Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte

(DE 2016; Regie: Corinna Belz)

Das innere Auge öffnen

Ganz allmählich füllt sich die leere Fläche des Polaroid-Fotos mit Umrissen, Farben, einem Gesicht. Das Portrait zeigt den Schriftsteller Peter Handke als jungen Mann. Etwas, was da ist, aber noch unsichtbar, tritt in die Sichtbarkeit und gewinnt an Deutlichkeit. Die vergehende Zeit macht gewissermaßen eine Identität gegenwärtig. Mit dieser schönen Metapher über das Werden beginnt Corinna Belz ihr Künstlerportrait „Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte“. Ruhig und zurückhaltend verknüpft sie auf assoziative Weise Handkes gegenwärtiges Leben in seinem Haus im Pariser Vorort Chaville mit Dokumenten aus seiner persönlichen Vergangenheit. Dazu gehören nicht nur die im Wiener Literaturarchiv deponierte Sammlung von Polaroids, die den Schriftsteller als alleinerziehenden Vater zeigen, sondern auch Fernsehinterviews, O-Töne (vor allem von Handkes legendärem Auftritt beim Treffen der Gruppe 47 in Princeton), Theaterinszenierungen und natürlich Filme, die er entweder zusammen mit Wim Wenders oder auch unter eigener Regie realisiert hat.

Im Zentrum des behutsam und sorgfältig gemachten Films steht jedoch die Begegnung der Filmemacherin mit dem Schriftsteller. Ansichten von Haus und Garten, eingebettet in Natur- und Tagesstimmungen, vermitteln eine starke Ruhe und Konzentration als Bedingungen der schöpferischen Arbeit. Zugleich evozieren sie eine sinnliche Aura, die zusätzlich genährt wird von Handkes Liebe zu den unscheinbaren, kleinteiligen Dingen, mit denen er sich umgibt, sowie von einem alles durchdringenden Schönheitsempfinden. Wir sehen, wie der Dichter Pilze putzt und schneidet, wie er mit Muscheln die Seitenränder seines Denkweges im Garten markiert und wie er geduldig einen Faden einfädelt, um zu sticken. Dieser Vorgang wird geradezu sinnbildlich für sein von ihm als „11. Gebot“ bezeichnetes Diktum „Du sollst Zeit haben“. Zugleich liefert er eine mögliche Antwort auf die Frage: „Wie soll man leben?“

Corinna Belz geht es im Weiteren allerdings nicht nur um „ein Portrait des Schriftstellers Peter Handke“, sondern vor allem um „ein Portrait seiner Sprache“. Wir blicken in Handkes bunt beschriebene Notiz- und Skizzenbücher, die ein Ausgangspunkt sind für sein Werk, und hören ihm zu beim Lesen aus seinen Büchern. Belz überträgt das Gelesene mitunter synchron als Schrift auf die Leinwand und macht den Zuschauer damit zum Leser. „Der Rhythmus öffnet das innere Auge“, sagt Handke einmal über das Schreiben von Hand. Daneben spricht er ausführlich über das Schreiben als Phantasieleistung und Erfindung, die „Materie schafft“ sowie über Schreiben als „Tabubruch“. Der Schriftsteller, der durch seine Tätigkeit in besonderem Maße dem Leben und seinen drängenden Fragen ausgesetzt ist, empfindet sein Tun im Grunde als „nicht normal“; womit er vermutlich auch auf gesellschaftliche Aversionen gegenüber seinem Metier reagiert. Doch erfährt er, der einmal über „die Gnade, am Leben zu sein“ und den Reichtum der daraus resultierenden (ungenutzten) Möglichkeiten spricht, in seiner Arbeit auch „Anwehungen von Paradies“.

Benotung des Films :

Wolfgang Nierlin
Peter Handke - Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte
Deutschland 2016 - 89 min.
Regie: Corinna Belz - Drehbuch: Corinna Belz - Produktion: Thomas Kufus - Bildgestaltung: Piotr Rosolowski, Axel Schneppat, Nina Wiesemann - Montage: Stephan Krumbiegel - Musik: Andreas Hildebrandt - Verleih: Piffl Medien - Besetzung: Peter Handke, Amina Handke, Sophie Semin, Léocadie Handke
Kinostart (D): 10.11.2016

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt5943652/
Link zum Verleih: http://www.piffl-medien.de/film.php?id=155&kat=aktuell#zumfilm
Foto: © Piffl Medien