Magical Girl

(ES 2014; Regie: Carlos Vermut)

Macht des Irrationalen

Fast nichts ist vorhersehbar in Carlos Vermuts verstörend abgründigen Film “Magical Girl”, der 2014 beim Festival in San Sebastián mit der Goldenen Muschel ausgezeichnet wurde. Weil die szenisch gebaute Handlung und damit die erzählte Geschichte den Figuren und ihrer individuellen Logik folgen, wissen wir immer nur das, was ihre Subjektivität uns mitteilt. Schritt für Schritt begleiten wir sie in ihre persönliche Dunkelheit, ohne diese jemals zu durchdringen. Dabei müssen wir uns zu ihren Wünschen, Entscheidungen und Geheimnissen immer wieder neu in Beziehung setzen. Vermut, der zunächst als Comic-Zeichner bekannt wurde, inszeniert in seinem zweiten Spielfilm (nach „Diamond Flash“ von 2011) einen sehr kalkulierten Wechsel aus präzisen Blickrichtungen und offener, elliptischer Erzählweise. Was zunächst linear erscheint, wird später (auch zeitlich) aufgebrochen beziehungsweise aufgefächert in verschiedene Erzählstränge, die sich schließlich berühren, miteinander interagieren und letztlich eine große Kreisbewegung beschreiben.

Das Ganze und seine Teile gliedern sich mit einer gewissen formalen Strenge wiederum in drei Kapitel, ein Triptychon mit den Titeln „Welt“ (Mundo), „Teufel“ (Demonio) und „Fleisch“ (Carne), den – nach katholischem Katechismus – drei Feinden der Seele. Gerahmt und gespiegelt werden diese dunklen Leidenschaften und Triebe, die unter anderem von der Macht des Geldes motiviert werden, vom ewigen Konflikt zwischen Gefühl und Verstand. In „Magical Girl“ wird dieses Dilemma einmal als besonderes Problem der spanischen Mentalität apostrophiert, die demnach – als Beispiel wird der Stierkampf angeführt – in dieser Uneindeutigkeit gefangen ist. Schon der Prolog, in dem ein Lehrer-Schülerin-Verhältnis als traumatische Erfahrung verdichtet wird, etabliert diesen Konflikt. Die rationale Logik der Mathematik trifft hier auf den aufmüpfigen Widerspruch irrationaler, ja geradezu magischer Kräfte. Denn die junge Barbara (Marína Anduix) lässt vor den Augen ihres Lehrers Damián (José Sacristán) einen diesen diskreditierenden Zettel verschwinden. Für den Mathematiker ist dies ein Schock, von dem er sich nicht mehr erholen wird.

Auch die 12-jährige, an Leukämie erkrankte Alicia (Lucía Pollán) wird sich wohl nicht mehr erholen. Sie träumt davon, in wechselnde Identitäten zu schlüpfen und wünscht sich dafür das sündhaft teure Kleid ihrer Anime-Heldin Yukiko. Ihr alleinerziehender Vater Luis (Luis Bermejo), der sich mit rührender Aufmerksamkeit um seine Tochter kümmert, kann sich eine solche Ausgabe allerdings nicht leisten. Weil der Literaturlehrer seit einem halben Jahr arbeitslos ist, verkauft er seine Bücher einem Antiquar „nach Gewicht“. Doch bildet in Vermuts Film die soziale Krise der spanischen Gesellschaft nur den Resonanzraum für die persönlichen Abstürze der Figuren. Um an Geld zu kommen, bricht Luis beinahe in einen Juwelierladen ein, doch dann wird sein Schicksal verknüpft mit demjenigen der mittlerweile erwachsenen, psychisch kranken Bárbara (Bárbara Lennie), die mit dem ebenso wohlhabenden wie dominanten Psychiater Alfredo (Israel Elejalde) in einem unguten Abhängigkeitsverhältnis lebt. Unter dem Decknamen Pedro wird Luis Bárbara erpressen, die sich dafür wiederum auf qualvolle Weise bei einem reichen Sadisten prostituieren wird.

Carlos Vermuts hintergründiger, die Imagination anregender Film zeigt zunächst, wie aus einer ersehnten Wunscherfüllung ein Verbrechen erwächst und wie Abhängigkeitsverhältnisse und Machtmissbrauch zusammenhängen. Im Weiteren begleitet der ungewöhnliche, immer wieder überraschende Film – ein Vertreter des ‚anderen spanischen Kinos‘ – seine gebrochenen Figuren auf ihrem tragischen Weg in eine sukzessive Selbstzerstörung, in die sie regelrecht getrieben werden und die unausweichlich erscheint. Die geheimnisvolle, autoaggressive Bárbara, die sich selbst verletzt, um entbehrte Nähe zu spüren, trifft dabei ausgerechnet auf Luis, der sich einmal wünscht, unsichtbar und unberührbar zu sein. Die Macht des Irrationalen findet ihren mörderischen Vollstrecker schließlich in dem straffällig gewordenen Mathematiker (und Puzzle-Spieler) Damián, der sich in der Unordnung und Unvollständigkeit der wirklichen Welt fremd fühlt. Von Bárbara, mit der ihn ein traumatisches Verhältnis verbindet, wird er als düsterer Schutzengel erkannt und erkoren. In Carlos Vermuts konzentriert gezeichnetem Kosmos aus Verbrechen und Schuld, Einsamkeit und Untergang wird auf beunruhigende Weise der gnadenlose Rächer zum Zauberer: „Zuerst ist etwas da, dann ist es verschwunden“, lautet seine magische Formel.

Benotung des Films :

Wolfgang Nierlin
Magical Girl
(Magical Girl)
Spanien 2014 - 127 min.
Regie: Carlos Vermut - Drehbuch: Carlos Vermut - Produktion: Pedro Hernández Santos, Álvaro Portanet, Amadeo Hernández Bueno - Bildgestaltung: Santiago Racaj - Montage: Emma Tusell - Musik: Johann Sebastian Bach, Manolo Caracol - Verleih: Spanisches Filmfest Berlin - Besetzung: José Sacristán, Bárbara Lennie, Luis Bermejo, Israel Elejalde, Lucía Pollán, Marina Anduix
Kinostart (D): 17.03.2016

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt3089326/
Link zum Verleih: http://www.sffberlin.de/magical-girl/
Foto: © Spanisches Filmfest Berlin