränderten Lebensformen einer von der Globalisierung geprägten Generation als auch mit der Multikulturalität des Schmelztiegels New York. Immer wieder bezieht der charmante Film aus kulturellen Differenzen sein erfrischendes Konfliktpotential. Zugleich wird die vielgestaltige, offene Weltstadt zur gewichtigen Mitspielerin im komplizierten Geflecht des zwischenmenschlichen Reigens.

Ai Weiwei: The Fake Case

(CN / DK / GB 2013, Regie: Andreas Johnsen)

Chinas geheimer Krieg
von Sven Pötting

Das Thema Überwachung ist derzeit allgegenwärtig. Dabei stellt es nicht nur für die Politik eine Herausforderung dar, sondern auch für die Soziologie. Vor wenigen Monaten veröffentlichten Zygmunt Bauman und David …

Das Thema Überwachung ist derzeit allgegenwärtig. Dabei stellt es nicht nur für die Politik eine Herausforderung dar, sondern auch für die Soziologie. Vor wenigen Monaten veröffentlichten Zygmunt Bauman und David Lyon, der Begründer der Surveillance Studies, dementsprechend einen Band mit dem Titel 'Daten, Drohnen, Disziplin – Ein Gespräch über flüchtige Überwachung'. Bei dem im Untertitel verwendeten Adjektiv „flüchtig“ handelt es sich um einen zentralen Begriff aus dem Vokabular des polnisch-britischen Soziologen Bauman und kennzeichnet einen Aggregatzustand unserer Kultur und Gesellschaft (der Zeit der „flüchtigen Moderne“), in dem Überwachung und Kontrolle jederzeit und permanent vorkommen, aber nicht dingfest gemacht werden können.

Das Hollywoodkino hat die technische Realität des Überwachungsstaates verschiedentlich in den Mittelpunkt gerückt. So etwa in „Enemy Of The State“ (USA 1998). Überwachungstechniken wie Kameras, Mikrofone, Gesichtserkennung, Telefonüberwachung, die Kontrolle durch den Satellitenblick – sie werden in Tony Scotts Film detailversessen inszeniert, um das Motiv der totalen Überwachung durch eine Supermacht zu beschwören. „Ich möchte, dass die Zuschauer sagen: ‚Mein Gott, sie überwachen uns von da oben, sie beobachten uns die ganze Zeit.’ Ich möchte, dass sie sich fragen: ‚Was ist an diesem Film wahr gewesen?“ – so wird der Regisseur in den „Produktionsnotizen“ des Booklets der DVD-Special Edition des Films zitiert („Der Staatsfeind Nr.1“, Touchstone Home Video 2003). Wie wir aus aktuellem Anlass wissen, handelt es sich um eine filmische Fiktion, die der Realität vermutlich ziemlich nahe kommt. Dabei ist es vermutlich egal, ob wir von Staaten mit parlamentarischen Demokratien sprechen oder Staaten, die es mit demokratischen Grundsätzen nicht ganz so genau nehmen.

Geheimdienste arbeiten im Dunkeln, daher sind es Romane und Filme, die über die Geheimnisse des Politischen aufklären, die uns ihre Mechanismen erklären, Taktiken der Spionage detailliert beschreiben und Verschwörungen aufdecken – diese These stammt von Eva Horn, die sie in ihrer brillante Studie „Der geheime Krieg“ aus dem Jahr 2007 an Beispielen ausführt.

Erstmals beschrieb die Literaturwissenschaftlerin das Verwischen der Differenzen zwischen Realität und Fiktion in einem Aufsatz, der kurz vor 9/11 in der Zeitschrift Lettre International erschien. Über die Arbeit der „Geheimen Dienste“ heißt es dort, sie sei nur dann gut, „wenn weder ihr Wirken noch ihr Scheitern je ans Licht der Öffentlichkeit gelangen.“ Wenn vermutet wird, dass eine Beobachtung stattfindet, man es aber nicht genau fassen kann, dann entsteht daraus Misstrauen oder Paranoia: genau das zu erreichen, ist das perfide Ziel der panoptischen Überwachung. Was ist aber, wenn der Geheimdienst geradezu an die Öffentlichkeit drängt? Dann muss – so wissen wir aus den Fiktionen – ein „Störfall“ eingetreten sein.

Im Grunde genommen handelt davon der Film „Ai WeiWei – The Fake Case“. Der Dokumentarfilm des dänischen Regisseurs Andreas Johnsen ist nämlich mehr als das Porträt eines Künstlers. Johnsens Film zeigt uns ein autoritär geführtes Land, an dessen Schaltzentralen der Macht Panik ausgebrochen ist. Chinas Führung befürchtet nichts mehr als eine asiatische „Jasmin-Revolution“ und den eigenen Machtverlust. Man versuchte, ein Exempel an einem rebellischen Künstler zu statuieren, ahnte aber nicht, welche Probleme man sich mit ihm einhandeln würde und wie sehr man damit auch die Arbeit der eigenen Geheimdienste an die Öffentlichkeit zerren würde.

Ai WeiWei, Sohn eines berühmten Dichters, war den Behörden schon seit 2005 mit seinem regimekritischen Blog ein Dorn im Auge. Endgültig in Ungnade fiel er, als er nach dem Erdbeben von Chengdu 2008 und dem Tod von mehr als 5000 Kindern die Behörden für Schlamperei an Schulgebäuden verantwortlich machte. Im europäischen und amerikanischen Ausland ist er längst ein Superstar der Kunstszene. Auch in China hat er viele Anhänger gefunden und er ist in seiner Heimat zu einer einflussreichen Person geworden. Aus diesen Gründen wurde er im April 2011 von den chinesischen Behörden verhaftet – man könnte aber auch sagen: gekidnapped. Freigelassen wurde er erst nach 81 Tagen. Danach stand er ein Jahr unter Hausarrest und wurde, um ihn öffentlich zu diskreditieren, als mutmaßlicher Chef der unter dem Namen seiner Frau eingetragenen Designfirmer „Fake“ wegen Steuerhinterziehung angeklagt. Das Risiko einer erneuten willkürlichen Verhaftung besteht zwar weiterhin, Ai Weiwei will aber nach eigenen Aussagen im Land bleiben.

„Malerei ist nicht dazu da, Wohnungen zu dekorieren. Sie ist ein Kriegsinstrument.' Dieses Pablo-Picasso-Zitat steht am Anfang von „The Fake Case“. Dieses Motto will der streitbare Künstler auch einlösen und mit seinen ihm eigenen Mitteln und mit einer Hartnäckigkeit (die mitunter wie die eines Michael Kohlhaas anmutet) für sein Recht, allgemein aber für mehr Transparenz und für mehr Demokratie in China kämpfen. Dass die Kunst das effektivere Mittel als der Rechtsweg ist, seinem mächtigen Gegner zu begegnen, zeigt der Film auch. Der vergebliche Einsatz seiner Anwälte wird dokumentiert, die keine Chance in einem Prozess bekommen, der nichts mehr als eine Farce ist: ein „fake case“ um die Firma „Fake“.
Ai WeiWei geht offensiv mit seiner Überwachung um, zeitweise dokumentierte er sogar öffentlich fast seinen gesamten Alltag mittels vier Webcams, die ihn Tag und Nacht in seinem Haus filmten.

Später verarbeitete er in einem Musikvideo die Zeit seiner Gefangenschaft. Ein anderes Projekt, dessen Entstehungsprozess den Film wie einen roten Faden durchzieht, ist derzeit in Europa zu bewundern. Der Künstler hat Eisenboxen aufstellen lassen. Über kleine Öffnungen können Besucher darin Szenen aus Ai WeiWeis Zeit im Gefängnis beobachten: Der Künstler neben Wärtern beim Schlafen, Essen, Duschen und im Verhör. All dies ist so realistisch wie möglich dargestellt. Die Miniaturen wirken wie ein Kreuzweg.

Aktuell tritt er auch als Filmschauspieler in Erscheinung, wie zum Beispiel in dem Kurzfilm mit dem Titel „The Sandstorm', der in einem dystopisch düsteren Peking spielt. Er dokumentiert mit Mitteln der Kunst, mit der Fiktion, die Realität. Mit solchen „Performances“ lotet er permanent die Grenzen aus dessen, was für ihn sag- und machbar ist. Er irritiert damit seinen Gegner, den Geheimdienst, zwingt ihn damit aus der Deckung heraus und lässt ihn Fehler begehen. Es ist regelrecht komisch, wenn wir im Film sehen, wie Ai WeiWei zwei ihn beobachtende Geheimdienstler ausmacht und fotografieren lässt. Die Ertappten fliehen gedemütigt. Ai Weiwei dokumentiert diese Flucht und beginnt sie zu verfolgen. Er stellt die Geheimdienstler in ihrer Mittelmäßigkeit bloß, er unterschätzt seine Gegner aber nicht. Zu tief sitzt sein eigenes Trauma.

Regisseur Johnsen begann mit den Dreharbeiten bereits vor der Entführung und Verhaftung von Ai WeiWei. Nach dessen Freilassung flog er erneut mehrfach nach China, drehte mehrere hundert Stunden und schaffte es, dank freundlicher Helfer, auch das Material ohne Probleme mit den Behörden aus dem Land zu schaffen. Natürlich bedeutete die Gefangenschaft einen Bruch. In den Aufnahmen, die nach der Freilassung entstanden, sieht man den Künstler, der wie besessen alles filmt. Es entstehen mise-en-abyme-Strukturen, Spiegelungen und Doppelungen. Wir sehen AiWeiWei, wie er eine Skypekonferenz vom Monitor abfilmt, wie er den Regisseur, der ihn filmt, wiederum selber filmt, wie jedes Detail von ihm und seinen Mitarbeitern genauestens dokumentiert und protokolliert wird. Dies soll ihn bei einer etwaigen weiteren Verhaftung schützen.

Aktuell gibt es kein einziges Verfahren und keinen einzigen Vorwurf gegen Ai Weiwei. Es gibt aber auch keine staatliche Stellungnahme, warum ihm der Reisepass nach drei Jahren immer noch nicht ausgehändigt wurde. Für dieses Verhalten gibt es nur die Erklärung, dass die chinesischen Steuerbehörden das Verfahren offenhalten und als Druckmittel benutzen. Seine Angst ist also nicht unbegründet.

Andreas Johnsen porträtiert einen Künstler, den er selbst als Freund bezeichnet. Dies sind nicht nur Phrasen. Man spürt die Vertrautheit und das Vertrauen. Dies tut dem Film gut. Ai WeiWei lässt die Kamera nah an sich und seine Familie heran. Der Zuschauer erlebt einen charismatischen Künstler, ein Kommunikationstalent und einen Medienprofi, der natürlich auch den Film zu seinen Zwecken zu nutzen weiß. Dadurch ist „The Fake Case“ auch ein systemkritischer Film geworden. Allerdings ohne didaktische Menschenrechtsdiskurse. Zum Glück!

Rosie

(CH 2013, Regie: Marcel Gisler)

Der Sturz
von Wolfgang Nierlin

„Liebe ist eine Fata Morgana“, heißt es in „Schwarzlicht“, dem neuen Buch des fiktiven, in Berlin lebenden Schriftstellers Lorenz Meran (Fabian Krüger). Seine Mutter Rosie (Sibylle Brunner) hört das, schon …

„Liebe ist eine Fata Morgana“, heißt es in „Schwarzlicht“, dem neuen Buch des fiktiven, in Berlin lebenden Schriftstellers Lorenz Meran (Fabian Krüger). Seine Mutter Rosie (Sibylle Brunner) hört das, schon angetrunken, in einer Kultursendung des Fernsehens. Doch dann fällt sie plötzlich um. Und weil die alte Dame seit dem frühen Tod ihres Mannes allein in ihrem Haus im ostschweizerischen Altstätten lebt, wird sie erst am nächsten Morgen vom Briefträger gefunden, was wenig plausibel ist und auch nicht gezeigt wird. Jedenfalls eilen ihr Sohn, der homosexuell ist, und ihre Tochter Sophie (Judith Hofmann), die unter ihrer Ehe mit einem Polizisten leidet, zu ihrem Krankenbett. Doch die resolute, nie um ein Wort verlegene Titelheldin aus Marcel Gislers Film „Rosie“ macht schnell klar, dass sie möglichst bald zurück in ihr Eigenheim will. Nach ihrer Rekonvaleszenz beharrt sie eigensinnig auf ihrer Selbständigkeit und vereinsamt dabei zusehends, von Zigarettenrauch umwölkt und steigendem Alkoholkonsum benebelt.

Sein autobiographisch gefärbter Film sei eine Hommage an seine Mutter, schreibt Marcel Gisler im Presseheft. In seinem Heimatort Altstätten und in Schwyzerdütsch gedreht, habe diese als Vorbild für die Figur der Rosie gedient. Sehr einfühlsam und ausdrucksstark wird sie von der 1939 in Zürich geborenen Theaterschauspielerin Sibylle Brunner verkörpert, die dafür prompt mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnet wurde. Vor allem in der Darstellung von Rosies zunehmendem Alkoholismus, der von Ausfällen und Abstürzen begleitet wird, aber auch in der schmerzlichen Konfrontation mit einer alten Schuld entfaltet Brunner ein nuanciertes Spiel. Daneben zeigt sie eine Rosie, die in ihren nüchternen, von wechselnden Komplizenschaften geprägten Szenen illusionslos, ironisch und schlagfertig ist.

Bald folgt auf den einen Sturz ein zweiter, auf den Schlaganfall auch noch ein Herzinfarkt. Die prekäre Versorgungssituation der alten, kranken Mutter verlangt von den Geschwistern immer dringlicher eine Betreuungslösung. Zugleich wird Lorenz bei seinen wiederholten Heimataufenthalten sowohl in der Begegnung mit dem jungen, seine Gefühle herausfordernden Mario (Sebastian Ledesma) als auch mit seiner Familiengeschichte in eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und seiner homosexuellen Identität gezwungen. In spiegelbildlichen Motiven, in Träumen und atmosphärischen Zeitsprüngen, die ein nachdenkliches Innehalten ermöglichen, entwickelt Gisler seine facettenreiche, teils schmerzliche Mutter-Sohn-Geschichte. Trotzdem findet er mit seiner Tragikomödie auch die Balance zwischen dem Schweren und dem Leichten, zwischen heiteren und ernsten Momenten.

Turn me on

(NR 2013, Regie: Jannicke Systad Jacobsen)

Mit dem Schwanz gepikst
von Wolfgang Nierlin

Wenn die fast 16-jährige Alma (Helene Bergsholm) auf der Heimfahrt von der Schule zusammen mit ihren gleichaltrigen Freundinnen das Ortsschild ihrer kleinen Gemeinde passiert, reckt sie demonstrativ den Stinkefinger nach …

Wenn die fast 16-jährige Alma (Helene Bergsholm) auf der Heimfahrt von der Schule zusammen mit ihren gleichaltrigen Freundinnen das Ortsschild ihrer kleinen Gemeinde passiert, reckt sie demonstrativ den Stinkefinger nach oben. „Scheißkaff, Drecksloch“ lautet ihr derbes Urteil über Skoddeheimen. Das liegt irgendwo in der norwegischen Provinz und besteht aus ein paar verstreuten Häusern, die von Wiesen und Bergen gerahmt werden, einem entfernten Supermarkt und einer noch entfernteren Schule jenseits der Gemarkungsgrenze. Aber vor allem aus „dummen Schafen, dummen Heuballen und dummen Trampolin-Mädchen“, wie Alma sarkastisch aus dem Off die Einzelbild-Montage zu Beginn von Jannicke Systad Jacobsens ironischem Debütfilm „Turn me on“ kommentiert. Im verschlafenen Skoddeheimen ist also nichts los und die Perspektiven sind begrenzt. Als beliebtester Treffpunkt und zugleich als Transitort fungiert deshalb das mit Blumen ausgemalte Bushäuschen am Straßenrand.

Angesichts solcher Tristesse wiegt Almas wilde sexuelle Lust umso schwerer: Auf dem Küchenboden masturbierend, eine Sex-Hotline am Ohr, versucht sie sich Erleichterung zu verschaffen. „Weil ich spitz bin“, vermutet sie bei ihrer alleinerziehenden Mutter Ekelgefühle ihr gegenüber. Dabei kreisen ihre mit romantischem Kitsch ummantelten Sex-Phantasien vor allem um ihren Mitschüler Artur (Matias Myren). Die Räume und Dekors in helles, lichtes Unschuldsweiß getaucht, lässt Jacobsen Traum und Wirklichkeit ineinanderfließen. Das geschieht so selbstverständlich, dass mitunter nicht klar ist, wo Almas Einbildung beginnt und wo sie endet. Jedenfalls behauptet sie nach einer frivolen Party-Begegnung mit Artur und seinem plötzlich entblößten Geschlecht gegenüber ihren Freundinnen: „Er hat mich mit seinem Schwanz gepikst.“

Weil ihr diesen Schlüsselsatz niemand glaubt und Artur überdies den „Übergriff“ trotz insgeheimen Verliebtseins leugnet, wird sie von ihrer Clique fortan ausgegrenzt, gemobbt und mit Häme überzogen. Da hilft ihr auch alles Imponiergehabe nichts; bis Alma schließlich wütend und enttäuscht nach Oslo in die Studenten-WG ihrer älteren Freundin Maria (Julia Bache-Wiig) flüchtet, wo sie nicht nur Verständnis erfährt, sondern auch Momente einer irgendwie stärkenden Freiheit erlebt. Mit einem sensiblen Gespür für die Sorgen und Nöte von Jugendlichen, mit trockenem Humor in Bild und Ton sowie unscheinbar daherkommenden Provokationen erzählt die norwegische Regisseurin eine Coming-of-Age-Geschichte, die unaufgeregt und ganz selbstverständlich das Schwere mit dem Leichten versöhnt.

Der Glanz des Tages

(AT 2012, Regie: Tizza Covi, Rainer Frimmel)

Bedingungslos zärtlich, schonungslos ehrlich
von Nicolai Bühnemann

Laut ihrer Filmographie haben Tizza Covi und Rainer Frimmel in den vergangenen vierzehn Jahren vier Dokumentar- und zwei Spielfilme gedreht. Über das Schaffen des Paares ist mit solchen Kategorien allerdings …

Laut ihrer Filmographie haben Tizza Covi und Rainer Frimmel in den vergangenen vierzehn Jahren vier Dokumentar- und zwei Spielfilme gedreht. Über das Schaffen des Paares ist mit solchen Kategorien allerdings rein gar nichts gesagt. In ihren „Dokumentarfilmen“ finden sich keine der genreüblichen Mittel, um den Zuschauer an der Hand zu nehmen, seine Aufmerksamkeit und sein Interesse zu lenken, also etwa ein Voice-Over, Interviews mit talking heads, „Stimmungsmusik“, etc. In ihren „Spielfilmen“ hingegen gibt es weder künstliches Licht noch extradiegetische Musik, die Dialoge werden nach groben thematischen Vorgaben improvisiert, und die Darsteller sind Laien, die sich selbst „spielen“. Die Filme von Covi und Frimmel sind Experimente, bei denen es darum geht, immer neue Wege zu finden, Menschen und ihre Alltagsrealität möglichst unverstellt, möglichst „natürlich“ auf Film zu bannen. (Um diese Arbeitsweise finanzieren zu können, gründeten die beiden übrigens 2002 die Produktionsfirma Vento Film. Zum Filmteam gehören neben ihnen – wenn überhaupt – nur noch ein Tontechniker.)

In „Das ist alles“ (2001) zeigten sie das Leben in einem kleinen Dorf in der Nähe von Kaliningrad, beobachteten, wie die Menschen dort wohnen, arbeiten und essen. Die russischen, armenischen und deutschstämmigen Bewohner erzählten – hier noch direkt in die Kamera – aus ihren bewegten Familiengeschichten, in denen denkbar unaufgeregt die großen Menschheitskatastrophen und Umwälzungen des zwanzigsten Jahrhunderts nachhallten. Dass es in den kleinen Geschichten Einzelner immer wieder auch um große soziohistorische Zusammenhänge geht, wird sich in den Filmen des Duos, ihrem alltagsethnologischen work in progress wiederholen. Ebenso wie das Thema der Entwurzelung, der „Heimat“ und ihres Verlustes.

Doch während Migration und Vertreibung für die Menschen in „Das ist alles“ noch – mehr oder weniger weit – in der Vergangenheit lagen, geht es in den folgenden Filmen um ein ganz und gar gegenwärtiges Leben on the road. Für „Babooska“ (2005) reisten Covi und Frimmel ein Jahr lang mit einem Wanderzirkus, mit der jungen Artistin Babooska und ihrer Truppe durch Italien. Anstelle der direkten Interaktion mit der Kamera trat hier die zunehmende Konzentration auf die Gespräche zwischen den Personen. „La pivellina“ (2009) setzte hier an, wieder geht es um eine Zirkusgruppe, die in einer Wagenburg am Rand von Rom lebt – und Patrizia Gerardi und Walter Saabel, die schon im Vorgänger auftauchten, spielen nun sich selbst, denn hier wurde zum ersten Mal das reale Setting durch eine fiktive Handlung gerahmt, deren Ausgangssituation ist, dass Patrizia zu Beginn des Films auf einem Spielplatz ein zweijähriges Mädchen findet, dass von seiner Mutter ausgesetzt wurde.

Vergleicht man „Das ist alles“ mit den Spielfilmen „La pivellina“ und „Der Glanz des Tages“, dann fällt auf, dass die Spielfilmform den Filmemachern die Möglichkeit gibt, sich noch weiter aus dem Film zurück zu nehmen. Wird in einer Interview-Doku die Kamera immer mitgedacht, weil sich die Sprechenden direkt an sie wenden, wäre das in einem Spielfilm ein Bruch mit der Realitätserzeugung. Dadurch, dass sich der Kamerablick verhält wie in einem Spielfilm, die Personen vor der Kamera aber so „real“ sind wie in einer Dokumentation, ergibt sich die nur scheinbar paradoxe Konstellation, dass die Spielfilme von Covi und Frimmel „realer“ – im Sinne von weniger inszeniert – wirken als ihre Dokumentarfilme.

In „Der Glanz des Tages“ erscheint mit Philipp Hochmair erstmals ein professioneller Schauspieler in einem Covi/Frimmel-Film. Am Anfang sehen wir ihn in einem Foto-Automaten, da salutiert er mit Halbglatze und Uniform. Die Uniform und die Halbglatze, das erfahren wir später, gehören aber gar nicht zu Philipp, sondern zum Hauptmann aus Büchners „Woyzeck“. Hochmair wird in der Maske für die Inszenierung eingeführt, die am folgenden Tag ihre Premiere im Hamburger Thalia Theater feiern wird. Im Interview sagte Covi über die Gründe für die Auswahl eines Theaterschauspielers als Hauptfigur: „Bei Philipp hat uns der Realitätsverlust interessiert, den man als ein vielbeschäftigter Schauspieler zwangsläufig erlebt. Man lebt in diesen intellektuellen Texten, ist immer jemand anderer, und wird dafür bewundert, was man nicht ist – nämlich für den Menschen auf der Bühne und nicht hinter der Bühne.“ Das Nomadenthema der vorangegangenen Filme wird dadurch wieder aufgegriffen, dass Philipp wegen seines Berufes zwischen Hamburg und Wien pendelt. Gleichzeitig wird es zugespitzt: Gerade die Figur, der es, was den sozialen Status anbelangt, wohl am besten geht im Covi/Frimmel-Kosmos, ist die „heimatloseste“ von allen. Philipp ist nicht einmal mehr in sich selbst zuhause.

Als Philipp in seine Hamburger Wohnung kommt, steht Walter vor der Haustür, der sich ihm als sein Onkel vorstellt, den er nie kennengelernt hat. Walter ist Zirkusartist und wird „gespielt“ von dem Zirkusartisten Walter Saabel, der hier zum dritten Mal in einem Film von Covi und Frimmel vor der Kamera steht.

Ging es in „La pivellina“ darum, wie das kleine Mädchen ihrer neuen Familie langsam ans Herz wuchs und anders herum, handelt „Der Glanz des Tages“ von der Annäherung zweier Männer. Hier wie dort sind es erdichtete Familienbande, die die realen Personen zueinander in Bezug setzen. Und die Konstellationen sind in beiden Filmen so gewählt, dass die Beziehung keine „natürlich“ gewachsene ist, sondern während des Filme(n)s langsam vor den Augen des Zuschauers entsteht.

Man könnte „Der Glanz des Tages“ als eine fiktive Geschichte beschreiben, die das Leben (mit-)schrieb. Unter anderem deshalb, weil sich der Drehplan an den Lebensumständen der Protagonisten orientierte und nicht andersherum. Dass der Film in Hamburg und Wien spielt, liegt daran, dass Hochmair während der Dreharbeiten sein Engagement wechselte. Durch den Umstand, dass Philipp im „Woyzeck“ mitspielt, ergibt sich ein interessanter Subtext. Die Beziehung zwischen dem Soldaten Franz Woyzeck und dem Hauptmann spiegelt die Beziehung von Walter und Philipp wieder, zwei Männer, die, so sagt es Walter einmal, beide im „Showgeschäft“ arbeiten und doch unterschiedlicher kaum sein könnten. Ein Dialog in der Garderobe, unmittelbar vor Beginn der Premierenvorstellung, bringt diesen Bezug auf den Punkt. „Du wärst auch ein guter Woyzeck,“ sagt Philipp im Hauptmannskostüm zu Walter, der resigniert antwortet: „Ja, ein Verlierer, das bin ich jetzt schon.“ (Und dass der wunderbare Walter Saabel, der alternde Artist a.D., dem viel jüngeren Profischauspieler ein ums andere Mal die „Show stiehlt“, nur zum Bespiel mit seinem sehr ausführlichen Bericht über den buchstäblich knochenbrecherischen Alltag eines Bärenringers, ist vielleicht dann eine klitzekleine Utopie, die sich in die Wahrhaftigkeit dieses Films einschleicht.)

Es ist verblüffend, wie sich in diesem Film, der, so Frimmel, „ein Experiment ist, bei dem man nie weiß, wie es ausgehen wird“, Bezüge zu den vorherigen Werken der Regisseure ergeben, die sich langsam zu einem eigenen auteuristischen Themenkosmos formieren. Victor, der Nachbar in Philipps Wohnung in Wien, stammt aus Moldawien; weil seine Frau kein Visum hat sondern nur Asyl, kann sie nicht zurück nach Österreich, und Victor ist nun allein mit den beiden Kindern. Im Interview erklärt Covi, dass Victors Situation auf Tatsachen beruhe: „Victor, ein Nachbar von uns, war tatsächlich von einem Tag auf den anderen alleine mit seinen beiden Kindern. Uns war es wichtig, auch eine Realität aus Wien zu zeigen.“ Zugleich knüpfen sie damit an das Thema der Migration an, das schon in „Das ist alles“ eine gewichtige Rolle spielte, und an das Motiv der fehlenden Mutter in „La pivellina“.

Wenn Walter seinen Geburtsort Schwabmünchen besucht, ergibt sich durch die Gespräche mit Gleichaltrigen in der örtlichen Kneipe auch ein Diskurs über den psychischen und physischen Missbrauch im Schulsystem vergangener Dekaden (und dass das, wie die Skandale der letzten Jahre belegen, durchaus nicht nur ein Problem der Vergangenheit ist, darf der Zuschauer selbst erkennen, ohne dass man ihn bevormundend darauf hinweisen müsste).

Wer nun aber anhand meiner umständlichen Ausführungen meint, die Vielschichtigkeit der Verzahnung von Realität (oder eher: verschiedener Lebensrealitäten) und Fiktion müsse eine ziemlich vertrackte Angelegenheit sein, der liegt kolossal falsch. „Der Glanz des Tages“ besticht durch seine Klarheit, seine Einfachheit. Die langen ruhigen, überwiegend halbnahen Einstellungen geben viel Zeit, um die Menschen und die (sozialen) Räume, in denen sie sich aufhalten, durch die sie sich bewegen, sehr genau zu beobachten.

Dass keines der behandelten Themen wirklich abschließend ausdiskutiert wird, dass das Ende ebenso offen bleibt wie in „La pivellina“ liegt in der Natur dieses wunderschönen, bedingungslos zärtlichen und schonungslos ehrlichen Films. Denn mit dem Abspann ist zwar der Film vorbei, nicht aber das Leben der Menschen, in das eineinhalb Stunden eintauchen zu dürfen, trotz all seiner Probleme, ein riesiges Glück ist.

Wie schon „La pivellina“ liegt auch „Der Glanz des Tages“ nun bei Filmgalerie 451 auf DVD vor. Als Bonusmaterial gibt es, neben dem 12-seitigen Booklet mit einem Interview mit den Filmemachern, ein paar Trailer für andere Veröffentlichungen des Labels sowie Untertitel in Englisch, Französisch und Italienisch.

Am Ende des Tages

(AT 2011, Regie: Peter Payer)

Porträt des Politikers als psychopathischer Zuhälter
von Nicolai Bühnemann

Der Politiker als Emporkömmling und Karrierist. Hoch hinaus ist Robert (Simon Schwarz) gekommen. Aus dem Problembezirk ins Eigenheim, in die Politik. Noch höher wollen er – und der Film – …

Der Politiker als Emporkömmling und Karrierist. Hoch hinaus ist Robert (Simon Schwarz) gekommen. Aus dem Problembezirk ins Eigenheim, in die Politik. Noch höher wollen er – und der Film – hinaus von Wien in die Tiroler Alpen. Für ein geruhsames Wochenende mit seiner schwangeren Frau Kathi (Anna Unterberger), bevor der Wahlkampfstress so richtig losgeht. Wir sollen uns die beiden zu Beginn wohl als glückliches Paar vorstellen. Eine innigere Bindung als zu ihr scheint er aber zu seinem Telefon zu haben, in das er unentwegt seine Kampagne diktiert: „Das Entscheidende ist nicht, wo ein Mensch herkommt, sondern wo er hin will“ und Phrasen drischt: Ehrlichkeit, Ehrlichkeit, Ehrlichkeit.

Die Politiker-Gattin als gut gelaunte Dulderin. Irgendwie findet Kathi es ja schon doof, dass er die ganze Zeit telefoniert, dass sie sich im Auto das xenophobe Gelabber seiner „Feinde“ anhören muss, dass er darüber vollkommen vergisst, sie nach den Ergebnissen der pränatalen Untersuchungen zu fragen. Aber sie lacht und ist fröhlich, lässt sich durch jede kleine Albernheit ihres Mannes aufmuntern, als wäre ihr die gute Miene zum bösen Spiel aufs Gesicht operiert. Die absolut unabhängige Frau, die arbeiten geht, obwohl es weder das Haus, aus dem sie stammt, noch das, in das sie geheiratet hat, nötig machen würden, hat auf das Eheleben offenbar gerade genug Einfluss, um, auch gegen das Votum ihres Mannes, zu entscheiden, in welcher Farbe das Wohnzimmer gestrichen wird. Emanzipation erfolgreich abgeschlossen, oder?

Die Politikervergangenheit als Gewaltprolet in Frauenkleidern. Der Mann, der bald die Verfolgung des Paares im SUV aufnimmt, heißt Wolfgang (Nicholas Ofczarek), ist ein Jugendfreund Roberts, hat aber, anders als dieser, die Vergangenheit im Sozialbauturm nie hinter sich gelassen. Als Relikt aus dem Achtziger-Jahre-Ghetto kleidet er sich – schon zu Beginn, bevor er ins Kleid schlüpft, Nagellack und Lippenstift anlegt – etwas lächerlich und fährt Opel Kadett. Kathi stellt er sich bei der ersten Begegnung auf der Raststätte als Autodieb vor, der von den Rumänen aus dem Geschäft gedrängt wurde. Er gibt einen kurzen biographischen Abriss: schwere Körperverletzung, Knast, Alkohol, Entzugstherapie. Mit Robert hat er noch eine Rechnung offen. Es geht um Zuhälterei, Mord und die „kleine Manuela“ – seine Schwester. Und wie es eben zu sein pflegt, ist auch für Robert die Vergangenheit, je gründlicher er sie verdrängt hat, nur umso weniger vorbei.
Der Politiker-Vergangenheits(nicht)bewältigungs-Thriller als Scorsese-Reminiszenz.

Amerikanische Vorbilder lassen sich sicherlich einige finden, das offenkundigste ist aber wohl Martin Scorseses „Cape Fear“ von 1991. Auch darin bekommt es ein beruflich erfolgreicher Mann als Folge lange vergangenen Fehlverhaltens mit einem rachsüchtigen Psychopathen zu tun. Gespielt wird letzterer von Robert De Niro und in „Am Ende des Tages“ steht Wolfgang dieser Bezug schon auf den Körper geschrieben (wobei sich seine albernen Tatoos zu De Niros mit Bibelsprüchen und christlichen Symbolen überzogenem, durchtrainiertem, bei aller Überzeichnung in den pulp und ins Comic doch beängstigend imposantem Gesamtkunstwerks-Körper in etwa so verhalten wie, tja, eben wie Nicholas Ofczarek zu Robert De Niro). Wo De Niro seine Vergewaltigungserfahrungen im Knast mit den, nun ja, blumigen Worten beschrieb, er habe dort seine weibliche Seite kennengelernt, lässt Regisseur und Drehbuchautor Peter Payer seinen Bösewicht gleich die gesamte zweite Hälfte des Films in Frauenkleidern rumlaufen.

Einerseits setzt Payer geschickt auf Reduktion: ein Figuren-Terzett in einem Kammerspiel on the road, die Handlung erstreckt sich über nur einen Tag. Andererseits möchte er aus dieser Konstellation dann doch wieder maximale Ambivalenz herausholen. Die Machtverhältnisse und Abhängigkeiten zwischen den Dreien werden im letzten Drittel solange ungerührt durchgeschüttelt, die Wahrheit solange Stück für Stück aufgedeckt, bis es – am Ende des Tages – kein Gut und Böse mehr gibt. Die Frau ist, noch wenn sie mit der Pistole in der Hand über den am Boden raufenden Männern steht, hilflos, weil es keine richtige Entscheidung mehr gibt, sie immer schon zugleich Opfer und Mit-Täterin war – und ist.

Dass das alles auf nichts anderes hinauswill als auf das alte Klischee vom Saubermann, der mächtig Dreck am Stecken hat, ist das eine. Die fragwürdigen politischen Konnotationen sind das andere. Was genau hat der Film uns zu sagen über den (linken!) Politiker als psychopathischen Zuhälter, seine Partei als Kinderficker-Sumpf, seine duldende Gattin oder die „Unterschicht“? Wenn der Gute – oder sollte man sagen: „Gutmensch“? – letztlich ein ganz Böser ist, was sagt uns das dann über seine politischen Gegner, die zwar nur als ausländerfeindliche Hetzer-Stimme im Radio oder als gar nicht wohlwollender reicher Schwiegervater in den Dialogen auftauchen, aber eben doch mitgedacht werden müssen? Wenn Kathi viel zu lange an das „Gute im Menschen“ glaubt, in ihrem Mann und in Wolfgang gleichermaßen, ist das einfach nur ihre persönliche Charakterschwäche? Sind sie eben so, die Frauen? Oder wird hier doch allgemein über einen „Linksliberalismus“ hergezogen, der Probleme einfach nicht angehen kann, weil er, vollkommen weltfremd, noch seine Stalker zum Essen einlädt? Propagiert der Film – relativ perfide – Ressentiments und landet damit in etwa beim Weltbild eines Thilo Sarrazin, oder weiß er einfach nicht, was er tut? Wäre letzteres eine Entschuldigung?

Bleibt noch zu bemerken, dass „Am Ende des Tages“ als Thriller durchaus funktioniert. Langweilig wird es in der zweiten Hälfte garantiert nicht. Die Kamera von Thomas Prodinger ist gut, bisweilen sogar großartig. Wie sie den Kontrast von amerikanischen Genre-Vorbildern und Alpenpanorama einfängt, die Figuren in ihrer Verlorenheit darstellt, indem sie sie vor der bisweilen atemberaubenden Landschaft isoliert, woraus die eine oder andere denkwürdige Einstellung entsteht, hat definitiv was. Nur: dass gerade seine schönsten Bilder irgendwie aus dem Film zu fallen scheinen ist bezeichnend dafür, wie sehr sich „Am Ende des Tages“ an seinen Ambitionen überhebt. Ein Film, der hoch hinaus will, der gerne ein grimmiger und brisanter Psycho-Polit-Thriller mit Scorsese-Touch wäre, doch nur TV-Krimi-Konfektionsware (mit österreichischem Kinostart) ist.

Die Blu-ray ist mit einem Making-Of, ausführlichen Interviews mit den drei Hauptdarstellern und dem Regisseur sowie einem Musik-Clip durchaus passabel ausgestattet. Dass mich das im Hinblick auf die lieblosen Veröffentlichungen ungleich interessanterer Filme aus Übersee, die ich zuletzt hier besprochen habe, schon etwas ärgert, ist dann wahrscheinlich doch eher mein Problem.

Mietrebellen – Widerstand gegen den Ausverkauf der Stadt

(D 2014, Regie: Matthias Coers, Gertrud Schulte Westenberg)

Billiger Wohnen
von Nicolai Bühnemann

Die Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt verändert sich rapide – und mit ihr die soziale Struktur der gesamten Stadt. Der Bau von Luxuslofts, die „Aufwertung“ vorhandener Bausubstanz oder auch die …

Die Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt verändert sich rapide – und mit ihr die soziale Struktur der gesamten Stadt. Der Bau von Luxuslofts, die „Aufwertung“ vorhandener Bausubstanz oder auch die Umwandlung derselben in lukrative Eigentums- oder Ferienwohnungen für die boomende Tourismusstadt machen Wohnraum in der Innenstadt zu einem Luxusgut, das für sozial Schwächere zunehmend unerschwinglich ist.

Gertrud Schulte Westenberg und Matthias Coers haben nun in eigener Produktion einen Dokumentarfilm gedreht, der sich weniger mit den Mechanismen von Gentrifizierung und Verdrängung befasst als mit den vielfältigen Formen, sie zu bekämpfen. Ihre ProtagonistInnen sind die Berliner „Mietrebellen“ und ihr Thema, wie es der Untertitel verkündet, der „Widerstand gegen den Ausverkauf der Stadt“.

Ausgehend von dem Fall der schwer behinderten Rentnerin Rosemarie Fliess, die im April 2013, zwei Tage nachdem ihre Wohnung zwangsgeräumt wurde, in einer Wärmestube verstirbt, zeichnet der Film ein Kaleidoskop der unterschiedlichen Bewegungen, die sich, über die ganze Stadt verteilt und über soziale, Bildungs- und Altersgrenzen hinweg, zur Wehr setzen gegen drastisch steigende Mieten, Zwangsräumungen und Verdrängung.

Da wäre die Initiative Kotti & Co., die ein Camp am Kottbusser Tor in Kreuzberg errichtet hat, um von hier aus auf vielfältige Weise auf die beständig steigenden Mieten aufmerksam zu machen in den einst speziell für GastarbeiterInnen erbauten sozialen Wohnungsbau-Quartieren des Viertels. Oder die Stille Straße in Pankow, wo eine SeniorInnen-Freizeitstätte von ihren NutzerInnen besetzt wurde, die sich nicht damit abfinden wollen, dass sie wegen Sparmaßnahmen geschlossen werden soll.

Es wird erzählt von den BewohnerInnen der Palisadenstraße in Friedrichshain, die sich organisieren, um gegen die Verdopplung der Miete in ihren alten – und behindertengerechten ehemaligen Sozialwohnungen vorzugehen, wie auch vom Bündnis „Zwangsräumungen verhindern“, das zur Stelle ist, wo immer jemand mit Gerichtsvollzieher und Polizei aus seiner Wohnung geholt werden soll.

Einerseits ist „Mietrebellen“ der Form nach eine Agit-Doc reinsten Wassers. Die Inszenierung trachtet immer nach einem Maximum an emotionaler Einbeziehung des Zuschauers. Wenn die Polizisten Wohnungen stürmen oder protestierende Demonstranten von der Straße schleppen, ist die Kamera mitten im Gerangel. Selbst in den – in einer Doku, die über weite Strecken als Interview-Film funktioniert, wohl unvermeidbaren – talking heads-Sequenzen steht sie so schräg zu den Gesichtern, sind die Kadrierungen einerseits so eng und beziehen andererseits den Hintergrund so mit ein, dass eine größtmögliche Spannung entsteht. Relativ zu Beginn gibt es einen harten Schnitt von dem sommerlichen kulturübergreifenden Treiben auf dem Kotti zum Plenum in der Stillen Straße, auf dem eine ältere Frau, sichtlich um Fassung ringend, immer wütender die Lage ihrer Einrichtung schildert – keine sehr subtile Art, die ganze Bandbreite der Bewegung zu zeigen. Die Gegenseite, sei es in Gestalt von Hausbesitzern, Vermietern, Stadtplanern oder einfach irgendjemand, der die Verhältnisse auf dem Berliner Wohnungsmarkt nicht nur scheiße finden würde, kommt in diesem Film nicht zu Wort. Stattdessen hat man in den 78 Minuten reichlich Zeit, die gängigen Parolen auswendig zu lernen.

Andererseits, und damit ist man von den Mechanismen gängiger „Propaganda“ denkbar weit entfernt, versucht der Film gerade nicht sein Anliegen für eine politische – gar konkret parteipolitische – Agenda zu instrumentalisieren. So unterschiedlich die Menschen und ihre Situationen sind, so sind es auch ihre Ansichten zu der Lage und ihr Protest. Ein Mann auf dem letzten nicht bebauten Stück Spreeufer in Kreuzberg spricht von einem Klassenkampf, bei dem die Reichen die Armen aus der Innenstadt vertreiben wollen. Ein anderer plädiert bei einer Plenumsdiskussion dafür, nicht nur „linke, sondern auch bürgerliche Kräfte“ mit den Aktionen anzusprechen. Eine junge Frau auf einer Demo mit schwarzem Basecap und schwarz-rotem Stern am Ohr freut sich, dass nicht nur Menschen aus der links-autonomen Szene, sondern zunehmend auch SeniorInnen mobilisiert werden können.

Hier bezieht der Film keine Stellung, sondern lässt die unterschiedlichen Ansichten zu. Es bedarf keiner großen Ideologien, um die kleinen Kämpfe von Menschen zu rechtfertigen, die nicht aus ihrem gewohnten sozialen Umfeld in triste heruntergekommene Siedlungen am Stadtrand vertrieben werden wollen. „Mietrebellen“ zeigt konkrete Handlungsspielräume auf: Man kann offensichtlich durchaus erfolgreich gegen Zwangsräumungen und überzogene Mieterhöhungen vorgehen. Die Art, wie er sich für lokales Handeln einsetzt, das nicht unbedingt gleich eines globalen Denkens bedarf, macht „Mietrebellen“ zu einem im besten Sinn des Wortes „altmodischen“ politischen Film.

„Mietrebellen“ ist ab 24.04.2014 in den Berliner Kinos Moviemento, Lichtblick-Kino und Central zu sehen. Weitere Termine in Berlin und auch bundesweit sind in Planung.

Lauf, Junge, lauf!

(D / F / P 2013, Regie: Pepe Danquart)

Zwischen Verrat und Solidarität
von Wolfgang Nierlin

Polen im Winter 1942/43: Ein etwa 9-jähriger Junge kauert frierend, geschützt nur durch einen Baumstamm, in einer Bodenmulde. Eine andere Einstellung zeigt ihn allein und verloren in einer weiten Schneelandschaft, …

Polen im Winter 1942/43: Ein etwa 9-jähriger Junge kauert frierend, geschützt nur durch einen Baumstamm, in einer Bodenmulde. Eine andere Einstellung zeigt ihn allein und verloren in einer weiten Schneelandschaft, über die ein eisiger Wind fegt. Kurz darauf stiehlt er auf einem Bauernhof einen Mantel und wird dafür verprügelt. Später schleppt er sich, fast erfroren, mit letzter Kraft zu einem Haus, wo er von einer fürsorglichen Frau und Mutter aufgenommen und gepflegt wird.

Bereits in der Exposition seines Films „Lauf, Junge, lauf!“, der auf der von Uri Orlev aufgezeichneten Lebensgeschichte des polnischen Juden Yoram Fridman basiert, versammelt Pepe Danquart in stimmungsvollen Bildern wesentliche Themen: die Schutzlosigkeit des fliehenden, um sein Überleben kämpfenden Kindes, das sich auf der permanenten Suche nach einem sicheren Versteck befindet; sowie den Gegensatz zwischen strafenden und helfenden Händen, zwischen Verrat und Solidarität. Was im Verlauf der Handlung noch hinzukommt, sind vielfältige Lernprozesse, in denen der Junge frühzeitig reift und sich nicht nur Überlebenstechniken unter den verschärften Bedingungen von Krieg und Verfolgung aneignet, sondern gezwungenermaßen auch die Kunst der Verstellung, die aus dem jüdischen Srulik den katholischen Jurek macht. Eindrucksvoll verkörpert wird er von den beiden Zwillingsbrüdern Andrzej und Kamil Tkacz.

Sechs Monate zuvor ist Srulik aus dem Warschauer Ghetto geflohen, hat sich in einer dramatisch zugespitzten Schlüsselszene des Films von seinem Vater verabschiedet und lebt fortan – mal allein, mal mit anderen Kindern – in dem ausgedehnten Kampinoski-Gebiet mit seinen Wäldern und Sümpfen. Dazwischen findet er als Jurek immer wieder Unterschlupf bei Bauern und bei der eingangs erwähnten Magda (Elisabeth Duda), Frau eines Partisanen, die zu seiner selbstaufopfernden Ersatzmutter wird.

Regisseur Pepe Danquart folgt in seinem ästhetisch sehr konventionell inszenierten Kinofilm, der die emotional verdichtete Zuspitzung sucht und auch vor plakativen Übertreibungen nicht zurückschreckt, der abenteuerlichen, schier unglaublichen Odyssee des Jungen. Von blinder Willkür, Zufällen und glücklichen Fügungen geprägt, dauert diese über zweieinhalb Jahre. Dabei zeichnet der Oscarpreisträger die großen, dramatischen Spannungsbögen dieser ebenso eindrücklichen wie bewegenden Überlebensgeschichte, die für ihn ein „Dokument der Menschlichkeit“ darstellt, die den Zuschauer aber auch immer wieder mit menschlichen Abgründen konfrontiert.

Pfarrer

(D 2014, Regie: Stefan Kolbe, Chris Wright)

„Das fließt jetzt irgendwie auch nicht aus mir heraus!“
von Ulrich Kriest

„Ach, Mann. Scheiße!“ Auch das Segnen in der Kirche will gelernt sein. So wie die Stimme geübt sein will, um souverän den Raum zu erfüllen. Und die Gesangslinien. Und die …

„Ach, Mann. Scheiße!“ Auch das Segnen in der Kirche will gelernt sein. So wie die Stimme geübt sein will, um souverän den Raum zu erfüllen. Und die Gesangslinien. Und die Rhetorik sowieso. Training. Die Filmemacher Stefan Kolbe und Chris Wright („Kleinstheim“) haben eine Gruppe junger Vikare in ihrem Trainingslager in der „Lutherstadt“ Wittenberg besucht und sie auf der letzten Etappe ihrer Ausbildung begleitet. Das Vikariat ist die letzte Station vor dem Pfarramt, aber diese Station, so zeigt der Film, ist keine Routine, sondern tatsächlich eine Phase verschärfter Selbstbefragung.

„Welche Art von Pfarrer würde ich denn werden, wenn ich denn einer werden würde?“, wird einmal gefragt. Entschieden ist noch wenig oder gar nichts. Es steht also, sagen die Filmemacher, buchstäblich alles auf dem Spiel, bevor es anschließend in der Gemeindearbeit richtig ernst wird. Um so erstaunlicher ist dieser „Nahfilm“ (Kolbe) gelungen, weil sich die Filmemacher immer wieder als dezidiert atheistisch zu erkennen geben. Und einfach mal fragen: Was bedeutet denn das Abendmahl genau? Und dürfen wir mitmachen? Dann ergibt sich schon mal ein kleiner Disput unter den Vikaren. Aber die Kunst der Dokumentaristen besteht gerade darin, dass sie eine Nähe zu den beobachteten Menschen herstellen, die es diesen nicht mehr erlaubt, sich in vorgestanzte theologische Allgemeinplätze zu flüchten. Sondern es geradezu billig erscheinen lässt, um ehrliche Antworten zu ringen.

So sagt die Pfarrerstochter, die auf dem Weg ist, die Familientradition fortzusetzen, vor laufender Kamera: „Mein Vater hält ganz tolle Predigten. Aber eher so klassisch: also so, liebe Gemeinde, hier, kennen wir das nicht alle? hmhmhmhm, und frei, sind wir nicht irgendwie alle im Gefängnis?, Singen befreit, joa“. Sie, die ihren Vater im Studium noch gern und vielleicht aus einer Mischung aus Respekt und Bequemlichkeit bemühte, um sich Predigttexte schreiben zu lassen, ringt jetzt um eine eigene Predigt-Stimme.

Der Blick auf die Vikare ist aufrichtig neugierig, hält aber die eigene (kritisch-distanzierte) Position nicht hinter dem Berg. Gezeigt wird aber trotzdem, wie intellektuell redlich und verbindlich eine „Selbstklärung“ unternommen wird, die der Verantwortung der Berufsperspektive gerecht zu werden trachtet. Wenn eine Vikarin es ganz stark findet, dass es die Gewissheit gibt, dass am Sonntagmorgen um 10 Uhr an ganz vielen Orten von ganz vielen Menschen das Gleiche getan werden wird, dann hält der Film vor Augen, dass die „Lutherstadt“ Wittenberg in Sachsen-Anhalt liegt, wo knapp zwei Drittel der Bevölkerung überhaupt keiner christlichen Kirche angehören. Aber dank der dokumentarischen Erzählstrategie wächst beim Zuschauer eher der Respekt vor der Entscheidung der jungen Vikare, diesen undankbaren Job zu machen, als dass man sie als Auslaufmodell verlacht.

Auf eine entscheidende Sache weisen die Filmemacher selbst hin: dieses intensive Gruppenporträt bezieht seine Stärke auch daraus, dass hier Protestanten und keine Katholiken vor der Kamera agieren. Es geht also immer auch um die (protestantische) Tradition der forcierten Selbstbefragung, die am historischen Ort Wittenberg nochmals nachhaltig verstärkt wird. Am Ende bleibt selbst die entscheidende Frage nicht ungestellt: „Was sagt denn der Chef?“ Nur bleibt sie wieder einmal unbeantwortet.

Carne De Perro

(CL / F / D 2012, Regie: Fernando Guzzoni)

Atemnot und Herzrasen
von Wolfgang Nierlin

Zwischen Angst und Wut, Schuld und Vergessen bewegt sich die Hauptfigur in Fernando Guzzonis beeindruckendem Film „Carne de perro“ ('Dog Flesh'). Alejandro (Alejandro Goic), ein ehemaliger Soldat in Diensten des …

Zwischen Angst und Wut, Schuld und Vergessen bewegt sich die Hauptfigur in Fernando Guzzonis beeindruckendem Film „Carne de perro“ ('Dog Flesh'). Alejandro (Alejandro Goic), ein ehemaliger Soldat in Diensten des Diktators Pinochet, leidet unter einer posttraumatischen Störung. Immer wieder wird er überfallen von Atemnot und Herzrasen. Sozial weitgehend isoliert und ohne Aufgabe, lebt er wie in einem Gefängnis einen trostlosen, eintönigen Alltag. Dabei verzehrt er sich nach Frau und Kind, die sich von ihm getrennt haben. Alejandro sucht Normalität und Schutz, doch seine schwerwiegende Vergangenheit hat ihn zu einem Ausgestoßenen gemacht.

Das alles erfährt man im fast beiläufigen, konzentriert beobachteten Nacheinander einer weitgehend undramatischen, offenen Erzählung. Guzzonis ebenso intimes wie intensives Portrait eines Täters, der zum Opfer wird und sich nach Erlösung und Vergebung sehnt, ist vor allem physisch konkretes Kino. Genau, fast minutiös beobachtet der chilenische Regisseur die alltäglichen Handlungen seines Protagonisten. Als wiederkehrende Rituale verdichten sich diese zu Symbolen. Die Hyperventilation als negativer Rhythmus des Atems dominiert neben dem Lärm der Stadt die Tonspur; und das kühlende, reinigende Wasser, in das Alejandro wiederholt eintaucht, ist zugleich das sinnbildliche Element einer möglichen Neugeburt.

Diese erfährt Alejandro schließlich als Kirchendiener einer evangelikalen Sekte, die Sündenvergebung verspricht und das Vergessen des alten für ein neues Leben predigt. Geradezu ekstatisch vollzieht sich diese Austreibung der Vergangenheit, in der auch die diffuse Vision eines „neuen Chile“ mitschwingt. Doch wird diese dominiert vom Furor der Verdrängung, die sich einer ehrlichen Aufarbeitung der Geschichte vehement widersetzt. Die hermetischen Orte, Alejandros vergebliche Versuche der Kontaktaufnahme sowie seine zirkulären Bewegungen durch eine unwirtliche Stadtlandschaft vermitteln diesbezüglich Stillstand und Isolation.

Zwar unternimmt der impulsive Protagonist, den die Kamera in keiner Einstellung aus der Haft entlässt, diverse Anstrengungen, seine Leiden und Sorgen zu kommunizieren, doch scheint ihm auf tragische Weise ein Verständnis für seine Schuld zu fehlen. Alejandro hat eskapistische Phantasien, er will sich ändern und sehnt sich nach „friedlichen Beziehungen“, aber der psychotherapeutischen Beratung weicht er aus. Als ehemaliger Befehlsempfänger hat er nicht gelernt, sich selbst, sein Handeln und seine Gefühle zu befragen. Einmal sieht er im Fernsehen einen Film, in dem sich chilenische Alt-Nazis als Märtyrer stilisieren. In einer anderen Szene duckt er sich auf der Straße vor einer Gruppe von Frauen weg, möglicherweise Angehörige von Opfern des Regimes. Die Vergangenheit ist also längst nicht bewältigt. Wie zuletzt sein Landsmann Patricio Guzmán in „Nostalgia de la luz“, so legt auch Fernando Guzzoni mit seinem starken, präzise inszenierten Spielfilmdebüt den Finger in eine offene Wunde.

Spuren

(AU 2013, Regie: John Curran)

„Haut die (Kamel-)Bullen platt wie Stullen!“
von Ulrich Kriest

Ein rätselhafter Film! Ich erinnere, verstört aus dem Kinosaal ins frühlingshaft Helle getaumelt zu sein. Mit dem Gefühl, Opfer eines dreisten Trickbetrügers geworden zu sein, der mich, Fan von Nicolas …

Ein rätselhafter Film! Ich erinnere, verstört aus dem Kinosaal ins frühlingshaft Helle getaumelt zu sein. Mit dem Gefühl, Opfer eines dreisten Trickbetrügers geworden zu sein, der mich, Fan von Nicolas Roegs „Walkabout“, Werner Herzogs „Fata Morgana“, Gerard Depardons „La Captive du désert“ und der ersten hierzulande bekannt gewordenen Filme Peter Weirs, im schlechtesten aller Sinne in die Wüste geschickt hatte.

Mensch, Frau, allein, in der Wüste Australiens? Nach einer wahren Geschichte? Einsamkeit und Schönheit und Abenteuer. Da müsste doch was zu machen sein? Nach knapp zwei Stunden hatte ich selbst die Halluzinationen, hörte gar Herbert Grönemeyer rufen. „Was soll das?“ Anders gesagt: wenn „Spuren“ von John Curran ganz, ganz clever wäre, dann räumte der Film mit dem Mythos des Abenteuerlichen auf (was der Film auf einer Ebene ja auch tut), aber ansonsten bleibt er eine völlig spannungslose Aneinanderreihung des Lapidaren um eine schwache Hauptdarstellerin, die eine komplett unsympathische, asoziale Figur spielt. Kurz bevor gar nichts mehr passiert, wird mal ein brünftiger Kamelbulle ins Bild gejagt (gefährlich, gefährlich!) oder aber ein treuer Hund stirbt (ganz, ganz traurig!) oder ein Farmhaus steht einsam am Wegesrand (anrührend, dieses alte Farmer-Pärchen!). Ich hatte einen Film á la „Walkabout“ erwartet, aber das Outback sah hier ungefähr so sexy aus wie eine Brache hinterm „Aldi“-Parkplatz.

Worum geht‘s? Mitte der 1970er Jahre entschließt sich die aus nicht näher formulierten Gründen zivilisationsmüde Robyn Davidson, gespielt von Mia „Alice im Wunderland“ Wasikowska, ganz allein, begleitet nur von vier Kamelen und ihrem treuen Hund Diggity, die australische Wüste von Alice Springs bis zum Indischen Ozean zu durchwandern. Warum? Warum nicht? Allerdings ist sie so derart allein, dass sie sich zunächst erst einmal die Kamele »verdienen« muss, was dem Film einen etwas umständlichen Prolog verschafft, der davon erzählt, dass mit Kamelzüchtern, die aus Österreich stammen, nicht gut Kirschen essen ist.

Bevor ihr Plan vollends scheitert, entschließt sich Robyn, die Fotorechte an ihrem Abenteuer exklusiv an den jungen und sehr sympathischen „National Geographic“-Fotografen Rick Smolan zu verkaufen, der sie zwar nicht als fünftes Kamel begleiten wird, aber immer mal wieder aus dem Nichts mit seinem Landrover vorbeischaut, um ein paar Fotos zu schießen. Dass ein Fotograf fotografiert, hat Robyn offenbar nicht bedacht, als sie die Fotorechte veräußerte. Jedenfalls stört der »embedded journalist« Rick das Gefühl, die Zivilisation so richtig ganz hinter sich gelassen zu haben, mitunter ganz entschieden. Immerhin: eine Liebesgeschichte entwickelt sich nicht oder nicht ganz oder nur fast, zum Glück für Schmusehund Diggity.

Manchmal, wenn es wohl selbst dem Filmteam etwas zu langweilig wurde, Kamelen beim Kamel-Sein zuzuschauen, erlaubt sich der Film, durch Rückblenden nachzuforschen, was Robyn vielleicht im Innersten umgetrieben haben mag. Lag es, huch, in der Familie? Eine immerhin unterhaltsame Episode ist dann die Begegnung mit dem Aborigine-Ältesten Mr. Eddy, der sich bereit erklärt, Robyn durch ein „heiliges Land“ zu führen, um ihr (und uns!) einen Umweg von vielen hundert Meilen zu ersparen. Kommt es zu einer spirituellen Übertragung? Wir wissen es nicht, aber schon die Präsenz von Mr. Eddy nimmt dem Film etwas von seiner Bräsigkeit. Am Ende wartet dann blaues Wasser vor weißem Wüstensand, ein happy end – und aus dem Selbsterfahrungstrip wird ein internationaler Buchbestseller mit tollen Fotos, der Davidson eine schöne Karriere beschert.

Heute, so weiß das Presseheft, kennt jeder Australier diese Geschichte, die – so die Macher – es nicht verdient hatte, ein routinierter Hollywood-Film zu werden. So mit Star-Power und dramaturgischen Zuspitzungen. Dann schon lieber vielsagendes Geplätscher für zivilisationsmüde Esoteriker. Im Presseheft findet sich auch folgende Reflektion der Film-Produzenten, warum sie sich so intensiv um die Rechte am Stoff bemüht hätten. Die Reise der Robyn Davidson, die genug hatte vom „Geplapper ihrer Mittelklasse-Freunde, die immer nur über Politik und ihre beruflichen Pläne diskutierten“, ist nämlich heutzutage, wo Politik und berufliche Pläne besser nicht mehr diskutiert werden, brandaktuell: „Der Gedanke, alles abzuschalten und hinter sich zu lassen, um wirklich bei sich selbst anzukommen, ist heute verlockender denn je. Und genau diese Suche nach der eigenen Authentizität war es, die uns an diesem Film so gereizt hat.“

Wer es sich allerdings ersparen will, brünftige Kamelbullen abzuknallen, um seine ganz eigene Authentizität zu erkunden, kann natürlich auch alles abschalten und sich mit zwei Flaschen Wodka in den Schnee legen. Die österreichische Methode. Gehts scheißen!

Mistaken for Strangers

(USA 2013, Regie: Tom Berninger)

Des Unwiderspenstigen Zähmung
von Carsten Moll

Dass die beiden Männer, die da für das Promo-Material ausgiebig nebeneinander posen, Brüder sind, lässt sich schwer leugnen. Die gleichen zugekniffenen Augen, der selbe rot-blonde Ton im Haar, beide mit …

Dass die beiden Männer, die da für das Promo-Material ausgiebig nebeneinander posen, Brüder sind, lässt sich schwer leugnen. Die gleichen zugekniffenen Augen, der selbe rot-blonde Ton im Haar, beide mit Vollbart. Doch die Pointe der Bilder und zu einem großen Teil auch die von „Mistaken for Strangers“ liegt im Unterschied, der die Herren Berninger zu einem ungleichen Paar stilisiert: Matt ist groß und wirkt ein wenig steif, wie er da im maßgeschneiderten Anzug steht und ein Glas Rotwein in der Hand hält. Immerhin: Er ist Frontmann der angesagten und seit einigen Jahren auch kommerziell erfolgreichen Indie-Rockband „The National“. Der untersetzte Tom hingegen macht einen auf vergnügten Metalhead, greift lieber zur Bierdose und ist seiner ausgeprägten Slacker-Attitüde zum Trotz noch dabei, sein Häppchen Ruhm zu ergattern. Sein Dokumentarfilm „Mistaken for Strangers“ ist dabei sein bisher wohl ambitioniertester und vielversprechendster Versuch.

Auch wenn der einem Song von „The National“ entlehnte Titel und die Werbung zum Film suggeriert, dass man es hier mit einer waschechten Rock-Doku zu tun haben könnte, bleibt die Geschichte von Matt Berningers Band, das Tourleben und die Musik eher Hintergrundrauschen. Weil ihm im Schatten des großen Bruders schon sonst niemand die gewünschte Aufmerksamkeit schenken will, macht sich Regisseur Tom Berninger nämlich einfach selbst zum Star und Hauptdarsteller seines eigenen Films. In der US-amerikanischen Kritik wurde dabei wiederholt auf die Parallelen von „Mistaken for Strangers“ zu den Komödien Judd Apatows oder denen mit „Hangover“-Star Zach Galifianakis hingewiesen. Ganz abwegig sind solche Gedanken nicht, inszeniert Berninger sich doch als etwas übermütiges und verspieltes Kind im Mann. Voller Neid und Trotz, aber auch mit ein wenig Bewunderung blickt er auf das Leben des gefeierten Bruders, selbst wenn er diesen genau wie seine Musik eigentlich ein bisschen lahm findet. Als Matt ihn fragt, ob Tom als Roadie die anstehende „The-National“-Tour rund um die Welt begleiten will, sagt der kleine Bruder trotzdem nicht nein – vielleicht auch bloß, weil die Alternative wäre, mit 30 noch zu Hause bei den Eltern in Cincinnati zu wohnen und dort mit Kumpels kleine Trashfilme über Amok laufende Ungeheuer und ihre Identitätskrisen zu drehen.

Es kommt, wie es kommen muss: Mitten während der Tournee und gut nach der Hälfte des Films fliegt Tom raus aus dem hochprofessionellen Bandzirkus, weil er lieber mit der Kamera umherstreift und alberne Interviews führt, als sich um Handtücher und Wasserflaschen für die Musiker zu kümmern. Zurück in Cincinnati bleibt dem Regisseur mangels abhanden gekommener Rockband also nicht anderes übrig, als sich weiterhin ausgiebig mit sich selbst und seinen Neurosen zu beschäftigen. Papa und Mama Berninger werden zur gar nicht so lange zurückliegenden und teils noch andauernden Kindheit befragt und die Lebenskrise wird immer präsenter. Schließlich ist es wieder die Initiative von Matt, dank der Toms Dokumentarfilm nicht völlig stagniert und sich in eine lange Reihe von unvollendeten Projekten einreihen muss. In Matts New Yorker Wohnung und mit der Hilfe seiner Ehefrau, der Literaturredakteurin Carin Besser, gelingt sie also doch noch, die Fertigstellung von „Mistaken for Strangers“. Nicht zuletzt vielleicht, weil Tom einen Ratschlag seines großen Bruders beherzigt, der auch „The National“ zum Erfolg geführt haben soll: nämlich in der Kunst die eigenen Misserfolge, Ängste und Sorgen produktiv zu machen und zu verwerten.

Und im Ansatz funktioniert diese Masche auch für „Mistaken for Strangers“ ganz gut. Der Film hat seine Momente, bewegende, lustige und entlarvende. Etwa wenn er dem Erfolgsmodell Indie-Melancholie alle Underdog-Allüren austreibt und stattdessen das Schlürfen von Rotwein, die bühnenreife Depression und den getimten Zusammenbruch nicht als Widerspruch oder Alternative, sondern als konsequente Fortführung eines karriereorientierten Goldjungen-Daseins versteht – ein Auftritt im Wahlkampf von Barack Obama inbegriffen. Dass Tom Berninger seinem Bruder dabei aber letztlich nur unreflektiert (und in der letzten Szene auch wortwörtlich) nachhechelt, raubt „Mistaken for Strangers“ ein ums andere Mal das subversive Potenzial und lässt die Brüder in ihrer Rolle als ungleiches Paar rasch als einen Marketing-Gag erscheinen.

Die Schärfen, Spitzen und Rücksichtslosigkeiten, die sich sowohl bei Apatow wie auch in den Figuren Galifianakis immer wieder Bahn brechen, bleiben bei Berninger auf dem Niveau eines kindischen Rumgenörgels, das sich mit etwas Zucker leicht besänftigen lässt. Laut einem Statement im Presseheft sieht der Regisseur den Erfolg von „The National“ und das Drehen seines Dokumentarfilms dann auch vor allem als eine Lektion in Sachen Hartnäckigkeit, Leidenschaft und Geduld. Ärgerlicher als diese dusselige Tugendhaftigkeit ist allerdings, dass die dramaturgischen Entscheidungen Berningers kaum Raum lassen, in „Mistaken for Strangers“ etwas anderes zu sehen als die konventionelle Zähmung eines Widerspenstigen , der ja eigentlich nie widerspenstig war.

Ida

(DK / P 2013, Regie: Pawel Pawlikowski)

Mauer des Schweigens
von Wolfgang Nierlin

Die Bilder von Pawel Pawlikowskis neuem Film „Ida“ sind in ein graues, melancholisches Schwarzweiß getaucht. Im Polen zu Beginn der 1960er Jahre sieht es fast so aus, als wäre die …

Die Bilder von Pawel Pawlikowskis neuem Film „Ida“ sind in ein graues, melancholisches Schwarzweiß getaucht. Im Polen zu Beginn der 1960er Jahre sieht es fast so aus, als wäre die Zeit stehen geblieben. Das ärmliche, düstere Leben ist von Fassaden umschlossen, deren Verputz abbröckelt. Räumliche Enge und innere Verstocktheit bestimmen die realistische, sehr genau eingefangene, Atmosphäre einer Gesellschaft, die sich noch unter den ideologischen Nachwehen der stalinistischen Ära duckt. Damit korrespondiert das klassische, fast quadratische Academy-Bildformat, für das die beiden Kameramänner Ryszard Lenczewski und Lukasc Zal immer wieder kunstvolle Einstellungen komponieren, in denen der Raum übermächtig ist und die Figuren an den Rand gedrückt werden.

„Ida“ ist ein leiser, nüchterner Film, der trotzdem eine starke Stimmung entfaltet und der die individuellen Dramen und Lebenskatastrophen fast unausgesprochen lässt oder aber in den Ellipsen zwischen dem Erzählten aufruft. Die Schatten der Vergangenheit, genährt von Traumata und Schuld, sowie die schmerzhaften Geburtswehen einer noch unsicheren Identität dominieren die Figuren. So erfährt die junge Novizin Anna (Agata Trzebuchowska), die seit frühester Kindheit in einem Kloster lebt und sich gerade auf ihr Gelübde vorbereitet, von ihrer einzigen Verwandten, dass sie als Jüdin geboren wurde und eigentlich Ida Lebenstein heißt. Ihre Tante Wanda Gruz (Agata Kulesza), die Schwester ihrer Mutter, ist eine ehemalige Widerstandskämpferin, die in den fünfziger Jahren als kompromisslose Staatsanwältin sogenannte Volksfeinde zum Tode verurteilte und jetzt gelangweilt ihren Dienst als Richterin versieht.

Die Gegensätze zwischen der resoluten, desillusionierten Altkommunistin und dem frommen Mädchen befördern ihre Beziehung, die trotz aller Unterschiede eine intime Nähe besitzt. Während Wanda in einer Mischung aus schläfriger Eleganz und Selbstzerstörungstrieb raucht, trinkt und Männer abschleppt, entdeckt Ida ihre Gefühle zu dem jungen Jazzsaxophonisten Lis (Dawid Ogrodnik). Im Zentrum von Pawlikowskis ebenso beeindruckendem wie notwendigem Film steht aber die Spurensuche der beiden ungleichen Frauen nach ihren Angehörigen, deren Schicksal eine Mauer des Schweigens umschließt. Bald stellt sich heraus, dass diese von polnischen Bauern ermordet und im Wald verscharrt wurden. Die Exhumierung ihrer Gebeine wird für Ida und Wanda zur bewegenden Trauerarbeit. Doch dann stürzt sich die Richterin, als wäre ihre Geschichte damit beendet, aus dem Fenster; und Ida muss sich, musikalisch flankiert von John Coltrane („Naima“) und J. S. Bach („Ich ruf‘ zu Dir, Herr Jesu Christ“) entscheiden, ob sie der Welt („Das Übliche, das Leben“, nennt dies Lis) tatsächlich entsagen möchte.

Baal

(BRD 1970, Regie: Volker Schlöndorff)

Als Fassbinder Baal war
von Nicolai Bühnemann

Baal. Vom syrischen Wetter- und Fruchtbarkeitsgott zum Dämon im Christentum. Vom Herrn („Baal“) zum Herrn der Fliegen („Baal Zebub“, „Beelzebub“). Im zwanzigsten Jahrhundert dann, im ersten Stück des (jungen) Anarchisten …

Baal. Vom syrischen Wetter- und Fruchtbarkeitsgott zum Dämon im Christentum. Vom Herrn („Baal“) zum Herrn der Fliegen („Baal Zebub“, „Beelzebub“). Im zwanzigsten Jahrhundert dann, im ersten Stück des (jungen) Anarchisten Bertolt Brecht zunächst: der Dichter, Säufer, Weiberheld, Libertin, Bürgerschreck, Prototyp des nach außen rücksichtslosen, nach innen selbstzerstörerischen, an seiner Umwelt und sich selbst zugrunde gehenden Künstlers, Prototyp vielleicht des Club 27-Rockstars (oder doch eher: der Erzählung, die wir über ihn kennen, zum Beispiel von Oliver Stone). Dann, im neu aufgelegten Stück des (alternden) Sozialisten Bertolt Brecht: der „Böse“, der 'Asoziale“. Einer, der so verzweifelt nach Freiheit suchte wie Baal, passte nicht auf SED-Linie. Blieb der eigentliche Text des Stückes auch mehr oder weniger unangetastet, musste sich der Autor doch im Vorwort entschuldigend äußern, relativieren: Baal „ist asozial, aber in einer asozialen Gesellschaft“ und: „Ich gebe zu (und warne): Dem Stück fehlt es an Weisheit.“ Man sieht: es ist immer eine Frage des „richtigen“ Glaubens mit diesem Baal.

An einem vorläufigen Endpunkt dieser Aneignungen, Um- und Überschreibungen steht bzw. geht 1969 Rainer Werner Fassbinder einen Feldweg entlang, in Lederjacke, rauchend natürlich. „Angel to some, demon to others“, nach außen rücksichtsloser, nach innen selbstzerstörerischer, an seiner Umwelt und sich selbst zugrunde gehender Künstler auf dem Weg zum Rockstar-Filmemacher. Die 16mm-Kamera in der Hand von Dietrich Lohmann folgt ihm, läuft eine Weile neben ihm her, macht einen großen Bogen um ihn herum, schweift ab in den Himmel und sieht den Vögeln beim Ziehen zu, kehrt dann zu Baal/Fassbinder zurück, der davon geht, den Feldweg entlang. Zweieinhalb Minuten lang und ohne Schnitt, aber die Szene könnte von der Eleganz, die man oft von Plansequenzen (auch aus prä-Steady Cam-Zeiten, bei Welles etwa) kennt, nicht weiter entfernt sein. Sonderlich gekonnt sieht das, was die Kamera da macht, eigentlich nicht aus, zumindest nicht durchgehend. Aber aus dem Dilettantismus, daraus, wie in diesem eigentlich verdammt prätentiösen Unterfangen, das der Film ist, einfach immer wieder ausprobiert und munter drauflos gefilmt wird, entsteht eine sehr eigene und sehr eigenwillige Poesie – hier schon und auch später immer wieder. Dazu übrigens: Der mit rockigem Blues unterlegte „Choral vom großen Baal“ – von einigen Kürzungen und Straffungen abgesehen, ganz so, wie er bei Brecht steht.

Volker Schlöndorff drehte diesen Film als Teil einer Brecht-Reihe fürs Fernsehen. Schlöndorffs eigene Regie-Karriere steckte Ende der Sechziger bereits in einer ersten großen Krise, mit der millionenteuren amerikanischen Produktion „Michael Kohlhaas“ war er kolossal gescheitert. „Baal“ sollte konsolidieren. Seine Mitstreiter aber um Fassbinder und dessen antiteater-Truppe (unter anderem Hannah Schygulla, Irm Hermann, Günther Kaufmann) wurden erst später in den Siebzigern zu Stars. Die Linien, die sich hier kreuzen, machen dieses „Fernsehspiel“ vielleicht zu einem geheimen Schlüsselwerk dessen, was man den „Neuen Deutschen Film“ nannte. Umso bedauerlicher, dass „Baal“ über vier Jahrzehnte in den Archiven vergammelte, weil Helene Weigel, der der Film nicht in den ideologischen Kram passte, ein Verbot erwirkte, das spätere Brecht-Erben aufrecht erhalten ließen – bis 2013.
Schlöndorff beschrieb sein Werk mit den Worten: „Dieser „Baal“ ist kein Film, sondern eine Fernsehinszenierung des integralen Brechttextes, auf Film produziert als „Fernsehspiel“.“ Was in diesem verschwurbelten Satz munter durcheinander purzelt, beschreibt den Film tatsächlich ziemlich gut. Zunächst einmal: eine Adaption dicht an der Theater-Vorlage. 24 Kapitel, von Zwischentiteln eingeläutet und durchnummeriert, den 24 Szenen des Stückes entsprechend, nur die Reihenfolge wurde teilweise variiert. Hier und da etwas gekürzt oder umgestellt, sagen die Schauspieler die Brecht-Dialoge, -Lieder und -Gedichte auf – und es ist auch hier nicht die Perfektion, die die Brecht-Worte aus den Mündern von Fassbinder, von Trotta, Schygulla und den anderen zum reinsten Gedicht macht, sondern gerade das Provisorische im Spiel der Darsteller, denen man ihre Unerfahrenheit anmerkt. Das overacting – vor allem Fassbinders – disharmoniert mit dem Theatralischen, dem Festgeschriebenen, auswendig Gelernten auf eine Art, die die ganze Zerrissenheit, Verzweiflung und Gemeinheit der Vorlage ans Licht und aufs Zelluloid bringt.

Und dann ist der Film von der Vorlage auch wieder weit entfernt. Wie die Handkamera sich wackelnd, meist dicht an den Körpern, zwischen den Figuren bewegt, auf recht holprige Weise dynamisch, wie sie in einer Szene über die nackte Haut von Rainer Werner Fassbinder und Margarethe von Trotta wandert, deren feuerrote Haare leinwandfüllend ins Bild fallen, das ist Film durch und durch. Die siebente Kunst ganz und gar.

Und die tollsten unter den liebevoll ausgewählten Sets sind die unter freiem Himmel. Baal und Eckart (Sigi Graue) vor einer nächtlichen Straße. Baal in der vorletzten Szene, an der Autobahn, in der Dämmerung, die unscharfen Lichter einer Tankstelle hinter ihm, der dicht fließende Verkehr vor ihm, er dreht sich um und rennt in die Felder. In der letzten Szene dann torkelt er sterbend aus der Waldhütte, stürzt, dann sieht man nur noch einen Busch. Die Rückkehr zur Natur, die er erträumt, kann nur im Tod vollzogen werden.

Am großartigsten aber eine Szene mit Fassbinder, Graue und von Trotta (als Sofie) vor einer viel befahrenen Landstraße. Sie streiten, Baal will die von ihm schwangere Sofie zurücklassen, schubst sie zu Boden, Eckart sucht sie zu verteidigen, gelobt, bei ihr zu bleiben, sie aber will nur Baal. Die Ränder des Bildes sind unscharf, das grelle Sonnenlicht frisst sich ins grobkörnige 16mm-Material, verwandelt die drei jungen Menschen zu Schimären, die mit vollem Körpereinsatz Brecht spielen, während der dichte bundesrepublikanische Sechziger-Jahre-Verkehr vollkommen unbeteiligt an ihnen vorbeirauscht.

Auch weit entfernt vom Stück hangelt sich der Film durch die jeweiligen zeitgeschichtlichen Konnotationen. Schon bei Brecht, 1918, ging es um den Menschen in der Revolte – und sein Scheitern. Darum, wie der „Ausbruch“ und alle Befreiungen immer nur in neue Gefängnisse führen. Bei Schlöndorff aber handelt der historische Text vom gegenwärtigen Menschen in der Revolte – und antizipiert sein Scheitern. Baal, der den Himmel liebt, mehr als irgendetwas auf der Welt, und sich einmal wünscht, mit den Pflanzen schlafen zu können. Baal, dem die Rückkehr zur Natur, zur Mutter, bei jeder Frau verwehrt bleiben muss, und der irgendwann vom „Weib“, von der Sexualität müde ist. Baal, der aus Verzweiflung immer mehr säuft, immer weiter aufquillt. Baal, der schließlich zum Mörder wird. Wovon sollte diese Figur 1969 erzählen, wenn nicht vom Hippie, der zum Terroristen wird? Davon, wie der antibürgerliche Hedonismus in die Krankheit, in die Sucht führen kann – und die „sexuelle Revolution“ irgendwann resigniert feststellen muss: „I can’t get no satisfaction (and I tried and I tried and I tried …)“

Und: ist dieser krude kleine Theater-Fernseh-Film heute, 2014, wenn er nach 43 Jahren wieder aufgeführt werden darf und wir wissen, wie es den Revoluzzern von einst erging, nicht aktueller denn je? Dass sie bestenfalls an den Lehrstühlen der Unis endeten, manche im Knast landeten, andere auf dem Bahnhofsklo und wieder andere – die von außen betrachtet vielleicht gruseligste Variante – im Dschungel-Camp.

Der Film wurde auf der Berlinale 2014 im Kino uraufgeführt und bekam am 24. März auch eine reguläre Kinoauswertung. Die Restaurierung und digitale Neuabtastung gibt leider allen Unkenrufen zur Digitalisierung des Kinos recht: Von der Grobkörnigkeit des 16mm-Ausgangsmaterials bleibt oft nur ein Pixelbrei. Die DVD, die zeitgleich vom Zweitausendeins-Verlag in der „Edition Deutscher Film“ veröffentlicht wurde, kaschiert das unvorteilhaft wieder gegebene Bild durchaus besser. Darüber hinaus ist sie mit einem 35-minütigen Interview mit Schlöndorff sowie sehr umfangreichem, auch historisch interessantem Text-Material als PDF (u. a. Pressehefte von 1969 und 2014, eine ausführliche Einleitung zur Fernseh-Premiere des Films und Auszüge aus dem Drehbuch) vorbildlich ausgestattet. Dennoch lohnt es sich, einen Film, der so mit Close-Ups arbeitet wie dieser, der den „Hymnus an die Leiblichkeit“, als der Brechts Stück bezeichnet wurde, kongenial ins Fernsehbild überträgt, auf der großen Leinwand zu sehen.

Soundbreaker

(FI / TZ / GB / B / PZ 2012, Regie: Kimmo Koskela)

Ein Idiot mehr (oder weniger)
von Ulrich Kriest

Im Frühjahr 2014 findet die Musik im Kinosaal statt. Ist mit den Startterminen natürlich immer auch etwas kontingent, aber trotzdem ist diese Häufung an durchaus sehenswerten Musikdokumentationen aktuell auffällig. Und …

Im Frühjahr 2014 findet die Musik im Kinosaal statt. Ist mit den Startterminen natürlich immer auch etwas kontingent, aber trotzdem ist diese Häufung an durchaus sehenswerten Musikdokumentationen aktuell auffällig. Und natürlich auch zu begrüßen.

„Oft ist es so, dass man mit einer Idee an etwas herangeht, aber dann besteht die große Kunst darin, dass man auf das Material schaut und nicht auf das, was man als Idee mitgenommen hat“, erklärt der Dokumentarist Christoph Hübner im Pressematerial zum Film „Transmitting“, den er gemeinsam mit Gabriele Voss produziert hat. Im Falle von „Transmitting“ dreht sich alles um Improvisation im doppelten Sinne, denn auch die Musiker, die die Dokumentaristen mit ihrer Kamera begleiten, hatten nur einen ungefähren Plan von dem, was auf sie zukommen sollte. Gleich zu Beginn stellt ein Insert klar, was in den folgenden knapp 90 Minuten zu sehen sein wird: „Rabat / Marokko'.

Das Trio Joachim Kühn, Majid Bekkas und Ramon Lopez realisiert ein lange gehegtes Projekt. Einen Monat Zeit für Musik und eine neue CD. Sie mieten ein kleines Studio und laden Gastmusiker ein. Sie reisen bis in die Wüste, um zu spielen und Aufnahmen zu machen.“ Diese kurze Beschreibung stimmt, aber natürlich auch wieder nicht, denn wir sehen das Musiker-Trio im Studio, bei Gesprächen oder Strandspaziergängen. Die Musiker arbeiten an etwas, was später einmal das Album „Out of the Desert“ werden sollte. Es gibt Schwierigkeiten, die künstlerisch bewältigt sein wollen.

So ist „Transmitting“ eine außerordentliche, weil geduldige und offene Musikdokumentation, die gleichzeitig auch eine Reiseerzählung voll bleibender Eindrücke geworden ist. Ein Glücksfall! Und dann ist da die stets herzliche Neugier, die Gesprächsbereitschaft von Joachim Kühn, der vom Habitus her immer etwas an Udo Lindenberg erinnert und schöne Sätze sagt, wie beispielsweise: „Wichtig ist nicht, wo man herkommt. Wichtig ist, wo man hingeht.“ Interessant auch noch: die Verspätung des Films, denn Joachim Kühn, der vor ein paar Tagen 70 wurde, feierte bei den Sessions in Rabat seinen 66. Geburtstag.

Von 2008/2009 stammen auch die Bilder des Films „Charlie Mariano – Last Visits“. Bekanntlich ist der Saxophonist im Juni 2009 nach langer Krankheit in Köln gestorben. Axel Engstfelds betont kunstlose und etwas unkonzentriert wirkende Dokumentation hat Mariano in seinen beiden Lebensjahren mit der Kamera durch seinen Alltag begleitet, zeigt ihn bei Arztbesuchen, aber auch noch auf der Bühne kleiner Clubs und großer Häuser, die Mariano nicht missen mochte, solange die Kräfte reichten.

Gleichfalls aus der Zeit gefallen, wenngleich zwischen November 2010 und März 2012 gedreht, scheint Augusto Contentos „Parallax Sounds Chicago“. Dabei handelt es sich um keine konventionelle Musikdokumentation, keinen Reisebericht, sondern vielmehr um einen fast schon improvisierend sich gebenden Film-Essay über die Beziehung zwischen Urbanität und Kreativität unter den spezifischen Bedingungen Chicagos, einer Metropole, die eben glücklicherweise etwas abseits liegt. Um den Musiker Sam Prekop zu zitieren, der in diesem Film selbst leider keinen Auftritt hat, es aber andernorts einmal auf den Punkt gebracht hat: „New York reflektiert die Welt, wie sie ist. Chicago reflektiert die Welt, wie sie sein sollte.“

Abseits der Medien-Hochburgen New York und Los Angeles stellte Chicago einen attraktiven, weil (auch) bezahlbaren Lebensraum für Künstler zur Verfügung, die mit großem Enthusiasmus ihre Vorstellungen jenseits der Moden und Mainstreams zu realisieren gedachten. Contento hat Musiker und/oder Musikproduzenten wie David Grubbs, Steve Albini, Damon Locks, Ian Williams oder eben Ken Vandermark in urbanem Ambiente vor die Kamera gelockt, damit sie noch einmal das Hohelied des undogmatischen Neben- und Miteinander singen, das es ab Mitte der 1990er Jahre erlaubte, aus Begeisterung für Kraut-Rock und Dub, für Folk und Free Jazz eine »offene«, experimentelle Musik zu entwerfen, die all dies und noch viel mehr zu fusionieren wusste.

„Parallax Sounds Chicago“ ist ein aufschlussreicher Versuch, den urbanen Raum Chicagos atmosphärisch auf die dort entstandene Musik zu beziehen – und zwar unter den sehr konkreten Bedingungen einer Generation von Künstlern, die mit Punk und No Wave aufgewachsen sind und den kommerziellen Ausverkauf von Grunge miterleben musste. Die Musiker, um die es hier geht, streben nicht in erster Linie ins Rampenlicht, sondern ihr Interesse gilt – idealistisch gesprochen – der Musik, dem Material. Sie verhalten sich kritisch und distanziert gegenüber der Musikindustrie, aber auch gegenüber der »großen« Politik, agieren lieber international auf Graswurzel-Niveau.

Tatsächlich zentriert sich vieles, was der Film zeigt, um den Begriff „alternativ“: alternativ zum Mainstream einer globalen Massenkultur, alternative Songstrukturen, alternative Musik, alternative Aufführungsorte, alternative Ethik, alternativer Habitus, alternative Ökonomie. Doch nicht ist es dem Film vorrangig darum zu tun, diese politische Haltung zu vermitteln, sondern eher geht es darum, inwieweit die vorgestellten Haltungen und Handlungen etwas von Chicago erzählen.

Ungleich konzentrierter nähert sich Kimmo Koskela seinem Objekt, dem „Hendrix des Akkordeons“ Kimmo Pohjonen. Der ist irgendwann mal auf die Idee gekommen, sein Instrument elektrisch zu verstärken und so in völlig neue Klangmöglichkeiten vorzustoßen. Der Weg dahin war lang und alles andere als gerade. „Lately it occurs to me what a long, strange trip it´s been“, singen The Grateful Dead in ihrem bekannten Song „Truckin´“. Daran mag man denken, wenn gegen Ende von Koskelas Musikerporträt „Soundbreaker“ die Kamera endlos sich windende finnische Landstraßen dokumentiert – und den porträtierten Akkordeon-Extremisten Kimmo Pohjonen in seine Zukunft entlässt. So rekonstruiert „Soundbreaker“ eine leidlich originelle, aber durchaus repräsentative Musikerbiografie, die davon erzählt, wie es sich anfühlt, seine musikalischen Talente zum Ausdruck einer möglichst individuellen Persönlichkeit zu bündeln.

Hilfreich ist dabei immer auch ein glücklicher Zufall, damit der „long, strange trip“ ein gutes Ende findet. Einmal gibt es hier alte Fernsehbilder von Pohjonen zu sehen, der als Akkordeon-Wunderkind pflegeleicht zu Protokoll gibt, alle Arten von Musik zu mögen: Polka, Volksmusik, Klassik. Aus heutiger Sicht würde Pohjonen wohl sagen, dass er diese liberale Bravheit nur an den Tag gelegt habe, um seinen Eltern zu gefallen. Denn, so ein schönes Bonmot Pohjonens, schließlich sei das Akkordeon ja ein „Instrument für Idioten, die es spielen, um den Eltern zu gefallen“. Nur gefallen zu wollen, ist aber nicht der Königsweg zur Kreativität.

Da ist es schon besser, man vertraut auf sein Gefühl – und erkundet als Klangforscher die Möglichkeiten des Instruments für Idioten. Gehasst habe er das Instrument, allerdings auch kein Anderes so gut gekannt, um es nachhaltig für sein »eigenes Ding« zu verändern. Pohjonen ist sich sicher: es geht als Künstler allein darum, diesen eigenen Weg zu finden und dabei sich nicht von Regeln beeindrucken oder einschränken zu lassen. Koskela, der Filmemacher, hat sich jedenfalls von Pohjonen inspirieren lassen und findet für sein Filmporträt kraftvolle und höchst originelle Bilder, wenn er den Finnen, der sich gern als körperbetonter Männerdarsteller in archaischem Wams gibt, in ein Eisloch springen und per Trick ein eindrucksvolles Unterwasser-Konzert geben lässt.

Verglichen mit „Transmitting“ ist die Präsenz des Filmemachers unübersehbar, fast möchte man von einer etwas verschrobenen Form von Doppel-Porträt sprechen. Andererseits schadet die Inszenierung dem Porträt nicht, sondern ist quasi ein Aspekt der Kunst Pohjonens. Neben einigen impressionistischen Passagen und ein paar biografischen Hintergrundinformationen zeigt der Film immer wieder den Künstler bei der Arbeit. Die sieht allerdings nicht immer nach Arbeit aus, sondern auch manchmal nach Spleen, wenn etwa die Geräusche von Landmaschinen wie Traktoren, Dreschmaschinen, Kartoffelsortierern mikrofoniert werden.

Erst viel später werden wir die Geräusche wieder hören, diesmal als Teil einer kunstvollen Klang-Collage, die bäuerlichen Alltag in Kunst transformiert – und zwar in Gegenwart der Bauern. Pohjonen kann aber nicht bloß Industrie-Folk, sondern auch Prog-Rock an der Seite der King Crimson-Koryphäen Trey Gunn und Pat Mastelotto und Klassik-Crossover mit dem Kronos Quartet. So eilt der umtriebige Finne mit erstaunlichem Tempo von Projekt zu Projekt, erzählt von der Freiheit, nicht allen gefallen zu wollen und von den Hindernissen auf dem Weg zur Freisetzung von Kreativität. Der Tonfall ist mal kauzig, mal philosophisch – und immer wieder geprägt von jenem minimalistischen Understatement, das man den Finnen seit der Begegnung mit den Kaurismäkis nachrühmt. Am Schluss steht die Idee, eine alte Tradition als Performance wieder aufleben zu lassen: die musikalische Begleitung von Wrestling-Kämpfen, die einst dazu diente, die unvermeidlichen Furz-Geräusche zu übertönen. Manchmal glaubt man Kimmo Pohjonen kichern zu hören, selbst, wenn er ernst in die Kamera schaut.

Nächste Woche wenden wir uns dann denen zu, die im Hintergrund agieren und es nicht in den Vordergrund schaffen. Vielleicht, weil ihnen das Pohjonen-Gen abgeht. Was ja nicht schlimm sein muss, wie der „Oscar“-prämierte Dokumentarfilm „20 Feet from Stardom“ (auch) zeigt.

Transcendence

(USA / GB 2014, Regie: Wally Pfister)

Transzendenz und Elektroschrott
von Nicolai Bühnemann

Der Prolog spielt in der (wohl recht nahen) Zukunft: Eine großstädtische Welt, in der Smartphones achtlos auf der Straße herumliegen, die Reste eines Laptops dazu dienen, die Tür eines Ladens …

Der Prolog spielt in der (wohl recht nahen) Zukunft: Eine großstädtische Welt, in der Smartphones achtlos auf der Straße herumliegen, die Reste eines Laptops dazu dienen, die Tür eines Ladens aufzuhalten, Schilder von Versorgungsengpässen künden. Dazu erzählt ein Voice-Over, dass es irgendwo wieder Strom geben, irgendwo sogar das Internet wieder funktionieren soll. Wer aber nun meint, dass eine Welt, in der die Technologien, an die wir uns alle so gewöhnt haben, nicht mal mehr als Elektroschrott einen Wert haben und dafür Wasser oder Milch wieder umso begehrter sind, eine postapokalyptische sein müsse, der ist zum ersten Mal auf die unbedingte Cleverness dieses Films reingefallen.

Denn „Transcendence“ ist die erste Regie-Arbeit des Kameramanns Wally Pfister, der zuvor unter anderem für Christopher Nolan arbeitete, der seinerseits hier als ausführender Produzent mitwirkte. Und wer Nolans „Inception“ kennt, für den Pfister übrigens den Kamera-Oscar erhielt, der weiß, was ihn erwartet: hyperintelligentes und – auch visuell – hoch ambitioniertes Blockbuster-Kino. Eine unbedingte Cleverness eben, die man bewundern, aber auch genauso gut ziemlich aufdringlich und nervtötend finden kann (und passend zu einem Film, den seine unbedingte Cleverness zu allerlei Ambivalenzen zwingt, lass ich das auch einfach erst mal so stehen).

Dass also das (vorübergehende?) Ende moderner Technologien, der große Zusammenbruch, der etwa vor der Jahrtausendwende so lustvoll heraufbeschworen wurde, nicht das Ende der Welt, der Menschheit ist, dass viel mehr die Technologie für den Fortbestand der Menschheit geopfert werden wird, ist eine der Pointen von „Transcendence“. (Und dass das ganze Diskurs-Wirrwarr, das ganze hochtechnologische Brimborium der zwei Filmstunden sich in der letztlich trivialen Erkenntnis zusammenfassen lässt, dass der Mensch mit seinem Bewusstsein, seinen Gefühlen mehr ist als Technologie, mehr als die ausgekünsteltste künstliche Intelligenz verstehen kann, legt den Verdacht nahe, dass wir es hier mit einer unbedingten Seifenblasen-Cleverness zu tun haben).

Doch beginnen wir mit dem Anfang: In der Vergangenheit zur Zukunft, die der Prolog zeigt, ist Will Caster (Johnny Depp) ein Wissenschaftler, der daran arbeitet, künstliche Intelligenz zu kreieren. PINN heißt das gigantische Computer-Gehirn, woran er bastelt und das nicht nur „intelligenter“ als alle Menschen von Anbeginn der Geschichte zusammen werden, sondern auch über Emotionen und menschliches Reflektionsvermögen verfügen soll. Will wird Opfer eines Anschlags der R.I.F.T. (Revolutionary Independence From Technology), einer terroristischen Vereinigung von „Technologiekritikern“. Zwar streift ihn die Kugel nur, aber es stellt sich heraus, dass sie in Plutonium getränkt war: Es bleiben ihm nur noch wenige Wochen vor dem sicheren Tod. Seine Frau Evelyn (Rebecca Hall) fasst gemeinsam mit seinem Freund und Kollegen Max Waters (Paul Bettany) einen folgenreichen Entschluss: Sie schließt das Gehirn ihres sterbenden Mannes an den Computer an – und beginnt sein Bewusstsein „hochzuladen“.

Der Tod und die unmittelbare „Auferstehung“ Johnny Depps als Computer-Gott ist die vielleicht beeindruckendste Szene des Films. Einen Moment ist er noch ansprechbar, dann entschlummert er still – während die Monitore im Hintergrund weiter flimmern. Ein bisschen später, wenn Evelyn schon bereit ist, die Maschinen auszuschalten, meldet er sich per Chat zurück. Es geht um das Verschwinden des Menschen in der Maschine. „Transcendence“ nannte Will das Programm, an dem er arbeitete. Aber die Regeln des Science-Fiction-Kinos lehren uns, dass das nicht gut gehen kann. Was Evelyn schafft, ist nichts weniger als ein pantheistischer elektronischer Gott: Schau auf einen Bildschirm und ich werde da sein. Aus jedem Kabel komme ich dir entgegen.

Einerseits nimmt sich der Film vor den Klischees in der Darstellung der Erschaffung künstlichen Lebens in Acht. Johnny Depp spielt Will als zurückhaltenden, etwas menschenscheuen, aber sympathischen Typ, der gut in seinem Job ist – und ein liebender Ehemann. Denkbar weit entfernt also von der Genre-Figur des mad scientist als einem Mann mit besessenem Blick und sonderbarem Haarschnitt, der in Reagenzgläsern giftgrüne Flüssigkeiten mischt. Andererseits ist Frankenstein gleich doppelt und dreifach Referenz – mitsamt dem mehrtausendjährigen mythologischen Ballast, den Mary Shelleys Roman im Untertitel trägt: „The Modern Prometheus“. Wo Will zugleich Schöpfer und Kreatur ist, Frankenstein und Monster – so ist es doch erst seine Frau, die sein Werk vollendet – und vice versa ist es auch wieder er, der ihr die Idee „eingepflanzt“ hat, das nötige Knowhow ist seine Hinterlassenschaft. So wie die Terroristen mit ihrem Anschlag das, was sie bekämpfen wollten, erst vollends zur Eskalation bringen, so stellt Max fest, dass sich die R.I.F.T. bei ihrer Gründung, vor der Radikalisierung, maßgeblich an seinen technologieskeptischen Schriften orientierte. In „Transcendence“ ist jeder eines jeden außer Kontrolle geratene „Schöpfung“.

Dass sich bei dieser Verzahnung von Kräften, die stets das Gute wollen und stets das Böse schaffen, gängige Hollywood-Schemata von Gut und Böse nicht aufrechterhalten lassen, liegt auf der Hand. Großartig ist der Film vor allem dort, wo er es schafft, für seine Ambivalenzen eindrucksvolle Bilder zu finden. Will ist nun in der Lage, Sterbende zu heilen, Blinden das Augenlicht zurück zu geben. Wenn Letzteres gezeigt wird, mit dem extremen Close-Up eines Auges, hält sich die Faszination der Möglichkeiten, die diese Technologie bietet, mit dem Unbehagen, das ein uns leinwandfüllend anblickendes Auge auslöst, die Waage.

Die Dramaturgie verlangt es, dass das Unbehagen irgendwann Überhand nimmt. Was der Computer-Will schaffen kann, ist bald „besseres“ menschliches Leben. Menschen mit ungeheuren Kräften, deren Wunden sofort verheilen. Die Versuchung, eine Armee von Übermenschen zu schaffen, die zentral kontrolliert das organische Leben auf der Erde ersetzen könnte, ist groß. „Transcendence“ begegnet ihr mit der Suche nach der Transzendenz in der Natur, mit Panoramen von friedlichen Waldlandschaften und Großaufnahmen von Wassertropfen. „Biochemie ist Emotion“ behauptet Will einmal. Der Umkehrschluss funktioniert aber gerade nicht. Emotionen sind mehr als Biochemie. Es bleibt ein irrationaler „Rest“ jenseits des (naturwissenschaftlich) Verstehbaren, des Mess- und Errechenbaren. Denn, so sagt es Max: „Menschliche Emotionen sind zu Widersprüchen fähig. Wir können einen Menschen lieben, und dennoch hassen, was er getan hat.“ Gerade in diesem Rest, der den Menschen noch von der intelligentesten Maschine unterscheidet, scheint für den Hollywood-Humanismus dieses Films die Transzendenz zu liegen.

Dazu gehört implizit auch ein Diskurs um die Körperlichkeit des Menschen, von der nicht in Worten, sondern in Bildern erzählt wird. Bei der „Beziehung“ zwischen Evelyn und dem Pinn-Will sehen wir, was wir eigentlich längst wissen: Menschen können einander berühren – und das ist etwas vollkommen anderes, als ein Mensch, der einen Computerbildschirm berührt. Ein Mensch ist kein Touchscreen, möge der Computer der sich hinter diesem verbirgt auch noch so „smart“ sein.

Der Film hält sich in seinen Diskursen geschickt von realen Ideologien fern. Mit denjenigen, die, aus fundamentalistisch christlicher Perspektive etwa, gegen den Eingriff des Menschen in die Schöpfung wettern, den Lewitsharoffs dieser Erde, will er nichts zu tun haben. Dass das, was bleibt, ein irgendwie vages Fortschrittsunbehagen ist, ist durchaus symptomatisch dafür, wie seine Ambivalenzen ins Schwammige kippen. Aus Angst, das „Falsche“ zu sagen, sagt er lieber nichts Genaues.

Dieses clevere Alles-richtig-machen-wollen findet auch in der Form seinen Widerhall. Erstaunlich lange wird der Ball relativ flach gehalten. Geht es gerade darum, weiterzudenken, was Computer heute schon können, muss der Film dabei nicht unentwegt zeigen, was sie heute schon können. Für seine Figuren, ihre Konflikte und Dilemmata interessiert er sich, zumindest die ersten anderthalb Stunden lang, wesentlich mehr als für die gängige CGI-Effekt-Orgie, das kraftmeierische Erschaffen digitaler Welten. Dass er schließlich im Finale doch ins große Spektakel kippt, dass es auch ziemlich rührselig wird, wenn im entscheidenden plot point der Mensch wieder aus der Maschine „befreit“ wird, legt Zeugnis davon ab, wie er zielgruppenübergreifend alles richtig machen will. Ein Film mit Herz, Verstand und Krawumm. Da ist für jeden potenziellen Cineplex-Besucher etwas dabei.

Man verstehe mich nicht falsch: „Transcendence“ bietet zwei Stunden spannende, bewegende, gut gespielte und überdurchschnittlich intelligente Blockbuster-Unterhaltung. Um aber wirklich der große Film zu sein, der er unverkennbar gerne wäre, hätte es wohl etwas weniger Cleverness gebraucht – und dafür etwas mehr Mut.

My Sweet Pepper Land

(F / D / IQ 2013, Regie: Hiner Saleem)

Das Genre ernst nehmen
von Nicolai Bühnemann

Irgendwo im Irak: Nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein ist ein Teil der Kurden unabhängig. Der Freiheitskämpfer Baran (Korkmaz Arslan) arbeitet für die provisorische kurdische Regierung. Auf der Flucht …

Irgendwo im Irak: Nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein ist ein Teil der Kurden unabhängig. Der Freiheitskämpfer Baran (Korkmaz Arslan) arbeitet für die provisorische kurdische Regierung. Auf der Flucht vor der Überfürsorge seiner Mutter, die kein anderes Ziel kennt, als ihren Sohn zu verheiraten, lässt er sich in einen kleinen Ort im Norden, an der Grenze zur Türkei und zum Iran versetzen – als Polizist. Hier ist Schmuggel die vorwiegende Beschäftigung, und das Gesetz, das Baran verteidigen soll, keinen Heller wert.

Stattdessen herrscht der lokale Klanchef Aziz Aga mit harter Hand. Der rechtschaffene und unbestechliche Baran macht sich bei ihm und seinen Männern schnell unbeliebt. Zudem tut er sich auch noch mit einer anderen Außenseiterin zusammen: Govend (Golshifteh Farahani), die als Lehrerin den Kindern des Ortes lesen und schreiben beibringt. Die schöne junge Frau muss nicht mehr tun als unabhängig und alleinstehend zu sein, um sich den zunehmenden Hass ihrer vielen Brüder und den Argwohn der Männer des Dorfes zu zuziehen. Als sich Baran auch noch in den Auseinandersetzungen zwischen dem Klan und einer Gruppe von Frauen, die Govend von früher kennt und die sich zum Guerillakampf in die Berge zurückgezogen haben, für letztere einsetzt, eskalieren die Ereignisse.

Ein kurdischer Western also. Regisseur und Drehbuch-Autor Hiner Saleem lässt reichlich Bezüge zur amerikanischen Populärkultur in seinen Film einfließen: Wenn Baran zu seinem neuen Arbeitsplatz fährt, singt Elvis im Radio: 'You’re so square but baby I don’t care.' Eine Tankstelle, an der er anhält, sieht aus wie aus einem Gemälde von Edward Hopper. Americana in Kurdistan. Auch viele Western spielten nach einem Krieg, dem amerikanischen Bürgerkrieg, der für die Entfaltung der Handlung als Vorgeschichte essenziell war. Baran ist der Sheriff, der in eine entlegene Stadt kommt, um für Recht und Ordnung zu sorgen, wie ihn etwa Joel McCrea des Öfteren spielte, in den tollen Western, die Jacques Tourneur in den Vierzigern und Fünfzigern drehte. Auch die Lehrerin, die mit Büchern statt Waffen für ein besseres Land kämpfen will, ist an gängige Figuren des amerikanischen Westerns angelehnt. Allerdings erledigte den Job dort meist noch ein Mann, wie etwa in „The Man Who Shot Liberty Valance“ (interessant: wenn man die Verbindung zwischen Govend und der Gruppe von Guerilla-Kämpferinnen betrachtet, ergibt sich eine ähnliche Konstellation, wie die zwischen James Stewart und John Wayne in dem Ford-Klassiker – nur dass alle Beteiligten hier Frauen sind). Gleichzeitig schließt Saleem aber auch an die zynischere, gewalttätigere, 'dreckigere' Tradition des Italo-Westerns an. Durch die Close-Ups von Korkmaz Arslans Gesicht, derer es gerade in der ersten Hälfte viele gibt, weht ein Hauch von Franco Nero. Zu Beginn ist er daran beteiligt, das erste Todesurteil der unabhängigen kurdischen Regierung zu vollstrecken. Eine Szene, die wesentlich mehr als der Rest des Films eindeutig ins Groteske überzeichnet ist: Um jemanden zu hängen, braucht man also, so lernen wir, erstens einen Strick, der zweitens so befestigt werden muss, dass er auch hält. Nach dem gescheiterten ersten Versuch wird erst mal ausgiebig debattiert, wie weiter zu verfahren sei. Ergebnis: Der Verurteilte muss nach der Hinrichtung auf jeden Fall tot sein. Wenn ihm die Augen verbunden werden, sind diese leinwandfüllend im Bild, eine Art der Einstellung, die man 'Italienische' nennt. Nur ist das Bild bei Saleem nicht, wie bei Sergio Leone und Co., genau zentriert, sondern ein Stück verschoben. Diese Verschiebung beschreibt die Art, wie sich „My Sweet Pepper Land“ dem Genre nähert.

Einerseits werden dessen Motive in einem fort evoziert: Da ist der Ort an der Grenze, nicht der US-mexikanischen, sondern der irakisch-iranisch-türkischen. Da ist der Oberschurke, der böse Patriarch, der über diesen Ort mit harter Hand herrscht. Da ist die Bar, das Pepper Land, das deutlich einem Saloon nachempfunden ist. Ein Western mit Turban statt Sombrero, Maschinenpistole statt Colt, Tee statt Whisky.

Andererseits begnügt sich der Film nicht damit, auf den Verfremdungseffekt zu zielen, der sich aus der Änderung von Epoche und Schauplatz ergibt. Auch ist die Genre-Form für Saleem weder Mittel zum Zweck postmoderner Spielereien noch wie vielleicht in vergleichbaren Arthaus-Filmen etwas, das 'überwunden' werden müsste. Er nutzt sie als Form des Erzählens, um einen spezifischen historischen Kontext zu zeigen. Es geht in „My Sweet Pepper Land“ um die Probleme bei der Gründung eines unabhängigen kurdischen (Rechts-)Staats. Die Western-Form dient nicht nur dazu, daraus spannende Kino-Unterhaltung zu machen, sie zeigt zugleich das „Universale“ im Konkreten. So ist etwa der Ehrbegriff, dem sowohl Aziz Aga als auch Govends Brüder folgen, schon ein deutlich der 'arabischen Welt' entstammender. Andererseits ist aber Steinzeitpatriarchat, egal ob muslimischer oder – im Spaghetti-Western – katholischer Prägung, ein Stück weit immer auch Steinzeitpatriarchat.

Das gar nicht kleine Kunststück, das in „My Sweet Pepper Land“ souverän gelingt, ist es, das politische Anliegen und das Genre gleichermaßen ernst zu nehmen. Bis zum Schluss, wenn Baran kompromisslos mit seinen Feinden abrechnet.

Die Traurigkeit der vielgelobten Golshifteh Farahani ist mir übrigens immer ein bisschen zu penetrant. Dafür ist ihr Lachen wirklich ganz bezaubernd: Toll sind die Szenen (hier gibt es sie einmal im Klassenzimmer, in „Stein der Geduld“ sind sie mir gegen Ende aufgefallen), in denen ihre Leidensmiene in einem Lächeln aufbricht wie eine Wolkendecke. Ich würde sie gerne einmal in einer anderen Rolle sehen, als der einer sich zwar wehrenden und starken, aber auch immer stark leidenden Frau. In einer Komödie vielleicht.

Sein letztes Rennen

(D 2013, Regie: Kilian Riedhof)

Alter Mann, ganz groß
von Nicolai Bühnemann

Früher war die Welt noch in Ordnung. Da gab es noch richtige Helden. Paul Averhoff zum Bespiel, der Langstreckenläufer, den damals, in den Fünfzigern, so verkündet das Voice-Over im Vorspann, …

Früher war die Welt noch in Ordnung. Da gab es noch richtige Helden. Paul Averhoff zum Bespiel, der Langstreckenläufer, den damals, in den Fünfzigern, so verkündet das Voice-Over im Vorspann, jedes Kind kannte. Dazu: Das Gesicht von Jungspund-Supersportler Dieter Hallervorden in historische Schwarz-Weiß-Bilder tuschiert. Der Mann, der in Zeitlupe alles gibt. Die Massen jubeln ihm zu. Das Berliner Olympiastadion vom Himmel aus. Deutschlands Hoffnung in heroischer Siegerpose mit dem Bundesadler auf der stolzgeschwellten Brust. Ja, so schön war das damals in der Adenauer-BRD, im Wirtschaftswunder, als „wir“ endlich wieder wer waren und das scheinbar einzige, was von der derzeit noch verdammt jungen Geschichte übrig blieb, ein paar Nazi-Bauten waren, in denen nun endlich wieder Triumphe gefeiert werden durften.

Nun ist Paul Averhoff (Dieter Hallervorden) in der Gegenwart der 2010er aber alt geworden. Von dem Glanz und Gloria des Anno Dazumal kündet im schmucken Häuschen im Grünen nur noch ein gerahmtes Foto auf dem Kaffeetisch. Zwar ist er ein rüstiger Rentner, der noch im Garten auf der Leiter steht und Äpfel pflückt, aber seine Frau Margot (Tatja Seibt) fällt dann doch etwas zu oft in der Küche hin. Findet jedenfalls Tochter Birgit (Heike Makatsch) und spricht ein Machtwort: Die beiden müssen ins Altersheim.

Der dortige Alltag – Singen, Kastanien-Männchen Basteln in der Ergotherapie, Sommer-, Herbst- und Frühlingsfeste als saisonale Höhepunkte – ist für Paul aber gar nichts. Er möchte der Welt, die ihn offenbar abgeschrieben hat, zeigen, was auch mit knapp Achtzig noch in ihm steckt. Er beginnt für sein letztes Rennen zu trainieren. Den Berlin-Marathon möchte er noch einmal laufen, noch einmal gewinnen.

Alt geworden ist auch Dieter „Didi“ Hallervorden. Das Komiker-Urgestein gehörte zum (kleinbürgerlichen) West-Berlin wie der Kaffee im Kranzler oder die Fahrt mit der Moby Dick auf dem Wannsee. Nachdem er sich zuletzt vorwiegend als Kabarettist und Theater-Direktor hervortat und in Film und Fernsehen eher in kleineren Rollen zu sehen war, ist „Sein letztes Rennen“ seine erste Leinwand-Hauptrolle seit zwanzig Jahren. Damit nicht genug: Der Dieter möchte das Image seiner Didi-Figur, mit dem er mit einer Reihe von Klamauk-Komödien in den Achtzigern die bundesdeutschen Kinosäle füllte, endlich loswerden. Ein seriöser Schauspieler möchte er sein. Also dreht man im Cinemascope-Format, knapp zwei Stunden lang. Also holt man sich den jungen Regisseur Killian Riedhof, der bislang nur fürs Fernsehen gearbeitet hat, stopft die Nebenrollen voll mit allerlei (Semi-)Film-und-Fernseh-Prominenz (alles so angelegt, dass ja niemand in Versuchung kommt, dem Hallervorden die Show zu stehlen) und erzählt – ganz wichtig – die Geschichte von einem, der es im Alter allen noch mal so richtig zeigen will.

Um die Größe dieses Unterfangens zu unterstreichen, bedient man sich ausgiebig aus der Rumpelkammer christlicher Symbolik. Da wird der im Garten joggende Hallervorden zur himmlischen Vision stilisiert, erblickt zuerst von einer Greisin, die, im weißen Nachthemd, das weiße Haar vom gleißenden Sonnenlicht beschienen, eine engelsgleiche Erscheinung abgibt. Weil man das wahrscheinlich noch für zu subtil hielt und das Publikum nicht überfordern wollte, wird er am Ende dann auch noch Jesus-mäßig ans Bett fixiert. Als er es schließlich doch noch – selbstverständlich in letzter Sekunde – an den Start schafft, wird die frohe Botschaft in einer Messe verkündet. Auferstanden ist er, um anzutreten. Halleluja!

Nun braucht einer wie Paul, einer wie Dieter, ja auch eine Welt um sich herum, der er beweisen muss, was er auch im Alter noch kann. Da ist seine Frau Margot, deren Resignation es zu überwinden gilt, damit sie sich wieder in ihre Rolle als Erfüllungsgehilfin der Träume ihres Mannes fügt. Da ist die chronisch von allem und jedem überfordert durch ihr Leben mäandernde Makatsch-Tochter. Stewardess, Mittelschichts-Jet-Set, Angst vor festen Bindungen, Angst vorm Ankommen … so sehr, dass sie sich gegen Ende in hypnotische Techno-Beats, Whiskey und Ecstasy flüchten muss. Da sind die Bewohner des Heims. Am markantesten wohl der Mann, der im Namen von Zucht und Ordnung immer mal wieder so richtig auf den Tisch haut, und dem Aufsehen, das Pauls Plan erregt, sofort feindlich gegenübersteht. Von ihm lernen wir übrigens, dass früher auch nicht alles gut war: erst der Krieg und die Trümmer, dann die Studenten und der Terrorismus. (Überhaupt: Wie selbstverständlich und perfide die Kriegserfahrungen der 1945 etwa Zehnjährigen hier für eine Entschuldungsfiktion ausgeschlachtet werden. Natürlich konnten sie nichts für ihre gefährliche und entbehrungsreiche Kindheit. Nur scheint an dem Krieg, dessen Opfer gewiss auch sie waren, nicht einmal mehr Hitler schuld zu sein, geschweige denn ihre Elterngeneration.) Außerdem die schwarz tragende, kettenrauchende Berufszynikerin im Rollstuhl. Sie brüllt ihrem Sohn Nazi-Lieder auf den Anrufbeantworter, um endlich seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Klappt natürlich. Klappt bei deutschen Gutmenschen („Meine Mutter hat seit 100 Jahren SPD gewählt!“) ja immer. Da ist das Pflegepersonal, angeführt von Oberdrache Katrin Sass, die ihrer Rolle zwar eine angemessen sarkastische Bissigkeit verleiht, was ihre Figur aber auch nicht weniger eindimensional macht. Da sind die Psychologen, die’s ja vielleicht gut meinen, aber sich letztlich Diagnosen wie „agitierte Depression“ wohl auch nur ausdenken, weil ruhig gestellte alte Menschen eben leichter zu verwalten sind, als welche, die noch Träume haben. Da ist schließlich Pfleger Tobias, einer der ersten, die Pauls Idee unterstützen und der uns das Altersheim erklärt: „Zu wenig Pfleger. Die Hälfte davon ungelernt und aus Thailand oder Polen oder weeß ick nich wo. Hat doch alles System hier. Hauptsache, das Haus wirft ’n bisschen Kohle ab.“ Das wird man doch wohl noch sagen dürfen. Ein bisschen Rassismus ist offenbar ganz okay, wenn er nur schön als Kritik am „System“ verpackt wird.

Nach und nach wird Paul sie alle auf seine Seite ziehen, sie von seiner Sache überzeugen. Hallervorden spielt das mit einer Arroganz, mit einer Art emotionaler Senilität gegenüber seiner Umwelt, die durchaus interessant sein könnte, würde sich der Film nicht so affirmativ dazu verhalten. Die sich beim internationalen Arthaus-Kino anbiedernde Qualitätsfernsehens-Professionalität, mit der das gefilmt ist, das hirnlähmende Pathos, mit dem das erzählt ist, sollen wohl unter anderem darüber hinwegtäuschen, wie wenig in diesem Film eins zum anderen passt. Wie verträgt sich der Humor des Films, der sich größtenteils in Schwerhörigkeits- und Alzheimer-Witzchen erschöpft, denn nun mit dem Anliegen, sich für ein würdevolleres Altern einzusetzen? Wie passt die geschmackssichere leise Melancholie der Bilder in der ersten Filmhälfte zum Schreihals-Diskurs über die skandalösen Lebens- und Arbeitsbedingungen in heutigen Altersheimen, bei dem man immer wieder meint, eine Bild-Reportage zu lesen (dass denn auch ausgerechnet die Bild „Sein letztes Rennen“ als „Meisterwerk“ bezeichnete, passt zu gut ins, tja, Bild, um es unerwähnt zu lassen. Allein waren sie mit dieser Einschätzung denn aber ganz und gar nicht: Bei der Premiere des Films in Hamburg gab es standing ovations.) Um das alles schließlich zusammenzukriegen, um eine Runde Happy End für alle auszugeben, bedarf es dann schon eines Wunders, des Marathon-Wunders von Berlin.

So sieht er also aus: Der neue deutsche Wohlfühlfilm.

Am 28. März erscheint „Sein letztes Rennen“ auf DVD und Blu-ray. Als Extras gibt es einige Interviews, zwei Audiokommentare von Hallervorden, Regisseur Killian Riedhoff u.a. Dass man an eine Hörfilmfassung für Blinde und ein Wende-Cover gedacht hat, ist zwar erfreulich, macht den Film aber auch nicht besser.

Man of Tai Chi

(USA / CN 2013, Regie: Keanu Reeves)

Genremuster, updated
von Michael Schleeh

'Man of Tai Chi' ist ein Martial-Arts-Genrefilm, der auf einer sehr simplen Storyline aufbaut und der einigen Kritikern als stümperhaftes Machwerk aufstößt (anscheinend wurde tatsächlich vier Jahre lang am Drehbuch …

'Man of Tai Chi' ist ein Martial-Arts-Genrefilm, der auf einer sehr simplen Storyline aufbaut und der einigen Kritikern als stümperhaftes Machwerk aufstößt (anscheinend wurde tatsächlich vier Jahre lang am Drehbuch gearbeitet, was dann doch eher verwunderlich ist). Nun, man könnte den Plot auch als bare to the bone – oder einfach: klassisch – bezeichnen, was sich schon besser anhört, und Keanu Reeves‘ Bemühungen, mit seinem ehemaligen Stuntman und Kampfkunstlehrer aus 'Matrix'-Zeiten einen Film zu drehen, der hier die Hauptfigur und den Tai Chi-Eleven namens Chen Linhu / Tiger Chen spielt, als eine bemerkenswert sympathische, weil scheinbar persönliche Entscheidung begrüßen.

Mit an Bord ist auch der legendäre Yuen Woo-ping als Garant für erstklassige Kampfkunstchoreographie sowie Kameramann Elliot Davis ('Twilight', 'Dogtown Boys', 'Out of Sight'), der sowohl das ländliche China jenseits der Großstädte einzufangen weiß, als ob man sich in einem klassischen Kung Fu-Film befände, als auch die lackierten Spiegelfassaden der aseptischen Wolkenkratzer Hongkongs abzubilden, dabei einen durchdesignten, staubfreien, vielleicht schon japanischen (!) Minimalismus zelebrierend, der für Modernität und Internationalität stehen soll. Und für viel Geld.

Denn darum geht es im Film. Tiger Chen rackert sich in Peking ab: in einem Job als Paketbote. Und als letzter verbliebener Schüler einer aussterbenden Disziplin des Tai Chi, ist er so etwas wie ein spiritueller Sohn seines alten, weisen Meisters (Yu Hai). Als die befrackten Schergen der Baumafia den 600 Jahre alten Tempel seiner Schule abreißen wollen, fühlt sich Tiger in die Pflicht genommen und kann das Angebot des mysteriösen Geschäftsmanns mit dem dubiosen Namen Donaka Mark nicht ablehnen, für ihn zu kämpfen. Zu spät bemerkt er, mit wem er sich eingelassen hat: mit einem skrupellosen Unternehmer, der für eine wohlhabende und dekadente Geldelite Kämpfe organisiert. Und diese Schaukämpfe – zunächst ohne Wissen der Fighter – werden per Internet weltweit für das zahlende Publikum zugänglich macht. Der Höhepunkt soll dann freilich ein Kampf auf Leben und Tod sein, inszeniert auf einer Bühne wie eine Revuenummer in einem Theater, der Tiger Chens moralischen Konflikt auf die Spitze treibt.

Für Tiger Chen geht es schließlich um die moral-ethische und persönliche Entscheidung, eine eher passive Kunst der Bewegungslehre, eine spezielle Form des Taijiquan als eine aggressive Form der Kampfkunst zu 'missbrauchen' – so gibt es mehrere gewichtige Gespräche mit seinem Lehrer zu diesem Problem, der ihm freilich rät, integer zu bleiben. Für Donaka Mark ist der monetäre Aspekt allerdings zweitrangig, denn dieser Mann besitzt so viel Zaster, dass er mehr als ausgesorgt hat. Es gehe ihm darum, eine derart starke Persönlichkeit wie Tiger Chen dorthin zu treiben, dass er 'seine Unschuld' verliere. Dazu schaut er dann unerbittlich drein mit dem typisch versteinerten Keanu Reeves-Gesicht und knurrt ein wenig. Das alles ist nun nicht weiter bemerkenswert, wäre der Film nicht sehr professionell und mit Elan gemacht, mit der richtigen Balance, und dann doch nicht zu sehr auf die Pauke hauend. Das liegt vor allem an den Schauspielern, allen voran Tiger Chen selbst, der neben seinen kämpferischen Fähigkeiten auch ein ordentlicher Mime ist. Oder an Simon Yam, der eine kleine Rolle hat. Oder an der tollen Karen Mok, die als souveräne Polizistin auftritt. An den vielen kleinen Momenten, wo man das Amerikanische ganz vergisst, und in denen der Film näher an Herman Yaus 'IP Man: Final' ist, als an irgendwelchen US-Kampffilm-Standards. Das sieht man an Kuss-Szenen, an der Art wie Dialoge inszeniert sind, oder wie die häuslichen Verhältnisse abgebildet werden. An der Art, wie Stadt (generell) ins Bild gesetzt wird, gar nicht mit einem skandalisierenden westlichen Blick für die Ärgernisse des asiatischen Molochs. Für solche Bilder interessiert sich der Film zum Glück überhaupt nicht, es scheint Normalität für ihn zu sein.

So addieren sich Kleinigkeiten zu einem Gesamtbild, welches schlussendlich doch sehr positiv ausfällt. Auch wenn der Anti-Held am Ende auf der Flucht groteskerweise von Hong Kong nach China hinüberschwimmt! Nichts Neues erfindet 'Man of Tai Chi', zum Glück, denn das muss ja nicht jeder Film wollen. Aber er updated eine Genremuster, das für ein Mal nicht ins ironische Tarantino-Zitat gewendet wird. 'Man of Tai Chi' ist ein ernst zu nehmender Film eines vom Asiatischen begeisterten Amerikaners. Und dafür, dass man es mit einem amerikanischen asiatischen Film zu tun hat, fühlt er sich erstaunlich asiatisch an.

The Canyons

(USA 2013, Regie: Paul Schrader)

Melodram Infernal
von Nicolai Bühnemann

Das Ende des Kinos verkündete Jean-Luc Godard bereits 1967 am Ende seines Films „Weekend“. Eher den Tod als das Ende des Kinos zeigt Paul Schrader 2013 am Anfang seines achtzehnten …

Das Ende des Kinos verkündete Jean-Luc Godard bereits 1967 am Ende seines Films „Weekend“. Eher den Tod als das Ende des Kinos zeigt Paul Schrader 2013 am Anfang seines achtzehnten Films „The Canyons“. Im Vorspann sind überwiegend schwarz-weiße Bilder von leer stehenden, verfallenden Filmpalästen zu sehen. Verrammelte Tore, zerfallende Leuchtreklamen, die zerbrochenen Scheiben der Schaukästen, zerschlissene Sitze.

Paul Schrader wurde 1946 in einer Kleinstadt in Michigan geboren. Aufgrund der Regeln seines streng calvinistischen Elternhauses besuchte er erst mit siebzehn zum ersten Mal ein Kino. Nach dem Studium und einer Tätigkeit als Filmkritiker begann er Drehbücher zu schreiben. Eines davon, „Taxi Driver“, wurde von Martin Scorsese mit so großem Erfolg verfilmt, dass es Schrader die Möglichkeit gab, eine eigene Regie-Karriere zu beginnen. Travis Bickle, der Protagonist des Films, kann zugleich als Prototyp der Schrader-Figur gesehen werden. Seine (Anti-)Helden sind einsame Männer mit einer Mission, die in einer kalten, feindlichen, meist großstädtischen, oft in grelles Neon-Licht getauchten Welt nach Erlösung suchen. Sie finden sie selten, aber manchmal immerhin das Versprechen, dass sie möglich sein könnte. Vor dem Hintergrund dieses „Monomythos“ schwinden soziale und historische Unterschiede. Ob die Schrader-Männer Fabrikarbeiter sind, die versuchen, privates Glück und Klassenkampf in einen Blaumann zu kriegen („Blue Collar“), in den dunkelroten Abgründen der Spät-Siebziger-Porno-Industrie nach ihrer Tochter suchen („Hardcore“), sich prostituieren („American Gigolo“), „weißen Menschen weiße Drogen verkaufen“ („Light Sleeper“) oder versuchen, Dämonen auszutreiben („Dominion: Prequel to the Exorcist“), ob die Filme im Detroit der Siebziger, dem Los Angeles der Achtziger oder dem New York der Neunziger spielen, hat wesentlich weniger Bedeutung, als man annehmen könnte. So transzendieren seine Filme auch immer wieder die Produktions- und Vermarktungszusammenhänge, in denen sie stehen: Noch ein Exorzisten-Prequel wird unter Schraders Regie zu einem befremdlich bunten und erstaunlich ernsthaften „Autorenfilm“ über Traumata, Schuld und Glaubenskrisen (der mit Schraders „Cat People“-Remake von 1982 sicher mehr gemein hat, als mit dem – ohnehin denkbar zerfaserten – Franchise, dem er vordergründig angehört).

Das Kino scheint für Paul Schrader sein Leben lang ein „verbotener“ Ort geblieben zu sein, ein Ort der dunklen Versuchungen und Verheißungen. Und einer, an dem man sich seinen Dämonen stellen muss, um Erlösung zu erlangen. (Dass man nie genau weiß – sicher verhält es sich von Film zu Film etwas anders – ob die zu exorzierenden Dämonen nun die der „sündigen“ urbanen Welt oder doch eher die der eigenen ultrareligiösen Erziehung sind, trägt sicherlich einiges zur Faszination seiner Filme bei, die immer etwas merkwürdig, etwas entrückt wirken).

Um den Kampf mit – weitgehend säkularisierten – Dämonen geht es auch im Werk des Schriftstellers Bret Easton Ellis, von dem das Drehbuch zu „The Canyons“ stammt. Seine Bücher handeln von den Schönen und Reichen, die versuchen, die Leere ihres Lebens mit jeder Menge Sex, allerlei Drogen und brachialer Gewalt zu füllen. In seinem metafiktionalen Roman „Lunar Park“ bekommt es ein Schriftsteller namens Bret Easton Ellis mit seinen eigenen Schöpfungen zu tun, mit depressiv-lethargischen upper class-Teenies und Armani tragenden Serienkillern also – und – noch viel schlimmer – mit dem eigenen Vater, der, über seinen Tod hinaus, das Leben seines Sohnes fest im Griff zu haben scheint.

Die Grundkonstellation von „The Canyons“ ist eigentlich ganz einfach: Zwei Männer sind besessen von derselben Frau (das Wort „Liebe“ wird von den Figuren zwar fast inflationär verwendet, scheint aber von außen betrachtet eher unpassend zu sein, und auch mit dem Begehren ist es so eine Sache in diesem Film.) Das heißt allerdings nicht, dass das dicht gesponnene Netz aus Affären, Intrigen, Lügen und Eifersucht um diesen zentralen Konflikt herum, die anderen Männer und Frauen, die mehr oder weniger kleine Rollen darin spielen, nur überflüssiges Beiwerk wären. Ganz im Gegenteil: als Surrogate für und Vermittler zwischen den drei Hauptfiguren sind sie unverzichtbar. Es bedarf anderer Menschen, die mitintrigieren, mitlügen und mitvögeln, um das denkbar dysfunktionale Beziehungsdreieck voranzutreiben – auf den Abgrund zu.

Der eine Mann, Christian, ist eine typische Ellis-Figur: Ein Filmproduzent, reich, arrogant, zynisch, chronisch gelangweilt, promiskuitiv, bisweilen extrem grausam und mit stark ausgeprägtem Vater-Komplex. Dass er gespielt wird von Porno-Darsteller James Deen ist der erste wichtige Besetzungscoup dieses Films. Einmal beschwert sich Christian bei seinem Therapeuten Dr. Campbell (Gus van Sant in einem Cameo), dass er immer nur schauspielert, sein Leben lang nur verschiedene Rollen spielt. Das heißt nicht, dass er einen Ausweg sucht aus den ewigen Inszenierungen von Identität und Begehren. Er möchte einfach nur auf die andere Seite der Kamera, inszenieren statt zu spielen. „It’s a guy thing. Power and control.“ Die Kontrolle, die ihm mehr bedeutet als alles andere, verliert er nur ein einziges Mal: In der frenetischsten Szene des Films haben er und seine Freundin Tara (Lindsay Lohan) Sex mit einem anderen Paar. In der Discobeleuchtung seines Schlafzimmers verschwimmen die Körper, (Kamera-)Bewegungen und Lichter zu einem einzigen Rausch der digitalen Sleaze-Bilder. Tara fordert die beiden Männer auf, sich zu küssen, den anderen Mann dazu, Christian einen zu blasen. Was ihn in seinem Innersten erschüttert, ist nicht der Zusammenbruch seiner heterosexuellen Performance, sondern eben der Kontrollverlust, die Tatsache, dass er hier nicht mehr Subjekt, sondern Objekt von Inszenierung und Begehren ist. Dafür wird er bitterliche Rache nehmen.

Der andere Mann, Ryan, ist vielleicht das, was von einer typischen Schrader-Figur übrig ist, so wie „The Canyons“ das ist, was vom Schrader-Kino übrig ist (eine 150.000-Dollar billige Produktion mit einem heruntergekommenen Hollywood-Sternchen und einem Porno-Darsteller in den Hauptrollen – von einem Mann, der einst an den Rändern des Hollywood-Mainstreams Filme mit Willem Dafoe, Richard Gere und Susan Sarandon drehte). Er bezeichnet sich zu Beginn als „morally conventional guy“. Dass das reine Fassade ist, zeigt sich schon daran, dass ihn seine Ex wesentlich mehr interessiert als seine derzeitige Freundin, die wohl die moralisch und emotional intakteste Person dieses Films ist. Eigentlich will er nichts, außer seiner prekären Lebenssituation zu entkommen – und er will Tara. Mit ihr hatte er eine Beziehung, bevor sie Christian kennen lernte. Wieder getroffen haben sie sich bei dem Casting eines kleinen Slasher-Films, den Christian produziert und in dem er die Hauptrolle spielen will. Seitdem treffen sie sich wieder – heimlich, aber regelmäßig. Tara hat dafür gesorgt, dass er die Rolle bekommt, die seine letzte verzweifelte und wahrscheinlich trügerische Hoffnung auf den sozialen Aufstieg ist. Um seine Ziele zu erreichen und sich vor dem endgültigen Bankrott zu bewahren, schläft er auch schon mal mit Männern.

Schließlich Tara, die Frau zwischen den beiden Männern. Mit Christian ließ sie sich ein, weil sie die genug hatte vom Leben am Existenzminimum mit Ryan. Der Film denunziert das ebenso wenig wie das Verhalten der Männer. Sie ist die tragischste Figur, weil sie die Entbehrungen der Armut ebenso kennt wie die frustrierende Leere des Daseins in einer Villa in Malibu. Lindsay Lohan ist die perfekte Schauspielerin für diese Rolle. Nicht nur weil ihr der exzessive Lebenswandel so deutlich ins Gesicht – und auf den Körper – geschrieben steht, sondern auch weil sie eine der vielen ist, die am Erfolg gescheitert sind. Auf Ryans Bemerkung, dass sie nicht glücklich ist, erwidert sie: „Who said anything about happiness?”

Inszenatorisch knüpft der Film durchaus an Schraders bisheriges Schaffen an. Wenn die Kamera elegant durch die sonnendurchfluteten Straßen und Einkaufspassagen von Los Angeles, durch finstere Flure und Treppenhäuser gleitet, mutet „The Canyons“ wie eine No-Budget-Version seiner Neo(n)-Noir-Thriller vergangener Dekaden an. Inhaltlich jedoch ist er ein Ellis-Film durch und durch. Wo bei Schrader am Ende noch das Erlösungsversprechen wenn schon nicht erfüllt, dann doch zumindest aufrecht erhalten wurde, enden Ellis-Romane mit Sätzen wie „No Exit“ oder „I never liked anyone and I’m afraid of people.“

Die Parallelen vom Film zum Werk des Schriftstellers gehen weit über die Darstellung der Kommunikations- und Beziehungsunfähigkeit innerhalb eines bestimmten Milieus hinaus. Die Art etwa, wie die öffentlichen Persona der Darsteller in den Figuren mitgedacht werden, wie der Film selbst Zeugnis des Niedergangs der Filmindustrie ist, den er behandelt, erinnert an die metafiktionalen Versuchsanordnungen von Ellis‘ letzten beiden Romanen.

Selbst der Niedergang des Kinos ist mindestens so sehr ein Ellis- wie ein Schrader-Thema. Die sieben Bücher, die der Autor zwischen 1985 und 2010 geschrieben hat, liefern nicht zuletzt ein Stück Medien- und Technologie-Geschichte – von einer Zeit, in der MTV und VHS der „heiße Scheiß“ waren in eine, in der die Ellis-typische Nicht-Kommunikation überwiegend per iPhone stattfindet. Der Subtext über den Tod des Kinos geht in „The Canyons“ einher mit dem Zeigen der neuen Medien, die es ersetzen. Facebook-Accounts werden gehackt und SMS geschrieben, gechattet wird auch mal per Smart-TV und eine Szene spielt in der gigantomanischen DVD-Abteilung eines Supermarkts.

Der Film ist durchzogen von Zwischentiteln, die vor den Bildern der toten Kinos Wochentage anzeigen: Von Montag bis Donnerstag erstreckt sich seine Handlung. Das Unfertige, das dadurch vermittelt wird, ist bezeichnend. Vordergründig wirkt die letzte Szene, einige Jahre nach dem Geschehen des Films angesiedelt, wie ein klassischer Epilog. Dieser zeigt jedoch nur, dass hier nichts wirklich zu Ende ist, dass das Spiel der Figuren, die niemals zueinander finden können, und es gerade deshalb ewig versuchen müssen, nicht abgeschlossen und nicht abschließbar ist. Ihr emotionales Zombie-Dasein geht weiter, wie das Sterben des Kinos – im Abspann.

Die Vorstellung von „The Canyons“ als Wegweiser in die Zukunft eines Kinos – und sei es auch nur eines bestimmten Segments davon – das sich post mortem immer weiter an den gleichen kaputten Beziehungen, den gleichen neurotischen Fixierungen abarbeitet, ist natürlich ziemlich schrecklich. Für sich genommen aber, als eiskaltes, von gleißendem Licht durchflutetes und doch nachtschwarzes Melodram Infernal ist er ein rohes Kleinod von einem Film.

Dass ein Film wie „The Canyons“ keine Chance auf eine deutsche Kinoauswertung hat, ist so traurig wie selbstverständlich. Immerhin liegt er jetzt, ein gutes halbes Jahr nachdem er auf dem Filmfestival in Venedig lief, bei NEW KSM auf DVD und Blu-ray vor. Wählen kann man zwischen deutschem und englischem DTS HD-Mehrkanalton, deutsche Untertitel gibt’s auch. Das spärliche Bonus-Material besteht aus einem sechsminütigen Behind The Scenes-Featurette, das sich als Werbe-Clip für die sozialen Netzwerk-Auftritte des Films und seiner Beteiligten entpuppt, einem Trailer und einer Bildergalerie.

Her

(USA 2013, Regie: Spike Jonze)

Die Stimme aus dem Off
von Wolfgang Nierlin

Die Zukunft ist nicht so fern, das Bekannte nur leicht verschoben in Spike Jonzes Sciencefiction-Romanze „Her“. Die Wolkenkratzer-Stadtlandschaft mit ihren spiegelnden oder illuminierten Fassaden, aufgenommen im Schanghaier Stadtteil Pudong, vermittelt …

Die Zukunft ist nicht so fern, das Bekannte nur leicht verschoben in Spike Jonzes Sciencefiction-Romanze „Her“. Die Wolkenkratzer-Stadtlandschaft mit ihren spiegelnden oder illuminierten Fassaden, aufgenommen im Schanghaier Stadtteil Pudong, vermittelt eine hypermoderne Lebenswelt zwischen Transparenz und Leere. Deren Atmosphäre wirkt sowohl in Räumen als auch auf der Straße gedämpft, komfortabel und warm. Ein sanftes Rot und ein dezentes Blau sorgen für ein entspanntes Klima, in dem sich die Menschen freundlich begegnen. Ihre Online-Kommunikation erfolgt hauptsächlich verbal und völlig relaxed. Die Stimmen aus dem Off sind gewissermaßen allgegenwärtig. Ihre unsichtbare Gegenwart markiert eine virtuelle Metaphysik, deren Hinterwelt von Rechnern generiert wird und trotzdem eine Projektion bleibt, die den Benutzern eine besondere Imaginationsleistung abverlangt.

Kreativberufler Theodore Twombly (Joaquin Phoenix), der in einer sehr speziellen Agentur persönliche Briefe für Kunden beiderlei Geschlechts schreibt, ist diesbezüglich ein Meister der phantasievollen Einfühlung. Wenn er romantische oder traurige Liebesbriefe diktiert, verarbeitet er zugleich seine eigene, gescheiterte Ehe mit Catherine (Rooney Mara), die das geheime Zentrum des vielschichtigen Films und den Motor von Theodores Aktivitäten bildet. Einsam und „leer im Herzen“ wandelt er durch die Labyrinthe seines 3 D-Computerspiels oder durch anonyme, eher ernüchternde Sex-Chatrooms; bis er sich eines Tages in Samantha, die Stimme seines neuen, interaktiven Betriebssystems verliebt. Dieses sogenannte „Operating System 1“ wird als „künstliche Intelligenz mit Bewusstsein“ vorgestellt, das auf Intuition basiert und sich stetig weiterentwickelt, indem es aus seinen Erfahrungen lernt und neue Fähigkeiten entdeckt.

Theodore ist begeistert von seinem immateriellen Gegenüber, das Raum und Zeit vergessen macht, sehr lebendig wirkt und ihm dabei einfühlsam und „auf Augenhöhe“ begegnet. „Ich habe das Gefühl, ich könnte dir alles sagen“, bekennt Theodore. Und: „Für mich fühlst du dich real an.“ Also verlieben sich die beiden ineinander, führen lange, offene Gespräche und erleben dabei ganz real die Höhen und Tiefen einer Beziehung, denn eines Tages gesteht Samantha: „Ich bin dein und nicht dein.“ Die Stimme aus dem Computer hat nämlich gleichzeitig noch viele andere Beziehungen. Dabei besteht Spike Jonzes große Kunst darin, uns zusammen mit seinem liebesbedürftigen Helden diese Liebesgeschichte als „real“ imaginieren zu lassen. Alles, was wir diesbezüglich nicht sehen und doch fühlen, entspringt unserer Phantasie. Für Theodore wird seine virtuelle Romanze schließlich zum Medium zur Verarbeitung seiner Trennung von Catherine und zu einer Lektion über den Umgang mit Gefühlen.

Westen

(D 2013, Regie: Christian Schwochow)

Kein schöner Land
von Ulrich Kriest

Frisch und sehr pragmatisch verheiratet, wurde der promovierten Chemikerin Nelly Senff und ihrem wohl neunjährigem Sohn Alexej die Ausreise aus der DDR bewilligt. Beim Grenzübertritt 1978 demonstriert das Land, das …

Frisch und sehr pragmatisch verheiratet, wurde der promovierten Chemikerin Nelly Senff und ihrem wohl neunjährigem Sohn Alexej die Ausreise aus der DDR bewilligt. Beim Grenzübertritt 1978 demonstriert das Land, das Nelly endlich hinter sich lassen will, noch einmal borniert seine Macht zur Demütigung der Ausreisewilligen, die sich ihrerseits nicht bemüht, ihre Verachtung für diese Behandlung zu verheimlichen. Man merkt schnell, dass Nelly über eine gewisse Routine im Umgang mit derlei Schikane verfügt und trotzdem zornig und kämpferisch reagiert. Warum? Drei Jahre zuvor ist Alexejs Vater, der russische Wissenschaftler Wassilij, in Moskau unter ungeklärten Umständen bei einem Unfall ums Leben gekommen. So wurde es Nelly von offizieller Seite mitgeteilt, zur Beerdigung durfte sie nicht anreisen.

Nelly hat keine politischen Gründe, die DDR zu verlassen, eher will sie noch einmal ein neues Leben im Westen anfangen. Der, wie man damals gerne sagte, doch leuchtete. Doch zunächst einmal geraten Nelly und Alexej erneut in die Fänge der Bürokratie. 12 Stempel braucht es, bis man sich zur BRD-Staatsbürgerschaft gratulieren kann. So lange lebt man in einem Zimmer im Notaufnahmelager Marienfelde, wo offenbar die Regel gilt: wer hier nicht binnen weniger Tage weg ist, sitzt in der Falle. Nicht immer wird dieser Nicht-Ort zum Übergangslager, zum Transit-Raum. So wie für den geheimnisvollen und zurückhaltenden Hans, der als Politischer schon in Bautzen einsaß, freigekauft wurde, aber keine rechte Neugier auf den Westen entwickeln konnte und jetzt hier festsitzt. Nicht mehr im Osten, aber auch noch nicht im Westen. Er freundet sich langsam mit Nelly und insbesondere Alexej an.

Der Start ins neue Leben erweist sich auch für Nelly schwieriger als erwartet, zumal die zuständigen Behörden ihr mit einer Mischung aus Ignoranz und Vorurteilen begegnen. Und dann sind da noch die bundesdeutschen und amerikanischen Geheimdienste, die sich mit durchaus vergleichbarem Interesse wie ihre Stasi-Kollegen über den Fall des toten Wassilij beugen, der doch für Ostblock-Verhältnisse sehr reisefreudig gewesen sei. Wisse Nelly denn überhaupt mit Bestimmtheit, dass Wassilij tot sei? Es wird unübersichtlich – und der direkte Vergleich der Systeme provoziert.

Der Filmemacher Christian Schwochow hat sich bereits mit seinen atmosphärisch dichten, intimen Spielfilmen „Novemberkind“ und „Die Unsichtbare“ als Spezialist für präzise Frauen-Porträts gezeigt. Mit „Westen“ weitet er aber auf ambitionierte Weise seinen Blick, indem er »die Welt« in seine Film-Welt hineinlässt. Das gelingt auch deshalb, weil er die Poly-Perspektivität von Julia Francks Romanvorlage auf zwei, drei Erzählstränge reduziert und sich dabei ein paar Elemente des klassischen Agententhrillers zu Nutze macht, wobei das Schicksal Wassilijs in Hitchcock-Manier als „MacGuffin“ fungiert. Meint: letztlich geht es nicht um Wassilij, sondern darum, wie versucht wird, Nelly mit Informationen derart zu manipulieren, bis ihr Misstrauen sich zur Paranoia auswächst. Was wiederum ihre Beziehung zu Alexej und Hans auf eine schwere Probe stellt. Ist Hans vielleicht sogar, wie manche vermuten, ein Stasi-Spitzel?

Jördis Triebel überzeugt in ihrem fesselnden Porträt einer starken Persönlichkeit, die zwar Momente der Schwäche zeigt, aber letztlich nie aufgibt, ihre Würde und Souveränität zu verteidigen. Die selbstbewusste und immer etwas undurchschaubare Art und Weise, wie sie die persönliche Auseinandersetzung mit dem farbigen CIA-Agenten John Byrd führt, erinnert mitunter an Fassbinders Maria Braun. Eine künstlerische Nähe, die sich, genauer bedacht, durchaus nicht zufällig einstellt. Wohin die Reise geht, war 1978 noch nicht absehbar. Schwochow lässt folglich vieles offen, nur ganz am Schluss macht er es sich vielleicht etwas zu einfach, wenn er seinen Film auf ein konventionelles Happy End an Weihnachten zusteuern lässt. Aber das könnte auch ironisch gemeint sein.

Ulrich Kriest hat mit dem Regisseur auch dieses Gespräch geführt.

Nymph()maniac 2

(DK / B / F / D / GB 2013, Regie: Lars von Trier)

Sexgetränkt
von Ilija Matusko

'Ich bin ein böser Mensch', hatte Joe im ersten Teil erklärt, in Lars von Triers 'Nymphomaniac II' hören wir mehr von den Erweckungserlebnissen der Sexsüchtigen und erfahren, wie es zu …

'Ich bin ein böser Mensch', hatte Joe im ersten Teil erklärt, in Lars von Triers 'Nymphomaniac II' hören wir mehr von den Erweckungserlebnissen der Sexsüchtigen und erfahren, wie es zu dieser harten Selbstdiagnose kommt. Die Beichte nimmt ein jähes Ende, weder Rettung noch Erlösung sind zu erwarten.

Joe beichtet Seligman weiterhin ihre sexgetränkte Lebensgeschichte, während der belesene Junggeselle wie im ersten Teil mit bildungsgesättigten Vergleichen aufwartet. Wir hören mit an, wie die Sexsüchtige bewusste Reiz- und Reaktionssteigerungen ihres Begehrens durchläuft. Im ersten Teil geht es noch um eine Tüte Schokodrops als Belohnung der Männerjagd, und obwohl Joe Männer unglücklich macht und Ehen zerstört, wirken die Sexeskapaden vergleichsweise unschuldig und spielerisch. In der Fortsetzung wird Joe von ihrer Sexsucht immer weiter an den eigenen psychischen Abgrund von Egoismus und Selbsthass geführt. Ein „Gefühl“ ist verloren gegangen, die blanke Einsamkeit ist der stille Herrscher in ihrem Kopf.

Eine Schlüsselszene steht am Anfang des zweiten Teils. Joe erlebt mit zwölf Jahren einen Orgasmus in der Natur, in dessen Schwebezustand ihr zwei Frauenfiguren (Promiskuität und Hurenhaftigkeit symbolisierend) erscheinen. Ihre sexuellen Kontakte verbinden sich ab hier definitiv mit überwältigenden Schuldphantasien. Beichtvater Seligman sagt im ersten Teil „Wenn man Flügel hat – warum dann nicht fliegen“ und versucht Joe die Schuldgefühle zu nehmen. Doch Lars von Trier hat anderes mit ihr vor. Der Regisseur stürzt sie immer weiter in die selbstzerstörerische Verzweiflung hinein, lässt sie zwischen fehlgeschlagenen Therapien, Masochismus und weiteren Sexexzessen zu Grunde gehen und führt im allegorischen Setting der Beichte auf düstere Art zu Ende, was er begonnen hat. Wenn jemand Flügel hat – warum ihn nicht abstürzen lassen?

Lars von Trier zwingt den Zuschauer in all seinen Filmen, genau und lange auf das zu Geschehen zu blicken. Er fordert dieselbe Rücksichtslosigkeit des Blicks ein, mit der er selbst die Hoffnung einer reinigenden Wirkung verbindet, als könne die reine Gründlichkeit und Strenge der Beobachtung die Welt von Sentimentalitäten und Illusionen befreien. Die Reinigung ist keine katholische oder moralische, sondern eine des Verstandes.

Kunst, Pornographie, Schrott, Meisterwerk – auch der zweite Teil von Nymphomaniac wird die Gemüter erhitzen. Am Brandbeschleuniger Sex kann es nicht liegen: Trotz der Fülle an therapiewürdigen Haltungen zum Sex und trotz der Explizitheit der Körperlichkeit wirken die Sexszenen filmisch gesehen seltsam wirkungslos. Allein durch die effektvolle Aneinanderreihung überträgt sich hier der Rausch und lässt Assoziationen beim Zuschauer sprießen (wahlweise nach oben oder nach unten, bei manchen sogar nach rechts oder links). Ein Hinweis darauf, dass Lars von Triers Film mehr von den Assoziationen lebt, die er auslöst, als von den eigenen Bildern, Figuren oder Geschichten.

Lars von Trier geht es dabei nicht einfach darum, Lust und Begehren mit Schuld und Strafe zu konnotieren – so wie es seine Protagonistin Joe gerne hätte. Die Rede vom katholischen Zuchtmeister ist nicht nachvollziehbar. Eher sucht Lars von Trier eine Form von Selbstdezentralisierung, in der radikalen Abkehr von allem, was die Realität mit Sinn und Bedeutung überhöht. Nicht das Begehren eines Menschen ist sein schlimmstes Gefängnis, sondern die falschen Vorstellungen davon. Dass es trotzdem keine Rettung aus den selbsterzeugten Käfigen gibt, ist bei Lars von Trier auch keine Überraschung mehr.

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Molière auf dem Fahrrad

(F 2013, Regie: Philippe Le Guay)

Misanthropische Spiegelungen
von Wolfgang Nierlin

„Ich will nicht angeschlossen werden, ich bin unabhängig“, verteidigt Serge Tanneur (Fabrice Luchini) seine stinkende Senkgrube gegenüber dem Ansinnen eines entnervten Bautrupps, seine Abwässer in die öffentliche Kanalisation zu leiten. …

„Ich will nicht angeschlossen werden, ich bin unabhängig“, verteidigt Serge Tanneur (Fabrice Luchini) seine stinkende Senkgrube gegenüber dem Ansinnen eines entnervten Bautrupps, seine Abwässer in die öffentliche Kanalisation zu leiten. Der ehemals erfolgreiche Schauspieler, der seit drei Jahren keine Engagements mehr angenommen hat, lebt zurückgezogen in einem idyllischen, aber leicht heruntergekommenen Haus auf der Île de Ré. Von seinem Metier und den Menschen enttäuscht, die ihn in seiner depressiven Phase fallen ließen, behauptet er eigensinnig seine Freiheit und verbringt seine Tage mit Puzzlespielen und erotischer Malerei. Wie seine Lieblingsfigur Alceste aus Molières „Der Menschenfeind“ hasst Serge Lüge und Heuchelei, die unter Schauspielern wohl besonders ausgeprägt sind. Seine für Eitelkeit anfällige Berufsgruppe sei „voller Ratten“.

Da trifft es sich ebenso gut wie schlecht, dass in dieser Situation Serges früherer Kollege Gauthier Valence (Lambert Wilson) aus heiterem Himmel auftaucht, um dem misanthropischen Einsiedler ausgerechnet die Mitwirkung in einer Inszenierung von Molières „Der Menschenfeind“ vorzuschlagen. Die Fugen und Wendungen im Drehbuch zu Philippe Le Guays Film „Molière auf dem Fahrrad“ („Alceste à bicyclette“) sind mitunter allzu konstruiert. Da es sich jedoch um eine französische Komödie mit ernstem Unterton handelt, die hauptsächlich vom Spiel ihrer prominenten Darsteller und dem Witz geistreicher Dialoge lebt, ist man gewillt, über erzählerische Forciertheiten und plakative Deutlichkeit hinwegzusehen. Natürlich reagiert Serge gemäß seines kritischen Charakters zunächst ablehnend auf den Vorschlag Gauthiers, ist zugleich aber geschmeichelt, kompetent und neugierig genug, um sich auf eine mehrtägige Leseprobe einzulassen.

Diese entwickelt sich zu einem Schauspieler- und Rededuell zweier ungleicher Charaktere, die sich in wechselnden Rollen im Stück widerspiegeln. Dabei geht es nicht zuletzt um Freundschaft, Liebe und Vertrauen, denn der beliebte TV-Serien-Star Valence und der querköpfige Aussteiger Tanneur sind jeder für sich auch auf den jeweils anderen angewiesen. Darüber hinaus nutzt Philippe Le Guay die Figurenkonstellation um neben einem Blick auf das Handwerk des Schauspielers die hitzigen ästhetischen Debatten über die „richtige Darstellung“ von Klassikern zu vermitteln. Der rigorose Traditionalist Serge mit seiner Verteidigung des Alexandriners und damit der musikalischen Struktur des Stücks gerät diesbezüglich immer wieder heftig mit dem „Aktualisierer“ Gauthier aneinander. Was die beiden aber wirklich trennt und letztlich in die Rollen von Molières Stück zwingt, ist ihr an unterschiedlichen Lebenserfahrungen gewachsenes Naturell. Selbst oder gerade im Spiel können die Figuren nicht über ihren Schatten springen, weil ihr Leben die jeweilige Interpretation des Stücks beglaubigt.

Nymph()maniac 2

(DK / B / F / D / GB 2013, Regie: Lars von Trier)

Die Schweine sind immer die Männer
von Andreas Busche

„Die Nymphomanin und die Jungfrau“ wäre ein passender Untertitel für den zweiten Teil von Lars von Triers pornografisch offenem Großwerk „Nymph()maniac“, das in diesem Frühjahr in vielen Formaten (je nach …

„Die Nymphomanin und die Jungfrau“ wäre ein passender Untertitel für den zweiten Teil von Lars von Triers pornografisch offenem Großwerk „Nymph()maniac“, das in diesem Frühjahr in vielen Formaten (je nach nationaler Befindlichkeit) und ganz unterschiedlichen Tonalitäten (je nach Erzählmodus) weltweit in die Kinos kommt. In Deutschland muss man sich mit der insgesamt vierstündigen Version (zwei Filme á zwei Stunden) begnügen, die der Regisseur, so ist am Anfang von „Nymph()maniac Vol. 1“ zu lesen, allerdings nicht autorisiert haben will. Man darf sich sicher sein, dass auch diese öffentliche Äußerung – genauso wie die zu Werbezwecken angeheizten Spekulationen um echte Sexszenen und Genitalprothesen – nicht mehr als eine Nebelkerze ist, die von Trier als Ablenkungsmanöver gezündet hat.

Nach dem ersten Teil, der seit Februar in den Kinos läuft, hat sich der Rauch nun gelichtet. Zum Vorschein kam ein für von Triers Verhältnisse erstaunlich gemäßigter Film (insofern man den Anblick von steil in die Kamera erigierten Schwänzen und Blow-Jobs in Nahaufnahme nicht schon als Provokation empfindet), der sich darüber hinaus dem gesellschaftlichen Diskursschauplatz „Pornografie“ mit einer selten gewordenen Haltung nähert: Humor. Schon der Vorgänger „Melancholia“ war ja eine verkappte Komödie über menschliche (Un-)Sitten und spätkapitalistische Einsamkeit. Mit komischen Abschweifungen verschafft sich von Trier in „Nymph()maniac“ immer wieder Distanz zu seinen Bildern und distanziert sich damit auch von moralischen Standpunkten. Es ist vielmehr die weibliche Hauptfigur Joe, gespielt von Charlotte Gainsbourg, die das moralische Urteil über ihre Biografie längst gefällt hat: „Ich bin ein schlechter Mensch.“

Diesem Werturteil setzt von Trier eine nicht immer ganz ernst gemeinte und im Verlauf des Films von Joe selbst wiederholt desavouierte Lesart entgegen: den Rationalismus des verknöcherten Intellektuellen, der zudem auf den lächerlichen Namen Seligman hört. Von Trier unterläuft mit solchen relativierenden Manövern permanent sein eigenes Erzählkonstrukt. Stellan Skarsgard spielt dieses molchartige Wesen, das ein Leben in der Dunkelheit seiner Privatbibliothek führt, als allwissenden Kommentator, der die Selbstbezichtigungen der geprügelten und achtlos in einem Hinterhof zurückgelassenen Frau mit wenig alltagstauglichen Metaphern aus der Harmonielehre, der Kunst des Fliegenfischens und der Mathematik zu relativieren versucht.

Seligmann erweist sich aber auch in anderer Hinsicht als ein Mensch, wie Joe noch keinem zuvor begegnet ist: Er ist asexuell und damit unfähig, die kurzen, geilen Episoden aus dem Leben dieser modernen Scheherazade (Joe erzählt ihre 1001 Geschichten in einer einzigen Nacht) in etwas anderes als reizlose Analogien zu übersetzen. Joe ist in der schwärzesten Stunde ihres Lebens dem perfekten Mann begegnet. In der Gegenwart von Seligman, dem geduldigen und verständnisvollen Zuhörer, kann sie ihre frivolen Begehren noch einmal in lustvoll ausgeschmückten Rückblenden ausleben, ohne sich in körperliche Abhängigkeiten zu begeben.

Die pornografischen Bilder, die von Trier zur Illustration von Joes Sexbiografie abruft, sind allerdings kein Überschuss dieser Erzählung, sondern ihre Essenz – womit die um gut eine Stunde kürzere Version von Triers ursprüngliche Intention ad absurdum führt. Denn Joes Lust-Prinzip, um das sich die acht Kapitel von „Nymph()maniac“ drehen, will eben nicht bloß analysiert, verstanden (beziehungsweise missverstanden) und kategorisiert werden. Es soll unbedingt auch erfahrbar werden. Die Zuschauer treten gewissermaßen in eine Dreiecksbeziehung mit den beiden Protagonisten, sie nehmen – anstelle des für sexuelle Reize unempfänglichen Seligman – die Rolle des Voyeurs ein.

Von Trier wiederum unterläuft die Blicklogik des Pornofilms, indem er seine Darsteller mit Sexprothesen agieren lässt, was auch als erzählerischer Verfremdungseffekt zu verstehen ist. So entkoppelt von Trier in „Nymph()maniac“ die Pornografie von ihrer reinen Waren- und Körperökonomie und transformiert sie in eine gewaltige Erzählmaschine. Denn im Grunde produzieren Pornografie und Nymphomanie (eine schöne literarische Verklärung ihres klinischen Pendants, der Sexsucht) lineare Erzählungen, beide basieren auf dem Prinzip der Serialität. Das Ausleben der Begierde wird zur Ersatzhandlung, deren Lustgewinn auf der stetigen Variation eines Reizmusters beruht.

Ähnlich sind auch die beiden Teile von „Nymph()maniac“ strukturiert. Während der erste Film noch spielerisch die Möglichkeiten der sexuellen Emanzipation mit einer jüngeren Joe (gespielt von Stacy Martin) austestete, kippt im zweiten Teil der promiskuitive Lebensentwurf seiner weiblichen Hauptfigur ins Autodestruktive. Martin hat nur noch einen Kurzauftritt, dann übernimmt Gainsbourg auch in den Rückblenden die Rolle Joes. Das Herumvögeln während ihrer Sturm-und-Drang-Jahre und die Ehe mit ihrem einstigen Deflorateur Jerôme (Shia LaBeouf) hat sie in eine Sinn- und Triebkrise gestürzt. Ihr Körper ist zu abgestumpft für Orgasmen, außereheliche Triebbefriedigung (mit dem ausdrücklichen Einverständnis des Ehemanns) lässt sie in immer aussichtslosere Situationen schlittern.

Sie wendet sich an einem professionellen SM-Praktiker (Jamie Bell) und sucht Sex mit „gefährlichen Männern“ von der Straße: afrikanischen Migranten, die Joe mit Hilfe eines Dolmetschers in ein Hotelzimmer lockt und dort dann prompt in einen Streit darüber verfallen, wer von ihnen welches Loch der Frau – wie Joe es formuliert – füllen darf. Die Absurdität der Einstellung – Gainsbourgs gelangweiltes Gesicht eingepfercht zwischen den sichtlich erregten Männerkörpern – unterläuft den inhärenten Rassismus dieser Sexfantasie.

Von Trier erweist sich mit „Nymph()maniac“ als durchaus lernfähig. War „Antichrist“, der erste Teil seiner Depressions-Trilogie, noch durchzogen von misogynen Motiven und sexistischen Projektionen, ist „Nymph()maniac“ sein (krudes) feministisches Manifest. Denn der Begriff Nymphomanie beinhaltet eine Programmatik. Ähnlich wie die Melancholie in von Triers letztem Film ist er nicht nur als literarische Referenz zu verstehen, sondern auch als eine Form semantischer Aneignung – und damit eine Absage an die normativen Kategorien der Medizin/Gesellschaft. „Ich liebe meine Fotze und meine schmutzige, verkommene Lust!“ proklamiert Joe im zweiten Teil vor einer entsetzten Therapiegruppe. Kontrollverlust als Emanzipationsstrategie. Die Schweine hingegen – und man darf nach der Schlusspointe von „Nymph()maniac“ davon ausgehen, dass sich von Trier hier nicht ausnimmt – sind immer die Männer.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: KONKRET 04/2014

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Holy Lola

(F 2004, Regie: Bertrand Tavernier)

Im Land des Lächelns und der gebrochenen Herzen
von Wolfgang Nierlin

Sanft gleitet die Kamera über bewaldete Bergrücken und stille Täler, stimmungsvoll unterlegt mit Musik von Henri Texier. Dann bewegt sie sich durch ein renoviertes altes Steinhaus. Hier, an einem abgeschiedenen …

Sanft gleitet die Kamera über bewaldete Bergrücken und stille Täler, stimmungsvoll unterlegt mit Musik von Henri Texier. Dann bewegt sie sich durch ein renoviertes altes Steinhaus. Hier, an einem abgeschiedenen Ort in der Auvergne, leben der Landarzt Pierre Cessac (Jacques Gamblin) und seine Frau Géraldine (Isabelle Carré). Aber das Zuhause bleibt vorerst ein Versprechen, das den Film rahmt und seine Handlung kontrastiert. Das seit elf Jahren kinderlose Ehepaar befindet sich nämlich auf einer Reise nach Kambodscha in der Hoffnung, dort ein Kind adoptieren zu können. In dem vorübergehend verwaisten Landhaus ist das Kinderzimmer bereits eingerichtet.

Das Verkehrschaos in den vom Monsunregen überfluteten Straßen der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh markiert einen schroffen Gegensatz zur Eröffnungssequenz: Die erwartungsvolle Ankunft von Pierre und Géraldine im „Land des Lächelns und der gebrochenen Herzen“ gleicht einem Kulturschock. Fast naiv und von exotischer Faszination geblendet, verlaufen ihre ersten Begegnungen im fremden Land, die bald auf den Boden der Tatsachen geholt werden. Denn fortan sind sie konfrontiert mit Sprachproblemen, Mentalitätsunterschieden, einer schier undurchdringlichen Bürokratie, Korruption und einer Lebenswirklichkeit, die noch von den Folgen des Bürgerkriegs gezeichnet ist. „Einen Film über Menschen zu machen, die sich in ein Land katapultiert finden, von dem sie keinen blassen Schimmer haben“, war deshalb auch das ursprüngliche Interesse Bertrand Taverniers hinsichtlich seines neuen Films „Holy Lola“.

Auf der Suche nach einem Kind schickt der französische Meisterregisseur seine Protagonisten auf eine zermürbende, von Rückschlägen gekennzeichnete Odyssee durch Waisenhäuser. Immer wieder wird ihre übergroße Sehnsucht enttäuscht, mündet ihr ehrgeiziges Streben in banger Ungewissheit. „Kinder fallen nicht vom Himmel“, sagt man ihnen, während ihr Warten immer perspektivloser zu werden scheint und das Gefühl ohnmächtiger Abhängigkeit ihre Nerven aufreibt. So kommt zum psychischen Trauma der Kinderlosigkeit das emotionale Drama höchst wechselvoller Gefühlserfahrungen, die die Liebesbeziehung des Paars einer harten Prüfung unterziehen. Die Zeit, die dabei vergeht, setzt auf mehreren Ebenen einen Lernprozess in Gang: das allmähliche Vertraut-Werden von Géraldine und Pierre mit einer fremden Kultur, mit sich selbst und ihrem fast panischen Kinderwunsch, schließlich und zu guter Letzt mit dem Kind selbst.

„Holy Lola“ erzählt vom Wachsen der Liebe angesichts von Entbehrungen. Indem er seine Helden Tonbandprotokolle an das noch unbekannte Kind richten lässt, imaginiert er die angstvollen und freudigen Momente ihrer Suche als Schwangerschaft. Innere Anspannung und äußere Spannungslosigkeit – ein paradoxer Stillstand in unausgesetzter Bewegung – treten dabei in eine wechselvolle Beziehung. Mit einer Mischung aus fiktiven und realen Elementen, eingefangen mit einer teilnehmenden Kamera, verfolgt Tavernier aber noch eine andere Absicht: Die Relativität von Erfahrung in Abhängigkeit ihrer kulturellen und geschichtlichen Voraussetzungen deutlich zu machen und dabei Freud und Leid in ein ausgewogenes Gleichgewicht zu setzen. Nur am Rande streift „Holy Lola“ dabei moralische Fragen und unwägbare Zufälle, die mit der dargestellten Adoptionspraxis verbunden sind.

Eisenfresser

(D 2007, Regie: Shaheen Dill-Riaz)

Die nichts zu verlieren haben
von Wolfgang Nierlin

„Wo das Meer endet und die Berge sich erheben, findest du göttliche Ruhe“, heißt es zu Beginn von Shaheen Dill-Riaz’ Dokumentarfilm „Eisenfresser“. Bezogen auf den Strand von Chittagong im Süden …

„Wo das Meer endet und die Berge sich erheben, findest du göttliche Ruhe“, heißt es zu Beginn von Shaheen Dill-Riaz’ Dokumentarfilm „Eisenfresser“. Bezogen auf den Strand von Chittagong im Süden von Bangladesch, wo der in Berlin lebende Regisseur seine Kindheit verbrachte, klingt das wie eine ferne Erinnerung an ein längst verlorenes Paradies. Denn der wegen seiner Wassertiefe und Länge ideale Küstenabschnitt am Golf von Bengalen ist längst zur größten Abwrackzone der Welt geworden. Hier, in etwa fünfundzwanzig Werften, werden von einem Heer von Arbeitern unter primitivsten Bedingungen Ozeanriesen aus aller Welt zerlegt und verschrottet. Dabei ist der Zivilisationsmüll reicher Länder zu einem wichtigen Wirtschaftszweig geworden und deckt achtzig Prozent des im Land benötigten Stahlbedarfs.

„Die Werftarbeit ist nur für diejenigen, die nichts zu verlieren haben“, sagt ein erfahrener Abwracker. Und das sind vor allem die Saisonarbeiter aus dem armen, von Hungernsnöten geplagten Norden, die sich als Eisen- und Seilträger für einen Sklavenlohn von etwa 1,30 Dollar pro Tag verdingen. Etwas mehr verdienen die Schweißer, die ständig den tödlichen Gefahren durch giftige Dämpfe, Ölbrände und Explosionen ausgesetzt sind. „Hier musst du immer Glück haben“, sagt einer von ihnen. Aber auch die schwere, körperlich strapaziöse Arbeit der Träger, die sich ohne Schutzkleidung und Werkzeug durch Schlamm und Dreck schleppen, birgt ihre Gefahren. Immer wieder werden sie von Vorgesetzten barsch angetrieben, immer wieder sind sie der Erschöpfung nahe. Tausende von ihnen, oft noch Kinder, arbeiten unter unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen im Abwrack-Sektor.

Saheen Dill-Riaz’ sehr persönlicher, Anteil nehmender Film handelt vom Überleben in einer lebensfeindlichen Umwelt. Er folgt individuellen Schicksalen und konzentriert sich dabei auf die durch harte Arbeit und gewissenlose Ausbeutung verursachte Not. Zugleich zeigt der Film die Kraft der betroffenen Menschen, die sich trotz allem ihren Mut und ihre natürliche Fröhlichkeit bewahrt haben. „Eisenfresser“, der den Blick der Unterdrückten einnimmt, ist aber auch ein Film über globale Wechselwirkungen, soziale Hierarchien und davon abhängende unterschiedliche Perspektiven. So sagt einer der Bosse, die Initialen des Firmennamens PHP stünden für „Peace, Happiness and Prosperity“, also für Frieden, Glück und Wohlstand“. Der blanke Hohn! Und doch wohl ernst gemeint.

Viva la Libertà

(I 2013, Regie: Roberto Andò)

Überraschend nachdenklich
von Wolfgang Nierlin

Die Räume der Macht sind aus gemeißeltem Stein und kaltem Marmor, bestückt mit Gegenständen, in denen die Geschichte schwer und behäbig wohnt. Vor allem aber sind sie so weitläufig, dass …

Die Räume der Macht sind aus gemeißeltem Stein und kaltem Marmor, bestückt mit Gegenständen, in denen die Geschichte schwer und behäbig wohnt. Vor allem aber sind sie so weitläufig, dass man sich in ihnen verlieren kann, umgetrieben vom langen Nachhall der Schritte. Nicht anders ergeht es dem angeschlagenen italienischen Politiker Enrico Oliveri (Toni Servillo), Vorsitzender der linken Assembla Nazionale und Oppositionsführer im Parlament: Da die Umfragewerte seiner Partei ziemlich schlecht sind, macht man kurzerhand Oliveri als deren Verkörperung dafür verantwortlich. Bei einer Parteiversammlung wird er zudem von einer eingeschleusten Gegnerin wüst und medienwirksam beschimpft. Der stattliche, kultiviert und besonnen auftretende Mann wirkt innerlich leer und ausgebrannt. Tatsächlich schleppt er sich mit Antidepressiva durch seinen straff durchorganisierten Tag, stets begleitet von seinem umtriebigen Sekretär Andrea Bottini (Valerio Mastandrea). Doch eines späten Abends, seine Frau hält sich gerade in China auf, ist plötzlich Schluss: Oliveri zieht die Notbremse und taucht ohne weitere Angaben unter.

Was überraschend nachdenklich wie eine typische Aussteiger-Geschichte beginnt, entwickelt sich schon bald zu einer höchst geistreichen Politsatire über die Funktionsweisen politischer Macht. Der italienische Regisseur und Autor Roberto Andò, der mit seinem prominent besetzten Film „Viva la libertà“ einen eigenen Roman („Il trono vuoto“) adaptiert hat, implementiert dieser nämlich das Motiv des Doppelgängers, um etwas über das Wesen und die Krisen der Politik, vor allem aber über die Masken der Macht zu erzählen. Weil Politik die Realität erfindet, bewegt sie sich auf einem schmalen Grat zwischen Sein und Schein, Wahrheit und Lüge. So obliegt es Oliveris Zwillingsbruder Giovanni Ernani (Toni Servillo in einer ebenso subtilen wie nuancenreichen Doppelrolle), einem unlängst aus der Psychiatrie entlassenen Philosophieprofessor, der ein Buch mit dem bezeichnenden Titel „Die Illusion, zu leben“ geschrieben hat, „ein Klima der Veränderung“ (Andò) in die ebenso verkrustete wie darbende Politik zu tragen und dabei auf unkonventionelle Weise ihre Spielregeln neu zu definieren.

„Die Angst ist die Musik der Demokratie“, lautet einer jener erfrischend anders klingenden Sätze, mit denen der vermeintlich „verrückte“, wahlweise „gedopte“ Ernani das Establishment aufschreckt und das Wahlvolk aufhorchen lässt. Bald fliegen dem umjubelten Redner von allen Seiten die Sympathien zu, als erwachte das politische Italien aus einer Schockstarre; und die Umfragewerte für „seine Partei“ schnellen steil in die Höhe. Der Doppelgänger hat Erfolg, obwohl er Journalistenfragen mit Paradoxien kontert oder in die Aporie überführt und schließlich ganz offen bekundet, keine Lösungen für die anstehenden Probleme zu haben. Was derweil nur der Zuschauer als Komplize des Filmemachers weiß: Dass sich der verschwundene Oliveri bei seiner früheren Geliebten Danielle (Valeria Bruni Tedeschi) aufhält, die beim Film arbeitet. Deren Mann, ein renommierter Regisseur namens Mung (Eric Trung Nguyen), weist einmal auf die Ähnlichkeiten von Politik und Film hin: „Zwei Welten, in denen Bluff und Genie koexistieren.“

In einer durchgängigen, manchmal etwas zu eng und offensichtlich verfugten Parallelmontage inszeniert Roberto Andò diese Spiegelbildlichkeit schließlich auch als Aspekte ein und derselben Person. In vielen Details nähern sich so die Zwillingsbrüder einander an, ohne sich dabei zu begegnen oder auch nur miteinander zu sprechen; und in dieser Ähnlichkeit sind sie am Ende kaum noch zu unterscheiden. Souverän und mit leichter Hand entfaltet Andò die Widersprüche und Gemeinsamkeiten einer Identität als Potential zur Verwandlung. Dass daraus wiederum auch eine gesellschaftliche Transformation erwachsen könnte, bleibt aber wohl eher eine schöne, jedenfalls liebenswerte Utopie.

The Grand Budapest Hotel

(USA / D 2014, Regie: Wes Anderson)

Bitte nicht stören
von Marit Hofmann

Alles so schön bunt hier. Beim Einchecken im Grand Hotel Budapest kommen wir aus dem Staunen nicht mehr heraus: Das Interieur betört mit Farben und Formen, die opulente und bis …

Alles so schön bunt hier. Beim Einchecken im Grand Hotel Budapest kommen wir aus dem Staunen nicht mehr heraus: Das Interieur betört mit Farben und Formen, die opulente und bis ins kleinste Detail perfekte Ausstattung ein Genuss, das Personal so aufgebrezelt, dass es kaum wiederzuerkennen ist.
Unser Aufenthalt ist turbulent, wie auf einer Schlittenfahrt auf einer Piste mit Sprungschanze rasen wir durch die Filmgeschichte und erleben unter anderem den absurdesten Gefängnisausbruch aller Zeiten. Die Störungen im Betriebsablauf fallen aber harmlos aus. Selbst als Bilderbuchfaschisten das Hotel besetzen, gruselt’s uns kein bisschen, mit ein wenig Glück kann man den Bösewichten in diesem Film trickreich entkommen.

'Ich liebe Nostalgie', sagt Grandhotel-Director Wes Anderson, der vermeintliche Glanz Alteuropas zwischen den Weltkriegen hat es ihm angetan. Er trauert der 'Welt von gestern' nach, als der Page noch spurte und der Concierge wusste, was guter Service ist. Unpersönlich bleiben unsere Bekanntschaften in dieser ermüdend überbordenden Märchenkulisse, wir sind ehrlich gesagt auch gar nicht so versessen darauf, dass der damenbetörende Concierge, der in lebensbedrohlichen Situationen immer einen coolen Spruch auf den Lippen hat, auf unser Zimmer kommt.

Mit Wes Anderson waren wir bereits Tiefseetauchen, auf Selbsterfahrungstrip in Indien, im Pfadfinderlager und jetzt also im zunächst prächtigen, schließlich geschmackvoll abgewrackten Grandhotel. Es war schrecklich amüsant, aber nun sehnen wir uns zurück ins Wohnzimmer der Royal Tenenbaums, in dem man seine Neurosen noch pflegen konnte.
Auschecken bitte. Trinkgeld für den loyalen Lobbyboy. Nein, wir haben nichts aus der Minibar genommen, der Film ist schuld, dass wir ein wenig beschwipst wirken.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: KONKRET 3/2014

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Monuments Men – Ungewöhnliche Helden

(USA 2014, Regie: George Clooney)

Terz, sentimental
von Ulrich Kriest

Diese Geschichte musste einfach erzählt werden! Warum? Nun ja, das wiederum scheint niemandem so richtig klar gewesen zu sein, weshalb der Film „The Monuments Men“ trotz größtem Star-Auftrieb (Clooney, Damon, …

Diese Geschichte musste einfach erzählt werden! Warum? Nun ja, das wiederum scheint niemandem so richtig klar gewesen zu sein, weshalb der Film „The Monuments Men“ trotz größtem Star-Auftrieb (Clooney, Damon, Goodman, Murray, Blanchett, Dujardin) nie so recht Tritt fast, sondern mit jeder Szene neu zu entscheiden hat, was er denn nun sein will: eine Burleske, ein Bildungsfilm, eine Hommage, eine Kriegstragikomödie, ein Propagandafilm, ein Buddy-Movie oder ein Pastiche aus all dem, erzählt in der Manier eines klassischen Hollywoodfilms jener Zeit, als die Amerikaner noch Ideale hatten, für die sich einzutreten lohnte. Ungebrochen, stets und gern mit einem coolen Lächeln auf den Lippen, aber manchmal auch eine Terz sentimental. They died with their boots on.

Worum geht es? Zum Beispiel: die Welt retten, sie mit Waffengewalt vom Faschismus befreien, Nazis jagen. Oder: die kulturellen Artefakte, hier in der synchronisierten Fassung gerne auch „Errungenschaften“ genannt, davor bewahren, dabei a) vom Waffengang in Mitleidenschaft gezogen zu werden oder b) in die »falschen« Hände zu geraten. Natürlich dabei gerne rauchend, with a smile on their faces – und manchmal, in stillen Stunden, wenn es doch einmal Tote gegeben hat, danach fragend, ob es sich denn lohnt, für ein Kunstwerk sein Leben zu geben. Letztere Frage gibt den Kammerton des Films „The Monuments Men“, der neuen und ziemlich missglückten Regiearbeit von George Clooney, vor, wird immer mal wieder im Verlauf des Films gestellt und unmissverständlich beantwortet.

Die Geschichte, die erzählt werden musste, ist freilich schnell erzählt, zumal sich der Film selbst nicht über Gebühr für sie interessiert. Übrigens auch nicht für die Kunst, die hier bestenfalls als MacGuffin fungiert und die Geschichte in Trab hält. Deren Ausgangspunkt ist allerdings etwas frivol. Mitten im Zweiten Weltkrieg hält der Kunsthistoriker Frank Stokes (Clooney) dem US-Präsidenten Roosevelt einen Diavortrag über Kollateralschäden an der Kultur, die der moderne Krieg mit sich bringt. Man müsse schnell aktiv werden, damit nach dem Krieg noch etwas übrig sei, für das sich der Einsatz gelohnt habe. Es geht um Zerstörung historischer Kulturdenkmäler durch Bombardierung oder Kampfhandlungen, aber auch um Kunstraub seitens der kunstversessenen Nazis, die sich in ganz Europa die Exponate für ein gigantisches Führer-Museum in Linz zusammenrauben. Ethische und kulturpolitische Bedenken werden in schöne Sentenzen zum Mitschreiben verpackt: Wem gehört die Kunst? Den Menschen! Allen Menschen! Welche Funktion hat die Kunst? Sie sorgt für Identität und bleibende Erinnerung, ist gewissermaßen der Fels im Fluss der Zeit. Der Vortrag zeitigt Wirkung. Der Präsident kontert: ob er, Stokes, denn seinerseits bereit sei, diesen Job zu tun, schließlich seien die jungen Kollegen längst im Fronteinsatz. Klar ist er und die Rekrutierung seiner eigenwilligen Mitarbeiter fällt dann so aus, als hätten wir das Prequel des Films im Kino verpasst. Lauter ältere Herrschaften, die bei der ersten Begegnung so tun, als hätten sie bereits so manches Abenteuer gemeinsam bestanden. Überraschung. Grinsen. Spruch. „Lust, ein bisschen im Krieg mitzumischen?“ Eigentlich ist man ja längst zu alt für den Kriegseinsatz, zu übergewichtig oder überhaupt ein notorischer Alkoholiker mit schlechtem Leumund.

Die Rettung der Kunst eröffnet so gewissermaßen überraschend eine letzte Chance im Nachrückverfahren doch noch uniformiert seine patriotische Pflicht zu leisten. Nach der erfolgreichen Landung in der Normandie beginnt die Arbeit der Monuments Men, wobei das Verständnis der regulären Truppen für das Anliegen dieser seltsamen Typen sich pragmatisch in Grenzen hält. Obwohl der Film nur wenige Protagonisten hat, kommt er beim Erzählen der diversen Handlungsfäden ins Stocken. Es fallen auch schon mal ein paar Schüsse, aber der Krieg erscheint hier doch eher als mal lässige, mal absurde Sommerfrische, bei der sich Clooney & Co. ihre coolen One-Liner („Was tust du da?“ „Ich bin auf eine Landmine getreten.“ „Warum?“ „Was tut er da?“ „Er ist auf eine Landmine getreten.“ „Warum?“) um die Ohren hauen, während sie zielstrebig gen Osten ziehen: nach Paris, Brügge, Aachen, Siegen, Merkers, Heilbronn bis nach Altaussee in Österreich, immer auf der Suche nach zu rettender Kunst.

Damit sich der Zuschauer besser orientieren kann, werden hier nur die big names gehandelt: Picasso, Monet, Vermeer, Rembrandt, Michelangelo und der Genter Altar. Es ist ein Rennen gegen die Zeit, denn die Nazis klauen nicht nur für das geplante Führer-Museum, sondern gerne auch einmal für die eigenen vier Wände. Was auf dem eiligen Rückzug nicht mitgenommen werden kann, wird auch schon mal – Stichwort: Nero-Befehl Hitlers – vernichtet. Auf der anderen, allerdings dramaturgisch stark funktionalisierten Seite drängen von Osten auch noch die Russen heran, die sich für ihre Kriegsopfer Kunstwerke als Reparationen sichern. Klare Sache: von Sowjets ist keine Einsicht in das humanistische Erbe zu erwarten. So reiht sich munter und untermalt wohl von der grauenhaftesten, manipulativsten Filmmusik seit Dezennien (Alexandre Desplat) Anekdote an Anekdote: der Krieg weit weg, der Frontverlauf fluid, wenn Deutsche als Gegner auftauchen, sind es entweder irregeleitete Kinder oder sinistre, unverbesserliche Nazis, die dann allerdings recht mühelos zur Strecke gebracht und in Rededuellen symbolisch »ausgelöscht« werden können.

Spannend ist das Ganze nicht, aber ein paar Szenen bleiben in Erinnerung. Da ist der junge, traumatisierte deutsche Soldat, der eine Zigarette angeboten bekommt und schon mal unsicher eine Grundlage für die bilateralen Beziehungen für die Zukunft anbietet: „John Wayne?“ Das ist ein Angebot, jenseits der High Art, zumal der Film ja seinerseits längst „Red River“ und „Ich war eine männliche Kriegsbraut“ nachspielt. Mit Matt Damon als Montgomery Clift und Bill Murray und John Goodman als Walter Brennan. In Paris trifft Damon dann noch auf Cate Blanchett, die eine Kuratorin spielt, die mit den Nazis kollaborierte, aber auch mit der Résistance zusammenarbeitete, um der Kunst willen. Sie ist misstrauisch, dass die Amerikaner hier unter einem Vorwand Schauwerte für ihre eigenen Museen rekrutieren. Aber Damon findet die starke Geste, die Blanchet überzeugt. Er nimmt ein unbedeutendes Gemälde und hängt es in der leeren Wohnung einer deportierten jüdischen Familie dort auf, wo es vorher hing. Als memento mori. Der Holocaust kommt noch zweimal ins Spiel, einmal in Form einer Erinnerung an den jüdischen Großvater, der seinem Enkel nicht erklären wollte, warum Juden in Karlsruhe nicht mehr Rembrandt anschauen durften und dann noch in Form eines Fasses voller Zahngold, wo allerdings die Filmmusik dem Zuschauer dräuend erklären muss, was es damit auf sich hat, weil der Film selbst dafür keinen Ton findet und, ehrlich gesagt, auch keinen Platz hat.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Konkret 3/2014

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The Grand Budapest Hotel

(USA / D 2014, Regie: Wes Anderson)

Brennende Geheimnisse
von Lukas Schmutzer

Seit jeher präsentiert uns Wes Anderson in sich geschlossene Welten, die in Schachteln und Rahmen gedacht sind: Familienhäuser, U-Boote oder Pfadfinderzelte werden da für unsere Augen wie Puppenhäuser geöffnet, um …

Seit jeher präsentiert uns Wes Anderson in sich geschlossene Welten, die in Schachteln und Rahmen gedacht sind: Familienhäuser, U-Boote oder Pfadfinderzelte werden da für unsere Augen wie Puppenhäuser geöffnet, um von Dingen zu erzählen, die stets so reizende wie befremdliche (zumindest aber: verfremdende) Distanz zu unserer eigenen Lebenswelt halten (ich frage mich, ob diese ganz spezifische Art des Erzählens bis zu den Kulissen und Special Effects eines Méliès zurückverfolgt werden kann).

In diesem Stil verschachtelt „Grand Budapest Hotel“ den allmählich schwindenden Glamour und die Adelshierarchien im Zentraleuropa der frühen 30er, aber auch Gefängnisanstalten, deren Parzellierung Ähnlichkeiten mit jenen von Hotels annimmt. Die Schachteln sind dabei nicht nur raumbildendes Formprinzip, sondern auch erzählerisches: Die Haupthandlung wird als eine Geschichte in der Geschichte in der Geschichte in der Geschichte erzählt, ist also selbst vielfach eingepackt, und der Spannungsbogen öffnet auf der Suche nach handlungstreibenden Objekten gemäß jenem Prinzip eine Schachtel nach der anderen, gleich den Häftlingen, die auf ihre regelmäßigen Patisserielieferungen warten. Andernfalls, wenn nichts zu öffnen ist, sind es die Rahmen selbst, die mitsamt ihren Inhalten getauscht werden: Causa Prima des zentralen Konflikts ist das Gemälde eines fiktiven flämischen Meisters, das einen Jungen zeigt, dessen Finger einen Apfel derart zärtlich am Stiele umschließen, dass die Haltung an die pikante Darstellung Gabrielle d’Estrées mit einer ihrer Schwestern erinnert (heute im Louvre zu besichtigen).

Dieser „Junge mit Apfel“ wird dem Concierge des „Grand Budapest Hotels“, Monsieur Gustave H. (Ralph Fiennes) von Madame Desgoffe-und-Taxis (Tilda Swinton, fast nicht wiederzuerkennen), die häufig in besagtem Hotel residierte, vermacht, was den sonstigen Erben ein Dorn im Auge ist. Auf Initiative seines „Lobby Boys“ Zéro Moustafa entwendet der Concierge das Gemälde aus dem Schloss Lutz (bzw. vereinnahmt es rechtmäßig) und hängt an dessen Stelle „entartete“ Darstellungen ähnlich zärtlichen Fingereinsatzes. Dies wird zum Auftakt eines Kriminalfalls und der Aufdeckung einer Verschwörung, in die eine internationale Riege an Stars verstrickt ist.

Selbst Klein- und Kleinstrollen sind in diesem Film wieder mit bekannten Gesichtern besetzt, deren unerwartetes Auftauchen mitunter selbst zu Sensationen werden – wessen sich der Film selbstverständlich zu jeder Zeit bewusst ist und zuweilen mit entsprechendem Leerlauf für die von ihm provozierten Lacher reagiert, diese aber auch ganz und gar nicht weniger kunstfertig mit eiliger Montage unterdrückt („…war das da nicht gerade George Cl…?“). Dass die Darsteller oft auch europäischer Herkunft mit Charme und sichtlicher Spielfreude agieren, muss nicht mehr eigens betont werden. Gerade das deutschsprachige Publikum wird sich freuen, Gesichter der „ihrigen“ zu sehen; Karl Markovics wird z.B. in seiner oscarbewährten Häftlingsrolle erneut ins bildhistorische Gedächtnis eingeschrieben.

Die Figurenkonstellation variiert die wiederkehrenden Themen der Anderson-Filme: Konflikte zwischen den Generationen, genealogische Skandale, junge Liebe entgegen institutioneller Widerstände. Nicht von ungefähr erinnern diese auch an die menschlichen Dramen, die Stefan Zweig am Semmering ansiedelt, in dieser niederösterreichischen Gegend verlorener Grand Hotels. Eine der Schachteln und Rahmen, die von Anderson in seine eigene, fiktive alpine Region gestellt werden, ist dann auch der entsprechende Überlebenskampf an Klippen und Hotelfassaden, in dem sich einige der besagten Konstellationen verdichten und welcher hier den vielleicht süßesten Ausgang der Filmgeschichte erfährt.

Wenn erste Fragen zuletzt beantwortet werden und der letzte Deckel auf das zuerst geöffnete Buch wieder aufgesetzt wird, wird der Zuseher wieder mit dem Gefühl einer eigentümlichen Geschlossenheit der Andersonschen Erzählwelten zurückgelassen; eine Geschlossenheit, die sich trotz – oder gerade wegen, das sei dahingestellt – solch eindeutiger Spuren, die eine Republik Zubrowska, ZZ-Runen auf rosa Grund oder den flämischen Maler Johannes Van Hoytl in die europäische Geschichte zurückweisen, einstellt.

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The Grand Budapest Hotel

(USA / D 2014, Regie: Wes Anderson)

Abwenden von der Realität
von Ilija Matusko

Wenn man sich Wes Anderson als Zeugen eines Verbrechens vorstellen müsste, so würde folgendes Bild passen: Anderson schließt die Augen, dreht sich schnell weg und denkt sich das Geschehen nach …

Wenn man sich Wes Anderson als Zeugen eines Verbrechens vorstellen müsste, so würde folgendes Bild passen: Anderson schließt die Augen, dreht sich schnell weg und denkt sich das Geschehen nach eigenen Regeln nochmal neu aus. Wenn wir nun wissen wollen, was sich zugetragen hat, so müssen wir dem verspielten Geschichtenerzähler in die Parallelwelt seines Kopfes folgen – und hoffen, in der schier unerschöpflichen Phantasie dieses Mannes nicht verloren zu gehen.

Allerdings kennen wir uns in den verschachtelten Gehirnwendungen bereits ganz gut aus. Auch Wes Andersons neuer Film „The Grand Budapest Hotel“ lebt von bunten Bastelkulissen, den geometrischen Spielereien, der minutiös getakteten Choreografie und von den Miniaturfiguren, letztere einzig und allein in seine Welt hineingesetzt, um zwischen rosa Blumentapeten ihre Neurosen und Macken zu züchten. Die Erzählung um das ehemals glamouröse Berghotel und seines legendären Concierges ist in der wiedererkennbaren Erzähl- und Bildästhetik gehalten, die sich bei Anderson im Laufe seiner Filme von einem Stil zum (etwas selbstverliebten) hermetischen Konstruktionsprinzip erhoben hat.

Am Anfang von „The Grand Budapest Hotel“ zieht eine Reihe von Rückblenden die Erzählung aus der Jetztzeit über die sozialistische Ostblocktristesse der 60er bis in die Zwischenkriegszeit der 30er Jahre. Das luxuriöse Hotel steht in seiner vollen Blüte, vor einer weißen Berglandschaft irgendwo in Osteuropa. Hier regiert der Concierge Gustave, ein kultivierter charmanter Mann mit Faible für romantische Lyrik, und weiht Lobby-Boy Zero, der sich jeden Morgen seinen dünnen Oberlippenbart mit einem schwarzen Stift nachzieht, in die Geheimnisse seines Berufsstandes ein. Als Gustaves adlige Geliebte Madame D. ermordet wird, gerät der Concierge als Erbe eines kostbaren Renaissancegemäldes unter Verdacht. Der Sohn der Toten hetzt ihm die Polizei auf den Hals. Es beginnt ein Verfolgungsspiel durch Hotelzimmer, Schlösser, Gefängniszellen und Zugabteile (mit dabei: Ralph Fiennes, Tilda Swinton, Edward Norton, Jude Law, Bill Murray, Willem Dafoe, Adrien Brody, Harvey Keitel, Matthieu Amalric, F. Murray Abraham).

Österreich-Ungarn, die Architektur des 19. Jahrhunderts, deutscher Expressionismus – das alte Europa scheint es Anderson angetan zu haben. Auch wenn das Land „Zubrowka“ ein imaginärer Ort und die „ZZ“ eine fiktive Schutzpolizei ist, so sind die historischen Parallelen leicht zu erkennen. Zum ersten Mal also prallen Andersons Spielzeuglandschaften auf die tragische Weltgeschichte. Es gibt Grenzkontrollen, Leichen und Ermordungen, die „Preußische Grippe“ wird grassieren und der Polizeiterror kündet vom Untergang der Zivilisation durch den Faschismus. Ein Balanceakt zwischen Ironie und historischer Bestürzung, den Anderson mit Bravour meistert. Die Erzählung durchweht trotz der bunten Farben und der witzigen Aufziehmännchen in Uniform eine Trübsinnigkeit, die sich langsam und schwer im Rücken der Zuschauer ausbreitet.

Obwohl die Anderson-Stilmittel langsam aber sicher Abnutzungseffekte zeigen und auch hier die absurde Komik, die man seit „Rushmore“ und „The Life Aquatic with Steve Zissou“ so schmerzlich vermisst, größtenteils ausbleibt, bekommt man als Zuschauer das Gefühl, dass Anderson mit „The Grand Budapest Hotel“ einen Schritt weitergeht. Vielleicht führt uns Wes Anderson mehr an der Nase herum, als wir dachten. Vielleicht sind seine Filme gar keine Marionettengeschichten, gezogen allein durch seinen Sinn für Stil, Komik und Herzschmerz gegen die Institutionen. Denn Anderson macht in seinem neuen Film noch deutlicher, worauf es ihm ankommt: Auf die Ernsthaftigkeit eines Gefühls. Im Falle von „The Grand Budapest Hotel“: Dass etwas schon in dem Moment vorbei war, als wir dachten, es sei noch lebendig gewesen.

Längst verlorene Zeiten also, die es – der Künstlichkeit seiner Nostalgie ist sich Anderson immer bewusst – nie gegeben hat. Der Vorwurf des Eskapismus und des blinden Vergnügens läuft bei diesem Film wie in keinem seiner Filme sonst ins Leere: Dafür sind Andersons Setzungen zu klug, seine Andeutungen zu reflektiert. Man muss das Grauen verstanden haben, um so darüber zu erzählen – auch wenn man es selbst nicht gesehen hat. Wes Anderson will dabei nichts aufdröseln und therapieren. Er hat ein diabolisches Vergnügen daran, Schicht um Schicht an Bildermasse aufzutürmen, um sich bewusst von der Realität abzuwenden. Wir drehen uns gerne mit ihm um.

Shoah durch Erschießen: Einsatz in der Ukraine

(F 2008, Regie: Romain Icard)

Gräber, die sich bewegen
von Michael Schleeh

1941 – nachdem Hitler die Vernichtung des Bolschewismus zum Hauptziel des Nationalsozialismus erklärt hatte und die Wehrmacht im so genannten „Unternehmen Barbarossa“ 1941 die Sowjetunion überfallen und in nur zwei …

1941 – nachdem Hitler die Vernichtung des Bolschewismus zum Hauptziel des Nationalsozialismus erklärt hatte und die Wehrmacht im so genannten „Unternehmen Barbarossa“ 1941 die Sowjetunion überfallen und in nur zwei Wochen die Ukraine eingenommen hatte, nahmen die gefürchteten „Einsatzgruppen“, mobile Sondereinheiten der SS, ihre Arbeit auf. Ihr Ziel: die schnellstmögliche und systematische Ausrottung der ukrainisch-jüdischen Bevölkerung; und damit die Ermordung von Hunderttausenden zusammengetriebener Frauen, Männer und Kinder. Gaskammern wurden dafür eigens gar nicht erst gebaut. Vor den Städten und Ortschaften, gerade so außer Sichtweite, wurden die zusammengetriebenen Juden dazu gezwungen, ihre eigenen Gräber auszuheben um anschließend direkt exekutiert zu werden. Da nicht alle Opfer sofort tot waren, begannen die Gräber sich zu bewegen, wie ein Augenzeuge im Film berichtet. Blut floss in Strömen aus ihnen heraus, bis hinein in den nächsten Fluss.

Der französische Pater Patrick Desbois, der in diesem Film von Filmemacher Romain Icard begleitet wird, spricht mit den noch lebenden Zeugen des Genozids, die zumeist, so grotesk das anmutet, noch nie zu diesen Ereignissen befragt worden waren, die sie als Kinder erlebt und aus nächster Nähe mitverfolgt hatten. Meist war es die kindliche Neugier gewesen, die sie zu den Orten des Schreckens geführt hatte, oftmals wurden sie auch von der SS dazu gezwungen, die Gräber voller Leichen zuzuschütten. Es ist ein verdrängtes und nie gelüftetes Kapitel des Holocaust, das Desbois in jahrelanger Kleinstarbeit aufdeckte, und der Film von Romain Icard dokumentiert die Suche nach der Wahrheit, den Tatorten, den Gräbern.

Die Dokumentation ist eine Montage mehrerer Reisen Desbois‘ in die Ukraine, führt anhand von Archivmaterial in den zeithistorischen Horizont ein und montiert immer wieder die oftmals erschütternden, oftmals verblüffend nüchtern ablaufenden Interviews mit den Zeitzeugen. Da gibt es lange Autofahrten durch Landschaften, die mit ihrer ruralen und dörflichen Idylle in starkem Kontrast zu den Ereignissen stehen, die sie verbergen. Einmal widmet sich der Film auch dezidiert der Ausgrabung eines solchen Massengrabs. Hier sieht man eine lange Grube voller unzähliger ineinander verkeilter Skelette, die von den Helfern und einem Archäologen des Teams ausgegraben werden. Darüber befand sich jahrzehntelang eine grüne Wiese am Fluss, die in ihrer idyllischen Lage, wie als Zeitkapsel, niemals an ihr schreckliches Erbe als Schauplatz der Gräuel hätte denken lassen.

Die TV-Dokumentation ist mit ihren knapp 90 Minuten beinahe ein wenig kurz ausgefallen; gerne hätte man noch mehr über die Arbeit des Teams erfahren, sowie den Erinnerungen der Zeitzeugen gelauscht. Der äußerst sehenswerte Film, der auch formal einer Suche gleicht (auch nach „der Wahrheit“, die immer eine vielgestaltige ist), die an keinem Ziel ankommen kann, huldigt seiner Hauptfigur Patrick Desbois, die mitunter etwas Heldenhaftes bekommt, manchmal etwas zu sehr. Der Film liegt im O-Ton und in Originalfassung vor, also 4:3 Fernsehratio, und ist mit deutschen Untertiteln versehen. Weitere Bonusfeatures sind auf der doch spärlich ausgestatteten DVD bedauerlicherweise nicht vorhanden.

Der Imker

(CH 2013, Regie: Mano Khalil)

Lebendig begraben
von Wolfgang Nierlin

Auch wenn der Titel von Mano Khalils Dokumentarfilm „Der Imker“ dies nahelegt, geht es darin nicht um Bienenzucht. Die Imkerei dient eher als Metapher für das zerrissene und zugleich in …

Auch wenn der Titel von Mano Khalils Dokumentarfilm „Der Imker“ dies nahelegt, geht es darin nicht um Bienenzucht. Die Imkerei dient eher als Metapher für das zerrissene und zugleich in sich ruhende Leben des entwurzelten Kurden Ibrahim Gezer, der hier portraitiert wird. Sein unterschwellig appellierender Blick setzt einen sowohl individuellen als auch politischen Rahmen. Andere Einstellungen zeigen immer wieder seine Hände, seinen Aufenthalt in der Natur und bei Freunden oder aber in jener 1-Zimmer-Wohnung über einer lärmenden Bar, die für den Exilanten in der Schweiz zum neuen Domizil geworden ist. Der 1946 in der Türkei geborene Gezer lebt zwischen zwei Welten, was die Parallelmontage in der Einleitung verdeutlicht: Die Berglandschaft der kurdischen Heimat und diejenige der Schweiz fließen nahtlos ineinander. Trotzdem sagt der stets hoffnungsvolle Menschenfreund mit dem gütigen Gesicht einmal deprimiert: „Ich fühle mich wie lebendig begraben.“

Der 11-fache Familienvater hat dazu allen Grund, denn seine Familie wurde durch den Kurdenkonflikt auseinandergerissen. Zwei seiner Kinder starben als Widerstandskämpfer, andere sitzen im Gefängnis oder sind auf der Flucht, seine traumatisierte Ehefrau brachte sich um. Gezer selbst musste sich jahrelang verstecken, ehe er im schweizerischen Laufen Asyl fand. Dabei verlor er seine 500 Bienenvölker, mit denen er zwischen 10 und 18 Tonnen Honig im Jahr produzierte und die ihm ein gutes Auskommen sicherten. Er sei Imker aus Berufung: „Ich und meine Bienen sprechen die gleiche Sprache. Wir sind Freunde“, sagt Gezer. Immer wieder bewundert er die Klugheit dieser emsigen Tiere und ihr harmonisch geordnetes Leben, das er in Analogie dazu auch gerne für seine eigene Familie gehabt hätte. Stattdessen steckt er in einem Beschäftigungsprogramm für Integration, für das er eigentlich zu alt ist und das ihn von seiner geliebten Imkerei abhält.

Mano Khalil benutzt diesen und andere Konflikte, um seinen Film mit mehreren dramatischen Erzählsträngen auszustatten, deren Inszenierung aber mitunter zu vordergründig auf Bedeutung zielt, ohne die dabei mitgelieferten Botschaften auf ihre Hintergründe hin zu befragen. Das der Spielfilmdramaturgie entlehnte Verfahren bleibt flach, wirkt künstlich und produziert mitunter Längen, in denen die emotionale Suggestion die mögliche Analyse verdrängt. Stärker ist der Film, wo er sich den Einsichten, Erzählungen und Geschichten des Portraitierten überlässt, der sich nach seiner verlorenen Heimat sehnt, durch seine Offenheit und seinen – trotz aller tragischen Erfahrungen – ungebrochenen Lebensmut aber auch neue Freunde gewonnen hat. Ibrahim Gezer glaubt an eine „Gefühlssprache“, seine Leidenschaft für die Bienenzucht bezeichnet er als „süße Krankheit“ und die Natur als „das einzige Paradies“.

Philomena

(GB 2013, Regie: Stephen Frears)

Das verlorene Kind
von Wolfgang Nierlin

Die etwas überkonstruierte Exposition des Films besteht aus einer Parallelmontage, in der die beiden Hauptfiguren, ihre Charaktere und ihre Geschichten knapp umrissen und aufeinander bezogen werden. Wir erfahren, dass der …

Die etwas überkonstruierte Exposition des Films besteht aus einer Parallelmontage, in der die beiden Hauptfiguren, ihre Charaktere und ihre Geschichten knapp umrissen und aufeinander bezogen werden. Wir erfahren, dass der gelernte Journalist Martin Sixsmith (Steve Coogan) soeben seinen Job als Pressesprecher der britischen Regierung verloren hat, aufgrund seines beruflichen Abstiegs unter Depressionen leidet und nach einem neuen Betätigungsfeld sucht. Sein Arzt empfiehlt ihm, zu joggen, während er selbst ein halbgares Buchprojekt über russische Geschichte verfolgt. Auf der anderen Seite tauchen wir mittels leicht aufdringlicher Rückblenden in die Leidensgeschichte der fast siebzigjährigen Titelheldin Philomena Lee (Judi Dench) ein, die sich am 50. Geburtstag ihres unehelich geborenen Sohnes an ihren schrecklichen Aufenthalt in einem irischen Kloster für sogenannte „gefallene Mädchen“ erinnert. Damals, zu Beginn der 1950er Jahre, wurde ihr nach einer schweren Geburt das geliebte Kind weggenommen und zur Adoption freigegeben. Heute, in der Gegenwart der Erzählung, wird sie getrieben von dem Wunsch, ihrem Sohn einmal zu begegnen.

Stephen Frears „nach einer wahren Geschichte“ entstandener Film „Philomena“, der auf Martin Sixsmiths Buch „The Lost Child of Philomena Lee“ basiert, funktioniert wie ein liebenswertes Buddy-Movie, in das jedoch von Anfang an die düsteren Motive einer spannenden Detektivgeschichte eingewoben werden. So begibt sich das ungleiche Paar, zusammengeführt durch den Auftrag für eine „human interest story“, der Sixsmith zunächst skeptisch gegenübersteht, auf eine gemeinsame Spurensuche nach dem „verlorenen Kind“. Während die beiden in dem irischen Kloster auf eine Mauer des Schweigens stoßen, erfahren sie in Washington, dass Philomenas Sohn als leitender Rechtsberater der Regierung gearbeitet hat, homosexuell war und Mitte der 1990er Jahre an Aids verstarb. Die schwer lastende Ungewissheit, schwankend zwischen Angst und Hoffnung, verwandelt sich für Philomena auf dieser Reise in die Vergangenheit in einen tragischen Schmerz, der aus den unabänderlichen Tatsachen einer schier unglaublichen Geschichte aufsteigt.

Abgemildert und aufgefangen wird dieses Schicksal durch die sich vorsichtig und behutsam vollziehende Annäherung zwischen der menschenfreundlichen und trotz allem gläubigen Philomena (nomen est omen) und dem mehr intellektuellen, dem Realitätsprinzip folgenden Martin. Entsprechend tragikomisch ist die Tonlage des routiniert inszenierten Films. Stephen Frears, der in den achtziger Jahren zu den Erneuerern des britischen Kinos gehörte, ist längst im gepflegten Arthouse-Mainstream angelangt. In „Philomena“ kreuzt er souverän die Genres und Stile, um ebenso unterhaltend wie berührend den Zuschauer mit einem politisch brisanten, ziemlich dunklen und deshalb lange Zeit verschwiegenen Kapitel der irischen Gesellschaft zu konfrontieren. An dessen Ende halten sich auf versöhnliche Weise Aufklärung und Vergebung die Waage.