Archiv der Kategorie: Filmkritik

Bastille Day

(GB/USA/FR 2016, Regie: James Watkins)

Rechts blinken, links zuschlagen
von Nicolai Bühnemann

Eine nackte junge Frau schreitet die Treppen vor Sacre-Coeur hinab. Die so abgelenkte Aufmerksamkeit geifernder, applaudierender, eifrig fotografierender Männer macht sich Michael Mason (Richard Madden) zunutze, um ihnen mit flinken …

Eine nackte junge Frau schreitet die Treppen vor Sacre-Coeur hinab. Die so abgelenkte Aufmerksamkeit geifernder, applaudierender, eifrig fotografierender Männer macht sich Michael Mason (Richard Madden) zunutze, um ihnen mit flinken Füßen und noch viel flinkeren Fingern allerlei Wertgegenstände zu entwenden. Beinahe tänzelnd bewegt er sich von einem seiner Opfer zum nächsten. Ebenso flink wird er wenig später in der U-Bahn die junge Frau, die sich inzwischen angezogen hat, abservieren. Damit beendet der Film auch das Thema Paar-Beziehungen, da ist er noch keine fünf Minuten alt, ohne jemals wieder darauf zurück zu kommen. Im weiteren Verlauf geht alles so schnell und ist dabei derart aufs Wesentlichste reduziert, dass für Liebesdinge schlichtweg keine Zeit bleibt.

Michael ist Amerikaner, der sich in Paris sein Geld damit verdient, die Dinge zu verhökern, die er mit größtem Geschick klaut. Jedoch nimmt sein Schicksal eine unerwartete Wendung, als er eines Nachts der jungen Zoe (Charlotte Le Bon) eine Tasche klaut, die er, weil sie nichts Brauchbares enthält, auf einem Platz achtlos hinter sich schmeißt – und es plötzlich gewaltig rumst und vier Menschen ihr Leben verlieren. Denn in der Tasche befand sich eine Bombe, die Zoe in der vermeintlich leeren Zentrale einer nationalistischen Partei platzieren sollte, wobei sie jedoch einen Rückzieher machte, als sie merkte, dass sich in dem Gebäude eine Putzkolone befand. Michael wird zum Terrorverdächtigen und gerät damit ins Visier des in Paris operierenden, knallharten CIA-Agenten Sean Briar (Idris Elba), den er jedoch bald von seiner Unschuld überzeugen kann. Gemeinsam mit Zoe suchen sie nach den wahren Terroristen und kommen dabei einer Verschwörung auf die Spur, die sich in bis in höchste Regierungskreise erstreckt.

Die Figur des hart gekochten, kräftig zupackenden Agenten, der es mit seinen Vorgesetzten und ihren Befehlen eher nicht so hat, sieht Regisseur James Watkins, der sich mit seinem Debüt, dem noch in seiner britischen Heimat entstandenen Backwood-Splatterfilm „Eden Lake“ (2008), selbst als Mann fürs Grobe vorstellte, in der Tradition von Filmen wie „Dirty Harry“, „The French Connection“ oder „48 Hours“. Nun sind solche Vergleiche zur klassischen Moderne des Action-Kinos leicht gezogen, besonders wenn es darum geht, einen Film zu vermarkten. Das Erstaunliche ist aber, dass Idris Elba, der sich mit seiner Rolle als Dealer Stringer Bell in der visionären HBO-Serie „The Wire“ für Hollywood empfahl, tatsächlich eine Ausstrahlung und eine rein physische Präsenz an den Tag legt, wie sie Clint Eastwood, Gene Hackman oder Nick Nolte in ihren besten Tagen hatten (und tatsächlich steht Elba trotz seines hünenhaften Äußeren eher in der Tradition dieser Action-Mimen als der Generation nach ihnen, in den Achtzigern um Schwarzenegger und Stallone).

Georg Seeßlen schrieb über „Dirty Harry“ einmal, dass der Film mitnichten so rechts sei wie sein Protagonist. Das Update dieser Figur ist in der sich stetig verkomplizierenden politischen Realität des Jahres 2016 längst aus allen ideologischen Zusammenhängen gefallen. Die Motivation seines Handelns hat nichts mehr mit irgendwelchen Weltbildern zu tun. Einmal behauptet er, er tue, was er tut, weil sein Widersacher eine von ihm sehr geschätzte CIA-Kollegin auf dem Gewissen habe, aber das bleibt wenig glaubhaft. Vielmehr geht es ihm wohl um die pure Lust am Prügeln und Schießen und Befehle missachten. Und man kann Elba kaum genug dafür loben, dass dieser Brutalo-Anarchist, dem der Filme konsequent eine Back- oder Lovestory sowie jegliches andere Attribut verweigert, dass ihn menschlicher machen könnte, nicht nur charmant, sondern sogar sympathisch wirkt.

Noch viel toller ist es allerdings, dass diese Figur in den Kontext eines Films gestellt wird, der entgegen seines sonstigen Tempos ganz langsam eine dezidiert linke Agenda entwickelt. Da bekommt der Super-Agent Hilfe von einem Dieb und einer Frau unter Terrorverdacht, ja, im Finale sogar von linken Demonstranten, die eine Bank stürmen und damit in Anlehnung an den Titel gar eine neue Französische Revolution ausrufen, die für Momente geradezu physisch greifbar wird. Da nutzen nationalistische Politiker den Terror, um in den Nachrichten gegen muslimische Zuwanderer zu hetzen, von denen denn auch einer, wie wir ebenfalls aus den Nachrichten erfahren, von der Polizei auf einer Demo krankenhausreif geschlagen wird (das Paris des Films, der durchweg an Originalschauplätzen gedreht wurde, sieht sowieso nur manchmal aus wie aus der Gauloises-Werbung und wird inhaltlich mehr und mehr zu einem sehr konkreten historischen Ort). Da wird der Terrorismus zum Deckmantel, unter dem Leute aus den höchsten politischen Kreisen agieren, denen es, wie ihren Vorgängern im ersten „Stirb langsam“-Film, letztlich nicht um Politik, sondern um sehr viel Geld geht. Im Kontext des Genres mag man an Steven Seagal denken, der nach den Ausführungen seines großen Apologeten Vern, im Gegensatz zu seinen reaktionären Kollegen, Action-Filme immer wieder mit linken Politics anreichert oder auch an eine wesentlich konkretere Version des rührend infantilen Anti-Establishment-Duktus von James Camerons „Terminator 2“ (1992), in dem die Guten Rockerkluft und Public Enemy-T-Shirt und die Bösen fast durchweg Uniform tragen.

Was die Inszenierung der Action anbelangt, ist Watkins kaum etwas daran gelegen, das Rad neu zu erfinden. Er verzichtet auf CGI und setzt stattdessen auf die Unmittelbarkeit von Handkameras, die oft in subjektiven Einstellungen eingesetzt und immer direkt im Geschehen sind. Einen frühen Höhepunkt (und genau das richtige für Menschen mit Höhenangst wie mich) stellt eine Verfolgungsjagd über die Spitzdächer von Pariser Altbauten dar. Später geht es unter anderem im Laderaum eines zeitweise fahrerlos dahin schlingernden Transporters mächtig rund. Das World Building ist in „Bastille Day“, darin ist er „Mad Max: Fury Road“ nicht unähnlich, nichts was unabhängig von der Action geschieht, sondern es entsteht quasi nebenbei, während der Film mit atemberaubender Geschwindigkeit von einem set piece zum nächsten hetzt. Was Watkins gelungen ist, ist ein spektakulärer, brillant gespielter thinking man’s action movie ohne falsche intellektuelle Allüren. Hut ab!

Dies ist die leicht erweiterte Version eines Textes, der zuerst beim Perlentaucher erschienen ist.

Dolls

(I/USA 1987, Regie: Stuart Gordon)

Bad Parents Nightmare oder: Wie Mörderpuppen die schwarze Pädagogik auf den Kopf stellen
von Nicolai Bühnemann

Stuart Gordon und sein – zumindest als Regisseur immer noch sträflich unterschätzter – Kompagnon Brian Yuzna machten sich ab der Mitte der Achtziger Jahre nicht nur zu Erneuerern eines sich …

Stuart Gordon und sein – zumindest als Regisseur immer noch sträflich unterschätzter – Kompagnon Brian Yuzna machten sich ab der Mitte der Achtziger Jahre nicht nur zu Erneuerern eines sich in endlosen Slasher-Sequels und –Rip-Offs totlaufenden amerikanischen Horrorkinos, sie zählen mit ihren betont kleinen Filmen auch zu den großen subversiven Kräften des amerikanischen Films ihrer Zeit überhaupt. So wie die Splatterfilme von Craven, Hooper oder Romero in den Siebzigern auch als grimmige Antworten auf den Watergate-Skandal und den Krieg in Vietnam gelesen werden können, so reagieren Gordon und Yuzna mit den ihren auf die Zumutungen einer von der Politik von Reagan und Thatcher – und ihren Nachahmern – geprägten Dekade.

So formuliert etwa ein Film wie Yuznas erste – und wohl nach wie vor beste – Regiearbeit „Society“ (1989), weit über ihre ja schon im Titel steckende Gesellschaftskritik, durch die geradezu infantile Lust am deformierten, entgrenzten, fragmentierten, de- und rekonstruierten Körper Einspruch gegen die Körperpolitik des Neoliberalismus. So wird der durch diese Rolle zur Kultfigur unter Genre-Aficionados avancierte Jeffrey Combs als mad scientist Herbert West in den „Re-Animator“-Filmen, der die Toten wiederauferstehen lässt, einfach nur, weil er es kann, auch zum Albdruck eines keinem moralischen Gesetz unterworfenen, nur durch die eigenen Möglichkeiten der Reproduktion gezügelten Kapitals. Und was den sein berufliches Instrumentarium zum wirklich fiesen Morden missbrauchenden Zahnarzt aus Beverly Hills in den „Dentist“-Filmen anbelangt, well, you catch my drift …

Wie passt nun „Dolls“, 1985 unter der Regie von Gordon und der Produktion von Yuzna in Italien gedreht, aber erst 1987 in die Kinos gebracht, in dieses Bild? Nun, vielleicht sollte man damit beginnen anzumerken, dass wir es hier mit einem, auch für Gordon/Yuzna-Verhältnisse, in jeder Hinsicht kleinen Film zu tun haben. Mit wahrscheinlich recht überschaubarem Budget und – sieht man von der Vielzahl mordender Spielzeuge einmal ab – noch überschaubarerem Figurenensemble, erzählt „Dolls“ in kompakten 78 Minuten einen Plot, der zum Großteil in einem einzigen, freilich recht riesigen Haus spielt, und locker auf einen Bierdeckel passt. Dazu passt, dass sich die kritischen Töne hier nicht auf ein gesellschaftliches großes Ganzes beziehen, sondern vielmehr auf die Keimzelle der Gesellschaft abzielen: die Familie.

Und die Familie, Vater, (böse) Schwiegermutter, kleine Tochter, die wir in den ersten Szenen im Auto kennenlernen, ist kein Ort, an dem ein Kind großgezogen werden sollte, soviel steht fest! Die beiden ihre wohl chronische schlechte Laune sowieso schon permanent an der siebenjährigen Judy auslassenden Erwachsenen werden noch garstiger, als sie bei ihrem Urlaub im englischen Hinterland mit dem Auto im Schlamm stecken bleiben. Unterschlupf bietet ein altes Anwesen, das – scheinbar! – nur von dem alten Puppenbauer Gabriel Hartwicke (Guy Rolfe) und seiner Frau Hilary (Hilary Mason) bewohnt wird, und in dem schon der Kindskopf Ralph (Stephen Lee) mit zwei punkigen Anhalterinnen Zuflucht vor dem Gewitter gefunden haben. Doch Judy, die schnell in Ralph (der eigentlich gar nicht viel machen muss, außer ängstlich und in jeder seiner Bewegungen entschieden unerwachsen zu wirken, um eine der tollsten Figuren des Kinos der Achtziger zu werden) einen Verbündeten findet, bemerkt sehr bald, dass hier etwas nicht stimmt. Ist vielleicht an der Geschichte von dem Spielzeug, das, während man schläft, zum Leben erwacht, etwas dran? Und geht es bei diesem Eigenleben der vermeintlich unbelebten Puppenwelt am Ende gar mörderisch zu?

„Dolls“ setzt auf routinierten Grusel, der durch die finsteren, immer wieder vom draußen tobenden Unwetter durchblitzten Gänge des Anwesens und die wirklich creepy animierten Puppen entsteht. Dazu kommen noch einige recht garstige blutige Kills. Die Angstphantasie von dem lebenden bösen Spielzeug entwickelt sich am Schluss zur Erfüllung der Rachephantasie vom Anfang, aus der einen nun kein stiefmütterlicher Klaps mehr wecken kann. Dabei bleibt das Ende gerade dadurch ambivalent, dass es scheinbar so ganz und gar auf Ambivalenzen verzichtet, sich ganz auf die Seite der Kinder und Kind gebliebenen schlägt und die geldgeilen, gehässigen und gefühlskalten Erwachsenen von nun an dazu verdammt, Ihresgleichen zu zerfleischen. Schwarze Pädagogik einmal anders herum.

Der in Deutschland vollkommen unzeitgemäßerweise immer noch indizierte Film liegt in Österreich auf einer ordentlichen Blu-Ray-Edition von Koch Media und NSM vor.

Independence Day: Wiederkehr

(USA 2016, Regie: Roland Emmerich)

Sie versuchen es noch einmal!
von Drehli Robnik

Anmerkungen zu Postmemory und Realpolitik in ‚Independence Day: Wiederkehr‘ London liegt in Trümmern, ein Land ist ohne Führung, aber willens, seinen Unabhängigkeitstag neu zu definieren. Zugleich kommt es zu einer …

Anmerkungen zu Postmemory und Realpolitik in ‚Independence Day: Wiederkehr‘

London liegt in Trümmern, ein Land ist ohne Führung, aber willens, seinen Unabhängigkeitstag neu zu definieren. Zugleich kommt es zu einer Häufung von Präsidentenfiguren: Eine davon ist gewählt (das aber nur für kurze Zeit), eine ist ein charismatischer Altpräsident, eine ist ein interimistisches Vertretungsstaatsoberhaupt in Waffen. Währenddessen wittern feindselige Mächte, deren Eroberungsversuch damals nur ganz knapp abgewehrt werden konnte, ihre zweite Chance – und bekommen sie. Das ist endlich mal Katastrophen-SciFi mit Zeitbezug – nicht nur in Großbritannien nach dem Brexit-Votum und in Österreich nach dem Wahlwiederholungsentscheid. Das ist ‚Independence Day: Wiederkehr‘.

Im Sommer vor einer US-Präsidentenwahl legt Hollywood sich nicht gern fest (installiert nicht gern eine definitives Oberhaupt, sondern deren drei). Da trifft sich auch gut, dass Frauen, sofern sie hier nicht als Kriegerbraut oder im Pflegedienst fungieren, im baldigen Abgang (Exit) sind: Letzteres widerfährt denn auch der farblosen (weißen) US-Präsidentin – also übernimmt ein General (Eventmovie-Urgestein William Fichtner) die provisorische Staatsführung im Abwehrkrieg. Derweil treiben Pflichtgefühl und senile Bettflucht den Mann, der in Teil 1 Bill Clinton nachempfunden war (beide Male gespielt von Bill Pullman), als Altpräsident zurück in den Kampf.

‚Independence Day‘ beschwor 1996 ein globales Amerika im Zeichen von poppiger Geschichtsverwurstung (Zweiter Weltkrieg, Alien-Mythen des Kalten Krieges, Aufbrüche und Konflikte der Sixties) und von Multikultur, mit Akzent auf Kultur, vom Multi nicht zuviel: Postpolitische Memory Culture, Differenzen kontrolliert und begrenzt, in Form von Diversität zur Schau gestellt. Roland Emmerichs Neuauflage ersetzt die 1990er Gemeinschaftsparameter von Kultur und Gedächtnis durch die aktuellen von Geo- und Realpolitik (wie es schon im Vorjahr ein anderes Reboot, „Jurassic World‘, tat): Meines Feindes Feind ist mein Freund, also schmieden wir pragmatische, aber schwach fundierte Allianzen – das gilt für zentralafrikanische Warlords, für eine zweite Alien-Fraktion, gar für eine Französin (Charlotte Gainsbourg, heiser wie immer, diesmal in Safari-Shorts). Anstelle der zentralen Black-Jewish-Alliance Smith-Goldblum von 1996 trumpft nun die Welt- und Markt-Macht China auf und liefert halbe Hauptfiguren, zumal den Kommandeur der Mondstation und dessen Tochter.

Überhaupt sind hier alle Söhne und Töchter von irgendwem, zum Teil von Vorfahren aus dem ersten Film, zum Teil einfach so, weil die Realpolitik der Zweckbündnisse und zu umschmeichelnden neuen Absatzmärkte wenig an dauerhaften Bindungen zulässt, wenig an institutionellen Referenzen. Da bietet sich die Familie im Sinn eines stolzen Stammbaums an; der verweist nun aber weniger ins kulturelle Gedächtnis zurück (als Geschichtsüberformung nach Art der 1990er, siehe am allerexemplarischsten ‚Forrest Gump‘), auch nicht in die B-Movie-Historie, die ‚Independence Day‘ damals zur imperialen Staatskunst der Ironie als verordnetem Massenhabitus erhob. Sondern: Referenz ist nun vor allem der zwanzig Jahre alte Film selbst (den Emmerich persönlich seitdem noch gefühlte fünf Mal, de facto aber nur drei Mal in abgewandelter Form neu gedreht hat) – für den neuen Film, dessen Plot mit Gedenkfeierlichkeiten zu einem zwanzig Jahre zurückliegenden Krieg beginnt. Bei diesen Feiern hat der Ende 2015 verstorbene Schauspieler Robert Loggia einen letzten Filmauftritt, als greiser General, der eine Einstellung lang von der Veteranentribüne der ‚War of ’96‘-Gedenkzeremonie runtergrinst und dabei noch lächerlicher aussieht als mit der Camouflage-Mütze, die er vor zwanzig Jahren in ‚Independence Day‘ trug.

Staatsmachtträger treten hier als entweder lächerlich, dezentriert oder auf mehrere Figuren verteilt auf (die drei Präsis, keine/r davon ‚richtig‘). Das entspricht einem Zustand, in dem drei Präsidenten – zwei aus postpatriarchalen bzw. bürgerrechtlichen Nachfolgebewegungen der langen Sixties stammend (Clinton, Obama), einer aus dem Polit-Biotop der aggressiv Marktwirtschaftsdemokratie exportierenden Neocons (Bush jr.) – enttäuschte sozialstaatliche Hoffnungen bzw. desaströs gescheiterte Expansionsprojekte zurücklassen und die nachfolgenden Machthabenden durch Toupets, Irrsinn, Skandale (oder in exotischen Ländern durch verfassungsgerichtlich angeordnete Wahlwiederholung) so kompromittiert sind, dass das Eventkino die Formen ihrer – übersetzten – Bildwerdung (oder Anbetung) erst entwickeln wird müssen. Überhaupt: Welche Staatsmachtsymbole sollen Alien-Invasoren 2016 denn groß zertrümmern, wenn das Weiße Haus 1996 von Emmerich synchron mit Kapitol, New York und Los Angeles außerirdisch zerstrahlt und seitdem in mehreren Actionfilmen verwüstet wurde? Folgerichtig wird das Weiße Haus diesmal durch eine Flutwelle mit allerlei Großgeröll ’nur‘ gedepscht und geknickt. Dafür sind in ‚die Sequenz‘, die es in jedem Emmerich-Film geben muss, rezente historische und als Medienevents global halbwegs erinnerliche Zerstörungsereignisse eingearbeitet – der Tsunami, Hurricane Katrina sowie die terroristische Realinszenierung von 9/11, weshalb diesmal nicht mit Autos, sondern mit Megagerät geworfen wird: Es regnet Passagierjets. Und es hagelt Oneliner, die uns darauf einschwören, dass dieser Film an seinem Vorgänger zu messen und als größer einzustufen ist; einer davon ist sogar ganz lustig – ‚They like to get the landmarks,‘ wird trocken vermerkt, als die Alien-Armada gerade Londons Tower Bridge zerstört.

Der Rest ist ein langer Film, der sich kurz abhandeln lässt. Die Rechenleistung hat sich seit damals erhöht, Luftkampf und Telepathie werden diesmal zu Routinehandlungen für den kleinen Gusto zwischendurch, ‚Transformers‘ war eh auch öd, und der andere Hemsworth ist eh auch fesch. Jeff Goldblum meint es gut, Will Smith wusste es besser, und am Ende – als einmal mehr in der strahlend weißen Salzwüste Tabula Rasa gemacht und rasende Mehrfachhochzeit gefeiert wird (was aber nur noch wenig Sinn abwirft, weil in diesem Film andere Soziierungsformen dem bürgerlichen Paar den Rang abgelaufen haben: neben der Herkunftfamilie ist dies der sozial vernetzte Freundeskreis, der sich dauernd updatet und bei irgendwelchen turbulenten Ausflügen trifft) –, am Ende ertönen Rufe nach Alien-Asskicking in einem weiteren Sequel, die umso unbeholfener klingen, als dieser Film in den USA gefloppt ist. Na, geh! Sei noch vermerkt, dass hier ein schwules Altherren-Pärchen auftritt, das offenbar dann akzeptabel ist, wenn es die Oberdodln abgibt in diesem Postdemokratie-Panorama am Deppen-Dance-Day.

Ein einsamer Ort

(USA 1950, Regie: Nicholas Ray)

Die feministische Aneignung des Film Noir
von Nicolai Bühnemann

Humphrey Bogart ist großartig als zynischer, getriebener, abgehalfterter, gewalttätiger Hollywood-Drehbuchautor, den wir schon in der ersten Szene als Mann kennenlernen, der keiner Schlägerei aus dem Weg geht. Er gibt alles, …

Humphrey Bogart ist großartig als zynischer, getriebener, abgehalfterter, gewalttätiger Hollywood-Drehbuchautor, den wir schon in der ersten Szene als Mann kennenlernen, der keiner Schlägerei aus dem Weg geht. Er gibt alles, was er hat (und ich sage das als sowieso schon großer Bewunderer dieses Darstellers), um zu verdeutlichen, dass seine Figur, die sich wohl in einer seit Jahren andauernden Schaffenskrise befindet, kein „schlechter Mensch“ ist, sondern jemand, der sich im beständigen Kampf mit sich selbst, mit seinen eigenen Impulsen und Gefühlen befindet. Eine durch und durch zerrissene Figur, der man ihre Zerrissenheit schon in dem von ständigen Stimmungswechseln, ja, -brüchen bestimmten Mienenspiel ansieht.

Und doch bildet das heimliche Zentrum in Nicholas Rays „In a Lonely Place“ nicht er, sondern die Frau, Gloria Grahame. Als seine Nachbarin hat sie ein Auge auf ihn geworfen (sie auf ihn, die Attraktion geht vom Mann aus, das ist entscheidend in diesem Film) und fungiert zunächst als Entlastungszeugin bei der Polizei, als ein junges Naivchen, das Bogart unter dem Vorwand, ihm die Geschichte eines Romans, aus dem er ein Drehbuch machen will, zu erzählen, in seine Wohnung gelockt hat, wenig später ermordet aufgefunden wird. Nach anfänglichem Zögern der selbstbewussten Frau, die nicht nur vorgibt, zu wissen, was sie will, lässt sie sich auf eine Beziehung zu dem Mann ein. Doch Bogarts Temperament, seine auto- und fremdaggressiven Tendenzen lassen sie schon bald wieder an ihrer Entscheidung zweifeln.

Man könnte meinen, dass der Film aufgrund seiner Perspektivierung durch die Frau, die sich gegen die Einwände der Polizei, die Bogart lange Zeit für einen Mörder hält, gegen die Einwände ihrer Masseurin, die sie vor ihm und seinem Wesen warnt, ja, wohl zumindest teilweise auch gegen ihr eigenes besseres Wissen, auf diesen Mann einlässt, eher Melodram als Film noir ist. Vielmehr erscheint mir aber, dass Ray und sein Drehbuchautor Andrew Solt, dessen Script übrigens auf der Kurzgeschichte einer Frau, Dorothy B. Hughes, fußt, ein zentrales Motiv in der typischen (Gender-)Identifikationsstruktur des Noir auf den Kopf stellen. Die – zumindest potenziell – misogyne Geschichte vom Mann, der der femme fatale verfällt, obwohl er doch genau weiß, dass sie für ihn – und seine Konkurrenten um ihre Gunst – nur Verderben bringen kann, wird hier konterkariert durch die Geschichte einer Frau, die ihre Finger nicht von einem gefährlichen Mann lassen kann.

Jedenfalls wenn man „In a Lonely Place“ mit Billy Wilders im gleichen Jahr entstandenen, ungleich berühmteren „Sunset Boulevard“ vergleicht, scheint es, dass Filme über Drehbuchautoren immer auch Filme über die Krise(n) der Traumfabrik sind. Zwar verdeutlicht ein Dialog zu Beginn in einem Club, dass es prekäre Existenzen im Showbusiness mitnichten nur unter den Männern gibt, wenn Bogart eine junge Schauspielerin fragt: „How are you?“ und zur Antwort erhält: „Between pictures.“ Aber für den Hauptplot ist wiederum entscheidend, dass der gefallene Engel, der vom Glamour der Filmwelt nicht (mehr) erleuchtet wird, hier eben wieder der Mann ist. Der script writer als männliche Antwort auf all die Show- und dime for a dance-girls der Filmgeschichte.

Bleibt zu sagen, dass der Film seiner weiblichen Hauptfigur mit wesentlich mehr Verständnis und Empathie begegnet als viele andere Noirs ihren männlichen Pendants, für die die Frau letztlich nur als eine Art Verlängerung des eigenen Todestriebs fungiert. In der schönsten Szene des Films sitzen Bogart und Grahame zwischen anderen Leuten in einem Club an einem Flügel, auf dem eine schwarze Frau (um deren Hautfarbe hier keinerlei Aufhebens gemacht wird) einen wunderschönen romantischen Song spielt. Von der Totalen des Raumes gibt es einen Schnitt auf die Sängerin, die nun nur noch für die beiden singt, die die nächste Einstellung ganz für sich haben. Bogart zündet eine Zigarette an, gibt sie ihr, zündet dann sich eine an (egal, was militante Nichtraucher, die Zigaretten und Tabak heute mit „Schockbildern“ verunstalten lassen, dazu sagen, das zeitgenössische Publikum hat verstanden, dass das eine sehr zärtliche, fürsorgliche Geste ist, und wer wem eine Zigarette anzündet, wer sie annimmt oder auch ausschlägt, sagt in diesem Film sehr viel über die momentane Befindlichkeit des Paares aus), lehnt sich zu ihr hinüber, flüstert ihr ins Ohr, sie lächelt. Dieser Moment gehört ganz und gar ihnen – und wird doch jäh unterbrochen, als ein Polizist mit seiner Frau in der Bar erscheint und Bogart einen seiner „Anfälle“ bekommt, wenn auch einen vergleichsweise milden. Ist „In a Lonely Place“ – mehr oder weniger latent – schon eine ganze Weile auch ein Film über häusliche Gewalt, so wird er es am Schluss ganz explizit. Und bereits 1950 wussten Ray und sein Team, was für ein schwieriges, ambivalentes Thema das gerade für die Frau ist, weswegen es ja bis heute viel zu selten zur Anzeige gebracht wird. Ihr bleiben am Ende in einer endgültigen Aneignung der männlichen Rolle nur noch die Worte, die er geschrieben hat: „I lived a few weeks while you loved me.“ (Und wie viel besser hatte es frau doch damals schon manchmal, wenn sie wenigstens zum Abschied weinen darf!)

Dass der vielleicht wichtigste Film von Nicholas Ray, der sich hier als ganz großer, bedingungsloser Humanist offenbart, immer noch auf seine deutsche Heimmedien-Premiere wartet, ist für den oder die Zuständige für das Verwalten des Backkatalogs von Columbia hierzulande eine große Schande.

Toni Erdmann

(D/A 2016, Regie: Maren Ade)

Verkleidet und nackt
von Wolfgang Nierlin

Zwei Tode rahmen Maren Ades tragikomische Vater-Tochter-Geschichte, von der sie in ihrem Film „Toni Erdmann“ erzählt. Das Uneigentliche, das mit seiner ironischen Distanz zwischen Winfried Conradi (Peter Simonischek) und Ines …

Zwei Tode rahmen Maren Ades tragikomische Vater-Tochter-Geschichte, von der sie in ihrem Film „Toni Erdmann“ erzählt. Das Uneigentliche, das mit seiner ironischen Distanz zwischen Winfried Conradi (Peter Simonischek) und Ines (Sandra Hüller) herrscht, kommt dann für lange Augenblicke zur Ruhe: Wann spürt sich der Mensch als Mensch? Was macht das Leben lebenswert? Und kann man das Glück immer nur in der Rückschau auf vergangene Erfahrungen und Erlebnisse fassen? Diese existentiellen Fragen begleiten die skurrilen Begegnungen zwischen Vater und Tochter, schwingen zwischen ihnen im permanenten Austarieren von Nähe und Distanz. Denn auf ganz verschiedene Weise sind beide Protagonisten Verkleidungskünstler und Maskenträger: Während Musiklehrer Conradi mit Perücke und falschem Gebiss seine Mitmenschen verunsichert, spielt Ines ihre Rolle als Unternehmensberaterin im „Ölbusiness“, die mit „Outsourcing-Projekten“ betraut ist.

Doch eigentlich bleibt ihre abgehobene Arbeit wenig griffig, fast abstrakt. Ihr von Stress, Anspannung und fortwährendem Zeitdruck begleitetes Geschäftsgebaren wird bestimmt von Äußerlichkeiten und Floskeln, verschwurbeltem Fachsprech und inszenierten Scheinkämpfen. Als Ines überraschend von ihrem eher unberechenbaren Vater in Bukarest besucht wird, ist sie einerseits peinlich berührt, weil der unkonventionelle Winfried ziemlich quer zu ihrem Alltag steht; andererseits fühlt sie sich an ihre Tochterpflichten erinnert. Sehr genau blickt Maren Ade mit den Augen des außenstehenden Vaters, den die Tochter am liebsten verstecken würde, auf die von hierarchischen Strukturen und unwürdigen Machtspielen geprägte Arbeitswelt von Ines. Existenzängste und eine tiefsitzende Einsamkeit beherrschen ihr Tun, dessen Brüchigkeit in vielen Details immer wieder aufblitzt und das zudem kontrastiert wird mit der Armut der umgebenden rumänischen Gesellschaft.

Als Winfried nach einer Auseinandersetzung früher als geplant abreist, ist Ines fast schon erleichtert. Doch dann kehrt der Vater völlig unerwartet in der ziemlich schrägen Gestalt des titelgebenden Helden Toni Erdmann zurück und konfrontiert mit seiner falschen Identität die Tochter mit ihrem Leben. Das führt zu einer Reihe grotesker Situationen und Verwicklungen, die aber nie nur komisch und irritierend sind, sondern immer auch ein bisschen traurig. Sehr realistisch übersetzt Maren Ade den familiären Konflikt zwischen Nähe und Distanz in ein schillerndes Spiel zwischen Verstellung und Echtheit, Verkleidung und Nacktheit. Auf dessen Höhepunkt singt Ines, von ihrem Vater am E-Piano begleitet, eine wunderbar gefühlvolle und zugleich vielfach gebrochene Version von Whitney Houstons Songklassiker „Greatest love of all“. Erst danach können die Hüllen fallen und kann Ines sich für einen zärtlichen Moment fallen lassen – ins wärmende, schützende Zottelfell des als Kuker verkleideten und damit die bösen Geister vertreibenden Vaters.

Der Bunker

(D 2015, Regie: Nikias Chryssos)

'Das ist Erziehung'
von Nicolai Bühnemann

„Da kommt ja gar kein Licht hinein.“ „Aber auch keines hinaus.“ Und ums nicht (recht) Hineinkommen und (nie wieder) Hinauskommen geht es im Langfilmdebüt von Nikias Chryssos (Regie, Drehbuch, Produktion). …

„Da kommt ja gar kein Licht hinein.“ „Aber auch keines hinaus.“ Und ums nicht (recht) Hineinkommen und (nie wieder) Hinauskommen geht es im Langfilmdebüt von Nikias Chryssos (Regie, Drehbuch, Produktion). Der da zu Beginn hinein kommt in die Bunkerwohnung, aber bei dem, was hier vor sich geht, doch lange Zeit außen vorbleibt, ein Fremder, ist der Student (Pit Bukowski gibt ihn mit charakteristischer Hasenscharte und zunächst stoischer Ruhe angesichts des Abstrusen, ja, auch Grausamen, was ihm hier begegnet, unter der man doch mehr und mehr das Brodeln wahrnimmt). Abgeschiedenheit und Ruhe sucht er für seine Studien, die, wie so manches in diesem Film, absolut kryptisch, ein Rätsel bleiben. Die Schneelandschaft, durch die er den Bunker in den ersten Szenen erreicht, lässt kunstvoll offen, wie es um den Rest der Welt, (zumindest den Rest von Deutschland, denn hier befinden wir uns bei aller Abgeschiedenheit, allem aus Zeit und Raum Fallen des hermetisch abgeriegelten Schauplatzes) doch sehr deutlich bestellt ist.

Der ihn aufnimmt in seinen Bunkerkeller, in den kein Licht hinein kommt und keines hinaus, das ist der Vater (schnurrbärtig schmierig: David Scheller). Er macht dem Neueingetroffenen erst einmal ein Fußbad, was man mit Oliver Nöding schon deshalb nur schwer für ein Zeichen christlicher Nächstenliebe halten kann, weil er denkbar grotesk darüber witzelt, aus dem Wasser anschließend ein leckeres Süppchen für alle zu kochen. Zu der Familie, in die der Student hineingerät, gehören außer ihm noch die Mutter (matriarchalisch bis hysterisch: Oona von Maydell), sowie der achtjährige Sohn Klaus, der als einziger einen Eigennamen trägt, der über seine Funktion in der Versuchsanordnung dieses Films hinausgeht, und von einem erwachsenen, beeindruckend geschminkten Darsteller (noch verstörender als das restliche Personal: Daniel Fripan) gespielt wird.

Vier Figuren (fünf, rechnet man „Heinrich“ mit, eine Art Gottheit, die den Körper der Mutter bewohnt und durch eine vage cronenbergeske Wunde an ihrem Bein in Erscheinung tritt), ein Bunkerhaus, das die Kamera nur einmal verlässt und das auch nur, um zu zeigen, dass es draußen auch nichts gibt außer Schnee und kahlen Bäumen und den Bunkereingang, das ist das Ensemble und die Welt von „Der Bunker“. Chryssos filmt das mit größtem Gespür für Atmosphäre und Stimmung in Einstellungen, die luft- und lichdicht erscheinen und bei denen nur äußerst selten jemand den Bildkader betritt oder verlässt, die Figuren meist so statisch bleiben wie die Kamera. Die Scope-Blicke der Kamera können niemals in die Weite gehen, immer nur die vage an die Fünfziger erinnernde Tristesse des titelgebenden Schauplatzes mit einfangen. Jedes Bild ein eigener Bunker.

Es begibt sich nun, dass der Student, weil er bei den Knödeln noch mal einen Nachschlag nimmt, Schulden bei seinen Vermietern akkumuliert, die er begleichen soll, indem er Klaus unterrichtet. Der Bambusstecken wird ihm vom Vater gleich beim Betreten des Klassenzimmers gezeigt, von dem Gebrauch zu machen sei, sollte Klaus nicht parieren. Und mindestens so enervierend wie die Lernresistenz des Schülers sind die ständig wiederholten Fragen des Lehrers („Hauptstadt von Frankreich?“), die mit einem Nachdruck und einer Insistenz gestellt werden, die den Bambusstab auf den Fingern tatsächlich als logische Verlängerung des verbalen Drills erscheinen lassen. Es ist eine der hinterhältigen Pointen dieses Films, dass diese Art der Erziehung dann auch tatsächlich nur mit Schlägen funktioniert. Das Lernen der Hauptstädte, das zunächst nur mit Schummeln durch den Studenten vorgetäuscht wird, gelingt Klaus erst tatsächlich, als der Student vom Bambus Gebrauch macht. Die Verbände an den Händen des Jungen, durch die am Ende das Blut suppt, geben direkten Aufschluss über voranschreitende Lernleistungen.

Ödipales gibt es in der Konstellation des Films durchaus. Allerdings bezeichnenderweise nicht bei Klaus, sondern beim Studenten. Nachdem er Klaus besonders erfolgreich unterrichtet hat, kommt die Mutter zum sonderbar desinteressierten Fick in seinem Zimmer vorbei, bei dem er beständig weiter „arbeitet“, also seitenweise Papier mit konzentrischen Kreisen und Kästchen vollschmiert, um hinterher eine Wand seines Zimmers damit zu tapezieren. Und wenn der Student schließlich am Schluss die Schnauze endgültig voll hat von den Marotten seiner Gastfamilie, stürzt er sich kampfeslustig auf den Vater. Ob man hier mit Freud aber wirklich weiterkommt, ob es etwa um das Nicht-Überwinden des Ödipuskomplexes geht, der der Psychoanalyse ja als notwendiger Akt der Zivilisierung des Kindes, der Zügelung seines Urbedürfnisses nach sex and violence gilt, und der also zu dem, was man gemeinhin Erwachsenwerden nennt, unumstößlich dazu gehört, und ob das Ausbleiben dieser Überwindung eben zu erwachsenen Kindern führt, sei dahin gestellt.

Überhaupt bleibt der Film bei aller Geschlossenheit der Diegese wie der Form erfreulich offen für Lesarten aller Art – ohne sich irgendeiner von ihnen jemals ganz zu verpflichten. Sicherlich ist „Der Bunker“, in dem mit Klaus einem, gelinde gesagt, nicht übermäßig begabten Kind die Bürde aufgelastet wird, es bis zum Präsidenten schaffen zu müssen, dieser niemals auf eine normale Schule geschickt wird, weil er laut seiner Eltern dort unterfordert sei, auch ein groteskes Zerrbild der beinahe schon zum Klischee erstarrten gutbürgerlichen Familie, die ihre Kinder vom Geigen- zum Klavier- zum Schach- zum Schwimmunterricht bringen, ohne ihnen in ständiger Vorbereitung auf eine (Arbeits-)Welt, in der mensch nicht nur alles können, sondern in allem der oder die Beste sein muss, Raum für Freizeit, Spielen, Nichtstun zu lassen. „Das ist doch grausam.“ „Das ist Erziehung.“

Nachdem Drop-Out Cinema den Film im Januar in die Kinos gebracht hat, erscheint er nun am 22.07.2016 bei Bildstörung auf DVD und Blu-ray. Wie von diesem Label nicht anders gewohnt, handelt es sich dabei um bestens ausgestattete Scheiben, die neben einem einstündigen Making-Of, das in Interviews den gesamten Entstehungsprozess des Projekts von der – äußerst schwierigen – Finanzierung über den Dreh bis hin zum Schnitt nachzeichnet, auch einen Audiokommentar des Regisseurs enthält. Im Booklet schreibt Oliver Nöding sehr ausführlich über den Film und gibt in einem recht langen Exkurs gelehrigen Aufschluss über die Geschichte des deutschen Genre- (vor allem Horror-)Films von den „expressionistischen“ Klassikern der Zwanziger bis zur aktuellen Renaissance durch Filme wie „Der Bunker“, „Der Nachtmahr“, „Der Samurai“ (den ich hier mit aufzähle, auch wenn ich ihn immer noch nicht gesehen habe) oder „German Angst“ (wobei ich hier unbedingt noch „Tore tanzt“ mitrechnen würde, ein waschechter deutscher „torture porn“, no less). Neben dem üblichen (Trailer, Out-takes) wird die wirklich vorzügliche Edition abgerundet durch zwei Kurzfilme, die Chryssos während seines Studiums an der Filmakademie Baden-Württemberg realisierte: „Schwarze Erdbeeren“ (2005) und „Der Großvater“ (2012). Beide geben schon eindrucksvoll davon Zeugnis, wie er es versteht, aus einem Minimum an Figuren und Setting ein Maximum an Intensität und Atmosphäre herauszuholen.

Frühstück bei Monsieur Henri

(F 2015, Regie: Ivan Calbérac)

Wohlwollende Harmonisierung
von Wolfgang Nierlin

Eine Parallelmontage führt die gegensätzlichen Charaktere zusammen: den alten Misanthropen Henri Voizot (Claude Brasseur) und die junge Studentin Constance (Noémie Schmidt). Während der ungesellige Grantler, der früher Steuerbeamter war, seit …

Eine Parallelmontage führt die gegensätzlichen Charaktere zusammen: den alten Misanthropen Henri Voizot (Claude Brasseur) und die junge Studentin Constance (Noémie Schmidt). Während der ungesellige Grantler, der früher Steuerbeamter war, seit dem Tod seiner Frau zurückgezogen in einer großen Pariser Altbauwohnung lebt, hilft die hübsche Constance genervt auf dem elterlichen Marktstand in Orléans und fällt mal wieder durch die Fahrprüfung. Ihr fortgesetztes Scheitern transportiert als Motiv die schwierige Suche junger Menschen nach einem Platz im Leben und führt, nach einer eher streiflichtartigen Zimmersuche in Paris, geradewegs zur Untermiete beim mürrischen Pensionär, der schroff und unverblümt seine Anschauungen streut: „Das Leben ist nichts, was man schaffen oder verpfuschen kann.“

Manchmal versucht Henri, der immer sagt, was er denkt und dem offensichtlich nichts heilig ist, auf seine neue, misstrauisch beäugte Mitbewohnerin aber auch „ermutigend“ zu wirken: „Das Schicksal ist ein Haufen Scheiße.“ In Ivan Calbéracs leichthändig inszenierter und mit prägnantem Dialogwitz aufwartenden Generationenkomödie „Frühstück bei Monsieur Henri“, die sich dementsprechend auch mit der Macht der Väter beschäftigt, kommt es also eher später zu einer Annäherung der gegensätzlichen Protagonisten. Das gibt dem französischen Filmregisseur und Theaterautor, der sagt, die Komödie ermögliche „eine Versöhnung mit der Realität“ und relativiere im Lachen das Tragische, die Möglichkeit, kursorisch und mit einigem Tempo thematische Nebenschauplätze zu touchieren.

Als dramaturgisches Vehikel dient Calbérac dabei ein eher unwahrscheinliches unmoralisches Angebot: Gegen eine großzügige Mietminderung soll die offenherzige Constance, die erfolglos ein nicht näher bezeichnetes Fach an der Fakultät für „Literatur, Sprachen und Sozialwissenschaften“ studiert, die dem Alten verhasste Ehe seines Sohnes Paul (Guillaume de Tonquédec) mit Valérie (Frédérique Bel) aufmischen beziehungsweise auf die Probe stellen. Die leichtlebige und immer wieder scheiternde Studentin verdreht dem steifen Mittvierziger also wenig überraschend erfolgreich den Kopf, woraufhin dieser seine zweite Jugend erlebt. Nebenbei entdeckt Constance, von Henri heimlich gefördert, ihre verdrängte Liebe und Berufung zur Musik. Ivan Calbérac geht es in seinem inhaltlich leicht überfrachteten Film um die Lösung „innerer Blockaden“ und die Eröffnung neuer Perspektiven; wofür er sich nicht zuletzt auf Hermann Hesses Wort von der Selbstdeutung in der Vorrede zum „Demian“ beruft. Gefühlvoll, aber ohne wirkliche Tiefe steuert er seine Komödie zielsicher in eine wohlwollende Harmonisierung.

Blow Out – Der Tod löscht alle Spuren

(USA 1981, Regie: Brian de Palma)

Ende einer Ära
von Nicolai Bühnemann

Alles dreht sich im Kreis. Die Spulen der Tonbandgeräte, die John Travolta in einer Szene hermetisch einzuschließen, zu umzingeln scheinen, die Kamera, der Film und alle Figuren in ihm. Aber …

Alles dreht sich im Kreis. Die Spulen der Tonbandgeräte, die John Travolta in einer Szene hermetisch einzuschließen, zu umzingeln scheinen, die Kamera, der Film und alle Figuren in ihm. Aber eben auch: der Filmstreifen in der Kamera, im Projektor. Und, so sagt es Brian de Palma, der vielleicht mit „Blow Out“ sein ultimatives Meisterwerk vorlegte, die Kamera lügt, 24-mal in der Sekunde. Nicht in einem Netz findet sich Travolta in diesem Film wieder, sondern in einer endlosen Spirale der Lügen und Inszenierungen, der Täuschungen und Ent-Täuschungen, der Traumata und vergeblichen Hoffnungen. Was auf der Strecke bleibt, während sich die Spirale, der Film im Projektor, weiter dreht, ist die Wahrheit. Auch die Liebe vielleicht, wenn es sie denn je gegeben hat (und: wer weiß das schon? Wer weiß überhaupt irgendwas in einem Film von Brian de Palma, diesem Meister der Verunsicherung?). Also kehrt am Ende, wenn sich die Kamera um John Travolta und Nancy Allen dreht, das Feiertagsfeuerwerk, hinter ihnen, um sie herum, alles zurück: das Trauma des Protagonisten, der Film dorthin, wo er begonnen hat.

Ekkehard Knörer bezeichnet Brian de Palma als „den wichtigste[n] Vertreter einer typischen Bewegung in der Formengeschichte aller Künste […], einer manieristischen Reaktion aufs Klassische“, also auf Hitchcock (auf dessen wohl ikonischste Szene, den Duschmord in „Psycho“, de Palma in seinen Filmen immer wieder zurückkommt, so auch in dem (Slasher-)Film-im-Film, mit dem „Blow Out“ beginnt, und wo diese Szene, ähnlich wie in Tobe Hoopers im selben Jahr entstandenen „The Funhouse“, in den Untiefen der „U-Kultur“ angekommen scheint), also auf Antonioni (dessen „Blow Up“ bereits im Titel anklingt, wobei jedoch die Prämisse dieses Films, in dem ein Fotograf durch immer weitere Vergrößerung eines Bildes versucht, ein Verbrechen aufzuklären, hier vom Visuellen ins Akustische verschoben wird).

In dieser Hinsicht stellt „Blow Out“ wohl einen (wenn nicht den) Kulminationspunkt im Schaffen de Palmas dar: Mehr Manierismus geht nicht! Der Film ist ein wahres Lexikon der stilisierten Filmsprache! So gibt es die wunderbare agile Plansequenz zu Beginn, für die Garret Brown, wie ein Jahr zuvor in „The Shining“, die von ihm erfundene Steadicam führte. In zahlreichen Einstellungen wurde ein Split-Diopter genutzt, um verschiedene Bildebenen scharf im Fokus zu haben (besonders eindrucksvoll in einer Einstellung, in der im Vordergrund eine Eule, im Hintergrund Travolta zu sehen ist oder einer anderen, in der, eine Reminiszenz an „The Night of the Hunter“, riesig ein Frosch im Bildvordergrund sitzt, ohne dass die Brücke hinter ihm deshalb out of focus wäre). Hiermit wie auch mit den direkten Split-Screens, einem weiteren Markenzeichen dieses Filmemachers, zeigt sich, wie genau die Cinemascope-Einstellungen dieses Films durchkomponiert sind, in denen immer wieder in unterschiedlichen Bildebenen Unterschiedliches passiert. Zu den komplizierten Dolly-und „Karussell“-Shots, bei denen sich die Kamera um sich selbst respektive die Protagonisten dreht, gesellen sich im Finale Furioso noch extreme Zeitlupen.

Zur extremen Stilisierung kommt noch die Selbstreflexivität des Films, der ja von Anfang an (auch) einer über das Filmemachen ist, in dem sich die Inszenierung von Wirklichkeit, als Prinzip des fiktionalen Films, bis in diverse Subplots hinein spiegelt. So kommt der Plot dadurch in Gang, dass Travolta, der den Allerweltsnamen Jack trägt, als Soundmann auf einer Brücke Geräusche für einen B-Film sucht, wobei er Zeuge eines Unfalls wird, hinter dem er durch einen Schuss, den er meint gehört zu haben, ein Verbrechen, später gar eine groß angelegte Verschwörung entdeckt. Er rettet Sally (Nancy Allen) aus einem im Fluss untergehenden Auto. Sie verdiente ihr Geld damit, sich mit Politikern oder anderen einflussreichen Männern in zwielichtigen Posen ablichten zu lassen, ohne, so behauptet sie zumindest, mit ihnen Sex zu haben. Eine weitere, im Bild manifest werdende Täuschung, Inszenierung. Über Jack erfahren wir, dass er einst für die Polizei arbeitete, bis ein Undercover-Ermittler durch einen Fehler, den er beim Anlegen einer Wanze machte, von Gangstern ermordet wurde. Die Rückblende ist fast wie ein weiterer Film-im-Film angelegt, diesmal kein Slasher, sondern ein Polizei-Thriller, und zeigt, dass das Aufdecken einer Inszenierung in der Welt dieses Films, wie in der etlicher Genrefilme vor und nach ihm, tödlich enden kann. Schließlich ist da noch John Lithgow als psychopathischer Killer, der eine ganze Mordserie „inszeniert“, obwohl es ihm doch eigentlich nur um ein einziges Opfer geht. Thomas Groh zeigt in seinen Anmerkungen auf, wie Jacks Rekonstruktionsarbeiten an den Bildern, die ein Fotograf von dem „Unfall“ geschossen hat, mit der Unterlegung der Tonspur seiner eigenen Aufnahmen die gesamte Genese des Mediums Film nachempfinden: „Aus einzelnen Bildern wird ein Daumenkino, daraus ein Stummfilm und schließlich, unter Hinzunahme der vorliegenden Tonspur, ein Tonfilm“.

Das faszinierende, das großartige an „Blow Out“ ist aber, dass alle Stilisierung und alle Selbstreflexivität hier nicht zu einer Distanzierung der Zuschauenden vom Geschehen auf der Leinwand führt. Die Tragödie der Travolta-Figur, die kein Held werden, nicht die Frau retten kann und schon gar nicht die Welt, trifft einen in der finalen Pointe mit voller, niederschmetternder Wucht. Lukas Foerster schreibt über den in den späten Siebzigern zu Starruhm gelangten John Travolta, er stehe ein „für eine neue Schauspielergeneration, die auch eindeutig nicht mehr New Hollywood angehört, das sieht man schon ihren Körpern an, erst recht ihrem Schauspiel.“ Mag das New Hollywood offiziell auch mit dem kolossalen Scheitern gigantomanischer, irrsinniger Produktionen wie „Apocalypse Now“ und „Heaven’s Gate“ enden sowie dem Aufkommen des Blockbusters, der den Studios zeigte, wie viel Geld man mit Filmen tatsächlich verdienen konnte, die kulturelle und politische Aufbruchsstimmung der Sechziger und Siebziger endet im US-amerikanischen Kino 1981 mit dem Schluss von „Blow Out“. Wenn der Mann, der immer versucht hatte Gutes zu tun, auf der richtigen Seite zu stehen und allem, der Wahrheit und der Liebe, zum Greifen nah war, nur damit ihm schließlich alles durch die Finger rinnen konnte, sich wieder in seinem Tonstudio verkriecht, um weiterhin billige Exploitationfilme zu vertonen, endet nicht nur ein Film, sondern eine Ära.

(Pink Floyd sangen schon zwei Jahre zuvor: But it was only a fantasy / The wall was too high as you can see / No matter how he tried he could not break free / And the worms ate into his brain)

Zur Blu-ray: Während „Blow Out” im Ausland schon lange in formidablen Blu-ray-Editionen vorliegt, etwa der Criterion Collection in den USA, gab es hierzulande bislang nur eine ziemlich schmucklose und über dies schon lange vergriffene DVD. Dem schafft Koch Media nun Abhilfe, indem sie den Film im Mediabook veröffentlichen, dass den Film auf beiden Formaten sowie eine Bonus-DVD enthält. Letztere beinhaltet einige Interview-Featurettes, in denen sich Produzent John Litto und Nancy Allen darüber freuen, dass der Film, der einst an den Kinokassen floppte, sich seitdem stetig zunehmender Beliebtheit erfreut. Das Interview mit dem Komponisten Pino Donaggio sowie der Booklet-Text von Martin Beine sind exklusiv für diese Edition angefertigt. Das interessanteste Gespräch ist aber sicherlich das mit Vilmos Zsigmond, mit imposant hoher Augenbrauenpartie und charmantem Akzent erinnert sich der Kamerameister an die Dreharbeiten und gibt ausführliche Auskunft über die Bildgestaltungsmanie de Palmas. So finden sich die amerikanischen Nationalfarben Rot, Blau und Weiß in diesem „Feiertagsfilm“ immer wieder in der Komposition einzelner Einstellungen, bis hin zur Kleidung der Protagonisten. Dieser vermeintliche Patriotismus erscheint in diesem inhaltlich so schwarzmalerischen Film natürlich als blanker Hohn.

High-Rise

(GB/BEL 2015, Regie: Ben Wheatley)

Tower of Power auf Dauer, schick versifft
von Drehli Robnik

Oben die Oberschicht, unten die Unterschicht, mittendrin die Mittelschicht, bis das Haus zusammenbricht. Ein simples Sinnbild entnimmt die britische Sozialdystopie ‚High Rise‘ der titelgleichen Romanvorlage von J.G. Ballard aus dem …

Oben die Oberschicht, unten die Unterschicht, mittendrin die Mittelschicht, bis das Haus zusammenbricht. Ein simples Sinnbild entnimmt die britische Sozialdystopie ‚High Rise‘ der titelgleichen Romanvorlage von J.G. Ballard aus dem Jahr 1975. Ein Wohnturm als Raum- und Denk-Bild von klassengesellschaftlichen Gewaltpotenzialen, die fast widerstandslos epidemisch ausbrechen – Sagt uns das viel über Hochhäuser heute? Über Hubschrauberlandeplätze und Gated Communities der Reichen oder über hiesige Pendants: Stadtwohnraum als mehrstöckige Tragestruktur für Dachausbauten mit Terrasse oder Geldanlage in Nachfolge des (wohl deshalb einst wohnturmsilhouettenförmigen) Sparbuchs?

Muss ja nicht. Der Film spielt in der Gegenwart des Romans, also circa 1975. In diesem Jahr legte David Cronenberg sein themenähnliches Spielfilmdebüt ‚Shivers‘ vor und zeigte darin eine modernistische Wohnmaschine, wie in ‚High Rise‘ mit Sportanlage und Swimmingpool, im Verlauf des Umkippens von steriler Wohlstandsplanung in pansexuelle Aggression: letzte, ambivalente Grüße des Revolutionsgedankens, bevor er in Submilieu-Lifestyles verpuffte (siehe dazu Ballards/Cronenbergs ‚Crash‘). ‚High Rise‘ setzt Auflösung, Hysterie und Stromausfall als stets schon wuchernde Prozesse voraus und seinen Turmsolitär auf eine Großbrache mit Großstadt im fernen Hintergrund. Die Stockwerkstruktur wird nie sinnlich eigenlogisch; das Haus bleibt Behauptung, der Raum bleibt Bühne für Marotten: ein Pferd im Dachgarten, Sex und Suizid auf dem Balkon, Kindergeburtstagsparty auf Repeat.

Von allen Filmen, in denen das Kreativ-Pärchen Ben Wheatley (Regie) und Amy Jump (Drehbuch) Kopplungen von Irrsinnsgewalt und Normalverhalten durchtestet (Auftragsmörder als Mittelklasse-Ehemänner in ‚Kill List‘, Spießertouristen-Pärchen als psychotische Amour fou-Killer in ‚Sightseers‘, Altenglisches Auszucken im Wams mit Hilfe von Pilzen in Schwarzweiß in ‚A Field in England‘) – von all ihren spleenigen Genre-Mutationen und Brit-Kino-Hommagen (vom ‚Wicker Man‘ bis Kubrick) ist dies die teuerste, wirrste und längste. Positiv formuliert: ‚High Rise‘ spielt hinsichtlich Styling und Besetzung in einer anderen Liga als sonstige Hochhaus-Horrorfilme und Wohnviertel-Dystopie-Thriller, die das Kino der britischen Inseln in den letzten Jahren hervorgebracht hat.

Jedoch: Erstens kommt Wheatleys Renommee-Bomber an die räumliche, soziale und politische Prägnanz von Attack the Block‚ (Alien-SciFi-Satire in Wohntürmen am anderen Ende der Reichtumsskala, GB 2011) nicht einen Moment lang heran, und zweitens reicht sein Augen- und Ohrenfutter nur für die halbe Laufzeit: Dekadenzdekor auf Brutalismusbeton, versiffte Visionen in Bunt und in Zeitlupe, Partyexzesse zu ABBA und Krautrock (sogar, etwas anachronistisch DAF), Vögeln und Dögeln im leicht konfus versammelten Ensemble, das irgendwann (vielleicht nur konsequent, von wegen Entropie und so) nur noch in Indifferenz dahinbummelt und regrediert. Statt Kollektivität oder Chaos oder das eine im anderen wahrnehmbar zu machen, bietet ‚High Rise‘ Dialogduelle hochkarätiger Mimen: Ben Hiddleston, Sienna Miller, Elisabeth Moss, Luke Evans, Jeremy Irons (als der Architekt, der doch nur Gutes wollte oder seine Frau an sich binden oder Squash spielen, irgendsowas). Alle reden. Im Schlussbild redet aus dem Off Margret Thatcher über Segnungen des Kapitalismus, während Pfeifenblasen – pipe dreams bzw. bubbles – in den Himmel schweben. Ach ja, die Anfänge dieses Dingsda, dessen Name mit N beginnt und mit eoliberalismus endet. Dann wüten zum Abspann The Fall. Das will wohl voll vielsagend, urarg und dennoch schon auch schön sein. Aber wovor soll ich mich da jetzt groß gruseln, wenn ich in einem Land lebe, in dem demnächst ein völkischer Zahnarzt und sein Freund mit der Glock regieren?

Lou Andreas-Salomé

(D 2016, Regie: Cordula Kablitz-Post)

Selbstermächtigung einer starken Frau
von Wolfgang Nierlin

Die Filmemacherin Cordula Kablitz-Post hat ihr Biopic über die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé raffiniert konstruiert: Während die Nazis im Mai 1933 öffentlich Bücher der von ihnen verfemten Autoren verbrennen, arbeitet die …

Die Filmemacherin Cordula Kablitz-Post hat ihr Biopic über die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé raffiniert konstruiert: Während die Nazis im Mai 1933 öffentlich Bücher der von ihnen verfemten Autoren verbrennen, arbeitet die 72-jährige, altersschwache Dame (Nicole Heester) zusammen mit dem jungen, unglücklichen Germanisten Ernst Pfeiffer (Matthias Lier) in Göttingen an ihren Memoiren. Ihre Lebenserinnerungen stehen also von vornherein gegen das offiziell betriebene Vergessen durch ein barbarisches Regime, dessen Drohungen immer vernehmlicher werden. Zugleich nutzt die Regisseurin diesen Ausgangspunkt für Rückblenden in das bewegte Leben der emanzipierten Philosophin (Katharina Lorenz), das von Begegnungen mit zahlreichen Künstlern und Gelehrten geprägt war. Das Vergrößerungsglas, das die Portraitierte zum Lesen benutzt, ist deshalb zugleich das Instrument, mit dem Kablitz-Post auf exemplarische Weise bedeutende Episoden einer ungewöhnlichen Frauen-Biographie erhellt.

Dass es sich bei biographischen Arbeiten nur um die „halbe Wahrheit“ handeln könne, gibt die betagte Intelektuelle selbst zu bedenken. Insofern fokussiert Cordula Kablitz-Post ihren Film „Lou Andreas-Salomé, der mit einem stummen Nein beginnt, vor allem auf die Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung. Diese steht ziemlich quer zu den gesellschaftlichen Konventionen der Zeit. 1861 in St. Petersburg als Jüngste neben fünf Brüdern geboren, leidet das widerspenstige Mädchen zudem unter dem frühen Verlust des geliebten Vaters. „Werde die, die du bist“, sagt dieser einmal zu ihr. Zum Mentor und Vaterersatz wird ihr dabei der geistliche Privatlehrer der Familie, der durch seine Übergriffigkeit die Heranwachsende (Liv Lisa Fries) allerdings traumatisiert. Erst ihre spätere Begegnung mit Sigmund Freud (Harald Schrott) in den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts bringt dieses verdrängte Kapitel zur Sprache.

Dazwischen liegen ihre Studienjahre in Zürich, ihre Kämpfe mit der Mutter, eine schwere Lungenkrankheit, vor allem aber ihre einschneidende Begegnung mit den geistesverwandten Philosophen Paul Rée und Friedrich Nietzsche in Rom. Doch noch wehrt Andreas-Salomé die Heiratsanträge ihrer zahlreichen Verehrer, die reihenweise liebeskrank oder verrückt werden, ab. „Kameradschaft, sonst nichts!“, lautet das Credo der Heiratsunwilligen, die nach Freiheit und Unabhängigkeit als Voraussetzungen für eine geistige Vervollkommnung strebt. Apollinisches und dionysisches Prinzip liegen bei ihr, Nietzsche folgend, in einem harten Konflikt, der erst später in ihrer leidenschaftlichen Liebesbeziehung zu dem um fast fünfzehn Jahre jüngeren Dichter Rainer Maria Rilke besänftigt wird.

„Sofern du willst ein Leben haben, raube dir’s.“ Dieses leitmotivische Zitat von Lou Andreas-Salomé beflügelt in weiten Teilen auch Kablitz-Posts Portrait einer unkonventionellen Künstlerin und starken Frau, die für viele Weggefährten zur Förderin und Inspirationsquelle wurde. Allerdings gerät der Regisseurin das Exemplarische dieses emanzipatorischen Widerspruchs gemäß den genretypischen Konventionen arg plakativ. Da muss das Mädchen auf Bäume klettern, als unfreiwillige Konfirmandin im Gottesdienst dem Pfarrer provozierend widersprechen oder als junge Gelehrte in der Begegnung mit Gleichgesinnten druckreif philosophische Sätze aufsagen. Das ist zwar meisten unterhaltend und manchmal sogar (unfreiwillig?) komisch, aber eben auch oberflächlich. Gelungener ist der Film in seiner motivischen Gestaltung. So befördert Lou Andreas-Salomés Analyse bei Freud neben der Bearbeitung ihres Traumas auch die Frage nach ihrer narzisstischen Persönlichkeit. Und ihre Begegnung mit Pfeiffer, die manchmal einem letzten Flirt mit einem seelenverwandten Verehrer ähnelt, akzentuiert neben der „geretteten Erinnerung“ noch einmal ein komplizenhaftes Lehrer-Schüler-Verhältnis.

Deutschland. Dein Selbstporträt

(D 2016, Regie: Sönke Wortmann)

Ein Film wie eine Nationalhymne
von Jürgen Kiontke

Die Deutschen schauen gern in den Spiegel. Jetzt haben sie einen ganzen Film aus dieser Macke gemacht, eine Art Gesamtselfie aller, die da mitmachen wollten. Auf einer Homepage konnte man …

Die Deutschen schauen gern in den Spiegel. Jetzt haben sie einen ganzen Film aus dieser Macke gemacht, eine Art Gesamtselfie aller, die da mitmachen wollten. Auf einer Homepage konnte man Videos hochladen, in denen man zu sich und sonst so Stellung beziehen konnte. Deutschlandmuckel Sönke Wortmann schnitt daraus eine Art Best-of Germany, zunächst ein bisschen à la lustige Unfallvideos auf RTL2.

„Das ist meine Wohnung, penibel eingerichtet, ein bisschen unaufgeräumt, wie mein Seelenzustand“, kommentiert eine lädierte Frauenstimme ihr Video. „So ist es, wenn man von Freunden und Ehemann verlassen wurde. „Dunkel, dunkel, dunkel.“ Ey, super Film. Leider bleibt‘s nicht so lustig. Es ist der 20. Juni 2015, „Deutschland“ ist aufgerufen, diesen Tag bei sich zu Hause zu filmen und einzuschicken.

Es gibt Leute, die machen bei so was mit. Am frühen Morgen ist die Stimmung am besten. Es treten auf: deutsche Mutter, deutsche Ente, deutscher Autofahrer. Und der deutsche Hippie moniert: Wir hätten viel zu viele Gesetze, zum Beispiel sei das Wasserklosett vorgeschrieben.
Was den Deutschen außerhalb sanitärer Einrichtungen wichtig ist: Liebe, Freunde, Kuscheln, Behinderte, 3. Weltkrieg, Sex, Auto und das Wetter. Und Musik: Die ist so penetrant nationalpathetisch, dieses Selbstporträt hätte es auch zu längst vergangenen Zeiten schon getan.

Aus ungewöhnlichen Ecken des Landes stammen viele Filme: Aus dem Trachtenclub, den Vegetariern, dem Knast in Kassel, wo der Justizvollzugsbeamte sagt: „Ich liebe meine Arbeit, die festen Strukturen.“ Auch olle Asylbewerber findet Deutschland gut, blöd ist das mit der Duldung seit 23 Jahren. „Die, die jetzt kommen, sind gleich anerkannt“, schimpft der junge Libanese. Ach, schau mal: Der Ausländer schimpft über Ausländer. Irgendwann geht’s dann mit den Kindern los, den Blonden. – „Was ist für dich Deutschland“? – „Brabbelbrabbel“, es antwortet die Dreijährige. Darf man sowas überhaupt, die Gören so für politische Zwecke verwursten?
„Deutschland ist…“, brüllt der Film ab jetzt bis zum Abspann. 40 Minuten sind‘s noch. „…So toll, so super, so Deutschland!“, schallt’s aus dem Wald.

Da haben dann alle schon Schwarz-Rot-Gold an, und ein bisschen ist es wie am Ende von „Er ist wieder da.“ Ein Film wie eine Nationalhymne. Alle Strophen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 7/2016

A Bigger Splash

(I/F 2015, Regie: Luca Guadagnino)

Feuchte Entladungen auf trockener Insel
von Ricardo Brunn

Idylle bedeutet gemeinsam in schöner Landschaft zu schweigen. Am Strand von Pantelleria zum Beispiel. Mit Sonnenbrille im Haar und Schlammpackung auf der Haut erholt sich Sängerin Marianne (Tilda Swinton) mit …

Idylle bedeutet gemeinsam in schöner Landschaft zu schweigen. Am Strand von Pantelleria zum Beispiel. Mit Sonnenbrille im Haar und Schlammpackung auf der Haut erholt sich Sängerin Marianne (Tilda Swinton) mit ihrem Freund Paul (Matthias Schoenaerts) hier von einer Stimmbandoperation, während die Hitze erbarmungslos jedes störende Geräusch unterdrückt. Doch so wie der dominante Spritzer auf David Hockneys Gemälde „A Bigger Splash“ von 1967 die Flächigkeit des Bildes zerreißt, legt sich Harry Hawkes (Ralph Fiennes) mit Tochter Penelope (Dakota Johnson) im Schlepptau wie ein lärmender Schatten aus der Vergangenheit in Luca Guadagninos gleichnamigem Film über das friedliche Paradies. Einst war Harry – das wird in einigen Rückblenden deutlich – Mariannes Produzent und mit ihr liiert, hat sie später mit dem wortkargen Paul bekannt gemacht. Nun will er sie zurück erobern.

Harry ist bei Guadagnino das, was in Hockneys Gemälde unsichtbar bleibt und dort in der Frage „Wer springt da eigentlich?“ einen analytischen Ausgangspunkt bildet. Als einziger des ungleichen Quartetts kann er vom kühlen Nass nicht genug bekommen und sorgt mit seinen bis zum Exzess wiederholten und sehr beherzten Sprüngen in den Pool zu jeder Tages- und Nachtzeit für kräftige Spritzer. Und so wie Hockneys Bild die Frage aufwirft, in welchem Verhältnis die eruptive Kraft des Spritzers zum strengen quadratischen Format und zur Flächigkeit des Farbauftrages steht, zwingen Harrys verbale Entladungen alle Beteiligten aus der schweigsamen Deckung heraus in die Reflexion über die eingegangenen Beziehungen. Entspricht also die Flachheit in der Darstellung der Umgebung in David Hockneys Gemälde der Wortlosigkeit des Paares Marianne-Paul, so stemmen sich Harrys „Spritzer“ vehement gegen die, in seinen Augen, Flachheit der bürgerlichen Lebenswelt des angeblich glücklichen Paares.

Indem er den Plot und sein Figureninventar im Vergleich zur filmischen Vorlage „Der Swimmingpool“ (FRK/IT 1969; R: Jacques Deray) mit formalen Spritzern augenzwinkernd dekonstruiert, versucht Guadagnino die emotionale Leere und Beziehungslosigkeit ins Zentrum der Betrachtung zu rücken. Zooms und Großaufnahmen des klassischen Kriminalfilms lenken die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf scheinbar wichtige Details, ohne dass diese Spuren weiterverfolgt werden. Auch die ab und an in die Handlung ragenden Bilder von Flüchtlingen lassen sich unter diesem Blickwinkel als Spritzer auf die dekadente Oberflächlichkeit der Protagonisten lesen, die im Angesicht der angespülten Menschen schweigend verharren. Die deutlichsten Spritzer resultieren aus der Verweigerung plakativer erotischer Momente. Swinton hat in ihrem androgynen Wesen nichts mehr von der unnahbaren Romy Schneider und Dakota Johnson ist in der Rolle von Harrys Tochter nicht die typisch laszive Lolita.

Allein, was dem bigger splash durch Reduktion und Konzentration im Bildaufbau von Hockneys Gemälde gelingt, verliert sich bei Luca Guadagnino in allzu gewollter Virtuosität. Der Anlauf für den Sprung ist einfach zu ambitioniert für all die kleinen Spritzer, die einem „A Bigger Splash“ dann zaghaft neckend mit den Fingern ins von der Hitze ausgetrocknete Gesicht schnippt. Die formalen Wege, die Guadagnino immer mit Blick auf das Gemälde und die filmischen Vorlage beschreitet, um sie kurz darauf wieder zu verlassen, werden durch eine mäßige dramaturgische Kraft zusammengehalten. So gegenläufig der Regisseur seine Figuren im Vergleich zur Vorlage von 1969 auch inszenieren will, interessanter wird dadurch kaum etwas. Das Beharren auf der Form beschädigt ihre Dreidimensionalität genauso wie die in den Beziehungsgefügen schlummernde Spannung. Fleißig schweigend und gestikulierend kann Swinton ihrer Figur nur wenig Aura verleihen, wirkt im Gegenteil unfreiwillig schrill bis arg bemüht. Dakota Johnson wiederum fehlt dann doch die Ambivalenz einer selbstbewusst mit der eigenen Sexualität umgehenden Ludivine Sagnier, die Francois Ozons Interpretation des Stoffes („Swimming Pool“; FRK 2003) erst so wunderbar machte. Selbst Matthias Schoenaerts bleibt in der Rolle des melancholischen Dokumentarfilmers ohne jeden (und ihm sonst so eigenen) Charme. Einzig Ralph Fiennes weiß das Maximale aus seiner Rolle herauszuholen, bekommt vom Drehbuch aber auch die besten Vorlagen.

So ist die selbstbewusste Behauptung der Autorenschaft in der Setzung des Regisseurnamens vor den Filmtitel trotz der großartigen Idee, die thematischen Grundzüge des Gemäldes von David Hockney kunstvoll in den Film hinüber fließen zu lassen, etwas großspurig geraten. „A Bigger Splash“ scheitert am Tunnelblick auf die eigene Form. Zu viele thematische Schlenker, zu häufiges Augenzwinkern angesichts des Krimiplots, dazu die recht ausladend inszenierte Dekonstruktion der Figuren und die lose Einbindung der Flüchtligsthematik führen zu rasantem Spannungsabfall. Die Ohrfeige am Schluss, als letzter Reflexion auslösender Spritzer, kommt somit ein wenig auch wie die Erlösung von einen Film, der sich wie ein Sommerurlaub anfühlt, in den man das falsche Buch mitgenommen hat. Da liegt man mit Sonnenbrille im Harr am heißen Strand und nach den ersten fünfzig Seiten wird klar, dass das Buch sich arg dahinschleppen wird und die kommenden Tage recht langweilig werden könnten, wenn nicht schnell eine andere Beschäftigung gefunden wird.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚A bigger Splash‘.

Sonita

(D/IR/CH 2015, Regie: Rokhsareh Ghaemmaghami)

Filmen ohne Distanz
von Marit Hofmann

‚Kannst du mich nicht kaufen?‘ Die Protagonistin blickt direkt in die Kamera, ihre Frage richtet sich an die Regisseurin. Das könne sie nicht, erklärt Rokhsareh Ghaem Maghami dem resigniert in …

‚Kannst du mich nicht kaufen?‘ Die Protagonistin blickt direkt in die Kamera, ihre Frage richtet sich an die Regisseurin. Das könne sie nicht, erklärt Rokhsareh Ghaem Maghami dem resigniert in einer Ecke kauernden Mädchen, denn eine Dokumentarfilmerin soll nun mal die Realität zeigen, nicht in sie eingreifen. Und die Realität ist, dass die 16jährige Sonita zurück nach Afghanistan muss, um mit einem Unbekannten zwangsverheiratet zu werden. Ihr Bruder braucht die 9.000 Dollar, die ihre Familie für sie bekommen soll, um sich selbst eine Braut zu kaufen. So ist ihre Bestimmung, so ergeht es jedes Jahr 15 Millionen Mädchen. Doch in diesem Film läuft gar nichts nach Plan, weder nach dem der Scharia noch nach dem des Filmteams.

In den drei Jahren, in denen die iranische Regisseurin das afghanische Mädchen begleitet, hat sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt, das Maghami nicht unterschlägt: ‚Stell mir andere Fragen‘, fordert Sonita einmal oder: ‚Stell die Kamera aus. Ich will mich hinlegen und mein Kopftuch abnehmen.‘ Sonita ist als Kind auf der Flucht vor den Taliban als Illegale in Teheran zurückgeblieben. In einer NGO-Einrichtung für Flüchtlingskinder hat Maghami die Halbwaise entdeckt und drei Jahre lang mit der Kamera begleitet. Dort fördert man das Mädchen, das Kinderarbeit verrichten muss, erstmals; unter den im Vergleich zu Afghanistan liberaleren Bedingungen hat es den Traum entwickelt, Rapperin zu werden.

Natürlich greift ein Dokumentarfilmer immer schon durch seine Anwesenheit in das Geschehen ein – und hier ist es erstaunlich, in welch intimen Situationen die Kamera dabei ist: als NGO-Mitarbeiter Sonita helfen, ihre Fluchttraumata per Rollenspiel aufzuarbeiten; als die Kinder im inoffiziellen Schulunterricht aufschreiben sollen, wie sie sich ihre Wunscheltern vorstellen (Sonita nennt Michael Jackson und Rihanna); als Sonita in irritierend ausdruckslosem Tonfall mit ihrer Mutter diskutiert, die schließlich aus Afghanistan gekommen ist, um die bereits versprochene Braut gegen ihren Willen heimzuholen; als Sonitas Ersatzmutter, eine Sozialarbeiterin, mit der Mutter verhandelt, die aber auf alle Versuche, Mitgefühl für ihre eigene Tochter zu wecken, nur erwidert, sie selbst habe viel früher heiraten müssen, Tradition bleibe Tradition. Wenn sie 2.000 Dollar erhalte, würde sie Sonita allenfalls noch ein halbes Jahr Gnadenfrist im Iran gewähren. Die NGO kann und will das Geld, das ihrem Schützling langfristig nicht helfen würde, nicht zahlen.

Hier, kurz vor der Abreise von Mutter und Tochter (die Drohung, die Brüder würden sie sonst holen, steht im Raum), fällt die Regisseurin aus ihrer Rolle – und treibt in letzter Minute die 2.000 Dollar auf. Sie wird nun selbst zur Figur ihres eigenen Films und ist öfter im Bild. Selbst der Tonmann kommt mit dem Einwand zu Wort, dass sie die Realität nicht manipulieren dürfe. ‚Wenn wir nicht eingreifen, wäre der Film jetzt zu Ende‘, erwidert Maghami und macht aus ihrer Dokumentation nun auch einen Film über eine (nicht ganz uneigennützige) Filmemacherin, die nicht anders kann, als sich einzumischen – einen Film über Frauen, die nicht handeln dürfen, aber sich selbst dazu ermächtigen. Männer tauchen hier allenfalls als Randfiguren auf.

Die Gnadenfrist nutzt Sonita zum Songschreiben; sie bringt andere Flüchtlingsmädchen dazu, mit ihr in einem trostlosen Hinterhof zu rappen. Musikproduzenten sind weniger begeistert, nicht zuletzt, weil Frauen im Iran nicht erlaubt ist, als Solokünstler aufzutreten. Erst als Sonita einen Song über ihre eigene aktuelle Zwangslage schreibt, beißt ein Produzent an. Das Musikvideo, das sie unter dem Titel ‚Brides for Sale‘ auf Youtube stellt, mag etwas platt geraten sein, aber es entfaltet seine Wirkung und wird ein Erfolg. Das Intro ist geflüstert, ‚damit niemand hört, dass ich vom Verkauf von Mädchen spreche‘. Dann beginnt die traurige junge Frau im Brautkleid und mit einem Barcode auf der Stirn, laut zu werden: Sie singt von Frauen, die stumm bleiben müssen und ‚wie Schafe gehalten‘ werden. Wie kann sie der eigenen Mutter, die sie an einen Unbekannten verkaufen will, ihre ‚Menschlichkeit beweisen‘? ‚Was du mir antust, würden Ungläubige nicht Muslimen antun.‘ Sonitas Overacting im Musikvideo bildet einen Kontrast zur erschütternden Nüchternheit, mit der Mutter und Tochter im Dokumentarfilm um den Verkauf feilschen, und zur beeindruckenden Unaufgeregtheit, mit der die Frauen, die sich für Sonita engagieren, existentielle Themen erörtern.

Doch der Erfolg als Sängerin führt dazu, dass die iranische NGO sie nicht mehr unterstützen darf. Der Film nimmt nun nervenaufreibende Wendungen, wie sie ein fiktionales Drama nicht besser arrangieren könnte. Die Regisseurin wird mehr und mehr zur Mentorin und Dolmetscherin und fädelt ein, dass Sonita ein Musikstipendium in den USA bekommt. Auf den Freudentaumel folgt Höllenangst. Für die Reise braucht Sonita einen Pass, sie hat aber nie auch nur eine Geburtsurkunde besessen. Der einzige Ausweg: Sie muss zurück in ihren Heimatort, um die Papiere zu besorgen. Die Frauen fürchten, dass die Familie sie dort festhalten wird, und planen ein Täuschungsmanöver.

Zu Beginn des Films sieht man die noch kindlich wirkende Sonita auf das ausgeschnittene Bild eines Popstars ihren eigenen Kopf kleben. Am Ende wird der Teenagertraum, auf einer Bühne zu stehen und bejubelt zu werden, zumindest im kleinen wahr. Doch schwere Schuldgefühle der Mutter gegenüber begleiten Sonita noch lange. Man versteht besser, warum sich viele Mädchen nicht einmal zu wehren versuchen. Denn so unwahrscheinlich Sonitas Geschichte ist, täuscht der Film nicht über die realen Verhältnisse hinweg. Auf einen Befreiungsschlag kommen unzählige Tragödien. Wie es der Musikerin ohne das Eingreifen der Filmemacherin ergangen wäre, zeigt Maghami ebenfalls: Sonitas Freundinnen erzählen sich, zu welchem Preis sie verkauft werden (‚3.000 oder 12.000 Dollar, mit oder ohne Möbel‘), beneiden sich, wenn sie wenigstens keinen alten Mann heiraten müssen, und verschwinden irgendwann. Auch ihnen verleihen Film und Song eine Stimme.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 06/2016

Hannas schlafende Hunde

(D/AT 2016, Regie: Andreas Gruber)

Ja zur sentimentoaffinen Rezeption
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein großartiger Film, der im Kleinen – aus der Sicht eines neunjährigen Mädchens – die unfassbare Kontinuität vorführt, mit der die Nazis nach 1945 nicht nur Nazis blieben, sondern wie …

Ein großartiger Film, der im Kleinen – aus der Sicht eines neunjährigen Mädchens – die unfassbare Kontinuität vorführt, mit der die Nazis nach 1945 nicht nur Nazis blieben, sondern wie selbstverständlich in die Opferrolle schlüpften. In Wels, Oberösterreich. Nächste Grenzstadt zu Bayern ist Braunau am Inn. Regisseur Andreas Gruber, in Wels geboren, wohnt auch heute in Wels. Als Junge war er in derselben Clique wie Elisabeth Escher, deren Roman er jetzt verfilmt hat. Seinen größten Erfolg hatte er vor gut 20 Jahren mit der »Hasenjagd. Vor lauter Feigheit gibt es kein Erbarmen«. Bürger in und um Krems an der Donau erlegen mit Begeisterung Halbverhungerte, die aus dem KZ ausgebrochen waren. Die Beute wird aufgetürmt, wie es sich nach einer erfolgreichen Jagd gehört. Über hunderttausend Zuschauer hatte der Film in Österreich.

Zurück zu Hannas schlafenden Hunden. Die Jäger blasen in ihren traditionellen Uniformen wieder ihr Halali, diesmal in der Kirche. Die Töne kenn’ ich doch. SA marschiert, die Reihen fest geschlossen und Reaktion erschossen. Hannas Familie nimmt an der katholischen Kulturpflege teil. Sie will um Gottes Willen nicht auffallen. Das Geheimnis soll bleiben. Ein Familiengeheimnis, 20 Jahre nach dem Krieg. Hannas resolute, aber blinde Oma lüftet es. Hanna ist also Halbjüdin. Wird sie jetzt in der immer noch naziverseuchten Stadt ausgegrenzt werden?

Die Enkelin (Nike Seitz) und die Oma (Hannelore Elsner) befreien sich aus der Opferrolle, aus den Welser Verhältnissen. Und das ist körpernah gespielt. Weit, weit weg sind pädagogische Argumente. Oder die neuerdings für unabdingbar gehaltene Sensationsaufmachung à la ‚Der Jude ist schwul‘. Was in Grubers Film zählt, ist die Nähe, der eindringliche Blick auf die Details, die Beschränkung auf die Wiedergabe von Vorgefundenem – im Guten wie im Bösen. Und was sich einstellt, ist die einzigartige Beteiligung des Zuschauers, die Intensität des Wahrnehmens.– Gut, ich spreche von mir. Aber vielleicht nicht nur. In der Musik ist es doch normal, etwas con sentimento zu spielen und zu empfinden. Also schließe ich meine Eloge auf ‚Hannas schlafende Hunde‘ mit einem Ja zur sentimentoaffinen Rezeption.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 06/2016

Shaandaar – Schlaflos verliebt

(IN 2015, Regie: Vikas Bahl)

Liebeswirren im Prinzregentensaal
von Michael Schleeh

Es ist eine Geschichte der Irrungen und Wirrungen, dabei eine leider allzu profane. Es geht – mal wieder – um eine Hochzeit: Die Königskinder zweier indischer Unternehmerdynastien sollen miteinander verheiratet …

Es ist eine Geschichte der Irrungen und Wirrungen, dabei eine leider allzu profane. Es geht – mal wieder – um eine Hochzeit: Die Königskinder zweier indischer Unternehmerdynastien sollen miteinander verheiratet werden. Das Dumme ist nur: Sie ist ihm zu dick, er ist ihr zu doof. Was sie an Pfunden zuviel hat, ist er an Gehirnzellen zu schlank. Darüber kann auch nicht der Sixpack hinwegtäuschen, den er den gesamten Film über ausstellt. Oder besser: Six-and-a-half-Pack, wie er einmal stolz im Film meint, da es der Hedonist nun geschafft habe, noch eine weitere halbe Muskelrolle seinem gestählten Körper anzutrainieren. Der Vater ist nicht weniger debil: Stets fuchtelt er mit einem goldenen Revolver umher und reißt generell wichtigtuerisch die Klappe auf. Und so überzogen das nun scheint, so ist es auch. Man fühlt sich wie in einem Zirkus, bei dem überall Manege ist. Alles Pailletten und immer Ramtamtam.

Oder wie in Downton Abbey, Staffel 1, der Fernsehserie aus England. Auch dort werden zwei verheiratet (zwei Adlige, die sich allerdings nach und nach lieben lernen) – und passenderweise rettet man derart auch noch das bankrotte Anwesen vor dem Ruin. In ‚Shaandaar‘ befinden wir uns ebenfalls im nördlichen England (ob auch in Yorkshire weiß ich nicht, es sieht zumindest genauso aus), in einem Downton Abbey frappierend gleichenden Anwesen (allerdings plus Disneyisierung und Zuckerwatte, mit noch mehr Türmchen und Lichterketten und manchmal pinkfarbenen Dächern), und die Hochzeit soll den Untergang abwenden. Die eigentlichen Hauptfiguren allerdings sind das von Alia Bhatt und Shahid Kapoor gespielte Außenseiterpärchen, sie die Halb-Schwester der Braut, Alia, er der charmante Wedding-Manager JJ, mit dem einige Konfusion hervorrufenden Namen Jagjinder Joginder. Der Film nun macht vor keinem Kitsch halt, und stellt seine infantile Cartoonisierung enthemmt zur Schau. Außer verschiedenen schwachbrüstigen Animationssequenzen, die stark in das Reich der Fantasie hinüberspielen, werden verschiedene Gefühlszustände – wie so häufig im Bollywood-Masala-Kino – durch instant Visualisierungen anschaulich gemacht. Als sich die beiden verlieben etwa, braust plötzlich ein Comic-Flugzeug durch den Bildkader und fliegt zwei Herzchenschleifen, verschiedene Glitzermomente werden mit künstlichem Sternchenregen garniert, ein befreiend luftiges Gefühl lässt die gestickten Kolibris von Alias Kostüm auffliegen, als wären es echte Vögel. Was bei S.S. Rajamoulis sagenhaftem Epos Baahubali‚ der Höhepunkt einer märchenhaften Stilisierung ist und wie nur konsequent den Sprung des Helden über die Untiefen des Wasserfalls bildmagisch versinnbildlicht, gerät in ‚Shaandaar‘ zur kitschigen Impulskapriole eines sich auf das Dekor beschränkenden Films. Denn der modus operandi der Erzählstrategie ist einzig und alleine die Ironie.

Ohne diese Ironie, die aus dem Film in jeder Szene quillt, wie der Rauch einmal aus Großmutters Ohren, puff puff, wäre ‚Shaandaar‘ nicht ‚Shaandaar‘ geworden. An diesem Film kann man nichts ernst nehmen, weil nichts ernst genommen werden will. Ein Auftauchen aus diesem Abgrund an Belanglosigkeit ist eigentlich nur an einer einzigen Stelle festzustellen, in einem kurzen Moment, in dem man dann den Film uneingeschränkt leiden mag: Es ist eine Song and Dance-Szene kurz vor Ende, in der alle Anwesenden für die übergewichtige Braut einstehen, ihre menschlichen Qualitäten hervorheben, die sie zweifellos hat (auch wenn sie wenig mehr tut als nett zu Lächeln in diesem Film), und dabei den sich auf oberflächliche Lendenreize beschränkenden Beinahe-Gatten so richtig vors Knie zu treten. Würde man sich bei dieser moralischen Keule etwas weniger so vollkommen auf der richtigen Seite fühlen, wäre die Angelegenheit noch schöner; aber viel mehr Komplexität ist hier leider nicht drin. Die IMDb-Wertung, bei der ich generell eher vorsichtig bin, sei hier für einmal zur Referenz erwähnt. Der Film hat gerade mal knapp über 3 Punkte (von zehn) eingeheimst. Da ist es vielleicht angebrachter, auf Abhishek Chaubeys upcoming ‚Udta Punjab‘ zu setzen, auf den von Anurag Kashyaps Phantom Films produzierten Drogenthriller, der gerade bei der indischen Zensurbehörde mächtig Wellen schlägt. Denn dort treffen Shahid Kapoor und Alia Bhatt erneut aufeinander.

Sky – Der Himmel in mir

(F/D 2015, Regie: Fabienne Berthaud)

Weiblicher Selbstfindungstrip
von Wolfgang Nierlin

Ein französisches Ehepaar reist auf Ferienfahrt im offenen Cabrio durch den Westen der USA. Die trockene Steppenlandschaft ist weit und der Himmel strahlend blau. In ihrem Kontrast spiegelt die Natur …

Ein französisches Ehepaar reist auf Ferienfahrt im offenen Cabrio durch den Westen der USA. Die trockene Steppenlandschaft ist weit und der Himmel strahlend blau. In ihrem Kontrast spiegelt die Natur das angespannte Verhältnis des Paares. Während die schöne Romy (Diane Kruger) sich frei und entspannt fühlt und die neuen, überwältigenden Eindrücke genießt, zeigt sich der ebenso gelangweilte wie genervte Richard (Gilles Lellouche) demonstrativ desinteressiert. Überdies ist der gutbürgerliche Beau, der sich viel lieber amüsieren würde, sexuell frustriert. Dass er dies ausgerechnet zwei fremden Damen an der Bar gesteht und dabei seiner Frau auch noch vorwirft, keine Kinder bekommen zu können, wirkt nicht gerade glaubwürdig. Doch immerhin ist er dabei betrunken. Und diese Mischung aus Frust und Suff muss bei dem gutmütigen Macho schließlich für einen Vergewaltigungsversuch an seiner Frau herhalten. Doch Romy wehrt sich und schlägt zu und flüchtet anschließend kopflos in die Nacht.

Fabienne Berthauds Film „Sky“ mit dem kitschigen deutschen Zusatztitel „Der Himmel in mir“ hat daraufhin seine stärksten Momente. Allein unterwegs, getrieben von Schuld und Angst, wirkt Romy förmlich ausgesetzt: Von Polizisten schikaniert und von fremden Männern angemacht, erlebt sie in einem heruntergekommenen Motel einen Alptraum. Mit Reminiszenzen an Edward Hoppers „Nighthawks“ und Bruno Dumonts „Twentynine Palms“ inszeniert die französische Regisseurin, die auch als Schriftstellerin arbeitet, einen düsteren Trip voller unterschwelliger Gefahr, Einsamkeit und latenter Gewalt. Hier und an anderer Stelle taucht sie ein in den „klimatisierten Alptraum“ eines anderen Amerika, das an seinen Rändern bestimmt wird von sozialer Verwahrlosung, Armut, Alkoholismus, rauer Männlichkeit und den Schicksalen illegaler Einwanderer.

Als Romy, von Schuldgefühlen geplagt, auf einer Polizeistation erfährt, dass Richard ihre Attacke überlebt hat, gleicht dies einer Absolution, die ihren Freiheitsdrang neu und mit allen Konsequenzen entfacht. Sie trampt nach Las Vegas, versucht sich im Bunny-Kostüm als Touristenattraktion und verliebt sich schließlich in den kriegsversehrten, ziemlich verlebt wirkenden Loner Diego (Norman Reedus), der von vornherein sagt er „vögele nur Huren“ und wolle keine Beziehung. Trotzdem zieht Romy zu dem todranken Park Ranger in die Einöde, entwickelt Häuslichkeit, findet einen Job als Bedienung und wird schließlich auch noch schwanger.

Fabienne Berthauds Roadmovie über eine weibliche Selbstfindung und einen schmerzlichen Neubeginn mündet also in überraschend traditionellen Bahnen. Auf ihrer Suche nach Liebe und Mutterglück gewinnt die Heldin Mut und Stärke, während sich die Männer, eindimensional und klischeehaft als selbstsüchtige Machos oder romantische Abenteurer gezeichnet, in ihre Opferrolle fügen müssen. Ihr von Kampf und Gewalt bestimmtes Dasein hat in Berthauds Sicht keine Zukunft; dagegen weist das mit Freiheitssehnsüchten und Naturmystik angereicherte Frauenbild, verkörpert von einer überraschend furchtlos und Instinkt geleiteten Protagonistin, geradezu ins Himmlische, Überzeitliche.

Auge um Auge – Out of the Furnace

(USA/GB 2013, Regie: Scott Cooper)

Peace doesn't live here anymore
von Nicolai Bühnemann

Amerika ist im Krieg. Doch das rostbraune Kleinstadtamerika (kein mittelständisches Suburbia, sondern eine Arbeiterkleinstadt mit Stahlwerk, die damit eh schon irgendwie aus der Zeit gefallen scheint) in „Out of the …

Amerika ist im Krieg. Doch das rostbraune Kleinstadtamerika (kein mittelständisches Suburbia, sondern eine Arbeiterkleinstadt mit Stahlwerk, die damit eh schon irgendwie aus der Zeit gefallen scheint) in „Out of the Furnace“ ist so hermetisch, dass der Krieg im Irak ebenso gut auf einem anderen Planeten stattfinden könnte. Evident wird dieser Krieg am anderen Ende der Welt zunächst nur anhand der Narben, die Veteran Rodney Baze Jr. (Casey Affleck) – nicht nur auf dem Körper – trägt. Rodney will nicht im Stahlwerk arbeiten wie sein Bruder Russell (Christian Bale) und ihr Vater vor ihnen. „Fuck the mill,“ sagt er einmal wutentbrannt zu seinem Bruder. Das Aus-der-Familie-Fallen als endgültiges Aus-der-Welt-Fallen, noch aus dem letzten sozialen Zusammenhang (und sei er noch so patriarchal). Im amerikanischen Kino steht dieser Rodney in der Tradition der Vietnamsoldaten Travis Bickle und John Rambo, die nachhause zurückkommen nur um festzustellen, dass es „Zuhause“, gedacht einfach nur als ein Ort jenseits des ewigen Krieges, für sie nicht mehr gibt. Also kämpft Rodney weiter. Mit blanken Fäusten. Mann gegen Mann. Für Geld, um das es hier längst nicht mehr geht, für niemanden. (Oder auch: das Geld, das scheinbar alles bestimmt, das Schicksal (fast) jeder Figur besiegelt, ist nicht mehr das, wofür man kämpft und tötet, es ist vielmehr ein Vorwand, weiter zu kämpfen und weiter zu töten.)

Und wie in den im Horror-Kostüm gewandten amerikanischen Kriegsfilmen der Siebziger Jahre, „The Texas Chainsaw Massacre“, „The Hills have Eyes“ oder „Dawn of the Dead“, verläuft die frontier, die Front im Krieg zwischen Barbarei und Zivilisation (aber: was heißt das schon?) mitten durch das amerikanische Hinterland und ist maximal durchlässig. Jenseits von ihr, in den Bergen, in die die Polizei sich nur in gezielten SWAT-Team-Vorstößen traut, herrscht Harlan DeGroat (Woody Harrelson). Gleich zu Beginn demütigt und verprügelt er im Autokino eine Frau, während auf der Leinwand vor ihm die kalten, blaustichigen Bilder eines Films laufen, „The Midnight Meat Train“, der davon erzählt, wie ein Projekt der Zivilisierung in eine neue, durchorganisierte Form der Barbarei und des Menschenschlachtens führt. „I got a problem with everybody,“ sagt dieser DeGroat an einer Stelle und hat damit sein Verhältnis zur Welt erschöpfend beschrieben.

An Zivilisierungsversuchen mangelt es nicht. Die (freilich weniger gewichtige) Hälfte des Figurenensembles erfüllt nur die Funktion, den Versuch zu unternehmen, die andere Hälfte zu befrieden. Doch ob Frau (Zoe Saldana), Gesetzeshüter (Forest Whitaker) oder einfach nur etwas besonnener Gangster (Willem Dafoe), das Es der männlichen Gewalt, die Logik des Krieges, will kein beschwichtigendes Über-Ich zulassen. Nicht der Krieger wird zum Arbeiter, sondern der Arbeiter zum Krieger. Die Rache, auf die das hinausläuft, ist alles andere als eine Affekthandlung. Sie ist die Tat eines Mannes, der sehenden Auges, beinahe bedacht in sein Verderben rennt, weil er nicht anders kann, als die Spirale der Gewalt eine Runde weiter zu drehen, seinen Platz einzunehmen im kriegerischen Patriarchat. Wie einsam das macht, zeigt die letzte, als Epilog angelegte Einstellung. Amerika ist im Krieg und für diejenigen, die den Krieg nicht hinter sich lassen können, gibt es in „Out of the Furnace“ keinen Trost. Gerade deshalb ist dieser brillant besetzte, durch und durch düstere Film Schlechte-Laune-Kino der wuchtigsten Sorte.

Rabid Dogs

(I 1974, Regie: Mario Bava)

In der Hölle der gedemütigten Frauen
von Nicolai Bühnemann

Von einer Sichtung von Mario Bavas „Rabid Dogs“ (OT: ‚Cani arrabbiati‘) vor etlichen Jahren ist mir vor allem das Ende des Films im Gedächtnis geblieben. Im Jahr 1974 greift dieser …

Von einer Sichtung von Mario Bavas „Rabid Dogs“ (OT: ‚Cani arrabbiati‘) vor etlichen Jahren ist mir vor allem das Ende des Films im Gedächtnis geblieben. Im Jahr 1974 greift dieser fiese kleine Thriller der Welle von Twist Ending-Filmen ab der zweiten Hälfte der Neunziger Jahre vor. Wie in „The Sixth Sense“, „Fight Club“ oder „The Others“ ist auch hier am Ende alles anders als es schien, wird den Zuschauenden durch eine finale Volte der Boden unter den Füßen weggerissen, die ganze bisherige Identifikationsstruktur über den Haufen geworfen. Es ist eine wahre Glanzleistung, dass das mit den sehr beschränkten Mitteln eines niedrig budgetierten B-Movies für mich – zumindest damals beim ersten Sehen – ebenso gut funktionierte wie mit denen mittelgroßer Hollywood-Produktionen 25 Jahre später. Dieses Ende, an dem es auf einmal keine Unschuldigen mehr gibt und wir einsehen müssen, dass wir unseren moralischen Einsatz gut 90 Minuten lang auf das falsche Pferd gesetzt haben, hat wohl auch maßgeblichen Einfluss auf mein Verständnis der nihilistischen Weltsicht des Exploitation-Kinos gehabt, dem der Glaube an das Gute im Menschen sehr gründlich abhanden gekommenen ist.

Nach dem Überfall auf die Lohnkasse eines Pharmaunternehmens können die drei Räuber Dottore (Maurice Poli), Trentadue (George Eastman) und Bisturi (Don Backy) mit einer Geisel, Maria (Lea Lander), entkommen. An einer Kreuzung steigen sie mit vorgehaltener Waffe in das Auto von Riccardo (Riccardo Cucciolla) ein, der ein krankes schlafendes Kind auf dem Rücksitz hat, und zwingen ihn, gemeinsam mit ihnen zu fliehen.

Es liegt beinahe auf der Hand, dass das – sehr buchstäblich – desillusionierende Ende des Filmes, der dieser Tage bei Tiberius Film in einer monumentalen, aber leider nicht ganz unproblematischen – dazu später mehr – 5-Disc-Edition erscheint, bei einer wiederholten Sichtung an Schlagkraft verliert. Umso erfreulicher, dass ich fast vergessen hatte, was für ein Meisterstück in inszenatorischem Minimalismus der Film, der auf dieses Ende zusteuert, doch ist. Aus der Not der Beschränkungen des Budgets wie des Schauplatzes des Films, der zum größten Teil in einem einzigen Auto spielt, weiß der hier bereits am Ende seiner Karriere stehende Genre-Maestro Bava eine Tugend zu machen, indem er die Gesichter seiner Darsteller_innen zum Hauptschauplatz macht. Der treibende Score von Stelvio Cipriani setzt zur äußersten Begrenzung des Raumes keinen Kontrapunkt, sondern unterstreicht ihn noch durch die kontinuierliche Variation einer einzigen Melodie. Das in rudimentärer Psychologie entwickelte Drama zwischen dem Figurenquintett ist keines, das unter der Oberfläche brodelt, es vollzieht sich vielmehr immer auf der Oberfläche ihrer zunächst nur schweiß-, später teils auch blutüberströmten Gesichter.

Da ist das verzweifelte, angstverzerrte Antlitz von Lea Lander. Da sind die irren, bärtigen, lüsternen Fratzen von Don Backy und George Eastman, die immer wieder so fies lachen, wie nur die Bösen in italienischen Genre-Filmen fies lachen können. Ihre Rollennamen heißen übersetzt Klinge nach der Mordwaffe of choice der einen Figur und 32 nach der Penislänge der anderen. Auch der glatt rasierte, sonnenbebrillte Maurice Poli hat einen sprechenden Namen: Er ist der Dottore, der Verstand, der die Aufgabe hat, die überschäumend maskuline, sadistische Energie von Schwert und Schwanz im Zaum zu halten, ohne dabei selbst zu nachsichtig mit den beiden Geiseln zu werden. Schließlich die undurchsichtigste der Figuren, der schnurrbärtige Riccardo Cucciola, für den die Rolle der bürgerlichen Anständigkeit eben das ist: eine Rolle.

Meisterlich eingesetzt sind die Mittel von Close-Up und Zoom. Einmal zoomt die Kamera von der Augenpartie Lea Landers durch das offene Autofenster zurück in die Halbtotale, nur um einige Einstellungen später den umgekehrten Weg zu beschreiten, zurück ins Innere des Autos, zurück auf die Augen, in denen längst keine Hoffnung auf einen Ausweg mehr schimmert. Zur Zwangssituation dieses Innenraums gibt es in „Rabid Dogs“ kein Außen mehr. In dieser Szene werden außerhalb des Autos die Leichen entsorgt, die während der Fahrt anfielen. Auch die größte Demütigung für die Lander-Figur erfährt sie außerhalb des Autos. Als sie eine Pinkelpause für einen Fluchtversuch nutzt, wird sie schließlich von Trentadue und Bisturi gestellt und dazu gezwungen, ihre Notdurft im Stehen und unter dem geilen Gelächter der beiden Männer zu verrichten.

Und dann ist da eben das Ende, das uns nackt zurücklässt, aller Illusionen und Hoffnungen beraubt, allein in einer feindlichen Welt. Vielleicht besteht der eigentliche Twist dieses Endes darin, dass es den Zuschauer in die Rolle des wehrlosen weiblichen Opfers drängt. Wenn der Abspann einsetzt, meint man das fiese Gelächter zu hören, das nun uns gilt, die wir entblößt vor diesem Film stehen.

Zur Blu-ray: Die Edition, mit der Tiberius Film „Rabid Dogs“ jetzt wieder zugänglich macht, beinhaltet das Original und das 2015 in französisch-kanadischer Koproduktion entstandene, original „Enragés“ betitelte Remake auf zwei Blu-rays und drei DVDs. Eigens für die Box angefertigt wurde ein Video-Intro mit Marcus Stiglegger. Ferner gibt es einen Audiokommentar von Tim Lucas sowie einige, bereits an anderer Stelle erschienene Features, die unter anderem Aufschluss über die turbulente Entstehungsgeschichte des Films geben, dessen Produktionsfirma noch vor Abschluss der Dreharbeiten pleite ging, und der so erst 1997, 23 Jahre nach dem Dreh fertiggestellt und veröffentlicht werden konnte. Das reich bebilderte Booklet bietet einen Text von Peter Blumenstock, der an der ersten DVD-Veröffentlichung des Films beteiligt war sowie einen von Thorsten Hanisch über George Eastman. Außerdem erfährt man etwas zu der alternativen Version des Films, für die Mario-Sohn, „Dogs“-Regieassistent und „Pop-Auteur“ (Eskalierende Träume) Lamberto Bava gemeinsam mit dem Produzenten Alfredo Leone 1996 neue Szenen drehen ließ, die Musik und das Ende des Films veränderten und ihn unter dem Titel „Kidnapped“ herausbrachten. Es ist schade, dass sich diese Version nicht in der Edition findet. Ebenso bedauerlich, aber wohl nicht zu vermeiden, ist, dass kein einheitliches HD-Master vorliegt und die Bildqualität so immer wieder und teilweise in ein und derselben Einstellung erheblich schwankt. Einen echten Fauxpas hingegen erlaubt sich das Label, was das Bildformat anbelangt. Das alte europäische Breitbildformat von 1,66:1 wurde auf 1,78:1 zurechtgestutzt, um minimale schwarze Balken an den Bildrändern heute üblicher Fernseher zu vermeiden. Eine Unart, die schon die Freude an den ansonsten formidablen Veröffentlichungen der Roland Klick-DVD-Box vorletztes Jahr oder der Blu-ray von Ulli Lommels „Die Zärtlichkeit der Wölfe“ erheblich schmälerte.

Zum Remake: Gerade bei solchen Klassikern, die sich im filmischen Minimalismus übten, in der äußersten Beschränkung von Schauplatz, Figurenpsychologie und -ensemble, machen es sich die Remakes, die die Stoffe für die Sehgewohnheiten eines nachgewachsenen Publikums updaten sollen, zur Aufgabe zu verkomplizieren, zu psychologisieren (vielleicht zeigt sich darin auch, wie sehr die Sehgewohnheiten inzwischen auch im Kino durch den Boom des neueren US-amerikanischen Qualitätsfernsehens beeinflusst werden). Das war etwa bei John Carpenters bereits 2004 neu aufgelegtem Meisterwerk „Assault on Precinct 13“ (1976) so und das ist bei „Enragés“, dem Regiedebut von Éric Hannezo, nicht anders. Also gibt es eine in rot getauchte Backstory der Gangster, die genau nachzuvollziehen ich nicht die geringste Lust verspürte. Also verfährt sich die Gruppe gegen Ende des Films in einem nächtlichen „Fest des Bären“, was schließlich auch den Bodycount erheblich in die Höhe treibt und den Film um einen kleinen Home Invasion-Twist anreichert. Also werden die Gesichter-im-Auto-Close-Ups, aus denen das Original maßgeblich bestand, auf das Notwendigste reduziert. So schlimm wie sich das vielleicht anhört, ist es freilich nicht, etwas mehr als das stylische Nichts von einem Film, das ich nach den ersten Einstellungen erwartete, ist „Enragés“ dann doch geworden. Jedoch treibt mich immer gerade bei grundsoliden Neuverfilmungen, die es doch nicht schaffen, aus einer neuen Zeit und einem anderen Schauplatz Kapital zu schlagen, die Frage nach ihrer Existenzberechtigung um. Ich halte es da eher mit Sidney Prescott und ihrer ersten Regel für Remakes: „Don’t fuck with the original.“

The Lobster – Eine unkonventionelle Liebesgeschichte

(GR/GB/NL 2015, Regie: Yorgos Lanthimos)

Animal Love
von Marit Hofmann

Ist das Land erst ruiniert, filmt es sich ganz ungeniert. Die wagemutigsten und gewitztesten europäischen Filme kommen derzeit von griechischen Regisseuren. Das beweist neben Athina Rachel Tsangari („Chevalier“) nun ein …

Ist das Land erst ruiniert, filmt es sich ganz ungeniert. Die wagemutigsten und gewitztesten europäischen Filme kommen derzeit von griechischen Regisseuren. Das beweist neben Athina Rachel Tsangari („Chevalier“) nun ein weiteres Mal Yorgos Lanthimos („Dogtooth“) – mit seinem ersten englischsprachigen Film.

„The Lobster“, der hier zunächst nur auf DVD erschienen ist, kommt nun kurzfristig doch noch ins Kino – und hat mit seinen imposanten, penibel arrangierten Bildkompositionen in kühlen Farben die große Leinwand verdient. Wie Tsangaris „Attenberg“ ist auch diese anthropologische Studie mit der Tierwelt verknüpft: In der nahen Zukunft, die „The Lobster“ gar schröcklich ausmalt, haben Menschen, die keinen Ehepartner finden, ihr Recht auf ein Leben in der City genannten Zivilisation verwirkt und werden in ein Tier ihrer Wahl verwandelt. (Woraufhin es vor Hunden wimmelt, aber auch ein Flamingo läuft einmal, von den Menschen unbeachtet, durchs märchenhafte Bild.) Wer wie der Protagonist David (als zukünftiger Hummer erstmals mit Bierbauch: Colin Farrell) von seiner Gattin verlassen wurde, landet in einem Hotel genannten Umerziehungslager, in dem ihm 45 Tage Zeit bleiben, unter den anderen (namenlos bleibenden) Singles eine Partnerin zu finden. Dabei sollen absurde tanzschulkniggeartige Vorführungen das Leben im Doppelpack schmackhaft machen.

Wo in der Gegenwart der Ausgangspunkt dieser Dystopie liegt, ist nicht schwer zu erraten: „Die Leute glauben, dass sie immer in einer Beziehung leben müssen“, sagt der Regisseur. Als gescheitert gelte, wer das nicht könne. Aus der Angst heraus, allein zu bleiben – beziehungsweise als Hummer im Kochtopf zu landen -, greifen die Singles im Film zu Täuschungsmanövern. Nicht Gefühle, sondern Übereinstimmung in einem gemeinsamen Merkmal (etwa Kurzsichtigkeit, Unverfrorenheit oder Neigung zum Nasenbluten) ist in dieser Welt Voraussetzung dafür, seine „bessere Hälfte“ zu finden. Als Präventionsmaßnahme gegen Ehekrisen bekommen Paare Kinder zugewiesen.

Die Off-Erzählerin von Davids Geschichte ist die Dame seines Herzens, der er tragischerweise erst begegnet, als er die Partnersuche aufgegeben hat und zu der illegalen im Wald lebenden Widerstandstruppe, den Loners, übergelaufen ist. Es ist die Flucht von einer Hölle in die andere: Bei den Loners, die eine tierisch toughe Léa Seydoux anführt, ist Masturbation zwar anders als im Hotel ausdrücklich erlaubt, dafür sind Flirten, Küssen und Geschlechtsverkehr strengstens verboten und werden nicht minder brutal bestraft. Während die Singles im Hotel und die Paare in der City eher steife Konversation betreiben und unnützes Wissen austauschen, führt einzig das heimliche Liebespaar in diesem Film leidenschaftliche Gespräche – und zwar in einer eigens ersonnenen Gebärdensprache. Für echte Gefühle ist kein Platz in dieser ganz und gar entsolidarisierten Welt; der einzige Ausweg, den die Liebenden sehen, ist ein Gewaltakt.

Am Ende geht das Licht aus. Und wenn du im wahrsten Sinne des Wortes geblendet aus dem Kino kommst, siehst du einen vorbeilaufenden Hund mit ganz anderen Augen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

nachtmahr

Der Nachtmahr

(D 2015, Regie: Akiz (Achim Bornhak))

Von Gnomen und Kugelmenschen
von Nicolai Bühnemann

Der erste Verweis auf die Filmgeschichte kommt schon vor den ersten Bildern. Einige Texteinblendungen warnen vor epileptischen Anfällen, aber: „Wie auch immer… Dieser Film sollte laut abgespielt werden.“ Mit dem …

Der erste Verweis auf die Filmgeschichte kommt schon vor den ersten Bildern. Einige Texteinblendungen warnen vor epileptischen Anfällen, aber: „Wie auch immer… Dieser Film sollte laut abgespielt werden.“ Mit dem Satz: „This film should be played loud“ begann auch Abel Ferraras „Driller Killer“ von 1979. Nur auf den ersten Blick scheint es schwer, den amerikanischen Film über einen frustrierten New Yorker Künstler (Abel Ferrara), der zum Bormaschinenmörder wird, und den deutschen über den heftig das Nachtleben der Stadt auskostenden Berliner Teenager Tina (großartig fragil: Carolyn Genzkow), der immer wieder ein sonderbarer Gnom erscheint, zusammenzudenken. Bei beiden Filmen handelt es sich um die Werke relativ unerfahrener Filmemacher – Ferrara hatte vor „Driller Killer“ nur einige Shorts und einen Porno mit dem wundervollen Titel „9 Lives of a wet Pussy“ gedreht, „Nachtmahr“-Regisseur und -Autor Akiz lediglich drei Kurzfilme -, für die das Kino zum Möglichkeitsraum wird, dessen Ausdrucksformen begierig, fieberhaft erprobt werden – und das Genre zu einer Art Repertoire, aus dem man sich nimmt, was man zum Verwirklichen einer jeweils sehr eigenen Vision benötigt. In beiden Filmen ist die Musik (jeweils live eingespielt, hier Techno auf diversen Partys, dort Punk, der beständig von einer in der Nachbarwohnung spielenden Band durch die Wände dröhnt), weit über die Funktion eines herkömmlichen Soundtracks hinaus, Ausdruck des delirierenden Lebensgefühls der Protagonisten und zugleich eng mit der Geschichte der Stadt, in der sie leben, verbunden. Schließlich geht es in beiden Filmen um einen Zustand des Verlorenseins in der großen Stadt, zeigen beide Filme relativ schonungslos, wie ihre Protagonisten immer weiter durch das soziale Raster ihres urbanen Umfelds fallen. Wo aber der Driller Killer nur Tod und Verderben bringen kann, findet Tina letztendlich die zarte und zärtliche Utopie eines Auswegs aus Einsamkeit und Entfremdung.

Doch damit nicht genug: „Der Nachtmahr“ schmeißt zum Ferrara noch den Spielberg, zu der denkbar düsteren Parabel über den Mann, dessen Fixierung auf den Bohrmaschinen-Phallus mit Nabelschnur-Kabel wohl auch bedeutet, dass er nicht erwachsen werden kann, das bittersüße Märchen über das Ende der Kindheit. Der Nachtmahr erinnert von Ferne her an E.T. und wird wie dieser auch in einem Krankenhaus landen. Diesen Bezug festigt der Film noch, indem er in Tinas Teenager-Zimmer eine E.T.-Puppe rumstehen lässt, wie sie auch in meinem Achtziger Jahre-Kinderzimmer stand. „Driller Killer“ meets „E.T.“? Und das in einem unabhängig und unter Guerilla-Bedingungen, mit Mini-Budget gedrehtem deutschen Coming of Age-Horrorfilm? Wenn das kein Grund zum Aufhorchen ist!

Nach den Texteinblendungen also begegnen wir Tina dort, wo sie zunächst gerade im ekstatischen Außersichsein ganz zu sich kommen kann: auf der Tanzfläche. Zuckende junge Körper im Rhythmus wummernder Bässe und blitzender Stroboskop-Gewitter. Ihre Freundin Babs (Sina Tkotsch) liefert zu den wilden Nächten die passenden Drogen. Nur mit ihrem Schwarm Adam (Wilson Gonzalez Ochsenknecht) will es nicht so richtig vorangehen, weil er sich ihr gegenüber bedeckt hält. Beim Pinkeln auf einer illegalen Poolparty erscheint Tina zum ersten Mal eine eigenartige Kreatur, die sie fortan immer wieder sehen wird, vorwiegend in der Villa, die die Siebzehnjährige zusammen mit ihren Eltern bewohnt. Die Eltern reagieren besorgt, aber durch und durch hilflos auf den sich scheinbar immer weiter verschlimmernden psychischen Gesundheitszustand ihrer Tochter. Sie engagieren einen Psychiater, der tut, was Psychiater eben tun: Er verschreibt Pillen, rät, sollte sich Tinas Zustand nicht bessern, zur Einweisung in eine Fachklinik. (Es ist eine der Ambivalenzen des Films, dass gerade der aalglatte, Tina gegenüber relativ überheblich auftretende Arzt ihr letztendlich den Tipp gibt, das Wesen anzusprechen, durch den der Plot eine entscheidende Wendung nimmt.)

Von den möglichen Entwicklungen, die seine Geschichte nehmen könnte, wählt Akiz zielsicher die interessanteste. Dass es sich bei Tinas Begegnungen mit dem Wesen um Albträume handelt, wie es ja bereits der Titel suggeriert, oder um eine drogeninduzierte Psychose, sind Lesarten, die der Film eine Weile lang zulässt, letztlich aber verwirft. Vielmehr kommt es zu einer zärtlichen Annäherung zwischen dem Mädchen und dem Nachtmahr, der sich, seinem für Tina zunächst bedrohlichen Äußeren zum Trotz, als ziemlich verfressener, aber durch und durch gutmütiger Geselle erweist. Wo Tina nicht nur ihre Familie, sondern auch ihre Feier-Clique zunehmend ratlos stimmt, alle ihre Bindungen zu schwinden scheinen, bildet das Wesen bald ihren letzten Bezugspunkt.

Filmlöwin Sophie Charlotte Rieger schreibt über die zunächst entsetzten Reaktionen des Mädchens auf das Wesen und die folgende Annäherung: „Der Ekel und die Angst vor dem unbekannten Wesen steht für die pubertäre Entfremdung des Mädchens* mit sich selbst. Der Nachtmahr ist all das, was sie nicht sein darf: Gefräßig, hässlich und kindlich… Die Liebe zu dem unansehnlichen Wesen ist die Liebe Tinas zu sich selbst, zu jenen Persönlichkeitsanteilen, die sie ängstigen, weil sie nicht den gesellschaftlichen Erwartungen an eine junge Frau entsprechen.“ Daraus folgt, dass Tina, in dem Maße, wie sie sich von ihrem Umfeld entfremdet, immer mehr zu sich selbst findet, dass in ihrer Freundschaft zu dem Wesen zusammenwächst, was zusammen gehört, bewusste und verdrängte Facetten ihrer Persönlichkeit langsam eine Einheit bilden.

Die durchweg starke Inszenierung entwickelt dann auch besondere Intensität, wenn sie die harsche Trennung des mühsam ausgesöhnten, nun einheitlichen Wesens zeigt. Dass die beiden auch ein Nervensystem teilen, sie blutet, wenn das Wesen sich schneidet, wäre eigentlich gar nicht nötig gewesen, um Akiz‘ psychoanalytische Konzeption dieses Doppelwesens, das Tina und der Nachtmahr bilden, zu verstehen.

Das Ende denkt die Abkehr von einer Gesellschaft, die Tina und ihre teenage angst in einem fort pathologisieren, den Weg hin zu sich selbst, dann bis in die letzte Konsequenz fort. Wie Platons Kugelmensch, dem es schlussendlich vergönnt ist, zu seiner Ureinheit zurückzukehren, fahren Tina/Nachtmahr im Auto davon und lassen uns in unseren Kinosesseln zurück – entfremdet von den „dunkleren“, verdrängten Anteilen unserer Selbst und mit dem Eros als einzigem Trost.

Dies ist eine überarbeitete, längere Version eines Textes, der zuerst im Perlentaucher veröffentlicht wurde.

Hier und hier gibt es zwei weitere Kritiken zu ‚Der Nachtmahr‘.

Caracas, eine Liebe

(MEX/VEN 2015, Regie: Lorenzo Vigas)

So sehen Sieger aus
von Nicolai Bühnemann

Scharf ist der Hinterkopf eines Mannes im Bild zu sehen, während vor ihm, unter ihm, der auf einer Brücke steht, unscharf der Verkehr die Autobahn entlang fließt. „Desde allá“ lautet …

Scharf ist der Hinterkopf eines Mannes im Bild zu sehen, während vor ihm, unter ihm, der auf einer Brücke steht, unscharf der Verkehr die Autobahn entlang fließt. „Desde allá“ lautet der Titel des ersten langen Spielfilms von Regisseur Lorenzo Vigas, was soviel bedeutet wie „von der Ferne aus“ (über den dämlichen, vage exotistischen deutschen Verleihtitel „Caracas – Eine Liebe“ sei von hier an gnädig geschwiegen). Als entfernten Beobachter lernen wir diesen Mann kennen. Er taucht durch die in der Unschärfe gesichtslosen Menschenmengen der Straßen von Caracas, ohne sich nass zu machen. An einer Ampel kommt er einem jungen Mann etwas näher als er müsste, beschnuppert ihn. Wenig später setzt er sich im Bus neben ihn, fordert ihn, ein Bündel Geldscheine vorzeigend, auf, ihn in seine Wohnung zu begleiten. Dort angekommen, wahrt er seine Distanz. Benutzt das junge Fleisch nur als lebendige Wichsvorlage. Statt Körperkontakt nur begehrende Blicke von der Ferne des Sessels aus.

Armando (Alfredo Castro) ist ein relativ wohlhabender Mann in den Fünfzigern. Er lebt einsam und isoliert, scheint – so macht es schon die Exposition (etwas zu) deutlich – unfähig, menschliche Nähe zuzulassen, und sei sie auch rein körperlich. Betont distanziert ist auch das Verhältnis zu seiner Schwester, die er in einer Szene zu Beginn trifft. Im Gespräch geht es um ihren Vater, der für den weiteren Verlauf der Handlung eine gewisse Rolle spielt, jedoch ohne dass er jemals im Film zu sehen wäre.

Auf seinen Streifzügen durch die venezolanische Hauptstadt lernt Armando den jugendlichen Kleinkriminellen Elder (Luis Silva) kennen. Der macht es ihm zunächst schwerer als er es gewohnt ist. In seiner Wohnung angekommen, schlägt er ihn nieder, macht sich mit seinem Portemonnaie davon. Dennoch sucht Armando ihn wieder auf und es entwickelt sich eine Beziehung zwischen den beiden, in der sich die Verhältnisse von Macht und Begehren langsam zu verschieben beginnen, als Elder anfängt, sich jugendlich ungestüm in den älteren Mann zu verlieben. Kann Armando es schaffen, die sonst übliche Distanz zu den Objekten seines Begehrens aufzugeben? Oder verfolgt er am Ende in der Beziehung zu dem jungen Mann einen ganz anderen Plan?

Dem erfahrenen Schauspieler Alfredo Castro stellt der Film mit Luis Silva einen Laien an die Seite, der wie die Figur, die er spielt, aus den Armenvierteln von Caracas stammt. Der Regisseur betont, dass er nicht wollte, dass die beiden Darsteller sich vor Drehbeginn kennen lernen und hat den Film außerdem größtenteils chronologisch gedreht, damit sich die Dynamik der Beziehung der beiden Protagonisten, in der sich eine Vater-Sohn-Bindung mit einem amourösen Verhältnis vermengt, direkt vor der Kamera entwickeln konnte. Dazu findet Kameramann Sergio Armstrong im extrabreiten Scope-Format von 2,66:1 Bilder, die in ihrer Stil- und Geschmacksicherheit, in ihrer Betonung der Distanz zwischen den Figuren, etwa durch die Relation von Schärfe und Unschärfe, doch manchmal etwas selbstverliebt wirken.

Die Lesart des Films, dass es letztlich um einen Racheplan geht, ging mir erst im Gespräch mit Kritikerkollegen nach der Pressevorführung auf, ist aber durchaus plausibel. Damit nimmt der Film auch einen leichten Dreh in Richtung Genre, dem die Beziehung zwischen älteren Männern und jugendlichen Outcasts ja nie fremd war. Wobei diese Konstellation hier nicht nur ins Queere gewendet, sondern auch dadurch variiert wird, dass es dem älteren Mann hier mitnichten darum geht, seinen Counterpart zu retten, wie einst Robert De Niro die blutjunge Jodie Foster.

Einerseits zeigt diese Parallele, wie wenig Aufhebens der Film löblicherweise von der sexuellen Orientierung seiner Hauptfigur macht. Andererseits wirkt er gerade dort arg schematisch, wo er auch die Homophobie thematisiert, die gerade Elder in einer machistisch geprägten Gesellschaft entgegenschlägt. Die Mutter, die ihren Sohn wild schreiend als „Schwuchtel“ tituliert und aus dem Haus wirft, die einstigen vermeintlichen Freunde, die mit angewiderten Blicken die Straßenseite wechseln, all das wirkt wie auf einer Themenstrichliste abgehakt.

Ganz uninteressant ist „Desde allá“ trotz seiner Schwächen sicherlich nicht geraten, aber warum nun ausgerechnet solch ein Film den goldenen Löwen in Venedig abräumt, erschließt sich mir trotzdem nicht.

Ma Ma – Der Ursprung der Liebe

(S/F 2015, Regie: Julio Medem)

Ode an das Leben
von Wolfgang Nierlin

Von einem Tag auf den anderen ist für Magda (Penélope Cruz) alles anders. Eben ist die Madrider Lehrerin arbeitslos geworden und ihr Mann, ein Philosophieprofessor, mit einer seiner Studentinnen verreist, …

Von einem Tag auf den anderen ist für Magda (Penélope Cruz) alles anders. Eben ist die Madrider Lehrerin arbeitslos geworden und ihr Mann, ein Philosophieprofessor, mit einer seiner Studentinnen verreist, als sie bei einer Untersuchung erfährt, dass sie an Brustkrebs erkrankt ist. Zur gleichen Zeit erlebt der Talentscout Arturo (Luis Tosar), der für Real Madrid arbeitet, einen schweren Schicksalsschlag, als erst seine Tochter und kurz darauf seine Frau an den Folgen eines Verkehrsunfalls stirbt.

Die parallele Setzung dieses angehäuften, bald miteinander verschränkten Unglücks in Julio Medems neuem Film „Ma Ma – Der Ursprung der Liebe“ erscheint arg strapaziert. Im filmischen Kosmos des spanischen Regisseurs, der von jeher mit narrativen Symmetrien, symbolischen Entsprechungen und der Verschränkung gegensätzlicher Motive arbeitet, ist die ästhetische Konstruktion allerdings ein gewichtiger Teil der Handlung.

Dazu gehört auch, dass diese im Jahr 2012 angesiedelt ist, als Spanien eine schlimme Wirtschaftskrise durchmacht und zugleich Fußball-Europameister wird. Wenn sich also Magda und Arturo in einem Sportstadion treffen, wo Magdas talentierter Sohn Dani (Teo Planell) Fußball spielt, sind sie zwei Verwundete, die sich in ihrem Leid und Schmerz gegenseitig stützen. Während Magda nach Chemotherapie und Operation allmählich genest, werden die beiden ein Paar, ziehen zusammen und bilden eine Ersatzfamilie. Dabei bleibt Magda immer mutig dem Leben zugewandt. Diese Haltung verstärkt sich noch, als die Krankheit zurückkehrt und Magda auch noch schwanger wird.

Mit kunstvoll-geschmeidigen Vorausblenden erzeugt Medem eine eng verzahnte Erzähl- und Zeitstruktur und holt damit immer wieder Zukünftiges in die Gegenwart, als wäre es ein Teil von ihr. So wird das Handeln, das sich in Medems emotionalem Film in einem ständigen Austausch und ganzheitlichen Ausgleich der Kräfte und Energien vollzieht, von einer prinzipiellen Hoffnung getragen. Inspiriert von Thomas Schüttes Plastik „Bronzefrau Nr. 6“ und Gustave Courbets berühmtem Gemälde „Der Ursprung der Welt“, ist Julio Medems „Ma Ma“ deshalb vor allem eine filmische Verehrung der Frau und Mutter sowie eine „Ode an das Leben“ im Hier und Jetzt.

Der Nachtmahr

(D 2015, Regie: AKIZ)

Das andere Ich
von Wolfgang Nierlin

Zunächst einmal ist AKIZ‘ Film „Der Nachtmahr“, der erste Teil seiner sogenannten „Dämonischen Trilogie“ über „Geburt, Liebe, Tod“, ein forcierter Angriff auf die Sinneswahrnehmung: In den Stroboskopgewittern, die getaktet werden …

Zunächst einmal ist AKIZ‘ Film „Der Nachtmahr“, der erste Teil seiner sogenannten „Dämonischen Trilogie“ über „Geburt, Liebe, Tod“, ein forcierter Angriff auf die Sinneswahrnehmung: In den Stroboskopgewittern, die getaktet werden von harten Technobeats und wüsten Störgeräuschen (Musik u.a. von Alec Empire und Boys Noize), verlieren sich Raum und Zeit und Orientierung. Die in Lichtblitze zerlegte Wirklichkeit erscheint augenblickshaft, die Wahrnehmung ist irritiert. Zwischen Vergessen, Hypnose und Ekstase produzieren die überwältigten Sinne jedoch paradoxerweise eine gesteigerte Wahrnehmung: Wie im Drogenrausch ist das Erleben intensiviert und die Entgrenzung real. Körnige Nachtbilder in Rot und Blau, aufgenommen mit einer Weitwinkel-Optik und unter Verzicht auf künstliche Lichtsetzung, evozieren eine Atmosphäre zwischen Traum und Wirklichkeit, die auch den Zuschauer erfasst. Beeinflusst ist diese, so AKIZ, von der visionären Lyrik seines Vorbilds William Blake, die später auch im Film eine Rolle spielt, und dem expressionistischen Kino der 1920er Jahre.

Diese Täuschung der Sinne korrespondiert wiederum mit einer fortgesetzten Reflexion über das Verhältnis von Realität und Abbildung unter digitalen Bedingungen. Gleich zu Beginn wird die 18-jährige Tina (Carolyn Genzkow) auf einer rasanten Autofahrt zu einer illegalen Poolparty von einer Freundin ihrer Clique mit dem Foto eines fehlgebildeten Säuglings konfrontiert. Ein paar digitale Bearbeitungsklicks später verschmilzt Tinas Portrait mit dieser fremd anmutenden Kreatur, deren gnomhafte Gestalt das titelgebende, bald daraufhin erscheinende Traum-Wesen (eine Reminiszenz an J. H. Füsslis gleichnamiges Gemälde) vorwegnimmt. Tina erkennt sich aber auch in dem Unfallopfer eines Snuff-Videos, das bei der Party herumgereicht wird und zeigt, wie eine junge Frau beim Pinkeln auf der Straße überfahren wird. Ein Schock, der die Grenze von Leben und Tod berührt und Tina, als durchlebte sie im Folgenden eine Nahtoderfahrung, in ein Zwischenreich versetzt.

Ihre vielfach schmerzliche Begegnung mit ihrem anderen Ich führt das empfindsame, verletzliche und als Einzelkind aufgewachsene Mädchen, das von Liebekummer, Eifersucht und einem gestörten Selbstbild geplagt wird, unter Rückschlägen zu sich selbst. Das gefräßige, aber ungefährliche Monster „mit blinden Augen“, dem sie eines Nachts mit Abscheu in der Küche ihres wohlsituierten Elternhauses gegenübersteht und das zunächst nur sie sieht, verkörpert einen realen Alptraum und ist zugleich Spiegelbild ihrer Seele. Diesem nähert sie sich sukzessive an: Gegen die Widerstände und das Unverständnis ihrer etwas schablonenhaft gezeichneten Eltern und gegenüber einem Psychotherapeuten, der „unser Hirn“ als „das größte Mysterium auf Erden“ bezeichnet und damit Tinas Ängste und Verzweiflung als selbstproduzierte Sinnestäuschung klassifiziert. Während die verstörte junge Frau immer mehr zur Außenseiterin wird, kann man nicht nur anhand der Aufdrucke ihrer T-Shirts („Visiones“, „Strength“) ihren Weg zu sich selbst ablesen. Für AKIZ, so scheint es, gleicht dieser einer Neugeburt im kosmischen Kreislauf von Leben und Tod.

Hier gibt es eine weitere kritik zu ‚Der Nachtmahr‘.

A Bigger Splash

(IT / FR 2015, Regie: Luca Guadagnino)

Schatten im Paradies
von Wolfgang Nierlin

Die paradiesisch anmutende Inselidylle heißt Pantelleria und liegt im Mittelmeer zwischen Sizilien und Tunesien. Die heißen, staubigen Winde des Schirokko, vulkanisches Gestein, die Rede von den schlimmen Zerstörungen des 2. …

Die paradiesisch anmutende Inselidylle heißt Pantelleria und liegt im Mittelmeer zwischen Sizilien und Tunesien. Die heißen, staubigen Winde des Schirokko, vulkanisches Gestein, die Rede von den schlimmen Zerstörungen des 2. Weltkrieges und die aktuelle Not afrikanischer Flüchtlinge setzen in Luca Guadagninos psychologischem Liebesdrama „A bigger splash“ von Anfang an allerdings harte Kontraste. Der Rückzugs- und Erholungsort der gefeierten Rocksängerin Marianne Lane (Tilda Swinton), die hier mit Doku-Filmer Paul De Smedt (Matthias Schoenaerts) in zärtlicher Symbiose und schlafwandlerischer Trägheit die Tage verbringt, ist also unterschwellig bedroht. Und so dauert es nicht lange, bis der schwere Schatten eines Neuankömmlings das Glück intimer Zweisamkeit empfindlich stört: Harry Hawkes (Ralph Fiennes), hedonistischer Rockmusikproduzent alter Schule und Mariannes Ex-Lover, ist nämlich überschwänglich laut und immer gut drauf; vor allem aber erlaubt ihm sein übergroßes, vitales Ego keine Distanz.

Zur Überraschung aller hat Harry seine Tochter Penelope Lanier (Dakota Johnson) mitgebracht, die er so wenig kennt wie sie ihn und die vorgibt 22 Jahre alt zu sein, tatsächlich aber 17 ist. Die Wunden und Narben der Vergangenheit, Ungelöstes und Schwelendes sind in Guadagninos ebenso düsterem wie ironischem Film über sexuelles Begehren, leidenschaftliche Liebe und Tod also stets gegenwärtig. So hat Harry einst Marianne, die er jetzt zurückerobern will, mit Paul verkuppelt. Dieser wiederum versucht, nach einem Selbstmordversuch sein inneres Gleichgewicht zu finden, während Marianne ihre angegriffenen Stimmbänder schonen muss und deshalb meistens schweigt oder flüstert. Die geheimnisvoll-laszive Penelope wiederum legt es darauf an, Paul zu verführen: „Ich verliebe mich in alles, was schön ist.“. Das führt an einer späteren Stelle des Films schließlich zu flirrenden Zweideutigkeiten, Eifersucht und Rivalität zwischen den Männern.

Luca Guadagnino interessiert sich in seinem doppelbödigen Remake von Jacques Derays Film „Der Swimmingpool“ (1969) weniger für den kriminalistischen Plot, den er nicht nur reduziert, sondern auch ironisiert. Stattdessen kreiert er in „A bigger splash“ eine sinnlich enorm aufgeladene Atmosphäre aus Sommerhitze, nackten Körpern und leidenschaftlichem Begehren. Ein Hauch von Unwirklichkeit und lauernder Konflikte liegt über der schwülen, vordergründig unbeschwerten Szenerie, in der sich der Widerhall einer verklärten, aber ungelösten Vergangenheit mitsamt ihren verlorenen Utopien einnistet. Tote Fische, Schlangen und Geckos werden im ambivalenten Gefüge dieses künstlerisch eindrucksvoll gestalteten Films zu Vorboten künftigen Unheils. „Ändere nicht die Welt, sondern deine Ziele“, sagt einmal der besitzergreifende Harry zu dem auf Distanz bedachten Paul. Doch in „A Bigger Splash“ verlaufen die Wege in Serpentinen und enden in einem heftigen Platzregen.

Nur Fliegen ist schöner

(FR 2015, Regie: Bruno Podalydès)

Trockenübungen mit Wasser
von Wolfgang Nierlin

Michel Flanquart (Bruno Podalydès) ist ein Träumer. An seinem modernen Arbeitsplatz am Bildschirm taucht er ein in die schwebenden, farbigen Spiralnebel seiner 3-D-Entwürfe und hört dazu Johann Sebastian Bach. Mit …

Michel Flanquart (Bruno Podalydès) ist ein Träumer. An seinem modernen Arbeitsplatz am Bildschirm taucht er ein in die schwebenden, farbigen Spiralnebel seiner 3-D-Entwürfe und hört dazu Johann Sebastian Bach. Mit geschlossenen Augen überlässt er sich seiner Phantasiewelt. Vor allem träumt der wunderliche Mittfünfziger, der eine Jacke im Stil seines Flieger-Idols Jean Mermoz trägt und Antoine de Saint-Exupérys „Nachtflug“ zu seinen Lieblingsbüchern zählt, aber seit langem vom Fliegen. „Rätselhafte Erektionen“ habe ihm diese Leidenschaft in früheren Zeiten beschert, bekundet er gegenüber seiner Frau Rachelle (Sandrine Kiberlain). Bis er, angeregt durch einen betriebsinternen Austausch über Palindrome, auf das Kajak als Ersatzobjekt stößt.

Das einsitzige Paddelboot ist schnell bestellt. Und weil Michel nach eigenem Bekunden ein „Equipment-Typ“ ist, wächst seine Ausrüstung für die heimlich geplante Bootstour sukzessive. Bald verwandelt sich die Dachterrasse des Hauses nicht nur in ein Materiallager, sondern auch in einen Trainingsplatz für seine Trockenübungen; was Bruno Podalydès, der auch für Drehbuch und Regie des Films verantwortlich zeichnet, in seiner ebenso intelligenten wie märchenhaften Komödie „Nur Fliegen ist schöner“ (Comme un avion) mit trockenem Humor und feinem Gespür für den visuellen Witz dieses doppeldeutigen Tuns inszeniert. Denn Michel scheint dabei mit seinem magischen Traumobjekt förmlich abzuheben. Nicht umsonst lautet die Übersetzung des französischen Originaltitels „Wie ein Flugzeug“.

Der Traum vom anderen Leben trifft sich in Podalydès‘ poetisch-phantasievollem Film mit der Midlife-Crisis des Protagonisten, der einmal sagt, er habe das Tanzen verlernt und möchte „raus aus dem Trott“. Und so findet er sich schon bald inmitten einer sattgrünen Natur auf einem ruhigen Flüsschen des Burgunds und scheint dabei die Zeit zu vergessen. Doch die Tücken der Objekte und Situationen sowie die sinnenfrohe Aura eines idyllisch gelegenen Ausflugslokals, an dem Michel gleich zu Beginn strandet, bannen den flüchtenden Träumer. Die erotische Ausstrahlung der Wirtin Laetitia (Agnès Jaoui) und ihrer hübschen Bedienung Mila (Vimala Pons), nicht zuletzt aber auch die entspannend-surrealen Wirkungen des Absinth-Rauschs haben daran entscheidenden Anteil. So bricht unser Held immer wieder auf und kehrt doch stets an den gleichen Ort zurück, zu dem ihn ein freundlicher Strom wie ganz selbstverständlich trägt.

The Witch

(BR / CDN / USA / GB 2015, Regie: Robert Eggers)

Frommer Koller, toller Ton, gottloser Bock: hipper Horror
von Drehli Robnik

Eigentlich ist das ja ein Allerweltsfilmtitel: ‚The Witch‘. Aber der hat es in sich, und es kommt noch etwas hinzu: In sich hat er das Doppel-V der nerdig-offiziellen Schreibweise als …

Eigentlich ist das ja ein Allerweltsfilmtitel: ‚The Witch‘. Aber der hat es in sich, und es kommt noch etwas hinzu: In sich hat er das Doppel-V der nerdig-offiziellen Schreibweise als VVitch, und hinzu kommt der Untertitel, die Byline ‚A New England Folktale‘. Sprich: Dieser Film will etwas.

Er spielt während Nordamerikas Kolonialfrühgeschichte, um 1630. Pilgrim Fathers, kleine Siedlungen an der Ostküste und so. Aus nicht näher erläuterten Gründen religiöser Dissidenz verlässt eine Familie mit fünf Kindern die Gemeinde und zieht weit fort, in eine abgelegene elende Farm am Waldrand. Das sich hinter ihrem Karren schließende Tor der Puritanersiedlung gibt gerade noch den Blick frei auf ein Stück sozialen Alltag in deren umbauten Inneren, zumal auf einige American Natives, die da zwischen den Halskrausen- und Häubchen-TrägerInnen spazieren: Die Kleingruppe, die hier nun wie so viele nach ihnen (und vor allem in so vielen Filmen) in einen Wilden Westen aufbricht, lässt auch die ‚Indianer‘ in der Zivilisation zurück; was sie an Begegnungen erwartet, ist nichtmenschlicher Art. Was sie an Erinnerungen zurücklassen, das gehört allerdings, so wird später en passant halbdeutlich, ohnehin ihrem Herkunftsland England; und ihre Herzen und Handlungen gehören ganz Gott. Ein Bild des kargen, frömmelnden Farmalltags wird hier entworfen, als Variation des (zumeist nicht kargen, sondern irgendwie obszön Glück konsumierenden) Genre-Szenarios vom Haus im Wald, in dem sich Hüttenkoller breitmacht, um in Wahn und Gewalt zu münden.

An Hellsicht – an präziser Einsicht from hell, if you will – für Machtspiele im gelebten Raum wäre hier mehr drin gewesen. Dieser US-Independent-Grusler läuft in Sachen des Sinns fürs Soziale und Historische doch bald ein wenig leer – das aber dafür auf Hochtouren. (Und auf die ist der Film dann vielleicht doch etwas zu merklich stolz.) Plot-Shifts und -Twists rund um unsere Mutmaßungen darüber, wer denn hier Kinder fortholt und alltägliche Anblicke ominös erscheinen lässt (ein Ziegenbock ist immer noch ein nützliches Haustier, auch wenn er zufällig schwarz ist, und Hasen, Hühnerleier, Äpfel, das sind doch eigentlich Teile einer Imagination, die bukolisch ist… oder barock… oder Bosch… Teufel!) –, diese Erzählmachinationen bilden den Rahmen, den die Regie des zuvor als Ausstatter tätigen Robert Eggers mit Dunkelheit (und Kerzenschein) füllt. Was sich in ‚The Witch‘ abzeichnet, bleibt oft und lange nur Andeutung, ein Hauch von Hexenhaus und von Black Sabbath (der Tätigkeit, nicht der Band).

Gediegen ist die Soundscape (mit melodischem Altenglisch voller thy und thou, mit Vaters Dubstep-tauglicher Bassstimme und manch tonloser Szene, in der Stil- und Motivverwandtschaften zu Kubricks ‚The Shining‘) ebenso wie das Ensemblespiel; alle engagieren sich mit Erfolg, Anya Taylor-Joy als ältere Tochter sticht hervor. Wer spoilt, wird auch heute noch am Scheiterhaufen verbrannt. Alles in allem ergibt dies eine in Kolorit, Setting, Personal und Zeigefreudigkeit reduzierte Anordnung, die mit Geschick an unseren Kinositzen oder Videocouchen zu rütteln versteht: Streicher kreischen, Chöre schwellen an, und abrupte Schnitte kippen uns in – ganz normale Anblicke. Und die tragen ihre Unheimlichkeit und ihre virtuose Gestaltung gleichermaßen zur Schau.

Remainder

(GB / D 2015, Regie: Omer Fast)

Reenactment als Trauerarbeit
von Andreas Busche

In der Filmtheorie zur Psychoanalyse ist die Arbeit mit der Erinnerung eine wesentliche Übung des Kinos. Das Spielfilmdebüt ‚Remainder‘ des israelischen Videokünstlers Omer Fast nach dem Roman von Tom McCarthy …

In der Filmtheorie zur Psychoanalyse ist die Arbeit mit der Erinnerung eine wesentliche Übung des Kinos. Das Spielfilmdebüt ‚Remainder‘ des israelischen Videokünstlers Omer Fast nach dem Roman von Tom McCarthy nimmt diese Form der Trauerarbeit ganz wörtlich. Protagonist Tom hat nach einem Unfall (ein Metallteil löste sich von der Dachkonstruktion eines Gebäudes) sein Gedächtnis verloren und muss erst wieder mühsam die Bilder in seinem Kopf zusammensetzen. Dabei hilft ihm ein kleines Vermögen von 8 ½ Millionen Pfund, die ihm die Versicherung als Entschädigung gezahlt hat. Die Rückkehr in sein altes Leben wird verkompliziert durch vermeintliche Freunde, an die Tom keine Erinnerung hat, und zwei bewaffnete Männer auf der Suche nach einem Koffer – vermutlich derselbe, der schon in der Eröffnungssequenz eine prominente Rolle spielt.

Fast bringt einen ruhigen, pulsierenden Rhythmus in die klinischen Erinnerungsbilder, und seine Montage dröselt diese mit kühler Analytik auseinander. Um Licht in die Sache zu bringen, heuert Tom eine Consultingfirma an, die ihm bei der Rekonstruktion seiner Vergangenheit helfen soll. Mit Darstellern beginnt er, Szenen aus seiner Erinnerung bis ins kleinste Detail nachzustellen: Gerüche, die Farbe des Himmels, Tauben auf dem Dach des Nachbarhauses. Mit obsessivem Perfektionismus simuliert er die Bilder in seinem Kopf, die als Reizauslöser für seine Erinnerung fungieren sollen. In seinem Wahn schont er weder seine Schauspieler (Gangster spielen Gangster) noch seinen ‚Projektleiter‘ Naz, der ihm, ohne eine Miene zu verziehen, die absurdesten Wünsche erfüllt. Und schon gar nicht sein Bankkonto, das es ihm ermöglicht, ganze Straßenzüge aufzukaufen und notfalls nachzubauen, um an jenen Punkt in seiner Vergangenheit vorzustoßen, an dem sich die Einzelbilder wieder zu einer Geschichte fügen. Der Koffer ist nicht nur der Schlüssel zu dieser Geschichte, sondern auch ihr MacGuffin.

Omer Fast hat die zentralen Themen seiner Videoarbeiten, Identität und die Konstruktion der Wirklichkeit, hier erstmals in einem größeren Rahmen umgesetzt. Ähnlich wie sein Protagonist erweist er sich dabei als versierter Erbauer von Welten. Sein Debüt ist kompliziert verschachteltes Kopfkino im Stile eines Thrillers, wobei die Gedankenprozesse seines Protagonisten interessanter sind als die Auflösung des Rätselspiels. Am Ende verliert sich Fast etwas selbstreferentiell in seinem Bilderlabyrinth, aus dem ihn nur noch die Logik der Möbiusschleife herausführen kann.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 05/2016

Green Room

(USA 2015, Regie: Jeremy Saulnier)

Small Film, Big Thrills, and a Major Threat at the Door
von Drehli Robnik

Warum heißt ein amerikanischer Film über einen Fluchtraum schlurfiger Linker, der von Rechtsextremen belagert wird, just ‚Green Room‘? Ach – vielleicht spielt das ja auf einen quasi titelgleichen François Truffaut-Film …

Warum heißt ein amerikanischer Film über einen Fluchtraum schlurfiger Linker, der von Rechtsextremen belagert wird, just ‚Green Room‘? Ach – vielleicht spielt das ja auf einen quasi titelgleichen François Truffaut-Film von 1978 an: ‚La chambre verte – Das grüne Zimmer‘. Allerdings: Mit diesem Film hat Jeremy Saulniers Survivalthriller ‚Green Room‘ eigentlich nur den Umstand gemeinsam, dass darin Wände (und Gewänder) mit Bildern und Insignien verehrter Ahnen übersät sind. In ‚Green Room‘ sind das die Fugazi-Aufkleber und Dead Kennedys-T-Shirts der Belagerten sowie die Hakenkreuzposter und White Power-Bomberjacken der Belagerer. (Bei Truffaut waren es Baudelaire und solche Kaliber.)

Eine Hardcore-Punkband von Nicht-mehr-Collegekids an der Armutsgrenze – eine fiktive Band namens The Ain’t Right – gerät durch eine dubiose Location-Empfehlung in eine von Skinheads und Rechtsrockern betriebene Konzerthalle in der Pampa. Nachdem sie ihren Auftritt zur Freude einiger in Zeitlupe pogender Hardcore-Kids (und ohne von den angepissten Bomberjackingern verprügelt zu werden) absolviert haben, werden sie zu ZufallszeugInnen eines Fememordes unter Neonazis und als solche mit dem Tod bedroht; erst heimlich und unter Vortäuschung, man wolle sie bis zum Eintreffen der Polizei festhalten, aber bald schon ganz offen. Also verschanzen sie sich im Backstageraum. Der ist gar nicht sooo grün, aber klein, versifft und voller Namensschriftzüge an den Wänden – und voller Plot-relevanter Objekte wie z.B. Öffnungen, die sich erst allmählich zeigen.

Saulnier, ein US-Indie-Regisseur („Blue Ruin“) mit Skatepunk-Vergangenheit, setzt Lagerbildung als gegeben und ein gewisses Maß an Begeisterung für spätsubkulturelle Pop/Rock-Lebenswelten als zumutbar voraus (was hier übrigens nix mit Zitatkino oder Bescheidwissertum über Musik-Obskuritäten zu tun hat, sondern mit dem Ernstnehmen eines Milieus, seiner Kämpfe und Sinnangebote und seiner schlimmen Seiten wie z.B. Nazi-Skins). Die Erzählung und Inszenierung zielt an allfälliger psychologischer Vertiefung wohltuend vorbei, aber nicht ins Schrille oder ins zerhäckselte Nichts, sondern auf die angemessene, schön rhythmisierte Entfaltung einer ebenso minimalistischen wie ergiebigen Situation.

‚Green Room‘ hält sich ganz an Pragmatik und ihre Details: kleine räumliche und personelle Frontverschiebungen, Infrastrukturen und Techniken (das gezielte Brechen eines Armes, das Verbinden einer offenen Wunde mit Gaffertape), improvisierte Kooperation und waffentaugliche Objekte (Feuerlöscher, Mikrofon-Feedback, Kampfhundgebiss). Das macht diesen Film zugleich packend und cool. Drastisch und gory ist hier die Action, kleinräumlich einfühlsam die Kamera, leicht skurril das herrlich ausrinnende Ende, delikat die Besetzung: Anton Yelchin als fragiler Bassist, Patrick Stewart als Obernazi, Saulniers ständiger Lieblingsdarsteller Macon Blair, den wir gern öfter sehen würden, sowie die stets mitreißende Imogen Poots als Skinhead.

Ein starker Eintrag im Geist Walter Hills und John Carpenters in die Liste aktueller Klaustrophobie- und Kellerfilme. Der 62-Sekunden-Song der Dead Kennedys, den die Band im Film covert und dabei auf mindestens 75 Sekunden zerdehnt, heißt übrigens ‚Nazi Punks Fuck Off‘. Das ist zeitlos wahr und schön.

Der Nachtmahr

(D 2015, Regie: Akiz)

Laut und luizid: Sieh dich im Ding (und lass die Ohren klingen)
von Drehli Robnik

So schnell kann’s gehen: Eben noch angehende Bikini-Techno-Prinzessin am Berliner Wald-Freibad-Partypool, die das Auge des – trotz Gipsbein und feister Fresse – umschwärmten Jung-DJs Adam (Wilson Gonzalez Ochsenknecht) auf sich …

So schnell kann’s gehen: Eben noch angehende Bikini-Techno-Prinzessin am Berliner Wald-Freibad-Partypool, die das Auge des – trotz Gipsbein und feister Fresse – umschwärmten Jung-DJs Adam (Wilson Gonzalez Ochsenknecht) auf sich lenkt, stürzt die 18jährige Gymnasiastin Tina jäh in Dauerzustände von Peinlichkeit und Ausschluss. Schuld daran ist ‚Der Nachtmahr‘.

Dieser ist zum einen ein Alptraum, der in den Alltag sickert, Abläufe verwirrt, aber auch klar sehen lässt, wie viel an Normalisierungszwang und Konformismus in kess optimierten Nächten und in behüteten Schulmädchen- und Villenbewohnerstochtertagen angelegt ist. Zugleich ist der Nachtmahr lapidar verkörpert als elendes Wesen, das an Zwerg Nase, Alien-Embryo und E.T. erinnert. Einfach so taucht er auf in Tinas Leben, beansprucht mittels erbärmlichem Krabbeln, Rascheln und Gurren (Kennt noch jemand den ‚Exoten‘ aus ‚Dark Star‘?) ihre Fürsorge; sie teilt Jugendzimmer, Eiskasten, offenbar auch das Nervensystem mit ihm; so wird etwa auch sie ohnmächtig, wenn der Nachtmahr von einem polizeilichen Betäubungsgeschoss getroffen wird.

Allgemein gesehen – und dazu fordern gute Horrorfilme, auch märchenhaft-satirische wie dieser, ja immer ein Stück weit auf –, zeigt sich da, wie mitten im Mittelschicht-Hedonismus ein Ankömmling aus dem Nichts Aufnahme und Empathie einfordert. Das stößt auf bornierte, wohlstandspanische Ablehnung, nicht nur im Film. In diesem nun läuft das konkret und in aller Verdichtung präzis beobachtet so ab, dass Eltern, Freundinnen, auch der obergscheite Psychotherapeut, ihn nicht sehen und ihr nicht glauben; Tina wird in aller Behutsamkeit pathologisiert und weggedrängt. Zusammenleben ist der Horror. Sozial-Sein ist – genau bzw. im luziden Licht eines Nachtmahrs betrachtet – ein peinlich-obszönes Ding und tut weh.

Aber es sieht auch lustig aus. Aus dem Erlebensgefälle – für sie ist er ihr zweites Ich, für alle anderen gar nicht da (‚Mein Freund Harvey‘, den kennen wir aber schon noch, oder?) – resultieren in ‚Der Nachtmahr‘ einige Momente schöner Außenseiterkomik; etwa wenn Vaters Chef samt Gemahlin endlich zum Dinner kommen und die Tochter als tapfer ihr psychisches Problem bewältigendes Kind vorgeführt werden soll. ‚Ich bin doch kein Freak!‘, protestiert Tina einmal, darauf die Mutter mahnend: ‚Du, also, ‚Freak‘ ist ein ganz blödes, diffamierendes Wort.‘

Solche Momente – auch die Szene mit dem elterlicherseits (wie) versehentlich auf Tinas Geburtstagsgabentisch gelegten Psychiatrieklinik-Folder – arbeiten heraus, wie in einem Spaß-Idyll immer mehr Druck aufgebaut wird. Druck (und Spaß) macht aber auch das grelle Styling von ‚Nachtmahr‘-Regisseur AKIZ, bürgerlich Achim Bornhak: abrupte Übergänge in superlauten Techno und Industrial (Dancefloordialoge per Untertitel), Teeniehaut in Strobolicht, Milieumurmeln auf dem Schulhof und im Kifferzimmer. Kim Gordon (Ex-Sonic Youth-Bassistin) fällt auf als Englischlehrerin, die ihre Klasse William Blake’sche Gebärpoesie diskutieren lässt; Carolyn Genzkow brilliert als Gör mit Schnoferl, die zu sich steht – zu ihrem monströs externalisierten Defizienz-Selbst – und deshalb geht. Wie eine Springbreakerin, die fulminant abhaut, abfährt aus dem Springbreak. Ist ihr Name, so wie der des Regisseurs, ein chiffrenhaftes Kurzwort? Sie heißt TINA, aber: There Is No Alternative – das stimmt hier gar nicht. Du bist Ding, also hab dich lieb und dreh auf.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Der Nachtmahr‘.

The Whispering Star

(J 2015, Regie: Sion Sono)

Die Paketbotin aus der Ewigkeit
von Manfred Riepe

Lange Einstellungen, ruhige, geometrische Kamerafahrten, Beobachtung alltäglicher Dinge: Wenn im Kino das Vergehen von Zeit fühlbar gemacht werden soll, dann denkt man mit Grausen an Theo Angelopoulos oder den späten …

Lange Einstellungen, ruhige, geometrische Kamerafahrten, Beobachtung alltäglicher Dinge: Wenn im Kino das Vergehen von Zeit fühlbar gemacht werden soll, dann denkt man mit Grausen an Theo Angelopoulos oder den späten Tarkowski. Sion Sono, hierzulande bekannt durch seine lustvoll perverse Pop-Oper „Love Exposure“, hätte man eine solch introvertierte Meditation nicht zugetraut. Mit „The Whispering Star“ gelingt dem Japaner jedoch etwas, was im Kino selten funktioniert. Eine kontemplative Stilübung, bei der man gebannt zusieht – und zwar nicht deswegen, weil einem die Stimme der Vernunft zuwispert: das musst du jetzt gut finden, weil es Kunst ist.

Schon das Ungleichgewicht zwischen der manifesten Erzählebene und der Backstory ist eine Herausforderung. Der Film spielt die meiste Zeit über im Inneren eines schäbigen Containers. Es handelt sich um eines jener kargen „Übergangshäuser“ für jene Menschen, die aus dem radioaktiv verseuchten Fukushima evakuiert wurden. Sonos Ehefrau Megumi Kagurazaka spielt eine einsame Frau, die in dieser Enge Tee kocht. Immer wieder. Sinnlos erscheinende Einblendungen der Wochentage verdeutlichen, dass die Zeit still steht. Irgendwie scheint das aber kein Problem zu sein. Mal raucht die Frau eine Zigarette, dann spricht sie ihre Erinnerungen auf ein Tonband, das Smartphonebesitzer von heute wahrscheinlich gar nicht mehr bedienen könnten. Eine Kiste mit besprochenen Bändern zeigt, dass ihre Isolation schon ziemlich lange andauert. Warum nur macht der Frau diese monotone Eintönigkeit nichts aus?

Dieses Rätsel schlägt den Zuschauer in den Bann. Man nimmt Anteil an den hingehauchten Berichten Yoko Suzukis, so ihr Name. Ihren Erzählungen vom Wasserhahn, der seit Neuestem seltsame Geräusche von sich gibt, tropfen auch in unser Bewusstsein. Nach geraumer Zeit erst erblicken wir den Container aus der Außenperspektive. Zu sehen ist ein kleines japanisches Häuschen mit Holzvertäfelung, Fernsehantenne – und Düsenantrieb. Das seltsame Gefährt schwebt durch die Weiten der Galaxis. Na ja, Georges Méliès hätte diesen Filmtrick womöglich besser hinbekommen. Es geht Sono nicht um eine realistische Anmutung von Technik; er stellt das Genre geradewegs auf den Kopf. Sein fliegendes Holzhaus mit dem Gasherd und der bollernden Waschmaschine ist Anti-Science-Fiction.

Die per Schrifteinblendung erfolgende Erklärung zu Beginn, Yoko sei ein Androide, eine Maschine „mit künstlicher Intelligenz“, ist daher mit Vorsicht zu genießen. Was macht dieses Wunderwerk der Technik? Sie schrubbt den Boden und reinigt die Neonleuchte von toten Faltern, die sich hinter dem Lampenschirm aus Milchglasplastik verfangen haben. Bei Bedarf repariert sie auch den sprechenden Computer, der aus Röhren und alten Verlängerungskabeln besteht. Sonos charmante Retro-Offensive erinnert weder an das Bügeleisen aus „Raumpatrouille Orion“, noch an die holzvertäfelten Raumschiffe in David Lynchs „Wüstenplanet“. Mit seinen amüsanten Sci-Fi-McGuffins erschließt der japanische Regisseur Sphären, in die das Kino selten vordringt. Seine Weltraumreise ist eine poetische Assoziation.

In diesem Sinn schmuggelt der kreative Regisseur, der allein im Jahr 2015 fünf Filme ins japanische Kino brachte, ganz beiläufig die Backstory ein. In einer nicht näher definierten Zukunft, so erfahren wir nach einer dreiviertel Stunde Spieldauer, sei das Transportproblem gelöst. Menschen können ohne Zeitverlust jeden beliebigen Ort des Universums erreichen. Durch Teleportation. Jedes exotische Paradies ist nur noch so weit entfernt, wie das Nebenzimmer. – Es verwundert nicht, dass diese technologische Sensation in keiner Szene gezeigt wird. Ganz entspannt überspringt der Film den „Star Wars“ und „Star Trek“-Trash. Er zeigt gleich die degenerative Folgeerscheinung dieser ultimativen Übersättigung in Gestalt einer seltsamen Agonie, die sich in der gedämpften Grundstimmung des Films, seinen Schwarzweißbildern und dem durchgehenden Flüstern seiner Protagonisten ausdrückt.

Jene Menschen, die sich aller materieller Probleme entledigt haben, werden verkörpert von Laiendarstellern aus Fukushima. Die Ruinen der nach der nuklearen Katastrophe verlassenen Geisterstadt mit ihren abgestorbenen Bäumen setzt der Film eindrücklich in Szene. Die für Japan typische Fetischisierung der Technik und die ultimative Zerstörung durch die atomare Katastrophe verschmelzen zu einem eindringlichen Bild.

So versteht man, nach geraumer Zeit, auch Yoko Suzukis „Mission“. In einer Epoche, in der Entfernungen keine Rolle mehr spielen, schicken die Menschen sich auf die „altmodische“ Art Päckchen, die Yoko auf ihren langen Wegen von Stern zu Stern zum Teil mit mehrjähriger Verspätung anliefert. Hinter einem Gepäcknetz im Rückraum ihres fliegenden Containers sind Schachteln aufgestapelt. Yoko ist Paketbotin aus der Ewigkeit. In einer Epoche, in der Zeit und Raum keine Rolle mehr spielen, ist das Warten auf Yokos Päckchen futuristischer Luxus und Lebenselixier zugleich.

In den großen, stylischen Paketen, die Yoko ausliefert, befindet sich jeweils ein einzelner Gegenstand. Ein Filmschnipsel, eine Palette, ein Zigarettenstummel oder ein Schmetterling. Symbole, die das Gedächtnis an eine Zeit vor der großen Erstarrung auffrischen, als die Menschen noch auf konventionelle Weise miteinander „verkehrten“. Mit diesem metaphorischen „Verkehr“ schmuggelt Sono eine unterschwellige (Love-)Story ein. Die Paketbotin trifft einen einsamen Mann, der mit einer klappernden Blechdose unter der Schuhsole durch die Ruinen streift. Das ist schön und lächerlich zugleich. In der letzten Szene packt Yoko diese zertretene Dose in eines ihrer Pakete. Die Bestimmung ist klar. Vielleicht werden Yoko und dieser Mann sich treffen. Irgendwann.

Als „kleines Gedicht über das Verblassen von Erinnerungen“ bezeichnet Sono seinen Film treffend. Wer keine Poesie mag, dem wird dieses eigenwillige Sci-Fi-Retro-Kammerspiel langatmig und prätentiös erscheinen. Wer sich aber darauf einlässt, dass der Japaner nicht im landläufigen Sinn von Androiden und sprechenden Computern erzählt, der geht mit diesem Film auf eine etwas andere „Odyssee im Weltraum“. Die ist weder metaphysisch schwer wie bei Kubrick, noch satirisch wie bei Carpenter. Es ist die kontemplative Suche nach der verlorenen Zeit, die Begegnung eines pfeifenden Wasserkessels mit einer elektrischen Schatzkiste, irgendwo am Rand der Ewigkeit.

X-Men: Apocalypse

(USA 2016, Regie: Bryan Singer)

Der Fluch des dritten Teils
von Nicolai Bühnemann

Blockbusterhistorisch jedenfalls ist der Zeitpunkt, an dem die Handlung von „X-Men: Apocalypse“ spielt, sorgsam ausgewählt. Einmal kommt eine Gruppe von Jungmutanten aus einem Kino, wo sie sich gerade „Return of …

Blockbusterhistorisch jedenfalls ist der Zeitpunkt, an dem die Handlung von „X-Men: Apocalypse“ spielt, sorgsam ausgewählt. Einmal kommt eine Gruppe von Jungmutanten aus einem Kino, wo sie sich gerade „Return of the Jedi“ angesehen haben, den Abschluss der ersten „Star Wars“-Trilogie von George Lucas, die in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern entscheidenden Anteil daran hatte, den Hollywood-Studios zu zeigen, wie viel Geld sich mit Filmen tatsächlich verdienen ließ, und damit auch vor einigen Dekaden den Grundstein legte für die nicht abreißen wollende Schwemme von Marvel-(und anderen Superhelden-)Filmen, die in unserer Gegenwart die Multiplexe dieser Erde füllen.

Nachdem uns ein Prolog ins Jahr 3600 vor Christus entführt, wo im alten Ägypten versucht wird, Apocalypse, den ersten und mächtigsten aller Mutanten, wiederauferstehen zu lassen, spielt sich die Haupthandlung stringent im Jahr 1983 ab und also genau ein Jahrzehnt nach den Ereignissen des Vorgängers „X-Men: Days of Future Past“ (2014), in dem Wolverine (Hugh Jackman) per Zeitreise ins Jahr 1973 geschickt wurde, um – in Manier der „Terminator“-Filme – eine wahrlich düstere Zukunft per Eingriff in die Vergangenheit zum Besseren zu wenden.

Apocalypse (in seiner aufgeblasenen blauen CGI-Erscheinung weit hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibend: Oscar Isaac) also sucht sich seine vier Reiter zusammen – gemutmaßt wird einmal darüber, ob er das aus der Bibel hat oder doch die Bibel von ihm –, um das Reich der Menschen auf Erden endgültig zu beenden und das Zeitalter der Mutanten einzuläuten. Seine Jünger findet er dabei hauptsächlich im Ruhestand, den sie so gestalten, wie es Mutanten, die ihrer Superkräfte müde sind, nun einmal tun: Erik Lansheer alias Magneto (Michael Fassbender) hat es sich, wie einst Wolverine in seinem ersten Solo-Auftritt „X-Men Origins: Wolverine“, mit Frau und Kind in einer Hütte im Wald in Polen gemütlich gemacht. Angel (Ben Hardy) ist tief gestürzt, nutzt seine Flügel zunächst, um in Ost-Berlin (!) vor johlendem und sonderbar subkulturell anmutendem Publikum im Ring harte Kämpfe auszuführen. Später dann ertrinkt er im Selbstmitleid und einer Flasche Schnaps, was wiederum von Ferne her an den desillusionierten, an sich und der Welt furchtbar leidenden Professor Charles Xavier (James McAvoy) aus „Days of Future Past“ erinnert, zumal sich dieser das Serum, das ihn von seinen Mutanten-Kräften „heilte“, täglich intravenös zufügen muss. Für die X-Men um Xavier und Mystique (Jennifer Lawrence) und seine School for Gifted Youngsters geht es nun darum, den Kampf aufzunehmen und – einmal mehr – die Welt zu retten.

„X-Men: Apocalypse“ ist der sechste Eintrag im Franchise (der achte, rechnet man die beiden „Wolverine“-Filme mit) und soll den Story Arc, der mit „X: First Class“ (2011) begonnen wurde, zu Ende bringen. Wo die ursprüngliche Trilogie (2000, 2003, 2006) relativ stringent eine in der „nicht allzu fernen Zukunft“ angesiedelte Geschichte um die ewige Rivalität von Charles Xavier (Patrick Stewart) und Erik Lansherr (Ian McKellen) und das immer wieder von verschiedenen Seiten torpedierte Bemühen, Menschen und Mutanten friedlich koexistieren zu lassen, erzählte, verhielt sich „First Class“ dazu noch als relativ gewöhnliches Prequel, das, während der Kuba-Krise 1962 spielend, schließlich auch erklärte, wo die Feindschaft von Xavier und Lansherr, die schon immer eine recht ambivalente Sache war, herrührte, wie jener in den Rollstuhl und dieser zu seinem Alias Magneto kam, und endete schließlich mit der Namensgebung der X-Men.

In „Apocalypse“ führte einmal mehr und damit zum vierten Mal bei einem „X-Men“-Film Mal Bryan Singer Regie, der sich in den Neunzigern mit dem Überraschungserfolg und später zum „Kultfilm“ avancierten Thriller „The Usual Suspects“ für Größeres vorstellte. Leider gelingt es Singer nicht, an die Qualitäten der Vorgänger anzuknüpfen. Die historischen Implikationen, wenn etwa Magneto, Überlebender der Shoah, seine Kräfte in „First Class“ dazu nutzte, alte Nazis, die sich in Argentinien einen ruhigen Lebensabend machen wollen, zur Strecke zu bringen, werden durch lachhafte mythologische Bezüge ersetzt, zum Beispiel wenn man Apocalypse sagen lässt: „I’ve been called many things over many lifetimes: Ra, Krishna, Yahweh.“

Für das Jahr 1983 interessiert sich dieser Film nicht die Bohne, wobei das Fight Club-Ost-Berlin einerseits wohl den Gipfel dieses Desinteresses darstellt, andererseits mündet dieses Desinteresse hier fast schon wieder in etwas Interessantem, weil sich der Film herausnimmt, eine von allen historischen Realitäten gründlich bereinigte Phantasie-Zeit zu erschaffen. Gefiel „Days of Future Past“ noch in dem raffinierten Spiel mit seinen zwei Zeitebenen, gerade im Finale, wenn parallel montiert wurde, wie in der Zukunft die Menschen, respektive die von ihnen mit Mutanten-Genen gebauten Sentinels, zum Vernichtungsschlag gegen die Mutanten ausholen, während in der Vergangenheit sich Präsident Nixon und seine Entourage in arger Bedrängung durch Magneto und die seinen fanden. Diese Doppel-Klimax hatte mehr Chuzpe als der seine Schauwerte in einem Reigen der Überbietungen aneinander reihende „Apocalypse“ als Ganzes.

Von den Action-Szenen, um die es ja in solchen Filmen vornehmlich geht, bleibt nur eine in Erinnerung, in der Quicksilver (Evan Peters) zu den Klängen von Eurythmics „Sweet Dreams“ die gesamte Belegschaft der unter dem Angriff Apocalypses zusammenbrechende Schule rettet, in Sekunden, die zu Minuten ausgewalzt werden. Eine ähnliche Szene gab es, nicht ganz so lang, aber kaum weniger spektakulär, auch schon im Vorgänger. Wie in „First Class“ nur in einem Cameo zu sehen ist Wolverine, der Mann mit den imposanten ausfahrbaren Krallen aus unkaputtbarem Adamantium-Stahl und dem noch imposanteren Backenbart. Durfte er dort aber immerhin noch das einzige F-Wort sagen, das man einem PG-13-Film durchgehen lässt, metzelt er sich hier etwas unmotiviert durch eine ganze Herrschar von Gegnern, um sodann wieder aus dem Film zu verschwinden.

Die Kommentare der Jungmutanten zum „Star Wars“-Film fielen mit der etwas zu bemüht cleveren Selbstironie, die vielen jüngeren Blockbustern eignet, dahingehend aus, dass dritte Teile immer die schlechtesten seien. Was das George Lucas-Universum anbelangt, bin ich persönlich ein „Return of the Jedi-“Mann, halte diesen Film für den besten des gesamten bisherigen Franchise, zu „Apocalypse“ aber passt diese Beobachtung wie die Faust aufs Auge. Ganz unironisch.

Dieser Text ist in ähnlicher Form zuerst beim Perlentaucher erschienen.

Im Strahl der Sonne

(RU, DE, CZ, LV, KP 2015, Regie: Vitaly Mansky)

Vorgetäuschtes Leben in einem riesengroßen Gefängnis
von Wolfgang Nierlin

Bekanntlich ist das kommunistische Nordkorea unter der Führung der diktatorischen Kim-Dynastie seit Jahrzehnten abgeschottet vom Rest der Welt. Die unterdrückten Menschen leben in Armut, haben keinen Internet-Zugang und leiden immer …

Bekanntlich ist das kommunistische Nordkorea unter der Führung der diktatorischen Kim-Dynastie seit Jahrzehnten abgeschottet vom Rest der Welt. Die unterdrückten Menschen leben in Armut, haben keinen Internet-Zugang und leiden immer wieder unter Versorgungsengpässen. Indoktriniert von staatlicher Propaganda, die den öffentlichen Raum beschallt und auf großen Wandgemälden kitschigen Optimismus über „das schönste Land der Welt“ und seine „strahlende Zukunft“ verbreitet, scheint ihr Wissen und damit ihr Bewusstsein von einem möglichen anderen Leben streng reglementiert. Eine allumfassende Gehirnwäsche hat die Idee der Freiheit suspendiert und die individuellen Bedürfnisse gleichgeschaltet. Wer nicht mitmacht, wird bestraft. Die öffentlichkeitswirksamen Massenchoreographien geben über diese Zurichtung und gewaltsame Disziplinierung Auskunft, während aus der grauen Betonwüste von Pjöngjang bizarr überdimensionierte Steinskulpturen herausragen, die auf symbolische Weise dem Kommunismus huldigen.

Das alles und noch mehr kann man jedenfalls den Bildern und Tönen von Vitaly Manskys Film „Im Strahl der Sonne“ entnehmen. Dabei konnte der russisch-ukrainische Regisseur bei seinen streng überwachten Aufenthalten in der nordkoreanischen Hauptstadt durch „eine Lücke im System“ nur wenige geheime, also nicht zensierte Aufnahmen außer Landes schmuggeln. Denn meistens wurden die Dreharbeiten von Vertretern des Regimes arrangiert, sämtliche Inhalte waren bis in die Inszenierung hinein vorgegeben. Angetreten mit dem staatlich genehmigten Plan, über einen längeren Zeitraum das Leben des 8-jährigen Mädchens Zin-mi in alltäglichen Situationen zu portraitieren, musste Mansky bald feststellen, dass es nicht möglich war, „echtes Leben“ zu dokumentieren. Von der propren Musterwohnung und dem reichgedeckten Essenstisch, über den arrangierten Weg zur (im Winter unbeheizten!) Vorzeigeschule bis zu den fiktiven Arbeitsplätzen der Eltern in einer Textilfabrik und einer Molkerei entpuppte sich der vorgebliche Alltag als „eine große Täuschung“.

„Das einzig Reale, was wir zeigen konnten, war: das Arbeiten der Propaganda-Maschine und die Versuche des Regimes, ein falsches Bild zu erstellen“, sagt Vitaly Mansky, dessen besonderes Interesse totalitären Gesellschaften gilt. Und so dokumentiert er in seinem über weite Strecken beklemmenden und betroffen stimmenden Film vor allem, wie die filmische Propaganda funktioniert; was, nebenbei bemerkt, mit dem „normalen“ Filmemachen durchaus verwandt ist. Indem er bei den Proben heimlich die Kamera laufen lässt, macht er die jeweilige Inszenierung der Szene sichtbar. Darüber hinaus erklärt und kommentiert Mansky aus dem Off, was die aufgenommenen Bilder nicht zeigen dürfen. Man kann dies, wenn man will, als politische Gegenpropaganda auffassen. Allerdings bedient sich der Regisseur in langen Totalen, in denen Vorder- und Hintergründe in einen Dialog treten, sowie in der Montage aus „verbotenem“ und „offiziellem“ Filmmaterial auch ästhetischen Strategien, die weniger eindeutig sind und die deshalb die Mitarbeit des Zuschauers erfordern. Darüber hinaus sind es immer wieder die Gesichter der Menschen, ihre schweigenden Blicke sowie die Tristesse fast farbloser Stadtansichten, die „sprechen“. So spiegelt der Film, dessen Veröffentlichung das nordkoreanische Regime zu verhindern suchte, schließlich auf traurige Weise eine Hoffnungslosigkeit, die aus einem riesengroßen Gefängnis kommt.

Chevalier

(GR 2015, Regie: Athina Rachel Tsangari)

Alle gegen alle und jeder für sich selbst
von Wolfgang Nierlin

Wie müde Froschmänner schleppen sich die vereinzelten Gestalten an Land. Erschöpft sacken sie in sich zusammen. In ihren dunklen, hautengen Anzügen wirken die Taucher, als kämen sie aus einer fernen, …

Wie müde Froschmänner schleppen sich die vereinzelten Gestalten an Land. Erschöpft sacken sie in sich zusammen. In ihren dunklen, hautengen Anzügen wirken die Taucher, als kämen sie aus einer fernen, fremden Welt; wobei die anonymisierten Körper Gleichheit vortäuschen. Tatsächlich kommen die Männer von der Jagd. In den Tiefen der Ägäis haben sie Beute gemacht, die sie jetzt mit letzter Kraft an den harten Felsen brutal zerschmettern; oder später auf der luxuriösen Jacht ihres reichen Gastgebers stolz für ein Gruppenfoto präsentieren. Wer hat den größten Fisch gefangen? Wie lange lässt sich der Atem anhalten?

Nicht nur beim Fischen oder sportlichen Wettstreit gerieren sich die sechs Männer, die sich Freunde nennen, wie kleine Kinder. Auch beim abendlichen Assoziationsspiel inklusive kleinteiligem Fachsimpeln herrscht eitle Uneinigkeit. Der nachdrücklich eingeforderte „gesunde Menschenverstand“ erweist sich offensichtlich als unzuverlässige Basis. Subjektivität und Egoismus erscheinen als die weitaus wirksameren Triebkräfte.
Unter der Haut aus Neopren verbergen sich also höchst unterschiedliche und widersprüchliche Charaktere, die allenfalls in ihrem Männlichkeitsverständnis einen gemeinsamen Nenner finden. Was vorgeblich gleich ist, besitzt verschiedene Züge; und wo Freunde sind, herrschen Rivalität und Konkurrenz, die sich bald in einer Art totalem Persönlichkeits- und Gesellschaftsspiel austoben dürfen und mitunter in offener Aggression münden.

„Die Frage war, was bedeutet es, ein Ritter im 21. Jahrhundert zu sein“, hat Athina Rachel Tsangari in einem taz-Interview über ihren Film „Chevalier“ gesagt. Der Titel bezeichnet zugleich den Siegelring, der dem Gewinner des perfiden Spiels, in dem es keine wirklichen Gewinner geben kann, versprochen ist. Denn die Stärken der Teilnehmer sind letztlich so banal und bedeutungslos wie ihre Schwächen. Nur das Bewusstsein des sich selbst vergewissernden Egos, das unter permanentem Leistungsdruck unablässig an seiner Selbstoptimierung arbeitet, scheint zu zählen, während sich die Subjekte gegenseitig belauern (oder verlogene Allianzen schmieden) und die Gesamtheit ihrer Lebensäußerungen objektivieren.

Unaufdringlich, fast beiläufig und mit verhaltener Ironie beobachtet Tsangari wie in einem Labor das soziale Verhalten der Spezies Mensch am Beispiel des Mannes. Im Kampf aller gegen alle und jeder für sich selbst ist der Sinn, „bessere Menschen zu werden“, nur eine selbsterhaltende Illusion des Ichs, das den messenden Vergleich braucht, um sich zu unterscheiden. Identität und Differenz bedingen sich gegenseitig und bedürfen deshalb des Spiels, das sich Leben nennt. Doch in und außerhalb von ihm – ob als Beobachter oder Beobachteter – scheint es zwischen Sich-Zeigen und Sich-Verbergen nur Einsamkeit zu geben.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Chevalier‘.

Knock Knock

(USA, CHI 2015, Regie: Eli Roth)

Die Lust an der Zerstörung
von Nicolai Bühnemann

Bluttriefend kommt die Hand des jungen Mannes aus dem Slip seiner Angebeteten wieder hervor. Kein Menstruationsblut, sondern das Zeichen, dass die junge Frau den Virus hat, der in „Cabin Fever“ …

Bluttriefend kommt die Hand des jungen Mannes aus dem Slip seiner Angebeteten wieder hervor. Kein Menstruationsblut, sondern das Zeichen, dass die junge Frau den Virus hat, der in „Cabin Fever“ (2002), Eli Roths Debütfilm, eine Gruppe von College-Kids dezimiert, die Urlaub in einer Hütte im Wald machen. Die Verschränkung von Begehren und Tod, Verfall und Gewalt zieht sich durch Roths Werk. In seinen wohl bekanntesten Werken, den ersten beiden „Hostel“-Filmen (2005 und 2007, über den dritten, mit dem Roth nichts zu tun hatte, sei hier gnädig geschwiegen) findet sich diese Verbindung in der wirklich erschreckenden Prämisse eines unter dem Deckmantel eines Hostels geführten Clubs in Ost-Europa, der Gutsituierten für Unmengen von Geld die Möglichkeit gibt, ihre sadistischen Phantasien ungestraft ausleben zu können, indem sie entführte Touristen foltern und töten. Das Menschenmetzeln gegen Bezahlung als dreckige große Schwester der (Zwangs)Prostitution.

Es nimmt nun wenig wunder, dass Roths fünfter und aktueller Film ein Remake von Peter Traynors Home Invasion-Reißer „Death Game“ von 1977 ist, in dem ein Geschäftsmann, dessen Familie im Urlaub ist, unverhofften Besuch von zwei jungen Damen bekommt, die an seine Tür klopfen, unter dem Vorwand sich verlaufen zu haben und Zuflucht vor einem Gewitter zu suchen, ihn dann zunächst verführen, um ihn schließlich zu fesseln, seine Wohnung zu verwüsten und immer grausamere Spiele mit ihm zu spielen. Traynors Film bietet eine deutlich in der Zeit des amerikanischen ‚Golden Age of Porn‘ situierte Männerphantasie, die in einen Männeralbtraum von der vollkommen entfesselten, keiner Domestizierung in Ehe und Familie unterworfenen und also Verderben bringenden weiblichen Sexualität mündet (vielleicht ist es etwas komplizierter, vielleicht appelliert der Film an eine männliche Angst-Lust, durch die mann die Möglichkeit hat, ihn masochistisch zu rezipieren. Der deus ex machina, der die beiden Frauen in der letzten Einstellung unsanft aus dem Leben reißt, ist sicherlich auch ein christlicher Gott, der die patriarchale Ordnung (der Sexualität) wieder herstellt).

In Traynors Plot ist neben der Verschränkung von Gewalt und Begehren auch schon der gewisse Twist angelegt, der Roth in seinen Genre-Variationen interessiert. So sind es etwa in „Cabin Fever“ keine kannibalischen Hinterwäldler, Serienkiller oder Dämonen, mit denen es die Ausflügler zu tun bekommen, sondern eben eine todbringende Krankheit. Und die jungen Männer und Frauen in den „Hostel“-Filmen stoßen in der Fremde nicht auf eine archaische, sondern auf eine straff durchorganisierte, den Gesetzen eines völlig entfesselten Kapitalismus gehorchende Barbarei. Mit dem Cameo von „Cannibal Holocaust“-Regisseur Ruggero Deodato in „Hostel II“ wird der Neoliberalismus bis in seine letzte Konsequenz zu Ende gedacht: Die Reichen fressen die Armen (und in diesem Film muss die männliche Angstphantasie von der – bei Roth natürlich ganz buchstäblich – kastrierenden Frau, die sich in „Knock Knock“ nahtlos fortgesetzt findet, in erster Linie unverschämt reich sein, um ihr blankes Leben zu retten). Geradezu klassizistisch in seinem Zugriff auf das Genre mutet dagegen „The Green Inferno“ (2013) an, Roths gleichzeitige Verbeugung vor und Fortschreibung des italienischen Kannibalenfilms der Siebziger und Achtziger Jahre, in dem es um eine Gruppe von universitären Umweltaktivist/innen geht, die feststellen müssen, dass der indigene Stamm im Amazonas, den sie zu retten versuchen, in ihnen nicht mehr sieht, als eine willkommene Mahlzeit.

Im Gegensatz zum Original nimmt sich „Knock Knock“ viel Zeit für alles, was vor der Sex-Szene passiert. Ausführlich wird die Familie von Evan (Keanu Reeves) vorgestellt, bevor sie in den Wochenendurlaub fährt, wobei das glückliche Familienleben bis zur Karikatur überzeichnet wirkt, wie immer bei Roth möchte man auch mit seine „guten“-, seinen Opfer-Figuren keinen Kaffee trinken gehen. Wo der Mann in „Death Game“ sich nicht lange bitten ließ, der Film schnell zur Sache kam, sieht sich Evan den von dem Film geradezu ausgewalzten Übergriffigkeiten in Wort und Tat durch die beiden Frauen, Genesis (Lorenza Izzo) und Bell (Ana de Armas), ausgesetzt, wird durch ihre Ausführungen zu sexuellen Dingen sichtlich in Verlegenheit gebracht und kann sich vor tatschenden Händen kaum retten. Wenn die beiden Frauen Evan schließlich rumgekriegt haben, sehen wir Close-Ups von Brüsten und Händen, von Haut an Haut. Zwischenschnitte zeigen ein übergroßes Portrait von Evan und seiner Familie an der Wand. Die Szene endet mit einem top shot von Evans Villa, auf die der Regen niederprasselt. Die Lust der drei Hauptfiguren wird konterkariert von der Schuld Evans, für die das Familienfoto und der göttliche Blick, der wie die Naturgewalt von oben herab kommt, stehen.

Wie ernst diese religiösen Untertöne zu nehmen sind, die die beiden Frauen zu Racheengeln machen, die Evan für die Transgression des Gebots der Monogamie bestrafen, für sein Begehren, ist relativ schwer auszumachen. Einen weiteren Hinweis auf die Motive der beiden entnimmt „Knock Knock“ dem Original: Bell, die vorgibt, sie wäre erst fünfzehn, gibt Evan, den sie damit der Pädophilie bezichtigt, zu verstehen, sie sei als Kind von ihrem Vater missbraucht worden und nimmt nun stellvertretend Rache an ihm, den sie fortwährend „Daddy“ nennt. Genauso gut kann es jedoch sein, dass sie, anstatt sich „spielerisch“ an ihrem Trauma abzuarbeiten, mit den gängigen psychologischen Erklärungsmustern für ihr Verhalten „spielt“, wie es einst die männlichen Gewalttäter in einem anderen Home Invasion-Thriller taten, in Michael Hanekes „Funny Games“ (1997). Viel wichtiger als die Frage, warum die beiden jungen Frauen tun, was sie tun, scheint die teuflische Lust, die der Film an der Zerstörung, an der puren Anarchie hat, die sie anrichten. Sie legen die protzige, betont geschmackvoll eingerichtete Villa in Schutt und Asche, beschmieren die Wände und die Fotos und Bilder, die an ihnen hängen, zersägen die Skulpturen von Evans Frau, der Künstlerin Karen (Ignacia Allamand), zerbrechen – besonders grausam – vor seinen Augen die Platten Evans, der einst DJ war.

Angesichts des Films, der auf diese Einstellung folgt, erweist sich der establishing shot zu Beginn, der das Hollywood-Schild zeigt, als blanker Hohn. „Knock Knock“ ist eine in Chile gedrehte, mit diversen Partnern finanzierte amerikanisch-chilenische Koproduktion, die, auch wenn es sich Roth nicht hat nehmen lassen, wie immer in Scope zu filmen, ihre Billigkeit an kaum einer Stelle zu verhüllen trachtet, ja, sie geradezu lustvoll ausstellt. Wie schon in „The Green Inferno“ gibt Lorenza Izzo, Roths Frau, eine der Hauptrollen. Keanu Reeves wird im Part des Gefolterten und Gequälten einiges an Demütigungen abverlangt, trotzdem stellt er sich wohl kaum für einen Oscar vor. Vielmehr zeigt „Knock Knock“, wie sehr die Karriere des Darstellers, der einst in den Neunzigern den Helden in Publikumserfolgen wie „Speed“ oder „The Matrix“ geben durfte, inzwischen auf den Hund gekommen ist.

Dass sich Roth in der vergangenen Dekade zu einem enfant terrible des amerikanischen Genre-Kinos entwickeln konnte, liegt nicht nur an der Drastik seiner Gewaltdarstellungen, die nun in „Knock Knock“ eher psychischer als physischer Natur sind, sondern auch daran, wie sehr er auf die in gewissen Segmenten der aktuellen Film – und Fernsehserien-Produktion vorherrschende politische Korrektheit scheißt (man denke nur daran, wie unsympathisch, schließlich auch menschenverachtend und grausam die Aktivist/innen in „The Green Inferno“ dargestellt werden). Als Louis, ein Bekannter der Familie, der eine Ausstellung mit Karens Skulpturen veranstalten will, kommt, um diese abzuholen, entwenden die beiden Frauen ihm, der schnell merkt, dass hier einiges im Argen ist, sein Asthma-Spray. Als er einen Anfall erleidet, beginnen sie, sich das Spray, exaltiert und lachend wie immer, über seinen Kopf hinweg gegenseitig zu zuwerfen. „Monkey in the middle! Monkey in the middle!“, kreischt Bell dabei, um von Genesis, im Hinblick auf Louis‘ dunkle Haut, darauf hingewiesen zu werden: „You can’t say that, Belly, it’s racist.“

Die DVD und Blu-ray, auf der Universum „Knock Knock“ am 29.04.2016 direkt veröffentlicht, ist ordentlich ausgestattet. Sie beinhaltet neben einer ziemlich interessanten entfallenen Szene, die ausführlicher zeigt, wie die beiden Frauen die Villa verunstalten, ein eher belangloses alternatives Ende, ein Making of-Featurette und einen Audiokommentar von Roth, Nicolás López, Lorenza Izzo und Colleen Camp, die in „Death Game“ eine der beiden Frauen spielte, hier als Co-Produzentin fungiert und in einem Cameo als Nachbarin Vivian zu sehen ist.

Wer hat Angst vor Sibylle Berg

(D 2015, Regie: Wiltrud Baier, Sigrun Köhler)

Und wenn sie kommt? Dann laufen wir!
von Ulrich Kriest

Zuletzt dann auch noch als Stimme bei Schulz und Böhmermann. Selbst wer aus guten Gründen nicht ins Theater geht, wer eher keine „Springer“-Magazine wie „Allegra“ liest, einen Bogen um sogenannte …

Zuletzt dann auch noch als Stimme bei Schulz und Böhmermann. Selbst wer aus guten Gründen nicht ins Theater geht, wer eher keine „Springer“-Magazine wie „Allegra“ liest, einen Bogen um sogenannte Bestseller und Bestseller-Listen macht, keine Kolumnen auf Spiegel online liest und nicht twittert, dürfte an der Aufgabe scheitern, die fortwährend kolumnierende und twitternde Bestseller-Theaterautorin Sibylle Berg nicht auf die eine oder andere Art zu »kennen«. Wie man so eine Medienfigur halt so kennt, die mit interessanten und viel versprechenden Zuschreibungen wie „Hasspredigerin der Singlegesellschaft“ oder „Kassandra des Klamaukzeitalters“ von Kritikern geschmückt wird, die sie in der Regel verehren. Weil sie so eine freche Schnauze hat und dann auch noch so frappant hässlich ist, dass es einem fast schon wieder als schön erscheinen mag.

Kurzum: Sibylle Berg ist eigentlich ein Fall für „Akte X“, ein unter die Menschen gefallender Alien. Traurig, einsam, kindlich, misantrophisch, intelligent, schnell und böse. Oder doch nicht? Da müsste doch etwas zu erzählen sein, werden sich auch die Filmemacherinnen Sigrun Köhler und Wiltrud Baier („Böller & Brot“) gedacht haben. Machbar, zumal Berg 2013 vor Ort am Stuttgarter Staatstheater eine Inszenierung eines ihrer Stücke begleitete. „Begleiten“ ist ein gutes Stichwort, denn die Filmemacherinnen begleiten die streitbare Autorin mit der Kamera. Mal in Stuttgart bei der Theaterarbeit, mal auf Wohnungssuche, mal auf Reisen, mal bei Veranstaltungen und mal im Privaten. Leider (natürlich!) ist die ständige Präsenz der „Doku-Schlampen“ (O-Ton: Berg) der Autorin etwas unangenehm, denn entgegen ihrem Ruf scheint Sibylle Berg ein scheuer und verschlossener Mensch zu sein, der die Zeitläufte eher aus der Distanz beobachtet und darauf dann mit lakonisch vorgetragenen Pointen und Zuspitzungen reagiert, die dann vor laufender Kamera auch gerne mal implodieren.

Berg scheint durchaus gewillt zu liefern, nur wird offenbar sehr wenig gefordert. So läuft der Film ausgesprochen lange hohl, weil der Zuschauer mit Bergs Einlassungen alleine gelassen wird. Einmal mehr rächt sich hier die dokumentarische Mode der montierten Kommentarlosigkeit, die eben nicht in jedem Fall Freiheit der Assoziation evoziert. Die sich gerne ironisch gebenden Filmemacherinnen geben zu verstehen, dass sie sich mit ihrem Film auch über den klassischen Literaturfilm lustig machen wollen. Das nennt man dann wohl Verdoppelung der Verweigerung, denn auch Berg macht sich ja über die Zumutungen des Filmporträts lustig. So erleben wir den offenbar begriffslosen Architektur- und Mode-Fan Berg in Los Angeles bei der in holprigstem Englisch staunenden Besichtigung der legendären Sheats-Goldstein-Residence, wo ihr von James Goldstein erst einmal eine Lektion in Sachen Coolness erteilt wird. Hilflos flüchtet Berg sich in die Rückversicherung in Richtung Kamera.

Skizzenhaft klappert der Film ein paar biographische Stationen Bergs ab: das Leben in der DDR, die Mutter Alkoholikerin, die Ausreise, Clown-Schule im Tessin, der lange Weg zur Bestseller-Autorin, der Autounfall – beim Sehen wünscht man sich, den Andeutungen hinterher zu googlen. Später im Film tauchen dann auch noch die Kollegin Helene Hegemann („Axolotl Roadkill“) und die Schauspielerin Katja Riemann auf, aber auch mit diesen Begegnungen weiß der Film wenig mehr anzufangen, als dass er eben Zeuge der letztlich ziemlich oberflächlichen Begegnung ist. Zwischenzeitlich hat der Zuschauer reichlich Gelegenheit, Berg dabei zuzuschauen, wie sie sich beim spröden Erzählen an den viel zu großen Füßen spielt, sich Bilder von Geschlechtskrankheiten anschaut, ab und zu einen Witz oder eine pfiffige Bemerkung versucht und nebenher immer wieder die Konstellation von Subjekt und Objekt in Frage stellt, indem sie die Kamera direkt adressiert.

Spannend ist das Ganze nun wirklich nicht, agierte Berg nicht mitunter eben auch arg affektiert, hätte man fast schon Mitleid mit ihr, dass sie aus diesem faden, mit ein paar formalen Mätzchen (Untertitel!) versehenen Projekt nicht ausstieg. Die Banalität des Bösen, einmal anders. So atmet man schließlich doch auf, wenn mit Bergs Verlegerin Kerstin Gleba und ihrem Lektor Wolfgang Matz zwei Personen vor die Kamera treten, die nicht nur spielen wollen, sondern etwas Verbindliches aus einer Außenperspektive zum Gegenstand des Porträts mitzuteilen haben. Aber zu diesem Zeitpunkt ist der Film, dessen Titel nicht grundlos das Fragezeichen fehlt, schon fast vorbei. Und irgendwie, denkt man, wäre das den Filmemacherinnen auch zu verbindlich. Könnte man doch eine Haltung zum Gezeigten ahnen.

Batman V Superman: Dawn of Justice

(USA 2016, Regie: Zack Snyder)

Batman im Taka-Tuka-Land?
von Lukas Schmutzer

Sie könne mit diesem ganzen Marvel-Zeug nichts anfangen, erklärte mir kürzlich eine Freundin auf die Frage hin, ob sie nicht „Batman V Superman“ sehen wolle. Sie müsse verstehen, erwiderte ich, …

Sie könne mit diesem ganzen Marvel-Zeug nichts anfangen, erklärte mir kürzlich eine Freundin auf die Frage hin, ob sie nicht „Batman V Superman“ sehen wolle. Sie müsse verstehen, erwiderte ich, Batman, dieser so ernste, um stete Ordnung bemühte Großkapitalist, sei der Held meiner Kindheit. Na, da sehe man gleich, wo wir uns unterscheiden: Ihre Heldin war diese fröhliche Rebellin mit Superkräften – Pippi Langstrumpf. Mal ganz im Ernst, dachte ich da, wieso eigentlich nicht: „Batman vs. Pippi Langstrumpf“? Gäbe das dem Franchise nicht eine ganz neue Wendung? Natürlich schwappen uns eingefleischten DC-Fans da die Ressentiments aus der Galle: Nur widerwilligst bewegen wir uns ja schon zwischen den beiden hegemonialen Territorien der Comic-Landschaft; und auf einmal wird da mit der Emigration nach Schweden gedroht? Doch dann, andererseits, wäre das doch auch nichts anderes als derselbe Heros in zwei Gestalten, die sich gegenseitig über einen Ozean hinweg aus ihren Territorien herausschleifen würden.

Zack Snyder, der Sinn für heikle Begegnungen schon in seinem Frühwerk bewiesen hat, lässt stattdessen zwei ur-amerikanische Narrative aufeinandertreffen (oder amerikanische Ur-Narrative, vielleicht trifft auch am genauesten: amerikanisch-narrative Urheit): Der Ziehsohn eines Farmers aus Kansas, mit der Hoffnung und den Idealen des Rednecks und aber überirdischen Kräften, der kreuzt seinen Weg mit dem des traumatisierten Milliardärssohnes, dem sich infolge des Mordes an seinen Eltern ein unstillbarer Gerechtigkeitsdrang eingeschrieben hat, welcher die Ungerechten tyrannisiert, indem er seinen Träger in die Selbst-Stählung treibt.

Produziert wurde mit dieser Begegnung nicht ganz l’art pour l’art, aber l’art pour l’Amérique, ein Reigen zahlloser Zitate und Selbstbezüglichkeiten, die den Film in eine große Tradition spannen: Die soll ihn tragen, während er darin selbst hängt wie ein Sack fauler Erdäpfel. Ohne seine Referenzen, auf die er sich verlassen kann; das heißt ohne die Gemeinplätze, die sich über seine Abgründe erstrecken, würde der Film umfallen, und keine Kraft könnte ihn dabei auffangen.

Eigentlich fällt so viel in diesem Film, dass er tatsächlich eines Superman bedarf, der das alles noch stabilisiert: Die Perlen fallen vom Hals der erschossenen Mutter, in Szene gesetzt als gelte es, für Tiffany zu werben. Bruce Wayne fällt in die Bathöhle. Der Bösewicht, Doomsday, fällt gleichermaßen vom Himmel wie scheinbar aus einem anderen Film (während Weta Digital die Gelegenheit am Schopf packte, um die alten Höhlentroll-Texturen aus den digitalen Archiven zu heben). Lois Lane fällt; und das tut sie, jetzt im übertragenen Sinne, sogar ununterbrochen. Tatsächlich geht sie in ihrer Rolle als damsel in distress so sehr auf, dass die spätere Einführung von Wonder Woman mehr wie ein Verlegenheitsakt angesichts drohender Sexismusvorwürfe wirkt. – Kommt ersterer zumindest in ihrer Hilflosigkeit eine zentrale Funktion im Handlungsgeflecht zu, besitzt letztere eigentlich kaum eine Funktion, die über die Wirkung des Paukenschlags hinausgeht.

Ja, die Paukenschläge. Fragte ich mich am Anfang noch, welche Motive des Scores wohl von Hans Zimmer stammen und welche von Junkie XL, wirbelt zuletzt alles in einem erschlagenden Einerlei, das auf nichts als auf die Dumpfheit der Schläge und Kampflaute abzielt, von denen der Film zuletzt gänzlich eingenommen wird. Immerhin, die maßlose Klimax ist auch eine Form von dramaturgischer Konsequenz: Wo viele nach der titelgebenden Prügelei mit einer Ruhephase rechnen und viele Regisseure, denen noch nicht Hören und Sehen vergangen ist, diese auch setzen würden, setzt Snyder noch etwas drauf. Schlag. Auf. Schlag. Auf Schläge und Tritte und Würfe folgen bedeutungsschwangere Worte, die uns vor allem erzählen, wie bedeutungsschwanger sie sind, bevor wieder Schläge folgen und Tritte und Herumwirbeln in der Luft und Atombomben und … irgendwann dachte ich mir, Zack Snyder hätte so viel von Pippi Langstrumpf lernen können.

Der Film wird weder sehenswert durch seinen Bombast noch durch seine Referenzen oder wortwörtlichen Zitate, die besser direkt in Frank Millers „The Dark Knight Returns“ konsumiert werden; allein seine Darsteller machen ihn interessant. Jesse Eisenberg als ein junger Lex Luthor wirkt in seiner befremdenden Genialität wie aus der Einöde sozialer Netzwerke geboren; Jeremy Irons gibt dem Butler Alfred eine Coolness, die der früheren Fürsorge Michael Caines geradezu entgegensteht; und Ben Affleck ist, auch wider meinen eigenen Erwartungen, ein grandioser Batman, und vielleicht – abgesehen von seinen inszenierten Hantelschwingereien, mit denen dort Identifikationspotential geschaffen wird, wo es eigentlich zu problematisieren wäre – der beste Bruce Wayne, der bisher im Kino zu sehen war.

Fritz Lang

(D 2015, Regie: Gordian Maugg)

Der andere in uns
von Wolfgang Nierlin

Am Anfang von Gordian Mauggs vielschichtigem Künstlerportrait „Fritz Lang“ steht gleich in mehrfacher Hinsicht die Krise: Die Goldenen Zwanziger neigen sich mit der heraufziehenden Weltwirtschaftskrise ihrem Ende zu, die Weimarer …

Am Anfang von Gordian Mauggs vielschichtigem Künstlerportrait „Fritz Lang“ steht gleich in mehrfacher Hinsicht die Krise: Die Goldenen Zwanziger neigen sich mit der heraufziehenden Weltwirtschaftskrise ihrem Ende zu, die Weimarer Republik befindet sich durch das Erstarken der Nationalsozialisten in einer gravierenden politischen Umbruchphase, der Stummfilm muss dem Tonfilm weichen und inmitten von allem ringt der Filmregisseur Fritz Lang um einen neuen Stoff. Eben noch hat sich der leicht überhebliche Lebemann in Damengesellschaft über das Aufkommen des Tonfilms und seinen renommierten Kollegen G. W. Pabst lustig gemacht, doch schon bald wird er mit „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ selbst seinen ersten „sprechenden Film“ realisieren. Wie es zu diesem „Tatsachenfilm“ gekommen sein könnte und wie sich dafür „die Bilder in ihm formten“, darüber erzählt und spekuliert Maugg auf gewagt Weise in seinem „Gegenfilm“ „Fritz Lang“, mit dem er zugleich einen „Blick in die Ideenwerkstatt des Regisseurs“ wirft.

Als „falschen Weg“ bezeichnet Fritz Lang, der von Heino Ferch als ebenso starke wie verletzte Künstlerpersönlichkeit verkörpert wird, sein bisheriges Werk. Die Gigantomanie seines Films „Metropolis“ (1927) mit all den „Menschenmassen und Maschinen“ will er hinter sich lassen, um den (einzelnen) Menschen ins Zentrum seiner Arbeit zu stellen. Und diesen findet er eines Morgens nach durchzechter Nacht – Lang trinkt, kokst und besucht Prostituierte – auf der Titelseite der Berliner Zeitung in dem Serienmörder Peter Kürten, der als „Vampir von Düsseldorf“ mit seinen grausamen Taten eine ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzt; und damit auch auf die Polizei einen erheblichen Fahndungsdruck ausübt. Überstürzt bricht Lang nach Düsseldorf auf, um neben und im Austausch mit dem legendären Kriminalrat Ernst Gennat (Thomas Thieme als cleverer Fuchs ) eigene Ermittlungen über den als „entartete Kreatur“ und „Bestie in Menschgestalt“ apostrophierten Kürten (Samuel Finzi mit dämonischer Kälte) anzustellen.

„Was fühlt der Täter bei seinen Taten?“, fragt Lang einmal in einer Mischung aus Schrecken, Faszination und Identifikation. Und was, so fragt gewissermaßen Maugg mit seinem Film, hat Langs akribisches Interesse an dem Frauen- und Kindermörder mit seinem eigenen Leben zu tun? Zugespitzt formuliert: Wie viel von Lang steckt in „M“?

Auf der filmischen Ebene beantwortet der im Umgang mit historischen Stoffen vertraute Gordian Maugg diese Frage, indem er die Realität, die Imaginationen und Erinnerungen seines Titelhelden unentwegt mischt und damit eine zwischen Wirklichkeit und Traum changierende Atmosphäre erzeugt. Dabei arbeitet er in die von Lutz Reitemeier aufgenommenen schwarzweißen Bilder auf versierte Weise immer wieder historisches Material aus unterschiedlichen Quellen ein. Das erzeugt augenblicklich eine merkwürdige Gegenwart des Vergangenen und ein flüchtiges Gefühl für eine ferne Epoche. Wobei Maugg hier nicht nur illustrativ arbeitet, sondern mit den historischen Aufnahmen die Handlung ergänzt und bereichert; in den besten Momenten, etwa einer an den russischen Revolutionsfilm erinnernden assoziativen Montagesequenz, transzendiert er zudem das Themenspektrum seines Films in etwas allgemein Existentielles.

Auf der inhaltlichen Ebene ist Fritz Lang dementsprechend dem Teil- und Mitteilbaren auf der Spur. Indem er recherchierend versucht, die von Kürten aus Rache für erlittene Misshandlungen begangenen Taten äußerlich nachzuvollziehen und zu verstehen, nähert er sich zugleich immer deutlicher seinem eigenen inneren Wesen. Dieses wird verdunkelt vom unaufgeklärten Tod seiner ersten Frau Elisabeth Rosentahl (Lisa Charlotte Friederich, die auch die Figur der Anna Kohn spielt, in einer bemerkenswerten Doppelrolle), bei dem Lang unter Mordverdacht gerät, traumatischen Kriegerlebnissen, einem schwierigen Verhältnis zum Vater und Schuldgefühlen gegenüber der Mutter. In kurzen, intensiven Flashs werden diese Erfahrungen vergegenwärtigt und nicht zuletzt visuell mit Kürtens Taten, die dieser im Verhör emotionslos schildert enggeführt. Diese gewagte Parallelisierung kulminiert schließlich in Langs Bekenntnis, er habe selbst gemordet. (Zumindest) Gordian Mauggs Fritz Lang findet also in der Widerspiegelung des Eigenen im Gegenüber seine Inspirationsquelle für „M“; ein Strukturprinzip, das im Grunde auch für den Film „Fritz Lang“ selbst gilt. Vermutlich lautet deshalb sein nachträglich hinzugefügter Untertitel „Der andere in uns“.

Ein Hologramm für den König

(USA, D, FRK, GB 2016, Regie: Tom Tykwer)

Tatsächlich nur das Offizielle
von Ricardo Brunn

Für die Präsentation eines holografischen Kommunikationssystems hat sich der amerikanische Geschäftsmann Alan Clay (Tom Hanks) in die Wüste Saudi-Arabiens begeben. In einer Stadt, die gegenwärtig nur aus einem Zelt und …

Für die Präsentation eines holografischen Kommunikationssystems hat sich der amerikanische Geschäftsmann Alan Clay (Tom Hanks) in die Wüste Saudi-Arabiens begeben. In einer Stadt, die gegenwärtig nur aus einem Zelt und den Fundamenten einer brachliegenden Baustelle besteht, wartet er mit seinem IT-Team auf den König. Doch wann und ob dieser überhaupt erscheint, bleibt offen. Von der Heimatfront machen indes Alans Chef sowie seine Ex-Frau Druck, weil ersterer auf Erfolgsmeldungen wartet und letztere Geld für das Studium der gemeinsamen Tochter einfordert. Er wolle lieber niemand sein, sagt Alan über seine desolate Situation an einer Stelle der Romanvorlage des literarischen Multitaskers Dave Eggers. Doch als Vertreter muss Alan Clay fortwährend jemand sein. Benommen vom Jetlag und der Hitze macht er sich deshalb daran, die miserable Ausgangslage mit antrainiertem Unternehmergeist zu seinen Gunsten zu wenden. Aber egal was er anstellt, die Menschen um ihn herum haben für seine Fragen nur die immer gleiche Antwort parat: Der König kommt heute nicht. Immer mehr Widersprüche tun sich auf, während Alan wartet und wartet. Alles, so schreibt Eggers, funktioniere „auf zwei Ebenen, der offiziellen und der tatsächlichen“ in diesem sich unter der flimmernden Hitze rätselhaft gebenden Land.

Regisseur Tom Tykwer, der die Widersprüche des Landes am eigenen Leib erfahren musste, weil die Anfrage für eine Drehgenehmigung in Saudi-Arabien weder zu- noch jemals abgesagt wurde, begnügt sich in seiner filmischen Adaption mit der Darstellung der offiziellen Ebene. Das Tatsächliche interessiert ihn kaum. Die werbeclipartige Eröffnungssequenz, die Alan Clays Dilemma beschreiben soll, legt darüber unmissverständlich Zeugnis ab. Während Alan über ein Grundstück spaziert, adressiert er mit einer Ansprache lautstark das Publikum: Es solle sich einmal vorstellen, dass die Insignien des gutbürgerlichen Lebens – mein Haus, meine Frau, mein Auto – ohne jede Vorwarnung verschwinden können. Und prompt verpufft all das tatsächlich unter rosaroten Staubwölkchen. Die rasante Schnittfolge endet mit der Metapher des Lebens als Achterbahn, in der Alan, vom Rhythmus der Bilder getragen, dahinrauscht.

„Ein Hologramm für den König“ ist, das ist ein typisches Merkmal der Filme Tom Tykwers, ganz und gar auf die visuelle Wirkung hin angelegt. Von „Die tödliche Maria“ (D 1993) bis hin zu „Cloud Atlas“ (USA/D/HK 2012) sind seine Filme technisch immer sauberer geworden. Sein unbedingter Stilwille (die Verwendung von Split Screen, ausgeprägte Unschärfen, expressive Lichtsetzung, auffällige Montage, imposante Kamerafahrten) betont den Film in seiner Künstlichkeit so sehr, dass es oft so scheint, als würde die filmische Form überhaupt erst die Figuren aktivieren beziehungsweise deren Handeln motivieren. Die Zeit ist der Handlung gänzlich untergeordnet. Sie kann, wie in „Lola rennt“ (D 1998), sogar außer Kraft gesetzt und zurückgedreht werden, um die Handlung in eine andere Richtung zu lenken. Auch „Ein Hologramm für den König“ eilt von Szene zu Szene, schnell in den nächsten Tag zum nächsten Ereignis.

Die Zeit, die sich mitten in der Wüste in einem Zwischenraum aus ermüdender Erbarmungslosigkeit und meditativer Selbstreflexion ausbreitet und die amerikanische Geschäftigkeit aus den Angeln hebt, ja ihrer physikalischen Grundlagen beraubt, will Tykwer dem Zuschauer nicht zumuten. Stur rumpelt er durch den Roman und bebildert das geschriebene Wort. Der gedankliche Raum des manchmal etwas streberhaften Romans verliert sich bei Tykwer in der Konkretheit des Visuellen. Das Offizielle in Form des oberflächlichen Handlungsgerüsts siegt über das Tatsächliche der Temporalität und damit über die Möglichkeit Fragen nach einem Zugang zur dargestellten Welt zu stellen.

Mithilfe der filmischen Sprache zwingt Tykwer seinen Protagonisten fortwährend zum Handeln, wohingegen Dave Eggers eine Person zeigt, die nicht mehr in der Lage ist, auf die Situation, in der sie sich befindet, angemessen zu reagieren. Und während er am Schluss von einer großen Traurigkeit spricht, die alles einschließt, biedert sich Tykwer mit Gesten der Versöhnung und einer schauderhaft inszenierten Romanze an. Er macht Alan Clay wieder zum Gewinner einer menschenverachtenden Globalisierung. Die leisen Zwischentöne der geschriebenen Sprache können dem Druck des visuellen (Handlungs-)Fortschritts nicht standhalten.

Dass Clay und seinesgleichen so sehr „Nutznießer absurder Geschenke“ sind, dass sie nur noch von der eigenen Gesundheit geplagt werden, verkehrt der Regisseur in einen allzu leichten Selbstfindungstrip. Er unterschlägt, dass Alan in einer zentralen Szene beinahe einen Jungen erschießt, weil er selbst „keine Geschichten voller Tapferkeit hatte“ und „weil seine Versuche, so etwas wie ein Vermächtnis zu schaffen, gescheitert waren.“ Wie das Hologramm selbst sind die Figuren eine Täuschung. Sie haben ihre eigene Geschichte den Maßstäben der Rationalisierung und Optimierung unterworfen, weshalb es ihnen an Orientierung fehlt.

Tom Tykwers Film ist dem zu präsentierenden Hologramm und den Figuren in diesem Punkt sehr ähnlich. „Ein Hologramm für den König“ ist hübsches aber anspruchsloses Blendwerk, das von Tom Hanks – dessen humoristisches Talent in der Darstellung des Absurden hier kaum genutzt wird – nicht getragen werden kann.

Remake, Remix, Rip-Off

(D / TR 2014, Regie: Cem Kaya)

Der große Verhau
von Ulrich Kriest

„Yeşilçam fand immer eine Lösung. Egal wie, es fand immer einen Ausweg. Es war voller unqualifizierter Menschen, aber sie waren aufgeweckt.“ „Yeşilçam“ ist der Name einer Straße in Istanbul, die …

„Yeşilçam fand immer eine Lösung. Egal wie, es fand immer einen Ausweg. Es war voller unqualifizierter Menschen, aber sie waren aufgeweckt.“ „Yeşilçam“ ist der Name einer Straße in Istanbul, die in den 1960er und 1970er Jahren als Schaltzentrale der florierenden türkischen Filmindustrie fungierte. Hier wurden unter abenteuerlichen Bedingungen am Fließband populäre Yeşilçam-Filme produziert, um den Kinohunger des Publikums in den ländlichen Provinzen zu stillen. Wenn man allerdings keine Zeit, kein Geld, wenig Knowhow, defizitäre Technik und kein internationales Urheberrecht hat und überdies als in der Wolle gefärbter Strukturalist der Auffassung ist, dass es wenig mehr als 31 Geschichten zu erzählen gibt, dann ist handfester Pragmatismus in Sachen »Kultur der Aneignung« angezeigt: „Remake Remix Rip-Off“. Der in Deutschland aufgewachsene und in Berlin lebende Filmemacher Cem Kaya hat ein paar Jahre in die Recherchen zu seinem filmhistorischen Essay über die Yeşilçam-Filme gesteckt, hat zahlreiche Interviews mit den einstigen Protagonisten der Szene geführt und in hiesigen Videotheken – in der Türkei existiert kein Filmarchiv – nach den entsprechenden Filmklassikern geforscht. Das Resultat seiner Bemühungen kann sich wahrlich sehen lassen. Unterhaltsam, informativ und auf anregende Weise unbestimmt. Ist es Camp? Ist es Trash? Ist es subversiv? Und für wen und wann?

Einmal gibt es einen längeren Ausschnitt aus einem Gangsterfilm zu sehen: Der Super-Gangster ist von der türkischen Polizei gestellt und verhaftet worden. Er sei gewarnt worden, sich besser nicht mit der super intelligenten türkischen Polizei anzulegen, sagt der Gangster zerknirscht, was vom Kommissar sogleich bestätigt wird, gerne auch in minutenlangem redundantem Dialog. Die Yeşilçam-Filme sind also Exploitationkino vom Feinsten. Incredibly Strange Movies im besten Sinne, so schlecht, dass sie (in unseren Augen) schon wieder gut sind, um dem ambitionierten Titel von Kayas Film in jeder Hinsicht gerecht zu werden. Alles scheint erlaubt: Nicht nur, dass es von jedem Hollywood-Blockbuster jener Jahre wie „Der Zauberer von Oz“, „Manche mögen’s heiß“, „Dracula“, „Rambo“, „Superman“, „Star Wars“ oder „E.T.“ mindestens eine gewissermaßen ins Türkische übersetzte Version gibt. Bei einem Film wie „Der Exorzist“, dessen Original in der Türkei viele Jahre verboten war, musste man den Stoff erheblich säkularisieren, um ihn überhaupt für das türkische Publikum erzählen zu können. Mitunter wurden auch mehrere Blockbuster zu etwas Neuem »verschnitten«. So wurde die Yeşilçam-Version von „Rambo: First Blood“ kurzerhand um eine Rockerbande und einige Zombies ergänzt. Weil man nicht in der Lage war, die Spezialeffekte von „Star Wars“ selbst herzustellen, »lieh« man sich entsprechende Szenen aus den Originalfilmen, indem man sie über Nacht aus den Kopien herausschnitt. Der legendäre Film „The Man Who Saves The World“ von Cetin Inanc aus dem Jahre 1982 mixte auf diese Weise Bild- und Ton-Samples aus insgesamt 16 Filmen. Auch war Filmmaterial ein rares und kostspieliges Gut, weshalb es sich verbat, Szenen mehrfach zu drehen oder die Sicherheitsstandards bei den Dreharbeiten einzuhalten. „Im Westen wird der Schauspieler keinen Gefahren ausgesetzt“, heißt es einmal augenzwinkernd. Bestimmte Spezialeffekte wie explodierende Autos wurden kurzerhand und unübersehbar mit Spielzeug gedreht. Und auch die Filmmusiken wurden aus dem Ausland importiert und dann bei Gelegenheit gesampled. Weshalb an entscheidenden Stellen je nach Sujet gerne mal die immer gleichen Hits aus „Der Pate“, „Rocky“ oder „Emmanuelle“ zu hören sind. Herrlich, diese Chuzpe!

Nahe liegend auch die Versuchung, das Anekdotische von „Remake Remix Rip-Off“ in der Kritik schlicht zu verdoppeln. Sich in Streichen dieser Mavericks zu verlieren. Die Macher der Yeşilçam-Filme geben sich zumindest rückblickend pragmatisch bis schlitzohrig, bisweilen auch nostalgisch und beseelt von einer Freude am naiven Erzählen im Rahmen eines erklärt kommerziellen Massenkinos. An Kunst war nicht zu denken, aber die Miete wollte bezahlt sein. Für Cem Kaya, der zum Schluss seines Films auf Pornografie, Zensur, die exploitativen Arbeitsbedingungen bei der Produktion von TV-Serien und auch die Auseinandersetzungen um den Abriss des Emek-Kinos zu sprechen kommt, geht es bei seinem Film nur partiell um incredible strange films, lieber würde er den Blick weiten zugunsten einer kreativen Kultur der Aneignung, der Remixe und der Collage, die er durchaus in der kulturellen Tradition des oralen Erzählens verwurzelt sieht. Um diese Spuren deutlicher zu profilieren, hätte das Material, das Kaya präsentiert, allerdings systematischer (und weniger unterhaltsam) organisiert werden müssen. So steht hier die legitime Fan-Perspektive etwas unvermittelt neben möglichen kulturtheoretisch informierten Hypothesen.

Thief – Der Einzelgänger

(USA 1981, Regie: Michael Mann)

Man(n) at Work
von Nicolai Bühnemann

In der letzten Einstellung des Films geht James Caan alleine, verwundet in die großstädtische Nacht hinein, während die Kamera langsam nach oben entschwebt. Caan vergleicht „Thief“, Michael Manns ersten Kinofilm …

In der letzten Einstellung des Films geht James Caan alleine, verwundet in die großstädtische Nacht hinein, während die Kamera langsam nach oben entschwebt. Caan vergleicht „Thief“, Michael Manns ersten Kinofilm nach Arbeiten fürs Fernsehen, einem Menuett mit einer Form A-B-A, acht Takte, sechzehn Takte, acht Takte. Seine Figur Frank fängt an als ein Mann, dem nichts etwas anhaben kann, ein eiskalter Profi, der elf Jahre im Gefängnis verbracht hat. Im zweiten Teil gibt dieser Einzelgänger, wie ihn der deutsche Verleihtitel ankündigt, gleich auf mehreren Ebenen seine Unabhängigkeit auf: Er verliebt sich, zieht mit seiner Freundin Jessie (Tuesday Weld) zusammen, träumt von einer bürgerlichen Existenz. Doch, wesentlich verheerender, entscheidet sich Frank auch für den skrupellosen Chicagoer Mafiosi Leo (Robert Prosky) zu arbeiten, der dem Paar per illegaler Adoption ihren Kinderwunsch erfüllt, weil Jessie selbst keine Kinder bekommen kann und die Adoptionsagentur nicht bereit ist, einem Knacki wie Frank die Verantwortung für ein Kind zu übergeben. Im dritten und letzten Teil muss Frank wieder der werden, der er war, Frau und Kind in die Wüste schicken, die Autohandlung, die ihm als bürgerliche Fassade diente, in Flammen aufgehen lassen, einen martialischen Rachefeldzug gegen den Mob beginnen, der zwischenzeitig seinen Partner Barry (James Belushi) umgebracht hat. James Caans Figur steht im Jahr 1981 sichtlich auf der Schwelle zwischen den einsamen und introvertierten Anti-Helden des Hollywood in den Sechziger und Siebziger Jahren und den Action-Helden der späteren Achtziger.

Marcus Stiglegger schreibt über Frank, er sei „ebenso ungeschliffen wie die Diamanten, die er stiehlt und handelt.“ Diese Ungeschliffenheit produziert eine beständige Überforderung in den Dingen des „normalen“ Lebens. Nur in den beiden Einbruchsszenen, wenn er seinen väterlichen Freund Okla (Willie Nelson), ein Dieb wie er selbst, im Gefängnis besucht, nur wenn er jemanden mit einer Pistole im Gesicht rumwedeln oder schließlich im eruptiven Gewaltausbruch des Finales die Waffen sprechen lassen kann, scheint Frank ganz bei sich zu sein. Besonders deutlich wird Franks Unbeholfenheit in den Szenen mit Jessie. Zu ihrer Verabredung kommt er zwei Stunden zu spät, um die Angebetete, die heftig protestiert und ihn zum Teufel schicken will, eher in ein Diner zu entführen als zu geleiten. Wir sehen einen Mann, der es gewohnt ist, sich zu nehmen, was er haben will. Die Diner-Szene, in der Frank Jessie schließlich dazu überredet, bei ihm zu bleiben, ist eine der schönsten des Films. Der Mann, der sonst nur in seiner Arbeit aufzugehen scheint, beginnt für Momente sich zu öffnen, spricht von seinen Erfahrungen im Gefängnis und von seinem Verhältnis zu Okla. Im düsteren Chicago, in dem „Thief“ spielt, wird das Dinner zum Möglichkeitsraum, in dem ein anderes Leben fernab von der Männerwelt von Knast und Gangstertum greifbar nahe zu sein scheint.

Michael Mann drehte vor „Thief“ und dem Fernsehfilm „Jericho Mile“ einige dokumentarische Arbeiten, was für sein späteres Schaffen durchaus von Bedeutung ist. Die spezifische Ästhetik, die der Regisseur in den folgenden Dekaden immer weiter ausformulieren sollte, beruht auf einer Dialektik von Hyperrealismus und Stilisierung, Überhöhung. Nicht erst in seinen hochauflösend digital gedrehten Arbeiten der 00er Jahre „Collateral“, „Miami Vice“ und „Public Enemies“ lotet Mann die Grenze aus, an der Realismus in sein Gegenteil kippt. Dass die Kamera anders „sieht“ als das menschliche Auge und somit in der Lage ist, neue Erfahrungswelten zu eröffnen, bemerkte Walter Benjamin bereits 1924 in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“: „Indem er [der Film] durch Großaufnahmen aus ihrem Inventar, durch Betonung versteckter Details an den uns geläufigen Requisiten, durch die Erforschung banaler Milieus unter der genialen Führung des Objektivs auf der einen Seite die Einsicht in die Zwangsläufigkeiten vermehrt, kommt er auf der anderen Seite dazu, eines ungeheuren und ungeahnten Spielraums uns zu versichern. Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunde gesprengt, so dass wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen.“

Neben den nächtlichen Chicagoer Straßen, auf deren stets regennassem Asphalt sich die Neonleuchtschriften mit Tausenden Verheißungen spiegeln, fällt die Stilisierung auch in den beiden langen Einbruchsszenen auf, von denen eine den Film eröffnet, während die andere kurz vor dem großen Show-Down zu sehen ist. Nüchtern, hoch konzentriert gedreht und montiert, scheinen Inhalt und Form eins, die filmischen Mittel zum genauen Spiegel der Professionalität des gezeigten verbrecherischen Akts zu werden. Und doch ist da in der Arbeit mit extremen Close-Ups von penetrierenden Bohrern und geknackten Schlössern – in der ersten Szene –, mit den durch die Schweißgeräte in einem Meer aus Funken zerstiebenden Bildern – in der zweiten – jene Differenz dessen, was die Kamera zeigt zu dem, was das bloße Auge wahrnehmen kann, wie sie Benjamin formulierte.

In ihrer Arbeit zu verschwinden, die Rolle, die sie in ihrer Arbeitswelt spielen, kaum mehr von ihrem „wahren Selbst“ unterscheiden zu können, ist das Schicksal der Mannschen Antihelden. Und das nicht erst seit „Miami Vice“, in dem einer der Gangster über die beiden Protagonisten sagt, er traue ihnen nicht, weil sie zu gut sind in dem, was sie tun. In diesem Film ist das, mehr noch vielleicht als in anderen des Regisseurs, eher Fluch als Segen. Collin Farrell muss am Ende die Frau, die er liebt, in eine Zukunft ohne ihn entlassen, weil sie auf der anderen Seite des Gesetzes steht.

Auch in „Thief“ hat die Liebe letztlich keine Chance. Hier scheitert sie jedoch nicht an äußeren Zwängen, sondern an der inneren Konstitution des Einzelgängers und Arbeitstiers. „You’re family“, sagt Leo zu dem Dieb, als dieser seine Partnerschaft aufkündigen will. Was an dieser Stelle die „Crime Family“ meint, passt doch auch sonst zum Schicksal des Loners, der sich in jeglichen familiären Bindungen eben in erster Linie gebunden fühlt, gefangen, wie im Knast. Ganz in seinem Element ist dieser Mann wieder, wenn er der Beste in etwas sein kann (was ihm als Familienvater wohl schwerlich gelingen würde). Am Schluss darin, Körper in Zeitlupe von Kugeln durch die Luft schleudern und aufreißen zu lassen. So geht er am Ende in die Nacht hinein, wo niemand auf ihn wartet. Der Einzelgänger. Der Dieb.

35 Jahre nach seinem Erscheinen und nachdem der Film in Deutschland entweder gar nicht oder nur auf einer ziemlich schmucklosen DVD zu bekommen war, hat ihn OFDb Filmworks nun in einer wahrlich monumentalen Blu-Ray/DVD-Edition neu aufgelegt. Auf insgesamt fünf Discs gibt es den Film in drei verschiedenen Versionen. Abgerundet wird das Set durch einige Dokumentationen und Interview –Features, ein Poster und einen Audio-Kommentar sowie einen Booklet-Text von dem in Genrefilm-Veröffentlichungen ziemlich allgegenwärtigen Prof. Dr. Marcus Stiglegger.

Magical Girl

(ES 2014, Regie: Carlos Vermut)

Macht des Irrationalen
von Wolfgang Nierlin

Fast nichts ist vorhersehbar in Carlos Vermuts verstörend abgründigen Film “Magical Girl”, der 2014 beim Festival in San Sebastián mit der Goldenen Muschel ausgezeichnet wurde. Weil die szenisch gebaute Handlung …

Fast nichts ist vorhersehbar in Carlos Vermuts verstörend abgründigen Film “Magical Girl”, der 2014 beim Festival in San Sebastián mit der Goldenen Muschel ausgezeichnet wurde. Weil die szenisch gebaute Handlung und damit die erzählte Geschichte den Figuren und ihrer individuellen Logik folgen, wissen wir immer nur das, was ihre Subjektivität uns mitteilt. Schritt für Schritt begleiten wir sie in ihre persönliche Dunkelheit, ohne diese jemals zu durchdringen. Dabei müssen wir uns zu ihren Wünschen, Entscheidungen und Geheimnissen immer wieder neu in Beziehung setzen. Vermut, der zunächst als Comic-Zeichner bekannt wurde, inszeniert in seinem zweiten Spielfilm (nach „Diamond Flash“ von 2011) einen sehr kalkulierten Wechsel aus präzisen Blickrichtungen und offener, elliptischer Erzählweise. Was zunächst linear erscheint, wird später (auch zeitlich) aufgebrochen beziehungsweise aufgefächert in verschiedene Erzählstränge, die sich schließlich berühren, miteinander interagieren und letztlich eine große Kreisbewegung beschreiben.

Das Ganze und seine Teile gliedern sich mit einer gewissen formalen Strenge wiederum in drei Kapitel, ein Triptychon mit den Titeln „Welt“ (Mundo), „Teufel“ (Demonio) und „Fleisch“ (Carne), den – nach katholischem Katechismus – drei Feinden der Seele. Gerahmt und gespiegelt werden diese dunklen Leidenschaften und Triebe, die unter anderem von der Macht des Geldes motiviert werden, vom ewigen Konflikt zwischen Gefühl und Verstand. In „Magical Girl“ wird dieses Dilemma einmal als besonderes Problem der spanischen Mentalität apostrophiert, die demnach – als Beispiel wird der Stierkampf angeführt – in dieser Uneindeutigkeit gefangen ist. Schon der Prolog, in dem ein Lehrer-Schülerin-Verhältnis als traumatische Erfahrung verdichtet wird, etabliert diesen Konflikt. Die rationale Logik der Mathematik trifft hier auf den aufmüpfigen Widerspruch irrationaler, ja geradezu magischer Kräfte. Denn die junge Barbara (Marína Anduix) lässt vor den Augen ihres Lehrers Damián (José Sacristán) einen diesen diskreditierenden Zettel verschwinden. Für den Mathematiker ist dies ein Schock, von dem er sich nicht mehr erholen wird.

Auch die 12-jährige, an Leukämie erkrankte Alicia (Lucía Pollán) wird sich wohl nicht mehr erholen. Sie träumt davon, in wechselnde Identitäten zu schlüpfen und wünscht sich dafür das sündhaft teure Kleid ihrer Anime-Heldin Yukiko. Ihr alleinerziehender Vater Luis (Luis Bermejo), der sich mit rührender Aufmerksamkeit um seine Tochter kümmert, kann sich eine solche Ausgabe allerdings nicht leisten. Weil der Literaturlehrer seit einem halben Jahr arbeitslos ist, verkauft er seine Bücher einem Antiquar „nach Gewicht“. Doch bildet in Vermuts Film die soziale Krise der spanischen Gesellschaft nur den Resonanzraum für die persönlichen Abstürze der Figuren. Um an Geld zu kommen, bricht Luis beinahe in einen Juwelierladen ein, doch dann wird sein Schicksal verknüpft mit demjenigen der mittlerweile erwachsenen, psychisch kranken Bárbara (Bárbara Lennie), die mit dem ebenso wohlhabenden wie dominanten Psychiater Alfredo (Israel Elejalde) in einem unguten Abhängigkeitsverhältnis lebt. Unter dem Decknamen Pedro wird Luis Bárbara erpressen, die sich dafür wiederum auf qualvolle Weise bei einem reichen Sadisten prostituieren wird.

Carlos Vermuts hintergründiger, die Imagination anregender Film zeigt zunächst, wie aus einer ersehnten Wunscherfüllung ein Verbrechen erwächst und wie Abhängigkeitsverhältnisse und Machtmissbrauch zusammenhängen. Im Weiteren begleitet der ungewöhnliche, immer wieder überraschende Film – ein Vertreter des ‚anderen spanischen Kinos‘ – seine gebrochenen Figuren auf ihrem tragischen Weg in eine sukzessive Selbstzerstörung, in die sie regelrecht getrieben werden und die unausweichlich erscheint. Die geheimnisvolle, autoaggressive Bárbara, die sich selbst verletzt, um entbehrte Nähe zu spüren, trifft dabei ausgerechnet auf Luis, der sich einmal wünscht, unsichtbar und unberührbar zu sein. Die Macht des Irrationalen findet ihren mörderischen Vollstrecker schließlich in dem straffällig gewordenen Mathematiker (und Puzzle-Spieler) Damián, der sich in der Unordnung und Unvollständigkeit der wirklichen Welt fremd fühlt. Von Bárbara, mit der ihn ein traumatisches Verhältnis verbindet, wird er als düsterer Schutzengel erkannt und erkoren. In Carlos Vermuts konzentriert gezeichnetem Kosmos aus Verbrechen und Schuld, Einsamkeit und Untergang wird auf beunruhigende Weise der gnadenlose Rächer zum Zauberer: „Zuerst ist etwas da, dann ist es verschwunden“, lautet seine magische Formel.

Hördur – Zwischen den Welten

(D 2015, Regie: Ekrem Ergün )

Kino auf Psychopharmaka
von Ricardo Brunn

Die Diskussionen um den Status quo des deutschen Films reißen nicht ab. Regelmäßig wird die Abstinenz deutscher Werke auf den bedeutendsten Filmfestivals der Welt beklagt. Wird im Gegenzug in den …

Die Diskussionen um den Status quo des deutschen Films reißen nicht ab. Regelmäßig wird die Abstinenz deutscher Werke auf den bedeutendsten Filmfestivals der Welt beklagt. Wird im Gegenzug in den Erfolgsmeldungen der Fördererinstitutionen auf die beträchtliche Zahl an Koproduktionen mit deutscher Beteiligung hingewiesen (ohne Interesse an den tatsächlichen Beteiligungsverhältnissen). Als Antwort darauf wird die genre-, institutions- und budgetunabhängige Gleichförmigkeit der hiesigen Produktionen angeprangert. Die filmpolitischen Entwicklungen (etwa die FFA-Novellierung oder das noch druckfrische Eckpunktepapier zur nachhaltigen Stärkung der kulturellen Filmförderung des BKM) veranschaulichen wiederum den geringen Spielraum für Veränderungen auf politischer Ebene und das mangelnde Verständnis dafür, dass es mit einer Stärkung des künstlerischen Filmes in den Förderrichtlinien nicht getan ist. Die Sprachlosigkeit auf Podiumsdiskussionen wie „Kino machen Andere – Warum der deutsche Film nur unter sich feiert“ während der diesjährigen „Woche der Kritik“ vervollständigen das Vanitas-Stillleben des gegenwärtigen deutschen Filmes schließlich von Seiten der Filmkritik. Regisseur Ekrem Ergün, der nach einem Studium der Medienwissenschaften in Potsdam, Schauspiel in Berlin und anschließend Filmregie in New York studiert hat, illustriert mit seinem Spielfilmdebüt „Hördur“ unwillkürlich wie sehr das deutsche Kino derzeit im Stillstand verharrt.

In der Schule sieht sich Außenseiterin Aylin (Almila Bagriacik) den ständigen Mobbingattacken ihrer Mitschülerin Jaqueline (Ceci Schmitz-Chuh) ausgesetzt. Daheim gilt es den Verlust der Mutter zu verarbeiten, den Haushalt zu schmeißen und in der Rolle der Ersatzmama für den jüngeren Bruder zur Stelle zu sein. Irgendwann platzt Aylin der Kragen. Nach einer neuerlichen Attacke Jaquelines, holt sie zum Gegenschlag aus und wird prompt zu Sozialstunden verdonnert, die sie auf einem Pferdehof ableisten soll. Hier trifft sie auf das Islandpony Hördur. Doch entgegen den gängigen Pferdefilmmustern eines „Ostwind“ (Deutschland 2013; R: Katja von Garnier) oder den knisternden Brausepulverfässern der Bibi-und-Tina-Verfilmungen (Deutschland 2014, 2016; R: Detlev Buck) ist das Landleben in „Hördur“ kein Paradies entspannter Ausritte in den Sonnenuntergang, meditierender Aussteiger-Opas und idyllischer Nachmittage im Stroh, sondern erfährt einen realistischeren Einschlag. Aylin muss erst einmal auf Reitstunden verzichten und stattdessen der fortwährend schlechtgelaunten Pferdehofbesitzerin Iris (Felicitas Woll) beim Zaunbau auf dem Acker helfen.

Was auf den ersten Blick eine erfrischende Perspektive auf das Genre verspricht, führt geradewegs auf das Minenfeld des deutschen Problemfilms. Die fiese Mitschülerin Schackeline ist natürlich die typisch deutsche Assischlampe, die – als Teil der Stigmatisierungsstrategie Aylin zum Opfer ihrer Umwelt und Herkunft zu erklären – ihre Funktion wie einen Bauchladen vor sich her trägt. Aylins Vater (Hilmi Sözer) muss selbstverständlich schwarzarbeiten, weil das einerseits besonders prekär und andererseits so typisch Migrant ist. Mit seiner Tochter und seinem Sohn lebt der Witwer zudem im schäbigsten Haus der Stadt, vor dessen Eingang sich der Sperrmüll kunstvoll bis zu den Fenstern stapelt. Das alles wird dann mit dem üblichen, gefühlsduseligen Klaviergeklimper unterlegt sowie mit suizidgrau und valiumblau koloriert, als wären alle Protagonisten hart auf Psychopharmaka. Die kurzschlüssige Moral, die schlussendlich noch Sonne in Aylins Leben scheinen lässt, treibt dem Zuschauer den Zaunpfahl der Verständlichkeit endgültig ins Herz. Im Zuge dieses Hangs zu Eindeutigkeiten liefert der Film brav die Erklärung, dass der isländische Name Hördur übersetzt Krieger heißt. Zwischentöne oder gar Ambivalenzen werden zugunsten des Diktats der Funktionalisierung von vorn herein aufgegeben. Die Annäherung zwischen Iris und Aylin bleibt bloße Behauptung in technisch sauber gefilmten und montierten Einstellungen. Die Ergriffenheit über einen Vortrag Aylins in der Schule veranlasst die gute Aggro-Schackeline urplötzlich dazu ihr Verhalten zu überdenken. Und einer zu Beginn gezeigten Trennungsszene zwischen Iris und ihrem Freund folgt kurz vor Ende des Filmes überraschend eine nur einen Augenblick andauernde Versöhnungsgeste.

Jetzt lässt sich einerseits argumentieren, dass die kraftlose Inszenierung jugendlicher Stereotype auf die Unerfahrenheit des Regisseurs zurückzuführen ist. Die teils notwendige Reduktion auf das Exemplarische mit den Ansprüchen des angestrebten Realismus und den im deutschen Film gern überstrapazierten Symbolismen zu versöhnen ist ein Drahtseilakt, der „Hördur nicht gelingen will, was sich allein schon in der Darstellung der absurden Entfernung des Reiterhofs von der Stadt zeigt. Jeden Nachmittag muss Aylin nach der Schule aufs Land und wieder zurück fahren. Aber der symbolische Übertritt einschließlich noch symbolischerer Fährfahrt will sich aufgrund seiner zeitlichen Dimension und fehlender Referenzpunkte nicht in die ansonsten sehr um Realismus bemühte Szenerie einfügen lassen.

Auf der anderen Seite ist es mehr als bedenklich, dass die Überlegungen eines jungen Filmemacher zur Betrachtungsweise eines Genres ausschließlich in den oft beschriebenen vorauseilenden Gehorsam hineinführen, demzufolge Filme nach unausgesprochenen Erwartungen von Fernsehsendern und Förderanstalten gemacht werden. „Hördur“ sieht eben aus wie Coming-of-Age-Dutzendware und könnte auch „4 Könige“ (Deutschland 2015; R: Theresa von Eltz) oder „Am Himmel der Tag“ (Deutschland 2012; R: Pola Schirin Beck) heißen. Das allein ist eine Katastrophe, doch – so könnte eine These zur ewigen Frage nach der Qualität des deutschen Filmes lauten – „Hördur“ und die genannten Filme können gar nicht anders als schematisch sein. Denn so wie vorauseilender Gehorsam soziale Folgen hat und gesellschaftliches Zusammenleben verändert, verändert diese Form der (Selbst)Beschränkung früher oder später die Wahrnehmung und im Umkehrschluss die Fähigkeit oder den Drang zur kreativen Entfaltung. Es haben sich im deutschen Film ein thematischer Kanon und eine Ästhetik etabliert, die an den Begrenzungen und Simplifizierungen des Fernsehens und nicht an den Möglichkeiten und Komplexitäten des Kinos geschult wurden. Der deutsche Film ist von der Ausbildung bis zur Rezeption psychopharmakologisch. Kreativität wird auf eine zweifelhafte Normalität beschränkt und das Experiment als Krankheit diffamiert. Haltung ist unter diesen Bedingungen nicht möglich, denn wer kann unter Drogeneinfluss schon aufrecht stehen. Wenn ferner Institutionen wie die Filmbewertungsstelle Baden-Württemberg mit ihren an den fragwürdigen Maßstäben der Positivgesellschaft und des Like-Buttons ausgerichteten Urteilen ihre Plaketten vergeben und Filme wie „Hördur“ mangels Konkurrenz für den Deutschen Filmpreis nominiert werden, bekräftigt das den Status quo des deutschen Filmes.

Die eingangs erwähnte Erhöhung der finanziellen Mittel des BKM für den künstlerischen Film in diesem Jahr mündet demnach in der Frage, woher plötzlich die Künstler kommen sollen, für die dieses Geld gedacht ist, wenn in den Köpfen der Zuschauer und der (zukünftigen) Filmemacher seit Jahren der Kinobegriff neu konfiguriert wird. In diesem Zusammenhang genügt es sich vor Augen zu führen, wie routiniert inzwischen die Aussage getroffen wird, dass es keinen Unterschied zwischen Kino und TV mehr gäbe oder dass Serien das neue Kino wären. Gerade junge Filmemacher sollten sich deshalb umso mehr die Frage stellen, ob es nicht langsam an der Zeit ist, die Pillen abzusetzen und diesem angsterfüllten Kino des kleinsten gemeinsamsten Nenners mit Haltung zu begegnen.

Nomaden des Himmels

(KG 2015, Regie: Mirlan Abdykalykov)

Das Erbe bewahren
von Wolfgang Nierlin

Die Kamera schwenkt aus der Vogelperspektive über eine majestätisch anmutende Hochgebirgslandschaft im fernen Kirgistan. Dazu erklingt dezent Flötenmusik. Weit abgelegen von der Stadt lebt hier eine Nomadenfamilie in einem weitläufigen, …

Die Kamera schwenkt aus der Vogelperspektive über eine majestätisch anmutende Hochgebirgslandschaft im fernen Kirgistan. Dazu erklingt dezent Flötenmusik. Weit abgelegen von der Stadt lebt hier eine Nomadenfamilie in einem weitläufigen, von sattem Grün dominierten Tal. Die felsigen, teils schneebedeckten Berge werfen lange, dunkle Schatten; in der Nähe rauscht ein klarer, kalter Gebirgsfluss. Pferde werden in der anbrechenden Dämmerung zusammengetrieben. Dann tritt eine alte Frau aus der Jurte in die Nacht und bittet den Mond um Schutz und Geleit. Später spricht ihr Mann zu einem Vogel, der nach der Legende einmal ein Mensch war, und tröstet ihn mit einer Schale Stutenmilch. Seine kleine Enkeltochter Umsunai hört dabei aufmerksam zu.

In Mirlan Abdykalykovs Film „Nomaden des Himmels“ ist die reale mit der symbolischen Erzählebene von Anfang an verwoben. Das nomadische Leben im Einklang mit der Natur besitzt hier nicht nur eine materielle, sondern auch eine spirituelle Dimension, die sich aus einer tiefen Frömmigkeit und tradierten Mythen speist. Die Großeltern erzählen sie der neugierigen Enkelin, deren Vater einst beim Versuch, ein Fohlen zu retten, im reißenden Fluss ertrunken ist. In den naturmystischen, von Anthropomorphisierungen durchdrungenen Beispiel-Erzählungen spiegeln sich dabei die realen Verhältnisse, in denen der Konflikt zwischen einer traditionellen Lebensweise und den – mitunter etwas plakativ inszenierten – Drohungen eines zerstörerischen Fortschritts ausgetragen werden.

Während Umsunais älterer Bruder Ulan zum Architektur-Studium in die Stadt gezogen ist, kümmert sich ihre Mutter Shaiyr um die Pferdewirtschaft. Als sie von dem Meteorologen Ermek umworben wird, der in einer nahe gelegenen Messstation arbeitet, jedoch bald zurück in die Stadt ziehen will, muss sie sich entscheiden. Wie lässt sich die kulturelle Identität der Nomaden vor dem Verschwinden bewahren?, fragt Regisseur Abdykalykov mit seinem sehenswerten Film, dessen entspannter, undramatischer Bilderfluss sich dem ruhigen Lebensrhythmus seiner Protagonisten anvertraut. Als auch noch der Großvater stirbt und die Boten des modernen Lebens immer unmissverständlicher näher rücken, liegt es an den durch drei Generationen miteinander verbundenen Frauen, das Erbe zu bewahren.

Sicario

(USA 2015, Regie: Denis Villeneuve)

Im Inneren des Ausnahmezustandes
von Ricardo Brunn

Auf der Suche nach Geiseln stürmt die idealistische FBI-Agentin Kate Macer (Emily Blunt) gemeinsam mit ihrer Spezialeinheit die Räume eines Vorstadthauses in der Nähe von Phoenix. In ihrer tiefschwarzen Polizeimontur …

Auf der Suche nach Geiseln stürmt die idealistische FBI-Agentin Kate Macer (Emily Blunt) gemeinsam mit ihrer Spezialeinheit die Räume eines Vorstadthauses in der Nähe von Phoenix. In ihrer tiefschwarzen Polizeimontur mit Helm und Schutzweste hebt sich Kate deutlich von der beigen Umgebung ab. Ihr zielsicheres Vorgehen ist unmissverständlich und gleicht in der Routine beinahe einer Übung. Kate bleibt deshalb gefasst, als im Haus keine Geiseln, dafür aber durch Zufall in den Wänden mehr als dreißig Leichen mit Plastiktüten über den Köpfen entdeckt werden. Sie bleibt gefasst, weil es – der Kontrast ihrer Kleidung zur Umwelt hebt dies hervor – eine klare Ordnung hinter den Dingen gibt, nach der dieses Problem gelöst werden kann. Auf die Frage eines Kollegen, was er der Staatsanwältin über den schrecklichen Fund sagen soll, antwortet Kate dementsprechend knapp: „The truth.“ Doch die Welt in Denis Villeneuves Drogenthriller „Sicario“ hat sich längst von jeder Ordnung und allen Gewissheiten verabschiedet. Hinter der rigipsdünnen Fassade Amerikas ist eine Unterscheidung von Recht und Unrecht unmöglich geworden. Und so endet die Hausdurchsuchung mit einer orientierungslosen Kate im Staub einer plötzlichen Explosion.

In der Folge der Ereignisse bekommt Kate die Möglichkeit als Teil eines Sonderkommandos unter Führung des Regierungsbeauftragten Matt Graver (Josh Brolin) und seines zwielichtigen Adjutanten Alejandro (Benicio del Toro) die Männer aufzuspüren, die für das Massaker im Vorstadthaus verantwortlich sind. Worum es allerdings wirklich geht, lassen Matt und der wortkarge Alejandro nie vollständig durchscheinen, weshalb Kate aufgrund ihres beinahe naiven Gerechtigkeitsglaubens mehr und mehr in das Geschehen hineingesogen wird. Denis Villeneuve inszeniert diesen Sog mit einer Spannung, die ihre Kraft aus einer ungeheuer präzisen Bildsprache und Montage entwickelt und den Zuschauer von Szene zu Szene treibt, ohne dass sich die nervliche Belastung entladen und Figuren wie Zuschauer erleichtern könnte.

Unter dem Druck der Ratlosigkeit und angestiftet von ihrem Kollegen Reggie (Daniel Kaluuya) sucht Kate während eines Auftrags schließlich das Gespräch mit Matt Graver. Wieder scheint an der Oberfläche eine Ordnung zu existieren, denn Graver und Alejandro berichten von einem geheimen Tunnel, der als Drogenroute genutzt wird. Reggies kraftvoller Appell „Just don’t keep us in the dark.“ scheint die Wogen am Ende des Gespräches zu glätten. Allerdings hebelt der Lichteinsatz in dieser als Schuss-Gegenschuss-Montage angelegten Szene alle Aussagen der Protagonisten vollkommen aus. Über den gesamten Dialog hinweg stehen nur Matt und Alejandro im Licht. Und während beide die Szenerie zur einen Seite in den ebenfalls beleuchteten Hintergrund verlassen, gehen Reggie und Kate auf der anderen Seite in die Dunkelheit einer Straße, die nirgendwo hin führt.

Auf diese Weise wird der in jeder Szene des Filmes präsente Wunsch nach Ordnung und moralisch eindeutiger Kategorisierung von der Inszenierung fortwährend unterwandert. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, wie die Landschaft in den exzellenten Bildern des Kameramannes Roger Deakins zu einem eigenständigen Charakter erhoben wird. In zahlreichen Luftaufnahmen gleitet die Kamera über endlos sich erstreckende geisterhafte Landstriche des Niemandslandes zwischen Arizona und Chihuahua. Zu keinem Zeitpunkt will sich irgendeine Orientierung einstellen; selbst bei den Flügen über den schwarzen Grenzzaun zu Mexiko nicht, weil unklar bleibt, auf welcher Seite des Zaunes Amerika liegt. Villeneuve suspendiert in „Sicario“ sämtliche Eindeutigkeiten und Referenzpunkte. Er erschafft mit den Worten Giorgio Agambens eine „Zone der absoluten Unbestimmtheit zwischen Anomie und Recht“. So sehr Kate glaubt sich auf (rechtlich) sicherem Terrain bewegen zu können, so sehr sind Recht und Unrecht ortlose Kategorien geworden. In seiner Annäherung an den Begriff des Ausnahmezustands bestimmt Agamben diesen als einen leeren Raum im Zentrum der Macht. In „Sicario“ ist das die Wüstenlandschaft genauso wie die häufig eingesetzten Hotelzimmer, verglaste und charakterlose Büroräume, Militärbasen oder eben das unfertige Vorortwohnhaus in der ersten Szene des Filmes. Abseits dieser Nicht-Orte findet wirkliches Leben nur an einem einzigen Schauplatz statt. Doch die Wohnung eines mexikanischen Polizisten und seiner Familie, deren Alltag in einer Nebenhandlung verfolgt wird, ist als Gefängnis inszeniert. Konsequent schaut die Kamera durch Türrahmen und Fenster oder nutzt die Gegenstände im Raum um die Protagonisten einzuschließen.

Tatsächlich befindet sich im Zentrum von „Sicario“ ganz wortwörtlich eine Leerstelle. Als sich für Kate nach 60 von 121 Minuten Laufzeit die Gelegenheit bietet, den Akt einer offensichtlichen Geldwäsche strafrechtlich verfolgen zu lassen, intervenieren ihre Vorgesetzten und klären sie darüber auf, dass ihr Sinn für Gerechtigkeit an diesem Punkt nichts bewirken wird, dass andere Wege eingeschlagen werden müssen, denn „The boundaries have been moved“. Die Szene in einem grauen Büro mit grauen Vorhängen, grauen Teppichen, grauen Stühlen und einer grau gekleidete Kate zeigt sehr deutlich, wohin sich diese Grenzen verschoben haben: In die Unbestimmtheit des Ausnahmezustandes.
Neben den dichten Staubwolken der Explosion in der ersten Szene visualisiert Villeneuve diese unscharfen Grenzverläufe, wenn er Schatten über Oberflächen wandern lässt oder bei einem Nachteinsatz die invertierten Bilder einer Wärmebildkamera die Unterscheidung von Freund und Feind nahezu unmöglich macht, weil alle Personen nur als graue Flecken erkennbar sind. Aus dem gleichen Grund bleiben auch die auf den ersten Blick an individuellen Hintergründen recht armen Figuren ganz bewusst auf unbefriedigende Art vage. Und nur so ist es möglich, dass Matt Graver die Aufgaben der Sondereinheit lächelnd mit Worten wie „to create chaos“ oder „to dramatically overreact“ beschreiben kann.

„Sicario“ erzählt von einer Gesellschaft, die ihren moralischen Kompass vollkommen verloren hat. Der permanente Ausnahmezustand, in dem sich Politik und Ökonomie heute nach Belieben bewegen, verunsichert das Individuum und treibt es schlussendlich in die Verzweiflung. Aus diesem Grund verliert sich Kate auch äußerlich immer mehr im Grau, bis sie am Ende des Filmes in hellgrauem T-Shirt und sichtlich mitgenommen auf den Balkon ihres ebenso grauen und in der Dämmerung umso fahler wirkenden Apartmentgebäudes tritt. Auf der leeren Straße dreht sich Alejandro zu ihr um. Vielleicht, weil er spürt, dass Kate eine Waffe auf ihn richtet. Vielleicht als Geste eines Abschieds. Die Inszenierung hebt Kate auf dem Balkon über Alejandro, verleiht ihr auf den ersten Blick die Macht in dieser Sekunde über Leben und Tod entscheiden zu können. Doch das Grau der Szenerie und die Leere in Kates Augen bestimmen den Ausgang dieser ungleichen Duellsituation noch bevor Kate selbst zu einer Entscheidung finden kann. Ein wenig erinnern diese Bilder an die Filme von Michelangelo Antonioni, enden diese doch ebenfalls häufig mit einem tageszeitlichen Übergang und überlassen ihre in diesen Momenten sprachlosen Protagonisten der Leere der Bilder.

Dieser Blickwinkel auf das verunsicherte und erschöpfte Subjekt unterscheidet „Sicario“ dramatisch von einem Film wie „Traffic“ (USA 2000; R: Steven Soderbergh). Auch dort ist der Drogenkrieg längst verloren, aber trotz allem stellt die Dramaturgie am Ende eine klare und den Zuschauer beruhigende Ordnung wieder her: Der kürzlich vereidigte DEA-Stabschef Robert Wakefield (Michael Douglas) schmeißt seinen Job aus moralischen Gründen, seine Tochter wird in eine Entzugsklinik geschickt und der Drogenpolizist Montel Gordon (Don Cheadle) bringt auch nach der größten Niederlage weiterhin motiviert Wanzen in den Häusern Verdächtiger an. Während die letzte Einstellung in „Traffic“ ein hoffnungsvolles Baseballspiel von Jugendlichen zeigt, verweist das Fußballspiel der Kinder am Ende von „Sicario“ (als Reminiszenz an „Traffic“) darauf, dass Ordnung und Sinn nur noch im kindlichen Spiel existieren. Und selbst dieser Moment wird vom Regisseur noch einmal gebrochen und seiner Unschuld beraubt.

Wild

(D 2016, Regie: Nicolette Krebitz)

Eingefangen, ausgewildert
von Ulrich Kriest

In „epd film“ hat Nicolette Krebitz auf die Frage „Wer oder was ist unterschätzt?“ keck geantwortet: „Das Fantasygenre als Ort der ernsthaften Auseinandersetzung mit Lebensfragen.“ Das ist im Land der …

In „epd film“ hat Nicolette Krebitz auf die Frage „Wer oder was ist unterschätzt?“ keck geantwortet: „Das Fantasygenre als Ort der ernsthaften Auseinandersetzung mit Lebensfragen.“ Das ist im Land der eifrigen Krimigucker und –leser schon eine steile These, die allerdings komplett überzeugt, wenn man „Wild“, Krebitz‘ neuen, dritten Spielfilm, gesehen hat. Ein Film, der – schöner Zufall! – gleichzeitig mit der dunklen Neuverfilmung der Geschichte vom Wolfsjungen Mogli in den Kinos startet. Fantasy, klar! Aber auch der zweite Teil von Krebitz‘ Satz passt: »ernsthafte Auseinandersetzung mit Lebensfragen« in Zeiten, in denen alles nur noch „U“ zu sein hat oder zu sein scheint.

Ausgangspunkt von „Wild“, der wie ein filmischer Traum erscheint, war ein Traum der Filmemacherin selbst, der um die sich häufenden Nachrichten von der Rückkehr der Wölfe nach Deutschland kreiste. Krebitz nahm das Bild vom unverhofften Wiedersehen gewissermaßen beim Wort und legte los mit ihrer Phantasie: „Werdet wild und tut schöne Dinge!“, war einmal ein Slogan in einer Zeit, in der der Strand unter dem Pflaster imaginiert wurde. Ania (seltsame, schöne Schreibweise) lebt in einer hässlichen Hochhaushaussiedlung am Rande einer hässlichen Stadt und arbeitet in einem Büro am Computer, wenn sie dem Chef keinen Kaffee bringt. „Hey Schatz, ich wünsch dir so, dass du deinen Weg raus findest aus diesem Büro!“, hat Tilman Rossmy mal gesungen. Und: „Jeden Tag sagst du dir: ich will das nicht mehr, ich gehör‘ nicht hier her!“

So weit ist Ania zu Beginn des Films noch nicht, dazu braucht es den Blickkontakt mit dem Wolf am Rande eines kleinen Wäldchens, am Rande der Straße, auf dem Nachhauseweg, überraschend. Sensationell, muss gleich erzählt werden. Nur wem? Dem schwer kranken Großvater, der im Krankenhaus liegt und dem das Essen dort auch nicht schmeckt. Ania beginnt ihre Drift gewissermaßen von einem Nicht-Ort, von einer Nicht-Existenz aus. So fremd und absurd dumm hat die zivile Normalität schon lange nicht mehr ausgesehen im Kino. Schon vor der Begegnung mit dem Wolf sieht man der Schauspielerin Lilith Stangenberg staunend bei ihrer Arbeit zu, versucht sich einen Reim zu machen auf diese Mischung aus Apathie und Devianz, aus Schlaffheit und Bockigkeit, aus Kindlichkeit und fast schon autistischer Selbstbestimmtheit.

„Wild“ nimmt den Zuschauer mit auf einen Trip: alles scheint möglich. Dass man auf den Balkon tritt und mit den Wölfen heult, dass man dem Chef erst einen Korb gibt und ihm nach dem Sex auf den Tisch scheißt. Dass man sich im Internet informiert, wie man einen Wolf fängt. Ist der Wolf am Stadtrand seinem Habitat so entfremdet wie Ania in ihrem Leben? Sagt man dazu Rollentausch, wenn man sich mit einem Wolf die Wohnung teilt, die dann zur stinkenden Höhle wird? Wenn Ania sich Schutzkleidung anlegt, um sich dem Wolf zu nähern, sieht das Bild dazu aus, wie einer Avantgarde-Tanztheater-Inszenierung entnommen. Oder einem Björk-Video.

Man kommt aus dem Staunen gar nicht mehr raus, was hier alles gewagt wird. Von der Hauptdarstellerin, klar, aber auch von der Regisseurin, vom Kameramann Reinhold Vorschneider, von Georg Friedrich, der seinen Frust über sein Leben immer nur für Sekunden des Kontrollverlusts rauslassen kann. „Ganz die Alte werden“, rät er ihr einmal. Aber der Zug, daran lässt Ania keinen Zweifel, ist abgefahren. Sie wolle gar nicht mehr so sein, wie sie einmal gewesen sei, sagt sie. Der Satz könnte aus einem cleveren Vampir- oder Werwolf-Film stammen! Wir, die wir wenig Zeit hatten, zu erkennen, wie sie einmal war, staunen über die Freiheit und Lust an der Auswilderung, die ruhig, bestimmt und konsequent der Logik des Beim-Wort-Nehmens folgt.

Man kann sich jetzt hinsetzen und überlegen, für was diese Geschichte von der Begegnung mit dem wilden Tier und der damit verbundenen Auswilderung Anias wohl stehen mag, für Mut zum Risiko, ein Ja zum feministischen Aufbruch oder ein anderes, nicht zivilisiertes Begehren, aber „Wild“ bezieht seine erstaunlich lang anhaltende Wirkmacht zunächst einmal aus dem, was hier – Traum oder nicht – ganz konkret und un-metaphorisch gezeigt wird. Weil es so ganz anders ist als das, was einem sonst so gezeigt und erzählt wird.

Die Kommune

(DK 2015, Regie: Thomas Vinterberg)

Zeitalter der Liebe
von Wolfgang Nierlin

Eine herbstlich-melancholische Stimmung grundiert Thomas Vinterbergs neuen Film „Die Kommune“, der auf ganz unterschiedliche Weise von Abschied und Neubeginn handelt. Eriks (Ulrich Thomsen) Vater ist gestorben. Er hinterlässt seinem Sohn, …

Eine herbstlich-melancholische Stimmung grundiert Thomas Vinterbergs neuen Film „Die Kommune“, der auf ganz unterschiedliche Weise von Abschied und Neubeginn handelt. Eriks (Ulrich Thomsen) Vater ist gestorben. Er hinterlässt seinem Sohn, einem Architektur-Dozenten um die Vierzig, eine stattliche Villa mit Garten in einem vornehmen Viertel Kopenhagens. Doch Erik will die eine Million Kronen schwere Immobilie lieber verkaufen, als sie mit seiner Frau Anna (Trine Dyrholm) und der 14-jährigen Tochter Freja (Martha Sofie Wallstrøm Hansen) selbst zu bewohnen. Das Haus sei zu groß und zu teuer. Man verliere sich darin, sagt Erik, während welkes Laub durch die Straßen treibt und er sich an seine Kindheit erinnert. Da hat Anna, die sich nach Veränderung sehnt, eine Idee: Wie wäre es, eine Kommune zu gründen, „um das phantastische Haus mit phantastischen Menschen zu füllen?“

Mitte der 1970er Jahre fällt dieser Vorschlag schnell auf fruchtbaren Boden: Die Utopie eines freien Zusammenlebens, bestimmt von gegenseitiger Offenheit und Toleranz, sind in Mode; das hierarchielose Kollektiv wird zum Modell für die neue Großfamilie. Und genau eine solche konstituiert sich nach einigen Vorstellungsrunden und intimen Bekenntnissen. Das ausgelassene, gemeinsame Nacktbaden ist für den enthusiastischen Beginn des Experiments fast schon obligatorisch. Doch im Stimmengewirr einer von viel Alkohol und dichtem Zigarettenrauch angefüllten Atmosphäre verliert der Einzelne an Gewicht, was vor allem der mitunter autoritär aufbrausende Erik schmerzlich zu spüren bekommt. Als er sich in seine 24-jährige Studentin Emma (Helene Reingaard Neumann) verliebt und diese bald darauf in die Wohngemeinschaft einzieht, wird das labile Gleichgewicht der Gruppe empfindlich gestört.

Vor allem Anna, die als TV-Nachrichtensprecherin arbeitet, leidet zunehmend unter der neuen Konstellation. Zwar gesteht sie Erik anfangs das „Recht“ zu, „seine Gefühle auszuleben“, gerät durch die schizophren anmutende Wohn- und Lebenssituation aber in eine schwere psychische Krise. In mehreren Parallelmontagen kontrastiert Vinterberg Annas bitteres Leiden mit den neuen emotionalen (Liebes-)Aufbrüchen in ihrer Familie. Zugleich zeigt sein sehenswerter Film, wie ein verletztes Individuum die Freiheitsträume des Kollektivs erschüttert. Betroffen vom allgegenwärtigen Gefühlschaos sind dabei vor allem die Kinder, die der dänische, selbst in einer Kommune aufgewachsene Regisseur nicht nur zu stillen Beobachtern macht, sondern zu starken Repräsentanten eines „Zeitalters der Liebe“. Dessen Ende scheint mit dem Verlust der Utopien zwar besiegelt, doch der zerbrechliche Kreislauf des Lebens kündet zugleich von einem Neubeginn.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Die Kommune‘.

Chevalier

(GR 2015, Regie: Athina Rachel Tsangari)

Muskelspiele
von Marit Hofmann

Den Bechdel-Test besteht dieser Film nicht: Frauen treten gar nicht auf, kommen nur mal als Stimmen am Telefon oder als züngelndes Gesichtsdetail beim Skypen vor. Der Film könnte der feministischen …

Den Bechdel-Test besteht dieser Film nicht: Frauen treten gar nicht auf, kommen nur mal als Stimmen am Telefon oder als züngelndes Gesichtsdetail beim Skypen vor. Der Film könnte der feministischen Comicautorin Alison Bechdel trotzdem gefallen. Denn Athina Rachel Tsangari, Begründerin des neuen griechischen Kinos, nimmt in diesem ‚Buddymovie ohne Buddys‘ ganz normale Machos hoch. Zunächst scheinen die sechs Kumpel noch auf einem harmlosen Ausflugstrip auf einer Luxusyacht den Männerhobbys Angeln und Angeben zu frönen. Doch das Gesellschaftsspiel Chinesisches Roulette aus Rainer Werner Fassbinders gleichnamigem Film sorgt auch hier für Eskalation. Antwortet bei Fassbinder ein Mädchen auf die Frage, was die zu erratende anwesende Person ‚im ›Dritten Reich‹ gewesen‘ wäre, ‚KZ-Leiterin von Bergen-Belsen‘ (und meint damit die eigene Mutter), lässt hier schon eine Frage wie ‚Was wäre die Person, wenn sie eine Frucht wäre?‘ die Männer ausrasten: ‚Ich soll eine Ananas sein?!‘ Schließlich einigen sich die Midlife-Crisis-Kandidaten auf ein neues Spiel: Wer ist ‚der Beste in allem‘? Jeder muss sich eine Prüfung ausdenken und Punkte verteilen – für den perfekten Cholesterinwert, die coolste Schlafposition, den geschicktesten Handwerker und natürlich das steifste Glied. Um herauszufinden, wer die glücklichste Beziehung führt, müssen die Männer ihre Frauen anrufen, und alle verfolgen mit gezückten Notizblöcken das Gespräch.

Nach ihren anthropologischen Studien in Attenberg‚ seziert Tsangari nun sehr treffend speziell maskuline Verhaltensweisen. Gespräche sind hier wie die sportlichen Aktivitäten Wettkämpfe in Form von Wissenstests und Koch-Know-howBattles (‚Bei wieviel Grad karamelisierst du?‘). Die Absurdität des Spiels würzt Tsangari mit surrealen Lautsprecherdurchsagen der Crew (‚Wir servieren heute Käsekuchen statt Zitronenkuchen. Wir bitten um Ihr Verständnis‘), die sich anstecken lässt vom Selbstoptimierungskampf. Dessen Ergebnis enthält uns Tsangari konsequenterweise vor. Sicher ist: Die Männer erweisen sich während dieses Kammerspiels auf See als nicht lernfähig. Freundschaft gibt es hier keine, auch wenn zwei der Typen martialisch ihre Blutsbrüderschaft zelebrieren. Die Kamera switcht zwischen Gruppentreffen, bei denen alle ein Pokerface aufsetzen, und den lonely wolfs, die sich in ihren Kabinen verzweifelt Mut zusprechen.

Restlos überzeugt von der Qualität des Films haben mich männliche Kritikerkollegen, die auffallend aggressiv reagierten. Einer brüllte in einen vollkommen stillen Moment kurz vor Schluss hinein: ‚Was soll das?!‘ Zweifellos haben auch Filmkritiker das Zeug dazu, der Beste in allem zu sein. Mein All Time Favorite unter den Zwischenrufen der männlichen Kollegen: ‚Hätte ich ganz anders geschnitten!‘

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 04/2016

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Chevalier‘.

Gestrandet

(D 2016, Regie: Lisei Caspers)

Klasse Kämpfe
von Marit Hofmann

‚Hier dreht sich alles um Kühe.‘ Fünf Eritreer, die die Behörden hinter dem letzten ostfriesischen Kuhkaff abgeladen und sich selbst überlassen haben, wundern sich über so manches. Zwei Ehrenamtliche haben …

‚Hier dreht sich alles um Kühe.‘ Fünf Eritreer, die die Behörden hinter dem letzten ostfriesischen Kuhkaff abgeladen und sich selbst überlassen haben, wundern sich über so manches. Zwei Ehrenamtliche haben sich ihrer angenommen. Ein pensionierter Lehrer gibt Deutschunterricht, erläutert den Kondomautomaten (‚When you love a woman, you must protect‘) und will sie ins Dorfleben integrieren – auf dass sie den Regionalsport ‚Boßeln mitnehmen in eure Heimat‘. Die Flüchtlinge machen derlei zunächst schüchtern lächelnd mit, nehmen auch einen Ein-Euro-Job an, in der Hoffnung, dass bald bessere Jobs winken. Als sich aber in vielen Monaten gar nichts tut, ihr Aufenthaltsstatus und das Schicksal ihrer Angehörigen ungewiss bleibt, wollen sie sich weder weiter ausbeuten lassen noch an Feel-goodAktivitäten beteiligen.

Diesen Prozess fängt die in der Nähe aufgewachsene Lisei Caspers in ihrer Dokumentation ein. Der gehörlose Osman, der in Gebärdensprache knapp von den Schrecken der Flucht durch die Wüste und dem Tod seiner Angehörigen erzählt, erweist sich als ausdrucksstärkster Interviewpartner. Die Regisseurin enthält sich des Kommentars, mischt unter die Szenen des tristen Alltags Wüstenbilder und – als Sinnbild des Stillstands – immer wieder: Kühe in der Weite des Flachlands.

Caspers erreicht ihr Ziel, ‚für das Schicksal der Flüchtlinge zu sensibilisieren … und unsere Umgangsweise mit ihnen zu hinterfragen‘. Denn sie beleuchtet auch die Rolle der Helfer, deren verständlicher Frust sich gegen die Flüchtlinge selbst richten kann: Während die eine selbst in Depressionen verfällt angesichts der zum Vegetieren Verdammten, ärgert sich der Lehrer über die nachlassende Motivation ’seiner Schützlinge‘: ‚In capitalism you have to fight.‘ Er wird später, als die fünf endlich ihre Anerkennung bekommen, teilweise ihre Angehörigen nachholen können und als ihr Lebensmut zurückkehrt, einräumen, dass er ihnen Unrecht getan hat. Die Langzeitstudie endet möglicherweise etwas zu hoffnungsvoll. Wie wird es den Porträtierten in fünf Jahren gehen? Fortsetzung erwünscht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 04/2016

Die Kommune

(DK 2015, Regie: Thomas Vinterberg)

Unsere kleine Farm
von Ulrich Kriest

Irgendwann Mitte der siebziger Jahre in Kopenhagen. Der erfolgreiche Architekt und folglich auch als Hochschuldozent tätige Erik erbt eine große Villa in einem Nobelviertel, die für seine Kleinfamilie mit Ehefrau …

Irgendwann Mitte der siebziger Jahre in Kopenhagen. Der erfolgreiche Architekt und folglich auch als Hochschuldozent tätige Erik erbt eine große Villa in einem Nobelviertel, die für seine Kleinfamilie mit Ehefrau Anna, einer Nachrichtensprecherin des dänischen Fernsehens, und der 14-jährigen Tochter Freja viel, viel zu groß ist. Erik will das Erbe möglichst schnell ummünzen, aber Anna hat eine soziale Phantasie. Was, wenn man mit ein paar handverlesenen Freunden und Bekannten den „Terrorzusammenhang Kleinfamilie“ (Negt/Kluge) hinter sich ließe und eine neue, interessantere, dynamischere Form des Zusammenlebens experimentell ausprobiere? Und die viel zu hohen Unterhaltskosten könne man sich auf diese Weise ja auch teilen. Nach anfänglichem Zögern lässt sich Erik auf das kühn gedachte Experiment, das implizit ja auch eine offene Kritik an seiner abendfüllenden Qualität als Partner ist, ein und gemeinsam beginnt die Suche nach Mitstreitern, bis eine recht bunte Truppe mit ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen beisammen ist: Freaks, Zwangsneurotiker, Flippige, gerne mit Migrationshintergrund und Geldsorgen – und dabei auch ein sehr krankes Kind mit geringer Lebenserwartung als running gag.

Regisseur Thomas Vinterberg selbst hat nach eigenen Angaben seine Jugend in einer Kommune verlebt und in einem Statement zum Film schreibt er: „Im Rückblick ist diese Zeit voller goldener Erinnerungen und absurder Momente. (…) Auch wenn die Kommune aus lauter gebildeten Menschen bestand, erscheint mir das damalige Leben heute als extrem naiv und idealistisch – es war voller Hoffnung auf die Zukunft …“. Solch milde Sätze schüren allerlei Erwartungen, von denen der Filme leider keine einzige einzulösen vermag. Was ja auch eine imponierende Leistung ist! Wie zuvor schon Lukas Moodyssons „!Zusammen!“ (2000), der gleichfalls 1975 spielte, transformiert Vinterberg »das Politische« des gewählten Themas der gegenkulturellen Institution Kommune in ein schales, sepiafarbenes Ausstattungsstück, in dem Bärte, Cordjackets und Norweger-Pullis den utopischen Gegenentwurf zur bürgerlichen Ordnung repräsentieren müssen. Aus dem hehren Anspruch der permanenten Revolution, durch fortgesetzte und insistierende diskursive Selbst- und Fremdbeobachtung einen „neuen Menschen“ ohne Repression und Besitzansprüche zu schaffen, wird bei Vinterberg die (leider ungelöste) Problematik der permanent nicht-ausgeglichenen Bier-Kasse.

Das Problem von „Die Kommune“ liegt nicht darin, dass Vinterberg den Aufbruchsgeist, der Mitte der siebziger Jahre ja eher schon eine Rückzugsbewegung in Richtung „Neue Innerlichkeit“ geworden war – an den Rändern der Bewegung standen schon ich-dissoziative Ausflüge nach Poona auf der Tagesordnung -, denunziert oder auch nur lächerlich macht, sondern vielmehr darin, dass er sein Thema in nuce verfehlt. Denn „Die Kommune“ erzählt gerade nicht vom kollektiven Zusammenleben im emphatischen (utopischen?) Sinne, sondern eher vom Zusammenleben in dem, was man später einmal „Zweck-WG“ nennen sollte. Willkommen bei Dietmar Schönherr und Vivi Bach in ihrem Mehr-Generationen-Haus für aufgeklärte Sozialdemokraten! Man kocht (manchmal) zusammen, feiert (manchmal) zusammen, unternimmt (manchmal) gemeinsame Ausflüge ans Meer und sitzt (manchmal) in Gruppe zusammen, um den Gemeinschaft diskursiv abzugleichen. Die anderen Mitbewohner bleiben dabei im Hintergrund, fungieren gleichsam als Chor mit skizzierten individuellen Marotten und wirken insgesamt als Karikaturen.

Während in der realen Welt dieser fiktiven »Kommune« gerade der Vietnam-Krieg zuende geht, die Neue Frauenbewegung sich formiert, post-koloniale Befreiungsbewegungen in Afrika Erfolge feiern, das „Archipel GULAG“ diskutiert wird und Terroranschläge in Stockholm und Wien für Aufsehen sorgen, widmet sich der Film statt politischen Diskussionen in Netzwerken Gleichgesinnter einer Szene über das Schwinden der »linken« Utopien, was immer auch eine Er-Nüchterung ist, lieber einer Variante des klassischen bürgerlichen Ehedramas, die bestenfalls zeigt, dass es mit Anspruch und Wirklichkeit der gewählten Lebensform wohl doch nicht so weit her war. Im Zeichen von Transparenz und Kommunikation wird gelogen und betrogen – und schließlich sogar die psychische Überforderung in Alkohol ertränkt. Ibsen lässt grüßen!

Es ist nämlich so, dass Erik, übrigens ein veritabler Choleriker, sich vom Leben in der Kommune überfordert sieht und lieber mit einer jüngeren Studentin Emma ein Verhältnis beginnt, was zunächst eine Affäre bleibt, dann aber – Anna ist mutig, aber, wie sich schnell zeigt, zu schwach – zum Einzug Emmas in die Kommune führt. Man kommt an dieser Stelle nicht umhin, dass die stets präsente und zumeist zurückhaltend spielende Trine Dyrholm (‚Das Fest‘, ‚Bungalow‘, ‚In einer besseren Welt‘) das von Vinterberg entworfene Szenario als Steilvorlage nutzt, um dem Affen darstellerisch Zucker zu geben. Zwar wirkt ihr Komplettzusammenbruch selbst für 1975 etwas zu forciert, aber auf einer ‚Berlinale‘, in der Meryl Streep in der Jury sitzt, ist das preiswürdig, wenngleich es nachdrücklich darauf aufmerksam macht, wie fadenscheinig Vinterbergs Film gearbeitet ist. Für die Geschichte eines Ehebruchs braucht es keine Kommune.

Die Begeisterung für Dyrholms Par-Force-Ritt, der die zweite Hälfte des Films in Jack Nicholson-Manier okkupiert, sollte indes nicht davon ablenken, dass Martha Sofie Wallström Hansen als ‚Freja‘ als das emotionale Zentrum des Films überzeugt. Tochter Freja nämlich – auch dies eine Parallele zu „!Zusammen!“ – beobachtet gewissermaßen als Alter Ego des Filmemachers das Treiben der überforderten Erwachsenen und beschließt instinktiv, die Vorteile des unterhaltsamen Gemeinschaftslebens mit einem Beharren auf Privatsphäre zu kombinieren, um fürderhin keinen Schaden zu nehmen. Was „Die Kommune“, der ja keine Satire und auch keine Denunziation sein will, dann allerdings auch nicht ganz konsequent zu Ende denkt und wirklich unsympathisch macht. Denn letztlich reproduziert Freja nur das, was sie ohnehin sieht und die Tatsache, dass der Film nicht nur seinen Figuren jegliche Fähigkeit zur Empathie abspricht, sondern diesen Mangel dann auch gleich noch in der Verachtung für seine Figuren teilt, was sich insbesondere bei der Darstellung des Todes des kleinen Vilads zeigt, die recht gleichgültig exekutiert wird, scheint der Perspektive Vinterberg inhärent. Zusammenfassend kann man sagen, dass die mannigfalten Schwächen und Halbgarheiten von „Die Kommune“ (und auch schon von „!Zusammen!“) viel weniger von den – gewiss streitbaren – experimentellen Formen des Zusammenlebens in den siebziger Jahren erzählen als vielmehr von einer Gegenwart, die bestimmte utopische Diskurse nur noch denkbar scheinen lässt, wenn sie mit Humor und Unverbindlichkeit gepaart und in lustiger »Verkleidung« diskreditiert werden. Man erinnere sich nur an die Comedy-Figur des „Martin“, wie sie Diether Krebs einst gespielt hat. So aber verkauft sich Nostalgie widerstandslos an die Fertigkeiten der Ausstattungsabteilung.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Die Kommune‘.

Hail, Caesar!

(USA 2016, Regie: Ethan Coen, Joel Coen)

Dialektik
von Manfred Riepe

Dialektik wird unterschätzt. Aus diesem Grund könnte man auch den neuen Film der Coens unterschätzen. Auf den ersten Blick scheint „Hail, Caesar!“ nur die komische Version ihres düsteren Noir-Thrillers „Barton …

Dialektik wird unterschätzt. Aus diesem Grund könnte man auch den neuen Film der Coens unterschätzen. Auf den ersten Blick scheint „Hail, Caesar!“ nur die komische Version ihres düsteren Noir-Thrillers „Barton Fink“ zu sein, in dem die beiden Brüder aus Minneapolis sich schon einmal mit dem goldenen Zeitalter Hollywoods auseinander gesetzt haben. Dieser Eindruck ist nicht ganz falsch, führt aber in die Irre.

Wie die meisten Filme der Coens folgt auch „Hail, Caesar!“ einem doppelzüngigen Erzählprinzip, das sich in fast jeder einzelnen Szene spiegelt. So auch in dem wundervollen Moment, in dem George Clooney, der im Kostüm eines römischen Centurio vom Set eines Sandalenfilms entführt wurde, sich angeregt mit einem seiner Kidnapper unterhält: Herbert Marcuse. Wie andere Vertreter der kritischen Theorie befand dieser sich während der NS-Herrschaft in der US-amerikanischen Diaspora. Der stattliche Bungalow mit Meerblick, in dem die Coens diese Szene nicht zufällig ansiedeln, zeugt von dem Luxus, den linke Intellektuelle im amerikanischen Exil genossen.

Marcuse, gespielt von John Bluthal, hat dem entführten Leinwandstar (Clooney) inzwischen beigebracht, dass er Teil eines ausbeuterischen Systems ist, der Hollywood-Filmindustrie. Die Kidnapper sind fest davon überzeugt, die historische Wahrheit über die Befreiung der werktätigen Bevölkerung aus der Knechtschaft des Kapitals präzise voraussagen zu können – eine Anspielung auf den Sozialismus, der in den Augen seiner Anhänger zur exakten Naturwissenschaft verklärt wurde. Die Entführer wollen den berühmten Schauspieler dazu benutzen, um das Studio zu erpressen. Das Geld soll in den Kampf gegen das ausbeuterische System investiert werden, das sich auf diese Weise selbst abschafft. Das sei „dialektisch“.

George Clooney, der hier einen ähnlichen Trottel spielt wie schon in „Burn After Reading“, hat den Erklärungen der Professors gebannt gelauscht und teilt ihm sogleich mit, was von dessen revolutionären Ideen bei ihm angekommen ist. Dialektisch sei es, wenn er Danny Kaye (einem bekannten Komiker aus den 40er Jahren) den Rücken rasiert. Das Gesicht des Professors spiegelt tiefes Entsetzen. Man kann Marcuses Reaktion ebenso als Erleuchtung interpretieren. Hat dieser hemdsärmelige Schauspieler im Kostüm eines Römers die „Dialektik“ nicht sehr viel besser verstanden als der linke Gelehrte im Elfenbeinturm?

Die Botschaft ist zweideutig – aber eben nicht eindeutig zweideutig. Sie ist dialektisch. Dieses Changieren zwischen der Kritik an dem Budenzauber der Traumfabrik und einer gefühlvollen Hommage an die Leistungsfähigkeit der Hollywood-Industrie bestimmt den Grundgestus von „Hail, Caesar!“ Die doppelbödige Geschichte schildert einen typischen Arbeitstag von Eddie Mannix, dessen Figur eigentlich schon von Bob Hoskins in „Die Hollywood-Verschwörung“ verkörpert wurde. Die Coens erzählen aber nicht einfach eine weitere Episode über diesen legendären Troubleshooter, der als feinsinniger Mann fürs Grobe permanent Probleme lösen und Skandale vertuschen muss.

Eilt der von Josh Brolin verkörperte „Fixer“ von Set zu Set, so führen die Brüder im Vorbeigehen das Funktionieren grundlegender Genres vor Augen, vom Western über das Melodram und den Sandalenfilm bis hin zur Tanzrevue. Das Mitschreiben von Zitaten und Anspielungen würde wahrscheinlich mehrere Seminararbeiten füllen. Die Kunst der Coens besteht aber darin, Meta-Referenzen in die erzählte Geschichte einzubinden. Sieht man Scarlett Johansson als Nixe in einem Aqua Musical à la Esther Williams, so blickt man zwar permanent hinter die Kulissen. Man kann sich aber trotzdem an diesem geometrischen Farbenrausch erfreuen. Dialektik.

Diese sublime Korrespondenz von Form und Inhalt spiegelt sich nicht zuletzt in Mannix’ Bemühungen, den entführten Star aufzuspüren. Als Baird Whitlock (Clooney) schließlich wieder vor ihm steht und mit glühender Begeisterung von den kommunistischen Ideen seiner Entführer schwärmt, bringt der Problemlöser den Verblendeten mit ein paar gut gemeinten Ohrfeigen rasch wieder auf Kurs.

Man könnte dies als reaktionäre Geste der Unterwerfung deuten. Doch Mannix verkörpert weder einen Ausbeuter, noch einen Büttel des Kapitals. Von den ersten Bildern an verwenden die Brüder viel Sorgfalt auf die Zeichnung dieses Mannes, der trotz seines „30-Stunden-Tages“ noch Zeit findet zur Beichte. Wie so häufig bei den Coens spielt Religion eine Schlüsselrolle, weil es dabei um die Vaterfigur geht. Lässt man die Filme der Brüder im Geiste Revue passieren, so sieht man, dass in ihnen immer wieder väterlich anmutende Charaktere auftreten. Wobei es zwei Typen von Patriarchen gibt. Man kennt den Despoten, der sich dem Gesetz, das er repräsentiert, nicht selbst unterwerfen will, etwa Leo O’Banion in „Miller’s Crossing“, Sidney Mussburger in „The Hudsucker Proxy“ oder Jarry Lipnick in „Barton Fink“.

Daneben gibt es aber auch den „guten Vater“, der beispielsweise in einem Traum in „No Country For Old Men“ angerufen wird oder in „The Hudsucker Proxy“ als rettender Engel auftaucht. Ein solcher ist auch Eddie Mannix. Für ihn ist das Funktionieren des Studios wichtiger als das schnöde Geld. Weswegen er auch das gut dotierte Jobangebot von Lockheed ausschlägt. Wenn dieser Trobleshooter voller Selbstzweifel den Pater fragt, ob es Sünde sei, wenn man „immer das Schwierigste“ wolle, dann schmuggeln die Coens hier ganz nebenbei eine Ethik in den Film hinein. Auf ihre unnachahmliche Art haben die Brüder mit diesem Problemlöser einen demütigen Repräsentanten der Autorität entworfen, der seine Macht nicht missbraucht und sogar das Drehbuch für eine Bibelverfilmung von den Vertretern der wichtigsten Religionen absegnen lässt.

Dieser Film im Film birgt eine für die Coens typische Pointe. In einer Szene wie aus „Die zehn Gebote“ muss der vom Kommunismus „kurierte“ Clooney als bekehrte Seele eine flammende Rede über den Erlöser halten, der vor ihm ans Kreuz genagelt wurde. Durch die eingeblendeten Reaktionen der einfachen Bühnenarbeiter am Set wird suggeriert, dass dieser Monolog etwas Authentisches zu Gehör bringt, etwas spirituell Mitreißendes, das alle berührt. Auch dem Zuschauer im Kinosessel wird es warm ums Herz. Man fühlt sich zurückversetzt in jene Zeit, als man zum ersten Mal einen Monumentalfilm im Kino gesehen hat.

Doch dann stockt Clooney. Ihm will das finale Wort nicht einfallen, das allein seiner Rede Sinn verleiht: „Glauben“. Obwohl er damit als hohle Marionette und der Film im Film als zynische Manipulation entlarvt wird, wird aber – und das ist die Kunst der Coens – die spirituelle „Botschaft“ keineswegs entwertet. „Hail, Caesar!“, der Film, ist wie ein Möbiusband. Während man der Geschichte und der Geschichte über die Geschichte gleichzeitig folgt, kann man nie entscheiden, wann die fiktive Erzählung gebrochen wird und die Reflexion über das Geschilderte beginnt.

Im Vergleich zu früheren Filmen der Brüder könnte man hier die „emotionale Tiefe“ vermissen. Im Gegensatz zu „Fargo“ oder „Burn After Reading“ wird keine weitere Geschichte über jene tragischen Verlierertypen erzählt, die sich durch Verkettungen abstruser Umstände, an denen sie scheinbar keine Schuld haben, in schicksalhaftes Scheitern verstricken. Das porträtierte Studiosystem ist – trotz eine Serie unausweichlicher Pannen, Verfehlungen und Missgeschickte – eine Maschinerie, die auf geheimnisvolle Weise bestens funktioniert. Und deshalb ist auch der Tonfall in dieser zuweilen etwas barock anmutenden Komödie versöhnlicher. Verlierer gibt es in „Hail, Ceasar!“ auch, es sind aber nur Randfiguren. Es sind die Kommunisten.

Der Kuaför aus der Keupstraße

(D 2016, Regie: Andreas Maus)

Keine besonderen Vorkommnisse
von Marit Hofmann

Wie arbeiten deutsche 'Verhörspezialisten'? Und was machen deutsche Filmemacher daraus, wenn sie Ermittlungsakten in die Finger kriegen? Zwei aktuelle Beispiele: Raymond Ley hat das Gedächtnisprotokoll der BKA-Leute, die Beate Zschäpe …

Wie arbeiten deutsche 'Verhörspezialisten'? Und was machen deutsche Filmemacher daraus, wenn sie Ermittlungsakten in die Finger kriegen? Zwei aktuelle Beispiele: Raymond Ley hat das Gedächtnisprotokoll der BKA-Leute, die Beate Zschäpe auf dem Weg zu ihrer Oma in entspannter Plauderatmosphäre vergeblich zum Auspacken bewegen wollten, zur Grundlage seines Ende Januar ausgestrahlten TV-Terrorakts 'Letzte Ausfahrt Gera. Acht Stunden mit Beate Zschäpe' (hier in der ZDF-Mediathek zu sehen) gemacht. Die an Zschäpes Klagen über die miese Knastkost anteilnehmenden Kripobeamten erscheinen besonnen; in ihrer aufrichtigen Sorge reden sie schon mal mit sich selbst ('Was weißt du, Mädchen?'), wenn Ley nicht weiß, wie er den ahnungslosen ZDF-Gucker sonst in den Fall einführen soll.

Während Ley in seinem 'Dokudrama' unter anderem auf die Expertise eines NPD-Funktionärs setzt, Mitleid mit den ratlosen Polizisten wecken und in absurd nachgestellten Szenen Tisch und Bett mit Beate und ihren Uwes teilen will, widmet sich Andreas Maus in 'Der Kuaför aus der Keupstraße' Opfern des NSU, die auch zu Opfern der Polizei wurden: die beim Kölner Nagelbombenattentat 2004 vor einem türkischen Frisörsalon Verletzten und ihre Angehörigen.

Haben Sie schon einmal Münzen in einen Spielautomaten geworfen? Wenn Sie dann noch aus der Türkei stammen und ein Anschlag auf Sie verübt wurde, macht Sie das hochverdächtig. Zumindest für die deutsche Polizei. Die Stärke der künstlerisch überambitionierten und mit einem überflüssigen poetischen Off-Kommentar versehenen Dokumentation: Die von Schauspielern auszugsweise nachgestellten Verhöre, denen Attentatsopfer noch Jahre danach stundenlang unterzogen wurden, machen klar, dass der 'Weg, vom Opfer – aus einer vollkommen normalen bürgerlichen Existenz heraus – zum Täter gemacht zu werden, sehr, sehr kurz' (Maus) ist. Die Ermittler bringen Eheleute und Geschäftspartner durch Unterstellungen und Verdächtigungen ('Ach, Sie spielen Oddset? Warum haben Sie das verschwiegen?', 'Wissen Sie, was Ihr Mann in seiner Stammkneipe macht?') gegeneinander auf, Freundschaften zerbrechen.

Eine fremdenfeindliche Tat, wie sie die Leute aus der Keupstraße vermuteten, hat die Kölner Polizei (wie ihre Kollegen bundesweit) von Anfang an ausgeschlossen, und sie räumt nach wie vor keine Fehler ein. Während die Staatsgewalt Zschäpe mit Süßigkeiten und Einladungen in den Biergarten ködern will, wurden die Opfer des NSU ein weiteres Mal fertiggemacht. Bis heute lässt man sie mit den psychischen Folgen nicht zuletzt der 'Polizeiarbeit' allein. Da hilft es auch nicht, wenn Bundeskuschelpräsident Gauck die Frisörfamilie fürs Gruppenfoto betatscht. Wenn Streifenwagen zum Schutze Gaucks die Keupstraße entlangrollen, kann einem am Ende dieses Films angst und bange werden. Hilfe, Polizei!

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

Der Bunker

(D 2015, Regie: Nikias Chryssos)

Im schwarzen Loch der Erziehung
von Wolfgang Nierlin

Der titelgebende Bunker liegt irgendwo im tief verschneiten Wald unter der Erde. Abgeschieden von der Welt und dem, was man das normale Leben nennt, hat sich hier eine sehr merkwürdige …

Der titelgebende Bunker liegt irgendwo im tief verschneiten Wald unter der Erde. Abgeschieden von der Welt und dem, was man das normale Leben nennt, hat sich hier eine sehr merkwürdige Familie in ihrer selbstgewählten Klaustrophobie eingerichtet. Die engen Räume, verziert mit allerlei Nippes, Retro-Kitsch und gemusterten Tapeten, zwingen mit ihren niedrigen Zimmerdecken die Bewohner förmlich zu einem gebeugten Gang. Das bizarre Inseldasein zwischen selbstgewählter Isolation und Gefangenschaft wird allerdings schon bald irritiert durch einen Gast (Pit Bukowski), der sich hier für seine ruhebedürftige wissenschaftliche Forschung einmietet. Der Hausherr und Vater (David Scheller) weist ihm ein ziemlich karges, dunkles und unwirtliches Kellerloch zu. Es komme zwar kein Licht herein, dafür aber auch keines hinaus, flunkert der Buch führende Vermieter. In Nikias Chryssos‘ ebenso verstörendem wie abgründigem Film „Der Bunker“, der Elemente des Kammerspiels, der absurden Komödie und des psychologischen Horrorthrillers in sich vereint, wird ein phantastischer Ort zum Versuchslabor für Erziehung und Lernen.

Während sich der junge Wissenschaftler, wahlweise Student oder Professor genannt, sehr angestrengt über den theoretischen Nachweis des „Higgs-Partikels“ hermacht, ist der ambitionierte Vater darum bemüht, seinen Sohn Klaus (Daniel Fripan) mit skurrilen Unterrichtsmethoden, aber vor allem gewaltsam „auf die Hauptstraße des Erfolgs“ zu führen. Tatsächlich ist der angeblich 8-jährige, eher zurückgebliebene als „hochbegabte“ Klaus irgendwo zwischen Kind und jungem Erwachsenen stecken geblieben. Seine dominante, intrigante Mutter (Oona von Maydell), die den androgyn wirkenden Jungen im inzestuösen Klammergriff hält, hat daran wesentlichen Anteil. Weil der stumpfsinnige Unterricht des „überlasteten“ Vaters nichts fruchtet, wird kurzerhand der widerwillige Student als Privatlehrer verpflichtet. Doch erst die körperliche Züchtigung des Schülers bringt den gewünschten Lernerfolg. Motiviert wird der pädagogische Zuchtmeister dabei von einem ironischen Deal: Zur Steigerung seiner forscherlichen Kreativität sowie als „Unterrichtsentschädigung“ ist ihm die Mutter sexuell zu Diensten.

Wie Giorgos Lanthimos in seinem themenverwandten Film „Dogtooth“ beschreibt auch Nikias Chryssos in seiner schwarzhumorigen Parabel „Der Bunker“ mit kalter Präzision und einem aberwitzigen Setting die Familie als geschlossenes Herrschaftssystem. In einem ebenso gewöhnlichen wie abseitigen Mikrokosmos inszeniert der deutsch-griechische, in Heidelberg aufgewachsene Regisseur mit suggestiven Mitteln den grausamen Psychoterror einer von hehren Bildungsidealen und Pseudo-Intellektualität getriebenen Erziehung. Deren ironisch-satirische Kontrastfolie bildet Musik von Chopin, Mozart, Beethoven und Pachelbel. Chryssos‘ schonungslos radikales Filmexperiment erfährt seine paradoxe Zuspitzung schließlich in dem Gedanken, dass die Eltern das Wachsen und die Selbständigkeit ihres Kindes verhindern, dieses aber zugleich durch gewaltsam eingetrichterte „Bildung“ „weltweit einsatzfähig“ machen wollen. Dass dagegen ausgerechnet die Entdeckung des Spielens als das elementarere Lernen erscheint, markiert den schön anarchisch inszenierten Wendepunkt hin zu einer Freiheit, die am Ende jedoch nur eine halbe Hoffnung zwischen Aufbruch und einer Bestätigung des Status quo bereithält.

Hier finden Sie ein Interview mit Regisseur Nikias Chryssos.

Mustang

(F/TR/D 2015, Regie: Deniz Gamze Ergüven)

Häusliches Gefängnis
von Wolfgang Nierlin

Unter die Vorspanntitel schieben sich von links und rechts, von oben und unten lange Linien, um in rechten Winkeln Raster oder Gitter zu bilden, die sich immer wieder neu formieren …

Unter die Vorspanntitel schieben sich von links und rechts, von oben und unten lange Linien, um in rechten Winkeln Raster oder Gitter zu bilden, die sich immer wieder neu formieren und dabei die Namen der Mitwirkenden einschließen. „Dramaturgisch gesehen“, sei ihr Debütfilm „Mustang“, „ein Gefängnisfilm“, sagt die in der Türkei geborene, hauptsächlich in Frankreich lebende Regisseurin Deniz Gamze Ergüven. Ihre jugendliche Erzählerin Lale (Günes Nezihe Sensoy), die jüngste von fünf Schwestern, konstatiert zu Begin aus dem Off nüchtern eine einschneidende Veränderung, die der Film im Folgenden thematisiert. Sie resümiert deshalb: „Alles ging den Bach runter.“ Damit ist schließlich auch ein schmerzlicher Abschied von der Kindheit gemeint. Allerdings verbindet die türkische Regisseurin in „Mustang“ ihre etwas andere, von äußeren Zwängen gesteuerte Coming-of-Age-Geschichte mit einer dezidierten Kritik an der traditionell patriarchalischen Gesellschaft der Türkei.

Seit dem Tod ihrer Eltern vor zehn Jahren leben Sonay, Selma, Ece, Nur und Lale bei ihrer Großmutter (Nihal Koldas) und ihrem autoritären Onkel Erol (Ayberk Pekcan) in einem kleinen beschaulichen Ort an der türkischen Schwarzmeerküste. Über weitere soziale und familiäre Hintergründe erfährt man fast nichts; die Zweck- oder Ersatzgemeinschaft bewohnt ein idyllisches Holzhaus im Grünen auf einem Hügel über dem Meer. Als die Sommerferien beginnen, planschen die bildschönen Schwestern auf dem Heimweg von der Schule mit gleichaltrigen Jungs im Wasser; und zwar mit wehenden Haaren und in voller Schuluniform, was man einigermaßen ungewöhnlich finden kann. Ein übermütiger Freiheitsdrang kommt in diesem ausgelassenen Spiel zum Ausdruck. Für die selbstbewusst und aufgeklärt auftretenden Geschwister bedeutet dieser Ausbruch, als wäre es der erste seiner Art, allerdings eine Zäsur. Denn die Strafe folgt auf dem Fuße: Neben körperlichen Züchtigungen hinter verschlossener Tür und einem ärztlichen „Jungfräulichkeitsbericht“ verhängt man über die rebellischen Teenager vor allem einen verschärften Hausarrest.

Die Haustür wird verschlossen, Telefone und Computer werden konfisziert und das häusliche Gefängnis verwandelt sich, so die aufgeweckte Lale, in eine „Fabrik für Ehefrauen“, in der die Mädchen – als sei dies etwas völlig Neues – fortan Kochen und Backen lernen und dazu „formlose, kackbraune Kleider“ tragen müssen. Schließlich sollen sie möglichst bald und in schneller Folge verheiratet werden, wobei Glück und Unglück nahe beieinander liegen. Neben der darin aufscheinenden Ausweglosigkeit, die den Mädchen fast jegliche Selbstbestimmung abspricht, deutet der Film die Doppelmoral des selbstherrlichen Onkels an, der sich offensichtlich sexuell an seinen Nichten vergeht. Gefangen in Langeweile und Ereignislosigkeit, entwickeln die Schwestern in ihrer Sehnsucht nach Freiheit ein heimliches Leben, gelingen ihnen immer wieder kleine Übertretungen und Ausbrüche. Doch fast unaufhaltsam lösen sich unter dem äußeren Druck die geschwisterlichen Bande.

Öfters wirkt das häusliche Gefängnis in Ergüvens Film wie ein idyllisches, von warmem, freundlichem Licht beschienenes Refugium, das die Gefangenschaft nicht wirklich spürbar macht und am Schluss, in origineller Umkehrung der Verhältnisse, für kurze Zeit sogar zum Schutzraum wird. Zwischen sommerlicher Schläfrigkeit und wildem Aufbegehren, wofür das Temperament des titelgebenden Wildpferdes steht, akzentuiert die Regisseurin vor allem die Sinnlichkeit und das Freiheitsstreben ihrer intelligenten Heldinnen als weibliche Gegenkraft zur Männerwelt. Hätte das auf diese Weise ein Mann gefilmt, stünde er wohl im Verdacht des lüsternen, wiewohl weichgezeichneten Voyeurismus. Dem angeprangerten Traditionalismus steht eine geradezu „unrealistische“ Freizügigkeit gegenüber, die man nicht leicht glauben kann. Auch mit der allzu gerafften Erzählung der Zwangsverheiratungen und anderen „Plötzlichkeiten“ hat man als Zuschauer seine Mühen. Allerdings beansprucht Deniz Gamze Ergüven für ihren Film „Mustang“, der zum Schluss hin dann noch einige Spannung entwickelt, auch keine realistische Erzählung, sondern versteht ihn als „eine Art Märchen mit mythologischen Motiven“. Und in solcherart Gegenwelt dürfen die Dinge dann wohl auch ein bisschen über dem Boden der Tatsachen schweben.

Ein Mann namens Ove

(SE 2016, Regie: Hannes Holm)

Blockwart mit Orientierungsproblemen
von Julia Olbrich

Kennen Sie die Kleideraufbewahrungssysteme, wo man ganz viel Zeugs in einen Plastiksack quetscht und dann den Staubsauger nimmt, um alles auf wenige Zentimeter Raum einzuvakuumieren? Und wenn man später diesen …

Kennen Sie die Kleideraufbewahrungssysteme, wo man ganz viel Zeugs in einen Plastiksack quetscht und dann den Staubsauger nimmt, um alles auf wenige Zentimeter Raum einzuvakuumieren? Und wenn man später diesen Plastiksack wieder öffnet, da wird man fast erschlagen durch all das, was zum Vorschein kommt? Dann wissen Sie, wie es Ihnen mit der Tragikkomödie „Ein Mann namens Ove“ gehen könnte. Man verlässt das Kino und denkt sich: Ach, hätten die Filmemacher doch nur eine Serie draus gemacht!

Mit „Ein Mann namens Ove“ hat man sich an die Verfilmung des schwedischen Buch-Bestsellers mit gleichnamigem Titel gewagt, über 500 000 Exemplare sollen alleine in Schweden davon verkauft worden sein, der Roman erscheint außerdem in über 30 Ländern. Held der Geschichte im Buch wie jetzt auch im Film ist Ove, ein grantelnder Stinkstiefel im Rentenalter. Ove (Rolf Lassgard) ist der Typ Mensch, der jeden Regelverstoß als Angriff auf die eigene Person auffasst. In seiner Nachbarschaft tritt Ove als Blockwart auf, dem beim morgendlichen Patrouillengang nichts entgeht: Er notiert Falschparker, überprüft die Mülleimer auf korrektes Recycling und hebt Zigarettenstummel vom Boden auf.

Umso überraschender, dass Ove nicht rebelliert, als er nach 40 Jahren treuer Arbeit in seiner Firma eines Tages einfach so „wegrationalisiert“ werden soll. Mit scheinbarem Gleichmut hört sich Ove die Kündigung an, die ihm zwei aalglatte Anzugträger schmackhaft machen wollen. Tatsächlich ist der Rauswurf aus dem Betrieb für den 62-Jährigen eine Befreiung. Wenige Wochen zuvor ist Oves Ehefrau verstorben, nun gibt es nichts mehr, was ihn auf der Erde noch hält.

Also setzt Ove alles daran, so schnell wie möglich zu sterben. Doch das erweist sich als erstaunlich schwierige Aufgabe. Gleich bei seinem ersten Versuch wird er gestört durch die fröhlich-chaotische Multikulti-Familie, die neu in Oves Nachbarschaft zieht. Plötzlich weiß Ove nicht mehr, was zuerst erledigt werden muss: Zu sterben, oder seine Nachbarn in die Schranken zu weisen, die gerade dabei sind, den nächsten Blödsinn anzustellen.

In seinem Bemühen zu Sterben erinnert Ove an Harold aus „Harold und Maude“, und auch bei Ove scheitert ein Suizidversuch nach dem anderen. Vor allem Oves Nachbarin Parvaneh (Bahar Pars) schafft es, häufig dazwischenzufunken. Sie spürt seine verborgene Melancholie und bindet den kratzbürstigen Rentner kurzerhand in ihr Familienleben ein: spontane Krankenhausbesuche, Babysitting und Fahrstunden mit der Familienkutsche. Ove wird der Mann für alle Notfälle. Und er macht all das mit, weil die junge Nachbarin ihn an seine verstorbene Ehefrau erinnert.

Das erfährt der Kinozuschauer in Rückblenden. Und hier ist man schon beim Hauptproblem des Films angekommen: Er spielt zu wenig in der Jetzt-Zeit. Stattdessen muss sich der Zuschauer durch lange und viele Zeitsprünge durcharbeiten. Das stört gewaltig. Denn erstens fragt man sich, welche Geschichte erzählt werden soll: Geht es um Ove, den miesepetrigen Blockwart? Oder um den Ove aus der Vergangenheit – den rührigen Ehemann, den schüchternen Sohn? So viele Handlungsstränge und Zeitebenen mögen im Roman funktionieren, den Film bremsen sie jedoch. Das Ziel der vielen Rückblenden ist klar – der Zuschauer soll lernen, dass Ove nicht nur ein Anti-Held ist. Sondern eigentlich ein ganz großes Herz hat. Sicherheitshalber wird diese Quintessenz am Film-Ende gleich mehrmals direkt ausgesprochen, sodass man sie selbst mit zwei Promille kapieren würde. Garniert wird dies mit einer Filmmusik, die durch ihr ostentatives Drücken auf die Tränendrüse doch sehr an Rosamunde Pilcher-Filme erinnert.

Fairerweise muss man anmerken, dass sich Regisseur Hannes Holm mit der schlichten Tonalität seines Films konsequent an die Literaturvorlage hält. Denn das Buch „Ein Mann namens Ove“ von Autor Fredrik Backman ist kein Werk schwieriger Worte, und komplizierte Satzkonstruktionen findet man eher auf dem Mond als hier. Oder wie es Spiegel-Redakteure in einer Besprechung zu Backmans Nachfolgeroman auf den Punkt bringen: „Im Vergleich zu diesem Buch sind die Minions Quantenphysik.“

Die besten Momente hat der Film „Ein Mann namens Ove“, wenn die Hauptfigur so richtig fies sein darf. Diese Szenen sind originell, witzig und gut getimt. Darunter Oves Versuch, sich mit einem Strick zu erhängen, und selbiger einfach vom Deckenhaken abreißt. Kurzerhand marschiert Ove in den Baumarkt, wo er den Strick gekauft hat, und fordert sein Geld zurück: „Es hieß doch, der Strick sei universell einsetzbar!“ Eindeutig punkten kann der Film auch mit seinen Hauptdarstellern, allen voran Rolf Lassgard („Kommissar Wallander“), der den Ove spielt. Scheinbar mühelos wechselt Lassgard dabei vom polternden Rüpel zum trauernden Witwer, der ein diffuses Schuldgefühl verdrängen will.

Wer Fan des Buches war, muss beim Film keine Überraschungen fürchten. Man bekommt, was man bestellt – einfach aufbereitete Lebensweisheiten, hübsch fotografiert, am Ende siegt das Gute. Alle anderen Zuschauer werden möglicherweise enttäuscht sein, weil sie nach der Trailer-Vorschau mit mehr Tief- und Abgründigkeit gerechnet hätten. Und wo findet man dann Trost? Bei Filmen wie dem Animationsstreifen „Up“ (2009) oder „St. Vincent“ (2014) mit Bill Murray, die zeigen, wie man die Geschichte „Grantelnder Rentner mit weichem Kern“ um Lichtjahre eleganter erzählen kann.

Much Loved

(F/MA 2015, Regie: Nabil Ayouch)

Gesellschaftliche Doppelmoral
von Wolfgang Nierlin

Die Prostituierten Noha, Randa und Soukaina bilden eine verschworene Gemeinschaft. Wenn sie sich im ziemlich ungezwungenen frivolen Geplänkel gegenseitig überbieten, schwingt neben aller Ironie über die Zustände immer auch eine …

Die Prostituierten Noha, Randa und Soukaina bilden eine verschworene Gemeinschaft. Wenn sie sich im ziemlich ungezwungenen frivolen Geplänkel gegenseitig überbieten, schwingt neben aller Ironie über die Zustände immer auch eine gute Portion Lebenslust mit. Die drei jungen Frauen wohnen und arbeiten zusammen in der marokkanischen Stadt Marrakesch. Sie helfen sich gegenseitig und träumen von einem besseren Leben. Sie bewegen sich durch eine heimliche, inoffizielle Welt, die trotzdem vielfache Beziehungen in die Gesellschaft unterhält. Noha, Randa und Soukaina sind die Schönen der Nacht, die von ihrem Chauffeur und gutmütigen Zuhälter Saïd zu den ausschweifenden Partys reicher, saudi-arabischer Geschäftsmänner in ein Luxushotel gebracht werden. Hier spielen sie souverän ihre Rollen, indem sie gleichzeitig als Unterhalterinnen, Liebhaberinnen und unterdrückte Sexarbeiterinnen fungieren. Ihre Persönlichkeiten sind gespalten zwischen selbstbewusstem Stolz und erzwungener Unterwürfigkeit.

Unerwartet offen und freizügig zeigt Nabil Ayouch in seinem bemerkenswert mutigen und äußerst gewagten Film „Much Loved“ die Arbeit der Prostituierten und die mit ihr verbundene gesellschaftliche Doppelmoral. Denn wie nebenbei thematisiert der französisch-marokkanische Filmemacher, dessen tabubrechender Film in Marokko prompt mit einem Aufführungsverbot belegt wurde, den verzweigten illegalen Geldfluss, der aus dem offiziell geächteten Gewerbe resultiert; und von dem viele profitieren, während sie gleichzeitig die Prostituierten verachten. Diese versorgen ihre Familien, „schmieren“ Türsteher von Diskotheken und werden von korrupten Polizisten (auch sexuell) ausgebeutet. Andererseits folgen auch die Frauen allein der Logik des Geldes, wenn sie Ausländer „abziehen“ und (auch emotional) betrügen.

Doch Nabil Ayouch will mit seinem Film nicht werten, sondern vor allem das wirkliche Leben der Mädchen zeigen, die er mit hervorragenden Laienspielerinnen besetzt hat. Dazu gehört nicht nur die Darstellung komplexer gesellschaftlicher Austauschprozesse, sondern auch die Thematisierung von Homosexualität und ihrer Unterdrückung, von Transvestitismus und sexueller Ausbeutung von Kindern. Der Film „Much Loved“ gibt einen ungewöhnlichen Einblick in die geheimen Refugien jenseits offizieller Verbote innerhalb einer muslimischen Gesellschaft, er handelt vom Verlust familiärer Beziehungen, aber auch von weiblicher Solidarität in einer Art Ersatzfamilie. Daneben, gewissermaßen im Vorbeifahren, blickt er immer wieder, melancholisch gestimmt, auf das alltägliche Leben in einer „verrückten Stadt“ mit ihrem vielfältigen Nebeneinander von Tradition und Moderne.

Sibylle

(D / I 2015, Regie: Michael Krummenacher)

Notizen aus der Nachsaison
von Ulrich Kriest

Dass man Filme vor ihren Presseheften in Schutz nehmen muss, ist gängige Münze unter Filmkritikern. Gilt vielleicht sogar für Drehbücher, die zu (anderen) Filmen wurden. Soll man die ursprüngliche Idee, …

Dass man Filme vor ihren Presseheften in Schutz nehmen muss, ist gängige Münze unter Filmkritikern. Gilt vielleicht sogar für Drehbücher, die zu (anderen) Filmen wurden. Soll man die ursprüngliche Idee, die einem Projekt zugrunde lag, derart ehren, dass man sie gewissermaßen zumindest in Papierform in Erinnerung behält? „Sibylle“, so wird uns erzählt, handle davon, dass die gleichnamige „Architektin, Mutter und Ehefrau“ Bedrohliches erfahre, dass sie Schwierigkeiten habe, zur Ruhe zu kommen. Später wird dann noch das Stichwort „Burn-Out“ nachgeliefert. Das Psychogramm einer von der Vielzahl ihrer divergierenden Rollen überforderten Frau? Könnte sein.

Wir sehen eine Kleinfamilie im Urlaub am Gardasee. Nachsaison. Die Hotelanlage ist schon leer, aber die „Rambo“-Show im Themenpark ist noch ganz gut besucht. Warum hat der Vater wohl eine Tiermaske aufs Gesicht gemalt? Wenn die Familie noch schläft, begibt sich Sibylle auf morgendliche Spaziergänge hoch oben über dem See, wo sie einer auffallend ähnlich gekleideten und auffallend ähnlich gebauten Frau begegnet, die kurz darauf Opfer eines schweren Unfalls wird. Oder war es Selbstmord? Sibylle, die der Frau zu Hilfe eilt, macht eine traumatisierende Erfahrung, die sie jedoch – trotz einer Wunde, die sie davongetragen hat – zunächst für sich behält.

Der Schweizer Filmemacher Michael Krummenacher setzt sehr früh auf Genre-Elemente des Mystery-Thrillers oder auch des Horrorfilms, isoliert die Protagonistin von ihrer Familie, nutzt Informationen der Tonspur, die (zunächst) nicht so recht zur Handlung zu passen scheinen. Erst zurück in München wird dann deutlich, dass die Partnerschaft zu ihrem Mann Jan beruflich asymmetrisch ist oder zumindest als solche erscheint. Hier geriert sich Sibylle fast schon arrogant kompetenter, qualifiziert Vorschläge ihres „Arbeits- und Lebenspartners“ öffentlich als „Fingerübungen“ ab: „Ich spreche mich nicht mit dir ab, weil mir deine Mitarbeit erschreckend wenig weiterhilft!“, erklärt sie einmal erregt.

Doch derlei psychologisierendes »Szenen einer Ehe«-Futter erscheint fast schon als ungleichzeitige Einschüsse innerhalb eines dominierenden filmischen Diskurses, der längst auf Second-Order-Verbeugungen vor Kubricks „Shining“ (Fotos, Jazz-Musik, Gänge etc.) oder Polanskis „Der Mieter“ (Paranoia) eingeschworen scheint. Hier erscheint Entfremdung als eine Reise in den Wahn, wobei üblicherweise nie ganz ausgemacht ist, was Traum, was Realität ist.

Oder sollte sich der komplette Film als Abbild eines Wahns erweisen, zu dem »die Realität« nur noch momentan wie durch einen Schleier durchdringt? Wie steht es um die Chronologie der Ereignisse? Krummenacher und sein Team realisieren handwerklich makelloses, äußerst präzises und effektives Genre-Kino, das aus der Kunst der Hauptdarstellerin Anne Ratte-Polle Mehrwert schöpft, die hier souverän auf der Schwelle zwischen Horror, Erschöpfung und Hysterie agiert und einem expressionistischen Stummfilm entsprungen scheint. Am Schluss scheint eine zirkuläre Bewegung des Erzählens in der Verdoppelung des Kindsmords und des Doppelgänger-Motivs angedeutet und auch als Indiz des Bruchs variiert, was dem Film einen etwas überdeutlichen Bogen hin zum Beginn verleiht, als der ältere Sohn eine furchtbare Nachricht aus dem Internet pflückt.

Ob Krummenacher am Ende mit seinem Genre-Hybriden den Stoff überreizt hat oder ob die Mischung aus Psycho-, Mystery- und Horror-Thriller trägt, muss wohl jeder Zuschauer mit sich selbst ausmachen. Schließlich kann man ja auch aus Vorhersehbarkeit einen subjektiven Eindruck von Spannung beziehen und sich ansonsten an der reizvollen Dichte des Atmosphärischen erfreuen.

Feuer bewahren – nicht Asche anbeten

(D 2016, Regie: Annette von Wagenheim)

Dazwischen-Schweben
von Wolfgang Nierlin

„Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers“. Dieses Zitat des Komponisten Gustav Mahler hat die Dokumentarfilmerin Annette von Wagenheim in den Titel ihres Films „Feuer …

„Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers“. Dieses Zitat des Komponisten Gustav Mahler hat die Dokumentarfilmerin Annette von Wagenheim in den Titel ihres Films „Feuer bewahren – nicht Asche anbeten“ übernommen, der ein intimes Portrait des gefeierten Tänzers und Choreographen Martin Schläpfer zeichnet. Das Bild der lodernden Flammen, die es fortwährend zu füttern gelte, ist für den in der Schweiz geborenen Tanzkünstler zugleich eine Metapher für seine notwendige künstlerische Unruhe. Sich als Künstler nie zufrieden geben, sich nie ganz sicher sein oder auf dem Erreichten routinemäßig ausruhen, stattdessen aber den Zweifel nähren, bezeichnet Schläpfer zu Beginn aus dem Off des Films als Ausdruck seiner kreativen Beweggründe: „Immer ein bisschen on tour, nie ganz ankommen.“ Dazu zeigt ihn Annette von Wagenheim, die nach vielen Fernseharbeiten nun erstmals einen Kinofilm realisiert hat, als Bergwanderer in seinem Sommerdomizil in den Tessiner Alpen. Spätestens beim panoramatischen Gipfelblick gerät das Filmbild jedoch in eine leichte Schieflage zu dem, was Schläpfer meint.

Anders und weniger spekulativ sind dagegen die Aufnahmen von den Probearbeiten zu dem Tanzstück „Alltag“, das der renommierte Choreograph Hans van Manen zusammen mit Martin Schläpfer entwickelt. Dieser tanzt gewissermaßen ein Selbstportrait, in das seine eigene künstlerische Unruhe einfließt: grüblerische Phasen des Nachdenkens zusammengekauert auf einem Stuhl; die Suche nach Inspiration im Kreisen um sich selbst; die Zweifel an der Arbeit; schließlich die pure Lust und Freude am Tanzen. Dabei geht es Schläpfer jedoch nicht um ein klassisches Handlungsballett, sondern vielmehr um das energetische, sinnliche, erotische und nicht zuletzt geheimnisvolle Potential der Tanzkunst. Deren prinzipielle Flüchtigkeit korrespondiert mit dem Nichtfestlegbaren einer Kunst, deren abstraktes Merkmale, also beispielsweise ihre „Farbe“ und ihr „Klima“, sich in einem „Dazwischen-Schweben“ manifestieren, wie Schläpfer einmal formuliert.

Besonders deutlich wird das an der Erarbeitung von Adriana Hölszkys Auftragskomposition „Deep Field“, die den Untertitel „Zehn Klangbelichtungen einer Metamorphose“ trägt. Die Simultanität von Bewegungen im „imaginären Raum“ (Hölszky), das Nebeneinander von Leid und Freude oder auch das „Ineinander-Schieben“ von Fragmenten kennzeichnen diesbezüglich Schläpfers Denken in Gegensätzen und Widersprüchen. Die teils längeren Ausschnitte diverser Aufführungen machen das auf schöne Weise anschaulich. Schläpfers dialektischer Geist, seine Offenheit und sein anti-hierarchisches Unterrichten vermitteln sich aber auch in der praktischen Arbeit mit seiner Compagnie. Hier erleben wir einen leidenschaftlichen, hochkonzentrierten Choreographen, der nachdenklich und mit intensiven Blicken beobachtet, immer wieder aber auch selbst die Initiative ergreift, um das Gesagte tanzend zu unterstützen.

In seiner Kunst wolle er etwas Inneres ausdrücken, ohne allerdings zu sehr von sich selbst zu sprechen, sagt Schläpfer über die notwendige Distanz eines Künstlers zur eigenen Person. Annette von Wagenheim portraitiert ihn in ihrem ästhetisch eher konventionellen, am Fernsehformat geschulten Dokumentarfilm „Feuer bewahren – nicht Asche anbeten“ als einen in fortwährender Bewegung begriffenen Suchenden, der die Freiheit liebt und seine künstlerische Verantwortung sehr ernst nimmt. So zeigt sie Martin Schläpfer nicht nur als umtriebigen, gewissenhaften Choreographen, der mit diversen Gastspielen auch international Erfolge feiert, sondern auch als Direktor des Ballett am Rhein in Düsseldorf und Duisburg, der sich sowohl Stadt und Publikum als auch der zeitgenössischen Kunst verpflichtet fühlt.

Schließlich gewährt von Wagenheims informativer Film, der ebenso dem Künstler wie dem Menschen Martin Schläpfer gewidmet ist, auch einen Einblick in dessen Privatleben. „Ich übe Leben mögen“, lautet eines der Zitate, mit denen die Wände seines Düsseldorfer Eigenheims in bunter Fleckigkeit übersät sind. Sommers hingegen, wenn er, der sich ein „sonniges Gemüt“ bescheinigt, seine entlegene Einsiedlerhütte im Maggiatal beziehe und sich in der magischen Ruhe der Bergwelt die Zeit dehne, werde die Sinnfrage annulliert. Er fühle sich dann als Teil „von etwas“ und habe deshalb neuerdings damit begonnen, seine „Almgedanken“ aufzuschreiben.

Deadpool

(USA 2016, Regie: Tim Miller)

Rebel Without A Cause
von Manfred Riepe

Die Superhelden sind nicht mehr das, was sie mal waren. Zumindest dieser Antiheld blieb schon beim ersten Auftritt blass. In „X-Men Origins: Wolverine“ war Deadpool 2009 als Über-Mutant zu sehen, …

Die Superhelden sind nicht mehr das, was sie mal waren. Zumindest dieser Antiheld blieb schon beim ersten Auftritt blass. In „X-Men Origins: Wolverine“ war Deadpool 2009 als Über-Mutant zu sehen, der die Fähigkeiten seiner Gegner in sich vereinte. Diese Inflation der Superkräfte langweilt. Als die Marvel-Figur erstmals 1998 im Comic „The New Mutants“ auftauchte, stach vor allem die Ähnlichkeit zum fast namensgleichen Blade Wilson ins Auge, einem Charakter, den die Zeichner vom Konkurrenzunternehmen DC entworfen hatten.

In seinem filmischen Relaunch kann dieser Typ, der obendrein wie ein Spiderman-Double aussieht, zwar nicht mehr „teleportieren“. Das heißt, er kann sich nicht mehr beliebig in Luft auflösen. Dafür redet der Supermaulheld nun noch mehr als früher. Mit seinem Gequassel durchbricht er gar die „vierte Wand“, um neben den Filmfiguren auch noch dem Zuschauer haarklein auseinanderzusetzen, welche Sauerei er als nächstes anstellt. Doch der Reihe nach.

Ex-Söldner Wade Wilson verdient sich sein Geld damit, dass er Frauen vor Stalkern schützt. Doch dann lernt er Vanessa Carlisle (Morena Baccarin) kennen, eine Hure mit goldenem Herzen. Das unerwartete Liebesglück haut ihn buchstäblich um. Diagnose: Lungenkarzinom im Endstadium. Was nun? Ein sadistischer Wissenschaftler mit dem sprechenden Namen Ajax (Ed Skrein) unterzieht Wilson einer S/M-artigen „Schmerztherapie“. Rund um die Uhr wird Wilson gefoltert. Zum Schweigen bringt man ihn dabei nicht. Allein seine Gene mutieren. Wade ist nun buchstäblich unkaputtbar, träg aber als Nebenwirkung die krebsartigen Wucherungen fortan im Gesicht. Verschiebung der Symptomatik.

Unter die Augen der schönen Vanessa wagt das frisch gebackene Biest sich nicht mehr. Für Wilson scheint dieser Verlust aber gar nicht so schlimm zu sein. Auf der Jagd nach dem Bösewicht, der ihm das angetan hat, entdeckt der geschwätzige Killer seine eigentliche Passion im Aufmischen ganzer Bataillone zweitklassiger Gegner. In Zeitlupe exzessiv ausgewalzte Action-Sequenzen zeigen Schwert-Enthauptungen und choreografierte Erschießungen im Sekundentakt. Da oft unklar ist, wer die seriell niedergemetzelten Gegner sind, bleibt der zynische Overkill weitgehend sinnfrei.

Zugegeben, der eine oder andere Witz zündet: „Explodierende Gebäude formen den Charakter“, heißt es aus dem Mund eines der X-Men. Aufrechte Mutanten, die noch gegen das Böse kämpfen, werden nebenbei als Spießer veralbert. Solche selbstreferentiellen Gags schaffen aber keine ironische Brechung, sondern den totalen Eskapismus. Schon im Vorspann, der die Macher des Films mit kalkulierter Respektlosigkeit veralbert, biedert die neue Marvel-Adaption sich hemmungslos an die Zielgruppe an. Spätestens im letzten Drittel, in dem der Held, der keiner sein will, die entführte Freundin befreit, die wie das Burgfräulein im gläsernen Schneewittchensarg gefangen gehalten wird, hält sich der Comicspaß in Grenzen.

An Ryan Reynolds, der unlängst in Marjane Satrapis rabenschwarzer Serienkiller-Farce „The Voices“ glänzte, liegt das nicht. Die buchstäblich nicht tot zu kriegende Deadpool-Figur funktioniert nicht. Bei den anderen Mutanten aus dem Marvel-Universum ist die Superkraft eine Chiffre für ihr jeweiliges Symptom. Das zeigt sich besonders schön bei der wundervollen Nebenfigur mit dem unwiderstehlichen Namen Negasonic Teenage Warhead. Brianna Hildebrand verkörpert diesen halbwüchsigen Trotzkopf, der seine unstrukturierte Wut auf die Welt in bösen Tweets und verheerenden Energieentladungen auszudrücken pflegt. Das macht irgendwie Sinn, denn die vermeintliche Superkraft ist eigentlich nur eine wörtlich genommene Metapher für menschliche, allzu menschliche Schwäche.

Doch Deadpool, dieser infantile Hofnarr im roten Nappaleder, hat keine wirkliche Mission. „Deadpool“, der Film, ist eine tricktechnisch durchschnittliche, übermäßig brutale Comicverfilmung mit einem prätentiös kontroversen Helden, der seine Metzeleien durch seinen forcierten Dauerkommentar als besonders „cool“ erscheinen lassen will. Der rebel without a cause tötet mit sportlichem Ehrgeiz und langweilt dabei mit seinem öden Metadiskurs. Was er eigentlich will? In einer beiläufigen Szene hackt er seine Hand ab und freut sich darauf, sich mit dem nachwachsenden Körperglied selbst zu befriedigen: In einer Babyhand fühlt sein Penis sich nämlich riesengroß an. So entpuppt „Deadpool“ sich als Masturbationsphantasie für kleine Nerds, sich ganz groß erleben dürfen.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Deadpool‘.

A Blast – Ausbruch

(GR/D/NL 2014, Regie: Syllas Tzoumerkas)

Im freien Fall
von Wolfgang Nierlin

Das antipsychologische Portrait einer Figur in den Fragmenten ihrer Geschichte: Maria (Angeliki Papoulia) gibt ihr Studium in Athen auf, um zwanzigjährig Yannis (Vassilis Doganis), den Kapitän eines Frachtschiffes, zu heiraten; …

Das antipsychologische Portrait einer Figur in den Fragmenten ihrer Geschichte: Maria (Angeliki Papoulia) gibt ihr Studium in Athen auf, um zwanzigjährig Yannis (Vassilis Doganis), den Kapitän eines Frachtschiffes, zu heiraten; sie haben zusammen drei Kinder, um die sich Maria kümmert, während ihr Mann auf See ist. Sehnsüchtig erwartet Maria seine Rückkehr. Dann stürzen sich die beiden hungrig in exzessiven, verschlingenden Sex, als gelte es, in der intensiven Umklammerung Freiheit oder ein Stück Heimat zu finden. Ihre selbstvergessene Beziehung trägt Züge einer Amour fou. Die Bilder der körperlichen Raserei und Ekstase sind in Marias Kopf, sie durchziehen als Erinnerungen den Film. Yannis schwört Maria ewige Liebe, die sie wiederum als Verschmelzung der Körper imaginiert, indem sie sich in einem Internetcafé, umringt von misstrauisch und verwundert dreinblickenden Männern, wüste Pornoseiten anschaut. Maria ist eine toughe, exaltierte junge Frau, eine aggressive Boxerin mit viel Kraft und Mut und körperlicher Energie; dabei immer laut und in Bewegung.

Was in der Nacherzählung chronologisch klingt, zerfällt in Syllas Tzoumerkas‘ fiebrigem Film „A Blast – Ausbruch“ in lauter Einzelteile, die zunächst unverbunden erscheinen. Gegenwart und Vergangenheit, Erinnerungen und Tagräume durchdringen sich fortwährend in einem teils rasanten Tempo. Sie vermischen und kommentieren sich, erzeugen Kontraste und Brüche, Anschlüsse, Ahnungen, vielleicht sogar Erkenntnisse. Das Zeit-Kontinuum ist aufgehoben und wird zugleich durch die Montage neu zusammengesetzt. Orte und Zeiten befinden sich in ständiger Fluktuation, woraus eine Gleichzeitigkeit resultiert. Auf Maria bezogen, führt das zu einer Überlagerung von außen und innen und in der Folge zu einer Art psychischem Überdruck. Dabei setzt Tzoumerkas‘ ebenso überhitztes wie analytisches Kino weder auf gefühlsmäßigen noch psychologischen Nachvollzug; vielmehr muss der Zuschauer die eher rudimentäre Handlung konstruieren, ergänzen und erfinden. Dabei passiert in „A Blast – Ausbruch“ nicht allzu viel, zumindest nicht sichtbar. Und wenn Maria ausrastet, bleiben wir immer auf Abstand, ist sie uns immer auch fremd.

Einen intimen, irritierenden Blick in ihre Seele, als Schlüsselszene gesetzt, gibt es dann doch: Von ungestillten, vielleicht sogar unbekannten Sehnsüchten, familiärer Fremdbestimmung und vor allem der finanziellen Schuldenlast ihrer Eltern zerrieben, sucht Maria eine Frauenselbsthilfegruppe auf. Sie sei „absolut unglücklich“ und führe „ein lächerliches Leben“, erklärt Maria der Runde. Deshalb wolle sie eine radikale Trennung von ihrer Familie vollziehen und dieser gegenüber fremde Menschen bevorzugen. Sie spüre lieber eine Schuld statt ihr bisheriges Leben weiterzuführen und tausche den unerträglich gewordenen Schmerz gegen die Vergeblichkeit. Was darauf folgt, ist der Titel gebende rabiate Ausbruch, eine Explosion aller verbliebenen Sicherheiten.

Geschickt verknüpft der griechische Regisseur Syllas Tzoumerkas in seinem (nach „Homeland“) zweiten Langfilm die Implosionen seiner Protagonistin mit den Erschütterungen seines krisengeschüttelten Heimatlandes. In Radio- und Fernsehnachrichten zeichnet er dieses als ein „sinkendes Schiff“, dessen langsames Untergehen mit dem persönlichen Schicksal der Heldin interagiert. Öffentliches und Privates, auf parallelen Ebenen miteinander in Beziehung gesetzt, vermischen sich unablässig; die epidemischen Insolvenzen der Gesellschaft, von Aufruhr und Intoleranz begleitet, dringen gewissermaßen in den individuellen Körper ein.

Im instruktiven, auf Englisch geführten Interview mit dem Regisseur, das der DVD beigegeben ist (das als „Booklet“ angekündigte Faltblatt gibt weniger her) sagt Tzoumerkas, seine Heldin befinde sich als Repräsentantin der jüngeren Generation „im freien Fall“. Die Krise einer kollabierenden Gesellschaft habe die persönlichen Beziehungen vergiftet. Deshalb suche Maria, die eingangs des Films die universalen Menschenrechte zitiert – unter anderem das Recht, sich frei zu bewegen und nach Glück zu streben -, eine radikale Veränderung und damit auch eine neue Identität. Gegen alle Desillusionierung verkörpere sie letztlich eine Hoffnung, ist Syllas Zoumerkas überzeugt. Denn, so seine These: „Freiheit ist stärker als die soziale Dynamik.“

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚A Blast – Ausbruch‘.

Where to Invade Next

(USA 2015, Regie: Michael Moore)

Sozialstaatssouvenirs von der Michael Moore-Eurotour
von Drehli Robnik

Michael Moore scheint im Alter weich zu werden. Schon vor Jahren, zur Zeit seiner Dokumentarsatiren-Hits Bowling for Columbine' (2002) und Fahrenheit 9/11' (2004) kein Leichtgewicht, ist der Mann mit der …

Michael Moore scheint im Alter weich zu werden. Schon vor Jahren, zur Zeit seiner Dokumentarsatiren-Hits Bowling for Columbine' (2002) und Fahrenheit 9/11' (2004) kein Leichtgewicht, ist der Mann mit der Kappe nun etwas gar schwabbelig schlaff geworden. Reduziert sich aus diesem Grund seine markenzeichenhaft scheinnaive Interaktion mit Leuten vor Ort im neuen Film 'Where to Invade Next' weitgehend auf gemütliche Sitzplauscherln? Das dynamisch gemeinte Leitmotiv einer Europa-Eroberungsrundreise, auf der Moore von Frankreich bis Finnland, von Portugal bis Slowenien US-Flaggen aufpflanzt, gibt nicht allzuviel her. Und an Cartoons und Found-Footage-Sequenzen aus alten Lehrfilmen gibts auch weniger als früher.

Weich wird Moore offenbar auch im Ansatz – der quasi lautet: Nicht immer nur negativ nörgeln, auch mal etwas positiv sehen und zeigen. Sein im Dialog mit besuchten Gegenübers forciert gespieltes Staunen, das in seinen Fimen ansonsten den jeweiligen Irrsinn von Amerikas Kapital- und Staatsmacht quittiert, gilt nun allerlei guten Ideen, die er als Invasorenbeute in Europa einheimst: bezahlter Urlaub in Italien, ganzheitliche Schuldbildung in Finnland, hochqualitatives Kantinenessen in öffentlichen Schulen in Frankreich etc. – eine Revue gesamteuropäischer Lösungen (so sagt mensch heute). Diese Lösungen sind hier (zumal für einen linken Filmemacher) viel zu sehr als mentalitäre Vorzüge oder optimierungstechnische Schlaumeierleistungen dargestellt, zu wenig als Resultat von gesellschaftlichen Kämpfen oder von historischer Reformpolitik (die Sozialstaaten der 1970er Jahre). Und um Kontraste zu Amerikas entfesseltem Markt und sozialem Kahlschlag zu betonen, bräuchte es kein derart idyllisiertes Europabild. Wäre Moore ein echter Schelm, dann dächte er bei seinem Deutschlandpanorama mit Happy Hacklern und zuhörenkönnendem Bossen wohl (auch, so wie nicht nur ich unweigerlich) an Hartz IV, Aufstockerjobs und Reichtumsschere. Stattdessen verknüpft er Anblicke wellnessender Bayern mit Hitler- und Holocaust-Archivbildern – um dann Deutschland als Geschichtsschuldkulturmeister und Stolpersteinspezialisten zu feiern, von dem Amerika lernen könne. (Aber wenn möglich, dann nicht von einer Schulpraxis der Holocaust-Vermittlung, die Empathie in von den Nazis deportierte Bevölkerungen durch das Einpacken von Handys und Lieblingsklimbim in symbolische Fluchtkoffer lehrt – wie in einer der von Moore gefeierten Sequenzen zu sehen.)

Zum Rassismus in der US-Geschichte und -Gegenwart gelingen Moore einige Montagen mit passendem Pathos: etwa von Drogenfreigabe in Portugal über die Kriminalisierung von Black Power-Milieus im amerikanischen War on Drugs zum Strafvollzug – liberal in Norwegen, brutal in den USA. Zu beidem, zum Besuch in den freundlichen Zellen und Haftgebäuden hier und den Überwachungskameravideos von uniformierten Misshandlungsorgien dort, lässt Moores Kontrastmontage das Lied 'We Are the World' erklingen, das freundlich-spleenige norwegische Gefängniswärter quasi als Mission-Statement eingesungen haben.

Feministisch angelegt ist der Endspurt des Films, der sich der jüngeren Frauengleichberechtigung in der Politik Islands widmet, sowie jüngsten Kämpfen (gegen islamistische Reaktionäre) um Verfassungsrechte und um die Legalisierung von Abtreibung in Tunesien. Ein bewegender Moment von Wortergreifung ist die kritische Rede einer tunesischen Journalistin und Aktivistin an Amerika, dessen Musik, Mode und Literatur sie so schätze und von dem sie sich im Gegenzug etwas mehr Interesse an ihrer Kultur erwarten würde.

Gegen Ende zieht Moore Lehren, die sich aus seiner Europa- (und Nordafrika-)Bildungsreise für die USA ergeben. Sie fallen durchwegs bemüht optimistisch aus: So darf sich sein notorischer Linkspatriotismus (und jeglicher andere) durch den immer wieder fallenden Hinweis geschmeichelt fühlen, dass die meisten der europäischen Segnungen auf ursprünglich amerikanische Ideen und Projekten beruhen. Na, dann … Außerdem sei es ganz einfach, quasi aus dem Exil in Oz wieder ins gelobte Kansas zurückzukehren, wie Moores Voice-over über eine Szene vom Ende des 'Zauberers von Oz' hinweg sinniert: Offenbar musst du nur wollen, und schon gilt 'Yes, we can!', bzw. bedarf es nur eines Klickens mit den roten Schuhen, und schon – schon ist die Berliner Mauer Geschichte. Vor deren Berliner Ruine spaziert Moore am Ende mit einem alten Kumpel; man erinnert sich fröhlich ans Mauer-Abtragen, damals, und ist sich sicher: Das könne jederzeit wieder geschehen. Schwupp, plötzlich war die Mauer weg: ein Fall von gutem Timing in Sachen historischer Gelegenheiten 1989. Aber ein Fall von schlechtem Timing in Sachen Filmstart 2016: Von den Zäunen, die – Schwupp – plötzlich da waren auf dem so lehrreichen Kontinent, ist in dem vor Monaten, zum Teil wohl auch vor Jahren, gedrehten Film klarerweise nichts zu sehen. Insofern haftet diesem Bild eines Europavolksstreichelzoos etwas doppelt Nostalgisches an.

The True Cost – Der Preis der Mode

(USA 2015, Regie: Andrew Morgan)

Ich hab nichts anzuziehen
von Jürgen Kiontke

Andrew Morgan begibt sich in „The True Cost – Der Preis der Mode” auf die Suche nach den Bedingungen, unter denen Fast Fashion hergestellt wird. Menschenrechte sind nicht dabei. Wenn …

Andrew Morgan begibt sich in „The True Cost – Der Preis der Mode” auf die Suche nach den Bedingungen, unter denen Fast Fashion hergestellt wird. Menschenrechte sind nicht dabei.

Wenn einem früher Klamotten nicht gefielen, tauschte man sie vielleicht wieder im Laden ein. Heute sind sie so billig, dass man sie einfach wegwirft. Fast Fashion, das ist das Zeug, was man zum Beispiel bei Handelsketten wie Primark erwirbt. „Jeden Tag hatte ich neue Tüten, aber nie was zum Anziehen“, beschreibt Lucy Siegle dieses Prinzip. Früher sei sie auch ein Shopping Victim gewesen, erzählt die englische Journalistin, die seit geraumer Zeit kritisch über die Mode-Großindustrie berichtet. „Gewählte Haut“ nennt sie die billigen Stoffstücke. Offensichtlich habe es sich bei großen Teilen der Konsumenten durchgesetzt, genau die mehrmals am Tag zu wechseln.

In anderen Weltregionen, da wo die Ware gewebt und zusammengenäht wird, haben die Modetrends tödliche Folgen: Sei es in den vergifteten Arealen der Lederindustrie am Ganges oder bei den zu traurigem Weltruhm gekommenen Näherinnen in Bangladesh: Dort stürzte vor zwei Jahren eine der Fabriken ein, die auch für viele deutsche Firmen gearbeitet hat: Rana Plaza. 1129 Tote hat es damals gegeben. Es gab keinen Arbeitsschutz und keine Bauaufsicht. Wer protestierte, wurde aus dem Verkehr gezogen. Auf 5000 Fabriken, die so funktionieren, wird das Land geschätzt.

Kritikerin Siegle gehört zu den vielen Stimmen, die Regisseur Andrew Morgan für seinen Film „The True Cost – Der Preis der Mode“ gesammelt hat. Er bietet viel und gute Recherche, die Morgan zuweilen drastisch aufbereitet. „True Cost“ leuchtet die Hintergründe der Produktion aus, liefert Fakten und Zahlen zu den größten Modehäusern und den Arbeitsbedingungen. Lange widmet er sich der Näherin Shima, die ihr Kind nur einmal im Jahr sieht, weil der Arbeitsort so weit entfernt ist. Mit Blick auf die prekären Verhältnisse nicht nur in Bangladesh sagt sie: „An dieser Kleidung klebt Blut.“

Belegt wird die gewalttätige Komponente auch mit Prügelszenen in der kambodschanischen Stadt Phnom Penh, wo Arbeiter für den Mindestlohn kämpfen. Drastisch sind die Bilder aus Indien, wo Arbeiterinnen in der Lederindustrie von schlimmen Vergiftungen berichten. Das verwendete Chrom zerstört die Haut. Und – wenn das nicht eine irrwitzige Analogie zum Modezirkus ist- führt zu Pigmentstörungen, wie sie „America’s Next Topmodel“-Teilnehmerin Chantelle Brown-Young weltberühmt gemacht hat, die aber an einer seltenen Krankheit leidet. Nun landen die Inderinnen nicht auf dem Laufsteg, sondern ihre „Eltern warten darauf, dass ihre Kinder sterben“, wie Expertin Vandana Shiva ausführt, denn: „Mit der Chemie ist es wie mit Drogen: Je mehr es gibt, desto mehr wird benutzt.“ Kontrastiert wird das ganze Elend mit Hochglanzbildern und TV-Ausschnitten von Modenschauen und Talkshows, Ausschnitten aus Youtube-Fashion-Kanälen junger Frauen im Fast-Fashion-Fieber. „Guckt mal, was ich heute wieder gekauft hab. Ich hatte nichts mehr anzuziehen.“

Es werden aber auch Gegenstrategien und Menschenrechtskampagnen vorgestellt – Initiativen wie die Clean-Clothes-Campaign finden allerdings keine Erwähnung, mehr Raum wäre hier durchaus angebracht gewesen. Andererseits gehört es zu den echt bemerkenswerten Momenten dieses Films, auch Top-Designerinnen wie Stella McCartney vor die Linse bekommen zu haben. Tenor: Wir haben es zwar nicht gleich gemerkt, aber: Nachhaltige Produktion ist eine Notwendigkeit.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal

Colonia Dignidad

(D / USA 2016, Regie: Florian Gallenberger)

Ein deutsches Folterzentrum
von Jürgen Kiontke

Ein ernsthaftes Anliegen im Thrillerformat: Mit seinem Film „Colonia Dignidad“ setzt Regisseur Florian Gallenberger einen durchaus erstaunlichen Schwerpunkt im Kino. Die 1961 von deutschen Protestanten in Südchile gegründete Kolonie war …

Ein ernsthaftes Anliegen im Thrillerformat: Mit seinem Film „Colonia Dignidad“ setzt Regisseur Florian Gallenberger einen durchaus erstaunlichen Schwerpunkt im Kino. Die 1961 von deutschen Protestanten in Südchile gegründete Kolonie war während der Diktatur von Augusto Pinochet Haft- und Folterzentrum der chilenischen Geheimpolizei. Mitglieder dieses faschistischen Modellstaates bekannten, nach dem Putsch Pinochets gegen den gewählten Präsidenten Salvador Allende am 11. September 1973 linke Aktivisten ermordet zu haben.

Die Ereignisse rund um diesen Tag bilden auch den Einstieg für die fiktive Handlung des Films: Fotograf Daniel (Daniel Brühl) und Stewardess Lena (Emma Watson) stehen im Zentrum des revolutionären Geschehens, als die Truppen losschlagen und die Oppositionellen ins Fußballstadion von Santiago de Chile verfrachten.

Gallenbergers darstellerische Mitarbeiter arbeiten recht konzentriert daran, das Siebziger-Jahre-Flair auferstehen zu lassen. Und sind dabei recht überzeugend: Auf der einen Seite spielen sie das flippige Siebziger-Jahre-Pärchen voller Jugend und revolutionärer Ideen. Andererseits werden an ihrem Beispiel die Methoden eines Regimes durchexerziert, das als Vorbote der neuen Weltordnung fungierte. Im Chile Augusto Pinochets gingen autoritäre Brutalität und wirtschaftliche Deregulierung gemeinsame Wege – die Blaupause für spätere Privatisierungen öffentlicher Daseinsvorsorge.

Für diese Politik steht auch die Colonia Dignidad, die Kolonie der Würde, wie sie zynisch heißt, die als Scharnier für den Rohstoff- und Waffenhandel einerseits fungierte, sich andererseits innenpolitisch als Folterzentrum etablierte. Ex-Kinderstar Emma Watson („Harry Potter“) scheint ihre Filmarbeit mit ihrem Auftrag als UN-Sonderbotschafterin auf Linie zu bringen.

Chilenische Militärs und deutsche Folterer sind nun das Personal, auf die das junge Liebespaar trifft. Während Daniel ins Folterzentrum einfährt, versucht Lena alles Erdenkliche, ihn aus den Händen der Sekte zu befreien. Die einzige echte Option: sich selbst als Glaubensschwester dort einliefern. Und so erleben die Zuschauer Gewaltakte und pharmakologische Experimente mit den Augen Lenas, während Daniel infolge von Elektroschocks scheinbar dahinvegetiert, aber doch bei klarem Bewusstsein ist. Gemeinsam sammeln sie Beweise für die Gesetzlosigkeiten in der Kolonie und bereiten ihre Flucht vor.

Tiefe Brunnen, verschlossene Tunnel, dunkle Löcher – bald wird es etwas zu viel genretypische Verfolgungsjagd, die so nie hätte stattfinden können: Politische Gefangene aus Deutschland hat’s in der Kolonie nach Angaben von Amnesty International gegeben. Das Gezeigte wirkt aber etwas überstrapaziert – wird doch das historische Geschehen verknappt auf den Kampf zwischen Lena und Paul Schäfer, dem diabolischen Oberhaupt der Kolonie (Michael Nykvist).

Bei der Premiere auf dem Filmfestival in Toronto gab es recht heftig was auf die Nuss von der Kritik: Unentschlossen sei der Film zwischen Abenteuer und Action-Romanze; dabei reiche es fürs Popcorn-Kino ebenso wenig wie zum Liebesepos. Einwenden könnte man: Dieser Film richtet sich mit seiner Hauptdarstellerin an ein junges Publikum, das von der Colonia Dignidad noch nie was gehört hat. Über die prominente Besetzung könnte es durchaus funktionieren, dass sich die Zuschauer stärker mit dem sehr speziellen Stoff und der Geschichte auseinandersetzen. Und ganz nebenbei wird die zwielichtige Rolle des deutschen Botschafters in Chile zerpflückt, der wie viele deutsche Politfunktionäre die Hand schützend über die Kolonie gehalten hat.

Womöglich hat der Film aber auch einen ganz konkreten Effekt auf die deutsche Wirklichkeit: Der ehemalige Lagerarzt Hartmut Hopp lebt nach wie vor unbehelligt in Krefeld, obwohl ein rechtsgültiger chilenisches Hafturteil vorliegt und er von Interpol gesucht wird. Auch die deutschen Behörden ermitteln, bis dato aber ohne Ergebnis: Die Ermittler sprächen kein Spanisch, heißt es, und das seit Jahren. So dauere es noch etwas, bis Dokumente und Zeugenaussagen übersetzt seien. Vielleicht bekommt der Fall mit der medialen Aufmerksamkeit eine andere Dynamik.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal

Sumé – The Sound of a Revolution

(DK / NOR 2014, Regie: Inuk Silis Hoegh)

Eskimo-Protestsongs
von Jürgen Kiontke

Eine der verrücktesten Geschichten in der Rock-Historie ever schrieb wohl die Band Sumé. 1973 gegründet, gilt sie seitdem als die bekannteste Formation aus Grönland, die zudem als erste in der …

Eine der verrücktesten Geschichten in der Rock-Historie ever schrieb wohl die Band Sumé. 1973 gegründet, gilt sie seitdem als die bekannteste Formation aus Grönland, die zudem als erste in der Landessprache sang.
Den Musikern um die Bandgründer Malik Høegh und Per Berthelsen ging es nicht nur ums reine Klampfen – auch wenn das der Gitarrenverstärker, den Inuk Silis Høegh in seinem Dokumentarfilm über Sumé zur Illustration in die Landschaft stellt, suggeriert. Sumé waren eine sozialkritische und vor allem antikoloniale Gruppe. Seit über 200 Jahren gehörte Grönland damals schon zum dänischen Königreich. Besitz war auf der Insel unbekannt, es herrschte eine Allmende-Kultur. In starkem Kontrast dazu steht die krasse Rohstoffausbeutung durch dänische Firmen. Andererseits: Formale Bildungswege bot zu jener Zeit auch nur das Tausende Kilometer entfernte Dänemark. Nicht mal Kennenlernen ging zu Hause: Orte waren nicht per Straße verbunden.

Die Lieder beschrieben die Missstände in Grönland und wurden äußerst populär. Insbesondere dass die marginalisierte native Muttersprache in poetische Texte gegossen wurde, gefiel der jungen Generation Grönlands. So wurden ihre Songs auch der Soundtrack der ersten Jugendproteste gegen die dänische Verwaltung. Drei Platten veröffentlichten Sumé, dann entschieden sie sich verrückterweise gegen eine Profikarriere, obwohl von der Supergruppe Procol Harum als Vorband für eine Tour angefragt. Ein prima Film, der Zugang zu einer höchst interessanten Szenerie findet.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal

The Boy

(USA 2016, Regie: William Brent Bell)

Im dämonischen Puppenhaus
von Manfred Riepe

Brahms hat nicht nur einen ausgefallenen Namen. Auch sonst ist der Junge reichlich seltsam. Der Achtjährige fordert permanente Aufmerksamkeit. Wenn er die nicht erhält, nu ja. Als seine Eltern, das …

Brahms hat nicht nur einen ausgefallenen Namen. Auch sonst ist der Junge reichlich seltsam. Der Achtjährige fordert permanente Aufmerksamkeit. Wenn er die nicht erhält, nu ja. Als seine Eltern, das gesetzte englische Paar Mr. und Mrs. Heelshire (Jim Norton, Diana Hardcastle), verreisen, engagierte sie für den anspruchsvollen Filius extra ein Kindermädchen. Mit einer langen To-do-Liste wird Greta akribisch genau instruiert. Was Brahms alles möchte und was nicht. Welche Geschichten er vorgelesen haben will und was er gerne isst. Doch kaum sind Daddy und Mami aus dem Haus, da macht es sich die junge Amerikanerin erst einmal mit einem Glas Wein bequem. Stundenlang tratscht sie am Telefon mit ihrer Freundin. Brahms ist ihr schnurzegal. Doch dann geschehen merkwürdige Dinge, die Greta im Handumdrehen zu einem mütterlich-fürsorglichen Vorzeige-Kindermädchen umerziehen. Was ist geschehen?

Mr. und Mrs. Heelshire wohnen in einem abgelegenen englischen Castle mit Erkern, Türmen und einem verwunschenen Garten. Ein solches „gothisches“ Spukschloss kennt man aus unzähligen Horrorfilmen. Man erwartet nichts anderes als, nun ja, Spuk. William Brent Bell hat mit Filmen wie „Wer – Das Biest in dir“ oder „Devil Inside“ nicht wirklich auf sich aufmerksam gemacht. Doch die Art und Weise, wie in diesem stilvollen Gruselschocker nach einem Buch von Stacy Menear eine unheimliche Stimmung beschwört wird, kann sich sehen lassen. Das liegt an der einfachen aber psychologisch wirkungsvollen Grundidee: Brahms verhält sich nicht wie andere Kinder seines Alters, weil er nicht aus Fleisch und Blut ist. Brahms ist eine lebensgroße Porzellanpuppe. Was den Jungen aber nicht davon abhält, sein Kindermädchen durch Zeichen, Hinweise und Beinahe-Katastrophen gefügig zu machen.

Die Frage, was es mit dieser Puppe auf sich hat, erzeugt in diesem stimmungsvoll fotografierten, an spanische Vorbilder erinnernden Film erstaunlich lange Spannung. Länger zumindest als man es erwartet. Das liegt an vielen originellen szenischen Einfällen. Erblickt die Babysitterin beispielsweise Tränen auf den Wangen des Jungen, den sie zuvor frustriert hat, dann stellt sich im nächsten Moment heraus, dass von oben Wasser durch die Decke tropft. Alle geht mit rechten Dingen zu. Trotzdem stellt sich immer wieder die Frage, ob die seltsame Puppe nicht doch ein dämonisches Eigenleben führt. Eine Hauptdarstellerin mit etwas mehr Präsenz und nuancierterem Ausdruckvermögen als Lauren Cohan, bekannt aus der Serie „The Walking Dead“, hätte das schaurige Vergnügen an diesem Psychothriller noch gesteigert.

Effektvoll zugespitzt wird die Geschichte jedenfalls, als der gelegentlich auftauchende Lieferant Malcolm (Rupert Evans) die in ihrem Schloss versauernde Nanny endlich einmal zum Ausgehen überreden will. Mit am Tisch sitzt in dieser Situation die Puppe, die zu diesem Vorschlag nichts sagt. Sie kann ja auch nicht sprechen. Auf eine bestimmte Weise kann sie sich aber dennoch so gut verständlich machen, dass Greta in vorauseilendem Gehorsam darauf verzichtet, mit dem netten Malcolm auszugehen. Sie kann doch den Jungen nicht alleine lassen. Brahms kann sehr böse werden, wenn eine väterlich konnotierte Figur seine Intimität mit der Nanny stört. Wie sieht diese Intimität aus?

Immer wieder wird die attraktive Babysitterin beobachtet, beim Duschen und beim Umziehen. Manchmal verschwinden sogar ihre Kleider. Ein erotisches Knistern entsteht. Wer ist der heimliche Spanner? Kehrt etwa Malcolm, nachdem er die Lebensmittel abgeliefert hat, zurück, um sich unbemerkt als Voyeur zu betätigen. Ist Brahms der heimliche Beobachter?

Auf recht originelle Weise variiert der Gruselfilm das Thema ödipaler Rivalität. Zunächst verzichtet Greta darauf, mit Malcolm auszugehen. Obwohl sie ihn schon ziemlich anziehend findet. Doch Brahms will es nicht. Er will seine (Ersatz-)Mutter für sich ganz alleine. Packend wird der Film, weil Malcolm letztlich doch Manns genug ist, um in diese allzu enge Mutter-Kind-Dyade einzubrechen. Aus einem Gespräch zwischen Malcolm und Greta ist zu erfahren, dass die junge Frau vor ihrem gewalttätigen Ex-Geliebten geflohen ist. Sie hat sein Kind abgetrieben, was ihr ein schlechtes Gewissen bereitet. Ist die Porzellanpuppe Brahms etwa so etwas wie eine Wiederkehr des Verdrängten?

Mit all diesen Assoziationen spielt „The Boy“ eine ganze Weile ziemlich geschickt. Die Geschichte einer Mutter, die wie die Jungfrau zum Porzellankind kommt, ist sicherlich eine Enttäuschung für Nerds, die mechanisch herunterbeten, dass man solch dämonische Puppen schon aus „Chucky“, „Conjuring“ oder „Annabelle“ kennt. Eine wichtige Referenz darf allerdings nicht unerwähnt bleiben: Wer das neuseeländische Meisterwerk „Housebound“ nicht kennt, wird mit Sicherheit mehr Spaß an diesem dämonischen Puppenhaus haben.

Ein Atem

(D 2015, Regie: Christian Zübert)

Neue Wege zwischen Komödie und Kunstkino
von Manfred Riepe

Was ist mit der Eurokrise? Und den so genannten „Pleitegriechen“? Auf dieses Thema, im Kino bislang kaum aufgegriffen, wirft Christian Züberts neuer Film, zu dem er gemeinsam mit seiner Frau …

Was ist mit der Eurokrise? Und den so genannten „Pleitegriechen“? Auf dieses Thema, im Kino bislang kaum aufgegriffen, wirft Christian Züberts neuer Film, zu dem er gemeinsam mit seiner Frau Ipek auch das Buch schrieb, einen originellen Seitenblick. „Ein Atem“ schildert die Auswirkungen der Krise aus der Sicht zweier Frauen aus Athen und Frankfurt, die trotz unterschiedlicher ökonomischer Voraussetzungen mit vergleichbaren Problemen kämpfen.

Aufgebaut ist die elegant eingefädelte Geschichte wie eine Spiegelfuge. Der erste Teil, überschrieben mit „Elenas Reise“, schildert im Schnelldurchlauf, wie eine junge Griechin (Chara Mata Giannatou) ihren Freund dazu überreden will, mit ihr gemeinsam das Land zu verlassen. Obwohl es in Athen wirtschaftlich keine Perspektiven gibt, schreckt Costas (Apostolis Totsikas) vor diesem Schritt zurück. Anders Elena. In Frankfurt hat sie bereits einen Job organisiert, erhält aber aufgrund ihrer Schwangerschaft, von der sie erst in Deutschland erfährt, keine Arbeitserlaubnis. Was nun?

Ohne Papiere kann sie sich nur als Babysitterin eines eineinhalbjährigen Mädchens durchschlagen. Ihre Auftraggeberin, die Maisonette-Bewohnerin Tessa (Jördis Triebel), triezt ihre finanziell abhängige Nanny mit der blasierten Überheblichkeit einer politisch korrekten Latte-Macchiato-Mutti, die sich in grünem Lifestyle sonnt. In diesen treffend beobachteten Szenen sind die Sympathien klar verteilt. Tessa ist, so scheint es, eine saturierte, überspannte Mama mit Luxusproblemen. Während sie sich Gott weiß welchen wichtigen Dingen widmet, kann Elena das permanent schreiende Kind nur beruhigen, indem sie ihre eigene Mutter in Athen via Skype hinzuschaltet. Durch diese technische Brücke wird der Riss zwischen den Welten nur umso sinnfälliger.

Dieses Aufeinanderprallen der Klassengegensätze bürstet Zübert jedoch überraschend gegen den Strich. Der zweite Abschnitt rollt dieselbe Geschichte neu auf, diesmal aus der Perspektive von Tessa, die nach ihrer Babypause um ihre Rückkehr in den Beruf kämpft. Eine jüngere Kollegin, ihre stutenbissige Schwiegermutter und vor allem ihr eigener Ehemann fallen ihr dabei übel in den Rücken. Es sind die stärksten Momente des Films. Jördis Triebel agiert in diesen Szenen überaus glaubhaft. Die Bilderbuch-Zicke erhält sympathische Züge – ein darstellerisches Glanzstück.

In der Schlüsselszene sitzt sie mit ihrem schreienden Kind auf dem Schoß im Badezimmer. Überlegt und pragmatisch zieht sie sich dabei mit der Pinzette Scherben aus der Hand, die sie sich im Streit mit ihrem Gatten schwer verletzte. Benjamin Sadler, ein mönchartig wirkender Bartträger, gibt ihren schattenhaften Ehemann Jan, der besonders dann unerträglich ist, wenn er nett und verständnisvoll sein möchte. Eigentlich ist er ziemlich sauer darüber, dass seine Frau in den Beruf zurückkehren will. Er kann dies aber nicht offen zeigen. Ein Ehemann, der die Zeichen der Zeit nicht ganz ignoriert, muss seiner Frau Freiheiten zugestehen. Er muss ihren Wunsch zur Kenntnis nehmen, dass sie nicht ganz auf die Mutterrolle reduziert werden will. Dieses Kartenhaus bricht in dem Moment zusammen, als er mit mühsam unterdrückter Aggression sein Unverständnis über ihre gewünschte Rückkehr in den Job artikuliert. Schließlich verdient er doch genug.

Beide geraten daraufhin in heftigen Streit. Die Hand, die Tessa sich dabei verletzt, steht für den tiefen Schnitt in ihrer Seele. Mit einem „spontanen“ Liebesdate im Luxus-Hotelzimmer und Champagner versucht Jan, die Wogen zu glätten. Vergeblich. Der Zug ist abgefahren, so scheint es zunächst.

Die Beobachtungen sind ungleich präziser als noch in Züberts Sterbedrama „Hin und weg“. Man hat Interesse an den Frauenfiguren, deren Geschichten eine untergründige Spannung entwickeln. Beide, Tessa und Elena, wollen nicht von Männern abhängig sein, die nur scheinbar keine Machos sind. Es kommt zur vorsichtigen Annäherung. Doch dann verschwinden das Kind und seine Babysitterin auf rätselhafte Weise. Tessa, nunmehr im Furien-Autopilot, weiß, dass sie sich auf ihren Mann nicht wirklich verlassen kann. Auf eigene Faust steigt sie in den Flieger und sucht ganz Athen nach der untergetauchten Elena ab.

Obwohl es zu einer ungewollt tragischen Begegnung zwischen Tessa und Elena kommt, verflacht der Film nun etwas. Beide Frauen, von denen der Charakter der Griechin Elena nicht ganz überzeugt, werden hauptsächlich über Schwangerschaft und Mutterrolle definiert. In einer Geschichte, die sich für ihre weiblichen Figuren spürbar interessiert, wirkt diese Fixierung etwas beengend. Nicht alles gelingt in diesem ambitionierten Autorenfilm, der aber in positiver Erinnerung bleibt, weil er zwischen Komödie und Kunstkino neue Wege erschließt.

The Hateful Eight

(USA 2015, Regie: Quentin Tarantino)

Amerika im Visier
von Andreas Busche

In den USA genießen die Filme von Quentin Tarantino längst den Status medialer Großereignisse. Sie sind in aller Munde, lange bevor die ersten Bilder im Netz kursieren. Dieser Buzz-Effekt ist …

In den USA genießen die Filme von Quentin Tarantino längst den Status medialer Großereignisse. Sie sind in aller Munde, lange bevor die ersten Bilder im Netz kursieren. Dieser Buzz-Effekt ist natürlich kein Alleinstellungsmerkmal von Tarantino-Filmen. In Zeiten generalstabsmäßig geplanter Marketing-Tsunamis kann es sich kein Hollywood-Studio mehr erlauben, seine Blockbuster nicht punktgenau zum weltweit synchronisierten Starttermin ins Bewusstsein des Publikums zu hämmern. Im Fall von Tarantino arbeitet die überhitzte Aufmerksamkeitsökonomie aber noch einmal anders. Seine Filme fungieren zunehmend auch als Durchlauferhitzer für ganz grundsätzliche gesellschaftliche Diskurse. Tarantino versteht es heute geschickter denn je, seine Themen mit provokanten Aussagen in den Fokus der Öffentlichkeit zu bringen.

Tarantino-Kontroversen drehen sich fast zwangsläufig um die Gewaltfrage: In frühen Filmen gingen seine Gewaltdarstellungen noch als cooles Zitat durch, ein Rückgriff auf die Konventionen inzwischen historischer B-Movie-Topoi. Mit seinen period pieces, angefangen mit der Nazi-Revenge-Phantasie »Inglourious Basterds«, bezieht sich Tarantino verstärkt auf eine gewaltsame Historie, betrachtet durch das dreckige Prisma des Genrekinos. Für die staatstragende Variante fühlt sich weiterhin ein Steven Spielberg zuständig. Es ist drei Jahre her, dass Tarantinos Abolitionismus-Western »Django Unchained« im direkten Vergleich mit Spielbergs Biopic »Lincoln« demonstrierte, warum geschmackvolles, teuer ausstaffiertes Geschichtskino bei gesellschaftlichen Themen aber mehr denn je unter einem Vermittlungsproblem leidet. »Django Unchained« erzählt ein historisches Unrecht mit revisionistischer Verve im Format des Exploitationfilms: in politischer Hinsicht ein vermintes Terrain, das Tarantino souverän sondierte. »The Hateful Eight« ist nun der Versuch, den schwelenden Rassismus in den USA aus den Untiefen des Grindhouse-Segments in eine historische Parabel zu überführen.

Sein achter Film (großspurig verkündet in der Titelsequenz) ist erneut ein Rückgriff auf den Western – diesmal als elaboriertes Katz-und-Maus-Spiel im Agatha-Christie-Modus. Acht Männer und eine Frau (plus ein Revolverheld im Keller) eingeschlossen in einem gottverlassenen Saloon inmitten eines tosenden Schneesturms. Es ist eine klassische Pattsituation: Keiner traut dem anderen, es steht – summa summarum – ein hohes Kopfgeld auf dem Spiel und zudem ein Mordverdacht im Raum.

Der Kopfgeldjäger John »The Hangman« Ruth (Kurt Russell) hat die durchgeknallte Gangsterbraut Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh) im Schlepptau, der Kopfgeldjäger und Bürgerkriegsveteran Marquis Warren (Samuel L. Jackson) einen persönlichen Brief von Abraham Lincoln im Gepäck und der Sohn (Walton Goggins) eines legendären Südstaatenrebellen soll den Sheriffposten im nahe gelegenen Red Rock übernehmen. In einem Ohrensessel sitzt ein schlechtgelaunter Konföderiertengeneral a. D. (Bruce Dern, längst überfällig für eine Tarantino-Würdigung). Es fliegen ein paar verbale Fetzen, dann zieht Oswaldo Mobray (Tim Roth), der Henker von Red Rock, eine symbolische Demarkationsline durch den Saloon: auf der einen Seite die rassistischen Südstaatler, auf der anderen die aufgeklärten Yankees, als deren Wortführer sich schnell Samuel L. Jacksons Major entpuppt. Es ist eine reife Amerika-Allegorie. Gewalt liegt in der Luft.

Tarantino hatte im Herbst selbst die Gewaltfrage aufgeworfen, als er die rassistisch motivierte Polizeibrutalität in den USA öffentlich kritisierte. In »The Hateful Eight« sagt Jackson: »Ein Schwarzer kann sich nur sicher fühlen, wenn die Weißen entwaffnet sind.« Der Brief des Präsidenten ist sozusagen seine Lebensversicherung im weißen Wilden Westen. Tim Roths Scharfrichter wiederum versucht der gesuchten Mörderin den Unterschied zwischen Zivilisation und frontier justice zu erklären: »Kühle Sachlichkeit ist die Essenz von Gerechtigkeit.« Der Film trägt diese Dialoge wie Schrifttafeln vor sich her, nur für den Fall, dass immer noch jemand glaube, der Western sei tot.

Denn natürlich ist sein zentrales Thema, die Zivilisierung des Westens, aktueller denn je. Das Problem von »The Hateful Eight« besteht nur darin, dass Tarantino in erster Linie doch ein Fanboy ist. Seine griffige Amerika-Allegorie gerät ins Stocken, weil sich immer wieder die Kulissen des Genrekinos vor die interessanteren Fragen schieben. Tarantino betreibt einen enormen Aufwand, ein historisches Genre wiederzubeleben (»The Hateful Eight« ist über drei Stunden lang, gefilmt im obsoleten Ultra-Panavison-Format, einer Art Super-Cinemascope), verliert sich dabei aber immer wieder in dessen Konventionen. Ausgerechnet Spike Lee, Tarantinos größter Kritiker, hat mit seiner für den Onlinehändler Amazon produzierten Musicalkomödie »Chi-raq« (ein Kompositum aus Chicago und Irak) gerade die schärfere Amerika-Kritik abgeliefert.

Der Titel »Chi-raq« bezieht sich auf eine offizielle Statistik, die besagt, dass in Chicago seit 2001 fast doppelt so viele Amerikaner/innen durch Schusswaffen gestorben sind wie im Irak zwischen 2003 und 2011. Chi-raq heißt auch die Hauptfigur (Nick Cannon), ein Gangsterrapper und Gangleader, der sich mit einem hormonellen Dilemma konfrontiert sieht. Seine Freundin Lysistrata (Teyonah Parris) hat einen Sexstreik unter den afroamerikanischen Frauen organisiert, um ihre Männer zu zwingen, die Waffen niederzulegen, damit das Morden in den schwarzen Vierteln ein Ende nimmt. Lees Bezugspunkt ist noch mal 2.000 Jahre älter als Tarantinos. »Chi-raq« lädt die altgriechische Komödie »Die Heeresauflöserin« aus dem Jahr 411 v. Chr. über eine Gruppe friedensbewegter Frauen im Peloponnesischen Krieg mit aktueller Brisanz auf.

Wie schon in »Bamboozled« hat Lee ein irres Format für seine Amerika-Polemik gewählt: ein HipHop-Musical, dessen Protagonisten in einem pseudoklassischen Versmaß sprechen, mit einem bizarr kostümierten Samuel L. Jackson als Mischung aus afroamerikanischer Tricksterfigur und griechischem Ein-Mann-Chor. Im Unterschied zu Tarantino, der in »The Hateful Eight« zuerst das Genre bedient, denkt Lee seine Kritik ausgehend von gesellschaftlichen Fragen. »Chi-raq« ist bei aller kruden Koketterie mit Popkulturversatzstücken ein – gerade für ein weißes Publikum – böser, wenig gefälliger Film. Tarantinos Reflexionen über die amerikanischen Gewaltverhältnisse kann man in seinem behäbigen Genre-Fossil dagegen über drei Stunden lang beim Versteinern zusehen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

Im Schatten der Frauen

(F 2015, Regie: Philippe Garrel)

Beziehungsweise
von Ulrich Kriest

Schon ein seltsames Gefühl, den neuen Film von Philippe Garrel in einer ganz normalen Pressevorführung zu sehen. Bislang musste man sich immer etwas mühen, um dessen Filmen auf Festivals, im …

Schon ein seltsames Gefühl, den neuen Film von Philippe Garrel in einer ganz normalen Pressevorführung zu sehen. Bislang musste man sich immer etwas mühen, um dessen Filmen auf Festivals, im Fernsehen oder auch auf Trägermedien auf den Fersen zu bleiben. Filme, auf die man als Hörer der Musik von Nico ja automatisch aufmerksam wurde, weil das mysteriöse Cover von „Desertshore“ Bilder von „La Cicatrice Interieure“ zeigte. Nico lebte in den 1970er Jahren mit Garrel zusammen. Garrel, Sohn und Vater eines Schauspielers, dreht seit 1964 Filme mit einer unverwechselbaren Handschrift. Filme in schwarz-weiß (meistens), low budget, aber dafür auf 35mm in Cinemascope und mit exquisiten Kameraleuten wie Raoul Coutard oder – aktuell – Renato Berta. Ein Geheimtipp, hierzulande.

Lakonisch könnte man sagen: seine Filme wie „Ich hör’nicht mehr die Gitarre“ (1991) oder der international durchaus erfolgreiche „Unruhestifter“ (2004) erzählen von jungen Menschen, Liebe, Drogen und dem Filmemachen. Gleiches tut auch „Im Schatten der Frauen“, der vom Künstlerpaar Pierre und Manon erzählt. Die beiden arbeiten unter prekären Lebensbedingungen – gleich zu Beginn wird Manon vom Vermieter bezüglich des Zustands ihrer Wohnung zur Rede gestellt – an einer Dokumentation über die Résistance. Pierre ist dabei der »wichtige« Filmemacher, während Manon eher im Hintergrund agiert und auch für den Lebensunterhalt sorgt. Dass sich niemand für Pierres Filme interessiert, stört Manons Mutter, nicht aber Manon.

Eines Tages – die Filmemacher recherchieren in einem Filmarchiv – begegnet Pierre einer jungen Praktikantin und beginnt eine Affäre. Geplagt von Gewissensbissen, aber auch verliebt, versinkt Pierre in einer Form von larmoyantem Selbstmitleid, das man als Zuschauer kaum aushält. Dann, eines Tages, entdeckt Pierres Geliebte Elisabeth zufällig in einem Café, dass auch Manon einen Geliebten hat. Um Pierre an sich zu binden, beschließt Elisabeth, Pierre davon zu erzählen. Für Pierre bricht eine Welt zusammen. Die Freiheit, die er sich als Mann selbst nahm, kann er als Mann der Frau nicht zugestehen.

Er trennt sich, behandelt aber auch Elisabeth schlecht. Eine Erzählerstimme aus dem Off registriert: „Es war die Doppelmoral der Männer, die sagen, dass ist so, wie es ist, weil ich ein Mann bin – und dafür, dass ich ein Mann bin, kann ich nichts.“ Mit Hilfe der vorzüglichen Kameraarbeit von Berta und durch die Möglichkeiten der mise-en-scène erzählt Garrel fast wie ein Choreograf von den Unsicherheiten und Ungleichzeitigkeiten des Beziehungsdreiecks. Und weil Garrel das alles äußerst präzise, aber völlig unprätentiös und nicht ohne eine gewisse Nüchternheit, die man nicht als Boshaftigkeit missverstehen sollte, in Szene setzt, könnte man meinen, es hier mit einer Entdeckung, einem vergessenen Nebenwerk der Nouvelle vague zu tun zu haben.

Der Film fließt recht unspektakulär und ohne konventionelle dramaturgische Verdichtungen vor sich hin. Dazu passt, dass die Paare mal intensiv, mal redundant agieren – und manchmal ungeschönt auch beides gleichzeitig. Garrel zeigt, aber er wertet nicht. Oder doch? Schließlich erweist sich der Widerstandskämpfer, dessen heroischen Erzählungen Pierre aufgesessen ist, als Betrüger, als Kollaborateur. Pierre reagiert verstört, doch Manon pragmatisch. Warum nicht, wenn wir es schon mit Doppelmoral zu tun haben, mehrfach, ein Film über einen Kollaborateur, der sich als Widerstandskämpfer inszeniert.

Klar, dass die Geschichte von Pierre und Manon hier noch nicht zu Ende sein kann. „Im Schatten der Frauen“ ist ein so annähernd perfektes, dabei völlig aus der Zeit gefallenes und auch im besten Sinne zeitloses Kino-Abenteuer, dass man sich beim Sehen irritiert in einer Retrospektive wähnt.

The Hateful Eight

(USA 2015, Regie: Quentin Tarantino)

Hang Her High
von Harald Steinwender

Ein Schneewestern im Grand Guignol-Stil: ein großes Kasperletheater der Grausamkeiten, erzählt in sechs Kapiteln, mit feinziselierten Dialogen, allerlei Boshaftigkeiten in Wort und Bild, dramaturgisch mit (mindestens) doppeltem Boden, visuell so …

Ein Schneewestern im Grand Guignol-Stil: ein großes Kasperletheater der Grausamkeiten, erzählt in sechs Kapiteln, mit feinziselierten Dialogen, allerlei Boshaftigkeiten in Wort und Bild, dramaturgisch mit (mindestens) doppeltem Boden, visuell so breitbeinig-großspurig inszeniert, wie durch die Beschränkungen der Handlungsorte begrenzt. Die theatral anmutende Hauptbühne des grellen Schauerstücks: Minnie‘s Haberdashery, ein „Kurzwarengeschäft“, in dem es alles, wirklich alles, nur eben keine Kurzwaren gibt. Den klaustrophobischen Handlungsort fotografiert Tarantinos Stammkameramann Robert Richardson im luxuriös-verschwenderischen Breitwandformat Ultra Panavision 70, mit auffällig gesetzten Lichtspots, die nie glaubwürdig eine Motivation durch den filmischen Realismus behaupten. Das Format kam in der Filmgeschichte bislang gerade zehn Mal zum Einsatz, unter anderem für monumentale Extravaganzen wie William Wylers „Ben-Hur“ (1959) und Anthony Manns „The Fall of the Roman Empire“ („Der Untergang des Römischen Reichs“; 1964) – für ein Quasikammerspiel wie „The Hateful Eight“ ist das ein ziemlich teurer Witz auf Kosten der Filmgeschichte, aber durchaus schön anzusehen.

Natürlich ist auch Minnie‘s Haberdashery ein alles andere als karger Ort, sondern vielmehr ein barock überladener, multifunktionaler und überdimensionierter Tante-Emma-Laden mit Eisen- und Süßwarenabteilung, angeschlossener Bar, Lounge und Saloon, primitivem Restaurant und Ruhebereich (komplett mit Federbett). Als sozialer Raum ist diese aus groben Bretterbohlen zusammengenagelte zugige Monstrosität, durch deren Ritzen die Schneeflocken des vor der Tür tobenden Sturms in pittoresken Lichtbahnen tanzen, eine Miniatur der amerikanischen Gesellschaft und der Gemeinheiten, die sie hervorbringt. Das ist naheliegend und wurde ähnlich schon mit den offensichtlichen Vorbildern, der Wüstentaverne in Sergio Leones „C’era una volta il West“ („Spiel mir das Lied vom Tod“; 1968) und deren dreißig Jahre älterem funktionalem Vorbild, der Kutsche in John Fords Klassiker „Stagecoach“ („Ringo – Höllenfahrt nach Santa Fé“; 1939), betrieben. Bei Ford ging es um das amerikanische Bürgertum – repräsentiert u.a. durch einen korrupten Bankier, eine aufrichtige Prostituierte, eine bigotte Gesellschaftsdame, einen versoffenen Arzt und das von John Wayne gespielte virile Ringo Kid. Auf engstem Raum zusammengepfercht mussten sie in Kriegszeiten sich gegen den Feind im Inneren wie außen bewähren (um die Kutsche tobt ein Indianerkrieg, drinnen sitzen die Verräter, in der außerfilmischen Realität erschüttert der Zweite Weltkrieg die Menschheit).

Tarantino, der sich bevorzugt mit postklassisch/postmoderner Wendung auf die Filmgeschichte bezieht, arbeitet sich nach „Django Unchained“ freilich ein weiteres Mal an einer filmischen Meditation über „Rasse“ und Klasse, Nord und Süd, Mord und Totschlag, Freund- und Feindschaft ab. Dabei bezieht er sich explizit auf die Dekonstruktion des Westerngenres in Europa, wo Regisseure wie Sergio Leone und Sergio Corbucci Fords Western nach dem Krieg für sich entdeckten, um im Anschluss das Genre mit Hohn und Spott, Blut und Gewalt noch einmal neu zu erfinden und zugleich zu beerdigen. Wenn man so will, verfährt Tarantino nun mit Corbucci und Leone wie diese einst mit Ford und dem klassischen Western: Der Re-Lektüre folgen Anverwandlung und Umdeutung, bald Übersteigerung und Parodie, schließlich auch Threnodie oder absoluter Nihilismus. „The Hateful Eight“ betreibt all das, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge, aber in ein und demselben Film. Als cineastische Exkursion in die Höhen und Untiefen der Filmgeschichte ist „The Hateful Eight“, wie kaum anders zu erwarten, ein Film mit mehrfacher Metaebene; auch, aber nicht ausschließlich, vor der Folie der Filmgeschichte zu lesen. Die wesentlichen Bezüge neben den bereits genannten, sind mal seriös, mal eher von den Rändern der Filmgeschichte geräubert: etwa von Archie Mayos Gangstermelodram „The Petrified Forest“ („Der versteinerte Wald“; 1936) und John Frankenheimers Eugene-O’Neill-Adaption „The Iceman Cometh“ (1973); von den nihilistischen Splatter-Eurowestern „Il grande silenzio“ („Leichen pflastern seinen Weg“, 1968; Sergio Corbucci) und „Condenados a vivir” („Todesmarsch der Bestien“; 1972; Joaquín Luis Romero Marchent); aber auch von späten Genre-Crossovers wie John Carpenters „The Thing“ („Das Ding aus einer anderen Welt“; 1982) und Antonia Birds „Ravenous“ (1999) oder dekadenten Hochglanzausstattungsfilmen wie Sidney Lumets schillerndem All-Star-Cast-Mystery „Murder on the Orient Express“ („Mord im Orient-Express“; 1974).

Wie bei Ford wird die Zwangsgesellschaft der „Hateful Eight“ von außen wie aus der Gemeinschaft heraus bedroht – draußen tobt ein Blizzard, drinnen herrscht das Motto „Jeder gegen Jeden und Gott gegen alle“. Alle sind hier Falschspieler, tragen falsche Namen und Aliase, lassen gefälschte Briefe kreisen und erzählen sich falsche (oder zumindest fragwürdige) Geschichten. Kurz: Sie sind Geschichtenerzähler, besessen davon zu reden – und sei es, dass sie sich dabei um Kopf und Kragen bringen. Selbst der filmische Raum lügt und erzählt demjenigen eine Geschichte, der die Zeichen zu lesen vermag: Unter dem Bretterboden liegt ein zweiter Raum (wir wollen an dieser Stelle besser nicht zu viel erzählen) und eine verräterische Spur aus Jelly Beans liefert einmal ein wichtiges Indiz, um einen Verräter zu enttarnen.

Es ist eine kuriose und mit galligem Witz überzeichnete Gesellschaft, die sich in der grotesken Herberge eingefunden hat. Da wäre etwa der von Kurt Russell gespielte Kopfgeldjäger John „The Hangman“ Ruth, ein in einen speckigen Bärenfellmantel gewickelter Trampel, der sich in jeder gesellschaftlichen Interaktion wie ein Elefant im Porzellanladen benimmt und niemandem außer sich selbst traut. Oder der von Sam Jackson gespielte ehemalige Ex-Nordstaatensoldat Major Marquis Warren, der als schwarzer Kopfgeldjäger bevorzugt Weiße tötet, Hercule Poirots Deduktionsgabe mit Sadismus und Blutdurst vereint und einmal eine unfassbare Geschichte über sexuelle Gewalt und fehlgeleitete Rache erzählen wird, deren filmische Bebilderung zum Geschmacklosesten zählt, was Tarantino in seiner ganzen Karriere inszeniert hat. Hinzu kommt ein wieseliger Redneck (Walton Goggins – die unterhaltsamste der Figuren), der als Outlaw-turned-Sheriff sich noch nicht ganz in seine den Rechtstaat tragende neue Rolle gefunden hat; und ein wortkarger Mexikaner (stoisch bis zur Versteinerung: Demián Bichir). Komplettiert wird das Ensemble durch einen affektierten Henker mit lächerlichem britischen Akzent und dubiosen rechtsphilosophischen Ansichten, den Tim Roth als grandiose Parodie auf Christoph Waltz angelegt; den schmierigen Cowboy-Outlaw Joe Gage (Michael Madsen), der wie eine schlecht gealterte Ausgabe von Waynes Ringo Kid wirkt, im Alter fett, träge und gemein geworden; sowie einen zauselhaften alten Südstaatengeneral, gespielt von Bruce Dern, der einst in Mark Rydells „The Cowboys“ (1972) Filmgeschichte schrieb, als er den „Duke“ John Wayne erschießen durfte. Mittendrin und nur scheinbar außen vor: die aasige Banditenkönigin Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh), um die die Handlung kreist und die in ihrer Hyänenhaftigkeit bestens zum restlichen Personal passt. Was alle eint, sind Niedertracht und Gehässigkeit, Rachsucht und Boshaftigkeit, Rassismus, Menschenhass und Zynismus. Wenn die skurrile Post-Sezessionskriegsgemeinschaft die zugige Hütte unter sich aufteilt, um abermals eine Grenze zwischen Nord und Süd zu ziehen, dann verweist das wie der grassierende Rassismus und die Misogynie weniger auf das historische Amerika um 1870, als auf den großen Graben, den Tea Party, Polit-Populisten wie Trump und die ausufernde Polizeigewalt gegen Minderheiten in den letzten Jahren aufgerissen haben.

Als Spektakel wird „The Hateful Eight“ mit seiner ausufernden Laufzeit von 167 Minuten – in der 70mm-Roadshow-Version sogar auf 187 Minuten gedehnt – für das große Publikum aber doch wohl eine Enttäuschung. Sicher, die ersten, fast ausschließlich von Dialogen und Morricones düsterem Score akzentuierten zwei Stunden sind als Abfolge geschliffenen Parlierens höchst unterhaltsam, kommen mitunter nahe an dem absurden Humor von Monty Python. Dann aber beginnt das große Sterben – und das wird so lang und qualvoll inszeniert wie einst in Tarantinos Debüt „Reservoir Dogs“ („Wilde Hunde“; 1992). Der Wechsel in Tonalität und Tempo, auch eine spät nachgereichte, für sich genommen zwar überragend inszenierte Rückblende, in der die Vorgeschichte erzählt wird, tun dem Film strukturell leider nicht gut. Schon bei „Django Unchained“ (2012) gab es einige Längen – das Splatstick-Finale war einfach zu viel des Guten, wirkte wie ein überflüssiges Addendum und Zeichen einer bislang ungekannten Unentschlossenheit dieses Filmemachers, der mit „Inglourious Basterds“ 2009 sein definitives Meisterwerk abgeliefert hat. Auch die rassistischen Grenzüberschreitungen, die er seitdem wie besessen als performative Akte in seinen Filmen ausagieren lässt, haben sich längst auf unangenehme Weise verselbstständigt. Hier läuft Tarantino Gefahr, zu seiner eigenen Parodie zu werden.

Wo die gefühlt hundertste Erwähnung des ätzenden „Nigger“-Wortes ihre Wirkung verfehlt, ist es diesmal die exzessive Gewalt gegen die einzige relevante Frauenfigur des Films, die in diesem wortgewaltigen Affektkino darauf angelegt ist, dem Kinopublikum eine dezidiert körperliche Reaktion abzuringen. Jennifer Jason Leighs Daisy bekommt mal die Faust ins Gesicht gedroschen, dann den Ellbogen aufs Auge, darf Zähne spucken und wird nach und nach zu blutigem Brei geschlagen. Das ist so konsequent wie schrecklich und bündelt im Guten wie im Schlechten das Progressive und Reaktionäre des Filmemachers Tarantino. Denn einerseits ist Daisy Domergue auf Augenhöhe mit den verwilderten Männern dieses Films: von rasender Wut und lauernder Kraft, mindestens so zäh und boshaft wie die Kerle und in ihrem unbedingten Überlebenswillen wohl auch die vernünftigste Figur im ganzen Ensemble. Wenn Leigh in der Kutsche den Ellbogen ihres Bewachers ins Gesicht gehämmert bekommt, dann legt die Schauspielerin in ihre anschließende Großaufnahme einen ganzen Strauß widersprüchlicher Regungen hinein: Wut und Trotz, Stolz und Überheblichkeit, Schmerz und Übelkeit, Hass und dunkle Erotik. Mal wirkt sie wie eine bleiche Geistererscheinung aus Kaneto Shindos expressivem Geister-Chanbara „Onibaba“ (1964), dann wieder so animalisch wie die Männer, wenn sie das Blut von ihren Lippen leckt, Schneeflocken mit offenem Mund isst oder Zähne durch den Raum spuckt. Aber so stark diese Figur trotz ihrer Ketten ist, der Film, der als groteske Komödie beginnt und als blutiger Körperhorror endet, degradiert sie letztlich doch über weite Strecken zum menschlichen Sandsack. Im Gegensatz zu Jamie Foxx‘ Django darf Daisy nie ihre Ketten verlieren.

In der Schlusseinstellung – und wer den Film noch nicht gesehen hat, sollte an dieser Stelle aufhören zu lesen – gelingt es Tarantino tatsächlich, in einem Bild fast alles zusammenzubringen, was sein Kino ausmacht: Grenzüberschreitung und Genrevermischung, den reaktionären und selbstgerechten Aufstand eines äußerst begabten Autodidakten gegen den Mainstream, dessen Teil er längst geworden ist, zugleich aber auch so etwas wie „kritisches“ Filmemachen. Wenn Daisy nach einem bösartigen Akt der frontier justice blutbesudelt vom Deckenbalken baumelt, darunter die feixenden, selbst sterbenden Männer, die auf dem Bett langsam ausbluten, dann ist sie eine Wiedergängerin des Gekreuzigten, der als Hommage an Sam Fullers Kriegsfilm „The Big Red One“ (1980) den Film in Großaufnahme eröffnet. Ihr grausamer Tod überhöht Daisy und verleiht ihr zudem den Rang einer Sozialbanditin. Es waren in den Filmen des von Tarantino immer wieder bis in Einzelbilder zitierten Sergio Leone (ebenso wie grundsätzlich im Westerngenre) ja immer die outcasts und Proletarier, die aufgeknüpft werden, die Aufwiegler, Egomanen und Anarchisten. Hängen war im viktorianischen England, auf das auch Roths Henker-Figur verweist, die Strafe für wiederholtes Betteln, in B. Travens Abenteuerromanen das Folterinstrument der imperialistischen Herrschaft gegen die indigenen Rebellen. Man hängte Aufrührer, Volkshelden; Menschen, deren Tod ausgestellt werden soll, um die Sanktion ins öffentliche Bewusstsein zu hämmern. Dass die männlichen Zeugen der Hinrichtung, zugleich selbsternannte Richter und Henker, selbst sterben, gerät im nihilistischen Kosmos dieses Films fast schon zu einem Moment der Hoffnung. Zugleich bringt diese höchst ambivalente Einstellung etwas auf den Punkt, das zentral im Westerngenre und im Subgenre des Buddy Movies steht, aber so offen und übereindeutig nie ausgestellt werden durfte: der (selbst dem Tod geweihte) Männerbund konstituiert sich allem voran aus der Vernichtung der Frau. Das mag man widerlich finden, es zerrt aber auch eine verdeckte Wahrheit des Kinos ins Licht.

Hier und hier gibt es einen weiteren Text zu ‚The Hateful Eight‘.

Das Tagebuch der Anne Frank

(D 2016, Regie: Hans Steinbichler)

Jugendaffin ausgegrenzt
von Dietrich Kuhlbrodt

Geht doch! Ein deutscher Kinofilm – und es ist womöglich der erste -,der sich mit dem Tagebuch schreibenden Mädchen Anne Frank, 13 Jahre alt, beschäftigt, 1942 mit ihrer Familie im …

Geht doch! Ein deutscher Kinofilm – und es ist womöglich der erste -,der sich mit dem Tagebuch schreibenden Mädchen Anne Frank, 13 Jahre alt, beschäftigt, 1942 mit ihrer Familie im Versteck in Amsterdam. Vor der Tür suchen Nazis und Kollaborateure nach Juden zum Abtransport nach Auschwitz. Gedreht ist der Film, ohne Mitwirkung quotengeiler deutscher Fernsehanstalten, von Hans Steinbichler (‚Winterreise‘), Mitte vierzig. Er vollbrachte das Wunder – scheiße, das es dafür ein Wunder brauchte -,den originalen, mehr als siebzig Jahre alten Tagebuchtext der Dreizehnjährigen gegenwartsnah und jugendaffin in Bilder umzusetzen. Flüchtlinge, Stigmatisierung und so fort. Leute, das ist hochaktuell! Und die Wirkung stellt sich ohne jede Volkspädagogik ein. Klar, es ist die unglaubliche Präsenz und Authentizität der jungen Schauspielerin Lea van Acken, deren Bild den Film ins Heute bringt. Zum Schluss werden ihr bei der Aufnahmeprozedur im KZ die Haare geschoren. Sie kommentiert das nicht, sie zeigt keine Mimik, sie bleibt in Ordnung. Das ist jetzt die Ordnung. Die deutsche KZ-Ordnung.

Um meine Eloge abzuschließen, noch ein ordentliches Lob zum Schnitt. Ganz im Gegensatz zum TV-Verfahren, Hektik durch Action-Schnitt vorzutäuschen (die fusseligen Dreisekunden-Einstellungen), nehmen sich die Einstellungen im Anne-Frank-Film die Zeit, die es braucht, um Empathie und Nachdenklichkeit zu entwickeln. – Aber jetzt höchste Zeit, zu einem Schwachpunkt zu kommen. Das ist der Einsatz von Musik (Sebastian Pille). Vom easy listening bis zur Klavierbegleitung beim ersten sexy Kuscheln im Bett legen sich die dezenten Töne wie ein Vorhang vor die Szenen, die, statt unter die Haut zu gehen, zur Illustration degradiert werden, – naja, degradiert zu werden drohen.

Aber ich bleibe dabei. Die Gesamtwirkung des Films produziert ohne Extra-Dialog Nähe zum jungen Publikum und Nähe zu denen, die heute wieder aktuell geworden sind: Flüchtlinge, Vertriebene, Ausgegrenzte, Stigmatisierte und Diskriminierte.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 3/2016

Synecdoche, New York

(USA 2008, Regie: Charlie Kaufman)

Die unzähligen Spiele des Lebens
von Jurek Molnar

Die Synekdoche ist eine rhetorische Figur, die bezeichnet, wie ein Begriff „durch einen engeren oder weiteren Begriff (z.B. Kiel für Schiff)“ (Duden Fremdwörterbuch, Mannheim 1982) ersetzt wird. Synonym oder pars …

Die Synekdoche ist eine rhetorische Figur, die bezeichnet, wie ein Begriff „durch einen engeren oder weiteren Begriff (z.B. Kiel für Schiff)“ (Duden Fremdwörterbuch, Mannheim 1982) ersetzt wird. Synonym oder pars pro toto sind Sonderfälle der Synekdoche, die allgemein austauschbare Worte aus derselben semantischen Familie beschreiben. Worte in einem Text können so referenziert werden, ohne sie zu wiederholen und um sie unterschiedlichen semantischen Kontexten zu übergeben. Synekdochen sind in der Sprache, was in einer von physischen Objekten bevölkerten Welt Doppelgänger und Spiegelungen darstellen, Multiplikatoren einer Spaltung zwischen Begriff und Objekt, in der die Realität als Ambiguität der Sprache gegenüber den Objekten und Wirklichkeiten, als Ambivalenz der Wahrnehmung, als unendliche Uneindeutigkeit von Narrativen erfahren werden kann.

Im Englischen wird „Synecdoche“ wie [sɪnˈekdəki] ausgesprochen, was eine phonetische Ähnlichkeit zu Schenectady [skɪˈnɛktədi] im Bundestaat New York hat, wo Charlie Kaufmans Film „Synecdoche, New York“ beginnt. Das erste Regieprojekt des ungemein talentierten und ideenreichen Drehbuchautors von Klassikern wie „Being John Malkovich“, „Adaption“ und „Eternal Sunshine of a Spotless Mind“ war bei seinem Erscheinen ein totaler Misserfolg an der Kinokasse und schaffte es bis auf einige Screenings bei renommierten Filmfestivals nicht in die Programmkinos Europas. Es gibt soweit ich weiß auch keine deutsche Synchronisation. Am sinnvollsten ist es, den Film mit englischen Untertiteln zu sehen, denn er erfordert eine wache Aufmerksamkeit, die bei traditionell mit Originalton gedrehten amerikanischen Filmen notwendig ist, wenn Schauspielerinnen und Schauspieler ganze Sätze verschlucken.

Der Theaterregisseur Caden Cotard, den der 2014 viel zu früh verstorbene Phillip Seymour Hoffman in gewohnt präziser Art darstellt, müht sich mit kleinen Inszenierungen von „Death of a Salesman“ an einem lokalen Theater ab. Seine Ehe mit der Miniaturmalerin Adele (Catherine Keener) ist von Beginn an in der Krise. Ihre gemeinsame vier Jahre alte Tochter Olive hat Angststörungen, während er rätselhafte Pustel auf der Haut entwickelt und unempathische Ärzte ihn über die Natur seines Leidens im Dunklen halten. Die Kartenverkäuferin Hazel (Samantha Morton), die im Theater arbeitet macht ihm Avancen, denen er anfangs noch widerstehen kann, bis seine Frau Adele mit Olive nach Berlin reist, um dort ihre Bilder auszustellen. Spätestens jetzt, nach etwa 30 Minuten kippt der Film von einer präzisen Milieuschilderung mit starken Charakteren in etwas völlig anderes. Es ist ungewiss, ob die Ereignisse, die jetzt stattfinden (oder auch die sich zuvor ereignet haben) einzig und allein Cadens eigenen Phantasien entspringen, ob sie von einer äußeren Realität gesteuert werden oder ob sich beides ständig vermischt. Auch der Schluss löst diese Frage nicht auf, sondern verknüpft Traumhaftes, Reales und Subjektives unerkennbar miteinander, macht alle Grenzen unkenntlich und verwirft jede lineare Erfahrung der Zeit. Kaufman inszeniert sein Regiedebut zwar sehr konventionell und hält die Regeln von Totale, Halbtotale, Close-up und Schuss, Gegenschuss, mit dem Schnitt entlang der Achsen gekonnt ein, verwirrt die Wahrnehmung der Zuschauerinnen und Zuschauer aber durch raffinierte Details in den Dialogen, die die Perspektive Cadens mehrfach brechen und zum Teil völlig auf den Kopf stellen. Zeit und Abfolge der einzelnen Ereignisse sind nicht mehr genau auszumachen, wenn Caden und Hazel gemeinsam in einem Lokal sitzen und Caden davon redet, dass Adele und Olive erst eine Woche weg wären, aber Hazel frustriert anmerkt, dass seine Frau ihn bereits vor einem Jahr verlassen hätte. Solchen Ungereimtheiten wird man im Lauf des Films noch öfter begegnen. Obwohl Caden im Zentrum des Films steht, verwirrt Kaufman sein Publikum mit anderen Sequenzen, die auch in Luis Bunuels „L‘age d’or“ hätten passieren können und die auch als Hinweise zu verstehen sind, dass es nicht Cadens Traum ist, sondern der einer anderen Person. Hazel etwa zieht in ein Haus, in dem es ständig brennt, und heiratet den Sohn der Maklerin, Derek, der bereits im Keller lebt. An einer anderen Stelle des Films erzählt sie Caden, den sie zufällig auf der Straße trifft, dass sie drei Söhne mit Derek hat, nachdem wir sie unmittelbar zuvor bei einem missglückten sexuellen Erlebnis beobachtet haben.

Caden erhält die Chance ein subventioniertes Theaterprojekt in einer riesigen Halle in New York umzusetzen, bei dem er alle seine Visionen von Wahrheit und Ehrlichkeit menschlichen Dramas realisieren kann, aber wie Fellinis Guido in „8 ½ “ verzettelt er sich in den Untiefen seiner eigenen Psyche und das Theaterstück wird ein Drama über das Erfinden, Proben und Scheitern des Theatermachens selbst. Cadens Scheitern im Leben und seine verwirrend unklaren Beziehungsangebote an die Frauen, mit denen er seine Zeit verbringt, werden immer neu inszeniert, mit anderen Schauspielern und Charakteren verknüpft, die oft gleiche Szenen mit weiteren Doppelgängern ausprobieren, ohne zu einem definitiven Ende zu kommen. Welch gewaltige Vision Caden da eigentlich realisiert, lässt sich nur anhand bestimmter Dialogsequenzen für ein staunendes Publikum rekonstruieren. An einer Stelle fragen ihn seine unzähligen Darstellerinnen und Darsteller, die in den gewaltigen Bühnenbauten fast verschwinden, wann endlich das Publikum eingelassen würde, immerhin seien sie schon 17 Jahre mit diesem Projekt beschäftigt.

Es gehört zu faszinierendsten Aspekten des Films wie Kaufman virtuos die Wahrnehmung von Zeit im Film persifliert und aus simplen Dialogzeilen heraus die Zuschauerinnen und Zuschauer verwirrt, die aus der Kinoerfahrung gelernt haben lineare Ereignisserien aus den Schnittfolgen heraus zu lesen. Das Theater als Synekdoche für das Leben selbst wird dadurch zum Zentrum des Films, in dem Caden Titel um Titel für sein Projekt sucht und einen nach dem anderen verwirft. Einer dieser verworfenen Titel ist „Simulacrum“, eine Anspielung auf Baudrillard, der Luis Borges Erzählung „Von der Strenge der Wissenschaft“ mit diesem Begriff analysiert hat. Borges Geschichte handelt von einer fiktiven Gesellschaft, die Karten im Maßstab 1:1 von sich selbst fertigt, so dass wie es bei Borges heißt „die Karte einer einzigen Provinz den Raum einer Stadt einnahm und die Karte des Reiches den einer Provinz“.

Während Caden eine zweite Ehe mit der Schauspielerin Claire (Michelle Williams) und einer weiteren Tochter Ariel zu führen scheint, sucht er nach seiner ersten Tochter Olive in Berlin, die er immer noch für ein vier jähriges Mädchen hält, während sie von der Lebensgefährtin Adeles, Maria, (Jennifer Jason Leigh) als 11 jährige bezeichnet wird. Olive soll als voll tätowierte Künstlerin in einer Peepshow aufgetreten sein, aber sie erkennt Caden nicht, als er solch eine junge Frau durch die Glaswand anspricht. Olive, diesmal als Erwachsene von Robin Weigert verkörpert taucht später noch einmal auf, als Caden an ihrem Sterbebett erscheint, und sie ihn auf Deutsch dazu bringen will, sie dafür um Verzeihung zu bitten, sie und ihre Mutter wegen einer homosexuellen Liebschaft namens Eric verlassen zu haben. Die Tatsache, dass Olive eine solche Behauptung machen kann, bleibt geheimnisvoll. Weder taucht in der Erzählung eine solche Figur auf, noch spielt Homosexualität in Cadens Leben eine Rolle. Wieder werden verschiedene Ebenen von Kaufman geschickt gegen einander ausgespielt. Ist der Vorwurf, dass Caden mit einem gewissen Eric Analsex haben wollte und darum seine Frau und Tochter verlassen hat, eine üble Verleumdung Adeles, um ihre Tochter zu manipulieren oder hat Caden diesen Teil der Geschichte einfach ausgeblendet und verdrängt, um sich mit der Schuld nicht konfrontieren zu müssen? Wir erfahren es nicht und die Frage bleibt unbeantwortet, auch als Caden das Narrativ ohne zu zögern akzeptiert und Olive um Verzeihung für diesen Fehltritt bittet, aber Olive mit der Weigerung ihm zu vergeben stirbt.

Caden arbeitet weiter an seinem Theaterprojekt, in dem New York in Miniaturform nochmals aufgebaut wird und Szenen aus seinem „realen“ Leben als inszenierte Dialoge auf der Bühne nachgestellt werden. Sammy (Tom Noonan), der Caden nach eigenen Angaben über zwanzig Jahre gefolgt ist und jeden seiner Charakterzüge kennt, entwickelt sich zu einem eigenen Caden, der dessen Schwächen und Phantasien radikalisiert. Als Sammy Selbstmord begeht, übernimmt Ellen Bascomb (Dianne Wiest) Sammys Rolle und fügt der Figur ihre ganz eigene Dimension hinzu. Alle Figuren, sind Doppelgänger und Spiegelungen, und mutieren zu menschlichen Synekdochen, die das komplexe Geflecht der Persönlichkeiten multiplizieren. Anstatt seine Probleme im realen Leben zu lösen, vervielfacht Caden sie auf einer Theaterbühne. „Wir sind viele!“, wie Deleuze und Guattari sagen. Jeder neue Mensch ersetzt nicht den alten, sondern überträgt die Ambiguität des Begriffs auf die menschliche Persönlichkeit, in der jede Figur eine ganz bestimmte Ausprägung der Person repräsentiert. Diese Verdopplungen und Spiegelungen sind vielleicht die größte Leistung dieses wunderbaren Films, der eine Geschichte anbietet, die man auf unzählige Weisen verstehen kann und Raum für eine unendliche Menge an Interpretationen liefert, ohne die narrative Ebene selbst zu verlassen. Vom Satz „E pluribus unum“ haben Deleuze und Guattari übrigens einmal geschrieben haben, dass es jenes Prinzip sei, auf das wir alle hinarbeiten würden.

Es kann nicht anders sein, als dass die Lösung für Cadens Probleme der Tod ist. Die letzten Stunden seines Lebens erhält er Regieanweisungen durch ein Mikrophon im Ohr von einer unbekannten Frauenstimme. Caden ist schließlich selbst in seinem eigenen Theaterstück vollkommen aufgegangen und verschwindet in einer langen Weißblende an der Schulter einer Frau, der er gerade erst begegnet ist, inmitten einer anonymen Katastrophe, die den gesamten Theaterraum in ein Schlachtfeld verwandelt hat.

Obwohl die Parallelen zu Fellinis „8 ½“ unverkennbar sind, und Kaufman an mehreren Stellen ironisch auf dieses Vorbild verweist, ist „Synecdoche, New York“ eine völlig eigenständige Arbeit über das Drama eines Künstlers, der seine zerrissene Selbstzentriertheit zwar künstlerisch auszudrücken vermag, darin jedoch keine Erlösung findet, sondern sich im Gegenteil unrettbar in seinen eigenen Inszenierungen verirrt. In einer Rezension des Blogs „Kein Blut, Rot!“ heißt es darum folgerichtig: „Anders als erhofft, gibt Kunst keineswegs dem Leben eine Bedeutung und hilft auch nicht, es zu verstehen. Sie lenkt bloß davon ab, zu leben.“

Während Fellini dem Scheitern eine positive Dimension abgewinnen kann, immerhin kann Guido zum Schluss von „8 ½“ seiner Frau Luisa zuflüstern: „Das Leben ist ein Fest, lass es uns gemeinsam erleben!“, bekommt Caden im Zeitalter der postmodernen Unübersichtlichkeit diese Möglichkeit nicht mehr. Warum das so sein muss, ist zwar schwer zu beantworten, aber vielleicht liegt die Distanz, die „8 ½“ von „Synecdoche, New York“ trennt darin, dass Fellini in einer Zeit lebte als man es noch für möglich hielt, dass das Leben und die Kunst miteinander vereint werden können. Wenn man Niklas Luhmann folgen will ist unsere gesamte Kultur eine Serie von „Beobachtungen zweiter Ordnung“, also Beobachtungen und Verarbeitungen anderer Beobachtungen, in denen sich Sprache und Zivilisation als Codierung der Tradition und Referenz auf ältere Artefakte realisiert. In diesem Sinn ist Kunst keine Antwort auf ein Problem, sondern eine Spiegelung und Verdopplung desselben Problems, mithin ist ein Kunstwerk stets eine Repräsentation anderer Kunstwerke. Kaufmans Film macht auf seine eigene Art und Weise deutlich, dass das Leben und die Kunst niemals als Identität gedacht werden können, auch wenn diese Utopie höchst reizvoll erscheint. Kaufmans Alter Ego Caden kann von solch einer Utopie, wie sie Fellini noch für möglich hielt, nicht mehr ausgehen, geschweige denn zu ihr zurückkehren. Ob man mit dieser Erkenntnis unglücklich wird oder aus ihr einen anderen, positiven Schluss ziehen kann, ist eine der vielen Entscheidungen, die Kaufman uns selbst überlässt.

Das Liebesversteck

(GB / USA 2014, Regie: Joanna Coates)

Allmählich wird das Alte neu
von Wolfgang Nierlin

Vier Gestalten stehen in einer merkwürdigen Zeremonie im fackelbeschienenen Halbkreis um ein Feuer. Es ist Nacht auf dem ländlichen Anwesen. Und im Hintergrund zeichnet die beleuchtete Fassade eines alten Bauernhauses …

Vier Gestalten stehen in einer merkwürdigen Zeremonie im fackelbeschienenen Halbkreis um ein Feuer. Es ist Nacht auf dem ländlichen Anwesen. Und im Hintergrund zeichnet die beleuchtete Fassade eines alten Bauernhauses ein orangefarbenes Rechteck ins Dunkel. Offensichtlich zelebrieren die vier, zwei junge Frauen und zwei junge Männer, mit feierlichem Ernst eine Feuerbestattung. Die Exposition von Joanna Coates‘ bemerkenswertem Debütfilm „Das Liebesversteck“ („Hide and Seek“) ist ein Vorgriff auf eine spätere Szene des Films, in der das verschworene Quartett symbolisch einen Sarg aus Pappmaché verschließt und zur Feuerstelle trägt. Was hier den Flammen überantwortet wird, ist der endgültige Abschied vom alten Leben und seinen einengenden Konventionen, die kurz zuvor in Gestalt eines außenstehenden Eindringlings noch einmal mit Vehemenz in die idyllische Gemeinschaft eingebrochen sind. Joanna Coates‘ kunstvoll gemachter Film handelt von nichts weniger als der zeitgemäßen Form einer romantischen Liebesutopie.

Wenn sich zu Beginn Leah (Rea Mole) und Max (Josh O’Connor), die sich offensichtlich kennen, für ein Lebens- und Liebesexperiment verabreden, geschieht das in vagen Andeutungen. Leah hat offensichtlich ihr Elternhaus auf dem Land geerbt und will dort mit Freunden eine Wohngemeinschaft gründen. Max assoziiert dazu ein Kindheitserlebnis am Meer, in dem die Sehnsucht nach Unschuld und Zeitlosigkeit mitschwingt. Parallel zu diesem Gespräch werden in einer asynchronen Bild-Ton-Montage die Figuren Charlotte (Hannah Arterton) und Jack (Daniel Metz, der auch am Drehbuch mitgearbeitet hat) eingeführt, die offensichtlich gerade ihre jeweiligen Beziehungen verlassen haben. Über die persönlichen und sozialen Hintergründe der Figuren, ihren gesellschaftlichen Status, ihre Motivation zur Teilnahme an dem Abenteuer oder auch ihre psychische Verfassung wird kaum etwas gesagt. Joanna Coates‘ elliptisch erzählter Film überrascht durch seine Offenheit und definiert sich zu einem guten Teil über seine Auslassungen bzw. über das, was er im Vergleich zu konventionelleren Filmen ausspart.

Der gemeinsame Aufbruch in ein neues Leben beginnt mit einer Fahrt in die Nacht, die als Tabula rasa fast alle bekannten Zeichen auslöscht. Einer sagt, das Benzin reiche nur für die Hinfahrt und es gebe deshalb kein Zurück. Nach der Ankunft hat die Suche nach Freiheit noch keinen Plan. Alles ist vage, unsicher und unbestimmt. Noch sind alte Verhaltensmuster, sind Befangenheit und ein lauerndes Misstrauen in Kraft; noch schieben sich alte Erinnerungen ins Heute, noch ist alles Vorsicht und Kontrolle, fehlt der „richtige“ Halt“. Erst allmählich wird das Alte neu, verwandelt sich das Leben. Man solle sich von seinen Trieben leiten lassen, lautet ein Vorschlag; ein Schlafzimmerplan mit wechselnden Paarbildungen wird notiert; ein Kennenlernspiel wird angekündigt, aber nicht gezeigt. Schließlich führt gemeinsames Aktzeichnen zu einem ersten Durchbruch in den Raum körperlicher Intimität. Joanna Coates umgibt diese, begleitet von Beethovens Klaviersonaten und in Ausblicken auf poetische Naturstimmungen, mit einer fast sakralen Aura. Initiiert werden diese Aufbrüche stets durch phantasievolle Rollenspiele, illusionistisches Theater, erfundene Geschichten, durch Lieder und Tänze. Die Kunst wird zum Medium der Verwandlung, die fern von Alltag und Politik neue und offenere Beziehungen und eine geradezu symbiotische Sexualität ermöglicht.

Wenn also Simon (Joe Banks), Charlottes langjähriger Freund, unerwartet die noch junge Liebesidylle betritt, wird er zum fremden Eindringling, der die frisch gewonnene Harmonie des Quartetts empfindlich stört. Simon kommt mit angebotenen, aber als aufgezwungen erlebten Freiheiten nicht klar, was auch den mittlerweile eroberten Abstand der Gruppe zu den überkommenen Konventionen zeigt. „Was sich hier abspielt, ist nicht die Wirklichkeit“, sagt er aufgewühlt, bevor er die verschworene Gemeinschaft wieder verlässt. Dass es sich bei ihrem glücklichen und für einmal geglückten Miteinander, das den Traum ewiger Vereinigung träumt, um eine Art Paradies auf Erden handelt, daran lässt Coates‘ ungewöhnlich „freier“ Film keinen Zweifel – auch keinen ironischen. Die ernste, experimentelle Form ihres in der Behandlung von Ort, Zeit und Handlung geradezu klassischen Kammerspiels verwahrt sich souverän gegen den möglichen Vorwurf eines unzeitgemäßen Eskapismus; und macht aus ihrer „Erforschung möglicher Lebensstile außerhalb des Mainstreams“ (Coates) eine „wahre“ Utopie.

Zwischen Himmel und Eis

(F 2015, Regie: Luc Jacquet)

Filmische Naturkatastrophe
von Jürgen Kiontke

Beim Saufen kommen einem die besten Einfälle. Claude Lorius saß 1965 vor einem Glas Whisky on the Rocks, als er beobachtete, wie das Eis langsam schmolz und dabei Luft freisetzte. …

Beim Saufen kommen einem die besten Einfälle. Claude Lorius saß 1965 vor einem Glas Whisky on the Rocks, als er beobachtete, wie das Eis langsam schmolz und dabei Luft freisetzte. „Da hatte ich die Eingebung, dass diese Luftbläschen einzigartige und zuverlässige Zeugnisse für die Zusammensetzung der Luft darstellen.“

Der darauffolgende Kater dauert bis heute an. Lorius ist Glaziologe, und mit seinen Bohrungen im ewigen Eis des Südpols hat er den Klimawandel nachgewiesen. Anhand eingeschlossener Luftreservoirs ließen sich über tausende von Jahren Bewegungen des CO2-Gehalts und anderer Luftbestandteile in der Atmosphäre nachweisen. Über 20 Mal war der französische Eispionier in der Antarktis, er stieß internationale Programme zur Erforschung der Eisflächen an; in einer Bohrung gelang der Blick zurück über fast eine Million Jahre.
Das Thema ist topaktuell: Gerade, bis 11. Dezember 2015, war Klimakonferenz in Paris. Bei den gegenwärtigen Migrationsbewegungen in Richtung Europa mischen sich erste Befürchtungen, dass die Erwärmung der Erdatmosphäre womöglich viel drastischere Flüchtlingstrecks nach sich zieht, als dies Bürgerkriege vermögen. Nicht wenige sehen im Anstieg des Meeresspiegels und einer höheren Taktzahl von Naturkatastrophen erste Vorboten.

Da würde die filmische Ehrung des Forschers, der mit als einer der ersten hier Zusammenhänge erkennen konnte, doch passen. 83 Jahre alt ist Lorius heute, mit 23 fuhr er das erste Mal ins Eis. Ein Leben für die Klimaforschung – Grund genug für den Regisseur Luc Jaquet, ihm einen Dokumentarfilm zu widmen. Jaquet ist vor allem berühmt geworden mit seiner Sprechende-Tiere-Fiction-Doku „Die Reise der Pinguine“ (F 2005) – jetzt mal nichts Schlechtes über die Dialoge philosophierender Vögel. Aber ob Jaquets Zugang zu Lorius‘ Lebenswerk der richtige ist, lässt sich durchaus bezweifeln.

Denn „Himmel und Eis“ ist nicht nur Dokumentarfilm, sondern auch Dokument einer völlig überzogenen Personalisierung des Themas. In weiten Strecken genügt sich Jaquet darin, Lorius zwischen Eisblöcken abzufilmen, gern dramatisch aufgeladen per Drohnenkamera und off-kommentiert durch einen nervenden Sprecher Max Moor. Nicht Ergebnisse und Folgen der Forschung stehen hier im Mittelpunkt, der Mensch Lorius soll es sein. Der aber erschreckend wenig zu berichten hat, zumal er mit einer ebenso erschreckend pathetischen musikalischen Unter- bzw. besser: Übermalung zu kämpfen hat.

Dass der Film nach einer Weile aber dennoch Informationen liefert, ist den Rückblenden in Originalaufnahmen der zahlreichen Expeditionen geschuldet. Allerdings auf andere Weise, als das vielleicht didaktisch gewünscht war. Sie liefern weniger Wissenschaftliches, als vielmehr Eindrücke einer viril-technoiden Wissenschaft, deren Ausführung an Militäroperationen erinnert. Panzer fahren durchs Eis, durchweg sind Großmaschinen im Einsatz, Transportflugzeuge brechen auseinander und werden mir nichts dir nichts durch neue ersetzt. Dabei lässt man unfassbare Mengen Müll in der fragilen Natur zurück. Der Höhepunkt: Die teils kilometertiefen Bohrlöcher werden mit Kerosin gespült, um sie offenzuhalten.

Was hier zum Einsatz kommt, ist eine großindustrielle Mechanik, eingesetzt von technikbegeisterten Freaks, die offensichtlich über unerschöpfliche Mittel verfügen. Die Menschen, die mit ihnen arbeiten, sind saufende Raubeine, harte Typen, die zuweilen harte Fakten zum Ausdruck bringen: „Es ist kalt.“

Alles Nachdenkliche – und Nachhaltige – soll hier keine Rolle spielen. Inmitten dessen liefert der eingesprochene Kommentar eine unsympathische Selbstbesessenheit des Klimaexperten. „Wir leisten fast Übermenschliches.“ Den Pinguin lässt man an der Zigarette ziehen. Dann brettert die junge Crew mit ihren Kisten übers sensible Antarktis-Eis, abends gibt’s die Party.

Gut, passiert. Aber was für ein Mensch Lorius ist, in welchen Zusammenhängen er lebt, was mit den privaten Verhältnissen ist, das erfährt man auch wieder nicht: Hat er das alles allein geschafft, was ist mit diesen Kollegen, was wurde aus ihnen, was mit Familien und Freunden? Warum gab es nicht den Nobelpreis? Wüsste man alles gern. Aber keiner sonst kommt hier zu Wort.

„Wir leisten Übermenschliches“ – ja, das stimmt. Aber eben auch Unterirdisches. Statt den Zuschauern zu erklären, welche politischen Implikationen diese Forschung hat, welchen systemkritischen Gehalt sie haben könnte – also was das alles mit uns zu tun hat -, muss man leider konstatieren: Diese Analyse der Klimakatastrophe hat selbst einen Klimaschaden.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Zeozwei 1/16

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Zwischen Himmel und Eis‘.

Sture Böcke

(IS 2015, Regie: Grímur Hákonarson)

Brothers In Arms
von Ulrich Kriest

Hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen, genauer: im kargen Norden Islands leben die beiden Schafzüchter Gummi und Kiddi auf unmittelbar benachbarten Farmen. Gummi und Kiddi sind Brüder, haben …

Hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen, genauer: im kargen Norden Islands leben die beiden Schafzüchter Gummi und Kiddi auf unmittelbar benachbarten Farmen. Gummi und Kiddi sind Brüder, haben aber seit Jahrzehnten kein Wort mehr miteinander gesprochen. Lässt sich Kommunikation aber partout nicht vermeiden, fungiert ein zutraulicher Hund als Postbote zwischen den Häusern. Regelmäßig begegnen sich die Brüder wohl nur beim alljährlich stattfindenden regionalen Schafzüchter-Wettbewerb, bei dem die Vorzeige-Exemplare ihrer uralten Rassen regelmäßig reüssieren. Klar, dass sich die beiden Brüder auch bei dieser Gelegenheit keines Blickes würdigen. Dass die beiden Männer auch äußerlich keinen Zweifel daran lassen, dass sie in Symbiose mit ihren Tieren leben und damit vielleicht einsam, aber auch glücklich sind, verführt den Filmemacher Grimur Hákonarson, einem gelernten Dokumentaristen, nicht dazu, sich vorschnell für eine skurril-exotische Wohlfühlkomödie zu entscheiden. Zwar sind die Lebensumstände der Brüder seltsam ritualisiert, aber das Leben ist dort, wo sie leben, auch nicht gerade Zuckerschlecken. Eher schon ein Western.

In diesem Jahr gewinnt Kiddis Schafsbock überraschend den Wettbewerb, was Gummi gleich schon mal den Tag verhagelt. Einmal misstrauisch geworden, entdeckt er in der Herde seines Bruders einen Verdachtsfall auf eine gefährliche, weil ansteckende und tödliche Hirnkrankheit. Falls sich der Verdacht bestätigt, müssen die Herden des gesamten Tales notgeschlachtet und keine neuen Tiere angeschafft werden, was für die meisten Züchter existenzbedrohend ist. Hákonarson spricht im Presseheft zum Film eindringlich davon, welch ein Trauma für die traditionsbewussten Züchter die Vernichtung einer Herde schon unter normalen Umständen darstellt.

Gummi und Kiddi leben ganz allein mit ihren Herden und erleben dieses Trauma gewissermaßen in gesteigerter Form. Freunde macht man sich also durch eine solche Anzeige gewiss nicht, zumal die zuständigen Behörden kompromisslos und professionell agieren. Kurzzeitig regt sich unter den verzweifelten Züchtern so etwas wie Widerstand, doch dann fügt man sich ins Schicksal. Alle – bis auf Kiddi und Gummi. Kiddi geht erst wütend mit der Flinte auf den Bruder los, ergibt sich dann dem Alkohol und wird vom Gummi mit dem Schaufelbagger vor dem Hospital abgeladen. Überhaupt scheint allein Gummi sich stoisch mit den Gegebenheiten abzufinden, doch das täuscht. Erst in dieser Notsituation werden die beiden Brüder über ihre Schatten springen und ohne viele Worte tun, was eben zu tun ist. Dass sie dabei ihre Kräfte überschätzen, führt zu einem eindrucksvollen Schlussbild, das die Uhr vielleicht noch einmal auf Anfang zurückstellt. Vielleicht.

Dass der erstaunlich unspektakuläre, aber mit viel Sinn für Details (Kamera: Sturla Brandth Grøvlen („Victoria“)) gearbeitete „Sture Böcke“ in Cannes 2015 den Hauptpreis der Reihe „Un Certain Regard“ gewonnen hat, mag dem Film vielleicht etwas zu viel Gewicht verleihen, aber die Souveränität, mit der der Film sich zwischen diversen Genre-Spurenelementen mit einer sehr eigenen Mischung von Dokumentarischem mit Poetischem bewegt, fordert schon Respekt ab. Ein eigensinniger Film über Viehzucht und Eigensinn.

The Big Short

(USA 2015, Regie: Adam McKay)

Einstürzende Elfenbeintürme
von Manfred Riepe

Ein Katastrophenfilm als Chronik der angekündigten Finanzkrise von 2007? Ein Dialog-Stakkato, das den Zuschauer über zweieinhalb Stunden mit Hintergrundinformationen und Fachbegriffen aus der Finanzwelt traktiert – ist so etwas auszuhalten? …

Ein Katastrophenfilm als Chronik der angekündigten Finanzkrise von 2007? Ein Dialog-Stakkato, das den Zuschauer über zweieinhalb Stunden mit Hintergrundinformationen und Fachbegriffen aus der Finanzwelt traktiert – ist so etwas auszuhalten? Man hält es aus, es funktioniert. In seiner Verfilmung des gleichnamigen Sachbuch-Bestsellers von Michael Lewis tritt der noch unverbrauchte Regisseur Adam McKay die Flucht nach vorne an. Er inszeniert einen dialogintensiven audiovisuellen Parforceritt, der zuweilen an die flackernden Bildgewitter von Oliver Stone erinnert. Im Gegensatz zu dessen Börsenfilm „Wall Street“ kann „The Big Short“ mit der Materie sehr viel mehr anfangen. McKay dringt wesentlich tiefer in das Thema ein.

Das ist erstaunlich, denn die internationale Finanzkrise von 2007, in deren Verlauf auch deutsche Anleger viel Geld verloren, ist knapp zehn Jahre später offenbar fast vergessen. Die reale Wirtschaft, so scheint es, wurde nicht so nachhaltig geschädigt, wie das beim schwarzen Freitag von 1929 und der nachfolgenden Weltwirtschaftskrise der Fall war. Wenn McKays Film nun den vermeintlich größten Finanzcrash aller Zeiten beschwört, so könnte der Zuschauer eigentlich milde lächelnd die Achseln zucken. Wäre da nicht der „Diselgate-Skandal“, der im September dazu führte, dass der Wert der VW-Aktie – ein Blue Chip, den man eigentlich blind kaufen konnte – sich binnen weniger Tage halbierte. Diese Crashs machen bewusst, dass die Finanzkrise eigentlich ein Dauerzustand ist, den man irgendwann verdrängt. Insofern kommt „The Big Short“ durchaus zur richtigen Zeit in die Kinos.

Der Film rollt das Platzen der sogenannten Immobilienblase aus der Sicht dreier Vermögensverwalter auf, die das Desaster kommen sahen: Hared Vennett (Ryan Gosling), ausgebuffter Finanzmakler bei der Deutschen Bank, staunt nicht schlecht. Warum schwimmt der erfahrene Hedgefonds-Manager Michael Burry (Christian Bale) nicht wie alle anderen Finanzmanager mit dem Strom? Warum riskiert er in einer Zeit des prosperierenden Hypothekenmarktes das Geld seiner Anleger, indem er darauf wettet, dass der Immobilienmarkt zusammenbrechen wird?

Dieses scheinbar geisteskranke Verhalten versucht Hared Vennett dem mit allen Wassern gewaschenen Trader Mark Baum (Steve Carell) zu erklären. Dabei macht der Film auch dem Zuschauer die Konstruktion des amerikanischen Finanzsystems am Beispiel eines aus Bauklötzchen zusammengesetzten Hauses deutlich, ungefähr so wie bei „Die Sendung mit der Maus“. Der finanzielle Turmbau zu Babel besteht aus kleinen Steinchen. Jedes stellt ein Finanzprodukt dar, dem die Rating Agenturen allerhöchste Bonität bescheinigen. Wo ist also das Problem?

Als Mark Baum, gespielt von dem ziemlich ernst agierenden Komiker Steve Carell, bei der Rating Agentur nachhakt, trifft ihn fast der Schlag. Wider besseres Wissen haben die Agenturen grünes Licht für marode Finanzprodukte gegeben – weil die Geldhäuser ihre Zertifikate ansonsten von der Konkurrenz hätten bewerten lassen. Die gesamte Finanzwirtschaft, so findet Baum nach und nach heraus, ist ein brüchiges System, in dem sich jeder auf den anderen verlässt und keiner mehr der Überblick hat.

Keiner bis auf Michael Burry. Als einziger hat er das gemacht, was eigentlich jeder kleine Volkswirtschaftler hätte tun sollen: Bilanzen lesen. Durch das vermeintlich langweilige Studium von Zahlen hat er herausgefunden, dass jene unzählig vielen sozial schwachen Hausbesitzer, die durch staatlich gedeckte Kredite zum Kauf einer Immobilie bewegt wurden, ihre Schulden nicht bedienen können. Es kommt, wie es kommen muss. Nämlich zu einer lawinenartigen Serie von Verkäufen. Dadurch sinken Immobilienpreise in den Keller– und reißen, so wie bei jedem Schneeballsystem, die großen Finanzhäuser mit in den Abgrund: So ungefähr kann man es heute auf Wikipedia nachlesen. 2007 wollte davon niemand etwas wissen. Und der Film erzählt recht spannend, warum.

Mit phantasievollen szenischen Erfindungen und dosierten Stilbrüchen macht McKay diesen abstrakten Vorgang sinnlich nachvollziehbar. Um das Fachchinesisch der Finanzbegriffe zu erläutern, reden die Protagonisten zuweilen direkt in die Kamera. Manchmal werden kleine Graphiken eingeblendet, um einen Verlauf zu illustrieren. Zusammen mit permanenter Dialog-Hektik nähert sich der Film einem audiovisuellen Overkill. Die Schnittfrequenz erreicht zuweilen die Dichte eines Videoclips. Doch dieser opulente Bildersturm ist kein Selbstzweck. Er verdeutlicht das Fließen der Geldströme und die atemlose Schnelligkeit, mit der Entscheidungen im permanenten Blindflug getroffen werden. Durch den Informations-Overkill wird aber auch ironisch klar, dass die Worte leer klappern und trotz akribischer Erklärung niemand so recht durchsteigt. Wird beispielsweise ein Koch gezeigt, der vor der Kamera Fischabfälle zu einem lecker aussehenden Gericht garniert, dann wird nachvollziehbar, wie findige Banker immer wieder neue „stinkende“ Finanzprodukte kreieren, die den Anleger täuschen. Doch irgendwann beißt die Schlange sich in den Schwanz.

Neben Ryan Gosling und Steve Carell überzeugt vor allem Christian Bales exzessives method acting. Seine Figur illustriert die Binsenweisheit des Einäugigen, der unter Blinden König ist. Als Kind, so zeigt es eine Rückblende, fiel ihm beim Baseball einmal das Glasauge heraus, worauf er disqualifiziert wurde. Wenn Bale sich permanent im Gesicht herumfummelt, dann ist man darauf gefasst, dass er sich tatsächlich das Auge herausnimmt. In seinem Büro hört dieser inspirierte Chaot ohrenbetäubende Death Metal Musik. Eine beinahe klischeehafte, aber doch wirkungsvolle akustische Metapher für den nahenden Zusammenbruch, den er wie ein Zen-Meister vorherahnt – und dabei kräftig absahnt.

Sehenswert ist der 130-minütige „Crash“-Kurs, weil er den Kapitalismus nicht eindimensional als das Böse schlechthin verteufelt. Gemäß der populären Sichtweise, die beispielsweise Don DeLillo in seinem von David Cronenberg eins zu eins adaptierten Roman „Cosmopolis“ postulierte, haben die globalen Finanzströme, die an den Börsen hin- und hergeschoben werden, nichts mehr mit der realen Ökonomie zu tun. Diesen verkürzten Gedanken transportiert auch Martin Scorseses „The Wolf of Wall Street“. Während Leonardo DiCaprio als erfolgreicher Börsenmakler in einem modernen Sodom und Gomorrha den Dauerexzess lebt, wird Scorseses Film extrem ermüdend, weil er sich von Thema des Aktienhandels völlig loskoppelt.

Ganz anders „The Big Short“. Hier wird die Verknüpfung zwischen der Spekulationsblase und der realen Wirtschaft konkret greifbar. Pointierte Szenen machen transparent, dass es um die Schicksale zahlreicher kleiner Immobilienbesitzer geht, die ihre Häuser verlieren und unter Brücken schlafen. Obwohl der Film in diesem Punkt noch etwas präziser hätte sein können, ist McKays Wirtschaftsthriller eine packende filmische Reflexion über den einstürzenden Elfenbeinturm der Hochfinanz. „The Big Short“ ist sozusagen die Spielfilmversion zu Marc Bauders Dokumentarfilm „Master of the Universe“, in dem ein ehemaliger Investmentbanker Einblicke in das Innenleben der Börse gibt. Eine synchronisierte oder besser eine untertitelte Fassung ist für McKays Fall ratsam.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚The Big Short‘.

Die Akte General

(D 2016, Regie: Stephan Wagner)

Nochn Bier
von Dietrich Kuhlbrodt

Generalstaatsanwalt Fritz Bauer „nun auch einem großen Fernsehpublikum zugänglich zu machen, ist nach unserer Überzeugung öffentlich-rechtlicher Kernauftrag“, lobt die Kulturchefin vom SWR sich selbst. Und in der Tat, dieser Fernsehfilm …

Generalstaatsanwalt Fritz Bauer „nun auch einem großen Fernsehpublikum zugänglich zu machen, ist nach unserer Überzeugung öffentlich-rechtlicher Kernauftrag“, lobt die Kulturchefin vom SWR sich selbst. Und in der Tat, dieser Fernsehfilm richtet sich perfekt an Rentner, die mit dem ersten Bier in der Hand kucken, was nach der Tagesschau kommt. Was kommt, ist ein Rentnerfilm. Jüngere Menschen werden nicht angesprochen. Die schalten aber sowieso nicht ARD ein. Sie laden längst woanders Serien runter.

Nun aber zurück zur Akte General. Es geht zum abermalen in die Adenauerzeit. Überall Nazis in ihren alten Positionen. Ihr Opfer ist der General, der was ändern will. Soweit der Inhalt dieses Fernsehfilms. Was wir sehen, sind Köpfe, die was Wichtiges zu sagen haben. Meinen sie. Das ist damals wie heute das staatsmännische Kucken. Insoweit gut gelungen. Aber langweilig. Statt wie in andern Bauer-Filmen („Der Jude ist schwul“), heißt es jetzt sittsamer, dass er ein warmer Bruder war. Geht doch! Und wer noch einen Zweifel hat, weil nix erwiesen sei, dem wird vorgeführt, wie über den Flur seiner Wohnung ein nackter Knabe rennt. Holla! Na, denn! „Über Paragraph 175 red ich nicht“, sagt Bauer dazu patzig. Und er wiederholt ständig den Satz „Ich mach mich strafbar“.

Auch weil er heimlich Kontakte zum Mossad aufnimmt, um den Eichmann aus Argentinien zu entführen. Auch Kontakte zu Agenten der Soffjetzone?? Da macht der junge Staatsanwalt, den er sich als Hoffnungsträger einer neuen Generation ausgeguckt hat, nicht mit. Heimlich trifft der sich mit dem Bundeskriminalamt, um seinen Mentor, den Bauer, auszuspionieren. Schlimm? Nein, im Kalten Krieg muss man Stellung beziehen. Aber ist der politisch korrekte Jungmensch etwa auch ein warmer Bruder? Er ist es nicht, weil er in vielen Szenen seine superschwangere Frau vorführt. Also ist die Rentnerwelt in Ordnung. Zwischen den vielen redenden Gesichtern gibt’s action, Oldtimer fahren auf Kopfsteinpflaster hin und her. Kuckma, so einen hab damals ja auch gehabt!! Hallo, mir wird heiß unterm Hintern. Eine Einstellung jagt die andere im Dreisekunden-Rhythmus. Nochn Bier. Prost ARD!

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 02/2016

The Hateful Eight

(USA 2015, Regie: Quentin Tarantino)

Spiel mir das Ende vom Lied
von Jurek Molnar

Es ist gut möglich, dass spätere Generationen diesen Film als bedeutenden Beitrag zur Kinogeschichte und raffinierten politischen Kommentar betrachten werden, aber heute, im Jahr 2016, scheint Tarantinos „The Hateful Eight“ …

Es ist gut möglich, dass spätere Generationen diesen Film als bedeutenden Beitrag zur Kinogeschichte und raffinierten politischen Kommentar betrachten werden, aber heute, im Jahr 2016, scheint Tarantinos „The Hateful Eight“ ein weiterer missglückter Film des kalifornischen Regisseurs zu sein. Als Zuschauer wird man von Tarantino mit vielen Fragen allein gelassen, erst nach längerem Nachdenken und genauerer Analyse kann man in Umrissen ausmachen, worum es eigentlich geht. Wie schon in seinen beiden letzten Filmen, „Inglourious Basterds“ und „Django Unchained“ lässt Tarantino sein Publikum mit den formalen Brüchen in der Erzählweise und den Arthouse-Spielereien in Sachen Dramatik und Handlungsaufbau oft ratlos zurück. Eine User-Kritik auf IMDB nennt den Film „seelenlos“, und beklagt, dass Tarantino ein 70mm Panavision Format benutzt, obwohl der größte Teil der Handlung in einem einzigen überschaubaren Raum spielt. Kein schlechter Einwand, wie ich meine.

„The Hateful Eight“ ist eine Lektion darin, wie postmodernes Kino aussieht, gleichzeitig ist es auf eine queere Art sehr zeitgeistig und befriedigt doch keine Erwartungen. Obwohl dialoglastig wie immer, gibt es in „The Hateful Eight“ kaum Anspielungen auf popkulturelle Codes, keine für den Plot relevanten Auseinandersetzungen philosophischer Natur, keine Debatten über Moral und Zivilisation, nur an einer Stelle schimmert eine zynische Kritik an der Todesstrafe durch, aber das bleibt eine Randerscheinung. Anders als sonst inszeniert Tarantino seinen Film nicht als offenes Kunstwerk, in dem sich Verknüpfungen zu allen möglichen Phänomenen der Pop- und Trashkultur finden lassen, sondern als in sich geschlossenes blutverschmiertes Drama, in dem sprichwörtlich alle Beteiligten von der Außenwelt abgeschnitten sind. Dazu passt auch, dass Verweise auf klassische Western und die für Tarantino üblichen eklektizistischen Zitate und Anspielungen auf seine zahlreichen Vorlieben und Vorbilder fehlen, oder zumindest sind sie auf den ersten (und zweiten) Blick nicht sichtbar und werden nur mühsam als akademische Arbeit nachzuvollziehen sein. Es wird den Nerds und Geeks der Tarantino Fangemeinde überlassen bleiben, solche Querverweise in den Details und Kameraeinstellungen zu kartographieren, für den Film selbst spielen sie so gut wie keine Rolle. Die in den USA konstant zum Alltag gehörenden Auseinandersetzungen über Rassismus und Diskriminierung werden auch in „The Hateful Eight“, wie schon in „Django Unchained“ als strukturierendes Narrativ wiedergegeben, aber durch eine ständig ins psychotisch gehende Gewalttätigkeit verwirrend überladen und aus dem Focus gedrängt. Man kann durchaus davon ausgehen, dass bei Tarantino Absicht dahinter steckt, aber welche das sein soll, erschließt sich auf den ersten Blick nicht.

Die undurchschaubaren Absichten Tarantinos fangen schon beim Titel an. Zwar gibt es mindestens acht hassenswerte Charaktere, aber eine weitere relevante Figur, die ebenfalls kein besseres Charakterbild abgibt, taucht noch in der letzten Stunde des Films auf. Obwohl die Handlung einigermaßen kompliziert ist, ist die Ausgangsposition sehr klassisch: eine Gruppe von Westerncharakteren, anfangs neun – später werden zeitversetzt in der Vergangenheit weitere Personen eingeführt – sind in einer Blockhütte in der Wintereinöde Wyomings gefangen, weil draußen ein Blizzard tobt, der die Weiterreise zur nächsten Stadt, namens Red Rock unmöglich macht. Die unfassbare Kälte draußen und die brutale Intensität drinnen sind die Spannungsfelder, in denen sich das Geschehen abspielt. Jede Figur ist exorbitant gewalttätig oder hat eine Vergangenheit, die von Blut und Verbrechen begleitet wird. Jede Figur hat ihr eigenes Narrativ, das fortwährend bezweifelt wird. Eine Referenz von außen, die den Inhalt bestätigen könnte, gibt es nicht. Ganz ähnlich haben Sartre und Beckett ihre Theaterstücke über die Verlorenheit des Menschen gestaltet, aber die intellektuelle Ironie, die Tarantinos frühere Werke ausgezeichnet hat und den philosophischen Spin französischer Literatur sucht man vergebens. Es scheint, als wollte er deutlich machen, dass in „The Hateful Eight“ vorerst einmal Schluss mit lustig ist. Der Mensch ist des Menschen Wolf und die einzige verlässliche Emotion anderen gegenüber ist die Angst, die wach hält und das Soziale als Grad des Gefahrenpotentials erlebt. Es gibt keine Guten mehr, höchstens Unschuldige, die rasch und kaltblütig ermordet werden. Wenn Tarantinos Figuren nicht über Comics, Popmusik oder Martial Arts-Filme reflektieren können, bleiben nur schäbige und brutale Bestien zurück, die sich gegenseitig in sadistischer Mordlust auslöschen wollen.

Der Bruch mit der spaßverliebten Ironie, die wir als Zuschauerinnen und Zuschauer an den früheren Filmen Tarantinos so genossen haben, macht die Auseinandersetzung mit dem Film nicht leichter. Im schlimmsten Fall könnte „The Hateful Eight“ sogar ein ernsthafter Karriereknick für Tarantino werden, wenn der finanzielle Erfolg ausbleibt und die Kritiker und Fans die Gefolgschaft ebenfalls verweigern. Beides ist nicht auszuschließen. Aber was genau passiert in dem Film eigentlich?

Der Kopfgeldjäger John Ruth (Kurt Russel) transportiert eine Gefangene namens Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh) in einer Kutsche durch die schneeverwehte Einöde Wyomings, um sie in Red Rock, der nächsten Stadt wegen mehrfachen Mordes hängen zu lassen. Unterwegs nimmt er einen anderen Kopfgeldjäger mit, den ehemaligen Nordstaatenoffizier Major Marquis Warren (Samuel L. Jackson), dessen Pferd unterwegs gestorben ist. Auch der ehemalige Südstaatenoffizier Chris Mannix (Walton Goggins), der behauptet der neue Sheriff von Red Rock zu sein, hat dasselbe Schicksal erlitten. Gemeinsam mit dem Kutschenfahrer O.B. (James Parks) erreichen sie die Raststation „Minnies Habadashery“, die als einziger Schutz vor dem aufkommenden Schneesturm zur Verfügung steht. Minnie und ihr Mann Sweet Dave, sowie ihre Helfer sind jedoch nicht da, angeblich, weil Minnie zu ihrer Mutter gefahren ist. Die bereits anwesenden Gäste sind der mexikanisch radebrechende Bob (Demian Bichir), der (angebliche) Scharfrichter von Red Rock Oswaldo Mobry (Tim Roth), der schweigsame Joe Gage (Michael Madsen) und der ehemalige Südstaatengeneral Sandy Smithers (Bruce Dern).

Es wäre notwendig, die Handlung Schritt für Schritt nachzuerzählen, um den komplexen Interaktionen gerecht zu werden, die da stattfinden. Aber im Großen und Ganzen geht es darum, dass, wie man in der letzten Stunde des Films erfährt, die Bande von Daisy Domergue alle ursprünglichen Bewohner von „Minnies Habadasherie“ am Vormittag ermordet hat, um John Ruth am Abend in einen Hinterhalt zu locken und Daisy Domergue, die Schwester des Bandenführers Jody Domergue (Channing Tatum) zu befreien. (Bob, Mobry und Gage sind Mitglieder der Bande.) Dem Blutbad am Vormittag (das im Film, zeitlich versetzt, erst am Ende gezeigt wird) folgt jenes am Abend. Die letzten Überlebenden sind die gegensätzlichen und eigentlich verfeindeten Marquis Warren und Chris Mannix, die beide schwer verwundet in einem letzten Anfall sadistischer Gewalt, die ebenfalls kein bisschen sympathischere Daisy Domergue erhängen. Marquis Warren trägt einen von ihm selbst gefälschten Brief von Abraham Lincoln bei sich, den Mannix, der rassistische Südstaaten-Marodeur in der allerletzten Szene vorliest. Er hat keinen besonderen Inhalt, bloß Glückwünsche und Höflichkeitsfloskeln, die sogar noch den letzten Trost für die Sterbenden absichtsvoll verhöhnen.

Die enttäuschten Kritiken auf IMDB und anderswo werfen Tarantino Arroganz und Gleichgültigkeit vor. Die Handlung sei banal und humorlos, die Gewalt werde nur um ihrer selbst willen in Szene gesetzt und lasse den Zuschauer emotional unberührt. Tatsächlich ist „The Hateful Eight“ äußerst dunkel und bietet keine Moral an, keinen Trost, keine positive Identifikation, nur Gewalt, Hass und sadistische Mordlust. Die postmoderne Tendenz, Moral und Aufklärung als tote metaphysische Überbleibsel der großen Erzählungen zu denunzieren, wird in „The Hateful Eight“ ins Extrem getrieben. In diesem Sinne ist Tarantino wirklich konsequent. Der von Samuel L. Jackson dargestellte Major Warren etwa, der sich öfters als „Nigger“ bezeichnen lassen muss, ist selbst nicht besser, wenn er Ressentiments gegen Mexikaner äußert und ausgerechnet vom rassistischen Südstaatler Mannix vorgerechnet bekommt, welche Kriegsverbrechen er in der Uniform der Nordstaaten begangen hat. In einer unglaublich verstörenden Szene erzählt er dem entsetzten Südstaatengeneral Smithers, wie er dessen Sohn nackt in der eisigen Kälte erfrieren ließ und ihn dazu auch noch sexuell nötigte. Wie schon in „Django Unchained“, wo Samuel L. Jackson den perversen Sklavenhalter und Kollaborateur Stephen verkörperte, ist Tarantino vor allem von der Bösartigkeit fasziniert, die in solchen Menschen zum Ausdruck kommt. Es mag ein realistischer Blick in die Abgründe der menschlichen Seele sein, aber Katharsis lässt sich daraus nicht gewinnen und so etwas wie Schuldbewusstsein existiert in diesem Kosmos nicht. Eines der ersten Bilder, die den Film in der Schneelandschaft Wyomings etablieren, zeigt einen von Schneewehen bedeckten, roh gehauenen steinernen Jesus am Kreuz, ein leeres Zeichen in einer Ödnis von Gewalt und Gleichgültigkeit. Ohne äußere metaphysische Referenz wird der Mensch wieder zum Tier, zum homo homini lupus. Die einzig sinnvollen Erbstücke großer Erzählungen, die kulturbringenden Mythen der Spiritualität und des Widerstands gegen die Sinnlosigkeit, werden im postmodernen Universum von lauter gleichberechtigten Narrativen völlig rückstandsfrei entsorgt.

Ein interessanter Vergleich in der Filmgeschichte könnte zum Beispiel Clint Eastwoods „Unforgiven“ sein, der 1992 seine eigene Version eines apokalyptischen Westerns vorlegte. Auch am Ende von „Unforgiven“ hinterlässt die Hauptfigur William Munny ein Massaker an keineswegs Unschuldigen, aber anders als Tarantino ist sich Clint Eastwoods Figur immer bewusst, dass es eben kein richtiges Leben im falschen gibt. In Tarantinos Welt macht dieser Satz keinen Sinn mehr, weil es weder richtig noch falsch, aber vor allem kein Leben mehr gibt, das diesen Namen verdient. Leben ist nach Heidegger „Sein zum Tode“, und der Abstand zwischen „Unforgiven“ und „The Hateful Eight“ ist jener, der zwischen Adorno und Heidegger in der Beurteilung dessen liegt, was sich ganz un-postmodern klassisch metaphysisch als Anliegen von Kunst beschreiben lässt: der Unerträglichkeit des Seins die Hoffnung auf etwas Besseres oder zumindest auf eine Veränderung dessen, was jetzt ist, entgegenzusetzen. Tarantino scheint, wenn er das Leben nicht als Sammlung von popkulturellen Nerdattitüden inszenieren kann, diese Hoffnung aufgegeben zu haben. Was daran wirklich stört ist, dass wir nicht wissen, warum.

In Gesprächen mit der Presse erzählt Tarantino gerne, dass er deswegen keine Kinder habe, weil er seine Zeit nur mit Filmemachen verbringen will. Dass Kinder und Familie einen Konservativen wie Clint Eastwood (oder ziemlich viele andere fähige Filmemacherinnen und Filmemacher) noch nie an der Produktion guter Filme gehindert haben, sagt über Quentin Tarantino mehr aus, als ihm selbst wohl bewusst ist. In gewisser Weise erklärt es die Dunkelheit in „The Hateful Eight“, die alles Menschliche auslöschen will, das sich nicht der Selbstzerstörung zu überantworten gedenkt.

Hier gibt es einen weiteren Text zu ‚The Hateful Eight‘.

Louder Than Bombs

(NOR/F/DK 2015, Regie: Joachim Trier)

Mit Luhmann im Kino
von Ulrich Kriest

Ein junges Paar im Krankenhaus, das Neugeborene ist wohlauf, aber der Vater muss das korrekte Handling noch lernen. Die Mutter ist erschöpft, aber hungrig. Der Vater, Jonah, ein sehr junger …

Ein junges Paar im Krankenhaus, das Neugeborene ist wohlauf, aber der Vater muss das korrekte Handling noch lernen. Die Mutter ist erschöpft, aber hungrig. Der Vater, Jonah, ein sehr junger Soziologie-Professor, hat vergessen, das versprochene Essen mitzubringen. Das Essen im Krankenhaus sei fucking terrible, sagt sie. Jonah macht sich auf den Weg zur Kantine, anders als glücklich, überfordert. Die Kantine hat geschlossen. Als er so durch die Krankenhausgänge strollt, begegnet er plötzlich seiner Ex-Freundin, die gerade ihre todkranke Mutter pflegt. Jonah, so die Ex, habe es den Freunden, die auf ihn folgten, nicht leicht gemacht. Die Mutter habe stets große Stücke auf ihn gehalten. Warum er denn im Krankenhaus sei? Jonah ahnt, dass die Nachricht, dass er gerade Vater geworden ist, jetzt vielleicht unpassend ist. Er stockt: „Meine Frau. Amy. Sie …“. Die Freundin fällt ihm ins Wort, umarmt ihn: „Mein Gott, das tut mir so leid.“

Keine fünf Minuten haben der Filmemacher Joachim Trier und sein ständiger Drehbuchautor Eskil Vogt gebraucht, um das Thema ihres neuen Films „Louder Than Bombs“ zu etablieren. Es gibt eine konkrete Situation, in der Figuren mit einer Geschichte aufeinander treffen und jetzt versuchen wollen, möglichst so zu kommunizieren, dass das Gegenüber nicht unnötig verletzt oder auch nur tangiert wird. Falsch verstandene Rücksichtnahme führt dann schnell zu Missverständnissen, die manchmal allerdings auch gerne in Kauf genommen werden, weil sie bestimme virulente Konflikte kaschieren helfen. Dabei ist der Beginn des Films nur scheinbar randständig angelegt, denn Ehefrau und Baby tauchen zwar präsent im Film nicht mehr auf, bleiben Fluchtpunkt einer Entwicklung, an deren Ende eine nun gemeinsame Fahrt zurück zur Kleinfamilie stehen wird, aber das Grundmotiv der „Erwartenserwartung“ (Luhmann) wird im Folgenden auf vielen Ebenen durchgespielt.

Jonah ist nämlich nicht nur Ehemann und frischgebackener Vater, sondern auch Sohn und älterer Bruder. Gerade die Intimität der Kleinfamilie baut darauf, die Übernahme fremder Perspektiven als alternativ mögliche zur Grundlage der binnenfamilialen Kommunikation gemacht zu haben. In diesem konkreten Fall funktioniert das nicht oder nur sehr bedingt, denn die Familie, um die es hier geht, laboriert an dem Trauma, dass die Ehefrau und Mutter Isabelle Reed vor drei Jahren bei einem Unfall ums Leben kam. Isabelle war eine bekannte Kriegsfotografin, aber der Unfall, der sie das Leben kostete, fand gewissermaßen vor der eigenen Haustür statt – und wurde von den betroffenen Familienmitgliedern offenbar erfolgreich kommunikativ »beschwiegen«. Jetzt steht eine große Ausstellung ihrer Fotos ins Haus, ein ehemaliger Kollege (und part time lover) wird einen einführenden Artikel für die New York Times schreiben und ein Skandalon ist angezeigt: Selbstmord (oder nicht?).

„Louder Than Bombs“ – der Smiths-Titel ist in mehrfacher Hinsicht bewusst gewählt – ist des Norwegers Joachim Triers erster Produktionsausflug in die USA. Nach dem internationalen Festivalerfolg seines Spielfilmdebüts „Auf Anfang (:Reprise)“ erhielt Trier allerlei Angebote, eine größere Produktion zu wagen, aber die Drehbücher und Projekte, die an ihn herangetragen wurden, überzeugten ihn nicht. Stattdessen drehte der Nouvelle Vague-Fan den gleichfalls sehr erfolgreichen „Oslo, 31. August“ – ein lockeres, geupdatetes Remake von Malles Klassiker „Das Irrlicht“. Man kann auch sagen: Nachdem er sich zwei Filme lang mit „Male Bonding“ beschäftigt hatte, widmet sich Trier nun binnenfamilialer Kommunikation unter traumatisierten Männern unterschiedlichen Alters, die lernen müssen, ihre „Erwartenserwartungen“ zu profilieren und zu synchronisieren. Der Vater Gene ist dabei ein »moderner Vater«, ein Mann, der Emotionen zulassen kann und über Intelligenz und Gefühlswärme verfügt. Er hat seine Karriere als Schauspieler zugunsten von Isabelles Ambitionen als Kriegsfotografin hinten angestellt und reagiert sehr enttäuscht, als er bemerken muss, dass ihre Profession ihr lebenswichtiger als die Familie wurde. Ihre Affäre mit Richard indiziert die Trennung zwischen Privatheit und Beruf aufs Schärfste. Die emotionale Befasstheit seiner beiden Söhne Jonah und Conrad mit dem Tod der Mutter indes schätzt er falsch ein, weshalb sein „Du warst dabei“ gegenüber Jonah später in ein „Ich war dabei“ von Conrad umgemünzt wird.

Von seiner Mutter hatte Conrad gelernt, dass der gewählte Bildausschnitt einer Fotografie dessen Bedeutung komplett verändern kann. Wie Antonionis „Blow up“ spielt „Louder than Bombs“ genau mit diesem semantischen Potenzial unterschiedlicher und widersprüchlicher Bildausschnitte und Perspektiven, um die Resonanzen des frühen Todes der Mutter einzufangen. War es Müdigkeit? Erschöpfung? War da ein Reh auf der Straße? War es Selbstmord? Hilft es, die Wahrheit zu kennen? Wie bekommt man die widersprüchlichen Impressionen und Erinnerungen so geordnet, dass daraus eine befriedigende Erzählung wird? Hilft es, bestimmte Widersprüche in den Papierkorb des PCs zu entsorgen?

Wie Christian Petzold oder Christoph Hochhäusler besitzt Joachim Trier, der sich als Außenseiter der norwegischen Filmszene begreift und gerne darauf hinweist, dass er neben seiner Spielfilmen auch noch viele Werbefilme („I´ve shot a lot of commercials and stuff and people who don´t know my work I might sound like I´m this European Dardenne purist who only makes social dramas.“) gedreht hat, die Intelligenz und Fähigkeit, die abstrakten Konzepte seiner Filmprojekte mittels Referenzen in die Film-, Literatur- und Popgeschichte präzise zu fassen. Bezogen sich die ersten beiden Spielfilme auf die Nouvelle Vague, so sollte „Louder Than Bombs“ ein etwas altmodischer Familienfilm in der Tradition von Woody Allen, John Hughes oder auch Paul Mazursky werden.

Anregungen in bezug auf narrative Experimente holen sich Trier und Vogt gerne aus der Literatur und den Mut zur Regelverletzung aus ihrer Leidenschaft für Punk und HipHop. Der Rest ist Intuition und ein Gespür für den richtigen Ton. Bestimmte Referenzen an die Film- und/oder Popgeschichte fungieren dabei sicherlich als Mehrwert-Dreingabe für die happy few, die sich an bestimmte Soundtracks der frühen 1980er Jahre erinnern. Aber es geht Trier nicht (nur) darum, dem Film eine persönliche Fan-Signatur in Form einer Hommage einzuschreiben, sondern manche Referenz erhält eine dramaturgische Funktion, indem sie beispielsweise der bis dahin auf unangenehme Art verschlossenen Figur des jüngsten Sohnes Conrad eine gewisse Öffnung zum Zuschauer hin als Coming-of-Age-Geschichte ermöglicht.

Damit ist zugleich eine zentrale Qualität von „Louder Than Bombs“ bezeichnet, denn der Film versucht, sich einer traumatisierten, dysfunktionalen Familie auf eine Art und Weise zu nähern, dass durch verschiedene formale Strategien zur Konstitution einer Vielstimmigkeit (buchstäblich durch eine Vervielfältigung und Aufsplitterung der Voiceover-Stimmen) der Erzählung jede Figur hinreichend Raum bekommt, sich progressiv zu entwerfen. Schicht um Schicht, aus permanent sich verändernden Perspektiven wird allmählich das (widersprüchliche) Innere der Figuren und der konfliktreiche Binnenraum der Kleinfamilie sichtbar – nicht wie üblich, durch wortreiche Erklärungen, sondern durch einen einfallsreichen wie wohl kalkulierten Einsatz filmischer Mittel.

In der Manier klassischer Filmkunst erzählen Trier und Vogt so subtil, dass auch aufmerksamen Zuschauern ein wiederholtes Sehen des Films angeraten sei. Dieses transatlantische Tausch-Verhältnis produziert eine Win-Win-Situation: Trier & Co. dürfen sich über größere Budgets und Öffentlichkeiten verfügend ausprobieren und liefern im Gegenzug einen Film, dessen Verbindlichkeit und Ernsthaftigkeit sich Hollywood nicht mehr traut.

Messi

(SPA 2014, Regie: Álex de la Iglesia)

Messe für Messi
von Carsten Happe

Ich, Álex de la Iglesia, feier dich jetzt mal richtig derbe ab!!! (Nur echt im Til-Schweiger-Style mit mindestens drei Ausrufezeichen.) Dafür trommel ich all deine Weggefährten zusammen, lieber Lionel Messi, …

Ich, Álex de la Iglesia, feier dich jetzt mal richtig derbe ab!!! (Nur echt im Til-Schweiger-Style mit mindestens drei Ausrufezeichen.) Dafür trommel ich all deine Weggefährten zusammen, lieber Lionel Messi, von den Sandkastenfreunden über deine ehemaligen Lehrerinnen, von den Mannschaftskollegen beim FC Barcelona bis hin zur spanischen Sport-Journaille, setze sie alle gemeinsam in ein Restaurant und lasse sie Anekdoten und Erinnerungsfetzen hin und her spielen wie du deine Doppelpässe auf der Briefmarke mit Ronaldinho oder Samuel Eto’o. Das ergibt zwar noch keinen abendfüllenden Film, aber du hast ja mit deinem enormen Fundus an bildschönen Toren und dynamischen Slalomläufen durch die gegnerischen Abwehrreihen genügend Material vorgelegt, den Rest füllen wir mit herzerweichenden Reenactments aus deiner Kindheit auf. Und nach diesem Film wird niemand mehr daran zweifeln: Du bist der Größte!!!! (Danke, Til, dass du mir noch ein paar Ausrufezeichen übrig gelassen hast.)

Ein Dokumentarfilm also über das Leben und Werk des argentinischen Fußballkünstlers Lionel Messi, inszeniert vom Regisseur der Genreperlen „Aktion Mutante“, „Perdita Durango“ und „La comunidad“, konzipiert vom Fußballphilosophen Jorge Valdano, ehemals Spieler und Trainer bei Real Madrid sowie würdiger Weltmeister 1986, unter anderem durch sein 2:0 im Finale gegen Deutschland. Damit ist der Film selbstredend kein Unikat, allein im deutschsprachigen Raum tummeln sich zahlreiche Spielerdokumentationen über Lichtgestalten wie Franz Beckenbauer oder Individualisten wie Mehmet Scholl und Thomas Broich. Von einer künstlerisch ambitionierten Annäherung an die Sportart und einen seiner herausragenden Vertreter wie etwa „Zidane – Ein Porträt im 21. Jahrhundert“ oder Hellmuth Costards „Fußball wie noch nie“, die die Spieler Zinedine Zidane respektive George Best aus ihrem Umfeld herauslösten und auf eine Abstraktionsebene hievten, ist „Messi“ so weit entfernt wie ein Bolzplatz im argentinischen Rosario vom Fußballtempel Camp Nou.

Strikt linear klappert der Film die einschneidenden Lebensstationen seines Protagonisten ab, ohne auch nur jemals in die Nähe einer tiefergehenden Analyse seines Talents, seines Spielverständnisses oder seines Ehrgeizes zu kommen. Der erste Satz des Films, mehrfach deklamiert von Alejandro Sabella, dem ehemaligen argentinischen Nationaltrainer, lautet: „Messi ist ein Genie!“ Über diese Erkenntnis kommt der Film während seiner gesamten Laufzeit nicht wesentlich hinaus. Widersprüchlichkeiten und Brüche, die eine Biographie erst richtig interessant werden lassen – und damit auch einer Dokumentation würdig – werden dort großzügig umschifft, wenn sie denn überhaupt vorhanden sind; dafür geriert sich Lionel Messi abseits des Platzes zu wenig als schillernde Persönlichkeit, ganz anders als sein Erzrivale um den Titel des besten Spielers des 21. Jahrhunderts, Cristiano Ronaldo. Nebenbei sollen Messis Interviews an Plattitüden nicht zu überbieten sein – entscheidend ist halt auf’m Platz.

Doch auch die Spielszenen, an denen sich der Film berauschen könnte, gehen fast unter in dem konstanten Strom belangloser Wortmeldungen an den verschiedenen Restauranttischen. Es vergehen keine drei Sekunden, die nicht vollgequatscht werden mit Nichtigkeiten oder Bewunderungsstatements. Nur punktuell, wenn sich etwa Johan Cruyff einschaltet, wird zumindest die Spielerpersönlichkeit Lionel Messi und ihre Entwicklung zum Leader genauer betrachtet. Der überwiegende Part der Restaurantszenen kommt kaum über das Niveau einer durchschnittlichen „Doppelpass“-Sendung hinaus, das Ambiente zwar gehobener, Kontroversen dafür in Watte gepackt. Ärgerlicher nur noch die nachgestellten Szenen aus Messis Kindheit und Jugend, die allein zur Heldenverklärung dienen und lediglich die tausendfach erzählte Aufstiegsgeschichte, nur mit leicht variierten Ingredienzien wie Wachstumsstörungen oder den frühen Tod der Oma, durch deklinieren.

So begnadet Lionel Messi als Fußballer ist, diese höchst mittelmäßige und erkenntnisarme Filmbiographie hat er wahrlich nicht verdient. Aber möglicherweise gefiele dem erratischen Sportler genau das – er will ja nur spielen.

The Big Short

(USA 2015, Regie: Adam McKay)

Hier platzt gleich die Blase
von Ulrich Kriest

„Man muss nur ganz genau hingucken, dann kann man alles sehen!“, heißt es einmal optimistisch zu Beginn des Films. Dabei meint „genau hingucken“ das Erfassen und Auswerten endloser Zahlenkolonnen aus …

„Man muss nur ganz genau hingucken, dann kann man alles sehen!“, heißt es einmal optimistisch zu Beginn des Films. Dabei meint „genau hingucken“ das Erfassen und Auswerten endloser Zahlenkolonnen aus Kreditverträgen in einem Geschäftsgebiet, das naturgemäß als absolut sicher gilt. Es geht in „The Big Short“ um das Platzen der US-Immobilienblase 2008, das eine weltweite Finanzkrise auslöste. Eine Handvoll schrullig-durchgeknallter oder auch ambitionierter Trader setzen genau darauf und versuchen aus ganz unterschiedlichen Gründen, die Welle Gewinn bringend zu reiten. Sie schauen hinter die vor Selbstbewusstsein und -überschätzung strotzende Fassade des Finanzkapitals und lernen fassungslos das Schaudern ob der herrschenden A-Moral.

Und auch das Lachen, denn „The Big Short“, die Verfilmung des gleichnamigen Bestsellers von Michael Lewis, ist auch eine Farce. Weil die Storyline die These vom „Genau-Hinschauen“ zwar postuliert, aber Regisseur Adam McKay („Anchorman“, „Talladega Nights“) sich dafür entschieden hat, diese These in der Praxis des Erzählens zu dementieren, wird der Zuschauer in atemberaubendem Tempo bis zur Erschöpfung mit allerlei esoterischen Informationen und Termini zu Usancen des Kreditwesens massiert. Information overload, Baby! McKay geht an die Schmerzgrenze, nutzt dazu allerdings lauter formale Strategien, die einst theoretisch mit politischem Filmemachen verbunden wurden.

Mit einer Ausnahme gibt es keine Identifikationsfiguren, dazu nutzt „The Big Short“ allerlei Distanzierungsstrategien wie einen unzuverlässigen Erzähler, eine Aufhebung der Chronologie in einer Vielzahl von Parallelhandlungen, hohe Schnittfrequenz mit surrealen Effekten, kurze autonome Lehrstück-Szenen mit Prominenz wie Anthony Bourdain oder Selena Gomez, eine komplexe Tonspur-Choreografie mit Off-Erzähler und nur angerissenen Dialogen, überlagert oder unterfüttert von Musik und visuell von US-Medien-Folklore und dokumentarischem Material.

Während der Film forciert auf Sarkasmus in der Haltung zum Gezeigten setzt, staunt man nicht schlecht, wenn auf der Zielgeraden plötzlich durchaus wieder eine Moral der Geschichte herauspräpariert werden soll. Es sei schließlich nicht hinnehmbar, wenn der kleine Mann die Zeche für Freibeuter und Glücksritter zu zahlen habe. Eine etwas matte Botschaft, verglichen mit der Emphase des Erzählens.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 1/16

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'The Big Short'.

Janis: Little Girl Blue

(USA 2015, Regie: Amy Berg)

Der Blick in den Abgrund
von Ulrich Kriest

Ist natürlich schon etwas blöd, dass die Dokumentation über Janis Joplin von Amy Berg ausgerechnet jetzt in den Kinos anläuft, wo alle Welt gerade damit beschäftigt ist, mit dem plötzlichen …

Ist natürlich schon etwas blöd, dass die Dokumentation über Janis Joplin von Amy Berg ausgerechnet jetzt in den Kinos anläuft, wo alle Welt gerade damit beschäftigt ist, mit dem plötzlichen Tod von David Bowie klar zu kommen. Wo überall von Meta-Ebenen bei der popkulturellen Signifizierung von Einsamkeit und Verlorenheit, vom artifiziell-reflexiven »Being-an-Alien« zu lesen ist. In diesem Kontext wirkt der maskuline Blues-Rock, mit dem Janis Joplin sich ausgedrückt hat, noch straighter und muffiger authentisch als ohnehin schon.

Joplin steht in gewisser Weise exemplarisch für die Generation vor Bowie, der glücklichweise durch die Warhol-Schule gegangen ist und sich über schützende Inszenierungen alternativer Ego-Entwürfe Gedanken machte, wo Joplin »nur« ihr »real me« verausgabend in den Ring werfen konnte, um Wünsche zu formulieren und von Ängsten zu sprechen. Als »little girl«, deren Power und Selbstbewusstsein immerhin hinreichte, um eine durchaus in ihren Möglichkeiten limitierte Bluesrock-Band auf Kurs zu bringen, aber selbst in ihren erfolgreichsten Karriere-Phasen immer damit rechnen musste, von Männern wie Country Joe McDonald schmerzhaft versetzt zu werden. Was in diesem Film sogar noch retrospektiv vor laufender Kamera geschieht.

Kann die Sängerin Janis Joplin als exemplarisches Beispiel für eine selbstbewusste Künstlerin gelten, die in den 1960er Jahren Karriere in dem von Männern dominierten Musikbusiness machte? Mag sein, so ganz sicher ist sich die betont sorgfältig gearbeitete Dokumentation von Amy Berg da auch nicht, zumal sie die Künstlerin auf eine angenehme Weise zurückhaltend auf Distanz hält und sie nicht zu einer Repräsentantin für irgendetwas („the quintessential middle-class-misfit“ wurde Joplin einmal in einer TV-Dokumentation genannt) zu machen trachtet.

Janis Joplin hatte das große Glück, dass ihr die prosperierende Gegenkultur der Hippie-Zeit einen Platz anbieten konnte, an dem sie ungewöhnliches Talent zumindest für eine kurze Zeit ausleben konnte, wenngleich sie von ihrer Selbstwahrnehmung der „All American Girl“-Idee verhaftet blieb und ihren Eltern brav Briefe nach Hause schrieb, in denen sie um Anerkennung kämpfte. Die Biografie, die Amy Berg unter Einbezug von reichlich Archivmaterial (immer wieder dieses Staunen über den Materialreichtum, der aus den Archiven zu bergen ist!) und durch teilweise widersprüchliche Interviews mit überlebenden Zeitzeugen wie Bob Weir, Dick Cavett oder Country Joe McDonald rekonstruiert, ist durchaus schmerzhaft und zeugt von großen Verletzungen und Verunsicherungen.

Ihre Jugend in der texanischen Provinz muss man wohl als traumatisch bezeichnen, ihr unkonventionelles Verhalten eckte an und wurde mit offenem Sexismus gekontert. Auf dem College wurde Janis, die bereits ein Faible für den Blues und Beatnik-Literatur hatte, von ihren Kommilitonen zur Strafe zum hässlichsten Jungen des Jahrgangs gewählt. Was für eine Verletzung! Doch auch ihr erster Versuch, in Kalifornien eine Bohéme-Existenz zu führen, endet als Desaster. Ihre Freunde schicken sie nach Hause zurück, weil sie dabei war, sich mit Drogen und Alkohol zu ruinieren. Erst beim zweiten Anlauf gelingt die Karriere, doch spätestens nach ihrem legendären Auftritt beim Monterey Pop Festival 1967 ist Joplin bereits zu groß für ihre Band Big Brother And The Holding Company, mit der sie ein Star geworden war. Ihre Solo-Karriere in anderen Band-Konstellationen war ein stetes Auf und Ab, immer verbunden mit Drogen- und Alkoholproblemen. Ihre prinzipielle Unsicherheit und Einsamkeit konnte Janis Joplin wohl nur auf der Bühne vor Publikum ablegen.

Weil der Film chronologisch erzählt wird, werden die zahllosen Verletzungen und Frustrationen sehr deutlich, wenngleich sich Joplin in der Öffentlichkeit ganz anders präsentiert als in den erstaunlich kompromissbereiten Briefen an die Eltern. Wer sich mit der Biografie der Janis Joplin bereits auseinandergesetzt hat, wird in diesem Film nicht allzu viel Neues entdecken, zumal das Material von Filmen wie „Monterey Pop“ oder „Festival Express“ einschlägig ist. So entsteht die filmische Rekonstruktion einer zutiefst unglücklichen Biografie, die tatsächlich an den Verhältnissen und auch an den Aporien des Zeitgeistes, der mehr von Befreiung schwärmte, als er de facto einzulösen vermochte, kaputt ging.

Das Glück, das Janis Joplin auf der Bühne mit ihrer Performance zu teilen verstand, war jenseits der großen Öffentlichkeit für sie nicht oder nur beim Jammen mit befreundeten Musikern zu haben. Aber auch hier war sie immer etwas too much, vielleicht. Eine existentielle Ungleichzeitigkeitserfahrung immerhin, die vielleicht auch auf die Biografien anderer Künstler wie Brian Jones, Marvin Gaye oder Sly Stone anwendbar sein könnte. Die nicht über den dagegen autonomisierenden Schutzpanzer des »Erzählers« David Bowie verfügten.

Macbeth

(GB 2015, Regie: Justin Kurzel)

Fremdkörper im Bilderrausch
von Wolfgang Nierlin

Kalt, karg und rau ist die weite schottische Landschaft, in der die Figuren, in groben, schwarzen Stoff gehüllt, wie Verlorene stehen. Nur die vernarbten Gesichter, von den lodernden Flammen eines …

Kalt, karg und rau ist die weite schottische Landschaft, in der die Figuren, in groben, schwarzen Stoff gehüllt, wie Verlorene stehen. Nur die vernarbten Gesichter, von den lodernden Flammen eines Scheiterhaufens erhellt, stechen daraus hervor und vermitteln ein Bild existentieller Entbehrungen. Feuer und Tod, Verlust und Trauma sind allgegenwärtig in Justin Kurzels bildgewaltiger Neuverfilmung von William Shakespeares düsterer Tragödie „Macbeth“ über den Aufstieg und Fall des titelgebenden Heerführers; einem Stoff, dem sich in der Vergangenheit bereits so namhafte Regisseure wie Orson Welles (1948) und Roman Polanski (1971) gewidmet haben. Mit wallendem Nebel, Schlamm und Dreck – gedreht wurde während der kalten Wintermonate in der englischen Grafschaft Cambridgeshire – beschreibt der australische Regisseur die Unwirtlichkeit einer fernen, mittelalterlichen Zeit des 11. Jahrhunderts, die von Krieg, mysteriösen Prophezeiungen und Wahnsinn bestimmt wird. Macbeth (Michael Fassbender), von Machtgier und Schicksalsglaube getrieben, ist ihre Verkörperung.

Zunächst ist der Than von Glamis jedoch ein siegreicher Held in Diensten des schottischen Königs Duncan (David Thewlis). Die brutale Schlacht bei Forres zu Beginn des Films, in der Macbeth dem Verräter Macdonwald gegenübersteht, gibt davon Zeugnis. Von gewaltiger Musik und martialischem Geschrei eröffnet, inszeniert Kurzel ein wüstes, blutrünstiges Gemetzel. In einem brachialen Kampf geht es Mann gegen Mann, während Kampfgetümmel die Luft erfüllt und sich der Himmel blutrot färbt. Doch immer wieder werden die Kriegshandlungen durch Zeitlupe verlangsamt und angehalten, mischen sich Visionen Macbeths, in denen er die drei weissagenden Hexen sieht, in das Geschehen. Ist es nur eine Täuschung der Sinne, wenn diese ihm später prophezeien, dass er König von Schottland werden wird? Seine Frau (Marion Cotillard), deren Antlitz klassisch-antike Schönheit ausstrahlt, nimmt die Worte der „Schicksalsschwestern“ jedenfalls zum Anlass, ihn – nicht zuletzt sexuell – zum Königsmord zu verführen.

Macbeths Zögern und inneres Ringen, Ausdruck einer skrupulösen Menschenliebe, währen allerdings nur kurz. Zu stark werden sein angestachelter Ehrgeiz sowie seine stolze Männlichkeit herausgefordert. Sein rücksichtsloser, von grausamen Morden beförderter Aufstieg zum Usurpator und Tyrannen steht allerdings von Anfang an im Zeichen des Wahnsinns, der sich in „Bildern der Furcht“ und einer Vision seines getöteten Verbündeten Banquo (Paddy Considine) ausdrückt. Machthunger und Schuld, Schicksalsglaube und Selbsttäuschung vermischen sich darin. Sie führen Macbeth, von seinen inneren Dämonen getrieben, in eine von innerer Leere bestimmte Isolation, die schließlich auch seiner Frau zum Verhängnis wird.

Trotzdem bleibt Macbeths menschliche Tragödie, seine Verwandlung von einem wahrhaftigen Menschen in einen blindwütigen Tyrannen merkwürdig blass und nur mäßig spannend. Sein inneres Drama wirkt so äußerlich wie sein durchgehend nachdenklicher Tonfall, der – zumindest in der deutschen Synchronfassung – keine Gemütsschwankungen zu kennen scheint. Zwar ist Justin Kurzels Film in seiner Beschwörung einer dunklen Epoche und mit seinen vielen realistischen Details visuell eindrucksvoll gestaltet, doch Shakespeares 400 Jahre alter Theatertext, der erfreulicherweise beibehalten wird, mag sich mit ihm nicht recht verbinden und ragt förmlich wie ein Fremdkörper aus dem in Cinemascope gedrehten Bilderrausch. Die alten Worte und die neuen Bilder finden zu keiner Einheit, während es heißt: „Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild“; und der depressive Fatalismus des gefallenen Helden, seine Verblendung und sein wahnhafter Irrglaube in eine zu späte Resignation münden. Ob darin auch eine Einsicht liegt, bleibt zweifelhaft. Wahrscheinlicher scheint es, so deutet der Film am Schluss an, dass sich der vermessene Frevel gegen die „natürliche Ordnung“ fortsetzten wird.

Mistress America

(USA 2015, Regie: Noah Baumbach)

Ziemlich beste Freundinnen
von Manfred Riepe

Mit dem Undergroundkino ist das so eine Sache. Dem einen oder anderen Filmemacher aus der Szene gelingt irgendwann der Durchbruch. Er wird nicht nur von Spezialisten und Festivalbesuchern, sondern von …

Mit dem Undergroundkino ist das so eine Sache. Dem einen oder anderen Filmemacher aus der Szene gelingt irgendwann der Durchbruch. Er wird nicht nur von Spezialisten und Festivalbesuchern, sondern von einem breiteren Publikum beachtet. So erging es dem New Yorker Noah Baumbach, dessen sperrige, dialoglastige Minidramen seit zwanzig Jahren unter dem Radar hindurch segelten, bis er spätestens mit seiner prominent besetzten Komödie Gefühlt Mitte Zwanzig' auf vergleichsweise großes Interesse stieß. Die etablierte Kritik ließ Baumbach fallen wie eine Geliebte, von der man sich trennt, weil es nicht mehr chic ist, sich zu ihr zu bekennen. Und nun begeht Baumbach den vermeintlich nächsten Fehler: Seine neue Produktion „Mistress America“ ist ein Frauenfilm.

Baumbach erzählt die Geschichte der 20-jährigen Tracy (Lola Kirke), die sich ihren Studienbeginn in New York anders vorgestellt hat. Die Kurse sind öde, und der Junge, in den sie sich verguckt hat, entscheidet sich für ein todlangweiliges Mädchen, das obendrein eifersüchtig ist. Auch der angesagte literarische Zirkel namens „Moebius“, bei welchem die ambitionierte Schreiberin mit Herzklopfen ihre erste Kurzgeschichte einreicht, lässt sie abblitzen. Zur Einsamkeit kommen so noch Selbstzweifel hinzu.

Ohne große Erwartungen kontaktiert sie die 30-jährige Brooke (Greta Gerwig), die, falls die Heiratspläne ihrer Mutter fruchten, demnächst ihre Stiefschwester sein wird. Die Begegnung mit der umtriebigen New Yorkerin ist zunächst Inspiration pur. Sie wohnt in einem angesagten Loft, singt in einer Band und arbeitet als Fitness-Trainerin. Ganz selbstverständlich nimmt sie Tracy an der Hand und führt sie mitten hinein ins pulsierende Leben. Brooke ist eine verkörperte Wunscherfüllung, eine Mischung aus seelischem Coach und großer Schwester.

Für dieses emotionale Feuerwerk findet Baumbach in seinem neuen Film New-York-Bilder mit mehr Glamour als sonst. Wenn Greta Gerwig als Brooke sich zum ersten Mal mit Tracy am Times Square mit seinen funkelnden Lichtreklamen trifft, dann erinnert ihr Auftritt an den einer Filmgöttin, die in einem alten Hollywood Musical die glitzernde Show-Treppe herabsteigt. Zum dritten Mal steht Greta Gerwig bei ihrem Lebenspartner Baumbach vor der Kamera – ist aber keineswegs nur die Muse des Künstlers. Die Rolle der notorisch kreativen, permanent unter Strom stehenden Selfmade-Künstlerin – die sich sogar die Bedeutung des Wortes „autodidaktisch“ selbst beigebracht hat – schrieb sich die Drehbuch-Koautorin auf den Leib. Ihre aufgedrehte Spielweise und ihre gebrochene Anmut passen perfekt zu diesem halb schrägen Charakter. Wie in Frances Ha', wo Gerwig ihrer Kompaktheit zum Trotz eine Ballett-Tänzerin spielte, die zuweilen mehr taumelte als tänzelte, spielt sie nun eine hyperaktive Glücksritterin, die immer mehrere Eisen im Feuer hat, von denen aber keines so heiß ist, dass man es schmieden könnte. Sie arbeitet nämlich noch als Innenarchitektin und entwirft nebenher das Konzept für eine Superheldin namens Mistress America.

Das idealisierte Bild dieser Überfliegerin ist, man ahnt es, zu schön um wahr zu sein. Das zeigt sich, wenn sie sich daran macht, eins ihrer Projekte zu realisieren. Brooke will ein Restaurant eröffnen: Eine Kombination aus Bistro, Friseursalon, Kunstgalerie und Gemeindezentrum, wo die Kinder am Ecktisch ihre Schularbeiten machen. 'Mom’s' soll der Laden heißen, in dem man sich geborgen wie im Mutterleib fühlt. In der Schlüsselszene will Brooke dieses Projekt auch mit viel Herzblut Investoren schmackhaft machen. Man ist hingerissen von ihrer Performance – der Film ist wirklich eine Art Überdosis Greta Gerwig. Man bemerkt aber allmählich, dass das Konzept mit der Realität nicht viel zu tun hat. Die ambitionierte Gastro-Unternehmerin kann nicht einmal kochen. Und mit der ersten Unterschrift unter den Mietvertrag für die Räumlichkeiten hat sie sich hoffnungslos verschuldet. Kann Brooke noch ein Vorbild für Tracy sein?

Mit diesen beiden Frauen porträtiert der nicht mehr so ganz der Independent-Szene zugehörige Baumbach einmal mehr junge Menschen aus einem jüdisch geprägten New Yorker Intellektuellen-Milieu. Eigentlich liegt ihnen die Welt zu Füßen. Doch mit jener zwanghaften künstlerischen Selbstverwirklichung, die ihre aus dem Kulturbetrieb stammenden Eltern ihnen vorleben, stehen sie sich selbst im Weg. Originell sein zu müssen, erweist sich als schwere Bürde.

Das gilt nicht nur für Brooke, sondern auch für Tracy, die während einer Autofahrt die bedeutungsschwangere Frage stellt: „Habt Ihr nicht auch das Gefühl, dass wir fahren, aber nicht vorankommen?“ Mit dieser bemühten Tiefsinnigkeit – die Baumbach wie schon in seinen früheren Filmen zelebriert und zugleich ironisch bricht – sehnt die ambitionierte Schriftstellerin sich einen metaphysischen Weltschmerz herbei. Sie will leiden wie ihre literarischen Vorbilder. Dann wäre sie wenigstens berühmt!

In einer aberwitzigen Wendung erzählt Baumbach, wie ein solches Leid tatsächlich von Tracy Besitz ergreift: Sie begleitet Brooke, die inzwischen mit einer Kristallkugel herausgefunden zu haben glaubt, wer am Zusammenbrechen ihrer Luftschlösser schuld ist. Es ist ihre frühere Busenfreundin Mamie Claire (Heather Lind), eine spießige Zicke, die inzwischen in einer Designer-Villa in Connecticut lebt. Sie spannte Brooke damals nicht nur den wohlhabenden Liebhaber aus. Sie hat ihr obendrein ihre beiden Katzen und die lukrative Idee für ein T-Shirt-Design geklaut, das nun von einem exklusiven Modelabel vermarktet wird.

In ihrem Haus kommt es zu einem herrlich skurrilen Showdown, einer Mischung aus klassischer Boulevardkomödie und sophistischer Sitcom. Schwangere Frauen, die elaboriert über William Faulkner debattieren und ein genervter Nachbar, dem die Einfahrt zugeparkt wurde, werfen sich artistisch die Dialogbälle zu. So weit, so gut.

Plötzlich taucht das Skript einer Kurzgeschichte mit dem Titel 'Mistress America' auf. So etwas kann eigentlich nicht funktionieren, doch Baumbach bekommt hier die Kurve. Mit gespannter Neugier lesen nämlich alle Anwesenden gleichzeitig, wie Tracy, die Autorin, das Leben ihrer Freundin literarisch ausbeutet. Statt Brooke als Superheldin zu feiern, reißt Tracy ihr in ihrer Kurzgeschichte die Maske vom Gesicht: „Jede Geschichte ist die Geschichte eines Verrats“, heißt es bereits im Vorspann des Films. Diese Wendung ist umso komischer, als Brooke zunächst als typisches 'It-Girl' gefeiert wird, die 'das gewisse Etwas' verkörpert. Ausgerechnet durch das vermeintlich veraltete Medium Literatur, dem alle Protagonisten ein humorvoll überzeichnetes Interesse entgegenbringen, wird Brooke förmlich dekonstruiert – und zwar von der eigenen Freundin, die sich ihre Rolle aneignet.

Durch diesen Verrat ist Tracy, das Mädchen im braunen Strickpulli, plötzlich genau dort angekommen, wo sie hinwollte: Mit ihrer Geschichte gelingt ihr der Durchbruch. Sie wird sogar in jenem Literaturmagazin abgedruckt, das sie zuvor ablehnte. Die Freundschaft zwischen den beiden Frauen ist durch diesen Coup leider zerbrochen (oder zumindest schwer angeknackst): Tracy watet knietief durch genau jenen 'metaphysischen Weltschmerz', den sie herbeisehnte. Als Zuschauer kann man stilvoll mitleiden. Das Gefühl dieser gepflegten Melancholie unterstreicht der Film durch seinen 80er-Jahre-Soundtrack, der einen herzzerreißenden Ohrwurm der New Wave Formation Orchestral Manoeuvres in the Dark mit einem treibenden Rhythmus der einstigen Kultband New Order verbindet.

Mit ihrem sophistischen Witz erinnert diese Komödie scheinbar auch an Woody Allen, mit dem Baumbach immer wieder reflexartig in einem Atemzug genannte wird. Der Vergleich hinkt jedoch. Im Gegensatz zu Allen, bei dem weibliche Charaktere meist nur Karikaturen sind, erzählt Baumbach abenteuerlich verdrehte Geschichten über ziemlich beste Freundinnen – die sich nicht wie üblich mit ihren Männerbeziehungen auseinandersetzen. Baumbach inszeniert gewissermaßen die feministische Variante eines Buddy-Movies (Wobei man einräumen muss, dass sich Lola Kirke als Tracy neben Greta Gerwig nicht wirklich entfaltet). Wo zwischen Männern in einer ähnlichen Situation unweigerlich die Fäuste fliegen, wird bei Frauen sublimiert. Es tut aber ungefähr genauso weh.

Carol

(GB / USA 2015, Regie: Todd Haynes)

Schmerzlicher Befreiungsschlag
von Wolfgang Nierlin

Während Zuggeräusche zu hören sind, bewegt sich die Kamera des Bildgestalters Ed Lachman aus dem Untergrund einer Bahnhofsstation zum Obergeschoss eines vornehmen New Yorker Restaurants. Vorweihnachtliche Dunkelheit und Kälte, beschlagene …

Während Zuggeräusche zu hören sind, bewegt sich die Kamera des Bildgestalters Ed Lachman aus dem Untergrund einer Bahnhofsstation zum Obergeschoss eines vornehmen New Yorker Restaurants. Vorweihnachtliche Dunkelheit und Kälte, beschlagene Fenster, in denen sich undeutlich graue Fassaden spiegeln, gedämpfte Farben und mattes Licht kennzeichnen den poetischen Realismus von Todd Haynes‘ neuem Film „Carol“. Seine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Patricia Highsmith, der 1952 zunächst unter dem Titel „The Price of Salt“ und unter dem Pseudonym Claire Morgan erschien, weil es darin um die leidenschaftliche Liebe zweier Frauen geht, charakterisiert durch diese Atmosphäre den repressiven Zeitgeist der amerikanischen Gesellschaft in den 1950er Jahren, als unter McCarthy Andersdenkende wegen sogenannter „unamerikanischer Umtriebe“ verfolgt wurden. Manchmal erscheinen die Figuren wie eingeschlossen in ihren Räumen und zugleich unterdrückt in ihren Gefühlen,- wären da nicht die langen, intensiven Blicke, in denen ein grenzüberschreitendes Begehren lodert.

Diese Blicke gehören der distinguierten Titelheldin Carol Aird (Cate Blanchett), die sich von ihrem reichen Ehemann Harge (Kyle Chandler) scheiden lassen will und um das Sorgerecht für ihre kleine Tochter Rindy kämpft, sowie der jungen Verkäuferin Therese Belivet (Rooney Mara), die Ambitionen als Fotografin hegt. Standes- und Altersunterschiede fallen jedoch kaum ins Gewicht, als die beiden in der Spielzeugabteilung von „Frankenberg’s“ beim Kauf einer Eisenbahn füreinander entflammen. Gegenüber ihrer sowohl emanzipierten als auch bald intimen Komplizenschaft sehen die Männer, zu denen sich unter anderen noch Thereses langweiliger Freund Richard Semco (Jake Lacy) gesellt, ziemlich alt und einfältig aus, als seien sie – nicht nur moralisch – in der Zeit stehen geblieben. Ihr geordneter Konservativismus wird von Haynes mit der nicht berechnenden Kraft einer Liebe konfrontiert, die allein ihrer inneren Natur folgt, wie Carol einmal sagt.

Von der leitmotivischen Zug-Metapher grundiert, verbindet sich das intensive Melodram mit dem nachdenklichen Roadmovie: Carol und Therese brechen aus und auf Richtung Westen. Dieser schmerzliche Befreiungsschlag, der die Entdeckung einer tiefen Liebe mit weiblicher Selbsterkundung verbindet, bleibt jedoch nicht ohne Rückschläge. Der ebenso eifersüchtige wie besitzergreifende, vor allem aber um seine gesellschaftliche Stellung besorgte Harge setzt einen Privatdetektiv auf die beiden an, um sie auszuspionieren, was zu schlimmen Verwerfungen führt.

Einfühlsam, subtil und völlig unspektakulär erzählt Todd Haynes in einer langen Erinnerungsschleife von der Kraft eines Begehrens, das stärker ist als die beengenden Konventionen einer homophoben Gesellschaft. Das Ende, aus wechselnder Perspektive erzählt, wird dabei zu einem doppelten Anfang, der auf träumerische Weise die Erinnerung in Gang setzt, um eine „emotionale Wahrheit“ zu erkunden.

Eine symbolische Geste, mehrmals wiederkehrend und in wechselnden Konstellationen variiert, zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. Gleich zu Beginn, wenn wir noch nicht wissen, dass die Erzählung fast am Ende ist, legt Carol für einen Augenblick sanft ihre Hand auf Thereses Schulter. In der Abschiedsgeste liegen ein Vertrauen und ein Liebesversprechen, von dem nur die beiden Frauen wissen. In dieser Berührung schwingt aber zugleich die Erinnerung an den Anfang ihrer Verbindung mit. Behutsam folgt Todd Haynes den zärtlichen Spuren zaghafter, fast verstohlener Berührungen, die schließlich in körperlicher Ergriffenheit und sexueller Ekstase münden. Irgendwann früher berührt auch einmal Richard Thereses Schulter, um sie unbeholfen zu beschwichtigen, zu überreden oder am Weggehen zu hindern. Doch Therese, die manchmal an Audrey Hepburn erinnert, aber nur scheinbar zerbrechlich wirkt, hat sich längst entschieden und ist dabei, sich mit ihrer ganzen, eigensinnigen Jugend zu entziehen.

Dämonen und Wunder – Dheepan

(F 2015, Regie: Jacques Audiard)

Die Gewalt von gestern und morgen
von Jürgen Kiontke

„Ich verstehe die Worte, aber ich finde sie nicht lustig“: Sidvadhasan (Antonythasan Jesuthasan), der Hausmeister in einer heruntergekommenen Pariser Vorortsiedlung und Heldenfigur in Jaques Audiards Spielfilm „Dheepan – Dämonen und …

„Ich verstehe die Worte, aber ich finde sie nicht lustig“: Sidvadhasan (Antonythasan Jesuthasan), der Hausmeister in einer heruntergekommenen Pariser Vorortsiedlung und Heldenfigur in Jaques Audiards Spielfilm „Dheepan – Dämonen und Wunder“, kann nicht viel anfangen mit den Bemerkungen der anderen Männer im Viertel: „Warum gibt’s in ‚Star Trek‘ keine Araber? Weil’s die Zukunft zeigt“. – „Das hat nichts mit Sprache zu tun, sondern mit Humor“, findet Yalini (Kalieaswari Srinivasan). „Und du bist nicht lustig.“
Stimmt: Witz ist Geschmackssache und Sidvadhasan hat wenig zu lachen. Seine Familie hat er im Bürgerkrieg von Sri Lanka verloren. Er selbst war ein Kämpfer der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE), der tamilischen Befreiungsarmee.

Von einem Flüchtlingscamp aus hat er für sich einen Neubeginn in Frankreich organisiert. Mit dem Pass eines Toten, Dheepan, und einer Scheinfamilie, bestehend aus Yalini und der neunjährigen Illayaal (Claudine Vinasithamby), schafft er es irgendwie nach Europa. Nun macht er, nach vielen anderen Gelegenheitsjobs, den Hauswart, Yalini übernimmt die Pflege des Vaters vom örtlichen Drogenboss Brahim (Vincent Rottiers). Was er denn da trage, fragt ihn die junge Tamilin und deutet auf seine Beine. Es ist eine elektronische Fußfessel – genaugenommen sitzt der junge Korse im Gefängnis.

Während sich die Erwachsenen auf dem prekären Arbeitsmarkt herumschlagen, macht Scheintochter Illayal in der Integrationsklasse Karriere. Das Kind sorgt für Normalität. Und so basteln die drei aus ihrer Zufallsbekanntschaft in der Not eine halbwegs echte Familie zusammen – der Alltag muss ja laufen. „Wenn du keine Mutter für mich sein kannst, sei eben eine große Schwester“, sagt Illayaal zu Yalini. Hauptsache, es funktioniert.

In Rückblenden wird der Zuschauer mit Szenen des vergangenen Krieges konfrontiert. Die Vergangenheit soll die Protagonisten und hier hauptsächlich den Soldaten nicht loslassen. Der Krieg wird Sidvadhasan auch in Paris nicht loslassen; nein, der Film wird sogar in einer Gewaltorgie à la Quentin Tarantino enden. Wer ist stärker? Die Drogenmafia oder der Soldat der Tamil Tigers? Regisseur Jaques Audiard („Der Geschmack von Rost und Knochen', F 2012) hätte gern, dass die Guten gewinnen, vielleicht die große Schwachstelle des Films: Menschen an der Unterkante der Gesellschaft sind nicht dafür bekannt, viele Wahlmöglichkeiten zu haben.

Wie dem auch sei: Nichts beschäftigt Europa zurzeit mehr als das Thema Flucht. Wie weise Voraussicht wirkt da die Entscheidung der Jury der Filmfestspiele in Cannes um die Filmgebrüder Coen im Mai dieses Jahres, den weltweit wichtigsten Festivalpreis, die Goldene Palme, an einen bizarren Spielfilm zum Thema zu vergeben.

Man hat es ja auch mit einer detaillierten Milieustudie zu tun, die einen vergessenen bzw. einen verschwiegenen Konflikt aufarbeitet: Der Bürgerkrieg zwischen den Bevölkerungsgruppen der Singhalesen und Tamilen hat nie ins Kino gefunden, ja kaum in die Nachrichten: Zu spärlich waren die Informationen.
Dabei gab es seit dem Beginn der Auseinandersetzungen in den achtziger Jahren, Hunderttausende mussten flüchten. In den neunziger Jahren flammten die Kämpfe wieder auf, die sich hauptsächlich um Geländegewinne im Norden der Insel drehten, ehe es im Jahr 2002 zu einem Waffenstillstand zwischen der Regierung und der LTTE kam. Offiziell im Jahr 2011 beendet, füllt der Amnesty Bericht von International zu Sri Lanka auch heute noch viele Seiten – die Stichworte lauten Regierungskriminalität, Tod in Gewahrsam, Folter, Verschwinden lassen. Diskriminierungen und Schikane sind aber weiterhin an der Tagesordnung. Tamilen werden – vor allem, wenn sie aus dem Norden des Landes kommen – von Sicherheitskräften unter Terrorverdacht schikaniert und festgenommen.

Umgekehrt blieb die LTTE auch nicht untätig und wird vieler Verbrechen beschuldigt. Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen beschuldigt beide Konfliktparteien schwerer Menschenrechtsverstöße und fordert die Einrichtung eines internationalen Tribunals. Nun sollen immerhin Wahrheitskommissionen eingerichtet werden.

Audiards Film stellt eine Figur in den Mittelpunkt, die durch Krieg und Gewalt traumatisiert ist, auf dessen Vergangenheit nicht einfach ein neues Leben folgen kann. Sei es, dass ehemalige Kriegskameraden bei Sidvadhasan auftauchen, sei es, dass sich die Konflikte mit der Drogenmafia verstärken. Im ersten Fall bekommt er eine Ohrfeige und die Aufforderung, Waffen zu organisieren. Im zweiten Fall sieht sich Sidvadhasan der rassistischen Hackordnung ausgesetzt („Du bist tot, Mowgli“).

Audiard versucht, dies in eindrückliche Bilder zu bringen. Sein Held weiß, welche Fähigkeiten zu töten, in ihm stecken. Und so zieht er, Hausmeister und Platzwart, der er ist, einfach Linien durch das Quartier wie auf dem Fußballfeld. Ihr kommt so langsam in den Strafraum, scheint er den Kleinkriminellen mitteilen zu wollen.
Protagonisten sind hier Täter und Opfer zugleich. Für die Glaubwürdigkeit seiner Darstellung hat Audiard einen ganz besonderen Charakter für die Hauptrolle gecastet. Antonythasan Jesuthasan trat selbst als Jugendlicher dem tamilischen Widerstand bei; bis zu seinem 19. Lebensjahr war er als Kindersoldat in die Kämpfe involviert. Dann flieht er über Thailand nach Frankreich, wo man ihm politisches Asyl gewährt.
Er schlägt sich mit Jobs durch, im Supermarkt, als Koch, in Disneyland, fliegender Händler und nicht zuletzt als Hausmeister – Stationen des prekären Wirtschaftens, wie man ihnen auch im Film begegnet. Parallel beginnt er eine Karriere als Schriftsteller und Schauspieler, verfasst Kurzgeschichten, Theaterstücke, Literaturkritiken. Es folgt der Roman „Gorilla“, indem er sich mit seiner Geschichte auseinandersetzt – das erste Mal, dass ein Kämpfer der Tamil Tigers über den Krieg schreibt.

Als unechter Dheepan stapft er durch das ungewohnte Paris, er schaut verloren aus in diesem Film. Es sind spröde Bilder in und zwischen düsteren Wohnblocks, die Sonne kommt nur selten mal heraus. Das Filmmaterial wirkt körnig, die Ausleuchtung ist spärlich – fast wie einen Dokumentarfilm schaut man sich „Dheepan“ an. Als stilistisches Element kommt das Bild eine bemalten Elefanten zum Einsatz; es deutet Kontraste an zwischen altem und neuem Elend. Dämonen und Wunder, wie der deutsche Filmtitel verheißt, dominieren hier zumindest nicht als romantisch-bunte Beigaben. Hier wird mehr verzeichnet statt ausgemalt.
Welche Art Film ist das, dieser erste Spielfilm über den Bürgerkrieg von Sri Lanka? Einer der Darstellungskunst, der Schauspieler, glaubt der Regisseur dennoch: „Mit ihnen fand ich wieder zur ursprünglichen Idee des Projekts zurück: Einen Genrefilm mit ausländischen Schauspielern zu machen und dass deren Anderssein in das Genre eintritt.“ Ihre innere Entwicklung und die der von ihnen gespielten Figuren sei ausschlaggebend für den Film.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty International Journal

Riverbanks

(GR / D / T 2015, Regie: Panos Karkanevatos)

Liebe auf der Flüchtlingsroute
von Jürgen Kiontke

Was schwierige Verhältnisse mit Menschen machen, davon handelt der griechische Film „Riverbanks“. Die Ufer, um dies es geht, gehören zum griechisch-türkischen Grenzfluss Evros. Hier endet für viele Flüchtlinge der Weg …

Was schwierige Verhältnisse mit Menschen machen, davon handelt der griechische Film „Riverbanks“. Die Ufer, um dies es geht, gehören zum griechisch-türkischen Grenzfluss Evros. Hier endet für viele Flüchtlinge der Weg nach Europa, auf den Minenfeldern aus früheren Zypern-Kriegen.

Das gefährliche Terrain ist Tummelplatz von Menschenschmugglern, wie Chryssa: Um Vater und Bruder zu unterstützen, schleust sie Flüchtlingskinder nach Griechenland, im Rucksack Drogen der Mafia. Sollten die Kinder erwischt werden, sind sie eh nicht strafmündig.

Eines Tages trifft sie auf Yannis, Minenräumer der griechischen Armee. Immer wieder muss er erleben, dass Flüchtlinge, die nicht einmal seine Warnrufe verstehen, in die Sprengfallen laufen. Ein wenig hat er mit dem leben abgeschlossen, aber nun kommen sich Soldat und Schlepperin nah. Aber geht Liebe überhaupt an diesem unwirtlichen Ort? Welche Zukunft können solche zwei haben?

Die aktuelle politische Lage gibt den Takt vor für diese Liebe ohne Aussicht. Derzeit sind so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Der Weg über die Türkei nach Europa zählt zu den am häufigsten genutzten Fluchtrouten. Hier eine Liebesgeschichte erzählen zu wollen, kündet von ordentlich cineastischem Mut. Und wenn „Riverbanks“ auch manche dramaturgische Extraschleife dreht, so ist der Film doch gelungen wie auch sehr sehenswert.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty International Journal

Unsere kleine Schwester

(J 2015, Regie: Hirokazu Kore-eda)

Wie Sandkörner am Strand
von Wolfgang Nierlin

„Tagebuch einer kleinen Küstenstadt“ (Unimachi Diary) lautet der Titel des Mangas von Akimi Yoshida, den Hirokazu Kore-eda für seinen neuen Film „Unsere kleine Schwester“ adaptiert hat. Die auffallende, vom Stoff …

„Tagebuch einer kleinen Küstenstadt“ (Unimachi Diary) lautet der Titel des Mangas von Akimi Yoshida, den Hirokazu Kore-eda für seinen neuen Film „Unsere kleine Schwester“ adaptiert hat. Die auffallende, vom Stoff der Vorlage vorgegebene Abwesenheit dramatischer Ereignisse habe ihn dazu veranlasst, den Lauf der alles verschluckenden Zeit im Verhältnis zu den Konstanten eines bestimmten Ortes zu betrachten und damit zur eigentlichen Hauptfigur zu machen. Alles, was lebt, ist in Bewegung, verändert sich, während sich die Natur in fortlaufenden Zyklen erneuert und Orte ihre mehr oder weniger festgefügte Ordnung bewahren. Im Prozess von Werden und Vergehen gibt es also immer auch Haltepunkte, entsteht eine Identität, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit hat. Deren Spuren, durch Erinnerung überliefert, materialisieren sich in den Stoffen und Gesten der Gegenwart.

Ein Vater, der schon vor fünfzehn Jahren seine Familie verlassen hat, ist gestorben. Jetzt reisen seine drei erwachsenen Töchter aus der Küstenstadt Kamakura, wo sie im großen Elternhaus zusammenleben, zu seiner Beerdigung an einen entfernten Ort im Landesinnern. Einmal assoziieren sie den Blick über die ausgedehnte Gebirgslandschaft mit demjenigen Übers Meer, als gäbe es zwischen den beiden eine geheime Verwandtschaft. Der Blick zum Horizont eint die Farben der Natur. Auch die Schwestern, geerdet in einem relativ ausgeglichenen häuslichen Miteinander mit verteilten Rollen, schmieden ein geschwisterliches Band. Als sie ihrer bis dato unbekannten, etwa 14-jährigen Halbschwester Suzu (Suzu Hirose) begegnen, die sich nach dem Tod des Vaters bei ihrer Stiefmutter unwohl fühlt, beschließen sie spontan, das für ihr Alter schon sehr ernste Mädchen bei sich in ihrem „Mädchenwohnheim“ aufzunehmen.

Hirokazu Kore-eda, der sich in der Tradition des japanischen Meisterregisseurs Yasujiro Ozu in seinen Filmen immer wieder mit den Konflikten und Problemen von Familien beschäftigt, beschreibt dieses Miteinander als einen Zusammenhalt, der von Liebe und gegenseitiger Fürsorge getragen wird. „Alles, was wächst, erfordert Pflege“, habe schon ihre Großmutter, die Lehrerin, gesagt, äußert einmal Sachi (Haruka Ayase). Die Ãlteste, die tief von ihren Eltern enttäuscht ist, musste früh Verantwortung übernehmen und kümmert sich um ihre Geschwister. Mit der jüngsten Schwester Suzu verbindet sie eine „gestohlene Kindheit“. Auch in ihrem Beruf als Krankenschwester, die ein Stellenangebot für die neu eingerichtete Palliativstation erhält, kümmert sie sich umsichtig um andere Menschen. Daneben ist sie mit einem Kinderarzt befreundet, der im Begriff ist, sich von seiner psychisch kranken Frau zu trennen und das Land für eine Stelle in Boston zu verlassen.

„Immer wird jemand verletzt“, sagt einmal Suzu, die sich als ungewollt empfindet, aber am neuen Ort wächst und sukzessive ihren Platz im Leben findet. Paradoxerweise hatte sie den engsten Kontakt zum Vater, um den wiederum sie sich gekümmert hat. Während die Zweitälteste Yoshino (Masami Nagasawa), die in für die Insolvenzabteilung eines Geldinstitutes arbeitet, immer wieder von Männern enttäuscht wird und ein wenig dem Alkohol zuneigt, scheint Chika (Kaho), die mit einem Sportler liiert ist, die Unbekümmertste der vier Schwestern zu sein.

Hirokazu Kore-eda ergänzt sein reiches, vielschichtiges Familienportrait, das von großer Menschen- und Schönheitsliebe getragen wird, um weitere Figuren und Nebenstränge. Doch wie im beziehungsreichen Gewebe eines Gemäldes steht nicht ein einzelner Konflikt im Zentrum, sondern das Leben selbst und seine sich wiederholenden Geschichten. Von diesen erzählt der japanische Regisseur völlig unaufgeregt und verhalten, warmherzig und bewegend. Die Darstellung des gemeinsamen, lustvollen Essens, seine Gemeinschaft stiftende Tradition sowie die Freude am Genuss spielen dabei eine besondere Rolle. „Ich bin glücklich, dass mich Schönheit immer noch so stark berührt“, sagt eine Sterbende angesichts einer überwältigenden Kirschblütenpracht. Für sie und die Schwestern gilt solches Empfinden als Zeichen für ein gutes Leben von Menschen, die, so der Regisseur, als Entitäten „eines größeren Ganzen“, „wie Sandkörner am Strand“ sind.

Der Perlmuttknopf

(FR / CL / ES 2015, Regie: Patricio Guzmán)

Das Gedächtnis des Wassers
von Wolfgang Nierlin

Wenn es in „Nostalgia de la luz“ („Nostalgie des Lichts“) um die Reise des Lichts aus einer fernen Vergangenheit ging, dann handelt Patricio Guzmáns neuer, preisgekrönter Film „Der Perlmuttknopf“ („El …

Wenn es in „Nostalgia de la luz“ („Nostalgie des Lichts“) um die Reise des Lichts aus einer fernen Vergangenheit ging, dann handelt Patricio Guzmáns neuer, preisgekrönter Film „Der Perlmuttknopf“ („El botón de nácar“) von der Zeitlosigkeit des Wassers und der Zukunft des Lebens. Beide Filme finden ihren Ansatzpunkt jedoch zunächst in der nordchilenischen Atacama-Wüste , von wo aus riesige Teleskope den Weltraum erkunden und aus der ein alter, dunkler Quarz-Block stammt, der einen 3000 Jahre alten Wassertropfen in sich konserviert hat. Dessen geheimnisvolles Schimmern als Ausdruck des Lebens und „als Verbindungskraft zwischen den Sternen und uns“ steht am Anfang des Films. Verbunden sind die beiden Teile des filmischen Diptychons, das in sich das Feste des harten Wüstengrundes und das Flüssige eines gewaltigen Meeres vereint, aber vor allem durch ihre sowohl kulturanthropologische als auch politische Reflexion der chilenischen Geschichte.

Patricio Guzmáns poetischer Essay, der als beziehungsreiche Meditation über das Wasser eine persönliche Betroffenheit mit kulturgeschichtlichen Aspekten vereint, begibt sich auch geographisch zu den Gegensätzen des Landes, seinen „verlassenen Enden“. Vom hohen Norden reist er in den äußersten Süden zum riesigen Archipel Westpatagoniens, einem Labyrinth aus unzähligen Inseln und Wasser, das sich bis in die antarktischen Kältezonen erstreckt. Dabei führt das schmale, sich über 4000 Kilometer hinziehende Chile, eingeschlossen zwischen den Anden im Osten und dem Pazifischen Ozean im Westen, selbst eine Art Inseldasein, wie die Künstlerin Emma Malig mit ihrer gewaltigen Landkarte nahelegt. Guzmán nähert sich dieser Wasserlandschaft aus der Vogelperspektive und in faszinierend dahingleitenden Bildern, in denen sich bläulich-kristalline Eisformationen mit den Geräuschen der Stille verbinden. In diese wiederum spricht der Regisseur und Autor Guzmán mit wohltuend ruhiger und deutlicher Stimme seine assoziativen Betrachtungen.

„Wir sind alle Ströme desselben Wassers“, zitiert er eingangs den chilenischen Dichter Raúl Zurita. Die Analogien zwischen Mensch und Wasser, ablesbar an beider Anpassungsfähigkeit, aber auch an der Herkunft des Menschen aus dem Wasser, steht in Korrespondenz zum nachweisbaren, in Form von Dampf und Eis auftretenden Wasservorkommen im Universum. Dass sie nach ihrem Tod zu Sternen werden, hofften wiederum die indigenen Wassernomaden, die im rauen Klima Westpatagoniens Tausende von Jahren im Einklang mit den Elementen lebten, indem sie von Insel zu Insel zogen und sich von den Früchten des Meeres ernährten. Respektvoll und mit großer Sympathie nähert sich Guzmán im ersten Teil seines Films ihrer Geschichte. Diese endet, als sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch weiße Siedler brutal vertrieben und ausgerottet werden. Jetzt sprechen ein paar der wenigen überlebenden Nachfahren dieses Wasservolkes in die Kamera, die ihre Stimmen, ihre Sprache, aber auch ihre Gesichter aufzeichnet und bewahrt.

Wie schon in seinem vorhergehenden Film erinnert Guzmán in „Der Perlmuttknopf“ an das Schicksal von Verschwundenen, deren Spuren sich zu verlieren drohen, und bewahrt sie so vor dem Vergessen. Nach wie vor verschwunden sind aber auch noch viele Opfer der grausamen Pinochet-Diktatur, jene sogenannten „desaparecidos“, die der Dokumentarist einmal mehr in die Gegenwart holt. Wie ein unmenschliches, verbrecherisches System die Tötung und Beseitigung von Menschen geradezu als „Arbeit“ organisiert, zeigt der Film, indem er die Taten der Schergen nachstellt. Mit Schienenstücken beschwert und in Kartoffelsäcke verpackt, wurden vermutlich bis zu 1400 Ermordete ins Meer geworfen. Doch das Wasser hat ein Gedächtnis; und der Perlmuttknopf, der sich in den Ablagerungen des verwitterten Eisens verfangen hat, gibt als Zeugnis des geraubten Lebens Kunde von einer verschwiegenen Geschichte der Vernichtung, die noch längst nicht aufgearbeitet ist. Patricio Guzmáns eindrucksvoller Film gibt ihr eine hörbare Stimme.

Love 3D

(F 2015, Regie: Gaspar Noé)

Porno ab 16
von Jürgen Kiontke

3D ist super, meint Gaspar Noé, französische Regie-Skandalnudel. Deshalb hat er jetzt einen dieser typisch französischen Pornos ab 16 gedreht, der so heißt wie das, was er zeigt: ‚Love 3D‘. …

3D ist super, meint Gaspar Noé, französische Regie-Skandalnudel. Deshalb hat er jetzt einen dieser typisch französischen Pornos ab 16 gedreht, der so heißt wie das, was er zeigt: ‚Love 3D‘. Der beinahe zweieinhalbstündige Film ist ein echter Schocker. Das Kondom ist geplatzt. Filmstudent Murphy (Karl Glusman) und Kunststudentin Elektra (Aomi Muyock) hatten so eine schöne Beziehung. Leider haben sich beide mit der schnuckeligen Nachbarin Omi (Klara Kristin) eingelassen. Als Elektra mal nicht mitschmusen kann, tun’s Omi und Murphy allein, besagtes Missgeschick passiert. Die junge Frau wird schwanger, Elektra sucht das Weite. Wehmütig erinnert sich Murphy an die schöne Zeit in diversen Rückblicken, irgendwie jenseits der nun folgenden Heteronormalität.

Das ist die Handlung, nötig ist sie nicht. Es wird gevögelt in diesem Film, und es soll schön aussehen. Die Hauptdarsteller sind sowas von süß, dass 3D echt gefährlich ist: Womöglich wollen die Zuschauer, wenn sie einen sitzen haben, in die Leinwand steigen zum Mitficken.

Ein erotisches Märchen mit tollen falschen Gefühlen und Sätzen zum Mitlachen: »Du, mein Schwangerschaftstest ist positiv« – »Ach, wir machen einfach noch einen!« Dass Menschen unter 25 in Paris eine Wohnung für sich haben, ist auch eine Lachnummer. Paris ist dies momentan nicht und wohl auch eher weniger die Stadt der Liebe.

‚Love 3D‘ schrumpft die Welt, die gerade in Paris eine so andere ist, auf Liebesgeschichtenformat mit all den üblichen Drogen und der ganzen Eifersucht in Zeiten der TTIP-Verhandlungen. Murphy haut Elektras Ex die Flasche über den Kopf: »Sie gehört mir«, brüllt er dem Polizisten entgegen. Nein, meint der. »Vergessen Sie mal Ihr amerikanisches Besitzdenken. Gehen Sie mit Ihrer schönen Freundin in den Swingerclub, schenken Sie ihr dieses schöne Vergnügen, mit vielen Menschen Sex zu haben. Ich geh da auch hin und bin immer ganz entspannt.«

Na siehste, Filmbranche, geht doch! So resozialisiert, zieht man von dannen, ganz verliebt ins Kino. Der Film ist schön, leicht und lustig und ein bisschen blöd. Und das ist derzeit beinahe ein Politikum.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Jungle World 48/2015


Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Love 3D‘.

Blacktape

(D 2015, Regie: Sekou Neblett)

Dicke Hose
von Ulrich Kriest

Das nennt man wohl virales Marketing! Als ich seinerzeit leicht ennuiert aus der Pressevorführung kam, dachte ich bei mir: „Da will eine mittlerweile ziemlich etablierte Szene noch mal etwas Wind …

Das nennt man wohl virales Marketing! Als ich seinerzeit leicht ennuiert aus der Pressevorführung kam, dachte ich bei mir: „Da will eine mittlerweile ziemlich etablierte Szene noch mal etwas Wind machen, indem sie sich ihrer rebellischen Wurzeln versichert. Und dies, indem sie diese Wurzeln nur fiktional herzustellen vermag. Luftwurzeln. Ganz schön verstrahlt.“ Und jetzt, nur wenige Wochen später, tobt in die bundesdeutschen Feuilletons geradezu ein Battle zwischen Jan »Pol1z1stensohn« Böhmermann, Haftbefehl und ihren jeweiligen Fans, in dem es tatsächlich um Klassenkampf, kulturelle Enteignung, Rassismus, Legitimität und „racial profiling“ geht. Besonders spannend dabei: die Schnittmenge unter den Fans, die sowohl Böhmermann als auch Haftbefehl gut finden und sich dem Battle eher mit Humor nähern. Das ist richtig old school, denn genau dieser Ansatz, sich HipHop mit Humor und einer gewissen selbstreflexiven Distanz zu nähern, steht am Beginn der Karriere des Gymnasiasten-Rap der Fantas, der Brote oder auch Fischmob. Und genau dieser Ansatz fehlt dem Film „Blacktape“, was dem Film jede Menge unfreiwilligen Humor verschafft. Worum geht’s?

Im Rahmen einer konventionellen Recherche zur Geschichte des deutschsprachigen HipHop wird das Team, bestehend aus dem Filmemacher und Ex-„Freundeskreis“-Mitglied Sékou Neblett und den beiden Journalisten und Szene-Insidern Marcus Staiger (der auch bei der aktuellen Debatte ganz vorne mit dabei ist) und Falk Schacht, von einer Postsendung und geheimnisvollen E-Mails überrascht. Es finden sich Hinweise auf die Existenz eines mysteriösen Rappers, dessen provokanter Debüt-Auftritt 1986 in einer US-Kaserne in Heidelberg einen regelrechten Aufruhr auslöste. Ist Tigon, so der Name, der erste Rapper gewesen, der auf Deutsch rappte? Muss die Musikgeschichte jetzt komplett neu geschrieben werden? Das Team macht sich auf die Suche, reist durch die Republik und wird immer mal wieder von Tigon kontaktiert.

„Blacktape“ kleidet die Geschichte des deutschsprachigen HipHop ins Gewand einer investigativen Archäologie, deren Kern sich allerdings viel zu schnell als Mockumentary erweist. Mit viel Talking Heads aus der Szene-Prominenz werden einschlägige Debatten um Realness und Independent-Ethik noch einmal skizziert, geht es noch einmal um die Konflikte zwischen Gymnasiasten-HipHop aus Hamburg und Stuttgart und Straßen-HipHop aus Frankfurt und Berlin. Insbesondere der Polit-Aktivist Marcus Staiger machte sich als forcierter Gegner des Gymnasiasten-HipHop einen Namen, bot früh Rappern wie Kool Savas und Sido eine Plattform und gründete das Label „Royal Bunker“. Staiger musste allerdings auch erleben, dass viele der von ihm geförderten Künstler sich den lukrativeren Angeboten seitens der Major-Labels locken ließen. Im Hintergrund zieht „Universal“-A&R Neffi Temur als Dr. Mabuse des deutschen HipHop die Fäden.

„Blacktape“ gelingt leider zu keinem Zeitpunkt eine Balance zwischen einer Distanz zum Gegenstand und dem Kokettieren mit der insiderhaften Nähe zur Szene. Insbesondere der fiktive Part der Suche nach Tigon leidet darunter, dass deren Bedeutung für die beiden Protagonisten eher behauptet als dargestellt wird. Was auch damit zusammenhängen mag, dass Staiger und Schacht eben keine Schauspieler sondern eher Selbst-Darsteller sind, deren Konflikte und Bedenkenträgerei vor laufender Kamera mal eitel, mal unverständlich, aber immer zuverlässig albern erscheinen.

Wenn die Suche nach den Roots mal wieder frustig wird, schaltet der Film schnell auf die Psycho-Ebene um. Dann wirft Falk Marcus vor, HipHop nicht mehr für ein Überlebensmittel zu halten, nur weil dieser wimmernd Heimweh hat. Nicht jeder Homie weiß, was es bedeutet, wenn man Familie hat!

Zudem gefällt sich der Film darin, die Bedeutung der ganzen Szene etwas hoch zu hängen, wenn der Auftritt in der US-Kaserne in behauptete oder zumindest sehr schlecht recherchierte politische Zusammenhänge gestellt wird. So wird die angespannte politische Situation um 1986 (Stichworte: Lockerbie, Diskothek „La Belle“) mit Archivmaterial aus den siebziger Jahren wie beispielsweise der Verhaftung von Holger Meins »verschnitten«. Weil der gesuchte Tigon auch noch als Graffiti-Künstler tätig war, kann der Film, um überhaupt auf Abend füllende Länge zu kommen, auch noch den befreundeten Künstler und Exzentrik-Darsteller Jaybo aka Monk einwechseln, der die Protagonisten zu längst verblichenen Hinweisen führen kann.

Und schließlich kommt auch noch eine Portion Paranoia ins Spiel, weil plötzlich auch andere Personen (Neffi? NSA? CIA? das Monster von Loch Ness?) Interesse an Tigon zu haben scheinen, was schließlich zu einem Besuch bei einem pensionierten Staatsschützer im Schwäbischen führt, der natürlich über entscheidendes Aktenmaterial in seinem Privatarchiv verfügt. Als es am Ende dieser prätentiösen, jedem Einfall folgenden Schnitzeljagd, bei der Schüler-Theater vorgibt, „Kino“ zu sein, sogar noch zu einem Comeback-Auftritt von Tigon kommt, erleben alle Beteiligten im Rahmen einer fast schon familiären Party eine große Überraschung und eine Botschaft, die zum Starttermin des Films passt: Battle Rap wird auch nicht so heiß gegessen wie er gekocht wird.

Gemeinsam wird hoch symbolisch so manches Kriegsbeil von Anno Stein begraben. Man ist schließlich keine 17 mehr. Hier schließt sich der Kreis, denn genau diese Botschaft wird ja durch das virale Marketing aktuell dementiert. Oder zumindest dementierend behauptet. Denn man will ja nicht ausschließen, dass »Pol1z1stensohn« Böhmermann und »CopKKKilla« Hafti sich bestens verstehen, wenn sie sich musikalisch über herrschenden Rassismus bei der Exekutive austauschen. Wie schreibt Falk Schacht auf Facebook so schön: „Satire ist ein Mienenfeld voller Metaebenen.“

Dorf der verlorenen Jugend

(DK 2015, Regie: Jeppe Rønde)

Suicidal Tendencies
von Carsten Happe

Ein Dokumentarfilmer, der seinen ersten Spielfilm dreht. Eine wahre Begebenheit, die ebenso erschütternd wie undurchdringlich erscheint. Ein Setting, das kaum Auswege bietet. Man meint, den Film, der aus diesen Prämissen …

Ein Dokumentarfilmer, der seinen ersten Spielfilm dreht. Eine wahre Begebenheit, die ebenso erschütternd wie undurchdringlich erscheint. Ein Setting, das kaum Auswege bietet. Man meint, den Film, der aus diesen Prämissen entsteht, bereits vorab zu kennen, eine nüchterne Bestandsaufnahme mutmaßlich, dem Thema und dem Schauplatz angemessen, eventuell gar ein Erklärungsversuch oder zumindest eine Theorie – aber nichts dergleichen: „Dorf der verlorenen Jugend“, im Original gleichermaßen profaner wie präziser „Bridgend“ betitelt, nach dem Ort in Wales benannt, in dem die Geschichte spielt, ist ein furioses Stück Kino voller eindrücklicher Bildkompositionen und magischer Momente, die genau jenes Mysterium transportieren, das die nüchternen Fakten mit sich tragen und so rätselhaft erscheinen lassen.

79 Jugendliche haben in dem ehemaligen Bergbaukaff Selbstmord begangen, zwischen Januar 2007 und Februar 2012. Die meisten der Teenager haben sich erhängt und darüber hinaus keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Die Behörden bleiben über Jahre hinweg ratlos, die Medien spekulieren über einen mysteriösen Todeskult, der nie aufgedeckt oder bestätigt wurde, aber möglicherweise hat auch die Berichterstattung eine Eigendynamik freigesetzt, die die erschütternden Zahlen in die Höhe getrieben haben – doch außer Spekulationen bleibt am Ende nicht viel zu holen.

Regisseur Jeppe Rønde hat die Jugendlichen aus der Gegend über sechs Jahre lang begleitet, vieles aus ihren Erzählungen ist ins Drehbuch geflossen, das Rønde gemeinsam mit Torben Bech und Peter Asmussen entwickelt hat. Zudem sind zahlreiche Nebenrollen mit Jugendlichen aus dem Ort besetzt, fast schon selbstredend wurde komplett an Originalschauplätzen gedreht. Diese vermeintliche Authentizität führt aber eben keineswegs dazu, dass sich Rønde und seine Mitstreiter simplen Erklärungsmustern hingeben, vielmehr glaubt man dem Film anzumerken, dass die Macher ihr Thema zutiefst durchdrungen haben und gerade deswegen dem Mystischen, dem Ungefähren, dem Eigensinn der Geschichte und ihrer Protagonisten so großen Raum gegeben haben, da dies die einzig adäquate Herangehensweise scheint.

Konsequent aus der Sicht der jungen Sara erzählt, die gemeinsam mit ihrem Vater in dem abgeschiedenen Ort ankommt, taucht „Bridgend“ tief in eine Jugendszene ein, der kein Soziologe einen vorschnellen Stempel aufdrücken kann, in eine verschworene Gemeinschaft, zu der Sara nur zögerlich Zugang findet, die sie aber letztlich immer mehr absorbiert. Von ihrem Vater, der als neuer Polizeichef mit der Sisyphusarbeit der Aufklärung der Selbstmordwelle betraut wurde, entfremdet sich das Mädchen zusehends – hier weitergedacht, erscheinen die jugendlichen Selbstmorde als extremste Form der (post-)pubertären Abnabelung, als Höhe- und Endpunkt ihrer exzessiven Selbstvergewisserung.

Während die Szenen in den Hinterzimmern der Teenager-Partys vor roher Kraft und Vitalität geradezu zu bersten scheinen, gelingen Jeppe Rønde und seinem kongenialen Kameramann Magnus Nordenhof Jønck insbesondere in den Momenten, wenn sie den Jugendlichen in die Wälder oder zum angrenzenden Stausee folgen, ebenso hypnotische wie poetische Bilder, die zu den morbide-schönsten des Kinojahres gehören und dabei gleichermaßen vielsagend von den Seelenzuständen ihrer Protagonisten erzählen.

Die Figur der scheuen Sara, die mehr und mehr in ihrem jugendlichen Aufbegehren und der Sinnsuche ihrer neugewonnenen Clique aufgeht, ist entsprechend der Größe ihrer Rolle die nuancierteste, und „Game of Thrones“-Star Hannah Murray verkörpert sie mit einer perfekten Mischung aus Naivität und Abenteuerlust. Aber auch Josh O’Connor als ihr love interest und Elinor Crawley als Saras neue BFF setzen starke Akzente in einem beeindruckend intensiven Ensemble.

Während die beispiellose Selbstmordserie ohne Aufklärung bleibt und somit unbefriedigend endet beziehungsweise nie ihren Abschluss finden wird, ergibt die Narration von „Bridgend“ in ihrer – bisweilen – Traumlogik vollends Sinn und fasziniert, ähnlich wie vor beinahe dreißig Jahren Peter Weirs ätherisch-rätselhaftes „Picknick am Valentinstag“, über alle Maßen.

Im Rausch der Sterne

(USA 2015, Regie: John Wells)

Kochen ohne Appetit
von Aileen Pinkert

Ohne Frage begeistern Kochshows im Fernsehen noch immer eine gewisse Zuschauerklientel. Auch für die Leinwand konnten in der Vergangenheit Stoffe rund ums Kochen und Genießen erfolgreich umgesetzt werden, etwa in …

Ohne Frage begeistern Kochshows im Fernsehen noch immer eine gewisse Zuschauerklientel. Auch für die Leinwand konnten in der Vergangenheit Stoffe rund ums Kochen und Genießen erfolgreich umgesetzt werden, etwa in Ang Lees Klassiker „Eat Drink Man Woman“, in Nora Ephrons „Julie & Julia“ mit Meryl Streep in der Verkörperung von Julia Child oder in Jon Favreaus „Kiss the Cook“. Was also kann ein Film über die virtuose Zubereitung von Speisen jetzt noch erzählen, da der Bedarf in der westlichen Welt bereits buchstäblich gesättigt scheint von Kochsendungen, Gourmet-Food an jeder Ecke, DIY-Magazinen, -Blogs und Kochkursen in der Freizeit?

In John Wells‘ „Im Rausch der Sterne“ muss mal wieder die alternativlose Darstellung einer harten Leistungsgesellschaft herhalten, die sich kennzeichnet durch Stress und Druck von allen Seiten. Als berühmtberüchtigter Sternekoch brüllt Bradley Cooper seine Küchencrew an, wohl weil er insgeheim Angst vorm Scheitern hat. Vielleicht aber auch davor, als einsamer Wolf seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Sein Ziel: ein dritter Michelin-Stern. In diesem künstlich erzeugten Überdruck, in schnellster Zeit die besten Menüs zuzubereiten, ist keine Leidenschaft für das Kochen erkennbar, kein Appetit für den eigenen Job. Ausgebrannt ist dementsprechend die Crew, und auch Cooper selbst ist einem Burn-Out nie ganz fern.

Passenderweise lautet der Originaltitel des Films „Burnt“. Angebranntes schmeckt nicht mehr, weil es zu lange auf dem Herd stand – Cooper in seiner Rolle des Adam Jones stand definitiv zu lange am Herd. So lange, dass er sich selbst nach getaner Arbeit dem familiären Team-Essen in der Küche als Einziger entzieht. Jones isst nichts. Überhaupt ist er besessen von der Idee, auch bei den Gästen mit jedem Happen einen neuen „kulinarischen Orgasmus zu erzeugen, so dass sie ganz und gar aufhören zu essen“. Der wohl eindringlichste Satz des Films, der zugleich zeugt von der Luxus- und Lifestyle-Attitüde, die sich durch den gesamten Film zieht.

Der deutsche Verleihtitel hingegen bezieht sich eher auf die Sucht nach dem kurzlebigen Rausch beim Erfolg, einen weiteren Michelin-Stern erhalten zu haben. Weil das Ziel, wie so oft im Hollywoodkino, so klar formuliert ist und zudem nur eine Lösung in Aussicht gestellt wird, überrascht die Handlung maximal an einer Stelle. Dieses zudem nicht gänzlich unerwartete Ereignis hat aber keinerlei Auswirkungen auf die Handlung. Inhaltlich ein schwer enttäuschender Film.

Was man dem Film neben der passenden Titelwahl noch anrechnen muss, ist die Tatsache, dass er seine eigenen Ängste, einem gewissen Erfolgsdruck gerecht werden zu müssen, nicht verbirgt. Er stellt sie regelrecht aus: In einem rasanten Tempo wird Jones eingeführt: nach Drogenexzessen, wie es sich für einen Künstler ziemt, am Tiefpunkt seiner Karriere angekommen, trommelt er in einer neuen Stadt (London in satten Panoramen) alte Weggefährten zusammen, Bekannte aus Paris, die ihm dabei helfen sollen, eine Gourmet-Küche im Hotel eines Freundes zu etablieren. Neben dieser hektisch abgekürzten, da altbekannten Helfersuche des Hollywoodfilms soll ein Mix aus europäischen und US-amerikanischen Stars die Kinozuschauer_innen überzeugen. Neben Cooper treten Omar Sy, Uma Thurman und Daniel Brühl auf. Letztgenannter hat eine erwähnenswerte, da zurückgenommene Rolle als Hotelchef Tony, der einst verliebt war in Jones und ihn daher unterstützt und fördert. Seine Homosexualität wird erstaunlich nebensächlich verhandelt, wie man es sich öfter wünschen würde.

Das Problem bei all dem Staraufgebot ist wie beim Kochen die falsche Dosierung: 95 Minuten Cooper, eine Minute Thurman. Das schmeckt unausgewogen. Sienna Millers Rolle, die als Sous-Chefin Helene die einzige Frau in Jones‘ Team ist, wurde abgestellt, um Jones‘ Liebesinteresse zu wecken. Helene ist überhaupt die einzige Figur mit einem Privatleben, aber auch nur, weil sie alleinerziehende Mutter ist. Aber auch in den kurz eingestreuten Szenen von Mutter und Tochter springt der Funke nicht über auf die Zuschauer_innen. Wenig psychologische Tiefe, eine vorhersehbare Story, viel Pfannenbrutzeln und ein Misanthrop als unsympathische Hauptfigur, die sich selbst am meisten hasst. Das ist zu wenig.

Was dem Film zugutekommt, sind die erwartbaren Food-Porn-Aufnahmen mit Schärfeverlagerungen in Detailaufnahmen und Emma Thompson, die als Therapeutin von Jones auftritt und ihm jedes Mal eine Spritze in den Arm jagen darf. Ist sich der Film unsicher, quetscht er schnell ein, zwei Detailaufnahmen des Anrichtens ein und ein weiteres ausgefallenes Outfit, in dem Emma Thompson auftritt. Retten kann er sich damit aber keineswegs.

Der Film beginnt mit einer verschlossenen Auster, die es zu öffnen gilt. „Im Rausch der Sterne“ ist es leider nicht gelungen, sich selbst zu öffnen, auch Jones bleibt hinter seiner arroganten Fassade ungreifbar, seine Entwicklung innerhalb der Filmnarration tritt nicht deutlich genug zum Vorschein. Vermutlich verdeckt vom Rauch der Kochtöpfe.

Das brandneue Testament

(B/F/LU 2015, Regie: Jaco Van Dormael)

Der Gorilla, die Deneuve und Gott
von Manfred Riepe

Gott schuf Himmel und Erde. So steht es schon in der Bibel. Weniger bekannt ist, dass er auch die belgische Stadt Brüssel entstehen ließ. Wir, die Kinozuschauer, erfahren dies aus …

Gott schuf Himmel und Erde. So steht es schon in der Bibel. Weniger bekannt ist, dass er auch die belgische Stadt Brüssel entstehen ließ. Wir, die Kinozuschauer, erfahren dies aus berufendem Mund. Die 10-jährige Ea ist nämlich Gottes Tochter. Sie lebt im Himmel über Brüssel, den man so noch nicht gesehen hat: Als muffige Kleinfamilie in einer fensterlosen Wohnung ohne Ein- und Ausgang.

In seinem neuen Film erzählt der hierzulande nicht allzu bekannte belgische Regisseur Jaco van Dormael die aberwitzige Geschichte dieser aufgeweckten Göre. Gespielt wird Ea von Pili Groyne, die man aus „Zwei Tage, eine Nacht“ von den Dardenne-Brüdern kennt. Das Mädchen hat allen Grund, ihren Daddy nicht zu mögen. Der Allmächtige ist nämlich kein gütiger Vater mit weißem Rauschebart. Benoît Poelvoorde, noch gut in Erinnerung als Serienkiller in „Mann beißt Hund“, spielt ihn als übel gelaunten Proleten im Bademantel, der Sportfernsehen glotzt und seiner verschüchterten Frau (Yolande Moreau) nicht viel Freiraum lässt. Dank van Dormaels erfrischendem Erzählstil ist man von dieser skurrilen Fabel augenblicklich fasziniert. Sein Film erzählt nicht nur eine liebenswürdig-schräge Geschichte. Ihm gelingt dies mit phantasievollen Bildern, die er aufreizend lässig auf die Leinwand zaubert – obwohl das Budget sichtbar schmal ist.

Die Wirkungsstädte Gottes zeigt van Dormael als kafkaeske Bürostube, deren Wände rundum aus angestaubten Karteikästen bestehen. In der Mitte des ansonsten leeren Raumes steht ein Schreibtisch mit einem antiquierten PC, wie man ihn vielleicht noch in einer provinziellen Amtsstube findet. Neben der Tatstatur steht ein Whiskyglas. Diese charmante Retro-Anmutung passt perfekt zu jenem buchstäblich „alten Testament“, das dieser grimmige Gott an seinem Steinzeit-Computer verfasst. Statt zehn Geboten ersinnt er eine verwirrende, unüberschaubare Anzahl von Gesetzen und Gesetzchen. Sie machen den Alltag der Menschen zu einer nur allzu bekannten Qual. Das geschmierte Brot fällt immer auf die Marmeladenseite, und das Telefon klingelt, wenn man gerade in der Badewanne sitzt. Augenzwinkernd zeigt der Film, dass diese Enzyklopädie der Neurosen ein Machtinstrument dieses herrschsüchtigen Gottes ist. Schließlich haben die Menschen ihn ja nach ihrem Ebenbild geschaffen.

Zum Glück gibt es die kleine Ea, die Schwester von JC (sprich Dschäi Ssieh), der als redende Porzellanfigur auf der Kommode steht. Die vorwitzige Kleine spielt ihrem Vater einen diebischen Streich. Sie hackt Daddys PC und teilt allen Menschen ihren jeweiligen Todeszeitpunkt mit. Per SMS. Die Menschen sind verdutzt, nehmen ihr Leben aber nun selbst in die Hand. Sie tanzen nicht mehr nach der Pfeife Gottes. Der ist darüber stinksauer und will seiner Tochter eine tüchtige Abreibung verpassen, doch Ea ist spurlos verschwunden. Wie aber verlässt man Gottes Wohnung, die keine Fenster und Türen hat? Richtig, durch die Waschmaschine, von deren Trommel ein geburtskanalähnlicher Tunnel nach draußen in die Welt führt, mitten in einen Waschsalon.

Van Dormael und sein Ko-Drehbuchautor Thomas Gunzig haben die – nun erst wirklich Fahrt aufnehmende – Geschichte mit Liebe zu ihren Figuren ersonnen. In der Welt der Menschen angekommen, schart die von ihrem rachsüchtigen Daddy verfolgte Ea sechs Apostel um sich, deren verfahrene Lebenssituationen in herzzerreißenden Mini-Episoden skizziert werden. Da gibt es einen Peepshow-Besucher, der unter all den Frauen, die er begafft, jene eine sucht, die er als Kind sah, als er am Strand eingebuddelt dalag. Ein anderer Junge wird von Klassenkameraden gehänselt, weil er sich wie ein Mädchen anzieht. Und es gibt einen melancholischen Scharfschützen, der sich in eine depressive Einarmige verliebt.

In seinem erzählerischen Furor hat der Belgier keine Berührungsängste mit visuellen Kalauern. Berichtet die junge Erlöserin beispielsweise, die Stimme ihres ersten Apostels würde klingen wie dreißig Männer, die Walnüsse knacken – dann zeigt der Regisseur eben jene Männer, die an einem ewig langen Tisch sitzen und im Akkord Walnüsse knacken. Anarchische Gaga-Bilder dieser Art werden aber nie zu einer Masche. In seinen Skizzen gescheiterter oder hoffnungsloser Lebensentwürfe changiert van Dormael gekonnt zwischen phantasievollem Klamauk und humorvoll gebrochener Melancholie. Und wenn man einmal das Gefühl hat, jetzt fällt ihm wirklich nichts mehr ein, dann zaubert er plötzlich Catherine Deneuve aus dem Hut, die als frustrierte Ehefrau mit einem Gorilla ins Bett geht. Buchstäblich.

Im Gegensatz zur apokalyptischen Abrechnung mit dem Katholizismus, den sein belgischer Landsmann Vincent Lannoo mit „In the Name of the Son“ bebilderte, schlägt van Dormael eher moderate Töne an. Die Frage, was man mit dem Leben anfängt, wenn man den Todeszeitpunkt kennt, wird nicht mit Kopf zerbrechendem philosophischem Tiefsinn ausgeleuchtet. Es geht nicht um die großen Modelle, sondern eher um individuelle Entwürfe. Tiefsinn findet man eher bei der vermeintlich flachsten Figur des Films: Mit der sicheren Gewissheit, dass ihm bis zu seinem vorhergesagten Todeszeitpunkt ja noch Jahrzehnte bleiben, betreibt der junge Kevin (Gaspard Pauwels) – Vertreter der Generation rundum Sorglos – die Herausforderung des Todes als Fun- bzw. immer drastischere Extremsportart. Kreischend vor Lachen hüpft er am Ende ohne Fallschirm aus dem Flugzeug. Sein blindes Vertrauen darin, dass er schon irgendwie gerettet wird, ist eine Metapher für ein technisiertes Zusammenleben, in dem der ziellose Hedonismus über ethische Verantwortung obsiegt hat.

Befreiung gibt es in dieser Welt nur durch die kleinen und schönen Dinge. In diesem Sinn übernimmt in der wundervoll beiläufigen Schlusssequenz Gottes Frau den PC ihres in den Niederungen der Welt verschollenen Gatten. Bei ihren behutsamen Versuchen, die triste Realität ein wenig aufzuhübschen, entdeckt sie ein Menü, bei dem man für das Hintergrundmuster des Himmels verschiedene vorgegebene Blümchenmuster anklicken kann: Und schon ist die Welt etwas farbenfroher. Das gilt ebenso für das Kino, das durch diese ungebremste Lust am Fabulieren gewinnt.

Mia Madre

(I 2015, Regie: Nanni Moretti)

Gefühle kennen keine Dramaturgie
von Ilija Matusko

Die Mutter liegt im Sterben, ihre Arbeit macht keinen Sinn mehr, die Welt um sie herum zerfällt. In „Mia Madre“ erzählt Regisseur Nanni Moretti vom Einbruch des Unmöglichen in das …

Die Mutter liegt im Sterben, ihre Arbeit macht keinen Sinn mehr, die Welt um sie herum zerfällt. In „Mia Madre“ erzählt Regisseur Nanni Moretti vom Einbruch des Unmöglichen in das Leben einer Frau, deren Gefühlswelt so schwierig und komplex ist wie das moderne Leben selbst.

Margherita ist Filmregisseurin und wird während der Dreharbeiten zu ihrem neuen Film, der sich dem Thema Hoffnung verschrieben hat, mit dem traurigen Abschied von ihrer Mutter konfrontiert. Die alte Frau liegt bereits im Krankenhaus, ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich rapide und es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann sie sterben wird. Margherita und ihr Bruder Giovanni kümmern sich anrührend um die ältere Frau. In gegenseitiger Zuneigung, und trotz der großen Fragen und Ängste, die der bevorstehende Tod der Mutter aufwirft, versuchen die Geschwister ihr Leben, so gut es eben geht, weiterzuleben. Im Lauf der Geschichte wird schnell klar, dass beide damit restlos überfordert sind.

Während sich Giovanni eine Auszeit vom Berufsleben nimmt und versucht auf die Ereignisse mit kühl-nüchterner Gefasstheit zu reagieren, stürzt sich Margherita in die Arbeit an ihrem Film, ein plakativ und hölzern wirkendes Sozialdrama um den Arbeitskampf in einer Fabrik. Das ganze Projekt stellt sich immer mehr als nervenaufreibend und sinnlos heraus, nicht nur, weil sich die Regisseurin mit vergesslichen, exzentrischen Schauspielern herumschlagen muss, sondern zunehmend mit sich selbst, ihren Gefühlen, ihrer Verzweiflung und sogar ihren eigenen Regieanweisungen. Man weiß nicht, was sie da tut, und sie selbst weiß es auch nicht. Dass sie sich von ihrem Freund getrennt hat und ihr die Tochter zu entgleiten droht, komplettiert die Krise. Der Boden unter ihren Füßen wird zusehends weggezogen, nicht schnell und ruckartig, sondern langsam und unbemerkt, so als brauche die schreckliche Gewissheit um das Bevorstehende eine Weile, bis sie in ihre Welt eingedrungen ist.

„Mia Madre“ erzählt auch davon, sich selbst nicht mehr zu vertrauen, den Blick für die Umgebung zu verlieren, und das in einer Welt, in der man abliefern, höflich sein und funktionieren muss. Auch wenn die eigene Mutter im Sterben liegt. Die Welt macht es ihr vor, denn sie dreht sich einfach weiter. Wenn man die Zeit anhalten oder zurückspulen möchte, so wie Margherita, gerät das Leben plötzlich ins Strudeln. Hoffnung, Verzweiflung, Angst und Frustration wechseln sich von Minute zu Minute ab. Die Zustände absoluter Empfindsamkeit und Durchlässigkeit, die keine Trennung nach Arbeit, Familie, Beziehung, keine Grenzen zwischen Wirklichkeit und Projektion, und keine Dramaturgie mehr kennen, macht der Film auf eindringliche Weise spürbar. Nanni Moretti zeigt dieses Gefühlschaos, ohne die Distanz zu seiner Hauptfigur zu verlieren, ohne in Schmerzprosa oder Gefühlspathos zu verfallen. Immer mit einem verständnisvollen Blick für die Unzulänglichkeiten und Schwächen des Menschen.

Die Frage, was nach dem Tod von einem Leben übrig bleibt, schwebt über dem Film und durchzieht alle Bereiche seiner Protagonisten. Besonders greifbar wird sie in der Wohnung der Mutter. Dort wartet stumm das zu Büchern und Notizen aufgetürmte Lebenswerk einer Gelehrten, die ihr Leben dem Wissen und den Büchern gewidmet hat, dessen Ordnung und Struktur aber mit dem dahinsiechenden Geist der Mutter abhanden kommen wird. Unzählige Stunden in der Bibliothek, die Regale voller Bücher, wohin versickert all diese Energie und Anstrengung? Am Ende des Films landet das materielle Spiegelbild dieses Geistes in grauen, unbeschrifteten Kartons. In diesem Bild zeigt sich die schwer erträgliche Wahrheit. Der Tod ist beides, die große Unmöglichkeit, und der vom Leben erzwungene Versuch, irgendwie damit umzugehen.

Weil Nanni Moretti um beide Seiten der menschlichen Existenz, die tragische und die komödiantische, bemüht ist und das Ineinandergreifen der Stimmungen perfekt beherrscht, wirkt der Film alles andere als schwer und gefühlsbeladen, sondern wird von einer für den Regisseur typischen Leichtigkeit und Komik beschwingt. Wenn man so will, ist „Mia Madre“ nicht nur eine Hommage ans Kino und ans Familienleben, sondern eine Art Gegenentwurf zu Michael Hanekes „Liebe“. Nicht im sorgsamen Umgang der filmischen Mittel oder in der inszenatorischen Entschiedenheit, sondern im Zugang zu den großen Fragen um Tod und Vergänglichkeit. „Mia Madre“ beweist, das man ein filmisches Gemälde des Sterbens nicht nur mit intellektueller Entschlossenheit, Restriktion und Konzentration zeichnen kann, sondern eben auch mit etwas mehr Zärtlichkeit, Gefühl und dem Glauben an würdevolle Bilder.

Die Melodie des Meeres

(IR / DK / B / LU / F 2014, Regie: Tomm Moore)

Hexen, Riesen, Erziehungsberechtigte
von Carsten Moll

Hat die Mutter einen Namen und lebt noch, wenn der Abspann rollt? Diese Frage wirft die Journalistin und Illustratorin Sarah Boxer in ihrem Essay „Why Are All the Cartoon Mothers …

Hat die Mutter einen Namen und lebt noch, wenn der Abspann rollt? Diese Frage wirft die Journalistin und Illustratorin Sarah Boxer in ihrem Essay „Why Are All the Cartoon Mothers Dead?“ für das Magazin The Atlantic auf und will damit nach Manier des Bechdel-Tests ein altes Trickfilmklischee herausfordern. Denn nicht erst seit „Bambi“ (1942) sterben die Mütter von jungen Animationshelden wie die Fliegen; viele von ihnen haben bereits vor Filmbeginn das Zeitliche gesegnet („Arielle, die Meerjungfrau“, 1989) oder sorgen gleich in der Einführung mit ihrem Ableben für einen ersten dramatischen Höhepunkt („Findet Nemo“, 2003).

Anders ergeht es da auch nicht der Mutter von Ben, dem Helden aus Tomm Moores „Die Melodie des Meeres“. Ihr Name, Bronach, wird zwar genannt, aber nachdem die hochschwangere Frau ihrem Sohn ein Gute-Nacht-Lied vorgesungen hat, ergraut sie mit einem Mal und verschwindet unter Tränen aus dem Kinderzimmer. Als dann der Titel des Films eingeblendet wird, ist sie nach wenigen Minuten Laufzeit schon auf mysteriöse Weise verstorben und hinterlässt neben dem Protagonisten Ben ihren Ehemann Conor sowie die kleine Saoirse.

Das Trauma des Verlusts prägt die zurückgezogen auf einer kleinen Insel vor der irischen Küste lebende Familie auch Jahre nach Bronachs plötzlichem Hinscheiden: Conor, ein Leuchtturmwächter, sucht Trost im Alkohol, während Ben die kleine Schwester für den Tod der Mutter verantwortlich macht und sich ihr gegenüber gefühlskalt, mitunter sogar offen feindselig zeigt. Saoirse hingegen erduldet nicht bloß stumm die Gemeinheiten ihres Bruders, sondern auch die emotionale Distanz des Vaters.

Aus Sarah Boxers Sicht muss „Die Melodie des Meeres“ wohl als Symptom eines Mangels erscheinen, als ein weiteres Auslöschen von potenziellen weiblichen Rollenvorbildern und Identifikationsangeboten. Besonders im Vergleich zu aktuellen Produktionen wie „Home – Ein smektakulärer Trip“ (2015), der sozial-emanzipatorische Anliegen in Form einer Protagonistin of color sowie einer alleinerziehenden Mutter repräsentiert, wirkt Tomm Moores Trickfilm demnach geradezu fortschrittsfeindlich. Doch diese Einsicht täuscht und verkennt, dass im vermeintlich müden Klischee des Muttertods ein nach wie vor kraftvoller Topos lauert.

Denn auf einer symbolischen Ebene wird hier eine weitaus grundsätzlichere Auseinandersetzung ermöglicht als es die bestenfalls kurzfristig wirksamen Figurenaktualisierungen nach gesellschaftspolitischen Kriterien erlauben. Die Möglichkeit, sich im Tod einer fiktiven Mutterfigur eigenem Schmerz und eigenen Ängsten zu stellen, scheint Boxer allerdings nicht zu sehen. Statt eines empathischen Einfühlens verlangt sie nach moralischen Autoritäten, zu denen sich aufblicken lässt. Als großer Sieger aus Boxers Trickfilm-Test geht daher bezeichnenderweise Brad Birds „Die Unglaublichen“ (2004) hervor und mit ihm die Figur Helen Parr/Elastigirl. Während Boxer an Mr. Incredible, dem Ehemann der Mutter/Superheldin, noch seine Glaubwürdigkeit und Unvollkommenheit lobt, verdient Elastigirl nicht etwa aufgrund ihrer Menschlichkeit die Anerkennung der Autorin, sondern wegen ihrer Superman-lichkeit. Helen Parr ist ein feministisches Postergirl, eine ebenso glänzende wie flache Vorzeigefrau, die mit ihrer im wahrsten Sinne unglaublichen Stärke zugleich den Schwachpunkt in Boxers Argumentation aufdeckt.

Der im Oktober verstorbene Schriftsteller und Psychoanalytiker Arno Gruen interpretiert Selbstermächtigungsposen, wie sie auch das biegsame Elastigirl verkörpert, nämlich als Verdrängungsmechanismus gegen erfahrenes Leid und keineswegs als Zeichen für ein Freisein von diesem oder als wirkliche Kraft, seelischen Schmerz auszuhalten. Es herrschen eine Coolness sowie eine Verachtung für das Opfersein, die im im hippen Gewand letztlich nur ein altes Übel fortsetzen: Gruen sieht in Adolf Hitler den Vorläufer unserer Zeit und bemerkt in Bezug auf dessen Entfremdung vom Eigenen und seine Imitation von Menschlichkeit und Stärke: „Er spiegelt in perfekter Weise die heutige Welt wider, in der das Image die Wirklichkeit und die Pose die Verantwortung ersetzt haben.“

In der Figur der Großmutter, die das Leid ihrer im Trauma erstarrten Familie nicht ertragen kann und daher Ben und Saoirse ihrem Vater entreißt, nimmt diese Geisteshaltung auch in „Die Melodie des Meeres“ Form an. Die Oma beteuert zwar, dass sie für die Kinder nur das Beste will, aber perfektioniert mit dieser Aussage bloß ihre Grausamkeit, die über die Sehnsüchte und Bedürfnisse der Kinder einfach hinweggeht. Ben und seine Schwester stehen damit auf verlorenem Posten zwischen einer erzwungenen Idealisierung der Erwachsenen und dem Unrecht, das diese ihnen antun.

Bens emotionale Zerrissenheit führt den Jungen schließlich in ein Abenteuer, in dem sich sein Alltag und die keltischen Mythen, die er durch die Lieder und Geschichten seiner Mutter kennt, durchdringen. Das Schicksal des Vaters kehrt da in Gestalt eines vor Gram versteinerten Riesen wieder, während die Eulenhexe Macha (eine schöne Hommage an die Hexenschwestern Yubaba und Zeniba aus Hayao Miyazakis „Chihiros Reise ins Zauberland“, 2001) das gefühllose Verhalten der Großmutter auf die Spitze treibt: Mit Hilfe ihrer Eulen macht Macha nicht nur Jagd auf die Geschwister, sondern auch auf sämtliche Emotionen, die sie ihren Opfern raubt und dann in Einmachgläsern hortet.

Bevor Ben Mitgefühl für seine Schwester Saoirse entwickeln kann, muss er sich erst seinem eigenen Schmerz, der tiefen Trauer über den Tod der Mutter, stellen. Dass ihm dies gelingt und er in dieser Welt der Hexen, Riesen und Erziehungsberechtigten nicht verzweifelt, liegt auch daran, dass Ben sich innerhalb eines narrativen Rahmens bewegt, der Trost, Sicherheit und Sinn spendet. Die Welt ist ihm nicht fremd, er kennt sie bereits aus den Erzählungen seiner Mutter.

Ein solches sinnstiftendes Narrativ bietet auch „Die Melodie des Meeres“ selber und erweist sich dabei als einer dieser Kinderfilme, die das Kindsein nicht über eine vom Marketing anvisierte Zielgruppe definieren, sondern als prägende menschliche Erfahrung. Dass Moore sich mit seinen an Bilderbuchillustrationen erinnernden Zeichnungen auch ästhetisch vom Disney-Imperium und seinen zahllosen Epigonen zurückzieht, ist ihm ebenfalls hoch anzurechnen: Dem Feel-Good-Stumpfsinn, der einen mittlerweile in 3D von der Leinwand anspringt und der jedes erdenkliche Produkt mit den immer gleichen Pinup-Prinzessinnen verkauft, setzt Moore eine verhaltene Melancholie entgegen. Wie kraftvoll und lebendig diese trotz aller Anachronismen ist, zeigt sich auch im Vergleich mit dem anderen Animationsfilm, der in diesem Jahr von der Entdeckung des Kummers erzählt: In Pixars „Alles steht Kopf“ werden die Gefühle nicht bloß zu Verwaltern eines menschenähnlichen Kraftwerks rationalisiert; das menschliche Innenleben entspricht hier zudem erschreckenderweise vollkommen Walt Disneys Vision eines magischen Königreichs – nämlich einem sterilen Freizeitpark.

Irrational Man

(USA 2015, Regie: Woody Allen)

Bauchgefühl und Schnapsidee
von Wolfgang Nierlin

Von schwebender Leichtigkeit sind Woody Allens Filme jüngeren Datums. Die Geschichten des überaus produktiven Altmeisters erscheinen wie hingetupft, ohne dramatische Tiefe oder gar bewegende Innerlichkeit. Mit kalkulierter, fast mechanischer Flüchtigkeit …

Von schwebender Leichtigkeit sind Woody Allens Filme jüngeren Datums. Die Geschichten des überaus produktiven Altmeisters erscheinen wie hingetupft, ohne dramatische Tiefe oder gar bewegende Innerlichkeit. Mit kalkulierter, fast mechanischer Flüchtigkeit webt er Ideen zu einem Netz vager Beziehungen, die weder Halt noch Festigkeit haben und die sich ganz schnell verändern können. An der Oberfläche der Dinge dominieren vorläufige, ephemere Möglichkeiten. Deren realistische Echtheit ist nur eine filmische Behauptung, ein Trick der Illusion. Allens Filme konstituieren eine Traumwelt, aufgeladen mit allerlei Romantizismen eines sensiblen, neurotischen und liebebedürftigen Künstler-Egos. In seinem neuen Film „Irrational Man“ wird diesbezüglich ein Philosophieprofessor zur Projektionsfläche. Ziemlich ironisch und doppelbödig, witzig und charmant erzählt Allen darin vom fast perfekten Mord.

Natürlich ist Raskolnikow aus Dostojewskijs „Schuld und Sühne“ dafür die Referenzfigur. Doch bevor es zur Wende im Leben unseres „irrationalen Mannes“ namens Abe Lucas (Joaquin Phoenix) kommt, muss er sich erstmal an der „kontinentalen“ Philosophiegeschichte, und zwar vornehmlich am europäischen Existentialismus von Kirkegaard bis Sartre abarbeiten. Woody Allens augenzwinkernder Diskurs über die Notwendigkeit und Hinfälligkeit der Vernunft, über Kants kategorischen Imperativ und die Freiheit des Handelns liefert den Subplot für einen Helden, der gefangen ist zwischen grauer Theorie, der – so sein Tenor – „verbalen Masturbation“ seines Faches und einer ersehnten, aber verloren gegangenen Praxis des Handelns. Allem vorausgehend und übergeordnet ist jedoch Abes „Krankheit zum Tode“, die ihn zu einer „verlorenen Seele“ macht; diese changiert zwischen romantischer Sehnsucht und Selbstzerstörung, brillanter Intelligenz und Alkoholismus.

Abes Weltschmerz und Lebensüberdruss, die von einer Schreibblockade und Erektionsstörungen begleitet werden, finden ihren schönen Kontrast in der heilen, lichtdurchfluteten und sehr intimen Uni-Welt eines fiktiven amerikanischen Ostküstenstädtchens in Rhode Island. Die Ideale der Lehre und die Geographie des Lebens und Lernens sind in dieser Campus-Idylle, die Darius Khondji in fließenden Kamerabewegungen einfängt, aufs glücklichste vereint. Doch der allseits bewunderte Abe Lucas, der früh seine Mutter und später unter traumatischen Umständen seinen besten Freund verlor, ist zutiefst unglücklich und findet kaum noch Geschmack am Leben. Die Avancen seiner lebenshungrigen Kollegin Rita Richards lassen ihn weitgehend kalt; und in der Verliebtheit seiner ebenso hübschen wie intelligenten Studentin Jill Pollard (Emma Stone) will er zunächst nur jugendliche Schwärmerei sehen.

Doch ein gedehnter Augenblick dieses „turbulenten Sommers“, der von Abe und Jill aus dem Off erzählt wird, verändert alles. In einem Diner belauschen die beiden zufällig das Gespräch am Nebentisch, in dem sich eine geschiedene Frau und Mutter bitter und verzweifelt über einen ungerechten Richter namens Spangler beklagt. Dieser vertritt als Vorsitzender in einem Sorgerechtsstreit mit grober Parteilichkeit die Interessen ihres Ex-Mannes und will diesem die Kinder zusprechen. Noch während Abe Lucas, gleichermaßen aufgewühlt und sinnierend, zuhört, entwickelt er, von einem starken „Bauchgefühl“ beflügelt, Mordphantasien. Ist es etwa nicht geradezu notwendig, durch die Ermordung eines schlechten Richters die Welt ein bisschen besser zu machen?, fragt er sich. Und gibt es diesbezüglich nicht sogar eine moralische Pflicht zum Handeln? Schon durch den in ihm reifenden Plan, der den perfekten Mord zum kreativen Akt stilisiert, gewinnt der Philosophielehrer eine neue, längst verloren geglaubte Lebendigkeit zurück. Und nach der mit kalter Berechnung vollzogenen Tat nimmt sein jetzt rauschhaft gesteigerter Lebenshunger noch zu: Abe fühlt sich erfüllt und befreit und „wiedergeboren“. Er widersteht nicht länger Jills Liebeswerben, blüht sexuell auf und gewinnt, wie er sagt, die Kontrolle über sein Leben zurück.

Einmal wundert er sich im Gespräch mit Jill über die Ironie des Lebens, die sich im ebenso plötzlichen wie unverhofften Wechsel von Dunkelheit und Licht vollzieht. Woody Allen, der demnächst achtzig Jahre alt wird, übersetzt mit gewohnter Beiläufigkeit diesen ambivalenten, nicht zuletzt vom Zufall bestimmten Wechsel in die Ironie seines Films. Dieser mündet zwar in einem schwarzen Abgrund, seine Leichtigkeit, vom luftig-perlenden Jazz des Ramsey Lewis Trios getragen, wird davon jedoch kaum berührt.

Zwischen Himmel und Eis

(F 2015, Regie: Luc Jacquet)

Am weißen Rand der Welt
von Carsten Happe

Unser blauer Planet, so scheint es, ist inzwischen auch cineastisch vollends durchmessen. Erfolgreiche Naturdokumentationen wie „Unsere Erde“ oder „Unsere Ozeane“ haben eine Welle an Epigonen nach sich gezogen, die sich …

Unser blauer Planet, so scheint es, ist inzwischen auch cineastisch vollends durchmessen. Erfolgreiche Naturdokumentationen wie „Unsere Erde“ oder „Unsere Ozeane“ haben eine Welle an Epigonen nach sich gezogen, die sich dermaßen diversifiziert haben, dass mittlerweile auch die „Magie der Moore“ beschworen oder der Wald als „Das grüne Wunder“ deklariert wird. Auch Regisseur Luc Jacquet hat sich hier eingereiht und mit seiner „Reise der Pinguine“ im Jahr 2006 gar den Oscar gewonnen. „Zwischen Himmel und Eis“, dem in diesem Jahr die Ehre des Abschlussfilms in Cannes zuteilwurde, möchte aus diesem Schema ausbrechen, kann sich aber nicht völlig von den Reizen des Subgenres lösen: neben den beeindruckenden Aufnahmen unberührter antarktischer Weiten gibt es die gewohnt pathetische Musik und den bemüht dramatischen Off-Kommentar, hier von Max Moor – den es in diesem Fall überhaupt nicht gebraucht hätte. Schließlich hat der Film einen überaus kompetenten Protagonisten und wäre, wenn sich Jacquet richtig getraut hätte, eine waschechte Forscherbiografie geworden, statt dieses Hybriden, der einer bestimmten Klientel hinterherjagt, die vermeintlich allein die schönen Panoramen goutiert.

Anders als die eingangs erwähnten Bildschirmschoner, die aber dennoch nicht den letzten Schritt wagen, ein reines filmisches Gedicht auf die Leinwand zu werfen wie etwa „Samsara“ von Ron Fricke oder Godfrey Reggios Qatsi-Trilogie, sondern ein dünnes Infotainment-Deckmäntelchen überwerfen, besteht „Zwischen Himmel und Eis“ zu großen Teilen aus Archivaufnahmen, die mit der ersten Expedition des französischen Polarforschers Claude Lorius im Jahr 1955 beginnen. Der Wissenschaftler entdeckte als einer der ersten, dass jede Luftblase, die in meterdicken Eisschichten der Antarktis eingeschlossen ist, eine Probe der Atmosphäre jener Zeit ist, in der sie konserviert wurde. Je tiefer man also bohrt, desto eingehender taucht man in die Klimageschichte des Planeten ein. Lorius gelang es im Laufe der Jahre und der zahlreichen Expeditionen sogar, mehr als 800.000 Jahre der Klimageschichte ans Tageslicht zu holen und somit den anthropologischen Einfluss, insbesondere den intensiven, oder vielmehr invasiven, der letzten 150 Jahre herauszufiltern und eindringliche Warnungen für die Zukunft auszusprechen. Aber während Lorius und sein Team unter größter Anstrengung in immer tiefere Eisschichten vordringt, bleibt die filmische Aufarbeitung dieser jahrzehntelangen Pionierarbeit leider lediglich an der Oberfläche haften. Nie gelingt es dem Off-Text, wirklich zum Kern von Lorius‘ Forschungen vorzustoßen, er erschöpft sich in düster dräuenden Mutmaßungen und Prophezeiungen.

So bleibt das Werk von Claude Lorius nur eine vage Skizze. Seine lebenslange Reise durch die Klimageschichte der Erde, die sich nur äußerst mühsam offenbart, wird an Standardsentenzen eines Galileo-Features verschenkt. Zeitgeschichtlich allerdings bietet „Zwischen Himmel und Eis“ einige bemerkenswerte Aspekte, mit seinen grobkörnigen Archivaufnahmen von Expeditionen aus den 50er und 60er Jahren, der länder- und blockübergreifenden Forschungszusammenarbeit während des Kalten Krieges und darüber hinaus.

Dass Lorius nach knapp 60 Jahren an den Ort – oder besser Nicht-Ort – seiner ersten Antarktisreise zurückkehrt, ergibt einen hübschen dramaturgischen Bogen und ebensolche Bilder einer majestätisch aufragenden Eislandschaft, die dem Untergang geweiht ist, wenn der Mensch weiterhin in diesem Maß den Raubbau an der Natur betreibt. Ein aufklärerischer Ansatz oder gar ein wirklicher Erkenntnisgewinn bleibt jedoch unter der gleißenden Fassade verschüttet und verliert sich im Ungefähren. So entfaltet das sicherlich gut gemeinte und dringend benötigte Plädoyer für den Klimaschutz weit weniger Wirkung als erhofft. Schade um die vertane Chance.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Zwischen Himmel und Eis'.

Remember – Vergiss nicht, dich zu erinnern

(CA / D 2015, Regie: Atom Egoyan)

Der Holocaust-Terminator
von Manfred Riepe

Zev erwacht aus dem Schlaf und ruft nach seiner Frau Ruth. Sie erscheint aber nicht. Beunruhigt verlässt der hilflose Greis sein Zimmer, um sich nach seiner Gattin zu erkundigen. Durch …

Zev erwacht aus dem Schlaf und ruft nach seiner Frau Ruth. Sie erscheint aber nicht. Beunruhigt verlässt der hilflose Greis sein Zimmer, um sich nach seiner Gattin zu erkundigen. Durch die Erweiterung der Perspektive wird zweierlei klar. Der Mann befindet sich nicht zu Hause, sondern in einem Seniorenheim. Eine freundliche Pflegekraft, erklärt dem verwirrten Greis – womöglich zum wiederholten Mal –, seine Frau sei vor kurzer Zeit gestorben.

Dieser Anfang hat es in sich. Wer selbst einen dementen Angehörigen bis zum Tod begleitete, hat spontan Mitgefühl mit diesem orientierungslosen alten Mann, der die Trauer um seine große Liebe nach jedem Erwachen erneut durchleben muss wie beim ersten Mal. Diese Emotion täuscht den Zuschauer aber geschickt über ein nicht unwesentliches Detail hinweg.

Das komplett eingerichtete Zimmer, aus dem Zev, gespielt von Christopher Plummer, heraustritt, verdeutlicht en passant, dass dieser Mann seinen Lebensabend nicht in einem gewöhnlichen Altersheim, sondern in einer ausgesprochen kostspieligen Senioren-Residenz verbringt. Mit der Situierung des sozialen Milieus vermittelt Atom Egoyan in seinem neuen Film ein wichtiges Indiz über die Identität seines Protagonisten. Denn durch die Art und Weise, wie dieser alte Mann in seinem Leben zu Geld gekommen ist, hat er Schuld, schwere Schuld auf sich geladen. Darum geht es in diesem Film.

Dieses Thema wird greifbar, sobald Zev von seinem jüdischen Freund Max Rosenbaum (Martin Landau), der ebenso in der teuren Seniorenresidenz wohnt, einen ominösen Brief erhält. Das Schreiben, dessen Inhalt der Zuschauer erst nach und nach kennenlernt, ist eine Erinnerungsstütze für Zevs letzte Mission. Der Schrieb fungiert wie ein Programm, das der unter einer speziellen Form von Amnesie leidende Alte nach jedem Erwachen aus dem Schlaf neu „laden“ muss, weil sein Arbeitsspeicher nicht mehr funktioniert. Das entspricht vielleicht nicht gerade einer medizinisch realistischen aber durchaus kreativen Thematisierung des Demenzmotivs.

Nicht unoriginell ist auch die Situierung des Grundthemas: Aufs Zevs Arm ist eine Nummer eintätowiert. Er ist, wie wird bald erfahren, ein Auschwitz-Überlebender. In Anspielung an die Komödie „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ spielt Plummer einen 90-Jährigen ohne Gedächtnis, der als verkörperte Erinnerung an die Nazi-Gräuel loszieht, um jenen KZ-Aufseher zu finden, der seine Familie in Auschwitz ermordete. In der ersten halben Stunde empfindet man viel Sympathien für diesen tatterigen Alten, der sich mühsam durchwurschtelt, problemlos eine Waffe kauft und in regelmäßigen Abständen immer wieder die Trauer um seine verstorbene Frau so erleben muss, als wäre sie gerade erst von ihm gegangen. In einer der schönsten Szenen wacht Zev nach einem Unfall orientierungslos in einem Hospital auf. Ein kleines Mädchen muss ihm den Brief vorlesen. Das im Titel angesprochene Thema wird in dieser Situation, in der es auch um die Überlieferung des Holocaust geht, gefühlvoll variiert.

Gelungen ist auch die dramaturgische Entwicklung. Bei den drei Männern gleichen Namens, die Zev nacheinander aufsucht, handelt es sich jeweils nicht um den fraglichen KZ-Aufseher. Da Plummer aufgrund seiner mentalen Defizite so maschinenartig vorgeht wie Arnold Schwarzenegger in James Camerons berühmtem Sci-Fi-Spektakel, verkörpert der 90-Jährige gewissermaßen die Methusalem-Version des Terminators. Beinahe wird er gestoppt. Der Security-Mitarbeiter eines Supermarktes findet in Zevs Handtasche nämlich eine Pistole. Er lässt den Alten aber laufen, weil die „Glock“ den gerührten Wachmann an sein erstes Schießeisen erinnert – eine grimmige Anspielung an den amerikanischen Waffenfetischismus.

Wie viele von Atom Egoyans Filmen läuft auch „Remember“ irgendwann ziemlich aus dem Ruder. In Kanada verschlägt es Zev zu einem Polizisten, dessen marodes Fertighaus am Rande eines lärmenden Steinbruchs steht. Der Vater dieses Gesetzeshüters war ein SS-Killer. Im Hinterzimmer befindet sich ein wahres Horrorkabinett voller Nazi-Devotionalien. Alles original. Als der freundliche Polizist erfährt, dass sein Gast, den er zunächst liebevoll bewirtet, Jude ist, kommt sein ererbter Antisemitismus wie eine Monster-Fratze zum Vorschein. Sogar den deutschen Schäferhund hetzt er auf Zev – dessen Waffe nun zum Einsatz kommt …

Das originell beginnende Holocaust-Drama gerät hier ziemlich rasch zu einem B-Movie. Die thematische Vermittlung zwischen dem Motiv der Erinnerung und der explosiv ausgelebten Rachephantasie funktioniert nicht. Im Gegensatz zu Tarantino, der Trash und Trivialität so gnadenlos überzeichnet, dass die unbequeme Wahrheit sichtbar wird, verflacht Egoyans Film, weil man sich nicht mehr mit der anfangs sympathisch gezeichneten Figur identifiziert. Zur Phalanx der nicht überzeugenden Nebenfiguren zählen Bruno Ganz und Jürgen Prochnow, die unter einer grotesken Schicht von Latex und Schminke agieren. Problematisch erscheint vor allem die früh absehbare Schlusspointe, die den interessant beginnenden Film rückblickend entzaubert. Wie in den meisten früheren Filmen Egoyans tritt auch in „Remember“ das allzu kalkuliert wirkende Moment einer nicht wirklich durchdachten Konstruktion in den Vordergrund. Schade.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Remember'.

How to change the world

(CA / GB 2015, Regie: Jerry Rothwell)

Bewusstseinsbomben und mediale Lauffeuer
von Wolfgang Nierlin

“Lege eine Mindbomb”, lautet die Maxime einiger junger Öko-Aktivisten aus Vancouver, die sich im Herbst des Jahres 1971 zusammenfinden, um einen geplanten Atombombentest der USA vor der Küste Alaskas zu …

“Lege eine Mindbomb”, lautet die Maxime einiger junger Öko-Aktivisten aus Vancouver, die sich im Herbst des Jahres 1971 zusammenfinden, um einen geplanten Atombombentest der USA vor der Küste Alaskas zu stören. Und so startet die bunte Gruppe aus Umwelt-Freaks, angehenden Wissenschaftlern und Journalisten mit einem kleinen Fischkutter namens „Phyllis Cormack“ bei schwierigen Wetterbedingungen in Richtung der Aleuten-Insel Amchitka. Denn es gilt, „zur rechten Zeit am richtigen Ort“ zu sein. Auch wenn die Aktion aus verschiedenen Gründen scheitert, so markiert sie doch die Geburtsstunde der Umweltschutzorganisation Greenpeace in ihrem Kampf, die Welt zu verändern. Schließlich hat sich in der Zwischenzeit an Land eine breite Unterstützergruppe formiert, die die Ereignisse anders bewertet. Die „Bewusstseinsbombe“ hat gewissermaßen gezündet.

Dass für das Image einer Kampagne „eine gute Show“ und ein „mediales Lauffeuer“ nötig sind, davon ist vor allem Bob Hunter überzeugt. Eher unfreiwillig wird der ebenso intelligente wie charismatische junge Mann, der ein geplantes Kunststudium ausschlägt, um mit unkonventionellen Mitteln – aber auch als Journalist der Vancouver Sun – gegen das „Schreckgespenst“ einer globalen Zerstörung zu kämpfen, zum Anführer der „psychedelischen Flotte“. „Bob lebte seine Ideen“, sagt einer seiner Mitstreiter in Jerry Rothwells Dokumentarfilm „How to change the world“, der sich mit den Anfängen der Non-Profit-Organisation beschäftigt; und dafür neben Interviews mit den Gründungsmitgliedern vor allem eine Vielzahl an Originalzeugnissen verwendet, die aus den Archiven von Greenpeace stammen. Schließlich war und ist die Bilderproduktion ein wichtiges strategisches und propagandistisches Mittel der mittlerweile internationalen Organisation, die in ihrem Namen die Friedens- mit der Umweltbewegung vereint.

„Lass‘ Worten Taten folgen“, lautet eine andere Regel der Gruppe, mit denen Rothwell seinen ebenso informativen wie bewegenden Film in einzelne Kapitel gegliedert hat. Wie die gefährlichen Interventionen von Greenpeace einen dramatischen Spannungsbogen erhalten und die Kamera gleichsam „zur Waffe“ wird, zeigen die schockierenden Bilder vom brutalen Geschäft einer russischen Walkampfflotte, deren mörderisches Tun das Meerwasser blutrot färbt und aus der „Vostock“ ein „schwimmendes Schlachthaus“ macht. Nicht weniger tierquälerisch und lebensverachtend sind die ökologischen Verbrechen der neufundländischen Robbenjäger. Doch gerade in der Auseinandersetzung mit diesen kommt es auch zum Konflikt innerhalb der Bewegung über die Formen zivilen Ungehorsams und den Grad der Militanz. Dass mit dem Richtungsstreit auch interne Machtkämpfe der einzelnen Egos um Führungsansprüche verbunden sind, thematisiert der Film ebenso wie den Rückzug Bob Hunters. „Ökologie bedeutet, alles ist im Fluss“, sagt dieser einmal mit Blick auf die „Lektionen der Natur“. Und an anderer Stelle wird Allen Ginsberg zitiert: Man müsse die Macht loslassen, ehe sie gefriere.

Bridge of Spies – Der Unterhändler

(USA 2015, Regie: Steven Spielberg)

Blicke zur Brücke
von Drehli Robnik

Die Glienicker Brücke: Als bisweiliger Berliner Agentenaustauschort zwischen Ost und West ist sie, so heißt es, ein Mythos des Kalten Krieges. So sagt es der lokal- und poulärhistoriografische Strang im …

Die Glienicker Brücke: Als bisweiliger Berliner Agentenaustauschort zwischen Ost und West ist sie, so heißt es, ein Mythos des Kalten Krieges. So sagt es der lokal- und poulärhistoriografische Strang im PR-Diskurs, der zum Kinostart von Steven Spielbergs 'Bridge of Spies – Der Unterhändler' einiges an Geschichtsauratik zu versprühen trachtet. Zwar ist nach diesem mythischen Objekt keine tiefsinnige irische Rockband benannt wie nach dem US-Spionageflugzeug U2, dessen Abschuss über der Sowjetunion für die einzige Actionszene (im heute geläufigen Sinn) in 'Bridge of Spies' sorgt. Aber die Brücke ist Ort des winternächtlichen Showdowns, datiert auf Februar 1962: In Spannungschinderei zu Marschtrommel-Score münden dann knappe zwei Stunden des Tricksens, Taktierens und prekären Paktierens.

Held der faktenbasierten Story ist Tom Hanks als New Yorker Versicherungsanwalt. Die Tauschmission Sowjetspion gegen U2-Pilot fällt ihm zu; er ist zunächst wenig begeistert (wie schon bei einem im Film vorgängigen, ihm zugefallenen anwaltlichen Auftrag, dazu gleich mehr); aber er erfüllt, vielmehr übererfüllt die Mission, indem er eigenmächtig – durchaus gegen die eng definierten Befehle der CIA – einen in der DDR inhaftierten US-Studenten mit befreit. Also: This time, the mission is the bridge. Nein, … is the man. Nein, … is two men! Jedenfalls befähigte ein solches Ethos – Bereitschaft, die Aufgabe als unteilbare und im Grunde unerfüllbare auf sich zu nehmen – vor fast zwanzig Jahren einen anderen Tom Hanks-Helden in einem anderen Spielberg-Film, sowohl den Mann zu retten als auch die Brücke zu halten. (Ryan hieß der Mann, und die Brücke war in Nordfrankreich; die fiesen Uniformträger waren auch deutsch.)

Hanks also als Anwalt: Ein unwahrscheinlicher Overachiever mit galgenhumorigem Selbstironiegrinsen, Hundeblick und Dauerlaufnase im Knautschgesicht dackelt durch ein per Mauerbaumassenmisshandlungspanorama (als wären’s pharaonische Sklavenheere in einem Bibelschinken – weiter wollen wir die Moses-Anspielung nicht treiben) eingeführtes Ostberlin. Alles voller Schnee, Trümmer, unbehaglicher Räume und Bürokratiekäuze, alles in Grau. Der Stationenlauf der Meetings und Besprechungen (Drehbuchmitarbeit: die Coen-Brüder) zieht sich in Gediegenheit – als gelte der Filmtitel einer Partie Bridge bei einem guten Glaserl.

Stärker ist das pathetische Justizdrama der ersten Halbzeit: Hanks rettet den 1957 in New York verhafteten KGB-Spion Rudolf Iwanowitsch Abel (gut phlegmatisch: Mark Rylance), dessen Austausch zu vermitteln er ein paar Jahre später aufgerufen wird, vor der Hinrichtung. Er tut das, indem er verfassungspatriotisch auf die Rechte des Angeklagten pocht. Während rundum im Land die Panik vor dem atomar hochgerüsteten Systemkonflikt-Feind die (auch televisuelle) Öffentlichkeit prägt und die vorherrschende Meinung die Todesstrafe für den Sowjetagenten als gesichert annimmt, legt der Anwalt Einsprüche ein: Die Verhaftung seines Mandanten sei auf rechtsstaatlich nicht einwandfreie Weise zustande gekommen. (Allerdings ist sie auf filmisch einwandfreie Weise zustandegekommen – als Choreografie von rituell anmutenden Bewegungen und Mikrogesten anonymer Körper in urbanen Räumen, die dem Film zu seinem Auftakt einen fast wortlosen halbautonomen Kurzfilm beschert.)

Jedenfalls: Der von Hanks gespielte Anwalt – wie gesagt: Versicherungswesen ist sein Gebiet, daher seine Distanz zur martialischen Stimmung der Gesellschaft, daher auch seine Befähigung zur tauschhandelnden Schadensabwicklung und -teilwiedergutmachung – nimmt den Verteidigungsauftrag zunächst widerstrebend an. Dieser Auftrag ist zunächst bloß symbolisch gemeint: Ein lupenreines Verfahren soll den Sowjets keine Gelegenheit zur weltweiten Propaganda geben. Aber Hanks macht auch in diesem Fall mehr draus (obwohl in der allgemeinen Kalte-Kriegs-Stimmung seine Familie ihn mit Skepsis und die Öffentlichkeit ihn mit Verachtung sieht, bis hin zum nächtlichen Steinwurf durchs Wohnzimmerfenster): Ein zunächst als bloße Formalgeste gedachter Beistand erhebt sich rettend ins Existenzielle, weist staatlichen Anspruch auf Macht über das Leben in die Schranken.

Da klingt ein Echo des Tauschtricksers Oskar Schindler nach, zumal inmitten motivischer Spielbergklassik (zu angejazzter Musik, die diesmal nicht von John Williams stammt, sondern von Alfred Newman): Köpfe, auf die Glanzlicht fällt, Entscheidungskammern, in die Sonnenlicht fällt. Und dann noch alle Arten von Spiegelungen: zwischen Rückspiegeln und Vorzimmerspiegeln, Münzen als Geheimdaten- bzw. Suizidgift-Versteck, Selbstporträt und Hanksporträt aus hobbymalender Agentenhand, Subway zur Versammlung argwöhnender amerikanischer Blicke und S-Bahn zur Versammlung gewohnt arger ostdeutscher Anblicke, Glienicker Brücke und Brooklyn Bridge. Letztere – von wegen rechtsstaatliche Kritik der Mittel im unerklärten Krieg – kommt gleich nach Filmbeginn ins Bild, mit einem Plakat an ihren imposanten Säulenfüßen, das als Werbe-Logo groß den Nachnamen einer mit der uneindeutigen Teilrehabilitierung von Folter als Anti-Terror-Praxis assoziierten Filmemacherin trägt, nämlich den Schriftzug 'Bigelow'.