Blog Archives: 2017

Jahrhundertfrauen

(USA 2016, Regie: Mike Mills)

Zeichen des Umbruchs
von Wolfgang Nierlin

Santa Barbara, 1979. Im Vogelflug über ein sonniges, grünes, entspanntes Terrain geht der Blick bis zum Meer. Auf dem Parkplatz eines Supermarktes steht ein alter Ford Galaxie in Flammen. Mike …

Santa Barbara, 1979. Im Vogelflug über ein sonniges, grünes, entspanntes Terrain geht der Blick bis zum Meer. Auf dem Parkplatz eines Supermarktes steht ein alter Ford Galaxie in Flammen. Mike Mills beginnt seinen schönen Film „Jahrhundertfrauen“ (20th Century Women) mit dem Fanal eines Umbruchs: Der 15-jährige, eher nachdenkliche Jamie (Lucas Jade Zumann) steht an der Schwelle zur Mannwerdung und seine alleinerziehende Mutter Dorothea Fields (Annette Bening), Jahrgang 1924, weiß nicht recht, wie sie damit umgehen soll. Dass ihr altes, stilvolles Haus gerade renoviert wird, ist deshalb ein weiterer Hinweis für ein Leben im Wandel. Althippie William (Billy Crudup), der sich als kreativer Handwerker um die Instandsetzung kümmert, könnte also theoretisch gleich eine doppelte Leerstelle besetzen; aber Jamie kann mit dem vermeintlichen Vaterersatz nichts anfangen und für Dorothea ist er aus verschiedenen Gründen nicht der richtige. Also bittet sie ihre Untermieterin Abbie (Greta Gerwig), die knapp Mitte zwanzig ist, und Jamies beste, zwei Jahre altere Freundin Julie (Elle Fanning) darum, die „Männlichkeitserziehung“ ihres Sohnes zu übernehmen.

„Was ist heute ein guter Mann?“, fragt Dorothea, die die kulturelle Gegenwart als chaotisch und verwirrend erlebt und selbst aus einer Zeit stammt, in der es noch „echte Menschen“ gab. Ketterauchend lebt die Zeichnerin, die in einem Architekturbüro arbeitet, aber einst Pilotin werden wollte, in ihren Enttäuschungen: „Das Leben ist immer anders als man es sich vorstellt.“ Um das aufkeimende Unabhängigkeitsstreben ihres Sohnes zu kanalisieren, bittet sie also Abbie um Rat und Beistand. Doch die punkige Fotografin befindet sich nach einer überstandenen Krebserkrankung selbst in einer Krise; und die feministische Literatur, die sie Jamie zum Lesen gibt, zeitigt Effekte, die Dorothea zu weit gehen. Die in sexuellen Dingen bereits erfahrene Julie wiederum, in die Jamie verliebt ist, möchte ihr Verhältnis bei einer platonischen Beziehung belassen. Überdies hat die seelisch instabile Tochter einer Psychotherapeutin Probleme damit, echte emotionale Nähe zuzulassen.

Mike Mills verbindet in seinem sehr dynamisch und visuell einfallsreich erzählten Film, der von autobiographischen Erfahrungen inspiriert ist, seine Coming-of-Age-Geschichte mit dem Portrait dreier Frauen, die aus verschiedenen Generationen stammen. Exemplifiziert wird diese Differenz an kulturellen Phänomenen, namentlich – und in vielen Szenen – an der rohen Energie der Punkmusik, über deren befreiendes Potential Abbie einmal sagt: „Die Leidenschaft ist größer als die Ausdrucksmittel.“ Zwar konzentriert sich Mills in seiner ebenso nachdenklichen wie witzigen Darstellung eines markanten Lebensabschnitts auf das auch in politischer Hinsicht einschneidende Jahr 1979 – so versammelt sich einmal die „Patchworkfamilie“ zur Übertragung von Jimmy Carters „Malaise Speech“ vor dem Fernseher; doch zugleich spinnt er seine erzählerischen Fäden in phantasievollen Collagen und mit wechselnden Off-Erzählern über die unmittelbare Gegenwart hinaus in eine verlorene Vergangenheit und eine zu erwartende Zukunft. Die Wehmut über unerfüllte Träume angesichts der vergehenden Zeit schwingt darin mit.

Die „Children of the Corn“-Reihe

( 0, Regie: )

Von christlichem Fundamentalismus zu Gottes Rache
von Nicolai Bühnemann

Eine These von mir zu Literaturverfilmungen lautet, dass es zwar einfach ist aus Büchern, die wahrscheinlich aus Gründen kein Mensch kennt, große Film zu machen, aber ziemlich schwer, große Literatur …

Eine These von mir zu Literaturverfilmungen lautet, dass es zwar einfach ist aus Büchern, die wahrscheinlich aus Gründen kein Mensch kennt, große Film zu machen, aber ziemlich schwer, große Literatur angemessen zu verfilmen. Ein Autor, mit dem sich der letzte Teil dieser These zur Genüge belegen lässt, ist Stephen King. Nach „The Running Man“ ist „Children of the Corn“ schon die zweite Adaption eines Werkes von ihm, die ich in relativ kurzer Zeit gesehen habe, die als regelrechter Verrat am zugrunde liegenden literarischen Text, an dessen düsterem Welt- und Menschenbild angesehen werden muss.

Kings frühe Erzählung bietet eine Schreckensvision des gerade im Bible Belt grassierenden christlichen Fundamentalismus. Erzählt wird von dem Ehepaar Vicky und Burt Robeson, das sich im ländlichen Nebraska hoffnungslos verfährt und so in dem Städtchen Gatlin landet, dessen Kinder sich zu einer mörderischen Sekte zusammengeschlossen haben, die alle Erwachsenen des Ortes umgebracht hat und jeden Menschen an seinem oder ihren 19. Geburtstag Gott opfert, der in ihrer Version „He Who Walks Behind the Rows“ heißt, wobei sich eine denkbar bigotte christliche Vorstellung des Big Boss mit heidnischen Motiven vermengt (in den Filmen ist dieser Gott eine Art in den Maisfeldern lebender Dämon).

Die Eheleute sind in der Kurzgeschichte hoffnungslos zerstritten, und das Grauen, in dem sie sich bald gefangen finden, bildet eine Art Zuspitzung ihrer Lebenssituation, ein nach außen projiziertes Abbild ihres Konfliktes, und die Kinder, die die beiden nie hatten, kommen nun als tödliche Bedrohung über sie. Während für Vicky, der eine fundamentalistisch christliche Erziehung auf dem Land zuteil wurde, in den Kindern einen Albdruck ihrer uralten Ängste sieht, sie der Zorn eines strafenden Gottes, vor dem sie wohl ein Leben lang floh, doch noch ereilt, wenn sie schließlich als verstümmelte Leiche an einem Kreuz endet, sieht Burt zumindest für einen kurzen Augenblick das Opfer seiner Frau als Ausweg aus der Hölle, die seine Ehe geworden ist.

In der Verfilmung des Stoffes von Fritz Kiersch bleibt von der derart grimmig aufgelösten Ehekrise schon deshalb nichts übrig, weil es sie hier gar nicht gibt. Vicky und Burt, der im Film ein junger Arzt ist, sind jung und glücklich verliebt, er kann sie gegen Ende nicht nur retten, sondern auch noch die Kinder belehren, dass ihr Handeln falsch ist, den Dämon, der hier wesentlich weiter ausbuchstabiert wird, durch Feuer besiegen – und wo am Ende der Erzählung nur noch die bösen Kinder bleiben, während die frustrierten Erwachsenen von ihren Sorgen auf immer befreit sind, gibt es im Film ein Happy End mit Familie. Das Ehepaar nimmt zwei der Kinder, die nicht dem kollektiven Wahn verfallen sind und unter dem Diktat der anderen zu leiden hatten, vorläufig zu sich auf.

Es ist eines der Rätsel der Filmgeschichte, dass gerade diese familienfreundliche Verwässerung einer düster nihilistischen Kurzgeschichte sich als so erfolgreich erwies, dass sie zum Begründer einer bislang acht Teile und ein Remake zählenden Reihe wurde. Es hat aber auch sein Gutes, weil die Sequels, ohne den literarischen Text weiter zu pervertieren, wesentlich freier gestaltet werden konnten, was man den meisten von ihnen denn zum Glück auch anmerkt.

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„Children of the Corn II: The Final Sacrifice“ („Kinder des Zorns 2: Tödliche Ernte“, 1992)

So ist die erste Fortsetzung nicht nur der klar bessere Film, sondern auch tatsächlich näher am Geist der Kurzgeschichte, mit der er der Handlung nach überhaupt nichts mehr zu tun hat. Wie dort geht es auch hier um eine zerrüttete Familie, wobei der Fokus nun aber auf einem Vater-Sohn-Konflikt liegt. Der Journalist John kommt nach Nebraska, um eine Reportage über die Ereignisse in Gatlin zu verfassen. Mit dabei hat er seinen jugendlichen Sohn Danny, der bei der Mutter aufgewachsen ist, seinen Vater bislang nicht kannte und nun trotzig und ungehalten auf dessen späte Annäherung reagiert. Die Kinder von einst, die in Hemmingford, einem Nachbarort von Gatlin, von den Erwachsenen adoptiert wurden, beginnen bald ihr mörderisches Treiben wieder aufzunehmen. In dem, was ihr Anführer Mica Danny über die Heuchelei seines bigott religiösen Vaters erzählt, findet dieser das Verhalten seines eigenen Vaters gespiegelt. Das Morden an den Eltern wird so ödipal aufgeladen.

Der Film verfügt über einige denkbar delirante Splattereinlagen. Etwa wenn in einer Messe eines der Kinder, das in der hintersten Reihe sitzt, mit einer Holzpuppe, an deren Gesicht er sich mit einem Messer zu schaffen macht, mit einer Art Voodoo-Zauber einen Mann, der ganz vorne sitzt, tötet. Während der Prediger Gewalt und Sex im Film verurteilt, blutet der Mann zunächst aus Nase und Ohren, dann aus dem Mund bis von seinem Gesicht schließlich nur noch blutiger Matsch übrig ist. Eine ältere Frau im automatischen Rollstuhl, die von Anfang an das Böse in den Kindern sieht, wird per Fernbedienung von diesen auf die Straße gesteuert, wo sie ein LKW erfasst und durch die Scheibe eines Lokals schleudert, in dem gerade Bingo gespielt wird. Als das Fenster klirrt geht ein Mann zu Boden, der gerade verheißungsvoll auf seine Karte geguckt hatte und nach dem Crash nun stolz verkünden kann: „Bingo!“ Denkwürdig ist weiterhin ein Mord an einem Mann, bei dem die Kinder eine Vielzahl von Spritzen als Folterinstrumente verwenden, bevor es zum Todesstoß mit der Sichel kommt.

John bekommt als Sidekick einen indianischen Universitätsprofessor, mit dem der Film denkbar bescheuert spiritualistisch endet, und in einem Seitenerzählstrang gibt es eine Verschwörung um hochgiftigen Dünger.

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„Children of the Corn III: Urban Harvest“ („Kinder des Zorns 3: Das Chicago-Massaker“)

Der kleine Eli und sein Teenagebruder Joshua kommen aus Nebraska nach Chicago zu neuen Adoptiveltern. Die Mutter merkt schnell, dass mit Eli etwas nicht stimmt. Der wortgewandte Junge beginnt schnell, seine MitschülerInnen um sich zu scharen, die mehr und mehr besessen werden von „He Who Walks Behind the Rows.“ Die Show und das Erwachsenenmorden können beginnen.

Der dritte Teil bringt unter anderem einen Race-Aspekt ins Franchise mit ein, was auch der Vorgänger durch die Indianerfigur tat, aber, wie Vern feststellt: „The word „Urban“ is marketing code for „black.“ Schwarz ist der Bully der Klasse, der vermeintlich in Eli und Joshua einfache Opfer findet, schwarz ist aber auch ein Mitschüler Malcom, mit dem sich Josh bald anfreundet und dessen Schwester Maria zu seinem love interest wird. Merke: Gut und Böse kann man nicht an der Hautfarbe erkennen, und Josh imponiert Malcom zunächst dadurch, dass er ein begnadeter Basketballer ist. Merke: white man CAN jump. Und die Elis Predigten verfallende Masse ist sowieso bunt gemischt. Darüber hinaus ist der Adoptivvater der Beiden ein gewiefter Geschäftsmann, der im Mais, der den Tod bedeutet, vor allem ein big business sieht, und im Epilog verirrt sich eine Kiste mit ein paar Kolben des Super-Mais an den Hamburger Hafen, wo sie wiederum von eifrigen Kapitalisten in Empfang genommen wird (ein Cliffhanger, den der vierte Teil dann natürlich geflissentlich ignoriert).

Auch an Splatter hat dieser Teil einiges zu bieten. Etwa wenn Malcom den Kopf verliert, der aber doch über die Wirbelsäule mit dem Rest des Körpers in Verbindung bleibt. Die creature effects des Dämons, der hier erstmals eine physischere Form bekommt, stammen von Screaming Mad George, der auch an den Spezialeffekten zu vielen Filmen von Brian Yuzna arbeitete und auch hier zeigt, dass er sich auf sein schleimiges Handwerk versteht. Wenn Josh Maria aus den Innereien des Dämons frei schneidet, geht das so blutig zu, dass sich Assoziationen zu „Braindead“ auftun (und natürlich zollen die mit ihren Schlingen zupackenden Maispflanzen in diesem und folgenden Teilen auch Sam Raimis „The Evil Dead“ Tribut).

Ich liebe Filme wie diesen und den Vorgänger, nicht obwohl, sondern gerade weil sie als so krude Gemischtwarenläden daherkommen, die verschiedenste Motive aus dem Genre – und der (Populär-)Kultur überhaupt – vermengen: Voodoo, Schamanismus, Satanismus, christlicher Fundamentalismus, Kapitalismuskritik, Umweltzerstörung? You name it! We got it! Und sich darüber hinaus einen Dreck um Genregrenzen scheren, in denen das bizarr Komische und der Splatterexzess nicht nur nebeneinander stehen, sondern sich mitunter in ein und derselben Szene begegnen, ohne dass sich die Filme deshalb wirklich zu einer Horrorkomödie entwickeln würden.

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„Children of the Corn: The Gathering“ („Kinder des Zorns IV – Mörderischer Kult“, 1996)

Der vierte Teil schlägt im Gegensatz zu den unmittelbaren Vorgängern (mit Teil 1 hat das ja zum Glück alles eh nur noch rudimentär zu tun) wieder einen vollkommen anderen Weg ein. Statt des absoluten Exzess mit abstrus komödiantischen Anleihen gibt es hier nun reinen Psychohorror, was schon durch das Setting in einer psychiatrischen Klinik für Kinder gesetzt wird, in der keine geringere als die sehr junge Naomi Watts als Krankenschwester arbeitet. Also gibt es sehr viele Albtraumszenen, aus der Watts und die anderen Figuren aufschrecken (Unbewusstes und so).

Der Versuch, den Exzess der Vorgänger durch geradlinigeres Spannungskino zu ersetzen, ist schon an sich wohl keine sehr gute Idee. Der Film liefert dann aber dazu noch nicht wirklich viel an Spannung und düsterer Atmosphäre. Die Kills sind recht garstig gehalten, wobei man bei der Umsetzung manchmal doch etwas sparsam mit dem Kunstblut umgegangen ist. Alles in allem ist „The Gathering“ sicherlich der „seriöseste“ Eintrag ins Franchise bislang (seriös war ja schon der Familienquatsch des Erstlings nicht, Teil 2 und 3 waren für eine solches Attribut sicherlich eh viel zu sehr over the top), was ihn leider auch zum langweiligsten macht.

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„Children of the Corn V: Field of Screams“ („Kinder des Zorns V – Feld des Terrors“, 1998)

Nach dem sehr ernüchternden vierten Teil nimmt das Franchise mit der folgenden Fortsetzung wieder richtig Fahrt auf. Das geht schon mit den ersten Einstellungen los: Die Kamera bahnt sich ihren Weg durch das Maisfeld, langsam, bedrohlich. Per Überblende kommen ein paar Rosen ins Bild, deren volles Rot das Grün der Pflanzen kontrastiert. Eine Hand ergreift eine der Blüten, reißt diese mit der ganzen Rose aus und reckt sie gen Himmel. So beginnt ein Film, den man gerne Szene für Szene, bisweilen sogar Einstellung für Einstellung analysieren möchte. Dafür ist hier sicherlich kein Platz, aber der restliche Film hält, was diese ersten Bilder versprechen: einen fortwährenden Exzess, der nicht einfach den der Teile Zwei und Drei kopiert, sondern eigene Akzente setzt.

Wenig später blickt ein Kind, Ezekiel, gebannt in ein Feuer im Feld, aus dem eine Art herzig animierter Blitz in seine Brust fährt und ihn zu Boden wirft. So geht das weiter. Mit kruden Spezialeffekten und verwinkelten Kameraperspektiven. Nach dem ersten Teil gibt es hier wieder die klassische Backwood-Konstellation: Ein paar durchfahrende Teenies aus der Stadt (unter ihnen die noch vollkommen unbekannte Eva Mendez) bekommen es mit den Kindern zu tun, die „He Who Walks Behind the Rows“ anbeten, und deren fundamentalistisch christliche Ideologie von den reinen Kindern und sündigen Erwachsenen hier besonders ausführlich ausgebreitet wird. Hübsch durchgeknallt kommen die bescheuerten Teens daher, von denen ein Pärchen in einem Auto vorfährt und Sexpuppen als Wegweiser für ihre in einem anderen Auto nachkommenden Freunde an den Straßenlaternen befestigt.

Den Kindern steht hier zunächst ein David Carradine vor, was mit der schon erwähnten Mendez, die hier ihre erste Filmrolle gab, und Fred Williamson als Sheriff eine durchaus prominente Besetzung für den fünften Teil einer niedrig budgetierten Horrorreihe ergibt. Carraddine und Williamson haben einen gemeinsamen, effektiv blutigen Abgang. In der letzten Szene wird ein Kinderlied wahrlich creepy: „Hush little baby don’t say a word…“ Und in den Augen des Babys leuchtet in der letzten Einstellung das Feuer, das schon zu Beginn in Kinderaugen leuchtete. Buch und Regie stammen von Ethan Wiley, und dieser Film macht durchaus neugierig, ob es in seiner sehr überschaubaren Filmographie noch mehr Kleinode zu entdecken gibt.

(Wie den vierten und sechsten Teil gibt es auch diesen in Deutschland momentan nur auf DVDs, die völlig unzeitgemäßerweise keinen Originalton an Bord haben. Die Synchro macht aus „He Who Walks Behind the Rows“ „Er, der immer im Hintergrund steht“, und bei dem oft erwähnten „Kornfeld“ handelt es sich wohl auch eher um ein „Maisfeld“. Aber was will man in einem Franchise, das aus „Children of the Corn“ „Kinder des Zorns“ macht, schon erwarten? Ein Zornfeld vielleicht?)

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„Children of the Corn 666: Isaac’s Return“ („Kinder des Zorns 6 – Isaacs Return“, 1999)

Der sechste Teil zeigt, dass auch ein ernsterer „Children of the Corn“-Film durchaus seine Berechtigung haben kann. Im Gegensatz zu den Vorgängern knüpft dieser Film an die Ereignisse des ersten Teils an. Hannah, das erste Kind, das aus dem Kult der Kinder des Mais geboren wurde, kehrt nach Gatlin zurück, um ihre echte Mutter zu finden. Hier stellt sich heraus, dass Issac, der Anführer der Kinder im ersten Teil, nicht von „He Who Walks Behind the Rows“ zu sich genommen wurde, sondern im Koma liegt, aus dem er nun erwacht, um die ursprüngliche Prophezeiung wahr werden zu lassen. Es beginnen neue Morde und die sehr weltlichen Machtkämpfe um die Auslegung des göttlichen Willens.

Der Film bietet vor allem in einer Vision Hannahs relativ zu Beginn, aber auch immer wieder später waschechtes Terrorkino. Dazu kommt auch hier wieder eine schöne Besetzung, zu der neben der seit den De Palma-Filmen der späten Siebziger und frühen Achtziger, vor allem aber seit „Robocop“ immer wieder gern gesehenen Nancy Allen auch Stacy Keach als Arzt (Keach, so verrät die IMDb, ist auch ein großer Bühnen- und vor allem Shakespeare-Darsteller gewesen, was ihn natürlich für einen Auftritt in Genre-Krachern wie diesem oder Mark L. Lesters „Class of 1999“ gereadezu prädestiniert hat).

Zum stimmigen Gesamteindruck kommt noch eine tolle Sexszene zwischen Hannah und ihrem love interest, die mit einer wechselseitigen Dusche unterm Wasserschlauch in der Scheune beginnt, und sich mit vielen Überblenden ihrer eng umschlungenen Körper fortsetzt. Lediglich das Ende ist etwas seltsam ausgefallen, was dem positiven Gesamteindruck jedoch keinen Abbruch tut.

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„Children of the Corn: Revelation“ („Kinder des Zorns 7 – Revelation“, 2001)

Die Offenbarung, die der Titel verheißt, bietet dieser Film mitnichten. Die Geschichte um eine junge Frau, die aus Kalifornien auf der Suche nach ihrer Großmutter nach Nebraska kommt, und der die Kinder des Ortes sehr schnell unheimlich werden, läuft sich ziemlich schnell tot. Der Film versucht den Terror des unmittelbaren Vorgängers mit etwas comic relief – einen dauerbekifften, bongrauchenderweise die Tür öffnenden Nachbarn, Kindern am Splatterspielautomaten (die beste Szene!) – zu kombinieren. Leider zündet das nicht wirklich – trotz Michael Ironside als vernarbtem Priester und erheblichem pyrotechnischen Aufwand im Finale.

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„Children of the Corn: Genesis“ (Kinder des Zorns: Genesis – Der Anfang“, 2011)

Die Reihe endet mit einem Knall(er). Wo der siebte Teil wieder einmal das Gefühl aufkommen ließ, dass sich die Reihe langsam aber sicher in halbgaren Wiederholungen des ewig Gleichen totlaufen würde, belehrt einen der erst nach zehn Jahren nachgereichte „Genesis“ gleich mit der pre title sequence eines Besseren. Diese spielt im Jahr 1973 in der Nähe von Gatlin und zeigt einen Soldaten, der nachhause kommt, nur um seine Familie gemeuchelt vorzufinden, wobei der Tatort mit den üblichen Relikten aus getrocknetem Mais versehen ist. Als ein Mädchen im Haus seiner Familie bedrohlich auf den Soldaten zukommt und er seine Pistole auf sie richtet, wird er als Babykiller bezeichnet. Zudem hat er Flashbacks auf ein blutüberströmtes vietnamesisches Kind und die Schreie seines Vorgesetzten „get a grip on yourself, soldier“. Das Morden der Kinder bekommt damit eine politisch historische Dimension, die sich auf den Krieg in Vietnam bezieht, es wird zur Rache für das Blutvergießen, dem Kinder ausgesetzt sind, was von Ferne her an Narcisco Ibáñez Serradors Meisterwerk „Ein Kind zu töten…“ erinnert. Nebenbei bemerkt ist das Geschehen im September 1973 verortet, was (ob gewollt oder auch nicht) an den Tag erinnert, als sich die Faschisten in Chile mit Rückendeckung durch die CIA an die Macht putschten.

Im Folgenden hat ein junges Ehepaar eine Autopanne im ländlichen Kalifornien, findet Unterschlupf in einem Haus, in dem es nicht mit rechten Dingen zuzugehen scheint – und bekommt es – wer hätte es geahnt? – mit „He Who Walks Behind the Rows“ und seiner infantilen Gefolgschaft zu tun. Das Paar, das die beiden aufnimmt, besteht aus einem von Billy Drago großartig gespielten Prediger und seiner ukrainischen Frau, die dem jungen Gast bald sehr eindeutige Avancen macht. Der Horror wird hier sehr geschickt auf die Spannungen zwischen dem Paar projiziert. An einer selbstreflexiven Stelle sucht sie Erklärungen aus der Populärkultur (oder genauer: dem Horrorfilm) für ihre vertrackte Lage.

Zuerst dachte ich, dass es eine fragwürdige Entscheidung des Films war, auf diesen Prolog später nicht mehr zurückzukommen, aber erst im Nachklang wird mir klar, wie sehr der Film mit diesen wenigen Minuten nicht nur den auf sie folgenden Film, sondern gar die ganze Serie in ein neues Licht taucht. Die Gewalt der Kinder ist hier nicht mehr ein Zerrbild christlichen Fundamentalismus, sondern tatsächlich die Rache eines zornigen Gottes für die Gräueln an den Schwächsten seiner Schöpfung.

Nachdem der dritte Teil schon vor einiger Zeit vom Index gestrichen wurde, ist er nun von der FSK neu geprüft worden und liegt seit dem 19. 05. bei Capelight auf einer recht schmucklosen Blu-ray vor. Eine Gesamtbox der Reihe (vornehmlich natürlich in HD) wäre schon aufgrund der unterirdischen DVDs der Teile 4-6 sehr wünschenswert, ist aber aufgrund der Inhaberschaft der Rechte wohl sehr unwahrscheinlich.

(Eine Besprechung der Neuverfilmung der Kurzgeschichte folgt in einem gesonderten Text.)

Song to Song

(US 2017, Regie: Terrence Malick)

Häutungen
von Wolfgang Nierlin

In seinen jüngeren Filmen verzichtet Terrence Malick auf eine herkömmliche dramatische Handlung, um sich immer mehr einem Kino der visuellen Poesie anzunähern. Erzählstrukturen, Dialoge sowie im Grunde auch das Schauspiel …

In seinen jüngeren Filmen verzichtet Terrence Malick auf eine herkömmliche dramatische Handlung, um sich immer mehr einem Kino der visuellen Poesie anzunähern. Erzählstrukturen, Dialoge sowie im Grunde auch das Schauspiel sind weitgehend suspendiert. Stattdessen werden Wort und Bild, Raum und Zeit, Musik und Bewegung in einer relativ sprunghaften Montage aufeinander bezogen. Die leicht schwebenden, an ihren Rändern gekrümmten Cinemascope-Bilder, mit einer Steadycam von Emmanuel Lubezki aufgenommen, führen ein Eigenleben, ohne sich zu einer Geschichte zu fügen. Ihre von goldenem Licht beleuchtete Schönheitstrunkenheit – eine zu Redundanz und visuell überwältigendem Overkill neigende Anhäufung geschmackvoller Oberflächen und erlesener Interieurs – ist eher Ausdruck einer schwelgerischen Anrufung der Welt und des Lebens, gewissermaßen Zeugnis einer göttlichen Schöpfung. Selbst die Schauspieler, ein durchweg prominenter Cast, fungieren nur als Bestandteil des „filmischen Materials“. Wie in einer meditativen, selbstreferentiellen Endlosschleife vollzieht sich das rudimentäre Geschehen.

Gegliedert wird dieses in Malicks neuem Film „Song to Song“ hauptsächlich durch die inneren, quasi entindividualisierten Monologe der Figuren, die sich als mehrstimmiger, in ihrer Sprache teils schwülstig wirkender Bewusstseinsstrom aus dem Off verstehen lassen. In ihnen wird die „Handlung“ des Films strukturell als christliche Heilsgeschichte deutbar beziehungsweise ist dieser nachempfunden. Auf die Dunkelheit folgt das Licht, auf Sünde die Vergebung und auf den Fall die Errettung. „Was ich war und jetzt bin“, lautet in diesem Sinne ein Satz, der auf jene „Häutungen“ verweist, durch die wie in einem Prozess der Reinigung und Erkenntnis das alte Leben abgestreift wird für ein neues, befreiteres. Terrence Malick geht es im Verlauf dieser Bewusst- und Selbstwerdung um nichts weniger als um die Essenz des Seins und um ein „neues Paradies“. Denn dass Leben, Liebe und Sex unter den Bedingungen von Konsum und Kommerz trivialisiert, pervertiert und ihres eigentlichen Wesens und Sinns entfremdet sind, daran lässt der Metaphysiker unter den amerikanischen Filmemachern keinen Zweifel.

Angesiedelt in der schillernden Musikszene von Austin, Texas und angereichert mit dokumentarischem Material (beispielsweise mit Auftritten von Iggy Pop und Patti Smith), setzt Malick die Verwirrung der Gefühle als improvisiertes Bewegungsballett von zwei Frauen und zwei Männern in Szene. Während die erfahrungshungrige Faye (Rooney Mara) in ihrer Sehnsucht nach Freiheit erst einen Versucher abwehren muss, obliegt es ihrem Freund BV (Ryan Gosling), einem aufstrebenden Musiker, sein Misstrauen zu überwinden und ihr zu verzeihen. Michael Fassbender spielt als reicher, dekadenter Musikproduzent namens Cook jenen verdorbenen Materialisten und zerstörerischen Mann, für den „alles nur Show“ und „freier Fall“ ist, der nicht recht an die Liebe glaubt und sexuelle Orgien feiert, schließlich aber in der tragischen Begegnung mit der Kellnerin Rhonda (Natalie Portman) doch noch von etwas „anderem“ berührt wird.

Malick spiegelt diesen Weg „durch Schmerz zum Leben“ als Grundmuster in den wechselnden Beziehungen seiner Figuren und ihrer Suche nach Liebe. „Die Welt baute einen Zaun um mich“, heißt es mehrfach über die irdisch-materiellen Begrenzungen, die im Kontrast zur (ewigen) Natur als schöner Schein leerer Oberflächen inszeniert wird. Doch schon im ersten Bild von „Song to Song“ fällt Licht durch einen schmalen Spalt, öffnet sich die Tür zu einer vielleicht anderen Wirklichkeit.

Nocturama

(FR/DE/BE 2016, Regie: Bertrand Bonello)

Krankheit zum Tode
von Wolfgang Nierlin

Zu Beginn des Films verknüpft die Montage auf magische Weise die von Rotorengeräuschen unterlegte Vogelperspektive auf Paris mit dem Metro-Untergrund der Weltstadt. Auf den geheimnisvollen Kontrast folgen multiperspektivisch die konspirativen …

Zu Beginn des Films verknüpft die Montage auf magische Weise die von Rotorengeräuschen unterlegte Vogelperspektive auf Paris mit dem Metro-Untergrund der Weltstadt. Auf den geheimnisvollen Kontrast folgen multiperspektivisch die konspirativen Bewegungen einer Gruppe Jugendlicher von den Rändern ins Zentrum. Unterwegs auf den Straßen und Schienen der Metropole evozieren ihre verschworenen Blicke und Gesten die Abgeklärtheit von Genre-Figuren. Zwar suggerieren die dokumentarisch wirkenden Handkamerabilder und präzise Zeitangaben einen forcierten Realismus, doch tatsächlich geht es Bertrand Bonello in seinem neuen Film „Nocturama“ um fiktive Überhöhung. Im hypnotischen Flow des von ihm selbst komponierten elektronischen Scores folgen wir zunehmend gespannt den parallelen Aktionen der Figuren, über die wir nur das Nötigste erfahren und deren Handlungsmotive mehr schlagwortartig angedeutet werden. Es scheint, als folgten sie einer inneren, nicht näher zu spezifizierenden Notwendigkeit.

Die jungen, unscheinbar wirkenden Protagonisten entstammen als Schüler, Studenten und Arbeitslose offensichtlich unterschiedlichen sozialen Milieus. Was sie eint, sind gemeinsame Feindbilder und ein nicht näher erläutertes Leiden an der Wirklichkeit, vielleicht sogar ein Lebensüberdruss. Diese Krankheit der Jugend, von Bonello als utopische Sehnsucht nach Verweigerung und Zerstörung apostrophiert und ins digitale Zeitalter transferiert, kulminiert und bezeugt sich in der gemeinsamen Planung und Durchführung mehrerer synchroner Sprengstoffanschläge. Über einen Zeitraum von fünf Stunden folgen wir im ersten Teil des Films den Vorbereitungen, registrieren Pannen, Unsicherheiten, Nervosität und Angst und werden zugleich mit schrecklich mörderischen Konsequenzen konfrontiert. Fast unmerklich bricht Bonello die Chronologie auf, fügt zeitliche Überlappungen und kurze Rückblenden in den Fluss der Geschehnisse ein, ohne dabei psychologisieren zu wollen. Als schließlich symbolisch und repräsentativ ein Teil des Innenministeriums, eine Revolutionsstatue, ein Hochhaus in La Défense und eine Reihe von Autos explodieren, wirkt das wie ein Fanal des Abschieds.

„Wir haben getan, was wir tun mussten“, sagt später einmal einer der Attentäter. Nicht Hoffnung und der Wunsch nach Aufbruch motivieren ihr Handeln, sondern eher ein existentieller Fatalismus, dem die Gewissheit letztlichen Scheiterns innewohnt. Auf das Feuer folgt eine gespenstische Stille. Paris verwandelt sich in eine Geisterstadt und die Jugendlichen ziehen sich im zweiten, „nächtlichen“ Teil in ein großes Kaufhaus zurück. Dieses fungiert zunächst als Versteck und schützender Kokon, zugleich aber auch als phantasievolles Traumreich und ambivalente Todeszone. Im Spiegel der Konsumwelt und des künstlichen Scheins begegnen die Protagonisten sich selbst und ihren innersten Wünschen; sie erkennen sich dabei in den Doppelgängern und Abziehbildern einer Welt, die sie selbst bekämpfen.

Unterstützt von prägnanten Musikeinsätzen – etwa Shirley Basseys Version von Paul Ankas Song „My Way“ sowie Blondies „Call Me“ – und schillernden Selbstdarstellungen, inszeniert Bertrand Bonello in diesen Passagen einen ebenso rauschhaften wie melancholischen Tanz vor dem unausweichlichen Untergang. Die Gewissheit des Todes, im künstlichen Stakkato mitleidlos präziser Gewalt (auch akustisch) verdichtet, erzeugt schließlich nur noch nackte Angst und eine verzweifelte Hoffnungslosigkeit: „Helft mir!“, ruft einer von ihnen zuletzt gegenüber dem maskierten Exekutionskommando der Polizei.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Nocturama‘.

Rückkehr nach Montauk

(DE, FR, IE 2017, Regie: Volker Schlöndorff)

Tier mit wechselnden Standpunkten
von Wolfgang Nierlin

In der Titelsequenz des Films ordnen sich auf Schreibmaschinenpapier fliegende Buchstaben zu animierten Mustern von Fortbewegungsmitteln, deren Geräuschkulisse auf der Tonspur großstädtischen Betrieb imaginieren lässt. Erst aus dem Off, dann …

In der Titelsequenz des Films ordnen sich auf Schreibmaschinenpapier fliegende Buchstaben zu animierten Mustern von Fortbewegungsmitteln, deren Geräuschkulisse auf der Tonspur großstädtischen Betrieb imaginieren lässt. Erst aus dem Off, dann frontal zum Zuschauer erzählt ein Mann seine Geschichte. Dass diese eigentlich ein Text ist, den er vorliest, ohne ins Buch zu schauen, erfahren wir kurz darauf durch eine Veränderung der Perspektive. Der aus Berlin angereiste Schriftsteller Max Zorn (Stellan Skarsgård) liest in einer New Yorker Bibliothek aus seinem neuen Werk „Jäger und Gejagte“. Darin geht es um eine verlorene Liebe, eine vertane Chance und die Unumkehrbarkeit versäumter Möglichkeiten. Volker Schlöndorff inszeniert diesen Beginn seines neuen Films „Rückkehr nach Montauk“ als doppelbödiges Spiel zwischen Wirklichkeit und Fiktion, (autobiographischer) Erinnerung und literarischer Erfindung.

Knapp eine Woche verbringt der merkwürdig farblose, offensichtlich unstete Autor für Lesungen in der geschäftigen Stadt am Big Apple. Begleitet wird er dabei von der jungen, hübschen und ihm gegenüber stets loyalen Presseagentin Lindsey (Isi Laborde). In einem Radiointerview charakterisiert sich Zorn etwas plakativ als ein Tier mit wechselnden Standpunkten. Doch das bleibt wie vieles andere in diesem Film eine verbale Behauptung. Dass er mit der um einige Jahre jüngeren, lebenshungrigen Clara (Susanne Wolff) zusammen ist, die in prekären Verhältnissen lebt, wovon Max wiederum nichts weiß, versteht man nicht richtig. Die Faszination für diesen charakterschwachen Mann teilt sich einfach nicht mit. Dass Max Zorn überdies sämtliche Vertraulichkeiten seines Privatlebens mit Lindsey teilt, ist nicht nur unwahrscheinlich, sondern vor allem eine Strategie des Drehbuches, um das, was die Bilder nicht erzählen, als gesprochenen Text zu vermitteln.

Darin geht es vor allem um Max‘ Wiederbegegnung mit Rebecca (Nina Hoss), die inzwischen als erfolgreiche Anwältin arbeitet. Für ein langes, gemeinsames Wochenende in Montauk, am äußersten Ende von Long Island, vermischen sich noch einmal Literatur und Leben, Erinnerung und Gegenwart, als könnte die Geschichte, längst zur Fiktion geworden, noch einmal von vorne oder ganz anders beginnen. Doch unterschiedliche Erfahrungen und Lebenswege stehen zwischen den beiden.

Schlöndorff spiegelt diese Distanz zwischen dem einstigen Paar in den Räumen und der Transparenz eines leerstehenden Hauses und in den Strandbildern vor einem weiten Horizont, in die sich elegische Klänge aus Mahlers 5. Sinfonie mischen. „I want you“, singt an anderer Stelle Bob Dylan, bevor das Auto der beiden (auch symbolisch) kurz darauf im Sand einer Stranddüne stecken bleibt. Doch warum Max einst Rebecca verließ, die sehr viel farbiger und ironiebegabter als der Schriftsteller erscheint, bleibt so unklar, als wäre diese gewichtige Entscheidung der Laune eines Augenblicks geschuldet. Erst ganz am Ende, als alles längst zu spät ist, zeigt der sich selbst fremde Held in anderem Zusammenhang doch noch Charakter. Die Gründe dafür bleiben allerdings vage.

The Founder

(USA 2016, Regie: John Lee Hancock)

Von San Bernardino um die Welt mit dem (Nicht-)Gründer Kleptokapitalisten-Kroc
von Nicolai Bühnemann

„The Founder“ ist, so viel kann man wohl mit Fug und Recht sagen, ein Faszinosum. Ein Film, der faszinierend ist in seiner eigenen Faszination für das Böse, die bedingungslose Über-Leichen-Geh-Mentalität …

„The Founder“ ist, so viel kann man wohl mit Fug und Recht sagen, ein Faszinosum. Ein Film, der faszinierend ist in seiner eigenen Faszination für das Böse, die bedingungslose Über-Leichen-Geh-Mentalität seiner Hauptfigur, die an einer Stelle erklären darf: „Contracts are like hearts, they’re made to be broken.“ Besagte Hauptfigur ist der von einem manisch aufspielenden Michael Keaton gegebene Ray Kroc. ‚Ray wer?‘, fragen Sie sich jetzt wahrscheinlich. Und gegen Ende des Films erklärt Croc, dass man mit einem Namen wie dem seinen mit seinem slavischen Touch einfach kein richtiges Geld verdienen könne. Dazu braucht es schon einen Namen, der nach etwas klingt, der sich richtig amerikanisch anhört (wobei das „Amerikanische“ hier auch schon irischen Ursprungs ist). Und der, dem er das erklärt, hat einen solchen Namen, der ihm doch am Ende kaum etwas einbringt, den er regelrecht verliert an den Mann, der Kroc heißt. Dieser Name lautet Mac McDonald, wie in dem Schnellrestaurant, das nach ihm und seinem Bruder benannt wurde, und dessen Rechte sie schließlich für einen Preis an Kroc abgeben müssen, der sich verglichen mit dem Imperium, das aus ihrem Laden im kalifornischen San Bernardino über die Franchise-Idee Krocs erwächst, ausnimmt wie die Waren im Wert von 60 niederländischen Gulden für die, die europäischen Siedler von deren indigenen Bewohnern eine Insel an der amerikanischen Ostküste kauften, die später Manhattan heißen sollte.

Ob diese Assoziation von Regisseur John Lee Hancock und seinem Drehbuchautor Robert D. Siegel intendiert war oder ob sie alleine das Produkt meiner postkolonialistisch geschulten Phantasie ist, tut dabei wenig zur Sache, denn sie ist dahingehend stimmig, dass bei Siedlern und „Indianern“ wie bei Kroc und den McDonald-Brüdern zwei Wertsysteme aufeinander prallten, die sich so grundlegend voneinander unterschieden, dass sie zwangsläufig in die Unterwerfung und Ausbeutung des einen durch das andere münden mussten. Dass es bei Krocs McDonald-Imperium schließlich darum gehen wird, das Land zu verpachten, auf dem immer mehr der beliebten Schnellrestaurants entstehen, dass es also um die Erde geht, auf der Kroc gleich mehrmals sitzen darf, die ihm symbolträchtig durch die Finger rinnt, unterstreicht nicht nur die kolonialen Konnotationen dieser Art des Wirtschaftens, es wird auch noch im top shot gefilmt. Über dem McDonalds-Gründer steht höchstens noch Gott, und wer sich in derart „von oben“ legitimierter Landnahme übt, der kann es kaum vermeiden, sich dabei auch die Hände schmutzig zu machen.

Nur ganz zu Beginn seines kometenhaften Aufstiegs sieht Kroc auch noch in dem bewunderten Schnellrestaurant in San Bernardino nach dem Rechten, kontrolliert akribisch, dass auf jedem Burger die gleiche Anzahl von Gurkenstückchen landet. Ob die Assoziation zur Robert De Niro-Figur in Martin Scoseses Meisterwerk „Casino“, die als mafiöser Casino-Betreiber seine Untergebenen in der Küche energisch dazu anhält, die gleiche Menge Blaubeeren in jeden Muffin zu füllen, von den Filmemachern beabsichtigt war oder ob sie wiederum ein Produkt meiner cinephil geschulten Phantasie ist, tut ebenfalls nichts zur Sache, denn auch hier passt die Analogie zwischen dem großen Gründer und dem Gangster wie die Faust aufs Auge oder eben wie die Gürkchen auf den Burger. Das ist schon deshalb interessant ist, weil die beiden Erfolgsgeschichten auf den ersten Blick konträrer nicht sein könnten. Die Spießigkeit des Familienamerikas der Fünfziger hier, der absolut nicht jugendfreie Glamour der Siebziger dort, der spätestens mit Einsetzen der Achtziger endgültig in Gewalt und Exzess pulverisiert wird. Interessant ist auch der Vergleich der beiden Frauenfiguren. Sharon Stone säuft und kokst sich bei Scorsese tot, Laura Dern, die hier alles, aber sicherlich nicht wild at heart ist, sehen wir dabei zu, wie sie sich langsam, aber sicher zu Tode langweilt. Den Ambitionen ihres Mannes steht sie so lange mit eingefrorener Mine im Weg, bis er betont einsilbig beim Essen die Scheidung von ihr verlangt.

Wo das Geschäft mit dem Laster sich auf Las Vegas beschränkt, wie San Bernardino eine Stadt in der Wüste, wenn auch eine etwas größere, bilden die family values, das „religiöse“, das (ur)“amerikanische“ (dazu später mehr) und der mit ihnen – nicht zwangsläufig, aber doch sehr wahrscheinlich – einhergehende Verzicht bald ein globales Netzwerk, das in Sachen krimineller Machenschaften nicht nur das Gangster-Über-Ich eines De Niro, sondern auch noch das psychopathische Es, das bei Scorsese von Joe Pesci verkörpert wird, wie zahme Provinzgauner dastehen lässt. Und für einen langen schmerzlichen Augenblick fragt man sich dann, ob die Stone-Figur nicht doch alles richtig gemacht hat.

Doch fangen wir am Anfang an. Da scheint der Keaton-Kroc, der selbst noch als talking head larger than life ist, wie er da mittig im Scopebild prangt, sich direkt an die Zuschauenden zu wenden, um ihnen einen Mixer zu verkaufen – bis ein Schnitt seine Bemühungen in einen anderen Kontext stellt. Den Mixer kauft der Mann, der nun in der Szene unsere Position als Adressat von Krocs Verkaufsmonolog einnimmt, dann erst mal nicht. Dafür bestellt ein rätselhaftes Restaurant in Kalifornien gleich sechs der Milchshakemacher, was bei Kroc so viel Eindruck schindet, dass er den weiten Weg aus Illinois in Richtung Westen antritt.

Das Restaurant der Brüder Dick (Nick Offerman) und Mac McDonald (John Carroll Lynch) versetzt ihn zunächst gehörig ins Staunen. Das Essen ist schon fertig, kaum hat man es bestellt. Statt Teller, Besteck und Glas gibt es einen Pappbecher und eine Papiertüte, was es ermöglicht, seine schnelle Mahlzeit überall einzunehmen. Zuhause, im Auto, auf einer der Bänke vor dem Lokal, vor dem sich eine lange Schlange gebildet hat. Bei einer Tour kann sich der Geschäftsmann von den Vorzügen des sogenannten Speede-Systems überzeugen. Also will Kroc ins florierende Geschäft einsteigen. Franchises von McDonalds überall in Amerika, ach was, der ganzen Welt eröffnen. Nicht mal diese Idee stammt indessen wirklich von ihm. Die Brüder hatten bereits zuvor versucht, an verschiedenen Stellen des Landes neue Filialen zu eröffnen, was aber letztendlich wohl an ihrer Gutmütigkeit gegenüber den Franchises scheiterte, die ihnen mit ihren eigenen Ideen und Visionen gehörig auf der Nase herumtanzten (oder vielleicht war die Welt ein paar Jahre oder Monate vor dem Siegeszug Ray Krocs einfach noch nicht so weit, dass man überall auf ihr das gleiche Essen in einem Restaurant derselben Kette kaufen konnte, so viel Hoffnung sei, wenn schon nicht in die Zukunft, dann doch immerhin in die Vergangenheit gesetzt).

Zentralisierte Gleichschaltung ist also das Konzept, die Vision des Ray Kroc, der nichts mehr erfinden oder gar produzieren muss, um ein Imperium aufzubauen. Ja, selbst der „golden arch“, aus dem später das ikonographische, raumgreifende, aus den urbanen Architekturen der Gegenwart schwerlich wegzudenkende M werden sollte, war nicht seine Idee, sondern lediglich die Vision, dass sich dieser gelbe Bogen irgendwann, wie das Kreuz auf den Kirchen und die Fahne auf den Rathäusern, in jeder amerikanischen Kleinstadt finden solle. Die Nation, die Religion – und McDonalds. Das Kapital will sich, schon lange vor seiner neoliberalen Entfesselung und mitten in den stockkonservativen Fünfzigern, gleichwertig neben Gott und Vaterland stellen, ja, es versteht es sogar, den Zeitgeist geschickt für sich zu nutzen, indem es an die wichtigste Institution einer, nun ja, wertkonservativen Gesellschaft appelliert: die Familie. (Der Film unterstreicht, dass Ideale, Bilder für jemanden wie Kroc nur eine Ware sind, die es gewinnbringend zu handeln gilt, durch seine eigene kinderlose frustrierende Ehe. Dadurch dass dieser Kroc gewiss kein family man ist.)

Kroc tritt denn auch als eine Art komplett ökumenischer Prediger auf, der sich in explizit religiösen Kontexten, in Kirchen und Synagogen an verschiedenste Religionsgemeinschaften wendet, um Franchises anzuwerben. Rabbi, Pfarrer, Priester vereint in einem Mann mit der Mission, weltliche Güter zu vermehren – auch für die Masse, der er predigt, aber in erster Linie für sich selbst. Eine furiose Montagesequenz, an exponierter Stelle ziemlich genau in der Mitte des Films, lässt seine verschiedenen Predigten vor sehr heterogenem, aber in gleichem Maße gebannten Publikum zu einem abgehackten Einerlei aus einigen ständig wiederholten Schlagwörtern werden. Wie wenig kritisch der Film sich auch dem System gegenüber gibt, das Karrieren wie die Krocs erst möglich macht, seine Sprache nimmt hier eindeutig den Motivationssprech des Neoliberalismus vorweg. Eins werden nicht nur die Ansprachen vor Juden, Katholiken, Baptisten, sondern auch die (kapitalismus-)geschichtlichen Epochen.

Dass ich den Film nicht so uneingeschränkt mögen kann, wie ich gerne würde, dass er bei allen unzweifelhaften Qualitäten doch eine sehr zwiespältige Angelegenheit bleibt, liegt daran, dass er letztlich sein Potenzial für eine grundsätzliche Kritik an dem System verschenkt, das Menschen wie Kroc erst den Nährboden für ihre Machenschaften gibt, die, wenn (noch) nicht offen kriminell, dann doch, gelinde gesagt, moralisch mehr als fragwürdig sind. Bei aller Faszination für seine Hauptfigur lässt der Film zwar kaum einen Zweifel daran, dass Kroc ein ziemlich skrupelloses Arschloch war, er tut aber nichts anderes als ausgerechnet den Kapitalismus der McDonalds-Brüder als das Gute gegen diese Ruchlosigkeit und Amoral aufzustellen. Schon dieser begründetet aber auf Raubbau an Mensch und Natur.

Das von den Brüdern entwickelte Spedee-System in der Küche sieht schick aus, wenn man es im capitalist gaze-Modus auf einem Tennisplatz einübt, natürlich mal wieder aus der Vogelperspektive gefilmt. Für die MitarbeiterInnen aber bedeutet es mehr Stress, den Preis für das Essen in 30 Sekunden bezahlen letztlich sie durch einen Sprung in der – kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnissen immer schon eingeschriebenen – Entfremdung von dem Produkt ihrer Arbeit, an dessen Produktion sie nur noch als menschliche Zahnräder in einer perfekt geölten Maschinerie beteiligt sind. Und damit ist kein Wort gesagt über die Belastung der Umwelt, die der Verzicht auf wiederverwertbares Geschirr zugunsten von Wegwerfverpackungen aus Pappe und Plastik mit sich bringt.

Die Los Angeles Times sieht in dem, was Kroc mit den Brüdern macht, auch eine Vorwegnahme des Verrats der Ideale einer Nation durch eine kleptokratische Elite, wie sie sich gerade im Trump-Amerika wiederholt. Doch das greift eben zu kurz. Das eigentliche Problem sind nicht Raymond Kroc, Donald Trump oder Mark Zuckerberg. Das Problem ist ein Wirtschaftssystem, das auf Ausbeutung, Gier und Skrupellosigkeit fußt: der Kapitalismus.

Dieser Text ist zuerst gekürzt erschienen auf: perlentaucher.de

Sieben Minuten nach Mitternacht

(USA/ES 2016, Regie: Juan Antonio Bayona)

Trauer, Traum, Fabelbaum
von Drehli Robnik

Wenn in diesem Fantasy-Familiendrama das Bild zerrinnt, dann liegt das an der Aquarell-Optik einiger Visionssequenzen – und daran, dass wir weinen. (Zumindest ich.) (Aber wohl nicht nur ich.) Ein schmaler, …

Wenn in diesem Fantasy-Familiendrama das Bild zerrinnt, dann liegt das an der Aquarell-Optik einiger Visionssequenzen – und daran, dass wir weinen. (Zumindest ich.) (Aber wohl nicht nur ich.) Ein schmaler, von Bullies bedrängter englischer Schulbub (intensiv: Lewis MacDougall) muss lernen, mit seiner hantigen Oma (imposant: Sigourney Weaver) zurechtzukommen und vice versa, während seine Mutter in Chemotherapie – und der in Amerika lebende Vater nur kurz zu Besuch – ist. Die ritualisierten Begegnungen mit einem erzählfreudigen Baummonster um ‚Sieben Minuten nach Mitternacht‘ (Originaltitel: ‚A Monster Calls‘) werden ihm zu einem Ausweg, der nicht Flucht ins Fabulieren heißt, sondern Umnutzung des Märchenhaften zur Trauertherapie.

Krebs bleibt Krebs, Kitsch bleibt Kitsch – beides hier aber mit unerwarteten Wendungen; dazwischen kracksen und knirschen Holz und Haus und lässt die Bassstimme des Baumes uns Weinende wummern. Intimes und Monströses rinnen ineinander, ebenso die moralischen Zuschreibungen und Wertungen von Figuren und Handlungen. All das Bersten führt doch nur die Ohnmacht zur Einsicht – zum Sich-Arrangieren damit, dass Wünsche und Ängste quer zur Gut-Böse-Moral liegen und dass Schmerz nichts Edles an sich hat.

Gott ist tot, und den Sozialstaat haben wir umgebracht: Wie in den vorigen, ebenfalls schwelgerisch schönen Schreckensfilmen des Spaniers J.A. Bayona – ‚Das Waisenhaus‘, ‚The Impossible‘ – geht es um Familien, die sich beschädigt durch Angsterfahrungen und Traumata wursteln und fragile Strukturen einer nur relativen Geborgenheit als das, was an Lebensressource bleibt, anzuerkennen lernen. Und wie in den genannten Filmen, sowie seinem nächsten, einem Sequel zu Jurassic World‚, hat Geraldine Chaplin, Tochter des gleichnamigen Charlie, hier einen Kurzauftritt.

Victoria – Männer & andere Missgeschicke

(FR 2016, Regie: Justine Triet)

Selten innerer Frieden
von Wolfgang Nierlin

Im Gegensatz zu ihrem Namen lebt die Titelheldin aus Justine Triets Film „Victoria – Männer & andere Missgeschicke“ eher in ihren Niederlagen. Gleich zu Beginn der turbulenten Komödie fragt sich …

Im Gegensatz zu ihrem Namen lebt die Titelheldin aus Justine Triets Film „Victoria – Männer & andere Missgeschicke“ eher in ihren Niederlagen. Gleich zu Beginn der turbulenten Komödie fragt sich die alleinerziehende Enddreißigerin: „Wann hat mein Leben angefangen, so den Bach runter zu gehen?“ Als gestresste Anwältin unter permanentem Zeit- und Arbeitsdruck kriegt Vicotria (Virginie Efira) den Kopf nicht mehr frei und verliert dadurch zunehmend die Kontrolle über ihr Leben. Liebe und Sex hat die attraktive Single-Frau durch Arbeit ersetzt („Ich bekomme meinen Orgasmus in der Regel bei der Arbeit.“), ihre beiden vernachlässigten Töchter verwahrlosen in der bunten, ziemlich chaotischen Wohnung, ihr Babysitter hat soeben gekündigt und, als wäre das nicht schon genug, gibt es auch noch Ärger mit ihrem schriftstellernden Ex-Mann. „Ich habe so selten inneren Frieden“, konstatiert Victoria, die gleichzeitig einen Psychoanalytiker und eine Hellseherin konsultiert, um ihre Probleme in den Griff zu bekommen.

Doch das ist erst der Auftakt zu einer Reihe absurder Verwicklungen, von denen Justine Triets überhitzte, tempogeladene „Satire über Sex und Beziehungen“ ebenso witzig wie geistreich erzählt. Denn bei einer skurrilen Hochzeitsfeier trifft sie nicht nur ihren alten Freund Vincent (Melvil Poupaud) wieder, der tags darauf unter den abstrusen Verdacht eines Mordversuchs an seiner Freundin gerät, sondern auch ihren früheren Mandanten Sam (Vincent Lacoste), einen jungen Ex-Dealer, der sich neuerdings um seine Zukunft sorgt und seinem Leben eine neue Richtung geben will. „Ich befinde mich in der Clean-Phase meines Lebens“, sagt der sympathische Loser, bevor er bei Victoria als persönlicher Assistent anheuert und überraschenderweise zum Ruhepol innerhalb des allgemeinen Chaos wird. Bald ist Sam nämlich nicht nur Victorias Au-pair-Junge und Seelentröster, sondern irgendwann auch noch ihr Anwaltsgehilfe und Liebhaber.

Auf die verdränge, ausgeblendete Liebe läuft Justine Triets romantische Komödie auf Umwegen und durch allerlei Turbulenzen hindurch nämlich zu. Das Chaos des Lebens und den emotionalen Ausnahmezustand ihrer konfusen Heldin inszeniert Triet als Gleichzeitigkeit der Ereignisse. Dabei überwindet sie spielerisch Raum und Zeit, pflegt ganz selbstverständlich den Austausch zwischen realen und absurden Ereignissen sowie denjenigen zwischen Therapiesitzungen und Gerichtsverhandlungen. Im Zoom aus der Vogelperspektive wird Victoria zur Stellvertreterin moderner Lebensverhältnisse und Befindlichkeiten. Und natürlich überschattet auch bei ihre öfters der Schein das Sein: „Unter meinen Fehlern schlummern enorme Qualitäten.“

Tiger Girl

(DE 2016, Regie: Jakob Lass)

Destruktive Selbstfindung
von Wolfgang Nierlin

Der misslungene Bocksprung mit hartem Aufschlag zu Beginn von Jakob Lass‘ Film „Tiger Girl“ ist symptomatisch für Maggies (Maria Dragus) persönliche und soziale Unsicherheit. Die junge, etwas unbedarfte Frau scheitert …

Der misslungene Bocksprung mit hartem Aufschlag zu Beginn von Jakob Lass‘ Film „Tiger Girl“ ist symptomatisch für Maggies (Maria Dragus) persönliche und soziale Unsicherheit. Die junge, etwas unbedarfte Frau scheitert an der Aufnahmeprüfung für die Polizeischule und landet stattdessen unter lauter Männern in einem Kurs für Sicherheitsdienste. Vor allem aber ist Maggie in ihrem Alltag, der weitgehend ohne Hintergrund bleibt, ständigen Übergriffen ausgesetzt. Unterwegs im Großstadtdschungel wird sie von allen Seiten bedrängt, genötigt und angegriffen. Der ruppige Refrain des gleichnamigen Songs der Berliner Band Großstadtgeflüster bringt ihre Unerfahrenheit auf den Punkt: „Denn du weißt nicht wie man Feuer macht.“ Und das Gelernte sei nichts mehr wert. Um zum Raubtier zu werden ist erst noch eine Schulung nötig, die natürlich auf den Großstadtstraßen stattfindet.

Und dazu bedarf es in Jakob Lass‘ unkonventionellem Coming-of-Age-Film erstmal einer „Lehrerin“ mit Streetcredibility. „Tiger“ nennt sich das toughe Mädchen, das in einem ausrangierten Bus mit Kleindealern abhängt und Maggie wie ein Schatten folgt. Immer wenn es für diese brenzlig wird, ist „Tiger“ mit ihrer überlegenen Stärke zur Stelle. Sie lässt sich nichts gefallen, wehrt sich, schlägt zurück. „Tiger“ ist eine Kämpferin, die provoziert und sich nicht anpasst. Mit gewieften Tricks schlägt sie sich durchs Leben und hat dabei immer das Herz auf dem rechten Fleck. „Sag, was du willst, dann kriegst du’s“, sagt sie zu Maggie. Deren Höflichkeit bezeichnet „Tiger“ als Gewalt gegen sich selbst. Doch unter „Tigers“ Einfluss wird Maggie zunehmend selbstbewusster und mutiger. In komischen Rollenspielen und mit provozierender Lust an der Täuschung „ziehen sie Leute ab“ und überschreiten dabei Grenzen.

Jetzt heißt Maggie „Vanilla, the Killer“ und was zunächst Spiel war, wird bald gewalttätiger Ernst. Im Zeichen weiblicher Selbstermächtigung werden Gewalt und Zerstörung für „Vanilla“ zunehmend zum Selbstzweck, bis sich die gelehrige „Schülerin“ offen gegen ihre „Lehrerin“ stellt und ihre Freundschaft zerbricht.

Die destruktive Selbstfindung seiner negativen Adoleszenz-Geschichte erzählt Lass allerdings nicht als soziales Lehrstück, sondern als trashige Komödie mit Anleihen beim Karatefilm. Mit seinem bereits in „Love Steaks“ erprobten doku-fiktionalen Stil behauptet der Regisseur eine Authentizität, die durch coole Genre-Referenzen zugleich ironisiert wird. In den lose, kaum erzähllogisch verknüpften Szenen aus dem ganz gegenwärtigen, gesellschaftliche Zusammenhänge ausblendenden Hier und Jetzt, geht es eben nicht um die wirkliche Wirklichkeit, sondern nur um die gestische Behauptung derselben. Streng genommen ist also auch die „Echtheit“ nur eine Attitüde und ein Mittel unter anderen für eine Unterhaltung, die mit viel rockigem Drive zwar kurzweilig und irgendwie cool ist, aber eben auch nicht mehr und vor allem auf die Dauer ziemlich redundant.

Gerhard Richter Painting

(D 2011, Regie: Corinna Belz)

Grauer Star
von Ricardo Brunn

Zugespitzt formuliert, stellt Gerhard Richter seit den 1960er Jahren der Postulierung vom Ausstieg aus dem Bild eine Idee des Bildes entgegen. Konsequent befragt er Genres, Techniken und Traditionen nach ihren …

Zugespitzt formuliert, stellt Gerhard Richter seit den 1960er Jahren der Postulierung vom Ausstieg aus dem Bild eine Idee des Bildes entgegen. Konsequent befragt er Genres, Techniken und Traditionen nach ihren Möglichkeiten im Angesicht ihrer vermeintlichen Abgeschlossenheit. Wenn schon alles gemalt wurde, was kann dann noch gemalt werden? Welchen Sinn macht es, sich im Hier und Jetzt mit Seestücken oder Vanitasmotiven zu beschäftigen? Das ist die eigentliche Leistung dieses erstaunlichen Künstlers: Gerhard Richter malt. Und er setzt sich dabei stets mit der Wahrnehmung von Wirklichkeit und den Erkenntnismöglichkeiten von Kunst auseinander. Für Richter ist die Welt unbegreifbar. Dies drückt er auf unnachahmliche Weise in seinen Bildern aus, wenn er aus fotografischen Vorlagen unscharfe Gemälde reproduziert oder einen Tisch – trotz Vermalung bis zur Unkenntlichkeit – ins Bild hinein behauptet. Am eindringlichsten wird das Thema der vermeintlichen Gewissheit des Sehens und damit des Bildes von Realität vielleicht in seinen Spiegelarbeiten behandelt, weil der Betrachter hier am direktesten in das Kunstwerk einbezogen wird. Er sieht sich in den Spiegeln und Glasscheiben seitenverkehrt, manchmal unscharf oder halbdurchsichtig und überlagert vom Raum dahinter oder davor und wird so in die Hinterfragung der Wahrnehmung mit eingebunden. Auch in den abstrakten Bildern, die seit Mitte der 1970er Jahre entstehen, wird der Betrachter mit seinem eigenen Blick und dem Drang etwas erkennen und durchdringen zu wollen konfrontiert. In den Überlagerungen und Verwischungen, die durch den speziellen Farbauftrag des Rakelns entstehen, meint er immer wieder objekthafte Strukturen ausmachen zu können, obwohl diese nicht vorhanden sind und er eigentlich auch darum weiß. In Richters Kunst liegt etwas Ungewisses, das sich aus der Unmöglichkeit einer vollkommenen Durchdringung der Wirklichkeit ergibt. Und erst, wenn man den Versuch aufgibt, in seinen Bildern etwas sehen zu wollen, wird es möglich zu fühlen und das Hoffnungsvolle in seiner Kunst zu entdecken.

In einigen hervorragenden Szenen ihres Dokumentarfilmes „Gerhard Richter Painting“ schöpft die Regisseurin Corinna Belz genau aus diesem Themenkomplex. Gleich zu Beginn des Filmes, in dem sie den mittlerweile über 80jährigen bescheidenen Star der Kunstwelt bei der Arbeit an einer Serie abstrakter Gemälde begleitet, lässt sie Richter eine Filmkamera aufbauen. Später sehen wir dem Maler dabei zu, wie er die Anwesenheit dieser Kamera während der Arbeit immer mitdenkt, unsicher wird und sich fragt, welche Konsequenzen seine gegenüber der Kamera geänderten Verhaltensweisen für die entstehenden Bilder wohl haben mögen. Permanent befragt Richter seine Kunst unter dem eigenen Blick, dem Blick anderer und dem Blick konkurrierender Bilder. So wird ein grüner Zaun am Straßenrand für den Künstler zu einem interessanten Objekt, obwohl dieser für die Zuschauerin ganz gewöhnlich scheint. Eine Grafik Picassos vergrößert Richter nur deshalb, um diese seitenverkehrt aufzuhängen und zu schauen was dann mit ihr und ihm selbst passiert und was dieses kleine Bild uns heute noch zu sagen vermag.

Leider bleiben diese Momente glückliche Sonderfälle in einem ansonsten unglücklich geratenen Film, denn es gelingt der Regisseurin nicht, diesem richtigen Ansatz eine formale Idee an die Seite zu stellen. Sie flüchtet sich stattdessen aus dem Atelier in das Umfeld des Malers und, was schlimmer wiegt, in Erklärungen. Diese geben zwar Einblick in die Akribie des Malers, dem selbst die Hängung seiner Bilder scheinbar alles abverlangt, und unterstreichen zugleich seine Scheu vor der Kamera und der Öffentlichkeit, doch den Blick auf sein Werk schärfen selbst die Archivmaterialien kaum. Auch die Anspielungen auf die Familiengeschichte Richters, als dieser einige Familienfotos durchsieht, bleiben unbeholfene Versuche, sich der Person abseits der Bilder zu nähern und sind ebenso unnötig und bemüht wie die Einbindung des Kunsthistorikers Benjamin Buchloh, der in einem arg gestellten Interview mit Gerhard Richter eifrig von dessen Malerei und dem Dahinter zu erzählen versucht. Dazwischen müssen die Assistenten Richters wiederholt ihre Tätigkeiten beschreiben. Viel lieber will man Richter malen sehen.

Dem ergrauten Star des Kunstbetriebes begegnet „Gerhard Richter Painting“ mit einigen Sehstörungen. Denn es ist der journalistische Blick der Regisseurin, der die Möglichkeit, dem Zuschauer die Malerei Richters nahe zu bringen, von vornherein verbaut, weil er die Kunst auf die Person reduziert. Es fehlt ein künstlerischer Blick, der den Protagonisten nicht nur versteht, sondern mithilfe dieses Verständnisses einen eigenen künstlerischen Standpunkt formulieren und eine Annäherung an das Unerklärbare wagen könnte. Stattdessen werden der Akt des Malens und die im Gesicht Richters ablesbare und seit jeher präsente Frage, was zu malen sei und wie es zu malen sei, durch den Erzählzwang gestört. Richters Gefühl des Ausgeliefertseins, das er einmal im Film anspricht, resultiert womöglich aus der Tatsache, dass die Regisseurin ihm allen Grund dazu gibt. Ironie des Schicksals ist es da, dass die Kamera, die Richter zu Beginn überlassen wurde – damit er den Prozess seiner Arbeit konsequent weiter filmen konnte, auch wenn das Filmteam nicht anwesend war – nur unscharfe Bilder produzierte. Das Sehen ist und bleibt ein unzuverlässiger Akt der Erkenntnis, das muss sich auch „Gerhard Richter Painting“ letztendlich eingestehen.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Gerhard Richter Painting‘.

Mauerpark

(D 2011, Regie: Dennis Karsten)

Berlin, du bist so wunderbar
von Ricardo Brunn

Im Jahr 2005 wurde der amerikanische Fotograf David Burnett für seine Fotografien der Olympischen Spiele 2004 mit dem „World Press Photo Award“ ausgezeichnet. Das Besondere dieser Bilder war, dass die …

Im Jahr 2005 wurde der amerikanische Fotograf David Burnett für seine Fotografien der Olympischen Spiele 2004 mit dem „World Press Photo Award“ ausgezeichnet. Das Besondere dieser Bilder war, dass die Sportdisziplinen im Modus extremer Tiefenunschärfe aufgenommen wurden. Diese Tilt-Shift-Effekt genannte Technik lässt alle Objekte im Bildmittelgrund als Miniaturen erscheinen, weil Bildvorder- und Bildhintergrund unscharf bleiben. Gerade in der Sportfotografie, wo jede Bewegung, jeder Augenblick entscheidend sein können, verleiht dieser über eine Neigung der Bildebene in der Kamera (oder ein entsprechendes Objektiv) erzeugte Effekt den Bildern eine geradezu irreale Spannung. Auf gewöhnliche Orte und Objekte angewandt, überwiegt jedoch schnell der Eindruck schnöder Verkleinerung. Hinter dem durch die Unschärfen verengten Bildausschnitt kann im langweiligsten Fall die Idee stecken, das Bild für den Betrachter interessanter zu machen, als es ist.

Der Dokumentarfilm „Mauerpark“ von Dennis Karsten beginnt mit Totalen, die diesen Tilt-Shift-Effekt ebenfalls nutzen. Sie zeigen den Mauerpark in Berlin aus der Vogelperspektive. Sofort wird klar, hier geht es um Menschen in einem Mikrokosmos. Im Folgenden geben Anwohner, Zugezogene, Künstler, Alt-Raver und Jung-Hippies Interviews und ihre Sicht auf den Mauerpark preis. Weil der Film ein lebendiges Portrait im Sinn hat, bemüht er sich um ein größtmögliches Spektrum an Persönlichkeiten aus der näheren Umgebung des Parks. Da steht der glatzköpfige Ex-Marzahner Conny neben dem (tatsächlich nicht wie fünfzig Jahre alt aussehenden) Dr. Motte und dem fast schon stoischen BSR-Mann Horst, der als einziger nicht in der Nähe des Parks wohnt und somit ansatzweise einen Blick von außen repräsentiert. Leider sind die Aussagen der Interviewpartner nicht so vielfältig wie deren Herkunft geraten und pendeln sich allzu schnell auf den Vollsuffslogan einer bekannten Großstadt-Kinowerbung ein, um sich im weiteren Verlauf des Filmes in redundantem Geplauder zu verlieren. Berlin präsentiert sich einmal mehr als Partyhauptstadt im Feel-Good-Movie. Die eingesetzte Musik unterstützt das Lebensgefühl vieler Dauertouristen dieser Stadt zusätzlich. Nur der Müll nervt und die diffusen Pläne des Senats zur Bebauung des Geländes. Oder die Red-Bull-Trucks, die das Selbstgemachte und damit die Einzigartigkeit der ansässigen Bohème zu Grabe tragen. Was nach dem Film bleibt, ist das Bewusstsein, dass der Mauerpark eine riesige Spielwiese für allerlei kreatives Personal der Sonderbewirtschaftungszone Prenzlauer Berg ist. Und so sehr sich das Gefühl, dass da was geht im Prenz’lberg, auch auf den Zuschauer überträgt, es braucht dazu einfach keine 79 Minuten.

„Mauerpark“ leidet unter seiner Montage und der mangelhaften Strukturierung mit Tendenz zum Unkonkreten. Er schafft es nur selten, Figuren und Themen zu ordnen oder herauszuarbeiten. So werden dem Publikum im Verlauf des Filmes verschiedenste Musikgruppen und Solokünstler vorgestellt, deren Aussagen sich jedoch kaum voneinander abheben, dadurch Gewichtung verlieren und über den Film hinaus nicht im Gedächtnis des Zuschauers präsent bleiben. Stellenweise verliert sich der Film in der Masse seiner Figuren, verpasst es Überflüssiges auszusortieren. Da platzen die Basketball-Mädchen Evi und Maike mal eben unerwartet in die Erzählung, obwohl deren Geschichte schon 25 Minuten zuvor behandelt und zu einem sinnvollen Ende geführt wurde. Solche Momente fühlen sich an, als wollte der Regisseur auf Biegen und Brechen einen Langfilm aus dem Material stemmen, welches dem klassischen Reportagestil näher ist als dem forschenden Dokumentarfilm.

Bei aller ausladender Geste bezüglich seines Figurenrepertoires verweigert der Film vehement einen größeren Rahmen oder den von Maler Eldar im Film angesprochenen Perspektivwechsel. So passen auch die Aussagen der beiden Alt-DJ‘s Tanith und Dr. Motte zur Techno-Szene im vereinten Berlin nicht in den Film. Denn weder hat das etwas mit dem Mauerpark zu tun, noch spannt der Film einen Bogen und bezieht tatsächlich die Geschichte der Stadt Berlin in seine Betrachtungen mit ein, um zu erläutern, was an so einem Ort unter bestimmten (auch historischen) Bedingungen entstehen kann, wenn es von Staat und Gesellschaft mehr oder weniger zugelassen wird. Über die Geschichte dieses Ortes, der immerhin einmal Teil des Todesstreifens war, erfährt die Zuschauerin so gut wie gar nichts. Und auch Themen wie die Gentrifizierung, die direkt an der Mauerparkgrenze neue Mauern durch die Stadt zu ziehen begonnen hat, gehört eigentlich genauso zum Bild dieses Parks wie die rasant steigenden Mietpreise, die viele Anwohner bald in die Peripherie vertreiben werden. Plötzlich wirken da die extremen Unschärfen der Anfangsbilder wie die Scheuklappen eines Rennpferdes. Dahingehend verhält sich der Film kongruent zum Statement von Wladimir Kaminer: Alles abbauen, wegschmeißen und so tun, als wäre nie etwas gewesen. „Mauerpark“ von Dennis Karsten ist somit ein kurzweiliger, aber ebenso oberflächlicher Film über den Mikrokosmos eines Parks geworden, der kein Außen zu kennen scheint. Den Ansprüchen an einen Dokumentarfilm wird er damit allerdings nicht gerecht.

Humanoid

(USA 2016, Regie: Joey Curtis)

Endlose Schlachten im ewigen Eis
von Nicolai Bühnemann

Das Jahr ist 2307. Die Welt ist vereist, befindet sich in einem Jahrhunderte andauernden Winter. So kaputt wie die Welt, in der er lebt, ist auch der Protagonist. Wir begegnen …

Das Jahr ist 2307. Die Welt ist vereist, befindet sich in einem Jahrhunderte andauernden Winter. So kaputt wie die Welt, in der er lebt, ist auch der Protagonist. Wir begegnen ihm zuerst in einem Nachtclub, durch den uns eine stylische Plansequenz führt, bei der die Kamera dem Tablett in den Händen einer Kellnerin folgt, auf dem ihm das einzige serviert wird, was dem bärtigen, langhaarigen, verwahrlosten Mann nach dem Tod seiner schwangeren Frau noch Linderung verschaffen kann: Q-Vapor heißt die ultimative Droge der Zukunft.

Aus seinem Rausch wird Bishop (Paul Sidhu) sehr unsanft geweckt. Sein einstiger Vorgesetzter beim Militär hat einen Auftrag für ihn. Er soll den Anführer eines Aufstands unter den Humanoiden (kurz „Noids“ genannt) ausfindig machen und eliminieren. Für den Soldaten eine sehr persönliche Aufgabe, denn ebendieser Anführer ASH-393 hat auch seine Frau und sein ungeborenes Kind auf dem Gewissen, wobei letzteres, so wird behauptet, noch am Leben sein soll. Für Bishop und seine schießwütige Einheit beginnt eine Reise durch die unwirtliche Landschaft der sogenannten Dead Zone, an deren Ende es einige Überraschungen für ihn und die Zuschauenden geben wird.

Wie man es von echter Exploitation gewohnt ist, nimmt sich auch „2307: Winter’s Dream“, wie „Humanoid – Der letzte Kampf der Menschheit“ im Original heißt, von anderen Filmen, was er braucht. Neben den mehr und mehr fühlenden künstlichen Menschen, wie wir sie aus Ridley Scotts „Blade Runner“ kennen, scheint Bishops Platoon eine B-Movie-Variante der Einheit um Ripley in James Camerons „Aliens“ zu sein. Die ewige Eiszeit der Zukunft erinnert an „Snowpiercer“. Das Motiv der Reise ins Herz der Finsternis, um einen Mann zu töten, geht bis auf Joseph Conrad zurück und wurde im Kino etwa von Francis Ford Coppola in „Apocalypse Now“ variiert. Leider gehört „Humanoid“ nicht zu den Filmen, denen ihre direct-to-video-Machart dazu verhilft, aus ihren prominenten Vorbildern dahingehend Kapital zu schlagen, dass es gelingen würde, deren Motive neue Facetten abzugewinnen, Dinge zu thematisieren, die das höher budgetierte Kino nicht behandeln kann oder will.

Dabei beginnt der Film durchaus fulminant. Mit der Vision einer Zukunft wie sie abgefuckter kaum sein könnte, in der alle Lebensfreude ausgelöscht scheint und alle „Pleasure Models“ (künstliche Sexsklavinnen) nicht mehr über die erlebten Traumata hinwegtrösten können. Spätestens aber mit dem Beginn der Reise wendet sich das Blatt. Die Atmosphäre bleibt auch weiterhin und buchstäblich eisig, der Film ermüdet aber nun mit seinen ausgewalzten bisweilen auch relativ blutigen Actionszenen zunehmend.

Am Ende dann werden alle Grenzen zwischen Gut und Böse neu verlegt. Die sich schließlich nur noch gegen die Noids richtenden Rassenreinheitsressentiments der ihm von Anfang an feindlich gesinnte strohblonde Soldatin Bishops, deren Bibel „Mein Kampf“ ist, werden ad absurdum geführt. Bishop, der seinen missionarischen Eifer schon im Namen trägt, darf eine aus Menschen und Humanoiden zusammengesetzte Bande in neue Schlachten führen. Ob die Tatsache, dass er an den eigentlichen Verursachern seines Leids hier keine Rache mehr nehmen kann, nun eine Unterwanderung von Genrekonventionen darstellt oder man sich das nur für eine Fortsetzung aufspart, wird sich zeigen. So oder so: Uns erwarten eisige Zeiten.

Das Ende ist erst der Anfang

(BE/FR 2015, Regie: Bouli Lanners)

Gegen die Angst immer geradeaus
von Wolfgang Nierlin

Über der flachen, schier endlosen Weite ist der schwere Himmel bewölkt. Fahles Herbstlicht fällt in die nebelverhangene, baum- und strauchlose Landschaft, die von kerzengeraden Straßen durchzogen wird. Die Figuren aus …

Über der flachen, schier endlosen Weite ist der schwere Himmel bewölkt. Fahles Herbstlicht fällt in die nebelverhangene, baum- und strauchlose Landschaft, die von kerzengeraden Straßen durchzogen wird. Die Figuren aus Bouli Lanners neuem Film „Das Ende ist erst der Anfang“ (Les premiers les derniers) verlieren sich darin. Allesamt sind sie unterwegs mit ungewissem Ziel, wobei sich ihre Wege paradoxerweise immer wieder kreuzen. Vor allem aber sind sie Fremde an einem unwirtlichen Ort, der von leeren Lagerhallen, zerfallenden Industriebrachen, einer verlassenen Tankstelle und einer provinziellen Spelunke gesäumt wird. Der wilde Westen, aufgenommen in der französischen Beauce, hat hier den Charakter einer endzeitlichen Landschaft. „Im Fernsehen haben sie gesagt, die Welt wird untergehen.“

Der das äußert heißt Willy (David Murgia). Zusammen mit seiner Freundin Esther (Aurore Broutin) ist er auf unbestimmter Flucht. Dabei wirkt das schutzlos ausgesetzte Pärchen unbeholfen und verletzlich. Die orangefarbenen Signaljacken, in denen die beiden notdürftig stecken, sind wie ein Ausweis ihrer Obdachlosigkeit. Aber das riesige Universum mit seinen Milliarden von Sternen könne nicht einfach verschwinden, sagt ein Mann, der sich Jesus (Philippe Rebbot) nennt und ihnen die Angst nehmen will. Später liegt Jesus mit durchschossener Hand in einem Krankenhaus und erklärt seinem Bettnachbar Gilou (Bouli Lanners), der nach einem Zusammenbruch eingeliefert wurde: „Das Herz mag nicht, wenn man sich Sorgen macht.“ Der alternde, vermeintlich herzkranke Ganove leidet nämlich vor allem unter Einsamkeit und Todesangst.

Zusammen mit seinem Kumpel Cochise (Albert Dupontel) und dem kleinen Hund Gibus ist er in besagter Landschaft unterwegs, um in geheimem Auftrag ein Handy mit sensiblen Daten zu orten und sicherzustellen. Doch das Signal, dem die beiden schweigsamen Männer in ihrem Pick-up eher lustlos folgen, ist meistens ausgeschaltet. Überdies wechselt das Handy, ausgelöst durch skurrile Begegnungen und Verwicklungen, wiederholt den Besitzer. Doch eigentlich ist diese konfliktreiche Suche in Lanners lakonischem Roadmovie, das (visuelle) Motive des Westerns zeitgemäß variiert, nur ein Aufhänger für existentielle Fragen. Zwar geraten die fremden nacheinander in gewalttätige Auseinandersetzungen mit den ortsansässigen, selbsternannten Ordnungshütern, aber Lanners eigentliches Interesse gilt einer „Botschaft der Hoffnung“.

Mit trockenem Humor, in stilisierten, fast farblosen Bildern und teils surrealen Szenerien beschwört sein meisterlich erzählter Film den Lebensmut gegen die Todesangst. „Ich war tot und bin ins Leben zurückgekehrt“, lässt der belgische Filmemacher und Schauspieler zwei sehr alte Männer in ihrer Grabrede für eine mumifizierte Leiche aus der Bibel zitieren. Gespielt werden sie von Michael Londsdale und Max von Sydow, zwei legendären Altstars des europäischen Kinos.

Guardians of the Galaxy Vol. 2

(USA 2017, Regie: James Gunn)

Daddy Issues im Familien-Business
von David Auer

Disney/Marvel ist ein guter Papa, zumindest für all jene Regisseure, die sich das monströse Unternehmen für sein Superhelden-Franchise ins Boot holt, welche nicht zu sehr aufmucken. Der eine oder andere, …

Disney/Marvel ist ein guter Papa, zumindest für all jene Regisseure, die sich das monströse Unternehmen für sein Superhelden-Franchise ins Boot holt, welche nicht zu sehr aufmucken. Der eine oder andere, manchmal direkt aus dem Indie-Becken gefischte Blockbuster-Debutant in spe (wie Taika Waititi – „What we do in the Shadows“, „Hunt for the Wilderpeople“ -, der soeben den dritten „Thor“ inszeniert) darf nämlich gern seine Eigenheiten, für die er in „der Szene“ bekannt ist, auf der Leinwand ausleben, das einzelne Produkt muss dennoch in den Bahnen des Konzerns fließen (zumal diese ja immer in einen „Avengers“-Phasenabschlussfilm münden müssen). Kompromisse werden gerne eingegangen – z. B. ist es Shane Black in „Iron Man 3“ durchaus gestattet, seinen immerwährenden Buddy-Comedy-Vogel auszuleben, sofern der Film brav mit dem Genre-üblichen Spektakel-Overkill endet –, dienen sie doch dem absichtsvoll berechenbaren Apparat als regelmäßig verordnete Frischzellenkur und Marketingvehikel. Zu viel Eigensinn wird jedoch bestraft: Edgar Wright fand aufgrund „kreativer Differenzen“ letztendlich keinen Eingang ins Familien-Business (an seiner statt hat der eh okaye Peyton Reed den recht schmunzeligen, aber bis auf ein paar atemberaubende Groß-Klein-Modulierungs-Effekte konventionellen „Ant-Man“ fürs Kino inszeniert).

Nicht jeder weist derlei Künstlerallüren wie Wright auf, der mit „Scott Pilgrim vs. The World“ bereits bewiesen hat, dass er Comic-Panels und Leinwand bestens zu versöhnen weiß (und die beschränkte Ästhetik des Marvel Cinematic Universe, MCU, ein paar Jahre vor seinem Engagement locker bereits weit hinter sich gelassen hat). Die meisten sind, und sie werden nicht müde, es zu betonen (vermutlich auch, weil es in ihrem Vertrag verankert ist), über alle Maßen dankbar für die Chance, die ihnen das Studio bietet. Ein fast schon infantiles Ausmaß nimmt diese Dankbarkeit bei James Gunn, auch Superhelden-Verfilmungs-erfahren (grimmig-skurril: „Super“), an, der seine Fans auf Facebook euphorisiert dafür feiert, dass sie so zahlreich Tickets für sein „Baby“, „Guardians of the Galaxy“, eingelöst haben. Weltweit hat der erste Teil nämlich knapp 800 Mio. Dollar eingenommen, weshalb es wenig verwundert, dass er auch gleich die Fortsetzung übernommen hat.

Gespannt darf man sein, was er über die Dreharbeiten zu „Guardians of the Galaxy Vol. 2“ zu erzählen hat (vielleicht Ähnliches wie Joss Whedon, der nach „Avengers: Age of Ultron“ wie ein verzogener Bengel lautstark gegen Disney wetterte?), denn darin reflektiert er eine möglicherweise widersprüchliche Erfahrung mit dem Mutter-, Pardon, Vaterkonzern, zumindest wenn man dessen Geschehnisse grob allegorisch fasst. Im Zentrum steht der sich unbewusst seiner Ahnenlinien gewisse und dementsprechend selbstbetitelte draufgängerische Star-Lord Peter Quill, der wie auch im Vorgänger am Tod seiner Mutter und der Abwesenheit seines Vaters leidet. Als der ihn nun eines Tages auffindet, ist der Sohnemann hellauf begeistert. Eine Begeisterung, die schnell weicht, sobald ihm der von Kurt Russel lässig-größenwahnsinnig verkörperte Patriarch, der ausgerechnet Ego heißt, seine Pläne offenbart: Ein Mensch ist er nämlich nicht, sondern ein Gott, der sich eine Welt (genauer: einen Planeten) nach seinem Ebenbild erschuf und überall im Universum seinen Samen verstreut, „until everything is me“, wie er einmal sagt. Grob kann man darin die Integrationsmanie Disneys erkennen: Neben jeder Marvel-Figur, deren Rechte nicht schon im Besitz eines konkurrierenden Studios liegen, versammelt das Haus mit der Maus neuerdings auch Lucas Film unter seinem Dach und appliziert das MCU-Prinzip auf „Star Wars“, dessen zentraler Konflikt ebenso der zwischen herrschsüchtigem Vader und rebellischem Sohn ist.

Nicht nur erzählerisch nähert sich Gunn also einem der Ur-Franchises an: Das verschlissene Innenleben der Raumschiffe, die Vielfalt im Creature-Design, die divers zusammengewürfelte Kerncrew aus teils kriminellen Misfits, das Gefühl, im Kosmos würd‘s nur so vor sich hinwuseln: „Guardians of the Galaxy Vol. 2“ atmet mehr alten Sternenkrieg-Staub als „The Force Awakens“ oder die über weite Strecken misslungenen, jedoch ambitionierten Prequels. Und genauso wie deren CG-Welten wirkt auch die von Papa Ego zu glatt, leblos, forciert durchkomponiert und –kalkuliert. Gunn spielt also im Kampf Herkules (Star-Lord als Halbgott) gegen Narziss (Ego als selbstverliebter Geck, der sich selbst zwanghaft ins Außen spiegelt) Chaos gegen Ordnung, vermeintlich gewachsene Echtheit gegen gemachte Künstlichkeit aus – und das stößt auf, nicht nur aufgrund des Anti-Imp-Pathos, der sich im Kampf der Rebellen bzw. Wächter gegen das „Empire“ (Negri/Hardt/Lucas) ausdrückt. An den Zeitgeist linkester Prägung schmiegt sich auch die Patchwork-Emphase an, die in der biologischen Herkunft allein das Böse, Zerstörende sieht und im selbst gewählten Bandenwesen das Antidot gegen Patriarchat, Imperialismus, Kapitalismus und was sonst noch an zu Reklameformeln verstockten Schlagworten den tendenziell in bloßem Schwarz-Weiß-Schema denkenden Social Justice Warriors allzu leicht von der Zunge rollen, wenn es um die allzu schnelle Identifizierung des Unheils geht. Sogar die buntgescheckten Schwestern Nebula und Gamora legen ihre lebenslange Fehde beiseite, als sie erkennen, dass die schwarze Pädagogik von Daddy Thanos daran Schuld ist (und nicht nur Kenner erkennen in ihm wiederum Anschlusspotential ans Großprojekt, in das Star-Lord und Co. bald integriert werden).

Verwässerter Ödipus und Mythos, der als Pop wieder in sich selbst umschlägt: Die Marvel-Fanboys und -girls erkennen sich darin bereitwillig wieder, werden den zweiten „Guardians“ genauso pflichtbewusst abfeiern wie den ersten und gleich einem Uhrwerk gegen den vermeintlichen farblosen Konservatismus Zack Snyders online zu Kriege ziehen (der gemeinsam mit DC zurzeit am bisher besseren Comic-Franchise arbeitet). Man kann es ihnen nicht verübeln, denn sowohl die bunte Lolipop-Ästhetik als auch das im besten Sinne weirde Figurenensemble, das u.a. aus dem zynischen sprechenden Waschbären Rocket, dem wortkargen Babybaumwesen Groot und dem Muskelprotz Drax, der alles wörtlich nimmt, besteht, nötigen einem schlichtweg mehr an Fun-Affirmation ab. Es letzterem gleichzutun und James Gunns fantasievoll und rasant inszenierte Marvel-Weltenerkundung ostentativ nicht-allegorisch zu verstehen, als „bloßen“ jolly good ride also, tut auch niemandem weh (was eben vielleicht auch das Problem ist, aber … ja eh), besonders wenn am Schluss sogar ein paar verdiente tearjerker-Momente für nah am Wasser Gebaute dabei abfallen.

Nacktbaden – Manche bräunen, andere brennen

(GR/D 2016, Regie: Argyris Papadimitropoulos)

Fehlgeleitete Besessenheit im Partyparadies
von Nicolai Bühnemann

Zu Beginn kommt Kostis, ein Arzt Ende vierzig, auf Antiparos, einer kleinen griechischen Urlaubsinsel an, wo er seinen neuen Posten antritt. Es ist Winter. Er wird vom Bürgermeister der Insel …

Zu Beginn kommt Kostis, ein Arzt Ende vierzig, auf Antiparos, einer kleinen griechischen Urlaubsinsel an, wo er seinen neuen Posten antritt. Es ist Winter. Er wird vom Bürgermeister der Insel persönlich in Empfang genommen, man duzt sich hier, so erfährt er. Wir sehen ihn bei der Ankunft in seiner Wohnung. An der Supermarktkasse, wo ihm der Verkäufer mit dem Hinweis, dass er zu viel Tiefkühlprodukte kauft, etwas Gemüse aus eigenem Anbau schenkt. In seiner Praxis, wo er in zwei Szenen zunächst eine ältere Frau, dann etwas später einen Mann ebenfalls fortgeschrittenen Alters untersucht. Beim Essen in der örtlichen Wirtschaft, wo ihn der Möchtegernfrauenaufreißer des Ortes über die Vorzüge des Sommers hier aufklärt: internationale Muschis.

Argyris Papadimitropoulos, der mit „Suntan“ (deutscher Titel: „Nacktbaden – Manche bräunen, andere brennen“) seinen dritten Film als Regisseur vorlegt und auch das Drehbuch verfasste, kadriert seine extrabreiten Scope-Bilder (Seitenverhältnis: 2,66:1) sehr exakt, löst viele der Szenen in einer einzigen Einstellung auf, die jeweils komplett statisch und dementsprechend lang ist, denen die Langeweile auf der Insel zur off season förmlich eingeschrieben steht. Erst kurz vor der Titeleinblendung, die erst nach satten zwölf Minuten erscheint, kommt die Kamera in Bewegung, fährt von Kostis, der auf dem Bett in seiner Wohnung sitzt, zurück, so dass das Fenster ins Bild gerückt wird, durch das wir ihn nun sehen. Wir haben ihn, ohne irgendetwas über seine Biographie zu erfahren, als einen Mann kennengelernt, der so in seinem Leben eingeschlossen scheint, wie ihn die Kadrierung dieser Einstellung einschließt, die durch den Rahmen des Fensters verdoppelt wird.

Papadimotropoulos erzählt in einem Interview, dass er zu dem Film inspiriert wurde durch seine eigenen Aufenthalte auf Antiparos, wo auch zur Hochsaison mit echten Feiernden in der Disko und echten NudistInnen am Strand gedreht wurde, sowie durch die Lektüre Michel Houellebecqs. Wer dessen Schaffen kennt, insbesondere vielleicht seine Romane „Elementarteilchen“ und „Plattform“, weiß, dass das sexuelle Glück mittelalter Männer bei ihm selten von Dauer ist. Das gilt auch für „Suntan“, wobei der Film in einer Hinsicht noch ein Stück weiter geht als die beiden Romane, deren Protagonisten immerhin von der sexuellen Erfüllung kosten dürfen, nur um dann ganz schnell festzustellen, wie zerbrechlich ihr neugewonnenes Glück ist.

Nach dem Titel dann scheint zunächst alles anders zu sein. Die Kamera und der Plot kommen in Bewegung mit Eintritt des Sommers, der Saison, in der die Insel scharenweise Menschen auf der Suche nach hedonistischen Sinnenfreuden anzieht: Sex, Partys, Alkohol. Ins erstarrte Leben von Kostis kommt Fahrt, der sich auch in der Form, in den Bildern niederschlägt, die nun mit der Handkamera eingefangenen werden, als Anna (Elli Tringou) mitsamt ihrer internationalen Clique von jungen Feierwütigen seine Praxis eher stürmt als betritt. Die Beziehung von Kostis zu Anna, die nie ohne ihre Entourage anzutreffen ist, hält für den Mann eine sich durch den ganzen Film ziehende Reihe von Demütigungen parat.

Das beginnt gleich beim Kennenlernen, wenn nicht nur Kostis Autorität als Arzt empfindlich dadurch in Frage gestellt wird, dass es der Gruppe ganz und gar nicht beliebt, seiner Aufforderung nachzukommen, vor seiner Praxis auf ihre Freundin zu warten, die sich beim Motorradfahren verletzt hat. Dann macht, während sich Kostis über Anna beugt, um die Wunde an ihrem Bein zu untersuchen, eine ihrer Freundinnen eine Bewegung, als würde sie ihn von hinten penetrieren. Seine Männlichkeit, seine phallische Kontrolle über die Situation wird dem Mann so mit einer einfachen Geste abgesprochen.

Und das setzt sich fort als Kostis, weiß wie ein Bettlaken, unbeholfen in seinen langen Klamotten über den Strand voller nackter und halbnackter, braungebrannter junger Menschen läuft, auf dem er so offensichtlich ein Fremdkörper ist. Einen vorläufigen Höhepunkt erreicht es aber mit ihm, als er, endlich am Ziel seines Begehrens angekommen, ebendieses nicht zügeln kann und beim Sex mit Anna an einem abgelegenen Strand viel zu schnell kommt. Von diesem Klimax geht es für ihn steil bergab bis zum absoluten Tiefpunkt.

Nach der erotischen Begegnung am Strand sind sie und die anderen plötzlich verschwunden. Fünf Tage lang, in denen Kostis durch das Nachtleben der Insel zieht. Zu viele Zigaretten raucht, zu viel Bier trinkt, die Feiernden um sich herum, die etwa nackt am Strand um ein Lagerfeuer tanzen, Geburtstag feiern. Mit dem misogynen Möchtegernmacho versucht, eine Frau aufzureißen, die ihm schließlich einen bläst, was auch keine echte Ablenkung von seinem Kummer bringt. Kostis ist allein, verloren, und Kamera und Inszenierung entwickeln auch hier ein sehr genaues Gespür für seine Einsamkeit, seine Verlorenheit inmitten der feiernden Massen.

Dann kommt Anna zurück. Auf Mykonos war sie, so erzählt sie zunächst ausgelassen. Auf die Szene, die er ihr macht, sich beschwert, dass sie ihm nichts gesagt hat, von ihrem Ausflug, seine Eifersüchteleien, reagiert sie zunächst verständnislos, dann mehr und mehr ungehalten. Sie fordert ihn auf, zu gehen, und von da an ist nichts mehr so, wie es war. Nicht mal mit eiskaltem Bier in der Mittagshitze kann er die Gruppe noch locken, die nackt in der Sonne brütet. Sie bräunen, er brennt. Für sie.

Er hat gegen eine ungeschriebene Regel verstoßen, indem er eine Obsession entwickelte, wo es für Anna nichts als Spaß und einen Urlaubsfick gab. Er wittert eine letzte Chance, nicht nur das nachzuholen, was er vielleicht in der eigenen Jugend verpasst hat, sondern seinem verwirkten Leben doch noch eine Wendung ins Positive zu geben. Anna ist für ihn, der sich wie ein Ertrinkender fühlt, der letzte Strohhalm, an den er sich erbarmungslos klammert. Die Tragödie, die sich aus diesem Zusammenprall zweier grundverschiedener und unmöglich miteinander in Einklang zu bringender Vorstellungen des Lebens ergibt, kostet der Film wiederum gnadenlos aus. Er verliert sie, die er doch niemals besessen hatte, seinen Job, seine Hoffnung. Vor allem aber sich selbst. „Davor war’s schöner allein zu sein“, heißt es in einem Song der Fantastischen Vier, für Kostis könnte man wohl eher sagen, nicht ganz so unerträglich.

Er, den wir in der Interaktion mit Anna als Kontrollfreak kennenlernen, hat nichts unter Kontrolle. Anna nicht und noch viel weniger seine eigenen Gefühle für sie. So kommt es zu einem letzten ganz und gar verzweifelten Akt, mit dem der Mann versucht, die Kontrolle wieder an sich zu reißen, die Frau, die nicht seine sein, nicht besessen werden will, sondern jung sein, ficken, saufen, tanzen und in der Sonne liegen will, doch zu besitzen, ganz für sich alleine zu haben. Der Film entlässt uns mit einem wahrlich verstörenden letzten Bild in den Abspann.

Wie „Spring Awakening“ wurde auch „Suntan“ von Pierrot Le Fou auf DVD und Blu-ray veröffentlicht. Leider beschränken sich auch wie dort die Specials auf einen Trailer und ein Wendecover. Für jemanden wie mich, der sich im griechischen Kino absolut nicht auskennt, ist es interessant zu sehen, was für ein kraftvolles, dringliches Kino derzeit aus diesem krisengeschüttelten Land kommt. Dass man dieses, auch wenn es wie dieser Film auf vielen internationalen Festivals zu sehen ist, hier nicht im Kino erleben kann, sondern nur zuhause auf Scheibe, ist sehr schade.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Nacktbaden‘.

Spring Awakening

(GR 2015, Regie: Constantine Giannaris)

Fotoalbum der Rebellion
von Nicolai Bühnemann

Vermummte DemonstrantInnen. Prügelnde PolizistInnen. Feuer. Graffiti. Lines auf einem Spiegel. Ein Konzert. Ein Mädchen, das ein Buch liest. Eine zerstörte Familie beim Essen am Tisch, der für einen mehr, einen …

Vermummte DemonstrantInnen. Prügelnde PolizistInnen. Feuer. Graffiti. Lines auf einem Spiegel. Ein Konzert. Ein Mädchen, das ein Buch liest. Eine zerstörte Familie beim Essen am Tisch, der für einen mehr, einen Toten gedeckt ist (eisig die Atmosphäre, Entfremdung pur). Eine Familienfeier (ausgelassen die Atmosphäre, doch der Jugendliche allein, isoliert zwischen all den Menschen, die ihm nahe stehen sollten, es aber nicht tun). Eine flüchtige Begegnung einer jungen Frau mit ihrer ebenfalls noch recht jungen Mutter in der Küche. Ein Gespräch über Verhütungsmittel. Danach die Scherben eines Glases auf dem Fußboden, über die ein nackter Fuß wandert (ein verdammt eindringliches, sich in die Erinnerung einbrennendes Bild). Ein Gruppenfoto mit Kalaschnikow und Colt (die unterschiedlichen Erzählungen der Waffen, der Revolver, der die Menschen gleich macht, das Sturmgewehr der Revolution, werden eins in den Händen einiger verirrter Jugendlicher). Ein Mädchen, das im Versteck sitzt und masturbiert, während sie auf ihren Freund wartet, der nicht ans Telefon geht. Zwei Männer, einer von ihnen der Freund des Mädchens, das auf ihn wartet, die miteinander ins Bett gehen.

Fünf jungen Menschen, an denen die Kamera langsam entlang fährt. Gebieterisch stehen sie da, im Hintergrund eine pittoreske Landschaft mit See und Hügeln. Der letzte von ihnen, auf dem die Kamera stehen bleibt, zieht schließlich eine Pistole, fuchtelt mit ihr herum. Von dieser Einstellung kann es eigentlich nur noch abwärts gehen. Und das tut es dann auch. All the way. (Wo 1987 in Alan Parkers „Angel Heart“ Mickey Rourke noch den Fahrstuhl hinab nahm, wo Robert De Niro auf ihn wartete, gehen die fünf Jugendlichen hier in der letzten Einstellung, die in einer Rotblende endet, ein langes Treppenhaus hinunter – in die Hölle, in der sie sich doch von Anfang an befanden, nur das ihre sowieso denkbar ungestüme Rebellion gegen die Verhältnisse nun endgültig gescheitert ist.)

Eine Szene oder eigentlich vielmehr ein Requisit bildet in „To xypnima tis anoixis“ (deutscher Titel: „Spring Awakening – Aufstand der Jugend“) ein Mise en abyme. Die weiblich Hauptfigur, Ionna (Daphne Patakia), entreißt ihrer Mutter einmal ein Album, von dem sie vorgibt, es für die Schule gemacht zu haben, in dem sich Zeitungsausschnitte über Gewaltverbrechen neben Fotos von vollautomatischen Waffen finden. Ein solches Album ist der Film von Constantine Giannaris. Ein Fotoalbum der Rebellion und des Aufstands einer Jugend, die viel zu sehr verloren scheint, gemeinsam in der Geschichte eines Landes am Abgrund und jede/r für sich in der eigenen Biographien, als dass es noch möglich wäre, ihre schwelenden Aggressionen politisch zu kanalisieren. Darin besteht – sicherlich nicht ausschließlich, aber doch wohl im Kern – ihre große Tragik.

Das schlägt sich schon in der Form des Films nieder. Immer wieder wird der Bilderfluss, der eh schon einen Teufel tut, sich für die Ansprüche einer Narration im engeren, konventionelleren Sinne bändigen zu lassen, unterbrochen von freeze frames, die, eben wie in einem (digitalen) Fotoalbum, gerahmt, in ein künstliches Sepia getaucht, mit allerlei optischen Effekten versehen, die Szenen festhalten, in denen sich die jugendlichen ProtagonistInnen befinden. So sehen wir auf diese Art Ionna auf dem Klo sitzend, rauchend. Und ein anderes Mal ist ihre Muschi zu sehen, die gerade geleckt wird. Aber davon abgesehen, dass die Schauspielerin Patakia den vier männlichen Darstellern um sie herum, den anderen Mitgliedern ihrer Gang, ziemlich gnadenlos die Show stiehlt, inszeniert sie der Film nie als reines Objekt männlicher begehrender Blicke. Vielmehr gehört zu dieser Muschi auch ein Kopf, der auf schließlich maximal zerstörerische Weise weiß, was er will.

Zu den eingefrorenen Bildern der Szenen, die ihre Ausweglosigkeit verdeutlichen, kommen im gleichen grafischen Stil gehaltene Bilder von Graffiti an den Wänden der Stadt, wir befinden uns in Athen, die das Geschehen weiter kommentieren („I shot the sheriff“, „Bullen – eure Kinder werden euch töten“, „Bewaffnet euch‘)

Natürlich kann man all dem erst einmal sehr skeptisch gegenüber stehen, muss man den suggestiven Einsatz von Affektbildern, wie sie der Film praktiziert, nicht gutheißen. Ja, an jeder Straßenecke scheint hier die Gefahr zu lauern, in reine Revolutionsfolklore abzurutschen, wie man sie im Kino zum Beispiel aus dem schrecklichen „Mandela – Long Walk to Freedom“ kennt. Jedoch vor all dem, jeder berechtigten Skepsis entgegenstehend ist in „Spring Awakening“ die Dringlichkeit, mit der der Film eine selten gesehene Intensität entwickelt.

„Gewalt war auf einmal schön,“ sagt einer der Jugendlichen in dem Polizeiverhör, das den Rahmen der Erzählung bildet, das verdeutlicht, wir kennen das aus den retrospektiv vom Ende her erzählten Voice Overn im Film Noir, die sich wie ein fatalistischer Schleier über die eigentliche Handlung legen, dass das alles kein gutes Ende nehmen wird. Diese Rahmung durch die Verhöre, in denen den jugendlichen Verdächtigen oft brutale Gewalt angetan, der Albaner unter ihnen darüber hinaus auch rassistisch beleidigt wird, setzt nach ihrer grausamen Tat den gesellschaftlichen Zwang, den sozialen Druck fort, der sie erst zu dieser getrieben hat, ja, verschärft ihn noch.

In dem mörderischen Verbrechen kann man dann gut beobachten, wie die letzten Reste von politischer Legitimation der Gewalt schwinden, wie das Es sich über das Über-Ich erhebt – wie es nun einmal in aller interessanten Kunst zu geschehen pflegt. Dass die Opfer Deutsche sind, bei denen Ionnas Mutter als Masseurin arbeitet, mag man noch als die Verteilung der (ökonomischen) Macht im Griechenland in Zeiten von Wirtschaftskrise und Austeritätspolitik erkennen, die Tat läuft dann aber auf nichts anderes als auf persönliche Bereicherung und Rache hinaus. Die Verhältnisse sind zu stark, zu übermächtig, um sie verändern zu können. Alles worauf die Rebellion noch hinaus kann, ist grenzenloses Leid unschuldiger Menschen. In einer nicht endenden Spirale der Gewalt reproduziert sie genau die Machtverhältnisse, denen sie zuallererst entsprungen ist. Stark ist, wer die Waffe in der Hand hat – aber auch das nicht für lange Zeit.

Giannaris hat einen ohnmächtig wütenden Film gemacht, wie er im Kino der Gegenwart selten geworden ist. Als Referenz fällt mir eigentlich nur der natürlich ästhetisch vollkommen anders gelagerte, eher Scorseseeske „Menace II Society“ der Hughes Brothers ein oder auch Brian De Palmas vielleicht pessimistischster Film „Blow Out“. Darüber hinaus gelingt es Giannaris wie wenigen RegisseurInnen der Gegenwart, ganz und gar visuell zu erzählen. Der Film kommt über weite Strecken mit sehr wenig bis gar keinem Dialog aus.

Dass ein so aufregender, düster energiegeladener Film wie dieser, glaubt man der IMDb, nirgends außer in seinem Herkunftsland einen Kinostart bekommen hat, ist schon ziemlich traurig. Immerhin kommt der Film nun in Deutschland bei Pierrot Le Fou auf DVD, Blu-Ray und als Video on Demand heraus. Leider ist diese Edition, von der ich mir gewünscht hätte, dass sie den Film mit umfangreichem Bonusmaterial in den gesellschaftlich historischen Kontext seiner Entstehung einbindet, denkbar spartanisch ausgefallen. Mit an Bord sind nur ein Trailer und ein Wendecover – sonst nichts.

traumhaft weg

Der traumhafte Weg

(DE 2016, Regie: Angela Schanelec)

Trost durch Schönheit
von Wolfgang Nierlin

Kenneth und Theres, ein Paar, das reist und musiziert ist Mitte der 1980er Jahre in Griechenland unterwegs. Die beiden gehen auf steilem Weg durchs Gelände, sie sitzen am Straßenrand und …

Kenneth und Theres, ein Paar, das reist und musiziert ist Mitte der 1980er Jahre in Griechenland unterwegs. Die beiden gehen auf steilem Weg durchs Gelände, sie sitzen am Straßenrand und singen sehr schön „The lion sleeps tonight“. Geld fällt in ihre Mütze. Auf einer Demo ist vom „neuen Europa“ die Rede und vom Pioniergeist Griechenlands. Dann telefoniert Kenneth nach Hause, erfährt, dass seine Mutter ins Koma gefallen ist, bricht zusammen, wird gehalten.

Der Ausschnitt und die Details stehen in Angela Schanelecs neuem, sehr beeindruckendem Film „Der traumhafte Weg“ für das nicht erklärbare Ganze. Im Geiste Robert Bressons zeigt sie, aufgenommen von ihrem renommierten Bildgestalter Reinhold Vorschneider, immer wieder bestimmte Körperpartien wie Hände und Füße, einzelne Gegenstände oder auch bewusste, sorgsame Bewegungen. Intime Handgriffe verdichten auf behutsame Weise das Wesen einer Handlung, erschließen im Sinne von Heideggers Begriff der ‚Zuhandenheit‘ gewissermaßen das Dasein. Zugleich sind sie sinnlich, konkret und überzeitlich. Ohne äußerliches Altern bleiben auch die Figuren, währen die erzählte Zeit etwa dreißig Jahre umfasst. Doch Angela Schanelecs filmische Ästhetik zielt nicht auf Mimesis: So wie das antinaturalistische Spiel ihrer Figuren Abstand hält und ein Nachahmen von Emotionen meidet, verweigert sich die Struktur ihres Films der Erzählung, ist offen und stark elliptisch gefügt. Das Abwesende spricht aus den Lücken. Deshalb interessiert sich die Filmemacherin auch weniger für Begründungszusammenhänge, sondern vielmehr für unterbewusste Verbindungen, die in symbolischen Handlungen liegen.

Zurück in England besucht Kenneth (Thorbjörn Björnsson) seine kranke Mutter und seinen nahezu blinden Vater. Er sehe nur Schatten und Licht, keine Farben und sich selbst nur als Fleck im Spiegel, sagt er. Jahre sind vergangen, Kenneth nimmt noch immer Heroin und im Fernsehen heißt es, dass die Grenzzäune des Ostblocks fallen. Dann beschließen Vater und Sohn, der Mutter mit Morphium beim Sterben zu helfen. Später legt sich Kenneth in eine frisch ausgehobene Grube im Wald, bedeckt sich mit Erde, als wolle er zurückkehren in den Mutterleib. Früher im Film sagt er einmal zu seinem Vater: „Ich bin gläubig. Aber mein Gott hilft mir nicht. Er gibt mir keine Kraft.“ Kenneth, der immer wieder über sein abgenutztes Schuhwerk ins Bild gesetzt wird, taucht irgendwann später als Obdachloser in Berlin auf.

Seine Geschichte mit Theres (Miriam Jakob), die in der erzählten Gegenwart des Films mittlerweile ebenfalls in Berlin lebt, verwirklicht sich nicht. Der Schatten des Todes verbindet die beiden. Gespiegelt wird das Motiv der Trennung wiederum in der scheiternden Liebe zwischen der Schauspielerin Ariane (Maren Eggert) und dem Anthropologen David (Phil Hayes), worunter vor allem die gemeinsame Tochter leidet. Ariane ist einsam und trinkt. David sucht sich eine neue Wohnung. Wenn sich bei der Besichtigung des Apartments die elektrisch gesteuerte Jalousie langsam schließt und kurz darauf wieder öffnet, ist das wie eine kleine Reise durch die Dunkelheit zum Licht. Doch Angela Schanelecs Film „Der traumhafte Weg“ findet nicht zur Hoffnung oder gar zu einer Synthese für die Widersprüche des Lebens, sondern allenfalls zu einem Trost, der aus der Schönheit kommt.

Get Out

(USA 2017, Regie: Jordan Peele)

Black Lives Matter, White Lies Splatter
von Drehli Robnik

Der Titel gibt schon mal ziemlich viel her: ‚Get Out‘ ist so prägnant wie mehrdeutig. Welches Innen und Außen ist da gemeint? Wem gilt die Aufforderung ‚Raus hier!‘ – beim …

Der Titel gibt schon mal ziemlich viel her: ‚Get Out‘ ist so prägnant wie mehrdeutig. Welches Innen und Außen ist da gemeint? Wem gilt die Aufforderung ‚Raus hier!‘ – beim ersten Besuch eines jungen Fotografen (Daniel Kaluuya) im Landhaus der Eltern seiner Freundin (Allison Williams)? Er ist schwarz, die Eltern (Catherine Keener, Bradley Whitford) sind weiß und unerwartet scheißfreundlich (fast schon zu sehr), ihre Hausbediensteten schwarz und von altvaterisch gezierter Höflichkeit. Alles sehr seltsam.

Dies ist ein satirischer Horrorfilm, und zwar ein superer. Also widmet er sich, wie es sein soll, der Ergründung von Lebensweisen – und das heißt, über die Habitus-Analyse hinaus, der überraschenden Offenbarung einer regelrechten Seinsstruktur: eines Verhältnisses, das die Chiffre ‚Black Lives Matter‘ hier ebenfalls mehrdeutig benennt. Selbsterkenntnis als gefährdet für die einen, Erkennen anderer in ihrer Rolle als Abschöpfer von Alltagslebensenergie (also etwa die Beziehung initiationsbereiter weißer Jugendlicher zum Arbeitsmarkt im schwarzen Monteursoverall eines Michael Myers oder zu jener umfassenden Mediatisierung des Lebens, für welche die Hexe von Blair als Name des Unaussprechlichen steht, das Gesellschaft ist) – das heißt in ‚Get Out‘: Schwarze Leben sind, zumal in ihrer sozial ‚ausgesetzten‘ Materialität, höchst kostbar: Das erfährt nicht nur der junge Besucher mehr und mehr am eigenen Leib. Es gilt auch für seine Gastgeber, die keineswegs Rassisten sind, sondern beflissene liberals: Blackness ist ihnen etwas ausgesprochen Begehrenswertes – und das nicht nur in dem Sinn, dass sie, wenn sie gekonnt hätten, für eine dritte Amtszeit Obamas gestimmt hätten, wie der joviale Dad sagt. Alles Begehren, alle Projektion geht hier tiefer, näher, und das in einer Weise, die so klar, straightforward und sinnvoll mit den Details einer vertrackten sozialen Situation umgeht, dass schon allein das staunen macht.

‚Get Out‘ ist das Regiedebüt eines schwarzen Komikers: Jordan Peele brillierte 2016 in der Gangster-Thug-Life-Projektionen-Satire ‚Keanu‘. Dass der Mann nicht aus den von weißen Nerds und Handwerkern dominierten Produktions- und Diskursmühlen des Horrorfilms kommt, ist mit ein Grund, warum in ‚Get Out‘ vom Motiv-Repertoire dieses Genres ein Gebrauch gemacht wird, der sich weit jenseits von Auskennermechanik und Retrogesten ansiedelt. ‚Rosemarys Baby‘ und ‚Die Frauen von Stepford‘ (eher der alte aus den Seventies) liegen als Vergleichstitel nahe: Ihr perfider Humor, ihr konspirativer Weltentwurf und Sinn für die Gewalt von Bildungsmilieus rahmt ein ‚Rat mal, wer zum Essen kommt‘-Szenario. Auch Carl Theodor Dreyers Paranoiaklassiker ‚Vampyr‘ klingt hier zu dissonanten Harfenklängen und ‚Omen’ösen Chören an, sowie nicht zuletzt Eli Roths ‚Hostel‘-Filme (zumal Teil 2), moderne Klassiker in Sachen Ergründung einer Geheimökonomie radikalisierter Ausbeutung zwecks Reproduktion weißen Wohlgefühls. Folter? Nein. (War auch in ‚Hostel‘ nicht das Um und Auf.) Aber Zerren an den Nerven, erst zart, dann immer fester. Und Wellness-Satire, die irgendwann in den Lifestyle-Reproduktions-Ort im Hobbykeller mündet. Außerdem: Klassen sind Sekten, das heißt, sie sind geschlossene Ensembles, und – es gibt sie doch.

Statt zu spoilern sei es so gemach wie’s die Regie hier tut: Hintergründiges andeuten, Verhängnisvolles in den Raum stellen – und abrupt umschneiden. Das praktiziert ‚Get Out‘ mit einer nachgerade choreografischen Eleganz, in klaren Bildern und pointierten Rhythmen, die in die Griffigkeit von Mad Scientist-Horror und Typenkomik rund um eine so beleibte wie beherzte Helferfigur münden. Der Low Budget-Film war in den USA ein viel diskutierter Riesenerfolg; ein solcher ist ihm auch in diesen Breitengraden zu wünschen. Übrigens kommt ‚Get Out‘ beim zweiten Mal anschauen noch besser als beim ersten Mal, also am besten gleich zwei Kinokarten kaufen.

Hier und hier gibt es weitere Kritiken zu ‚Get Out.‘

Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes

(D 2017, Regie: Julian Radlmaier)

Der komische Aufstand
von Drehli Robnik

Manch eine Landschaft ist so schön – die kann gar nicht nur Privateigentum einer einzigen Person sein. Und: Wenn alle Italiener*innen zum Putzen aller öffentlichen WCs Italiens zur Verfügung stünden, …

Manch eine Landschaft ist so schön – die kann gar nicht nur Privateigentum einer einzigen Person sein. Und: Wenn alle Italiener*innen zum Putzen aller öffentlichen WCs Italiens zur Verfügung stünden, dann käme jede/r von ihnen nur alle 30 Jahre zum Putzen dran. Diese und andere Schrullen treten in ‚Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes‘ an, um die praktische Möglichkeit von Kommunismus zu veranschaulichen.

Bürgerlich beginnt’s zunächst in Berlins Kreativ- und Projektarbeitsmilieu: Kulturforum, Filmsubvention, Salonabend, Museumsbesuch. Dann heißt’s ab zur Apfelernte nach Brandenburg, der Liebe und HartzIV-Auflagen wegen. Kreativ gestaltet sich auch das Landleben unter Lohnarbeitszwang: Johanna Orsini-Rosenberg (aus den mit dem ‚Bürgerlichen Hund‘ motivisch verwandten Daniel Hoesl-Oesi-Farcen ‚Soldate Jeanette‘ und ‚Win Win‘) hält als gestrenge Agrarmagnatin ihrem entrechteten Pflückpersonal Reden voller Motivationspoesie: Aufrufe zum Lohnverzicht aus Solidarität gegen hinterlistige US-Obst-Trusts, zur ‚lustigen Ernte-Olympiade‘ (wer pflückt mehr im Akkord?), zur Rückkehr zu Kern-Tugenden (es geht um Äpfel, nicht um Pseudo-Sozi-Kanzler am Reichtumsstandort Österreich). Den Habitus jeweils der Bohème und des Kapitals kontrastiert der Film nun nicht etwa mit bodenständig-rauer Arbeitsalltagsrealität; vielmehr halten die Hackelnden in der Freakigkeit ihrer Klamotten, Marotten, Sprachen und Erfahrungen, Akzente und Zitate dagegen, tricksen, feiern, revoltieren, pilgern schließlich mit einem Bettelmönch, der mit Vögeln redet, gen Italien. Im letzten Drittel hat sich die Personnage des Films auf Camille, Hong und Sancho (Deragh Campbell, die Vollprofi im Cast, sowie Kyung-Taek Lie und Benjamin Forti) reduziert; sie ziehen durch ein sonniges Utopia, als sei es das Land Oz. Auf Grammophon und als Midi-Gedudel läuft dazu die ‚Internationale‘.

Wer nicht an die proletarische Macht zum Gemeinsamhandeln ohne Ressentiment glaubt (sondern womöglich an die Selbstgenügsamkeit der Kunst), wird in einen Windhund verwandelt – und sei es der Regisseur selbst, der am Ende seinen Film-im-Film beim Festival in Venedig präsentiert und sich pessimistisch über die nichtbesitzenden Massen äußert. Ihn, also sich, spielt der Wahlberliner Julian Radlmaier. In klaren Tableaus und schön steifen Reihum-Aufsagern nimmt er sich’s von Godard, Achternbusch, Buñuel, Rossellini, Pasolini und gibt es uns mit großer Geste: Roadmovie, Märchen, Wunder, Debatten, Witze. Manche davon – zumal jene mit einem falsch auf heutige Situationen applizierten altlinken Genossen-Jargon – mühen sich. Insgesamt aber ist hier ein ‚Kommunismus ohne Kommunisten‘ das Ziel einer so hochreflexiven wie clownesken Komödie ohne Komödiantisches: statt Gags die Anmutung von deren Ankunft. Wie der Kommunismus ist auch der Schmäh im Kommen; und oft kommt er ja auch gut. Und mit Radlmaier, wie er hängenden Hemdes in der Non-Lovestory seines dffb-Abschlussfilms (und abendfüllenden Regiedebüts) zappelt, geht auch ein veritabler Slapstick-Gebrauchswert lockig im Hier und Jetzt um: ein Hauch von Woody Allen aus jener Zeit, als er noch leiwand und bananas war. Auch dass Radlmaier aussieht wie Heath Ledger, freut das Auge und dient der Sache.

Hier gibt es eine weitere Kritik zum Film.

Get Out

(USA 2017, Regie: Jordan Peele)

Kollektiver Albtraum der amerikanischen Zivilgesellschaft
von Nicolai Bühnemann

Über „Get Out“ schreiben heißt rund zwei Monate nach seinem regulären Kinostart in den USA nicht mehr nur über einen Film schreiben, sondern über ein gesellschaftliches Phänomen. Das Regiedebüt von …

Über „Get Out“ schreiben heißt rund zwei Monate nach seinem regulären Kinostart in den USA nicht mehr nur über einen Film schreiben, sondern über ein gesellschaftliches Phänomen. Das Regiedebüt von Comedian, Schauspieler und script writer Jordan Peele, der auch hier das Drehbuch verfasste, ist momentan der zweiterfolgreichste Horrorfilm mit einem R-Rating aller Zeiten nach William Friedkins „The Exorcist“. Er spielte bislang allein in den USA 189 Millionen Dollar ein, wobei im Publikum unter den drei wichtigsten ethnischen Gruppen des Landes mit 39 Prozent AfroamerikanerInnen am meisten vertreten waren. Der Film hält derzeit bei dem Kritikbarometer Rotten Tomatoes ein Ergebnis von 99 Prozent positiven Kritiken. Die Superlative ließen sich noch eine ganze Weile fortsetzen, aber es reicht wohl zu sagen, dass „Get Out“ augenscheinlich den Geist seiner Zeit mitten ins Schwarze (no pun intended) getroffen hat. Es fragt sich nur, warum dem so ist.

„Get Out“ erzählt von dem jungen Chris (Daniel Kaluuya), der mit seiner Freundin Rose Armitage (Allison Williams) eine kleine Reise plant, um seine künftigen Schwiegereltern kennenzulernen. Da diese einer gebildeten und aufgeklärten Oberschicht angehören, die Mutter Missy (Catherine Keener) ist Hypnotherapeutin, der Vater Dean (Bradley Whitfford) ein Neurochirurg, der Chris gleich zu Anfang versichert, dass er, wenn es denn möglich gewesen wäre, gerne noch ein drittes Mal für Obama gestimmt hätte, sollte es eigentlich keine Rolle spielen und tut es doch von Anfang an, dass Chris Afroamerikaner ist, seine Freundin und deren Familie jedoch weiß sind. Zunächst beunruhigt es vor allem Chris, der sich Gedanken darüber macht, wie Roses Familie ihren angeblich ersten schwarzen Freund aufnehmen wird – dann wird jedoch, in dem Maße, wie alles komplizierter, vielschichtiger wird, dieser (nur vermeintlich kleine) Unterschied zum entscheidenden Thema des Films bzw. die Frage danach, welche sozialen und kulturellen Konstruktionen es bedingen, dass der Rassenunterschied gerade in einer vermeintlich aufgeklärten Gesellschaft solche immensen Formen annimmt.

Gar nicht subtil, sondern zunächst geradezu erdrückend offensichtlich ist das Machtverhältnis zwischen schwarz und weiß in der Familie Armitrage. Schwarze Bedienstete und weiße Herrschaften. Wobei die Unterwürfigkeit, die scheinbare geistige Abwesenheit des Hausmädchens Georgina (Betty Gabriel, ihr gehört die vielleicht unheimlichste Szene dieses durch und durch unheimlichen Films) und des Gartenarbeiters Walter (Marcus Henderson ), Chris von Anfang an zusätzlich verunsichern. Interessant ist auch die Verteilung der Geschlechterrollen in diesem Duo: während die Domäne der Frau das Haus und die in ihm anfallenden (Dienerinnen-)Tätigkeiten sind, ist der Mann für die Arbeit im Freien, im Garten (die hart ist, einmal sehen wir ihn beim Holzhacken) zuständig, in dem das Feld aus Zeiten der Sklaverei nachhallt (in Spike Lees Meisterwerk „Bamboozled“ etwa beschimpfen sich eine Frau und ihr Bruder als house- (sie) bzw. field nigger (er)).

Ohne zu viel verraten zu wollen, sei gesagt, dass der Film in der zweiten Hälfte einen zunehmenden Twist in Richtung Horrorfilm unternimmt. Das, was im Hause Armitage mit Schwarzen angestellt wird, übersteigt selbst noch die Phantasie von Chris‘ Kumpel Rod (LilRel Howery) um Längen, der ihn von Beginn an vor seiner neuen weißen Familie und dem Besuch bei ihr warnte, der ihm später versichert, er werde Opfer eines Plots, in dem sich Weiße schwarze Sexsklaven suchen.

Sicherlich gilt auch für „Get Out“, schon wegen des Hypes, aber sicherlich auch von der Anlage des Films her, was Vern über einen ganz anderen Film schrieb: „It’s just begging you to analyze the shit out of it.“ Ein Film, in dem alles so überdeterminiert ist wie in diesem, in dem kein Detail einfach es selbst sein kann, sondern immer mit Bedeutung aufgeladen werden muss, ist schon eine, wenn nicht fragwürdige, dann doch zumindest anstrengende Angelegenheit. Peele denkt gewissermaßen die zukünftigen Doktorarbeiten mit, die über seinen Film, dessen Bezüge zur Popkultur ebenso wie zu gegenwärtigen akademischen Diskursen, geschrieben werden, und in denen jedes kleinste Detail so dechiffriert wird, wie es zuvor vom Drehbuchautor chiffriert wurde – sicherlich nicht ohne dass dabei ein erheblicher interpretatorischer Überschuss entsteht.

Eigentlich vertreibt mir ein Film, der so sehr darum bettelt, analysiert zu werden bis zum Umfallen, die Lust an der Analyse ziemlich gründlich. Ich will mich deshalb auf einen Aspekt beschränken: die Bezüge zur Sklaverei. Der offensichtlichste sind natürlich die beiden Bediensteten, auf die ich oben schon weiter eingegangen bin, aber auch die Szene, in der Chris als schwarzer Mann, in einer Gesellschaft von weißen Reichen, die bizarrer nicht ausfallen könnte, versteigert wird, spricht in dieser Hinsicht sicherlich Bände. Bleibt ein Detail zu erwähnen, das in dem generischen Empowerment des schwarzen Helden am Ende des Films von entscheidender Bedeutung ist. Um sich aus den Klauen seiner PeinigerInnen zu befreien, wendet Chris einen Trick an, er verstopft sich die Ohren mit der Füllung des Sessels, an den er gefesselt ist, um zu verhindern, dass Missy ihn erneut hypnotisieren kann. Es handelt sich dabei um Baumwolle. Eben der Stoff, den einst die Sklaven auf den Feldern ihrer Herren in qualvoller Arbeit ernten mussten, wird hier zu entscheidenden Waffe der Befreiung.

Weiterhin ist ein entscheidender Hinweis für Chris, dass bei den Armitages etwas ganz und gar nicht mit rechten Dingen zugeht, eine Schachtel mit Fotos, die Rose, die ihm am Anfang versicherte, er sei der erste Schwarze, mit dem sie eine Beziehung hätte, in romantischer Pose mit vielen verschiedenen schwarzen Männern zeigen. Einerseits spukt durch die Figur Rose damit die klassische femme fatale, die Männer reihenweise verführt und verdirbt, hier allerdings nicht (nur) allein und im eigenen Interesse handelnd, sondern als Teil des familiy business, das seinerseits Teil einer groß angelegten Verschwörung ist. Andererseits ist das fatale Begehren der weißen Frau für viele schwarze Männer auch ein auf den Kopf gestellter Albdruck des Schreckgespenstes vom Begehren des schwarzen Mannes für weiße Frauen, das seinen Ursprung wohl auch in Sklaverei und Kolonialismus hat, und bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein in einigen Teilen der USA nicht selten zu Lynchmobs führte, die angebliche Vergewaltigungen sühnen wollten.

Natürlich steht „Get Out“ auch über solche historischen Konnotationen hinaus in einem filmgeschichtlichen Kontext, ist Teil eines Genres, das sich immer wieder zum Sprachrohr der Schwachen und Marginalisierten machte. Peele selbst verweist etwa auf „Night of the Living Dead“, der ja auch über einen schwarzen Helden verfügte, der dem weißen Establishment am Ende bekanntlich nicht mehr als eine Kugel wert ist. Aber gerade im Zombiegenre lässt sich etwa das Thema der Hypnose bis zu dessen Ursprung mit Victor Haperlins „White Zombie“ von 1932 zurück verfolgen.

Was „Get Out“ allerdings zu einem wirklich gelungenen Film macht, der dem Hype vollends gerecht wird, ist nicht sein weit gefasster diskursiver Rahmen, sondern die Tatsache, dass es Peele versteht, einen satirisch überspitzten, sich gerade in einer aufgeklärten high society verbreitenden Alltagsrassismus mit Elementen des Horrorkinos zu unterfüttern. Ekkehard Knörer übersetzt den Titel „Creepy“ des Horrorfilms von Kiyoshi Kurosawa mit dem Wort unheimlich und bezieht dieses dann auf Freud. Mit creepy ist auch die Atmosphäre dieses Films in der guten Stunde vor dem kathartischen Finale hinlänglich beschrieben. Das Unbehagen an der Kultur, die keinesfalls eine abstrakte ist, sondern sehr deutlich die der USA der Gegenwart, korrespondiert mit einem generisch gehaltenen Unheimlichen, bei dem das Altbekannte, Verdrängte sich erneut seinen Weg an die Oberfläche bahnt.

Aber „Get Out“ ist nicht nur ein gelungener Genrefilm, sondern auch ein wichtiger, weil sein Erfolg bei Kritik und Publikum, ebenso wie der des Oscarabräumers „Moonlight“, in dem es ebenfalls um dezidiert afroamerikanische Lebenswelten geht, zeigt, dass die amerikanische Zivilgesellschaft in einer Zeit, in der das Establishment mitnichten daran arbeitet, den Schutz von Minderheiten voranzutreiben, nicht schläft. Oder wenn sie es doch tut, ist dieser Film einer ihrer kollektiven Albträume, aus dem sie die Chance hat, sehr wachsam, mit neu geöffneten Augen zu erwachen.

Hier und hier gibt es eine weitere Kritik zu „Get Out“.

Get Out

(USA 2017, Regie: Jordan Peele)

The Horror, the Horror
von Marit Hofmann

„Der kleine Haley Joel Osment in ›The Sixth Sense‹ kann Tote sehen. Und ich kann Rassisten sehen.“ Jordan Peeles Gabe hat so wenig mit Übersinnlichem zu tun wie der Kern …

„Der kleine Haley Joel Osment in ›The Sixth Sense‹ kann Tote sehen. Und ich kann Rassisten sehen.“ Jordan Peeles Gabe hat so wenig mit Übersinnlichem zu tun wie der Kern seines Mysterythrillers „Get Out“: Der social horror lässt dich ‚die Welt durch die Augen einer schwarzen Person sehen‘ – durch die oft schreckgeweiteten von Chris, der als Fotograf aufs Beobachten gepolt ist.

Du steigst mit ins Auto, als deine neue weiße Freundin dich ihren Eltern vorstellen will. Die seien keine Rassisten, hätten Obama gern noch ein drittes Mal gewählt. Die Begrüßung fällt überschwenglich aus, aber das schwarze Hauspersonal redet auch dann noch in höflichen Phrasen, wenn ihm Tränen über die Wangen rinnen. Und du siehst eine auf Hypnose spezialisierte Psychiaterin in der Teetasse rühren.

Auf der Gartenparty starrt dich das Horrorkabinett einer alten weißen Elite mit vom Reichtum entstellten Gesichtern an, bewundert deinen trainierten Körper, fasst dich an. Du erlebst auch weniger subtilen Rassismus, die Standardsituation: Ein Polizist verlangt grundlos deine Papiere (der britische Hauptdarsteller Daniel Kaluuya verklagte im Real-Life-Horror bereits die Londoner Polizei, die ihn als vermeintlichen Dealer eingesperrt hatte).

Nachdem du all das stoisch ertragen hast, musst du wohl oder eher übel kämpfen. Denn auch die Weißen in diesem Black-Lives-Splatter sind scharf darauf, durch deine Augen zu sehen – allerdings wollen sie dich dafür zur Marionette machen. Während Hollywood gerade wieder wegen Whitewashings (der Mangaverfilmung „Ghost in the Shell“) kritisiert wird, landet nun nach Oscar-Gewinner „Moonlight“ ein weiterer Film von und mit Schwarzen einen Überraschungserfolg in Trumps Amerika. Waren sie im Horrorgenre oft nur das erste Todesopfer, überträgt Peele hier das Umpolen von Frauen etwa in „The Stepford Wives“ auf den schwarzen Körper. „Dieser Film zeigt“, sagt Kaluuya, „wie Rassismus sich anfühlt. Du wirst paranoid und kannst nicht drüber reden.“

Die Soundeffekte sind zum Fürchten, satirische Elemente und der Comedian Lil Rel Howery, mit denen der als Komiker bekannte Peele das Genre auflockert, zum Lachen. Anders als in dem geistreich beginnenden „Split“ vom selben Produzenten gerät hier der Showdown nicht nur zum dumpfen Gemetzel. Als der rettende Polizeiwagen zu kommen scheint, hebt das Opfer die Hände. Du weißt: Als Schwarzer kannst du jeden Moment erschossen werden.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

Hier und hier gibt es weitere Kritiken zu „Get Out“.

Die Schlösser aus Sand

(FR 2015, Regie: Olivier Jahan)

Lauter Abschiede und ein Neubeginn
von Wolfgang Nierlin

Fünf Jahre lang waren die Fotografin Éléonore (Emma de Caunes) und der Geschichtsdozent Samuel (Yannick Renier) ein Paar. Und im Grunde gehören sie auch nach ihrer Trennung noch immer zusammen, …

Fünf Jahre lang waren die Fotografin Éléonore (Emma de Caunes) und der Geschichtsdozent Samuel (Yannick Renier) ein Paar. Und im Grunde gehören sie auch nach ihrer Trennung noch immer zusammen, auch wenn Samuel mittlerweile neu verliebt ist und Éléonore unter ihrer Einsamkeit leidet. Sie lebe in der Gegenwart, er in der Vergangenheit, heißt es über ihre gegensätzlichen Charaktere. Als Éléonores Vater stirbt, verdoppelt sich ihre Trauer und verwandelt sich schließlich in mehrere Abschiede. Denn die jetzt auf sich allein gestellte Éléonore ist aufgefordert, das schön gelegene, mit vielen Erinnerungen behaftete Haus in der Bretagne zu verkaufen. Und weil sie sich in dieser Angelegenheit unsicher fühlt, bittet sie Samuel, ihr zu helfen. „Das Paradies hatten sie schon erlebt. Jetzt konnte nur noch die Hölle kommen“, heißt es unheilschwanger und ziemlich übertrieben über das bevorstehende Wochenende.

Überhaupt ist die recht ausführliche Off-Erzählung in Olivier Jahans Film „Die Schlösser aus Sand“ ein Problem. In ihrem Gestus erinnert sie zwar von fern an Truffauts Adaption von Henri-Pierre Rochés Roman „Jules und Jim“, klingt letztlich aber sehr viel trivialer, um nicht zu sagen kitschiger. Vor allem degradiert die umfangreiche Schilderung von privaten Hintergründen und intimen Details die Bilder streckenweise zu bloßen Begleiterscheinungen. Daneben versäumt das Drehbuch von Jahan und seinem Koautor Diastème die Charaktere und Konflikte zu entwickeln. Vieles erscheint oberflächlich und unmotiviert. Außerdem versucht der Regisseur, durch die wiederholte Durchbrechung der Illusion mit modernen Stilmitteln eine Tiefe zu suggerieren, die der Film leider nicht hat. Auch wenn dafür neben anderem ein Gedicht von Tomas Tranströmer bemüht wird, bleibt vieles sentimentale Stimmungsmalerei.

Der Tonfall des Films schwankt dabei zwischen Liebesdrama und Komödie. An den humorvollen Passagen wiederum hat vor allem die alleinstehende Immobilienmaklerin Claire (Jeanne Rosa) einen gewichtigen Anteil. In einer stimmigen Balance zwischen Nähe und Distanz erledigt sie die Geschäfte mit den potentiellen Kaufinteressenten, die mitunter ironisch, gar skurril gezeichnet sind, und verliebt sich dabei heimlich in das Ex-Paar. Durch gemeinsame Erinnerungen und Aufgaben findet sich dieses bald in alte Rollenmuster, Konflikte und Gefühle verstrickt. Schließlich verweist der Titel des Films auf jene fragilen Gebilde aus Sand, die schnell kaputtgehen, um danach in mühevoller Arbeit wieder aufgebaut zu werden. Olivier Jahnas kurzweilig-unterhaltender Film handelt in gleich mehrfacher Hinsicht von einem Neubeginn.

CHiPs

(USA 2017, Regie: Dax Shepard)

Aufgemotzt und angepatzt
von Drehli Robnik

Was sie öfter mal in Filmen zeigen sollten: wie es bei Verfolgungsjagden Leuten auf dem Autorücksitz, die sich zu cool sind, Sicherheits- oder Haltegurte zu benutzen, die Birnen aneinanderhaut; wie, …

Was sie öfter mal in Filmen zeigen sollten: wie es bei Verfolgungsjagden Leuten auf dem Autorücksitz, die sich zu cool sind, Sicherheits- oder Haltegurte zu benutzen, die Birnen aneinanderhaut; wie, ebenfalls bei Verfolgungsjagden, ein unbeteiligter Passant, der gerade seinen Selfiestick justiert, von einem Gangstertruck niedergemäht wird; wie ein Cop der California Highway Patrol, kurz ‚CHiPs‘, seinem beim Shootout fast getöteten Buddy Blumen ins Spital bringt, aber dabei dauernd in falsche Krankenzimmer läuft; wie besagter Buddy sich beim Pausen-Hotdog-Verzehr die ohnehin schon eigenwillig sitzende Motorrad-Cop-Uniform mit Ketchup vollpatzt; wie der bestialische Gestank im Drogenmafia-Versteck nicht von vermodernden Folteropfern, sondern einem Katzenklo herrührt.

Das und noch mehr zeigt diese Kinoversion einer 1980er Actionserie. Seitens Teilen der US-Filmkritik heißt es, ‚CHiPs‘ sei hypermasculine und macho. Stimmt: Dax Shepard (auch Co-Drehbuch Regie) und Michael Peña (immer gut) spielen zwei Hetero-Machos mit verspannungsbedingter Lähmung, Sexting-Spleen, Schamhaarpanik und Masturbationsmanie. In schöner Umkehrung ethnischer Stereotypik ist der Anglo mit seiner forcierten Emotionalität und Einfühlsamkeit eine Nervensäge, der Latino hingegen voll in den Fall verbissen. Bei Shepard ist schon seine drahtige, aber nach zahllosen Motorradunfällen schlaksig hinkende Erscheinung lustig. (Und: Ja, der ‚Starsky & Hutch‘-Kinofilm war wahrscheinlich besser und ’22 Jump Street‘, also der zweite Film, sowieso weirder; aber der Slapstick, zumal mit zertrümmerten Vehikeln, und die Mienenspiele in ‚CHiPs‘ schaffen sich ein Nischchen, in dem sie brillieren.)

Mir kommt ja vor, hier wird Machismo verarscht. Das heißt, auch wenn Ironie als Kritik-Praxis weitgehend auf den Hund gekommen bzw. als Einverständnis-Technik kooptiert ist – ein bissl Freude an einer leicht(gewichtig) desavouierenden Sicht auf herrschaftliche Sachverhalte und Verhaltensweisen soll schon sein dürfen. Sonst gehst du ja ein. Aber vielleicht wird mann heute ja bescheiden – im Jahr 41 nach Kottan, ohne jemals ‚Police Academy‘ gesehen zu haben, sowie in Zeiten der laufenden Re-Erotisierung viriler Autorität und uniformierter Durchgriffsgewalt. (Nicht nur in Ösistan.) (Leider nicht nur dort.) Der Macho in mir – der mit der Verspannungslähmung – hat jedenfalls recht gelacht.

La libertad del diablo

(MEX 2017, Regie: Everardo González)

Eine Freiheit, die keine sein sollte
von Jürgen Kiontke

Der diesjährige Amnesty-Filmpreis bei den Berliner Filmfestspielen ging an den mexikanischen Regisseur Everardo González für seinen Dokumentarfilm „La libertad del diablo“. „Meinen ersten Mord habe ich im Alter von 14 …

Der diesjährige Amnesty-Filmpreis bei den Berliner Filmfestspielen ging an den mexikanischen Regisseur Everardo González für seinen Dokumentarfilm „La libertad del diablo“.

„Meinen ersten Mord habe ich im Alter von 14 Jahren verübt. Ich hatte meine Schuluniform dabei an.“
Ein junger Mexikaner, Berufsbild Auftragsmörder, aus der Gegend um Ciudad Juárez, erzählt von seinem Alltag. Einem Arbeitsalltag im Drogenkrieg. Er tut dies in Everardo González‘ Berlinale-Film „La libertad del diablo“ (MEX 2017).

Wenn es dieses Jahr einen heftigen Film auf den Berliner Filmfestspielen im Februar zu sehen gab, dann war es dieser. González, mexikanischer Regisseur, Produzent und Kameramann, ist eine der wichtigsten Stimmen unter den lateinamerikanischen Dokumentarfilmern. Bei seinem neuesten Werk hat sich der Teufel in der Tat alle Freiheiten genommen – und der Zuschauer ist gefordert darüber nachzudenken, wie es gelingen kann, ihm diese wieder zu nehmen.

Der Film handelt vom Krieg mexikanischer Drogenbanden, von bezahlten Mördern, von Geldeintreibern und ihren Opfern. Die Drogenkriminalität und ihre Bekämpfung gleichen einem Bürgerkrieg, der in den vergangenen fünf Jahren um die 100.000 Tote gefordert hat. Da sind die Kollateralschäden noch nicht dabei. Um die aber geht es González: Er lässt die Angehörigen zu Wort kommen – ebenso wie die Täter. Denn Statistiken bleiben abstrakt, über schreckliche Nachrichten regt sich in Mexiko kaum noch jemand auf. González will die Geschichten hinter den Zahlen erlebbar machen. Vor seiner Kamera, so die Idee, können Opfer und Täter ihre Gefühle aussprechen, ohne Wertung, nach dem Prinzip einer Wahrheitskommission.
Damit sie vor Verfolgung und Rache halbwegs geschützt sind, tragen Täter wie Opfer Stoffmasken. Die Erzählungen werden spärlich von Alltagsszenen illustriert: Männer posieren mit Waffen, eine Fahrt durch die Wüste.

Vielen mag dieser Film im allgemeinen Festivalgewusel entgangen sein, er lief in der eher unbedeutenden Festival-Sektion „Berlinale-Spezial“. Dabei hätte er durchaus in den Wettbewerb gehört, zumal er in Berlin Weltpremiere hatte. Denn nicht nur die Interviews mit den Protagonisten sind beeindruckend, sondern auch die Art, wie der Film gemacht ist. Mit der Maskierung wird auch ein komplexes Drama inszeniert. Dass die Täter zu Wort kommen, ist schwer auszuhalten, soll aber den Angehörigen ermöglichen, mit den grässlichen Folgen der Taten abzuschließen, gleichsam Vergebung durch Trauer zu ermöglichen.

Darüber hinaus sorgte der Film schlichtweg für die eindrucksvollste Filmszene der Berlinale: Als eine Mutter erzählt, wie ihre Kinder hingerichtet wurden, beginnt sie zu weinen. Unter den Augen beginnt sich der dünne Stoff durch die Tränen dunkel zu färben. Auch bei anderen passiert das, während sie von den Gräueltaten berichten. Ein Bild, das den Film in aller Schrecklichkeit strukturiert. „La libertad del diablo“ lässt so manchen Zuschauer schockiert im Kinosessel zurück. Ein radikaler Film, der nicht zu Ende ist, wenn das Licht angeht. Und er ist auch nicht mit der üblichen Kinoware vergleichbar.

Dabei ist es nicht das erste Mal, das Regisseure auf solch grausame Weise verknüpfte Schicksale auf die Leinwand bringen. Da gibt es Claude Lanzmanns „Shoah“, in dem Beteiligte die Geschehnisse des Holocausts im Interview schildern. Auch Lanzmann arbeitet ohne Archivbilder. Oder Joshua Oppenheimer, der Opfer und Massenmörder – die der indonesischen Militärjunta – inszenierte.

Nur, dass die Ereignisse in „La libertad del diablo“ in der Gegenwart stattfinden, jetzt, in dieser Minute. Andere sehr starke Beiträge, die nominiert waren, wie „Maman Colonelle“ (COD/FRA 2017) über eine kongolesische Polizistin und „I Am Not Your Negro“ (F/US/BEL/CH 2016) über den US-Schriftsteller und Bürgerrechtler James Baldwin, wirken dagegen beinahe konventionell.

Was in den Tätern vorgeht, weiß in der Tat wohl der Teufel am besten. Wenn man die Menschen, die es zu töten gilt, nicht persönlich kenne, dann störe einen die Tat selbst nicht sonderlich, sagt ein Mörder lapidar. Wenn Mord eine Alltagsverrichtung ist, lebt man damit. Wobei: „Kinder töten fällt schwer. Das tut schon weh“, sagt ein Bandenmitglied. Aber den Audi A4 vor der Tür zu haben, das wäre schon cool. Und es sei ein gutes Gefühl, wenn die Leute aus Angst vor einem weglaufen, heißt es ein anderes Mal. Demgegenüber stehen die Aussagen der Opfer. Eine Mutter berichtet, wie sie mit den Tätern verhandelt habe, sie mögen ihre Kinder in Frieden lassen. Aber die hatten anderes im Sinn. Sie erzählt, wie sie später die Knochen der Opfer ausgegraben habe und die Turnschuhe ihrer Kinder wiedererkannt habe. Immer wieder kommt es zu Pausen, die Betroffenen müssen sich sammeln.

Und wieder wechselt die Perspektive. Kinder im Micky-Maus-T-Shirt, ebenfalls mit Masken, fordern angemessene Rache, sie wollen, dass die Täter ebenso behandelt werden wie die Opfer. Die Kinder wollen ihren Tod. Und die Polizisten, die sich in González‘ Film äußern, sagen, schon der Selbstschutz gebiete, festgenommene Täter umgehend zu liquidieren, sonst hätte man später selbst das Nachsehen. Hier spricht eine Gesellschaft vor der Gesellschaft; als gebe es außer Mord und Totschlag keine Geschäftsgrundlage für ein Leben, das kein Zusammenleben erlaubt. Killer wie Polizisten haben zuweilen dieselbe Erklärung: Sie würden „Befehle“ befolgen. Hier haben sich alle schon ein bisschen mit den Umständen arrangiert. Wer immer auch zu Wort kommt: Bald fragt sich der Zuschauer, was in diesem Gebiet der Erde bloß passiert sein mag.

Die diesjährige Jury des mit 5.000 Euro dotierten Amnesty International-Filmpreises war von „La libertad del diablo“ überzeugt. „Schonungslos schildert Regisseur Everardo González das unermessliche Grauen, indem er Opfer und Täter gleichermaßen zu Wort kommen lässt‘, sagte der Regisseur Oliver Hirschbiegel bei der Verleihung des Preises im Namen der Jury, der neben ihm Schauspielerin Aylin Tezel und Anne-Catherine Paulisch von Amnesty International angehörten. Mit großem Respekt zeige der Filmemacher ihren Schmerz und ihre Verletzungen, ohne zu werten, zu kommentieren und zu belehren. „In intensiven und streng komponierten Bildern entsteht das zutiefst ehrliche und feinfühlige Portrait einer Gesellschaft, in der Angst und tiefe Verunsicherung dominieren, weil Gewalt von allen Seiten kommen kann“, so die Begründung der Jury.

Und dies führt zu einem weiteren Aspekt des Films. Denn González‘ Absicht ist es, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Dies könne aber nur über die Vergebung der Angehörigen geschehen. „Denn Mord bringt Mord hervor“, sagte Jean-Christophe Simon vom zuständigen Weltvertrieb, der den Amnesty-Preis für González entgegennahm. Die Auszeichnung für diesen Film sei besonders wichtig, sagte Simon, weil er für Aufmerksamkeit sorge und so auch eine Schutzfunktion für die Befragten und das Filmteam habe. Denn das Problem sei ja nicht aus der Welt. Die Auswahl der 17 für den Amnesty-Preis nominierten Filme sei großartig gewesen, sagte Aylin Tezel dem Amnesty Journal. „Aber dieser Film ist so ehrlich, man kann sich nicht distanzieren.“ Täter und Opfer seien dermaßen präsent, als sei man selbst im Gespräch mit ihnen.

„Filme können Geschichten und Ereignisse nahebringen, die außerhalb unseres Alltags passieren. Sie können Menschenrechtsverletzungen bekannt machen oder Menschen in den Vordergrund stellen, die sich unter Einsatz ihres Lebens für eine bessere Welt einsetzen und von denen wir sonst nie erfahren würden“, hatte Anne-Catherine Paulisch zu Beginn der Berlinale gesagt. Man könne die Arbeit von Filmschaffenden, die Menschenrechtsthemen auf besondere Weise abbilden und erlebbar machen, unterstützen, „und die Menschen dazu ermutigen, sich für den Schutz der Menschenrechte einzusetzen“. Einen besseren Preisträger hätte man so gesehen kaum finden können.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal

Homo Sapiens

(AT 2016, Regie: Nikolaus Geyrhalter)

Paradoxe Hinterlassenschaften
von Ricardo Brunn

Seit mittlerweile 20 Jahren schaut der österreichische Filmemacher Nikolaus Geyrhalter, der zugleich auch immer Kameramann seiner Filme ist, auf Orte, die sich unserer Wahrnehmung entziehen oder die wir bewusst ausblenden. …

Seit mittlerweile 20 Jahren schaut der österreichische Filmemacher Nikolaus Geyrhalter, der zugleich auch immer Kameramann seiner Filme ist, auf Orte, die sich unserer Wahrnehmung entziehen oder die wir bewusst ausblenden. Hinter der oberflächlich recht einfachen Frage danach, wie es „Elsewhere“ (AT 2001) aussieht, steckt häufig die tief greifende Auseinandersetzung mit den Formen menschlichen Zusammenlebens und damit verbundener Verdrängungsleistungen. „Unser täglich Brot“ (AT 2005) ruft die Abkopplung von Lebensmittelproduktion und -konsumption ins Gedächtnis. „Abendland“ (AT 2011) fragt nach den gern verschwiegenen inneren und äußeren Grenzen der offenen Gesellschaft westlichen Typs. In „Homo Sapiens“ lässt Geyrhalter den Menschen nun gleich ganz verschwinden, um in den Hinterlassenschaften der Zivilisation nach den Grundideen und Organisationsweisen dieser Gesellschaft zu suchen.

In den festen Einstellungen, die verlassene Kindergärten, Shopping-Malls, Krematorien, Versammlungsräume und Kinos zeigen und die der Regisseur jeweils zwischen zwanzig und vierzig Sekunden stehen lässt, kann die Zuschauerin die eigene Abwesenheit erkunden, die eigene, noch nicht vollendete Geschichte zu Ende denken. Im gleichmäßigen Fluss der Bilder, die ganz ohne Dialoge oder Kommentare auskommen, schweifen die Gedanken ab und öffnen den gedanklichen Raum für eine Welt ohne uns. Und auf einmal steht da eine Achterbahn mitten im Wasser, das dünne Metallgerüst verbogen, jederzeit bereit in sich zusammenzufallen. Doch nichts geschieht. Geyrhalter suspendiert in seinen eindrucksvollen Bildern, von denen jedes als Druck über der Wohnzimmercouch hängen könnte, jede erzählerische wie physische Bewegung. So sind es dann die kleinen Regungen der zivilisatorischen Überreste, die besonders irritieren, irgendwann zu schmerzen beginnen und schließlich so etwas wie ein apokalyptisches Gefühl evozieren. Im Krankenhaus spielt der Wind mit einer Plastiktüte, in der Kaufhauspassage mit einer Rolle Klopapier. Es sind perfekte Kompositionen, die davon erzählen, dass der Mensch die Katastrophe selbst verschuldet haben wird und dass der Klopapierrolle wie dem umgestürzten Baum im Indoor-Spaßbad unsere Abwesenheit reichlich egal sein werden.

Doch so sehr sich die Inszenierung darum bemüht ein Gefühl für einen vom Menschen entleerten Planeten zu erzeugen, so sehr ist der Mensch doch anwesend, wird vom Film selbst immer mitgedacht und vorausgesetzt. Denn wie in jedem Film des Österreichers, geht es auch in „Homo Spiens“ nicht um Orte, sondern deren (ehemalige) Bewohnerinnen. Bereits im Filmtitel und den ersten Einstellungen, die Abbilder des Menschen in einem verfallenden Mosaik zeigen, macht Geyrhalter dies selbst deutlich. Und gerade in den perfekten Bildkompositionen bricht sich die vermeintliche objektive Distanz, wird offensichtlich, dass jemand anwesend ist an diesen menschengemachten und von ihm verlassenen Orten. Auf die gleiche Weise wie in den Katastrophenszenarien dieser Tage, unserem Wunsch nach Sicherheit und den damit verbundenen Präventionsmaßnahmen (die mancherorts in Entmündigung umschlagen), Fiktion und Wirklichkeit beständig ineinander greifen, bildet „Homo Sapiens“ diesen Vorgang filmisch ab, indem der Zuschauer in eine zwiespältige (anwesende und zugleich abwesende) Position gerückt wird. Der Film veranschaulicht damit das Paradox, dass wir in ständiger Alarmbereitschaft leben, Dauerkrisen uns umgeben, wir aber nicht nur unfähig sind zu handeln, sondern im Gegenteil große Verdrängungsarbeit leisten. Die Katastrophe besteht in der Tatsache, dass wir einfach weitermachen wie bisher. Die zukünftige Katastrophe wird in „Homo Sapiens“ deshalb mithilfe bereits geschehener Katastrophen erzählt. Und natürlich erkennt das Publikum in vielen Bildern reale Katastrophenorte wie Fukushima oder Pripyat wieder oder interpretiert sie in diese hinein.

Zusätzlich dazu unterbricht Geyrhalter in regelmäßigen Abständen mit Schwarzfilm barsch den postapokalyptischen Bilderreigen. Dieser unterteilt die Orte grob, akzentuiert, fungiert jedoch nicht als rein ordnende Instanz, teilt den Film nicht in klare Kapitel. Er betont vielmehr den Zwischenraum. Im Schwarz stirbt die Erzählung und damit das Fortkommen. Zugleich macht das Schwarz dem Zuschauer den Film als Film bewusst und damit seine Rolle als Zuschauer. Wieder wird in diesen Momenten die Abwesenheit des Menschen in „Homo Sapiens“ verunmöglicht und betont, dass diese nur von ihm selbst gedacht werden kann. Das hypothetische Zukunftsszenario Nikolaus Geyrhalters blickt in diesen Momenten auf die Gegenwart zurück und macht uns zu Komplizen der künftigen Katastrophe, die darin besteht, dass es kein plötzliches Ereignis geben wird, welches die Welt in den Abgrund rutschen lässt. Der Schwarzfilm betont noch einmal, weil er an die Dunkelheit des Kinos kurz vor und nach einem Film erinnert, dass „Homo Sapiens“ keinen natürlichen Anfang und kein natürliches Ende besitzt und eine Katastrophe ohne Ereignis bebildert, an der wir stillschweigend teilnehmen.

„Homo Sapiens“ ist bisher nicht in den deutschen Kinos gestartet und wird es aller Voraussicht nach auch nicht mehr. Das ist traurig, denn Geyrhalters fotografische Virtuosität und das präzise Sounddesign, das die Stille durch gezielt gesetzte Naturgeräusche erst so außerordentlich bedrückend macht, gehören auf die große Leinwand, können nur dort ihre Wirkung entfalten und die Zuschauerin in einen Zustand irritierter Kontemplation versetzen.

Die Zärtlichkeit der Wölfe

(BRD 1973, Regie: Ulli Lommel)

Einer von uns
von Nicolai Bühnemann

Am Anfang ist er nur ein Poltern. Auf der anderen Seite der Wand. Dann wird er zu einer Stimme, die der Nachbarin das Fleisch verwehrt, für das sie gerne über …

Am Anfang ist er nur ein Poltern. Auf der anderen Seite der Wand. Dann wird er zu einer Stimme, die der Nachbarin das Fleisch verwehrt, für das sie gerne über den nächtlichen Lärm hinwegsieht. Dann, im Vorspann, ist er nur ein Schatten. Der Schatten eines Mannes mit Hut auf einer roten Backsteinwand der bestimmten, ja, getriebenen Schrittes eine Straßen entlang schreitet, während die Credits zu sehen sind, die deutlich verraten, dass dieser Film ein Projekt von Rainer Werner Fassbinder ist, der nicht nur für die Produktion zuständig war, sondern auch in einer kleinen Rolle als Schwarzmarkthändler zu sehen ist, in der er mit einmal gleich drei Uhren am Handgelenk, einer Kippe im Maul unter dem markigen Schnauzer und einem zu gleichen Teilen protzigen und potthässlichen Anzug beweisen darf, dass er als Darsteller der größte Schmierlappen of them all war.

Fassbinder trat an Ulli Lommel heran, so berichtet letzterer, und sagte ihm, dass er noch einige Hunderttausend Mark an Fördergeldern habe, die er bis Ende des Jahres aufbrauchen müsse und mit denen er die Realisierung eines Drehbuchs von Kurt Raab finanzieren wollte. Lommel erzählt weiter, dass Fassbinder erleichtert war sich nicht um die Regie des Films kümmern zu müssen, und außer an seinen zwei Drehtagen als Schauspieler nicht mehr am Set auftauchte. Gedreht wurde mit der Fassbinder-Entourage, die zu dieser Zeit am Schauspielhaus von Bochum, dem hauptsächlichen Drehort, mit Fassbinder arbeitete. Das gab dem Film die Möglichkeit, quasi für Lau eine Menge zu dieser Zeit bekannte Gesichter zu präsentieren. Es soll, so berichtet Kameramann Jürgen Jürges im Interview, an den ewigen Machtspielchen zwischen Fassbinder und Raab gelegen haben, die eine regelrechte Hassliebe verband, dass die Regie an Lommel übergeben wurde, der hier seinen dritten Film als Regisseur vorlegte, vorher als Schauspieler unter anderem bei Fassbinder und in Thomes „Detektive“ in Erscheinung getreten war und später in die USA ging, um billige Horrorfilme von der Stange zu drehen. Bei der Aufführung als Eröffnungsfilm der Berlinale im Zoopalast vor etwa tausend Zuschauern soll ein damaliger Starkritiker (ja, so etwas gab es 1973 noch), dem etwa die Hälfte des dort versammelten Publikums folgte, bei der ersten Gewaltszene des Films einen Skandal herbeigeschrien haben.

Kurt Raab also, der auch die Hauptrolle übernahm, der homosexuelle Katholik (oder doch: katholische Homosexuelle), hatte sich die Rolle eines Mannes auf den Leib geschrieben, der dazu verdammt ist, immer eine Rolle zu spielen, schon wegen seiner sexuellen Orientierung, von der die Nachbarn alle wissen, über die sie alle sich in eindeutigen Andeutungen ergehen („Fritzchen ist die ideale Hausfrau.“ „Er küsst ja doch nur seine Knaben.“). Die auch, da stellt sich der Film quer zum Stereotyp des gezeigten kleinbürgerlichen Milieus, niemanden stört, solange er nur nicht mit dem Fleisch geizt. Also ist Haarmann, wie die Raab-Figur in Ulli Lommels „Die Zärtlichkeit der Wölfe“ nach einer historischen Persönlichkeit heißt, was den Film aber nicht daran hindert, seine Geschichte von den Zwanzigern ins Nachkriegsdeutschland zu verlegen, (Hilfs-)Polizist und (falscher) Priester, der an der Tür im Namen der Caritas um Almosen bittet, um diese dann bei einem algerischen Soldaten (El Hedi Ben Salem) gegen Konserven einzutauschen, Serienkiller, Vampir und nicht zuletzt Fleischer (und zwar einer, der das blutige Treiben der Schlachthoffamilie in Tobe Hoopers „The Texas Chainsaw Massacre“ um genau ein Jahr vorweg genommen hat).

Die Rollen, in die dieser Haarmann schlüpft, sind bezeichnend. Er repräsentiert die staatliche Gewalt und die christliche Fürsorge ebenso wie die Versprechungen des Wirtschaftswunders (Fleisch für alle!). Der gesellschaftliche Außenseiter, der schwule Jungenmörder, ist in der kleinbürgerlichen BRD der Fünfziger Jahre, wie sie der Film porträtiert, eine Figur, die direkt dem kollektiven Unbewussten dieser Gesellschaft zu entspringen scheint, in der ihre geheimsten Wünsche und Bedürfnisse (nach Fleisch!) verkörpert werden und in deren Schuld sich die eigene aufzulösen scheint, deren dunkle Geheimnisse die eigenen Leichen im Keller spiegeln. Auch deshalb kann er wohl hier so lange ungestört morden. Wäre da nicht die eine Nachbarin (Margit Carstensen), die ihm (und den vielen jungen Männern, mit denen er sich ständig umgibt, die in einem Fort bei ihm ein-, aber eben oft nicht wieder ausgehen) spinnefeind ist, die der Polizei von dem Krach in der Wohnung berichtet, davon, wie er ständig mit riesigen Paketen die Wohnung verlässt, aber sie nie mit ebensolchen betritt.

In der letzten Einstellung bleiben nur noch Schatten, die eine Straße hinab gehen. Haarmann und die anderen werden eins im Zwielicht. Der historische Serienkiller Haarmann, so erfahren wir von einer Texttafel am Ende, wurde 1925 hingerichtet. Der filmische hingegen wird als Schatten endgültig einer von uns.

Den Film, der trotz seines großen Erfolges an der Kinokasse, wo er 1973 am drittbesten abschnitt, lange Zeit quasi nicht verfügbar war, gibt es bereits seit 2015 von CMV auf DVD und Blu-ray sowie in einem auf tausend Stück limitierten Mediabook mit beiden Formaten. Die Freude an dieser Veröffentlichung, die mit einem dekorativen Booklet und umfangreichen Extras daherkommt und eine regelrechte „Studienausgabe“ bietet, wie sie dieser Film auch verdient hat, wird empfindlich geschmälert durch die Tatsache, dass sie nicht über das richtige Bildformat verfügt, den Film statt in 1,66:1 in 1,78:1 präsentiert, um die Nutzer heute gängiger 16:9-Fernseher nicht mit schwarzen Balken an den Bildrändern zu behelligen. Das mag weniger schlimm sein als das Zurechtschnippeln von Cinemascope-Filmen auf 4:3 zu VHS-Zeiten, wird aber den Möglichkeiten einer Blu-ray absolut nicht gerecht.

The Runaround – Die Nachtschwärmer

(USA 2017, Regie: Gavin Wiesen)

L.A. mit Eigenleben
von Nicolai Bühnemann

Laut einem Gemeinplatz der Küchenphilosophie ist der Weg das Ziel. Wie verhält sich dieser Satz nun zu bestimmten (Sub-)Genres, in denen das Ziel, das, worauf das alles hinaus will, von …

Laut einem Gemeinplatz der Küchenphilosophie ist der Weg das Ziel. Wie verhält sich dieser Satz nun zu bestimmten (Sub-)Genres, in denen das Ziel, das, worauf das alles hinaus will, von vornherein fest steht, gewissermaßen als Voraussetzung durch die Genrekonventionen gesetzt ist. Etwa im Sportfilm, im Slasher (wobei schon alleine aufgrund der Masse an Filmen hier Subversionen wesentlich häufiger sind) – oder eben im Buddy Movie.

Der vielleicht erste Film dieser Art stammt übrigens von 1931. Charles Chaplins Pre Code-Preziose „City Lights“, ein Film, der die heute so bekannte Geschichte von zwei grundverschiedenen Männern erzählt, die sich zusammen raufen müssen, um gemeinsam eine Aufgabe, eine Mission zu erfüllen. Chaplin setzte diese Formel, um sie sogleich weniger zu dekonstruieren als vielmehr in die Luft zu jagen, etwa dadurch, dass die interessanteste Figur hier nicht Chaplins gewohnter Tramp ist, sondern sein Gegenpart, der bipolare und alkoholkranke Millionär, der schlicht nicht in der Lage ist, die gleichmäßige Entwicklung zu durchlaufen, die man aus späteren Vertretern des Genres kennt. Auch nutzte er die viel besungene Freiheit im Hollywood der Zeit, um einen homoerotischen Subtext zwischen den beiden Männern zu etablieren, die nach durchzechter Nacht gemeinsam in einem Bett aufwachen. 1982 schuf Walter Hill mit „48 Hours“ einen Archetypen des Action-Buddy-Movies für die Moderne und Postmoderne, auch variierte der Regisseur diese Prämisse später meisterlich, nämlich in „Red Heat“ (1988) und in „Bullet to the Head“ (2012).

In „All Nighter“ (oder zu Deutsch: „The Runaround – Die Nachtschwärmer“) nun besteht das ungleiche Paar, das keins werden darf, aus dem kiffenden, tofuessenden und im extremen Maße selbstunsicheren Banjo-Spieler Martin (Emile Hirsch) und seinem vielbeschäftigten Schwiegervater Frank Gallo (J. K. Simmons), der eine Vorliebe für blutige Steaks, teure Anzüge und schnelle Autos hat. Eine einzige Szene, ein gemeinsames Essen in einem noblen Restaurant, bei dem Martins Freundin Ginnie (Analeigh Tipton) ihn ihrem Vater vorstellt, reicht dem Film, um zu zeigen, dass diese Männer einfach nicht zusammen passen wollen.

Wobei Regisseur Gavin Wiesen und sein Drehbuchautor Seth Owen die ewig gleiche Genreformel dahingehend variieren, dass in dieser Szene offen bleibt, ob der sich distinguiert bedeckt haltende Frank Martin tatsächlich nicht ausstehen kann oder ob es nicht vielmehr die enorme Unsicherheit des letzteren ist, der dieser Eindruck entspringt. J. K. Simmons, der Star des Films, der für seine Rolle in Damien Chazelles „Whiplash“ den Oscar gewann, mir aber vor allem durch sein exaltiertes over acting als opportunistischer, geldgeiler und geiziger Zeitungsverleger J. Jonah Jameson in Sam Raimis „Spider-Man“-Trilogie im Gedächtnis ist, gibt seine Rolle mit ungewöhnlichem Understatement und bildet gerade dadurch eine Projektionsfläche für Martins Böser-Schwiegervater-Ängste.

Jedenfalls setzt sechs Monate nach diesem Abend die eigentliche Handlung des Films ein, als Frank, der zwischen zwei Arbeitsaufträgen einen Abstecher nach L.A. Macht, um seine Tochter zu besuchen, diese aber weder antrifft noch mit den modernen Kommunikationsmitteln erreicht und sich nun große Sorgen um sie macht, Martin um Hilfe bittet sie zu finden, ohne zu wissen, dass dieser sich drei Monate zuvor von ihr getrennt hat, worüber er nicht wirklich hinweggekommen ist. Die beiden beginnen Los Angeles nach den Bezugspunkten ihrer Tochter respektive Ex-Freundin abzugrasen, starten die Suche, die sich eine ganze Nacht lang hinziehen wird.

Für feministische KritikerInnen des Buddy Movie-Genres bietet „All Nighter“ nicht nur ein gefundenes Fressen, sondern geradezu ein Festmahl. So heißt es etwa in „The Complete Film Dictionary“: „Such films extol the virtues of male comradeship and relegate male – female relationships to a subsidary position.“ Ginnie, die weibliche, nun ja, Hauptfigur des Films erfüllt einzig und alleine die Funktion eines McGuffin, der dazu gebraucht wird, die Annäherung der beiden männlichen Protagonisten voranzutreiben, ohne, wie es bei Wikipedia heißt, „selbst von besonderem Nutzen zu sein.“ Analeigh Tipton ist nett anzusehen – und gerade darin auf ihre reine Funktion des Plots beschränkt, ein Eigenleben als Figur ist ihr definitiv nicht vergönnt. Daran ändert auch nichts, dass sie am Ende einen neuen Freund haben wird, ja, vielmehr gibt die Tatsache, dass dieser, judging by his Urlaubsziel einer höheren Gehaltsklasse als Martin angehört, dieser Nicht-Figur einen noch schaleren Beigeschmack als eh schon. Schöne Frauen schlafen sich also gerne hoch, ziehen die aalglatten Gewinner den Losern vor – und seien sie auch so grundsympathisch wie eben Martin. Aha.

Für Frank und Martin reicht es sicherlich aus, dass die Frau unerreichbar ist – für den an Weltschmerz leidenden Ex ebenso wie für den sie vernachlässigenden Vater. Man könnte den Film so zusammenfassen, dass Frank seine Tochter nicht (oder doch nur sehr teilweise) zurück-, dafür aber einen neuen Sohn gewinnt. Oder, weniger zimperlich, könnte man auch an die Funktion der Frau in einer double penetration denken, wo sie den heterosexuellen Katalysator bildet, der dafür sorgt, dass sich die beiden Schwänze, die sich so nacheinander sehnen, nicht (ganz) zusammenkommen, weil sie immer noch ein Stück weibliche Haut voneinander trennt.

Trotz solcher ideologiekritischen Einwände mochte ich „All Nighter“ recht gerne, was nicht zuletzt an dem L. A. liegt, das der Film porträtiert. Den Nebenfiguren, denen das Duo bei ihrer Suche in Cafés, Clubs, Restaurants begegnet, wird, anders als Ginnie, durchaus ein Eigenleben zugestanden. Was sie von den Typen trennt, die schon noch recht deutlich in der Anlage ihrer Figuren durchscheinen, bzw. in dem Fall des mit Martin befreundeten Pärchens Gary (Tarran Killam) und Roberta (toll: Kristen Schaal) in ihrer Beziehung, ist eine exquisite weirdness. Ganz „normal“ ist in diesem Film, diesem Los Angeles definitiv niemand, was den überkommenen Begriff der Normalität dann eben auf eine harte Probe stellt. Gary und Roberta sind mehr als die Zweckgemeinschaft zwischen einem Stoner, der lieber Pilze frisst als, Gott bewahre, erwachsen zu werden, und einer so fürsorglichen wie eifersüchtigen Frau. Ja selbst Megan (Xoscha Roquemore), eine andere Bekannte Martins, die sie in ziemlich betrunkenem Zustand in einer Disko treffen, die sie schließlich nachhause bringen, was zu Missverständnissen mit ihrem White Trash-Freund führt, ist mehr als nur das naive Partygirl.

Auch verhält sich der Film gegenüber den homoerotischen Implikationen seiner Geschichte wie des ganzen Genres, die, wie eingangs erwähnt, schon bei Chaplin mehr als offensichtlich waren, nicht wirklich so blauäugig, wie man zunächst meinen könnte. So borgt sich Frank, nachdem ihm Megan den Anzug vollgekotzt hat, ein rosa T-Shirt von ihrem Freund, ein T-Shirt mit der Aufschrift „Keep it Juicy“. Schließlich entlässt der Film, der ansonsten die Genreformel gewissenhaft abarbeitet, uns nicht mit einem zu hohen Maß an Versöhnlichkeit. Auf das große Pathos der Wiedervereinigungen verzichtet er sehr bewusst. Auch tut er gut daran, das Mysterium um Franks Beruf, das einige Zeit lang die Konklusion offen hält, dass er ein Spion, (Super-)Cop oder Auftragskiller ist, schließlich anders aufzulösen und Ausflüge in andere Genregefilde lieber jemandem wie Paul Feig zu überlassen.

Die ganz große Komik, den subversiven Sprengstoff, die befreiende Vulgarität und ausufernde Selbstreflexivität der ganz großen Meisterwerke im amerikanischen Genre des Komischen, etwa eines Judd Apatow, sucht man hier unterdessen vergeblich – trotz des einen oder anderen nerdy Bezug auf die Populärkultur und der mit dem Wort „Fuck“ gespickten Dialoge.

Für einen Start in deutschen Kinos hat es für „All Nighter“ leider wieder einmal nicht gereicht. Allerdings kommt der Film, der gerade letzten Monat erst in den amerikanischen Kinos gestartet ist, bereits am 21.04. 2017 bei Ascot Elite auf DVD, Blu-ray und VOD heraus.

40 Tage in der Wüste

(US 2015, Regie: Rodrigo García )

Möglichkeiten der Befreiung
von Wolfgang Nierlin

Karg, steinig und unwegsam erstreckt sich bis zum Horizont eine Wüstenlandschaft vor dem Auge des Betrachters. Die unwirtliche, wilde Ödnis, von einer unbarmherzigen Sonne beschienen, ist ein ambivalenter Ort: Einerseits …

Karg, steinig und unwegsam erstreckt sich bis zum Horizont eine Wüstenlandschaft vor dem Auge des Betrachters. Die unwirtliche, wilde Ödnis, von einer unbarmherzigen Sonne beschienen, ist ein ambivalenter Ort: Einerseits umschließt sie einen ganz diesseitigen Raum der Entbehrung, ist fremd und ohne Zukunft; der Mensch erfährt sich in ihr als ausgesetzt und ganz auf sich allein gestellt. Andererseits kann die Wüste, befreit von allem Materiellen, in ihrer Stille und Verlassenheit zu einem Ort der Sammlung und der inneren Einkehr werden, der die Gegensätze zuspitzt und zugleich aufhebt. Die heißen Tage und die kalten Nächte, das unfruchtbare Land und die Schätze aus Stein, Gut und Böse sind in ihr vereint.

Auf der Suche nach Erkenntnis in der Begegnung mit sich selbst hat sich Jeshua (Ewan McGregor) in die Wüste begeben. Die Grenzenlosigkeit des unbebauten Raums als Bedingung der Askese soll körperliche Entbehrung und geistige Übung ins Gleichgewicht setzen. Betend und fastend sucht der „heilige Mann“ das Zwiegespräch mit sich selbst und mit Gott. Auf dem Weg nach Jerusalem will sich Jeshua auf „seine Aufgabe“ vorbereiten und ringt dabei um Antworten. Doch sein himmlischer Vater schweigt. Stattdessen meldet sich sein Versucher zu Wort, der ebenfalls von Ewan McGregor gespielt wird und der deshalb als kaum unterscheidbarer Doppelgänger erscheint. Nur Jeshua kann seinen Widersacher sehen und hören, der als Verneiner und Nihilist Zweifel sät und unbequeme Ansichten formuliert: Der schweigende Vater liebe nur sich selbst; und das Leben bestehe aus einer endlosen Reihe von Wiederholungen, die zu keinem Ziel führten. Der listige, durchaus kommunikative Verführer agiert mit den Mitteln der Täuschung; zugleich könnte er eine Abspaltung von Jeshuas Ich sein, gewissermaßen dessen Unterbewusstes.

Rodrigo García bezieht sich mit seinem vielschichtigen Film „Last Days in the Desert“ in sehr freier, parabolischer Form und mit einem reduzierten Setting auf jene Episode im Leben Jesu, die der deutsche Verleihtitel „40 Tage in der Wüste“ wachruft. Gemeint ist der Zeitraum zwischen Jesu Taufe im Jordan und seinem Auftreten in Galiläa, als Jesus vom Teufel dreifach versucht wird und dabei in der Treue zu Gott standhaft bleibt. García wählt diesen biblischen Hintergrund und die mit ihm verknüpften Anfechtungen seines Protagonisten, um in dessen Begegnung mit einer Familie „die menschliche Dimension von Jesus zu untersuchen“ und die „Auseinandersetzung mit allgemein menschlichen Glaubens- und Daseinskonflikten“ zu gestalten. Dabei interessiert sich der Sohn des Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez vor allem für den Vater-Sohn-Konflikt seiner Geschichte, den er in der Konstellation der portraitierten Familie widerspiegelt.

„Ich bin kein schlechter Sohn“, resümiert einmal der heranwachsende junge Mann (Tye Sheridan) mit Nachdruck gegenüber Jeshua seine konfliktreiche Beziehung zum Vater (Ciarán Hinds). Während dieser seinen Sohn in der Einöde halten will und deshalb ein Haus für ihn baut, träumt jener von Jerusalem, vom Meer und vom Aufbruch in ein Leben, in dem er Spuren hinterlassen möchte. Der schweigsame Jeshua hört verständig zu, fungiert als Vermittler und Spiegelbild und hat nicht immer eine Antwort. Vor allem gegenüber der todkranken, noch jungen Mutter der Familie (Ayelet Zurer) empfindet er sich als hilflos und schwach. Und er, der von sich einmal Taten statt Worte fordert, kann schließlich auch nicht verhindern, dass der Vater beim Versuch, an einer schwer zugänglichen Felswand einen wertvollen Jaspis abzutragen, tödlich verunglückt.

Der Tod des „irdischen Vaters“ sowie der Kreuzestod des „himmlischen Sohns“ am Ende des Films, beide als Opfer deutbar, verweisen in Rodrigo Garcías meditativem, von großer Konzentration getragenem Film auf Möglichkeiten der Befreiung und Erlösung. Er habe die „Sehnsucht individueller Selbstverwirklichung“ und den Glauben an eine „höhere Berufung“ aufeinandertreffen lassen wollen, sagt der kolumbianische, in den USA arbeitende Regisseur. Die faszinierenden, von dem renommierten Kameramann Emmanuel Lubezki gestalteten Bilder einer ebenso realistischen wie symbolischen Wüstenlandschaft, aufgenommen im südkalifornischen Anza-Borrego Desert State Park, antworten gewissermaßen auf die Zeitlosigkeit dieser Themen. Fast scheint es, als sei zwar nicht der innerweltliche, aber der metaphysische Sinn des Opfers vergessen. Für die Touristen jedenfalls, die durch ihr Auftreten am Schluss einen Bezug zur Gegenwart herstellen, ist die (geschichtsträchtige) Landschaft nurmehr ein Fotomotiv.

Verleugnung

(USA, GB 2016, Regie: Mick Jackson)

Passt!
von Dietrich Kuhlbrodt

Verleugnung auf allerlei Ebenen! Vergasungen haben in Auschwitz nicht stattgefunden, weil’s keine Gaskammern gab – sagte vor 30 Jahren David Irving, Geschichtswissenschaftler mit vielen Followern. – Gelogen, wir wissen’s längst. …

Verleugnung auf allerlei Ebenen! Vergasungen haben in Auschwitz nicht stattgefunden, weil’s keine Gaskammern gab – sagte vor 30 Jahren David Irving, Geschichtswissenschaftler mit vielen Followern. – Gelogen, wir wissen’s längst. Die amerikanische Professorin Deborah E. Lipstadt sagt es ihm. Er, der Leugner, verklagt sie wegen Verleumdung.

Zuständig ist ein britisches Gericht. Dort im Lande gilt was Besonderes: Der Kläger legt die Hände in den Schoß, der Beklagte muss beweisen, dass der Leugner Unrecht hat. Der historische Prozess beginnt.
Wir haben Anfang des Jahrtausends. Wir erfahren alles über das englische Justizsystem. – Gähn, ist das spannend? Ist es. Weil ‚Verleugnung‘ kein Belehrungsfilm aus der deutschen Gremienkultur ist – die wird glatt verleugnet –, sondern ein Unterhaltungsfilm. Voll das Entertainment. Leute, guckt euch den britischen Kronanwalt an, der der Angeklagten, von der Beweislast schier erdrückt, schließlich zum Sieg über den Leugner verhilft. Voll sympathisch der Mann. Der Film widmet sich ausführlich seinem Alkoholkonsum. Halbes Dutzend südenglische Weinflaschen den Tag? Wohin führt das? Zu Spitzenleistungen im Beruf! Er ist einfach der Beste, und Irving liegt am Boden.

Der Film zeigt Spitzencharaktere von – übertreiben wir ein klein bisschen – Shakespeareschem Format, und wieder sind die deutschen Belehranstalten verleugnet. Also: eine wahre Geschichte, beste Unterhaltung vor topernstem Hintergrund. Das gilt für alle Akteure. Sie kommen persönlich nahe, und was sie transportieren, kommt hinterher. Ja, den Holocaust gab es. Und das britische Justizsystem ist verbesserungswürdig (dem Angeklagten müsste die Schuld nachgewiesen werden, nicht umgekehrt).

Aber: In ‚Verleugnung‘ beweisen die Schauspieler in erster Linie sich selbst, alles andere folgt; zum Schluss Verneigung und Applaus. Regisseur Mick Jackson hat dafür ein anderes pathetisches Bild gefunden, eben nicht Vorhang zu, sondern Küsschen der Schauspieler auf offener Bühne. Passt doch!

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

Battle Royale (WA)

(J 2000, Regie: Kinji Fukasaku)

Nepper, Schlepper, Kinderfänger
von Nicolai Bühnemann

Die Regeln des Spiels sind denkbar einfach, ja, eigentlich gibt es nur eine einzige Regel. Die besagt, dass es am Ende nur eine/n Überlebende/n geben darf. Hierfür wird eine Schulklasse …

Die Regeln des Spiels sind denkbar einfach, ja, eigentlich gibt es nur eine einzige Regel. Die besagt, dass es am Ende nur eine/n Überlebende/n geben darf. Hierfür wird eine Schulklasse beim gemeinsamen Ausflug im Bus betäubt, entführt und auf eine einsame Insel verfrachtet. Jeder bekommt als Ausrüstung eine Waffe, wobei sich die Ausrüster nicht nur in ihrer starken militärischen Präsenz als Schicksalsmacht generieren, sondern auch dadurch, dass sie entscheiden, ob man oder frau sich mit einer vollautomatischen Maschinenpistole, einer Sichel oder doch nur einem Fernglas oder einem Topfdeckel in den Kampf stürzen kann. Nun heißt es jeder gegen jede – und sollten beim Ablauf von drei Tagen noch mehr als eine/r der SchülerInnen am Leben sein, detoniert eine Sprengladung in den Halsbändern, die ihnen während ihrer Bewusstlosigkeit angelegt wurden und über die sie auch jederzeit geortet werden können. Gleich zu Beginn demonstriert Oberlehrer (Takeshi) Kitano seine Macht und seine kaltblütige Entschlossenheit, indem er die Schülerzahl erst einmal von 42 auf 40 dezimiert.

Das Motiv der Menschenjagd ist ziemlich alt. Im Kino findet es sich spätestens seit der frühen Tonfilmzeit. Prominent etwa in „The Most Dangerous Game“ von 1932, der von den „King Kong“-Machern Ernest B. Schoedsack (Regie) und Merian C. Cooper (Produktion) stammt, und auf einer Kurzgeschichte beruht, die bereits 1924 erstveröffentlicht wurde. Populär ist dieses Szenarium nicht erst seit dem Erfolg der „Hunger Games“ in Wort und Bild. So verwendete es etwa Stephen King in den frühen Achtzigern in seinem Roman „The Running Man“, der mit Arnold Schwarzenegger verfilmt wurde. Und in den Neunzigern wurde es unter anderem von John Woo in seinem ersten US-amerikanischen Film „Hard Target“ mit Jean-Claude Van Damme spektakulär aufgegriffen, wobei sich auch im Detail einige Anspielungen auf „The Most Dangerous Game“ ausmachen lassen. Längst ist die Menschenjagd ein Stück Populärkultur geworden und wird selbst in „Buffy“ oder den „Simpsons“ aufgegriffen.

„Battle Royale“ ist in vielerlei Hinsicht ein finaler Film, ein Abgesang – auf die Jugend, das Leben, das Kino. Es ist der einundsechzigste und letzte vollendete Kinofilm von Filmemacher, Produzent und Drehbuchautor Kinji Fukasaku, der drei Jahre später während der Dreharbeiten zur Fortsetzung an Krebs starb, so dass sein Sohn Kenta, der hier wie auch schon beim Erstling das Drehbuch geschrieben hatte, den Platz auf dem Regiestuhl übernehmen musste. Einen Namen hatte sich der Vielfilmer, der etwa 1961, dem ersten Jahr seiner Karriere, nicht weniger als fünf Filme gedreht hatte und damit auch als Vater im Geiste eines Takashi Miike gelten kann, vor allem mit Yakuza-Streifen der härteren Gangart wie etwa „Graveyard of Honor“ (1975), der übrigens von Miike 2002 neu verfilmt wurde.

Die Insel, auf die die Schulklasse gegeneinander aufgehetzt wird, spiegelt die, auf der Graf Zaroff bei Schoedsack und Cooper seine Menschenjagd abhielt, wobei es schon eine entscheidende Veränderung ist, dass an die Stelle des aristokratischen Souveräns mit seinen kolonialistischen Wurzeln hier eine Regierungsorganisation tritt, die das „Spiel“ minutiös plant und ausführt und gewissermaßen als pädagogische Maßnahme gegenüber der respektlosen Schülerschaft auffasst. An die Stelle des sadistischen Einzelnen in den Dreißigern ist zur Jahrtausendwende ein, nun ja, System getreten, das von der adoleszenten Grausamkeit zehrt oder zumindest: von ihr zu zehren versucht. Und natürlich ist Takeshi Kitano als Oberlehrer so viel besser als der stocksteife Leslie Banks. Kitano gibt seine Figur mit der Müdigkeit eines Mannes, der immer schon mit allem abgeschlossen hat, von der Welt nichts mehr zu erwarten hat außer den Tod. Und keiner stirbt auf der Leinwand so eindrucksvoll, so überlebensgroß und dabei dennoch banal wie er, nicht nur, aber eben ganz besonders in diesem Film.

Darüber hinaus ist die Insel aber auch ein Ort, an dem viele Traditionslinien des internationalen (Genre-)Kinos zusammenlaufen. Die Fukasakus nehmen etwa den Zynismus eines Paul Verhoeven, und insbesondere wohl dessen „Robocop“, und geben ihm eine ganz eigene Note, überführen ihn letztendlich in eine ganz eigene Form von radikalem Humanismus, der eher ein narrativer als ein formalästhetischer ist und der sich, ganz allgemein gesprochen, in einer bedingungslosen Parteinahme des Films für die jeweils Schwächeren gegenüber den Stärkeren, den Opfern gegenüber den Tätern, den Gepeinigten gegenüber ihren Peinigern niederschlägt. Nicht zuletzt erzählt „Battle Royale“ auch von dem Triumph der Geeks gegenüber den Jooks, der Emos gegenüber den Brutalos. Eine kleine Gruppe von Computernerds schafft es schließlich sogar, den Computer der Organisation zu haken – manchmal ist der Topfdeckel eben doch stärker als die Axt (auch wenn ihre Freude über den errungenen Sieg jäh und grausam beendet wird).

All das soll hingegen nicht bedeuten, dass Fukasaku Kunst als reines Mittel zum Zweck der Bebilderung soziologischer Thesen auffasst. „Battle Royale“ ist ordentlich zupackendes Splatter-Kino, dem man (nicht nur) in den brillant choreographierten shoot outs die gar nicht müde Könnerschaft des alten Meisters mit vierzig Jahren Erfahrung in der Filmindustrie ansieht. Es gibt zwischen den Schülern etwas, das es in der Welt Verhoevens nicht (mehr) geben kann: Solidarität. Viele von ihnen wählen den Freitod als Ausweg, um bei dem grausamen Spiel nicht mitmachen zu müssen. Die Jugend, die der Film porträtiert, ist eindeutig besser als ihr Ruf.

Auch ist der Film aufgebaut wie eine Zwiebel, bei der aus dem typisch japanischen (es bräuchte wahrlich einen größeren Kenner fernöstlicher Kultur als mich, um zu verstehen, wie japanisch dieser Film ist), einer speziellen Form der Überzeichnung, der Komik, des over acting auch, Schicht für Schicht sehr allgemein menschliche Tragödien und Traumata geschält werden. Es geht in den Geschichten der Schülerinnen und Schüler um Verrat, Freundschaft, zärtlich gewachsene Liebe und grausam erwachendes Begehren, peer pressure, Cliquenbildung, soziale Segregation und – natürlich – den (viel zu frühen) Tod. „Battle Royale“ ist ein wahrlich sonderbares, zutiefst eigensinniges Konglomerat aus Actionfilm, Noir und Coming of Age-Geschichte, das eindrucksvoll vorführt, dass fliegende Kugeln kein Alter, keine sozialen Klassen, keine Nationalitäten kennen. Frei nach dem alten Revolverslogan: God made men, but an Uzi makes them equal.

In Deutschland wurde der Film zunächst nur in einer um acht Minuten gekürzten Fassung freigegeben, bei der, was besonders ärgerlich ist, die Texteinblendungen, die den Zuschauenden anzeigen, welche der SchülerInnen getötet wurden und wie viele noch übrig sind, aus dem Bild getilgt wurden, was ein gutes Beispiel dafür ist, wie Zensur, die einen Film eigentlich entschärfen soll, ihn noch zynischer machen kann. Davon abgesehen, dass dieser Countdown Momente der Besinnung im mörderisch hektischen Treiben des Films schafft und deshalb für dessen Rhythmus und Erzählökonomie von entscheidender Bedeutung ist, macht er die Leinwand zu einer Gedenktafel für die adoleszenten Opfer.

Zu allem Überfluss landete dieser Torso dann auch noch auf dem Index, eine ungeschnittene Fassung des Films von Capelight Pictures wurde 2013 bundesweit beschlagnahmt. Ein Urteil, gegen das das Label allerdings juristisch vorging, so dass der Film nur für wenige Monate auf der Liste der bösen Film verweilte, einige Jahre später wurde auch die Indizierung aufgehoben, und nun steht einer mustergültigen DVD/Blu-ray-Edition, die sowohl die Kinofassung als auch den einige Minuten länger laufenden Extended Cut beinhaltet, für die Mediamärkte dieser Republik nichts mehr im Wege. Noch vorbildlicher ist allerdings, dass das Label auch dafür gesorgt hat, dass man den Film in beiden Versionen wieder dort erleben kann, wo Kinofilme hingehören, auf der großen Leinwand.

Dieser Text ist in kürzerer Form bereits bei perlentaucher.de erschienen.

A Serious Man

(USA 2009, Regie: Ethan Coen, Joel Coen)

Please, accept the mystery!
von Ricardo Brunn

Lawrence Gopnik (Michael Stuhlbarg) ist ein ernsthafter, geradliniger Mann. Und gewiss ist er auch ein guter Autofahrer. Nur an diesem einen Tag ist er es nicht. Abgelenkt von einem seiner …

Lawrence Gopnik (Michael Stuhlbarg) ist ein ernsthafter, geradliniger Mann. Und gewiss ist er auch ein guter Autofahrer. Nur an diesem einen Tag ist er es nicht. Abgelenkt von einem seiner Studenten, den Larry aus dem Auto heraus auf dem Bürgersteig erspäht, achtet der sonst so gefasste und aufmerksame Familienvater und Mathematikprofessor nicht mehr auf den Verkehr, schon ist es passiert. Handlungen haben nun einmal Konsequenzen. Doch Glück im Unglück bleibt Larry unversehrt. Zur gleichen Zeit fährt auch Sy Ableman (Fred Melamed), Larrys engster Freund und ebenso ernsthafter Mann wie vorbildlicher Autofahrer, mit seinem Wagen durch die Stadt. Im Gegensatz zu Larry konzentriert sich Sy auf den Verkehr, fährt nicht zu schnell, schaut regelmäßig in den Rückspiegel, setzt den Blinker, achtet sehr genau auf nahende Fahrzeuge. Trotzdem wird auch er in einen Unfall verwickelt – in einen für ihn tödlichen, wie wir im weiteren Verlauf des Filmes erfahren sollen.

Diese in „A Serious Man“ parallel erzählten Zwischenfälle veranschaulichen, was der Film der Coen-Brüder verhandelt. Es geht um nicht weniger als die Frage, ob all unsere Handlungen und daraus entstehenden Konsequenzen dem Zufall unterworfen sind oder ob im Gegenteil alles einem Plan folgt, wir in unseren Aktionen determiniert sind und somit alles erklär-, im besten Fall sogar berechenbar ist. Es ist, wenn man so will, die zentrale Frage des coenschen Gesamtwerkes. Immer wieder lassen die beiden Regisseure ihre kuriosen Figuren an diesem Problem und damit an der Welt scheitern. Oder sie umgeben sie mit einem strengen Regel- und Wertekatalog, der Ordnung ins vermeintliche Chaos bringen soll. Walter Sobchak (John Goodman) sind in „The Big Lebowsky“ (USA 1998; R: Joel & Ethan Coen) Linien deshalb nicht nur auf der Bowlingbahn äußerst wichtig. Und Larry Gopnik versucht in „A Serious Man“ sein Leben unter den Gesetzmäßigkeiten einer mathematische Gleichung zu betrachten. Doch die Welt lässt sich nicht nach „x“ auflösen, ist den Figuren immer einen Schritt voraus. In der Sekunde, in der der Mensch willensfreie Entscheidungen trifft, muss er erkennen, dass manche Dinge dem Zufall zu unterliegen scheinen, dass das Glück unbeständig und die menschliche Handlungsfähigkeit tatsächlich eingeschränkt sind. Unvereinbar stehen sich im Universum der Coens der gesunde Menschenverstand, Wissenschaft, Religion und Esoterik gegenüber, können miteinander kommunizieren, aber alle Oppositionen am Ende doch nicht aufheben, weil sie den Zufall stets ausklammern. Was den Figuren in ihrer Unsicherheit bleibt, ist die obsessive Befragung der Wirklichkeit und ihr Staunen über den Lauf der Dinge.

In „A serious man“ beginnt dieses Staunen mit einer Bewegung durch den Gehörgang. Langsam kriecht die Kamera aus dem Schwarz in die Handlung des Filmes, den Geräuschen entgegen, dringt die Liedzeile „When the truth is found to be lies“ von Jefferson Airplane ans Trommelfell, welches in diesem Moment nur die Leinwand des Kinos sein kann. Das Ohr wird hier ganz bewusst als Sitz des Gleichgewichtsorgans und Organ des Verstehens inszeniert, geht es doch im Film um eine aus dem Gleichgewicht geratene Hauptfigur, die vom Wunsch nach Selbstbestimmung getrieben und von Fortuna verraten umherirrt und (sprachlich wie kognitiv) die Geschehnisse verstehen will. „You can‘t do the physics without the mathematics“, sagt Larry einmal zu seinem koreanischen Problemstudenten, der nicht begreifen will, dass er erst das eine Fach bestehen muss, um im anderen eine Prüfung ablegen zu können. Es ist ein sehr eng gefasstes Primat des kausalen Zusammenhangs, das Larry Gopnik auf das Leben anwendet. Umso unbegreiflicher bleibt es für Larry, als sein geregeltes Leben mit Reihenhaus, Familie und Chance auf lebenslange Anstellung an der Universität nach und nach aus der gewohnten Ordnung zu fallen droht. Plötzlich will sich seine Frau Judith (Sari Lennick) von ihm scheiden lassen und es mit Larrys Kumpel Sy versuchen. An der Universität tauchen aus dem Nichts Briefe auf, die Larry diskreditieren. Ein Student versucht ihn zu bestechen. Und schließlich muss er aus seinem Haus aus- und in ein Motel einziehen und sich einen Scheidungsanwalt suchen. Dabei hat er nichts verbrochen, keine Fehler gemacht, sich immer ordentlich verhalten, weshalb auch nichts Abwegiges geschehen dürfte.

Alle Schicksalsschläge, die Larry als modernem Hiob ereilen, inszenieren die Coen-Brüder in ihrer bissigen Komödie mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Konsequent lassen sie jeden Dialog, der zu Klärungen führen soll, scheitern. Für keines der aufgeworfenen Probleme Larry Gopniks wird eine adäquate Lösung angeboten. Kein Rabbi kann Larry mit sicherem Rat zur Seite stehen. Alle Gespräche mit seinem Anwalt werden durch Zwischenfälle unterbrochen. Und das absurdeste Gespräch von allen mündet nach einem Schlagabtausch, in dem Larry verzweifelt versucht, sich einen offensichtlichen Bestechungsversuch bestätigen zu lassen, in der finalen Antwort des beschuldigten Gegenübers: „Please, accept the mystery.“

Das Leben ist ein Mysterium, an dem Larry Gopnik stellvertretend für uns scheitert. Er selbst beweist das, wenn er in einem Alptraum mit ausgebreiteten Armen vor einer haushohen, bis auf den letzten Zentimeter bekritzelten Tafel steht und verkündet, dass wir nach der Heisenbergschen Unschärferelation niemals genau sagen können, was überhaupt vor sich geht. Und die Coens sind ehrlich genug, zuzugeben, dass auch sie zu keiner Lösung kommen können. Schrödingers Katze ist eben lebendig und tot zugleich. Das Glück kommt und geht und der Mensch muss damit umgehen. Oder anders formuliert: Please, accept the ambiguity. Deshalb kann es auch sein, dass in der Sekunde, da Larry Gopnik Gutes widerfährt und er auf Lebenszeit angestellt wird, eben diese Lebenszeit durch einen Telefonanruf seines Hausarztes in Frage gestellt wird und ein Tornado am Horizont die Ordnung der Welt aus den Angeln zu heben droht. Die Coens spielen in „A Serious Man“ nicht Gott, sondern das Spiel des Lebens selbst: sie sind unberechenbar und voller Fragen an den Lauf der Dinge.

Hier findet sich eine weitere Kritik zu ‚A Serious Man‘.

Gaza Surf Club

(D 2016, Regie: Philip Gnadt, Mickey Yamine)

Surfen im Gaza-Streifen
von Jürgen Kiontke

Ibrahim liebt surfen. Aber da wo er wohnt, wollen die die Wellen nicht immer so, wie er will. Wenn der Wind gut steht, lässt er jedoch auch schon mal den …

Ibrahim liebt surfen. Aber da wo er wohnt, wollen die die Wellen nicht immer so, wie er will. Wenn der Wind gut steht, lässt er jedoch auch schon mal den Job sausen. Arbeit gibt es immer, aber gute Wellen nur manchmal. Vieles will nicht so, dort wo Ibrahim wohnt. Denn er ist einer der wenigen Wellenreiter im Gaza-Streifen. Ihnen ist der Film „Gaza Surf Club“ gewidmet.

Das Surfen ist für sie eine beliebte Abwechslung. Ibrahim träumt davon, selbst Bretter zu bauen, denn als Importware liegen sie durchaus schon mal zwei Jahre bei den israelischen Behörden herum. Er hat sich für ein Praktikum in den Board-Werkstätten auf Hawaii beworben. Mehr Stress machen die Tradition und die in Gaza regierende Hamas jungen Mädchen, die ebenfalls surfen wollen. So wie die 15-jährige Sabah, die von ihrem Vater schon als Kind aufs Brett gestellt wurde. „Ich lasse sie surfen“, sagt der Vater. „Aber spätestens wenn sie verheiratet ist, wird es ihr Mann ihr verbieten.‘ Sabah sagt: „Ich bin mal fast abgesoffen, weil sich mein Kopftuch im Wasser um den Hals gewickelt hat.“ Wenn sie 100 Meter draußen ist, schwimmt Sabah nur im Badeanzug: „Im Wasser bin ich glücklich.“

„Gaza Surf Club“ von Philip Gnadt und Mickey Yamine ist ein kleiner, harter Film, wie man auch unter widrigen Bedingungen besonderen Hobbys frönen kann. Und er zeigt: Gaza wäre ein guter Surfspot. Der Name ist schon mal weltbekannt, am besten wandelt man das ganze Areal in eine hippe Party-Location um. Motto: Raketen zu Surfbrettern.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal 4/17

Do not Resist. Police 3.0

(USA 2016, Regie: Craig Atkinson)

Die Aufrüstung der Polizei
von Jürgen Kiontke

„Ohne Gerechtigkeit kein Frieden“ ist das Motto der neuen Bürgerrechtsbewegung in den USA. Der Hintergrund: Mehrere US-Bürger sind letztes Jahr von der Polizei erschossen worden. Sie waren unbewaffnet und zum …

„Ohne Gerechtigkeit kein Frieden“ ist das Motto der neuen Bürgerrechtsbewegung in den USA. Der Hintergrund: Mehrere US-Bürger sind letztes Jahr von der Polizei erschossen worden. Sie waren unbewaffnet und zum Teil sogar schon am Boden fixiert.

Wie kommt es zu solchen Vorfällen? Der Dokumentarfilm „Do Not Resist“ liefert einen Erklärungsansatz. Die US-Polizei ist in den letzten Jahren immens aufgerüstet worden. Der Grund hierfür ist in den militärischen Konflikten zu finden, an denen das Land beteiligt ist: Weil die Rüstungsindustrie Überkapazitäten produziert, werden die Waffen der Polizei „geschenkt“. Mit gepanzerten Fahrzeugen, Maschinenkanonen und sogar aufgepflanzten Bajonetten wird nun bis ins letzte Dorf patrouilliert, um Parksünder dingfest zu machen.
Damit einhergeht – Achtung, Terrorgefahr! – die ideologische Brutalisierung der Beamten. Lehrkräfte trimmen sie auf Kriegstruppe.

Regisseur Craig Atkinson begleitet Spezialeinheiten auf ihren Einsätzen, filmt Ausschreitungen und besucht Überwachungszentralen à la Robocop. Sein Film beschäftigt sich auch mit totaler Videoüberwachung und Technologien des „Predictive Policing“: den Möglichkeiten, per Algorithmus Prognosen auf die potenziell kriminelle Karriere eines jeden einzelnen zu stellen. „Und zwar schon vor der Geburt“, wie einer der befragten Experten sagt.

Prädikat: wertvoll. Allerdings wünscht man sich hinterher, man hätte nur einen Spielfilm gesehen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal 4/17

Nacktbaden – Manche bräunen, andere brennen

(GR/DE 2016, Regie: Argyris Papadimitropoulos)

Tragödie eines lächerlichen Mannes
von Wolfgang Nierlin

Wenn der reisende Fremde auf seiner Überfahrt zu einer Insel durch die Frontscheibe des Fährschiffs blickt, spiegelt sich das unbekannte Eiland als eine Welt im Kleinen in seinem Gesicht. Das …

Wenn der reisende Fremde auf seiner Überfahrt zu einer Insel durch die Frontscheibe des Fährschiffs blickt, spiegelt sich das unbekannte Eiland als eine Welt im Kleinen in seinem Gesicht. Das Wetter ist grau und nebelverhangen und eine sanfte Tristesse liegt in den Wintermonaten über der griechischen Ferieninsel mit ihren weißen Häuschen, die unbewohnt scheinen. Der Ankömmling ist neu auf Antiparos. Und als 42-jähriger Junggeselle ist seine Einsamkeit bald eine doppelte. Denn Kostis (Makis Papadimitriou), der hier eine Stelle als Arzt antritt, ist nach dem Empfang durch den Bürgermeister zwar bald integriert in die Dorfgemeinschaft, seine emotionalen Defizite sind aber unübersehbar. Schweigsam und etwas hemdsärmelig führt er seine Praxis, während er im zwischenmenschlichen Umgang leicht unsicher und unbeholfen wirkt. Argyris Papdimitropoulos verbindet in der ausführlich und genau inszenierten Exposition seines Films „Nacktbaden – Manche bräunen, manche brennen“ (Suntan) den Topos des einsamen Inseldaseins mit der Isolation eines Mannes in mittleren Jahren.

Alles ändert sich, als es Sommer wird und mit der Ankunft von Licht und Wärme zahlreiche Urlauber die Insel bevölkern. Unter ihnen ist auch die ebenso schöne wie aufreizende Anna (Elli Tringou), die mit ihrer provozierend distanzlosen, sich ungezwungen und übermütig gebenden Clique das Leben im Hier und Jetzt genießt. Als die 21-Jährige mit einer Beinverletzung den Arzt aufsucht, blüht der verschämte Kostis innerlich förmlich auf. Von der freizügigen Anna ermuntert, besucht er die vergnügungssüchtige Gruppe auf ihrem Zeltplatz am Nacktbadestrand. Doch der Kontrast zwischen dem untersetzten, leicht pummeligen Mann, der sich mit Sonnencreme und Hut vor der Sonne schützt, und dem unbekümmerten Hedonismus höchst vitaler, gutaussehender Jugendlicher könnte kaum größer sein. Kostis lässt sich treiben und verführen. Er ergibt sich dem Rausch langer Disco-Nächte und vernachlässigt darüber seine Praxis. Doch während der Arzt langsam im besitzergreifenden Wahnsinn der Liebe versinkt, bleibt für die sich unabhängig gebende Anna alles nur ein leichtes, sommerliches Spiel.

Beeinflusst von den Büchern Michel Houellebecqs und seinen eigenen langjährigen Erfahrungen auf Antiparos hat Papadimitropoulos einen, so der griechische Regisseur, „Coming-of-middle-Age-Film“ gedreht. Die Melancholie über das Älterwerden und über den Verfall des Körpers kontrastiert darin hart mit der körperlichen Lebendigkeit und schier grenzenlosen Freiheit einer Jugend im hormonellen Dauerrausch. Erzählt aus der Perspektive des tragikomischen Helden, für den sich die Farben des Sommers zunehmend gefährlicher verdunkeln, thematisieren Papadimitropoulos und sein Freund und Koautor, der Filmregisseur Syllas Tzoumerkas („A Blast“), aber auch das Verhältnis des leidgeprüften Einzelgängers zu den rigiden Ausschlussverfahren der Gruppe. Immer wieder und teils überdeutlich setzt Papadimitropoulos dieses schmerzliche Getrenntsein mit all seinen vergeblichen Hoffnungen und traurig stimmenden Peinlichkeiten ins Bild. So ist „Nacktbaden“ mit seinen motivischen „Lolita“-Anleihen nicht nur die Tragödie eines lächerlichen Mannes, sondern auch ein Film über den Wahn der Einsamkeit. Denn damit der liebeskranke Arzt – so der psychoanalytische Subtext – das ferne Objekt seiner Begierde heilen kann, muss er dieses erst verletzen.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Nacktbaden‘.

Die andere Seite der Hoffnung

(FI 2017, Regie: Aki Kaurismäki)

Phönix mit gebrochenen Flügeln
von Wolfgang Nierlin

„Eira“ heißt das Schiff, das in den nächtlichen Hafen von Helsinki einfährt, was, als Anagramm gelesen, ein bisschen an den Filmtitel „Ariel“ erinnert. Aki Kaurismäkis Verlierergeschichte aus dem Jahre 1988 …

„Eira“ heißt das Schiff, das in den nächtlichen Hafen von Helsinki einfährt, was, als Anagramm gelesen, ein bisschen an den Filmtitel „Ariel“ erinnert. Aki Kaurismäkis Verlierergeschichte aus dem Jahre 1988 endet dort, wo sein neuer Film „Die andere Seite der Hoffnung“ anfängt. Geographisch betrachtet, handelt es sich um gegensätzliche Bewegungen. Doch tatsächlich sind jener Aufbruch und diese Ankunft im Motiv der Flucht miteinander verbunden. In beiden Fällen und aus sehr unterschiedlichen Gründen können es die Protagonisten an ihren angestammten, lebensfeindlich gewordenen Orten nicht mehr aushalten. Nur tragen die individuellen Gründe – bei aller Ähnlichkeit der kaurismäkischen Helden – dreißig Jahre später deutliche Zeichen der Globalisierung; und zwar überaus aktuell und dezidiert politisch.

Wenn sich zu Beginn des Films eine dunkle, von Kohlestaub bedeckte Gestalt aus einem riesigen Berg Koks erhebt, entsteigt Phönix der Asche. Doch bei aller Würde, die dieses emblematische Bild vermittelt, ist Kahled Ali (Sherwan Haji) ein schwarzer Engel mit gebrochenen Flügeln. Nur mit Not dem Grauen des syrischen Bürgerkriegs entronnen, wo er außer seiner Schwester Miriam die ganz Familie verloren hat, ist er nach abenteuerlicher Flucht über die Balkanroute eher unfreiwillig und als blinder Passagier in einem Land angekommen, das ihn nicht haben will und sein Asylgesuch ablehnt. „Dieses Land ist unwirtlich und steinig“, heißt es in einem der Songs, die die Handlung kommentieren.

Dabei hat der ernst und unerschrocken wirkende junge Mann seine Ansprüche auf ein menschenwürdiges Dasein längst auf ein Minimum beschränkt. Kahled ist zu allem bereit: „Sterben ist leicht, aber ich will leben“, formuliert er mit existentieller Radikalität. Ironisch und mit Lust an der paradoxen Zuspitzung respektive Übertreibung engagiert sich Aki Kaurismäki einmal mehr für die Entrechteten und die bürokratischer Willkür ausgesetzten Außenseiter der Gesellschaft. Wenn nach Nachrichtenbildern vom zerstörten Aleppo die Abschiebung Kahleds erfolgen soll, besitzt das Plakative nicht nur eine dringliche Deutlichkeit, sondern auch einen bitteren, dem Widersinn geschuldeten Humor. Kaurismäki spricht einfache Wahrheiten aus, indem er ihren humanen Kern offen und unverstellt, bewusst naiv und direkt freilegt.

Der finnische Melancholiker, der seine stoischen Helden in stets „altmodischen“, in einem speziellen Sinne „zeitlosen“ Interieurs inszeniert, erzählt insofern immer auch moderne Märchen. In entsprechend stilisierten Bildern und mit bewährt lakonischem Erzählduktus beschwört er eine anachronistische, gewissermaßen rückwärtsgewandte Gegenwelt, in der die Solidarität und Verbundenheit der nicht nur sozial Benachteiligten einen vornehmen Platz einnimmt. Die parallel erzählte Geschichte des Handelsvertreters Waldemar Wikström (Sakani Kuosmanen), der wortlos seine Frau verlässt beziehungsweise seiner Ehe entflieht und sein Hemdenlager gegen ein heruntergewirtschaftetes Lokal mit Namen „Zum goldenen Krug“ tauscht, fungiert dabei zum einen als Spiegelgeschichte unter veränderten Vorzeichen; zum anderen finden die nach biographischen Brüchen obdach- und heimatlos gewordenen Helden im „Goldenen Krug“ einen geschützten Hort der Gemeinschaft und der gegenseitigen Unterstützung. Doch trotz aller Hoffnung und utopischer Sehnsucht wird daraus kein Paradies. Dafür sind die Feinde der Menschlichkeit zu real und hässlich.

Die versunkene Stadt Z

(US 2016, Regie: James Gray)

Obsessive Suche nach dem Unbekannten
von Wolfgang Nierlin

Major Percy Fawcett (Charlie Hunnam) ist ein Mann ohne Orden. Im Jahre 1905 dient der weitgereiste Unteroffizier in einer britischen Kaserne im irischen Cork und leidet insgeheim unter seinen mangelnden …

Major Percy Fawcett (Charlie Hunnam) ist ein Mann ohne Orden. Im Jahre 1905 dient der weitgereiste Unteroffizier in einer britischen Kaserne im irischen Cork und leidet insgeheim unter seinen mangelnden Aufstiegschancen, die ihm durch den schlechten Ruf seines trunksüchtigen Vaters verbaut sind. Zu Beginn von James Grays epischem Abenteuerfilm „Die versunkene Stadt Z“ sieht man Fawcett als unerschrockenen Teilnehmer einer gefährlichen Hirschjagd, wie er das flüchtende Tier in einem mutigen Ritt verfolgt, um es schließlich mit einem gezielten Schuss zu erlegen. Der Tod sei die beste Liebe des Lebens, sagt der stolze Schütze, während er das getötete Wild streichelt und die Bewunderung seiner Kameraden entgegennimmt.

Damit ist bereits ein zentrales Motiv des späteren Forschungsreisenden und Entdeckers gesetzt, der das Abenteuer und die Gefahr förmlich sucht, um seine obsessive Suche nach dem Unbekannten voranzutreiben und in der Konfrontation mit dem Tod das Leben intensiver wahrzunehmen. Das Licht des Feuers, das die Dunkelheit erhellt, fungiert dafür als Metapher und rahmt den Film. James Gray nimmt sich aber auch Zeit, um seinen ebenso nachdenklichen wie virilen Helden in seinen sozialen Bezügen zu charakterisieren. Neben seinen Aufstiegswünschen innerhalb einer rigiden Gesellschaftshierarchie gehört dazu vor allem sein von inniger Liebe und einem großen Vertrauen geprägte Verhältnis zu seiner Ehefrau Nina (Sienna Miller). Die Mutter eines kleinen Jungen namens Jack, der im weiteren Verlauf der einen Zeitraum von zwanzig Jahren umspannenden Geschichte noch eine wichtige Rolle spielen wird, ist nämlich nicht nur schön und unabhängig, sondern auch feinsinnig und loyal.

Das ist auch nötig angesichts der Anfeindungen, denen ihr Mann in den folgenden Jahren immer wieder ausgesetzt ist. Im Frühjahr 1906 ist Fawcett nämlich im Auftrag der Royal Geographical Society im bolivianischen Urwald unterwegs, um den unklaren Grenzverlauf zum Nachbarland Bolivien zu kartographieren. Zusammen mit seinem Adjutanten Henry Costin (Robert Pattinson) soll seine Mission aufkeimende Konflikte um das „schwarze Gold“ des Kautschuks befrieden. Doch je tiefer er mit seinen Gefährten in das Dickicht der „grünen Wüste“ des Urwalds vordringt, desto gefährlicher und geheimnisvoller wird der strapaziöse Weg. Bald zehren Hunger und Krankheit an den Kräften der Männer, die, von Indios, Piranhas und Wahnsinn bedroht, auf dem Rio Verde wie auf einem ewigen Strom der Zeitlosigkeit treiben. Als sie schließlich dessen Quelle erreichen, findet die Expedition nicht nur ein glückliches Ende, sondern auch Nahrung für einen Neuanfang. Denn der ehrgeizige Fawcett entdeckt Tonscherben und vermutet in ihnen Reste einer alten, untergegangenen Zivilisation.

„Du entkommst dem Dschungel nicht“, sagt einmal ein indigener Scout zu dem besessenen Entdecker, für den das Suchen immer mehr zum eigentlichen Ziel und damit zu einer spirituellen Daseinsform wird. Denn Percy Fawcett, der nach seiner Rückkehr zunächst als Held gefeiert wird, bricht 1912 und 1925 erneut nach Amazonien auf, um nach der sagenumwobenen Stadt „Z“ zu suchen und um in der gefahrvollen, geradezu existentiellen Erforschung des Unbekannten das Geheimnis und die Schönheit des Lebens zu entdecken. Dazwischen liegen die Schrecken des 1. Weltkrieges, wo Fawcett in der berüchtigten Schlacht an der Somme von Chlorgas schwer verletzt wird sowie ein Vaterglück, das den Abenteurer immer nur in der Ferne erreicht. Diese Abwesenheit inszeniert James Gray in kurzen, assoziativen Flashbacks, in denen die Zeit zur Erinnerung gerinnt. Vom renommierten Bildgestalter Darius Khondji unter erschwerten Bedingungen auf 35mm aufgenommen, akzentuiert Gray in seinem nach wahren Begebenheiten und dem Buch von David Grann entstandenen Film das stoffliche Fließen zwischen den Zeiten und Welten. Schließlich, so bemerkt einmal Fawcett, seien alle Menschen aus dem gleichen Stoff gemacht.

Halloween 3 – Season of the Witch

(USA 1982, Regie: Tommy Lee Wallace)

Welcome to Dystopia!
von Nicolai Bühnemann

Dass ich diesen Film – von Genre-Geeks und Slasher-Nerds leidenschaftlich gehasst, von der Kritik überwiegend gescholten und dem Publikum größtenteils ignoriert – mögen würde, wusste ich bereits bei einer Szene …

Dass ich diesen Film – von Genre-Geeks und Slasher-Nerds leidenschaftlich gehasst, von der Kritik überwiegend gescholten und dem Publikum größtenteils ignoriert – mögen würde, wusste ich bereits bei einer Szene im Krankenhaus nach etwa zehn Minuten. Großartig, wie die Kamera von Dean Cundey, der später unter anderem die „Back to the Future“-Filme und „Jurassic Park“ fotografieren sollte, die sterile Leere des Schauplatzes einfängt. Bei dem Mord, der hier geschieht, erinnert nicht nur die Tatsache, dass der Killer schwarze Handschuhe trägt, an einen Giallo. Ein Bezug, mit dem der Film über den Kontext seines Subgenres, des Slasherfilms hinausgeht (auch wenn „Haloween III“ für solche festen Zuschreibungen viel zu eigensinnig ist, doch dazu später mehr) und auf dessen italienische Vorgänger verweist, so wie er seine Hauptfigur an einer Stelle auf das irisch-keltische Fest Samhain verweisen lässt, dessen Bräuche die US-amerikanische Halloween-Kultur entschieden prägten. Die (Pop-)Kultur in einem Einwanderungsland wie den USA ist nie eine ausschließlich „amerikanische“ Angelegenheit, hat ihre Wurzeln immer schon überall auf der Welt, auf anderen Kontinenten, in anderen Zeiten und anderen (Pop-)Kulturen, was, nebenbei bemerkt, sicher nicht das einzige ist, was einen Slogan wie „America first!“ als vollkommen schwachsinnig erscheinen lässt. Nach dem Mord nimmt die Kamera Fahrt auf, rast durch die von schummrigem Neonlicht erleuchteten Gänge.

Dass ich diesen Film lieben würde, wusste ich spätestens bei einer Szene in einer Bar, in der sich die männliche und die weibliche Hauptfigur kennenlernen, die wenig überraschend bald ein Paar sein werden. Beide sind sie im Leben gestrandet, auf einem Plateau angekommen: Er lebt frisch in Scheidung von seiner Frau, mit der er zwei Kinder hat, ihr geliebter Vater ist gerade ermordet worden. Die Atmosphäre in dieser Bar, in der ein Fernseher flimmert, der den im Film allgegenwärtigen Halloween-Tage-Count Down zur Melodie von „London Bridge“ spielt, in dem eine Programmankündigung für John Carpenters „Halloween“ zu sehen ist. Das Licht und die Atmosphäre in dieser Bar sind so unverwechselbar, dass man sich keinen schöneren Ort für ein Filmpaar in spe vorstellen könnte, um einander zum ersten Mal zu treffen.

Der Vorgänger ging ganz auf Nummer Sicher, indem er in jeder Hinsicht an Carpenters Meisterwerk von 1978 anknüpfte, dessen DarstellerInnen-Duo Jamie Lee Curtis und Donald Pleasence übernahm, den Villain Michael Myers, die Titelmelodie von Carpenter (in der bei ihm das Geschnatter der High School Girls unterging und durch die die Suburbia-Schauplätze bereits am Tag, auf den eine mörderische Nacht folgen sollte, unheimlich aufgeladen wurden) und dessen Geschehen zu allem Überfluss nicht in der Gegenwart des Jahres 1981 spielte, sondern in der Halloween-Nacht des Jahres 1978, also unmittelbar an die Ereignisse des Erstlings anschloss. Der Body-Count des in dieser Hinsicht eher zurückhaltenden Carpenter-Films wurde drastisch nach oben korrigiert, der Schauplatz Krankenhaus recht geschickt ausgenutzt, wobei unter anderem Spritzen und Whirlpools zu Mordwaffen umfunktioniert wurden. Alles in allem kein schlechter, aber auch kein sonderlich bemerkenswerter Genrebeitrag.

Was für ein anderes Kaliber Film ist dagegen „Halloween III“! Was für ein sperriger und, das wiederhole ich an dieser Stelle gerne, eigensinniger Film, der der Überbietungslogik eines Sequels nicht nur darin gerecht wird, dass die Menge an Splatter- und anderen Spezialeffekten – allerdings, das sei der Fairness halber dazu gesagt, waren diese schon 1982 kaum auf der Höhe der Zeit, haben dafür einen ganz eigenen naiven Fünfziger Jahre-Charme – im Vergleich zu den beiden Vorgängern hoch gesetzt wurde. Auch der Body-Count beläuft sich laut einer OFDb-Review auf nicht von mir geprüften 23 Toten, was mehr wären als in den beiden Vorgängern zusammen.

Regie-Debütant Tommy Lee Wallace konnte mit dem finanziellen Desaster, das dieser Film an der Kinokasse war, natürlich nicht in eine große Karriere starten, arbeitete später hauptsächlich fürs Fernsehen, wo er immerhin unter anderem bei dem Zweiteiler „It“ nach dem Roman von Stephen King Regie führte, den ich unbedingt nachholen möchte. Natürlich kann man sich für Fans der Reihe keinen größeren Affront vorstellen als seinen „Halloween“-Beitrag. Ein Slasher-Sequel, das nicht nur auf den vier Jahre nach seinem ersten Auftritt bereits ikonographischen Michael Myers verzichtet und auf seine guten Gegenspieler sowieso, sondern, auch, und das noch bei der weitesten Dehnung des Begriffes, vieles ist, aber eines nicht: ein Slasher.

Vielmehr wird die factory town Santa Mira, Sitz des gigantischen Halloweenmaskenherstellers Silver Shamrock, in die es das Protagonistenpaar Dr. Daniel Challis (Tom Atkins) und Ellie Grimbridge (Stacey Nelkin) auf der Suche nach dem Mörder ihres Vaters, der sein Patient war, verschlägt, zu einer beeindruckenden Dystopie. Der Ort bildet als Mikrokosmos einen absolut entfesselten Monopolkapitalismus ab, in dem nur eine einzige Firma das Sagen hat, nicht nur alleiniger Arbeitgeber ist, sondern auch alles überwacht, jede/n ausschaltet, der oder die ihr nicht in den Kram passt. „I feel like a gold fish“, sagt Ellie angesichts der vielen starrenden Augen bei der Fahrt durch den Ort und Challis stellt etwas später fest: „This place is a zoo.“ Geleitet wird Silver Shamrock von dem heimlich fiesesten, weil menschlichsten Villan der “Halloween“-Reihe Conal Cochran (Dan O’Herlihy, der auch fünf Jahre später in „Robocop“ einen fiesen Firmenleiter spielen sollte, der mit dem organisierten Verbrechen paktiert), der in seinem Reich nicht nur alleiniger Souverän ist, sondern, indem er künstliches Leben erschafft, sich quasi zum Gott erhebt. In diesem an eine faschistische Diktatur gemahnenden Mikrokosmos floriert die von altem irischem Kapital (denn nicht mal das ist hier US-amerikanisch) beheizte Wirtschaft, was jedoch nicht allen ihren BewohnerInnen zum Vorteil gereicht, wie Challis gleich nach seiner Ankunft feststellt, als ihn ein Obdachloser auf der Straße anspricht und um einen Schluck aus der soeben erworbenen Schnapsflasche bittet, den er ihm, in dem er einen willkommenen Verbündeten und Informanten sieht, natürlich sofort gewährt.

Santa Mira ist zugleich ein Ort, an dem verschiedenste Traditionslinien des Genrekinos zusammenlaufen. Da ist zunächst neben dem Giallo sicherlich der Paranoiathriller der Siebziger, wobei die wichtigste Referenz vielleicht Philip Kaufmans „Invasion of the Body Snatchers“, der bereits 1978, also im selben Jahr wie der erste „Halloween“, Elemente von Science Fiction, Horror und (Paranoia-)Thriller meisterlich kombinierte. Es ist keineswegs zufällig, dass es sich hierbei um ein Remake des gleichnamigen Don Siegel-Films von 1956 handelt, denn auch die Fünfziger spuken durch das 1982 in Santa Mira. Sie finden sich etwa in den Spezialeffekten von Gesichter verbrennenden Laserstrahlen, aber auch in der absolut gruseligen Vorzeigefamilie eines Angestellten der Fabrik, die ein ziemlich blutiges Ende findet. Santa Mira ist ein dialektisches Wunderwerk, ein Ort, der ganz und gar zeitlos ist, nur im Kino existieren kann, aber dabei doch den Zeitgeist der frühen Achtziger mitten ins Herz trifft. Und die zerrüttete Familiengeschichte des Protagonisten sowie die Liebe des Films für krisengeschüttelte gesellschaftliche Außenseiter, die hier auch ruhig mal Arzt sein können, ohne ihren Platz in der Welt so recht zu finden, lässt ihn eh als Spätausläufer des New Hollywood erscheinen.

So ist Challis einfach kein family man wie Michael Myers – schon eher ein dirty old man in der Art von Charles Bukowskis Alter Ego Henry Chinaski. Die Monogamie ist seine Sache nicht, der sich vor den Aufwartungen hübscher Frauen nicht retten kann, einer befreundeten Krankenschwester auch mal selbst seine Aufwartungen macht – mit einem Klaps auf den Hintern. Im Umgang mit seinen Kindern gibt er sich gleich zu Beginn denkbar unbeholfen. Die Halloweenmasken, die er ihnen mitbringt, können gegen die ständig im Fernsehen beworbenen aus dem Haus Silver Shamrock, die ihnen ihre Mutter geschenkt hat, nicht anstinken. Damit ist die family time gleich zu Beginn auch schon wieder beendet, die Exfrau, die ihm bei dieser Gelegenheit Vorhaltungen über „drinking and doctoring“ macht, eine Anspielung auf sein wohl ziemlich ausgewachsenes Alkoholproblem, kommt im folgenden Film nur noch als wutentbrannte Stimme aus dem Hörer eines öffentlichen Telefons vor. Als die viel jüngere Ellie und er in Santa Mira ankommen haben sie erst einmal so leidenschaftlichen Sex, wie ihn nur frisch Verliebte haben können, der leider viel zu schnell ausgeblendet wird mit einem Schnitt zu einem establishing shot auf die ausgestorbene nächtliche Straße des Ortes, in dem Moment, als er sich mit dem Mund über ihren Nippel hermacht. Dafür gibt es eine Einstellung später den schönsten postkoitalen Dialog in einem Film ever: Als sie sich gleich wieder über ihn hermachen will, beginnt ihn zärtlich zu küssen, antwortet er mit der Frage: „Aren’t you just the least bit tired?“ „No.“ „Wait a minute, how old are you?“ „Relax! I’m older than I look.“

Aber „Halloween III“ hat nicht nur Vorbilder, sondern er kann auch selbst als ungewürdigter Begründer einer Traditionslinie des amerikanischen Genrekinos gesehen werden, als Vorreiter von Filmen wie „They Live“, einem späteren, endlos deliranten und düster dystopischen Meisterwerk John Carpenters, in dem das Böse ebenfalls unter anderem aus dem Fernseher kommt, oder durch die metafiktionalen Spielereien mit dem ersten „Halloween“, der hier gleich mehrmals über Fernsehbildschirme flimmert, die, freilich etwas weiter ausgearbeitet, in einer anderen Slasher-Reihe, zwölf Jahre später, endgültig zum Tragen kamen, nämlich in „Wes Craven’s New Nightmare“, dem siebten Teil der „Nightmare on Elm Street“-Reihe. Oder auch, wesentlich weniger ambitioniert, in „Seed of Chucky“, dem fünften Teil der Serie um die Mörderpuppe, dem Regie-Debüt von deren Erfinder Don Mancici. Ja, der Film war von Produzent Carpenter sogar als Beginn einer neuen Reihe geplant, in der nach dem Tod Myers am Ende von „Halloween II“ jedes Jahr ein neuer Film mit einem anderen Halloween-Bezug in die Kinos kommen sollte, was aber nach dem kommerziellen Misserfolg von „Halloween III“ komplett im Sande verlief. Übrigens startete der Film nur wenige Monate nach „Blade Runner“, mit dem ihn auch das Thema künstliche (Killer-)Menschen verbindet. Dass sich um Scotts Film ein regelrechter Kult gebildet hat, während Wallaces Film, der sich so nonchalant und mutig zwischen alle Stühle setzte, nicht mal unter Genre-Aficionados wirklich als Geheimtipp gehandelt wird, ist eine der großen Ungerechtigkeiten der Filmgeschichte.

Selbst das Franchise um Michael Myers kam durch „Halloween III“ ins Stocken. Erst sechs Jahre später konnte mit „Halloween 4: The Return of Michael Myers“ verkündet werden. Dabei wurde aus Budget-Gründen zum ersten Mal nicht in Cinemascope gedreht, was auch in den folgenden drei Filmen beibehalten wurde. Es scheint, dass sich mit diesem Film die Serie auch ein Stück weit vom Kino verabschiedet hat, um erst mal den boomenden DTV-Markt zu bedienen. Der folgende „Halloween 5“ wurde nur noch in fünf Ländern ins Kino gebracht und ist im Rest der Welt (darunter auch in den USA) auf Video veröffentlicht worden. Erst „Halloween H20: 20 Years Later“, 1998, also 20 Jahre nach Teil 1, drei Jahre nach dem unmittelbaren Vorgänger, „Halloween: The Curse of Michael Myers“, bot wieder das breitere Bildformat, da mit der inzwischen zum Star gewordenen Jamie Lee Curtis, die einst mit „Halloween“ ihr Kinodebüt vorgelegt hatte, auch das Geld ins Franchise zurückkehrte, leider in einem Film, an dem der sperrige Titel noch das Interessanteste ist.

Richtig Fahrt aufnehmen sollte das Franchise erst wieder durch das Reboot des Musikers/Filmemachers Rob Zombie 2007. Es ist kein Zufall, dass die Vorgeschichte Michael Myers, bevor er aus der Klinik ausbricht, die bei Carpenter nur eine lange Einstellung dauerte, hier die komplette erste Filmhälfte einnimmt, geht es Zombie doch darum, seine Hauptfigur zunächst nach allen Regeln der Kunst psychologisch zu fundieren mit Strippermama, Alkipapa und sehr „fuck“-lastigen Zombie-Trademark-Dialogen. Wer das, wie ich, nur bedingt für eine gute Idee hält, der wird im Sequel von 2009 über Gebühr entschädigt, mit dem vielleicht originärsten Film der Reihe, der die psychologischen Implikationen des Vorgängers in schier unfassbaren Wahnsinn überführt. Laurie (Scout Taylor-Compton) wird zur Psychiaterin geschickt, Dr. Loomis (Malcolm McDowell), der sich mit seinem Buch über Myers und seine Morde eine goldene Nase verdient hat, und dabei, wie viele Erfolgsmenschen ein ziemliches Arschloch geworden ist, darf Freud vulgarisieren, und der große Michael hat Visionen von dem kleinen Michael mit seiner Mutter, die sich im ersten Teil suizidiert hatte, und nun im weißen Kleid ein weißes Pferd führen und dabei so bezaubernd aussehen darf wie nur Robs Frau Sheri Moon Zombie bezaubernd aussehen kann.

Dieses Sommergefühl

(FR, DE 2016, Regie: Mikhaël Hers)

Die Leere nach dem Tod
von Wolfgang Nierlin

Es ist ein Tag wie jeder andere, als die 30-jährige Französin Sasha (Stéphanie Déhel) ihren Freund Lawrence und die gemeinsame Berliner Wohnung verlässt, um zu ihrer Arbeit ins Kunstquartier Bethanien …

Es ist ein Tag wie jeder andere, als die 30-jährige Französin Sasha (Stéphanie Déhel) ihren Freund Lawrence und die gemeinsame Berliner Wohnung verlässt, um zu ihrer Arbeit ins Kunstquartier Bethanien zu gehen. Die sommerliche Stadt zeigt sich hell und grün und freundlich, die Morgenluft ist frisch und unverbraucht, ein leichter Wind bewegt die Welt. Noch ist der Alltag unbeschwert und unschuldig, der Blick frei und offen. Umso beunruhigender wirkt der Kontrast, wenn Sasha, die tagsüber mit einer gewissen Routine an einem Siebdruck gearbeitet hat, auf ihrem Heimweg durch einen öffentlichen Park plötzlich zusammenbricht und kurz darauf stirbt. Dieser Schicksalsschlag grundiert als Schock über einen abrupten Verlust in sanften Schüben und Wellen einer permanenten Trauer Mikhaël Hers‘ Film „Dieses Sommergefühl“. Doch nicht die vielleicht sinnlose Willkür des Lebens ist sein Thema, sondern das sich fortsetzende Gefühl der Leere, das diesen schrecklichen Verlust begleitet.

Der ungewöhnliche Zusammenklang des Schweren mit dem Leichten hält Mikhaël Hers mit seinem sehr feinfühligen Film in einer schwebenden Balance. Seine episodische, nahezu undramatische Struktur, die über einen Zeitraum von zwei Jahren Figuren und Städte verbindet, ordnet die Handlung nicht unter einen zentralen Blick, sondern eher unter ein abwesendes Zentrum. Das erzeugt Fliehkräfte und Flächigkeit, macht Details und Nuancen bedeutsam, vor allem aber gewinnt das Unbestimmte und Unscharfe einen Raum. Dieser ist erfüllt von Atmosphäre und Stimmungen, von Melancholie und Zärtlichkeit. „Dieses Sommergefühl“ ist ein Film, in dem man sich wohlfühlt, weil sein freier Blick und seine offene Dramaturgie eine gespannte Neugier erzeugen. Der Naturalismus der Bilder und die Natürlichkeit der Darstellung fügen sich in dieses Konzept kongenial ein.

„Ich wollte der Zeit bei der Arbeit zuschauen“, sagt Mikhaël Hers über seinen elliptisch gebauten Film, der sich der Flüchtigkeit entgegenstellt, indem er die konkrete Realität durch ihre sinnliche Präsenz intensiviert. Um von ungreifbaren Gefühlen, einem langen Schmerz und dem Trost der Zeit zu erzählen, verteilt er seine dezentrale Strategie auf zwei Figuren und Perspektiven sowie auf die wechselnden Schauplätze Berlin, Paris, New York und den See von Annecy, wo die Eltern der Verstorbenen leben. Verbunden durch die jeweilige Jahreszeit des Sommers, beobachten und begleiten wir zum einen Sashas amerikanischen Freund Lawrence (Andersen Danielsen Lie), einen sensiblen, nachdenklichen jungen Mann, der als mäßig erfolgreicher Schriftsteller und Übersetzer arbeitet und dessen schmerzliche Einsamkeit zudem von seiner Familiengeschichte genährt wird. Zum anderen lernen wir Sashas Schwester Zoé (Judith Chemla) kennen, die einen kleinen Sohn hat und gerade dabei ist, sich von ihrem Mann zu trennen.

Gleich in mehrfacher Hinsicht sind diese Figuren unterwegs in einem (noch) instabilen Leben unter prekären Verhältnissen. Allein in ihrer Trauer, sind sie trotzdem durch ihren Schmerz vereint. Die räumlichen Distanzen legen sich dabei wie ein unsichtbares Band um den gemeinsamen Verlust, der in Hers‘ Film weniger durch Worte bearbeitet wird. Vielmehr scheint das Unausgesprochene der geteilten Trauer in den unmerklichen Verschiebungen der vergehenden Zeit wirksam. Diese heilt Wunden, ohne darüber Auskunft zu geben. Ihr gleichmäßiges Fließen legt sich auf die Orte und Dinge, sie durchdringt die Szenerien, denen die Suche nach Schutz und Anteilnahme eher implizit ist. Im öffentlichen Raum zwischen Hier und Dort, auf Partys zwischen Ich und (potentiell entgrenzendem) Du oder auch auf Dachterrassen an der Grenz zur Dämmerung weitet sich der Blick und ermöglicht der Morgen ein Weitergehen.

Hier und hier finden sich weitere Kritiken zu ‚Dieses Sommergefühl‘.

The Bye Bye Man

(USA 2016, Regie: Stacy Title)

Tabunamensspuk und weißer Wahn in weitem Raum
von Drehli Robnik

Don´t say it! Don´t think it! Sprich den Namen nicht aus! Die Warnung ergeht auch an Faye Dunaway, eine Überlebende aus den Sixties. Zu spät: Der Mann an ihrer Seite …

Don´t say it! Don´t think it! Sprich den Namen nicht aus! Die Warnung ergeht auch an Faye Dunaway, eine Überlebende aus den Sixties. Zu spät: Der Mann an ihrer Seite gab das Verhängnis an sie weiter, es nimmt seinen Lauf, der Name will heraus, nämlich – ‚La La Land‘? Nein, ‚Bye Bye Man‘, und der Film dieses Titels ist zeitgleich zur Academy Awards-Titelpanne der Altspatzen Dunaway und Warren Beatty nicht ganz auf Oscarniveau im Kino unterwegs. In dem Spukfilm von Stacy Title (die Regisseurin heißt echt so!) geht es darum, dass ein seit dem Amoklauf eines braven Familienvaters anno 1969 rumgeisternder Kapuzendämon nicht beim Namen genannt werden darf. Ergo wird ‚Don´t say it‘ recht oft gesagt oder im Kreis auf Wände und Zettel geschrieben. Niemand sagt ‚Beetlejuice!‘, ich auch nicht. Ein weiteres ominöses Motiv des mit Mühe stringenten Films ist das Klimpern von zwei Münzen – was immer wir daraus ableiten wollen.

In fein gemachter Optik, zumal unheimlich geweiteten Zimmern mit darin hängenden Jacken (Don´t think it!), bietet ‚Bye Bye Man‘ besagte (und betagte) Faye Dunaway und Carrie-Anne Moss in vielsagenden Kurzauftritten, sowie allerlei konventionelle Jump Scares und mitunter schön pervers gedoppelte Paranoiavisionen – kurioserweise rund um ein Eifersuchtsleitmotiv, auf das die Sache mit der selbstverräterisch missgönnten Preisauszeichnung dann doch passt wie ein Titel zur Title: Weißer Collegeboy glaubt, sein schwarzer Buddy raube ihm seine weiße Freundin und sein Glück. Also macht er einen auf ‚Stand Your Ground‘ und zieht ihm eins mit dem Baseballschläger über. Na, voll verständlich, ganz normale Figurenmotivation, wie in der Drehbuchschule gelernt. Irgendwann überfährt er mit dem Auto eine African American Bibliothekarin, weil er glaubt, es gibt sie gar nicht. Merke: Nicht alles, was als dubios wahrgenommen wird, ist gleich ein immaterielles Gespenst, oder: Some lives are material, and some are black and immaterial – they don´t seem to matter. And it all happens in the moonlight.

Hitlers Hollywood

(DE 2016, Regie: Rüdiger Suchsland)

Ästhetik der Verführung
von Wolfgang Nierlin

„Was weiß das Kino, was wir nicht wissen?“, fragt der Filmkritiker und Filmemacher Rüdiger Suchsland in seinem neuen Film „Hitlers Hollywood“. Mit dem Filmsoziologen und Ideologiekritiker Siegfried Kracauer als Gewährsmann …

„Was weiß das Kino, was wir nicht wissen?“, fragt der Filmkritiker und Filmemacher Rüdiger Suchsland in seinem neuen Film „Hitlers Hollywood“. Mit dem Filmsoziologen und Ideologiekritiker Siegfried Kracauer als Gewährsmann ist er sich darin einig, dass Filme als Seismographen ihrer Entstehungszeit fungieren und mithin mehr zeigen als sie zu zeigen vorgeben. In diesem Sinn sind sie Indikatoren für das kulturell Unterbewusste einer Epoche und Transportmittel für gesellschaftliche und politische Ideologien. Und das umso mehr, so Suchslands zentrale These, als sich das „Dritte Reich“ „als einziger großer Film“ des kollektiven Unbewussten verstehen lässt, dessen Träume auch heute noch lebendig sind. Tatsächlich produzierte die Traumfabrik des NS-Kinos zwischen 1933 und 1945 über tausend Spielfilme. „Es wollte um jeden Preis groß sein“, sagt Rüdiger Suchsland in seinem inspirierenden Essayfilm über dieses „zweite Hollywood“, das „theatralisch, illusionistisch und monumental“ war und sich zwischen Weltflucht und Indoktrination bewegte.

Im „Gesamtkunstwerk des ‚Dritten Reiches‘“ kam dem Film als Propaganda und als Kommunikationsmittel zur Eroberung der Massen insofern eine entscheidende Bedeutung zu. Dass die Propaganda selbst Kunst war und die Filme aus dieser Zeit „besser sind als ihr Ruf“, zeigt Suchsland anhand vieler Filmausschnitte und ihrer jeweiligen Analyse. Chronologisch und im permanenten Austausch mit den geschichtlichen Zeitläuften, auf die das Unterbewusste des Kinos mit seiner Ambivalenz zwischen Zeigen und Verbergen reagiert, lässt Suchsland das filmische Material sprechen, ohne die einzelnen Dokumente in der Montage scharf voneinander abzugrenzen. Sein Film ist damit selbst eine Inszenierung, die weniger auf die Durchdringung des Einzelnen als Teil des Ganzen zielt, sondern allgemeine Begriffe in den Blick nimmt. Mit Hannah Arendt folgt „Hitlers Hollywood“ der „Konsistenz der Illusion“ und mit Susan Sontag der „Geschichte als Theater“.

Wie die Politik ästhetisiert wird, sich das Individuelle in der ornamentalen Choreographie der Masse auflöst und die Rituale von Aufmärschen als Ersatz-Gottesdienste fungieren, vermitteln diverse Szenen aus Leni Riefenstahls berühmt-berüchtigtem Film „Triumph des Willens“ (1934). Doch die „Ästhetik der Verführung“ und die „Gleichschaltung durch Verzauberung“ sind – gewissermaßen subkutan – vor allem im populären Mainstreamkino der Zeit wirksam. Rüdiger Suchsland untersucht die „totalitäre Propaganda“ (Kracauer) von der Mobilmachung in Hans Steinhoffs Film „Hitlerjunge Quex“ (1933) bis zur mythischen Todessehnsucht und dem heroischen Opferkult in Filmen des „Auteurs und Nationalsozialisten“ Veit Harlan. Dazwischen findet er sogenannte „Legitimationsfilme“, die das Kriegsgeschehen begleiten und rechtfertigen, antisemitische Hetzfilme (wie „Der ewige Jude“ von Fritz Hippler), die sich als „filmischer Mordaufruf“ und als propagandistische Vorbereitung des Holocaust verstehen lassen, sowie „Durchhalteschmonzetten“ und „Urlaubsfilme“.

Im Zentrum von „Hitlers Hollywood“ steht insofern vor allem der Illusionismus der nationalsozialistischen Traumfabrik. Getragen von zahlreichen Stars (zu denen u. a. Hans Albers, Brigitte Helm, Heinrich George, Zarah Leander und Ilse Werner gehören), beschwört dieser Naturidyllen und eine heile Welt, sucht Ablenkung in Abenteuern an exotischen Schauplätzen, huldigt dem Vergessen durch einen forcierten Eskapismus sowie durch irreale Gegenwelten und zelebriert schließlich die Lust am Untergang. Dass es jenseits dieser offensichtlichen oder versteckten Propaganda auch Filme gab, die den Zuschauer nicht sedieren wollten, sondern etwas von jener Wirklichkeit und Intimität zeigten, die bald darauf verloren waren, thematisiert Rüdiger Suchsland anhand einiger Filme von Helmut Käutner. Die schillernde Arbeit des charismatischen Schauspielers Gustav Gründgens steht schließlich exemplarisch für die schwierige Gratwanderung zwischen Kollaboration und Widerstand. In den Nischen der Macht, so könnte man sagen, findet die Wahrheit der Kunst doch noch zu ihrem zwar verleugneten, aber beständigen Recht.

Elle

(FR, D, BE 2016, Regie: Paul Verhoeven)

Katzen, Menschen, Vergewaltigungen
von Nicolai Bühnemann

Nur die Katze war Zeuge. Exponiert in der ersten Einstellung nimmt sie die Perspektive der Zuschauenden ein. Und wie sie wissen auch wir zunächst nicht, wovon genau wir da Zeugen …

Nur die Katze war Zeuge. Exponiert in der ersten Einstellung nimmt sie die Perspektive der Zuschauenden ein. Und wie sie wissen auch wir zunächst nicht, wovon genau wir da Zeugen werden. Das Stöhnen, das schon vor dem ersten Bild zu hören ist, könnte auf sexuelle Ekstase, aber auch auf eine Vergewaltigung hindeuten. Somit geht es in „Elle“ von Anfang an um die Vermengung von Bereichen, die die meisten Menschen klar und sicher voneinander getrennt wissen wollen: einvernehmlicher Sex auf der einen, sexuelle Gewalt auf der anderen Seite. Das ist eine große Provokation und der Regisseur des Films, Paul Verhoeven, ist einer der begnadetsten Provokateure der Filmgeschichte, für den seit Anfang der Siebziger die Regeln dessen, was auf der Leinwand gezeigt und erzählt werden darf, vor allem da sind, um gebrochen zu werden, der immer noch einen entscheidenden Schritt weitergeht und mit der konsequenten Zuspitzung seiner Szenarien ins Obszöne der Obszönität der Realität ein ums andere mal näher kommt, als es Tausend „regeltreue“ (Arthaus-)Filmemacher könnten.

So ist denn auch das Gediegene an „Elle“ – die Art etwa, wie der Film die Vergewaltigung (denn um eine solche handelt es sich) zu Beginn ausblendet, sie zunächst nur durch Blut im anschließenden Schaumbad erahnen lässt, aber auch die in geschmackvollen Cinemascope-Einstellungen eingefangenen stilbewussten Interieurs – eine riesengroße Falle. Das beinahe Geleckte der Oberflächen kann immer weniger verbergen, wie sehr es darunter brodelt, sich immer größere menschliche Abgründe auftun. Michèle Leblanc (Isabelle Huppert), die aus allzu nachvollziehbaren Gründen nach ihrem Erlebnis nicht zur Polizei geht, macht sich nun selbst daran ihren maskierten Peiniger zu suchen, der sie weiterhin beobachtet, ihr obszöne Kurznachrichten schickt, in einer Szene in ihre Wohnung eindringt und seinen Samen als Gruß auf ihrer Seidenbettwäsche hinterlässt. In seinem sadistischen Spiel nimmt sie unterdessen keine rein passive Rolle ein. Mehr und mehr trachtet auch sie danach, ihm wieder zu begegnen, ihr Trauma zu wiederholen, wobei eben die Grenze zwischen Lust und Gewalt immer durchlässiger, immer schwerer nachvollziehbar werden.

Mit „Elle“ legte Verhoeven letztes Jahr auf dem Filmfestival in Cannes seinen ersten Kinofilm nach genau zehn Jahren vor, in denen er nur als Regisseur des Fernsehprojekts „Tricked“ (2012) aufgetreten war. Schon der Vorgänger „Black Book“ war durch eine Frau perspektiviert, die sich als Jüdin im von den Nazis besetzten Holland des ausgehenden Zweiten Weltkriegs versteckte und dabei in Kreise des Widerstands geriet. Schon in diesem mutigen Film verstand der Regisseur es, das Bedürfnis des Publikums nach einfachen Antworten und Schwarzweißmalerei ebenso zu unterminieren wie zumindest teilweise das nach Rache und Gerechtigkeit, indem er von Allianzen und Verrat über alle Grenzen nationaler oder ethnischer Zugehörigkeit oder politischer Ideologie hinweg erzählte. Statt darum, die Welt ordentlich in Täter und Opfer zu unterteilen, ging es, mit den denkwürdigen Worten Jacques Rivettes, um das „Überleben in einer Welt, die von Arschlöchern bevölkert ist.“

Letzteres trifft gewiss auch auf „Elle“ zu. Dabei sind die Nebenfiguren aber durchweg ziemlich ätzende Karikaturen, Arschlochkarikaturen. Michèles Mutter Irène (Judith Marge) hat ein geradezu grotesk mit Botox aufgespritztes Gesicht und ist bei ihrem ersten Besuch der Tochter mit einem Mann zusammen, der wohl nicht nur ihr Sohn, sondern gleich ihr Enkel sein könnte, und den sie später zu heiraten gedenkt. Sie versucht die Tochter dazu zu animieren, sich den Monstern ihrer Vergangenheit zu stellen und ihren Vater zu besuchen, der im Knast sitzt, weil er einst, da war Michèle noch ein Kind, der Familie zu trauriger Berühmtheit verhalf, indem er 27 Menschen ermordete (dass das Familiendrama derart ins Groteske, ja Absurde überspitzt wird, ist bezeichnend für diesen Film). Ihr Sohn Vincent (Jonas Bloquet) ist vielleicht die einzige einigermaßen sympathische Figur, nicht obwohl, sondern gerade weil er ein ziemlicher Loser ist, der unter der gnadenlosen Fuchtel seiner, wie Michèle gleich mehrmals betont, „komplett verrückten“ Freundin steht. Als diese später ein Kind bekommt, dessen dunkle Hautfarbe partout nicht zu der des Vaters passen will, wandelt Verhoeven gar auf den Spuren der Farrelly Brothers, in deren Meisterwerk „Me, Myself & Irene“ Jim Carrey einen Mann spielt, den seine Unfähigkeit, sich selbst zu behaupten schließlich bis in eine Persönlichkeitsspaltung treibt. Michèles Ex-Mann Richard (Charles Berling) ist ein Schriftsteller mit Geldsorgen und Writers Block, der gerne ein Videospiel entwerfen würde und mit einer seiner Schülerinnen ein Verhältnis anfängt (Michèles Kommentar dazu: „Frauen, die „Das andere Geschlecht“ gelesen haben, fressen dich auf und spucken dich wieder aus.“). Abgerundet wird das Figurenpersonal, das in seiner Diversität eint, dass man im wirklichen Leben mit keinem dieser Menschen gerne mal einen Kaffee trinken würde, durch Anna (Anne Consigny), mit der Michèle ihre Firma für Videospiele leitet und mit deren Mann sie eine Affäre hat. Und dann ist da natürlich noch der nette Nachbar Patrick (Laurent Lafitte), dem seine Frau offensichtlich nicht zu der sexuellen Befriedigung verhelfen kann, nach der er sich sehnt.

Mich „Elle“, deren Perspektive, darauf verweist schon der Titel, der Film schonungslos einnimmt, fügt sich als extrem unterkühlte Geschäftsfrau erst einmal ziemlich gut ins sinistre Gesamtbild. Ähnlich gefasst und gefühllos wie sie zu Beginn über ihre Vergewaltigung hinweg geht, nimmt sie später auch den zeitnahen Tod ihrer beiden Eltern in Kauf. Ganz zu Beginn sehen wir sie auf einem Meeting in ihrer Firma, bei dem sie von der Vorabversion eines Computerspiels feststellt, dass es nicht brutal genug sei. Wenn ein Monster in einem buchstäblichen Kopffick mit einer seiner Tentakeln in den Kopf seines weiblichen Opfers eindringt, will sie ihre „orgiastischen Zuckungen“ sehen, will das die Spielenden später das Gefühl haben, dass ihnen das Blut aus dem Control Pad durch die Finger rinnt.

Wie eigentlich alle Filme Verhoevens, aber vielleicht ganz besonders seine dystopischen Zukunftsvisionen „Robocop“, „Total Recall“ und „Starship Troopers“, spielt auch dieser Film in einer Welt, in der Gewalt allgegenwärtig ist, die gezeigte Gesellschaft geradezu von ihr zersetzt, aber dann auch irgendwie von ihr zusammengehalten wird. Sie findet sich im Boxkampf im Fernsehen. Im YouTube-Video von Menschen, die Insekten zertrampeln („crushing“ nennt sich dieses eigenwillige Hobby). In den Nachrichtensendungen, die die Verbrechen von Michèles Vater rekapitulieren und in der Schändung seines Grabs auf dem Friedhof, auf dem der Film mit einer beinahe versöhnlichen letzten Einstellung endet. Ganz besonders aber in der innerfamiliären Kommunikation. Die messerscharfen Dialoge des bislang überwiegend auf niedrig budgetierte Serienkillerfilme spezialisierten Drehbuchautors David Birke machen die Sprache zu einer bedingungslosen Waffe, jede Zwiesprache zu einem erbarmungslosen Gefecht.

Wenn die am Anfang noch dezent zurückgehaltenen Bilder der Vergewaltigung, dann immer wieder ziemlich unvermittelt in den Film einbrechen, in Flashbacks der Protagonistin, die das Geschehen an einer Stelle auch zu einer Rachefantasie ummünzen, die einfache Katharsis eines Rape and Revenge-Narrativs als Möglichkeit formulieren, die der Film dann aber doch nicht zulässt, erscheint die sexualisierte Gewalt nur als konsequente Zuspitzung der Gewalt, die eh schon überall ist, alles durchdringt, die Menschen von innen her auffrisst. In einer solchen Gesellschaft wird das Rape Game mit echtem Vergewaltiger, dem man in einer Szene anmerkt, dass er erst einen hoch kriegt, wenn sein Opfer sich erbittert wehrt, zu einer letzten Form Sexualität zu leben. „Elle“ ist das großartige Spätwerk eines großen Meisters des (exploitativen) Kinos. Vielleicht Verhoevens grimmigster Film. Und das will nun wirklich etwas heißen.

Dieser Text ist zuerst gekürzt erschienen auf: Perlentaucher.de

Hier findet sich eine weitere Kritik zu ‚Elle‘.

The Iron Ministry

(USA 2014, Regie: J.P. Sniadecki)

Lumière in China
von Ricardo Brunn

Die Geschichte des Kinos nahm ihren Anfang bekanntermaßen mit der Einfahrt eines Zuges in den kleinen Bahnhof der südfranzösischen Stadt La Ciotat. Seither sind Film und Eisenbahn eng miteinander verbunden. …

Die Geschichte des Kinos nahm ihren Anfang bekanntermaßen mit der Einfahrt eines Zuges in den kleinen Bahnhof der südfranzösischen Stadt La Ciotat. Seither sind Film und Eisenbahn eng miteinander verbunden. Man denke nur an „The great train robbery“ (USA 1902; R: Edwin S. Porter) und die Erfindung der Montage, an die waghalsigen Aufnahmen eines Dziga Vertov in „Der Mann mit der Kamera“ (D 1929) und die Lust an der Geschwindigkeit oder an das Westerngenre, an die großartige Eröffnungssequenz von „C’era una volta il West“ (IT, USA 1968; R: Sergio Leone) beispielsweise, die noch einmal ganz konkret mit dem cinematografischen Ursprungsmotiv des ankommenden Zuges spielt.

Eisenbahn und Film sind Traummaschinen und ihre Verbundenheit äußert sich zunächst einmal durch ein ähnliches Dispositiv. Der Zugreisende schaut durch den Rahmen des Fensters in eine in Bewegung versetzte Landschaft, beginnt nachzudenken und zu träumen und nimmt damit den Kinozuschauer vorweg. Von außen wiederum ähneln die vorüberziehenden Fensterreihen den Bildkadern eines Filmstreifens. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden Kino und Zug aber vor allem als Teil eines radikalen Erfahrungswandels zu Sinnbildern der Moderne und der Widerhall des knapp eine Minute dauernden „L’arrivee d’un train à la gare de la Ciotat“ (FRK 1896) der Gebrüder Lumière reicht bis in unsere Zeit. Aus der Tiefe des Bildes näherte sich damals die Eisenbahn in diagonaler Bewegung der Zuschauerin und begründete den Mythos der panikartigen Flucht des Publikums. Was als nie verifizierte Legende in die Filmgeschichte einging, kann in einem allgemeineren Sinne als Reaktion der Menschen auf die umfassenden ökonomischen, sozialen und kulturellen Umwälzungen durch den industriellen Fortschritt und die gleichzeitig entstehende visuelle Massenkultur begriffen werden. Zwar gestattete der rasante Fortschritt eine Erweiterung der Welterfahrungsmöglichkeiten. Doch in gleichem Maße, in dem die Welt näher an den Einzelnen heranrückte, Zwischenräume aufgehoben und die Wahrnehmung von Raum und Zeit vollkommen neu strukturiert wurden, wuchsen in zunehmendem Maße auch Verunsicherung und Desorientierung.

Etwas mehr als 100 Jahre nach „L’arrivee d’un train à la gare de la Ciotat“ greift J.P. Sniadecki in seinem Dokumentarfilm „The Iron Ministry“ das Bild der in die Zukunft rasenden Eisenbahn noch einmal auf. Über einen Zeitraum von drei Jahren (zwischen 2011 und 2013) hat er sich in unterschiedlichsten Zügen der China Railway Corporation durch das „Reich der Mitte“ bewegt. Mehr als 100.000 Kilometer hat er im noch immer wachsenden Streckennetz zurückgelegt und auf diese Weise eine Momentaufnahme der Entwicklung Chinas geschaffen.

Aus der Dunkelheit dringen zu Beginn Geräusche wie aus einem Stahlwerk zum Publikum. Im Faltenbalg zwischen zwei Waggons erwacht der Film schließlich und tastet sich von da an schlaftrunken durch unterschiedlichste Waggons. „The Iron Ministry“ ist ein somnambuler Film. Er verharrt im Limbo des Lebens, erfasst das Land außerhalb des Zuges nur schemenhaft, zerlegt es in experimentelle Bildfolgen, Lichtblitze und Farbflächen, zeigt unendliche Marslandschaften oder Wohnsilos, die sich im Smog der chinesischen Großstädte vor den neugierigen Blicken der Reisenden verstecken. Im Inneren entfalten sich indessen ganz andere eigenwillige Traumlandschaften, wenn ein Junge im überfüllten Abteil eventuell anwesende Terroristen darauf hinweist, dass nun die beste Gelegenheit sei, die Bombe zu zünden, oder wenn im Gang Schweinehälften wie in einer Schlachterei aufgehängt werden. Zentrales Motiv bilden die schlafenden Reisenden an Fenstern, auf Toiletten, an Türen gelehnt und über ihren Koffern hängend. Im Transit des Zuges schlummert das Versprechen anzukommen und ein anderes Leben führen zu können. Ein Versprechen, das heute in immer weitere Ferne rückt, je schneller man sich darauf zu bewegt, aber auch in China der Motor für gigantische Bewegungen ist. Und so sind es die Schlafenden, die Ordnung in die befremdenden Bilder des Reisen bringen.

Wovon die Reisenden in „The Iron Ministry“ träumen, erzählen sie in einigen Dialogen mit anderen Fahrgästen, zu denen sich die unaufdringliche Kamera hinzugesellt, als ob sie ebenfalls nur eine Zigarette im Gang rauchen will, um dem Verharren im Zwischenraum oder dem Schlaf zu entkommen. Der Regisseur selbst bleibt angenehm zurückhaltend, stellt keinen Off-Kommentar bereit, streut nur ab und an eine Frage in die Dialoge. Er mäandert mit der Kamera durch die Waggons und gibt der Zuschauerin so die Möglichkeit ganz und gar selbst Passagier zu sein. Er lässt sie das Gefühl der Erwartung, das der Ankunft des ersten Zuges der Filmgeschichte schon zu Grunde lag, nachfühlen.

Über den Schnitt verbinden sich Sniadeckis Aufnahmen zu einem einzigen Zug, dessen Waggons die sozialen Klassen Chinas aneinander reihen bis es irgendwann nicht mehr weitergeht und eine Glastür oder eine Uniform die Bewegungsfreiheit stoppt. Spätestens hier werden Erinnerungen an die Hierarchien in Bong Joon-hos „Snowpiercer“ (KOR, USA, FRK 2013) wach, wird das Zukunftsversprechen, das bisher in der Bewegungsfreiheit lag, ausgebremst.

Häufig bringen die einfachsten Fragestellungen die schönsten Filme hervor. „The Iron Ministry“ gibt keine Antworten, der Film begibt sich einfach auf die Suche in den Transitraum. Darin liegt seine ganze Stärke. Film, Traum und das Zugfahren gehen hier noch einmal die gleichen Wege: Hinein ins schwarze Unbekannte.

Power Rangers

(USA 2017, Regie: Dean Israelite)

Brands as Friends – Widerspruchslose Warensubjekte machen mobil
von David Auer

Im Gegensatz zum neuesten „Godzilla“ (2014) ist in diesem Film leider nichts gewagt und nur wenig gewaltig, und wie die schon mehr als 60 Jahre zurückreichende durchwachsene Kinoserie rund um …

Im Gegensatz zum neuesten „Godzilla“ (2014) ist in diesem Film leider nichts gewagt und nur wenig gewaltig, und wie die schon mehr als 60 Jahre zurückreichende durchwachsene Kinoserie rund um das atomare Urvieh stammt die Idee für die „Power Rangers“ ebenfalls aus dem Land der kaum kawaii Kaijus. Anfang der 90er von Saban in die USA importiert, starten sie von da an ihren Siegeszug mit bis dato 23 Fernsehstaffeln und zwei Filmen (sowie jeder Menge Merchandise, selbstverständlich). Die Konstellation ist darin stets dieselbe: Fünf bis sechs Teens werden von den Power Coins zum Superhelden-Sein auserkoren, um die Welt vor wütenden Monstern zu retten. Dabei scheint in Film und Fernsehen abzüglich Neuverfilmung noch der Billigcharme der alten Godzilla-Filme durch: quirlige Bösewichter in ostentativ schlechten Latexkostümen fetzen sich mit kampfsportelnden Schablonen-Heroes. In der aktuellsten Reinkarnation haben die Morpher ihre Spandexanzüge und Motorradhelme gegen schnittige tactical suits getauscht, die wie die Monster nun auch aus dem Rechner kommen. Bevor es aber ans rangen geht und es zum großen Showdown in der kleinen Stadt kommt, gibt’s massig kurzweilige Vorgeschichte.

Die zeigt die titelgebenden Outcasts beim Schwerhaben in der ruralen Highschool, was ihnen das Leben an urbanen Colleges, für deren Broschüren sie einmal Modell stehen werden, bestimmt leicht machen wird. Vom schwarzen Nerd und dem weißen gefallenen Footballstar bis zum queeren native girl gibt es für jede und jeden aus der angepeilten Zielgruppe genug Identifikationsflächen. Das lässt freilich die Herzen der Marketingabteilung ebenso höher schlagen wie jene der tumblr-Generation, die nach dem Kinobesuch im Krispy Kreme, einer im Film prominent vertretenen Kaffeehauskette, bei Donut und Schwarzgetränk gemeinsam davon träumen darf, auch mal und nicht nur im Netz die Welt vor den Mächten des Bösen zu retten.

Die reichen dem Film nach bis in die Urgeschichte zurück, in der es anfänglich kurz vom Verrat einer Kollegin am Kollektiv, an dem es zugrunde geht, handelt. Ein paar Millionen Jahre später wird sie wiedererweckt mit Durst nach Vernichtung und Gold. Später stellt sich heraus, dass sie ein riesiges Ungetüm aus dem flüssigen Edelmetall schmieden will, dem nur die geballte Kraft des Teen-Teams gewachsen ist. Vorm Zusammenwachsen müssen die Jugendlichen jedoch gruppentherapeutisch am Lagerfeuer ihr Innerstes nach außen kehren und zu sich selbst finden. Erst als jede/r in der Clique mit sich selbst identisch geworden ist und die Mission aus der Urzeit vollends angenommen hat, morphen sie zu den Power Rangers, die je einen eigenen Robosaurier zugeteilt bekommen. Im Ausnahmezustand verschmelzen sie als mobilgemachte Einzelteile zum „Megazord“ und fordern das glitzernde Ungetüm heraus; ein letztes Aufbäumen des Goldstandards gegen die zermalmende Kraft der schwankenden Flexibots. Am Ende siegen sowieso die Brands und nicht Bretton (Woods).

Die aalglatte und effiziente Inszenierung verbietet den Vergleich, der sich aufdrängt, nämlich mit Michael Bay. Je weiter die Reihe voranschreitet, desto barocker und manieristischer werden seine „Transformers“-Filme, die einen erschlagen mit ihren endlosen, perfekt animierten Maschinenmaterialschlachten, in denen man sich zumindest noch verlieren kann. Der mittlerweile schon vierte, „Age of Extinction“ (2014), ist an manchen Stellen sowieso nur noch ultraabstraktes PoMo-Kino und reine Oberflächenkunst, die in einem Moment entzückt, im anderen einschläfert ob ihres Potentials, durch Robosaurier-Action die Sinne lahmzulegen. Bayham, wie der Name schon sagt, kann eben nur einer, und schon recht kein Dean Israelite, der in seiner zweiten Regiearbeit zwar brav nach Anleitung dreht, aber den Exzess zwanghaft verweigert, es sei denn den, der weiß, wo seine Grenzen liegen, nämlich im Warenkosmos. Ja eh, zwar ist beides Spielwarenadaptionskino, der gelernte Werbefilmer Bay weiß dieses aber aus Erfahrung so weit ins eigene Extrem zu treiben, dass es sich selbst transzendiert und der Leinwand jegliches identifikatorische Moment, ein wesentliches der Reklame, austreibt.

Ganz anders, nämlich viel gemächlicher, malerischer, kultiviert auch der 2014er „Godzilla“ den Blackout, indem er bis zum packenden Endfight nur Streifblicke auf den monströsen Krach aus Sicht der den Naturgewalten Ausgelieferten zeigt. Das Licht und die Transparenz, die vom besten Monstermash seit „King Kong“ (2005) abgezogen sind, macht sich Israelite nun zu eigen: jede Szene, erst recht die Schlacht am Schluss, ist mit den Scheinwerfern beleuchtet, die Gareth Edwards nicht verwendet hat. Die ultimative Positivität von „Power Rangers“ strahlt noch bis in die Handlungsfähigkeit der Helden aus, von denen es in „Godzilla“ eigentlich keine gibt, außer dem gezackten Urreptil. So ist auch der Showdown im Saban-Film nur eine kurze Affäre, die von den Teenagern, die erst kurz zuvor ihre Kräfte entdeckt haben, souverän gemeistert wird.

Der Klimax liegt sowieso woanders, in der Message nämlich, die da lautet: Eigentlich kann jede/r ein/e Superheld/in sein, man muss es nur wollen; und sollte es damit nicht so recht klappen, lässt sich die Omnipotenz zumindest mit den dazugehörigen Plastikfiguren vorspielen. Neben massig Product Placement gibt’s nämlich genug Eigenwerbung, expliziter als im Rest des Films am Ende: Kids im Film zeigen Spaß am Spiel mit Power Rangers-Merchandise. Markt und Macht sind hier so eng verknüpft wie mittlerweile Identität und Politik, und noch die feinsten Unterschiede werden essentialisiert und als Wesensmerkmale zur schlagkräftigen Währung im Kampf gegen den Universalismus, gegen den in seiner falschen Ausprägung sowieso keine/r eine Chance hat, weil eh jeder von ihm gebrandmarkt ist. Die Brands sind King, und wo kein Ausweg aus der Totalität in Sicht, ist die Wahl, die keine ist, sich ihr vollends zu unterwerfen. So wie die diversen Jugendlichen, die sich den Power Coins, von denen sie auserwählt wurden (nicht andersrum), nicht erwehren können; ganz im Gegenteil: Nichts ist ihnen lieber, als sich durch sie aus dem ruralen Moloch, in dem sie leben, zu befreien. In den 23 Staffeln und zwei Filmen hat der Cast regelmäßig gewechselt und auch in der neuesten Adaption sind die Outcasts bloße Diskurseffekte. Anstatt ihre Auswechselbarkeit zu bejahen und auf ihre Überflüssigkeit zu pochen, damit ihnen und allen anderen einmal das Glück zuteilwird, wirklich nicht gebraucht zu werden, stellen sie sich als tapfere Krieger in den Dienst des Weltsouveräns, der als bis tief in die Vergangenheit wurzelnd und nur seiner Verwirklichung harrend imaginiert wird.

Die Power Rangers sind die idealen Warensubjekte, in denen Anforderung und Bedürfnis zum Mitmachen im Betrieb restlos identisch sind. Der fehlende Mut zur Lücke, der „Godzilla“ ebenso auszeichnet wie die „Transformers“-Reihe, wird in „Power Rangers“ noch den Jüngsten, auf die er mit seiner Brand-Attacke zielt, als Tugend verkauft. Schon sie will er mit nostalgischem Reklame-Trash abspeisen, der upcycled zwar leicht verdaulich, aber ungenießbar ist. Zur Not können sie danach immer noch ins Krispy Kreme einkehren, wo die Donuts – Hefeteigkrapfen mit Lücke! – zwar im Magen liegen, aber wenigstens gut schmecken.

PS: Hätte sich Saban doch an Joseph Kahn gehalten, der mit seinem fantastischen Fanprojekt „Power/Rangers“ den Lollipop-Konzernkosmos in dunkle Gefilde übertragen hat. Anstatt allerdings den erfahrenen Regisseur von zahlreichen Werbespots, Musikvideos und mehreren größtenteils eigenfinanzierten Spielfilmen für die Neuverfilmung zu engagieren, hagelte es Abmahnungen. Unter dem Label „Unauthorized“ und mit der Auflage, daraus kein Kapital zu schlagen, durfte Kahns Kurzfilm dennoch weiterhin online bleiben. Ungekürzt ist er u.a. auf YouTube abrufbar und Dean Israelites Version allemal vorzuziehen.

I am not your negro

(US/FR/BE/CH 2016, Regie: Raoul Peck)

Moralische Monstrosität
von Wolfgang Nierlin

“Die Geschichte der Schwarzen in Amerika ist die Geschichte Amerikas – es ist keine schöne”, schreibt der fast 55-jährige, afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin im Juni 1979 in einem unvollendet gebliebenen …

“Die Geschichte der Schwarzen in Amerika ist die Geschichte Amerikas – es ist keine schöne”, schreibt der fast 55-jährige, afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin im Juni 1979 in einem unvollendet gebliebenen Manuskript mit dem Titel “Remember this house”. Er verknüpft darin seine Erinnerungen an die ermordeten schwarzen Bürgerrechtler Medgar Evers, Malcolm X und Martin Luther King mit seinen eigenen schmerzhaften Erfahrungen von Unterdrückung und Diskriminierung. „Was geschieht mit diesem Land?“, fragt Baldwin, während auf der Leinwand Bilder brutaler Polizeigewalt zu sehen sind, die sich gegen demonstrierende Schwarze richtet.

Diese bewusste, auf eine gemeinsame „amerikanische Identität“ zielende Aneignung von Geschichte dient dem Filmemacher und Kosmopoliten Raoul Peck, 1953 in Haiti geboren, wiederum dazu, seine eigenen Erfahrungen darin widerzuspiegeln. In der sehr subjektiven Montage seines preisgekrönten Essayfilms „I am not your negro“ verbindet er Archivbilder, Filmausschnitte, TV-Clips und Musik ausschließlich mit Texten von James Baldwin. Wo der ebenso nachdenkliche wie leidenschaftliche Autor nicht selbst spricht, werden diese in der Originalversion von dem Schauspieler Samuel L. Jackson aus dem Off vorgetragen.

Der von Chris Marker, Alexander Kluge und Jean-Luc Godard beeinflusste Raoul Peck dekonstruiert dabei dezidiert die überlieferte Ikonographie des medialen Archivs, um jene andere, unterdrückte, tatsächlich aber parallel verlaufende Geschichte sichtbar zu machen. In mehreren Kapiteln, die zugleich den Lebensweg Baldwins nachzeichnen, verknüpft er die Bewusstwerdung der Identität als Schwarzer mit der Erfahrung von Differenz und Ausgrenzung; was auch den individuellen Zwiespalt zwischen Innen- und Außensicht einschließt. Jene andere, gewissermaßen „inoffizielle“ Geschichte resultiert aus einer Lebensrealität, die vom weißen Amerika übersehen oder aber ignoriert wird. Diese Indifferenz und „moralische Monstrosität“, die vor allem das Machtstreben der weißen Bevölkerung ausdrückt, wird schließlich mit der beunruhigenden, bislang nicht beantworteten Frage konfrontiert, welcher Platz und welche Aufgaben für die Black Community im „Land der Freien“ vorgesehen sind.

Denn Pecks historischer Exkurs zeigt in teils harten Kontrasten nicht nur eine Geschichte gewaltsamer Unterdrückung und ihr schockierendes Fortdauern bis auf den heutigen Tag, sondern auch, wie der Wohlstand eines ganzen Landes davon abhängt. Während die Schwarzen als Amerikaner zweiter Klasse ausgebeutet werden, leben die Weißen – wie diverse Filmausschnitte ironisch zeigen – in einer pastellfarbenen Kitschblase des Konsums. Doch die sich darin ausdrückende übertrieben Sorge um das „private Selbst“, so ist James Baldwin überzeugt, wirke auf die Dauer zerstörerisch.

Life

(USA 2016, Regie: Daniel Espinosa)

Schwerelos schwebender Socken-Schocker
von Drehli Robnik

Kurz vor dem neuen ‚Alien‘-Film kommt mit ‚Life‘ ein SciFi-Schocker, der den 1979er-Originalfilm Motiv für Motiv kunstvoll ausweidet – plus eine Dosis Laborhorror à la ‚Andromeda‘: alles auf engstem ISS-Raumstationsraum, …

Kurz vor dem neuen ‚Alien‘-Film kommt mit ‚Life‘ ein SciFi-Schocker, der den 1979er-Originalfilm Motiv für Motiv kunstvoll ausweidet – plus eine Dosis Laborhorror à la ‚Andromeda‘: alles auf engstem ISS-Raumstationsraum, mit vielen Großaufnahmen eines guten Cast (u.a. Jake Gyllenhaal, Rebecca Ferguson), der rasch schrumpft, und eines bösen Mars-Organismus, der rasch wächst. Alles ist Bio-Ambiente: fragile Körper hinter Glaswänden und Schotten auf der Leinwand, blanke Nerven und Augen hinter vorgehaltener Hand im Kinosaal.

Aber ‚Life‘ prägt sich auch zum Mikro-Sozialraum aus: Bestand die ‚Alien‘-Schiffscrew aus grindigen Technikhacklern, die einander auf den Senkel gingen, so schwebt die ‚Life‘-Crew schwerelos in Socken, ist kultiviert und solidarisch bis zum Selbstopfer. Mittelschichtsofties. Der Organismus ist weiß, aggressiv, hat kleine Pfötchen und wird bei seiner Entdeckung als wissenschaftliche Sensation just nach einem republikanischen US-Präsidenten benannt. Nämlich Calvin, wie Coolidge. Nein, nicht Donald. So heißt eine Ente. Ein gutes Ende hat ‚Life‘ übrigens auch, also alles gut.

Bedeviled: Das Böse geht online

(USA 2016, Regie: Abel Vang, Burlee Vang)

The only thing to fear
von Nicolai Bühnemann

Eine Unterrichtsstunde ist im Motivrepertoire des High School-Slashers fester Bestandteil. Das war in Wes Cravens Klassiker des Subgenres „A Nightmare on Elm Street“ von 1984 so, den Lukas Foerster einmal …

Eine Unterrichtsstunde ist im Motivrepertoire des High School-Slashers fester Bestandteil. Das war in Wes Cravens Klassiker des Subgenres „A Nightmare on Elm Street“ von 1984 so, den Lukas Foerster einmal als ersten Meta-Slasherfilm bezeichnete, und das ist in „Bedeviled“ von den Vang Brothers von 2016 nicht anders. Wo jedoch dort düster Literarisches im Englischunterricht besprochen wurde, befinden wir uns hier im Biologieunterricht, wo es um ein Thema geht, das für den Horrorfilm, das ist banal, von zentraler Bedeutung ist: die Angst. Diese ist, so lernen wir, die natürliche Art des Körpers auf Gefahrensituationen zu reagieren, auf „flight or fight“, Flucht oder Kampf, vorzubereiten. So weit, so Lehrbuch. Doch dann nimmt sich der Film einige Freiheit im Auslegen der wissenschaftlichen Fakten, indem er den Lehrer fortfahren lässt zu erklären, dass Angst sich derart intensivieren könne, dass es zu einem tödlichen Adrenalinstoß kommt, es also möglich sei, sich buchstäblich zu Tode zu erschrecken. Wissenschaftlich also gibt das Szenario des Films, dass eine Gruppe gesunder Teenager von einer App, die sich ihrer geheimsten individuellen Ängste zu Nutzen macht, um sie eine/n nach dem/der anderen dahin zu raffen, nicht viel her. Allerdings gilt natürlich auch hier, was ich kürzlich in meinem Text zu „Sleepless“, einem wesentlich problematischeren Genrefilm (dort: nicht Horror, sondern Action) als dem, so viel vorab, sehr gelungenen „Bedeviled“ über filmisches Erzählen schrieb, „das sich schließlich zu realen Begebenheiten autonom verhalten darf und soll, eher eigenen Regeln zu folgen hat als dem Diktat der sogenannten Realität (und was ist ein Genre, wenn nicht eine Art Regelkatalog, den gute Genrefilme nicht nur erfüllen oder abarbeiten, sondern mit dem sie spielen und den sie im besten Fall auch transzendieren können?)“

Zu Beginn stirbt der Teenager Nikki (Alexis G. Zall) und die Hinterlassenschaft an ihre Clique von fünf High School-SchülerInnen, die unmittelbar vor dem Abschluss stehen, ist eine mysteriöse App, für die sie die Einladung nach dem Tod der Freundin erhalten. Technik-Geek Cody (Mitchell Edwards) erklärt dazu, dass es durchaus sein könne, dass eine App-Einladung automatisch auch noch von dem Telefon einer Toten verschickt wird. Diese App mit dem Display-Bild des Mannes mit der charakteristischen, beim Sprechen blinkenden roten Fliege scheint erst einmal verdammt cool zu sein. Sie kennt sich mit eher ungewöhnlichen Pornographie-Vorlieben („midget porn“) ebenso aus wie mit den Mathehausaufgaben und wird für die Adoleszenten schnell zum ständigen Begleiter. Doch schon bald zeigt sich auch die Kehrseite dieses vermeintlichen Glücks, weil sich die Jugendlichen schon bald verfolgt fühlen – und zwar jede/r von dem, was ihm oder ihr die größte Angst macht.

Diese individuellen Ängste schürfen tief in der Vergangenheit, der Familiengeschichte der jeweiligen Figuren, ohne dabei jedoch die politische Gegenwart der USA aus den Augen zu verlieren. Der asiatischstämmige Dan (Brandon Soo Hoo) fürchtet sich etwa vor einer Tante aus dem Dorf, aus dem seine Eltern stammen, über die keiner spricht und die er nur von einem Foto kennt. Seine Freundin Haley (Victory Van Tuyl), mit der er sich über diese Geschichte direkt nach dem Shakespeare-Sex austauscht, den er heimlich und zunächst zu ihrem Missfallen mit dem Handy aufgenommen hat, fürchtet sich vor einem Teddybär, den sie als kleines Mädchen hatte. Der Afroamerikaner Cody hingegen hat, vergegenwärtigt man sich die vielen Fälle, in denen schwarze Menschen in den USA in den letzten Jahren Opfer von Polizeikugeln wurden, allzu verständlicherweise, Angst vor Cops und weißen Menschen (zumindest vor denen, die er nicht näher kennt). Doch auch da werden Konflikte nicht auf Hautfarben reduziert, sondern es ist entscheidend, dass es gerade ein schwarzer Polizist ist, bei dem Dan versucht Hilfe gegen die Killer-App zu bekommen, und dessen Erscheinung sich dann als weitere Inkarnation des Bösen herausstellt. Und auch die Angst vor Clowns, die einen anderen Jungen quält, lässt sich durch Schlagzeilen der jüngeren Vergangenheit ebenso erklären wie durch eine lange Tradition im filmischen und literarischen Genre des Phantastischen (Stephen Kings „It“ in Schrift und Bild sei nur als prominentes Beispiel genannt).

Dass der Film seine Hauptidee, die der deutsche Untertitel mit den Worten „Das Böse geht online“ umschreibt, den Tod aus dem Smartphone, beinahe verschenkt, dass etwa Olivier Assayas es kürzlich in „Personal Shopper“ mit einem langen SMS-Dialog, über dem die Möglichkeit schwebte, dass es sich um einen Kontakt zum Jenseits handelte, wesentlich eleganter schaffte, die für uns heute so alltäglichen Technologien unheimlich aufzuladen, tut dem positiven Gesamteindruck von „Bedeviled“ keinen Abbruch. Neben seinem sehr intelligent geführten Diskurs über die Angst und das, was sie bei jeder/jedem einzelnen verursacht, überzeugt er auch stilistisch. Ein routinierter Grusler, der auf Splattereinlagen ganz verzichtet, und schon wegen des Bildformats von 2,40:1, also sogar noch ein bisschen breiter als das übliche Scope, unbedingt auf eine große Leinwand gehört hätte, aber leider in Deutschland nur von Ascot Elite am 24.03.2017 als DVD, Blu-Ray und Video on Demand veröffentlicht wird.

A United Kingdom

(USA, GB 2016, Regie: Amma Asante)

Gerührt und verführt zur Gleichheit
von Drehli Robnik

Warum zeigen Mainstreamfilme biracial couples fast nur dann, wenn Liebe zwischen Schwarz und Weiß ihr Poblemthema ist? Eine größere Agenda allerdings hat die Historienromanze ‚A United Kingdom‘: Der König von …

Warum zeigen Mainstreamfilme biracial couples fast nur dann, wenn Liebe zwischen Schwarz und Weiß ihr Poblemthema ist? Eine größere Agenda allerdings hat die Historienromanze ‚A United Kingdom‘: Der König von Botswana, 1947 britisch verwaltet, heiratet eine Londonerin (Rosamund Pike). Die Britin Amma Asante zieht Rührungsregister: Liebe vs. Staatsräson, Score wogt, Masse jubelt, Savannensonne sinkt. Geht es um schwarzen Rassismus? Nein, der Stress kommt aus Südafrika: Apartheid will auch diese Liebe trennen. Also ist ein System schuld, das nicht mehr besteht? Nein, denn die Fäden zieht Londons Machtpolitik. United Kingdom indeed: Das große ist in der Brexitkrise, das kleine wich der Republik Botswana; der König (eloquent wie Dr. King und wie jener toll gespielt von David Oyelowo) ist Antimonarchist und fordert Gleichheit. Sehr gut!

King Kong

(USA, NZ 2005, Regie: Peter Jackson)

König – Dame – Turm
von Drehli Robnik

Peter Jacksons gigantisches Remake von 'King Kong' spielt mit Traditionen, Perversionen und mehrdeutigen Angstfantasien. Und dann geht der Affe noch eislaufen. King Kong kann vieles bedeuten. Zum Start von Peter …

Peter Jacksons gigantisches Remake von 'King Kong' spielt mit Traditionen, Perversionen und mehrdeutigen Angstfantasien. Und dann geht der Affe noch eislaufen.

King Kong kann vieles bedeuten. Zum Start von Peter Jacksons Blockbuster dient er gar als Werbespotfigur einer seit jeher mit cinpehilem Flair beworbenen Taschentuchmarke: Oh, it´s a Kong! Kong heißt ja, so heißt es, in dem Teil Indonesiens, aus dem der Titelheld stammt, 'Affe'. Und der Affe stammt bekanntlich, so wie Gott, vom Menschen ab, zumal vom modernen Menschen, dem der Kong (wie auch Gott) eben viel bedeutet. Soviel, dass er einer Entstehungslegende zufolge einst nicht nur King, sondern Kaiser war: Ein Plakat aus dem Ersten Weltkrieg zeigte der US-Öffentlichkeit den deutschen Imperator als brüllenden Riesenaffen. Dieses Sujet könnte Ernest B. Schoedsack und Merian C. Cooper, die nach ihrem Kriegsdienst als filmende Abenteurer umherreisten, mit zu ihrem Filmhit von 1933 inspiriert haben. Zwischen Kaiser und King vermarkteten die Populärethnografen auch ein exotisches Filmbestiarium mit dem Titel 'Chang'. Dann kam Kong. Bingo!

King Kong, die Kinoikone. Sein Wüten auf dem Empire State Building wird gern als mediale Fantasie gedeutet, die politische Ängste abbildet: Geben Wolkenkratzer Kapitalzusammenhängen eine sichtbare Form, so leiht der zornige Affe verd(r)eckter, geschundener Arbeitskraft eine bedrohliche physische Präsenz. Solche Metaphorik spielt Jacksons Neuverfilmung von Anfang an grell aus, geht von Affen im Zoo zum Panorama arbeits- und obdachloser New Yorker in der Great Depression anno 1933 über. Damit ist das Thema moderner Massenerfahrung zunächst abgehakt: Auf geht’s ins Fahrwasser eines Individualismus, der sich im Triebhaften und Archaisch-Heroischen realisiert; auf dem Gebiet ist Kong natürlich King. Wie geil autoritäre Weltbilder aussehen, hat Jacksons zwischen Feudalwesen und Herrenmenschentum changierende 'Lord of the Rings'-Trilogie gezeigt. 'King Kong' frönt nun der Freude am Monarchischen mit mehr Schmäh, weniger Schmachtworten und gleicher Verachtung für die Masse; den Part des Pöbels spielen New Yorker Zylinderträger und deren primitives Pendant, ein Inselstamm, der ebenfalls in pompösen Hochbauten haust, Kong begafft und vor Sensationsgier geifert und trommelt. Bongo!

Zwischen Städten und Stämmen agiert hier, ähnlich Gandalfs multinationaler Eingreiftruppe, eine ethnisch und sozial diversifizierte Schiffscrew; sie erkundet den Inselurwald, fängt Kong und zitiert dabei ausgiebig aus Joseph Conrads Kolonialwahnsinnsroman 'Heart of Darkness'. Allein, die Stärke des Films liegt nicht im Symbolhaften, auch nicht im ausladenden Erzählen, das Actionsituationen nach Game-Manier auffädelt. Wirklich wild wird es vielmehr, wenn uns Rauminszenierung und Digitaltechnik groteske Körper in obszöner Plastizität aufs haptische Aug drücken – von Nebelklippen und bösen Bauten auf der Insel über die Üppigkeit bizarrer Flora bis zu haarsträubendem Getier: Wo Riesenasseln und Saugwürmer oder ledrige Fleischwülste einer Saurierstampede schamlos das Bild durchwogen, da erscheint Jurassic Park als Kurort.

Bad Taste meets Big (Monkey) Business. In diesem Ekelbarock klingt Jacksons Splatterfilmvergangenheit nach. Oder vielmehr: Hier kulminiert die monströse Vision eines multimedialen, synästhetischen Kinos, das alles (evolutions- oder kulturgeschichtlich) Archaische 'bespielen' kann und das Repräsentationsmuster vervielfältigt, um sie zu sprengen – und vice versa. Ein Film-im-Film-Plot breitet detailreich Bild- und Wissensschätze des alten Hollywoodkanons aus, um oft in einen Irrwitz zu verfallen, der antikanonisch und 'unamerikanisch' ist, eher an ein postkoloniales Neuseeland aus Nerdigkeit und kultivierter Perversion gemahnt. Hier trumpft die Affenliebe auf: Wir kriegen mehr Liebe, mehr Affe – keine Pelzpuppe, sondern einen von Fliegen umflorten digitalen Berg aus Gebrüll – und mehr 'weiße Frau'. Wenn Naomi Watts, im Totaleinsatz jeder Locke und Zehe, für den Affen tanzt, ihn mit Variététricks zum Lachen bringt, sich ihm als Puppe zum Schubsen preisgibt (aber nur bis sie das SM-Ritual satt hat und ihn anschreit) oder mit ihm im Central Park eisläuft, als wär’s ein Judy Garland-Film – dann ist das kaum zu beschreiben. Jedenfalls ist es noch berührender (von wegen Taschentuchwerbung!) als die Entblätterung der strampelnden Fay Wray anno 1933 oder Jessica Langes Geräkel unterm Fön aus Kongs Nüstern im Remake von 1976; vom Flirt zwischen Mr. und Mrs. Kong im 1983er Aufguss 'King Kong Lives' ganz zu schweigen.

Adrien Brody als netter Retter bleibt peripher; auf einer Höhe mit dem Amour Fou Animal ist einzig die Figur des obsessiv-gewieften Filmregisseurs. Gespielt von Jack Black sieht er aus wie Jackson selbst in seiner übergewichtigen Phase; sein Adlatus dagegen erinnert an den jungen Jackson. 'King Kong' handelt vom Kino, seinen Traditionsnormen und seiner Enormität, davon, wie es gemacht und wie es genossen wird. Kino-King ist nicht der Regisseur, sondern die (letztlich doch anzuerkennende) Masse derer, die zuschauen, und so ist auch Kong als fetter Allesfresser vor allem Konsument, der sich die Shows des Stammes und der blonden Frau oder mit ihr im Arm einen Hollywood-Sonnenuntergang anschaut. Der einst fette Regisseur hingegen erhielt unlängst einen Preis für Verdienste um die Stadt New York. Was ist Jacksons Verdienst? Vielleicht dass er die Angstfantasietradition 'Archaisches Wüten gegen Wolkenkratzer' fortsetzt, nachdem sie realisiert wurde. Wobei King Kong eben vieles bedeutet: 1976 kletterte er im Showdown auf das World Trade Center und kämpfte gegen Helikopter; in den Tagen nach 9-11 hingegen zeigte ein Cartoon Kong auf den Twin Towers, wie er zwei Jets vom Himmel holt, und dazu die Frage: 'Where were you when we needed you?' Jetzt ist er voll da.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Falter 50/2005

Swiss Army Man

(USA 2016, Regie: Daniel Kwan, Daniel Scheinert )

Furzender Zivilisationsmüll
von Ricardo Brunn

Eigentlich wollte sich der auf einer einsamen Insel gestrandete Hank (Paul Dano) gerade selbst entsorgen. Doch Sekunden vor dem Absprung von der Plastikkühlbox, einen improvisierten Strick um den Hals, entdeckt …

Eigentlich wollte sich der auf einer einsamen Insel gestrandete Hank (Paul Dano) gerade selbst entsorgen. Doch Sekunden vor dem Absprung von der Plastikkühlbox, einen improvisierten Strick um den Hals, entdeckt er im Sand eine Leiche (Daniel Radcliffe), deren durch fortschreitende Verwesung freigesetzte Gase eine beträchtliche Antriebsenergie besitzen. Kurzerhand funktioniert Hank den nicht ganz so leblosen Körper zum Jetski um und tritt freudig die langersehnte Heimreise an. Auf dem Festland angekommen, will Hank sich des Verwesenden entledigen, aber wer reist schon gern allein. Also schultert er den kalten Kameraden und macht sich mit ihm auf den Weg. Im Verlauf eines immer irrer werdenden Trips erwacht die Leiche, die Hank schließlich Manny tauft, dann nicht nur zu neuem (oder altem) Leben, sondern erweist sich – einem Schweizer Taschenmesser gleich – mit all seinen Körperöffnungen als äußerst nützlicher, methangasbetriebener Allzweckzombie.

Egal wie man es anstellt, eine Zusammenfassung der Ereignisse in „Swiss Army Man“ klingt einfach scheiße. Das bringt einen natürlich schon deshalb in Schwierigkeiten, weil das Rekapitulieren der Geschichte die Frage aufwirft, ob der Film letztlich nicht doch einfach nur für den Arsch ist. Dieser zwischen zwei Furzwitzen gepressten Komödie gewinnt man anfänglich in etwa so viel ab, wie eine meiner Töchter recyceltem Toilettenpapier. Sie ging davon aus, dass dieses aus dem benutzten Klopapier anderer Leute bestehe und stand mir plötzlich mit angewidertem Blick gegenüber. Die Irritationen, die angesichts solch zentraler Entsorgungs- und Recyclingfragen ausgelöst werden, haben einiges mit jenen eines „Swiss Army Man“ gemein und bilden einen soliden Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit einem auf den ersten Blick spätpubertären Werk.

Irritierend ist allein schon, dass „Swiss Army Man“ da anfängt, wo die traditionelle Robinsonade endet. Die gelingende Flucht von der Insel setzt die Erzählung erst in Gang. Die Regression des zivilisierten Menschen und die damit häufig verbundene Auflösung der Ich-Strukturen erzählt „Swiss Army Man“ auffälligerweise nicht. Der einsame Kampf ums Überleben wird vom Drehbuch ohne große Umstände entsorgt. Es genügt Paul Danos ausgezehrter Blick und der Strick um den Hals. Die Regisseure sind sich offensichtlich über das Vorwissen ihres Publikums im Klaren. In der Folge stellen sie die Wiederkehr des Körpers und die Bewusstwerdung der eigenen Identität ins Zentrum der Erzählung. So wie sich Manny im Verlauf des Filmes zum immer lebendigeren und erstaunlich sympathischen Zombie entwickelt, findet Hank über Gespräche mit Manny zu sich selbst und zurück in die Welt, aus der er sich zuvor verabschieden wollte. Die Spur zurück in die Gesellschaft legt der im Wald verstreute Plastikmüll. Und zu keinem Zeitpunkt stellen sich die Protagonisten die Frage, woher all der Abfall kommt. Im Gegenteil: Je mehr Müll, umso mehr Möglichkeiten ergeben sich für Hank, seinem Kumpel Manny etwas über die Welt, aus der er stammt, zu erzählen. Der Abfall ermöglicht Geschichte und Erinnerung. Und als Zuschauer ist man angehalten sich ebenfalls durch jede Menge Müll in Form von Furz- und Peniswitzen hindurch zu kämpfen, das Gesehene zu recyceln, aufzuarbeiten, umzudenken.

„You’re trash“, resümiert der seiner Wiederverwertbarkeit zugeführte Manny an einer Stelle Hanks bisheriges Leben und verhilft ihm damit zur wichtigsten Erkenntnis. Wer sich nicht einordnet, wird aussortiert, wird zum Robinson inmitten der Zivilisation. Wenngleich man den interpretatorischen Plastikbogen nicht überspannen sollte, lässt sich durchaus aufzeigen, dass „Swiss Army Man“ damit um Fragen nach den Grundzügen einer offenen Gesellschaft kreist, die stets form- und damit veränderbar sein sollte. Die Absurditäten, die der Film aneinanderreiht und die in ihrer Ausführlichkeit stellenweise ordentlich nerven, können als Weg der Figuren zu einem Selbstbewusstsein übersetzt werden. Ihr infantiles Gebaren nimmt zugleich den Umgang des Publikums mit Tabuisierungen aufs Korn. Wenn Hank schließlich im Kleid vor Manny steht und es zu einem romantischen Moment zwischen den beiden kommt, wird endgültig klar, dass dieser Film nicht allein die Flatulenzen seiner Protagonisten im Blick hat. Es sind Fragen nach der eigenen Identität und dem Platz in der Gesellschaft, die sich in der lautstarken Wiederbelebung Mannys, der eindrucksvollen Wiederverwertung des Plastikmülls zur Veranschaulichung von Seelenlandschaften sowie Hanks Verkleidungen einen Weg an die Oberfläche suchen.

Ein grauenhafter Ohrwurm Hanks begleitet diesen Prozess zusätzlich. „Where did you come from? Where did you go?“ brummt auch Manny irgendwann einen der größten Wegwerfsongs der 90er Jahre vor sich hin. Darüber hinaus erinnert das „da, da, da“ vieler Musikstücke an den Versuch, sich Lieder auszudenken oder sich an sie zu erinnern. Abseits einer Konsens-Klassik üblicher Hollywood-Dutzendware entsteht auf diese Weise ein eigenwilliger Soundtrack, der die Suche der Figuren überzeugend widerspiegelt und irgendwo zwischen Animal Collective und heftigster Eso-Mukke oszilliert. Dass Radcliffe und Dano alle Musikstücke selbst eingesungen haben, verleiht dem Ganzen zusätzliches Gefühl, das als Gegenpol zum grotesken Geschehen auch dringend notwendig ist. Überhaupt entwickelt sich aus dem Zusammenspiel der beiden eine ernstzunehmendere Basis für die Handlung. Denn so bemüht die Versuche Daniel Radcliffes sich von Harry Potter loszusagen oftmals erscheinen mögen, es gehört schon einiges dazu, einem dauerfeuchten corpus flatus Würde zu verleihen.

Abseits aller Müllberge und erzählerischen Fettnäpfchen, in die sich „Swiss Army Man“ genüsslich stürzt, und abseits aller Zwiespältigkeit, die der Film damit provoziert, lohnt es sich ihm mit der nüchternen Offenheit zu begegnen, die ich letztlich auch meiner Tochter im Supermarkt zum Thema Recycling-Toilettenpapier vermitteln wollte: Klingt scheiße, ist aber keine drin. Also, gib ihm ’ne Chance.

Der junge Karl Marx

(FR/DE/BE 2016, Regie: Raoul Peck)

Was macht der Finger in der Webmaschine?
von Jürgen Kiontke

„Der junge Karl Marx“ fängt stark an: Polizisten durchkämmen ein Waldgebiet, in dem abgerissene Gestalten zwischen den Büschen hausen. Die Kamera filmt ins Licht; ein Ort wie der morgendliche Berliner …

„Der junge Karl Marx“ fängt stark an: Polizisten durchkämmen ein Waldgebiet, in dem abgerissene Gestalten zwischen den Büschen hausen. Die Kamera filmt ins Licht; ein Ort wie der morgendliche Berliner Tiergarten. Die Menschen könnten die sein, die dort zelten: Arbeiter aus Osteuropa, aus der Wohnung Geräumte und sonstige Marginalisierte. Sollte es im Sinne von Regisseur Raoul Peck gewesen sein, eine Verbindung zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts, zwischen der damaligen Pauperisierung der Massen und heutigem Prekariat herzustellen, ist ihm das zumindest zu Beginn gelungen.

Im Zentrum seines Films steht das prominenteste Rockstar-Duo, bevor Lennon/McCartney bzw. Jagger/Richards die Weltbühne betraten: Karl Marx und Friedrich Engels, jung und schön, Paris 1844. Sie schmieden politische Bündnisse, gründen Zeitungen, fliegen raus, schreiben Studien über die Armut. Karl ist knapp bei Kasse, Friedrich kämpft mit dem Unternehmervater – die beiden Jungzausel könnten europäische Hipster sein, nur die Smartphones fehlen. Die beiden disputieren sich besoffen und verqualmt durch politische Theorie, Ökonomie und Familienprobleme. Nach der Devise „Gebt den Linken mehr zu trinken“ wirkt der Streifen zeitweise wie ein Werbeclip für den Spätkauf. In der ersten Stunde kommt das recht modern rüber. Dann ist die die Luft ein bisschen raus. Zum „Kommunistischen Manifest“ hin verlegt man sich ein wenig aufs Drehbuchaufsagen.

Das große Plus dieses Films: Er beleuchtet einen Abschnitt deutscher Geschichte, der so gut wie nie im Kino vorkommt; Marx und Engels und der Kommunismus sowieso nicht. Peck präsentiert mit Mary Burns und Jenny Marx zwei starke Frauenfiguren. Überhaupt alle Schauspieler machen ihr Ding und das nicht schlecht.
Im Minus: Öfters vergisst der Film, dass er Kino ist. Sei es, dass er im endlosen Debattieren versinkt wie unsereins weiland nach dem Proseminar, oder dass er inszenatorische Macken hat: Wenn ich darstellen will, dass die englische Webmaschine der Arbeiterin die Finger abreißt, stelle ich niemand ins Zimmer, der erzählt, dass die Webmaschine die Finger abgerissen hat. Ich zeige die Finger.
Aber was soll’s: Raoul Peck, mach dich an „Kapital 1-3“!

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Der junge Karl Marx‘.

T2 Trainspotting

(GB 2017, Regie: Danny Boyle)

Booooooooooy
von Ricardo Brunn

Am Ende von „Trainspotting“ (GB 1996; R: Danny Boyle) wird Junkie Mark Renton (Ewan McGregor) einer von uns. In London angekommen läuft er, eine Sporttasche voller geklautem Geld über die …

Am Ende von „Trainspotting“ (GB 1996; R: Danny Boyle) wird Junkie Mark Renton (Ewan McGregor) einer von uns. In London angekommen läuft er, eine Sporttasche voller geklautem Geld über die Schulter geworfen, zu den Klängen von Underworlds Technohit „Born Slippy“ über die Waterloo Bridge einem neuen Lebensabschnitt, einer neuen Zeit entgegen, sagt ja zum pervers großen Fernseher, der Familie, dem Auto und der Waschmaschine. Im Hintergrund liegt, vom Nebel verhangen, Londons Finanzzentrum. Schnitt auf Marks grinsendes Gesicht, das sich auf den Zuschauer zubewegt, unscharf wird und sich schlussendlich auf der Leinwand auflöst. „Trainspotting“ erzählt in seinem finalen Moment vom Ende einer Popkultur der Verweigerung und des Aufbegehrens und ist damit einer der visionärsten Filme einer vergeudeten Dekade.

Seit den Swinging Sixties gaben sich mit Beat, später Punk und bald darauf Post-Punk die alltagskulturellen Rebellionen einer nach Identität suchenden Jugend die Klinke in die Hand. War ihnen mal mehr, mal weniger auch die politische Opposition eingeschrieben, schwang im Ende der 1980er Jahre entstehenden Techno die Hingabe an den unhinterfragten Konsum bereits mit. Die Agonie der Thatcher-Reagan-Ära bekam einen monotonen Puls verpasst. Und die Rebellion – deren letzter Protagonist Kurt Cobain dem Selbstmord von vornherein nie hat entrinnen können, weil er miterleben musste, wie jede seiner Gesten vom Kapitalismus vereinnahmt und zum Klischee wurde – löste sich mit dem Fall der Mauer und der Love-Parade-Parole „Friede, Freude, Eierkuchen“ endgültig auf. Techno ist die letzte Erfindung der Popmusik und zugleich ihre Klammer, voller trauriger Beats, die in der Dunkelheit des Clubs ein Gefühl der Zusammengehörigkeit versprechen. Es ist die Musik der Vereinzelung in der Masse und des Jasagens. War das Heroin in „Trainspotting“ die letzte Gelegenheit zum Jasagen Nein zu sagen, wird Ecstasy in den 90ern die Droge der Jasager. Vollgepumpt mit Möglichkeiten und Versprechen schwappte die Welt schließlich aufgedreht und übersättigt ins 21. Jahrhundert, welches in der digitalen Revolution, den Arbeitsmarkt- und Sozialreformen und der damit begünstigten Flexibilisierung und Optimierung des Einzelnen das Jasagen endgültig kultivierte und als Imperativ in Form von „Yes, we can!“ zum Slogan verarbeitete.

Und heute? Heute bringt „T2 Trainspotting“ den unter anderem aus dieser Entwicklung resultierenden rasenden Stillstand unserer Tage mal eben in der ersten Einstellung direkt auf den Punkt. Sie zeigt Mark Renton, mittlerweile 46 Jahre alt, auf einem Laufband, dem zentralen Symbol des neuen Jahrtausends. Um ihn herum seinesgleichen. Selbstbespiegelung der Optimierungswilligen im Hamsterrad der Fitnesshölle. Laufen auf der Stelle. Ein körperlicher Zusammenbruch und anschließende Erinnerungen veranlassen Mark zu einer Reise in die Heimat. Dort hat sich scheinbar nicht viel getan, was Regisseur Danny Boyle zur Wiederholung der Ereignisse inspiriert. Mit geklautem Geld ist Mark ins neue Jahrtausend gestartet. Das konnte nicht gut gehen. Und nicht nur die Bankenkrise bestätigt dies. Am Anfang stand eine Möglichkeit, am Ende der Verrat. Darum geht es auch in Teil zwei wieder. Diesmal wird die EU mit ebenjenem lockerflockig instrumentalisierten „Yes, we can!“ aus Marks noch immer so schelmisch grinsenden Gesicht um Fördergelder gebracht. Konstant rekurriert die Erzählung dabei auf den ersten Teil, auf die sprichwörtlichen Schatten der Vergangenheit. Von der Verfolgungsjagd durch die Straßen über den Showdown mit Begbie werden die alten Konflikte nahtlos wieder aufgenommen, ganz so, als hätte es die vergangenen 20 Jahre nie gegeben. War „Trainspotting“ radikal in die Zukunft gedacht, dreht Doyle die Bewegungsrichtung in „T2“ kurzerhand um und lädt das Publikum zur Reflexion über den eigenen Lebensentwurf und -verlauf ein.

Für „Sick Boy“, Mark, „Spud“ und Begbie ist die Sache klar. Alle Möglichkeiten sind Versprechen geblieben. Das Jasagen hat nichts genützt. Viagra wird zur härtesten Droge und das Surreale aus dem ersten Teil ist verschwunden. Der Drogenkonsum und der Preis, den es im Gegenzug zu zahlen galt, bekommen keine exstatischen und miteinander konkurrierenden, sondern nur noch blasse Bilder aus der Vergangenheit zugeschrieben. „You’re a tourist in your own youth“, belehrt Simon seinen Kumpel Mark, als sie einen Ausflug an einen altbekannten Ort machen und verlassen am Bahnsteig stehen. Die grässliche Nüchternheit nach einer durchzechten Nacht, Enttäuschung und ein Gefühl der Erschöpfung im Angesicht der „politischen und kulturellen Sterilität“ (Mark Fisher) unserer Tage bilden in „T2“ die treibende Kraft. Ab und an drängt „Born Slippy“ unscharf aus der Erinnerung dazwischen, mahnt an die Möglichkeiten, die zum Verrat wurden, weil sich Fortschritt heute mit Repetition, Upgrade und Update begnügt.

„T2“, dessen verkürzter Titel bereits offensiv mit der Lücke als Leere spielt, erzählt Geschichte als beständige Wiederholung des Immergleichen in minimal abgewandelter Form, weshalb die neuen Musikstücke, die Doyle in den Film einbindet, wie die alten klingen. „High Contrast“, „Fat White Family“, „Wolf Alice“ könnten in ihrer Einförmigkeit, in ihrer feigen Anbiederung an die Vergangenheit genauso gut aus einer Playlist der 80er oder 90er Jahre stammen, zu denen heute auf jeder Geburtstagsfeier ausgelassen getanzt wird, während in der Küche nebenan wie selbstverständlich gekokst wird. Großartig deshalb die Szene, in der die alte Junkiegang im Club zugedröhnt zu Queen tanzt, die das Radio besingen. Ringsherum nur Kids, die Radios wahrscheinlich bloß noch als Relikte längst vergangener Tage wahrnehmen und keine Verbindung zu der Musik haben, die da gespielt wird. Aber mitsingen können sie alle. Alles fließt hier ineinander.

Nur am Schluss wird es noch einmal surreal, wenn Mark sich von uns verabschiedet. Diesmal geht er jedoch nicht auf uns zu, sondern entfernt sich mit rasender Geschwindigkeit, verloren im Schwarz der Leinwand. Renton’s coming home, is coming home, die Enttäuschung darüber, dass nichts so geworden ist, wie es hätte sein können, umarmend. Am Ende steht der Verrat.

Chuckys Baby

(USA, RO, GB 2004, Regie: Don Mancini)

Glenda / Glen und der Rest der Bande
von Nicolai Bühnemann

Schon der Vorspann ist toll. In der ersten Einstellung fließt etwas über das Bild, das man für Milch halten könnte, doch es offenbart sich schnell, dass es sich um Sperma …

Schon der Vorspann ist toll. In der ersten Einstellung fließt etwas über das Bild, das man für Milch halten könnte, doch es offenbart sich schnell, dass es sich um Sperma handelt. Dass die CGI-Animationen von Spermien auf ihrem Weg zur Eizelle in den, mein Gott!, dreizehn Jahren, die dieser Film nun auch schon wieder auf dem Buckel hat, nicht wirklich vorteilhaft gealtert sind, tut der guten Idee dahinter keinen Abbruch. Auf dem Weg durch einen weiblichen Unterleib verbinden Match Cuts die Eizelle mit einem Auge, Chuckys Auge. Film als Befruchtung eines (männlichen) Auges. Schon hier reproduziert der Film nicht einfach das alte Machtverhältnis aus männlichem Blick und weiblichem Bild, sondern macht klar, dass das alles ein bisschen komplizierter ist.

Der erste „Child’s Play“ von 1988, zu dem Don Mancini die Story erdachte und auch am Drehbuch mitschrieb, war ein sehr effektiv, aber leider auch sehr perfide mit Kinder- und Mittelschichtsängsten spielendes Stück Genrekino. Je prekärer die weiße Mittelschicht, deren Perspektive der Film einnimmt, selbst ist, umso mehr soll sie Angst haben vor einem wie ein Krebsgeschwür in den Städten wuchernden Subproletariat, dessen absolute Verrohung in der Figur des Serienkillers Charles Lee Rays (Brad Dourif), dem es zu Beginn gelingt, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, indem seine Seele sich per schwarzer Magie aus seinem sterbenden Körper in den einer Puppe flüchten kann, nur eine konsequente Zuspitzung findet. Dieses Konzept ging damals so gut auf, dass bislang fünf Fortsetzungen folgten. Die Drehbücher zur Reihe stammen durchgehend von Mancini, was bedeutet, dass er auch das Revival der Serie durch „Bride of Chucky“, 1998 und somit sieben Jahre nach dem vorangehenden dritten Teil, verantwortete, das das Franchise für queere Lesarten öffnete. Daran knüpft „Seed of Chucky“ an, mit dem Mancini sein Regiedebüt vorlegte.

Gleich zu Beginn gibt er sich dabei als großer Stilist auf den Spuren von Hitchcock, De Palma und Carpenter (oder vielleicht genauer: auf den Spuren von De Palma und Carpenter, die ihrerseits auf den Spuren Hitchcocks wandelten). Jedenfalls beginnt der Film – wie „Halloween“, wie „Blow Out“ – mit einer langen Plansequenz in der subjektiven Perspektive der Titelfigur, in der das elegante Gleiten der Kamera immer wieder recht ruppig unterbrochen wird, gar nicht so elegante Umwege gegangen werden müssen. Die Ermordung eines Ehepaares, die diese Szene zeigt, endet unvermittelt damit, dass sich der kleine Killer in die Hose pisst – nur um sich dann als Albtraum des Protagonisten herauszustellen, aus dem er in den Albtraum hinein erwacht, der sein wahres Leben ist. Als vermeintliches Waisenkind fristet er ein tristes Dasein als Bauchrednerpuppe eines ziemlich fiesen Rocker-Rowdys in England.

Dann eröffnet der Film noch einen zweiten Schauplatz auf einem zweiten Kontinent. Auf einem Friedhof meucheln Chucky und Tiffany, das aus „Bride“ bekannte und schon dort ziemlich zerrüttete Mörderpuppenpärchen, auf gewohnt kreative Weise den Weihnachtsmann höchst persönlich bzw. eine seiner diversen – wie sich in einem Handygespräch mit seiner Freundin offenbart, mit allzu weltlichen Problemen belasteten – Inkarnationen. Doch wieder stellt sich das Geschehen als Illusion heraus, diesmal als Horrorfilmdreh, also als einer unserer synthetischen kollektiven Albträume. Mit diesem Twist gesellt sich zu den vielen filmischen Bezügen der ersten Einführungsszene noch der zu Wes Craven und namentlich zu seinem Meta-Slasher-Sequel „New Nightmare“, dem siebten Teil der „Nightmare on Elm Street“-Reihe von 1994.

Also befinden wir uns fortan in einer Meta-(Film-)Realität in Hollywood, wo gerade die killing spree von Chucky und Tiffany verfilmt wird und, nun ja, Hollywood-Stars wie Jennifer Tilly und der Rapper Redman sich selbst spielen. Die beiden Erzählstränge vom Beginn finden per Fernseher und Flugzeug zusammen und bald darf der Sohn (oder: die Tochter, dazu später mehr) seine Eltern wiederum zu blutrünstigem Leben erwecken, woraufhin Special Makeup Designer Tony Gardner (als er selbst) sehr spektakulär und sehr buchstäblich den Kopf verliert. Und wie immer trachten die Puppen danach, endlich wieder in einen menschlichen Körper zu gelangen, wofür sie sich das Pärchen Tilly und Redman auserkoren haben. Sie steckt in einem – wohl ziemlich chronischen – Karierretief und will es sich zunutze machen, dass er gerade seine Ambitionen als Regisseur entdeckt hat. Und wie könnte sich die durch lesbischen Filmsex bekannt gewordene Darstellerin besser neu erfinden als in der Rolle der Jungfrau Maria in dem Bibelfilm, den er drehen will. Beim Vorsprechen ist der Rapper zumindest von ihren äußeren Attributen überzeugt, was sie durch karrierefördernden Sex ausnutzen will. Dabei jedoch hegen Chucky und Tiffany ihren eigenen Plan, für den sie einen dritten Körper für ihr Kind benötigen, das, da das für Puppen charakteristische fehlende Genital eindeutige Schlüsse nicht zulässt, er für einen Jungen hält und Glen nennt, während sie davon überzeugt ist, dass es sich um ein Mädchen, Glenda, handelt.

Mancinis ziemlich durchgeknalltes Drehbuch tut gut daran, sich mit dem metafiktionalen Quatsch nicht allzu lange aufzuhalten und stattdessen auf Affektkino zu setzen, das gerade dadurch funktioniert, dass es immer wieder in reinen Camp kippt (einen Auftritt der queeren Kino-Ikone John Waters als schmieriger Paparazzo, dem ein besonders schmieriger Abgang beschert ist, inklusive). Das regelrechte Plot Twist-Gewitter der zweiten Hälfte soll hier nicht weiter verraten werden, es tut auch, obwohl es sicherlich seinen Anteil daran hat, dass der Film ist wie er ist, nicht viel zur Sache. Wohl aber bemerkenswert ist der Diskurs des Films um Geschlechteridentitäten und Fortpflanzung bzw. Mutterschaft. Was der Vorgänger bereits vorbereitete, kommt hier in einer Titelfigur, die weder männlich noch weiblich ist, sich mal eher für das eine, dann wieder für das andere Geschlecht entscheidet, zu voller Ausprägung. Die „Geschlechtslosigkeit“ Glen/Glendas kann indessen nur als eine „Vorgeschlechtlichkeit“ gedacht werden. Ein Subjekt, das sich den normativen binären Geschlechterzuschreibungen entzieht, ist für das Über-Ich der Eltern, insbesondere des Vaters, nicht hinnehmbar, es muss sich entscheiden, „richtig“ gegendert werden.

Indessen hat der Versuch der Eltern, ihr Kind dem Gesetz der Geschlechterbinarität entsprechend zu gendern, auch Einfluss auf ihr eigenes (Geschlechterrollen-)Verhalten. Wo Tiffany sich, um ihrer Verantwortung als Mutter gerecht zu werden, in Abstinenz von der Sucht des Mordens versucht, dabei sogar die Hilfe des Zwölf-Schritte-Programms in Anspruch nimmt, da die Meetings, die Selbsthilfegruppensitzungen, für sie wohl eher nicht infrage kommen, in Buchform, da generiert sich Chucky als der Macho, der sich hemmungslos gehen lassen, seinen mörderischen Impulsen freien Lauf lassen kann und sich schließlich auch als verdammt besitzergreifendes Alpha-Männchen herausstellt: „Nobody leaves me!“

Schon durch die Konstruktion des Plots spiegelt sich in dem Puppenpaar das menschliche von Tilly und Redman. Sie findet nach einer Nacht mit ihm, an deren genauen Verlauf sich beide nicht erinnern können, heraus, dass sie schwanger ist. Er weist jede Schuld von sich mit dem Hinweis, dass er schon lange eine Vasektomie bei sich habe vornehmen lassen. Zu dem Gender Trouble gesellt sich auch der Ärger mit dem Sex, wobei das Wort eben eine bestimmte Tätigkeit beschreibt, aber auch bei Judith Butler für das „biologische“, das „körperliche“ Geschlecht steht, in Abgrenzung eben zu dem sozial konstruierten Geschlecht „Gender“. Jedenfalls thematisiert der Film, in dem es auch noch um künstliche Befruchtung per Handpumpe geht, also auch männliche Verhütung, die durchaus ambivalent behandelt wird. Wo es auf der einen Seite löblich ist, dass die Empfängnisverhütung nicht alleine Frauensache ist, gibt sie dem Mann hier auch die Möglichkeit sich richtig auszutoben und hinterher die Sicherheit zu haben: „Ich bin nicht der Vater“. Die Empfangende hingegen hat größere Probleme, schon weil Männer (zumindest im Horrorfilm) manchmal richtige Arschlöcher sind: In seinem Film will Redman die Schwangere nicht mehr haben, weil sie nicht zu der Rolle passe, die heilige Jungfrau müsse nämlich „heiß“ sein. Es bewahrheitet sich für „Seed of Chucky“, gerade im Hinblick auf die eigentlich denkbar friedfertige Titelfigur, die sich dem ständigen Normierungsdruck durch sein Umfeld ziemlich hilflos ausgeliefert sieht, bis es ihr am Ende reicht und sie beweist, dass auf ihrem Arm nicht umsonst „Made in Japan“ steht, was Ivo Ritzer im Hinblick auf die Gialli Dario Argentos schrieb: „Der Schrecken liegt damit im Horror der Heteronormativität selbst.“

Übrigens ist „Seed of Chucky“ auch ein ziemlich fieser Familienfilm, genauer: ein Film über family values, was sich von dem Schnappschuss mit Papa, Kind und verätzter Waters-Leiche bis zum ziemlich deliranten Ende durchzieht. Das jedoch genauer aufzuschlüsseln und zu analysieren wäre wohl der Gegenstand einer anderen eigenen Kritik.

Logan

(USA 2017, Regie: James Mangold)

Alte Männer danken ab – Re-/Generationswechsel im Popkultur-Refugium
von David Auer

Wie der zweite ist auch der dritte Wolverine-Standalone von einem Regisseur, der wie ein Gemüse heißt, sich an gore aber nicht satt sehen kann. War es James Mangold in „The …

Wie der zweite ist auch der dritte Wolverine-Standalone von einem Regisseur, der wie ein Gemüse heißt, sich an gore aber nicht satt sehen kann. War es James Mangold in „The Wolverine“ (2013) aufgrund des PG-13-Ratings nicht möglich, seine Gelüste gar so arg auszuleben, darf er es diesmal umso mehr. Dass animalische Wutausbrüche in Kombination mit Metallkrallen und Unverwüstlichkeit ein Gemetzel veranstalten, das sich nun auch explizit auf der Leinwand in allen brutalen Details präsentiert, ist bestimmt zum Teil auf den Erfolg von „Deadpool“ im letzten Jahr zurückzuführen. Nach dem Nolanschen dark & gritty und der Whedonschen Schmunzel-Ironie kann – und im weiteren Verlauf wohl auch: muss – Comicblockbuster nun also auch „John Rambo“ (2008). An den erinnert nicht allein der simpel gehaltene Titel: der body count in „Logan“ ist ähnlich hoch wie der body des Actionstars arg ramponiert. Hugh Jackmann (in Liebhaberkreisen auch huge jacked man genannt), der den titelgebenden X-Mann spielt und hier ein bisschen so aussieht wie das wandelnde R-Rating Mel Gibson, hat, ähnlich wie Stallones Mordmaschine, genug vom Kampf, der ohnehin schon verloren ist. Ein Leben an der Front beschädigt, und das sieht man dem Körper des Wolverine an: übersät von Narben ist klar, dass seine Mutantenkräfte sich im Schwinden befinden. Weder haut es mit der Regeneration mehr so richtig hin noch mit den Adamantiumklingen, die er manchmal nur zur Hälfte ausfahren kann. Der Verlust seiner Virilität und die drohende Impotenz legen nahe, dass nicht nur er, sondern sein Typus den Zenit bereits überschritten hat.

Nichts anderes gilt für Professor X, den der schleichende Wahnsinn in Form der Demenz plagt. Seine immensen geistigen Fähigkeiten werden durch die Krankheit unkontrollierbar und er von der Regierung als Weapon of Mass Destruction eingestuft. Ein Grund, warum er sich verstecken und seine gemütliche School for Gifted Youngsters gegen einen ausrangierten, verrosteten Wasserturm in der mexikanischen Wüste tauschen muss (der nicht zufällig an die Reste des sphärischen Kräftemultiplikators namens Cerebro erinnert). Dort wird er von Logan mit Medikamenten versorgt und von einem in der Erscheinung stark an Nosferatu erinnernden Mutanten, der noch dazu allergisch gegen Sonnenlicht ist, sorgsam aber genervt umhegt.

Das prekäre Dasein in der schrulligen assisted living-WG und das Ruinen-Setting lassen schon erahnen, in welcher Zeit „Logan“ angesiedelt ist: Nein, nicht heute, wo immer mehr Menschen weder fähig noch finanzstark genug dazu sind, alleine zu wohnen, sondern recht weit nach dem letzten X-Men-Film, also nach der Apocalypse. Als drohende ermöglichte sie im insgesamt neunten Ableger des Franchise das Bündnis zweier rivalisierender Parteien, als bereits passierte hat sie im zehnten jeglichen Zusammenschluss gesprengt. Im größeren Stil wäre eine solche Allianz ohnehin nicht mehr möglich, denn so wie die Kraft der Alten schwindet auch die Mutantenpopulation insgesamt. Aber eine neue kommt nach, diesmal im Labor gezüchtet. Als sich die Kids aber zu störrisch geben, wechselt der Konzern, der sie als biologische Waffen zum Einsatz zu bringen beabsichtigte, gleich ins Klon-Business, was heißt, die fehlgeschlagenen Experimente mit zu viel Eigensinn wieder abzubrechen. Dem Tod entronnen, findet sich ein Retortenmutanten-Mädchen, das dieselben Fähigkeiten wie Wolverine und sogar ein Adamantiumskelett besitzt, in seiner Obhut wieder. Gemeinsam mit Prof. X brechen sie, stets auf der Hut vor ihren Verfolgern, auf Richtung Norden, wo es ein Freakrefugium namens Eden geben soll.

Das kennt das Mädel nur aus (noch dazu X-Men-)Comics, die hier als Medium der Wahrheitsfindung so explizit ins Bild kommen wie spritzendes Blut, abgetrennte Extremitäten, klaffende Wunden sowie Körper und Gesellschaft im Zerfall. Wie die X-Men-Filme bisher wartet also auch „Logan“ mit allerlei Allegorischem auf: verstoßene Aliens auf der Suche nach einem safe space up north, fliehend vor marodierenden Mordbanden in einer wüsten Welt, auf der es keinen Platz mehr für sie zu geben scheint, außer die Scheinidylle, die sie aus der Popkultur kennen, wie wir auch ass kickende Hit-Girls und von Comics inspirierte Möchtegernhelden. The nerds may have already inherited the world, die woke youngsters sind gerade erst dabei.

Das Ermüden des der Regenerationsfähigkeit der Zivilisation tendenziell zuträglichen Antagonismus zwischen zum Beispiel konfrontationssüchtigen Radikalinskis und pazifistischen Reformisten gebiert eine postapokalyptische Gesellschaft, die bereits in balkanisierte Gemeinschaften zerfallen ist, und in der allein die größere Niederträchtigkeit über Sieg und Niederlage, mittlerweile nur mehr ein Scheindualismus, entscheidet. Das fängt „Logan“ so prägnant und zwiespältig zugleich ein, wie er viele virtuos inszenierte und choreographierter Bilder für das Falsche im Falschen findet, das dafür noch lange kein Richtiges ergibt. Gegen Gewalt scheint nur noch Gegengewalt zu helfen, wogegen sich die Alten mit nostalgischen Verklärungen und die Jungen durch Einsatz von hippen Insignien der Kultur helfen. Dass es abseits von Slacktivisten und professionellen Begriffsverwirrern tatsächlich noch Menschen gibt, die sich nicht aussuchen können, ob sie nun böse Wörter und Bilder hören bzw. sehen oder sich in böser Absicht vor den Kopf knallen wollen, sondern ums Überleben kämpfen, davon gibt der Film so sehr eine Ahnung wie davon, dass Nomadentum oder prekäres Hausen in der Zwangsgemeinschaft für die meisten keine bloße Option im Lifestyle-Katalog ist.

Gleich vieler Wunden bleibt auch „Logans“ Ende offen; das Grab am Kreuz wird zum X, den Glauben an Gott und Jenseits will er ersetzt wissen durch einen an Pop und Diesseits. Anstatt allerdings eine frohe Botschaft zu verkünden, lässt er in Schwebe, ob es für Errettung nicht vielleicht schon zu spät ist. Das Franchise braucht diese nicht, zeigen allerlei geplante Spin-offs und Fortsetzungen von „X-Men: The New Mutants“ bis zum siebten Hauptfilm doch an, dass der Kampf auf der Leinwand noch lange nicht vorbei ist.

Moonlight

(USA 2016, Regie: Barry Jenkins)

Keine Kompromisse
von Marit Hofmann

Am Anfang erklingt der Soulsong ‚Every Nigger is a Star‘ aus dem Autoradio eines Dealers. Doch Stars sind hier weder die schwarzen Hauptdarsteller noch die Figuren, die sie spielen. Und …

Am Anfang erklingt der Soulsong ‚Every Nigger is a Star‘ aus dem Autoradio eines Dealers. Doch Stars sind hier weder die schwarzen Hauptdarsteller noch die Figuren, die sie spielen. Und Weiße sieht man gar nicht in diesem Miami, in dem Chiron bei seiner cracksüchtigen Mutter aufwächst.

„Moonlight“ ist eine nichtweiße, queere und prekäre Version von Richard Linklaters Langzeitprojekt „Boyhood‚, das seinem Middleclass-Protagonisten zwölf Jahre lang beim Großwerden in einer Patchwork-Familie zusieht und im Vergleich wie ein Kindergeburtstag wirkt (zumal wenn man Linklaters tumbes Collegejungsgelage „Everybody Wants Some!!“ als Fortsetzung versteht).

Für das mit männlicher Identität hadernde Mobbingopfer Chiron, das drei Schauspieler in verschiedenen Altersstufen verkörpern, ist es schon ein Glück, eine Art Ersatzvater zu finden – auch wenn der sich als Dealer der eigenen Mutter entpuppt. Dieses kleine Leben inszeniert Barry Jenkins, der sich von Tarell McCraneys Drama „In Moonlight Black Boys Look Blue“ an seine eigene Kindheit erinnert fühlte, nicht als neorealistisches Sozialdrama, sondern ganz groß: in Cinemascope, warmen Farben, psychedelischen Traumbildern, mit einer anschmiegsamen Kamera und einem eleganten Soundtrack, der aber die Verhältnisse nicht beschönigt. Die Obama-Ära habe ihn zu einem kompromisslos subjektiven Blick auf schwarze Erfahrung ermutigt, der nicht auf ein weißes Publikum schielt, sagt Jenkins über seinen Überraschungs-Oscar-Kandidaten.

Nur die Szenen am Meer stehen für Aufbruch: wenn Juan, der Dealer, seinem Schützling nicht nur Schwimmen beibringt, sondern auch ein wenig Selbstvertrauen und die Wellen sanft die Kameralinse umspülen; wenn Chiron die erste sexuelle Erfahrung mit einem Schulfreund macht; wenn er ihn schließlich viele Jahre später besucht. Jenkins geht es nicht um dramatische Höhepunkte, sondern um subtile Gesten und Blicke, die das Geschehen im Innern der Figuren offenbaren, intime Momente, in denen der misstrauisch abwartende Blick, den alle drei Darsteller Chirons stumm beherrschen, einem Anflug von Vertrauen weicht.

Einmal sieht man die in ein unheimliches rotes Licht getauchte Mutter den zarten Jugendlichen anbrüllen, hört sie aber nicht. Später wiederholt sich die Szene, nun mit Ton – ein Alptraum, aus dem der erwachsene Chiron erwacht. Der schlaksige Junge hat sich in einen getuneten Muskelmacker verwandelt, der immer noch kaum mehr als zwei Worte am Stück herauskriegt, aber im Zweifel eine Waffe sprechen lässt, wenn es sein Dealerjob verlangt. Seine wahre Identität hat er gut verborgen, doch der Mond und das Meer bringen sie ans Licht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

Der junge Karl Marx

(FR, DE, BE 2016, Regie: Raoul Peck)

Glück des Aufbegehrens
von Wolfgang Nierlin

In einem lichtdurchfluteten Wald sammeln arme Leute sogenanntes „Raffholz“, also abgestorbene Äste und morsche Zweige. „Vom Eigentum getrenntes Eigentum“ nennt das eine Stimme aus dem Off, die dem jungen Karl …

In einem lichtdurchfluteten Wald sammeln arme Leute sogenanntes „Raffholz“, also abgestorbene Äste und morsche Zweige. „Vom Eigentum getrenntes Eigentum“ nennt das eine Stimme aus dem Off, die dem jungen Karl Marx gehört. Um Diebstahl handelt es sich dabei hingegen für die Besitzer des Waldes, die ihre berittenen Schergen aussenden, damit diese die Holzsammler brutal bestrafen. Mit Berufung auf Montesquieu prangert der unerschrockene Marx (August Diehl) in seinem Artikel für die Rheinische Zeitung diese Praxis als Ungerechtigkeit an. Kurz darauf wird deren Redaktion in Köln von der Polizei gestürmt und der kritische Journalist verhaftet. Es ist das Jahr 1843, die industrielle Revolution verändert einschneidend die Arbeitswelt, in den Städten entsteht das sogenannte Proletariat und die Redakteure befinden sich in einem heftigen Disput über das Maß ihres politischen Widerspruchs. Dass Karl Marx in seiner Opposition der radikalste unter ihnen ist, entspricht in der filmischen Darstellung der Logik von Kinohelden.

Mit der ebenso kunstvollen wie plakativen Engführung der Motive in der Exposition seines Films „Der junge Karls Marx“ skizziert Raoul Peck ziemlich präzise die Umrisslinien zukünftiger Konflikte. Konzentriert auf die Jahre bis zur Revolution von 1848, portraitiert der renommierte Regisseur seinen international vernetzten Protagonisten im Ringen um eine theoretisch fundierte Praxis revolutionären Handelns. Dass der selbsterklärte, nach einer humanen Gesellschaft strebende Materialist sich in seinem Pariser Exil dabei in Kontroversen mit dem von Anarchisten flankierten Sozialphilosophen Proudhon (Olivier Gourmet) und dem volksnahen Charismatiker Weitling (Alexander Scheer) verstrickt, versteht sich fast von selbst. Doch auch seine Begegnung mit Friedrich Engels (Stefan Konarske) im Haus des Verlegers Arnold Ruge, dem Herausgeber der Deutsch-Französischen Jahrbücher, ist zunächst von Rivalität geprägt. Bis sich der kämpferische Marx, der stets knapp bei Kasse ist, und der dandyhafte Fabrikantensohn Engels, der das soziale Elend aus eigener Anschauung kennt, sich mit wechselseitigen Schmeicheleien schließlich ihrer gegenseitigen Wertschätzung versichern.

Raoul Peck inszeniert das in einer Mischung aus jugendlichem, von Alkohol befeuerten Überschwang und leidlichem Humor. So schnell wie die beiden zu Freunden werden, so schnell sind sie sich darin einig, die Welt nicht mehr länger nur interpretieren, sondern durch Taten verändern zu wollen. Marx‘ aus einer adligen Familien stammende, nicht minder freiheitsliebende Ehefrau Jenny (Vicky Krieps) liefert dafür die Stichworte. Es gebe „kein Glück ohne Aufbegehren“, sagt die bald darauf zweifache Mutter und fordert ironisch die „Kritik der kritischen Kritik“. Engels‘ Konflikt mit der selbstherrlichen Autorität seines Vaters, der Blick in die Elendsbaracken leidgeprüfter Arbeiter in Manchester sowie Marx‘ Auseinandersetzung mit dem „Bund der Gerechten“, aus dem später der „Bund der Kommunisten“ hervorgeht, illustrieren mit gängigen filmsprachlichen Klischees den Weg zur Aktion. Der Aufruf zum (gewaltsamen) Kampf und das Erscheinen des „Kommunistischen Manifests“ bilden gewissermaßen die Vorhut zur Revolte. Deren Aktualität beschwört Raoul Peck schließlich im Abspann des Films, indem er dokumentarische Bilder von unterschiedlichen Protesten mit Bob Dylans „Like a Rolling Stone“ unterlegt.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Der junge Karl Marx‘.

Certain Women

(US 2016, Regie: Kelly Reichardt)

Äußere Ferne, innere Verlassenheit
von Wolfgang Nierlin

Aus der Tiefe der weiten, von hohen Bergen begrenzten Landschaft kommt ein langer Güterzug und schlängelt sich durchs Bild, das in seiner bleichen Farbigkeit wie gemalt aussieht. Ruhig und konzentriert …

Aus der Tiefe der weiten, von hohen Bergen begrenzten Landschaft kommt ein langer Güterzug und schlängelt sich durchs Bild, das in seiner bleichen Farbigkeit wie gemalt aussieht. Ruhig und konzentriert in einer statischen Einstellung auf 16-mm-Film aufgenommen, erinnert das an James Bennings experimentellen Eisenbahnfilm „RR“. Durch die dichte Wolkendecke fällt milchiges Licht, während eine gedämpfte Radiostimme von der Sonne als einem „vernebelten Fleck am Himmel“ spricht. Es ist Winter und ziemlich kalt in Livingston, einer Kleinstadt im dünn besiedelten US-Bundesstaat Montana, wo Kelly Reichardts neuer Film „Certain Women“ spielt. Wie in ihren vorherigen Arbeiten gibt es auch diesmal eine starke Wechselwirkung zwischen dem Lebensraum und seinen Bewohnern, zwischen äußerer Ferne und innerer Verlassenheit. Und erneut erzählt Reichardt in den drei Episoden ihres nach Kurzgeschichten von Maile Meloy entstandenen Films mit einem realistischen, nahezu undramatischen Gestus.

Durch Orte und Berufe nur lose in einer Art flüchtigen Berührung verbunden, folgen die Geschichten und ihre jeweiligen Epiloge nahtlos aufeinander. Dabei hat das Übergangslose, vor allem aber das Sukzessive von Kelly Reichardts Erzählkunst Methode. Denn ihr gedrosselter, umso spannendere Informationsfluss produziert keinen dramatischen Überschuss für aufgesetzte oder vorgeformte Konflikte, sondern setzt auf die geduldige Mitarbeit des involvierten Zuschauers. Dieser kann weder eine übergeordnete zentrale Perspektive übernehmen noch sich einer zielgerichteten erzählerischen Bewegung überlassen. Reichardts Interesse für Nebensächliches und genau beobachtete Details favorisieren vielmehr das Fragmentarische und die raum-zeitliche Ausdehnung zwischen dem scheinbar Unverbundenen, das seine Gestalt durch teilnehmende Beobachtung findet.

Dabei sind Kelly Reichardts Geschichten aus der Ferne unspektakulär und alltäglich. In ihnen ist eine gewisse Desillusionierung immer schon konstitutiv: Menschen mit vagen Träumen, die sich nicht verwirklichen lassen, sehnen sich nach etwas, was vermutlich nicht erreichbar ist. Die einsame Pferdepflegerin Jamie (Lily Gladstone) etwa, die in den Wintermonaten allein eine abgelegene Farm betreut, verliebt sich unglücklich in die junge Anwältin Beth (Kristen Stewart), die in dem kleinen Ort Belfry einen Kurs über Schulrecht gibt. Weil ihre Anfahrt von Livingston aber vier Stunden dauert und sie noch einen anderen Job hat, ist sie gestresst, übermüdet und frustriert, was wiederum im Kontrast steht zu Jamies gleichmäßiger, ausgeglichener Arbeitsroutine mit den Tieren. Als Beth ihren Dienst quittiert, spiegelt die räumliche Distanz Jamies emotionale Enttäuschung.

Einmal berührt sich ihre Geschichte mit derjenigen von Laura (Laura Dern), die als Anwältin in Livingston einen schwierigen Klienten betreut. Nach einem schweren Arbeitsunfall hat sich dieser durch einen Vergleich um die Möglichkeit einer Schadensersatzklage gebracht und leidet nun unter einem Gefühl der Ungerechtigkeit. Doch eigentlich ist er einsam und verloren und beansprucht deshalb über Gebühr seine Anwältin, die schließlich vermittelt, als er zum Geiselnehmer wird. Die Ohnmacht des Scheiterns führt hier geradewegs in eine Sprachlosigkeit, die auf andere Weise auch das Zusammenleben von Ginas (Michelle Williams) Kleinfamilie mit Mann und pubertierender Tochter grundiert. Diese plant einen Hausbau auf einem entlegenen Grundstück im Wald. Doch die Symbole des Zusammenhalts wirken provisorisch und äußerst fragil. Und vor allem aus der gegenüber ihrer Familie misstrauischen Gina spricht eine tiefe, von Unzufriedenheit und Entfremdung genährte Einsamkeit, die schließlich in der winterlichen Landschaft ihren Resonanzraum findet.

Kong: Skull Island

(USA 2017, Regie: Jordan Vogt-Roberts)

Nicht King, nicht Fleisch, aber viel Fell, viel Hass und Ping Pong
von Drehli Robnik

Affengeil, das war einmal. Alle bisherigen King Kong-Filme Hollywoods ließen den titelgebenden Primaten nicht nur New Yorker Türme besteigen (1976 das World Trade Center, ja, genau jenes; 1933 und 2005 …

Affengeil, das war einmal. Alle bisherigen King Kong-Filme Hollywoods ließen den titelgebenden Primaten nicht nur New Yorker Türme besteigen (1976 das World Trade Center, ja, genau jenes; 1933 und 2005 das Empire State Building), sondern spielten dem Gorilla auch jeweils ein Girl in die Hände. Vor zwölf Jahren bettete Peter Jacksons bombastische Dreistunden-Version deren interspezielle Erotik in Revuen obszönen Fleisches ein.

Im neuen Kong-Film gibts nun statt Fleisch Fell, und zwar viel – Kong ist höher und aufrechter als zuletzt, weiterhin fliegenumflort, aber immer grumpy und im Dienst, kein Mann für Flirt oder Fun. Und es gibt in ‚Kong: Skull Island‘ (der Film spielt nur ebendort) viel Knochen, an diversen imposanten Nebenmonstern, sowie als ein veritables Affenskelett-Ambiente, in dem eine der furiosen Actionszenen abläuft.

Regienewcomer Jordan Vogt-Roberts macht alles recht gut (und ab und zu sogar etwas ‚groß‘). Nix ist hier geil oder grauslich, alles eher pittoresk denn grotesk, flott erzählt ohne viel Buildup, mit Rot im Bild, Rock im Score, Rhythmus in der Animation, sowie mit Freude an dem multiethnischen Typenensemble, das in parallelen Erzählsträngen durch die Insel irrt: Militär, Öko-Freaks, Wissenschaftler, ein Abenteurer, Brie Larson als Fotografin. Sie darf Kong kurz ans Fell fassen.

Der Film hat keine ‚Vision‘: Sein Kong ist keine Sozial- oder (wie in Jacksons Film-im-Film-Barock) Kino-Allegorie. Zwar wird hier viel durch Foto- und Schmalfilmkamera-Objektive geguckt, doch das ist – wir schreiben 1973 – Teil eines Spiels mit heute hipper Retrotechnik für daheim (Schallplatte!) und Teil eines ortsversetzten Vietnamkriegsfilms: Bildermachen ist besser als Ballern, die Kamera cooler als die Knarre, das scheint der Film – auch im Plot mit John C. Reilly als Air Force-Pilot, der seit 1944 auf der Insel festsitzt – uns sagen zu wollen, und dass Krieg irgendwie irr ist (und die Erde nicht der vernichtungsfreudigen Spezies gehört). Apocalypse Now‚ lässt laut grüßen: Da ist Pyropanorama, Helicopterballett vor glühender Sonne, ein redseliger Freak unter Stammesvolk und vor allem ein an Colonel Kilgore erinnernder Kommandant, der väterlich, aber gaga ist: Er will Napalm am Abend und Rache am Affen. Samuel L. Jackson spielt ihn stark, wechselt böse, in extremer Großaufnahme zornig glühende Blicke mit Kong.

Diese forcierte Parallelisierung zwischen dem Affen und einer der menschlichen Figuren, konkret: einem African American als Ahab-Avatar, tritt hier an die Stelle der erotischen heterosexuellen Bindung des Monsters. (Wird Kong zum ‚weißen Wal‘, dann fällt die ‚weiße Frau‘ weg.) Dazu passt, dass der Film zwar zwei wutschnaubende, allzu gewaltaffine, aber fürsorgliche, sprich: zutiefst ambivalente Alphamännchen gleichen Ranges hat, aber auffallenderweise keinen designierten King. ‚Kong: Skull Island‘ ist der erste King Kong-Film, der das monarchische Attribut im Titel weglässt. (Dafür heißt die Cold War-Forschungseinrichtung, die sich auf die Suche nach Riesenwesen macht, Monarch.) Sollte dies das frühe Beispiel eines Fast-schon-Trump-Ära-Blockbusters sein, der noch kein eindeutiges bzw. der ein zutiefst zwiespältiges und von ihrer symbolischen Implementierung getrenntes Bild einer männlich (aber nicht königlich) verkörperten souveränen Macht zeichnet? (Dazu würde passen, dass hier ein kriegsverliebter Führer denunziert, das Militär in seinen Solidaritäts-, Bubenpathos- und melting pot-Ritualen jedoch nicht angetastet wird, sondern als eine Art Kontunitätsgarant fungiert. Und: Der vergessene pazifische Stamm, dessen angebeteter Schutzherr Kong hier ist, tritt auf Skull Island als ostentativ weiß (körperbemalt) auf, übrigens auch als beinah philosophisch stumm – im Unterschied zu Jacksons Film, der in den Stammes-Szenen rassistische Klischees von der wilden Dämonie dunkler Kontinente in düsteren Bildern voller Gebrüll und Zaubersprüche ebenso ausgestellt wie bloßgestellt hatte.) (Obwohl: Trumps Klientel mag vorwiegend weiß sein, stumm ist sie nur in ihrem Selbstbild als silent majority.) (Außerdem: Soviel Fell wie Kong hätte Trump gerne.)

Gegen Ende des Films, wenn die Überlebenden abziehen, erklingt unvermittelt die alte Ballade ‚We´ll Meet Again‘. Das ist doppelt schamlos. Zum einen ‚gehört‘ dieses Lied dem Abspann von Stanley Kubricks ‚Dr. Strangelove‘ (auch das ein Film, der die Verknüpfung von Kriegstechnologie und irrer Männlichkeit groß ins Bild brachte). Wer das zitiert, hat viel vor. Zum Beispiel – wenn schon der King nicht zum Kong kommt – Ping Pong spielen mit einem anderen (noch besseren) Monster Movie-Reboot, dem Godzilla‚ von 2014, der ebenfalls in seinem Bild soldatischen Handelns ambivalent war – amerikanischer Krieg ist halb Rausch, halb Rettung – und der dabei ebenfalls auf ‚Kubrick-Musik‘ zurückgriff: Das Thema ‚Requiem‘ von György Ligeti, das seit Dekaden mit den Erscheinungen des schwarzen Monolithen in ‚2001 – A Space Odyssey‘ assoziiert ist, untermalte bei ‚Godzilla‘ die tolle Fallschirmsprungszene und den Trailer. (Übrigens: ‚Godzilla‘ hatte eine ‚Vision‘, nämlich das durchgängige handlungsethische Motiv der Absence, des Blackouts, des Ohnmachts-Anfalls, Ton-Ausfalls und in Staub aufgelösten Bildes.) (Und der Vorgängerfilm seines Regisseurs Gareth Edwards, Monsters‚, war die bessere antikoloniale, antirassistische ‚Apocalypse Now‘-Variation.)

Schamlos ist das ‚We´ll Meet Again‘ zum anderen auch deshalb, weil es so direkt, mit dem Affenarsch ins Gesicht, darauf hinweist, dass wir hier dem Auftakt eines Franchise-Stranges beigewohnt haben. Eh klar. Wer bis nach dem Ende des Abspanns sitzenbleibt, wird nicht nur sehr direkt auf ebendiesen Umstand hin angesprochen, sondern erfährt auch, dass er oder sie noch diverse Franchise-Fusionen zwischen Kong und besagtem 2014er Godzilla und seiner Gang aussitzen wird dürfen. Geht OK, Kong: So long!

Big Bad Man

(USA 1989, Regie: Carl Schenkel)

Tiefenentspannt durch Jamaika
von Nicolai Bühnemann

So viel vorab: „The Mighty Quinn“ ist mitnichten ein schlechter Film. Dass er für mich trotzdem eine – wenn auch eher kleine – Enttäuschung darstellt, liegt einzig und alleine am …

So viel vorab: „The Mighty Quinn“ ist mitnichten ein schlechter Film. Dass er für mich trotzdem eine – wenn auch eher kleine – Enttäuschung darstellt, liegt einzig und alleine am Namen seines Regisseurs: Carl Schenkel. Die Begeisterung, die bei den drei anderen Filmen, die ich von ihm kenne, Besitz von mir ergriff, stellte sich hier dann doch nicht so recht ein.

Dabei sieht man dem Film durchaus an, dass sein Regisseur der begnadete Stilist ist, den man in Schenkel spätestens seit „Abwärts“ erkennen musste, der sich aber auch schon in den unendlich roughen, rohen Bildwelten von „Kalt wie Eis“ ankündigte. Die Einführung des Protagonisten ist eine Wucht: Die Kamera gleitet von seinen Füßen, überlebensgroß im Bild, an seiner verdammt schicken weißen Uniform empor und kommt schließlich auf dem Gesicht Denzel Washingtons zum Stehen, dessen Augenpartie von einer schwarzen Ray Ban-Sonnenbrille verdeckt wird. Wenig später wird von der Hochzeitsparty, auf der Quinn (Washington) sich zu Beginn befindet, und die das Geschehen des Films unschwer (und schon an den schönen Credits in Schwarz-Gelb-Grün) erkennbar in Jamaika verortet, auf den Leichenfund im Whirlpool einer Villa geschnitten. Aus dem Off erhallt dazu ein Frauenschrei, der sich nach einem weiteren Schnitt als Teil der Vocals des Vorspann-Songs entpuppt: „Guess who’s coming to dinner, Natty Dreadlocks“.

Die Figur Quinn, der aufrechte Polizist, der sich vor den Aufwartungen von Frauen verschiedener Hautfarbe kaum retten kann, der sozial tief in der Community, in der er lebt und arbeitet, verwurzelt ist (so verbindet ihn zu dem Kleinkriminellen Maubee (Robert Townsend), der bald unter Mordverdacht gerät, eine lebenslange Freundschaft) und dem bald klar wird, dass hinter dem Mordfall, in dem er ermittelt, mehr steckt als der erste Blick offenbart, es sich um ein großes (und internationales) Komplott handelt, hat ihre Wurzeln eher im in den Siebzigern florierenden Blaxploitation-Kino als in dessen weißen Vorbildern um James Bond und Co. Nur leider wird der Film dieser Referenz ans Genre-Kino der ja auch gerne mal etwas härteren Gangart kaum gerecht, bleiben Film und Figur hier relativ brav, was sich zum Beispiel schon in der strikten Monogamie Quinns offenbart. Der ist nämlich ein familiy man, der sich, auch wenn seine Ehe den ganzen Film über in einer ziemlichen Krise befindet (wie es Polizistenehen im Film nun einmal so an sich haben – immer aus den gleichen Gründen), den Verführungsversuchen verschiedener Frauen widersteht. Shaft wäre das nicht passiert.

Das Jamaika, in dem der Film spielt, bleibt eine überwiegend touristisch gefärbte Welt aus Reggae und Rum, Joints und Dreadlocks, Bounty-Stränden und farbenfroher Kleidung. Es ist nicht so, dass der Film sich dabei gänzlich unreflektiert geben würde. Die koloniale Vergangenheit wird nicht nur in einem Dialog zwischen Quinn und seinem Sohn explizit angesprochen, sie lebt auch in der Verteilung des Wohlstands zwischen Schwarzen und Weißen fort. Auch wird der Wert, den die Karibikinsel für die Tourismusbranche hat, in einem Dialog verhandelt, in dem ein Politiker von Quinn verlangt, die kriminellen Machenschaften möglichst schnell einzudämmen, damit die Touristen- und mit ihnen einhergehenden Geldströme nicht versiegen mögen. Dennoch ist das Problem von „The Mighty Quinn“ auch hier seine Geschmackssicherheit, dass er zwar, das belegt auch der deutsche Titel „Big Bad Man“, auf Exploitationvorbilder verweisen, aber mitnichten selbst Exploitation sein will. Ein Vergleich, der zeigen könnte, was das für ein Film sein könnte, wenn er denn wollte bzw. es seine Produktionsverhältnisse zulassen würden, ist der zu Ugo Liberatores leider vollkommen vergessenem „Bora Bora“ von 1968, der den Exotismus seiner Südsee-Postkarten-Panoramen in Cinemascope und Technicolor nicht nur gnadenlos ausstellt, sondern auch durch die Düsternis seines Plots konterkariert, durch den die kolonialistischen Neurosen und Phantasmen spuken, dass es nur so eine Art hat. „The Mighty Quinn“ bleibt dagegen einfach nur nett, was im Angesicht der Dringlichkeit, die Schenkels Vorgänger auszeichnete, eben etwas wenig ist.

Allerdings: Als kleine Utopie hat dieses Jamaika dann durchaus auch seinen Wert. Von der Tiefenentspannung, die diese Insel und ihre Bewohner hier auszeichnet, wird der ganze Film angesteckt, in dem es zwar etwas Action, Ehekrisen und böse weiße Ausbeuter gibt, der sich davon aber mitnichten aus der Ruhe bringen lässt, sondern lieber die Füße hochlegt, den tollen Reggae-Soundtrack aufdreht und einen Schluck aus der Rumflasche nimmt. Auf welcher Seite des Gesetzes man hier landet, ist auch ein bisschen eine Sache des Zufalls, was auch bedeutet, dass es einen nicht daran hindert, Freunde zu bleiben. So wie Quinn und Maubee. So wie der Gefangene in der Zelle des örtlichen Polizeipräsidiums, der mit den Beamten, die ihn bewachen, gemeinsam scherzt und auch mal ein Bier von ihnen abbekommt.

Where to, Miss?

(D 2015, Regie: Manuela Bastian)

Selbstbestimmte Autofahrt
von Jürgen Kiontke

Rumstehen, fahren, rumstehen – Taxi fahren ist langweilig? Nicht mit Devki: Die will nicht nur endlich den Führerschein machen, sondern auch von ganzem Herzen Leute von A nach B befördern. …

Rumstehen, fahren, rumstehen – Taxi fahren ist langweilig? Nicht mit Devki: Die will nicht nur endlich den Führerschein machen, sondern auch von ganzem Herzen Leute von A nach B befördern. Und das in Delhi, einer Stadt, in der sogar selbstbewusste Frauen abends oft nur in Begleitung von Männern unterwegs sind. Devkis großes Vorbild ist Chandni: Die hat die Prüfung schon bestanden und kutschiert munter durch die Straßen.

Für Leute wie Devki gibt es die Initiative „Women on Wheels“. Hier kann sie ihre Ausbildung machen. selbstständig sein. Das Ziel: finanzielle Unabhängigkeit. Außerdem können andere Frauen so nachts etwas sichererer unterwegs sein – wenn sie von einer Frau gefahren werden. Im Wagen sitzen – im Indien dieser Tage ein Kampf um die Rechte der Frau.

Begleitet wird Devki dabei von Regisseurin Manuela Bastian. Die deutsche Filmemacherin nimmt in ihrem ersten abendfüllenden Kinofilm „Where to, Miss?' Gewalt und Unterdrückung von Frauen in Indien aufs Korn. Nicht um gewalttätige Schauwerte zu generieren, sondern um die mutigen Frauen in den Mittelpunkt zu stellen. Denn Delhi ist ein gefährliches Pflaster für sie. Immer wieder kommt es zu Massenvergewaltigungen – wie etwa 2012, als die Studentin Jyoti Singh Pandey an der brutalen Misshandlung durch sechs Männer starb. Danach wurde es nicht besser. Die Polizeistatistik der Jahre 2012 bis 2015 wartet mit brisanten Zahlen auf: Im Schnitt wurden vier Frauen pro Tag in der indischen Hauptstadt vergewaltigt – ein Anstieg um das Dreifache. Und der diesjährige Amnesty-Report hat für 2014 indienweit 322.000 Verbrechen gegen Frauen gezählt, darunter 37.000 Fälle von Vergewaltigung. Dort heißt es, die Frauen schreckten oft davor zurück, sexuelle Gewalttaten anzuzeigen, da sie Stigmatisierung und Diskriminierung durch Polizei und Behörden befürchteten.

Kein Wunder, dass Bastian mit ihrem Film gleich den Deutschen Menschenrechts-Filmpreis 2016 in der Kategorie Hochschule gewonnen hat, der ihr am 10. Dezember 2016 in Nürnberg verliehen wurde. „Ich möchte mehr Verständnis erzeugen für die Frauen, die dem gesellschaftlichen Druck nicht Stand halten und denjenigen Mut machen, die den Kampf aufnehmen“, sagt Bastian.

Eine Hürde ist zunächst die eigene Familie. Im Prinzip, so Bastian, habe sie ein indisches Sprichwort verfilmt: „Eine Frau gehört zuerst ihrem Vater, dann ihrem Ehemann und zuletzt ihrem Sohn.“ Denn so gut wie bei Chandni, die von ihrer Familie in ihren Plänen unterstützt wird, läuft‘s bei Devki nicht. Bastian folgt ihrer Protagonistin mit der Kamera durch ihre Rollenfächer – als Tochter, Ehefrau und Mutter. Als zukünftige Taxifahrerin fällt sie in allen dreien durch: „Stell dir vor, wir bekommen dich verheiratet“, spekuliert Devkis Vater. „Denkst du, dein Mann lässt dich das machen?“ – „Warum fährst du nicht nur tagsüber, das geht doch auch…“ „Manche Menschen“, entgegnet die junge Frau, „brauchen auch nachts ein Taxi.“ Überhaupt eigene Entscheidungen zu treffen, hieße in Devkis Fall sogar, für unbestimmte Zeit aus der Familie ausgestoßen zu werden, und das in einem Land, in dem die Familie der einzige Rückhalt ist: die Frau als lebenslanger Privatbesitz. Und umgekehrt gilt: Wer als Frau allein unterwegs ist, kann schnell Opfer von Übergriffen werden. Selbstbestimmt leben, das würde unter diesen Umständen auch bedeuten: ohne Schutz zu sein.
Aber Devki lässt nicht locker, übt mit dem Auto und macht Kurse in Selbstverteidigung bei ihrem Aufbruch aus tradierten Rollenmustern.

„Where to, Miss?“ – Wo soll es hingehen? Dieser Film ein kleines, einfühlsames Porträt – aber auch ganz großes Kino: ein Abenteuerfilm. Und ein Road Movie sowieso!

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal

Elle

(FR, DE, BE 2016, Regie: Paul Verhoeven)

Angstlust
von Wolfgang Nierlin

Die Gewalt kommt aus dem Off: Über die noch dunkle Leinwand legen sich Schreie und Stöhnen sowie die Geräusche zersplitternden Glases. Nur die aufmerksamen Augen einer Katze beobachten das brutale …

Die Gewalt kommt aus dem Off: Über die noch dunkle Leinwand legen sich Schreie und Stöhnen sowie die Geräusche zersplitternden Glases. Nur die aufmerksamen Augen einer Katze beobachten das brutale Geschehen. Auf dem Fußboden, inmitten von Scherben, liegt, sexuell missbraucht und verwundet, eine Frau. Doch Michèle Leblanc (Isabelle Huppert), eine taffe, kühle und sehr selbstbewusste Geschäftsfrau, geht nicht zur Polizei. Stattdessen ermittelt sie selbst nach dem maskierten Vergewaltiger. Die Erinnerung an das traumatische Geschehen, vom Zuschauer bislang nur imaginiert, kehrt indes unvermittelt, heftig und in verschiedenen Visionen zurück: als reales Geschehen, als tödliche Rachephantasie und als Wiederholung des Traumas im Setting eines phantastischen Videospiels; denn Michèle leitet eine Firma, die solche Spiele entwickelt.

Paul Verhoeven erzählt seinen umjubelten Film „Elle“, die ebenso doppelbödige wie abgründige Adaption des Romans „Oh…“ von Philippe Djian, ganz aus der Perspektive seiner schillernden Heldin. Dass diese vielschichtig und unberechenbar gezeichnete, in Trennung lebende Frau ein durchaus ambivalentes Verhältnis zu Lust und sexueller Gewalt hat, zeigt schon ein Meeting mit ihrer Kreativabteilung, bei dem ein neues, gewalttätiges Video vorgestellt wird. Michèle ist aber auch Opfer einer dunklen Familiengeschichte, denn ihr Vater, ein „Monster“ in Menschengestalt, sitzt als verurteilter Mörder seit vielen Jahren im Gefängnis. Auch zu ihrer Mutter und zu ihrem erwachsenen Sohn pflegt sie Beziehungen, die von Hass und schroffer Aggressivität charakterisiert sind. Überdies betrügt sie ihre beste Freundin und Arbeitskollegin Anna (Anne Consigny) mit deren Mann.

Es kommt also viel zusammen an familiärem und zwischenmenschlichem Konfliktpotential in Verhoevens rasant und gegen die Erwartungen inszenierter Gesellschaftssatire im Gewand eines Rape-and-Revenge-Thrillers. Dabei spielt Verhoeven routiniert mit Genre-Elementen und legt immer wieder falsche Fährten aus, um den dunklen, unscharf umrissenen Fleck aus Lügen, Begehren und seelischen Wunden zu umkreisen. Als Michèle schließlich ihren Peiniger identifiziert, wird in einer merkwürdigen Umkehrung die Angst zu einer Lust, mit der das Opfer geradezu nach seiner Unterwerfung verlangt. Aber so klar ist das nicht, auch wenn Michèle einmal sagt: „Das Schamgefühl ist nicht stark genug, um uns von irgendetwas abzuhalten.“

The LEGO Batman Movie

(USA/DK 2017, Regie: Chris McKay)

Zusammen ist man weniger allein oder: Brothers in Crime
von David Auer

The Toys R Us Der Verdacht, bei „The Lego Movie“ (2014) könnte es sich um infantile Phantasterei handeln, erhärtet sich nicht erst durch mühevolles Analysieren. Er inszeniert unverstellt, dass er …

The Toys R Us

Der Verdacht, bei „The Lego Movie“ (2014) könnte es sich um infantile Phantasterei handeln, erhärtet sich nicht erst durch mühevolles Analysieren. Er inszeniert unverstellt, dass er der kreativen Vorstellungswelt eines Jungen entspringt, der sich unerlaubterweise an Papas Lego-Sammlung vergreift. Sie ist infantil, nicht kindlich, denn geschrieben und verfilmt hat sie kein Zehnjähriger, sondern ein Duo, das sich bisher vor allem durch die hyperironische Wiederbelebung eines popkulturellen Staubfängers hervorgetan hat. Knapp 21 Jahre nachdem Johnny Depp im TV seine letzte High School infiltriert hat, ist „21 Jump Street“ (2012) auch im Kino zum Hit geworden, auf den zwei darauf eine Fortsetzung folgte, in der sich die Protagonisten mehr noch als im Vorgänger permanent darüber wundern und lustig machen, dass der Film, in dem sie mitspielen, überhaupt existiert. Über die Spielwarenverfilmung von Phil Lord und Chris Miller fragt man sich nur, warum sie erst so spät in Produktion gegeben worden ist, wo doch seit sieben Jahren Michael Bay regelmäßig beispielhaft vorführt, dass Nostalgie-induzierendes Plastik und Leinwand sich, zumindest am Box Office, bestens verstehen. Auch der Lego-Film ist, die einen sollen ja auch ihren Fun haben, reich an Selbst- und Fremdbezügen, für die es den anderen an popkulturellem Wissen fehlt, sowie explizit formulierten Botschaften, die es auf Groß und Klein zugleich abgesehen haben, ganz nach dem Motto: Access for all (Elsaesser). Jedem soll’s gefallen und jeder soll sich nach Herzenslust im (ideologischen) Ramschladen bedienen können, genauso wie die Filmemacher, die sich ihre Inspiration gleich beim Auftraggeber, der Kino unverhohlen als Schaufenster in der Mall versteht, abholen wie die nach dem anstrengenden Bildbeschuss fix und fertigen Konsumenten ihre fixfertig verpackten Lego-Sets in derselbigen.

Dem Hersteller ist es dabei so egal, wer seine Produkte kauft, wie dem Produktionsstudio, wer die ihrigen schaut, Hauptsache, jemand tut’s überhaupt. „The Lego Movie“ ergreift jedoch Partei, nämlich für die routinierten out of the box-Denker und -Bastler, die die Packerl, gefüllt mit „Star Wars“-, „Pirates of the Carribbean“- und „Harry Potter“-Merchandise, auch erst so erwerben müssen, wie sie angeboten werden, um im Anschluss ihrer Kreativität freien Lauf lassen zu können. In der unscheinbaren Figur des Emmet Brickowoski, der buchstäblich ein Leben ausschließlich nach Anleitung führt, finden sie ihre strukturelle Leerstelle, ein blank slate, von einer Prophezeiung, die sich als Schmäh erweist, dazu auserkoren, das disziplinarische Terrorregime des President Business, mit seltsamer Haarpracht und Hang zu Turbokleber-Ordnung und Mauern, zu zerschlagen. Dazu muss der Protagonist erst lernen, zum master builder zu werden, die Schablonenhaftigkeit seiner Realität zu durchschauen, welche er dann flexibel dekonstruieren und nach Lust und Laune wieder zu etwas Beliebigen zusammenbauen kann, das ihm just in time nützlich ist. Von der absoluten Ohn- zur sich alles bemächtigenden Über- braucht es aber zuerst das mentale Training durch die Gegenmacht, ein bunt zusammengewürfeltes Freakteam, das sich aus dem wohlbekannten Film- und Comicheldenfundus speist. Darunter ist auch der notorische Batman zu finden, gesprochen von Will Arnett, Serienaffinen vor allem bekannt als Teilzeitmagier Gob Bluth aus „Arrested Development“, wodurch auch Michael Cera bekannt wurde.

Konformistische Rebellion

Beide leihen ihre Stimmen nun dem titelgebenden Plastiksuperhelden und seinem Sidekick Robin im Spin-off „The Lego Batman Movie“, der sich an den Comic-Blockbustern der letzten Jahre nicht weniger, nun ja, bedient wie sein Vorgänger an „The Matrix“ (1999). Diesmal braucht es allerdings keinen Inszenierungsbruch, der eine Metaebene und damit die Erzählung als infantiles Spiel mit aufgeschnappten Filmversatzstücken und Wunsch eines Buben nach mehr väterlicher Aufmerksamkeit offenbart, um die development der Heutigen von heute als arrested zu markieren; ihr Fehlen ist viel mehr Anzeichen dafür, dass sie regressed ist, und zwar ganz und gar auf der Höhe der Zeit. „Batman“ ist nämlich auch ohne ihn durch und durch ironisch, forciert selbstreflexiv und fremdbezüglich, und vor allem eines: weitaus zynischer. Dass bereits die Studiologos von seinem Voice Over begleitet werden, er von Anfang an über seine ökonomischen Overlords herzieht, zeigt nämlich folgendes an: einen Widerspruch soll es nicht geben, die Reibung weicht, wie beim weniger kindgerechten „Deadpool“ (2016, mit einem weltweiten Einspielergebnis von knapp 800 Mio. Dollar), der Abreibung derjenigen, die sich solche Späße im Wissen ihrer Vergeblichkeit noch anmaßen zu kritisieren. Von Selbstproblematisierung also keine Spur mehr, es sei denn im Zeichen der Selbstpromotion. Sie würde ja ohnehin nur dazu dienen, das vornehmlich kritische Publikum – und wer zählt sich da nicht gern dazu? – genauso mit dem (kultur-)industriell hergestellten Produkt zu versöhnen wie das „naive“ mithilfe der Schauwerte – auch das heißt: Access for all –, also kann man es eigentlich auch gleich bleiben- und die Vollendung der Fraternisierung einfach zulassen.

Teamwork ist also das Gebot der Stunde, Komplizen lauern überall, und Freunde sowieso. Ganz ohne Komplikationen lässt sich der notorische Bachelor Bruce Wayne allerdings nicht davon überzeugen, hat der sich doch ganz gut eingerichtet in seiner Festung der Einsamkeit, eigentlich der Name von Supermans arktischer Man Cave, in der er aber, unter Ausschluss der miesepetrigen Fledermaus, mittlerweile gerne Partys mit der restlichen Heldenclique feiert. Das grämt den Outcast ein wenig, aber auch nicht lange, denn am liebsten spielt er sowieso mit seinen Gadgets und trauert manchmal dem Verlust seine Eltern nach. Die Versenkung in das Nicht-mehr-zu-Rettende wird ihm aber nicht lange gegönnt: Seiner individualistischen Unachtsamkeit geschuldet macht sich eine kleine Nervensäge in der Batcave breit. Die Einführung des Waisenkindes Robin wird so wie sämtliche Kinovariationen des Dark Knight abgehandelt: nebenbei und im Schnelldurchlauf. Sei es sein Kampf mit dem auf Kryptonit allergischen Strahlemann, dem stalinistischen Designermantelträger Bane oder dem nicht zu entkommenden Joker, sie alle gehören so sehr zu „Lego Batmans“ gelebtem (Medien-)Gedächtnis wie seine campy Eskapaden aus den 60ern. Das Camp ist auch das leitende Prinzip des Films, sowohl als Zusammenpferchung vielfältiger Individuen zum Zweck ihrer Gleichmachung als auch Zweckbündnis zwischen Falschem und Richtigem, das der Film den Namen wrongright gibt. Allein im Verbund mit den Comicbösewichten, vereint im Patchworkfamiliengestus, sieht sich der einstige sture loner gemeinsam mit dem neuen Ziehsohn, der Neobürgermeisterin Gothams, bzw. dem Batgirl, und dem alten Butler Alfred, imstande, die Armee der ikonischen Filmmonster aus der Phantomzone, die über die Stadt herfällt, wieder dorthin zu verbannen.

Phantomscherz

Aus dieser hat sich der hauptverantwortliche Drehbuchautor in seiner bisherigen Karriere bereits reichlich bedient, und dabei Unvereinbares recht nonchalant zusammengeführt. Wenn Jane Austen auf Zombies trifft und Abraham Lincoln Vampire jagt, hat Seth Grahame-Smith in die Tasten und die jeweilige Vorlage dabei zu Brei gehauen. Auch er ist, wie Lord und Miller, darin geübt, längst vergessenes Fernsehmaterial fit für die Leinwand zu machen. Wie die Gothic-Seifenoper aus den späten 60er-Jahren wurde allerdings auch ihre Kinoadaption „Dark Shadows“ (2012), von „Batman“ (1989) und „Batman Returns“ (1992)-Regisseur Tim Burton, schnell wieder vergessen. Macht aber nix, denn mit dem Remake von „It“, dem zweiten Teil von „Beetlejuice“ und dem dritten von „Gremlins“ kann Grahame-Smith in ein paar Jahren, dann als Produzent, erneut beweisen, dass Nekrophilie und Popkultur so unterschiedlich nicht sind, sowie schlechter Geschmack schon lange nicht mehr an die „Lüge der Kultur“ (Magnus Klaue) erinnert. Nimmt Kunst „die ihr innewohnende Tendenz“ dazu nicht reflektierend auf, sondern folgt ihm blind, wird sie, wie im Fall der Lego-Filme, nicht nur zur Produktwerbung, sondern auch zur „stumpfsinnigen Werbung ihrer selbst“ (ebd.).

Und stumpfsinnig ist so manches an „The Lego Batman“, was aber nicht so schmerzen würde – gewohnt ist man’s ja schon – wie dass er Gegensätze zum stumpfen Einheitsbrei schlägt. Der Plan der neuen Oberbeamtin, Verbrechen und Recht unterm Denkmantel der Gerechtigkeit, Selbst- und Gewaltmonopoljustiz also zu einer Kraft zusammenzuführen, mit dem Ziel, der Kriminalität ein für alle Mal ein Ende zu machen, kulminiert im Showdown zur kreativen Kollaboration von vigilantes und villains gegen die noch viel größere Bedrohung durch die Aliens und Monster aus der Gefängnisdimension. Der Ausnahmezustand macht so manches Bündnis möglich (und wer sagt, der immense Reichtum der Waynes habe etwas mit der blühenden Gangsterszene in Gotham zu tun, ist ein Schelm). Um die Metropole schließlich vor ihrer buchstäblichen Spaltung zu retten, bilden jene, so scheint’s, die ohnehin schon immer zusammengehört haben, ein buchstäbliches Band – auch hier macht’s das Material wieder möglich – und überwinden die scheinbare Kluft.

Die Reihen fest geschlossen, die Knechtschaft dauert nur noch kurze Zeit

Nach gewonnenem Kampf blickt der Joker Batman in die Augen und zitiert, was viele Antagonisten der Filmgeschichte ihren Widersachern beim endgültigen Zusammentreffen gewohnheitsmäßig entgegenschleudern: „We are not so different, you and I“. „We’re the same / I’m like you / you’re like me / we’re all working in harmony“, heißt es ähnlich im Oscar-nominierten Song des Vorgängers, in dem das Queerpopduo Tegan und Sara mantraartig vorträgt, dass everything awesome sei. In „The Lego Movie“ noch als Verteidigung vollends durchflexibilisierter Dauerkreativität und –juvenilität gegen die ultrakonformistische Einheitsgesellschaft, die damit tagein tagaus terrorisiert wird, in Stellung gebracht, missversteht das Spin-off die Lyrics affirmativ als Handlungsanleitung und damit den Song als englischsprachiges Cover eines Stücks, das einmal als zweite deutsche Nationalhymne die Massen mitmobilisiert hat. Was lehrt der Film also? Wer unbedingt von Amerikanisierung reden will, sollte auch von Zudeutschung nicht schweigen.

The Salesman

(IR, FR 2016, Regie: Asghar Farhadi)

Der schuldige Mensch
von Wolfgang Nierlin

Der iranische Filmemacher Asghar Farhadi ist international bekannt geworden durch ebenso komplexe wie unauflösbare Ehe- und Beziehungsdramen. In seinen vielfach ausgezeichneten Filmen „Nader und Simin – Eine Trennung“ und „Le …

Der iranische Filmemacher Asghar Farhadi ist international bekannt geworden durch ebenso komplexe wie unauflösbare Ehe- und Beziehungsdramen. In seinen vielfach ausgezeichneten Filmen „Nader und Simin – Eine Trennung“ und „Le passé – Das Vergangene“ zeigt er Paare, deren Handeln unweigerlich in krisenhafte Situationen und moralische Dilemmata führt. Der Mensch erscheint in Farhadis psychologisch differenziert gezeichneten Charakterstudien als Mängelwesen, dessen Beweggründe in einem Geflecht aus Zufall und Notwendigkeit, individuellen Dispositionen und gesellschaftlichen Wertmaßstäben liegen. Dabei hängt jeweils alles miteinander zusammen und voneinander ab. Behutsam und genau entwickelt der am Theater geschulte Regisseur die komplizierten Interaktionen von Figuren, deren Handeln unweigerlich in schuldhafte Verstrickungen zu führen scheint.

Das ist auch in Asghar Farhadis neuem Film „The Salesman“ der Fall, in dessen Mittelpunkt ein noch kinderloses Ehepaar aus der iranischen Mittelschicht steht. Emad (Shahab Hosseini), der als Lehrer arbeitet, und seine Frau Rana (Taraneh Alidoosti) sind Kulturschaffende, die zusammen mit einer Theatergruppe gerade dabei sind, Arthur Millers Stück „Tod eines Handlungsreisenden“ zu proben. Farhadi nutzt das, um in einigen Szenen Theaterstück und Filmhandlung ineinander zu spiegeln und aufeinander zu beziehen. Gleich zu Beginn, wenn die Bühne eingerichtet wird und die illuminierten Kulissen großstädtisches Leben vorgaukeln, geht es Farhadi auch um den rasant wachsenden städtebaulichen Moloch Teheran und damit um die Opfer gesellschaftlicher Veränderungen.

Die Risse im einsturzgefährdeten Haus, aus dem Emad und Rana sowie alle anderen Mieter am Anfang von „The Salesman“ in Panik fliehen, sind also symptomatisch. Als das Ehepaar durch Vermittlung bald darauf eine neue Bleibe findet, muss es feststellen, dass diese in mehrfacher Hinsicht „Altlasten“ birgt. Denn die Vormieterin, bezeichnenderweise immer nur als „zwielichtige Person“ mit wechselnden Männerbekanntschaften apostrophiert, arbeitete darin offensichtlich als Prostituierte. Als einer ihrer früheren Kunden durch Versehen und unter falscher Annahme eines Abends in die Wohnung eindringt und Rana in der Dusche (sexuell) belästigt, erleidet diese ein schweres Angsttrauma. Der ebenso schockierte wie in seiner Ehre verletzte Emad wiederum setzt alles daran, den Schuldigen ausfindig zu machen, um ihn zu bestrafen.

Indem er die Szene ausspart, setzt Asghar Farhadi den besagten Übergriff bewusst als Leerstelle, um auf kulturell bedingte Tabus und auf Widersprüche im Geschlechterverhältnis aufmerksam zu machen. Mangelnde Offenheit und fehlendes Vertrauen, vermeintliche Rufschädigung und schwelende Rachegedanken stören nicht nur das labile Gleichgewicht der Beziehungen, sondern legen sich wie ein permanenter Schatten über das Leben des Ehepaars. Dessen soziales Umfeld wird zum Resonanzraum von Stress und Aggressionen, die wie bei einer elektrischen Erregungsleitung übertragen werden. In seinem höchst differenzierten und sehr spannenden Beziehungsdrama verhandelt Farhadi aber auch die schwierige Frage nach Schuld und Gerechtigkeit. So erscheinen die Menschen seines Films „The Salesman“ als zwangsläufig Versehrte und als Gefangene ihrer Geschichte, für die die Möglichkeit zu verzeihen ebenso nah wie fern liegt und deren Schuld sich wie unter einem ehernen Gesetz fortzeugt.

Abwärts

(BRD 1984, Regie: Carl Schenkel)

Die Steckengebliebenen
von Nicolai Bühnemann

Vier Personen auf dem Weg nach unten, in den Feierabend. Eingeschlossen in dem steckengebliebenen Fahrstuhl eines Frankfurter Bürohochhauses. So lautet die Minimalprämisse von „Abwärts“, Carl Schenkels drittem Film, der den …

Vier Personen auf dem Weg nach unten, in den Feierabend. Eingeschlossen in dem steckengebliebenen Fahrstuhl eines Frankfurter Bürohochhauses. So lautet die Minimalprämisse von „Abwärts“, Carl Schenkels drittem Film, der den Schweizer Filmemacher, der zunächst in der BRD, später dann in Hollywood arbeitete, als Auteur ausweist, der Filmen verschiedener Produktionshintergründe seine eigene Handschrift aufdrücken, in ihnen eigene Themen verhandeln konnte.

Schon der furiose Vorgänger, „Kalt wie Eis“, begann in einem Knast und ließ die Mauerstadt West-Berlin für einen straffälligen Jugendlichen auf der Flucht zu einer beengenden Falle werden. Wo es dort auch schon einen generischen Plot gab, sich der Film aber noch ausgiebigen Ausschweifungen in der kreativen Szene seines Schauplatzes hingab, ist „Abwärts“ hoch konzentriertes Spannungskino (wie sich „Graf Dracula in Oberbayern“, Schenkels 1979 noch unter Pseudonym gedrehtes Regie-Debüt, dazu verhält, interessiert mich wirklich brennend, leider gibt es von dem Film nur eine vergriffene und deshalb zu Mondpreisen gehandelte Grabbeltisch-DVD). Um das Gefangensein in urbaner Architektur geht es auch hier. Schon dem Plot nach, aber eben auch in der Inszenierung, von Anfang an. Die erste Einstellung zeigt das Lichtermeer der nächtlichen Großstadt, über das die Kamera langsam wandert, den Blick in die Tiefe wagt, auf den Asphalt hinab (immer wenn dieser klaustrophobische Film seine Räume weit macht, wird sogleich der Fall in den Tod assoziiert, als einziger Ausweg aus dem Gefängnis, das dem Menschen seine Städte geworden sind, hier durch den Blick an der Fassade entlang, später dann – immer wieder – den Fahrstuhlschacht hinunter), ohne Schnitt kommt die Kamera auf einem Fenster zu stehen, in dem sich die Stadt spiegelt und durch das wir eine Frau sehen, die aus einem Schwimmbecken steigt. Außen und Innen durchdringen einander, der Mensch ist ohne die Rahmung durch die Architektur, die ihn einschließt, nicht denkbar.

So geht das weiter. Der Blick auf den Menschen wird verstellt, durch Fenster, (Fahrstuhl-)Türen, Glaskästen, Luken, die als Rahmung innerhalb der Rahmung der Kadrierungen fungieren, das doppelte Eingeschlossensein der Figuren verdeutlichen. Um die Pförtnerkabine mit ihren Glaswänden beschreibt die Kamera einen Kreis. Dabei erinnert nicht nur die Tatsache, dass einer der beiden Schauspieler in dem Glaskasten Kurt Raab ist, an Fassbinder.

Wenn der Film nach etwa zehn Minuten mit seinen vier ProtagonistInnen in dem Fahrstuhl ankommt, sind Inhalt und Form längst eins und bleiben es auch hier, wo die Enge des Raumes die Einstellungsgröße vorgibt. Die Figuren sind dabei so funktional, wie es das Kammerspielsetting vorschreibt, wobei es dem Drehbuch, das Schenkel selbst verfasste, auch hier wichtig ist, dass die Gefangenschaft in dem Fahrstuhl auch die jeweilige Lebenssituation der vier Menschen, eine Frau und drei Männer, spiegelt. Allesamt sind sie Gefangene, Steckengebliebene in ihrer eigenen Biographie.

Da ist zunächst Götz George, für den dieser Film 1984 als Vehikel angelegt gewesen sein mag, dem es aber als Star des Films ebenso wenig gelingt, das restliche Personal an die Wand zu spielen, wie es seiner Figur, Jörg, vergönnt ist, das Alpha-Männchen zu sein, das sie gerne wäre. Seine Kontrolle über die Situation jedenfalls ist von Anfang an eine Illusion. Das zeigt sich auch und vor allem in seiner Beziehung zu seiner Kollegin Marion, mit der ihn einst eine Affäre verband, die er zu gerne weiterführen würde, worauf sie sich aber nicht einlässt. Gespielt wird sie von Renée Soutendijk, die ein Jahr zuvor in dem Film „Der vierte Mann“ ihres niederländischen Landmannes Paul Verhoeven die femme fatale für die Achtziger neu definierte (ein Kunststück, das dem großen Verhoeven, nebenbei bemerkt, in zwei aufeinander folgenden Dekaden gelang, in den Neunzigern dann in Hollywood mit Sharon Stone und „Basic Instinct“). Sicherlich bedeutet sie auch hier Ärger für die Männer, die schon bald anfangen, sich um sie zu streiten, es ist dem Film dabei jedoch wichtig, dass sie nicht aus Boshaftigkeit handelt, sondern einfach nur mit den Waffen kämpft, die eine von Männern dominierte Gesellschaft einer schönen Frau wie ihr zugesteht. Pit (Hannes Jaenicke) will einfach nur raus, aus Deutschland, aus entfremdeten Arbeitsverhältnissen und, das steht schnell fest, er will Marion, die ihm, als er ihr Feuer für ihre Zigarette gibt, tiefe Einblicke in ihr Dekolletee gewährt. Schließlich ist da der Buchhalter Gössmann (Wolfgang Kieling), die undurchsichtigste der Figuren, die in dem Beziehungsdreieck, zwischen seinen Miteingeschlossenen schon wegen seines Alters außen vor ist, und mit einer ganz eigenen Motivation, einem Schatz, der nichts mit Marion zu tun hat, in den Fahrstuhl in Richtung (ewiger) Feierabend gestiegen ist.

Schenkel versteht es auch hier, die Beschränkungen von Raum und Plot zu nutzen, um eine ausweglose Atmosphäre zu kreieren. Denkwürdig ist eine Szene, in der Jörg und Pit mit Streichhölzern darum knobeln, wer als nächstes auf das Fahrstuhldach klettern wird, um von dort aus zu versuchen, einen Weg nach draußen zu erschließen. Als Gleichstand herrscht, gleitet die Kamera im extremen Close-Up zunächst über die Streichhölzer auf dem Boden, zwei auf der einen Seite, zwei auf der anderen. Dann über die Gesichter der beiden Männer im Profil, angefangen bei dem Auge bis hinab zum Mund, über dem bei Jörg der charakteristische Schnauzer thront, in dem bei Pit eine Zigarette steckt. Pit gewinnt die Entscheidungsrunde, Jörg muss aufs Dach. Seine Abwesenheit machen sich Marion und Pit zunutze, um sich leidenschaftlich zu küssen. Wenn die beiden Männer sich wenig später auf dem Fahrstuhldach prügeln, endet eine Einstellung damit, dass einer von ihnen den Kamerablick mit seinem Körper ganz verdunkelt. Nach einem „unsichtbaren“ Schnitt fährt die Kamera von Marions schwarzem Kleid zurück und gibt den Blick auf die beiden im Fahrstuhl verbliebenen frei. Besser könnte man das Verhältnis von Begehren und Gewalt in diesem Figurentrio nicht auf den Punkt bringen.

Den ein oder anderen Plot Twist, der nicht verraten werden sollte, gibt es dann auch noch und dieses Mal vielleicht wenigstens ein bisschen Hoffnung zum Schluss (zumindest für einige der Figuren).

Eldorado XXI

(PT, FRK, PE 2016, Regie: Salomé Lamas)

Aufstieg als Abstieg
von Ricardo Brunn

La Rinconada in den Anden Perus ist die höchstgelegene Stadt der Erde und zugleich die absurdeste. Weil in einer nahegelegenen Mine Gold entdeckt wurde, kommen Menschen aus dem ganzen Land …

La Rinconada in den Anden Perus ist die höchstgelegene Stadt der Erde und zugleich die absurdeste. Weil in einer nahegelegenen Mine Gold entdeckt wurde, kommen Menschen aus dem ganzen Land in den rasant wachsenden Ort. In 5.100 Metern Höhe, wo kein Grashalm und kein Baum mehr wachsen können, führt die Suche nach Gold die Menschen in einen Abgrund, aus dem es nur für die Wenigsten ein Entkommen gibt. Salomé Lamas beginnt ihren Dokumentarfilm „Eldorado XXI“ deshalb mit einer Einstellung, die einen endlosen Strom von Menschen zeigt, der über Geröll und Schotter zum Eingang der Mine und aus ihr heraus fließt. In der Dämmerung, die in mancher Hinsicht den Seelenzustand der Menschen auf dem unbefestigten Weg ins Erdinnere beschreibt, begeben sich die Hoffnungsvollen nach unten und die Erschöpften nach oben. Währenddessen erzählen einige Bewohner und Bewohnerinnen La Rinconadas aus dem Off von ihren Beweggründen in diese Stadt zu ziehen. Sie berichten von der Arbeit, der Gewalt, den Versuchen eine soziale und rechtliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Durchzogen werden diese Berichte von Ausschnitten aus Radiosendungen, Nachrichten, Wahlkampfwerbung. Aus ihnen spricht eine Normalität, die den Alltag an diesem unwirtlichen Ort nur noch fremder erscheinen lassen.

Sehen wird in dieser ersten Einstellung des Filmes zu Arbeit, denn mit mehr als 50 Minuten Dauer umfasst sie beinahe die Hälfte der gesamten Lauflänge von „Eldorado XXI“. Aber anders ist das, was die Menschen in La Rinconada erleben vielleicht auch gar nicht zu fassen. Dreißig Tage lang schuften die Arbeiter ohne jeden Lohn für den Betreiber der Mine, um am einunddreißigsten Tag ein paar Stunden lang zum eigenen Nutzen Gestein in der Hoffnung auf das kostbare Metall abbauen zu können. Es gibt also einen Grund für die Länge dieser ersten Einstellung, die kaum auszuhalten ist, weil sie einem nicht die Möglichkeit gibt, sich einem sanften Fluss der Zeit hinzugeben. Vielmehr zermürbt einen dieses Bild, dessen Ende man herbeisehnt wie das Ende eines langen Arbeitstages. Dementsprechend befreiend ist der erste Schnitt. Bei der Vorführung während der Berlinale 2016 gab es an dieser Stelle heftigen Applaus. Das mag zum einen Ausdruck einer Erleichterung gewesen sein. Im Beifall spiegeln sich aber auch die Unfähigkeit und der Unwille eines saturierten Festivalpublikums, eine Beziehung zwischen dem Inhalt und den künstlerischen Entscheidungen der Regisseurin herzustellen und letztere auszuhalten.

Wer sich diesem unbequemen ersten Teil von „Eldorado XXI“ jedoch hingibt, wird ein selten gewordenes Kinoerlebnis machen, unter dessen hypnotischer Wirkung sich Fragen nach den Bedingungen des Daseins mit jeder Minute ihren steinigen Weg aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche suchen. Denn so sehr sich die Situationen unterscheiden mögen, so ähnlich sind sich hier wie dort die Mechanismen der Selbstausbeutung in der nicht selten illusorischen Hoffnung auf ein besseres Leben. Plötzlich ist die mit der Chance auf Reichtum begründete Selbstausbeutung der Minenarbeiter von unserer eigenen Art Arbeit zu denken keinen Steinwurf entfernt. Die perfide Logik, mit der viele sich unter der Prämisse vermeintlicher Selbstverwirklichung für zu geringen Lohn exploitieren, hohe Überstundenzahlen und unzureichende Altersvorsorge hinnehmen oder die Arbeit in Form des Homeoffices und ständiger Verfügbarkeit in die Privatsphäre eindringen lassen, liegt ebenfalls am Grund dieser nicht enden wollenden Einstellung. Sie führt im schlimmsten Fall auf dem voller Euphorie angetretenen Weg nach oben in die umgekehrte Richtung.

Einen anderen Kurs schlägt Lamas im zweiten Teil von „Eldorado XXI“ ein. Über Montage liefert sie all das nach, was zuvor nur über die Soundcollage zu erschließen gewesen ist. Hier und da können Verbindungen zwischen zuvor Gehörtem und nun zu Sehendem hergestellt werden, doch Stadt und Film bleiben ein unwirtlicher, rauer Ort ohne Protagonisten und ohne kathartische Erzählung. Schnell erschöpfen sich die Bilder auch ganz bewusst in Wiederholungen kokakauender Frauen und erkenntnislosen Blicken in die vom Regen aufgeweichten Straßen der 80.000 Einwohner zählenden Stadt. Dem Glauben an eine bessere Zukunft setzt die Regisseurin die harsche Tristesse und Monotonie des Alltags La Rinconadas entgegen. Und weil die ersten 50 Minuten dem Publikum noch so präsent sind, kann jeder sorgfältig gesetzte Schnitt, jedes neue eindrucksvolle Bild eine ganz eigene Kraft entwickeln, im Versuch einen ökonomischen und gesellschaftlichen Kollaps abzubilden.

„Eldorado XXI“ hat es nicht ins Kino geschafft. Unter der nur noch als obszön zu bezeichnenden Zahl von mehr als 700 in Deutschland gestarteten Filmen war 2016 kein Platz für diesen außergewöhnlichen Film. Er ist auch nicht auf DVD erschienen und derzeit bei keinem VoD-Anbieter verfügbar. „Eldorado XXI“ widerlegt damit die These, dass gute Filme im 21. Jahrhundert dank Digitalisierung und Internet ihre Zuschauer finden. In einer ausschließlich auf Profit und Wachstum ausgelegten und darum immer schnelllebigeren Zeit finden immer häufiger großartige Filme gar kein Publikum mehr; Werke wie „Eldorado XXI“, die belegen, dass die Grenzen filmischer Erzählmöglichkeiten noch immer radikal erweitert werden können.

A Cure for Wellness

(USA, D 2017, Regie: Gore Verbinski)

Gore dreht auf – und Aale zittern
von Drehli Robnik

Vom Fluch der Karibik zum Fluch der Waldklinik: Gore Verbinski war einmal der Hausregisseur deppscher Piraterie; mit der förderungsdeutsch-amerikanischen Koproduktion ‚A Cure for Wellness‘ wechselt er zum Schocksymbolismus im Schweizer …

Vom Fluch der Karibik zum Fluch der Waldklinik: Gore Verbinski war einmal der Hausregisseur deppscher Piraterie; mit der förderungsdeutsch-amerikanischen Koproduktion ‚A Cure for Wellness‘ wechselt er zum Schocksymbolismus im Schweizer Alpenkurhotel. Da bleibt er weiterhin im Wässrigen: Sauna und Becken, See und Essenz, Eintauchen und -flößen, tropfender Hahn und blutende Kuh, von ‚Purpurnen Flüssen‘ hab ich noch nie was gehört, dafür gibt’s hier forcierte Redeflüsse zum Thema Krank-Sein und Sehend-Werden, als Voice-over wie auch Dialog-Preziosen. Und dann fängt der Film noch vielsagend deprimierend unter pflichtbewusst unsympathischen Wirtschaftsbossen an. Hier will uns jemand irgendwas zur Leere und Malaise unserer heutigen Welt sagen. Aber was? Und heißt es was?

Wellness als Selbst-, Kultur- und Führungstechnik des umzäunten Wohlstands, das wäre ja ein Thriller-Thema und auch ein paar Gedanken wert. Also, genau hinschauende Infrastuktur-Kritik im Format und Tonfall von ganzheitlichem Regenerationsgrusel, das wäre doch mal was. Schade ist ja, dass heutige Tourismus- und Wohlfühlindustrie-Betriebe im aktuellen Unheimlichkeitskino immer als irgendwie runtergekommen, düster veraltet, unbehaglich gestrig etc. gezeichnet werden; das vergit sich somit viel an Wirklichkeitsvermittlung. So auch bei Verbinski: Krankenblatt, Dampfkasten und Heilgymnastik stammen aus dem Jahre Schnee, Hausmarke ‚Unrechtsregimes der traumatischen Moderne‘, und das Personal vor Ort ist so morbid wie es Kauz-Casting-Agenturen erlauben. Aber wer sich über sowas groß auslässt (also ich), kriegt wahrscheinlich das Wesentliche an dem ganzen Retroraumdesign nicht mit; und das ist wohl, dass hier in aller gebotenen Üppigkeit ins Visionäre gezielt wird (so lautet ein Schlüsselausdruck im Diskurs der cinephilen Würdigung dieser Big-Budget-Flause).

Sprich: Es hagelt immer neue Ergründungen geheimer Machinationen, immer neue, immer bizarrere Gänge durch Gänge, entlang von Schaukästen mit Mad Science-Mysterien und Inzest-Infamie-Innuendo. Wenn nach gut zwei Stunden alles wirklich längst auserzählt ist (und der Held zusätzlich zum Gipshaxen eine Zahnlücke hat wie Alfred E. Neumann), mündet das noch in ein Opernphantom-Finale. (Da scheißt sich jemand wirklich nix. Das allein verdient schon… Verwunderung.)

Das wird dargeboten in Babelsberger Gediegenheitsdekor (Grufti-Grind nach Vorschrift), zwischen Zitatschutt aus neun Jahrzehnten Horrorbarock. Der Film nötigt uns Wertschätzung für seine vielen Zitatstilblüten ab, und zwar im Minutentakt und auf Stichwort: ‚A Cure for Wellness‘ spells ‚A cue for Welles… a cue for Lynch… Polanski, Ken Russell, Jeunet & Caro, Frankenheimer, Ulmer, Hammer…‘ – you name it, Verbinski has it. Sehr visionär! Um es kurz zu sagen: Im Blaugrau-Look und Clip-Montage-Häcksler seines (eh sehr okayen) ‚Ring‘-Remakes von anno 2002 dreht Verbinski quasi ‚Shutter Island‘ neu. Sieht Hauptdarsteller Dane DeHaan als Banker-Detektiv, der zum unfreiwilligen Therapiepatient wird, deshalb aus wie Leo DiCaprio für die schmälere Geldbörse? Spielen Mia Goth, Susanne Wuest und Johannes Krisch ihrer klingenden Nachnamen wegen mit? (Nein, schon klar, das ist die Berliner Luft, die zumal die Ösi-Talente mit an den Produktionsort zieht. Außerdem sind alle drei Genannten in jüngster Zeit gattungseinschlägig und gesichtsprägnant in Erscheinung getreten.) Hier hat ja nun in ominöser Weise alles mit allem zu tun. Auch mit Aalen. Ja, echt! Aale in visionären Mengen bekommen wir hier mehrfach geboten. Sehr schleimig. (Früher waren im Grotesk-Kino nur die Luftkissenfahrzeuge voller Aale; jetzt sind es auch die Filme.) Sei’s drum: Gewollte Weirdness ergibt hier eine Art wohliger Wellness zum gepflegten Sich-Aalen in 146 Minuten kurzweiligem Designerkitsch.

The Visit – Eine außerirdische Begegnung

(DK, AUS, NOR, FIN, IR 2015, Regie: Michael Madsen)

Kontrollverlustängste
von Ricardo Brunn

Ein Alien ist gelandet. Niemand weiß, was es will oder woher es gekommen ist. In „The Visit – Eine außerirdische Begegnung“ setzt der dänische Dokumentarfilmregisseur Michael Madsen ein extraterrestrisches Wesen …

Ein Alien ist gelandet. Niemand weiß, was es will oder woher es gekommen ist. In „The Visit – Eine außerirdische Begegnung“ setzt der dänische Dokumentarfilmregisseur Michael Madsen ein extraterrestrisches Wesen Wissenschaftlerinnen und politischen Beratern gegenüber und lässt sie einen Erstkontakt durchspielen. Was sich zunächst wie das abstruse Rollenspiel eines Wochenendkommunikationsseminars anhört und mit naiven Fragen beginnt, denen das Unbehagen der Quasiprobanden dieser Versuchsanordnung noch anzumerken ist, entwickelt sich mit der Zeit zu einem aufschlussreichen Gedankenexperiment.

Nachdem die Experten Zuständigkeiten geklärt und kommunikative Strategien erarbeitet haben, die keine Wirkung zeigen, da das Alien stumm bleibt, wird ein Forscher in das Raumschiff der außerirdischen Lebensform geschickt. Doch im Zentrum des imaginierten Gefährts bekommt der Mensch nicht die erhofften Antworten. Stattdessen trifft er auf Zeichen der eigenen Kultur. In seinem orangefarbenen Raumanzug wandelt der Wissenschaftler nach einem Gang durch die Dunkelheit plötzlich barocke Säulengänge und Bibliotheken entlang, betrachtet Skulpturen, Gemälde und Modelle der menschlichen Anatomie. Die Frage nach dem Wesen des für den Zuschauer unsichtbar bleibenden Außerirdischen führt geradewegs zu Fragen über die fundamentalen menschlichen Werte und Beziehungen. Der erhoffte Dialog mit dem fremden Wesen wird zur Therapiesitzung für die Menschheit, in der die Fragestellerinnen sich die Antworten nach und nach selbst geben. Und der Mensch definiert sich nun einmal vor allem über seine Kultur. Das erklären auch die Experten, als sie (parallel zum Betreten des Raumschiffes) von der Voyager-Mission sprechen und darlegen, welche Daten auf der goldenen Schallplatte 1977 auf die Reise geschickt wurden. Vielleicht findet „The Visit“ in dieser unscheinbaren Einstellung der Voyager-Sonde, die im unerhörten Schwarz des Weltalls verschwindet, zu seinem treffendsten Ausdruck. Die beiden Voyager-Sonden werden das letzte Zeugnis unserer Existenz sein.

Was die Daten der Voyager-Sonden nicht enthalten, sind Negativbeispiele menschlichen Handelns. Krieg, Umweltzerstörung, Sklaverei, all das wird ausgeblendet. Prozesse des Suchens, Findens und daraus entstehende Ängste, Konflikte und der Wunsch nach Beherrschung dieser Ängste sind jedoch sehr stark miteinander verbunden. Diese Angst vor einem Kontrollverlust gegenüber dem Fremden ist „The Visit“ in die DNA geschrieben.
Schon in seinem Segment des Episodenfilmes „Kathedralen der Kultur“ (D 2014; R: diverse) hat sich Michael Madsen mit Fragen der Kontrolle auseinander gesetzt und entgegen des programmatischen Titels den Alltag im „Halden Prison“ abgebildet. Madsen zeigt in seiner Episode das „humanste“ Gefängnis der Welt als einen Ort perfekter Mechanismen der Überwachung und verwandelt ihn dank einer Aneinanderreihung von Zeitlupenaufnahmen in einen irrealen, der Zeit entrückten Ort. In „The Visit“ stellt Madsen den Interviewsituationen ebenfalls Zeitlupenaufnahmen an die Seite, die wie in „Halden Prison“ auf einen besonderen Erfahrungsmodus verweisen und zur Reflexion einladen. Die Verlangsamung evoziert ein Gefühl stillstehender Zeit im Angesicht der Begegnung mit der dritten Art. Doch obwohl die Zuschauerin in der intensiven Betrachtung die Kontrollgewalt zu behalten scheint, da sich nichts ihrem Blick entziehen kann, ermöglichen die Zeitlupenaufnahmen in ihrer Glätte und der beschränkten Motivpalette keinerlei Erkenntnisgewinn. Die Bilder werden so zu Manifestationen des Unheimlichen und des Kontrollverlustes im bemühten Versuch die Kontrolle zu behalten.

„Der Mensch würde eher alles zerstören, als die Illusion aufzugeben, dass er alles unter Kontrolle hat“, lautet ein zentraler Satz im Film und er trifft ebenso auf „The Visit“ selbst zu. Über die endlosen Wiederholungen von Militärübungen, Innenräumen des UNO-Hauptquartiers in Wien und nichtssagenden Straßenaufnahmen arbeitet sich der Film trotz einiger herausragender Bildfindungen zu sehr am eigenen fotografischen Kanon ab und verpasst die Gelegenheit sich einer tiefgreifenderen Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen Fragen zu stellen. Der Regisseur könnte ja die Kontrolle über seinen Film und sein Sujet verlieren. Dabei wäre hier die Chance des Filmes gewesen, Angst (vor dem Kontrollverlust) als Krise der Erkenntnisfähigkeit zu erforschen und sich selbst ein wenig dem (ästhetischen) Kontrollverlust hinzugeben.

Kalt wie Eis

(BRD 1981, Regie: Carl Schenkel)

Stadt, Körper, Gewalt. Leben, Liebe, Schmerz.
von Nicolai Bühnemann

Eine Rasierklinge, die im Close-Up die Haut zerteilt, ins Fleisch schneidet, bis das Blut sprudelt. Wenig zuvor der Blick aus dem Fenster auf eine Mauer, die in der Totalen eine …

Eine Rasierklinge, die im Close-Up die Haut zerteilt, ins Fleisch schneidet, bis das Blut sprudelt. Wenig zuvor der Blick aus dem Fenster auf eine Mauer, die in der Totalen eine Stadt zerteilt, ins urbane Fleisch schneidet, aus dem kein Blut sprudelt (auch wenn an der anderen Mauer, auf die die Gefängnismauer hier keineswegs zufällig verweist, durchaus Blut geflossen ist). Schauplatz von „Kalt wie Eis“, dem Abschlussfilm des Schweizers Carl Schenkel an der Berliner Filmhochschule, soviel steht nach etwa fünf Minuten fest, sind die Mauerstadt West-Berlin und der Körper des Hauptdarstellers Dave Balko. Stadt und Körper spiegeln einander, am deutlichsten wohl in einer Sexszene zwischen Balko und seiner Freundin Corinna (so bezaubernd wie tough: Brigitte Wöllner) gegen Ende. Während es die beiden leidenschaftlich treiben, er mit Gipsbein und Verbänden um den Körper, fährt die Kamera aus dem Fenster hinaus, wandert über Kreuzberger Hinterhöfe und kommt schließlich auf der Mauer zum Stehen, die sich, einer gigantischen Narbe auf der Wunde gleich, die die Teilung ins Fleisch der Stadt gerissen hat, durchs Bild zieht. Und wie auf dem Körper der Figur, der für den Kleinkriminellen, den Lumpenproletarier alles ist, was er hat, unerbittliche Kämpfe ausgetragen werden, er mit Knüppeln und Fäusten geschunden und an einer Stelle sein Bein von einem Auto überfahren wird, war die Stadt Schauplatz der ideologischen Kämpfe zwischen zwei (vermeintlich) verschiedenen, verfeindeten Systemen, Frontstadt des Kalten Kriegs.

Zu Beginn begegnen wir Dave Balko, wie auch die Figur heißt, in seiner Zelle im Jugendknast in Plötzensee. Mit jedem Sekundenton der Uhr, die auf die Tagesschau vorbereitet, gibt es einen Schnitt zu einer näheren Einstellung vom Gesicht des auf dem Bett liegenden, der es bald selbst in die Nachrichten schaffen wird, wohl auf die einzige Art, die einem wie ihm vergönnt sein kann. Unter vollem Körpereinsatz, durch den Schnitt ins eigene Fleisch, das Vortäuschen eines Suizidversuchs, gelingt es ihm zu fliehen, wobei ein Wachmann ums Leben kommt, ohne dass es Balkos Absicht gewesen wäre. Er macht sich auf die Suche nach Corinna, die im Nachtclub New Eden, unter der Fuchtel des dubiosen Geschäftsmanns Hoffmann (Rolf Eden), arbeitet. Bald sieht sich Dave nicht nur von der Polizei gejagt, sondern auch von den brutalen Handlangern Hoffmanns. Mit dem Motorrad zieht er schließlich in seine letzte Schlacht, die keine Sieger kennen wird.

Der schönste Blurb, den ich jemals auf einem Buch oder sonst wo gelesen habe, lautet: „Chandler wrote as if pain hurt and life mattered.“ Genauso haben Schenkel, Balko und die anderen einen Film gemacht, der kein gutes Ende nehmen kann, in dem das charakteristische „Game Over“ der Spielautomaten den düsteren Ausgang markiert, und in dem doch für Momente alles möglich und von größter Bedeutung zu sein scheint: das Leben, die Liebe, der Schmerz, alles. Gleich bei der Wiedersehensszene zwischen Dave und Corinna im New Eden wird klar, dass sie für ihn die Eine ist. Wie sich ihre Gesichtszüge aufhellen, sobald sie den Geliebten erkennt, wie sie sich in die Arme fallen. Doch natürlich macht die große Liebe auch verwundbar. If life matters (and so does love), pain hurts.

„Kalt wie Eis“ ist der seltene Glücksfall von einem Film, dem die Unerfahrenheit seines Regisseurs und sein niedriges Budget nicht zum Nachteil gereichen, sondern die aus der Beschränktheit ihrer Mittel eine ganz eigene Ästhetik der Imperfektion und des Unfertigen entwickeln. Der Film wird von einer rohen Energie durchflutet, die ans US-amerikanische und italienische Genrekino der Siebziger gemahnt (etwa an die Filme Russ Meyers oder Mario Bavas „Rabid Dogs“), die sich vor allem aber in begnadeten Debüts (oder zumindest Frühwerken) ambitionierter Filmemacher findet: in George Millers „Mad Max“, Abel Ferraras „The Driller Killer“ oder Tobe Hoopers „The Texas Chainsaw Massacre“.

Mit letzterem verbindet Schenkels Film auch, dass er (nicht nur, aber ganz besonders in seinen Gewaltszenen) ein ganz und gar physisches Kino schaffen will, das sich aller Mittel des Mediums bedient, um die Erfahrung der Gewalt für die Zuschauenden so unmittelbar körperlich spürbar zu machen, wie es die sichere Distanz zum Geschehen auf der Leinwand oder dem Bildschirm nur irgend möglich macht. In der Szene, in der Balko den Gangster Kowalski (Otto Sander) ausraubt, hängt er ihn nach erbittertem Kampf mit seinem Anzug an einen Kleiderhaken (in dem sich, zufällig oder auch nicht, der Fleischerhaken aus Hoopers Film spiegeln mag) und malträtiert ihn mit seinen Fäusten. Close-Ups zeigen, schnell hintereinander geschnitten und von dräuenden E-Gitarren-Rückkopplungen untermalt, das verzerrte Gesicht des Zuschlagenden, das bald blutüberströmte des Geschlagenen, die Fäuste, die auf einen Körper eindreschen. Wenn Balko wenig später selbst empfindlich einstecken muss, seinerseits von den beiden Schergen Hoffmanns ohnmächtig geschlagen wird, geht er mit blitzschnellen Jump-Cuts zu Boden, seine Bewusstlosigkeit wird in einem Schnitt-Stakkato aufgelöst, das Störbilder eines (damaligen) Fernsehers, die Kugel eines Flipperautomaten (samt den dazugehörigen Geräuschen) und schließlich ein Bild der blutüberströmten Corinna zeigt.

Dabei ist „Kalt wie Eis“ aber frei von jeder Epigonalität. Seine Energie ist eine West-Berlin-im-Jahr-1981-Energie. So wie die Gewalt auch in den Körper des Films, der Inhalt also in die Form, eingeschrieben wird, so ist und erzählt die enorm wichtige Wave- und Punk-Musik von Tempo, Malaria, den Neon Babies und anderen Stadtgeschichte. Am deutlichsten natürlich in dem von Tempo auf Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch (letztere drei die Sprachen der Besatzer) gesungenen „You are leaving the American sector.“ Dass die Kunstwelt den Punk, gerade in einer seiner schwer zugänglichsten Formen, nämlich in Gestalt von Blixa Bargeld, der, wie Mark Reeder in der schönen Musik-Doku „B Movie – Lust & Sound in West-Berlin 1979-1989“ erklärt, ziemlich exzentrisch war, selbst für diese Stadt und diese Zeit, und in „Kalt wie Eis“ in einer Galerie als lebendes Exponat auftreten darf, „domestiziert“ hat, wie Marcus Stiglegger im Booklet der DVD schreibt, während „Dave als authentischer Vertreter der Straßen- und Subkultur“ außen vor bleibt, ist sicherlich nur die halbe Wahrheit. Aus den Konzert- und Musikstudio-Szenen des Films spricht eine unbändige Kreativität, die gerade in dieser Stadt, die noch mehr uneins mit sich selbst war als es Städte eh immer schon sind (umso mehr, je größer die sozialen und kulturellen Unterschiede in ihnen sind), die unter zwei Staaten, zwei Systemen aufgeteilt war, einen idealen Nährboden hatte. Um es mit einem der Sprüche an der Wand von Balkos Zelle zu Beginn zu sagen: „Ohne Mauer keine Power.“

Wenn man sich fragt, was von dieser Power, dieser Energie im immer weiter durchgentrifzierten Gesamtberlin des Jahres 2017 bleibt, so kann man antworten, zum Beispiel dieser Film. Immerhin.

Fifty Shades of Grey – Gefährliche Liebe

(USA 2017, Regie: James Foley)

Shades of Verwertung
von Jürgen Kiontke

Sie hat es schwer, die heterosexuelle, weiße Liebe. Er Milliardär, sie als Hilfsverlegerin. Christian Grey (Jamie Dornan), der 27-jährige Geldsack aus dem beliebten Soft-SM-Sex-Buch „Fifty Shades of Grey“, und Hauptfigur …

Sie hat es schwer, die heterosexuelle, weiße Liebe. Er Milliardär, sie als Hilfsverlegerin. Christian Grey (Jamie Dornan), der 27-jährige Geldsack aus dem beliebten Soft-SM-Sex-Buch „Fifty Shades of Grey“, und Hauptfigur Ana Steele (Dakota Johnson) gehen auch im Kino in die zweite Runde.

Die zweite Verfilmung der Reihe („Gefährliche Liebe“) beginnt langsam, und erklärt recht ausführlich den ersten Teil. ER hat SIE in die Folterkammer mitgenommen, das war schockierend. Sie will trotzdem wieder hin, aber wie Frau Dr. Sommer in der „Bravo“ muss sie dem besitzergreifenden jungen Mann klarmachen: Haue ist okay, aber bitte freiwillig.

Es dominiert die Missionarsstellung. Ana ringt um ihre Autonomie, im Job wie auf dem Streckbett. Auch auf Arbeit herrscht gediegene Langeweile: Die junge Frau von heute will es als Verlagsassistentin allein schaffen. Aber als Christian den übergriffigen Chef entsorgt, ist sie auch nicht so richtig böse. Denn sie hat sich erfolgreich hochgeschlafen. Mit Manuela-Schwesig-Gleichstellungspolitik fährst du in „Fifty Shades of Grey“ nicht gerade auf der Überholspur.

Wie wohnt man eigentlich, wenn man „24.000 Dollar in der Viertelstunde“ (Christian) verdient? Es gibt einen Swimming Pool mit Blumen und eine Dusche zum Gevögeltwerden. Liebe ist eine saubere Sache. Freitreppen, polierte Flächen, bodentiefe Fenster, traumahafte Küchenpsychologie.
Und natürlich genügend Personal für die Drecksarbeit. Denn fehlen darf nicht, wir sind im Märchen, die böse Hexe, die alles kaputt machen will und auch noch aussieht wie eine gebotoxte Kim Basinger. Nein, sie ist es sogar. Bei ihr hat es bekanntlich nur 9½ Wochen gehalten. „Sie haben es doch nur auf sein Geld abgesehen“, intrigiert die ältere, die abgelegte, die enttäuschte Rivalin.

Gut, dass Basinger uns an die Wertschöpfungketten erinnert! „Fifty Shades of Grey – Gefährliche Liebe“ ist ja irgendwie, der Name sagt es schon, ein Film aus den Fifties. Im Nachkriegskino haben sie immer ein Lied auf den gelungenen Kapitalismus gesungen, jetzt muss Ana alle zehn Minuten ran, um es zu stöhnen. Tu mir weh, aber lass es freiwillig aussehen: der immer gleiche Song über unsere Welt, wie diese sich selber sieht.
Wenigstens fehlt die eine Phrase aus dem Buch, die so oft wiederholt wird, dass sie den Roman 50 Seiten länger macht: Ana beißt sich nicht mehr auf die Unterlippe. Da ist jetzt Lippenstift drauf. In Teil 3 reden wir dann über Kinder. Liebe? Voll gefährlich!

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Jungle World

Hungerjahre – in einem reichen Land

(D 1980, Regie: Jutta Brückner)

Wachsende Versteinerungen
von Wolfgang Nierlin

Die Stimmen der Erinnerung kommen aus dem Off und erzählen vom eigenen nicht gelebten, verschobenen oder versäumten Leben, vom Verdrängten und Versteinerten. Die Filmemacherin Jutta Brückner, geboren 1941, spricht in …

Die Stimmen der Erinnerung kommen aus dem Off und erzählen vom eigenen nicht gelebten, verschobenen oder versäumten Leben, vom Verdrängten und Versteinerten. Die Filmemacherin Jutta Brückner, geboren 1941, spricht in ihren autobiographischen Filmen offen und genau von sich selbst und von ihrer Mutter, von den Ablagerungen der Geschichte in den Körpern und Seelen der Frauen, von unbewusst tradierten Verhaltensmustern, vom entfremdeten eigenen Körper und einer allmählicher Bewusstwerdung. In ihrem ersten Spielfilm „Hungerjahre – in einem reichen Land“ (1980), „der subjektiven Trauerarbeit einer Tochter“, ringt Brückners Alter Ego Ursula Scheuner (Britta Pohland) gegen das lähmende Vergessen um einen Selbstbezug. 1953 ist das sensible, intelligente Mädchen 13 Jahre alt und eben mit ihren Eltern in eine neue Wohnung gezogen. Die Verhältnisse sind beengt, wie ein langsamer Schwenk über die lange, graue Hausfassade mit ihren vielen (anonymen) Fenstern zeigt.

Ihre erste Menstruation ist für Ursula ein traumatisches Erlebnis. Zwischen der Abwehr ihrer eigenen körperlichen Veränderung und der verdrängten Sexualität der Elterngeneration erfährt sie zudem, dass Frauen nicht dürfen, was für Männer selbstverständlich scheint. Ursulas ängstliche, aber ehrgeizige Mutter Gerda, selbst gezeichnet von einer verlorenen Jugend, isoliert fortan ihre Tochter von Gleichaltrigen, reglementiert ihren Aktionsradius und straft mit Verboten. Die im Berichtszeitraum bis 1956 zur jungen Frau heranreifende Ursula versinkt „auf der Flucht vor Blicken und Worten“ zunehmend in einer Depression. Sie verliert Lust und Interesse an der Schule, ergibt sich Fressattacken, verletzt sich selbst, verwahrlost. „Ich fühle mich überflüssig“, sagt Ursula aus der Retrospektive. Ihre Mutter reagiert mit Unverständnis. Und ihr Vater, der während der Nazi-Diktatur Mitglied der Freien Proletarischen Jugend war, von diesem Mythos zehrt und dem gestohlenen Leben nachtrauert, bleibt für sie irgendwie unerreichbar.

Jutta Brückner verschränkt ihre in Schwarzweiß gedrehte, kammerspielartige Adoleszenzgeschichte immer wieder aufschlussreich mit zeitgeschichtlichen Dokumenten, etwa dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, der Einführung der Wehrpflicht, dem von heftigen Demonstrationen begleiteten KPD-Verbot oder auch einer fast ausschließlich unter Männerblicken stattfindenden Miss World-Wahl. Die Kontinuität der Geschichte resultiert in ihrem nüchternen Film aus einer komplexen Dialektik zwischen Öffentlichem und Privatem, zwischen Außen und Innen. „Wie konnte man innen und außen gleichzeitig leben?“, ist dann auch die zentrale Frage in „Hungerjahre“, der mit distanzierenden statt mit dramatisierenden Mitteln gemacht ist. Das Statische und Verfremdende darin spiegelt insofern nicht nur die „wachsende Versteinerung“ einer jungen Frau, sondern auch den bleiernen Stillstand einer ganzen Gesellschaft. „Ich wollte, dass der Film vollkommen anders wird. Ich wollte, dass er ‚von jenseits‘ kommt“, hat die Regisseurin über die „asketische Strenge“ ihres Films gesagt.

Eng verknüpft sind die darin beschriebenen seelischen und gesellschaftlichen „Hungerjahre“ mit Brückners erstem, 1975 entstandenem (und der DVD nebst einem umfangreichen PDF-Booklet beigegebenem) Dokumentarfilm „Tue recht und scheue niemand – Das Leben der Gerda Siepebrink“, der das „versäumte“, angsterfüllte Leben ihrer Mutter erzählt. „Wie man leben sollte, weiß man, wenn es vorbei ist“, sagt diese zu Beginn der aus historischen Fotografien und Selbstzeugnissen zusammengesetzten Biographie. Entlang der Zeitläufte entfaltet sich diese zwischen 1922 und 1975 in einem kleinbürgerlichen, von vielen Entbehrungen und Nöten gekennzeichneten Milieu. Indem Jutta Brückner mit quasi objektiven Mitteln eine subjektive Erzählung vergegenwärtigt, legt der – dem Fotografen August Sander gewidmete – „Foto-Film“ psychische und gesellschaftlich tradierte Muster individueller Versteinerung offen. In „Hungerjahre“ werden diese dann ganz innerlich und treiben die junge Heldin schließlich in eine geflüsterte Litanei aus Aufbegehren und Selbstdestruktion: „Die Kälte zerstören, den Panzer zerbrechen, im Schmerz zergehen“, deklamiert Ursula, während sie sich mit der Spitze des Zirkels unter die Haut fährt.

La La Land

(USA 2016, Regie: Damien Chazelle)

Morgen soll wie gestern sein
von Ricardo Brunn

Manchmal ist alles ungerecht. Im Stau zum Beispiel. Hier wird der Mensch an die Grenzen seiner Selbstbestimmung geführt, bekommt das Ende der Freiheit auf der für ebendiese Freiheit stehenden Straße …

Manchmal ist alles ungerecht. Im Stau zum Beispiel. Hier wird der Mensch an die Grenzen seiner Selbstbestimmung geführt, bekommt das Ende der Freiheit auf der für ebendiese Freiheit stehenden Straße bitterlich vor Augen geführt. Um ihn herum Menschen, die sind wie er selbst, die in der Starre des Verkehrs die eigene Ausweglosigkeit spiegeln und dabei glotzen wie in Federico Fellinis „8½“ (IT 1963). Da träumt der Protagonist zu Beginn von einem Stau, der sein kreatives Dilemma auf den Punkt bringt: Ein Regisseur (Marcello Mastroianni) muss einen Film drehen, hat aber selbst während der Dreharbeiten keine Ahnung worüber. Als Zitat wird dieses Dilemma in „Falling Down“ (USA 1993; R: Joel Schumacher) in die existentielle Ratlosigkeit eines Everyman (Michael Douglas) überführt, der den einfachen Traum hat, endlich nach Hause gehen zu können. Zur gleichen Zeit steht auch Michael Stipe im Musikvideo zu „Everybody Hurts“ (USA 1993; R: Jake Scott) im Stau, singt „Sometimes everything is wrong“ und steigt nach dieser Erkenntnis schließlich aus dem Auto, springt auf das Dach eines anderen und läuft los. Über Untertitel werden die Gedanken der anderen Autofahrerinnen und ihrer Beifahrer sichtbar. Am Ende steigen sie ebenfalls aus, sagen alles ab, sind raus aus dem Kreislauf von Produktion, Konsum und Leere, der weder vor noch zurück kennt. Indem sich die Protagonisten ihrer Krise bewusst werden, liefert ein Stau die Möglichkeit für einen Neuanfang.

Irgendwo zwischen all den stehen gebliebenen Autos sucht auch „La La Land“ von Damien Chazelle seinen Platz, beruft sich auf diesen (filmhistorischen) Stau und führt uns in seiner ersten Szene sogleich noch einmal Krise und Chance des erlahmenden Verkehrs vor Augen sowie die Protagonisten aufs Spielfeld: Mia (Emma Stone) will in Hollywood als Schauspielerin Karriere machen, hetzt allerdings nur von einem erniedrigenden Vorsprechen zum nächsten. Nichts geht voran. Auch Sebastian (Ryan Gosling) steckt fest. Als Pianist verdingt er sich in mittelmäßigen Restaurants, würde jedoch viel lieber seinen eigenen Jazz-Club eröffnen, um dem todgeweihten Musikgenre neues Leben einzuhauchen. Auf einer Party lernen sich Mia und Sebastian schließlich kennen, nachdem sie zuvor schon wild hupend im Stau aneinander geraten waren. Gemeinsam stolpern die beiden Idealisten durch ein L.A., das wie sie selbst nur aus Versatzstücken der goldenen Ära Hollywoods besteht. Während Mia von den Filmstars vergangener Tage schwärmt, entfaltet sich in Sebastians Kopf die Musik von damals. Ein Vorankommen ist schwer im Stau des Lebens, wenn Zukunftsversprechen der Vergangenheit angehören und der Sound der Gegenwart aus dem Marimba-Klingelton besteht. Doch die Hoffnung verbindet Mia und Sebastian. Die Erfüllung ihrer Träume ist immer nur einen Tanzschritt entfernt.

Schon in den Verleihtiteln sucht sich diese Hoffnung ihren Weg. Das Studiocanal-Logo flimmert schwarz-weiß und zerkratzt im beinahe quadratischen Normalformat vor den Augen des Zuschauers, bis der Cinemascope-Titel in knalligen Technicolor-Farben die Leinwand nach beiden Seiten öffnet. Dann der Stau und bald darauf das Gefühl, trotz bunter Tanzeinlagen auf ewig darin steckenbleiben zu müssen. Aus dem Stau der Fahrzeuge entwickelt sich nach und nach ein Stau der Bilder. Denn „La La Land“ ist gefangen in einer Zeitschleife, kommt über liebevolles Nachgeäffe nie hinaus. Die Echos aus der Vergangenheit legen sich bleischwer über die Gegenwart, der jede Kreativität und Selbstständigkeit abhanden gekommen zu sein scheint. Mia und Sebastian wollen sein wie die toten Stars. Gosling zitiert sich in seiner Rolle unentwegt selbst. Getanzt werden die Tänze aus anderen Filmen in den Dekors aus Klassikern des Musicalfilms. Und gesungen werden einfallslose Lieder, die in ihrem Massenkompatibilitätsanspruch an keine musikalische Tradition mehr ernsthaft anknüpfen können. Hoffnung wird in „La La Land“ übersetzt in Nostalgie und ist somit nicht mehr in die Zukunft gerichtet. Hoffnung ist in „La La Land“ die Hoffnung auf Gestern. Der Film beweint den Verlust eines Kinos als Exzess und wildes Abenteuer gegen die Banalität des Daseins. Doch er selbst backt die allerkleinsten Konsensbrötchen. Erschlafft und müde wirkt “La La Land” im Vergleich zu den Vorbildern. Der Stepptanz in den Hügeln. Der Walzer in den Sternen. Wer einmal Fred Astaire hat tanzen sehen, wer einmal in den Genuss der Choreografien eines Busby Berkeley gekommen ist, dem wird die primärfarbene Tristesse von “La La Land” erst wirklich bewusst.

In seiner Historizität beruft sich Damien Chazelle auf einen Zuschauer, der der Geschichte entrissen ist, keinen Vergleich mehr anstellen kann und sich auch nicht wundert, wenn es ein Remake nach dem anderen hagelt, wenn der alte Teebeutel für eine neue Generation in immer kürzeren Abständen noch einmal frisch aufgebrüht wird. Alles ist zum Zitat erstarrt und jeder Energie beraubt. Somit erfährt der Filmtitel, der einerseits als geflügeltes Wort für einen Zustand der Träumerei und andererseits für die in ihren Träumen verlorene Stadt L.A. steht, eine entscheidende Umdeutung. Die träumerische Musikalität des Titels steht vielmehr für hilflose Repetition. Wie ein immer schwächer werdendes Echo wiederholt „la, la“ Filmgeschichte und mündet in das bedeutungslose „bla, bla“ der Gegenwart.

So sehr Damien Chazelle den Traum von der Selbstverwirklichung und allen damit verbundenen Konsequenzen verhandeln möchte, der Regisseur verpasst es einen eigenen cineastischen Traum zu träumen. „La La Land“ ist demnach nicht nur ein trauriger Film über die Liebe als Opfer der Karriere. „La La Land“ ist ein trauriger Film, weil er sich nicht von seiner nostalgisch verklärten Sicht auf die Welt lösen kann. Viele Beobachtungen abseits der getanzten und besungenen Zitatstürme sind richtig und treiben einem die Tränen in die Augen. Doch so wie „Make America great again“ der rückwärtsgewandte Leitsatz des neuen amerikanischen Präsidenten lautet, feiert „La La Land“ die eigene deprimierende Utopielosigkeit.

Bella e perduta – Eine Reise durch Italien

(IT 2015, Regie: Pietro Marcello)

Die Tränen des Büffels
von Wolfgang Nierlin

Ein kleines, männliches Büffelkalb wird in der Landschaft Kampaniens ausgesetzt. Weil von ihm keine Milch (für die Mozzarella-Produktion) zu erwarten ist, gilt es in der heutigen Zeit als „nutzlos“. Der …

Ein kleines, männliches Büffelkalb wird in der Landschaft Kampaniens ausgesetzt. Weil von ihm keine Milch (für die Mozzarella-Produktion) zu erwarten ist, gilt es in der heutigen Zeit als „nutzlos“. Der Topos vom unerwünschten, ausgesetzten Kind verbindet sich in Pietro Marcellos herausragendem Film „Bella e perduta – Eine Reise durch Italien“ – wie in Robert Bressons Eselsgeschichte „Zum Beispiel Balthasar“ (1966) – mit den Stationen eines Lebensweges. Dieser endet im Schlachthaus, wohin Sarchiapone, so der Name des kampanischen Büffels, mit tränenden Augen gebracht wird. Zu Beginn sehen wir ihn aus subjektiver Perspektive auf seinem letzten Weg durch die schmalen Gänge des Schlachthofes seinem Schicksal entgegengehen. Doch Sarchiapone besitzt nicht nur eine Seele, sondern auch die Gabe der Sprache. Mit ihr erzählt er uns aus dem Off von seinem „schlimmen Erdenlos“ und gewinnt dadurch eine Geschichte.

Diese beginnt mit dem gutmütigen Hirten Tommaso Cestrone, der den jungen Büffel aufnimmt und pflegt. Als freiwilliger Aufseher des Palasts von Carditello, einer verfallenden ehemaligen Bourbonen-Residenz in der Region Caserta, gilt der selbstlose Tommaso als „Engel von Carditello“. Sarchiapone spricht einmal von „geschützter Rast“, die er bei dem Tierfreund genießt. Doch nachts wird der Prachtbau immer wieder von der Camorra geplündert. Pietro Marcello, der mit Laienspielern gedreht hat, montiert in seinen zwischen Realität, Traum und Märchen oszillierenden Film immer wieder dokumentarische Aufnahmen von Demonstrationen, die sich gegen das organisierte Verbrechen richten. Als Tommaso Cestrone, dem der Film gewidmet ist, an einem Weihnachtsabend stirbt, gerät das Büffelkalb in die Obhut von Pulcinella, dem Narr aus der Comedia dell’arte.

Doch in „Bella e perduta“ („Schön und verloren“) ist der einfältige Diener mit der Maske ein „Vermittler zwischen Lebenden und Toten“. Er führe „höhere Befehle“ aus und lausche den Toten, um mit den Lebenden zu sprechen. „Voller Vertrauen in jene Intelligenz, die alles beschließt, aber zu beschäftigt ist, um sich zu erklären“, erscheint Pulcinella zugleich als sanfter Streiter für die Bewahrung der Schöpfung. Der Antagonismus zwischen Naturschönheit sowie menschlicher Gier und Zerstörungswut, zwischen Bewahrung der Tradition und Geschichtsvergessenheit zieht sich durch den Film. Als Sarchiapone schließlich bei dem Dichter Gesuino landet, der D’Annunzio zitiert und selbst Kunstschätze raubt, und überdies Pulcinella sich für ein irdisches Dasein entscheidet, ist das Los des abhängigen Tieres besiegelt. Gegen diese Ausweglosigkeit beschwört Pietro Marcello in seiner bukolischen Filmerzählung in freier Form, dabei auf bewegende Weise musikalisch getragen von u. a. Respighi, Donizetti und Scarlatti, die Schönheit der Natur und die Liebe zum Leben.

shopper personal kirsten

Personal Shopper

(F 2016, Regie: Olivier Assayas)

Gespenstische Welt
von Nicolai Bühnemann

Etwa in der Mitte des Films ist Kristen Stewart da, wo sie schon zu Beginn von Olivier Assayas Vorgänger „Clouds of Sils Maria“ war: in einem Zug. Wo sie allerdings …

Etwa in der Mitte des Films ist Kristen Stewart da, wo sie schon zu Beginn von Olivier Assayas Vorgänger „Clouds of Sils Maria“ war: in einem Zug. Wo sie allerdings dort mit gleich mehreren Telefonen jonglierte, um die privaten und beruflichen Termine ihrer Chefin, einer von Juliette Binoche gespielten Schauspielerin, zu koordinieren, ist sie hier mit nur einem iPhone beschäftigt. Kurz nachdem sie in einem leerstehenden Landhaus nahe Paris einen – in gleichen Teilen beeindruckend und altmodisch animierten – Geist gesehen hat, tauscht sie mit einem Unbekannten Kurznachrichten aus. Die SMS-Unterhaltung, die sich über mehr als eine halbe Stunde Erzählzeit erstreckt – während Maureen mit dem Zug von Paris nach London fährt, in einer Boutique Kleidung für ihre Chefin Kyra (Nora von Waldstätten) kauft und den nächsten Zug zurück nach Paris nimmt – ist einer der schönsten Filmdialoge in einem Film der letzten paar Jahren. Und zwar, weil der Film das Medium des Mobiltelefons und die Sprache, die es hervorbringt, in ihrer Alltagsbanalität bedingungslos ernst nimmt, eine Art ganz eigene Poesie der Textnachrichten entwickelt.

Dass man schließlich erfährt, wer sich hinter dem anonymen Gegenpart dieser Unterhaltung verbirgt, ist eine bewusst gesetzte Enttäuschung. Die Auflösung kann schließlich gar nicht so spektakulär sein wie die lange aufrecht erhaltene Annahme, dass es sich um einen Kontakt mit dem Jenseits handelt, der die geistige (Omni-)Präsenz von Menschen bei gleichzeitiger physischer Abwesenheit, die mit den Technologien der Gegenwart einhergeht, konsequent und naheliegend ins Unheimliche überführt.

„I want you and Iwill have you/ Not physically/ To make contact/ First.“ schreibt ihr der Unbekannte. Über den Dialog legt sich damit auch eine erotische Spannung, die Möglichkeit eines sexuellen Kontakts mit einem mysteriösen Unbekannten. Maureen fährt in Kyras Wohnung, probiert die noblen Kleider an, die sie für dieses erstanden hat, schickt ein Foto von sich. Beim Umziehen sind – zum zweiten Mal im Film – ihre nackten Brüste zu sehen, doch um die Sexualisierung seiner Hauptdarstellerin für begehrende (männliche) Blicke geht es Assayas und seinem Kameramann Yorick Le Saux, mit dem er seit „Boarding Gate“ (2007) immer wieder zusammengearbeitet hat, nicht. Vielmehr baut der Film zu Maureen, der einsamsten aller Assayas-Heldinnen, eine große Intimität auf, die keine Close-Ups braucht. Schließlich masturbiert sie im Kleid und Bett ihrer Chefin, während die Kamera durch die Tür verschwindet, in einen benachbarten Raum gleitet und nur noch ihr Stöhnen zu hören ist. Ganz deutlich ist sie hier nicht Objekt, sondern Subjekt eines Begehrens, das längst keinen klar definierten Gegenstand mehr zu haben scheint (einen Freund hat Maureen zwar wohl auch, aber dass er nur zwei Mal als Chatpartner auf dem Bildschirm ihres Computers zu sehen ist, spricht Bände).

Der Plot, den der Film betont langsam in seinen Dialogen entwickelt, in kleinen Informationshäppchen, deren gemeinsamer Nenner ist, dass sie die Gegenwart und unmittelbare Vergangenheit der Protagonistin beleuchten, dreht sich um die Mittzwanzigerin Maureen, die in Paris festsitzt und wartet. Ihr Zwillingsbruder ist vor drei Monaten an einer Herzerkrankung, von der auch sie betroffen ist, verstorben, und sie hatte einst die Verabredung mit ihm getroffen, dass wer auch immer von den Beiden zuerst stirbt, der oder dem Verbleibenden ein Zeichen aus dem Jenseits geben würde. Was das Warten nicht eben versüßt, ist ihr Job als personal shopper für das reiche und arrogante Mode-Starlett Kyra.

Thematisch schließt der Film an das vorherige Schaffen Assayas‘ an. Auch hier geht es um Mobilität, Entwurzelung, Sprache, den alltäglichen Umgang mit neuen Medien. So bewegt sich Maureen, die an einer Stelle sagt, dass sie nicht den leisesten Schimmer hat, wo sie in sechs Monaten sein wird, mit dem Roller, dem Auto, dem Flugzeug oder eben dem Zug in und zwischen Paris, London und schließlich Oman, hantiert mit Handys und Laptops, interagiert mit sozialen Netzwerken, Suchmaschinen und Chatprogrammen.
Allerdings ist die Figur einerseits deutlich introvertierter angelegt als zum Beispiel die der Protagonistin in „Clouds of Sils Maria“. Spielte sie bereits dort eine Frau, die in ihrem Assistentinnen-Job am Rande der Welt von Geld und Glamour stand, ohne dieser doch wirklich anzugehören, so ging es dabei doch zumindest noch um die undurchsichtige, zunehmend diffizile Beziehung zweier Frauen, während sie hier vollkommen auf sich selbst gestellt ist. Ein einziges Mal versucht sie vergeblich, persönlichen Kontakt mit Kyra aufzunehmen, die in der wohl skurrilsten Szene des Films nunmehr zur reinen Karikatur ihres sozialen Stands verkommt: Während sie gemeinsam mit ihrem Anwalt in einer Telefonkonferenz wichtige Dinge klärt – es geht dabei, warum auch immer, um Gorillas! – macht sie auf ihrem Bett sonderbar anmutende Dehnübungen und hat für den störenden Eindringling in der Tür nur eine verscheuchende Handbewegungen übrig.

Andererseits überführt der Filmemacher seine bekannten Themen dabei auch konsequent ins Übernatürliche und führt damit in die globalisierte Welt mit ihren immensen Menschen-, Geld- und Datenströmen eine letzte frontier ein, die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Toten. Die direkten Reminiszenzen ans Genre-Kino, vor allem durch das Motiv des haunted house, bilden in „Personal Shopper“ nur die Spitze des Eisberges einer Welt, die, in klaustrophobischen Scope-Einstellungen eingefangen, durch und durch gespenstisch ist. Die Kamera entwickelt eine Art Hypersensibilität für das Unheimliche im Alltäglichen. Das unmotivierte Öffnen und Schließen einer automatischen Tür. Die kleinsten Veränderungen auf dem stets angespannten Gesicht der Hauptdarstellerin. Gegenstände, die sich, winzig im Bildhintergrund zu sehen, (wohl nicht nur wie) von Geisterhand bewegen. Dass es, bei allen Anknüpfungspunkten zur urbanen Wirklichkeit der Gegenwart, Assayas mitnichten um einen Realismus geht, der als Kontrapunkt zu den übernatürlichen Elementen des Films funktionieren könnte, zeigt sich vor allem in dem weit verbreiteten Glauben aller Figuren an das nicht rationell Erklärbare. Die Menschen, die zu Wort kommen, glauben nicht jede Geschichte über Geister und Begegnungen mit ihnen, die sie hören, aber sie glauben wohl alle, dass es nach dem Leben irgendwie weiter geht. Niemand erklärt Maureen, die ihrerseits vollkommen offen mit dem umgeht, was sie umtreibt, für verrückt, wie man es mit den ProtagonistInnen diverser Horrorfilme vor ihr tat. Der Zugriff von „Personal Shopper“ auf Filmgeschichte geschieht, was ein besonderes Schmankerl für einen Aspect Ratio-Fetischisten wie mich ist, unterdessen auch dadurch, dass der Film verschiedene Seitenverhältnisse durchgeht, die von Bedeutung für das Medium waren oder sind. So wird ein Youtube-Video von einer Seance aus den Sechzigern, das sich Maureen ansieht, im Bildformat 4:3 im Scope-Bild des Films mit schwarzen Rändern an den Seiten wiedergegeben (und damit eben nicht ganz leinwandfüllend). Auf den gängigen 16:9-Bildschirmen ihres Handys und Laptops sind die schwarzen Balken dann einfach etwas schmaler.

Es passt zu diesem im vielfachen Sinne phantastischen Film, dass er mit einer Frage endet, die auf den Ursprungs alles Unheimlichen zielt, und die er gar nicht erst vorgibt, beantworten zu können. Der Frage nach der Beschaffenheit dieses flüchtigen, in unentwegter Veränderung begriffenen, fragilen Etwas, das wir als Ich bezeichnen.

Dieser Text ist zuerst gekürzt erschienen auf: Perlentaucher.de

Resident Evil 6: The Final Chapter

(F/D/CA/AUS 2016, Regie: Paul W.S. Anderson)

Erkenntnisschock im Horrorschlock: In der Zombienormalität ist Geist Minorität
von David Auer

Vorspann: If you don’t join ‘em, you’re beat „You can die with them, or you can die for them“, stellt der Director, gespielt von Horrorikone Sigourney Weaver, am Ende von …

Vorspann: If you don’t join ‘em, you’re beat

„You can die with them, or you can die for them“, stellt der Director, gespielt von Horrorikone Sigourney Weaver, am Ende von „The Cabin in the Woods“ (2012) die beiden letzten Überlebenden vor die Wahl, die keine ist. Denn sterben müssen sie ja so oder so, sei es nun – verbrämt utilitaristisch – zum Wohle der Menschheit, oder als Strafe dafür, nicht mitmachen zu wollen, was den Untergang der gesamten Zivilisation auch gleich mit sich zieht. In Drew Goddards und Joss Whedons Metahorror-Blockbuster entscheiden sich Dana und Marty, das final girl und der final boy, für die zweite Option, denn, das geben sie zu verstehen: Partizipation bedeutet den Untergang aller in der totalisierten Vernichtungssimulation der Horrorkontroll-Bubble, aber eben nur in Zeitlupe. Dagegenhalten hingegen beschleunigt den Prozess und die ganze Chose ist auch für den Rest schneller vorbei.

Von Baudrillards Kritiksimulation zu Negri/Hardts Multitudlereien reichen die widerständigen Antworten auf die sinisteren Machenschaften des zusammendelirierten weltumspannenden Empires von genuinem Terror bis zu mal mehr, mal weniger gefährlichem Vor-sich-hin-Netzwerken. Sollte sich die zweite, wie in „Cabin“, zu sehr ziehen, dann greift man eben zur ersten. Beide Taktiken verhalten sich zum Betrieb des Bestehenden allerdings wie der verpflichtende power nap im Kreativbüro zur „flachen“ Hierarchie in der Bank: Mitmachen im Racket is key, und eine Alternative, gar eine subversive, gibt es nicht (außer in der Gosse zu landen; aber ein solches Schicksal ist der Totalität genauso integral, die nur so heißt, weil sie eben eine Objektivität bezeichnet). Stets gilt: Man müsse, egal wobei, zwar leiden, ja, beim großen Hobeln fielen beizeiten sogar Späne, Opfer müssten eben sein, Köpfe selbstverständlich rollen, und nach einem harten Tag voll Revolte oder Arbeit winke immerhin Entspannung, auf dass man sich am nächsten wieder gut einspannen kann. Für ISIS-Kämpfer und jene der späten (Klein-)Bobourgeoisie wartet am Ende des Martyriums die ersehnte Erlösung, sei es entweder in Form von Ruhm, Ehre, EU-finanzierten Hinterbliebenenrenten, 72 Jungfrauen oder Zweitwohnsitz am Land bzw. dem Weiterarbeiten-Dürfen mit 72, denn die Selbstverwirklichung darf nie aufhören, selbst nicht beim zuhause Kugelschreiberzusammenbasteln.

Archetypus Postwachstum

Dass die Katastrophe, wovon selbsternannte Revolutionäre meist nicht nur insgeheim träumen, nicht erst bevorsteht, sondern schon längst passiert ist, sowie darin besteht, dass es immer so weiter geht, wusste bereits Walter Benjamin und weiß auch Film noch manchmal. Und so sehr sich religiöse Erweckungs- und Erlösungs- in Widerstandsfantasien in säkularisierter Form manifestieren, so sehr ist (Post-)Apokalypsekino von biblischen Motiven durchzogen, die sich unschwer als solche dechiffrieren lassen. Danas und Martys Entscheidung ist klinisch, weil sie damit den Säuberungswahn aus der Noah-Episode emulieren. Sie handeln den Shareholdern der Umbrella Corp. nicht unähnlich, die den T-Virus im ersten Teil der Gameverfilmungsreihe „Resident Evil“ (2002) nur auf die Menschheit loslassen, um sich, nachdem es seine Arbeit getan hat, auf einer besseren, weil endlich von der Masse befreiten, Welt, einrichten zu können. In „The Cabin in the Woods“ heißt es zwar, frei nach Wolfgang Pohrts „2000 Jahre Abendland sind genug“, „It’s time to give someone else a chance“, aber außer den ancient ones erneut eine Brachfläche zu überlassen, damit die „[ganze chose] auf einer viel tieferen Stufe noch einmal anfangen“ (Adorno/Horkheimer) kann, tun sie damit auch nicht. Ihr vorschneller Aktionismus ist blind, weil sie die Hoffnung auf ein besseres Leben für eine andere Spezies nach dem Ende der ihrigen verblendet, was sie zu guter Letzt auch noch als reaktionäre Antispeziesisten entlarvt.

Der sechste und, wie sich aus dem Titel, der auch nur stimmt, sofern es die Box Office-Einnahmen nicht tun, unschwer erkennen lässt, letzte Teil des nicht totzukriegenden Zombiefilmfranchises, „Resident Evil: The Final Chapter“ (2017), lässt sich auf solche Späßchen nicht ein, ja, ist sogar gegen sie (weswegen sein Ende auch mehr Spaß macht). Nach der Katastrophe warten nicht fließend‘ Milch und Honig, sondern nur noch mehr zähe Trips mit dem Motorrad durch urbane Wüstenlandschaften. Dass aus ihr auch noch Nutzen von ihrem Verursacher geschlagen wird, will Alice, gespielt von Milla Jovovic, unter allen Umständen vermeiden. Um das zu tun, macht sie sich also auf zurück zum Ursprung, dort, wo das T-Virus seinen Anfang genommen hat, in den Hive, die vielstöckige tiefvergrabene Arche, in der das Mittel, das alle Zombies „heilt“, also erlöst von ihrer ewigen Suche nach Hirn, entwickelt wurde. Dass beide, die Umbrella Corp. sowie Alice, zwar dasselbe vorhaben (mit dem Antidot den Erdball von den über sieben Milliarden Untoten zu befreien) aber nicht dasselbe damit bezwecken wollen (ein Utopia für Shareholder zu erschaffen), unterscheidet den Film ihres Gatten Paul W.S. Anderson von vielen anderen ähnlicher Couleur. Das Ziel der Protagonistin ist es nämlich nicht, dass die Vernichtung immer so fortschreitet, sondern sie und damit die Geschichte (also tendenziell auch das Franchise) stillzustellen, um den letzten Überlebenden in den wenigen verbarrikadierten Enklaven, die über den Erdball verstreut sind, den Tod zu ersparen (und der Produktionsfirma die Einnahmen, so scheint‘s, denn international war bisher allen Filmen finanzieller Erfolg beschieden).

All you can eat-Buffet – Die Welt als Beute

Diese Enklaven werden zunehmend von Zombiehorden überrollt, die allerdings, anders als in „World War Z“ (2013), kaum zu sehen sind. Sympathischerweise kommen im letzten Teil keine Hochleistungsleichenmassenpanoramen in den Blick, wie bei Marc Forster, und Untote ohnehin kaum noch vor, außer als müde, sich dahinschleppende Anhängsel eines religiösen Fanatikers, der sich mit Panzern auch auf den Weg Richtung Untergrundbunker macht (je weiter die Reihe voranschreitet, desto mehr sind die hive minded nur noch Ballast, nervige Dingwelt, die halt der Vorlage wegen auch vorkommen muss). Dass der Moses der Postapokalypse ein Klon des CEOs der Umbrella Corp. ist, der sich für das Original hält, ist konsequent: Sie trennt allein der unterschiedliche Aufzug. Die hungrige Masse folgt ihm jedoch nicht ins gelobte Land, sondern bloß dem Fleischgeruch: Zombies haben keine Hoffnung, sie treibt der Instinkt nur zur nächsten Beute, was sie tendenziell den verrohten Lebenden ähnlich macht, von denen es kaum noch Hirn zu holen geben dürfte (Dialog und Action sind meist, nun ja, hirnverbrannt), was schon die durchgesetzte Herrschaft des Ungeists anzeigt (insofern weist „The Final Chapter“ einen materialistischen Einschlag auf – auch nicht schlecht).

In der hirnlosen ewigen Gegenwart modern(en) alle vor sich hin und haften sich an Restbestände, die noch Erlösung versprechen: seien es ein paar Synapsen, Sicherheit in safe spaces, ein Gegengift, das auch Falle sein kann, oder Filme, die mehr auf den Untergang Lust machen als auf dass er nie passieren möge. „Someone once said that it is easier to imagine the end of the world than to imagine the end of capitalism“, heißt es bei Frederic Jameson einmal. Der Wunsch nach dem „Ende aller Dinge“ ist nun mal Symptom des globalen Ungeists; dass hingegen „die Menschheit der Verdinglichung ein Ende machte“, liegt so weit im Bereich des Unmachbaren, wie tabula rasa-Machen für viele die einzige Option ist, wiederum bei Adorno. Im Ansatz kann das Gegenmittel für den T-Virus als Verdinglichungsbeender perspektiviert werden, allerdings nur in Alices Hand, und auch nur, weil sie selbst damit infiziert ist, also unter Aussicht der Selbstaufopferung. Ihre Entscheidung ist aber nicht final: Nach einer beeindruckenden Szene, in der nun doch massenweise Verdinglichte vorkommen, allerdings als massenweise Einknickende, erwacht sie wieder zum Leben.

Ende gut, (nicht) alles schlecht

Am Ende bleibt nicht nur die gedämpft-heroische Geste ohne Märtyrertum, ambivalente Errettung, die von Erlösung nichts wissen will, Abgesang sowohl auf die „orchestrierte Apokalypse“ (wie es einmal im Film heißt) als auch den orchestrierten „Widerstand“. Das Gegengift ist Produkt des weltumspannenden Vernichtungsbetriebs, Alice ein Klon (der seinem reuigen Original in Altersmaske mit Mitgefühl begegnet), der davon nur durch ein zweifelhaftes Komplott der Red Queen erfährt, der Künstlichen Intelligenz, die eigentlich zum Schutz des Konzerns und nach ihrem Ebenbild als Kind erschaffen worden ist (erste Rolle für Ever Anderson, Tochter von Milla und Paul; passend die tagline: „Evil comes home“). Auf gut Glück, denn es könnte ja eine Falle sein, macht sie sich auf den Weg und erkennt, dass es keine ist; unvorhergesehen ist es auch, dass sie am Schluss überlebt (sie stirbt also weder „with“ noch „for them“). Zusätzlich nimmt „Resident Evil: The Final Chapter“ also Partei fürs Artifizielle und den glücklichen Zufall: Das ist gekonnt! Weswegen die mit schlechtem Nu-Metall-Score unterlegten zerschnippselten Actionszenen zwar kaum ärgern, weil sie, wie die Zombies, nun mal nebensächlich sind, dafür aber das ressentimentgeladene und Beifall heischende In-die-Luft-Jagen der versammelten Shareholder im Kryoschlaf umso mehr.

Der junge Karl Marx

(FR, DE, BE 2016, Regie: Raoul Peck)

Marx mag´s brav (und ist doch Projektprankster)
von Drehli Robnik

Am Ende steht ein Schwarzweiß-Archivbild, dem abrupt Bob Dylans ‚Like a Rolling Stone‘ folgt. Will diese Filmbiografie etwa Hommage sein an ‚I’m Not There‘, Todd Haynes‘ Dylan-Geschichtsvexierfilm, der vor zehn …

Am Ende steht ein Schwarzweiß-Archivbild, dem abrupt Bob Dylans ‚Like a Rolling Stone‘ folgt. Will diese Filmbiografie etwa Hommage sein an ‚I’m Not There‘, Todd Haynes‘ Dylan-Geschichtsvexierfilm, der vor zehn Jahren ähnlich pointiert endete? Bevor am Ende von ‚Der junge Karl Marx‘ der Stein los- und ein Historyclip von ’68 über Finanzkrise bis Occupy und Podemos abrollt, schreiben der lockige Titelstar und Friedrich Engels in aufgewühlten Nachtstunden ihren Superhit, das Kommunistische Manifest mit dem Gespenst, das in Europa umgeht. Gilt also ‚I’m Not There‘? Geht es da um Anrufung zeitferner Geister in heutigen Zeiten verschärfter Ausbeutung und Herrschaft, in denen Marx wie selten zuvor vermisst und in Bildungsmilieus eh gerade wieder hip wird? Kommt das deutsch-französische Biopic also gerade zurecht?

Es kommt tatsächlich irgendwie zurecht – damit nämlich, Marx und Engels Pop-Appeal und Rebel-Chic aufzuprägen: Zwischen Schach und Schnaps, Streit und Schrift, Landesverweis und Fabrikantenvaterzoff, Volksrede und Sternstunde (Weltveränderungs-Feuerbach-Thesen-Einfall nach Sauf- und Kotz-Exzess) entspinnt sich ein stationenläufiges Buddymovie: zwei freche Freigeister in einer engen Welt. Sie werden (Gegenwartsbezug!) zu Prankstern im Medienstartup-Projektarbeitsstress stilisiert, sprich: Eine Geschichte linker Kämpfe wird hier in liberalem Ton erzählt. Könnte schlimmer sein (siehe die RAF-Filme der Nullerjahre).

Der haitianische Regisseur und Polit-Aktivist Raoul Peck, versiert in dekolonialen Historienfilmen (‚Lumumba‘, I Am Not Your Negro‚), inszeniert das sauber. Auch die beiden Ehefrauen bekommen Dialog; das ist noch nicht als feministisch zu qualifizieren (eher höflich). Go, Karli: August Diehl – vor zehn Jahren in ‚Die Fälscher‘ als Kommunist, in Wer wenn nicht wir‚ 2011 studentisch links und nächstes Jahr für Terrence Malick als austrokatholischer Nazikriegsdienstverweigerer Jägerstätter im Einsatz – spielt die Titelfigur gehetzt, Olivier Gourmet den Proudhon ruhig; Bakunin tritt auf, auch Courbet und andere Promis. Die Ausstattung ist normal. Zum Auftakt gibt’s Action mit berittener Polizei gegen Holz sammelnde Arme; die Säbelaction reicht für einen späteren Alptraum-Flash, der Marx aus dem Schlaf schreckt. Die lange Londoner Debattenszene, bei der aus dem Bund der Gerechten jener der Kommunisten wird, hat Charme und etwas von Ken Loach.

Das ergibt in Summe ein Gegenteil von ‚I´m Not There‘-Gespensterpolitik: Hier ist alles da, mit Titeln beschriftet, im Dialog Wikipedia-Vorspanns-haft vermittelt, angetreten zur Erbauung und Didaktik. Mit Marxens Achtzehntem Brumaire gesagt: Die Versammlung, die dieser Film leistet, erfolgt nicht mit Klasse, sondern unkomplex, nicht als Klasse, sondern ohne Kampfgeist, durch bloße Addition (von Namen, Orten, allerlei Wissenswertem), ‚wie etwa ein Sack von Kartoffeln einen Kartoffelsack bildet‘. (Östliche Ösis nennen so etwas mit einem Fachausdruck ‚einen Batzen Karl‘.)


Hier und hier finden sich weitere Kritiken zu ‚Der junge Karl Marx‘.

Mädchen, Mädchen

(BRD 1966, Regie: Roger Fritz)

Schatten- und Liebesspiele
von Nicolai Bühnemann

Helga Anders liegt im Bett, das Gesicht der Kamera zugewandt. Jürgen Jung öffnet die Tür hinter ihr. Sein Oberkörper ist frei, sein Schatten fällt riesenhaft auf die Wand über ihr, …

Helga Anders liegt im Bett, das Gesicht der Kamera zugewandt. Jürgen Jung öffnet die Tür hinter ihr. Sein Oberkörper ist frei, sein Schatten fällt riesenhaft auf die Wand über ihr, die sich schlafend stellt. Die Musik unterstreicht das Unheimliche der Szenerie und etwas unheimlich ist adoleszentes Begehren, um das es hier geht, ja irgendwie immer. Roger Fritz löst diese Szene in einer einzigen Einstellung auf, deren exakte Komposition wie so oft bei diesem Filmemacher seine Herkunft aus der Photographie verrät. Jung verlässt den Raum, geht die Treppe hinab, holt sich bei der älteren Haushälterin Anna in ihrem Zimmer, was er bei Anders (noch) nicht bekommt. Dem begehrenden Blick des Zuschauers wird die Tür vor der Nase zugeschlagen (und Türen und Blicke spielen eine entscheidende Rolle in diesem Film). Eine andere Szene, vielleicht die schönste in diesem an schönen Szenen gewiss nicht armen Film: die tanzenden Schatten von Anders und Jung an einer Betonwand in dem Zementwerk, in dem der Film fast komplett spielt. Ein vorbeigehender Arbeiter zerstört die musicalhaft anmutende Choreographie, indem er sie sehr buchstäblich überschattet.

Zwei Szenen aus „Mädchen, Mädchen“, Roger Fritz‘ Debütfilm, in denen es um Schatten geht und um Spiele. Bevor Andrea (Anders) und der schon dem Namen nach nie ganz aus dem Schatten seines Vaters heraustretende Junior (Jung) zum ersten Mal Sex haben im Wald, knöpft er ihre Bluse auf von oben nach unten, und sie knöpft sie, bevor er noch unten angelangt ist, in der gleichen Richtung wieder zu und so mehrmals hintereinander. Es folgt eine weitere typische Fritz-Einstellung von den beiden, die nun im Zustand postkoitaler Ermattung auf dem Waldboden liegen, mittig, aber ganz klein im Bild, gerahmt durch die Äste der umstehenden Bäume. Dann spielt Andrea mit einem Käfer, der sich in ihrem BH verlaufen hat. Ein Liebesspiel. Die Liebe als Spiel, dessen Einsatz zunächst nur Juniors Begehren ist, das in der beschriebenen Szene als Schatten auf Andrea fällt. Dann ihr gemeinsames, das nur durch einen Dritten ge- wenn nicht zerstört werden kann.

Dieser Dritte, der im Film die längste Zeit eben nur als Schatten, der über der Beziehung der beiden liegt, auftaucht, als langer Schatten, der zu erahnen ist lange bevor die dazugehörige Figur tatsächlich im Bild und im Film auftaucht, ist Juniors Vater Ernst (Helmut Lange). Dieser sitzt zunächst im Knast, weil er sich mit seiner minderjährigen Bediensteten Andrea auf eine Affäre eingelassen hatte (der entsprechende Paragraph aus dem Strafgesetzbuch erscheint zu Beginn als Texteinblendung), diese wiederum saß derweil in einem Heim für Schwererziehbare, aus dem sie in der ersten Szene des Films entlassen wird. Auf dem Weg zu ihren Eltern bleibt sie in Ernsts Fabrik hängen, wo sie sich auf ein stürmisches Abenteuer mit Junior einlässt, der die Geschäfte in Abwesenheit seines Vaters leitet.

Roger Fritz, der in den Siebzigern vor allem als Schauspieler gearbeitet hat, unter anderem bei verschiedenen Werken von Fassbinder und in Peckinpahs „Cross of Iron“ (1977), aber später in den Achtzigern auch in TV-Serien wie „Ein Fall für zwei“ oder der „Lindenstraße“ sowie in einem „Tatort“ zu sehen war, verfügt auch über ein eher überschaubares und bis vor kurzer Zeit beinahe vollkommen vergessenes Regie-Werk. Den Kern dieses Oeuvres bildet die sogenannte „Helga Anders-Trilogie“, drei Filme mit der Schauspielerin, die mit ihrem Schmollmund und den roten Haaren zum Inbegriff der „Kindfrau“ wurde, von 1967-74 mit Fritz verheiratet war und 1986, viel zu früh, im Alter von gerade einmal 38 Jahren von Alkohol und Drogen dahingerafft wurde, die Fritz in den späten Sechzigern schuf. Den Mittelteil, „Häschen in der Grube“ (1969), kenne ich leider mangels Verfügbarkeit immer noch nicht. Nach „Mädchen mit Gewalt“ (1970) liegt nun aber auch „Mädchen, Mädchen“ auf einer vorzüglichen DVD-BD-Edition von Subkultur-Entertainment vor. Fritz ist über die späte Entdeckung seines Regie-Schaffens durch eine überwiegend junge, nachgewachsene Cinephilie sicherlich erfreut, hilft, wo er kann, spricht Audiokommentare mit ein, gibt Interviews für Featurettes und ist im heimatlichen München als Ehrengast bei den immer noch viel zu seltenen Kinovorstellungen seiner Werke zugegen.

Die Parallelen zwischen „Mädchen, Mädchen“ und „Mädchen mit Gewalt“ liegen auf der Hand. Hier wie dort steht Anders zwischen zwei Männern, ist Objekt von Begehren und Begierde in einem Beziehungsdreieck (und von der Unmöglichkeit einer weiblichen Subjektwerdung in patriarchal geprägten Verhältnissen handeln beide Filme mindestens implizit). Die hermetisch abgeschlossenen Schauplätze der Handlung, ein Zementwerk hier, eine verlassenen Kiesgrube dort, tragen in beiden Filmen entscheidend zur Atmosphäre bei, wobei die Tatsache, dass in der Mondlandschaft hier noch emsig gearbeitet wird, während dort, wenige Jahre später, nur noch gespenstische Anlagen davon zeugen, dass hier einst gearbeitet wurde, in ihrer Kontinuität von einer schleichenden Verfallsgeschichte kündet. Im späteren Film macht Fritz einerseits die Räume enger, indem er sein Figurentrio den Hauptschauplatz bis zum Ende nicht verlassen lässt. Andererseits öffnet er seinen Film mit rape aber ohne revenge dem Genrekino der härteren Gangart, ohne doch in diesem jemals ganz aufzugehen. Schließlich ist es keineswegs Zufall, dass der spätere Film die Gewalt bereits im Titel trägt, tritt in der Figurenkonstellation dort doch eine Brutalität hervor, die sich hier subtiler, eher durch den sonderbar variierten und ziemlich gehemmten ödipalen Subtext in der Geschichte Juniors offenbart. Die Geliebte des Vaters, die „Mutter“, die jünger ist als er selbst, verführt er, zum Vatermörder wird er dann im entscheidenden Moment aber doch nicht – und sei es nur, weil der Papa just in diesem Moment einen Helm trägt.

Die ödipalen Energien Juniors finden schon deshalb keine rechte Angriffsfläche, weil Helmut Lange den Vater mitnichten als bösen Patriarchen gibt. Jovial und freundlich trinkt dieser Ernst mit seinen Arbeitern mal ein Bier und die Anziehungskraft, die er einst auf Andrea ausübte, scheint nur allzu verständlich zu sein. Für die politischen Narrative der späten Sechziger, etwa das Aufbegehren der damals jungen Generation gegen das naziverseuchte Establishment ihrer Väter, interessiert sich Fritz nicht die Bohne. Es nimmt wenig wunder, dass das Schaffen von einem, der sich so offensiv zwischen die Stühle setzt, von den ideologischen Grabenkämpfen zwischen „Papas Kino“ auf der einen, dem „Neuen Deutschen Film“ auf der anderen Seite einfach nichts wissen wollte, mit beidem offensichtlich nichts am Hut hatte, lange Jahre so gründlich vergessen wurde.

„Die Jugend“, das sind in „Mädchen Mädchen“ erst einmal die, die (Liebe) spielen, wo andere arbeiten müssen. Am deutlichsten wohl in der Szene, in der die Liebenden von einem Baggerfahrer bespaßt werden, indem er sie auf der Schippe seines schweren Geräts im Kreis durch die Luft drehen lässt. „Die Jugend“, das sind die, die durch Wald und Wiesen, Seen und Betten tollen. Das ist nicht reaktionär, dagegen ist erst einmal nichts zu sagen. Vielmehr schlägt sich die Inszenierung ganz auf die Seite der beiden, tollt die Kamera einfach mit und das, sorry, Tolle daran ist auch, dass Fritz bei aller Genauigkeit in der Komposition vieler seiner Einstellungen niemals eine dogmatische Strenge der Form walten lässt. Handkameras etwa mag dieser Filmemacher, so sagt er im Audiokommentar, eigentlich nicht und doch benutzt er sie, wenn eine Szene, hier die spielerische Verfolgung des jungen Paares durch bekannte Jugendliche in einem Kornfeld, sie als adäquates Mittel erscheinen lassen. Bei all der Verspieltheit des jungen Paares, die sich direkt auf den Film selbst überträgt, macht der Film einerseits durch das kleine Mädchen, deren Spiele im Film immer wieder leitmotivisch zu sehen sind, deutlich, dass schon Kinderspiele über ein gewisses Maß an Grausamkeit verfügen. Andererseits ist das, was Andrea und Junior hauptsächlich bei ihren (Liebes-)Spielen stört, als Einbruch des Wertekanons einer (patriarchalen) Erwachsenenwelt in ihre Beziehung zu werten. Mehrmals bezeichnet Junior Andrea harsch als „Nutte“, wirft ihr vor, zunächst mit seinem Vater geschlafen und ihn anschließend ins Gefängnis gebracht zu haben.

Schwer greifbar bleibt das Ende, an dem eine Tür geschlossen wird, wo zu Beginn, in der ersten Einstellung, eine geöffnet wurde und das Herrenhaus so in assoziative Beziehung zum Heim für Schwererziehbare gestellt wird. Die Haushälterin Anna, die schon durch den Beginn ihres Namens vielleicht auch als Spiegelung Andreas erscheint, auch wenn letztere von Solidarität zu und Fraternisierung mit der älteren vermeintlichen Leidensgenossin nichts wissen will, spiegelt auch die Heimaufseherin zu Beginn. Sie bleibt als Wächterin über die beiden Männer und ihr Begehren an der Tür stehen, während die Kamera in die Totale entschwebt. Ist die Jugend, sind die Spiele nun für Junior vorbei und beginnt der Ernst des Lebens, den der Vater schon im Namen trägt? Nun, zumindest verabreden sich die beiden erst einmal auf eine Partie Schach. Immerhin.

Mit der Veröffentlichung von „Mädchen Mädchen“ im Rahmen ihrer „Edition Deutsche Vita“ wiederholte Subkultur-Entertainment 2016, was ihnen schon 2015 mit der Scheibe zu „Mädchen mit Gewalt“ gelang: eine der wichtigsten und schönsten Editionen des Jahres vorzulegen. Und das eben nicht nur, weil ein lange Zeit nur in seltenen Kinovorführungen greifbarer Film nun wieder über die gängigen Bezugsquellen als Heimmedium erhältlich ist, sondern auch weil sich die Edition selbst mehr als sehen lassen kann. Mit an Bord sind ein Audiokommentar, den Roger Fritz zusammen mit dem „Eskalierende Träume“-Autor Sano Cestnik sowie dem Filmemacher und wundervollen Filmessayisten Rainer Knepperges eingesprochen hat. In dem Featurette „Zwei Jungs und Mädchen Mädchen“ unterhalten sich Fritz und Hauptdarsteller Jürgen Jung zunächst einzeln, dann gemeinsam mit Sadi Kantürk über ihre Erinnerungen an den Dreh, übers Kiffen, den schwer verständlichen kölschen Dialekt von Udo Kier (der eine Zeitlang für die Rolle von Jung im Gespräch war), die Studentenrevolte der späten Sechziger und „Papas Kino“. Abgerundet werden die inhaltsgleiche DVD und Blu-ray in einem Digipack durch ein weiteres Interview, diesmal mit Monika Zinnenberg, die in einer kleinen Nebenrolle zu sehen ist, und allerlei andere Kleinigkeiten sowie ein Booklet mit einem schön ausführlichen Text des Filmhistorikers Christoph Huber.

Marketa Lazarová

(CSSR 1967, Regie: František Vlácil)

Stabile Ordnung der Gewalt
von Wolfgang Nierlin

Rund fünfzig Jahre nach seiner Entstehung erreicht hierzulande mit „Marketa Lazarová“ ein Film die Leinwände, der unter Kennern längst als Meisterwerk gilt. Der kunstgeschichtlich ausgebildete tschechische Regisseur und Solitär František …

Rund fünfzig Jahre nach seiner Entstehung erreicht hierzulande mit „Marketa Lazarová“ ein Film die Leinwände, der unter Kennern längst als Meisterwerk gilt. Der kunstgeschichtlich ausgebildete tschechische Regisseur und Solitär František Vlácil hat sein wuchtiges mittelalterliches Epos Mitte der 1960er Jahre nach dem gleichnamigen Roman seines Landsmannes Vladislav Vancura realisiert. 548 Drehtage und eine Verdoppelung der veranschlagten Produktionskosten waren nötig, damit Vlácil seine schwarzweiße Vision eines möglichst authentischen Historienfilms ins Bild setzen konnte. Dabei geht es ihm – entgegen den Konventionen historischen Erzählens – nicht um das Nachstellen geschichtlicher Ereignisse, sondern um den Versuch, das Leben und die Denkweise einer vergangenen Zeit erfahrbar zu machen, also die damaligen Menschen und ihr Handeln zu verstehen. Damit die Schauspieler ihre Rollen leben konnten, ist Vlácil mit seiner Crew für zwei Jahre in den Böhmerwald gezogen und hat Werkzeuge und Waffen auf mittelalterliche Weise anfertigen lassen.

Mit „Marketa Lazarová“, einer Geschichte über permanente Gewalt und Gegengewalt, festigte František Vlácil aber vor allem seinen Ruf als rigoroser visueller Stilist des tschechischen Kinos. Seine 165 Minuten lange filmische Reflexion über den rohen, destruktiven Menschen gibt sich, gegliedert in zwei Teile und insgesamt zwölf Unterkapitel, in seiner Verlebendigung des Vergangenen chronologisch. Tatsächlich mäandert das mitunter schwer nachvollziehbare Geschehen um die kriegerischen Auseinandersetzungen zweier verfeindeter Familien-Clans aber zwischen Wirklichkeit und Traum, Licht und Dunkelheit, Gegenwart und Erinnerung. Vlácils sehr artifizieller Film, der mit surrealen Sequenzen, symbolisch aufgeladenen Bildern und akustischen Verfremdungen irritiert, folgt dabei einer Logik des Irrationalen und dem primitiven Instinkt seiner Helden. Deren unmittelbarer körperlicher Ausdruck, unterlegt mit Trommeln und mittelalterlichen Gesängen, materialisiert gewissermaßen den „Streit zwischen Liebe und Grausamkeit, Gewissheit und Zweifel“, wie es am Ende des Films heißt.

An dessen Beginn steht demgemäß ein brutaler Überfall, bei dem die beiden Brüder Adam und Miklas, Söhne des räuberischen Freibauern Kozlík, einen jungen deutschen Adligen entführen. Darüber geraten sie nicht nur in eine Rachefehde mit ihrem Nachbarn Lazar, sondern auch in einen blutigen Konflikt mit dem Hauptmann des Königs, der den Grafen Christian befreien will. Dieser soll nämlich zum Bischof gekrönt werden, verliebt sich aber in Kozlíks heidnische, amazonenhafte Tochter Alexandra. Gespiegelt wird diese fast „widernatürlich“ erscheinende Täter-Opfer-Beziehung im Verhältnis, das die schöne Titelheldin Marketa – die jungfräuliche, für ein Leben im Kloster bestimmte Tochter Lazars – mit ihrem Entführer Miklas eingeht. Der Krieg ist in Vlácils düsterer Vision auf die Triebkräfte der menschlichen Natur der Vater aller Dinge. Während der um Freiheit und Erlösung ringende Kampf tobt, der mehr graphisch als realistisch inszeniert ist, erfleht Marketa im Kloster göttliche Gnade. Doch in Vlácils ungewöhnlichem Film markieren die Gegensätze eine stabile Ordnung, die sich wie die mit ihr verbundene Gewalt immer weiter fortsetzt.

Ein Gespenst auf Freiersfüßen

(USA 1947, Regie: Joseph L. Mankiewicz)

Gespenstisches Begehren
von Nicolai Bühnemann

Gene Tierney blickt in den Spiegel, während sie die oberen Knöpfe ihres Kleides öffnet. Doch aus dem Spiegel blickt nicht nur sie zurück, sondern auch Rex Harrison, den das Gemälde …

Gene Tierney blickt in den Spiegel, während sie die oberen Knöpfe ihres Kleides öffnet. Doch aus dem Spiegel blickt nicht nur sie zurück, sondern auch Rex Harrison, den das Gemälde porträtiert, das auf der anderen Seite des Zimmers hängt. Tierney nimmt eine Decke, hängt sie über das Bild, fährt fort, sich umzuziehen. Nach einer Überblende steht sie im Nachthemd da, ordentlich bis oben zugeknöpft. Den rigiden Zensurbestimmungen des Hays Codes ist genüge getan – und dennoch sind die Blicke, die sich im Spiegel treffen, Ausdruck eines Begehrens, das als nekrophiles zu deuten es weder allzu viel noch einer allzu „schmutzigen“ Fantasie bedarf.

Tierney, die als schönste Frau im Hollywood der Vierziger gehandelt wurde, liebt als jung verwitwete Lucy Muir einen Geist, nämlich den des vor einigen Jahren verstorbenen Seekapitäns Daniel Gregg (Harrison). Das Gemälde, das Gregg zeigt, lässt sich auch als Anspielung auf Tierneys wohl berühmteste Rolle als Titelfigur in Otto Premingers „Laura“ (1944) verstehen, in die (bzw. ihr Porträt) sich ein von Dana Andrews gespielter Polizist verliebt, der im Fall ihres vermeintlichen Mordes ermittelt. Beide Filme beruhen, wie auch Nicholas Rays meisterlicher, die misogyne Geschlechterordnung des Film Noir auf den Kopf stellender „In a Lonely Place“ (1950), auf von Frauen geschriebenen literarischen Werken. Es scheint, dass dies die einzige Möglichkeit ist, dem schwelenden Sexismus einer Zeit etwas entgegenzusetzen, in der Frauen zwar – immerhin! – Bücher schreiben durften (ein Verleger sagt in dem Film: „20 Millionen unzufriedene Frauen auf den britischen Inseln, und jede einzelne von ihnen schreibt einen Roman. Und ich muss das Zeug veröffentlichen, um im Geschäft zu bleiben.“), aber mitnichten Filme drehen (Dorothy Arzner blieb im klassischen Hollywood bis in die Fünfziger, als ihr Ida Lupino folgte, die einzige Regisseurin). Während es bei Preminger noch darum ging, eine männliche Allmachtsfantasie zu entlarven, die darin bestand, Frauen besitzen zu wollen wie man etwa ein Gemälde besitzt, sie den eigenen Wünschen und Bedürfnissen entsprechend zu formen wie ein Künstler sein Objekt und das mit dieser einhergehende, sehr buchstäblich zu verstehende Frauenbild, besteht der feministische Twist bei Mankiewiecz und Ray darin, vielleicht genuin weibliche Perspektiven in ihre Filme einzubringen, zumindest aber für ihre Zeit bemerkenswerte, selbstbestimmte Frauenfiguren zu zeichnen. Es ist nun bezeichnend für „The Ghost and Mrs. Muir“, dass das Gemälde, von dem die (Blick-)Strukturen des Begehrens ausgehen, hier nicht mehr Tierney zeigt, sondern ihren männlichen Gegenpart in voller Kapitänsmontur. Ein Männerbild und ein Bild von einem Mann.

Doch beginnen wir am Anfang. Schon in der Vorgeschichte scheint der Tod als Erlösung zu fungieren. Verstorben ist Mr. Edwin Muir, und dass das Witwendasein für Lucy einer Befreiung gleichkommt, ihr erlaubt, so sagt sie, erstmals ein wirklich eigenes Leben zu führen, ist bei der Art, wie sich der Film von der ersten Szene an bedingungslos auf ihre Seite schlägt, eher als radikalfeministisches denn als zynisches Statement zu verstehen.

Von den Pflichten einer Ehe entbunden, die weder sonderlich glücklich noch über die Maßen unglücklich, sondern wohl ziemlich durchschnittlich, ziemlich egal war, beschließt Lucy dem London zur Jahrhundertwende, wo eine Texttafel das Geschehen zu Beginn verortet, den Rücken zu kehren. Und weg aus der großen Stadt, weg von ihrer Schwägerin und Schwiegermutter, das heißt für sie wohl auch weg von der Welt. Man muss nicht allzu weit vorgreifen, um zu sehen, dass sich Lucy abkehrt von der Rolle, die die Gesellschaft ihr als Frau zuerkennt, sich von den Fesseln der „blasted in-laws“, wie sie einmal im Seemannsslang sagt, befreit (und es ist keinesfalls zufällig, sondern verdammt gut beobachtet, dass diejenigen, die sich zu Hüterinnen der patriarchalen Ordnung erheben, selbst Frauen sind). Lieber von den anderen für verrückt, schrullig, asozial gehalten werden, aber dafür sein eigenes Ding machen können. Also raus aus der Stadt mit ihrer Tochter Anna und der Hausangestellten Martha und an die Küste, ans Meer.

Und auch bei dem Immobilienmakler zeigt sich Lucy als Frau, die ihren eigenen Kopf hat. Gegen alle Versuche des Maklers, sie von ihrer Wahl abzubringen, entscheidet sie sich für Gull Cottage, ein Haus mit Blick aufs Meer, das der einstige Besitzer, Kapitän Daniel Craig, sich selbst für seinen Lebensabend errichtete. Dass eben jener Kapitän, wie sich schnell herausstellt, immer noch durch das Haus spukt, kann Lucy nicht verschrecken, sondern sie findet es, ihrem eigenen Bekunden nach, „absolut faszinierend“.

Toll ist die für den Oscar nominierte Schwarz-Weiß-Fotografie von Charles Lang. Etwa wenn Lucy im Licht einer Kerze riesige Schatten an die Wände wirft oder sie versucht, die Fenster vor einem draußen tobenden Gewitter zu schließen. Noch viel toller ist das Drehbuch von Philipp Dunne, der bereits für John Fords Meisterwerk „How Green Was My Valley“ (1941) das Script lieferte und durch seine 1936er-Adaption von „The Last of the Mohicans“, einem furiosen Schlachtengemälde, das aber mit seiner Mischung aus Kostümfilmbetulichkeit und kolonialer Ideologie etwas schwer verdaulich daher kommt, auch noch einen Credit bei Michael Manns Version des Stoffes von 1992 erhielt. Von Ford bis Mann, was für eine Karriere!

Ich weiß nicht mehr, wo ich gelesen habe, dass wer das „N-Wort“ sagt oder schreibt, seine/n ZuhörerIn oder LeserIn dazu zwingt, „Nigger“ zu denken. In Dunnes messerscharfen Dialogen geht es um andere Wörter, die auszusprechen schon der blasted fucking Production Code verbat. Auf Lucys Bemerkung, dass Gregg nicht so viel fluchen sollte, weil das eine sehr hässliche Angewohnheit sei, erwidert er: „Wenn du glaubst, dass das hässlich ist, dann solltest du meine Gedanken lesen.“ An anderer Stelle, als Lucy, nachdem die Einnahmequellen durch die Goldmine ihre Mannes versiegt sind, beschließt für Gregg seine Memoiren niederzuschreiben, nicht nur, aber auch, um sie zu Geld zu machen, streiten sie sich ebenfalls über ein Wort, das sie für schrecklich erklärt, während er meint, es wäre ein gutes Wort, um das zu bezeichnen, was es meint. Wesentlich interessanter als die Frage, ob besagtes Wort nun mit „F“ oder „S“ beginnt, ist die Tatsache, dass der Film (nicht nur) auf der Ebene der Sprache eine Hypersensibilität für das Unausgesprochene und Unaussprechliche entwickelt, für den Unterstrom aus Lust, Liebe und Begehren, aus Todessehnsucht und Neurosen, der bei Einhaltung der Sprach- und Bildreglungen des Codes die Moral, die diesem zu Grunde liegt, gründlich unterminiert.

Liebesbekenntnisse zwischen Mrs. Muir und ihrem Geist gibt es unterdessen keine. Vielleicht ist die Szene, in der die beiden einander am nächsten sind, eine im Zug aus London zurück ans Meer nach dem sehr erfolgreichen Gespräch bei einem Verleger. Als ein Mann seinen Kopf ins Abteil steckt, wird er durch eine Schimpfkanonade des Kapitäns, den er selbst nicht sehen kann, vertrieben und wundert sich sehr über die Wortwahl einer so distinguiert erscheinenden Dame. Nachdem er sich zurückgezogen hat, brechen die beiden in ein viel zu kurzes lautes Gelächter aus, von dem man sich wünschen würde, dass es ewig andauern möge – oder zumindest, dass es so ausgeschlachtet würde wie in den Filmen von Roger Fritz die einmalig fiese Lache Klaus Löwitschs oder wie in vielen italienischen Genrefilmen das Gelächter der Bösewichter.

Der Geist rät Lucy, sich mehr der Welt zuzuwenden, Männer kennen zu lernen, was zunächst absolut nicht ihre Absicht ist. Bei ihrem Verleger trifft sie schließlich doch einen, Miles Fairley, der von George Sanders gespielt wird, dem charmantesten Gauner im Hollywood der Vierziger. Er malt Lucy am Strand beim Baden und dieses Porträt hängt eine Weile neben dem von Gregg. Als sich Lucy und Fairley im Garten küssen, fährt die Kamera durch das Geäst zurück bis sie Gregg erfasst, der den beiden an einen Baum gelehnt zusieht. Er dreht sich in Richtung Kamera, so dass er die beiden Liebenden für einen Moment verdeckt, dann gibt er den Blick auf sie wieder frei, indem er aus dem Bild geht. Eine einzige Einstellung, in der sich die ganze Verzwicktheit eines wahrlich sonderbaren Beziehungsdreiecks ausdrückt. Fairley verfügt bei seinem ausgeprägten Charme und seinem noch ausgeprägteren Zynismus zwar hier über keine nennenswerten kriminellen Energien, vergisst es aber Lucy gegenüber zu erwähnen, dass er verheiratet ist.

Nach dieser Enttäuschung zieht sich Lucy nach Gull Cottage zurück, wo Gregg die Schlafende mit einer denkwürdigen Rede verabschiedet, um sich nun zurück zu ziehen, sie, so sagt er, dem Leben zu überlassen. Doch die Hinwendung zur Welt ist Lucys Sache noch immer nicht. Ihrer inzwischen herangewachsenen und nun von Natalie Wood gespielten Tochter erklärt sie, auf die Aufforderung hin, zu ihr und ihrem Verlobten nach London zu ziehen (das muss ich einfach im Original zitieren): „You can be much more alone with other people than you are by yourself, even if it’s people you love.“

Schließlich kommt der Tod als Happy End und die große Liebe als das, was ihn überlebt. Selten sind in einem Film, auch über das Studiosystem hinaus, eine sehr hollywoodtypische Vorstellung von Romantik, das christliche Heilsversprechen vom ewigen Leben, für das die Welt ein zu durchschreitendes Jammertal ist, und schiere Todessehnsucht eine so unheimliche und gespenstische Allianz eingegangen.

Der Film liegt nun erstmals im deutschsprachigen Raum auf einer schlichten, aber soliden DVD von Winkler Film vor, die bereits vergangenen September erschienen ist. Darauf befindet sich der Film in guter Bildqualität auf Deutsch und Englisch sowie mit Untertiteln in diesen Sprachen. Als Extras gibt es einen Trailer, eine Bildergalerie und – immerhin! – ein Wendecover.

Boston

(USA 2016, Regie: Peter Berg)

Armes Amerika! Tod, Cops, Trost, Lob, Stolz – Boston (eine rechtspopulistische Actionperle)
von Drehli Robnik

Das Terrorfahndungsdrama ‚Boston‘ über das Nagelbombenattentat auf den dortigen Marathonlauf 2013 und die tagelange blutige Flucht der zu weiteren Anschlägen entschlossenen Täter enthält ein Juwel von einer Actionszene. Der Shootout …

Das Terrorfahndungsdrama ‚Boston‘ über das Nagelbombenattentat auf den dortigen Marathonlauf 2013 und die tagelange blutige Flucht der zu weiteren Anschlägen entschlossenen Täter enthält ein Juwel von einer Actionszene. Der Shootout zwischen lokalen Polizeikräften und einem djihadistischen Brüderpaar (Amis mit tschetschenischer Herkunft), nachts zwischen Reihenhäusern, ist nicht zuletzt deshalb von solcher Wucht, weil Choreografie, Sound, Licht und Schnitt hier so trocken gesetzt sind.

So lapidar und billig, dass es spektakulär und hochkarätig wirkt: Das setzt komplexe Gestaltungsoperationen voraus, lässt sich aber doch mit dem Label ‚Dokudrama‘ ganz gut erfassen. Das gilt für den gesamten Film: ‚Boston‘ stellt Alltagsmenschen in ihren Räumen, Reden und Schicksalen aus, mit Freude an Dialekt und Schimpftiraden im Dialog, mit Fotos und Factsheets zu den in der Wirklichkeit Beteiligten, zumal Opfern, im Abspann. Aus dem parallel montierten Ensembleplot der Allerweltsgesichter (a touch of 1970er Katastrophenfilm) sticht die Psychodynamik zwischen den Attentäter-Brüdern hervor, insbesondere der Narzissmus des lockenköpfigen Jüngeren, der vom doktrinären Älteren herumgebosselt wird, sich dem Dialog zufolge hauptsächlich für fette Autos und deren technische Features interessiert (und heute in der Todeszelle sitzt; der Ältere starb beim Shootout). Weiter treten markant hervor: Mark Wahlberg als etwas sehr auf Immer-Dabei forcierter Cop-Hero sowie Kevin Bacon. John Goodman (scheußlich schlank) und J.K. Simmons als ruppige Ermittler. Die Medienarbeit des FBI, die unter Zeitdruck abläuft, ist im Film in ihren diversen Facetten betont: vom Polizeifunk und der Öffentlichkeitsarbeit (nicht zuletzt im Wettlauf mit publikationsgierigen TV-Sendern) bis zur peniblen Auswertung von Überwachungskamera-Blickwinkeln, die teils in einer paratheatralen Tatortgrundrissrekonstruktion, teils als einmontiertes Originalmaterial – zumindest soll es so wahrgenommen werden – ins Spiel kommen.

Abgesehen von diesem Procedural-Krimi-Element dreht Regisseur Peter Berg mit ‚Boston‘ nun zum schon dritten Mal denselben (allerdings packenden) Film. Auch das Afghanistankriegs-Kommando-Geböller und die Ölbohrinsel-Katastrophen-Action in ‚Lone Survivor‘ bzw. unlängst in ‚Deepwater Horizon‘ boten ‚American Carnage‘ (O-Ton D.J. Trump), sprich: jeweils eine True Story mit Zusteuern auf ein zur News-Folklore gehörendes, unvermeidliches Desaster, jeweils in einem Männermilieu, das seine Techniken und deren Jargons zur Schau stellt und zunehmend dezimiert wird – allen voran ein lädierter Wahlberg (diesmal hat er nur böses Knieweh, dafür kehrt einer der berühmtesten Söhne Bostons nun heim). Hackler in Uniform bzw. Prolos unter Waffen in Gefahr (der Unterschied zwischen mit Feuer und Stahl hantierenden Ölbohrern und einer Navy-SEALS-Truppe ist nicht allzu groß) – zunehmend mit Auftritten tougher Frauen, bis hin zur kalten Verhörszene zwischen der konvertierten Attentäter-Witwe und einer Sonderermittlerin mit Schleier und, humoriger, der Anekdote mit einer Melissa McCarthy-artigen No-Nonsense-Polizistin im Showdown. Nicht-hellhäutige Figuren werden gönnerhaft einbezogen, sofern sie nicht Mörder sind – was sie bei Berg aber meistens sind –, oder aber in fifty shades of Demut agieren wie einst afghanische Dorfleute, dem siechen SEAL hilfreich zu Diensten, und nun in ‚Boston‘ der von den Flüchtenden gekidnapte, verhaltensunsichere chinesische SUV-Fahrer. Zum Gaudium der Autochthonen darf er ein assimilationswilliges ‚Go catch those motherfuckers!‘ knödeln. (Insofern war ‚Deepwater Horizon‘ etwas anders, weil die Konfliktsituation in Ermangelung eines bewaffneten ethnisierten Feindes in Richtung einer Karikatur von proletarischem Klassenkampf gravitierte, mit John Malkovich als Feindbild-Figur eines identitaristischen Anti-Eliten-Ressentiments – süffisant über Jahrgangswein parlierender, abehobener Manager-Ungustl – und mit sowohl Frauen als auch African Americans relativ beiläufig unter den ‚Handarbeitern im Feuer vor Ort‘ als Erfahrungsträger.)

Im Kino-Kontext gesehen ist ‚Boston‘ eine Art Captain Philips‚ mit mehr Krach (und mit Uniformträgern ohne einen Hauch von Ambivalenz) bzw. Zero Dark Thirty‚ minus Obsession und deren Analyse. (Michael Manns Heat-Shootout und spätere Farbenspiele lassen zwischen den Reihenhäusern von Boston ebenfalls grüßen.) Im erweiterten Medienkontext, also in Hinblick darauf, was Leute verbindet, was ein Kollektiv im vollen Wortsinn bildet, bietet die Marke Berg, mit ihrer Spezialität Abspann-Weihespiele (rührt immer), ein gediegen modernisiertes rechtspopulistisches Hochleistungspathos. Der Film ist im Original nach dem Feiertag betitelt, an dem der Marathonlauf und das Attentat stattfanden: ‚Patriots Day‘. Die Schlusssequenz, die mit der Rede eines Boston Red Sox-Baseballstars im Stadion beginnt – ‚This is our fucking city! Ain´t nobody gonna dictate our freedom! Stay strong!‘ – und mit einem Porträtfoto von John F. Kennedy endet, steht emblematisch für die ideologischen Vertauschungen, vielmehr: Hijackings, die hier ablaufen: Klar, Kennedy war auch ein Attentatsopfer, aber das ist nicht sein politisches Vermächtnis, auch nicht der rabiate Selbstbehauptungstrotz, der sich hier mit verbogenen Ikonen einstigen bürgerrechtlich-liberalen Aufbruchs ziert. Der Traum eines befugniserweiterungsseligen Innenministers (nennen wir ihn Sobotka, so heißt er in Österreich und grinst): In ‚Boston‘ will gekränkter maskulinistischer Stolz fürs fragile soziale Ganze einstehen, Außenfeind-Abwehr für Binnenvielfalt, Alarmzustand für Solidarität und Lokalpatriotismus für Liebe. – Nein.

Die Killer

(USA 1946, Regie: Robert Siodmak)

Verlorene Seelen, zerrissene Biographien, narrative Trümmer
von Nicolai Bühnemann

Das Ende, spoiler ahead, ist eine Wucht. Edmond O’Brien macht als Versicherungsagent James Reardon alles richtig. Tut, was von einem Film Noir-Helden erwartet wird und widersteht den Versuchungen von Geld …

Das Ende, spoiler ahead, ist eine Wucht. Edmond O’Brien macht als Versicherungsagent James Reardon alles richtig. Tut, was von einem Film Noir-Helden erwartet wird und widersteht den Versuchungen von Geld und Sex. Gibt den Schatz, den er schließlich birgt, an seinen rechtmäßigen Besitzer zurück, bringt die Frau, die ihn für sich behalten wollte, ins Gefängnis. In der letzten Szene ist er im Büro seines Chefs, der ihn darüber informiert, dass durch die Viertel Million Dollar, die er für die Versicherung zurück erobert hat, die Beitragssätze im nächsten Jahr um einen Zehntel Cent fallen werden. Und für den ob dieser guten Nachricht doch etwas geknickt dreinschauenden Reardon setzt er noch einen drauf: „Heute ist Freitag. Bis Montag brauchen sie nicht wiederkommen.“ Aber was macht Reardon, macht O’Brien, der wohl der Held, aber nicht der Star des Films ist? Er dreht sich als er aus dem Büro geht in der Tür noch einmal um, blickt in der letzten Einstellung, über der die Worte „The End“ erscheinen, direkt in die Kamera und lacht, macht mit zwei Fingern eine Geste des Abschieds, die wohl eher den Zuschauenden im Kinosaal gilt, als dem Chef im Film. Das ist eine der schönsten Definitionen des Glücks in der Filmgeschichte. Der Erkenntnis von der Vergeblichkeit allen Tuns frech ins Gesicht lachen. Den Hut ziehen vor einer Welt, in der sich moralische Integrität letztendlich genauso wenig auszahlt wie das Verbrechen (und diese Botschaft macht Robert Siodmaks Meisterwerk wohl auch zu einer Art Meta-Kommentar über das Filmemachen im Hollywood unter dem Hays Codes).

Doch beginnen wir am Anfang: „Ernest Hemingway’s The Killers“ steht als Titel in den Credits und tatsächlich ist Siodmaks Film damit auch eine ziemlich eigenwillige Literaturverfilmung. Hemingways gleichnamige Erzählung ist ein kleines Meisterstück des literarischen Minimalismus. Eine Handvoll Figuren, zwei Schauplätze, eine Handlung, die sich über nicht mehr als den Zeitraum von anderthalb Stunde erstreckt, kein Wort zu viel, nirgends. Und doch geht es in den schmalen zehn Seiten dieser Erzählung um alles, um Leben und Tod, um das verwirkte Leben und den sicheren Tod. Der Film versetzt die Handlung der Geschichte aus dem Chicago der Prohibitionsära in die Kleinstadt Brentwood in New Jersey in der Gegenwart des Jahres 1946. Hier kommen eines Abends zwei Männer in ein Diner. Sie zwingen den einzigen Besucher des Lokals, Nick Adams, der in vielen Kurzgeschichten des Autors vorkommt, dazu, in die Küche zu gehen, fesseln ihn und den Koch, erzählen, dass sie hier seien, um einen Mann, den sie nur den „Schweden“ nennen, zu töten. Nachdem sie das Lokal verlassen haben, rennt Adams über Hinterhöfe zu dem Hotel, in dem der Mann, der sich hier Pete Lund nennt, der „Schwede“ (Burt Lancaster), um seinen Arbeitskollegen bei der örtlichen Tankstelle zu warnen. Doch dieser starrt nur weiter lethargisch auf die Wand, unternimmt keine Anstalten zu fliehen oder sich zu wehren. Wartet ergeben auf sein Schicksal, seine Killer. So weit, so Hemingway, dessen Erzählung der Film die ersten zwölf Minuten lang fast wortwörtlich wiedergibt, deren Dialoge er größtenteils übernimmt, nur hier und da etwas kürzt und – den Vorschriften des Production Codes gemäß – entschärft (wozu auch zählt, dass der schwarze Koch, Sam, der in der Geschichte von allen Seiten, auch der des Erzählers, mit dem Wort „nigger“ bedacht wird, und auch darüber hinaus mit seiner Feigheit ganz rassistische Karikatur ist, hier wesentlich erträglicher dargestellt wird).

Davon abgesehen, dass sich der Film, bei fast gleichlautendem Text, in seinem Tonfall gewaltig von der Erzählung unterscheidet, die expressionistische Bildsprache, die die beiden Killer im Vorspann lange Schatten werfen lässt, unterstützt von der orchestralen, dramatisch aufspielenden Musik von Miklos Rozsa, geradezu einen Kontrapunkt setzt zu Hemingways lakonischer Sprache (wozu auch gerechnet werden muss, dass der Autor den Mord selbst absichtlich auslässt, während Siodmak zeigt, wie die beiden Männer die Trommeln ihrer Revolver in den Körper ihres Opfers entleeren und ihre finsteren Fratzen im Licht der Schüsse aufblitzen), nimmt Drehbuchautor Anthony Veiller die Geschichte nur als Exposition eines Filmes, der schon der Prämisse nach, zu erklären wie ein Mann dazu kam, in einem schäbigen kleinen Hotelzimmer todesergeben auf seine Mörder zu warten, purer Anti-Hemingway ist.

Auftritt Reardon, der, darin die Rolle der Zuschauenden einnehmend, versucht, das Rätsel um den Tod des „Schweden“ zu lösen, das weder die Polizei von Brentwood noch seinen Chef bei der Versicherung sonderlich interessiert. Der Film bebildert nun in Rückblenden die Erzählungen der diversen Zeugen, die der Ermittler bei seinen Nachforschungen trifft. Es entsteht eine Geschichte um Begehren, Besessenheit, Betrug, ums Scheitern und – immer wieder – den Tod, um eine frühzeitig beendete Boxerkarriere, eine femme fatale, einen Raubüberfall, ein verwirktes Leben. Schon die Rückblendenstruktur des Films sorgt dafür, dass der Plot keine Linearität annimmt, sondern vielmehr die Fetzen einer zerrissenen Biographie vor uns auftauchen, die auch die Schicksale der überwiegend deutschen Exilanten, die vor dem Naziterror in die USA flüchteten, spiegeln mag, ohne die das düstere Hollywood-Genre-Kino der Epoche nicht denkbar wäre: Edgar G. Ulmer, Billy Wilder, Fritz Lang, Otto Preminger oder eben Robert Siodmak und seinen Bruder Curt. Der Film Noir ist, nach der wunderbaren Definition von Rainer Knepperges, „eine Kunstform des Nachkriegs, die Mitleid mit Menschen hat, die ihre Seele verloren haben.“

Burt Lancaster, der zuvor unter anderem als Zirkusakrobat arbeitete, ist hier in seiner ersten Rolle zu sehen, mit der er gleich einen Archetypen des Noir schuf: den einer gefährlichen und betrügerischen Frau verfallenen, unendlich getriebenen, gebrochenen Antihelden. Und die Getriebenheit seiner Figur wird im klassischen Hollywood wohl nur noch von Humphrey Bogart als abgehalfterter, gewalttätiger Drehbuchautor in Nicholas Rays „<<TEXT:UNTERSTRICHEN>In a Lonely Place“ (1950) übertroffen. Lancasters „Schwede“ tut nicht, was von einem Film Noir-Helden erwartet wird, erliegt den Versuchungen von Frau und Geld, weist die bürgerliche Existenz von sich, indem er einem einstigen Freund, der inzwischen Polizist geworden ist, erklärt, dass er das Geld, das er bei der Polizei in einem Jahr verdienen würde, in guten Monaten als Profiboxer in einem Monat bekam. Der bürgerlichen Frau, die er haben könnte, und die schließlich den Polizisten heiratet, zeigt er die kalte Schulter zugunsten der in kriminelle Machenschaften verwickelten Kitty Collins (Ava Gardner, die ebenfalls hier erstmals in einer tragenden Rolle zu sehen ist, gibt neben Barbara Stanwyck in Wilders „Double Indemnity“ (1944) eine der maßgeblichen femme fatales der Ära). Es ist bemerkenswert, welche Macht über Männer dieser Film Frauen zugesteht, ohne dass sie ihnen jemals helfen würden, zu eigenständigen Subjekten der Erzählung zu werden, durch sie wird entschieden, wie der Lebenswandel eines Mannes aussieht, auf welcher Seite des Gesetzes er steht, aber sie selbst entscheiden nie, bleiben reine Verlängerung eines männlichen Lebens- oder eben Todestriebs.

Ein paar Blickwechsel mit Kitty, eine Zweiereinstellung der beiden und es ist um den Schweden geschehen. Er geht drei Jahre in den Knast, um sie von einer Anzeige wegen Diebstahls zu entlasten, vertraut ihr bis zum Schluss, dem „double-cross to end all double-crosses.“ Als er zeitweise als erfolgreicher Geschäftsmann auftritt, mag es der Mode der Zeit entsprechen, dass sein protziger Anzug aussieht, als sei er ihm mindestens drei Nummern zu groß. Es passt aber ungemein zu seiner Figur, der auf der Gewinnerseite des Lebens sich einzurichten einfach nicht vergönnt ist, der die Rolle, die sie hier spielt, eben buchstäblich zu groß ist.

Der Ermittler wird auch zu einem Wanderer zwischen den Welten, der sich durch verschiedenste Milieus bewegt, ohne einem von ihnen jemals wirklich anzugehören. So entwickelt der Film auch ein durch und durch brüchiges Gesellschaftspanorama. Von den Boxringen über gutbürgerliche Stuben zu einfachen Hotelzimmern, von vornehmen Herrenhäusern zu dem Nachtclub Green Cat, dessen namengebende Katzenskulptur in einer wunderschönen, bizarren Einstellung mittig im Bild zwischen den Gästen an der Bar thront, erhaben, majestätisch. In ihr spiegelt sich Kitty, schon ihrem Namen nach. Sie zeigt, was diese Frau sein könnte, würde man sie denn lassen. Der Spiegel, den das Kunstwerk, nach Auffassung der Realisten, der Gesellschaft vorhält, ist in diesem Film ein zersplitterter. Abbild einer Realität, die sich nur noch in (narrativen) Trümmern denken lässt. Realismus und Stimmungsbild einer Welt nach den kollektiven Traumata von Krieg und Faschismus gehen fließend ineinander über. Vielleicht ist Reardon, dem der Film außer seiner Arbeit, die sich schließlich kaum bezahlt macht, keinerlei Leben zugesteht, heimlich die tragischste Figur. Vielleicht kehrt „The Killers“ am Ende doch zu Hemingway zurück, der seine Kurzgeschichte mit den Worten enden ließ: „Well, (…) you better not think about it.“

The Lady in the Car with Glasses and a Gun

(F/B 2015, Regie: Joann Sfar)

Edel-Retro
von Bernd Kronsbein

Der 1971 geborene Franzose Joann Sfar ist eines dieser Allround-Genies, bei denen man vor Neid erblasst. Er ist ein begnadeter Comic-Autor und -Zeichner ('Die Katze des Rabbiners', 'Klezmer', 'Vampir'; alle …

Der 1971 geborene Franzose Joann Sfar ist eines dieser Allround-Genies, bei denen man vor Neid erblasst. Er ist ein begnadeter Comic-Autor und -Zeichner ('Die Katze des Rabbiners', 'Klezmer', 'Vampir'; alle Avant-Verlag), der ganz nebenbei auch noch tausend andere Sachen macht, u.a. auch Filme. 2010 debütierte er mit „Gainsbourg – Der Mann, der die Frauen liebte“, es folgte „Die Katze des Rabbiners“ (2011), die Zeichentrick-Adaption seiner Comic-Serie, und 2015 „The Lady in the Car with Glasses and a Gun“, die Neuverfilmung eines Romans von Sébastien Japrisot, der bereits 1970 von Anatole Litvak mit Samantha Eggar und Oliver Reed das Licht der Leinwand erblickte und dann schnöde in Vergessenheit geriet.

Sfars Remake ist nun auch in Deutschland erschienen und kann sich verdammt sehen lassen. Die titelgebende „Dame im Auto mit Brille und Gewehr“ ist Dany (Freya Mavor), ein blasses, sommersprossiges, rothaariges Mauerblümchen (Marke: Supermodel), das in den finsteren 1970ern als Tippse bei einem arschigen Chef arbeitet, während ihre alte Freundin Anita sich eben jenen Chef geangelt hat und nun ein nettes Leben in der Villa führt. Bis Dany eines Tages von ihrem Boss in die Villa geholt wird, um dort nach Feierabend weiterzutippen. Am nächsten Tag soll sie die glückliche reiche Familie gar zum Flughafen bringen und anschließend den supercoolen Thunderbird zurück zur Villa steuern. Dermaßen ausgenutzt, beschließt Dany, den mintfarbenen Schlitten für eine Spritztour zu borgen. Das hätte sie lieber nicht tun sollen… Nun beginnt eine atemberaubende Odyssee, die dem Zuschauer genüsslich den Boden unter den Füßen wegzieht. Denn auf der Fahrt nach Monte Carlo begegnet sie immer wieder Spuren von – sich selbst!

Sfar macht das geradezu unverschämt elegant, sexy, abgründig und ohne einen Funken Ironie. Er lässt die Zuschauer wunderbar im Ungewissen, ob Dany eine irre Psychopathin ist oder mit ihren irren Kork-Plateaus in ein mörderisches Komplott stolpert. Die Hinweise für beides sind breit gestreut und das macht den Reiz dieses Edel-Thrillers aus, der uns in einer Zeit zurückführt, als Filme noch aufgetüftelte Plots hatten. Mit Figuren, die bei aller Künstlichkeit doch Charme mitbrachten, dem man sich kaum entziehen kann. Wer nur Sfars Comics kennt, wird hier eine ganz neue Seite des Franzosen entdecken, eine, von der man gern noch mehr sehen würde.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: Comic.de

Nebel im August

(D/AT 2016, Regie: Kai Wessel)

Ein Denkmal
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Film befasst sich mit dem Schicksal eines Zwölfjährigen, der 1944 in der bayerischen Anstalt Kaufbeuren-Irrsee ermordet wurde. Ernst Lossa wurde vergiftet. Grund: Er war Sohn eines fahrenden Händlers, eines …

Der Film befasst sich mit dem Schicksal eines Zwölfjährigen, der 1944 in der bayerischen Anstalt Kaufbeuren-Irrsee ermordet wurde. Ernst Lossa wurde vergiftet. Grund: Er war Sohn eines fahrenden Händlers, eines Jenisch, und er war in der Hungeranstalt Kaufbeuren aufsässig. Er klaute Brot aus der Vorratskammer und versorgte Kinder, die verhungern sollten. Und er verbreitete unter seinesgleichen so etwas wie Hoffnung auf bessere Zeiten.
Der Ernst Lossa war ein Held. Und der Film setzt ihm ein Denkmal.

Dabei stellt Regisseur Kai Wessel sein Licht unter den Scheffel. Lossas Schicksal ist dokumentarisch ausführlich belegt. Im Film ist davon aber nicht die Rede. Wessels Absicht war vielmehr, „einen lebendigen Film“ zu machen – und keinen dokumentarischen. Daher vermeidet er beispielsweise, die Anstalt beim Namen zu nennen. Geht diese Strategie auf? Ich meine: ja. Der junge Held, widerständig und fürsorgend zugleich, bleibt im Fokus. Er berührt. Und es ging mir nicht anders: ich litt und hoffte mit ihm.

„Nebel im August“ ragt aus der Reihe der so genannten Euthanasie-Filme heraus. Er beschäftigt sich vorrangig nicht mit den bösen Tätern, auch nicht mit dem Rassenwahn der Nazis. Es fehlen in der detailgetreuen Ausstattung der Anstalten zum Beispiel Aufnahmen von Nazisymbolen wie Führerbild, Hakenkreuze, Parteiabzeichen pp. – Auch kommen Tätermotive nicht in den Vordergrund. Doch, ja, in einer großen Szene rühmt sich der Anstaltsleiter von Kaufbeuren-Irrsee als Erfinder der Hungerkost. Anstaltsessen reichlich, aber mit Suppen ohne Kalorien und Vitamine. Messungen ergeben, dass das Körpergewicht zuverlässig abnimmt. Das stößt im „Euthanasie“-Betrieb auf Zustimmung der Ärzteschaft. Besonders wenn vorrangig diejenigen getötet werden, die arbeitsunfähig oder –willig sind und den Anstalten keinen Nutzen und nichts als Kosten bringen.

Ergebnis: der Film, weit davon entfernt die Schuldigen zu fanatischen Nazis zu erklären, sieht die Schuldigen bei jenen, die ihre Entscheidungen nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip treffen. Und damit sind wir beim Heute angelangt. „Nebel im August“ führt umstandslos in die sehr gegenwärtige Diskussion über – Beispiel! – die pränatale Diagnostik.

Exkurs: In der Generalakte der Hamburger Gesundheitsbehörde der frühen vierziger Jahre vermerkte der Behördenleiter persönlich, die Abtransporte der Hamburger Kinder aus den Alsterdorfer Anstalten durch die „Euthanasie“-Busse der Kanzlei des Führers sollen fortan vermieden werden. „Wir machen es billiger“. Und so geschah es.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

Einfach das Ende der Welt

(CA, FR 2016, Regie: Xavier Dolan)

Symptome der Sprachlosigkeit
von Wolfgang Nierlin

Der Blick durch den Spalt einer Kabinentür zeigt uns eine gefangene Hauptfigur. Er wolle bis zum Schluss sein „eigener Herr“ bleiben, monologisiert der 34-jährige Louis (Gaspar Ulliel) aus dem Off. …

Der Blick durch den Spalt einer Kabinentür zeigt uns eine gefangene Hauptfigur. Er wolle bis zum Schluss sein „eigener Herr“ bleiben, monologisiert der 34-jährige Louis (Gaspar Ulliel) aus dem Off. „Irgendwo, vor einiger Zeit“, so die unbestimmten, aber verallgemeinerbaren Orts- und Zeitangaben zu Beginn des Films, sitzt der bekannte Schriftsteller in einem Flugzeug auf dem Weg nach Hause. Zwölf Jahre sind vergangen, seitdem er als homosexueller junger Mann aufgebrochen ist und seine Familie nicht gesehen hat. Jetzt kehrt der schweigsame Louis zurück, um seinen bevorstehenden Tod anzukündigen. Mehr erfährt man nicht über ihn, während auf der Fahrt in einem Taxi alltägliche, leicht melancholisch grundierte Straßenszenen an ihm vorbeiziehen. „Home is where it hurts“, heißt es dazu im Song der Titelsequenz. Und wir ahnen die kommenden Konflikte.

Doch diese sind merkwürdig abwesend in Xavier Dolans neuem, preisgekröntem Film „Einfach das Ende der Welt“ (Just la fin du monde), der auf einem Theaterstück des vielgespielten französischen Autors Jean-Luc Lagarce basiert. Zwar herrscht von Anfang an ein Klima angespannter Verunsicherung und offener Aggressivität, doch die inhaltlichen Gründe des dramatischen emotionalen Aufruhrs bleiben im Dunkeln. Die Sprache ist in Dolans von sprechenden Köpfen dominiertem Kammerspiel nicht mehr ein Medium, um Konflikte zu erforschen und zu lösen, sondern artifizieller Ausdruck von Erregungszuständen. Man darf vermuten, dass sich hinter diesen bloßen Symptomen der Sprachlosigkeit eine Leere erstreckt, die aus der langen Abwesenheit des Heimkehrers und einer damit verbundenen Entfremdung resultiert. Doch jenseits ihrer sprachlichen Präsenz bleibt die Zeichnung der Figuren Blass und unbestimmt.

So wird viel und laut gestritten in den über einen Sommertag verteilten Zusammenkünften der Familienmitglieder, aber auch in den einzelnen Gesprächen, die Louis mit seiner jüngeren Schwester Suzanne (Léa Seydoux), seinem zornigen älteren Bruder Antoine (Vincent Cassel) und der Mutter Martine (Nathalie Baye) führt; wobei der Held meistens schweigt oder in seinen aufbrechenden Bemühungen um Kommunikation vorschnell gestoppt wird. „Ich verstehe dich nicht, aber ich liebe dich“, sagt seine Mutter zu ihm. So ähnlich geht es auch dem Zuschauer mit diesem spröden, fast abstrakten Film, der einen kaum erreicht und der es einem schwer macht, ihn zu mögen. Nur Catherine (Marion Cotillard), die Schwägerin des Protagonisten, scheint Louis auf geheime Weise zu verstehen. Ziemlich früh inszeniert Xavier Dolan in einer langen, schwebenden Sequenz gedehnter Augenblicke und verstohlener Blickkontakte die ganze (filmische) Magie dieses unausgesprochenen Vertrauens zwischen ihnen.

Passengers

(USA 2016, Regie: Morten Tyldum)

Was ist faul an Bord?
von Drehli Robnik

Zum Ende der Obama-Ära gibt es eine Raumfahrt in ungewisse Zukünfte, die voll ist mit Momenten des Abschieds und der Vermächtniserklärung (noch dazu ausgesprochen vom großen Laurence Fishburne): ‚Find out …

Zum Ende der Obama-Ära gibt es eine Raumfahrt in ungewisse Zukünfte, die voll ist mit Momenten des Abschieds und der Vermächtniserklärung (noch dazu ausgesprochen vom großen Laurence Fishburne): ‚Find out what´s wrong with your ship!‘

Morten Tyldums Zweipersonen-SciFi ‚Passengers‘ funktioniert vor allem als Lovestory: Ein Mechaniker (Chis Pratt, verschmitzt wie stets) und eine Reporterin Jennifer Lawrence (etwas unterfordert beim Bikini-Posing und heiseren Klagen) wachen als einzige von 5000 Hyperschlafreisenden auf dem Weg zu neu zu besiedelnden Planeten um satte 90 Jahre zu früh auf. Das Alleinsein im leeren Schiff ist schwer (und manchmal lustig, etwa mit Vollbart), das Zuzweitsein auch (und manchmal traurig, etwa durch ein Geheimnis, das zwischen den Liebenden steht). Die goldene Retro-Bar an Bord ist eine explizite Grußadresse an ‚Shining‘; vielleicht schimmert auch Buster Keatons Techno-Öko-Romanze in ‚Steamboat Bill jr.‘ da und dort durch.

Die dem Paar aufgegebene Grundlagenprüfung angesichts des Infrastrukturkollaps reißt manch gutes Thema an: das Dystopie-Standardmotiv der allmächtigen Kolonial-Corporation, der Klassenunterschied in Sachen Zugang (wem gibt der Essensautomat das Deluxe-Frühstück, wem nur den Brei?), die programmierte gute Laune von Bordcomputer-Auskunftsstimmen und Barkeeper-Robot. Die Schraube der Totalkapitalisierungskritik hätte durchaus mehr angezogen werden können – wo doch schon ‚Alien‘ 1979 wusste und uns wissen ließ, dass Leute, die aus dem Hyperschlaf geholt werden, bis ins Fleisch hinein Konzerneigentum und außerdem expendable sind –, aber es bleibt dann leider doch bei trivialen, rein technischen Problemquellen; die liefern immerhin schöne Schwerelosigkeits-Actionszenen. Es schwebt sich gut in der Zukunft.

Wild Plants

(DE/CH 2016, Regie: Nicolas Humbert)

Widerstand aus der Nische
von Wolfgang Nierlin

Zuerst sieht man Schnee und Eis und einen Hund, der darauf schlittert. Ein mächtiger Baum fällt, verlassene Häuser zerfallen, ein Güterzug bewegt sich gemächlich durchs Bild und Schwärme von Vögeln …

Zuerst sieht man Schnee und Eis und einen Hund, der darauf schlittert. Ein mächtiger Baum fällt, verlassene Häuser zerfallen, ein Güterzug bewegt sich gemächlich durchs Bild und Schwärme von Vögeln zeichnen Muster in den Himmel. Dann wieder blickt man auf Brachen, Zerstörtes, auf Reste der Zivilisation, die allmählich von einer beharrlichen Natur überwuchert wird; und auf die stumme Abfolge von Gesichtern, die ganz offensichtlich von frischer Luft genährt werden.

„Wild Plants“, der neue Film von Nicolas Humbert, ist selbst wie eine Pflanze, die im Wechsel der Jahreszeiten wächst und gedeiht und Gestalt annimmt. Sein „Saatgut“ aus Bildern, Tönen und einzelnen Interviews lässt auf ruhige und geduldige Weise die zugrunde liegenden Erfahrungen und Begegnungen zu einem spirituellen Filmpoem reifen. Darin portraitiert der deutsch-schweizerische Filmemacher Menschen, die sehr reflektiert und bewusst neue Lebensmöglichkeiten in und im Umgang mit der Natur suchen, indem sie alternative Formen des Gärtnerns und Landwirtschaftens praktizieren. Das politisch Widerständige ist ihrem Denken und Handeln ebenso implizit wie Nicolas Humberts Film, der vordergründige Statements und Analysen meidet und stattdessen subjektive Zugänge sucht und findet. Konzentriert entfaltet er seine Motive in einem filmischen Erfahrungsraum.

„Auch wir sind Pflanzen“, sagt Milo Yellow Hair, ein weiser Indianer mit großer Schönheitsliebe. „Alles in der Natur gibt uns Menschen unsere Form.“ Wie sich Natur transformiert und Leben verwandelt, lässt sich besonders gut bei der Gartenarbeit beobachten. Andrew Kemp und Kinga Osz, zwei Urban Gardeners aus Detroit beschreiben diesen endlosen Prozess von Werden und Vergehen anhand ihres Komposthaufens. Dass diese tägliche Erfahrung natürlicher Kreisläufe auch bei der Bewältigung persönlicher Traumata helfen kann, dokumentiert der Filmemacher sehr subtil im Gespräch mit Kinga Oz, die ihre Mutter früh verloren hat.

Die überwiegend jungen, von einem starken Idealismus angetriebenen Gärtner der Genfer Kooperative „Les Jardins de Cocagne“ wiederum haben in der landwirtschaftlichen Arbeit eine alternative Lebensform gefunden. Diese ermöglicht es ihnen, „langsamer zu werden“, im konkreten Tun den Geist zu beschäftigen und im direkten Kontakt mit dem Kunden die grassierende Anonymität zu überwinden. Veränderungen, die zugleich ökologisch, politisch und poetisch sind, bewirkt auch der sehr sympathische Aktivist Maurice Maggi. Nachts zieht er durchs Züricher Stadtgebiet und streut fast andächtig jene Samen aus, die für wilden Pflanzenwuchs sorgen und so das Stadtbild und vielleicht auch das Bewusstsein der Menschen verwandeln. Mit seinen konspirativen Interventionen möchte Maggie nämlich „das komplexe Ganze von der Nische her verändern.“

Die Hölle – Inferno

(AT/D 2016, Regie: Stefan Ruzowitzky)

Relativ böse, absolut fremd
von Drehli Robnik

Zwanzig Jahre nach dem Wiener Fahrradboten seines Regiedebüts ‚Tempo‘, 17 Jahre nach Franka Potente als ‚Anatomie‘-Studentin unter Serienkillern und drei Jahre nach der stylishen Psychologisierung des Nazimassenmords in ‚Das absolut …

Zwanzig Jahre nach dem Wiener Fahrradboten seines Regiedebüts ‚Tempo‘, 17 Jahre nach Franka Potente als ‚Anatomie‘-Studentin unter Serienkillern und drei Jahre nach der stylishen Psychologisierung des Nazimassenmords in ‚Das absolut Böse‘ schickt der Wiener Regisseur Stefan Ruzowitzky (bevor demnächst sein britischer Zombiefilm ‚Patient Zero‘ an den Start geht) nun eine türkischstämmige toughe thaiboxende Taxlerin durch ein verregnetes Wien. Sie wird bedrängt von Männermachtritualen mehrheitsösterreichischer Art wie auch in ihren Herkunfts- und Freizeitmilieus (triste Wohnungen, ein Gym, also Boxsportcenter mit Sparringkäfig) – und vor allem von einem folterfreudigen Ritual-Frauenmörder, der ihr mit dem Messer nachstellt, nachdem sie zur Zufallszeugin einer seiner Untaten geworden ist.

Wortspiele mit dem Filmtitel ‚Die Hölle‘ verbieten sich. Sie wären auch unzutreffend. Eher gezielt räudig bis unfreiwillig holprig spielt dieser Thriller – der außerhalb Ösistans auch mit Titelzusatz als ‚Die Hölle – Inferno‘ antritt, wohl weil nicht sofort klar ist, was eine Hölle für eine Art von Ort sein soll, und weil ‚Inferno‘ mal ein etwas anderer Filmtitel ist – seine zweifellos vorhandenen Stärken nicht wirklich aus und betont eher seine ebenso merklichen Schwächen. Nach dem Hollywood-Einstand von Ruzowitzky (Auslands-Oscar für ‚Die Fälscher‘, 2008) mit dem stimmungsvollen und – blödes Wort – kompetenten Country-Krimi-Beziehungsdrama ‚Deadfall‘ (synchrondeutsch: ‚Cold Bood‘, 2012), ist es schon erstaunlich, wie grob hier nun die Musik Dramatik markiert und wie sehr in Nebenrollen geknödelt wird. Eine stark choreografierte Autoaction-Sequenz mit Messermörder auf dem Rücksitz sticht hervor, ein Hauch von Giallo bleibt hier nur ein Hauch. Mehr davon wäre fein gewesen.

Als Ethno- und Milieupanorama bietet ‚Die Hölle‘ sympathische Ansätze – und bezahlt sie teuer. Auf eine Reihe gelungener Bilder düsterer Wien-Peripherie (Gürtelgegend und weiter westlich in Ottakring) folgen im Schlussdrittel erste Szenen bei strahlendem Sonnenschein, die just rund um die Mölkerbastei und das Rathaus spielen; vermutlich weil in teurer Innenstadtlage halt alles schöner ist. Entwicklungsromanhaft zielt der Plot ins Gute und landet punktgenau bei Herrschaftsideologien: Die wortkarge, sich rasch handfest behauptende Hauptfigur (gut: Violetta Schurawlow) absolviert einen erwartungsgemäßen – und erwartungsgemäß depperten – Prozess von ‚Verweiblichung‘ mit Traumagarnierung; der Wiener Kripo-Ermittler wird als rassistischer Gockel mit Hang zum schnellen Schimpfwort und sexistischer Bevormundung eingeführt – und dann von Martin Ambroschs Skript, das offenbar vor seinem eigenen Mut in der Figurenzeichnung zurückscheut, als fürsorglicher Alter-Vater-Pfleger und liebenswerter Traummann entproblematisiert (Tobias Moretti spielt beides gekonnt). (Robert Palfrader spielt, wie in jeder österreichischen Film- und Fernsehproduktion derzeit, auch kurz mit; den dementen Vater gibt Friedrich von Thun charmant.) Und wenn eine Türkin – die, wie alle hier, nur Deutsch spricht – zuhauen darf, dann eigentlich nur auf Orientalen, und ihr in einer starken Szene vor dem Krankenhauszimmerspiegel demonstrierter Killerinstinkt gegenüber dem Mann, der ihr ans Leben will, geht in der Form wohl nur deshalb, weil ihre Jagd einem Serienmörder gilt, der Araber ist (gespielt von Sammy Sheik). Ist die in Zeiten allgemeiner Dämonisierung von ‚Willkommenskultur‘ etwas gar gschmackige Werbezeile des Films, wonach nicht wir in die Hölle kommen, sondern die Hölle zu uns kommt, also womöglich mehr als eine Entgleisung? Das weiß der Himmel. Ungut ist das in jedem Fall.

Hacksaw Ridge – Die Entscheidung

(USA/AUS 2016, Regie: Mel Gibson)

Im rechten Licht gesehen
von Drehli Robnik

Sterben und retten, bekehren und beten in ‚Hacksaw Ridge: Die Entscheidung‘ Das Biopic eines Real Life-Buben aus dem ländlichen Virginia: Jugend in häuslicher Gewalt, zarte Freuden junger Liebe, Freiwilligmeldung im …

Sterben und retten, bekehren und beten in ‚Hacksaw Ridge: Die Entscheidung‘

Das Biopic eines Real Life-Buben aus dem ländlichen Virginia: Jugend in häuslicher Gewalt, zarte Freuden junger Liebe, Freiwilligmeldung im Zweiten Weltkrieg, schikanöse Ausbildung, Einsatz als Sanitäter bei der extrem blutigen Schlacht um die japanische Insel Okinawa kurz vor Kriegsende 1945. Dort, auf dem titelgebenden Berg ‚Hacksaw Ridge‘, spielt die zweite Filmhälfte: Sturmlauf durch Feindfeuer in schwelgerischen Totalen wie auch ausgespielten Details, Explosionen, dazwischen Dialoge in bedächtigen Close-ups. Im kundigen Einsatz von Bajonett-Toneffekten, pirouettenfreudig hochgeschleuderten Leichen und Zeitlupe in Bild (Gewehrkugeln schweben) und Ton (Schreie mümmeln) entsteht ein rundes Kriegsfilmbild: ein imposantes Infernopanorama.

Skurril und seltsam vertraut

Manches, was der beherzt helfende Held tut, wirkt skurril (Sergeantschlittenschleppen, Wegkicken einer Handgranate). Anderes in dem Film erinnert an Kriegsfilmgroßkaliber: die injektionsselige Krankenschwester – eine von Teresa Palmer gespielte, gänzlich farblose Figur – an ‚Pearl Harbor‘, der rumbrüllende Ausbilderschleifer (Vince Vaughn) mit Faible für Demütigungsrituale und Schimpfnamen an den Drill Sergeant in Full Metal Jacket‚, die Helmdurchlöcherungen und der Todeskampf bis zum Einander-Anplärren an ‚Saving Private Ryan‘, schließlich das Einsammeln reihum hilferufender Verwundeter an ‚Forrest Gump‘.

Umso deutlicher tritt die Eigenart des Films hervor, die von seinem Regisseur herrührt. Zwar legt der vormalige Spider-Man Andrew Garfield den als Retter hochdekorierten Verweigerer des Dienstes an der Waffe (wohlgemerkt: Er meldet sich freiwillig zur patriotischen Kriegspflicht und will Leben retten, nur eben keine Knarre – ösideutsch: Krochn – tragen) sympathisch als bescheidenen und humorvollen Schlaks an. Diesen angenehm atypisch erscheinenden Actionfilmhelden erhebt jedoch Regiefundamentalist Mel Gibson zum großen Erdulder angesichts verabreichter Schmerzen und drohenden Todes – aber nicht mit masochistischen, orientalistischen und homophoben Akzenten wie Angelina Jolie in ihrem ebenfalls unter Amis auf dem pazifischen Weltkriegsschauplatz angesiedelten ‚Unbroken‘, sondern vielmehr ganz in der identitären Tradition des Nationalstolzes von Gibsons ‚Braveheart‘ (1995) und der antisemitisch verbrämten Erlösungsbotschaft seiner Passion Christi‚ (2004). ‚Die Entscheidung‘ heißt ‚Hacksaw Ridge‘ im deutschen Zusatz – ein Allerweltstitel, der hier jedoch eine brachialspiritualistische Aufladung erfährt: Das Shell-Shock-Erlebnis als Zentralmotiv im Kriegsfilm der Jahrtausendwende wird hier vom Erweckungserlebnis abgelöst, der Trauma-Soldat vom Märtyrer als Modellsubjekt.

Griffith 1917 – Gibson 2017: Allegorie der ‚Intoleranz‘

Revision ist da Programm: Die Streitkräfte bieten hier selbst einem conscientious objector einen Rahmen zur Bewährung seiner Berufung, und der versoffene, gewalttätige Vater des Helden (Hugo Weaving) rehabilitiert sich, als er seine alte Montur samt Orden aus dem Ersten Weltkrieg anlegt, um seinem Sohn vor dem Militärgericht, das den ungebührlichen Pazifisten aus der Armee entfernen will, beizustehen. Hier liegt nun allerdings nicht so sehr ein Kontinuum eines militaristischen, uniformverliebten US-Kinos vor. Vielmehr werden hier Traditionen des Schmelztiegel-kulturalistischen, liberalen oder sanft progressiven Hollywood-Kriegsfilms modifiziert, was die Beziehung zwischen der kollektiven Institution und einem Misfit betrifft: Der zu Unrecht Exkludierte, der von seinen Kameraden Prügel bezieht und diese stolz verleugnet, um dabeibleiben zu können, das war einst – vom antisemitisch schikanierten Montgomery Clift in ‚The Young Lions‘ (1958) bis zu den Rassismus gewohnten African Americans Cuba Gooding, Jr., Terrence Howard oder Michael Ealy bei der Navy, Air Force oder Army in ‚Pearl Harbor‘ (2001), ‚Hart’s War‘ (2002) und ‚Miracle at St. Anna‘ (2008) – eine Minority-Figur, ein jüdischer, ein schwarzer oder wie in ‚Windtalkers‘ (2002) ein Navajo-Soldat. Nun ist offenbar Schluss mit der Kultur der bürgerrechtlichen Integration, denn nun bezieht diese Position ein Adventist, Anhänger einer protestantischen Freikirche, also christlich-weiße Avantgarde: Erst wird er sträflich verkannt, gescholten und geschlagen – am Ende dient er der Truppe als strahlendes Vorbild und Vorbeter. Ein Schelm, wer darin die implizite Selbstabbildung eines lange Zeit zurecht kritisierten, möglicherweise unsanft marginalisierten und nun (wofür?) wieder gefeierten Filmemachers sehen will: Was Griffith 1917 sein ‚Intolerance‘ war – ein Film, der die für den Rassismus seines ‚Birth of a Nation‘ erhaltene mancherseitige Kritik, missverstanden als ‚Intoleranz‘, in die Gewalt-Geschichte projizierte –, das ist Gibson genau hundert Jahre später sein ‚Hacksaw Ridge‘. Und auch wenn der Film seine Glaubensfestigkeit zu sehr forciert, um geradeaus als frühe Filmversion eines trumpistischen White Power-Populismus zählen zu können: Ein Prachtstück von illiberalem, neurechtem Kino ist das allemal.

National Bird

(USA 2016, Regie: Sonia Kennebeck)

Sind so viele Drohnen...
von Jürgen Kiontke

Die Playstation ist heute Voraussetzung für alles. Denn was anderes als dort muss man im richtigen Leben manchmal auch nicht mehr arbeiten. Aber was ist schon richtiges Leben? „Das ist …

Die Playstation ist heute Voraussetzung für alles. Denn was anderes als dort muss man im richtigen Leben manchmal auch nicht mehr arbeiten. Aber was ist schon richtiges Leben? „Das ist keine Science-Fiction!“, verheißt der Werbeclip, der Schulabgänger und andere junge Menschen mit dem Dienst bei der US Air Force umschmeichelt. Gemeint ist der Dienst mit der Drohne. Man drückt irgendwo in der amerikanischen Provinz ein paar Knöpfe und im afghanischen Grenzgebiet fallen die Streubomben.

Der Film „National Bird“ zeigt, wie es nach dem Werbespot und ein paar Jahren Militärdienst weitergeht. Regisseurin Sonia Kennebeck folgt ehemaligen Mitarbeitern des US-Drohnenprogramms, nachdem sie aus dem Dienst ausgeschieden sind. Eine von ihnen ist Heather. Die junge gruftgestylte Frau arbeitet jetzt in einer Kantine; gut geht es ihr nicht. Kein Wunder, sagt sie: Jahrelang habe sie Menschen sterben sehen. „Oft war die Prognose falsch“, sagt die ehemalige Fernsteuerungsspezialistin. „Ehrlich gesagt: Ich habe keine Ahnung, wie viele Menschen ich getötet habe.“ Schweigen will sie nicht mehr, Geheimhaltung ist ihr und den anderen Protagonisten egal. Denn sie haben schlichtweg einen Knall gekriegt von der Schere: offizielle Verlautbarung – Menschenrechte, demokratische Werte und so – und ihrem Handeln.

Das Ziel des Drohnenprogramms umschreiben sie so: jeden an jeder Stelle der Welt töten können. Grenzen spielen keine Rolle. Von 121.000 „Zielen“ in zwei Jahren ist im Film die Rede. Heather meint: „Obama hat gesagt: Schont die Zivilisten.“ Die Aufklärung sei aber immer erst nach dem Angriff gekommen. Da waren viele schon beim Feierabendbier.

Die „national birds“ melden sich aus Idealismus, Not oder Pflichtgefühl. Oder einfach nur, um Arbeit zu haben. Alles gewichtige Gründe, in den Krieg zu ziehen, früher wie heute. Oder?

Dieser Film zeigt ein anderes Amerika, ist Anti-Hollywood. Man sieht den Bildern an, es war wenig Geld da, Aufnahmen finden in düsteren Baracken und Privaträumen statt. Die fast erdkundefilmhafte Ästhetik verleiht den Geschehnissen alle Dunkelheit, die den Vorgängen inne ist.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 01/2017

Right now, wrong then

(KR 2015, Regie: Hong Sang-soo)

Das Schöne suchen
von Wolfgang Nierlin

Zwei Versionen einer Liebesgeschichte erzählt Hong Sang-soo in seinem ebenso leichten wie melancholischen Film “Right now, wrong then” (Goldener Leopard, Locarno 2015). Nur wenige Schauplätze und ein eng gesteckter zeitlicher …

Zwei Versionen einer Liebesgeschichte erzählt Hong Sang-soo in seinem ebenso leichten wie melancholischen Film “Right now, wrong then” (Goldener Leopard, Locarno 2015). Nur wenige Schauplätze und ein eng gesteckter zeitlicher Rahmen genügen dem südkoreanischen Regisseur, um in der Begegnung zweier Menschen auf bezaubernde Weise einen ganzen Kosmos an Gefühlen und (kommunikativen) Verhaltensweisen zu entwickeln. In nuancierten Abweichungen und minimalen Verschiebungen der Perspektive lenkt Hong Sang-soo die Aufmerksamkeit auf veränderte Details im Verhalten der beiden Protagonisten; was wiederum Rückschlüsse zulässt auf ihren Charakter und die Motive ihres Handelns. Meist in sehr langen Einstellungen gedreht, innerhalb derer nur gelegentliche Zooms und Schwenks Akzente setzen, etabliert der Filmemacher einen reduzierten, zufällig erscheinenden Plot, um den Blick auf Prozesse und Verlaufsformen zu richten.

„Ich passe mich den Gegebenheiten an“, erklärt Hong Sang-soo seine Arbeitsweise, die sich nicht auf vorgefertigte Konzepte stützt, sondern auf Vorgefundenes reagiert. Am Anfang des künstlerischen Prozesses steht deshalb auch nicht ein Wissen, sondern der Wunsch, Neues zu entdecken. Ganz ähnlich äußert sich im Film auch der Regisseur Ham Chun-su (Jung Jae-young) aus Seoul, der bei einem Festival in der Provinzhauptstadt Suwon seinen neuen Film vorstellen soll. Man müsse auf einem unbekannten Weg offen bleiben für Entdeckungen, sagt der berühmte Arthouse-Regisseur zum spärlich erschienen Publikum. Und natürlich spricht er dabei auch für Hong Sang-soo, dessen Film „Right now, wrong then“ diese künstlerische Strategie abbildet und insofern auch als Film über das Filmemachen funktioniert. Indem Ham Chun-su versehentlich einen Tag zu früh angereist ist, wird diese kreative Offenheit gewissermaßen auf den Weg gebracht. So begegnet er beim Zeitvertreib der jungen Malerin Yoon Hee-jung (Kim Min-hee) und verliebt sich in sie.

Obwohl er verheiratet ist, sagt Ham einmal zu ihr, sie sei für ihn die „erste wahre Frau“ und er habe deshalb das Gefühl, eine lange Reise hinter sich zu haben. Aber was zunächst klar und eindeutig erscheint, ist nicht frei von Widersprüchen und Rückschlägen. In „Right now, wrong then“ braucht es einen zweiten Anlauf und Durchgang, damit sich die Liebenden auf schmerzlich schöne Weise ihrer Gefühle bewusst werden und sich im Zeichen des Abschieds füreinander öffnen. Und so begleiten wir die beiden noch einmal ins Atelier der Künstlerin, in ein Café namens „Dichter und Bauer“, in eine Sushi-Bar, wo sich vor allem der Filmregisseur mit Soju betrinkt, und zu einem Essen bei Freunden. Wir lauschen ihren Gesprächen und hören auf die Zwischentöne, bemerken ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede, während es kalt ist und irgendwann zum Ende hin leichter Schneefall einsetzt. Sie suche, ihren Möglichkeiten gemäß, im zweckfreien Malen das Schöne, sagt Yoon. Und bekommt dafür von Ham komplizenhafte Zustimmung: „Man tut, was man kann im Leben. Mehr geht nicht.“

Cemetery of Splendour

(TH/GB/F/D 2015, Regie: Apichatpong Weerasethakul)

Zum Einschlafen
von Ricardo Brunn

Während draußen ein Bagger das Land umpflügt, wird drinnen geschlafen. In einem Krankenhaus im Norden Thailands sind Soldaten untergebracht, die an einer rätselhaften Schlafkrankheit leiden. Nichts kann sie wecken. Niemand …

Während draußen ein Bagger das Land umpflügt, wird drinnen geschlafen. In einem Krankenhaus im Norden Thailands sind Soldaten untergebracht, die an einer rätselhaften Schlafkrankheit leiden. Nichts kann sie wecken. Niemand weiß, was mit ihnen geschehen ist. Vielleicht, so suggeriert es der Schwarzfilm zu Beginn des Filmes, ist alles, was sie von der Welt noch wahrnehmen, der unermüdliche Lärm des Baggers vor dem Fenster. Noch bevor die erste Einstellung die arbeitende Maschine von der Veranda des Krankenhauses zeigt, ist der Baulärm zu hören. Der Zuschauer wird quasi selbst zum schlafenden Soldaten und damit zugleich mit der Kino-Situation konfrontiert. Der Film beseelt die Soldaten mit unserer Anwesenheit und uns mit seinen Bildern oder besser gesagt Träumen. Wach- und Traumzustände fließen im Kino beständig ineinander und seit jeher bildet das Schwarz des Kinosaales und der Leinwand zu Beginn eines Filmes die Materie für diesen unsicheren Übergang. In seinem sechsten Spielfilm wandelt der thailändische Regisseur Apichatpong Weerasethakul einmal mehr entlang dieses diffusen Grenzverlaufes, verdoppelt ihn oder lässt das eine im anderen aufgehen.

Direkt an dieser Schwelle platziert Weerasethakul seine beiden Protagonistinnen. Hausfrau Jenjira (Jenjira Pongpas Widner) wollte eigentlich nur eine alte Freundin in ihrer ehemaligen Schule, die für die Soldaten erst zum Krankenhaus umfunktioniert wurde, besuchen. Fasziniert von dem jungen Soldaten Itt (Banlop Nomloi) tritt sie jedoch als freiwillige Helferin in den Dienst des Krankenhauses und lernt die Pflegerin Keng (Jarinpattra Rueangram) kennen, der die Fähigkeit nachgesagt wird, mit den Schlafenden in Kontakt treten zu können. Sehr behutsam verschiebt der Regisseur von da an die Koordinaten seines Filmes. Zeichnet die Bilder zu Beginn eine beinahe dokumentarische Qualität (und damit einhergehend eine Verortung in der Realität) aus, lösen sich Gewissheiten dieser Art sehr bald auf. Wie die Amöbe, die in einer Einstellung plötzlich übergroß am blauen Himmel erscheint, ändern die Bilder fließend ihre Gestalt. Was gerade noch der Dialog dreier Frauen unter dem Dach einer Hütte war, entpuppt sich Sekunden später als traumartiger Moment, wenn zwei der Frauen sich als die Göttinnen zu erkennen geben, zu denen Jenjira zuvor gebetet hat.

Leitmotiv für diese bruchlosen Übergänge bilden Beatmungsgeräte, an welche die Soldaten angeschlossen werden und die mit speziellen Lampen ausgestattet sind. Diese sollen die Träume der Versehrten positiv beeinflussen, denn im Schlaf, so berichtet es Keng, seien sie Teil einer Schlacht des alten Königs, der Jahrhunderte zuvor auf dem Gelände des heutigen Krankenhauses seinen Palast stehen hatte. Nur aus diesem Grund könnten sie nicht aufwachen. Was im ersten Moment nur den gesamten Schlafsaal in sanft wechselnden Farbverläufen taucht, bemächtigt sich nach und nach des ganzen Filmes. So werden gegen Ende nächtliche Stadtansichten in die gleichen Farbverläufe gehüllt, obwohl die Straßenlaternen ein vollkommen anderes Licht erzeugen müssten. Einmal mehr wird so die Frage aufgeworfen, wer diese Bilder – ja diesen ganzen Film – sieht oder besser gesagt träumt.

Gleich den Soldaten, denen es nur für Momente, manchmal gar wenige Stunden gelingt, aus dem Schlaf zu erwachen, ihre Erlebnisse als kryptische Zeichen in Notizhefte (Traumtagebücher) zu schreiben und am normalen Leben teilzunehmen, endet der Versuch hinter die Bilder dieses Filmes zu schauen für den Zuschauer damit, zwischen ihnen gefangen zu sein. Der Wunsch nach Gewissheit führt zur Einsicht, den Ariadnefaden im Labyrinth der Traumbilder immerfort zu verlieren. Schon deshalb werden wir nie erfahren, was der Bagger aus- oder vielleicht auch vergraben will.

In seinem bisher persönlichsten Film schichtet Apichatpong Weerasethakul Traum, Realität, Gegenwart und Vergangenheit ganz beiläufig übereinander, um von einem Land zu erzählen, das unter der Herrschaft des Militärs gelähmt und wie hypnotisiert durch die Zeit treibt. „Cemetery of Splendour“ ist ein überaus politischer Film, dem die Frage nach Traum und Wirklichkeit so immanent ist wie dem Medium selbst. Denn das Kino ist der größte Traum von allen, Hort eines segensreichen Schlafes und der Wunscherfüllung. Die meditative Atmosphäre von „Cemetery of Splendour“ lädt den Zuschauer geradezu ein, sich selbst dem Träumen hinzugeben und Utopien entstehen zu lassen. Wer im Kino schläft, vertraue dem Film, heißt es. In der Mitte des Filmes geht Soldat Itt in einem seiner wachen Momente ins Kino, schläft ein und muss vom Personal aus dem Saal getragen werden. Ich selbst bin während der Vorführung von „Cemetery of Splendour“ dreimal eingeschlafen und vielleicht sogar zu einem der Soldaten geworden. Ein größeres Kompliment kann man diesem wundervollen Film wohl kaum machen.

Julieta

(ES 2016, Regie: Pedro Almodóvar)

Das Warten auf die Hysterie
von Michael Schleeh

Auch in diesem Film, der sich so anfühlt, als habe es den verunglückten Flugzeugfilm ‚Fliegende Liebende‘ (2013) nie gegeben, bleiben vor allem zwei Dinge im Gedächtnis: die beiden Gesichter der …

Auch in diesem Film, der sich so anfühlt, als habe es den verunglückten Flugzeugfilm ‚Fliegende Liebende‘ (2013) nie gegeben, bleiben vor allem zwei Dinge im Gedächtnis: die beiden Gesichter der Frauen. Einmal Julieta in jung (Adriana Ugarte), einmal als Mutter und reife Frau (Emma Suárez). Die Tochter ist davongelaufen nach dem Tod des Vaters – nachdem sie ein paar Monate an einem spirituellen Rückzugsort in den Bergen verbracht hatte. Das freilich stürzt die Mutter in tiefste Verzweiflung – und als sie ein neues Tagebuch beginnt, da treten ihr die Erinnerungen an das eigene Leben wieder plastisch vor Augen.

Was folgt, ist dann natürlich „der neue Almodóvar“ (der auch wieder nach Cannes durfte): Flashbacks der Erinnerungen einer Frau zwischen Panik und verzweifelter Hoffnung, dass doch noch alles gut ausgehen möge. Und da sind wir, die Zuschauer, vollstens auf ihrer Seite. Prägnant sind die Farben, große Flächen, die Tableaus Almodóvars, für die er so berühmt ist. Fassadenmalerei schimpfen da die einen, ästhetisiertes Großvaterkino andere. Genau austariert ist das, immer gut genießbar, auch puppenstubenhaft bisweilen. Mit dickem Pinsel kräftig aufgetragen. Kein Wunder stört sich die Protagonistin an der augenflirrenden Brockattapete in der neuen Wohnung, sie ist so was ja nicht gewöhnt. Der Blick hinaus hingegen ist beruhigend, das kennt sie noch aus früheren Tagen aus ihrer Jugend. Und am Ende, da muss Julieta ihrem ästhetischen Verständnis nachgeben (oder ist es das Almodóvars?) und die Bude neu streichen. Neue Fassade. Zu den Tönen Ryuichi Sakamotos. Ambitionierter Jazz und ambitionierte Kunst, das sind die konstanten Koordinaten im bourgeoisen Leben der Altsprachen-Philologin. Einem Leben, in dem Geld scheinbar nie eine Rolle spielt. Da ist das Kind mit dem Fischer am Meer beinahe so etwas wie ein lebendig gewordener Kitschroman.

Macht aber auch nichts, denn irgendwie ist das auch ein wenig wie Amélie für Erwachsene. Ist ja das Tolle am Kino, hier kann man seiner Fantasie freien Lauf lassen. Ein bisschen schön finden darf man diese klassische Fabulierlust durchaus auch. Der neue Almodóvar (nun erschienen mit angenehm üppiger Ausstattung bei Tobis Film auf Blu-ray und DVD) ist ein schöner Film geworden. Am schönsten ist die kurze Szene mit dem Hirsch im freien Lauf. Aber mehr verrate ich nicht.

Die Habenichtse

(DE 2016, Regie: Florian Hoffmeister)

Offene Räume, durchlässige Beziehungen
von Wolfgang Nierlin

Die Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, also zwischen dem, was einer ist und dem, was einer sein möchte, grundiert Florian Hoffmeisters Film „Die Habenichtse“, eine Adaption von Katharina Hackers gleichnamigem, …

Die Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, also zwischen dem, was einer ist und dem, was einer sein möchte, grundiert Florian Hoffmeisters Film „Die Habenichtse“, eine Adaption von Katharina Hackers gleichnamigem, preisgekröntem Roman. Gleich zu Beginn gesteht Isabelle (Julia Jentsch), die eigentliche Heldin der parallel gesetzten, sich schließlich berührenden Handlungsstränge, sie drücke sich gern vor Vorhaben, um sich der Illusion eines gewünschten Seins hinzugeben. Als mäßig erfolgreiche, eher lustlose Grafikdesignerin lebt sie im nicht nur räumlich offenen Haushalt des Berliner Videokünstlers Andras (Aljoscha Stadelmann). Die tatsächliche oder nur scheinbare Durchlässigkeit von Räumen und Beziehungen kollidiert in Hoffmeisters verdichteter Inszenierung des Geschehens gewissermaßen mit dem (unterbewussten) Bemühen der Figuren, Wirklichkeit zu verdrängen. Die Krise der Identität resultiert also nicht nur aus dem Scheitern an eigenen Ansprüchen, sondern auch aus der passiven Leugnung besserer Einsichten.

Das ändert sich mit dem 11. September 2001. Am Tag der schrecklichen Terroranschläge auf das World Trade Center trifft Isabelle bei einer Vernissage Jakob (Sebastian Zimmler) wieder, ihren früheren Liebhaber aus Freiburger Studienjahren. Arrangiert hat diese Begegnung ihr gemeinsamer Freund Hans (Ole Lagerpusch), der wie Jakob als Jurist arbeitet und zu diesem Zeitpunkt zu den Opfern des Terrorangriffs gehört. Als sein Tod Gewissheit ist, schleichen sich unausgesprochen Schuldgefühle in die neu erwachte Beziehung zwischen Isabelle und Jakob, zumal letzterer etwas später Hans‘ Stelle in einer Londoner Kanzlei übernimmt. Bald deutet sich an, dass das merkwürdig verhaltene, reservierte Verhältnis der beiden unter den Bedingungen der neuen Lebenssituation zusätzlich leidet. Jakob wird von seiner Arbeit absorbiert, währen die emotional instabile Isabelle frustriert in den Tag hinein lebt und sich zunehmend ungeschützter mit dem aufdringlichen Drogendealer Jim (Guy Burnet) einlässt.

Florian Hoffmeister konzentriert seinen kunstvollen, analytisch-distanzierten Schwarzweißfilm vor allem auf die ernüchterte Perspektive seiner Protagonistin. Deren prekäre, isolierte Existenz korreliert zunehmend mit ihrer schwierigen sozialen Umgebung und mit den paranoiden politischen Ereignissen draußen in der Welt. Dieses Draußen aus häuslicher Gewalt, Kindesmisshandlung, Drogenkriminalität und Krieg vermittelt Hoffmeister vor allem über die Tonspur. Die Synchronizität der Ereignisse und die Gewalt der Verhältnisse treiben Isabelle, die sich resigniert und desillusioniert in einem uneingestandenen Eskapismus eingerichtet hat, schließlich aus der Deckung. Vielleicht gehe es nur darum, „die Umrisslinie um das eigene Leben“ zu erkennen und „auszufüllen“, gibt sie sich und uns zu bedenken. Zur Aufgabe wird ihr schließlich der Wunsch, ihre Isolation zu durchbrechen und sich anderen zu öffnen, während sich das Schlussbild mit Menschen füllt.

Das unbekannte Mädchen

(B/F 2016, Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne)

Sich dem Sprechen öffnen
von Wolfgang Nierlin

Jenny Davin (Adèle Haenel) ist eine junge, engagierte Ärztin, die einen älteren, erkrankten Kollegen in seiner kassenärztlichen Praxis vertritt. Die Patienten in dem an der Maas gelegenen Bezirk von Seraing …

Jenny Davin (Adèle Haenel) ist eine junge, engagierte Ärztin, die einen älteren, erkrankten Kollegen in seiner kassenärztlichen Praxis vertritt. Die Patienten in dem an der Maas gelegenen Bezirk von Seraing bringen zusätzlich zu ihren Krankheiten oft noch ihre sozialen Probleme mit. Denn im Grunde ist beides eng miteinander verflochten. Der Körper repräsentiert die sozialen Abdrücke der Seele. Die Symptomatik psychosomatischer Reaktionen und deren „Lösung“ ist insofern auch ein Leitmotiv des sehr eindrucksvollen Films „Das unbekannte Mädchen“ (La fille inconnue) von Jean-Pierre und Luc Dardenne. Immer wieder zeigen die Körper etwas an, was Scham und Angst verzweifelt zurückzuhalten versuchen. Sehr genau und konzentriert filmen die Brüder Dardenne deshalb die Bewegungen der Körper bis hin zu dem Punkt, an dem diese ihren Widerstand aufgeben oder zusammenbrechen, um sich dem Sprechen zu öffnen.

Die bei ihren Patienten beliebte Ärztin arbeitet gewissenhaft und mit wenig geregelten Zeiten, so dass Arbeit und Privatleben fast identisch erscheinen. Obwohl sie als Nachfolgerin die Praxis übernehmen könnte, erwägt Jenny, in ein Ärzte-Zentrum einzutreten. Einmal kommt es aus einer Stresssituation heraus zu einem Konflikt mit ihrem sensiblen Praktikanten Julien (Olivier Bonnaud). Ein Anflug von Machtdemonstration auf der einen Seite und die Reaktivierung einer traumatischen Gewalterfahrung auf der anderen korrelieren auf fatale Weise, als es lange nach Schließung der Praxis an der Tür klingelt. Mehr impulsiv als überlegt verbietet die Ärztin dem Medizinstudenten, diese zu öffnen. Als sie schließlich am nächsten Tag von der Polizei erfährt, dass es sich vermutlich um eine Hilfesuchende handelte, die später tot am Flussufer aufgefunden wurde, entwickelt Jenny Schuldgefühle. Diese veranlassen sie dazu, nach der Identität des anonymen Opfers, einer jungen schwarzafrikanischen Frau, zu ermitteln. Zudem entschließt sie sich doch zur Übernahme der Praxis.

„Wäre sie tot, würden wir nicht ständig an sie denken“, formuliert Jenny Davin einmal die Schuldgefühle, die bald weitere Kreise ziehen und sich in einem komplizierten Geflecht zusammenschließen. Mit einem differenzierten Blick auf eine verzweigte Wirklichkeit zeigen die belgischen Filmemacher die mitunter tragischen Wirkungen von zufälligen Details. Aus diesen Spuren wiederum entwickeln sie Zusammenhänge, in denen die Individuen als Opfer und Gefangene der sozialen und gesellschaftlichen Umstände erscheinen. Der Einzelne birgt in sich seine je eigene (Leidens)geschichte, die den anderen verborgen ist und zugleich sein Handeln lenkt. Der sehr intensive, ehrliche und humane Film der Brüder Dardenne, der immer nah bei seiner Heldin ist, bleibt aber bei dieser Analyse nicht stehen; vielmehr ruft er seine Figuren in die Selbstverantwortung und bringt sie schließlich auf emotional bewegende Weise zum Sprechen. In diesem liegt zugleich die Chance für Ausgleich und Veränderung.

Safari

(AT/DK 2016, Regie: Ulrich Seidl)

Menschen, Tiere, Kolonisationen
von Marit Hofmann

Tiere sehen dich an. Frisch »erlegt«, werden sie für das Trophäenfoto vom Blut gereinigt und in die gewünschte Pose gezerrt, oder ihre ausgestopften Köpfe hängen an der Wand. Zum Opfer …

Tiere sehen dich an. Frisch »erlegt«, werden sie für das Trophäenfoto vom Blut gereinigt und in die gewünschte Pose gezerrt, oder ihre ausgestopften Köpfe hängen an der Wand. Zum Opfer gefallen sind sie Tierschützern und Entwicklungshelfern: ‚Eigentlich erlöst man nur die Tiere‘, versichern sich die Geschwister aus Österreich, die zusammen mit ihren Eltern auf Familiensafari nach Namibia gefahren sind und die nun wiederum der Regisseur Ulrich Seidl in seiner peniblen Bildkomposition platziert hat. ‚Man hilft ja eigentlich … den Tiergenerationen …, dass sie leben können.‘ Außerdem, ergänzt ein deutscher Jägersmann, gebe ein Jagdtourist in Afrika ‚in einer Woche mehr Geld aus als ein normaler Tourist in zwei Monaten‘, davon hätten alle was. Der weiße Farmbesitzer reagiert etwas impulsiver auf Seidls Fragen: ‚Warum muss ich sagen, warum ich mal ein Tier töte!?‘

Nach seiner ‚Paradies‘-Trilogie ist der Erforscher der menschlichen Natur wieder zu Dokumentationen zurückgekehrt, die allerdings mit ihren gemäldeartig arrangierten Bildern gegen Regeln des Dokumentarfilms verstoßen. Er bilde die Realität nicht eins zu eins ab, sagt Seidl, sondern ‚ich nehme und forme sie. Aber in allem liegt eine innere Wahrheit.‘

Wenn die bewaffneten Missionare nicht im Tarnfarbenschick und rustikalen Wandgeweihambiente vor der starren Kamera plaudern oder, wie das aus Im Keller‚ bekannte ältere Ehepaar, die massigen Körper in der Sonne brutzeln lassen (ein Lieblingsmotiv Seidls) und dabei vom ‚Traumfleisch‘ der ‚verendeten Stücke‘ (getötete Tiere im Jägerlatein) schwärmen, pirscht sich die Kamera an die Freizeitterminatoren auf der Pirsch heran. Als Beobachter der Beobachter sehen wir zu, wie sie sich flüsternd verständigen, wie ihnen das Wild vor der Flinte serviert wird, das Adrenalin steigt (’nur das Stück und du – alles andere ist ausgeblendet‘) und sie sich nach dem Schuss vor dem Opfer in die Arme fallen. Auch wenn sich eine Giraffe in einer quälenden Sequenz im Todeskampf aufbäumt, scheint das die Lust am Töten nicht zu mindern. Nur der coproduzierende Sender Arte hatte Probleme mit solchen expliziten Bildern.

Der schrecklich treffsichere ‚Urlaubsfilm über das Töten‘ handelt nicht zuletzt von Rassismus und Ausbeutung. Die schwarzen Gehilfen haben in der Realität wie in ‚Safari‘ keine Stimme. Sie stehen in den Filmstillleben stumm da, übernehmen die Drecksarbeit des Abtransports und Ausweidens oder nagen Knochen ab. Dank ‚anderer Muskelfasern‘ könnten ‚die Schwarzen‘, erklären die Farmbesitzer, ‚deutlich schneller laufen als wir. Wenn sie denn wollen.‘ Auch wenn er nichts von alledem kommentieren will, ist Seidls befremdetes Staunen zu spüren. Die Schützen finden sich dennoch gut getroffen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 12/2016

Sully

(USA 2016, Regie: Clint Eastwood)

Richtungsentscheidung, im Absturz wiederholt
von Drehli Robnik

Am 15. Jänner 2009 gelang dem US Airways-Piloten Captain Chesley Sullenberger nach Ausfall beider Triebwerke gleich beim Start eine perfekte Notlandung seines Passagierjets auf New Yorks Hudson River. Alle überlebten; …

Am 15. Jänner 2009 gelang dem US Airways-Piloten Captain Chesley Sullenberger nach Ausfall beider Triebwerke gleich beim Start eine perfekte Notlandung seines Passagierjets auf New Yorks Hudson River. Alle überlebten; der damals noch wenig bekannte Twitter bot eine frühe Probe seines Tempos beim Themensetzen; das Volk feiert den Piloten und Flugsicherheits-Kleinunternehmer als heldenhaften Retter (zumal im durch Flugzeugeinwirkung leidgeprüften New York). Fünf Tage später wurde Barack Obama erstmals als Präsident angelobt.

Das zeigt Clint Eastwoods US-Kinoerfolg ‚Sully‘. Also, den Piloten. Sullenberger handelt aus Erfahrung und Intuition richtig – und wird dann doch, backstage quasi, von einer unerbittlichen staatlichen Kommission bedrängt: War die Entscheidung, statt einen der nahegelegenen Flughäfen den Fluss anzusteuern, nicht unnötig riskant? Das setzt ihm zu, ebenso der Medienrummel um ihn. Mit dem Dackelblick von Tom Hanks – längst eine Universal-Leidensikone des auf küstennahen Wassern der Zeitgeschichte strandenden White America-Subjekts – schaut er im New Yorker Hotel in den Badezimmerdunst oder aus dem Fenster auf die Häuserschluchten, joggt er keuchend durch die kalte Nacht. Jugenderinnerungen: Die Zeit fliegt dahin – ach, die Air Force! Am Ende dann Gerichtsdrama: Kommission tagt, Simulation irrt, Computerbürokratie verkennt das Menschliche. Männliches Charisma steht gegen entfremdetes Establishment, Bild scharf, Klavier zart: Eastwood-Klassik wie in Flags of Our Fathers‚ und und und. Plot und Abspann sagen: Heroisch ist auch das kooperative Kollektiv – Passagiere mit Katastrophenfilmflair und Airlinepersonal mit Seele (weiß), Rescue Workers in Uniform (Latino und schwarz), Taxler und Standlerin am Rand des Geschehens (indisch). Die Landung läuft mehrmals in Variationen ab: Alptraum, Vision, Sim-Flug, Sinkflug, Aufprall. Der Ausgang ist ja an sich vergangen, also fix und bekannt; aber durch die Wiederholung wird es wieder spannend, auch überraschend.

Für die Ösis in und um uns: Was lehrt uns ‚Sully‘ (zusammen mit anderen Sternstunden des autoritären Amerika)? Hautevolee, die Hochgeflogenen, das ist, auch wenn in Wahlkämpfen von Rechts eingesetzt, ein uneindeutiges Wort. Aus endlos wiederholter Richtungsentscheidung steigt ein Trost und Vertrauen spendender Landespatriarch auf. Das muss kein martialischer Flug- und Sicherheitsexperte sein. Viel besser kommt er als erfahrener, medienscheuer älterer Herr mit Bart und Doppel-L im Nachnamen.

Die Hände meiner Mutter

(DE 2016, Regie: Florian Eichinger)

Zum Sprechen finden
von Wolfgang Nierlin

„Für mich existiert sie nicht mehr“, sagt Markus (Andreas Döhler) im Prolog des Films zu seiner Frau Monika (Jessica Schwarz), die ihn zärtlich schützend umfasst. Der etwa 40-jährige Vater eines …

„Für mich existiert sie nicht mehr“, sagt Markus (Andreas Döhler) im Prolog des Films zu seiner Frau Monika (Jessica Schwarz), die ihn zärtlich schützend umfasst. Der etwa 40-jährige Vater eines kleinen Jungen wurde als Kind von seiner Mutter sexuell missbraucht und wird immer wieder von seinen Erinnerungen daran gequält. Später in Florian Eichingers beeindruckendem Film „Die Hände meiner Mutter“, dem dritten Teil einer Trilogie über die Zusammenhänge von Familiengewalt, wird die Szene in dem „Markus“ betitelten Kapitel wiederholt. Auch die anderen Kapitel des genau und konzentriert erzählten Films sind nach einzelnen Familienmitgliedern benannt. Jeweils eröffnet durch einen Blick aus der Vogelperspektive, stehen die Teile für das Ganze. Auch wenn die Perspektive von Markus das Zentrum bildet, sind doch alle anderen Figuren mehr oder weniger von dem „Fall“ betroffen. So sagt der Protagonist am Ende des Films vor versammelter Verwandtschaft, als er zu einer Rede ansetzt: „Direkt oder indirekt geht es um die ganze Familie.“

Entsprechend ist es zu Beginn des Films eine Familienfeier, die in Markus das Trauma reaktiviert. Während auf einer Schiffsfahrt der Geburtstag seines Vaters Gerhard (Heiko Pinkowski) mit aufgesetzter Fröhlichkeit und falschen Reden gefeiert wird, kommt seine ehemals übergriffige Mutter Renate (Katrin Pollitt) ihrem Enkelkind Adam vermeintlich zu nahe. Markus wird durch den nicht eindeutigen Zwischenfall geradezu physisch in die eigene Kindheit katapultiert. Florian Eichinger inszeniert diese schmerzlich gegenwärtigen Erlebnisse und die Kontinuität des Traumas, indem er in den Rückblenden auf die schambesetzten Erlebnisse den erwachsenen Markus spielen lässt. Die Kindheit ist also noch nicht zu Ende, sondern kehrt in Schocks und Zusammenbrüchen alptraumhaft zurück, was zunächst durch die sinnfällige Enge und Isolation auf dem Schiff noch verstärkt wird. Doch auch der daraus folgende Alltag von Markus, besonders seine Ehe und seine Berufstätigkeit, geraten immer deutlicher aus den Fugen.

Es gehört zu den Stärken von Eichingers sorgfältig und völlig unspektakulär am gewöhnlichen Alltagsleben entlang erzähltem Film, dass er zeigt, wie diese inneren Erschütterungen immer weitere Kreise ziehen. Ebenso verhalten wie detailliert entwickelt der Regisseur die ganze Komplexität des gesellschaftlich tabuisierten Themas. Auch wenn Markus in dieser schmerzlichen Geschichte nicht das einzige Opfer ist, sondern sich der sexuelle Missbrauch über Generationen fortsetzt und verzweigt, sind es doch die Wirkungen seiner verstörenden Erfahrungen die ein normales Leben für ihn zunehmend unmöglicher machen. Dabei bleibt beunruhigend, zu sehen, dass Offenheit, Einsicht oder auch Verzeihen unter den Beteiligten weder zwangsläufig die seelischen Leiden mildern noch das Trauma aus der Welt schaffen. Vielmehr zeigt der Film einen schwierigen Prozess der Verarbeitung, der im verminten Gelände von Schuld, Misstrauen und Schweigen erst zu einer Sprache, zum Sprechen finden muss.

American Honey

(USA/GB 2016, Regie: Andrea Arnold )

Ökonomisierung der Freiheit
von Ricardo Brunn

Als Rihannas „We found love (in a hopeless place)“ aus den billigen Plastikboxen im Supermarkt dröhnt, treffen sich die Blicke von Star (Sasha Lane) und Jake (Shia LeBoeuf). Prompt legt …

Als Rihannas „We found love (in a hopeless place)“ aus den billigen Plastikboxen im Supermarkt dröhnt, treffen sich die Blicke von Star (Sasha Lane) und Jake (Shia LeBoeuf). Prompt legt der charismatische Bengel, dessen Outfit mit Anzughose und Hosenträger selbstbewusst aus der Zeit gefallen wirkt, einen wilden Tanz auf dem Linoleumboden hin. Er springt von Kassenschalter zu Kassenschalter bis der Sicherheitsdienst erscheint und ihn und seine Clique des Ladens verweist, nicht ohne einen gewissen Eindruck auf Star gemacht zu haben. Unter der zugegebenermaßen etwas hilflos wirkenden dramaturgischen Konstruktion eines verlorenen Handys folgt Star Jake nach draußen. Als sie ihm das Telefon gibt, macht er ihr das Angebot mit ihm zu gehen. Und natürlich kann Star, die zuvor noch Mülltonnen nach Lebensmitteln durchsucht hat, sich den Reizen Jakes und denen einer Reise ins Unbekannte nicht entziehen. Dass die Reise ausgerechnet im Supermarkt ihren Ausgangspunkt nimmt, ist durchaus als Kommentar der Regisseurin Andrea Arnold auf das Genre des Roadmovies und einen dem Genre eigenen Freiheitsbegriff zu verstehen. Dieser hat sich heute vollständig von den Ideen einer Gegenkultur gelöst und wird in „American Honey“ in einen sauberen, ökonomischen Zusammenhang überführt.

Nachdem Star sich der Gruppe angeschlossen hat, macht sie Bekanntschaft mit Krystal (Riley Keough). Mit der unwiderstehlichen Ausstrahlung einer abgehalfterten Stripteasetänzerin führt sie die Außenseitertruppe – die Arnold durchweg mit Laien besetzt, was für Unmittelbarkeit und Natürlichkeit sorgt – quer durch ein suburbanes und ländliches Amerika. Es geht darum der Mittelschicht ganz altmodische Zeitschriftenabonnements unterzujubeln und abzukassieren. Wer kein Geld verdient, wird jede Woche verdroschen. Wer es sich mit der Chefin verscherzt, fliegt ganz aus der Gruppe. Der Freiheitsdrang, der jeden erst in diese Gemeinschaft geführt hat, wird, weil er ohne jeden Anflug von Revolte auskommt, durch einen sauberen Arbeitsfetisch ersetzt. Sinnlosjob und Self-Marketing werden zu unhinterfragten Heilsversprechen dieses umherfahrenden Unternehmens und „Born to be wild“ wird zu „I make my own money, so I spend it how I like“. Es ist der Schlachtruf dieser zwischen träumerischer Freiheit und Bedeutungslosigkeit agierenden Jugendlichen auf ihrem Weg durch ein kaputtes Land, das zwischen Reichtum und Armut nicht mehr vermitteln kann.

Die Straße und das dem Genre so immanente Gefühl des Unterwegsseins, das in seiner Ziellosigkeit einen absoluten und damit nicht selten zerstörerischen Freiheitsanspruch erhebt, tritt in den Hintergrund. Gefahren wird, um in den nächsten Ort, zum nächsten dicken Geschäft gelangen zu können. Die Regisseurin zeigt die Reise entsprechend häufig aus dem Inneren des Kleinbusses, den die Gruppe besitzt. In diesen Innenansichten verliert Amerika nicht nur viel von seiner Weite. Die Möglichkeiten dieses Landes implodieren geradezu unter den beinahe im quadratischen Format von 1,33:1 aufgenommenen Bildern des Kameramannes Robbie Ryan. Die Endlosigkeit amerikanischer Highways ist ein Trugbild, das längst mit der Realität eines Landes kollidiert, das unter dem Eindruck von Terrorangriffen, der Bankenkrise und der NSA-Affäre seinen Freiheitsbegriff und das damit verbundene Selbstwertgefühl frisiert hat. Und obwohl es Grund genug gäbe, vor dieser Gesellschaft zu fliehen oder gegen sie aufzubegehren, scheinen Road Movies, in denen Helden wie Bonnie und Clyde oder Mallory und Mickey aggressiv nach Freiheit strebten, zu verschwinden.

Wie die Straße wird auch das Auto in „American Honey“ und vielen aktuellen Road Movies seiner symbolischer Funktion beraubt. Der weiße Kleinbus wird als Fortbewegungsmittel eingesetzt, das seine Insassen vom Hotel zur Arbeit und wieder zurück ins Hotel fährt. Es erinnert eher an die prekären Verhältnisse von mexikanischen Einwanderern, die morgens am Straßenrand eingesammelt werden, um dann zu Baustellen gefahren zu werden als an ein Gefährt, mit dem sich Unbekanntes entdecken ließe.

Nur an einer Stelle flammt das ursprüngliche Gefühl einer „Counterculture“ auf Rädern noch einmal auf. Nachdem Star und Jake einigen Texanern gewaltsam Geld abgenommen haben, fliehen sie in einem gestohlenen Cabrio. Zum ersten und einzigen Mal kommt es zu Augenblicken vollkommener Freiheit die keiner Worte bedarf. Star geht kurz auf im Universum endloser Möglichkeiten, die Straße und ziellose Bewegung implizieren. Es ist bezeichnend, dass Arnold ihre Protagonisten für diesen einen Moment in ein Auto einer längst vergangenen Epoche steigen lässt. Es scheint beinahe so, als könnte das Genre des Road Movies mit all seinen jugendlichen Idealismen und Wagnissen nur noch retrospektiv existieren, so sehr verweigert es sich fahrbaren Untersätzen mit Baujahr nach der Jahrtausendwende. In vielen Genrevertretern werden Fahrzeuge neueren Datums sehr früh entweder zu Schrott gefahren, kommentarlos gewechselt oder wie in „American Honey“ als fahrbares Unternehmen verwendet und ihres ursprünglich freiheitlichen Charakters beraubt.

Es habe sie noch nie jemand nach ihren Träumen gefragt, resümiert Star als doch jemand aus heiterem Himmel danach fragt. Und tatsächlich ist kaum greifbar, was die Figuren wollen. Pflichtbewusst kramen sie in ihren Erinnerungen nach den Überresten des American Dream und bringen das Auswendiggelernte hervor. In „American Honey“ geht es nicht mehr um eine Flucht und irgendwelche Freiheitsideale, sondern darum anzukommen, Teil einer Gemeinschaft zu sein, Sicherheit und Geborgenheit zu erfahren. Andrea Arnold zeigt in „American Honey“ somit zum einen ein aus dem Gleichgewicht geratenes Amerika, das die offensichtlichen Folgen seiner Wirtschaftspolitik noch immer nicht erkennen will. Zum anderen beweist sie nebenbei großes Gespür für die Veränderungen eines uramerikanischen Genres in Zeiten einer Ökonomisierung auch der letzten subversiven, sozialen oder freiheitlichen Ideen.

Hier findet sich eine weitere Kritik zu ‚American Honey‘.

Tschick

(D 2016, Regie: Fatih Akin)

Ihr wisst doch, was ich meine!
von Ricardo Brunn

Maiks Vorfreude auf die Sommerferien hält sich in Grenzen. Mutti muss in die Entzugsklinik. Papi verduftet mit seiner hübschen „Assistentin“ auf „Geschäftsreise“. Und Klassenschwarm Tatjana hat Maik nicht zu ihrer …

Maiks Vorfreude auf die Sommerferien hält sich in Grenzen. Mutti muss in die Entzugsklinik. Papi verduftet mit seiner hübschen „Assistentin“ auf „Geschäftsreise“. Und Klassenschwarm Tatjana hat Maik nicht zu ihrer Geburtstagsfete eingeladen. Sechs Wochen Langeweile stehen vor der Tür, an der unvermittelt Tschick, Maiks neuer Klassenkamerad, auftaucht. Auch der verschrobene und dem Alkohol zugeneigte Kauz aus den unendlichen russischen Weiten wurde nicht zu Tatjanas Geburtstag eingeladen, hat wie Maik keine Freunde, scheinbar ebenfalls keine Eltern, die sich um ihn sorgen und damit in den Ferien absolut nichts zu tun. Wie selbstverständlich hängt sich Tschick an Maik ran und alsbald fahren beide mit einem geklauten Lada Niva auf brandenburgischen Straßen der Freiheit und dem Ende der Kindheit entgegen.

Mit 30 Sachen durch die Felder rasen, Klebestreifen in der Fresse, Dolby Surround, Clayderman, Insektenkino. Regisseur Fatih Akin übersetzt die zentralen Momente des Bestsellerromans von Wolfgang Herrndorf mit einigem Geschick in die entsprechenden Bilder. Der Colorgrader spielt DJ und dreht die Farben ordentlich auf. Laut sind die Bilder also bereits ohne Musik. Die kommt von K.I.Z und Seeed als Piemontkirsche noch obendrauf. Das könnte schnell zu viel des Guten und zu wenig des Richtigen sein. Und das ist es auch. „Landkarten sind für Muschis“, belehrt Tschick zu Beginn der Reise seinen schüchternen Gefährten. Akin dreht seinen Film nicht nur mit der Landkarte, sondern gleich mit dem Navigationsgerät des deutschen Gefälligkeits-Arthouse. Der Roman dient ihm als Spickzettel. Er hängt sich an die Hauptsätze, die Nebensätze werden geflissentlich ignoriert. Aus der sicheren Routine eines versierten Filmemachers entspringt die effiziente Mittelmäßigkeit des Sachbearbeiters im Staatsbetrieb. Das ist insofern verrückt, da für Wolfgang Herrndorf, wie 2011 im Interview mit der FAZ beschrieben, Mittelmäßigkeit häufig die Quelle für die eigene Kreativität gewesen ist. Und tatsächlich gibt es an seinem „Tschick“ nichts zu schrauben, weil alles Mittelmäßige mit lässiger Geste hinweggewischt und die Geschichte um zwei jugendliche Außenseiter vom 2013 verstorbenen Autor in eine amüsant schnoddrige Sprache gegossen wurde. „Tschick“ von Fatih Akin hingegen stellt eine Umkehrbewegung dar. Er spielt so sehr auf Nummer sicher, ruht sich so sehr auf der Haltung der Vorlage aus, dass er in der Hoffnung damit wenig falsch zu machen, dort landet, wo andere mit der Arbeit erst beginnen.

Viel zu selten fährt der Film aus der eigenen Haut. Auf jeden Arsch-auf-Eimer-Witz folgen zwei, bei denen alles eine Sekunde zu lang dauert, die Montage nicht flott genug ist, die Protagonisten zu behäbig agieren. Für die Figuren so wichtige Stationen der Entwicklung, wie die Suche nach einem Supermarkt in einem Dorf, bei der Tschick und Maik auf eine etwas sonderbare Familie treffen und mit all ihren uneingelösten Vorurteilen klarkommen müssen, zergehen im Einheitsbilderbrei einer am Sujet desinteressierten Inszenierung. Die grob geschnitzten Nebenfiguren, allen voran Reisegefährtin Isa, deren übertriebenes Changieren zwischen Wahnsinn und Verletzlichkeit das Erblühen einer Blume hinter der Rotzlöffelfassade allzu offensichtlich vorbereitet, stellen diese Unlust am Gegenstand ein ums andere Mal aus. Alles sagt in der Copy-and-paste-Manier des Mainstreamkinos: Ihr wisst ja, was ich meine. Kameraflüge über weite Landschaften und Straßen wollen Abenteuerlust und Freiheit suggerieren, während die generische Filmmusik den Landschaftstotalen verzweifelt frisches Fernwehblut in die Gefäße spülen soll.

Dabei müsste es doch genau dieses Gefühl sein, das den Stoff und seine Protagonisten durch die so gar nicht fernwehtaugliche, brandenburgische Landschaft treibt: Der Nervenkitzel aufregender Grenzüberschreitung beim ersten Kuss genauso wie bei der ersten Autofahrt. Und die Frage, ob das alles wirklich gelingen kann. Davon träumen und erzählen Jugendfilme. Akins Film ist jedoch durch und durch Produkt der Filmwarenwelt und Produkte träumen nicht. Als Wolfgang Herrndorf seinen Roman „Tschick“ schrieb, dachte er an die wichtigen Bücher seiner Kindheit und Jugend, an Namen wie Huckleberry Finn, Pik und Ben oder Jack und Ralph. Ein klein wenig fragt man sich, woran Fatih Akin gedacht haben könnte, denn seiner Verfilmung des Romans fehlt dieses sehnsuchtsvoll-abscheuliche Gefühl des Erwachsenwerdens, des Risikos und der ersten großen Liebe. Diese unausgesprochene Vorahnung am Ende doch nur Bestandteil der Erwachsenenwelt zu werden und sich dem zu widersetzen.

Wie in so vielen Road Movies dieser Tage geht es auch in „Tschick“ nur darum, in der Gesellschaft anzukommen. Die Möglichkeit an ihr zu scheitern wird ausgeblendet. Damit raubt der Regisseur dem Stoff von vornherein sehr viel an Konfliktpotential und Spannung. Akin, der bereits mit „Soul Kitchen“ am Genre der Komödie elegant gescheitert ist, hat aus Herrndorfs „Tschick“ einen effizient mittelmäßigen Film geschustert, mit dem man durchaus seinen Spaß haben kann. Verlieben kann man sich in dieses Produkt allerdings nicht.

Ich, Daniel Blake

(GB/F/BEL 2016, Regie: Ken Loach)

Im Einhornland
von Jürgen Kiontke

Daniel Blake ist ein Mann, den manche als anständigen Arbeiter bezeichnen würden. Brav und pünktlich und versiert. Nun ist der alternde Tischler aber krank geworden. Er kriecht aufs Arbeitsamt, wo …

Daniel Blake ist ein Mann, den manche als anständigen Arbeiter bezeichnen würden. Brav und pünktlich und versiert. Nun ist der alternde Tischler aber krank geworden. Er kriecht aufs Arbeitsamt, wo man ihm die Sozialhilfe verweigert. Er könne ja arbeiten gehen. Arbeitslosengeld gibt’s aber auch nicht, weil er laut Arzt nicht arbeitsfähig ist.

Formulare, mit denen man Widerspruch einlegen könnte, gibt es nur noch im „Neuland“, wie das mal eine alte deutsche Frau genannt hat, als sie zum ersten Mal vom Internet hörte. Auch der aufrechte Malocher hat dies noch nie von innen gesehen. Die Folge: Stromrechnung nicht bezahlt, Zwangsräumung droht. Alltag in Europas Landen.

Loachs Film über den digitalen Analphabeten will wie immer hartes Sozialdrama sein. Zum Glück lebt Blake in einer Art Einhornland, und das ist die prekäre Klasse Englands. Dort wohnen Menschen wie Katie, ebenso pleite wie er, nur mit Kindern und voll lieb. Auch der Nachbar, der sich mit Schuhe dealen und Kiffen über Wasser hält, ist – Solidarität! – ein grundguter Kerl. Von denen ist hier die ganze Unterschicht voll.
Nun kann das ja im einzelnen mit der Solidarität stimmen. Aber hier kommt‘s doch in Summe etwas dicke. Der Film läuft nicht lange, da fühlt man sich leicht manipuliert. Spitzensache, dachten sie dieses Jahr in Cannes und pflanzten dem Film die Goldene Palme.

Der Film wirkt irgendwie abgenutzt, wie ein Erdkundefilm aus den Siebzigern. Als wenn Loachs Filme mit dem Alter immer schwarz-weißer würden. Apropos: Leicht beschränkte Sichtverhältnisse wurden Loach desöfteren vorgeworfen. Letztes Jahr wünschte sich etwa das Art Magazin einen Boykott aller Filme Loachs, weil er seinerseits penetrant auf einen Komplettausschluss Israels bei jeglichen Kulturevents hinwirke. Loach begreift das Land als reinen Apartheidsstaat; er verhinderte sogar mancherorts die Teilnahme israelischer Künstler an Filmfestivals.

Übrigens Solidarität, hoch die: Sie ist dem Wesen nach doch international. Demnach könnte Loach auch mal einen Film über israelische Arbeitslose drehen. Beim nächsten Filmfestival könnte er dann seinen eigenen Streifen boykottieren.

Dieser Test ist zuerst erschienen in: Konkret 12/2016

Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte

(DE 2016, Regie: Corinna Belz)

Das innere Auge öffnen
von Wolfgang Nierlin

Ganz allmählich füllt sich die leere Fläche des Polaroid-Fotos mit Umrissen, Farben, einem Gesicht. Das Portrait zeigt den Schriftsteller Peter Handke als jungen Mann. Etwas, was da ist, aber noch …

Ganz allmählich füllt sich die leere Fläche des Polaroid-Fotos mit Umrissen, Farben, einem Gesicht. Das Portrait zeigt den Schriftsteller Peter Handke als jungen Mann. Etwas, was da ist, aber noch unsichtbar, tritt in die Sichtbarkeit und gewinnt an Deutlichkeit. Die vergehende Zeit macht gewissermaßen eine Identität gegenwärtig. Mit dieser schönen Metapher über das Werden beginnt Corinna Belz ihr Künstlerportrait „Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte“. Ruhig und zurückhaltend verknüpft sie auf assoziative Weise Handkes gegenwärtiges Leben in seinem Haus im Pariser Vorort Chaville mit Dokumenten aus seiner persönlichen Vergangenheit. Dazu gehören nicht nur die im Wiener Literaturarchiv deponierte Sammlung von Polaroids, die den Schriftsteller als alleinerziehenden Vater zeigen, sondern auch Fernsehinterviews, O-Töne (vor allem von Handkes legendärem Auftritt beim Treffen der Gruppe 47 in Princeton), Theaterinszenierungen und natürlich Filme, die er entweder zusammen mit Wim Wenders oder auch unter eigener Regie realisiert hat.

Im Zentrum des behutsam und sorgfältig gemachten Films steht jedoch die Begegnung der Filmemacherin mit dem Schriftsteller. Ansichten von Haus und Garten, eingebettet in Natur- und Tagesstimmungen, vermitteln eine starke Ruhe und Konzentration als Bedingungen der schöpferischen Arbeit. Zugleich evozieren sie eine sinnliche Aura, die zusätzlich genährt wird von Handkes Liebe zu den unscheinbaren, kleinteiligen Dingen, mit denen er sich umgibt, sowie von einem alles durchdringenden Schönheitsempfinden. Wir sehen, wie der Dichter Pilze putzt und schneidet, wie er mit Muscheln die Seitenränder seines Denkweges im Garten markiert und wie er geduldig einen Faden einfädelt, um zu sticken. Dieser Vorgang wird geradezu sinnbildlich für sein von ihm als „11. Gebot“ bezeichnetes Diktum „Du sollst Zeit haben“. Zugleich liefert er eine mögliche Antwort auf die Frage: „Wie soll man leben?“

Corinna Belz geht es im Weiteren allerdings nicht nur um „ein Portrait des Schriftstellers Peter Handke“, sondern vor allem um „ein Portrait seiner Sprache“. Wir blicken in Handkes bunt beschriebene Notiz- und Skizzenbücher, die ein Ausgangspunkt sind für sein Werk, und hören ihm zu beim Lesen aus seinen Büchern. Belz überträgt das Gelesene mitunter synchron als Schrift auf die Leinwand und macht den Zuschauer damit zum Leser. „Der Rhythmus öffnet das innere Auge“, sagt Handke einmal über das Schreiben von Hand. Daneben spricht er ausführlich über das Schreiben als Phantasieleistung und Erfindung, die „Materie schafft“ sowie über Schreiben als „Tabubruch“. Der Schriftsteller, der durch seine Tätigkeit in besonderem Maße dem Leben und seinen drängenden Fragen ausgesetzt ist, empfindet sein Tun im Grunde als „nicht normal“; womit er vermutlich auch auf gesellschaftliche Aversionen gegenüber seinem Metier reagiert. Doch erfährt er, der einmal über „die Gnade, am Leben zu sein“ und den Reichtum der daraus resultierenden (ungenutzten) Möglichkeiten spricht, in seiner Arbeit auch „Anwehungen von Paradies“.