Archiv der Kategorie: Filmkritik

Big Bad Man

(USA 1989, Regie: Carl Schenkel)

Tiefenentspannt durch Jamaika
von Nicolai Bühnemann

So viel vorab: „The Mighty Quinn“ ist mitnichten ein schlechter Film. Dass er für mich trotzdem eine – wenn auch eher kleine – Enttäuschung darstellt, liegt einzig und alleine am …

So viel vorab: „The Mighty Quinn“ ist mitnichten ein schlechter Film. Dass er für mich trotzdem eine – wenn auch eher kleine – Enttäuschung darstellt, liegt einzig und alleine am Namen seines Regisseurs: Carl Schenkel. Die Begeisterung, die bei den drei anderen Filmen, die ich von ihm kenne, Besitz von mir ergriff, stellte sich hier dann doch nicht so recht ein.

Dabei sieht man dem Film durchaus an, dass sein Regisseur der begnadete Stilist ist, den man in Schenkel spätestens seit „Abwärts“ erkennen musste, der sich aber auch schon in den unendlich roughen, rohen Bildwelten von „Kalt wie Eis“ ankündigte. Die Einführung des Protagonisten ist eine Wucht: Die Kamera gleitet von seinen Füßen, überlebensgroß im Bild, an seiner verdammt schicken weißen Uniform empor und kommt schließlich auf dem Gesicht Denzel Washingtons zum Stehen, dessen Augenpartie von einer schwarzen Ray Ban-Sonnenbrille verdeckt wird. Wenig später wird von der Hochzeitsparty, auf der Quinn (Washington) sich zu Beginn befindet, und die das Geschehen des Films unschwer (und schon an den schönen Credits in Schwarz-Gelb-Grün) erkennbar in Jamaika verortet, auf den Leichenfund im Whirlpool einer Villa geschnitten. Aus dem Off erhallt dazu ein Frauenschrei, der sich nach einem weiteren Schnitt als Teil der Vocals des Vorspann-Songs entpuppt: „Guess who’s coming to dinner, Natty Dreadlocks“.

Die Figur Quinn, der aufrechte Polizist, der sich vor den Aufwartungen von Frauen verschiedener Hautfarbe kaum retten kann, der sozial tief in der Community, in der er lebt und arbeitet, verwurzelt ist (so verbindet ihn zu dem Kleinkriminellen Maubee (Robert Townsend), der bald unter Mordverdacht gerät, eine lebenslange Freundschaft) und dem bald klar wird, dass hinter dem Mordfall, in dem er ermittelt, mehr steckt als der erste Blick offenbart, es sich um ein großes (und internationales) Komplott handelt, hat ihre Wurzeln eher im in den Siebzigern florierenden Blaxploitation-Kino als in dessen weißen Vorbildern um James Bond und Co. Nur leider wird der Film dieser Referenz ans Genre-Kino der ja auch gerne mal etwas härteren Gangart kaum gerecht, bleiben Film und Figur hier relativ brav, was sich zum Beispiel schon in der strikten Monogamie Quinns offenbart. Der ist nämlich ein familiy man, der sich, auch wenn seine Ehe den ganzen Film über in einer ziemlichen Krise befindet (wie es Polizistenehen im Film nun einmal so an sich haben – immer aus den gleichen Gründen), den Verführungsversuchen verschiedener Frauen widersteht. Shaft wäre das nicht passiert.

Das Jamaika, in dem der Film spielt, bleibt eine überwiegend touristisch gefärbte Welt aus Reggae und Rum, Joints und Dreadlocks, Bounty-Stränden und farbenfroher Kleidung. Es ist nicht so, dass der Film sich dabei gänzlich unreflektiert geben würde. Die koloniale Vergangenheit wird nicht nur in einem Dialog zwischen Quinn und seinem Sohn explizit angesprochen, sie lebt auch in der Verteilung des Wohlstands zwischen Schwarzen und Weißen fort. Auch wird der Wert, den die Karibikinsel für die Tourismusbranche hat, in einem Dialog verhandelt, in dem ein Politiker von Quinn verlangt, die kriminellen Machenschaften möglichst schnell einzudämmen, damit die Touristen- und mit ihnen einhergehenden Geldströme nicht versiegen mögen. Dennoch ist das Problem von „The Mighty Quinn“ auch hier seine Geschmackssicherheit, dass er zwar, das belegt auch der deutsche Titel „Big Bad Man“, auf Exploitationvorbilder verweisen, aber mitnichten selbst Exploitation sein will. Ein Vergleich, der zeigen könnte, was das für ein Film sein könnte, wenn er denn wollte bzw. es seine Produktionsverhältnisse zulassen würden, ist der zu Ugo Liberatores leider vollkommen vergessenem „Bora Bora“ von 1968, der den Exotismus seiner Südsee-Postkarten-Panoramen in Cinemascope und Technicolor nicht nur gnadenlos ausstellt, sondern auch durch die Düsternis seines Plots konterkariert, durch den die kolonialistischen Neurosen und Phantasmen spuken, dass es nur so eine Art hat. „The Mighty Quinn“ bleibt dagegen einfach nur nett, was im Angesicht der Dringlichkeit, die Schenkels Vorgänger auszeichnete, eben etwas wenig ist.

Allerdings: Als kleine Utopie hat dieses Jamaika dann durchaus auch seinen Wert. Von der Tiefenentspannung, die diese Insel und ihre Bewohner hier auszeichnet, wird der ganze Film angesteckt, in dem es zwar etwas Action, Ehekrisen und böse weiße Ausbeuter gibt, der sich davon aber mitnichten aus der Ruhe bringen lässt, sondern lieber die Füße hochlegt, den tollen Reggae-Soundtrack aufdreht und einen Schluck aus der Rumflasche nimmt. Auf welcher Seite des Gesetzes man hier landet, ist auch ein bisschen eine Sache des Zufalls, was auch bedeutet, dass es einen nicht daran hindert, Freunde zu bleiben. So wie Quinn und Maubee. So wie der Gefangene in der Zelle des örtlichen Polizeipräsidiums, der mit den Beamten, die ihn bewachen, gemeinsam scherzt und auch mal ein Bier von ihnen abbekommt.

T2 Trainspotting

(GB 2017, Regie: Danny Boyle)

Booooooooooy
von Ricardo Brunn

Am Ende von „Trainspotting“ (GB 1996; R: Danny Boyle) wird Junkie Mark Renton (Ewan McGregor) einer von uns. In London angekommen läuft er, eine Sporttasche voller geklautem Geld über die …

Am Ende von „Trainspotting“ (GB 1996; R: Danny Boyle) wird Junkie Mark Renton (Ewan McGregor) einer von uns. In London angekommen läuft er, eine Sporttasche voller geklautem Geld über die Schulter geworfen, zu den Klängen von Underworlds Technohit „Born Slippy“ über die Waterloo Bridge einem neuen Lebensabschnitt, einer neuen Zeit entgegen, sagt ja zum pervers großen Fernseher, der Familie, dem Auto und der Waschmaschine. Im Hintergrund liegt, vom Nebel verhangen, Londons Finanzzentrum. Schnitt auf Marks grinsendes Gesicht, das sich auf den Zuschauer zubewegt, unscharf wird und sich schlussendlich auf der Leinwand auflöst. „Trainspotting“ erzählt in seinem finalen Moment vom Ende einer Popkultur der Verweigerung und des Aufbegehrens und ist damit einer der visionärsten Filme einer vergeudeten Dekade.

Seit den Swinging Sixties gaben sich mit Beat, später Punk und bald darauf Post-Punk die alltagskulturellen Rebellionen einer nach Identität suchenden Jugend die Klinke in die Hand. War ihnen mal mehr, mal weniger auch die politische Opposition eingeschrieben, schwang im Ende der 1980er Jahre entstehenden Techno die Hingabe an den unhinterfragten Konsum bereits mit. Die Agonie der Thatcher-Reagan-Ära bekam einen monotonen Puls verpasst. Und die Rebellion – deren letzter Protagonist Kurt Cobain dem Selbstmord von vornherein nie hat entrinnen können, weil er miterleben musste, wie jede seiner Gesten vom Kapitalismus vereinnahmt und zum Klischee wurde – löste sich mit dem Fall der Mauer und der Love-Parade-Parole „Friede, Freude, Eierkuchen“ endgültig auf. Techno ist die letzte Erfindung der Popmusik und zugleich ihre Klammer, voller trauriger Beats, die in der Dunkelheit des Clubs ein Gefühl der Zusammengehörigkeit versprechen. Es ist die Musik der Vereinzelung in der Masse und des Jasagens. War das Heroin in „Trainspotting“ die letzte Gelegenheit zum Jasagen Nein zu sagen, wird Ecstasy in den 90ern die Droge der Jasager. Vollgepumpt mit Möglichkeiten und Versprechen schwappte die Welt schließlich aufgedreht und übersättigt ins 21. Jahrhundert, welches in der digitalen Revolution, den Arbeitsmarkt- und Sozialreformen und der damit begünstigten Flexibilisierung und Optimierung des Einzelnen das Jasagen endgültig kultivierte und als Imperativ in Form von „Yes, we can!“ zum Slogan verarbeitete.

Und heute? Heute bringt „T2 Trainspotting“ den unter anderem aus dieser Entwicklung resultierenden rasenden Stillstand unserer Tage mal eben in der ersten Einstellung direkt auf den Punkt. Sie zeigt Mark Renton, mittlerweile 46 Jahre alt, auf einem Laufband, dem zentralen Symbol des neuen Jahrtausends. Um ihn herum seinesgleichen. Selbstbespiegelung der Optimierungswilligen im Hamsterrad der Fitnesshölle. Laufen auf der Stelle. Ein körperlicher Zusammenbruch und anschließende Erinnerungen veranlassen Mark zu einer Reise in die Heimat. Dort hat sich scheinbar nicht viel getan, was Regisseur Danny Boyle zur Wiederholung der Ereignisse inspiriert. Mit geklautem Geld ist Mark ins neue Jahrtausend gestartet. Das konnte nicht gut gehen. Und nicht nur die Bankenkrise bestätigt dies. Am Anfang stand eine Möglichkeit, am Ende der Verrat. Darum geht es auch in Teil zwei wieder. Diesmal wird die EU mit ebenjenem lockerflockig instrumentalisierten „Yes, we can!“ aus Marks noch immer so schelmisch grinsenden Gesicht um Fördergelder gebracht. Konstant rekurriert die Erzählung dabei auf den ersten Teil, auf die sprichwörtlichen Schatten der Vergangenheit. Von der Verfolgungsjagd durch die Straßen über den Showdown mit Begbie werden die alten Konflikte nahtlos wieder aufgenommen, ganz so, als hätte es die vergangenen 20 Jahre nie gegeben. War „Trainspotting“ radikal in die Zukunft gedacht, dreht Doyle die Bewegungsrichtung in „T2“ kurzerhand um und lädt das Publikum zur Reflexion über den eigenen Lebensentwurf und -verlauf ein.

Für „Sick Boy“, Mark, „Spud“ und Begbie ist die Sache klar. Alle Möglichkeiten sind Versprechen geblieben. Das Jasagen hat nichts genützt. Viagra wird zur härtesten Droge und das Surreale aus dem ersten Teil ist verschwunden. Der Drogenkonsum und der Preis, den es im Gegenzug zu zahlen galt, bekommen keine exstatischen und miteinander konkurrierenden, sondern nur noch blasse Bilder aus der Vergangenheit zugeschrieben. „You’re a tourist in your own youth“, belehrt Simon seinen Kumpel Mark, als sie einen Ausflug an einen altbekannten Ort machen und verlassen am Bahnsteig stehen. Die grässliche Nüchternheit nach einer durchzechten Nacht, Enttäuschung und ein Gefühl der Erschöpfung im Angesicht der „politischen und kulturellen Sterilität“ (Mark Fisher) unserer Tage bilden in „T2“ die treibende Kraft. Ab und an drängt „Born Slippy“ unscharf aus der Erinnerung dazwischen, mahnt an die Möglichkeiten, die zum Verrat wurden, weil sich Fortschritt heute mit Repetition, Upgrade und Update begnügt.

„T2“, dessen verkürzter Titel bereits offensiv mit der Lücke als Leere spielt, erzählt Geschichte als beständige Wiederholung des Immergleichen in minimal abgewandelter Form, weshalb die neuen Musikstücke, die Doyle in den Film einbindet, wie die alten klingen. „High Contrast“, „Fat White Family“, „Wolf Alice“ könnten in ihrer Einförmigkeit, in ihrer feigen Anbiederung an die Vergangenheit genauso gut aus einer Playlist der 80er oder 90er Jahre stammen, zu denen heute auf jeder Geburtstagsfeier ausgelassen getanzt wird, während in der Küche nebenan wie selbstverständlich gekokst wird. Großartig deshalb die Szene, in der die alte Junkiegang im Club zugedröhnt zu Queen tanzt, die das Radio besingen. Ringsherum nur Kids, die Radios wahrscheinlich bloß noch als Relikte längst vergangener Tage wahrnehmen und keine Verbindung zu der Musik haben, die da gespielt wird. Aber mitsingen können sie alle. Alles fließt hier ineinander.

Nur am Schluss wird es noch einmal surreal, wenn Mark sich von uns verabschiedet. Diesmal geht er jedoch nicht auf uns zu, sondern entfernt sich mit rasender Geschwindigkeit, verloren im Schwarz der Leinwand. Renton’s coming home, is coming home, die Enttäuschung darüber, dass nichts so geworden ist, wie es hätte sein können, umarmend. Am Ende steht der Verrat.

Chuckys Baby

(USA, RO, GB 2004, Regie: Don Mancini)

Glenda / Glen und der Rest der Bande
von Nicolai Bühnemann

Schon der Vorspann ist toll. In der ersten Einstellung fließt etwas über das Bild, das man für Milch halten könnte, doch es offenbart sich schnell, dass es sich um Sperma …

Schon der Vorspann ist toll. In der ersten Einstellung fließt etwas über das Bild, das man für Milch halten könnte, doch es offenbart sich schnell, dass es sich um Sperma handelt. Dass die CGI-Animationen von Spermien auf ihrem Weg zur Eizelle in den, mein Gott!, dreizehn Jahren, die dieser Film nun auch schon wieder auf dem Buckel hat, nicht wirklich vorteilhaft gealtert sind, tut der guten Idee dahinter keinen Abbruch. Auf dem Weg durch einen weiblichen Unterleib verbinden Match Cuts die Eizelle mit einem Auge, Chuckys Auge. Film als Befruchtung eines (männlichen) Auges. Schon hier reproduziert der Film nicht einfach das alte Machtverhältnis aus männlichem Blick und weiblichem Bild, sondern macht klar, dass das alles ein bisschen komplizierter ist.

Der erste „Child’s Play“ von 1988, zu dem Don Mancini die Story erdachte und auch am Drehbuch mitschrieb, war ein sehr effektiv, aber leider auch sehr perfide mit Kinder- und Mittelschichtsängsten spielendes Stück Genrekino. Je prekärer die weiße Mittelschicht, deren Perspektive der Film einnimmt, selbst ist, umso mehr soll sie Angst haben vor einem wie ein Krebsgeschwür in den Städten wuchernden Subproletariat, dessen absolute Verrohung in der Figur des Serienkillers Charles Lee Rays (Brad Dourif), dem es zu Beginn gelingt, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, indem seine Seele sich per schwarzer Magie aus seinem sterbenden Körper in den einer Puppe flüchten kann, nur eine konsequente Zuspitzung findet. Dieses Konzept ging damals so gut auf, dass bislang fünf Fortsetzungen folgten. Die Drehbücher zur Reihe stammen durchgehend von Mancini, was bedeutet, dass er auch das Revival der Serie durch „Bride of Chucky“, 1998 und somit sieben Jahre nach dem vorangehenden dritten Teil, verantwortete, das das Franchise für queere Lesarten öffnete. Daran knüpft „Seed of Chucky“ an, mit dem Mancini sein Regiedebüt vorlegte.

Gleich zu Beginn gibt er sich dabei als großer Stilist auf den Spuren von Hitchcock, De Palma und Carpenter (oder vielleicht genauer: auf den Spuren von De Palma und Carpenter, die ihrerseits auf den Spuren Hitchcocks wandelten). Jedenfalls beginnt der Film – wie „Halloween“, wie „Blow Out“ – mit einer langen Plansequenz in der subjektiven Perspektive der Titelfigur, in der das elegante Gleiten der Kamera immer wieder recht ruppig unterbrochen wird, gar nicht so elegante Umwege gegangen werden müssen. Die Ermordung eines Ehepaares, die diese Szene zeigt, endet unvermittelt damit, dass sich der kleine Killer in die Hose pisst – nur um sich dann als Albtraum des Protagonisten herauszustellen, aus dem er in den Albtraum hinein erwacht, der sein wahres Leben ist. Als vermeintliches Waisenkind fristet er ein tristes Dasein als Bauchrednerpuppe eines ziemlich fiesen Rocker-Rowdys in England.

Dann eröffnet der Film noch einen zweiten Schauplatz auf einem zweiten Kontinent. Auf einem Friedhof meucheln Chucky und Tiffany, das aus „Bride“ bekannte und schon dort ziemlich zerrüttete Mörderpuppenpärchen, auf gewohnt kreative Weise den Weihnachtsmann höchst persönlich bzw. eine seiner diversen – wie sich in einem Handygespräch mit seiner Freundin offenbart, mit allzu weltlichen Problemen belasteten – Inkarnationen. Doch wieder stellt sich das Geschehen als Illusion heraus, diesmal als Horrorfilmdreh, also als einer unserer synthetischen kollektiven Albträume. Mit diesem Twist gesellt sich zu den vielen filmischen Bezügen der ersten Einführungsszene noch der zu Wes Craven und namentlich zu seinem Meta-Slasher-Sequel „New Nightmare“, dem siebten Teil der „Nightmare on Elm Street“-Reihe von 1994.

Also befinden wir uns fortan in einer Meta-(Film-)Realität in Hollywood, wo gerade die killing spree von Chucky und Tiffany verfilmt wird und, nun ja, Hollywood-Stars wie Jennifer Tilly und der Rapper Redman sich selbst spielen. Die beiden Erzählstränge vom Beginn finden per Fernseher und Flugzeug zusammen und bald darf der Sohn (oder: die Tochter, dazu später mehr) seine Eltern wiederum zu blutrünstigem Leben erwecken, woraufhin Special Makeup Designer Tony Gardner (als er selbst) sehr spektakulär und sehr buchstäblich den Kopf verliert. Und wie immer trachten die Puppen danach, endlich wieder in einen menschlichen Körper zu gelangen, wofür sie sich das Pärchen Tilly und Redman auserkoren haben. Sie steckt in einem – wohl ziemlich chronischen – Karierretief und will es sich zunutze machen, dass er gerade seine Ambitionen als Regisseur entdeckt hat. Und wie könnte sich die durch lesbischen Filmsex bekannt gewordene Darstellerin besser neu erfinden als in der Rolle der Jungfrau Maria in dem Bibelfilm, den er drehen will. Beim Vorsprechen ist der Rapper zumindest von ihren äußeren Attributen überzeugt, was sie durch karrierefördernden Sex ausnutzen will. Dabei jedoch hegen Chucky und Tiffany ihren eigenen Plan, für den sie einen dritten Körper für ihr Kind benötigen, das, da das für Puppen charakteristische fehlende Genital eindeutige Schlüsse nicht zulässt, er für einen Jungen hält und Glen nennt, während sie davon überzeugt ist, dass es sich um ein Mädchen, Glenda, handelt.

Mancinis ziemlich durchgeknalltes Drehbuch tut gut daran, sich mit dem metafiktionalen Quatsch nicht allzu lange aufzuhalten und stattdessen auf Affektkino zu setzen, das gerade dadurch funktioniert, dass es immer wieder in reinen Camp kippt (einen Auftritt der queeren Kino-Ikone John Waters als schmieriger Paparazzo, dem ein besonders schmieriger Abgang beschert ist, inklusive). Das regelrechte Plot Twist-Gewitter der zweiten Hälfte soll hier nicht weiter verraten werden, es tut auch, obwohl es sicherlich seinen Anteil daran hat, dass der Film ist wie er ist, nicht viel zur Sache. Wohl aber bemerkenswert ist der Diskurs des Films um Geschlechteridentitäten und Fortpflanzung bzw. Mutterschaft. Was der Vorgänger bereits vorbereitete, kommt hier in einer Titelfigur, die weder männlich noch weiblich ist, sich mal eher für das eine, dann wieder für das andere Geschlecht entscheidet, zu voller Ausprägung. Die „Geschlechtslosigkeit“ Glen/Glendas kann indessen nur als eine „Vorgeschlechtlichkeit“ gedacht werden. Ein Subjekt, das sich den normativen binären Geschlechterzuschreibungen entzieht, ist für das Über-Ich der Eltern, insbesondere des Vaters, nicht hinnehmbar, es muss sich entscheiden, „richtig“ gegendert werden.

Indessen hat der Versuch der Eltern, ihr Kind dem Gesetz der Geschlechterbinarität entsprechend zu gendern, auch Einfluss auf ihr eigenes (Geschlechterrollen-)Verhalten. Wo Tiffany sich, um ihrer Verantwortung als Mutter gerecht zu werden, in Abstinenz von der Sucht des Mordens versucht, dabei sogar die Hilfe des Zwölf-Schritte-Programms in Anspruch nimmt, da die Meetings, die Selbsthilfegruppensitzungen, für sie wohl eher nicht infrage kommen, in Buchform, da generiert sich Chucky als der Macho, der sich hemmungslos gehen lassen, seinen mörderischen Impulsen freien Lauf lassen kann und sich schließlich auch als verdammt besitzergreifendes Alpha-Männchen herausstellt: „Nobody leaves me!“

Schon durch die Konstruktion des Plots spiegelt sich in dem Puppenpaar das menschliche von Tilly und Redman. Sie findet nach einer Nacht mit ihm, an deren genauen Verlauf sich beide nicht erinnern können, heraus, dass sie schwanger ist. Er weist jede Schuld von sich mit dem Hinweis, dass er schon lange eine Vasektomie bei sich habe vornehmen lassen. Zu dem Gender Trouble gesellt sich auch der Ärger mit dem Sex, wobei das Wort eben eine bestimmte Tätigkeit beschreibt, aber auch bei Judith Butler für das „biologische“, das „körperliche“ Geschlecht steht, in Abgrenzung eben zu dem sozial konstruierten Geschlecht „Gender“. Jedenfalls thematisiert der Film, in dem es auch noch um künstliche Befruchtung per Handpumpe geht, also auch männliche Verhütung, die durchaus ambivalent behandelt wird. Wo es auf der einen Seite löblich ist, dass die Empfängnisverhütung nicht alleine Frauensache ist, gibt sie dem Mann hier auch die Möglichkeit sich richtig auszutoben und hinterher die Sicherheit zu haben: „Ich bin nicht der Vater“. Die Empfangende hingegen hat größere Probleme, schon weil Männer (zumindest im Horrorfilm) manchmal richtige Arschlöcher sind: In seinem Film will Redman die Schwangere nicht mehr haben, weil sie nicht zu der Rolle passe, die heilige Jungfrau müsse nämlich „heiß“ sein. Es bewahrheitet sich für „Seed of Chucky“, gerade im Hinblick auf die eigentlich denkbar friedfertige Titelfigur, die sich dem ständigen Normierungsdruck durch sein Umfeld ziemlich hilflos ausgeliefert sieht, bis es ihr am Ende reicht und sie beweist, dass auf ihrem Arm nicht umsonst „Made in Japan“ steht, was Ivo Ritzer im Hinblick auf die Gialli Dario Argentos schrieb: „Der Schrecken liegt damit im Horror der Heteronormativität selbst.“

Übrigens ist „Seed of Chucky“ auch ein ziemlich fieser Familienfilm, genauer: ein Film über family values, was sich von dem Schnappschuss mit Papa, Kind und verätzter Waters-Leiche bis zum ziemlich deliranten Ende durchzieht. Das jedoch genauer aufzuschlüsseln und zu analysieren wäre wohl der Gegenstand einer anderen eigenen Kritik.

Certain Women

(US 2016, Regie: Kelly Reichardt)

Äußere Ferne, innere Verlassenheit
von Wolfgang Nierlin

Aus der Tiefe der weiten, von hohen Bergen begrenzten Landschaft kommt ein langer Güterzug und schlängelt sich durchs Bild, das in seiner bleichen Farbigkeit wie gemalt aussieht. Ruhig und konzentriert …

Aus der Tiefe der weiten, von hohen Bergen begrenzten Landschaft kommt ein langer Güterzug und schlängelt sich durchs Bild, das in seiner bleichen Farbigkeit wie gemalt aussieht. Ruhig und konzentriert in einer statischen Einstellung auf 16-mm-Film aufgenommen, erinnert das an James Bennings experimentellen Eisenbahnfilm „RR“. Durch die dichte Wolkendecke fällt milchiges Licht, während eine gedämpfte Radiostimme von der Sonne als einem „vernebelten Fleck am Himmel“ spricht. Es ist Winter und ziemlich kalt in Livingston, einer Kleinstadt im dünn besiedelten US-Bundesstaat Montana, wo Kelly Reichardts neuer Film „Certain Women“ spielt. Wie in ihren vorherigen Arbeiten gibt es auch diesmal eine starke Wechselwirkung zwischen dem Lebensraum und seinen Bewohnern, zwischen äußerer Ferne und innerer Verlassenheit. Und erneut erzählt Reichardt in den drei Episoden ihres nach Kurzgeschichten von Maile Meloy entstandenen Films mit einem realistischen, nahezu undramatischen Gestus.

Durch Orte und Berufe nur lose in einer Art flüchtigen Berührung verbunden, folgen die Geschichten und ihre jeweiligen Epiloge nahtlos aufeinander. Dabei hat das Übergangslose, vor allem aber das Sukzessive von Kelly Reichardts Erzählkunst Methode. Denn ihr gedrosselter, umso spannendere Informationsfluss produziert keinen dramatischen Überschuss für aufgesetzte oder vorgeformte Konflikte, sondern setzt auf die geduldige Mitarbeit des involvierten Zuschauers. Dieser kann weder eine übergeordnete zentrale Perspektive übernehmen noch sich einer zielgerichteten erzählerischen Bewegung überlassen. Reichardts Interesse für Nebensächliches und genau beobachtete Details favorisieren vielmehr das Fragmentarische und die raum-zeitliche Ausdehnung zwischen dem scheinbar Unverbundenen, das seine Gestalt durch teilnehmende Beobachtung findet.

Dabei sind Kelly Reichardts Geschichten aus der Ferne unspektakulär und alltäglich. In ihnen ist eine gewisse Desillusionierung immer schon konstitutiv: Menschen mit vagen Träumen, die sich nicht verwirklichen lassen, sehnen sich nach etwas, was vermutlich nicht erreichbar ist. Die einsame Pferdepflegerin Jamie (Lily Gladstone) etwa, die in den Wintermonaten allein eine abgelegene Farm betreut, verliebt sich unglücklich in die junge Anwältin Beth (Kristen Stewart), die in dem kleinen Ort Belfry einen Kurs über Schulrecht gibt. Weil ihre Anfahrt von Livingston aber vier Stunden dauert und sie noch einen anderen Job hat, ist sie gestresst, übermüdet und frustriert, was wiederum im Kontrast steht zu Jamies gleichmäßiger, ausgeglichener Arbeitsroutine mit den Tieren. Als Beth ihren Dienst quittiert, spiegelt die räumliche Distanz Jamies emotionale Enttäuschung.

Einmal berührt sich ihre Geschichte mit derjenigen von Laura (Laura Dern), die als Anwältin in Livingston einen schwierigen Klienten betreut. Nach einem schweren Arbeitsunfall hat sich dieser durch einen Vergleich um die Möglichkeit einer Schadensersatzklage gebracht und leidet nun unter einem Gefühl der Ungerechtigkeit. Doch eigentlich ist er einsam und verloren und beansprucht deshalb über Gebühr seine Anwältin, die schließlich vermittelt, als er zum Geiselnehmer wird. Die Ohnmacht des Scheiterns führt hier geradewegs in eine Sprachlosigkeit, die auf andere Weise auch das Zusammenleben von Ginas (Michelle Williams) Kleinfamilie mit Mann und pubertierender Tochter grundiert. Diese plant einen Hausbau auf einem entlegenen Grundstück im Wald. Doch die Symbole des Zusammenhalts wirken provisorisch und äußerst fragil. Und vor allem aus der gegenüber ihrer Familie misstrauischen Gina spricht eine tiefe, von Unzufriedenheit und Entfremdung genährte Einsamkeit, die schließlich in der winterlichen Landschaft ihren Resonanzraum findet.

Moonlight

(USA 2016, Regie: Barry Jenkins)

Keine Kompromisse
von Marit Hofmann

Am Anfang erklingt der Soulsong ‚Every Nigger is a Star‘ aus dem Autoradio eines Dealers. Doch Stars sind hier weder die schwarzen Hauptdarsteller noch die Figuren, die sie spielen. Und …

Am Anfang erklingt der Soulsong ‚Every Nigger is a Star‘ aus dem Autoradio eines Dealers. Doch Stars sind hier weder die schwarzen Hauptdarsteller noch die Figuren, die sie spielen. Und Weiße sieht man gar nicht in diesem Miami, in dem Chiron bei seiner cracksüchtigen Mutter aufwächst.

„Moonlight“ ist eine nichtweiße, queere und prekäre Version von Richard Linklaters Langzeitprojekt „Boyhood‚, das seinem Middleclass-Protagonisten zwölf Jahre lang beim Großwerden in einer Patchwork-Familie zusieht und im Vergleich wie ein Kindergeburtstag wirkt (zumal wenn man Linklaters tumbes Collegejungsgelage „Everybody Wants Some!!“ als Fortsetzung versteht).

Für das mit männlicher Identität hadernde Mobbingopfer Chiron, das drei Schauspieler in verschiedenen Altersstufen verkörpern, ist es schon ein Glück, eine Art Ersatzvater zu finden – auch wenn der sich als Dealer der eigenen Mutter entpuppt. Dieses kleine Leben inszeniert Barry Jenkins, der sich von Tarell McCraneys Drama „In Moonlight Black Boys Look Blue“ an seine eigene Kindheit erinnert fühlte, nicht als neorealistisches Sozialdrama, sondern ganz groß: in Cinemascope, warmen Farben, psychedelischen Traumbildern, mit einer anschmiegsamen Kamera und einem eleganten Soundtrack, der aber die Verhältnisse nicht beschönigt. Die Obama-Ära habe ihn zu einem kompromisslos subjektiven Blick auf schwarze Erfahrung ermutigt, der nicht auf ein weißes Publikum schielt, sagt Jenkins über seinen Überraschungs-Oscar-Kandidaten.

Nur die Szenen am Meer stehen für Aufbruch: wenn Juan, der Dealer, seinem Schützling nicht nur Schwimmen beibringt, sondern auch ein wenig Selbstvertrauen und die Wellen sanft die Kameralinse umspülen; wenn Chiron die erste sexuelle Erfahrung mit einem Schulfreund macht; wenn er ihn schließlich viele Jahre später besucht. Jenkins geht es nicht um dramatische Höhepunkte, sondern um subtile Gesten und Blicke, die das Geschehen im Innern der Figuren offenbaren, intime Momente, in denen der misstrauisch abwartende Blick, den alle drei Darsteller Chirons stumm beherrschen, einem Anflug von Vertrauen weicht.

Einmal sieht man die in ein unheimliches rotes Licht getauchte Mutter den zarten Jugendlichen anbrüllen, hört sie aber nicht. Später wiederholt sich die Szene, nun mit Ton – ein Alptraum, aus dem der erwachsene Chiron erwacht. Der schlaksige Junge hat sich in einen getuneten Muskelmacker verwandelt, der immer noch kaum mehr als zwei Worte am Stück herauskriegt, aber im Zweifel eine Waffe sprechen lässt, wenn es sein Dealerjob verlangt. Seine wahre Identität hat er gut verborgen, doch der Mond und das Meer bringen sie ans Licht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

Swiss Army Man

(USA 2016, Regie: Daniel Kwan, Daniel Scheinert )

Furzender Zivilisationsmüll
von Ricardo Brunn

Eigentlich wollte sich der auf einer einsamen Insel gestrandete Hank (Paul Dano) gerade selbst entsorgen. Doch Sekunden vor dem Absprung von der Plastikkühlbox, einen improvisierten Strick um den Hals, entdeckt …

Eigentlich wollte sich der auf einer einsamen Insel gestrandete Hank (Paul Dano) gerade selbst entsorgen. Doch Sekunden vor dem Absprung von der Plastikkühlbox, einen improvisierten Strick um den Hals, entdeckt er im Sand eine Leiche (Daniel Radcliffe), deren durch fortschreitende Verwesung freigesetzte Gase eine beträchtliche Antriebsenergie besitzen. Kurzerhand funktioniert Hank den nicht ganz so leblosen Körper zum Jetski um und tritt freudig die langersehnte Heimreise an. Auf dem Festland angekommen, will Hank sich des Verwesenden entledigen, aber wer reist schon gern allein. Also schultert er den kalten Kameraden und macht sich mit ihm auf den Weg. Im Verlauf eines immer irrer werdenden Trips erwacht die Leiche, die Hank schließlich Manny tauft, dann nicht nur zu neuem (oder altem) Leben, sondern erweist sich – einem Schweizer Taschenmesser gleich – mit all seinen Körperöffnungen als äußerst nützlicher, methangasbetriebener Allzweckzombie.

Egal wie man es anstellt, eine Zusammenfassung der Ereignisse in „Swiss Army Man“ klingt einfach scheiße. Das bringt einen natürlich schon deshalb in Schwierigkeiten, weil das Rekapitulieren der Geschichte die Frage aufwirft, ob der Film letztlich nicht doch einfach nur für den Arsch ist. Dieser zwischen zwei Furzwitzen gepressten Komödie gewinnt man anfänglich in etwa so viel ab, wie eine meiner Töchter recyceltem Toilettenpapier. Sie ging davon aus, dass dieses aus dem benutzten Klopapier anderer Leute bestehe und stand mir plötzlich mit angewidertem Blick gegenüber. Die Irritationen, die angesichts solch zentraler Entsorgungs- und Recyclingfragen ausgelöst werden, haben einiges mit jenen eines „Swiss Army Man“ gemein und bilden einen soliden Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit einem auf den ersten Blick spätpubertären Werk.

Irritierend ist allein schon, dass „Swiss Army Man“ da anfängt, wo die traditionelle Robinsonade endet. Die gelingende Flucht von der Insel setzt die Erzählung erst in Gang. Die Regression des zivilisierten Menschen und die damit häufig verbundene Auflösung der Ich-Strukturen erzählt „Swiss Army Man“ auffälligerweise nicht. Der einsame Kampf ums Überleben wird vom Drehbuch ohne große Umstände entsorgt. Es genügt Paul Danos ausgezehrter Blick und der Strick um den Hals. Die Regisseure sind sich offensichtlich über das Vorwissen ihres Publikums im Klaren. In der Folge stellen sie die Wiederkehr des Körpers und die Bewusstwerdung der eigenen Identität ins Zentrum der Erzählung. So wie sich Manny im Verlauf des Filmes zum immer lebendigeren und erstaunlich sympathischen Zombie entwickelt, findet Hank über Gespräche mit Manny zu sich selbst und zurück in die Welt, aus der er sich zuvor verabschieden wollte. Die Spur zurück in die Gesellschaft legt der im Wald verstreute Plastikmüll. Und zu keinem Zeitpunkt stellen sich die Protagonisten die Frage, woher all der Abfall kommt. Im Gegenteil: Je mehr Müll, umso mehr Möglichkeiten ergeben sich für Hank, seinem Kumpel Manny etwas über die Welt, aus der er stammt, zu erzählen. Der Abfall ermöglicht Geschichte und Erinnerung. Und als Zuschauer ist man angehalten sich ebenfalls durch jede Menge Müll in Form von Furz- und Peniswitzen hindurch zu kämpfen, das Gesehene zu recyceln, aufzuarbeiten, umzudenken.

„You’re trash“, resümiert der seiner Wiederverwertbarkeit zugeführte Manny an einer Stelle Hanks bisheriges Leben und verhilft ihm damit zur wichtigsten Erkenntnis. Wer sich nicht einordnet, wird aussortiert, wird zum Robinson inmitten der Zivilisation. Wenngleich man den interpretatorischen Plastikbogen nicht überspannen sollte, lässt sich durchaus aufzeigen, dass „Swiss Army Man“ damit um Fragen nach den Grundzügen einer offenen Gesellschaft kreist, die stets form- und damit veränderbar sein sollte. Die Absurditäten, die der Film aneinanderreiht und die in ihrer Ausführlichkeit stellenweise ordentlich nerven, können als Weg der Figuren zu einem Selbstbewusstsein übersetzt werden. Ihr infantiles Gebaren nimmt zugleich den Umgang des Publikums mit Tabuisierungen aufs Korn. Wenn Hank schließlich im Kleid vor Manny steht und es zu einem romantischen Moment zwischen den beiden kommt, wird endgültig klar, dass dieser Film nicht allein die Flatulenzen seiner Protagonisten im Blick hat. Es sind Fragen nach der eigenen Identität und dem Platz in der Gesellschaft, die sich in der lautstarken Wiederbelebung Mannys, der eindrucksvollen Wiederverwertung des Plastikmülls zur Veranschaulichung von Seelenlandschaften sowie Hanks Verkleidungen einen Weg an die Oberfläche suchen.

Ein grauenhafter Ohrwurm Hanks begleitet diesen Prozess zusätzlich. „Where did you come from? Where did you go?“ brummt auch Manny irgendwann einen der größten Wegwerfsongs der 90er Jahre vor sich hin. Darüber hinaus erinnert das „da, da, da“ vieler Musikstücke an den Versuch, sich Lieder auszudenken oder sich an sie zu erinnern. Abseits einer Konsens-Klassik üblicher Hollywood-Dutzendware entsteht auf diese Weise ein eigenwilliger Soundtrack, der die Suche der Figuren überzeugend widerspiegelt und irgendwo zwischen Animal Collective und heftigster Eso-Mukke oszilliert. Dass Radcliffe und Dano alle Musikstücke selbst eingesungen haben, verleiht dem Ganzen zusätzliches Gefühl, das als Gegenpol zum grotesken Geschehen auch dringend notwendig ist. Überhaupt entwickelt sich aus dem Zusammenspiel der beiden eine ernstzunehmendere Basis für die Handlung. Denn so bemüht die Versuche Daniel Radcliffes sich von Harry Potter loszusagen oftmals erscheinen mögen, es gehört schon einiges dazu, einem dauerfeuchten corpus flatus Würde zu verleihen.

Abseits aller Müllberge und erzählerischen Fettnäpfchen, in die sich „Swiss Army Man“ genüsslich stürzt, und abseits aller Zwiespältigkeit, die der Film damit provoziert, lohnt es sich ihm mit der nüchternen Offenheit zu begegnen, die ich letztlich auch meiner Tochter im Supermarkt zum Thema Recycling-Toilettenpapier vermitteln wollte: Klingt scheiße, ist aber keine drin. Also, gib ihm ’ne Chance.

Der junge Karl Marx

(FR, DE, BE 2016, Regie: Raoul Peck)

Glück des Aufbegehrens
von Wolfgang Nierlin

In einem lichtdurchfluteten Wald sammeln arme Leute sogenanntes „Raffholz“, also abgestorbene Äste und morsche Zweige. „Vom Eigentum getrenntes Eigentum“ nennt das eine Stimme aus dem Off, die dem jungen Karl …

In einem lichtdurchfluteten Wald sammeln arme Leute sogenanntes „Raffholz“, also abgestorbene Äste und morsche Zweige. „Vom Eigentum getrenntes Eigentum“ nennt das eine Stimme aus dem Off, die dem jungen Karl Marx gehört. Um Diebstahl handelt es sich dabei hingegen für die Besitzer des Waldes, die ihre berittenen Schergen aussenden, damit diese die Holzsammler brutal bestrafen. Mit Berufung auf Montesquieu prangert der unerschrockene Marx (August Diehl) in seinem Artikel für die Rheinische Zeitung diese Praxis als Ungerechtigkeit an. Kurz darauf wird deren Redaktion in Köln von der Polizei gestürmt und der kritische Journalist verhaftet. Es ist das Jahr 1843, die industrielle Revolution verändert einschneidend die Arbeitswelt, in den Städten entsteht das sogenannte Proletariat und die Redakteure befinden sich in einem heftigen Disput über das Maß ihres politischen Widerspruchs. Dass Karl Marx in seiner Opposition der radikalste unter ihnen ist, entspricht in der filmischen Darstellung der Logik von Kinohelden.

Mit der ebenso kunstvollen wie plakativen Engführung der Motive in der Exposition seines Films „Der junge Karls Marx“ skizziert Raoul Peck ziemlich präzise die Umrisslinien zukünftiger Konflikte. Konzentriert auf die Jahre bis zur Revolution von 1848, portraitiert der renommierte Regisseur seinen international vernetzten Protagonisten im Ringen um eine theoretisch fundierte Praxis revolutionären Handelns. Dass der selbsterklärte, nach einer humanen Gesellschaft strebende Materialist sich in seinem Pariser Exil dabei in Kontroversen mit dem von Anarchisten flankierten Sozialphilosophen Proudhon (Olivier Gourmet) und dem volksnahen Charismatiker Weitling (Alexander Scheer) verstrickt, versteht sich fast von selbst. Doch auch seine Begegnung mit Friedrich Engels (Stefan Konarske) im Haus des Verlegers Arnold Ruge, dem Herausgeber der Deutsch-Französischen Jahrbücher, ist zunächst von Rivalität geprägt. Bis sich der kämpferische Marx, der stets knapp bei Kasse ist, und der dandyhafte Fabrikantensohn Engels, der das soziale Elend aus eigener Anschauung kennt, sich mit wechselseitigen Schmeicheleien schließlich ihrer gegenseitigen Wertschätzung versichern.

Raoul Peck inszeniert das in einer Mischung aus jugendlichem, von Alkohol befeuerten Überschwang und leidlichem Humor. So schnell wie die beiden zu Freunden werden, so schnell sind sie sich darin einig, die Welt nicht mehr länger nur interpretieren, sondern durch Taten verändern zu wollen. Marx‘ aus einer adligen Familien stammende, nicht minder freiheitsliebende Ehefrau Jenny (Vicky Krieps) liefert dafür die Stichworte. Es gebe „kein Glück ohne Aufbegehren“, sagt die bald darauf zweifache Mutter und fordert ironisch die „Kritik der kritischen Kritik“. Engels‘ Konflikt mit der selbstherrlichen Autorität seines Vaters, der Blick in die Elendsbaracken leidgeprüfter Arbeiter in Manchester sowie Marx‘ Auseinandersetzung mit dem „Bund der Gerechten“, aus dem später der „Bund der Kommunisten“ hervorgeht, illustrieren mit gängigen filmsprachlichen Klischees den Weg zur Aktion. Der Aufruf zum (gewaltsamen) Kampf und das Erscheinen des „Kommunistischen Manifests“ bilden gewissermaßen die Vorhut zur Revolte. Deren Aktualität beschwört Raoul Peck schließlich im Abspann des Films, indem er dokumentarische Bilder von unterschiedlichen Protesten mit Bob Dylans „Like a Rolling Stone“ unterlegt.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Der junge Karl Marx‘.

Logan

(USA 2017, Regie: James Mangold)

Alte Männer danken ab – Re-/Generationswechsel im Popkultur-Refugium
von David Auer

Wie der zweite ist auch der dritte Wolverine-Standalone von einem Regisseur, der wie ein Gemüse heißt, sich an gore aber nicht satt sehen kann. War es James Mangold in „The …

Wie der zweite ist auch der dritte Wolverine-Standalone von einem Regisseur, der wie ein Gemüse heißt, sich an gore aber nicht satt sehen kann. War es James Mangold in „The Wolverine“ (2013) aufgrund des PG-13-Ratings nicht möglich, seine Gelüste gar so arg auszuleben, darf er es diesmal umso mehr. Dass animalische Wutausbrüche in Kombination mit Metallkrallen und Unverwüstlichkeit ein Gemetzel veranstalten, das sich nun auch explizit auf der Leinwand in allen brutalen Details präsentiert, ist bestimmt zum Teil auf den Erfolg von „Deadpool“ im letzten Jahr zurückzuführen. Nach dem Nolanschen dark & gritty und der Whedonschen Schmunzel-Ironie kann – und im weiteren Verlauf wohl auch: muss – Comicblockbuster nun also auch „John Rambo“ (2008). An den erinnert nicht allein der simpel gehaltene Titel: der body count in „Logan“ ist ähnlich hoch wie der body des Actionstars arg ramponiert. Hugh Jackmann (in Liebhaberkreisen auch huge jacked man genannt), der den titelgebenden X-Mann spielt und hier ein bisschen so aussieht wie das wandelnde R-Rating Mel Gibson, hat, ähnlich wie Stallones Mordmaschine, genug vom Kampf, der ohnehin schon verloren ist. Ein Leben an der Front beschädigt, und das sieht man dem Körper des Wolverine an: übersät von Narben ist klar, dass seine Mutantenkräfte sich im Schwinden befinden. Weder haut es mit der Regeneration mehr so richtig hin noch mit den Adamantiumklingen, die er manchmal nur zur Hälfte ausfahren kann. Der Verlust seiner Virilität und die drohende Impotenz legen nahe, dass nicht nur er, sondern sein Typus den Zenit bereits überschritten hat.

Nichts anderes gilt für Professor X, den der schleichende Wahnsinn in Form der Demenz plagt. Seine immensen geistigen Fähigkeiten werden durch die Krankheit unkontrollierbar und er von der Regierung als Weapon of Mass Destruction eingestuft. Ein Grund, warum er sich verstecken und seine gemütliche School for Gifted Youngsters gegen einen ausrangierten, verrosteten Wasserturm in der mexikanischen Wüste tauschen muss (der nicht zufällig an die Reste des sphärischen Kräftemultiplikators namens Cerebro erinnert). Dort wird er von Logan mit Medikamenten versorgt und von einem in der Erscheinung stark an Nosferatu erinnernden Mutanten, der noch dazu allergisch gegen Sonnenlicht ist, sorgsam aber genervt umhegt.

Das prekäre Dasein in der schrulligen assisted living-WG und das Ruinen-Setting lassen schon erahnen, in welcher Zeit „Logan“ angesiedelt ist: Nein, nicht heute, wo immer mehr Menschen weder fähig noch finanzstark genug dazu sind, alleine zu wohnen, sondern recht weit nach dem letzten X-Men-Film, also nach der Apocalypse. Als drohende ermöglichte sie im insgesamt neunten Ableger des Franchise das Bündnis zweier rivalisierender Parteien, als bereits passierte hat sie im zehnten jeglichen Zusammenschluss gesprengt. Im größeren Stil wäre eine solche Allianz ohnehin nicht mehr möglich, denn so wie die Kraft der Alten schwindet auch die Mutantenpopulation insgesamt. Aber eine neue kommt nach, diesmal im Labor gezüchtet. Als sich die Kids aber zu störrisch geben, wechselt der Konzern, der sie als biologische Waffen zum Einsatz zu bringen beabsichtigte, gleich ins Klon-Business, was heißt, die fehlgeschlagenen Experimente mit zu viel Eigensinn wieder abzubrechen. Dem Tod entronnen, findet sich ein Retortenmutanten-Mädchen, das dieselben Fähigkeiten wie Wolverine und sogar ein Adamantiumskelett besitzt, in seiner Obhut wieder. Gemeinsam mit Prof. X brechen sie, stets auf der Hut vor ihren Verfolgern, auf Richtung Norden, wo es ein Freakrefugium namens Eden geben soll.

Das kennt das Mädel nur aus (noch dazu X-Men-)Comics, die hier als Medium der Wahrheitsfindung so explizit ins Bild kommen wie spritzendes Blut, abgetrennte Extremitäten, klaffende Wunden sowie Körper und Gesellschaft im Zerfall. Wie die X-Men-Filme bisher wartet also auch „Logan“ mit allerlei Allegorischem auf: verstoßene Aliens auf der Suche nach einem safe space up north, fliehend vor marodierenden Mordbanden in einer wüsten Welt, auf der es keinen Platz mehr für sie zu geben scheint, außer die Scheinidylle, die sie aus der Popkultur kennen, wie wir auch ass kickende Hit-Girls und von Comics inspirierte Möchtegernhelden. The nerds may have already inherited the world, die woke youngsters sind gerade erst dabei.

Das Ermüden des der Regenerationsfähigkeit der Zivilisation tendenziell zuträglichen Antagonismus zwischen zum Beispiel konfrontationssüchtigen Radikalinskis und pazifistischen Reformisten gebiert eine postapokalyptische Gesellschaft, die bereits in balkanisierte Gemeinschaften zerfallen ist, und in der allein die größere Niederträchtigkeit über Sieg und Niederlage, mittlerweile nur mehr ein Scheindualismus, entscheidet. Das fängt „Logan“ so prägnant und zwiespältig zugleich ein, wie er viele virtuos inszenierte und choreographierter Bilder für das Falsche im Falschen findet, das dafür noch lange kein Richtiges ergibt. Gegen Gewalt scheint nur noch Gegengewalt zu helfen, wogegen sich die Alten mit nostalgischen Verklärungen und die Jungen durch Einsatz von hippen Insignien der Kultur helfen. Dass es abseits von Slacktivisten und professionellen Begriffsverwirrern tatsächlich noch Menschen gibt, die sich nicht aussuchen können, ob sie nun böse Wörter und Bilder hören bzw. sehen oder sich in böser Absicht vor den Kopf knallen wollen, sondern ums Überleben kämpfen, davon gibt der Film so sehr eine Ahnung wie davon, dass Nomadentum oder prekäres Hausen in der Zwangsgemeinschaft für die meisten keine bloße Option im Lifestyle-Katalog ist.

Gleich vieler Wunden bleibt auch „Logans“ Ende offen; das Grab am Kreuz wird zum X, den Glauben an Gott und Jenseits will er ersetzt wissen durch einen an Pop und Diesseits. Anstatt allerdings eine frohe Botschaft zu verkünden, lässt er in Schwebe, ob es für Errettung nicht vielleicht schon zu spät ist. Das Franchise braucht diese nicht, zeigen allerlei geplante Spin-offs und Fortsetzungen von „X-Men: The New Mutants“ bis zum siebten Hauptfilm doch an, dass der Kampf auf der Leinwand noch lange nicht vorbei ist.

Der junge Karl Marx

(FR/DE/BE 2016, Regie: Raoul Peck)

Was macht der Finger in der Webmaschine?
von Jürgen Kiontke

„Der junge Karl Marx“ fängt stark an: Polizisten durchkämmen ein Waldgebiet, in dem abgerissene Gestalten zwischen den Büschen hausen. Die Kamera filmt ins Licht; ein Ort wie der morgendliche Berliner …

„Der junge Karl Marx“ fängt stark an: Polizisten durchkämmen ein Waldgebiet, in dem abgerissene Gestalten zwischen den Büschen hausen. Die Kamera filmt ins Licht; ein Ort wie der morgendliche Berliner Tiergarten. Die Menschen könnten die sein, die dort zelten: Arbeiter aus Osteuropa, aus der Wohnung Geräumte und sonstige Marginalisierte. Sollte es im Sinne von Regisseur Raoul Peck gewesen sein, eine Verbindung zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts, zwischen der damaligen Pauperisierung der Massen und heutigem Prekariat herzustellen, ist ihm das zumindest zu Beginn gelungen.

Im Zentrum seines Films steht das prominenteste Rockstar-Duo, bevor Lennon/McCartney bzw. Jagger/Richards die Weltbühne betraten: Karl Marx und Friedrich Engels, jung und schön, Paris 1844. Sie schmieden politische Bündnisse, gründen Zeitungen, fliegen raus, schreiben Studien über die Armut. Karl ist knapp bei Kasse, Friedrich kämpft mit dem Unternehmervater – die beiden Jungzausel könnten europäische Hipster sein, nur die Smartphones fehlen. Die beiden disputieren sich besoffen und verqualmt durch politische Theorie, Ökonomie und Familienprobleme. Nach der Devise „Gebt den Linken mehr zu trinken“ wirkt der Streifen zeitweise wie ein Werbeclip für den Spätkauf. In der ersten Stunde kommt das recht modern rüber. Dann ist die die Luft ein bisschen raus. Zum „Kommunistischen Manifest“ hin verlegt man sich ein wenig aufs Drehbuchaufsagen.

Das große Plus dieses Films: Er beleuchtet einen Abschnitt deutscher Geschichte, der so gut wie nie im Kino vorkommt; Marx und Engels und der Kommunismus sowieso nicht. Peck präsentiert mit Mary Burns und Jenny Marx zwei starke Frauenfiguren. Überhaupt alle Schauspieler machen ihr Ding und das nicht schlecht.
Im Minus: Öfters vergisst der Film, dass er Kino ist. Sei es, dass er im endlosen Debattieren versinkt wie unsereins weiland nach dem Proseminar, oder dass er inszenatorische Macken hat: Wenn ich darstellen will, dass die englische Webmaschine der Arbeiterin die Finger abreißt, stelle ich niemand ins Zimmer, der erzählt, dass die Webmaschine die Finger abgerissen hat. Ich zeige die Finger.
Aber was soll’s: Raoul Peck, mach dich an „Kapital 1-3“!

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Der junge Karl Marx‘.

King Kong

(USA, NZ 2005, Regie: Peter Jackson)

König – Dame – Turm
von Drehli Robnik

Peter Jacksons gigantisches Remake von 'King Kong' spielt mit Traditionen, Perversionen und mehrdeutigen Angstfantasien. Und dann geht der Affe noch eislaufen. King Kong kann vieles bedeuten. Zum Start von Peter …

Peter Jacksons gigantisches Remake von 'King Kong' spielt mit Traditionen, Perversionen und mehrdeutigen Angstfantasien. Und dann geht der Affe noch eislaufen.

King Kong kann vieles bedeuten. Zum Start von Peter Jacksons Blockbuster dient er gar als Werbespotfigur einer seit jeher mit cinpehilem Flair beworbenen Taschentuchmarke: Oh, it´s a Kong! Kong heißt ja, so heißt es, in dem Teil Indonesiens, aus dem der Titelheld stammt, 'Affe'. Und der Affe stammt bekanntlich, so wie Gott, vom Menschen ab, zumal vom modernen Menschen, dem der Kong (wie auch Gott) eben viel bedeutet. Soviel, dass er einer Entstehungslegende zufolge einst nicht nur King, sondern Kaiser war: Ein Plakat aus dem Ersten Weltkrieg zeigte der US-Öffentlichkeit den deutschen Imperator als brüllenden Riesenaffen. Dieses Sujet könnte Ernest B. Schoedsack und Merian C. Cooper, die nach ihrem Kriegsdienst als filmende Abenteurer umherreisten, mit zu ihrem Filmhit von 1933 inspiriert haben. Zwischen Kaiser und King vermarkteten die Populärethnografen auch ein exotisches Filmbestiarium mit dem Titel 'Chang'. Dann kam Kong. Bingo!

King Kong, die Kinoikone. Sein Wüten auf dem Empire State Building wird gern als mediale Fantasie gedeutet, die politische Ängste abbildet: Geben Wolkenkratzer Kapitalzusammenhängen eine sichtbare Form, so leiht der zornige Affe verd(r)eckter, geschundener Arbeitskraft eine bedrohliche physische Präsenz. Solche Metaphorik spielt Jacksons Neuverfilmung von Anfang an grell aus, geht von Affen im Zoo zum Panorama arbeits- und obdachloser New Yorker in der Great Depression anno 1933 über. Damit ist das Thema moderner Massenerfahrung zunächst abgehakt: Auf geht’s ins Fahrwasser eines Individualismus, der sich im Triebhaften und Archaisch-Heroischen realisiert; auf dem Gebiet ist Kong natürlich King. Wie geil autoritäre Weltbilder aussehen, hat Jacksons zwischen Feudalwesen und Herrenmenschentum changierende 'Lord of the Rings'-Trilogie gezeigt. 'King Kong' frönt nun der Freude am Monarchischen mit mehr Schmäh, weniger Schmachtworten und gleicher Verachtung für die Masse; den Part des Pöbels spielen New Yorker Zylinderträger und deren primitives Pendant, ein Inselstamm, der ebenfalls in pompösen Hochbauten haust, Kong begafft und vor Sensationsgier geifert und trommelt. Bongo!

Zwischen Städten und Stämmen agiert hier, ähnlich Gandalfs multinationaler Eingreiftruppe, eine ethnisch und sozial diversifizierte Schiffscrew; sie erkundet den Inselurwald, fängt Kong und zitiert dabei ausgiebig aus Joseph Conrads Kolonialwahnsinnsroman 'Heart of Darkness'. Allein, die Stärke des Films liegt nicht im Symbolhaften, auch nicht im ausladenden Erzählen, das Actionsituationen nach Game-Manier auffädelt. Wirklich wild wird es vielmehr, wenn uns Rauminszenierung und Digitaltechnik groteske Körper in obszöner Plastizität aufs haptische Aug drücken – von Nebelklippen und bösen Bauten auf der Insel über die Üppigkeit bizarrer Flora bis zu haarsträubendem Getier: Wo Riesenasseln und Saugwürmer oder ledrige Fleischwülste einer Saurierstampede schamlos das Bild durchwogen, da erscheint Jurassic Park als Kurort.

Bad Taste meets Big (Monkey) Business. In diesem Ekelbarock klingt Jacksons Splatterfilmvergangenheit nach. Oder vielmehr: Hier kulminiert die monströse Vision eines multimedialen, synästhetischen Kinos, das alles (evolutions- oder kulturgeschichtlich) Archaische 'bespielen' kann und das Repräsentationsmuster vervielfältigt, um sie zu sprengen – und vice versa. Ein Film-im-Film-Plot breitet detailreich Bild- und Wissensschätze des alten Hollywoodkanons aus, um oft in einen Irrwitz zu verfallen, der antikanonisch und 'unamerikanisch' ist, eher an ein postkoloniales Neuseeland aus Nerdigkeit und kultivierter Perversion gemahnt. Hier trumpft die Affenliebe auf: Wir kriegen mehr Liebe, mehr Affe – keine Pelzpuppe, sondern einen von Fliegen umflorten digitalen Berg aus Gebrüll – und mehr 'weiße Frau'. Wenn Naomi Watts, im Totaleinsatz jeder Locke und Zehe, für den Affen tanzt, ihn mit Variététricks zum Lachen bringt, sich ihm als Puppe zum Schubsen preisgibt (aber nur bis sie das SM-Ritual satt hat und ihn anschreit) oder mit ihm im Central Park eisläuft, als wär’s ein Judy Garland-Film – dann ist das kaum zu beschreiben. Jedenfalls ist es noch berührender (von wegen Taschentuchwerbung!) als die Entblätterung der strampelnden Fay Wray anno 1933 oder Jessica Langes Geräkel unterm Fön aus Kongs Nüstern im Remake von 1976; vom Flirt zwischen Mr. und Mrs. Kong im 1983er Aufguss 'King Kong Lives' ganz zu schweigen.

Adrien Brody als netter Retter bleibt peripher; auf einer Höhe mit dem Amour Fou Animal ist einzig die Figur des obsessiv-gewieften Filmregisseurs. Gespielt von Jack Black sieht er aus wie Jackson selbst in seiner übergewichtigen Phase; sein Adlatus dagegen erinnert an den jungen Jackson. 'King Kong' handelt vom Kino, seinen Traditionsnormen und seiner Enormität, davon, wie es gemacht und wie es genossen wird. Kino-King ist nicht der Regisseur, sondern die (letztlich doch anzuerkennende) Masse derer, die zuschauen, und so ist auch Kong als fetter Allesfresser vor allem Konsument, der sich die Shows des Stammes und der blonden Frau oder mit ihr im Arm einen Hollywood-Sonnenuntergang anschaut. Der einst fette Regisseur hingegen erhielt unlängst einen Preis für Verdienste um die Stadt New York. Was ist Jacksons Verdienst? Vielleicht dass er die Angstfantasietradition 'Archaisches Wüten gegen Wolkenkratzer' fortsetzt, nachdem sie realisiert wurde. Wobei King Kong eben vieles bedeutet: 1976 kletterte er im Showdown auf das World Trade Center und kämpfte gegen Helikopter; in den Tagen nach 9-11 hingegen zeigte ein Cartoon Kong auf den Twin Towers, wie er zwei Jets vom Himmel holt, und dazu die Frage: 'Where were you when we needed you?' Jetzt ist er voll da.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Falter 50/2005

Kong: Skull Island

(USA 2017, Regie: Jordan Vogt-Roberts)

Nicht King, nicht Fleisch, aber viel Fell, viel Hass und Ping Pong
von Drehli Robnik

Affengeil, das war einmal. Alle bisherigen King Kong-Filme Hollywoods ließen den titelgebenden Primaten nicht nur New Yorker Türme besteigen (1976 das World Trade Center, ja, genau jenes; 1933 und 2005 …

Affengeil, das war einmal. Alle bisherigen King Kong-Filme Hollywoods ließen den titelgebenden Primaten nicht nur New Yorker Türme besteigen (1976 das World Trade Center, ja, genau jenes; 1933 und 2005 das Empire State Building), sondern spielten dem Gorilla auch jeweils ein Girl in die Hände. Vor zwölf Jahren bettete Peter Jacksons bombastische Dreistunden-Version deren interspezielle Erotik in Revuen obszönen Fleisches ein.

Im neuen Kong-Film gibts nun statt Fleisch Fell, und zwar viel – Kong ist höher und aufrechter als zuletzt, weiterhin fliegenumflort, aber immer grumpy und im Dienst, kein Mann für Flirt oder Fun. Und es gibt in ‚Kong: Skull Island‘ (der Film spielt nur ebendort) viel Knochen, an diversen imposanten Nebenmonstern, sowie als ein veritables Affenskelett-Ambiente, in dem eine der furiosen Actionszenen abläuft.

Regienewcomer Jordan Vogt-Roberts macht alles recht gut (und ab und zu sogar etwas ‚groß‘). Nix ist hier geil oder grauslich, alles eher pittoresk denn grotesk, flott erzählt ohne viel Buildup, mit Rot im Bild, Rock im Score, Rhythmus in der Animation, sowie mit Freude an dem multiethnischen Typenensemble, das in parallelen Erzählsträngen durch die Insel irrt: Militär, Öko-Freaks, Wissenschaftler, ein Abenteurer, Brie Larson als Fotografin. Sie darf Kong kurz ans Fell fassen.

Der Film hat keine ‚Vision‘: Sein Kong ist keine Sozial- oder (wie in Jacksons Film-im-Film-Barock) Kino-Allegorie. Zwar wird hier viel durch Foto- und Schmalfilmkamera-Objektive geguckt, doch das ist – wir schreiben 1973 – Teil eines Spiels mit heute hipper Retrotechnik für daheim (Schallplatte!) und Teil eines ortsversetzten Vietnamkriegsfilms: Bildermachen ist besser als Ballern, die Kamera cooler als die Knarre, das scheint der Film – auch im Plot mit John C. Reilly als Air Force-Pilot, der seit 1944 auf der Insel festsitzt – uns sagen zu wollen, und dass Krieg irgendwie irr ist (und die Erde nicht der vernichtungsfreudigen Spezies gehört). Apocalypse Now‚ lässt laut grüßen: Da ist Pyropanorama, Helicopterballett vor glühender Sonne, ein redseliger Freak unter Stammesvolk und vor allem ein an Colonel Kilgore erinnernder Kommandant, der väterlich, aber gaga ist: Er will Napalm am Abend und Rache am Affen. Samuel L. Jackson spielt ihn stark, wechselt böse, in extremer Großaufnahme zornig glühende Blicke mit Kong.

Diese forcierte Parallelisierung zwischen dem Affen und einer der menschlichen Figuren, konkret: einem African American als Ahab-Avatar, tritt hier an die Stelle der erotischen heterosexuellen Bindung des Monsters. (Wird Kong zum ‚weißen Wal‘, dann fällt die ‚weiße Frau‘ weg.) Dazu passt, dass der Film zwar zwei wutschnaubende, allzu gewaltaffine, aber fürsorgliche, sprich: zutiefst ambivalente Alphamännchen gleichen Ranges hat, aber auffallenderweise keinen designierten King. ‚Kong: Skull Island‘ ist der erste King Kong-Film, der das monarchische Attribut im Titel weglässt. (Dafür heißt die Cold War-Forschungseinrichtung, die sich auf die Suche nach Riesenwesen macht, Monarch.) Sollte dies das frühe Beispiel eines Fast-schon-Trump-Ära-Blockbusters sein, der noch kein eindeutiges bzw. der ein zutiefst zwiespältiges und von ihrer symbolischen Implementierung getrenntes Bild einer männlich (aber nicht königlich) verkörperten souveränen Macht zeichnet? (Dazu würde passen, dass hier ein kriegsverliebter Führer denunziert, das Militär in seinen Solidaritäts-, Bubenpathos- und melting pot-Ritualen jedoch nicht angetastet wird, sondern als eine Art Kontunitätsgarant fungiert. Und: Der vergessene pazifische Stamm, dessen angebeteter Schutzherr Kong hier ist, tritt auf Skull Island als ostentativ weiß (körperbemalt) auf, übrigens auch als beinah philosophisch stumm – im Unterschied zu Jacksons Film, der in den Stammes-Szenen rassistische Klischees von der wilden Dämonie dunkler Kontinente in düsteren Bildern voller Gebrüll und Zaubersprüche ebenso ausgestellt wie bloßgestellt hatte.) (Obwohl: Trumps Klientel mag vorwiegend weiß sein, stumm ist sie nur in ihrem Selbstbild als silent majority.) (Außerdem: Soviel Fell wie Kong hätte Trump gerne.)

Gegen Ende des Films, wenn die Überlebenden abziehen, erklingt unvermittelt die alte Ballade ‚We´ll Meet Again‘. Das ist doppelt schamlos. Zum einen ‚gehört‘ dieses Lied dem Abspann von Stanley Kubricks ‚Dr. Strangelove‘ (auch das ein Film, der die Verknüpfung von Kriegstechnologie und irrer Männlichkeit groß ins Bild brachte). Wer das zitiert, hat viel vor. Zum Beispiel – wenn schon der King nicht zum Kong kommt – Ping Pong spielen mit einem anderen (noch besseren) Monster Movie-Reboot, dem Godzilla‚ von 2014, der ebenfalls in seinem Bild soldatischen Handelns ambivalent war – amerikanischer Krieg ist halb Rausch, halb Rettung – und der dabei ebenfalls auf ‚Kubrick-Musik‘ zurückgriff: Das Thema ‚Requiem‘ von György Ligeti, das seit Dekaden mit den Erscheinungen des schwarzen Monolithen in ‚2001 – A Space Odyssey‘ assoziiert ist, untermalte bei ‚Godzilla‘ die tolle Fallschirmsprungszene und den Trailer. (Übrigens: ‚Godzilla‘ hatte eine ‚Vision‘, nämlich das durchgängige handlungsethische Motiv der Absence, des Blackouts, des Ohnmachts-Anfalls, Ton-Ausfalls und in Staub aufgelösten Bildes.) (Und der Vorgängerfilm seines Regisseurs Gareth Edwards, Monsters‚, war die bessere antikoloniale, antirassistische ‚Apocalypse Now‘-Variation.)

Schamlos ist das ‚We´ll Meet Again‘ zum anderen auch deshalb, weil es so direkt, mit dem Affenarsch ins Gesicht, darauf hinweist, dass wir hier dem Auftakt eines Franchise-Stranges beigewohnt haben. Eh klar. Wer bis nach dem Ende des Abspanns sitzenbleibt, wird nicht nur sehr direkt auf ebendiesen Umstand hin angesprochen, sondern erfährt auch, dass er oder sie noch diverse Franchise-Fusionen zwischen Kong und besagtem 2014er Godzilla und seiner Gang aussitzen wird dürfen. Geht OK, Kong: So long!

A Cure for Wellness

(USA, D 2017, Regie: Gore Verbinski)

Gore dreht auf – und Aale zittern
von Drehli Robnik

Vom Fluch der Karibik zum Fluch der Waldklinik: Gore Verbinski war einmal der Hausregisseur deppscher Piraterie; mit der förderungsdeutsch-amerikanischen Koproduktion ‚A Cure for Wellness‘ wechselt er zum Schocksymbolismus im Schweizer …

Vom Fluch der Karibik zum Fluch der Waldklinik: Gore Verbinski war einmal der Hausregisseur deppscher Piraterie; mit der förderungsdeutsch-amerikanischen Koproduktion ‚A Cure for Wellness‘ wechselt er zum Schocksymbolismus im Schweizer Alpenkurhotel. Da bleibt er weiterhin im Wässrigen: Sauna und Becken, See und Essenz, Eintauchen und -flößen, tropfender Hahn und blutende Kuh, von ‚Purpurnen Flüssen‘ hab ich noch nie was gehört, dafür gibt’s hier forcierte Redeflüsse zum Thema Krank-Sein und Sehend-Werden, als Voice-over wie auch Dialog-Preziosen. Und dann fängt der Film noch vielsagend deprimierend unter pflichtbewusst unsympathischen Wirtschaftsbossen an. Hier will uns jemand irgendwas zur Leere und Malaise unserer heutigen Welt sagen. Aber was? Und heißt es was?

Wellness als Selbst-, Kultur- und Führungstechnik des umzäunten Wohlstands, das wäre ja ein Thriller-Thema und auch ein paar Gedanken wert. Also, genau hinschauende Infrastuktur-Kritik im Format und Tonfall von ganzheitlichem Regenerationsgrusel, das wäre doch mal was. Schade ist ja, dass heutige Tourismus- und Wohlfühlindustrie-Betriebe im aktuellen Unheimlichkeitskino immer als irgendwie runtergekommen, düster veraltet, unbehaglich gestrig etc. gezeichnet werden; das vergit sich somit viel an Wirklichkeitsvermittlung. So auch bei Verbinski: Krankenblatt, Dampfkasten und Heilgymnastik stammen aus dem Jahre Schnee, Hausmarke ‚Unrechtsregimes der traumatischen Moderne‘, und das Personal vor Ort ist so morbid wie es Kauz-Casting-Agenturen erlauben. Aber wer sich über sowas groß auslässt (also ich), kriegt wahrscheinlich das Wesentliche an dem ganzen Retroraumdesign nicht mit; und das ist wohl, dass hier in aller gebotenen Üppigkeit ins Visionäre gezielt wird (so lautet ein Schlüsselausdruck im Diskurs der cinephilen Würdigung dieser Big-Budget-Flause).

Sprich: Es hagelt immer neue Ergründungen geheimer Machinationen, immer neue, immer bizarrere Gänge durch Gänge, entlang von Schaukästen mit Mad Science-Mysterien und Inzest-Infamie-Innuendo. Wenn nach gut zwei Stunden alles wirklich längst auserzählt ist (und der Held zusätzlich zum Gipshaxen eine Zahnlücke hat wie Alfred E. Neumann), mündet das noch in ein Opernphantom-Finale. (Da scheißt sich jemand wirklich nix. Das allein verdient schon… Verwunderung.)

Das wird dargeboten in Babelsberger Gediegenheitsdekor (Grufti-Grind nach Vorschrift), zwischen Zitatschutt aus neun Jahrzehnten Horrorbarock. Der Film nötigt uns Wertschätzung für seine vielen Zitatstilblüten ab, und zwar im Minutentakt und auf Stichwort: ‚A Cure for Wellness‘ spells ‚A cue for Welles… a cue for Lynch… Polanski, Ken Russell, Jeunet & Caro, Frankenheimer, Ulmer, Hammer…‘ – you name it, Verbinski has it. Sehr visionär! Um es kurz zu sagen: Im Blaugrau-Look und Clip-Montage-Häcksler seines (eh sehr okayen) ‚Ring‘-Remakes von anno 2002 dreht Verbinski quasi ‚Shutter Island‘ neu. Sieht Hauptdarsteller Dane DeHaan als Banker-Detektiv, der zum unfreiwilligen Therapiepatient wird, deshalb aus wie Leo DiCaprio für die schmälere Geldbörse? Spielen Mia Goth, Susanne Wuest und Johannes Krisch ihrer klingenden Nachnamen wegen mit? (Nein, schon klar, das ist die Berliner Luft, die zumal die Ösi-Talente mit an den Produktionsort zieht. Außerdem sind alle drei Genannten in jüngster Zeit gattungseinschlägig und gesichtsprägnant in Erscheinung getreten.) Hier hat ja nun in ominöser Weise alles mit allem zu tun. Auch mit Aalen. Ja, echt! Aale in visionären Mengen bekommen wir hier mehrfach geboten. Sehr schleimig. (Früher waren im Grotesk-Kino nur die Luftkissenfahrzeuge voller Aale; jetzt sind es auch die Filme.) Sei’s drum: Gewollte Weirdness ergibt hier eine Art wohliger Wellness zum gepflegten Sich-Aalen in 146 Minuten kurzweiligem Designerkitsch.

Abwärts

(BRD 1984, Regie: Carl Schenkel)

Die Steckengebliebenen
von Nicolai Bühnemann

Vier Personen auf dem Weg nach unten, in den Feierabend. Eingeschlossen in dem steckengebliebenen Fahrstuhl eines Frankfurter Bürohochhauses. So lautet die Minimalprämisse von „Abwärts“, Carl Schenkels drittem Film, der den …

Vier Personen auf dem Weg nach unten, in den Feierabend. Eingeschlossen in dem steckengebliebenen Fahrstuhl eines Frankfurter Bürohochhauses. So lautet die Minimalprämisse von „Abwärts“, Carl Schenkels drittem Film, der den Schweizer Filmemacher, der zunächst in der BRD, später dann in Hollywood arbeitete, als Auteur ausweist, der Filmen verschiedener Produktionshintergründe seine eigene Handschrift aufdrücken, in ihnen eigene Themen verhandeln konnte.

Schon der furiose Vorgänger, „Kalt wie Eis“, begann in einem Knast und ließ die Mauerstadt West-Berlin für einen straffälligen Jugendlichen auf der Flucht zu einer beengenden Falle werden. Wo es dort auch schon einen generischen Plot gab, sich der Film aber noch ausgiebigen Ausschweifungen in der kreativen Szene seines Schauplatzes hingab, ist „Abwärts“ hoch konzentriertes Spannungskino (wie sich „Graf Dracula in Oberbayern“, Schenkels 1979 noch unter Pseudonym gedrehtes Regie-Debüt, dazu verhält, interessiert mich wirklich brennend, leider gibt es von dem Film nur eine vergriffene und deshalb zu Mondpreisen gehandelte Grabbeltisch-DVD). Um das Gefangensein in urbaner Architektur geht es auch hier. Schon dem Plot nach, aber eben auch in der Inszenierung, von Anfang an. Die erste Einstellung zeigt das Lichtermeer der nächtlichen Großstadt, über das die Kamera langsam wandert, den Blick in die Tiefe wagt, auf den Asphalt hinab (immer wenn dieser klaustrophobische Film seine Räume weit macht, wird sogleich der Fall in den Tod assoziiert, als einziger Ausweg aus dem Gefängnis, das dem Menschen seine Städte geworden sind, hier durch den Blick an der Fassade entlang, später dann – immer wieder – den Fahrstuhlschacht hinunter), ohne Schnitt kommt die Kamera auf einem Fenster zu stehen, in dem sich die Stadt spiegelt und durch das wir eine Frau sehen, die aus einem Schwimmbecken steigt. Außen und Innen durchdringen einander, der Mensch ist ohne die Rahmung durch die Architektur, die ihn einschließt, nicht denkbar.

So geht das weiter. Der Blick auf den Menschen wird verstellt, durch Fenster, (Fahrstuhl-)Türen, Glaskästen, Luken, die als Rahmung innerhalb der Rahmung der Kadrierungen fungieren, das doppelte Eingeschlossensein der Figuren verdeutlichen. Um die Pförtnerkabine mit ihren Glaswänden beschreibt die Kamera einen Kreis. Dabei erinnert nicht nur die Tatsache, dass einer der beiden Schauspieler in dem Glaskasten Kurt Raab ist, an Fassbinder.

Wenn der Film nach etwa zehn Minuten mit seinen vier ProtagonistInnen in dem Fahrstuhl ankommt, sind Inhalt und Form längst eins und bleiben es auch hier, wo die Enge des Raumes die Einstellungsgröße vorgibt. Die Figuren sind dabei so funktional, wie es das Kammerspielsetting vorschreibt, wobei es dem Drehbuch, das Schenkel selbst verfasste, auch hier wichtig ist, dass die Gefangenschaft in dem Fahrstuhl auch die jeweilige Lebenssituation der vier Menschen, eine Frau und drei Männer, spiegelt. Allesamt sind sie Gefangene, Steckengebliebene in ihrer eigenen Biographie.

Da ist zunächst Götz George, für den dieser Film 1984 als Vehikel angelegt gewesen sein mag, dem es aber als Star des Films ebenso wenig gelingt, das restliche Personal an die Wand zu spielen, wie es seiner Figur, Jörg, vergönnt ist, das Alpha-Männchen zu sein, das sie gerne wäre. Seine Kontrolle über die Situation jedenfalls ist von Anfang an eine Illusion. Das zeigt sich auch und vor allem in seiner Beziehung zu seiner Kollegin Marion, mit der ihn einst eine Affäre verband, die er zu gerne weiterführen würde, worauf sie sich aber nicht einlässt. Gespielt wird sie von Renée Soutendijk, die ein Jahr zuvor in dem Film „Der vierte Mann“ ihres niederländischen Landmannes Paul Verhoeven die femme fatale für die Achtziger neu definierte (ein Kunststück, das dem großen Verhoeven, nebenbei bemerkt, in zwei aufeinander folgenden Dekaden gelang, in den Neunzigern dann in Hollywood mit Sharon Stone und „Basic Instinct“). Sicherlich bedeutet sie auch hier Ärger für die Männer, die schon bald anfangen, sich um sie zu streiten, es ist dem Film dabei jedoch wichtig, dass sie nicht aus Boshaftigkeit handelt, sondern einfach nur mit den Waffen kämpft, die eine von Männern dominierte Gesellschaft einer schönen Frau wie ihr zugesteht. Pit (Hannes Jaenicke) will einfach nur raus, aus Deutschland, aus entfremdeten Arbeitsverhältnissen und, das steht schnell fest, er will Marion, die ihm, als er ihr Feuer für ihre Zigarette gibt, tiefe Einblicke in ihr Dekolletee gewährt. Schließlich ist da der Buchhalter Gössmann (Wolfgang Kieling), die undurchsichtigste der Figuren, die in dem Beziehungsdreieck, zwischen seinen Miteingeschlossenen schon wegen seines Alters außen vor ist, und mit einer ganz eigenen Motivation, einem Schatz, der nichts mit Marion zu tun hat, in den Fahrstuhl in Richtung (ewiger) Feierabend gestiegen ist.

Schenkel versteht es auch hier, die Beschränkungen von Raum und Plot zu nutzen, um eine ausweglose Atmosphäre zu kreieren. Denkwürdig ist eine Szene, in der Jörg und Pit mit Streichhölzern darum knobeln, wer als nächstes auf das Fahrstuhldach klettern wird, um von dort aus zu versuchen, einen Weg nach draußen zu erschließen. Als Gleichstand herrscht, gleitet die Kamera im extremen Close-Up zunächst über die Streichhölzer auf dem Boden, zwei auf der einen Seite, zwei auf der anderen. Dann über die Gesichter der beiden Männer im Profil, angefangen bei dem Auge bis hinab zum Mund, über dem bei Jörg der charakteristische Schnauzer thront, in dem bei Pit eine Zigarette steckt. Pit gewinnt die Entscheidungsrunde, Jörg muss aufs Dach. Seine Abwesenheit machen sich Marion und Pit zunutze, um sich leidenschaftlich zu küssen. Wenn die beiden Männer sich wenig später auf dem Fahrstuhldach prügeln, endet eine Einstellung damit, dass einer von ihnen den Kamerablick mit seinem Körper ganz verdunkelt. Nach einem „unsichtbaren“ Schnitt fährt die Kamera von Marions schwarzem Kleid zurück und gibt den Blick auf die beiden im Fahrstuhl verbliebenen frei. Besser könnte man das Verhältnis von Begehren und Gewalt in diesem Figurentrio nicht auf den Punkt bringen.

Den ein oder anderen Plot Twist, der nicht verraten werden sollte, gibt es dann auch noch und dieses Mal vielleicht wenigstens ein bisschen Hoffnung zum Schluss (zumindest für einige der Figuren).

Elle

(FR, DE, BE 2016, Regie: Paul Verhoeven)

Angstlust
von Wolfgang Nierlin

Die Gewalt kommt aus dem Off: Über die noch dunkle Leinwand legen sich Schreie und Stöhnen sowie die Geräusche zersplitternden Glases. Nur die aufmerksamen Augen einer Katze beobachten das brutale …

Die Gewalt kommt aus dem Off: Über die noch dunkle Leinwand legen sich Schreie und Stöhnen sowie die Geräusche zersplitternden Glases. Nur die aufmerksamen Augen einer Katze beobachten das brutale Geschehen. Auf dem Fußboden, inmitten von Scherben, liegt, sexuell missbraucht und verwundet, eine Frau. Doch Michèle Leblanc (Isabelle Huppert), eine taffe, kühle und sehr selbstbewusste Geschäftsfrau, geht nicht zur Polizei. Stattdessen ermittelt sie selbst nach dem maskierten Vergewaltiger. Die Erinnerung an das traumatische Geschehen, vom Zuschauer bislang nur imaginiert, kehrt indes unvermittelt, heftig und in verschiedenen Visionen zurück: als reales Geschehen, als tödliche Rachephantasie und als Wiederholung des Traumas im Setting eines phantastischen Videospiels; denn Michèle leitet eine Firma, die solche Spiele entwickelt.

Paul Verhoeven erzählt seinen umjubelten Film „Elle“, die ebenso doppelbödige wie abgründige Adaption des Romans „Oh…“ von Philippe Djian, ganz aus der Perspektive seiner schillernden Heldin. Dass diese vielschichtig und unberechenbar gezeichnete, in Trennung lebende Frau ein durchaus ambivalentes Verhältnis zu Lust und sexueller Gewalt hat, zeigt schon ein Meeting mit ihrer Kreativabteilung, bei dem ein neues, gewalttätiges Video vorgestellt wird. Michèle ist aber auch Opfer einer dunklen Familiengeschichte, denn ihr Vater, ein „Monster“ in Menschengestalt, sitzt als verurteilter Mörder seit vielen Jahren im Gefängnis. Auch zu ihrer Mutter und zu ihrem erwachsenen Sohn pflegt sie Beziehungen, die von Hass und schroffer Aggressivität charakterisiert sind. Überdies betrügt sie ihre beste Freundin und Arbeitskollegin Anna (Anne Consigny) mit deren Mann.

Es kommt also viel zusammen an familiärem und zwischenmenschlichem Konfliktpotential in Verhoevens rasant und gegen die Erwartungen inszenierter Gesellschaftssatire im Gewand eines Rape-and-Revenge-Thrillers. Dabei spielt Verhoeven routiniert mit Genre-Elementen und legt immer wieder falsche Fährten aus, um den dunklen, unscharf umrissenen Fleck aus Lügen, Begehren und seelischen Wunden zu umkreisen. Als Michèle schließlich ihren Peiniger identifiziert, wird in einer merkwürdigen Umkehrung die Angst zu einer Lust, mit der das Opfer geradezu nach seiner Unterwerfung verlangt. Aber so klar ist das nicht, auch wenn Michèle einmal sagt: „Das Schamgefühl ist nicht stark genug, um uns von irgendetwas abzuhalten.“

Fifty Shades of Grey – Gefährliche Liebe

(USA 2017, Regie: James Foley)

Shades of Verwertung
von Jürgen Kiontke

Sie hat es schwer, die heterosexuelle, weiße Liebe. Er Milliardär, sie als Hilfsverlegerin. Christian Grey (Jamie Dornan), der 27-jährige Geldsack aus dem beliebten Soft-SM-Sex-Buch „Fifty Shades of Grey“, und Hauptfigur …

Sie hat es schwer, die heterosexuelle, weiße Liebe. Er Milliardär, sie als Hilfsverlegerin. Christian Grey (Jamie Dornan), der 27-jährige Geldsack aus dem beliebten Soft-SM-Sex-Buch „Fifty Shades of Grey“, und Hauptfigur Ana Steele (Dakota Johnson) gehen auch im Kino in die zweite Runde.

Die zweite Verfilmung der Reihe („Gefährliche Liebe“) beginnt langsam, und erklärt recht ausführlich den ersten Teil. ER hat SIE in die Folterkammer mitgenommen, das war schockierend. Sie will trotzdem wieder hin, aber wie Frau Dr. Sommer in der „Bravo“ muss sie dem besitzergreifenden jungen Mann klarmachen: Haue ist okay, aber bitte freiwillig.

Es dominiert die Missionarsstellung. Ana ringt um ihre Autonomie, im Job wie auf dem Streckbett. Auch auf Arbeit herrscht gediegene Langeweile: Die junge Frau von heute will es als Verlagsassistentin allein schaffen. Aber als Christian den übergriffigen Chef entsorgt, ist sie auch nicht so richtig böse. Denn sie hat sich erfolgreich hochgeschlafen. Mit Manuela-Schwesig-Gleichstellungspolitik fährst du in „Fifty Shades of Grey“ nicht gerade auf der Überholspur.

Wie wohnt man eigentlich, wenn man „24.000 Dollar in der Viertelstunde“ (Christian) verdient? Es gibt einen Swimming Pool mit Blumen und eine Dusche zum Gevögeltwerden. Liebe ist eine saubere Sache. Freitreppen, polierte Flächen, bodentiefe Fenster, traumahafte Küchenpsychologie.
Und natürlich genügend Personal für die Drecksarbeit. Denn fehlen darf nicht, wir sind im Märchen, die böse Hexe, die alles kaputt machen will und auch noch aussieht wie eine gebotoxte Kim Basinger. Nein, sie ist es sogar. Bei ihr hat es bekanntlich nur 9½ Wochen gehalten. „Sie haben es doch nur auf sein Geld abgesehen“, intrigiert die ältere, die abgelegte, die enttäuschte Rivalin.

Gut, dass Basinger uns an die Wertschöpfungketten erinnert! „Fifty Shades of Grey – Gefährliche Liebe“ ist ja irgendwie, der Name sagt es schon, ein Film aus den Fifties. Im Nachkriegskino haben sie immer ein Lied auf den gelungenen Kapitalismus gesungen, jetzt muss Ana alle zehn Minuten ran, um es zu stöhnen. Tu mir weh, aber lass es freiwillig aussehen: der immer gleiche Song über unsere Welt, wie diese sich selber sieht.
Wenigstens fehlt die eine Phrase aus dem Buch, die so oft wiederholt wird, dass sie den Roman 50 Seiten länger macht: Ana beißt sich nicht mehr auf die Unterlippe. Da ist jetzt Lippenstift drauf. In Teil 3 reden wir dann über Kinder. Liebe? Voll gefährlich!

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Jungle World

Eldorado XXI

(PT, FRK, PE 2016, Regie: Salomé Lamas)

Aufstieg als Abstieg
von Ricardo Brunn

La Rinconada in den Anden Perus ist die höchstgelegene Stadt der Erde und zugleich die absurdeste. Weil in einer nahegelegenen Mine Gold entdeckt wurde, kommen Menschen aus dem ganzen Land …

La Rinconada in den Anden Perus ist die höchstgelegene Stadt der Erde und zugleich die absurdeste. Weil in einer nahegelegenen Mine Gold entdeckt wurde, kommen Menschen aus dem ganzen Land in den rasant wachsenden Ort. In 5.100 Metern Höhe, wo kein Grashalm und kein Baum mehr wachsen können, führt die Suche nach Gold die Menschen in einen Abgrund, aus dem es nur für die Wenigsten ein Entkommen gibt. Salomé Lamas beginnt ihren Dokumentarfilm „Eldorado XXI“ deshalb mit einer Einstellung, die einen endlosen Strom von Menschen zeigt, der über Geröll und Schotter zum Eingang der Mine und aus ihr heraus fließt. In der Dämmerung, die in mancher Hinsicht den Seelenzustand der Menschen auf dem unbefestigten Weg ins Erdinnere beschreibt, begeben sich die Hoffnungsvollen nach unten und die Erschöpften nach oben. Währenddessen erzählen einige Bewohner und Bewohnerinnen La Rinconadas aus dem Off von ihren Beweggründen in diese Stadt zu ziehen. Sie berichten von der Arbeit, der Gewalt, den Versuchen eine soziale und rechtliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Durchzogen werden diese Berichte von Ausschnitten aus Radiosendungen, Nachrichten, Wahlkampfwerbung. Aus ihnen spricht eine Normalität, die den Alltag an diesem unwirtlichen Ort nur noch fremder erscheinen lassen.

Sehen wird in dieser ersten Einstellung des Filmes zu Arbeit, denn mit mehr als 50 Minuten Dauer umfasst sie beinahe die Hälfte der gesamten Lauflänge von „Eldorado XXI“. Aber anders ist das, was die Menschen in La Rinconada erleben vielleicht auch gar nicht zu fassen. Dreißig Tage lang schuften die Arbeiter ohne jeden Lohn für den Betreiber der Mine, um am einunddreißigsten Tag ein paar Stunden lang zum eigenen Nutzen Gestein in der Hoffnung auf das kostbare Metall abbauen zu können. Es gibt also einen Grund für die Länge dieser ersten Einstellung, die kaum auszuhalten ist, weil sie einem nicht die Möglichkeit gibt, sich einem sanften Fluss der Zeit hinzugeben. Vielmehr zermürbt einen dieses Bild, dessen Ende man herbeisehnt wie das Ende eines langen Arbeitstages. Dementsprechend befreiend ist der erste Schnitt. Bei der Vorführung während der Berlinale 2016 gab es an dieser Stelle heftigen Applaus. Das mag zum einen Ausdruck einer Erleichterung gewesen sein. Im Beifall spiegeln sich aber auch die Unfähigkeit und der Unwille eines saturierten Festivalpublikums, eine Beziehung zwischen dem Inhalt und den künstlerischen Entscheidungen der Regisseurin herzustellen und letztere auszuhalten.

Wer sich diesem unbequemen ersten Teil von „Eldorado XXI“ jedoch hingibt, wird ein selten gewordenes Kinoerlebnis machen, unter dessen hypnotischer Wirkung sich Fragen nach den Bedingungen des Daseins mit jeder Minute ihren steinigen Weg aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche suchen. Denn so sehr sich die Situationen unterscheiden mögen, so ähnlich sind sich hier wie dort die Mechanismen der Selbstausbeutung in der nicht selten illusorischen Hoffnung auf ein besseres Leben. Plötzlich ist die mit der Chance auf Reichtum begründete Selbstausbeutung der Minenarbeiter von unserer eigenen Art Arbeit zu denken keinen Steinwurf entfernt. Die perfide Logik, mit der viele sich unter der Prämisse vermeintlicher Selbstverwirklichung für zu geringen Lohn exploitieren, hohe Überstundenzahlen und unzureichende Altersvorsorge hinnehmen oder die Arbeit in Form des Homeoffices und ständiger Verfügbarkeit in die Privatsphäre eindringen lassen, liegt ebenfalls am Grund dieser nicht enden wollenden Einstellung. Sie führt im schlimmsten Fall auf dem voller Euphorie angetretenen Weg nach oben in die umgekehrte Richtung.

Einen anderen Kurs schlägt Lamas im zweiten Teil von „Eldorado XXI“ ein. Über Montage liefert sie all das nach, was zuvor nur über die Soundcollage zu erschließen gewesen ist. Hier und da können Verbindungen zwischen zuvor Gehörtem und nun zu Sehendem hergestellt werden, doch Stadt und Film bleiben ein unwirtlicher, rauer Ort ohne Protagonisten und ohne kathartische Erzählung. Schnell erschöpfen sich die Bilder auch ganz bewusst in Wiederholungen kokakauender Frauen und erkenntnislosen Blicken in die vom Regen aufgeweichten Straßen der 80.000 Einwohner zählenden Stadt. Dem Glauben an eine bessere Zukunft setzt die Regisseurin die harsche Tristesse und Monotonie des Alltags La Rinconadas entgegen. Und weil die ersten 50 Minuten dem Publikum noch so präsent sind, kann jeder sorgfältig gesetzte Schnitt, jedes neue eindrucksvolle Bild eine ganz eigene Kraft entwickeln, im Versuch einen ökonomischen und gesellschaftlichen Kollaps abzubilden.

„Eldorado XXI“ hat es nicht ins Kino geschafft. Unter der nur noch als obszön zu bezeichnenden Zahl von mehr als 700 in Deutschland gestarteten Filmen war 2016 kein Platz für diesen außergewöhnlichen Film. Er ist auch nicht auf DVD erschienen und derzeit bei keinem VoD-Anbieter verfügbar. „Eldorado XXI“ widerlegt damit die These, dass gute Filme im 21. Jahrhundert dank Digitalisierung und Internet ihre Zuschauer finden. In einer ausschließlich auf Profit und Wachstum ausgelegten und darum immer schnelllebigeren Zeit finden immer häufiger großartige Filme gar kein Publikum mehr; Werke wie „Eldorado XXI“, die belegen, dass die Grenzen filmischer Erzählmöglichkeiten noch immer radikal erweitert werden können.

Where to, Miss?

(D 2015, Regie: Manuela Bastian)

Selbstbestimmte Autofahrt
von Jürgen Kiontke

Rumstehen, fahren, rumstehen – Taxi fahren ist langweilig? Nicht mit Devki: Die will nicht nur endlich den Führerschein machen, sondern auch von ganzem Herzen Leute von A nach B befördern. …

Rumstehen, fahren, rumstehen – Taxi fahren ist langweilig? Nicht mit Devki: Die will nicht nur endlich den Führerschein machen, sondern auch von ganzem Herzen Leute von A nach B befördern. Und das in Delhi, einer Stadt, in der sogar selbstbewusste Frauen abends oft nur in Begleitung von Männern unterwegs sind. Devkis großes Vorbild ist Chandni: Die hat die Prüfung schon bestanden und kutschiert munter durch die Straßen.

Für Leute wie Devki gibt es die Initiative „Women on Wheels“. Hier kann sie ihre Ausbildung machen. selbstständig sein. Das Ziel: finanzielle Unabhängigkeit. Außerdem können andere Frauen so nachts etwas sichererer unterwegs sein – wenn sie von einer Frau gefahren werden. Im Wagen sitzen – im Indien dieser Tage ein Kampf um die Rechte der Frau.

Begleitet wird Devki dabei von Regisseurin Manuela Bastian. Die deutsche Filmemacherin nimmt in ihrem ersten abendfüllenden Kinofilm „Where to, Miss?' Gewalt und Unterdrückung von Frauen in Indien aufs Korn. Nicht um gewalttätige Schauwerte zu generieren, sondern um die mutigen Frauen in den Mittelpunkt zu stellen. Denn Delhi ist ein gefährliches Pflaster für sie. Immer wieder kommt es zu Massenvergewaltigungen – wie etwa 2012, als die Studentin Jyoti Singh Pandey an der brutalen Misshandlung durch sechs Männer starb. Danach wurde es nicht besser. Die Polizeistatistik der Jahre 2012 bis 2015 wartet mit brisanten Zahlen auf: Im Schnitt wurden vier Frauen pro Tag in der indischen Hauptstadt vergewaltigt – ein Anstieg um das Dreifache. Und der diesjährige Amnesty-Report hat für 2014 indienweit 322.000 Verbrechen gegen Frauen gezählt, darunter 37.000 Fälle von Vergewaltigung. Dort heißt es, die Frauen schreckten oft davor zurück, sexuelle Gewalttaten anzuzeigen, da sie Stigmatisierung und Diskriminierung durch Polizei und Behörden befürchteten.

Kein Wunder, dass Bastian mit ihrem Film gleich den Deutschen Menschenrechts-Filmpreis 2016 in der Kategorie Hochschule gewonnen hat, der ihr am 10. Dezember 2016 in Nürnberg verliehen wurde. „Ich möchte mehr Verständnis erzeugen für die Frauen, die dem gesellschaftlichen Druck nicht Stand halten und denjenigen Mut machen, die den Kampf aufnehmen“, sagt Bastian.

Eine Hürde ist zunächst die eigene Familie. Im Prinzip, so Bastian, habe sie ein indisches Sprichwort verfilmt: „Eine Frau gehört zuerst ihrem Vater, dann ihrem Ehemann und zuletzt ihrem Sohn.“ Denn so gut wie bei Chandni, die von ihrer Familie in ihren Plänen unterstützt wird, läuft‘s bei Devki nicht. Bastian folgt ihrer Protagonistin mit der Kamera durch ihre Rollenfächer – als Tochter, Ehefrau und Mutter. Als zukünftige Taxifahrerin fällt sie in allen dreien durch: „Stell dir vor, wir bekommen dich verheiratet“, spekuliert Devkis Vater. „Denkst du, dein Mann lässt dich das machen?“ – „Warum fährst du nicht nur tagsüber, das geht doch auch…“ „Manche Menschen“, entgegnet die junge Frau, „brauchen auch nachts ein Taxi.“ Überhaupt eigene Entscheidungen zu treffen, hieße in Devkis Fall sogar, für unbestimmte Zeit aus der Familie ausgestoßen zu werden, und das in einem Land, in dem die Familie der einzige Rückhalt ist: die Frau als lebenslanger Privatbesitz. Und umgekehrt gilt: Wer als Frau allein unterwegs ist, kann schnell Opfer von Übergriffen werden. Selbstbestimmt leben, das würde unter diesen Umständen auch bedeuten: ohne Schutz zu sein.
Aber Devki lässt nicht locker, übt mit dem Auto und macht Kurse in Selbstverteidigung bei ihrem Aufbruch aus tradierten Rollenmustern.

„Where to, Miss?“ – Wo soll es hingehen? Dieser Film ein kleines, einfühlsames Porträt – aber auch ganz großes Kino: ein Abenteuerfilm. Und ein Road Movie sowieso!

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal

The Salesman

(IR, FR 2016, Regie: Asghar Farhadi)

Der schuldige Mensch
von Wolfgang Nierlin

Der iranische Filmemacher Asghar Farhadi ist international bekannt geworden durch ebenso komplexe wie unauflösbare Ehe- und Beziehungsdramen. In seinen vielfach ausgezeichneten Filmen „Nader und Simin – Eine Trennung“ und „Le …

Der iranische Filmemacher Asghar Farhadi ist international bekannt geworden durch ebenso komplexe wie unauflösbare Ehe- und Beziehungsdramen. In seinen vielfach ausgezeichneten Filmen „Nader und Simin – Eine Trennung“ und „Le passé – Das Vergangene“ zeigt er Paare, deren Handeln unweigerlich in krisenhafte Situationen und moralische Dilemmata führt. Der Mensch erscheint in Farhadis psychologisch differenziert gezeichneten Charakterstudien als Mängelwesen, dessen Beweggründe in einem Geflecht aus Zufall und Notwendigkeit, individuellen Dispositionen und gesellschaftlichen Wertmaßstäben liegen. Dabei hängt jeweils alles miteinander zusammen und voneinander ab. Behutsam und genau entwickelt der am Theater geschulte Regisseur die komplizierten Interaktionen von Figuren, deren Handeln unweigerlich in schuldhafte Verstrickungen zu führen scheint.

Das ist auch in Asghar Farhadis neuem Film „The Salesman“ der Fall, in dessen Mittelpunkt ein noch kinderloses Ehepaar aus der iranischen Mittelschicht steht. Emad (Shahab Hosseini), der als Lehrer arbeitet, und seine Frau Rana (Taraneh Alidoosti) sind Kulturschaffende, die zusammen mit einer Theatergruppe gerade dabei sind, Arthur Millers Stück „Tod eines Handlungsreisenden“ zu proben. Farhadi nutzt das, um in einigen Szenen Theaterstück und Filmhandlung ineinander zu spiegeln und aufeinander zu beziehen. Gleich zu Beginn, wenn die Bühne eingerichtet wird und die illuminierten Kulissen großstädtisches Leben vorgaukeln, geht es Farhadi auch um den rasant wachsenden städtebaulichen Moloch Teheran und damit um die Opfer gesellschaftlicher Veränderungen.

Die Risse im einsturzgefährdeten Haus, aus dem Emad und Rana sowie alle anderen Mieter am Anfang von „The Salesman“ in Panik fliehen, sind also symptomatisch. Als das Ehepaar durch Vermittlung bald darauf eine neue Bleibe findet, muss es feststellen, dass diese in mehrfacher Hinsicht „Altlasten“ birgt. Denn die Vormieterin, bezeichnenderweise immer nur als „zwielichtige Person“ mit wechselnden Männerbekanntschaften apostrophiert, arbeitete darin offensichtlich als Prostituierte. Als einer ihrer früheren Kunden durch Versehen und unter falscher Annahme eines Abends in die Wohnung eindringt und Rana in der Dusche (sexuell) belästigt, erleidet diese ein schweres Angsttrauma. Der ebenso schockierte wie in seiner Ehre verletzte Emad wiederum setzt alles daran, den Schuldigen ausfindig zu machen, um ihn zu bestrafen.

Indem er die Szene ausspart, setzt Asghar Farhadi den besagten Übergriff bewusst als Leerstelle, um auf kulturell bedingte Tabus und auf Widersprüche im Geschlechterverhältnis aufmerksam zu machen. Mangelnde Offenheit und fehlendes Vertrauen, vermeintliche Rufschädigung und schwelende Rachegedanken stören nicht nur das labile Gleichgewicht der Beziehungen, sondern legen sich wie ein permanenter Schatten über das Leben des Ehepaars. Dessen soziales Umfeld wird zum Resonanzraum von Stress und Aggressionen, die wie bei einer elektrischen Erregungsleitung übertragen werden. In seinem höchst differenzierten und sehr spannenden Beziehungsdrama verhandelt Farhadi aber auch die schwierige Frage nach Schuld und Gerechtigkeit. So erscheinen die Menschen seines Films „The Salesman“ als zwangsläufig Versehrte und als Gefangene ihrer Geschichte, für die die Möglichkeit zu verzeihen ebenso nah wie fern liegt und deren Schuld sich wie unter einem ehernen Gesetz fortzeugt.

The LEGO Batman Movie

(USA/DK 2017, Regie: Chris McKay)

Zusammen ist man weniger allein oder: Brothers in Crime
von David Auer

The Toys R Us Der Verdacht, bei „The Lego Movie“ (2014) könnte es sich um infantile Phantasterei handeln, erhärtet sich nicht erst durch mühevolles Analysieren. Er inszeniert unverstellt, dass er …

The Toys R Us

Der Verdacht, bei „The Lego Movie“ (2014) könnte es sich um infantile Phantasterei handeln, erhärtet sich nicht erst durch mühevolles Analysieren. Er inszeniert unverstellt, dass er der kreativen Vorstellungswelt eines Jungen entspringt, der sich unerlaubterweise an Papas Lego-Sammlung vergreift. Sie ist infantil, nicht kindlich, denn geschrieben und verfilmt hat sie kein Zehnjähriger, sondern ein Duo, das sich bisher vor allem durch die hyperironische Wiederbelebung eines popkulturellen Staubfängers hervorgetan hat. Knapp 21 Jahre nachdem Johnny Depp im TV seine letzte High School infiltriert hat, ist „21 Jump Street“ (2012) auch im Kino zum Hit geworden, auf den zwei darauf eine Fortsetzung folgte, in der sich die Protagonisten mehr noch als im Vorgänger permanent darüber wundern und lustig machen, dass der Film, in dem sie mitspielen, überhaupt existiert. Über die Spielwarenverfilmung von Phil Lord und Chris Miller fragt man sich nur, warum sie erst so spät in Produktion gegeben worden ist, wo doch seit sieben Jahren Michael Bay regelmäßig beispielhaft vorführt, dass Nostalgie-induzierendes Plastik und Leinwand sich, zumindest am Box Office, bestens verstehen. Auch der Lego-Film ist, die einen sollen ja auch ihren Fun haben, reich an Selbst- und Fremdbezügen, für die es den anderen an popkulturellem Wissen fehlt, sowie explizit formulierten Botschaften, die es auf Groß und Klein zugleich abgesehen haben, ganz nach dem Motto: Access for all (Elsaesser). Jedem soll’s gefallen und jeder soll sich nach Herzenslust im (ideologischen) Ramschladen bedienen können, genauso wie die Filmemacher, die sich ihre Inspiration gleich beim Auftraggeber, der Kino unverhohlen als Schaufenster in der Mall versteht, abholen wie die nach dem anstrengenden Bildbeschuss fix und fertigen Konsumenten ihre fixfertig verpackten Lego-Sets in derselbigen.

Dem Hersteller ist es dabei so egal, wer seine Produkte kauft, wie dem Produktionsstudio, wer die ihrigen schaut, Hauptsache, jemand tut’s überhaupt. „The Lego Movie“ ergreift jedoch Partei, nämlich für die routinierten out of the box-Denker und -Bastler, die die Packerl, gefüllt mit „Star Wars“-, „Pirates of the Carribbean“- und „Harry Potter“-Merchandise, auch erst so erwerben müssen, wie sie angeboten werden, um im Anschluss ihrer Kreativität freien Lauf lassen zu können. In der unscheinbaren Figur des Emmet Brickowoski, der buchstäblich ein Leben ausschließlich nach Anleitung führt, finden sie ihre strukturelle Leerstelle, ein blank slate, von einer Prophezeiung, die sich als Schmäh erweist, dazu auserkoren, das disziplinarische Terrorregime des President Business, mit seltsamer Haarpracht und Hang zu Turbokleber-Ordnung und Mauern, zu zerschlagen. Dazu muss der Protagonist erst lernen, zum master builder zu werden, die Schablonenhaftigkeit seiner Realität zu durchschauen, welche er dann flexibel dekonstruieren und nach Lust und Laune wieder zu etwas Beliebigen zusammenbauen kann, das ihm just in time nützlich ist. Von der absoluten Ohn- zur sich alles bemächtigenden Über- braucht es aber zuerst das mentale Training durch die Gegenmacht, ein bunt zusammengewürfeltes Freakteam, das sich aus dem wohlbekannten Film- und Comicheldenfundus speist. Darunter ist auch der notorische Batman zu finden, gesprochen von Will Arnett, Serienaffinen vor allem bekannt als Teilzeitmagier Gob Bluth aus „Arrested Development“, wodurch auch Michael Cera bekannt wurde.

Konformistische Rebellion

Beide leihen ihre Stimmen nun dem titelgebenden Plastiksuperhelden und seinem Sidekick Robin im Spin-off „The Lego Batman Movie“, der sich an den Comic-Blockbustern der letzten Jahre nicht weniger, nun ja, bedient wie sein Vorgänger an „The Matrix“ (1999). Diesmal braucht es allerdings keinen Inszenierungsbruch, der eine Metaebene und damit die Erzählung als infantiles Spiel mit aufgeschnappten Filmversatzstücken und Wunsch eines Buben nach mehr väterlicher Aufmerksamkeit offenbart, um die development der Heutigen von heute als arrested zu markieren; ihr Fehlen ist viel mehr Anzeichen dafür, dass sie regressed ist, und zwar ganz und gar auf der Höhe der Zeit. „Batman“ ist nämlich auch ohne ihn durch und durch ironisch, forciert selbstreflexiv und fremdbezüglich, und vor allem eines: weitaus zynischer. Dass bereits die Studiologos von seinem Voice Over begleitet werden, er von Anfang an über seine ökonomischen Overlords herzieht, zeigt nämlich folgendes an: einen Widerspruch soll es nicht geben, die Reibung weicht, wie beim weniger kindgerechten „Deadpool“ (2016, mit einem weltweiten Einspielergebnis von knapp 800 Mio. Dollar), der Abreibung derjenigen, die sich solche Späße im Wissen ihrer Vergeblichkeit noch anmaßen zu kritisieren. Von Selbstproblematisierung also keine Spur mehr, es sei denn im Zeichen der Selbstpromotion. Sie würde ja ohnehin nur dazu dienen, das vornehmlich kritische Publikum – und wer zählt sich da nicht gern dazu? – genauso mit dem (kultur-)industriell hergestellten Produkt zu versöhnen wie das „naive“ mithilfe der Schauwerte – auch das heißt: Access for all –, also kann man es eigentlich auch gleich bleiben- und die Vollendung der Fraternisierung einfach zulassen.

Teamwork ist also das Gebot der Stunde, Komplizen lauern überall, und Freunde sowieso. Ganz ohne Komplikationen lässt sich der notorische Bachelor Bruce Wayne allerdings nicht davon überzeugen, hat der sich doch ganz gut eingerichtet in seiner Festung der Einsamkeit, eigentlich der Name von Supermans arktischer Man Cave, in der er aber, unter Ausschluss der miesepetrigen Fledermaus, mittlerweile gerne Partys mit der restlichen Heldenclique feiert. Das grämt den Outcast ein wenig, aber auch nicht lange, denn am liebsten spielt er sowieso mit seinen Gadgets und trauert manchmal dem Verlust seine Eltern nach. Die Versenkung in das Nicht-mehr-zu-Rettende wird ihm aber nicht lange gegönnt: Seiner individualistischen Unachtsamkeit geschuldet macht sich eine kleine Nervensäge in der Batcave breit. Die Einführung des Waisenkindes Robin wird so wie sämtliche Kinovariationen des Dark Knight abgehandelt: nebenbei und im Schnelldurchlauf. Sei es sein Kampf mit dem auf Kryptonit allergischen Strahlemann, dem stalinistischen Designermantelträger Bane oder dem nicht zu entkommenden Joker, sie alle gehören so sehr zu „Lego Batmans“ gelebtem (Medien-)Gedächtnis wie seine campy Eskapaden aus den 60ern. Das Camp ist auch das leitende Prinzip des Films, sowohl als Zusammenpferchung vielfältiger Individuen zum Zweck ihrer Gleichmachung als auch Zweckbündnis zwischen Falschem und Richtigem, das der Film den Namen wrongright gibt. Allein im Verbund mit den Comicbösewichten, vereint im Patchworkfamiliengestus, sieht sich der einstige sture loner gemeinsam mit dem neuen Ziehsohn, der Neobürgermeisterin Gothams, bzw. dem Batgirl, und dem alten Butler Alfred, imstande, die Armee der ikonischen Filmmonster aus der Phantomzone, die über die Stadt herfällt, wieder dorthin zu verbannen.

Phantomscherz

Aus dieser hat sich der hauptverantwortliche Drehbuchautor in seiner bisherigen Karriere bereits reichlich bedient, und dabei Unvereinbares recht nonchalant zusammengeführt. Wenn Jane Austen auf Zombies trifft und Abraham Lincoln Vampire jagt, hat Seth Grahame-Smith in die Tasten und die jeweilige Vorlage dabei zu Brei gehauen. Auch er ist, wie Lord und Miller, darin geübt, längst vergessenes Fernsehmaterial fit für die Leinwand zu machen. Wie die Gothic-Seifenoper aus den späten 60er-Jahren wurde allerdings auch ihre Kinoadaption „Dark Shadows“ (2012), von „Batman“ (1989) und „Batman Returns“ (1992)-Regisseur Tim Burton, schnell wieder vergessen. Macht aber nix, denn mit dem Remake von „It“, dem zweiten Teil von „Beetlejuice“ und dem dritten von „Gremlins“ kann Grahame-Smith in ein paar Jahren, dann als Produzent, erneut beweisen, dass Nekrophilie und Popkultur so unterschiedlich nicht sind, sowie schlechter Geschmack schon lange nicht mehr an die „Lüge der Kultur“ (Magnus Klaue) erinnert. Nimmt Kunst „die ihr innewohnende Tendenz“ dazu nicht reflektierend auf, sondern folgt ihm blind, wird sie, wie im Fall der Lego-Filme, nicht nur zur Produktwerbung, sondern auch zur „stumpfsinnigen Werbung ihrer selbst“ (ebd.).

Und stumpfsinnig ist so manches an „The Lego Batman“, was aber nicht so schmerzen würde – gewohnt ist man’s ja schon – wie dass er Gegensätze zum stumpfen Einheitsbrei schlägt. Der Plan der neuen Oberbeamtin, Verbrechen und Recht unterm Denkmantel der Gerechtigkeit, Selbst- und Gewaltmonopoljustiz also zu einer Kraft zusammenzuführen, mit dem Ziel, der Kriminalität ein für alle Mal ein Ende zu machen, kulminiert im Showdown zur kreativen Kollaboration von vigilantes und villains gegen die noch viel größere Bedrohung durch die Aliens und Monster aus der Gefängnisdimension. Der Ausnahmezustand macht so manches Bündnis möglich (und wer sagt, der immense Reichtum der Waynes habe etwas mit der blühenden Gangsterszene in Gotham zu tun, ist ein Schelm). Um die Metropole schließlich vor ihrer buchstäblichen Spaltung zu retten, bilden jene, so scheint’s, die ohnehin schon immer zusammengehört haben, ein buchstäbliches Band – auch hier macht’s das Material wieder möglich – und überwinden die scheinbare Kluft.

Die Reihen fest geschlossen, die Knechtschaft dauert nur noch kurze Zeit

Nach gewonnenem Kampf blickt der Joker Batman in die Augen und zitiert, was viele Antagonisten der Filmgeschichte ihren Widersachern beim endgültigen Zusammentreffen gewohnheitsmäßig entgegenschleudern: „We are not so different, you and I“. „We’re the same / I’m like you / you’re like me / we’re all working in harmony“, heißt es ähnlich im Oscar-nominierten Song des Vorgängers, in dem das Queerpopduo Tegan und Sara mantraartig vorträgt, dass everything awesome sei. In „The Lego Movie“ noch als Verteidigung vollends durchflexibilisierter Dauerkreativität und –juvenilität gegen die ultrakonformistische Einheitsgesellschaft, die damit tagein tagaus terrorisiert wird, in Stellung gebracht, missversteht das Spin-off die Lyrics affirmativ als Handlungsanleitung und damit den Song als englischsprachiges Cover eines Stücks, das einmal als zweite deutsche Nationalhymne die Massen mitmobilisiert hat. Was lehrt der Film also? Wer unbedingt von Amerikanisierung reden will, sollte auch von Zudeutschung nicht schweigen.

The Visit – Eine außerirdische Begegnung

(DK, AUS, NOR, FIN, IR 2015, Regie: Michael Madsen)

Kontrollverlustängste
von Ricardo Brunn

Ein Alien ist gelandet. Niemand weiß, was es will oder woher es gekommen ist. In „The Visit – Eine außerirdische Begegnung“ setzt der dänische Dokumentarfilmregisseur Michael Madsen ein extraterrestrisches Wesen …

Ein Alien ist gelandet. Niemand weiß, was es will oder woher es gekommen ist. In „The Visit – Eine außerirdische Begegnung“ setzt der dänische Dokumentarfilmregisseur Michael Madsen ein extraterrestrisches Wesen Wissenschaftlerinnen und politischen Beratern gegenüber und lässt sie einen Erstkontakt durchspielen. Was sich zunächst wie das abstruse Rollenspiel eines Wochenendkommunikationsseminars anhört und mit naiven Fragen beginnt, denen das Unbehagen der Quasiprobanden dieser Versuchsanordnung noch anzumerken ist, entwickelt sich mit der Zeit zu einem aufschlussreichen Gedankenexperiment.

Nachdem die Experten Zuständigkeiten geklärt und kommunikative Strategien erarbeitet haben, die keine Wirkung zeigen, da das Alien stumm bleibt, wird ein Forscher in das Raumschiff der außerirdischen Lebensform geschickt. Doch im Zentrum des imaginierten Gefährts bekommt der Mensch nicht die erhofften Antworten. Stattdessen trifft er auf Zeichen der eigenen Kultur. In seinem orangefarbenen Raumanzug wandelt der Wissenschaftler nach einem Gang durch die Dunkelheit plötzlich barocke Säulengänge und Bibliotheken entlang, betrachtet Skulpturen, Gemälde und Modelle der menschlichen Anatomie. Die Frage nach dem Wesen des für den Zuschauer unsichtbar bleibenden Außerirdischen führt geradewegs zu Fragen über die fundamentalen menschlichen Werte und Beziehungen. Der erhoffte Dialog mit dem fremden Wesen wird zur Therapiesitzung für die Menschheit, in der die Fragestellerinnen sich die Antworten nach und nach selbst geben. Und der Mensch definiert sich nun einmal vor allem über seine Kultur. Das erklären auch die Experten, als sie (parallel zum Betreten des Raumschiffes) von der Voyager-Mission sprechen und darlegen, welche Daten auf der goldenen Schallplatte 1977 auf die Reise geschickt wurden. Vielleicht findet „The Visit“ in dieser unscheinbaren Einstellung der Voyager-Sonde, die im unerhörten Schwarz des Weltalls verschwindet, zu seinem treffendsten Ausdruck. Die beiden Voyager-Sonden werden das letzte Zeugnis unserer Existenz sein.

Was die Daten der Voyager-Sonden nicht enthalten, sind Negativbeispiele menschlichen Handelns. Krieg, Umweltzerstörung, Sklaverei, all das wird ausgeblendet. Prozesse des Suchens, Findens und daraus entstehende Ängste, Konflikte und der Wunsch nach Beherrschung dieser Ängste sind jedoch sehr stark miteinander verbunden. Diese Angst vor einem Kontrollverlust gegenüber dem Fremden ist „The Visit“ in die DNA geschrieben.
Schon in seinem Segment des Episodenfilmes „Kathedralen der Kultur“ (D 2014; R: diverse) hat sich Michael Madsen mit Fragen der Kontrolle auseinander gesetzt und entgegen des programmatischen Titels den Alltag im „Halden Prison“ abgebildet. Madsen zeigt in seiner Episode das „humanste“ Gefängnis der Welt als einen Ort perfekter Mechanismen der Überwachung und verwandelt ihn dank einer Aneinanderreihung von Zeitlupenaufnahmen in einen irrealen, der Zeit entrückten Ort. In „The Visit“ stellt Madsen den Interviewsituationen ebenfalls Zeitlupenaufnahmen an die Seite, die wie in „Halden Prison“ auf einen besonderen Erfahrungsmodus verweisen und zur Reflexion einladen. Die Verlangsamung evoziert ein Gefühl stillstehender Zeit im Angesicht der Begegnung mit der dritten Art. Doch obwohl die Zuschauerin in der intensiven Betrachtung die Kontrollgewalt zu behalten scheint, da sich nichts ihrem Blick entziehen kann, ermöglichen die Zeitlupenaufnahmen in ihrer Glätte und der beschränkten Motivpalette keinerlei Erkenntnisgewinn. Die Bilder werden so zu Manifestationen des Unheimlichen und des Kontrollverlustes im bemühten Versuch die Kontrolle zu behalten.

„Der Mensch würde eher alles zerstören, als die Illusion aufzugeben, dass er alles unter Kontrolle hat“, lautet ein zentraler Satz im Film und er trifft ebenso auf „The Visit“ selbst zu. Über die endlosen Wiederholungen von Militärübungen, Innenräumen des UNO-Hauptquartiers in Wien und nichtssagenden Straßenaufnahmen arbeitet sich der Film trotz einiger herausragender Bildfindungen zu sehr am eigenen fotografischen Kanon ab und verpasst die Gelegenheit sich einer tiefgreifenderen Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen Fragen zu stellen. Der Regisseur könnte ja die Kontrolle über seinen Film und sein Sujet verlieren. Dabei wäre hier die Chance des Filmes gewesen, Angst (vor dem Kontrollverlust) als Krise der Erkenntnisfähigkeit zu erforschen und sich selbst ein wenig dem (ästhetischen) Kontrollverlust hinzugeben.

Kalt wie Eis

(BRD 1981, Regie: Carl Schenkel)

Stadt, Körper, Gewalt. Leben, Liebe, Schmerz.
von Nicolai Bühnemann

Eine Rasierklinge, die im Close-Up die Haut zerteilt, ins Fleisch schneidet, bis das Blut sprudelt. Wenig zuvor der Blick aus dem Fenster auf eine Mauer, die in der Totalen eine …

Eine Rasierklinge, die im Close-Up die Haut zerteilt, ins Fleisch schneidet, bis das Blut sprudelt. Wenig zuvor der Blick aus dem Fenster auf eine Mauer, die in der Totalen eine Stadt zerteilt, ins urbane Fleisch schneidet, aus dem kein Blut sprudelt (auch wenn an der anderen Mauer, auf die die Gefängnismauer hier keineswegs zufällig verweist, durchaus Blut geflossen ist). Schauplatz von „Kalt wie Eis“, dem Abschlussfilm des Schweizers Carl Schenkel an der Berliner Filmhochschule, soviel steht nach etwa fünf Minuten fest, sind die Mauerstadt West-Berlin und der Körper des Hauptdarstellers Dave Balko. Stadt und Körper spiegeln einander, am deutlichsten wohl in einer Sexszene zwischen Balko und seiner Freundin Corinna (so bezaubernd wie tough: Brigitte Wöllner) gegen Ende. Während es die beiden leidenschaftlich treiben, er mit Gipsbein und Verbänden um den Körper, fährt die Kamera aus dem Fenster hinaus, wandert über Kreuzberger Hinterhöfe und kommt schließlich auf der Mauer zum Stehen, die sich, einer gigantischen Narbe auf der Wunde gleich, die die Teilung ins Fleisch der Stadt gerissen hat, durchs Bild zieht. Und wie auf dem Körper der Figur, der für den Kleinkriminellen, den Lumpenproletarier alles ist, was er hat, unerbittliche Kämpfe ausgetragen werden, er mit Knüppeln und Fäusten geschunden und an einer Stelle sein Bein von einem Auto überfahren wird, war die Stadt Schauplatz der ideologischen Kämpfe zwischen zwei (vermeintlich) verschiedenen, verfeindeten Systemen, Frontstadt des Kalten Kriegs.

Zu Beginn begegnen wir Dave Balko, wie auch die Figur heißt, in seiner Zelle im Jugendknast in Plötzensee. Mit jedem Sekundenton der Uhr, die auf die Tagesschau vorbereitet, gibt es einen Schnitt zu einer näheren Einstellung vom Gesicht des auf dem Bett liegenden, der es bald selbst in die Nachrichten schaffen wird, wohl auf die einzige Art, die einem wie ihm vergönnt sein kann. Unter vollem Körpereinsatz, durch den Schnitt ins eigene Fleisch, das Vortäuschen eines Suizidversuchs, gelingt es ihm zu fliehen, wobei ein Wachmann ums Leben kommt, ohne dass es Balkos Absicht gewesen wäre. Er macht sich auf die Suche nach Corinna, die im Nachtclub New Eden, unter der Fuchtel des dubiosen Geschäftsmanns Hoffmann (Rolf Eden), arbeitet. Bald sieht sich Dave nicht nur von der Polizei gejagt, sondern auch von den brutalen Handlangern Hoffmanns. Mit dem Motorrad zieht er schließlich in seine letzte Schlacht, die keine Sieger kennen wird.

Der schönste Blurb, den ich jemals auf einem Buch oder sonst wo gelesen habe, lautet: „Chandler wrote as if pain hurt and life mattered.“ Genauso haben Schenkel, Balko und die anderen einen Film gemacht, der kein gutes Ende nehmen kann, in dem das charakteristische „Game Over“ der Spielautomaten den düsteren Ausgang markiert, und in dem doch für Momente alles möglich und von größter Bedeutung zu sein scheint: das Leben, die Liebe, der Schmerz, alles. Gleich bei der Wiedersehensszene zwischen Dave und Corinna im New Eden wird klar, dass sie für ihn die Eine ist. Wie sich ihre Gesichtszüge aufhellen, sobald sie den Geliebten erkennt, wie sie sich in die Arme fallen. Doch natürlich macht die große Liebe auch verwundbar. If life matters (and so does love), pain hurts.

„Kalt wie Eis“ ist der seltene Glücksfall von einem Film, dem die Unerfahrenheit seines Regisseurs und sein niedriges Budget nicht zum Nachteil gereichen, sondern die aus der Beschränktheit ihrer Mittel eine ganz eigene Ästhetik der Imperfektion und des Unfertigen entwickeln. Der Film wird von einer rohen Energie durchflutet, die ans US-amerikanische und italienische Genrekino der Siebziger gemahnt (etwa an die Filme Russ Meyers oder Mario Bavas „Rabid Dogs“), die sich vor allem aber in begnadeten Debüts (oder zumindest Frühwerken) ambitionierter Filmemacher findet: in George Millers „Mad Max“, Abel Ferraras „The Driller Killer“ oder Tobe Hoopers „The Texas Chainsaw Massacre“.

Mit letzterem verbindet Schenkels Film auch, dass er (nicht nur, aber ganz besonders in seinen Gewaltszenen) ein ganz und gar physisches Kino schaffen will, das sich aller Mittel des Mediums bedient, um die Erfahrung der Gewalt für die Zuschauenden so unmittelbar körperlich spürbar zu machen, wie es die sichere Distanz zum Geschehen auf der Leinwand oder dem Bildschirm nur irgend möglich macht. In der Szene, in der Balko den Gangster Kowalski (Otto Sander) ausraubt, hängt er ihn nach erbittertem Kampf mit seinem Anzug an einen Kleiderhaken (in dem sich, zufällig oder auch nicht, der Fleischerhaken aus Hoopers Film spiegeln mag) und malträtiert ihn mit seinen Fäusten. Close-Ups zeigen, schnell hintereinander geschnitten und von dräuenden E-Gitarren-Rückkopplungen untermalt, das verzerrte Gesicht des Zuschlagenden, das bald blutüberströmte des Geschlagenen, die Fäuste, die auf einen Körper eindreschen. Wenn Balko wenig später selbst empfindlich einstecken muss, seinerseits von den beiden Schergen Hoffmanns ohnmächtig geschlagen wird, geht er mit blitzschnellen Jump-Cuts zu Boden, seine Bewusstlosigkeit wird in einem Schnitt-Stakkato aufgelöst, das Störbilder eines (damaligen) Fernsehers, die Kugel eines Flipperautomaten (samt den dazugehörigen Geräuschen) und schließlich ein Bild der blutüberströmten Corinna zeigt.

Dabei ist „Kalt wie Eis“ aber frei von jeder Epigonalität. Seine Energie ist eine West-Berlin-im-Jahr-1981-Energie. So wie die Gewalt auch in den Körper des Films, der Inhalt also in die Form, eingeschrieben wird, so ist und erzählt die enorm wichtige Wave- und Punk-Musik von Tempo, Malaria, den Neon Babies und anderen Stadtgeschichte. Am deutlichsten natürlich in dem von Tempo auf Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch (letztere drei die Sprachen der Besatzer) gesungenen „You are leaving the American sector.“ Dass die Kunstwelt den Punk, gerade in einer seiner schwer zugänglichsten Formen, nämlich in Gestalt von Blixa Bargeld, der, wie Mark Reeder in der schönen Musik-Doku „B Movie – Lust & Sound in West-Berlin 1979-1989“ erklärt, ziemlich exzentrisch war, selbst für diese Stadt und diese Zeit, und in „Kalt wie Eis“ in einer Galerie als lebendes Exponat auftreten darf, „domestiziert“ hat, wie Marcus Stiglegger im Booklet der DVD schreibt, während „Dave als authentischer Vertreter der Straßen- und Subkultur“ außen vor bleibt, ist sicherlich nur die halbe Wahrheit. Aus den Konzert- und Musikstudio-Szenen des Films spricht eine unbändige Kreativität, die gerade in dieser Stadt, die noch mehr uneins mit sich selbst war als es Städte eh immer schon sind (umso mehr, je größer die sozialen und kulturellen Unterschiede in ihnen sind), die unter zwei Staaten, zwei Systemen aufgeteilt war, einen idealen Nährboden hatte. Um es mit einem der Sprüche an der Wand von Balkos Zelle zu Beginn zu sagen: „Ohne Mauer keine Power.“

Wenn man sich fragt, was von dieser Power, dieser Energie im immer weiter durchgentrifzierten Gesamtberlin des Jahres 2017 bleibt, so kann man antworten, zum Beispiel dieser Film. Immerhin.

Marketa Lazarová

(CSSR 1967, Regie: František Vlácil)

Stabile Ordnung der Gewalt
von Wolfgang Nierlin

Rund fünfzig Jahre nach seiner Entstehung erreicht hierzulande mit „Marketa Lazarová“ ein Film die Leinwände, der unter Kennern längst als Meisterwerk gilt. Der kunstgeschichtlich ausgebildete tschechische Regisseur und Solitär František …

Rund fünfzig Jahre nach seiner Entstehung erreicht hierzulande mit „Marketa Lazarová“ ein Film die Leinwände, der unter Kennern längst als Meisterwerk gilt. Der kunstgeschichtlich ausgebildete tschechische Regisseur und Solitär František Vlácil hat sein wuchtiges mittelalterliches Epos Mitte der 1960er Jahre nach dem gleichnamigen Roman seines Landsmannes Vladislav Vancura realisiert. 548 Drehtage und eine Verdoppelung der veranschlagten Produktionskosten waren nötig, damit Vlácil seine schwarzweiße Vision eines möglichst authentischen Historienfilms ins Bild setzen konnte. Dabei geht es ihm – entgegen den Konventionen historischen Erzählens – nicht um das Nachstellen geschichtlicher Ereignisse, sondern um den Versuch, das Leben und die Denkweise einer vergangenen Zeit erfahrbar zu machen, also die damaligen Menschen und ihr Handeln zu verstehen. Damit die Schauspieler ihre Rollen leben konnten, ist Vlácil mit seiner Crew für zwei Jahre in den Böhmerwald gezogen und hat Werkzeuge und Waffen auf mittelalterliche Weise anfertigen lassen.

Mit „Marketa Lazarová“, einer Geschichte über permanente Gewalt und Gegengewalt, festigte František Vlácil aber vor allem seinen Ruf als rigoroser visueller Stilist des tschechischen Kinos. Seine 165 Minuten lange filmische Reflexion über den rohen, destruktiven Menschen gibt sich, gegliedert in zwei Teile und insgesamt zwölf Unterkapitel, in seiner Verlebendigung des Vergangenen chronologisch. Tatsächlich mäandert das mitunter schwer nachvollziehbare Geschehen um die kriegerischen Auseinandersetzungen zweier verfeindeter Familien-Clans aber zwischen Wirklichkeit und Traum, Licht und Dunkelheit, Gegenwart und Erinnerung. Vlácils sehr artifizieller Film, der mit surrealen Sequenzen, symbolisch aufgeladenen Bildern und akustischen Verfremdungen irritiert, folgt dabei einer Logik des Irrationalen und dem primitiven Instinkt seiner Helden. Deren unmittelbarer körperlicher Ausdruck, unterlegt mit Trommeln und mittelalterlichen Gesängen, materialisiert gewissermaßen den „Streit zwischen Liebe und Grausamkeit, Gewissheit und Zweifel“, wie es am Ende des Films heißt.

An dessen Beginn steht demgemäß ein brutaler Überfall, bei dem die beiden Brüder Adam und Miklas, Söhne des räuberischen Freibauern Kozlík, einen jungen deutschen Adligen entführen. Darüber geraten sie nicht nur in eine Rachefehde mit ihrem Nachbarn Lazar, sondern auch in einen blutigen Konflikt mit dem Hauptmann des Königs, der den Grafen Christian befreien will. Dieser soll nämlich zum Bischof gekrönt werden, verliebt sich aber in Kozlíks heidnische, amazonenhafte Tochter Alexandra. Gespiegelt wird diese fast „widernatürlich“ erscheinende Täter-Opfer-Beziehung im Verhältnis, das die schöne Titelheldin Marketa – die jungfräuliche, für ein Leben im Kloster bestimmte Tochter Lazars – mit ihrem Entführer Miklas eingeht. Der Krieg ist in Vlácils düsterer Vision auf die Triebkräfte der menschlichen Natur der Vater aller Dinge. Während der um Freiheit und Erlösung ringende Kampf tobt, der mehr graphisch als realistisch inszeniert ist, erfleht Marketa im Kloster göttliche Gnade. Doch in Vlácils ungewöhnlichem Film markieren die Gegensätze eine stabile Ordnung, die sich wie die mit ihr verbundene Gewalt immer weiter fortsetzt.

Ein Gespenst auf Freiersfüßen

(USA 1947, Regie: Joseph L. Mankiewicz)

Gespenstisches Begehren
von Nicolai Bühnemann

Gene Tierney blickt in den Spiegel, während sie die oberen Knöpfe ihres Kleides öffnet. Doch aus dem Spiegel blickt nicht nur sie zurück, sondern auch Rex Harrison, den das Gemälde …

Gene Tierney blickt in den Spiegel, während sie die oberen Knöpfe ihres Kleides öffnet. Doch aus dem Spiegel blickt nicht nur sie zurück, sondern auch Rex Harrison, den das Gemälde porträtiert, das auf der anderen Seite des Zimmers hängt. Tierney nimmt eine Decke, hängt sie über das Bild, fährt fort, sich umzuziehen. Nach einer Überblende steht sie im Nachthemd da, ordentlich bis oben zugeknöpft. Den rigiden Zensurbestimmungen des Hays Codes ist genüge getan – und dennoch sind die Blicke, die sich im Spiegel treffen, Ausdruck eines Begehrens, das als nekrophiles zu deuten es weder allzu viel noch einer allzu „schmutzigen“ Fantasie bedarf.

Tierney, die als schönste Frau im Hollywood der Vierziger gehandelt wurde, liebt als jung verwitwete Lucy Muir einen Geist, nämlich den des vor einigen Jahren verstorbenen Seekapitäns Daniel Gregg (Harrison). Das Gemälde, das Gregg zeigt, lässt sich auch als Anspielung auf Tierneys wohl berühmteste Rolle als Titelfigur in Otto Premingers „Laura“ (1944) verstehen, in die (bzw. ihr Porträt) sich ein von Dana Andrews gespielter Polizist verliebt, der im Fall ihres vermeintlichen Mordes ermittelt. Beide Filme beruhen, wie auch Nicholas Rays meisterlicher, die misogyne Geschlechterordnung des Film Noir auf den Kopf stellender „In a Lonely Place“ (1950), auf von Frauen geschriebenen literarischen Werken. Es scheint, dass dies die einzige Möglichkeit ist, dem schwelenden Sexismus einer Zeit etwas entgegenzusetzen, in der Frauen zwar – immerhin! – Bücher schreiben durften (ein Verleger sagt in dem Film: „20 Millionen unzufriedene Frauen auf den britischen Inseln, und jede einzelne von ihnen schreibt einen Roman. Und ich muss das Zeug veröffentlichen, um im Geschäft zu bleiben.“), aber mitnichten Filme drehen (Dorothy Arzner blieb im klassischen Hollywood bis in die Fünfziger, als ihr Ida Lupino folgte, die einzige Regisseurin). Während es bei Preminger noch darum ging, eine männliche Allmachtsfantasie zu entlarven, die darin bestand, Frauen besitzen zu wollen wie man etwa ein Gemälde besitzt, sie den eigenen Wünschen und Bedürfnissen entsprechend zu formen wie ein Künstler sein Objekt und das mit dieser einhergehende, sehr buchstäblich zu verstehende Frauenbild, besteht der feministische Twist bei Mankiewiecz und Ray darin, vielleicht genuin weibliche Perspektiven in ihre Filme einzubringen, zumindest aber für ihre Zeit bemerkenswerte, selbstbestimmte Frauenfiguren zu zeichnen. Es ist nun bezeichnend für „The Ghost and Mrs. Muir“, dass das Gemälde, von dem die (Blick-)Strukturen des Begehrens ausgehen, hier nicht mehr Tierney zeigt, sondern ihren männlichen Gegenpart in voller Kapitänsmontur. Ein Männerbild und ein Bild von einem Mann.

Doch beginnen wir am Anfang. Schon in der Vorgeschichte scheint der Tod als Erlösung zu fungieren. Verstorben ist Mr. Edwin Muir, und dass das Witwendasein für Lucy einer Befreiung gleichkommt, ihr erlaubt, so sagt sie, erstmals ein wirklich eigenes Leben zu führen, ist bei der Art, wie sich der Film von der ersten Szene an bedingungslos auf ihre Seite schlägt, eher als radikalfeministisches denn als zynisches Statement zu verstehen.

Von den Pflichten einer Ehe entbunden, die weder sonderlich glücklich noch über die Maßen unglücklich, sondern wohl ziemlich durchschnittlich, ziemlich egal war, beschließt Lucy dem London zur Jahrhundertwende, wo eine Texttafel das Geschehen zu Beginn verortet, den Rücken zu kehren. Und weg aus der großen Stadt, weg von ihrer Schwägerin und Schwiegermutter, das heißt für sie wohl auch weg von der Welt. Man muss nicht allzu weit vorgreifen, um zu sehen, dass sich Lucy abkehrt von der Rolle, die die Gesellschaft ihr als Frau zuerkennt, sich von den Fesseln der „blasted in-laws“, wie sie einmal im Seemannsslang sagt, befreit (und es ist keinesfalls zufällig, sondern verdammt gut beobachtet, dass diejenigen, die sich zu Hüterinnen der patriarchalen Ordnung erheben, selbst Frauen sind). Lieber von den anderen für verrückt, schrullig, asozial gehalten werden, aber dafür sein eigenes Ding machen können. Also raus aus der Stadt mit ihrer Tochter Anna und der Hausangestellten Martha und an die Küste, ans Meer.

Und auch bei dem Immobilienmakler zeigt sich Lucy als Frau, die ihren eigenen Kopf hat. Gegen alle Versuche des Maklers, sie von ihrer Wahl abzubringen, entscheidet sie sich für Gull Cottage, ein Haus mit Blick aufs Meer, das der einstige Besitzer, Kapitän Daniel Craig, sich selbst für seinen Lebensabend errichtete. Dass eben jener Kapitän, wie sich schnell herausstellt, immer noch durch das Haus spukt, kann Lucy nicht verschrecken, sondern sie findet es, ihrem eigenen Bekunden nach, „absolut faszinierend“.

Toll ist die für den Oscar nominierte Schwarz-Weiß-Fotografie von Charles Lang. Etwa wenn Lucy im Licht einer Kerze riesige Schatten an die Wände wirft oder sie versucht, die Fenster vor einem draußen tobenden Gewitter zu schließen. Noch viel toller ist das Drehbuch von Philipp Dunne, der bereits für John Fords Meisterwerk „How Green Was My Valley“ (1941) das Script lieferte und durch seine 1936er-Adaption von „The Last of the Mohicans“, einem furiosen Schlachtengemälde, das aber mit seiner Mischung aus Kostümfilmbetulichkeit und kolonialer Ideologie etwas schwer verdaulich daher kommt, auch noch einen Credit bei Michael Manns Version des Stoffes von 1992 erhielt. Von Ford bis Mann, was für eine Karriere!

Ich weiß nicht mehr, wo ich gelesen habe, dass wer das „N-Wort“ sagt oder schreibt, seine/n ZuhörerIn oder LeserIn dazu zwingt, „Nigger“ zu denken. In Dunnes messerscharfen Dialogen geht es um andere Wörter, die auszusprechen schon der blasted fucking Production Code verbat. Auf Lucys Bemerkung, dass Gregg nicht so viel fluchen sollte, weil das eine sehr hässliche Angewohnheit sei, erwidert er: „Wenn du glaubst, dass das hässlich ist, dann solltest du meine Gedanken lesen.“ An anderer Stelle, als Lucy, nachdem die Einnahmequellen durch die Goldmine ihre Mannes versiegt sind, beschließt für Gregg seine Memoiren niederzuschreiben, nicht nur, aber auch, um sie zu Geld zu machen, streiten sie sich ebenfalls über ein Wort, das sie für schrecklich erklärt, während er meint, es wäre ein gutes Wort, um das zu bezeichnen, was es meint. Wesentlich interessanter als die Frage, ob besagtes Wort nun mit „F“ oder „S“ beginnt, ist die Tatsache, dass der Film (nicht nur) auf der Ebene der Sprache eine Hypersensibilität für das Unausgesprochene und Unaussprechliche entwickelt, für den Unterstrom aus Lust, Liebe und Begehren, aus Todessehnsucht und Neurosen, der bei Einhaltung der Sprach- und Bildreglungen des Codes die Moral, die diesem zu Grunde liegt, gründlich unterminiert.

Liebesbekenntnisse zwischen Mrs. Muir und ihrem Geist gibt es unterdessen keine. Vielleicht ist die Szene, in der die beiden einander am nächsten sind, eine im Zug aus London zurück ans Meer nach dem sehr erfolgreichen Gespräch bei einem Verleger. Als ein Mann seinen Kopf ins Abteil steckt, wird er durch eine Schimpfkanonade des Kapitäns, den er selbst nicht sehen kann, vertrieben und wundert sich sehr über die Wortwahl einer so distinguiert erscheinenden Dame. Nachdem er sich zurückgezogen hat, brechen die beiden in ein viel zu kurzes lautes Gelächter aus, von dem man sich wünschen würde, dass es ewig andauern möge – oder zumindest, dass es so ausgeschlachtet würde wie in den Filmen von Roger Fritz die einmalig fiese Lache Klaus Löwitschs oder wie in vielen italienischen Genrefilmen das Gelächter der Bösewichter.

Der Geist rät Lucy, sich mehr der Welt zuzuwenden, Männer kennen zu lernen, was zunächst absolut nicht ihre Absicht ist. Bei ihrem Verleger trifft sie schließlich doch einen, Miles Fairley, der von George Sanders gespielt wird, dem charmantesten Gauner im Hollywood der Vierziger. Er malt Lucy am Strand beim Baden und dieses Porträt hängt eine Weile neben dem von Gregg. Als sich Lucy und Fairley im Garten küssen, fährt die Kamera durch das Geäst zurück bis sie Gregg erfasst, der den beiden an einen Baum gelehnt zusieht. Er dreht sich in Richtung Kamera, so dass er die beiden Liebenden für einen Moment verdeckt, dann gibt er den Blick auf sie wieder frei, indem er aus dem Bild geht. Eine einzige Einstellung, in der sich die ganze Verzwicktheit eines wahrlich sonderbaren Beziehungsdreiecks ausdrückt. Fairley verfügt bei seinem ausgeprägten Charme und seinem noch ausgeprägteren Zynismus zwar hier über keine nennenswerten kriminellen Energien, vergisst es aber Lucy gegenüber zu erwähnen, dass er verheiratet ist.

Nach dieser Enttäuschung zieht sich Lucy nach Gull Cottage zurück, wo Gregg die Schlafende mit einer denkwürdigen Rede verabschiedet, um sich nun zurück zu ziehen, sie, so sagt er, dem Leben zu überlassen. Doch die Hinwendung zur Welt ist Lucys Sache noch immer nicht. Ihrer inzwischen herangewachsenen und nun von Natalie Wood gespielten Tochter erklärt sie, auf die Aufforderung hin, zu ihr und ihrem Verlobten nach London zu ziehen (das muss ich einfach im Original zitieren): „You can be much more alone with other people than you are by yourself, even if it’s people you love.“

Schließlich kommt der Tod als Happy End und die große Liebe als das, was ihn überlebt. Selten sind in einem Film, auch über das Studiosystem hinaus, eine sehr hollywoodtypische Vorstellung von Romantik, das christliche Heilsversprechen vom ewigen Leben, für das die Welt ein zu durchschreitendes Jammertal ist, und schiere Todessehnsucht eine so unheimliche und gespenstische Allianz eingegangen.

Der Film liegt nun erstmals im deutschsprachigen Raum auf einer schlichten, aber soliden DVD von Winkler Film vor, die bereits vergangenen September erschienen ist. Darauf befindet sich der Film in guter Bildqualität auf Deutsch und Englisch sowie mit Untertiteln in diesen Sprachen. Als Extras gibt es einen Trailer, eine Bildergalerie und – immerhin! – ein Wendecover.

La La Land

(USA 2016, Regie: Damien Chazelle)

Morgen soll wie gestern sein
von Ricardo Brunn

Manchmal ist alles ungerecht. Im Stau zum Beispiel. Hier wird der Mensch an die Grenzen seiner Selbstbestimmung geführt, bekommt das Ende der Freiheit auf der für ebendiese Freiheit stehenden Straße …

Manchmal ist alles ungerecht. Im Stau zum Beispiel. Hier wird der Mensch an die Grenzen seiner Selbstbestimmung geführt, bekommt das Ende der Freiheit auf der für ebendiese Freiheit stehenden Straße bitterlich vor Augen geführt. Um ihn herum Menschen, die sind wie er selbst, die in der Starre des Verkehrs die eigene Ausweglosigkeit spiegeln und dabei glotzen wie in Federico Fellinis „8½“ (IT 1963). Da träumt der Protagonist zu Beginn von einem Stau, der sein kreatives Dilemma auf den Punkt bringt: Ein Regisseur (Marcello Mastroianni) muss einen Film drehen, hat aber selbst während der Dreharbeiten keine Ahnung worüber. Als Zitat wird dieses Dilemma in „Falling Down“ (USA 1993; R: Joel Schumacher) in die existentielle Ratlosigkeit eines Everyman (Michael Douglas) überführt, der den einfachen Traum hat, endlich nach Hause gehen zu können. Zur gleichen Zeit steht auch Michael Stipe im Musikvideo zu „Everybody Hurts“ (USA 1993; R: Jake Scott) im Stau, singt „Sometimes everything is wrong“ und steigt nach dieser Erkenntnis schließlich aus dem Auto, springt auf das Dach eines anderen und läuft los. Über Untertitel werden die Gedanken der anderen Autofahrerinnen und ihrer Beifahrer sichtbar. Am Ende steigen sie ebenfalls aus, sagen alles ab, sind raus aus dem Kreislauf von Produktion, Konsum und Leere, der weder vor noch zurück kennt. Indem sich die Protagonisten ihrer Krise bewusst werden, liefert ein Stau die Möglichkeit für einen Neuanfang.

Irgendwo zwischen all den stehen gebliebenen Autos sucht auch „La La Land“ von Damien Chazelle seinen Platz, beruft sich auf diesen (filmhistorischen) Stau und führt uns in seiner ersten Szene sogleich noch einmal Krise und Chance des erlahmenden Verkehrs vor Augen sowie die Protagonisten aufs Spielfeld: Mia (Emma Stone) will in Hollywood als Schauspielerin Karriere machen, hetzt allerdings nur von einem erniedrigenden Vorsprechen zum nächsten. Nichts geht voran. Auch Sebastian (Ryan Gosling) steckt fest. Als Pianist verdingt er sich in mittelmäßigen Restaurants, würde jedoch viel lieber seinen eigenen Jazz-Club eröffnen, um dem todgeweihten Musikgenre neues Leben einzuhauchen. Auf einer Party lernen sich Mia und Sebastian schließlich kennen, nachdem sie zuvor schon wild hupend im Stau aneinander geraten waren. Gemeinsam stolpern die beiden Idealisten durch ein L.A., das wie sie selbst nur aus Versatzstücken der goldenen Ära Hollywoods besteht. Während Mia von den Filmstars vergangener Tage schwärmt, entfaltet sich in Sebastians Kopf die Musik von damals. Ein Vorankommen ist schwer im Stau des Lebens, wenn Zukunftsversprechen der Vergangenheit angehören und der Sound der Gegenwart aus dem Marimba-Klingelton besteht. Doch die Hoffnung verbindet Mia und Sebastian. Die Erfüllung ihrer Träume ist immer nur einen Tanzschritt entfernt.

Schon in den Verleihtiteln sucht sich diese Hoffnung ihren Weg. Das Studiocanal-Logo flimmert schwarz-weiß und zerkratzt im beinahe quadratischen Normalformat vor den Augen des Zuschauers, bis der Cinemascope-Titel in knalligen Technicolor-Farben die Leinwand nach beiden Seiten öffnet. Dann der Stau und bald darauf das Gefühl, trotz bunter Tanzeinlagen auf ewig darin steckenbleiben zu müssen. Aus dem Stau der Fahrzeuge entwickelt sich nach und nach ein Stau der Bilder. Denn „La La Land“ ist gefangen in einer Zeitschleife, kommt über liebevolles Nachgeäffe nie hinaus. Die Echos aus der Vergangenheit legen sich bleischwer über die Gegenwart, der jede Kreativität und Selbstständigkeit abhanden gekommen zu sein scheint. Mia und Sebastian wollen sein wie die toten Stars. Gosling zitiert sich in seiner Rolle unentwegt selbst. Getanzt werden die Tänze aus anderen Filmen in den Dekors aus Klassikern des Musicalfilms. Und gesungen werden einfallslose Lieder, die in ihrem Massenkompatibilitätsanspruch an keine musikalische Tradition mehr ernsthaft anknüpfen können. Hoffnung wird in „La La Land“ übersetzt in Nostalgie und ist somit nicht mehr in die Zukunft gerichtet. Hoffnung ist in „La La Land“ die Hoffnung auf Gestern. Der Film beweint den Verlust eines Kinos als Exzess und wildes Abenteuer gegen die Banalität des Daseins. Doch er selbst backt die allerkleinsten Konsensbrötchen. Erschlafft und müde wirkt “La La Land” im Vergleich zu den Vorbildern. Der Stepptanz in den Hügeln. Der Walzer in den Sternen. Wer einmal Fred Astaire hat tanzen sehen, wer einmal in den Genuss der Choreografien eines Busby Berkeley gekommen ist, dem wird die primärfarbene Tristesse von “La La Land” erst wirklich bewusst.

In seiner Historizität beruft sich Damien Chazelle auf einen Zuschauer, der der Geschichte entrissen ist, keinen Vergleich mehr anstellen kann und sich auch nicht wundert, wenn es ein Remake nach dem anderen hagelt, wenn der alte Teebeutel für eine neue Generation in immer kürzeren Abständen noch einmal frisch aufgebrüht wird. Alles ist zum Zitat erstarrt und jeder Energie beraubt. Somit erfährt der Filmtitel, der einerseits als geflügeltes Wort für einen Zustand der Träumerei und andererseits für die in ihren Träumen verlorene Stadt L.A. steht, eine entscheidende Umdeutung. Die träumerische Musikalität des Titels steht vielmehr für hilflose Repetition. Wie ein immer schwächer werdendes Echo wiederholt „la, la“ Filmgeschichte und mündet in das bedeutungslose „bla, bla“ der Gegenwart.

So sehr Damien Chazelle den Traum von der Selbstverwirklichung und allen damit verbundenen Konsequenzen verhandeln möchte, der Regisseur verpasst es einen eigenen cineastischen Traum zu träumen. „La La Land“ ist demnach nicht nur ein trauriger Film über die Liebe als Opfer der Karriere. „La La Land“ ist ein trauriger Film, weil er sich nicht von seiner nostalgisch verklärten Sicht auf die Welt lösen kann. Viele Beobachtungen abseits der getanzten und besungenen Zitatstürme sind richtig und treiben einem die Tränen in die Augen. Doch so wie „Make America great again“ der rückwärtsgewandte Leitsatz des neuen amerikanischen Präsidenten lautet, feiert „La La Land“ die eigene deprimierende Utopielosigkeit.

Resident Evil 6: The Final Chapter

(F/D/CA/AUS 2016, Regie: Paul W.S. Anderson)

Erkenntnisschock im Horrorschlock: In der Zombienormalität ist Geist Minorität
von David Auer

Vorspann: If you don’t join ‘em, you’re beat „You can die with them, or you can die for them“, stellt der Director, gespielt von Horrorikone Sigourney Weaver, am Ende von …

Vorspann: If you don’t join ‘em, you’re beat

„You can die with them, or you can die for them“, stellt der Director, gespielt von Horrorikone Sigourney Weaver, am Ende von „The Cabin in the Woods“ (2012) die beiden letzten Überlebenden vor die Wahl, die keine ist. Denn sterben müssen sie ja so oder so, sei es nun – verbrämt utilitaristisch – zum Wohle der Menschheit, oder als Strafe dafür, nicht mitmachen zu wollen, was den Untergang der gesamten Zivilisation auch gleich mit sich zieht. In Drew Goddards und Joss Whedons Metahorror-Blockbuster entscheiden sich Dana und Marty, das final girl und der final boy, für die zweite Option, denn, das geben sie zu verstehen: Partizipation bedeutet den Untergang aller in der totalisierten Vernichtungssimulation der Horrorkontroll-Bubble, aber eben nur in Zeitlupe. Dagegenhalten hingegen beschleunigt den Prozess und die ganze Chose ist auch für den Rest schneller vorbei.

Von Baudrillards Kritiksimulation zu Negri/Hardts Multitudlereien reichen die widerständigen Antworten auf die sinisteren Machenschaften des zusammendelirierten weltumspannenden Empires von genuinem Terror bis zu mal mehr, mal weniger gefährlichem Vor-sich-hin-Netzwerken. Sollte sich die zweite, wie in „Cabin“, zu sehr ziehen, dann greift man eben zur ersten. Beide Taktiken verhalten sich zum Betrieb des Bestehenden allerdings wie der verpflichtende power nap im Kreativbüro zur „flachen“ Hierarchie in der Bank: Mitmachen im Racket is key, und eine Alternative, gar eine subversive, gibt es nicht (außer in der Gosse zu landen; aber ein solches Schicksal ist der Totalität genauso integral, die nur so heißt, weil sie eben eine Objektivität bezeichnet). Stets gilt: Man müsse, egal wobei, zwar leiden, ja, beim großen Hobeln fielen beizeiten sogar Späne, Opfer müssten eben sein, Köpfe selbstverständlich rollen, und nach einem harten Tag voll Revolte oder Arbeit winke immerhin Entspannung, auf dass man sich am nächsten wieder gut einspannen kann. Für ISIS-Kämpfer und jene der späten (Klein-)Bobourgeoisie wartet am Ende des Martyriums die ersehnte Erlösung, sei es entweder in Form von Ruhm, Ehre, EU-finanzierten Hinterbliebenenrenten, 72 Jungfrauen oder Zweitwohnsitz am Land bzw. dem Weiterarbeiten-Dürfen mit 72, denn die Selbstverwirklichung darf nie aufhören, selbst nicht beim zuhause Kugelschreiberzusammenbasteln.

Archetypus Postwachstum

Dass die Katastrophe, wovon selbsternannte Revolutionäre meist nicht nur insgeheim träumen, nicht erst bevorsteht, sondern schon längst passiert ist, sowie darin besteht, dass es immer so weiter geht, wusste bereits Walter Benjamin und weiß auch Film noch manchmal. Und so sehr sich religiöse Erweckungs- und Erlösungs- in Widerstandsfantasien in säkularisierter Form manifestieren, so sehr ist (Post-)Apokalypsekino von biblischen Motiven durchzogen, die sich unschwer als solche dechiffrieren lassen. Danas und Martys Entscheidung ist klinisch, weil sie damit den Säuberungswahn aus der Noah-Episode emulieren. Sie handeln den Shareholdern der Umbrella Corp. nicht unähnlich, die den T-Virus im ersten Teil der Gameverfilmungsreihe „Resident Evil“ (2002) nur auf die Menschheit loslassen, um sich, nachdem es seine Arbeit getan hat, auf einer besseren, weil endlich von der Masse befreiten, Welt, einrichten zu können. In „The Cabin in the Woods“ heißt es zwar, frei nach Wolfgang Pohrts „2000 Jahre Abendland sind genug“, „It’s time to give someone else a chance“, aber außer den ancient ones erneut eine Brachfläche zu überlassen, damit die „[ganze chose] auf einer viel tieferen Stufe noch einmal anfangen“ (Adorno/Horkheimer) kann, tun sie damit auch nicht. Ihr vorschneller Aktionismus ist blind, weil sie die Hoffnung auf ein besseres Leben für eine andere Spezies nach dem Ende der ihrigen verblendet, was sie zu guter Letzt auch noch als reaktionäre Antispeziesisten entlarvt.

Der sechste und, wie sich aus dem Titel, der auch nur stimmt, sofern es die Box Office-Einnahmen nicht tun, unschwer erkennen lässt, letzte Teil des nicht totzukriegenden Zombiefilmfranchises, „Resident Evil: The Final Chapter“ (2017), lässt sich auf solche Späßchen nicht ein, ja, ist sogar gegen sie (weswegen sein Ende auch mehr Spaß macht). Nach der Katastrophe warten nicht fließend‘ Milch und Honig, sondern nur noch mehr zähe Trips mit dem Motorrad durch urbane Wüstenlandschaften. Dass aus ihr auch noch Nutzen von ihrem Verursacher geschlagen wird, will Alice, gespielt von Milla Jovovic, unter allen Umständen vermeiden. Um das zu tun, macht sie sich also auf zurück zum Ursprung, dort, wo das T-Virus seinen Anfang genommen hat, in den Hive, die vielstöckige tiefvergrabene Arche, in der das Mittel, das alle Zombies „heilt“, also erlöst von ihrer ewigen Suche nach Hirn, entwickelt wurde. Dass beide, die Umbrella Corp. sowie Alice, zwar dasselbe vorhaben (mit dem Antidot den Erdball von den über sieben Milliarden Untoten zu befreien) aber nicht dasselbe damit bezwecken wollen (ein Utopia für Shareholder zu erschaffen), unterscheidet den Film ihres Gatten Paul W.S. Anderson von vielen anderen ähnlicher Couleur. Das Ziel der Protagonistin ist es nämlich nicht, dass die Vernichtung immer so fortschreitet, sondern sie und damit die Geschichte (also tendenziell auch das Franchise) stillzustellen, um den letzten Überlebenden in den wenigen verbarrikadierten Enklaven, die über den Erdball verstreut sind, den Tod zu ersparen (und der Produktionsfirma die Einnahmen, so scheint‘s, denn international war bisher allen Filmen finanzieller Erfolg beschieden).

All you can eat-Buffet – Die Welt als Beute

Diese Enklaven werden zunehmend von Zombiehorden überrollt, die allerdings, anders als in „World War Z“ (2013), kaum zu sehen sind. Sympathischerweise kommen im letzten Teil keine Hochleistungsleichenmassenpanoramen in den Blick, wie bei Marc Forster, und Untote ohnehin kaum noch vor, außer als müde, sich dahinschleppende Anhängsel eines religiösen Fanatikers, der sich mit Panzern auch auf den Weg Richtung Untergrundbunker macht (je weiter die Reihe voranschreitet, desto mehr sind die hive minded nur noch Ballast, nervige Dingwelt, die halt der Vorlage wegen auch vorkommen muss). Dass der Moses der Postapokalypse ein Klon des CEOs der Umbrella Corp. ist, der sich für das Original hält, ist konsequent: Sie trennt allein der unterschiedliche Aufzug. Die hungrige Masse folgt ihm jedoch nicht ins gelobte Land, sondern bloß dem Fleischgeruch: Zombies haben keine Hoffnung, sie treibt der Instinkt nur zur nächsten Beute, was sie tendenziell den verrohten Lebenden ähnlich macht, von denen es kaum noch Hirn zu holen geben dürfte (Dialog und Action sind meist, nun ja, hirnverbrannt), was schon die durchgesetzte Herrschaft des Ungeists anzeigt (insofern weist „The Final Chapter“ einen materialistischen Einschlag auf – auch nicht schlecht).

In der hirnlosen ewigen Gegenwart modern(en) alle vor sich hin und haften sich an Restbestände, die noch Erlösung versprechen: seien es ein paar Synapsen, Sicherheit in safe spaces, ein Gegengift, das auch Falle sein kann, oder Filme, die mehr auf den Untergang Lust machen als auf dass er nie passieren möge. „Someone once said that it is easier to imagine the end of the world than to imagine the end of capitalism“, heißt es bei Frederic Jameson einmal. Der Wunsch nach dem „Ende aller Dinge“ ist nun mal Symptom des globalen Ungeists; dass hingegen „die Menschheit der Verdinglichung ein Ende machte“, liegt so weit im Bereich des Unmachbaren, wie tabula rasa-Machen für viele die einzige Option ist, wiederum bei Adorno. Im Ansatz kann das Gegenmittel für den T-Virus als Verdinglichungsbeender perspektiviert werden, allerdings nur in Alices Hand, und auch nur, weil sie selbst damit infiziert ist, also unter Aussicht der Selbstaufopferung. Ihre Entscheidung ist aber nicht final: Nach einer beeindruckenden Szene, in der nun doch massenweise Verdinglichte vorkommen, allerdings als massenweise Einknickende, erwacht sie wieder zum Leben.

Ende gut, (nicht) alles schlecht

Am Ende bleibt nicht nur die gedämpft-heroische Geste ohne Märtyrertum, ambivalente Errettung, die von Erlösung nichts wissen will, Abgesang sowohl auf die „orchestrierte Apokalypse“ (wie es einmal im Film heißt) als auch den orchestrierten „Widerstand“. Das Gegengift ist Produkt des weltumspannenden Vernichtungsbetriebs, Alice ein Klon (der seinem reuigen Original in Altersmaske mit Mitgefühl begegnet), der davon nur durch ein zweifelhaftes Komplott der Red Queen erfährt, der Künstlichen Intelligenz, die eigentlich zum Schutz des Konzerns und nach ihrem Ebenbild als Kind erschaffen worden ist (erste Rolle für Ever Anderson, Tochter von Milla und Paul; passend die tagline: „Evil comes home“). Auf gut Glück, denn es könnte ja eine Falle sein, macht sie sich auf den Weg und erkennt, dass es keine ist; unvorhergesehen ist es auch, dass sie am Schluss überlebt (sie stirbt also weder „with“ noch „for them“). Zusätzlich nimmt „Resident Evil: The Final Chapter“ also Partei fürs Artifizielle und den glücklichen Zufall: Das ist gekonnt! Weswegen die mit schlechtem Nu-Metall-Score unterlegten zerschnippselten Actionszenen zwar kaum ärgern, weil sie, wie die Zombies, nun mal nebensächlich sind, dafür aber das ressentimentgeladene und Beifall heischende In-die-Luft-Jagen der versammelten Shareholder im Kryoschlaf umso mehr.

Mädchen, Mädchen

(BRD 1966, Regie: Roger Fritz)

Schatten- und Liebesspiele
von Nicolai Bühnemann

Helga Anders liegt im Bett, das Gesicht der Kamera zugewandt. Jürgen Jung öffnet die Tür hinter ihr. Sein Oberkörper ist frei, sein Schatten fällt riesenhaft auf die Wand über ihr, …

Helga Anders liegt im Bett, das Gesicht der Kamera zugewandt. Jürgen Jung öffnet die Tür hinter ihr. Sein Oberkörper ist frei, sein Schatten fällt riesenhaft auf die Wand über ihr, die sich schlafend stellt. Die Musik unterstreicht das Unheimliche der Szenerie und etwas unheimlich ist adoleszentes Begehren, um das es hier geht, ja irgendwie immer. Roger Fritz löst diese Szene in einer einzigen Einstellung auf, deren exakte Komposition wie so oft bei diesem Filmemacher seine Herkunft aus der Photographie verrät. Jung verlässt den Raum, geht die Treppe hinab, holt sich bei der älteren Haushälterin Anna in ihrem Zimmer, was er bei Anders (noch) nicht bekommt. Dem begehrenden Blick des Zuschauers wird die Tür vor der Nase zugeschlagen (und Türen und Blicke spielen eine entscheidende Rolle in diesem Film). Eine andere Szene, vielleicht die schönste in diesem an schönen Szenen gewiss nicht armen Film: die tanzenden Schatten von Anders und Jung an einer Betonwand in dem Zementwerk, in dem der Film fast komplett spielt. Ein vorbeigehender Arbeiter zerstört die musicalhaft anmutende Choreographie, indem er sie sehr buchstäblich überschattet.

Zwei Szenen aus „Mädchen, Mädchen“, Roger Fritz‘ Debütfilm, in denen es um Schatten geht und um Spiele. Bevor Andrea (Anders) und der schon dem Namen nach nie ganz aus dem Schatten seines Vaters heraustretende Junior (Jung) zum ersten Mal Sex haben im Wald, knöpft er ihre Bluse auf von oben nach unten, und sie knöpft sie, bevor er noch unten angelangt ist, in der gleichen Richtung wieder zu und so mehrmals hintereinander. Es folgt eine weitere typische Fritz-Einstellung von den beiden, die nun im Zustand postkoitaler Ermattung auf dem Waldboden liegen, mittig, aber ganz klein im Bild, gerahmt durch die Äste der umstehenden Bäume. Dann spielt Andrea mit einem Käfer, der sich in ihrem BH verlaufen hat. Ein Liebesspiel. Die Liebe als Spiel, dessen Einsatz zunächst nur Juniors Begehren ist, das in der beschriebenen Szene als Schatten auf Andrea fällt. Dann ihr gemeinsames, das nur durch einen Dritten ge- wenn nicht zerstört werden kann.

Dieser Dritte, der im Film die längste Zeit eben nur als Schatten, der über der Beziehung der beiden liegt, auftaucht, als langer Schatten, der zu erahnen ist lange bevor die dazugehörige Figur tatsächlich im Bild und im Film auftaucht, ist Juniors Vater Ernst (Helmut Lange). Dieser sitzt zunächst im Knast, weil er sich mit seiner minderjährigen Bediensteten Andrea auf eine Affäre eingelassen hatte (der entsprechende Paragraph aus dem Strafgesetzbuch erscheint zu Beginn als Texteinblendung), diese wiederum saß derweil in einem Heim für Schwererziehbare, aus dem sie in der ersten Szene des Films entlassen wird. Auf dem Weg zu ihren Eltern bleibt sie in Ernsts Fabrik hängen, wo sie sich auf ein stürmisches Abenteuer mit Junior einlässt, der die Geschäfte in Abwesenheit seines Vaters leitet.

Roger Fritz, der in den Siebzigern vor allem als Schauspieler gearbeitet hat, unter anderem bei verschiedenen Werken von Fassbinder und in Peckinpahs „Cross of Iron“ (1977), aber später in den Achtzigern auch in TV-Serien wie „Ein Fall für zwei“ oder der „Lindenstraße“ sowie in einem „Tatort“ zu sehen war, verfügt auch über ein eher überschaubares und bis vor kurzer Zeit beinahe vollkommen vergessenes Regie-Werk. Den Kern dieses Oeuvres bildet die sogenannte „Helga Anders-Trilogie“, drei Filme mit der Schauspielerin, die mit ihrem Schmollmund und den roten Haaren zum Inbegriff der „Kindfrau“ wurde, von 1967-74 mit Fritz verheiratet war und 1986, viel zu früh, im Alter von gerade einmal 38 Jahren von Alkohol und Drogen dahingerafft wurde, die Fritz in den späten Sechzigern schuf. Den Mittelteil, „Häschen in der Grube“ (1969), kenne ich leider mangels Verfügbarkeit immer noch nicht. Nach „Mädchen mit Gewalt“ (1970) liegt nun aber auch „Mädchen, Mädchen“ auf einer vorzüglichen DVD-BD-Edition von Subkultur-Entertainment vor. Fritz ist über die späte Entdeckung seines Regie-Schaffens durch eine überwiegend junge, nachgewachsene Cinephilie sicherlich erfreut, hilft, wo er kann, spricht Audiokommentare mit ein, gibt Interviews für Featurettes und ist im heimatlichen München als Ehrengast bei den immer noch viel zu seltenen Kinovorstellungen seiner Werke zugegen.

Die Parallelen zwischen „Mädchen, Mädchen“ und „Mädchen mit Gewalt“ liegen auf der Hand. Hier wie dort steht Anders zwischen zwei Männern, ist Objekt von Begehren und Begierde in einem Beziehungsdreieck (und von der Unmöglichkeit einer weiblichen Subjektwerdung in patriarchal geprägten Verhältnissen handeln beide Filme mindestens implizit). Die hermetisch abgeschlossenen Schauplätze der Handlung, ein Zementwerk hier, eine verlassenen Kiesgrube dort, tragen in beiden Filmen entscheidend zur Atmosphäre bei, wobei die Tatsache, dass in der Mondlandschaft hier noch emsig gearbeitet wird, während dort, wenige Jahre später, nur noch gespenstische Anlagen davon zeugen, dass hier einst gearbeitet wurde, in ihrer Kontinuität von einer schleichenden Verfallsgeschichte kündet. Im späteren Film macht Fritz einerseits die Räume enger, indem er sein Figurentrio den Hauptschauplatz bis zum Ende nicht verlassen lässt. Andererseits öffnet er seinen Film mit rape aber ohne revenge dem Genrekino der härteren Gangart, ohne doch in diesem jemals ganz aufzugehen. Schließlich ist es keineswegs Zufall, dass der spätere Film die Gewalt bereits im Titel trägt, tritt in der Figurenkonstellation dort doch eine Brutalität hervor, die sich hier subtiler, eher durch den sonderbar variierten und ziemlich gehemmten ödipalen Subtext in der Geschichte Juniors offenbart. Die Geliebte des Vaters, die „Mutter“, die jünger ist als er selbst, verführt er, zum Vatermörder wird er dann im entscheidenden Moment aber doch nicht – und sei es nur, weil der Papa just in diesem Moment einen Helm trägt.

Die ödipalen Energien Juniors finden schon deshalb keine rechte Angriffsfläche, weil Helmut Lange den Vater mitnichten als bösen Patriarchen gibt. Jovial und freundlich trinkt dieser Ernst mit seinen Arbeitern mal ein Bier und die Anziehungskraft, die er einst auf Andrea ausübte, scheint nur allzu verständlich zu sein. Für die politischen Narrative der späten Sechziger, etwa das Aufbegehren der damals jungen Generation gegen das naziverseuchte Establishment ihrer Väter, interessiert sich Fritz nicht die Bohne. Es nimmt wenig wunder, dass das Schaffen von einem, der sich so offensiv zwischen die Stühle setzt, von den ideologischen Grabenkämpfen zwischen „Papas Kino“ auf der einen, dem „Neuen Deutschen Film“ auf der anderen Seite einfach nichts wissen wollte, mit beidem offensichtlich nichts am Hut hatte, lange Jahre so gründlich vergessen wurde.

„Die Jugend“, das sind in „Mädchen Mädchen“ erst einmal die, die (Liebe) spielen, wo andere arbeiten müssen. Am deutlichsten wohl in der Szene, in der die Liebenden von einem Baggerfahrer bespaßt werden, indem er sie auf der Schippe seines schweren Geräts im Kreis durch die Luft drehen lässt. „Die Jugend“, das sind die, die durch Wald und Wiesen, Seen und Betten tollen. Das ist nicht reaktionär, dagegen ist erst einmal nichts zu sagen. Vielmehr schlägt sich die Inszenierung ganz auf die Seite der beiden, tollt die Kamera einfach mit und das, sorry, Tolle daran ist auch, dass Fritz bei aller Genauigkeit in der Komposition vieler seiner Einstellungen niemals eine dogmatische Strenge der Form walten lässt. Handkameras etwa mag dieser Filmemacher, so sagt er im Audiokommentar, eigentlich nicht und doch benutzt er sie, wenn eine Szene, hier die spielerische Verfolgung des jungen Paares durch bekannte Jugendliche in einem Kornfeld, sie als adäquates Mittel erscheinen lassen. Bei all der Verspieltheit des jungen Paares, die sich direkt auf den Film selbst überträgt, macht der Film einerseits durch das kleine Mädchen, deren Spiele im Film immer wieder leitmotivisch zu sehen sind, deutlich, dass schon Kinderspiele über ein gewisses Maß an Grausamkeit verfügen. Andererseits ist das, was Andrea und Junior hauptsächlich bei ihren (Liebes-)Spielen stört, als Einbruch des Wertekanons einer (patriarchalen) Erwachsenenwelt in ihre Beziehung zu werten. Mehrmals bezeichnet Junior Andrea harsch als „Nutte“, wirft ihr vor, zunächst mit seinem Vater geschlafen und ihn anschließend ins Gefängnis gebracht zu haben.

Schwer greifbar bleibt das Ende, an dem eine Tür geschlossen wird, wo zu Beginn, in der ersten Einstellung, eine geöffnet wurde und das Herrenhaus so in assoziative Beziehung zum Heim für Schwererziehbare gestellt wird. Die Haushälterin Anna, die schon durch den Beginn ihres Namens vielleicht auch als Spiegelung Andreas erscheint, auch wenn letztere von Solidarität zu und Fraternisierung mit der älteren vermeintlichen Leidensgenossin nichts wissen will, spiegelt auch die Heimaufseherin zu Beginn. Sie bleibt als Wächterin über die beiden Männer und ihr Begehren an der Tür stehen, während die Kamera in die Totale entschwebt. Ist die Jugend, sind die Spiele nun für Junior vorbei und beginnt der Ernst des Lebens, den der Vater schon im Namen trägt? Nun, zumindest verabreden sich die beiden erst einmal auf eine Partie Schach. Immerhin.

Mit der Veröffentlichung von „Mädchen Mädchen“ im Rahmen ihrer „Edition Deutsche Vita“ wiederholte Subkultur-Entertainment 2016, was ihnen schon 2015 mit der Scheibe zu „Mädchen mit Gewalt“ gelang: eine der wichtigsten und schönsten Editionen des Jahres vorzulegen. Und das eben nicht nur, weil ein lange Zeit nur in seltenen Kinovorführungen greifbarer Film nun wieder über die gängigen Bezugsquellen als Heimmedium erhältlich ist, sondern auch weil sich die Edition selbst mehr als sehen lassen kann. Mit an Bord sind ein Audiokommentar, den Roger Fritz zusammen mit dem „Eskalierende Träume“-Autor Sano Cestnik sowie dem Filmemacher und wundervollen Filmessayisten Rainer Knepperges eingesprochen hat. In dem Featurette „Zwei Jungs und Mädchen Mädchen“ unterhalten sich Fritz und Hauptdarsteller Jürgen Jung zunächst einzeln, dann gemeinsam mit Sadi Kantürk über ihre Erinnerungen an den Dreh, übers Kiffen, den schwer verständlichen kölschen Dialekt von Udo Kier (der eine Zeitlang für die Rolle von Jung im Gespräch war), die Studentenrevolte der späten Sechziger und „Papas Kino“. Abgerundet werden die inhaltsgleiche DVD und Blu-ray in einem Digipack durch ein weiteres Interview, diesmal mit Monika Zinnenberg, die in einer kleinen Nebenrolle zu sehen ist, und allerlei andere Kleinigkeiten sowie ein Booklet mit einem schön ausführlichen Text des Filmhistorikers Christoph Huber.

Bella e perduta – Eine Reise durch Italien

(IT 2015, Regie: Pietro Marcello)

Die Tränen des Büffels
von Wolfgang Nierlin

Ein kleines, männliches Büffelkalb wird in der Landschaft Kampaniens ausgesetzt. Weil von ihm keine Milch (für die Mozzarella-Produktion) zu erwarten ist, gilt es in der heutigen Zeit als „nutzlos“. Der …

Ein kleines, männliches Büffelkalb wird in der Landschaft Kampaniens ausgesetzt. Weil von ihm keine Milch (für die Mozzarella-Produktion) zu erwarten ist, gilt es in der heutigen Zeit als „nutzlos“. Der Topos vom unerwünschten, ausgesetzten Kind verbindet sich in Pietro Marcellos herausragendem Film „Bella e perduta – Eine Reise durch Italien“ – wie in Robert Bressons Eselsgeschichte „Zum Beispiel Balthasar“ (1966) – mit den Stationen eines Lebensweges. Dieser endet im Schlachthaus, wohin Sarchiapone, so der Name des kampanischen Büffels, mit tränenden Augen gebracht wird. Zu Beginn sehen wir ihn aus subjektiver Perspektive auf seinem letzten Weg durch die schmalen Gänge des Schlachthofes seinem Schicksal entgegengehen. Doch Sarchiapone besitzt nicht nur eine Seele, sondern auch die Gabe der Sprache. Mit ihr erzählt er uns aus dem Off von seinem „schlimmen Erdenlos“ und gewinnt dadurch eine Geschichte.

Diese beginnt mit dem gutmütigen Hirten Tommaso Cestrone, der den jungen Büffel aufnimmt und pflegt. Als freiwilliger Aufseher des Palasts von Carditello, einer verfallenden ehemaligen Bourbonen-Residenz in der Region Caserta, gilt der selbstlose Tommaso als „Engel von Carditello“. Sarchiapone spricht einmal von „geschützter Rast“, die er bei dem Tierfreund genießt. Doch nachts wird der Prachtbau immer wieder von der Camorra geplündert. Pietro Marcello, der mit Laienspielern gedreht hat, montiert in seinen zwischen Realität, Traum und Märchen oszillierenden Film immer wieder dokumentarische Aufnahmen von Demonstrationen, die sich gegen das organisierte Verbrechen richten. Als Tommaso Cestrone, dem der Film gewidmet ist, an einem Weihnachtsabend stirbt, gerät das Büffelkalb in die Obhut von Pulcinella, dem Narr aus der Comedia dell’arte.

Doch in „Bella e perduta“ („Schön und verloren“) ist der einfältige Diener mit der Maske ein „Vermittler zwischen Lebenden und Toten“. Er führe „höhere Befehle“ aus und lausche den Toten, um mit den Lebenden zu sprechen. „Voller Vertrauen in jene Intelligenz, die alles beschließt, aber zu beschäftigt ist, um sich zu erklären“, erscheint Pulcinella zugleich als sanfter Streiter für die Bewahrung der Schöpfung. Der Antagonismus zwischen Naturschönheit sowie menschlicher Gier und Zerstörungswut, zwischen Bewahrung der Tradition und Geschichtsvergessenheit zieht sich durch den Film. Als Sarchiapone schließlich bei dem Dichter Gesuino landet, der D’Annunzio zitiert und selbst Kunstschätze raubt, und überdies Pulcinella sich für ein irdisches Dasein entscheidet, ist das Los des abhängigen Tieres besiegelt. Gegen diese Ausweglosigkeit beschwört Pietro Marcello in seiner bukolischen Filmerzählung in freier Form, dabei auf bewegende Weise musikalisch getragen von u. a. Respighi, Donizetti und Scarlatti, die Schönheit der Natur und die Liebe zum Leben.

Die Killer

(USA 1946, Regie: Robert Siodmak)

Verlorene Seelen, zerrissene Biographien, narrative Trümmer
von Nicolai Bühnemann

Das Ende, spoiler ahead, ist eine Wucht. Edmond O’Brien macht als Versicherungsagent James Reardon alles richtig. Tut, was von einem Film Noir-Helden erwartet wird und widersteht den Versuchungen von Geld …

Das Ende, spoiler ahead, ist eine Wucht. Edmond O’Brien macht als Versicherungsagent James Reardon alles richtig. Tut, was von einem Film Noir-Helden erwartet wird und widersteht den Versuchungen von Geld und Sex. Gibt den Schatz, den er schließlich birgt, an seinen rechtmäßigen Besitzer zurück, bringt die Frau, die ihn für sich behalten wollte, ins Gefängnis. In der letzten Szene ist er im Büro seines Chefs, der ihn darüber informiert, dass durch die Viertel Million Dollar, die er für die Versicherung zurück erobert hat, die Beitragssätze im nächsten Jahr um einen Zehntel Cent fallen werden. Und für den ob dieser guten Nachricht doch etwas geknickt dreinschauenden Reardon setzt er noch einen drauf: „Heute ist Freitag. Bis Montag brauchen sie nicht wiederkommen.“ Aber was macht Reardon, macht O’Brien, der wohl der Held, aber nicht der Star des Films ist? Er dreht sich als er aus dem Büro geht in der Tür noch einmal um, blickt in der letzten Einstellung, über der die Worte „The End“ erscheinen, direkt in die Kamera und lacht, macht mit zwei Fingern eine Geste des Abschieds, die wohl eher den Zuschauenden im Kinosaal gilt, als dem Chef im Film. Das ist eine der schönsten Definitionen des Glücks in der Filmgeschichte. Der Erkenntnis von der Vergeblichkeit allen Tuns frech ins Gesicht lachen. Den Hut ziehen vor einer Welt, in der sich moralische Integrität letztendlich genauso wenig auszahlt wie das Verbrechen (und diese Botschaft macht Robert Siodmaks Meisterwerk wohl auch zu einer Art Meta-Kommentar über das Filmemachen im Hollywood unter dem Hays Codes).

Doch beginnen wir am Anfang: „Ernest Hemingway’s The Killers“ steht als Titel in den Credits und tatsächlich ist Siodmaks Film damit auch eine ziemlich eigenwillige Literaturverfilmung. Hemingways gleichnamige Erzählung ist ein kleines Meisterstück des literarischen Minimalismus. Eine Handvoll Figuren, zwei Schauplätze, eine Handlung, die sich über nicht mehr als den Zeitraum von anderthalb Stunde erstreckt, kein Wort zu viel, nirgends. Und doch geht es in den schmalen zehn Seiten dieser Erzählung um alles, um Leben und Tod, um das verwirkte Leben und den sicheren Tod. Der Film versetzt die Handlung der Geschichte aus dem Chicago der Prohibitionsära in die Kleinstadt Brentwood in New Jersey in der Gegenwart des Jahres 1946. Hier kommen eines Abends zwei Männer in ein Diner. Sie zwingen den einzigen Besucher des Lokals, Nick Adams, der in vielen Kurzgeschichten des Autors vorkommt, dazu, in die Küche zu gehen, fesseln ihn und den Koch, erzählen, dass sie hier seien, um einen Mann, den sie nur den „Schweden“ nennen, zu töten. Nachdem sie das Lokal verlassen haben, rennt Adams über Hinterhöfe zu dem Hotel, in dem der Mann, der sich hier Pete Lund nennt, der „Schwede“ (Burt Lancaster), um seinen Arbeitskollegen bei der örtlichen Tankstelle zu warnen. Doch dieser starrt nur weiter lethargisch auf die Wand, unternimmt keine Anstalten zu fliehen oder sich zu wehren. Wartet ergeben auf sein Schicksal, seine Killer. So weit, so Hemingway, dessen Erzählung der Film die ersten zwölf Minuten lang fast wortwörtlich wiedergibt, deren Dialoge er größtenteils übernimmt, nur hier und da etwas kürzt und – den Vorschriften des Production Codes gemäß – entschärft (wozu auch zählt, dass der schwarze Koch, Sam, der in der Geschichte von allen Seiten, auch der des Erzählers, mit dem Wort „nigger“ bedacht wird, und auch darüber hinaus mit seiner Feigheit ganz rassistische Karikatur ist, hier wesentlich erträglicher dargestellt wird).

Davon abgesehen, dass sich der Film, bei fast gleichlautendem Text, in seinem Tonfall gewaltig von der Erzählung unterscheidet, die expressionistische Bildsprache, die die beiden Killer im Vorspann lange Schatten werfen lässt, unterstützt von der orchestralen, dramatisch aufspielenden Musik von Miklos Rozsa, geradezu einen Kontrapunkt setzt zu Hemingways lakonischer Sprache (wozu auch gerechnet werden muss, dass der Autor den Mord selbst absichtlich auslässt, während Siodmak zeigt, wie die beiden Männer die Trommeln ihrer Revolver in den Körper ihres Opfers entleeren und ihre finsteren Fratzen im Licht der Schüsse aufblitzen), nimmt Drehbuchautor Anthony Veiller die Geschichte nur als Exposition eines Filmes, der schon der Prämisse nach, zu erklären wie ein Mann dazu kam, in einem schäbigen kleinen Hotelzimmer todesergeben auf seine Mörder zu warten, purer Anti-Hemingway ist.

Auftritt Reardon, der, darin die Rolle der Zuschauenden einnehmend, versucht, das Rätsel um den Tod des „Schweden“ zu lösen, das weder die Polizei von Brentwood noch seinen Chef bei der Versicherung sonderlich interessiert. Der Film bebildert nun in Rückblenden die Erzählungen der diversen Zeugen, die der Ermittler bei seinen Nachforschungen trifft. Es entsteht eine Geschichte um Begehren, Besessenheit, Betrug, ums Scheitern und – immer wieder – den Tod, um eine frühzeitig beendete Boxerkarriere, eine femme fatale, einen Raubüberfall, ein verwirktes Leben. Schon die Rückblendenstruktur des Films sorgt dafür, dass der Plot keine Linearität annimmt, sondern vielmehr die Fetzen einer zerrissenen Biographie vor uns auftauchen, die auch die Schicksale der überwiegend deutschen Exilanten, die vor dem Naziterror in die USA flüchteten, spiegeln mag, ohne die das düstere Hollywood-Genre-Kino der Epoche nicht denkbar wäre: Edgar G. Ulmer, Billy Wilder, Fritz Lang, Otto Preminger oder eben Robert Siodmak und seinen Bruder Curt. Der Film Noir ist, nach der wunderbaren Definition von Rainer Knepperges, „eine Kunstform des Nachkriegs, die Mitleid mit Menschen hat, die ihre Seele verloren haben.“

Burt Lancaster, der zuvor unter anderem als Zirkusakrobat arbeitete, ist hier in seiner ersten Rolle zu sehen, mit der er gleich einen Archetypen des Noir schuf: den einer gefährlichen und betrügerischen Frau verfallenen, unendlich getriebenen, gebrochenen Antihelden. Und die Getriebenheit seiner Figur wird im klassischen Hollywood wohl nur noch von Humphrey Bogart als abgehalfterter, gewalttätiger Drehbuchautor in Nicholas Rays „<<TEXT:UNTERSTRICHEN>In a Lonely Place“ (1950) übertroffen. Lancasters „Schwede“ tut nicht, was von einem Film Noir-Helden erwartet wird, erliegt den Versuchungen von Frau und Geld, weist die bürgerliche Existenz von sich, indem er einem einstigen Freund, der inzwischen Polizist geworden ist, erklärt, dass er das Geld, das er bei der Polizei in einem Jahr verdienen würde, in guten Monaten als Profiboxer in einem Monat bekam. Der bürgerlichen Frau, die er haben könnte, und die schließlich den Polizisten heiratet, zeigt er die kalte Schulter zugunsten der in kriminelle Machenschaften verwickelten Kitty Collins (Ava Gardner, die ebenfalls hier erstmals in einer tragenden Rolle zu sehen ist, gibt neben Barbara Stanwyck in Wilders „Double Indemnity“ (1944) eine der maßgeblichen femme fatales der Ära). Es ist bemerkenswert, welche Macht über Männer dieser Film Frauen zugesteht, ohne dass sie ihnen jemals helfen würden, zu eigenständigen Subjekten der Erzählung zu werden, durch sie wird entschieden, wie der Lebenswandel eines Mannes aussieht, auf welcher Seite des Gesetzes er steht, aber sie selbst entscheiden nie, bleiben reine Verlängerung eines männlichen Lebens- oder eben Todestriebs.

Ein paar Blickwechsel mit Kitty, eine Zweiereinstellung der beiden und es ist um den Schweden geschehen. Er geht drei Jahre in den Knast, um sie von einer Anzeige wegen Diebstahls zu entlasten, vertraut ihr bis zum Schluss, dem „double-cross to end all double-crosses.“ Als er zeitweise als erfolgreicher Geschäftsmann auftritt, mag es der Mode der Zeit entsprechen, dass sein protziger Anzug aussieht, als sei er ihm mindestens drei Nummern zu groß. Es passt aber ungemein zu seiner Figur, der auf der Gewinnerseite des Lebens sich einzurichten einfach nicht vergönnt ist, der die Rolle, die sie hier spielt, eben buchstäblich zu groß ist.

Der Ermittler wird auch zu einem Wanderer zwischen den Welten, der sich durch verschiedenste Milieus bewegt, ohne einem von ihnen jemals wirklich anzugehören. So entwickelt der Film auch ein durch und durch brüchiges Gesellschaftspanorama. Von den Boxringen über gutbürgerliche Stuben zu einfachen Hotelzimmern, von vornehmen Herrenhäusern zu dem Nachtclub Green Cat, dessen namengebende Katzenskulptur in einer wunderschönen, bizarren Einstellung mittig im Bild zwischen den Gästen an der Bar thront, erhaben, majestätisch. In ihr spiegelt sich Kitty, schon ihrem Namen nach. Sie zeigt, was diese Frau sein könnte, würde man sie denn lassen. Der Spiegel, den das Kunstwerk, nach Auffassung der Realisten, der Gesellschaft vorhält, ist in diesem Film ein zersplitterter. Abbild einer Realität, die sich nur noch in (narrativen) Trümmern denken lässt. Realismus und Stimmungsbild einer Welt nach den kollektiven Traumata von Krieg und Faschismus gehen fließend ineinander über. Vielleicht ist Reardon, dem der Film außer seiner Arbeit, die sich schließlich kaum bezahlt macht, keinerlei Leben zugesteht, heimlich die tragischste Figur. Vielleicht kehrt „The Killers“ am Ende doch zu Hemingway zurück, der seine Kurzgeschichte mit den Worten enden ließ: „Well, (…) you better not think about it.“

Der junge Karl Marx

(FR, DE, BE 2016, Regie: Raoul Peck)

Marx mag´s brav (und ist doch Projektprankster)
von Drehli Robnik

Am Ende steht ein Schwarzweiß-Archivbild, dem abrupt Bob Dylans ‚Like a Rolling Stone‘ folgt. Will diese Filmbiografie etwa Hommage sein an ‚I’m Not There‘, Todd Haynes‘ Dylan-Geschichtsvexierfilm, der vor zehn …

Am Ende steht ein Schwarzweiß-Archivbild, dem abrupt Bob Dylans ‚Like a Rolling Stone‘ folgt. Will diese Filmbiografie etwa Hommage sein an ‚I’m Not There‘, Todd Haynes‘ Dylan-Geschichtsvexierfilm, der vor zehn Jahren ähnlich pointiert endete? Bevor am Ende von ‚Der junge Karl Marx‘ der Stein los- und ein Historyclip von ’68 über Finanzkrise bis Occupy und Podemos abrollt, schreiben der lockige Titelstar und Friedrich Engels in aufgewühlten Nachtstunden ihren Superhit, das Kommunistische Manifest mit dem Gespenst, das in Europa umgeht. Gilt also ‚I’m Not There‘? Geht es da um Anrufung zeitferner Geister in heutigen Zeiten verschärfter Ausbeutung und Herrschaft, in denen Marx wie selten zuvor vermisst und in Bildungsmilieus eh gerade wieder hip wird? Kommt das deutsch-französische Biopic also gerade zurecht?

Es kommt tatsächlich irgendwie zurecht – damit nämlich, Marx und Engels Pop-Appeal und Rebel-Chic aufzuprägen: Zwischen Schach und Schnaps, Streit und Schrift, Landesverweis und Fabrikantenvaterzoff, Volksrede und Sternstunde (Weltveränderungs-Feuerbach-Thesen-Einfall nach Sauf- und Kotz-Exzess) entspinnt sich ein stationenläufiges Buddymovie: zwei freche Freigeister in einer engen Welt. Sie werden (Gegenwartsbezug!) zu Prankstern im Medienstartup-Projektarbeitsstress stilisiert, sprich: Eine Geschichte linker Kämpfe wird hier in liberalem Ton erzählt. Könnte schlimmer sein (siehe die RAF-Filme der Nullerjahre).

Der haitianische Regisseur und Polit-Aktivist Raoul Peck, versiert in dekolonialen Historienfilmen (‚Lumumba‘, I Am Not Your Negro‚), inszeniert das sauber. Auch die beiden Ehefrauen bekommen Dialog; das ist noch nicht als feministisch zu qualifizieren (eher höflich). Go, Karli: August Diehl – vor zehn Jahren in ‚Die Fälscher‘ als Kommunist, in Wer wenn nicht wir‚ 2011 studentisch links und nächstes Jahr für Terrence Malick als austrokatholischer Nazikriegsdienstverweigerer Jägerstätter im Einsatz – spielt die Titelfigur gehetzt, Olivier Gourmet den Proudhon ruhig; Bakunin tritt auf, auch Courbet und andere Promis. Die Ausstattung ist normal. Zum Auftakt gibt’s Action mit berittener Polizei gegen Holz sammelnde Arme; die Säbelaction reicht für einen späteren Alptraum-Flash, der Marx aus dem Schlaf schreckt. Die lange Londoner Debattenszene, bei der aus dem Bund der Gerechten jener der Kommunisten wird, hat Charme und etwas von Ken Loach.

Das ergibt in Summe ein Gegenteil von ‚I´m Not There‘-Gespensterpolitik: Hier ist alles da, mit Titeln beschriftet, im Dialog Wikipedia-Vorspanns-haft vermittelt, angetreten zur Erbauung und Didaktik. Mit Marxens Achtzehntem Brumaire gesagt: Die Versammlung, die dieser Film leistet, erfolgt nicht mit Klasse, sondern unkomplex, nicht als Klasse, sondern ohne Kampfgeist, durch bloße Addition (von Namen, Orten, allerlei Wissenswertem), ‚wie etwa ein Sack von Kartoffeln einen Kartoffelsack bildet‘. (Östliche Ösis nennen so etwas mit einem Fachausdruck ‚einen Batzen Karl‘.)


Hier und hier finden sich weitere Kritiken zu ‚Der junge Karl Marx‘.

Boston

(USA 2016, Regie: Peter Berg)

Armes Amerika! Tod, Cops, Trost, Lob, Stolz – Boston (eine rechtspopulistische Actionperle)
von Drehli Robnik

Das Terrorfahndungsdrama ‚Boston‘ über das Nagelbombenattentat auf den dortigen Marathonlauf 2013 und die tagelange blutige Flucht der zu weiteren Anschlägen entschlossenen Täter enthält ein Juwel von einer Actionszene. Der Shootout …

Das Terrorfahndungsdrama ‚Boston‘ über das Nagelbombenattentat auf den dortigen Marathonlauf 2013 und die tagelange blutige Flucht der zu weiteren Anschlägen entschlossenen Täter enthält ein Juwel von einer Actionszene. Der Shootout zwischen lokalen Polizeikräften und einem djihadistischen Brüderpaar (Amis mit tschetschenischer Herkunft), nachts zwischen Reihenhäusern, ist nicht zuletzt deshalb von solcher Wucht, weil Choreografie, Sound, Licht und Schnitt hier so trocken gesetzt sind.

So lapidar und billig, dass es spektakulär und hochkarätig wirkt: Das setzt komplexe Gestaltungsoperationen voraus, lässt sich aber doch mit dem Label ‚Dokudrama‘ ganz gut erfassen. Das gilt für den gesamten Film: ‚Boston‘ stellt Alltagsmenschen in ihren Räumen, Reden und Schicksalen aus, mit Freude an Dialekt und Schimpftiraden im Dialog, mit Fotos und Factsheets zu den in der Wirklichkeit Beteiligten, zumal Opfern, im Abspann. Aus dem parallel montierten Ensembleplot der Allerweltsgesichter (a touch of 1970er Katastrophenfilm) sticht die Psychodynamik zwischen den Attentäter-Brüdern hervor, insbesondere der Narzissmus des lockenköpfigen Jüngeren, der vom doktrinären Älteren herumgebosselt wird, sich dem Dialog zufolge hauptsächlich für fette Autos und deren technische Features interessiert (und heute in der Todeszelle sitzt; der Ältere starb beim Shootout). Weiter treten markant hervor: Mark Wahlberg als etwas sehr auf Immer-Dabei forcierter Cop-Hero sowie Kevin Bacon. John Goodman (scheußlich schlank) und J.K. Simmons als ruppige Ermittler. Die Medienarbeit des FBI, die unter Zeitdruck abläuft, ist im Film in ihren diversen Facetten betont: vom Polizeifunk und der Öffentlichkeitsarbeit (nicht zuletzt im Wettlauf mit publikationsgierigen TV-Sendern) bis zur peniblen Auswertung von Überwachungskamera-Blickwinkeln, die teils in einer paratheatralen Tatortgrundrissrekonstruktion, teils als einmontiertes Originalmaterial – zumindest soll es so wahrgenommen werden – ins Spiel kommen.

Abgesehen von diesem Procedural-Krimi-Element dreht Regisseur Peter Berg mit ‚Boston‘ nun zum schon dritten Mal denselben (allerdings packenden) Film. Auch das Afghanistankriegs-Kommando-Geböller und die Ölbohrinsel-Katastrophen-Action in ‚Lone Survivor‘ bzw. unlängst in ‚Deepwater Horizon‘ boten ‚American Carnage‘ (O-Ton D.J. Trump), sprich: jeweils eine True Story mit Zusteuern auf ein zur News-Folklore gehörendes, unvermeidliches Desaster, jeweils in einem Männermilieu, das seine Techniken und deren Jargons zur Schau stellt und zunehmend dezimiert wird – allen voran ein lädierter Wahlberg (diesmal hat er nur böses Knieweh, dafür kehrt einer der berühmtesten Söhne Bostons nun heim). Hackler in Uniform bzw. Prolos unter Waffen in Gefahr (der Unterschied zwischen mit Feuer und Stahl hantierenden Ölbohrern und einer Navy-SEALS-Truppe ist nicht allzu groß) – zunehmend mit Auftritten tougher Frauen, bis hin zur kalten Verhörszene zwischen der konvertierten Attentäter-Witwe und einer Sonderermittlerin mit Schleier und, humoriger, der Anekdote mit einer Melissa McCarthy-artigen No-Nonsense-Polizistin im Showdown. Nicht-hellhäutige Figuren werden gönnerhaft einbezogen, sofern sie nicht Mörder sind – was sie bei Berg aber meistens sind –, oder aber in fifty shades of Demut agieren wie einst afghanische Dorfleute, dem siechen SEAL hilfreich zu Diensten, und nun in ‚Boston‘ der von den Flüchtenden gekidnapte, verhaltensunsichere chinesische SUV-Fahrer. Zum Gaudium der Autochthonen darf er ein assimilationswilliges ‚Go catch those motherfuckers!‘ knödeln. (Insofern war ‚Deepwater Horizon‘ etwas anders, weil die Konfliktsituation in Ermangelung eines bewaffneten ethnisierten Feindes in Richtung einer Karikatur von proletarischem Klassenkampf gravitierte, mit John Malkovich als Feindbild-Figur eines identitaristischen Anti-Eliten-Ressentiments – süffisant über Jahrgangswein parlierender, abehobener Manager-Ungustl – und mit sowohl Frauen als auch African Americans relativ beiläufig unter den ‚Handarbeitern im Feuer vor Ort‘ als Erfahrungsträger.)

Im Kino-Kontext gesehen ist ‚Boston‘ eine Art Captain Philips‚ mit mehr Krach (und mit Uniformträgern ohne einen Hauch von Ambivalenz) bzw. Zero Dark Thirty‚ minus Obsession und deren Analyse. (Michael Manns Heat-Shootout und spätere Farbenspiele lassen zwischen den Reihenhäusern von Boston ebenfalls grüßen.) Im erweiterten Medienkontext, also in Hinblick darauf, was Leute verbindet, was ein Kollektiv im vollen Wortsinn bildet, bietet die Marke Berg, mit ihrer Spezialität Abspann-Weihespiele (rührt immer), ein gediegen modernisiertes rechtspopulistisches Hochleistungspathos. Der Film ist im Original nach dem Feiertag betitelt, an dem der Marathonlauf und das Attentat stattfanden: ‚Patriots Day‘. Die Schlusssequenz, die mit der Rede eines Boston Red Sox-Baseballstars im Stadion beginnt – ‚This is our fucking city! Ain´t nobody gonna dictate our freedom! Stay strong!‘ – und mit einem Porträtfoto von John F. Kennedy endet, steht emblematisch für die ideologischen Vertauschungen, vielmehr: Hijackings, die hier ablaufen: Klar, Kennedy war auch ein Attentatsopfer, aber das ist nicht sein politisches Vermächtnis, auch nicht der rabiate Selbstbehauptungstrotz, der sich hier mit verbogenen Ikonen einstigen bürgerrechtlich-liberalen Aufbruchs ziert. Der Traum eines befugniserweiterungsseligen Innenministers (nennen wir ihn Sobotka, so heißt er in Österreich und grinst): In ‚Boston‘ will gekränkter maskulinistischer Stolz fürs fragile soziale Ganze einstehen, Außenfeind-Abwehr für Binnenvielfalt, Alarmzustand für Solidarität und Lokalpatriotismus für Liebe. – Nein.

shopper personal kirsten

Personal Shopper

(F 2016, Regie: Olivier Assayas)

Gespenstische Welt
von Nicolai Bühnemann

Etwa in der Mitte des Films ist Kristen Stewart da, wo sie schon zu Beginn von Olivier Assayas Vorgänger „Clouds of Sils Maria“ war: in einem Zug. Wo sie allerdings …

Etwa in der Mitte des Films ist Kristen Stewart da, wo sie schon zu Beginn von Olivier Assayas Vorgänger „Clouds of Sils Maria“ war: in einem Zug. Wo sie allerdings dort mit gleich mehreren Telefonen jonglierte, um die privaten und beruflichen Termine ihrer Chefin, einer von Juliette Binoche gespielten Schauspielerin, zu koordinieren, ist sie hier mit nur einem iPhone beschäftigt. Kurz nachdem sie in einem leerstehenden Landhaus nahe Paris einen – in gleichen Teilen beeindruckend und altmodisch animierten – Geist gesehen hat, tauscht sie mit einem Unbekannten Kurznachrichten aus. Die SMS-Unterhaltung, die sich über mehr als eine halbe Stunde Erzählzeit erstreckt – während Maureen mit dem Zug von Paris nach London fährt, in einer Boutique Kleidung für ihre Chefin Kyra (Nora von Waldstätten) kauft und den nächsten Zug zurück nach Paris nimmt – ist einer der schönsten Filmdialoge in einem Film der letzten paar Jahren. Und zwar, weil der Film das Medium des Mobiltelefons und die Sprache, die es hervorbringt, in ihrer Alltagsbanalität bedingungslos ernst nimmt, eine Art ganz eigene Poesie der Textnachrichten entwickelt.

Dass man schließlich erfährt, wer sich hinter dem anonymen Gegenpart dieser Unterhaltung verbirgt, ist eine bewusst gesetzte Enttäuschung. Die Auflösung kann schließlich gar nicht so spektakulär sein wie die lange aufrecht erhaltene Annahme, dass es sich um einen Kontakt mit dem Jenseits handelt, der die geistige (Omni-)Präsenz von Menschen bei gleichzeitiger physischer Abwesenheit, die mit den Technologien der Gegenwart einhergeht, konsequent und naheliegend ins Unheimliche überführt.

„I want you and Iwill have you/ Not physically/ To make contact/ First.“ schreibt ihr der Unbekannte. Über den Dialog legt sich damit auch eine erotische Spannung, die Möglichkeit eines sexuellen Kontakts mit einem mysteriösen Unbekannten. Maureen fährt in Kyras Wohnung, probiert die noblen Kleider an, die sie für dieses erstanden hat, schickt ein Foto von sich. Beim Umziehen sind – zum zweiten Mal im Film – ihre nackten Brüste zu sehen, doch um die Sexualisierung seiner Hauptdarstellerin für begehrende (männliche) Blicke geht es Assayas und seinem Kameramann Yorick Le Saux, mit dem er seit „Boarding Gate“ (2007) immer wieder zusammengearbeitet hat, nicht. Vielmehr baut der Film zu Maureen, der einsamsten aller Assayas-Heldinnen, eine große Intimität auf, die keine Close-Ups braucht. Schließlich masturbiert sie im Kleid und Bett ihrer Chefin, während die Kamera durch die Tür verschwindet, in einen benachbarten Raum gleitet und nur noch ihr Stöhnen zu hören ist. Ganz deutlich ist sie hier nicht Objekt, sondern Subjekt eines Begehrens, das längst keinen klar definierten Gegenstand mehr zu haben scheint (einen Freund hat Maureen zwar wohl auch, aber dass er nur zwei Mal als Chatpartner auf dem Bildschirm ihres Computers zu sehen ist, spricht Bände).

Der Plot, den der Film betont langsam in seinen Dialogen entwickelt, in kleinen Informationshäppchen, deren gemeinsamer Nenner ist, dass sie die Gegenwart und unmittelbare Vergangenheit der Protagonistin beleuchten, dreht sich um die Mittzwanzigerin Maureen, die in Paris festsitzt und wartet. Ihr Zwillingsbruder ist vor drei Monaten an einer Herzerkrankung, von der auch sie betroffen ist, verstorben, und sie hatte einst die Verabredung mit ihm getroffen, dass wer auch immer von den Beiden zuerst stirbt, der oder dem Verbleibenden ein Zeichen aus dem Jenseits geben würde. Was das Warten nicht eben versüßt, ist ihr Job als personal shopper für das reiche und arrogante Mode-Starlett Kyra.

Thematisch schließt der Film an das vorherige Schaffen Assayas‘ an. Auch hier geht es um Mobilität, Entwurzelung, Sprache, den alltäglichen Umgang mit neuen Medien. So bewegt sich Maureen, die an einer Stelle sagt, dass sie nicht den leisesten Schimmer hat, wo sie in sechs Monaten sein wird, mit dem Roller, dem Auto, dem Flugzeug oder eben dem Zug in und zwischen Paris, London und schließlich Oman, hantiert mit Handys und Laptops, interagiert mit sozialen Netzwerken, Suchmaschinen und Chatprogrammen.
Allerdings ist die Figur einerseits deutlich introvertierter angelegt als zum Beispiel die der Protagonistin in „Clouds of Sils Maria“. Spielte sie bereits dort eine Frau, die in ihrem Assistentinnen-Job am Rande der Welt von Geld und Glamour stand, ohne dieser doch wirklich anzugehören, so ging es dabei doch zumindest noch um die undurchsichtige, zunehmend diffizile Beziehung zweier Frauen, während sie hier vollkommen auf sich selbst gestellt ist. Ein einziges Mal versucht sie vergeblich, persönlichen Kontakt mit Kyra aufzunehmen, die in der wohl skurrilsten Szene des Films nunmehr zur reinen Karikatur ihres sozialen Stands verkommt: Während sie gemeinsam mit ihrem Anwalt in einer Telefonkonferenz wichtige Dinge klärt – es geht dabei, warum auch immer, um Gorillas! – macht sie auf ihrem Bett sonderbar anmutende Dehnübungen und hat für den störenden Eindringling in der Tür nur eine verscheuchende Handbewegungen übrig.

Andererseits überführt der Filmemacher seine bekannten Themen dabei auch konsequent ins Übernatürliche und führt damit in die globalisierte Welt mit ihren immensen Menschen-, Geld- und Datenströmen eine letzte frontier ein, die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Toten. Die direkten Reminiszenzen ans Genre-Kino, vor allem durch das Motiv des haunted house, bilden in „Personal Shopper“ nur die Spitze des Eisberges einer Welt, die, in klaustrophobischen Scope-Einstellungen eingefangen, durch und durch gespenstisch ist. Die Kamera entwickelt eine Art Hypersensibilität für das Unheimliche im Alltäglichen. Das unmotivierte Öffnen und Schließen einer automatischen Tür. Die kleinsten Veränderungen auf dem stets angespannten Gesicht der Hauptdarstellerin. Gegenstände, die sich, winzig im Bildhintergrund zu sehen, (wohl nicht nur wie) von Geisterhand bewegen. Dass es, bei allen Anknüpfungspunkten zur urbanen Wirklichkeit der Gegenwart, Assayas mitnichten um einen Realismus geht, der als Kontrapunkt zu den übernatürlichen Elementen des Films funktionieren könnte, zeigt sich vor allem in dem weit verbreiteten Glauben aller Figuren an das nicht rationell Erklärbare. Die Menschen, die zu Wort kommen, glauben nicht jede Geschichte über Geister und Begegnungen mit ihnen, die sie hören, aber sie glauben wohl alle, dass es nach dem Leben irgendwie weiter geht. Niemand erklärt Maureen, die ihrerseits vollkommen offen mit dem umgeht, was sie umtreibt, für verrückt, wie man es mit den ProtagonistInnen diverser Horrorfilme vor ihr tat. Der Zugriff von „Personal Shopper“ auf Filmgeschichte geschieht, was ein besonderes Schmankerl für einen Aspect Ratio-Fetischisten wie mich ist, unterdessen auch dadurch, dass der Film verschiedene Seitenverhältnisse durchgeht, die von Bedeutung für das Medium waren oder sind. So wird ein Youtube-Video von einer Seance aus den Sechzigern, das sich Maureen ansieht, im Bildformat 4:3 im Scope-Bild des Films mit schwarzen Rändern an den Seiten wiedergegeben (und damit eben nicht ganz leinwandfüllend). Auf den gängigen 16:9-Bildschirmen ihres Handys und Laptops sind die schwarzen Balken dann einfach etwas schmaler.

Es passt zu diesem im vielfachen Sinne phantastischen Film, dass er mit einer Frage endet, die auf den Ursprungs alles Unheimlichen zielt, und die er gar nicht erst vorgibt, beantworten zu können. Der Frage nach der Beschaffenheit dieses flüchtigen, in unentwegter Veränderung begriffenen, fragilen Etwas, das wir als Ich bezeichnen.

Dieser Text ist zuerst gekürzt erschienen auf: Perlentaucher.de

Hungerjahre – in einem reichen Land

(D 1980, Regie: Jutta Brückner)

Wachsende Versteinerungen
von Wolfgang Nierlin

Die Stimmen der Erinnerung kommen aus dem Off und erzählen vom eigenen nicht gelebten, verschobenen oder versäumten Leben, vom Verdrängten und Versteinerten. Die Filmemacherin Jutta Brückner, geboren 1941, spricht in …

Die Stimmen der Erinnerung kommen aus dem Off und erzählen vom eigenen nicht gelebten, verschobenen oder versäumten Leben, vom Verdrängten und Versteinerten. Die Filmemacherin Jutta Brückner, geboren 1941, spricht in ihren autobiographischen Filmen offen und genau von sich selbst und von ihrer Mutter, von den Ablagerungen der Geschichte in den Körpern und Seelen der Frauen, von unbewusst tradierten Verhaltensmustern, vom entfremdeten eigenen Körper und einer allmählicher Bewusstwerdung. In ihrem ersten Spielfilm „Hungerjahre – in einem reichen Land“ (1980), „der subjektiven Trauerarbeit einer Tochter“, ringt Brückners Alter Ego Ursula Scheuner (Britta Pohland) gegen das lähmende Vergessen um einen Selbstbezug. 1953 ist das sensible, intelligente Mädchen 13 Jahre alt und eben mit ihren Eltern in eine neue Wohnung gezogen. Die Verhältnisse sind beengt, wie ein langsamer Schwenk über die lange, graue Hausfassade mit ihren vielen (anonymen) Fenstern zeigt.

Ihre erste Menstruation ist für Ursula ein traumatisches Erlebnis. Zwischen der Abwehr ihrer eigenen körperlichen Veränderung und der verdrängten Sexualität der Elterngeneration erfährt sie zudem, dass Frauen nicht dürfen, was für Männer selbstverständlich scheint. Ursulas ängstliche, aber ehrgeizige Mutter Gerda, selbst gezeichnet von einer verlorenen Jugend, isoliert fortan ihre Tochter von Gleichaltrigen, reglementiert ihren Aktionsradius und straft mit Verboten. Die im Berichtszeitraum bis 1956 zur jungen Frau heranreifende Ursula versinkt „auf der Flucht vor Blicken und Worten“ zunehmend in einer Depression. Sie verliert Lust und Interesse an der Schule, ergibt sich Fressattacken, verletzt sich selbst, verwahrlost. „Ich fühle mich überflüssig“, sagt Ursula aus der Retrospektive. Ihre Mutter reagiert mit Unverständnis. Und ihr Vater, der während der Nazi-Diktatur Mitglied der Freien Proletarischen Jugend war, von diesem Mythos zehrt und dem gestohlenen Leben nachtrauert, bleibt für sie irgendwie unerreichbar.

Jutta Brückner verschränkt ihre in Schwarzweiß gedrehte, kammerspielartige Adoleszenzgeschichte immer wieder aufschlussreich mit zeitgeschichtlichen Dokumenten, etwa dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, der Einführung der Wehrpflicht, dem von heftigen Demonstrationen begleiteten KPD-Verbot oder auch einer fast ausschließlich unter Männerblicken stattfindenden Miss World-Wahl. Die Kontinuität der Geschichte resultiert in ihrem nüchternen Film aus einer komplexen Dialektik zwischen Öffentlichem und Privatem, zwischen Außen und Innen. „Wie konnte man innen und außen gleichzeitig leben?“, ist dann auch die zentrale Frage in „Hungerjahre“, der mit distanzierenden statt mit dramatisierenden Mitteln gemacht ist. Das Statische und Verfremdende darin spiegelt insofern nicht nur die „wachsende Versteinerung“ einer jungen Frau, sondern auch den bleiernen Stillstand einer ganzen Gesellschaft. „Ich wollte, dass der Film vollkommen anders wird. Ich wollte, dass er ‚von jenseits‘ kommt“, hat die Regisseurin über die „asketische Strenge“ ihres Films gesagt.

Eng verknüpft sind die darin beschriebenen seelischen und gesellschaftlichen „Hungerjahre“ mit Brückners erstem, 1975 entstandenem (und der DVD nebst einem umfangreichen PDF-Booklet beigegebenem) Dokumentarfilm „Tue recht und scheue niemand – Das Leben der Gerda Siepebrink“, der das „versäumte“, angsterfüllte Leben ihrer Mutter erzählt. „Wie man leben sollte, weiß man, wenn es vorbei ist“, sagt diese zu Beginn der aus historischen Fotografien und Selbstzeugnissen zusammengesetzten Biographie. Entlang der Zeitläufte entfaltet sich diese zwischen 1922 und 1975 in einem kleinbürgerlichen, von vielen Entbehrungen und Nöten gekennzeichneten Milieu. Indem Jutta Brückner mit quasi objektiven Mitteln eine subjektive Erzählung vergegenwärtigt, legt der – dem Fotografen August Sander gewidmete – „Foto-Film“ psychische und gesellschaftlich tradierte Muster individueller Versteinerung offen. In „Hungerjahre“ werden diese dann ganz innerlich und treiben die junge Heldin schließlich in eine geflüsterte Litanei aus Aufbegehren und Selbstdestruktion: „Die Kälte zerstören, den Panzer zerbrechen, im Schmerz zergehen“, deklamiert Ursula, während sie sich mit der Spitze des Zirkels unter die Haut fährt.

Nebel im August

(D/AT 2016, Regie: Kai Wessel)

Ein Denkmal
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Film befasst sich mit dem Schicksal eines Zwölfjährigen, der 1944 in der bayerischen Anstalt Kaufbeuren-Irrsee ermordet wurde. Ernst Lossa wurde vergiftet. Grund: Er war Sohn eines fahrenden Händlers, eines …

Der Film befasst sich mit dem Schicksal eines Zwölfjährigen, der 1944 in der bayerischen Anstalt Kaufbeuren-Irrsee ermordet wurde. Ernst Lossa wurde vergiftet. Grund: Er war Sohn eines fahrenden Händlers, eines Jenisch, und er war in der Hungeranstalt Kaufbeuren aufsässig. Er klaute Brot aus der Vorratskammer und versorgte Kinder, die verhungern sollten. Und er verbreitete unter seinesgleichen so etwas wie Hoffnung auf bessere Zeiten.
Der Ernst Lossa war ein Held. Und der Film setzt ihm ein Denkmal.

Dabei stellt Regisseur Kai Wessel sein Licht unter den Scheffel. Lossas Schicksal ist dokumentarisch ausführlich belegt. Im Film ist davon aber nicht die Rede. Wessels Absicht war vielmehr, „einen lebendigen Film“ zu machen – und keinen dokumentarischen. Daher vermeidet er beispielsweise, die Anstalt beim Namen zu nennen. Geht diese Strategie auf? Ich meine: ja. Der junge Held, widerständig und fürsorgend zugleich, bleibt im Fokus. Er berührt. Und es ging mir nicht anders: ich litt und hoffte mit ihm.

„Nebel im August“ ragt aus der Reihe der so genannten Euthanasie-Filme heraus. Er beschäftigt sich vorrangig nicht mit den bösen Tätern, auch nicht mit dem Rassenwahn der Nazis. Es fehlen in der detailgetreuen Ausstattung der Anstalten zum Beispiel Aufnahmen von Nazisymbolen wie Führerbild, Hakenkreuze, Parteiabzeichen pp. – Auch kommen Tätermotive nicht in den Vordergrund. Doch, ja, in einer großen Szene rühmt sich der Anstaltsleiter von Kaufbeuren-Irrsee als Erfinder der Hungerkost. Anstaltsessen reichlich, aber mit Suppen ohne Kalorien und Vitamine. Messungen ergeben, dass das Körpergewicht zuverlässig abnimmt. Das stößt im „Euthanasie“-Betrieb auf Zustimmung der Ärzteschaft. Besonders wenn vorrangig diejenigen getötet werden, die arbeitsunfähig oder –willig sind und den Anstalten keinen Nutzen und nichts als Kosten bringen.

Ergebnis: der Film, weit davon entfernt die Schuldigen zu fanatischen Nazis zu erklären, sieht die Schuldigen bei jenen, die ihre Entscheidungen nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip treffen. Und damit sind wir beim Heute angelangt. „Nebel im August“ führt umstandslos in die sehr gegenwärtige Diskussion über – Beispiel! – die pränatale Diagnostik.

Exkurs: In der Generalakte der Hamburger Gesundheitsbehörde der frühen vierziger Jahre vermerkte der Behördenleiter persönlich, die Abtransporte der Hamburger Kinder aus den Alsterdorfer Anstalten durch die „Euthanasie“-Busse der Kanzlei des Führers sollen fortan vermieden werden. „Wir machen es billiger“. Und so geschah es.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

The Lady in the Car with Glasses and a Gun

(F/B 2015, Regie: Joann Sfar)

Edel-Retro
von Bernd Kronsbein

Der 1971 geborene Franzose Joann Sfar ist eines dieser Allround-Genies, bei denen man vor Neid erblasst. Er ist ein begnadeter Comic-Autor und -Zeichner ('Die Katze des Rabbiners', 'Klezmer', 'Vampir'; alle …

Der 1971 geborene Franzose Joann Sfar ist eines dieser Allround-Genies, bei denen man vor Neid erblasst. Er ist ein begnadeter Comic-Autor und -Zeichner ('Die Katze des Rabbiners', 'Klezmer', 'Vampir'; alle Avant-Verlag), der ganz nebenbei auch noch tausend andere Sachen macht, u.a. auch Filme. 2010 debütierte er mit „Gainsbourg – Der Mann, der die Frauen liebte“, es folgte „Die Katze des Rabbiners“ (2011), die Zeichentrick-Adaption seiner Comic-Serie, und 2015 „The Lady in the Car with Glasses and a Gun“, die Neuverfilmung eines Romans von Sébastien Japrisot, der bereits 1970 von Anatole Litvak mit Samantha Eggar und Oliver Reed das Licht der Leinwand erblickte und dann schnöde in Vergessenheit geriet.

Sfars Remake ist nun auch in Deutschland erschienen und kann sich verdammt sehen lassen. Die titelgebende „Dame im Auto mit Brille und Gewehr“ ist Dany (Freya Mavor), ein blasses, sommersprossiges, rothaariges Mauerblümchen (Marke: Supermodel), das in den finsteren 1970ern als Tippse bei einem arschigen Chef arbeitet, während ihre alte Freundin Anita sich eben jenen Chef geangelt hat und nun ein nettes Leben in der Villa führt. Bis Dany eines Tages von ihrem Boss in die Villa geholt wird, um dort nach Feierabend weiterzutippen. Am nächsten Tag soll sie die glückliche reiche Familie gar zum Flughafen bringen und anschließend den supercoolen Thunderbird zurück zur Villa steuern. Dermaßen ausgenutzt, beschließt Dany, den mintfarbenen Schlitten für eine Spritztour zu borgen. Das hätte sie lieber nicht tun sollen… Nun beginnt eine atemberaubende Odyssee, die dem Zuschauer genüsslich den Boden unter den Füßen wegzieht. Denn auf der Fahrt nach Monte Carlo begegnet sie immer wieder Spuren von – sich selbst!

Sfar macht das geradezu unverschämt elegant, sexy, abgründig und ohne einen Funken Ironie. Er lässt die Zuschauer wunderbar im Ungewissen, ob Dany eine irre Psychopathin ist oder mit ihren irren Kork-Plateaus in ein mörderisches Komplott stolpert. Die Hinweise für beides sind breit gestreut und das macht den Reiz dieses Edel-Thrillers aus, der uns in einer Zeit zurückführt, als Filme noch aufgetüftelte Plots hatten. Mit Figuren, die bei aller Künstlichkeit doch Charme mitbrachten, dem man sich kaum entziehen kann. Wer nur Sfars Comics kennt, wird hier eine ganz neue Seite des Franzosen entdecken, eine, von der man gern noch mehr sehen würde.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: Comic.de

Right now, wrong then

(KR 2015, Regie: Hong Sang-soo)

Das Schöne suchen
von Wolfgang Nierlin

Zwei Versionen einer Liebesgeschichte erzählt Hong Sang-soo in seinem ebenso leichten wie melancholischen Film “Right now, wrong then” (Goldener Leopard, Locarno 2015). Nur wenige Schauplätze und ein eng gesteckter zeitlicher …

Zwei Versionen einer Liebesgeschichte erzählt Hong Sang-soo in seinem ebenso leichten wie melancholischen Film “Right now, wrong then” (Goldener Leopard, Locarno 2015). Nur wenige Schauplätze und ein eng gesteckter zeitlicher Rahmen genügen dem südkoreanischen Regisseur, um in der Begegnung zweier Menschen auf bezaubernde Weise einen ganzen Kosmos an Gefühlen und (kommunikativen) Verhaltensweisen zu entwickeln. In nuancierten Abweichungen und minimalen Verschiebungen der Perspektive lenkt Hong Sang-soo die Aufmerksamkeit auf veränderte Details im Verhalten der beiden Protagonisten; was wiederum Rückschlüsse zulässt auf ihren Charakter und die Motive ihres Handelns. Meist in sehr langen Einstellungen gedreht, innerhalb derer nur gelegentliche Zooms und Schwenks Akzente setzen, etabliert der Filmemacher einen reduzierten, zufällig erscheinenden Plot, um den Blick auf Prozesse und Verlaufsformen zu richten.

„Ich passe mich den Gegebenheiten an“, erklärt Hong Sang-soo seine Arbeitsweise, die sich nicht auf vorgefertigte Konzepte stützt, sondern auf Vorgefundenes reagiert. Am Anfang des künstlerischen Prozesses steht deshalb auch nicht ein Wissen, sondern der Wunsch, Neues zu entdecken. Ganz ähnlich äußert sich im Film auch der Regisseur Ham Chun-su (Jung Jae-young) aus Seoul, der bei einem Festival in der Provinzhauptstadt Suwon seinen neuen Film vorstellen soll. Man müsse auf einem unbekannten Weg offen bleiben für Entdeckungen, sagt der berühmte Arthouse-Regisseur zum spärlich erschienen Publikum. Und natürlich spricht er dabei auch für Hong Sang-soo, dessen Film „Right now, wrong then“ diese künstlerische Strategie abbildet und insofern auch als Film über das Filmemachen funktioniert. Indem Ham Chun-su versehentlich einen Tag zu früh angereist ist, wird diese kreative Offenheit gewissermaßen auf den Weg gebracht. So begegnet er beim Zeitvertreib der jungen Malerin Yoon Hee-jung (Kim Min-hee) und verliebt sich in sie.

Obwohl er verheiratet ist, sagt Ham einmal zu ihr, sie sei für ihn die „erste wahre Frau“ und er habe deshalb das Gefühl, eine lange Reise hinter sich zu haben. Aber was zunächst klar und eindeutig erscheint, ist nicht frei von Widersprüchen und Rückschlägen. In „Right now, wrong then“ braucht es einen zweiten Anlauf und Durchgang, damit sich die Liebenden auf schmerzlich schöne Weise ihrer Gefühle bewusst werden und sich im Zeichen des Abschieds füreinander öffnen. Und so begleiten wir die beiden noch einmal ins Atelier der Künstlerin, in ein Café namens „Dichter und Bauer“, in eine Sushi-Bar, wo sich vor allem der Filmregisseur mit Soju betrinkt, und zu einem Essen bei Freunden. Wir lauschen ihren Gesprächen und hören auf die Zwischentöne, bemerken ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede, während es kalt ist und irgendwann zum Ende hin leichter Schneefall einsetzt. Sie suche, ihren Möglichkeiten gemäß, im zweckfreien Malen das Schöne, sagt Yoon. Und bekommt dafür von Ham komplizenhafte Zustimmung: „Man tut, was man kann im Leben. Mehr geht nicht.“

Das unbekannte Mädchen

(B/F 2016, Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne)

Sich dem Sprechen öffnen
von Wolfgang Nierlin

Jenny Davin (Adèle Haenel) ist eine junge, engagierte Ärztin, die einen älteren, erkrankten Kollegen in seiner kassenärztlichen Praxis vertritt. Die Patienten in dem an der Maas gelegenen Bezirk von Seraing …

Jenny Davin (Adèle Haenel) ist eine junge, engagierte Ärztin, die einen älteren, erkrankten Kollegen in seiner kassenärztlichen Praxis vertritt. Die Patienten in dem an der Maas gelegenen Bezirk von Seraing bringen zusätzlich zu ihren Krankheiten oft noch ihre sozialen Probleme mit. Denn im Grunde ist beides eng miteinander verflochten. Der Körper repräsentiert die sozialen Abdrücke der Seele. Die Symptomatik psychosomatischer Reaktionen und deren „Lösung“ ist insofern auch ein Leitmotiv des sehr eindrucksvollen Films „Das unbekannte Mädchen“ (La fille inconnue) von Jean-Pierre und Luc Dardenne. Immer wieder zeigen die Körper etwas an, was Scham und Angst verzweifelt zurückzuhalten versuchen. Sehr genau und konzentriert filmen die Brüder Dardenne deshalb die Bewegungen der Körper bis hin zu dem Punkt, an dem diese ihren Widerstand aufgeben oder zusammenbrechen, um sich dem Sprechen zu öffnen.

Die bei ihren Patienten beliebte Ärztin arbeitet gewissenhaft und mit wenig geregelten Zeiten, so dass Arbeit und Privatleben fast identisch erscheinen. Obwohl sie als Nachfolgerin die Praxis übernehmen könnte, erwägt Jenny, in ein Ärzte-Zentrum einzutreten. Einmal kommt es aus einer Stresssituation heraus zu einem Konflikt mit ihrem sensiblen Praktikanten Julien (Olivier Bonnaud). Ein Anflug von Machtdemonstration auf der einen Seite und die Reaktivierung einer traumatischen Gewalterfahrung auf der anderen korrelieren auf fatale Weise, als es lange nach Schließung der Praxis an der Tür klingelt. Mehr impulsiv als überlegt verbietet die Ärztin dem Medizinstudenten, diese zu öffnen. Als sie schließlich am nächsten Tag von der Polizei erfährt, dass es sich vermutlich um eine Hilfesuchende handelte, die später tot am Flussufer aufgefunden wurde, entwickelt Jenny Schuldgefühle. Diese veranlassen sie dazu, nach der Identität des anonymen Opfers, einer jungen schwarzafrikanischen Frau, zu ermitteln. Zudem entschließt sie sich doch zur Übernahme der Praxis.

„Wäre sie tot, würden wir nicht ständig an sie denken“, formuliert Jenny Davin einmal die Schuldgefühle, die bald weitere Kreise ziehen und sich in einem komplizierten Geflecht zusammenschließen. Mit einem differenzierten Blick auf eine verzweigte Wirklichkeit zeigen die belgischen Filmemacher die mitunter tragischen Wirkungen von zufälligen Details. Aus diesen Spuren wiederum entwickeln sie Zusammenhänge, in denen die Individuen als Opfer und Gefangene der sozialen und gesellschaftlichen Umstände erscheinen. Der Einzelne birgt in sich seine je eigene (Leidens)geschichte, die den anderen verborgen ist und zugleich sein Handeln lenkt. Der sehr intensive, ehrliche und humane Film der Brüder Dardenne, der immer nah bei seiner Heldin ist, bleibt aber bei dieser Analyse nicht stehen; vielmehr ruft er seine Figuren in die Selbstverantwortung und bringt sie schließlich auf emotional bewegende Weise zum Sprechen. In diesem liegt zugleich die Chance für Ausgleich und Veränderung.

Passengers

(USA 2016, Regie: Morten Tyldum)

Was ist faul an Bord?
von Drehli Robnik

Zum Ende der Obama-Ära gibt es eine Raumfahrt in ungewisse Zukünfte, die voll ist mit Momenten des Abschieds und der Vermächtniserklärung (noch dazu ausgesprochen vom großen Laurence Fishburne): ‚Find out …

Zum Ende der Obama-Ära gibt es eine Raumfahrt in ungewisse Zukünfte, die voll ist mit Momenten des Abschieds und der Vermächtniserklärung (noch dazu ausgesprochen vom großen Laurence Fishburne): ‚Find out what´s wrong with your ship!‘

Morten Tyldums Zweipersonen-SciFi ‚Passengers‘ funktioniert vor allem als Lovestory: Ein Mechaniker (Chis Pratt, verschmitzt wie stets) und eine Reporterin Jennifer Lawrence (etwas unterfordert beim Bikini-Posing und heiseren Klagen) wachen als einzige von 5000 Hyperschlafreisenden auf dem Weg zu neu zu besiedelnden Planeten um satte 90 Jahre zu früh auf. Das Alleinsein im leeren Schiff ist schwer (und manchmal lustig, etwa mit Vollbart), das Zuzweitsein auch (und manchmal traurig, etwa durch ein Geheimnis, das zwischen den Liebenden steht). Die goldene Retro-Bar an Bord ist eine explizite Grußadresse an ‚Shining‘; vielleicht schimmert auch Buster Keatons Techno-Öko-Romanze in ‚Steamboat Bill jr.‘ da und dort durch.

Die dem Paar aufgegebene Grundlagenprüfung angesichts des Infrastrukturkollaps reißt manch gutes Thema an: das Dystopie-Standardmotiv der allmächtigen Kolonial-Corporation, der Klassenunterschied in Sachen Zugang (wem gibt der Essensautomat das Deluxe-Frühstück, wem nur den Brei?), die programmierte gute Laune von Bordcomputer-Auskunftsstimmen und Barkeeper-Robot. Die Schraube der Totalkapitalisierungskritik hätte durchaus mehr angezogen werden können – wo doch schon ‚Alien‘ 1979 wusste und uns wissen ließ, dass Leute, die aus dem Hyperschlaf geholt werden, bis ins Fleisch hinein Konzerneigentum und außerdem expendable sind –, aber es bleibt dann leider doch bei trivialen, rein technischen Problemquellen; die liefern immerhin schöne Schwerelosigkeits-Actionszenen. Es schwebt sich gut in der Zukunft.

Einfach das Ende der Welt

(CA, FR 2016, Regie: Xavier Dolan)

Symptome der Sprachlosigkeit
von Wolfgang Nierlin

Der Blick durch den Spalt einer Kabinentür zeigt uns eine gefangene Hauptfigur. Er wolle bis zum Schluss sein „eigener Herr“ bleiben, monologisiert der 34-jährige Louis (Gaspar Ulliel) aus dem Off. …

Der Blick durch den Spalt einer Kabinentür zeigt uns eine gefangene Hauptfigur. Er wolle bis zum Schluss sein „eigener Herr“ bleiben, monologisiert der 34-jährige Louis (Gaspar Ulliel) aus dem Off. „Irgendwo, vor einiger Zeit“, so die unbestimmten, aber verallgemeinerbaren Orts- und Zeitangaben zu Beginn des Films, sitzt der bekannte Schriftsteller in einem Flugzeug auf dem Weg nach Hause. Zwölf Jahre sind vergangen, seitdem er als homosexueller junger Mann aufgebrochen ist und seine Familie nicht gesehen hat. Jetzt kehrt der schweigsame Louis zurück, um seinen bevorstehenden Tod anzukündigen. Mehr erfährt man nicht über ihn, während auf der Fahrt in einem Taxi alltägliche, leicht melancholisch grundierte Straßenszenen an ihm vorbeiziehen. „Home is where it hurts“, heißt es dazu im Song der Titelsequenz. Und wir ahnen die kommenden Konflikte.

Doch diese sind merkwürdig abwesend in Xavier Dolans neuem, preisgekröntem Film „Einfach das Ende der Welt“ (Just la fin du monde), der auf einem Theaterstück des vielgespielten französischen Autors Jean-Luc Lagarce basiert. Zwar herrscht von Anfang an ein Klima angespannter Verunsicherung und offener Aggressivität, doch die inhaltlichen Gründe des dramatischen emotionalen Aufruhrs bleiben im Dunkeln. Die Sprache ist in Dolans von sprechenden Köpfen dominiertem Kammerspiel nicht mehr ein Medium, um Konflikte zu erforschen und zu lösen, sondern artifizieller Ausdruck von Erregungszuständen. Man darf vermuten, dass sich hinter diesen bloßen Symptomen der Sprachlosigkeit eine Leere erstreckt, die aus der langen Abwesenheit des Heimkehrers und einer damit verbundenen Entfremdung resultiert. Doch jenseits ihrer sprachlichen Präsenz bleibt die Zeichnung der Figuren Blass und unbestimmt.

So wird viel und laut gestritten in den über einen Sommertag verteilten Zusammenkünften der Familienmitglieder, aber auch in den einzelnen Gesprächen, die Louis mit seiner jüngeren Schwester Suzanne (Léa Seydoux), seinem zornigen älteren Bruder Antoine (Vincent Cassel) und der Mutter Martine (Nathalie Baye) führt; wobei der Held meistens schweigt oder in seinen aufbrechenden Bemühungen um Kommunikation vorschnell gestoppt wird. „Ich verstehe dich nicht, aber ich liebe dich“, sagt seine Mutter zu ihm. So ähnlich geht es auch dem Zuschauer mit diesem spröden, fast abstrakten Film, der einen kaum erreicht und der es einem schwer macht, ihn zu mögen. Nur Catherine (Marion Cotillard), die Schwägerin des Protagonisten, scheint Louis auf geheime Weise zu verstehen. Ziemlich früh inszeniert Xavier Dolan in einer langen, schwebenden Sequenz gedehnter Augenblicke und verstohlener Blickkontakte die ganze (filmische) Magie dieses unausgesprochenen Vertrauens zwischen ihnen.

Julieta

(ES 2016, Regie: Pedro Almodóvar)

Das Warten auf die Hysterie
von Michael Schleeh

Auch in diesem Film, der sich so anfühlt, als habe es den verunglückten Flugzeugfilm ‚Fliegende Liebende‘ (2013) nie gegeben, bleiben vor allem zwei Dinge im Gedächtnis: die beiden Gesichter der …

Auch in diesem Film, der sich so anfühlt, als habe es den verunglückten Flugzeugfilm ‚Fliegende Liebende‘ (2013) nie gegeben, bleiben vor allem zwei Dinge im Gedächtnis: die beiden Gesichter der Frauen. Einmal Julieta in jung (Adriana Ugarte), einmal als Mutter und reife Frau (Emma Suárez). Die Tochter ist davongelaufen nach dem Tod des Vaters – nachdem sie ein paar Monate an einem spirituellen Rückzugsort in den Bergen verbracht hatte. Das freilich stürzt die Mutter in tiefste Verzweiflung – und als sie ein neues Tagebuch beginnt, da treten ihr die Erinnerungen an das eigene Leben wieder plastisch vor Augen.

Was folgt, ist dann natürlich „der neue Almodóvar“ (der auch wieder nach Cannes durfte): Flashbacks der Erinnerungen einer Frau zwischen Panik und verzweifelter Hoffnung, dass doch noch alles gut ausgehen möge. Und da sind wir, die Zuschauer, vollstens auf ihrer Seite. Prägnant sind die Farben, große Flächen, die Tableaus Almodóvars, für die er so berühmt ist. Fassadenmalerei schimpfen da die einen, ästhetisiertes Großvaterkino andere. Genau austariert ist das, immer gut genießbar, auch puppenstubenhaft bisweilen. Mit dickem Pinsel kräftig aufgetragen. Kein Wunder stört sich die Protagonistin an der augenflirrenden Brockattapete in der neuen Wohnung, sie ist so was ja nicht gewöhnt. Der Blick hinaus hingegen ist beruhigend, das kennt sie noch aus früheren Tagen aus ihrer Jugend. Und am Ende, da muss Julieta ihrem ästhetischen Verständnis nachgeben (oder ist es das Almodóvars?) und die Bude neu streichen. Neue Fassade. Zu den Tönen Ryuichi Sakamotos. Ambitionierter Jazz und ambitionierte Kunst, das sind die konstanten Koordinaten im bourgeoisen Leben der Altsprachen-Philologin. Einem Leben, in dem Geld scheinbar nie eine Rolle spielt. Da ist das Kind mit dem Fischer am Meer beinahe so etwas wie ein lebendig gewordener Kitschroman.

Macht aber auch nichts, denn irgendwie ist das auch ein wenig wie Amélie für Erwachsene. Ist ja das Tolle am Kino, hier kann man seiner Fantasie freien Lauf lassen. Ein bisschen schön finden darf man diese klassische Fabulierlust durchaus auch. Der neue Almodóvar (nun erschienen mit angenehm üppiger Ausstattung bei Tobis Film auf Blu-ray und DVD) ist ein schöner Film geworden. Am schönsten ist die kurze Szene mit dem Hirsch im freien Lauf. Aber mehr verrate ich nicht.

National Bird

(USA 2016, Regie: Sonia Kennebeck)

Sind so viele Drohnen...
von Jürgen Kiontke

Die Playstation ist heute Voraussetzung für alles. Denn was anderes als dort muss man im richtigen Leben manchmal auch nicht mehr arbeiten. Aber was ist schon richtiges Leben? „Das ist …

Die Playstation ist heute Voraussetzung für alles. Denn was anderes als dort muss man im richtigen Leben manchmal auch nicht mehr arbeiten. Aber was ist schon richtiges Leben? „Das ist keine Science-Fiction!“, verheißt der Werbeclip, der Schulabgänger und andere junge Menschen mit dem Dienst bei der US Air Force umschmeichelt. Gemeint ist der Dienst mit der Drohne. Man drückt irgendwo in der amerikanischen Provinz ein paar Knöpfe und im afghanischen Grenzgebiet fallen die Streubomben.

Der Film „National Bird“ zeigt, wie es nach dem Werbespot und ein paar Jahren Militärdienst weitergeht. Regisseurin Sonia Kennebeck folgt ehemaligen Mitarbeitern des US-Drohnenprogramms, nachdem sie aus dem Dienst ausgeschieden sind. Eine von ihnen ist Heather. Die junge gruftgestylte Frau arbeitet jetzt in einer Kantine; gut geht es ihr nicht. Kein Wunder, sagt sie: Jahrelang habe sie Menschen sterben sehen. „Oft war die Prognose falsch“, sagt die ehemalige Fernsteuerungsspezialistin. „Ehrlich gesagt: Ich habe keine Ahnung, wie viele Menschen ich getötet habe.“ Schweigen will sie nicht mehr, Geheimhaltung ist ihr und den anderen Protagonisten egal. Denn sie haben schlichtweg einen Knall gekriegt von der Schere: offizielle Verlautbarung – Menschenrechte, demokratische Werte und so – und ihrem Handeln.

Das Ziel des Drohnenprogramms umschreiben sie so: jeden an jeder Stelle der Welt töten können. Grenzen spielen keine Rolle. Von 121.000 „Zielen“ in zwei Jahren ist im Film die Rede. Heather meint: „Obama hat gesagt: Schont die Zivilisten.“ Die Aufklärung sei aber immer erst nach dem Angriff gekommen. Da waren viele schon beim Feierabendbier.

Die „national birds“ melden sich aus Idealismus, Not oder Pflichtgefühl. Oder einfach nur, um Arbeit zu haben. Alles gewichtige Gründe, in den Krieg zu ziehen, früher wie heute. Oder?

Dieser Film zeigt ein anderes Amerika, ist Anti-Hollywood. Man sieht den Bildern an, es war wenig Geld da, Aufnahmen finden in düsteren Baracken und Privaträumen statt. Die fast erdkundefilmhafte Ästhetik verleiht den Geschehnissen alle Dunkelheit, die den Vorgängen inne ist.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 01/2017

Cemetery of Splendour

(TH/GB/F/D 2015, Regie: Apichatpong Weerasethakul)

Zum Einschlafen
von Ricardo Brunn

Während draußen ein Bagger das Land umpflügt, wird drinnen geschlafen. In einem Krankenhaus im Norden Thailands sind Soldaten untergebracht, die an einer rätselhaften Schlafkrankheit leiden. Nichts kann sie wecken. Niemand …

Während draußen ein Bagger das Land umpflügt, wird drinnen geschlafen. In einem Krankenhaus im Norden Thailands sind Soldaten untergebracht, die an einer rätselhaften Schlafkrankheit leiden. Nichts kann sie wecken. Niemand weiß, was mit ihnen geschehen ist. Vielleicht, so suggeriert es der Schwarzfilm zu Beginn des Filmes, ist alles, was sie von der Welt noch wahrnehmen, der unermüdliche Lärm des Baggers vor dem Fenster. Noch bevor die erste Einstellung die arbeitende Maschine von der Veranda des Krankenhauses zeigt, ist der Baulärm zu hören. Der Zuschauer wird quasi selbst zum schlafenden Soldaten und damit zugleich mit der Kino-Situation konfrontiert. Der Film beseelt die Soldaten mit unserer Anwesenheit und uns mit seinen Bildern oder besser gesagt Träumen. Wach- und Traumzustände fließen im Kino beständig ineinander und seit jeher bildet das Schwarz des Kinosaales und der Leinwand zu Beginn eines Filmes die Materie für diesen unsicheren Übergang. In seinem sechsten Spielfilm wandelt der thailändische Regisseur Apichatpong Weerasethakul einmal mehr entlang dieses diffusen Grenzverlaufes, verdoppelt ihn oder lässt das eine im anderen aufgehen.

Direkt an dieser Schwelle platziert Weerasethakul seine beiden Protagonistinnen. Hausfrau Jenjira (Jenjira Pongpas Widner) wollte eigentlich nur eine alte Freundin in ihrer ehemaligen Schule, die für die Soldaten erst zum Krankenhaus umfunktioniert wurde, besuchen. Fasziniert von dem jungen Soldaten Itt (Banlop Nomloi) tritt sie jedoch als freiwillige Helferin in den Dienst des Krankenhauses und lernt die Pflegerin Keng (Jarinpattra Rueangram) kennen, der die Fähigkeit nachgesagt wird, mit den Schlafenden in Kontakt treten zu können. Sehr behutsam verschiebt der Regisseur von da an die Koordinaten seines Filmes. Zeichnet die Bilder zu Beginn eine beinahe dokumentarische Qualität (und damit einhergehend eine Verortung in der Realität) aus, lösen sich Gewissheiten dieser Art sehr bald auf. Wie die Amöbe, die in einer Einstellung plötzlich übergroß am blauen Himmel erscheint, ändern die Bilder fließend ihre Gestalt. Was gerade noch der Dialog dreier Frauen unter dem Dach einer Hütte war, entpuppt sich Sekunden später als traumartiger Moment, wenn zwei der Frauen sich als die Göttinnen zu erkennen geben, zu denen Jenjira zuvor gebetet hat.

Leitmotiv für diese bruchlosen Übergänge bilden Beatmungsgeräte, an welche die Soldaten angeschlossen werden und die mit speziellen Lampen ausgestattet sind. Diese sollen die Träume der Versehrten positiv beeinflussen, denn im Schlaf, so berichtet es Keng, seien sie Teil einer Schlacht des alten Königs, der Jahrhunderte zuvor auf dem Gelände des heutigen Krankenhauses seinen Palast stehen hatte. Nur aus diesem Grund könnten sie nicht aufwachen. Was im ersten Moment nur den gesamten Schlafsaal in sanft wechselnden Farbverläufen taucht, bemächtigt sich nach und nach des ganzen Filmes. So werden gegen Ende nächtliche Stadtansichten in die gleichen Farbverläufe gehüllt, obwohl die Straßenlaternen ein vollkommen anderes Licht erzeugen müssten. Einmal mehr wird so die Frage aufgeworfen, wer diese Bilder – ja diesen ganzen Film – sieht oder besser gesagt träumt.

Gleich den Soldaten, denen es nur für Momente, manchmal gar wenige Stunden gelingt, aus dem Schlaf zu erwachen, ihre Erlebnisse als kryptische Zeichen in Notizhefte (Traumtagebücher) zu schreiben und am normalen Leben teilzunehmen, endet der Versuch hinter die Bilder dieses Filmes zu schauen für den Zuschauer damit, zwischen ihnen gefangen zu sein. Der Wunsch nach Gewissheit führt zur Einsicht, den Ariadnefaden im Labyrinth der Traumbilder immerfort zu verlieren. Schon deshalb werden wir nie erfahren, was der Bagger aus- oder vielleicht auch vergraben will.

In seinem bisher persönlichsten Film schichtet Apichatpong Weerasethakul Traum, Realität, Gegenwart und Vergangenheit ganz beiläufig übereinander, um von einem Land zu erzählen, das unter der Herrschaft des Militärs gelähmt und wie hypnotisiert durch die Zeit treibt. „Cemetery of Splendour“ ist ein überaus politischer Film, dem die Frage nach Traum und Wirklichkeit so immanent ist wie dem Medium selbst. Denn das Kino ist der größte Traum von allen, Hort eines segensreichen Schlafes und der Wunscherfüllung. Die meditative Atmosphäre von „Cemetery of Splendour“ lädt den Zuschauer geradezu ein, sich selbst dem Träumen hinzugeben und Utopien entstehen zu lassen. Wer im Kino schläft, vertraue dem Film, heißt es. In der Mitte des Filmes geht Soldat Itt in einem seiner wachen Momente ins Kino, schläft ein und muss vom Personal aus dem Saal getragen werden. Ich selbst bin während der Vorführung von „Cemetery of Splendour“ dreimal eingeschlafen und vielleicht sogar zu einem der Soldaten geworden. Ein größeres Kompliment kann man diesem wundervollen Film wohl kaum machen.

Die Habenichtse

(DE 2016, Regie: Florian Hoffmeister)

Offene Räume, durchlässige Beziehungen
von Wolfgang Nierlin

Die Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, also zwischen dem, was einer ist und dem, was einer sein möchte, grundiert Florian Hoffmeisters Film „Die Habenichtse“, eine Adaption von Katharina Hackers gleichnamigem, …

Die Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, also zwischen dem, was einer ist und dem, was einer sein möchte, grundiert Florian Hoffmeisters Film „Die Habenichtse“, eine Adaption von Katharina Hackers gleichnamigem, preisgekröntem Roman. Gleich zu Beginn gesteht Isabelle (Julia Jentsch), die eigentliche Heldin der parallel gesetzten, sich schließlich berührenden Handlungsstränge, sie drücke sich gern vor Vorhaben, um sich der Illusion eines gewünschten Seins hinzugeben. Als mäßig erfolgreiche, eher lustlose Grafikdesignerin lebt sie im nicht nur räumlich offenen Haushalt des Berliner Videokünstlers Andras (Aljoscha Stadelmann). Die tatsächliche oder nur scheinbare Durchlässigkeit von Räumen und Beziehungen kollidiert in Hoffmeisters verdichteter Inszenierung des Geschehens gewissermaßen mit dem (unterbewussten) Bemühen der Figuren, Wirklichkeit zu verdrängen. Die Krise der Identität resultiert also nicht nur aus dem Scheitern an eigenen Ansprüchen, sondern auch aus der passiven Leugnung besserer Einsichten.

Das ändert sich mit dem 11. September 2001. Am Tag der schrecklichen Terroranschläge auf das World Trade Center trifft Isabelle bei einer Vernissage Jakob (Sebastian Zimmler) wieder, ihren früheren Liebhaber aus Freiburger Studienjahren. Arrangiert hat diese Begegnung ihr gemeinsamer Freund Hans (Ole Lagerpusch), der wie Jakob als Jurist arbeitet und zu diesem Zeitpunkt zu den Opfern des Terrorangriffs gehört. Als sein Tod Gewissheit ist, schleichen sich unausgesprochen Schuldgefühle in die neu erwachte Beziehung zwischen Isabelle und Jakob, zumal letzterer etwas später Hans‘ Stelle in einer Londoner Kanzlei übernimmt. Bald deutet sich an, dass das merkwürdig verhaltene, reservierte Verhältnis der beiden unter den Bedingungen der neuen Lebenssituation zusätzlich leidet. Jakob wird von seiner Arbeit absorbiert, währen die emotional instabile Isabelle frustriert in den Tag hinein lebt und sich zunehmend ungeschützter mit dem aufdringlichen Drogendealer Jim (Guy Burnet) einlässt.

Florian Hoffmeister konzentriert seinen kunstvollen, analytisch-distanzierten Schwarzweißfilm vor allem auf die ernüchterte Perspektive seiner Protagonistin. Deren prekäre, isolierte Existenz korreliert zunehmend mit ihrer schwierigen sozialen Umgebung und mit den paranoiden politischen Ereignissen draußen in der Welt. Dieses Draußen aus häuslicher Gewalt, Kindesmisshandlung, Drogenkriminalität und Krieg vermittelt Hoffmeister vor allem über die Tonspur. Die Synchronizität der Ereignisse und die Gewalt der Verhältnisse treiben Isabelle, die sich resigniert und desillusioniert in einem uneingestandenen Eskapismus eingerichtet hat, schließlich aus der Deckung. Vielleicht gehe es nur darum, „die Umrisslinie um das eigene Leben“ zu erkennen und „auszufüllen“, gibt sie sich und uns zu bedenken. Zur Aufgabe wird ihr schließlich der Wunsch, ihre Isolation zu durchbrechen und sich anderen zu öffnen, während sich das Schlussbild mit Menschen füllt.

Die Hölle – Inferno

(AT/D 2016, Regie: Stefan Ruzowitzky)

Relativ böse, absolut fremd
von Drehli Robnik

Zwanzig Jahre nach dem Wiener Fahrradboten seines Regiedebüts ‚Tempo‘, 17 Jahre nach Franka Potente als ‚Anatomie‘-Studentin unter Serienkillern und drei Jahre nach der stylishen Psychologisierung des Nazimassenmords in ‚Das absolut …

Zwanzig Jahre nach dem Wiener Fahrradboten seines Regiedebüts ‚Tempo‘, 17 Jahre nach Franka Potente als ‚Anatomie‘-Studentin unter Serienkillern und drei Jahre nach der stylishen Psychologisierung des Nazimassenmords in ‚Das absolut Böse‘ schickt der Wiener Regisseur Stefan Ruzowitzky (bevor demnächst sein britischer Zombiefilm ‚Patient Zero‘ an den Start geht) nun eine türkischstämmige toughe thaiboxende Taxlerin durch ein verregnetes Wien. Sie wird bedrängt von Männermachtritualen mehrheitsösterreichischer Art wie auch in ihren Herkunfts- und Freizeitmilieus (triste Wohnungen, ein Gym, also Boxsportcenter mit Sparringkäfig) – und vor allem von einem folterfreudigen Ritual-Frauenmörder, der ihr mit dem Messer nachstellt, nachdem sie zur Zufallszeugin einer seiner Untaten geworden ist.

Wortspiele mit dem Filmtitel ‚Die Hölle‘ verbieten sich. Sie wären auch unzutreffend. Eher gezielt räudig bis unfreiwillig holprig spielt dieser Thriller – der außerhalb Ösistans auch mit Titelzusatz als ‚Die Hölle – Inferno‘ antritt, wohl weil nicht sofort klar ist, was eine Hölle für eine Art von Ort sein soll, und weil ‚Inferno‘ mal ein etwas anderer Filmtitel ist – seine zweifellos vorhandenen Stärken nicht wirklich aus und betont eher seine ebenso merklichen Schwächen. Nach dem Hollywood-Einstand von Ruzowitzky (Auslands-Oscar für ‚Die Fälscher‘, 2008) mit dem stimmungsvollen und – blödes Wort – kompetenten Country-Krimi-Beziehungsdrama ‚Deadfall‘ (synchrondeutsch: ‚Cold Bood‘, 2012), ist es schon erstaunlich, wie grob hier nun die Musik Dramatik markiert und wie sehr in Nebenrollen geknödelt wird. Eine stark choreografierte Autoaction-Sequenz mit Messermörder auf dem Rücksitz sticht hervor, ein Hauch von Giallo bleibt hier nur ein Hauch. Mehr davon wäre fein gewesen.

Als Ethno- und Milieupanorama bietet ‚Die Hölle‘ sympathische Ansätze – und bezahlt sie teuer. Auf eine Reihe gelungener Bilder düsterer Wien-Peripherie (Gürtelgegend und weiter westlich in Ottakring) folgen im Schlussdrittel erste Szenen bei strahlendem Sonnenschein, die just rund um die Mölkerbastei und das Rathaus spielen; vermutlich weil in teurer Innenstadtlage halt alles schöner ist. Entwicklungsromanhaft zielt der Plot ins Gute und landet punktgenau bei Herrschaftsideologien: Die wortkarge, sich rasch handfest behauptende Hauptfigur (gut: Violetta Schurawlow) absolviert einen erwartungsgemäßen – und erwartungsgemäß depperten – Prozess von ‚Verweiblichung‘ mit Traumagarnierung; der Wiener Kripo-Ermittler wird als rassistischer Gockel mit Hang zum schnellen Schimpfwort und sexistischer Bevormundung eingeführt – und dann von Martin Ambroschs Skript, das offenbar vor seinem eigenen Mut in der Figurenzeichnung zurückscheut, als fürsorglicher Alter-Vater-Pfleger und liebenswerter Traummann entproblematisiert (Tobias Moretti spielt beides gekonnt). (Robert Palfrader spielt, wie in jeder österreichischen Film- und Fernsehproduktion derzeit, auch kurz mit; den dementen Vater gibt Friedrich von Thun charmant.) Und wenn eine Türkin – die, wie alle hier, nur Deutsch spricht – zuhauen darf, dann eigentlich nur auf Orientalen, und ihr in einer starken Szene vor dem Krankenhauszimmerspiegel demonstrierter Killerinstinkt gegenüber dem Mann, der ihr ans Leben will, geht in der Form wohl nur deshalb, weil ihre Jagd einem Serienmörder gilt, der Araber ist (gespielt von Sammy Sheik). Ist die in Zeiten allgemeiner Dämonisierung von ‚Willkommenskultur‘ etwas gar gschmackige Werbezeile des Films, wonach nicht wir in die Hölle kommen, sondern die Hölle zu uns kommt, also womöglich mehr als eine Entgleisung? Das weiß der Himmel. Ungut ist das in jedem Fall.

Hacksaw Ridge – Die Entscheidung

(USA/AUS 2016, Regie: Mel Gibson)

Im rechten Licht gesehen
von Drehli Robnik

Sterben und retten, bekehren und beten in ‚Hacksaw Ridge: Die Entscheidung‘ Das Biopic eines Real Life-Buben aus dem ländlichen Virginia: Jugend in häuslicher Gewalt, zarte Freuden junger Liebe, Freiwilligmeldung im …

Sterben und retten, bekehren und beten in ‚Hacksaw Ridge: Die Entscheidung‘

Das Biopic eines Real Life-Buben aus dem ländlichen Virginia: Jugend in häuslicher Gewalt, zarte Freuden junger Liebe, Freiwilligmeldung im Zweiten Weltkrieg, schikanöse Ausbildung, Einsatz als Sanitäter bei der extrem blutigen Schlacht um die japanische Insel Okinawa kurz vor Kriegsende 1945. Dort, auf dem titelgebenden Berg ‚Hacksaw Ridge‘, spielt die zweite Filmhälfte: Sturmlauf durch Feindfeuer in schwelgerischen Totalen wie auch ausgespielten Details, Explosionen, dazwischen Dialoge in bedächtigen Close-ups. Im kundigen Einsatz von Bajonett-Toneffekten, pirouettenfreudig hochgeschleuderten Leichen und Zeitlupe in Bild (Gewehrkugeln schweben) und Ton (Schreie mümmeln) entsteht ein rundes Kriegsfilmbild: ein imposantes Infernopanorama.

Skurril und seltsam vertraut

Manches, was der beherzt helfende Held tut, wirkt skurril (Sergeantschlittenschleppen, Wegkicken einer Handgranate). Anderes in dem Film erinnert an Kriegsfilmgroßkaliber: die injektionsselige Krankenschwester – eine von Teresa Palmer gespielte, gänzlich farblose Figur – an ‚Pearl Harbor‘, der rumbrüllende Ausbilderschleifer (Vince Vaughn) mit Faible für Demütigungsrituale und Schimpfnamen an den Drill Sergeant in Full Metal Jacket‚, die Helmdurchlöcherungen und der Todeskampf bis zum Einander-Anplärren an ‚Saving Private Ryan‘, schließlich das Einsammeln reihum hilferufender Verwundeter an ‚Forrest Gump‘.

Umso deutlicher tritt die Eigenart des Films hervor, die von seinem Regisseur herrührt. Zwar legt der vormalige Spider-Man Andrew Garfield den als Retter hochdekorierten Verweigerer des Dienstes an der Waffe (wohlgemerkt: Er meldet sich freiwillig zur patriotischen Kriegspflicht und will Leben retten, nur eben keine Knarre – ösideutsch: Krochn – tragen) sympathisch als bescheidenen und humorvollen Schlaks an. Diesen angenehm atypisch erscheinenden Actionfilmhelden erhebt jedoch Regiefundamentalist Mel Gibson zum großen Erdulder angesichts verabreichter Schmerzen und drohenden Todes – aber nicht mit masochistischen, orientalistischen und homophoben Akzenten wie Angelina Jolie in ihrem ebenfalls unter Amis auf dem pazifischen Weltkriegsschauplatz angesiedelten ‚Unbroken‘, sondern vielmehr ganz in der identitären Tradition des Nationalstolzes von Gibsons ‚Braveheart‘ (1995) und der antisemitisch verbrämten Erlösungsbotschaft seiner Passion Christi‚ (2004). ‚Die Entscheidung‘ heißt ‚Hacksaw Ridge‘ im deutschen Zusatz – ein Allerweltstitel, der hier jedoch eine brachialspiritualistische Aufladung erfährt: Das Shell-Shock-Erlebnis als Zentralmotiv im Kriegsfilm der Jahrtausendwende wird hier vom Erweckungserlebnis abgelöst, der Trauma-Soldat vom Märtyrer als Modellsubjekt.

Griffith 1917 – Gibson 2017: Allegorie der ‚Intoleranz‘

Revision ist da Programm: Die Streitkräfte bieten hier selbst einem conscientious objector einen Rahmen zur Bewährung seiner Berufung, und der versoffene, gewalttätige Vater des Helden (Hugo Weaving) rehabilitiert sich, als er seine alte Montur samt Orden aus dem Ersten Weltkrieg anlegt, um seinem Sohn vor dem Militärgericht, das den ungebührlichen Pazifisten aus der Armee entfernen will, beizustehen. Hier liegt nun allerdings nicht so sehr ein Kontinuum eines militaristischen, uniformverliebten US-Kinos vor. Vielmehr werden hier Traditionen des Schmelztiegel-kulturalistischen, liberalen oder sanft progressiven Hollywood-Kriegsfilms modifiziert, was die Beziehung zwischen der kollektiven Institution und einem Misfit betrifft: Der zu Unrecht Exkludierte, der von seinen Kameraden Prügel bezieht und diese stolz verleugnet, um dabeibleiben zu können, das war einst – vom antisemitisch schikanierten Montgomery Clift in ‚The Young Lions‘ (1958) bis zu den Rassismus gewohnten African Americans Cuba Gooding, Jr., Terrence Howard oder Michael Ealy bei der Navy, Air Force oder Army in ‚Pearl Harbor‘ (2001), ‚Hart’s War‘ (2002) und ‚Miracle at St. Anna‘ (2008) – eine Minority-Figur, ein jüdischer, ein schwarzer oder wie in ‚Windtalkers‘ (2002) ein Navajo-Soldat. Nun ist offenbar Schluss mit der Kultur der bürgerrechtlichen Integration, denn nun bezieht diese Position ein Adventist, Anhänger einer protestantischen Freikirche, also christlich-weiße Avantgarde: Erst wird er sträflich verkannt, gescholten und geschlagen – am Ende dient er der Truppe als strahlendes Vorbild und Vorbeter. Ein Schelm, wer darin die implizite Selbstabbildung eines lange Zeit zurecht kritisierten, möglicherweise unsanft marginalisierten und nun (wofür?) wieder gefeierten Filmemachers sehen will: Was Griffith 1917 sein ‚Intolerance‘ war – ein Film, der die für den Rassismus seines ‚Birth of a Nation‘ erhaltene mancherseitige Kritik, missverstanden als ‚Intoleranz‘, in die Gewalt-Geschichte projizierte –, das ist Gibson genau hundert Jahre später sein ‚Hacksaw Ridge‘. Und auch wenn der Film seine Glaubensfestigkeit zu sehr forciert, um geradeaus als frühe Filmversion eines trumpistischen White Power-Populismus zählen zu können: Ein Prachtstück von illiberalem, neurechtem Kino ist das allemal.

Wild Plants

(DE/CH 2016, Regie: Nicolas Humbert)

Widerstand aus der Nische
von Wolfgang Nierlin

Zuerst sieht man Schnee und Eis und einen Hund, der darauf schlittert. Ein mächtiger Baum fällt, verlassene Häuser zerfallen, ein Güterzug bewegt sich gemächlich durchs Bild und Schwärme von Vögeln …

Zuerst sieht man Schnee und Eis und einen Hund, der darauf schlittert. Ein mächtiger Baum fällt, verlassene Häuser zerfallen, ein Güterzug bewegt sich gemächlich durchs Bild und Schwärme von Vögeln zeichnen Muster in den Himmel. Dann wieder blickt man auf Brachen, Zerstörtes, auf Reste der Zivilisation, die allmählich von einer beharrlichen Natur überwuchert wird; und auf die stumme Abfolge von Gesichtern, die ganz offensichtlich von frischer Luft genährt werden.

„Wild Plants“, der neue Film von Nicolas Humbert, ist selbst wie eine Pflanze, die im Wechsel der Jahreszeiten wächst und gedeiht und Gestalt annimmt. Sein „Saatgut“ aus Bildern, Tönen und einzelnen Interviews lässt auf ruhige und geduldige Weise die zugrunde liegenden Erfahrungen und Begegnungen zu einem spirituellen Filmpoem reifen. Darin portraitiert der deutsch-schweizerische Filmemacher Menschen, die sehr reflektiert und bewusst neue Lebensmöglichkeiten in und im Umgang mit der Natur suchen, indem sie alternative Formen des Gärtnerns und Landwirtschaftens praktizieren. Das politisch Widerständige ist ihrem Denken und Handeln ebenso implizit wie Nicolas Humberts Film, der vordergründige Statements und Analysen meidet und stattdessen subjektive Zugänge sucht und findet. Konzentriert entfaltet er seine Motive in einem filmischen Erfahrungsraum.

„Auch wir sind Pflanzen“, sagt Milo Yellow Hair, ein weiser Indianer mit großer Schönheitsliebe. „Alles in der Natur gibt uns Menschen unsere Form.“ Wie sich Natur transformiert und Leben verwandelt, lässt sich besonders gut bei der Gartenarbeit beobachten. Andrew Kemp und Kinga Osz, zwei Urban Gardeners aus Detroit beschreiben diesen endlosen Prozess von Werden und Vergehen anhand ihres Komposthaufens. Dass diese tägliche Erfahrung natürlicher Kreisläufe auch bei der Bewältigung persönlicher Traumata helfen kann, dokumentiert der Filmemacher sehr subtil im Gespräch mit Kinga Oz, die ihre Mutter früh verloren hat.

Die überwiegend jungen, von einem starken Idealismus angetriebenen Gärtner der Genfer Kooperative „Les Jardins de Cocagne“ wiederum haben in der landwirtschaftlichen Arbeit eine alternative Lebensform gefunden. Diese ermöglicht es ihnen, „langsamer zu werden“, im konkreten Tun den Geist zu beschäftigen und im direkten Kontakt mit dem Kunden die grassierende Anonymität zu überwinden. Veränderungen, die zugleich ökologisch, politisch und poetisch sind, bewirkt auch der sehr sympathische Aktivist Maurice Maggi. Nachts zieht er durchs Züricher Stadtgebiet und streut fast andächtig jene Samen aus, die für wilden Pflanzenwuchs sorgen und so das Stadtbild und vielleicht auch das Bewusstsein der Menschen verwandeln. Mit seinen konspirativen Interventionen möchte Maggie nämlich „das komplexe Ganze von der Nische her verändern.“

Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte

(DE 2016, Regie: Corinna Belz)

Das innere Auge öffnen
von Wolfgang Nierlin

Ganz allmählich füllt sich die leere Fläche des Polaroid-Fotos mit Umrissen, Farben, einem Gesicht. Das Portrait zeigt den Schriftsteller Peter Handke als jungen Mann. Etwas, was da ist, aber noch …

Ganz allmählich füllt sich die leere Fläche des Polaroid-Fotos mit Umrissen, Farben, einem Gesicht. Das Portrait zeigt den Schriftsteller Peter Handke als jungen Mann. Etwas, was da ist, aber noch unsichtbar, tritt in die Sichtbarkeit und gewinnt an Deutlichkeit. Die vergehende Zeit macht gewissermaßen eine Identität gegenwärtig. Mit dieser schönen Metapher über das Werden beginnt Corinna Belz ihr Künstlerportrait „Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte“. Ruhig und zurückhaltend verknüpft sie auf assoziative Weise Handkes gegenwärtiges Leben in seinem Haus im Pariser Vorort Chaville mit Dokumenten aus seiner persönlichen Vergangenheit. Dazu gehören nicht nur die im Wiener Literaturarchiv deponierte Sammlung von Polaroids, die den Schriftsteller als alleinerziehenden Vater zeigen, sondern auch Fernsehinterviews, O-Töne (vor allem von Handkes legendärem Auftritt beim Treffen der Gruppe 47 in Princeton), Theaterinszenierungen und natürlich Filme, die er entweder zusammen mit Wim Wenders oder auch unter eigener Regie realisiert hat.

Im Zentrum des behutsam und sorgfältig gemachten Films steht jedoch die Begegnung der Filmemacherin mit dem Schriftsteller. Ansichten von Haus und Garten, eingebettet in Natur- und Tagesstimmungen, vermitteln eine starke Ruhe und Konzentration als Bedingungen der schöpferischen Arbeit. Zugleich evozieren sie eine sinnliche Aura, die zusätzlich genährt wird von Handkes Liebe zu den unscheinbaren, kleinteiligen Dingen, mit denen er sich umgibt, sowie von einem alles durchdringenden Schönheitsempfinden. Wir sehen, wie der Dichter Pilze putzt und schneidet, wie er mit Muscheln die Seitenränder seines Denkweges im Garten markiert und wie er geduldig einen Faden einfädelt, um zu sticken. Dieser Vorgang wird geradezu sinnbildlich für sein von ihm als „11. Gebot“ bezeichnetes Diktum „Du sollst Zeit haben“. Zugleich liefert er eine mögliche Antwort auf die Frage: „Wie soll man leben?“

Corinna Belz geht es im Weiteren allerdings nicht nur um „ein Portrait des Schriftstellers Peter Handke“, sondern vor allem um „ein Portrait seiner Sprache“. Wir blicken in Handkes bunt beschriebene Notiz- und Skizzenbücher, die ein Ausgangspunkt sind für sein Werk, und hören ihm zu beim Lesen aus seinen Büchern. Belz überträgt das Gelesene mitunter synchron als Schrift auf die Leinwand und macht den Zuschauer damit zum Leser. „Der Rhythmus öffnet das innere Auge“, sagt Handke einmal über das Schreiben von Hand. Daneben spricht er ausführlich über das Schreiben als Phantasieleistung und Erfindung, die „Materie schafft“ sowie über Schreiben als „Tabubruch“. Der Schriftsteller, der durch seine Tätigkeit in besonderem Maße dem Leben und seinen drängenden Fragen ausgesetzt ist, empfindet sein Tun im Grunde als „nicht normal“; womit er vermutlich auch auf gesellschaftliche Aversionen gegenüber seinem Metier reagiert. Doch erfährt er, der einmal über „die Gnade, am Leben zu sein“ und den Reichtum der daraus resultierenden (ungenutzten) Möglichkeiten spricht, in seiner Arbeit auch „Anwehungen von Paradies“.

Paterson

(US 2016, Regie: Jim Jarmusch)

Alles wie immer
von Wolfgang Nierlin

Wie eine Insel der Zweisamkeit wirkt das kleine, schnucklige Einfamilienhäuschen mit der rosa Eingangstür. Hier wohnen Paterson (Adam Driver) und Laura (Golshifteh Farahani), ein auf selbstverständliche Weise verliebtes Paar, zusammen …

Wie eine Insel der Zweisamkeit wirkt das kleine, schnucklige Einfamilienhäuschen mit der rosa Eingangstür. Hier wohnen Paterson (Adam Driver) und Laura (Golshifteh Farahani), ein auf selbstverständliche Weise verliebtes Paar, zusammen mit ihrem trägen und ziemlich störrischen Hund Marvin, einer englischen Bulldogge. Wenn frühmorgens Sonnenlicht in warmen Streifen auf die noch schlafenden Körper fällt, wähnt man die Helden von Jim Jarmuschs neuem Film „Paterson“ in einer heilen, guten Welt. Tatsächlich ist diese, betrachtet man die Wohnungseinrichtung, bis in den letzten Winkel schwarzweiß gemustert. Vielleicht ziehen sich Gegensätze an. Jedenfalls ist Laura, die ihren kreativen Gestaltungsfuror auch auf Stoffe und Backwaren überträgt, die Tätige und Aktive. Immer motiviert, arbeitet sie an der Verwirklichung ihrer Träume. Dagegen wirkt Paterson, der seinen Mitmenschen stets aufmerksam und höflich begegnet, geradezu passiv. Als Busfahrer lauscht er den Geschichten seiner Fahrgäste. Tatsächlich ist Paterson aber ein stiller Dichter, der sein poetisches Licht unter den Scheffel stellt.

Die kleinen, unscheinbaren Dinge des Alltags sind der Stoff, aus dem Paterson seine wie hingetupft wirkenden Prosagedichte formt (die in Wirklichkeit Ron Padgett geschrieben hat). In ihnen kann eine Schachtel blauer Zündhölzer („Ohio Blue Tip Matches“) zum Anlass für ein Liebesgedicht werden. Diese und andere schreibt Paterson, der William Carlos Williams und Frank O’Hara verehrt, von Hand in ein Notizbuch. Morgens auf dem Weg zum Bus-Depot denkt er sich aus, was er vor Schichtbeginn, in der Mittagspause bei den großen Wasserfällen des Passaic River oder am Abend in seinem kleinen Kellerbüro dann aufschreibt. Einmal trifft er ein dichtendes Mädchen, das ihm ein selbst geschriebenes Poem vorträgt. Doch Paterson verschweigt sein eigenes künstlerisches Schaffen, von dem Laura meint, er müsse es öffentlich machen. Im Gegensatz zu Laura, lebt Paterson, ein Anhänger der analogen Welt, nach innen.

„Wenn man versucht, etwas zu verändern, macht man es nur noch schlimmer“, heißt es einmal in Jarmuschs ebenso bezauberndem wie melancholischem Film. Klar gegliedert nach den sieben Tagen der Woche und nur mit minimalen, fast gänzlich undramatischen Verschiebungen und Variationen arbeitend, feiert der amerikanische Regisseur mit seinem typisch lakonischen Humor sowohl die Langsamkeit des Seins als auch die tägliche Wiederholung von Ritualen. Zu diesen gehört Patersons Abendspaziergang mit Hund und der damit verbundene Besuch einer Bar, wo er auf einen Schach spielenden Barkeeper namens „Doc“ (Barry Shabaka Henley) und ein unglückliches Paar trifft: „Ohne Liebe hat nichts mehr Sinn“, klagt Everett (William Jackson Harper). Die große Welt spiegelt sich in der kleinen, die wie der Titelheld von Jim Jarmuschs wie beiläufig erzähltem, aber tiefsinnigem Film Paterson heißt und in New Jersey liegt. „Alles wie immer“, sagt Paterson meistens, wenn er, dessen Liebesglück sich in Begegnungen mit Zwillingskindern spiegelt, Auskunft über sein Wohlbefinden gibt. Und doch wird sein inneres Gleichgewicht am Ende der Woche empfindlich erschüttert.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Paterson‘.

Austerlitz

(DE/UA 2016, Regie: Sergei Losnitza)

Keine Antworten
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Dokumentarfilm über KZ-Touristen. Ströme von Besuchern aus dem In- und Ausland. Gedränge. Regisseur Sergei Losnitza, Ukraine, lässt sie vor der Kamera passieren. Er fragt sich was. Was treibt die …

Ein Dokumentarfilm über KZ-Touristen. Ströme von Besuchern aus dem In- und Ausland. Gedränge. Regisseur Sergei Losnitza, Ukraine, lässt sie vor der Kamera passieren. Er fragt sich was. Was treibt die Menschen an? KZ-Massentourismus an einem heißen Sommertag. Regenschirme aufgespannt gegen die grelle Sonne. Kinderwagen, Kinder, junge Leute vor allem. Die Kamera steht jeweils Minuten lang fest positioniert. Die Touristen sind das Thema. Welches KZ ist eher egal. Zufällig rückt im Hintergrund ein Gedenkstein ins Bild. KZ Sachsenhausen also. Ja, und in der zweiten Filmhälfte wird wie von ungefähr eine Stimme vernehmbar. „Es geht weiter mit der Führung. Hört auf zu mampfen. In fünf Minuten könnt ihr wieder essen.“ Es geht weiter. Eine balanciert eine Flasche auf dem Kopf. Schon wieder wird in die Tüte mit den Erdnüssen gegriffen. Einige lächeln nicht – vor den Öfen im Krematorium. Selfies ohne Ende. Jemand posiert, an den Folter-Pfahl gepresst. Die Kamera bleibt unerbittlich stehen. Und fragt sich was.

Was? Sergei Losnitza, der überaus konsequente Regisseur, sagt es nicht. Er überlässt die Antwort uns. Oder genauer gesagt, mir. Und mir fällt was ein, an das ich seit meinem Kindesalter nicht mehr gedacht hatte. So alt wie viele Kinder in Losnitzas Film. In Lübeck, Holstentor. Die mittelalterliche Folterkammer. Die Streckbank. Die Zange zum Fingernägel-Rausziehen. Siebzig Jahre lang ist das jetzt gespeichert. Im Kopf. Was ich damit sagen will? Es ist leicht, sich darüber aufzuregen, wie Touristen sich benehmen. Oder die, die die eine Führung machen. Warum insistiert solch einer, dass es an Fakten fehle, die besagen, dass der Krematoriumsofen je in Betrieb genommen wurde? Warum sagt er das drei mal, während Geführte sich Tränen aus den Augen wischen? Was ist eigentlich mit den Führenden los? „Die Häftlinge bekamen täglich ein Stück Brot und Wassersuppe“. Wenig später: „Pause für Toilette und halben Sandwich!“.

Die Lösung? Da Losnitza seinen Film nicht kommentiert, liegt es an mir. Der Film ist mir nahe gekommen. Intensiv. Und ich will nicht, dass mir jemand und sei es eine Fernsehredaktion die Verantwortung abnimmt. Der Film ist ein großer internationaler Festivalerfolg. Und das ist keine Frage.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 12/2016

American Honey

(USA/GB 2016, Regie: Andrea Arnold )

Ökonomisierung der Freiheit
von Ricardo Brunn

Als Rihannas „We found love (in a hopeless place)“ aus den billigen Plastikboxen im Supermarkt dröhnt, treffen sich die Blicke von Star (Sasha Lane) und Jake (Shia LeBoeuf). Prompt legt …

Als Rihannas „We found love (in a hopeless place)“ aus den billigen Plastikboxen im Supermarkt dröhnt, treffen sich die Blicke von Star (Sasha Lane) und Jake (Shia LeBoeuf). Prompt legt der charismatische Bengel, dessen Outfit mit Anzughose und Hosenträger selbstbewusst aus der Zeit gefallen wirkt, einen wilden Tanz auf dem Linoleumboden hin. Er springt von Kassenschalter zu Kassenschalter bis der Sicherheitsdienst erscheint und ihn und seine Clique des Ladens verweist, nicht ohne einen gewissen Eindruck auf Star gemacht zu haben. Unter der zugegebenermaßen etwas hilflos wirkenden dramaturgischen Konstruktion eines verlorenen Handys folgt Star Jake nach draußen. Als sie ihm das Telefon gibt, macht er ihr das Angebot mit ihm zu gehen. Und natürlich kann Star, die zuvor noch Mülltonnen nach Lebensmitteln durchsucht hat, sich den Reizen Jakes und denen einer Reise ins Unbekannte nicht entziehen. Dass die Reise ausgerechnet im Supermarkt ihren Ausgangspunkt nimmt, ist durchaus als Kommentar der Regisseurin Andrea Arnold auf das Genre des Roadmovies und einen dem Genre eigenen Freiheitsbegriff zu verstehen. Dieser hat sich heute vollständig von den Ideen einer Gegenkultur gelöst und wird in „American Honey“ in einen sauberen, ökonomischen Zusammenhang überführt.

Nachdem Star sich der Gruppe angeschlossen hat, macht sie Bekanntschaft mit Krystal (Riley Keough). Mit der unwiderstehlichen Ausstrahlung einer abgehalfterten Stripteasetänzerin führt sie die Außenseitertruppe – die Arnold durchweg mit Laien besetzt, was für Unmittelbarkeit und Natürlichkeit sorgt – quer durch ein suburbanes und ländliches Amerika. Es geht darum der Mittelschicht ganz altmodische Zeitschriftenabonnements unterzujubeln und abzukassieren. Wer kein Geld verdient, wird jede Woche verdroschen. Wer es sich mit der Chefin verscherzt, fliegt ganz aus der Gruppe. Der Freiheitsdrang, der jeden erst in diese Gemeinschaft geführt hat, wird, weil er ohne jeden Anflug von Revolte auskommt, durch einen sauberen Arbeitsfetisch ersetzt. Sinnlosjob und Self-Marketing werden zu unhinterfragten Heilsversprechen dieses umherfahrenden Unternehmens und „Born to be wild“ wird zu „I make my own money, so I spend it how I like“. Es ist der Schlachtruf dieser zwischen träumerischer Freiheit und Bedeutungslosigkeit agierenden Jugendlichen auf ihrem Weg durch ein kaputtes Land, das zwischen Reichtum und Armut nicht mehr vermitteln kann.

Die Straße und das dem Genre so immanente Gefühl des Unterwegsseins, das in seiner Ziellosigkeit einen absoluten und damit nicht selten zerstörerischen Freiheitsanspruch erhebt, tritt in den Hintergrund. Gefahren wird, um in den nächsten Ort, zum nächsten dicken Geschäft gelangen zu können. Die Regisseurin zeigt die Reise entsprechend häufig aus dem Inneren des Kleinbusses, den die Gruppe besitzt. In diesen Innenansichten verliert Amerika nicht nur viel von seiner Weite. Die Möglichkeiten dieses Landes implodieren geradezu unter den beinahe im quadratischen Format von 1,33:1 aufgenommenen Bildern des Kameramannes Robbie Ryan. Die Endlosigkeit amerikanischer Highways ist ein Trugbild, das längst mit der Realität eines Landes kollidiert, das unter dem Eindruck von Terrorangriffen, der Bankenkrise und der NSA-Affäre seinen Freiheitsbegriff und das damit verbundene Selbstwertgefühl frisiert hat. Und obwohl es Grund genug gäbe, vor dieser Gesellschaft zu fliehen oder gegen sie aufzubegehren, scheinen Road Movies, in denen Helden wie Bonnie und Clyde oder Mallory und Mickey aggressiv nach Freiheit strebten, zu verschwinden.

Wie die Straße wird auch das Auto in „American Honey“ und vielen aktuellen Road Movies seiner symbolischer Funktion beraubt. Der weiße Kleinbus wird als Fortbewegungsmittel eingesetzt, das seine Insassen vom Hotel zur Arbeit und wieder zurück ins Hotel fährt. Es erinnert eher an die prekären Verhältnisse von mexikanischen Einwanderern, die morgens am Straßenrand eingesammelt werden, um dann zu Baustellen gefahren zu werden als an ein Gefährt, mit dem sich Unbekanntes entdecken ließe.

Nur an einer Stelle flammt das ursprüngliche Gefühl einer „Counterculture“ auf Rädern noch einmal auf. Nachdem Star und Jake einigen Texanern gewaltsam Geld abgenommen haben, fliehen sie in einem gestohlenen Cabrio. Zum ersten und einzigen Mal kommt es zu Augenblicken vollkommener Freiheit die keiner Worte bedarf. Star geht kurz auf im Universum endloser Möglichkeiten, die Straße und ziellose Bewegung implizieren. Es ist bezeichnend, dass Arnold ihre Protagonisten für diesen einen Moment in ein Auto einer längst vergangenen Epoche steigen lässt. Es scheint beinahe so, als könnte das Genre des Road Movies mit all seinen jugendlichen Idealismen und Wagnissen nur noch retrospektiv existieren, so sehr verweigert es sich fahrbaren Untersätzen mit Baujahr nach der Jahrtausendwende. In vielen Genrevertretern werden Fahrzeuge neueren Datums sehr früh entweder zu Schrott gefahren, kommentarlos gewechselt oder wie in „American Honey“ als fahrbares Unternehmen verwendet und ihres ursprünglich freiheitlichen Charakters beraubt.

Es habe sie noch nie jemand nach ihren Träumen gefragt, resümiert Star als doch jemand aus heiterem Himmel danach fragt. Und tatsächlich ist kaum greifbar, was die Figuren wollen. Pflichtbewusst kramen sie in ihren Erinnerungen nach den Überresten des American Dream und bringen das Auswendiggelernte hervor. In „American Honey“ geht es nicht mehr um eine Flucht und irgendwelche Freiheitsideale, sondern darum anzukommen, Teil einer Gemeinschaft zu sein, Sicherheit und Geborgenheit zu erfahren. Andrea Arnold zeigt in „American Honey“ somit zum einen ein aus dem Gleichgewicht geratenes Amerika, das die offensichtlichen Folgen seiner Wirtschaftspolitik noch immer nicht erkennen will. Zum anderen beweist sie nebenbei großes Gespür für die Veränderungen eines uramerikanischen Genres in Zeiten einer Ökonomisierung auch der letzten subversiven, sozialen oder freiheitlichen Ideen.

Hier findet sich eine weitere Kritik zu ‚American Honey‘.

Ich, Daniel Blake

(GB/F/BEL 2016, Regie: Ken Loach)

Im Einhornland
von Jürgen Kiontke

Daniel Blake ist ein Mann, den manche als anständigen Arbeiter bezeichnen würden. Brav und pünktlich und versiert. Nun ist der alternde Tischler aber krank geworden. Er kriecht aufs Arbeitsamt, wo …

Daniel Blake ist ein Mann, den manche als anständigen Arbeiter bezeichnen würden. Brav und pünktlich und versiert. Nun ist der alternde Tischler aber krank geworden. Er kriecht aufs Arbeitsamt, wo man ihm die Sozialhilfe verweigert. Er könne ja arbeiten gehen. Arbeitslosengeld gibt’s aber auch nicht, weil er laut Arzt nicht arbeitsfähig ist.

Formulare, mit denen man Widerspruch einlegen könnte, gibt es nur noch im „Neuland“, wie das mal eine alte deutsche Frau genannt hat, als sie zum ersten Mal vom Internet hörte. Auch der aufrechte Malocher hat dies noch nie von innen gesehen. Die Folge: Stromrechnung nicht bezahlt, Zwangsräumung droht. Alltag in Europas Landen.

Loachs Film über den digitalen Analphabeten will wie immer hartes Sozialdrama sein. Zum Glück lebt Blake in einer Art Einhornland, und das ist die prekäre Klasse Englands. Dort wohnen Menschen wie Katie, ebenso pleite wie er, nur mit Kindern und voll lieb. Auch der Nachbar, der sich mit Schuhe dealen und Kiffen über Wasser hält, ist – Solidarität! – ein grundguter Kerl. Von denen ist hier die ganze Unterschicht voll.
Nun kann das ja im einzelnen mit der Solidarität stimmen. Aber hier kommt‘s doch in Summe etwas dicke. Der Film läuft nicht lange, da fühlt man sich leicht manipuliert. Spitzensache, dachten sie dieses Jahr in Cannes und pflanzten dem Film die Goldene Palme.

Der Film wirkt irgendwie abgenutzt, wie ein Erdkundefilm aus den Siebzigern. Als wenn Loachs Filme mit dem Alter immer schwarz-weißer würden. Apropos: Leicht beschränkte Sichtverhältnisse wurden Loach desöfteren vorgeworfen. Letztes Jahr wünschte sich etwa das Art Magazin einen Boykott aller Filme Loachs, weil er seinerseits penetrant auf einen Komplettausschluss Israels bei jeglichen Kulturevents hinwirke. Loach begreift das Land als reinen Apartheidsstaat; er verhinderte sogar mancherorts die Teilnahme israelischer Künstler an Filmfestivals.

Übrigens Solidarität, hoch die: Sie ist dem Wesen nach doch international. Demnach könnte Loach auch mal einen Film über israelische Arbeitslose drehen. Beim nächsten Filmfestival könnte er dann seinen eigenen Streifen boykottieren.

Dieser Test ist zuerst erschienen in: Konkret 12/2016

Sully

(USA 2016, Regie: Clint Eastwood)

Richtungsentscheidung, im Absturz wiederholt
von Drehli Robnik

Am 15. Jänner 2009 gelang dem US Airways-Piloten Captain Chesley Sullenberger nach Ausfall beider Triebwerke gleich beim Start eine perfekte Notlandung seines Passagierjets auf New Yorks Hudson River. Alle überlebten; …

Am 15. Jänner 2009 gelang dem US Airways-Piloten Captain Chesley Sullenberger nach Ausfall beider Triebwerke gleich beim Start eine perfekte Notlandung seines Passagierjets auf New Yorks Hudson River. Alle überlebten; der damals noch wenig bekannte Twitter bot eine frühe Probe seines Tempos beim Themensetzen; das Volk feiert den Piloten und Flugsicherheits-Kleinunternehmer als heldenhaften Retter (zumal im durch Flugzeugeinwirkung leidgeprüften New York). Fünf Tage später wurde Barack Obama erstmals als Präsident angelobt.

Das zeigt Clint Eastwoods US-Kinoerfolg ‚Sully‘. Also, den Piloten. Sullenberger handelt aus Erfahrung und Intuition richtig – und wird dann doch, backstage quasi, von einer unerbittlichen staatlichen Kommission bedrängt: War die Entscheidung, statt einen der nahegelegenen Flughäfen den Fluss anzusteuern, nicht unnötig riskant? Das setzt ihm zu, ebenso der Medienrummel um ihn. Mit dem Dackelblick von Tom Hanks – längst eine Universal-Leidensikone des auf küstennahen Wassern der Zeitgeschichte strandenden White America-Subjekts – schaut er im New Yorker Hotel in den Badezimmerdunst oder aus dem Fenster auf die Häuserschluchten, joggt er keuchend durch die kalte Nacht. Jugenderinnerungen: Die Zeit fliegt dahin – ach, die Air Force! Am Ende dann Gerichtsdrama: Kommission tagt, Simulation irrt, Computerbürokratie verkennt das Menschliche. Männliches Charisma steht gegen entfremdetes Establishment, Bild scharf, Klavier zart: Eastwood-Klassik wie in Flags of Our Fathers‚ und und und. Plot und Abspann sagen: Heroisch ist auch das kooperative Kollektiv – Passagiere mit Katastrophenfilmflair und Airlinepersonal mit Seele (weiß), Rescue Workers in Uniform (Latino und schwarz), Taxler und Standlerin am Rand des Geschehens (indisch). Die Landung läuft mehrmals in Variationen ab: Alptraum, Vision, Sim-Flug, Sinkflug, Aufprall. Der Ausgang ist ja an sich vergangen, also fix und bekannt; aber durch die Wiederholung wird es wieder spannend, auch überraschend.

Für die Ösis in und um uns: Was lehrt uns ‚Sully‘ (zusammen mit anderen Sternstunden des autoritären Amerika)? Hautevolee, die Hochgeflogenen, das ist, auch wenn in Wahlkämpfen von Rechts eingesetzt, ein uneindeutiges Wort. Aus endlos wiederholter Richtungsentscheidung steigt ein Trost und Vertrauen spendender Landespatriarch auf. Das muss kein martialischer Flug- und Sicherheitsexperte sein. Viel besser kommt er als erfahrener, medienscheuer älterer Herr mit Bart und Doppel-L im Nachnamen.

Die Hände meiner Mutter

(DE 2016, Regie: Florian Eichinger)

Zum Sprechen finden
von Wolfgang Nierlin

„Für mich existiert sie nicht mehr“, sagt Markus (Andreas Döhler) im Prolog des Films zu seiner Frau Monika (Jessica Schwarz), die ihn zärtlich schützend umfasst. Der etwa 40-jährige Vater eines …

„Für mich existiert sie nicht mehr“, sagt Markus (Andreas Döhler) im Prolog des Films zu seiner Frau Monika (Jessica Schwarz), die ihn zärtlich schützend umfasst. Der etwa 40-jährige Vater eines kleinen Jungen wurde als Kind von seiner Mutter sexuell missbraucht und wird immer wieder von seinen Erinnerungen daran gequält. Später in Florian Eichingers beeindruckendem Film „Die Hände meiner Mutter“, dem dritten Teil einer Trilogie über die Zusammenhänge von Familiengewalt, wird die Szene in dem „Markus“ betitelten Kapitel wiederholt. Auch die anderen Kapitel des genau und konzentriert erzählten Films sind nach einzelnen Familienmitgliedern benannt. Jeweils eröffnet durch einen Blick aus der Vogelperspektive, stehen die Teile für das Ganze. Auch wenn die Perspektive von Markus das Zentrum bildet, sind doch alle anderen Figuren mehr oder weniger von dem „Fall“ betroffen. So sagt der Protagonist am Ende des Films vor versammelter Verwandtschaft, als er zu einer Rede ansetzt: „Direkt oder indirekt geht es um die ganze Familie.“

Entsprechend ist es zu Beginn des Films eine Familienfeier, die in Markus das Trauma reaktiviert. Während auf einer Schiffsfahrt der Geburtstag seines Vaters Gerhard (Heiko Pinkowski) mit aufgesetzter Fröhlichkeit und falschen Reden gefeiert wird, kommt seine ehemals übergriffige Mutter Renate (Katrin Pollitt) ihrem Enkelkind Adam vermeintlich zu nahe. Markus wird durch den nicht eindeutigen Zwischenfall geradezu physisch in die eigene Kindheit katapultiert. Florian Eichinger inszeniert diese schmerzlich gegenwärtigen Erlebnisse und die Kontinuität des Traumas, indem er in den Rückblenden auf die schambesetzten Erlebnisse den erwachsenen Markus spielen lässt. Die Kindheit ist also noch nicht zu Ende, sondern kehrt in Schocks und Zusammenbrüchen alptraumhaft zurück, was zunächst durch die sinnfällige Enge und Isolation auf dem Schiff noch verstärkt wird. Doch auch der daraus folgende Alltag von Markus, besonders seine Ehe und seine Berufstätigkeit, geraten immer deutlicher aus den Fugen.

Es gehört zu den Stärken von Eichingers sorgfältig und völlig unspektakulär am gewöhnlichen Alltagsleben entlang erzähltem Film, dass er zeigt, wie diese inneren Erschütterungen immer weitere Kreise ziehen. Ebenso verhalten wie detailliert entwickelt der Regisseur die ganze Komplexität des gesellschaftlich tabuisierten Themas. Auch wenn Markus in dieser schmerzlichen Geschichte nicht das einzige Opfer ist, sondern sich der sexuelle Missbrauch über Generationen fortsetzt und verzweigt, sind es doch die Wirkungen seiner verstörenden Erfahrungen die ein normales Leben für ihn zunehmend unmöglicher machen. Dabei bleibt beunruhigend, zu sehen, dass Offenheit, Einsicht oder auch Verzeihen unter den Beteiligten weder zwangsläufig die seelischen Leiden mildern noch das Trauma aus der Welt schaffen. Vielmehr zeigt der Film einen schwierigen Prozess der Verarbeitung, der im verminten Gelände von Schuld, Misstrauen und Schweigen erst zu einer Sprache, zum Sprechen finden muss.

Allied – Vertraute Fremde

(USA 2016, Regie: Robert Zemeckis)

Back to the Past: Retroflair mit Nazis und Pitts Popo
von Drehli Robnik

Ein Agenten-Melodram im Zweiten Weltkrieg als Szenen einer Ehe. Hatte Angelina Jolie als Fee Maleficient in ihrem gleichnamigen Erfolgsfilm auf die Amputation ihrer Brüste (Verklust ihrer schönen Flügel) angespielt, so …

Ein Agenten-Melodram im Zweiten Weltkrieg als Szenen einer Ehe. Hatte Angelina Jolie als Fee Maleficient in ihrem gleichnamigen Erfolgsfilm auf die Amputation ihrer Brüste (Verklust ihrer schönen Flügel) angespielt, so zeigt uns nun Brad Pitt in ‚Allied – Vertraute Fremde‘ ein Familienleben unter Beobachtungsdruck. 1942 agiert er mit Marion Cotillard (‚I keep the emotions real!‘) in Casablanca als Ehepaar getarnt gegen die Nazis. Aus Tarnung und Simulation keimt wahre Liebe. In fabriksneu wirkenden Glanzdekors und -kostümen spielt hier manch Szene mit Echtheitsgarantie: Autosex im Sandsturm! Entlarvende Tests! Pitts echte Stunts! Cotillards echte Tränen! Beider echte Popos! Als das Paar nach absolviertem Nordafrika-Einsatz 1944 mit Baby in London lebt, gerät sie unter Verdacht, eine Nazi-Doppelagentin zu sein. Es folgt Spannung auf Weihnachtsfilmniveau.

Auffällig an diesem altvatrischen Film ist vielleicht noch dies: Heute, wo Faschismus wieder als globale politische Option etabliert ist, inszeniert Robert Zemeckis – als Regisseur nicht nur von ‚Back to the Future‘ einst ein großer Zeitreisender durch die US-Historie – den Nazi-Faschismus und die britische Geheimdienstbürokratie als in etwa gleich üble Herzlosigkeitssysteme, die einer Familie ihr Glück vermiesen. (Einer jungen Familie zumal: Pitt ist erst 53.) Da ist ‚Allied‘ so äquidistant wie damals in Sachen Einschätzung des Vietnamkriegs dieser Forrest… irgendwas so ähnlich wie Trump. Egal: We´ll always have Casablanca.

Tschick

(D 2016, Regie: Fatih Akin)

Ihr wisst doch, was ich meine!
von Ricardo Brunn

Maiks Vorfreude auf die Sommerferien hält sich in Grenzen. Mutti muss in die Entzugsklinik. Papi verduftet mit seiner hübschen „Assistentin“ auf „Geschäftsreise“. Und Klassenschwarm Tatjana hat Maik nicht zu ihrer …

Maiks Vorfreude auf die Sommerferien hält sich in Grenzen. Mutti muss in die Entzugsklinik. Papi verduftet mit seiner hübschen „Assistentin“ auf „Geschäftsreise“. Und Klassenschwarm Tatjana hat Maik nicht zu ihrer Geburtstagsfete eingeladen. Sechs Wochen Langeweile stehen vor der Tür, an der unvermittelt Tschick, Maiks neuer Klassenkamerad, auftaucht. Auch der verschrobene und dem Alkohol zugeneigte Kauz aus den unendlichen russischen Weiten wurde nicht zu Tatjanas Geburtstag eingeladen, hat wie Maik keine Freunde, scheinbar ebenfalls keine Eltern, die sich um ihn sorgen und damit in den Ferien absolut nichts zu tun. Wie selbstverständlich hängt sich Tschick an Maik ran und alsbald fahren beide mit einem geklauten Lada Niva auf brandenburgischen Straßen der Freiheit und dem Ende der Kindheit entgegen.

Mit 30 Sachen durch die Felder rasen, Klebestreifen in der Fresse, Dolby Surround, Clayderman, Insektenkino. Regisseur Fatih Akin übersetzt die zentralen Momente des Bestsellerromans von Wolfgang Herrndorf mit einigem Geschick in die entsprechenden Bilder. Der Colorgrader spielt DJ und dreht die Farben ordentlich auf. Laut sind die Bilder also bereits ohne Musik. Die kommt von K.I.Z und Seeed als Piemontkirsche noch obendrauf. Das könnte schnell zu viel des Guten und zu wenig des Richtigen sein. Und das ist es auch. „Landkarten sind für Muschis“, belehrt Tschick zu Beginn der Reise seinen schüchternen Gefährten. Akin dreht seinen Film nicht nur mit der Landkarte, sondern gleich mit dem Navigationsgerät des deutschen Gefälligkeits-Arthouse. Der Roman dient ihm als Spickzettel. Er hängt sich an die Hauptsätze, die Nebensätze werden geflissentlich ignoriert. Aus der sicheren Routine eines versierten Filmemachers entspringt die effiziente Mittelmäßigkeit des Sachbearbeiters im Staatsbetrieb. Das ist insofern verrückt, da für Wolfgang Herrndorf, wie 2011 im Interview mit der FAZ beschrieben, Mittelmäßigkeit häufig die Quelle für die eigene Kreativität gewesen ist. Und tatsächlich gibt es an seinem „Tschick“ nichts zu schrauben, weil alles Mittelmäßige mit lässiger Geste hinweggewischt und die Geschichte um zwei jugendliche Außenseiter vom 2013 verstorbenen Autor in eine amüsant schnoddrige Sprache gegossen wurde. „Tschick“ von Fatih Akin hingegen stellt eine Umkehrbewegung dar. Er spielt so sehr auf Nummer sicher, ruht sich so sehr auf der Haltung der Vorlage aus, dass er in der Hoffnung damit wenig falsch zu machen, dort landet, wo andere mit der Arbeit erst beginnen.

Viel zu selten fährt der Film aus der eigenen Haut. Auf jeden Arsch-auf-Eimer-Witz folgen zwei, bei denen alles eine Sekunde zu lang dauert, die Montage nicht flott genug ist, die Protagonisten zu behäbig agieren. Für die Figuren so wichtige Stationen der Entwicklung, wie die Suche nach einem Supermarkt in einem Dorf, bei der Tschick und Maik auf eine etwas sonderbare Familie treffen und mit all ihren uneingelösten Vorurteilen klarkommen müssen, zergehen im Einheitsbilderbrei einer am Sujet desinteressierten Inszenierung. Die grob geschnitzten Nebenfiguren, allen voran Reisegefährtin Isa, deren übertriebenes Changieren zwischen Wahnsinn und Verletzlichkeit das Erblühen einer Blume hinter der Rotzlöffelfassade allzu offensichtlich vorbereitet, stellen diese Unlust am Gegenstand ein ums andere Mal aus. Alles sagt in der Copy-and-paste-Manier des Mainstreamkinos: Ihr wisst ja, was ich meine. Kameraflüge über weite Landschaften und Straßen wollen Abenteuerlust und Freiheit suggerieren, während die generische Filmmusik den Landschaftstotalen verzweifelt frisches Fernwehblut in die Gefäße spülen soll.

Dabei müsste es doch genau dieses Gefühl sein, das den Stoff und seine Protagonisten durch die so gar nicht fernwehtaugliche, brandenburgische Landschaft treibt: Der Nervenkitzel aufregender Grenzüberschreitung beim ersten Kuss genauso wie bei der ersten Autofahrt. Und die Frage, ob das alles wirklich gelingen kann. Davon träumen und erzählen Jugendfilme. Akins Film ist jedoch durch und durch Produkt der Filmwarenwelt und Produkte träumen nicht. Als Wolfgang Herrndorf seinen Roman „Tschick“ schrieb, dachte er an die wichtigen Bücher seiner Kindheit und Jugend, an Namen wie Huckleberry Finn, Pik und Ben oder Jack und Ralph. Ein klein wenig fragt man sich, woran Fatih Akin gedacht haben könnte, denn seiner Verfilmung des Romans fehlt dieses sehnsuchtsvoll-abscheuliche Gefühl des Erwachsenwerdens, des Risikos und der ersten großen Liebe. Diese unausgesprochene Vorahnung am Ende doch nur Bestandteil der Erwachsenenwelt zu werden und sich dem zu widersetzen.

Wie in so vielen Road Movies dieser Tage geht es auch in „Tschick“ nur darum, in der Gesellschaft anzukommen. Die Möglichkeit an ihr zu scheitern wird ausgeblendet. Damit raubt der Regisseur dem Stoff von vornherein sehr viel an Konfliktpotential und Spannung. Akin, der bereits mit „Soul Kitchen“ am Genre der Komödie elegant gescheitert ist, hat aus Herrndorfs „Tschick“ einen effizient mittelmäßigen Film geschustert, mit dem man durchaus seinen Spaß haben kann. Verlieben kann man sich in dieses Produkt allerdings nicht.

Safari

(AT/DK 2016, Regie: Ulrich Seidl)

Menschen, Tiere, Kolonisationen
von Marit Hofmann

Tiere sehen dich an. Frisch »erlegt«, werden sie für das Trophäenfoto vom Blut gereinigt und in die gewünschte Pose gezerrt, oder ihre ausgestopften Köpfe hängen an der Wand. Zum Opfer …

Tiere sehen dich an. Frisch »erlegt«, werden sie für das Trophäenfoto vom Blut gereinigt und in die gewünschte Pose gezerrt, oder ihre ausgestopften Köpfe hängen an der Wand. Zum Opfer gefallen sind sie Tierschützern und Entwicklungshelfern: ‚Eigentlich erlöst man nur die Tiere‘, versichern sich die Geschwister aus Österreich, die zusammen mit ihren Eltern auf Familiensafari nach Namibia gefahren sind und die nun wiederum der Regisseur Ulrich Seidl in seiner peniblen Bildkomposition platziert hat. ‚Man hilft ja eigentlich … den Tiergenerationen …, dass sie leben können.‘ Außerdem, ergänzt ein deutscher Jägersmann, gebe ein Jagdtourist in Afrika ‚in einer Woche mehr Geld aus als ein normaler Tourist in zwei Monaten‘, davon hätten alle was. Der weiße Farmbesitzer reagiert etwas impulsiver auf Seidls Fragen: ‚Warum muss ich sagen, warum ich mal ein Tier töte!?‘

Nach seiner ‚Paradies‘-Trilogie ist der Erforscher der menschlichen Natur wieder zu Dokumentationen zurückgekehrt, die allerdings mit ihren gemäldeartig arrangierten Bildern gegen Regeln des Dokumentarfilms verstoßen. Er bilde die Realität nicht eins zu eins ab, sagt Seidl, sondern ‚ich nehme und forme sie. Aber in allem liegt eine innere Wahrheit.‘

Wenn die bewaffneten Missionare nicht im Tarnfarbenschick und rustikalen Wandgeweihambiente vor der starren Kamera plaudern oder, wie das aus Im Keller‚ bekannte ältere Ehepaar, die massigen Körper in der Sonne brutzeln lassen (ein Lieblingsmotiv Seidls) und dabei vom ‚Traumfleisch‘ der ‚verendeten Stücke‘ (getötete Tiere im Jägerlatein) schwärmen, pirscht sich die Kamera an die Freizeitterminatoren auf der Pirsch heran. Als Beobachter der Beobachter sehen wir zu, wie sie sich flüsternd verständigen, wie ihnen das Wild vor der Flinte serviert wird, das Adrenalin steigt (’nur das Stück und du – alles andere ist ausgeblendet‘) und sie sich nach dem Schuss vor dem Opfer in die Arme fallen. Auch wenn sich eine Giraffe in einer quälenden Sequenz im Todeskampf aufbäumt, scheint das die Lust am Töten nicht zu mindern. Nur der coproduzierende Sender Arte hatte Probleme mit solchen expliziten Bildern.

Der schrecklich treffsichere ‚Urlaubsfilm über das Töten‘ handelt nicht zuletzt von Rassismus und Ausbeutung. Die schwarzen Gehilfen haben in der Realität wie in ‚Safari‘ keine Stimme. Sie stehen in den Filmstillleben stumm da, übernehmen die Drecksarbeit des Abtransports und Ausweidens oder nagen Knochen ab. Dank ‚anderer Muskelfasern‘ könnten ‚die Schwarzen‘, erklären die Farmbesitzer, ‚deutlich schneller laufen als wir. Wenn sie denn wollen.‘ Auch wenn er nichts von alledem kommentieren will, ist Seidls befremdetes Staunen zu spüren. Die Schützen finden sich dennoch gut getroffen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 12/2016

Théo und Hugo

(F 2015, Regie: Olivier ­Ducastel, Jacques Martineau)

Bei der Liebe verliebt
von Jürgen Kiontke

Die romantische Liebe will immer neu und in den schillerndsten Farben gemalt werden, sie ist Stütze des Individuums und Kern einer Gesellschaft, die nicht mehr richtig an sich glaubt und …

Die romantische Liebe will immer neu und in den schillerndsten Farben gemalt werden, sie ist Stütze des Individuums und Kern einer Gesellschaft, die nicht mehr richtig an sich glaubt und was anderes noch nicht gefunden hat.

Die Produktion der Sicht auf die Liebe obliegt dem Kulturbetrieb. Wie oft scheitert sie, herrscht doch die ­serielle Monogamie. Wenig Verantwortung für die Gefühle anderer übernehmen und dennoch größtmögliches Vertrauen herstellen, das soll man damit unter einen Hut kriegen. Dass die Liebe dennoch funktioniert, will das Kino gern beweisen – und entwirft die abenteuerlichsten Konstellationen. Je differenzierter und charmanter, desto überzeugender. Es gab schon der Liebe verfallene Zeichentrickautos und auch die Liaison zwischen Müllroboter und iPhone-Android.

Auch Menschen müssen sich verlieben. ‚Sagt mir mal, was der verrückteste Liebesfilm dieses Jahr ist‘, habe ich im Februar bei der Sektion Panorama der Berliner Filmfestspiele nachgefragt. So was wie 2012, Cheryl Dunyes ‚Mommy Is Coming‘, wo 300 Menschen den Saal so schnell verließen. Lesben-SM mit Eltern­besuch. Oder frühere Bruce-LaBruce-Werke. Die Antwort bei der Berlinale lautete: ‚Versuch’s mal mit ›Théo und Hugo‹.‘

Das ist ein Film von Olivier Ducastel und Jacques Martineau, die von sich sagen: ‚All unsere Filme handeln von Liebe. Aber diesmal wollten wir an den Ursprung zurück.‘ Da fängt der Film auch an. Es ist nicht so sehr das Personal – zwei junge Schwule, die fürs interessante Ambiente sorgen –, sondern die Art und Weise des Kennenlernens, die leicht ins Absurde weist. Théo (Geoffrey Couët) und Hugo (François Nambot) – Namen wie zwei Herrendüfte – lernen sich im Sexclub mehr oder weniger bei einer Gangbang-Party kennen. Die Männer sind weitestgehend nackt, bis auf Schuhe und Socken, in denen sie das Handy aufbewahren. Théo und Hugo sind ­jeweils anderweitig beschäftigt, halten aber Blickkontakt. So schön finden sie sich gegenseitig, dass Hugo den Kondomautomaten geflissentlich übersieht. Es kommt, wozu es kommen muss: zum ungeschützten Geschlechtsverkehr.

Man sieht die beiden Verliebten Schwanz an Schwanz durchs morgendliche Paris cruisen – bis der Verrat zufällig auffliegt: Hugo hatte eben nur Théo im Kopf – wörtlich, aber nicht die letzte Aidsaufklärungsbroschüre. Verzweifelt stürmt der junge Mann in die Akutsprechstunde, wo eine junge Ärztin ihm und den Zuschauern erklärt, was man macht, wenn man sich mit HIV infiziert hat. Denn Théo ist positiv.

Dreimal Blutcheck am Tag und jede Menge fieser Tabletten. Die Liebe der beiden ist im Eiltempo gealtert – der Meckerfaktor hoch wie beim ­alten Ehepaar. Konntest du nicht aufpassen? Ach, ich war mit den Gedanken woanders. So könnte es noch lange weitergehen. Aber die beiden Liebesspezialisten hinter der Kamera wissen auch: Die Zeit drängt, bald sind Nacht und Film zu Ende! Die Regisseure führen die liebenden Streitenden ans Ufer der Seine, man zeigt sich Wohnung und Geschlechtsorgan, dann graut der Morgen und sie wandeln in die aufgehende Sonne und die Seelen haben sich beruhigt.

Die Katastrophe führt ins Vertrauen, jetzt wird an der Beziehung gearbeitet. Eine Verharmlosung der Krankheit? Tja, das kann man so oder so sehen. Man mag sie kitschig finden oder als Komödie betrachten, die ­totale Liebe – starke Gefühle sind ja öfter mal was mit Klischee. Auch unsere beiden jungen Freunde können es kaum glauben: ‚Als wir miteinander gefickt haben, haben wir Liebe erschaffen‘, lautet ihr ­Fazit. Beziehungsweise: ‚Wir haben was für den Weltfrieden getan.‘

Ja, das haben ‚Théo und Hugo‘ wirklich. Prima Kino!

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Jungle World

Affenkönig

(D 2016, Regie: Oliver Rihs)

Posterprinz
von Julia Olbrich

Wolfi alias „Affenkönig“ lädt seine drei alten Schulfreunde zu seinem 45. Geburtstag auf seinen Landsitz in die Provence ein. 20 Jahre haben sich die Vier nicht gesehen, und jetzt rückt …

Wolfi alias „Affenkönig“ lädt seine drei alten Schulfreunde zu seinem 45. Geburtstag auf seinen Landsitz in die Provence ein. 20 Jahre haben sich die Vier nicht gesehen, und jetzt rückt jeder von ihnen mitsamt Anhang an. Der gestresste Politiker Viktor kommt zusammen mit seiner schwangeren Freundin, Musiker Martin hat seinen pubertierenden Sohn dabei, und Hausmann Ralph leidet schon am Flughafen unter Frau und Tochter, die sich in Hormonschwankungen gegenseitig toppen. Vorfreude ist allen anzumerken, als sie anreisen, und jeder ist gespannt, was ein Aufeinandertreffen nach so langer Zeit mit sich bringt.

Diese Spannung hält sich auch beim Zuschauer noch über die ersten 15 Minuten, in denen sommerliche Landschaftsaufnahmen von Südfrankreich und gekonnt angerissene Charaktere Lust auf mehr machen. Doch anstatt sich sorgfältig weiter auf die Psychologie der Figuren zu konzentrieren, verfällt Filmemacher Oliver Rihs in unkoordinierten Aktionismus. Er lässt nackte Schönheiten miteinander Tischtennis-Spielen, Musiker Martin einen Strauß jagen oder die Männer in Reizwäsche einen Berggipfel hochradeln: was die unterschwellig spürbare Midlife-Crisis der Geburtstagsgäste so richtig schön zum Explodieren bringen könnte, mündet in einer Aneinanderreihung von Blindgängern. Daran kann auch das gut besetzte Schauspielensemble (u. a. Samuel Finzi, Oliver Korittke) nichts ändern, das sich redlich mit einem schlechten Drehbuch abmüht. Dieses enthält teilweise unterirdisch schlechte Dialogzeilen wie „Was ist denn mit deiner Nudel los, ist die nicht ganz al dente?“, mit der Wolfi wissen will, warum Ralphs Ehefrau einen Wutausbruch bekommt. Mit seinem Humor greift Regisseur Rihs in die Schublade „deftig und unter der Gürtellinie“. Doch was bei US-Komödien wie „Kindsköpfe“ oder „Hangover“, die ihre Mittvierziger-Helden ebenfalls auf Spaßtour schicken, hervorragend gelingt, endet bei „Affenkönig“ in einer Aneinanderreihung von Peinlichkeiten. Ob Wettrülpsen am Tisch oder ein beherzter Griff in den Po des Freundes, damit dieser beim Gruppensex eine Erektion bekommt – man mag kaum hinsehen vor lauter Fremdscham. Selbst „Borat“ wirkt dagegen wie Prince Charming.

„Affenkönig“ fehlt nicht nur eine Sympathie für die Figuren, die durchgehend schablonenhaft bleiben, sondern auch ein Gespür für das richtige Gag-Timing. 100 Minuten später, nachdem gefühlt jeder mit jedem im französischen Chalet Sex hatte, kann man nur noch müde mit der Wimper zucken. Ach „Affenkönig“, wärest du nur ein Filmplakat geblieben, denn das ist – zugegeben – richtig originell!

Frantz

(DE/FR 2016, Regie: François Ozon )

Die Farbe der Lüge
von Wolfgang Nierlin

Der Weg vom Blumenhändler zum Friedhof, über Kopfsteinpflaster und durch alte Gemäuer führt in die Trauer. Die junge Anna (Paula Beer) hat ihren Verlobten Frantz verloren und mit ihm alle …

Der Weg vom Blumenhändler zum Friedhof, über Kopfsteinpflaster und durch alte Gemäuer führt in die Trauer. Die junge Anna (Paula Beer) hat ihren Verlobten Frantz verloren und mit ihm alle Lebenslust. Wie überall in Deutschland sind kurz nach dem 1. Weltkrieg auch in Quedlinburg viele Opfer zu beklagen. Väter weinen um ihre gefallenen Söhne, leiden unter der Schmach der Niederlage und richten ihre im Schmerz gefangene Verbitterung gegen den Erbfeind Frankreich. Zu ihnen gehört auch der Arzt und Patriot Hans Hoffmeister (Ernst Stötzner), der zusammen mit seiner Frau Magda (Marie Gruber) in Frantz den Tod seines einzigen, anonym begrabenen Sohnes betrauert. Als eines Tages der junge Franzose Adrien (Pierre Niney), ein Violinist von kultivierter Erscheinung, an ihrer Haustür klingelt und sich zögerlich als Frantz‘ Vorkriegsfreund seiner Pariser Studienjahre ausgibt, weichen allmählich Misstrauen und Feindschaft. Vermittelt durch Musik, Kunst und gemeinsame Erinnerungen treffen sich die körperlich und psychisch Versehrten in kollektiver Trauer.

In seinem neuen, in Schwarzweiß und Cinemascope gedrehten Film „Frantz“ etabliert der französische Regisseur François Ozon zunächst ein gefühlvolles, sehr bewegendes Melodram, in das nur an wenigen Stellen die Farbe der Lüge und des Lebens einbricht. Seine spiegelbildlichen Konstruktionen von Leid und Zerstörung, Leben und Tod sind nicht frei von Klischees und ergreifendem Pathos. Ozon nutzt diese genretypischen Mittel aber nicht nur, um aus der Perspektive der Unterlegenen eine Geschichte über Schuld und Vergebung sowie die mögliche Freundschaft zweier benachbarter Länder zu erzählen; sondern die heilsame Wirkung des Erzählens als ein Erfinden von Geschichten wird selbst zum Thema. Die Kunst – und sei ihre Wahrheit noch so ironisch gebrochen – wirkt geradezu als Therapeutikum.

Die Lüge wird in „Frantz“, der in Teilen von Ernst Lubitschs Film „Broken Lullaby“ (1931) nach einem Theaterstück von Maurice Rostand inspiriert ist, zur schmerzlichen Bedingung des Weiterlebens. Im Zentrum von Ozons Film steht die zwischen aufkeimender Hoffnung und tiefer Verzweiflung schwankende Anna. In ihr laufen alle Fäden zusammen, kreuzen sich Wahrheit und Täuschung. Denn zunächst verstrickt sie sich in eine komplizierte, von Höhen und abrupten Tiefen gekennzeichnete Liebe zu Adrien, aus der sie sich später wieder wird lösen müssen. Wenn sie schließlich am Ende im Pariser Louvre (sic!) vor Édouard Manets düsterem Gemälde „Der Selbstmörder“ (1877/81) sitzt, ist sie zugleich Opfer und Emanzipierte. Anna ermöglicht den anderen in ihrem Umkreis, zu leben und findet durch die Lüge hindurch zu sich und ihren Gefühlen. Es ist, als mildere in diesem Augenblick der Wechsel zur Farbe diese im Grunde schwere Hypothek des Gewissens.

Dieses Sommergefühl

(F/D 2016, Regie: Mikhaël Hers)

Media vita in morte sumus
von Ulrich Kriest

Schon Notker I. von St. Gallen soll es gewusst haben: „Mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen.“ Recht eigentlich ein Skandal. Als die Endzwanzigerin Sasha auf dem Nachhauseweg von …

Schon Notker I. von St. Gallen soll es gewusst haben: „Mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen.“ Recht eigentlich ein Skandal. Als die Endzwanzigerin Sasha auf dem Nachhauseweg von ihrer Arbeit im Künstlerhaus Bethanien im Park plötzlich umfällt und kurz darauf stirbt, ist das (auch) ein Schock für den Zuschauer, denn Regisseur Mikhael Hers hatte zuvor alles ganz unspektakulär, aber konzentriert gezeigt: ihr Aufwachen, ihr Ankleiden, ihre Arbeit, ihre Alltagsroutine. Nun ist die in Berlin lebende Französin tot – und der Film hat die vermeintliche Protagonistin verstörend früh verloren. Der Zuschauer ist gewissermaßen zu spät gekommen, um sie noch kennenzulernen, und er erfährt auch nicht, was genau geschehen ist. Sashas Familie – Vater, Mutter, Schwester Zoé – reist zur Erledigung der Formalitäten und der Beisetzung an. Fassungslos ist auch Sashas Freund Lawrence, ein – wie wir später erfahren werden – Schriftsteller, den es auch New York nach Berlin verschlagen hat.

Sashas Tod als Auftakt: der Film beobachtet, registriert, aber hält sich entschieden zurück, wovon er erzählen möchte und kann, auch weil das Ensemble von Figuren auf unterschiedliche Weise davon betroffen ist. Es gibt keine Rückblenden, die die Geschichte von Sasha und Lawrence rekapitulieren, (mit einer Ausnahme) keine Erinnerungen an das Vor-Leben, sondern nur die Gegenwart des Weiterlebens. In dieser Gegenwart trifft sich Lawrence mit June, einer Freundin aus New York. Man spricht miteinander und verbringt einige Tage zusammen. Ein Jahr später – es ist wieder Sommer – besucht Lawrence Zoé in Paris, die auch Mutter eines Sohnes ist. Deren Leben hat sich allerdings mittlerweile verändert: sie lebt getrennt von ihrem Mann und arbeitet nachts in einem kleinen Hotel. Gemeinsam besuchen Zoé und Lawrence eine Party, vermeiden oder versäumen aber, über ihre Trauer zu sprechen. So forciert der Film darauf besteht, dass sich »das Leben« gewiss nicht einer Dramaturgie von Plot Points fügt und Figuren nicht in Problembenennungs- und –bewältigungsdialogen miteinander sprechen, so arbeitet Hers doch subtil mit Verdichtungen, weil er der Versuchung nicht widerstanden hat, über die Protagonisten und ihre Begegnungen auch etwas von der Atmosphäre eines Lebensgefühls und unterschiedlichen Mentalitäten einzufangen. Dazu gehört auch der zumeist etwas mehr als nur skizzenhafte Einbezug von Neben- und Randfiguren, die weitere Geschichten andeuten oder auch erst ermöglichen. Oder auch der sehr spezifische Einsatz von extrem geschmackvoll kompilierter Musik.

Ein Besuch im Elternhaus in Annecy zeigt Zoé, wie ihre Eltern mit dem Verlust des Kindes umgehen. Ein weiteres Jahr vergeht. Mittlerweile ist Lawrence nach Brooklyn zurückgezogen und hat neue Bekanntschaften gemacht. Diesmal ist es Zoé, die auf dem Weg nach Tennessee einen Zwischenstopp eingelegt. Sie hat sich von ihrem Mann endgültig getrennt und hat sich eines alten Studienfreundes erinnert, den sie jetzt besuchen will. Auch Lawrence, noch immer trauernd, steht gerade im Begriff, sich neu zu verlieben. Man feiert Parties, besucht Konzerte, redet und lebt weiter. Mit seiner erfrischend wortkargen Studie über Trauerarbeit, die geradezu programmatisch sämtliche Konventionen einer Fernsehspieldramaturgie verweigert, versucht Mikhael Hers zugleich ein Soziogramm und ein Psychogramm einer Generation von Kreativen um die 30, die sich mit einiger Souveränität kosmopolitisch zwischen den hippen Orten der nördlichen Hemisphäre bewegt und bewegen kann, weil sich die Kulturen sehr weitgehend angeglichen haben. Wobei das Bild von Berlin aufgrund der gewählten Perspektive auf das Geschehen notwendig etwas unscharf bleiben muss.

Mit seinem interessanten Cast – Anders Danielsen Lie einmal mehr als sensibler Schriftsteller wie zuletzt schon in „Alice und das Meer“ und die Rohmer-Actrice Marie Rivière als Sashas Mutter – besetzt Hers sehr konsequent ein Feld zwischen Joachim Trier und Eric Rohmer. Auch Lana Cooper („Love Steaks“) als Lawrences Freundin June fügt sich bestens in dieses bunte Ensemble. So bleibt den Zuschauern dieses auf stille Weise intensiven und betont offenen Films sehr viel Zeit, die Figuren zu beobachten, sich in die Milieus und Interieurs zu vertiefen und sich von der zelebrierten und wie der Film selbst seltsam zwischen den Jahrzehnten irrlichternden Musik von Felt (!), Ben Watt (!!) oder auch Nick Garrie (!!!) zu verlieren. Jonathan Richman, eigentlich naheliegend, hätte hier nicht gepasst.

Hier und hier finden sich weitere Kritiken zu ‚Dieses Sommergefühl‘.

Terror in der Oper

(IT 1987, Regie: Dario Argento)

Das überwältigte Auge
von Ricardo Brunn

Während der Proben zu Verdis „Macbeth“ wird die Hauptdarstellerin von einigen zur Inszenierung gehörenden Raben attackiert und verlässt unter wütendem Getöse das Konzerthaus. Auf die Straße hastend wird sie von …

Während der Proben zu Verdis „Macbeth“ wird die Hauptdarstellerin von einigen zur Inszenierung gehörenden Raben attackiert und verlässt unter wütendem Getöse das Konzerthaus. Auf die Straße hastend wird sie von einem Auto erfasst und schwer verletzt. Betty (Cristina Marsillach), die wenig selbstbewusste Zweitbesetzung der Lady Macbeth, muss einspringen und bekommt nun die Chance ihres Lebens. Doch irgendetwas scheint nicht mit rechten Dingen zuzugehen. So wird ihr die Nachricht über den baldigen Einsatz nicht nur von einer rauen Telefonstimme, die keinem Mitarbeiter des Opernhauses zuzuordnen ist, übermittelt. Angeblich soll auch noch ein Fluch auf dem aufzuführenden Stück liegen. Und tatsächlich wird die erste Vorstellung von einem herabstürzenden Scheinwerfer und einem toten Platzanweiser kurz unterbrochen. Irgendjemand verfolgt Betty und geht dabei über Leichen.

„Terror in der Oper“ ist eine lose Adaption des Stoffes von Gaston Leroux aus dem Jahre 1910. Lose schon deshalb, weil Argento als Meister des Giallo – abgeleitet aus einer seit 1929 erscheinenden Kriminalbuchreihe, die Anlass zu diversen Verfilmungen gegeben hat – spätestens seit „Profondo Rosso“ (IT 1975) nur wenig auf einen stringenten Plot gibt. In den häufig als oberflächliche Whodunits angelegten Erzählungen kann der Zuschauer Logik sowie eine präzise Schauspielführung getrost vergessen. Dementsprechend neigen die zahlreichen Drei-Wort-Hauptsätze in „Terror in der Oper“ genauso wie die Bewegungen der Figuren dazu, jenen Erzählversatzstücken einer pornografischen Rahmenhandlung sehr nahe zu kommen. Aber Gialli sind auch nicht für ihre ausgefeilten Dialoge berühmt geworden. Schon gar nicht die von Dario Argento, der die Handlung selbst in Momenten der Verfolgung gern einmal aussetzt und seine Figuren stumm in labyrinthartigen Gängen und Raumverschachtelungen verloren gehen lässt. Die Form, das wird in solchen Momenten deutlich, triumphiert hier eindeutig über den Inhalt. Und auch wenn Argento die albtraumhaften Raumkonstruktionen und die bestechenden Farbdramaturgien seiner beiden Meisterwerke „Suspiria“ (USA 1977) und „Inferno“ (USA 1980) in „Terror in der Oper“ nicht wiederholt, variiert oder zu erweitern sucht und somit der Erosionsprozess seines visuellen Stils bereits abzusehen ist, erschafft er hier noch einmal einige seiner ikonografischsten Bilder im Versuch, den physischen und psychischen Grundlagen des Sehens auf den Grund zu gehen.

Nachdem Betty ihre erste Vorstellung als Lady Macbeth erfolgreich absolviert hat und ihr alle zu Füßen liegen, bekommt sie mitten in der Nacht Besuch von ihrem unbekannten Stalker, der sie angebunden an eine Säule und mit unter den Augenlidern geklebten Nadeln dazu zwingt, einen Mord mit anzusehen. Sollte sie die Augen schließen wollen, würden die Nadeln ihre Augenlider durchstechen. Der Killer, so scheint es, hat es nicht auf sie, sondern auf ihre Blicke abgesehen. Das zum Hinsehen gezwungene Auge ist zugleich natürlich das Auge des Zuschauers, das sich den Gewaltbildern des Horrorfilms nicht entziehen kann oder will. Gerade weil Betty weder Täter noch direktes Opfer ist, symbolisiert der Zwang zum Hinsehen das entkörperlichte Auge des Betrachters, das im Voyeurismus vermeintlich keine Verantwortung für das Gesehene trägt.

Der tatsächliche Gegenstand des Filmes ist nicht so sehr die Suche nach dem Mörder als die Kamera selbst und die Frage danach, wer eigentlich blickt. Die entfesselte Kamera, die an vielen Stellen des Filmes durch Bettys Wohnung und am Ende des Filmes in einem eindrucksvollen Flug durch den Konzertsaal jagt, entreißt den Blick des Zuschauers einer gesicherten Position. Desorientierung entwickelt Argento hier nicht durch unzuverlässige Räume, sondern durch eine Kamera, bei der objektiver und subjektiver Blick untrennbar miteinander verwoben sind. Selbst in den offensichtlichen point-of-views wird oftmals erst im Umschnitt klar, welcher Figur der Blick überhaupt zugeordnet werden kann.

In einer der beklemmendsten Szenen des Filmes – in der ein Mann sich Zutritt zu Bettys Wohnung verschaffen will und durch den Türspion von drinnen nicht als der Polizist identifiziert werden kann, als der er sich ausgibt – sehen wir die Großaufnahme einer Patronenkugel, die sich durch den Türspion hindurch einen Weg zum beobachtenden Auge bahnt und dieses somit jeden Erkenntnisvermögens beraubt. Das unbekannte und unheimliche Draußen drängt hier in doppelter Weise Ins Innere. Und es ist diese Kollision von drinnen und draußen, die als Definition für das Furchterregende und den Horror gelten kann. Selten hat ein Regisseur Macht und Ohnmacht des Blickes und damit die ganze Hilflosigkeit der Protagonisten so spürbar auf den Zuschauer übertragen, wie dies für Dario Argento zutreffend ist. In „Terror in der Oper“ führt er es uns noch einmal par excellence vor.

2017 wird „Suspiria“ vierzig Jahre nach der Erstaufführung als restaurierte 4k-Fassung für zwei Tage in den italienischen Kinos gezeigt. Ein Remake des Filmes unter der Regie von Luca Guadagnino ist ebenfalls für 2017 angekündigt. Auch hierzulande erfährt Dario Argentos Werk nicht zuletzt dank des 2013 von Marcus Stiglegger und Michael Flintrop herausgegebenen Buches „Dario Argento – Anatomie der Angst“ eine angemessene Würdigung. Leider sind nur wenige Filme und selten in ungeschnittener Fassung erhältlich. Wer sich also mit ein wenig mit Dario Argentos Werk beschäftigen möchte, dem sei auch „Terror in der Oper“ noch einmal sehr ans Herz gelegt. Der Film startet nach 30 Jahren nun doch noch in den deutschen Kinos.

Arrival

(USA 2016, Regie: Dennis Villeneuve)

Aliens verstehen? SciFi als Üben im Trüben
von Drehli Robnik

Als Titel schlicht, als Chiffre dicht: ‚Arrival‘ meint im gleichnamigen SciFi-Thriller-Puzzle zunächst einmal die von Aliens. Eine Ankunft from space (an zwölf verschiedenen Punkten auf der Erde – der Film …

Als Titel schlicht, als Chiffre dicht: ‚Arrival‘ meint im gleichnamigen SciFi-Thriller-Puzzle zunächst einmal die von Aliens. Eine Ankunft from space (an zwölf verschiedenen Punkten auf der Erde – der Film spielt großteils in einer Landschaft in Montana, USA) zeitigt prekäre Raumbeziehungen: Wie ein Riesen-Ei schwebt starr ihr schwarzes Schiff, darunter eine labyrinthische Zeltstadt voller Labors, Kriegsgerät und Monitorkonsolen, in der Wissenschaft und Militär um Deutungshoheit und Handlungsmacht bezüglich der Ankömmlinge streiten. Diese laden kleine Gruppen von Menschen zu sich in ihr Schiff, zur täglichen Kurzkonfrontation; das hat etwas von Ritual-Sitzungen wie auch von aufeinander aufbauenden Kurseinheiten.

Drohnenpanorama mit Alien-Ei und Zelt-Festung; alphornhafte (und alptraumhafte) Drone-Sounds in pulsiererendem Musikteppich; humane Abgesandte in orangefarbenen Schutzanzügen, beklommen schwebend im schwarzen Schacht des Schiffs; an einem milchigweißen Sichtfenster – einem der vielen Screens in diesem Film – dann die Begegnungen. Deren kosmische Dimension, samt globalen Massenpanikwirkungen und Armeeaufmärschen, die auf Monitoren mitlaufen, verknüpft der Plot eng mit dem Intimen: Körper- und Bewusstseinsfunktionen, Atmung und Kommunikation, stehen in Fragezeichen – mitunter ebenfalls auf Monitoren, die der Analyse etwa der Sprach-Sound- und Schrift-Patterns der Aliens dienen, und oft in kunstvoll gestalteter Trübung und Unschärfe des Bildes.

‚Arrival‘ ist auch das, was kommt, hat also eine zeitliche Dimension. Zukunft kann Angst machen (für die Militärs sind die Aliens ‚a rival‘), aber trotz und vielleicht gerade in aller Trübung können Orientierung und Verstehen entstehen. Eine Linguistin (packend gespielt von Amy Adams) steht für Öffnung, für Lernwilligkeit wie auch Sich-Aussetzen, als Haltung. Mehr Forschung denn Forschheit. Von Anfang an steht hier in Frage und will gedeutet sein, wessen Ankunft dieser Film erzählt: Sein Ablauf entfaltet ein Motivmuster, eine Beziehung von Traumatik wie auch von deren Umkehrung, um die Geburt und den Verlust eines Kindes. Mut und Wehmut kommen hier zusammen. Das ist rührend – und hier keinesfalls zu spoilern.

Vergleichsfilmtitel drängen sich auf, darunter auch ‚Close Encounters of the Third Kind‘ von 1977. In Spielbergs Psychodrama in Sachen Alien-Kontaktaufnahme und Sprachfindung führte das Abdriften eines Familienvaters in den Wahnsinn schlussendlich zum Spektakel einer Licht- und Sound-Orgel und weiter in die halb regressive, halb archivarische Wunscherfüllungsfantasie einer Rückerstattung verlorener Kindheit in Form eines leuchtend weißen Buben-Idylls. In ‚Arrival‘ dagegen steht eine Mutter im Zentrum, deren vernunftdurchdrungene Entschlossenheit sie zu Wagnissen und zu Eintritten in dunkle Szenarien befähigt, die aus einer Ökonomie der Sicherheits- bzw. Glücksmaximierung heraus als abwegig erscheinen.

‚Arrival‘ versprüht ein Ethos der Einübung in Zukunft als Risiko – und tut das in einer arrivierten Form: Regisseur Denis Villeneuve (aus Kanada, nunmehr Hoffnungsland vieler Ankömmlinge, die vor Trump flüchten wollen) ist eine sichere Bank für philosophierfreudige Genrekino-Variationen. Eine Forscherin unter martialischen Männern wie in ‚Sicario‘, ein Mindgame, in dem alles an seinen Platz kommt wie in ‚Incendies – Die Frau, die singt‘ oder ‚Prisoners‘: Faszination hat hier den Preis einer gewissen Betulichkeit, aber sie stellt sich ein. Und das kommt gut.

Paterson

(USA 2016, Regie: Jim Jarmusch)

80er-Poesie
von Ulrich Kriest

Ist es ein untrügliches Zeichen dafür, dass man beginnt, alt zu werden, wenn man sich für einen Film von Jim Jarmusch erwärmen kann? War es nicht eher die furchtbare Erfahrung, …

Ist es ein untrügliches Zeichen dafür, dass man beginnt, alt zu werden, wenn man sich für einen Film von Jim Jarmusch erwärmen kann? War es nicht eher die furchtbare Erfahrung, wie sich ein studentisches Programmkino-Publikum über den kauzigen Humor von „Down by Law“ beömmelte, die den »Kult-Regisseur« für Jahrzehnte zum No-Go werden ließ? Wenn man sich nicht immer schon für alte Männer mit Spleens wie Tom Waits, Iggy Pop, Armin Müller-Stahl oder Neil Young interessierte, war wohl „Ghost Dog“ die erste Gelegenheit zur versöhnlichen Wiederbegegnung. Und „Broken Flowers“ hatte die Musik von Mulatu Astatke in petto.

Aber „Paterson“ ist ein ganz anderes Kaliber, erzählt dicht und durchdacht von Kreativität und Spontaneität, von der Lust, die Welt zu gestalten und von der Lust, für sich zu sein. Paterson, der so heißt wie die Stadt in New Jersey, in der er lebt, ist Busfahrer und Poet. Seine Poetik ist derjenigen William Carlos Williams‘ verpflichtet, der mit seiner Dichtung von Dingen, nicht von Ideen ausging. Auch WCW hat in Paterson gelebt, als Arzt gearbeitet und nebenher gedichtet.

Ein paar Tage folgen wir Paterson und seiner Frau Laura durch ihren Alltag. Seiner ist stark strukturiert, er war beim Militär; sie ist impulsiv und hat viele Träume. Gerade weil der Filme sich fast schon meditativ auf das oberflächlich Immergleiche des Alltags einlässt, werden schnell die kleinen Sensationen, die Begegnungen und die damit verbundenen Geschichten sichtbar. Wenn Paterson und Laura, die eine begnadete Designerin, Innenarchitektin, Bäckerin und Countrysängerin ist, gemeinsam ins Kino gehen, schauen sie sich „Island of Lost Souls“ von 1932 an und fühlen sich ein wenig wie im 20. Jahrhundert. Auch „Paterson“ selbst, mit seinem in der Stadt vielfach geteilten Faible für Poesie, fürs Schreiben, fürs Fotokopieren, fürs Handwerkliche, fürs Sammeln von Zeitungsausschnitten und seiner auffälligen Distanz zum Internet und allem, was damit zu hat, hätte sich, sagen wir: 1987 ganz wohl gefühlt. Manufactum-Arthaus? Altmodisch? Eher vielleicht nachhaltig – und bei aller »Verzauberung des Alltags« wohl auch ganz materialistisch ein zarter Hinweis darauf, dass man nicht länger damit rechnen sollte, dass die Kultur-Arbeit zum Broterwerb taugt.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Paterson'.

Jeder stirbt für sich allein

(D/F/GB 2016, Regie: Vincent Pérez)

Too much
von Dietrich Kuhlbrodt

Hans Fallada schrieb seinen Roman 1946. Über die kleinen Leute im Berlin sechs Jahre zuvor. Sechzig Jahre später macht die widerständige Moral Furore in Israel, den USA und in England. …

Hans Fallada schrieb seinen Roman 1946. Über die kleinen Leute im Berlin sechs Jahre zuvor. Sechzig Jahre später macht die widerständige Moral Furore in Israel, den USA und in England. Dort kam das Buch auf die Bestsellerlisten. Und jetzt ist der Film zu sehen. Auf dem internationalen Level, aber gedreht in Deutschland: ein bisschen in Berlin, ganz viel in Görlitz. Brendan Gleeson als Werkmeister, Emma Thomson als Ehefrau und beide in einem Mietshaus, das getreulich die Welt von damals widerspiegelt. Von der versteckten Jüdin bis zum fanatischen Nazi, vom Richter a. D. bis zur harmlosen Oma. Zwischen ihnen als Arbeiter Brendan und Mutter Emma mit ihrer politischen Heimlichkeit. In den Treppenhäusern ringsumher legen sie Postkarten aus, die zum Widerstand aufrufen. „Tötet Hitler“ lautet die moralische Botschaft. Und die Botschaft des Romans und eben jetzt auch des Films war und ist: Nicht alle Deutsche waren Nazis.

Okay – aber. Es ist der hohe, ja perfekte Stand des Filmhandwerks, das den Film allzu zudringlich macht. Wenn die Stars dezidiert sprechen und jeder Satz nachhallt, ja dann kann man ihn sich sicherlich besser merken. Auch dürfte die Synchronisation des Guten zuviel gemacht haben. Dass die Mimik der Schauspieler sich die ganze Zeit kaum verändert, mag sich ja der Regisseur einfallen haben lassen. Es würde der traurigen Stimmung des Filmwerks entsprechen. Dass aber von Anfang an eine tragische Musik dem Zuschauer vorgibt, wie er sich zu verhalten hat … – Es ist von allem too much, um es auf deutsch zu sagen.

Gut, es gibt auf allen Ebenen Topleistungen des Filmteams. Mit viel Liebe kommt in jeder Outdoor-Einstellung ein Oldtimer um die Ecke gefahren oder ein Bus oder – da schon wieder! – ein Zug aus dem Straßenbahnmuseum. Was? Die Tram fährt links? Na, das ist ein Hingucker.

Stopp! Ich will mich über den Film nicht lustig machen. Es gibt ja noch andere Zuschauer außer mir. „Jeder stirbt für sich allein“ ist wichtig und sozialpädagogisch wertvoll, und außerdem wird der Nazibulle, der die beiden kleinen Leute zur Strecke bringt, schließlich bekehrt. Auch er leistet Widerstand. Wer das ist? Ein Deutscher, Daniel Brühl.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

Alles steht Kopf

(USA 2015, Regie: Pete Docter, Ronnie del Carmen )

Emojis in der Rübe
von Ricardo Brunn

Im Oktober 2015 hat Mark Zuckerberg bekannt gegeben, dass Facebook den Like-Button um fünf Emojis erweitern wolle. Die Nutzer hätten sich schon seit längerem eine größere Bandbreite in der Bewertung …

Im Oktober 2015 hat Mark Zuckerberg bekannt gegeben, dass Facebook den Like-Button um fünf Emojis erweitern wolle. Die Nutzer hätten sich schon seit längerem eine größere Bandbreite in der Bewertung von Katzenvideos, Urlaubsfotos und lebensbejahender Kalendersprüche in Serifenschrift auf zarten Sonnenuntergangsmotiven gewünscht. Der Traum von einem Dis-Like-Button bleibt damit zwar nach wie vor unerfüllt, Facebook liefert mit seinem Vorstoß jedoch einen Beleg für das in den vergangenen Jahren gesteigerte Interesse an menschlichen Emotionen im Silicon Valley. Es ist also außerordentlich spannend, wenn etwa zeitgleich zu Facebooks symbolträchtiger Ankündigung der neue Animationsfilm „Alles steht Kopf“ aus dem Hause Pixar erscheint, in dem als knuffige, dreidimensionale Figuren gezeichnete Emotionen das Verhalten eines Kindes steuern und dessen Erinnerungen verwalten.

Schon kurz nach Rileys Geburt übernimmt Freude als erste Emotion das Ruder der Schaltzentrale im Kopf des Mädchens. Nur Augenblicke später gesellt sich Kummer hinzu, schließlich noch Angst, Wut sowie Ekel, und alle wollen sie einmal die Regler am Kontrollfeld bedienen. Freude bemüht sich eifrig darum das Kommando zu behalten, denn keine Emotion ist ihrer Meinung nach für die Entwicklung Rileys wichtiger als sie selbst. Als Riley elf Jahre alt ist, muss sie mit ihren Eltern von Minnesota nach San Francisco ziehen. In dieser Situation gibt es für die fünf Freunde in Rileys Kopf ordentlich zu tun. Zu allem Überfluss befördern sich Freude und Kummer aus Versehen ins riesige Labyrinth des Langzeitgedächtnisses. Plötzlich sind Wut, Angst und Ekel auf sich allein gestellt. Mittels parallel geführter Erzählstränge kann der Zuschauer nun miterleben, was die emotionalen Querschläger in Rileys Innerem außen bewirken.

Der Zielgruppe entsprechend werden neuronale Abläufe in „Alles steht Kopf“ sehr vereinfacht dargestellt und das Figureninventar mit wenigen, dafür eindeutigen Attributen ausgestattet. Wut platzt als männlicher, feuerroter Klotz des Öfteren der Hemdkragen. Kummer, ein dickes, blaues Mädchen mit Brille, schlurft von einem Fettnäpfchen geradewegs ins nächste. Ekel schwirrt mit der Grazie einer Schulhofschönheit im knallgrünen Minirock durch die Gegend und so weiter und so fort. Das sorgt aufgrund der entstehenden Gegensätze und des beständigen Wechsels von Innen- und Außenperspektive für urkomische Situationen und rasantes Tempo. Doch die quietschbunte Bilderwelt von „Alles steht Kopf“ umweht ein bizarrer Reduktionismus, in dem die als Dauerslapstick verpackte Steuerung von und durch Emotionen über ein Schaltpult und Fragen zum Determinismus menschlichen Handelns auf irritierende Weise zusammenfallen.

Der englische Filmtitel „Inside Out“ ist nicht nur deshalb viel passender als der deutsche, weil die Handlungen Rileys als Konsequenzen der Steuerung drinnen erzählt werden. Das Innerste nach außen zu kehren bedeutet in der Psychopolitik des 21. Jahrhunderts Gedanken und Emotionen als Ressourcen zu begreifen und zu monetarisieren. Kaufentscheidungen, welche unter dem Begriff der Neuroökonomie erforscht werden, knüpfen Menschen immer häufiger an moralische Aspekte. Es geht immer seltener um das Produkt an sich, als um die Emotionen, die es auslöst. Sei es das Elektroauto, der Fairtradekaffee oder die CO2-Kompensation für Flugreisen. So fußt beispielsweise auch die gesamte Share Economy auf der Ausbeutung des Sozialen und damit der Emotionen. Außerdem spielen Emotionen und deren computergestützte Erfassung in der Debatte um die Erschaffung künstlicher Intelligenz eine wesentliche Rolle. Und natürlich genügt der Kommunikationsgesellschaft die Rationalität des viel beschworenen homo oeconomicus nicht mehr.

Dass die Rede fast ausschließlich von Emotion und nie vom Gefühl ist, liegt an der intentionalen Struktur, die die Emotion grundlegend vom unbestimmteren Gefühl unterscheidet. Das Bauchgefühl lässt sich nicht in Zahlen ausdrücken, Wut und Trauer bekommen einfach einen Button mit Emoji. Ein Teil unserer Persönlichkeit verschwindet hinter den Daten gerade so, als würde unsere Gefühlswelt zahlreiche Nuancen wie beispielsweise den dramatischen Unterschied zwischen Wut und Zorn oder Angst und Furcht nicht beinhalten. Algorithmen bedingen eine Reduktion auf wenige eindeutige Parameter. Alles was sich einer Berechnung und damit Quantifizierung entzieht, existiert dann nicht mehr. Auch „Alles steht Kopf“ stürzt sich mit Freude auf genau fünf Emotionen und lässt den Gefühlen keinen Raum mehr. In den Momenten, da sich ein Gefühl, das ein anderes Verhältnis zur Zeit bedingt, einstellen könnte, hastet die Erzählung weiter zum nächsten emotionalen Höhepunkt. Gefühl ist etwas Soziales. Das Spiel mit den Emotionen ist antisozial.

Es ist unter diesem Blickpunkt beachtenswert, dass zeitgleich zum gesteigerten Interesse der Industrie an den menschlichen Emotionen diese immer häufiger außer Kontrolle zu geraten scheinen und den öffentlichen Diskurs bestimmen. Wutbürger, Gutmensch und Lügenpresse sind die vorläufigen Ausdrücke dieses Zustandes dauerhafter Erregung. Und längst hat sich die „Diktatur der Emotionen“ (Byung-Chul Han) in den Sozialen Medien in Form von Shitstorms und Hatespeech, die sich im digitalen Echoraum immer schneller verbreiten, verselbstständigt, radikalisiert und den wissens- und faktenfeindlichen Argumentationen der Neuen Rechten den Weg bereitet. Wer dieser Tage im Kampf um die Gunst der Wähler nicht auf pure Emotionen setzt, verliert.

„Alles steht Kopf“ suggeriert, ohne jemals etwas anderes auch nur anzudeuten, dass wir ausschließlich von unseren Emotionen getrieben werden. Der Film geht sogar noch einen Schritt weiter und schaut an einer Stelle in die Köpfe einiger Tiere. Auch dort regieren die Emotionen. Diese Gleichsetzung von Mensch und Tier – die sich in der hohen Anzahl von Animationsfilmen, in denen sprechende Tiere ihre infantilen Abenteuer erleben, fortsetzt – befördert den Grundsatz der Neuroökonomie und des Silicon Valleys, dass der Mensch von neurochemischen Prozessen programmiert wird und es folglich keinen freien Willen gibt. Wenngleich sich nun durchaus vortrefflich darüber streiten ließe, ob es so etwas wie einen freien Willen geben kann, darf die radikale Reduktion und damit einhergehende Determinierung menschlichen Handelns sicher keine Antwort auf diese Frage sein. Sie wäre einfach zu absurd angesichts der Vielfalt unseres Daseins. Einer Vielfalt, die durch Quantifizierung, Massenkonsum, Monopolisierungen und vieles mehr in Gefahr ist. „Alles steht Kopf“ wird derweil in der Presse einhellig gefeiert, und die Rechnung geht für Disney wieder einmal auf. Souverän ist heute, wer über die Emotionen verfügt.

Café Belgica

(B/F 2015, Regie: Felix van Groeningen)

Rock 'n' Roll forever
von Wolfgang Nierlin

Zu Beginn des Films ist das titelgebende Café Belgica eine versiffte Kneipe, in der sich allabendlich ein buntes, freakiges Völkchen gestrandeter Existenzen trifft und der Alkohol in Strömen fließt. Dazu …

Zu Beginn des Films ist das titelgebende Café Belgica eine versiffte Kneipe, in der sich allabendlich ein buntes, freakiges Völkchen gestrandeter Existenzen trifft und der Alkohol in Strömen fließt. Dazu spielen lokale Genter Musikgrößen den Blues. Eingehüllt in dichten Zigarettenqualm ist diese Insel der Bierseligen und Aussteiger Fluchtraum und Gegenwelt, wo verlorene Träume im Suff ertränkt werden und das graue Leben überraschend heitere Züge annimmt. Geführt wird die kultige Spelunke von dem jungen Musikfan Jo (Stef Aerts), der seit frühester Kindheit auf einem Auge erblindet ist. Der sensible, sympathische Typ beginnt eine Beziehung mit Marieke (Hélène Devos) und plant die Erweiterung des Café Belgica zu einem Musikclub.

Unerwartete Unterstützung bekommt er dabei von seinem älteren Bruder Frank (Tom Vermeir), der eine neue Herausforderung sucht und „ein bisschen Rock ’n’ Roll“ gegen die Langeweile seines Familienlebens braucht. Frank hat nämlich Frau und Kind, zeigt sich aber wenig verantwortungsvoll. Stattdessen lechzt er nach der Freiheit eines anderen Lebens und wird zu Jos Geschäftspartner. Als schließlich der neue Club in einer rauschhaften, geradezu ekstatischen Nacht eröffnet wird, will die Dauerparty nicht mehr enden. „How long will this go on?“, heißt es in einem Song des von Soulwax mit großer stilistischer Bandbreite komponierten Soundtracks, während die Sehnsucht nach Entgrenzung alles verschlingt. Aus dem freudig begrüßten „Ort der Verdorbenheit“ wird eine sehr spezielle „Arche Noah“ des grenzüberschreitenden Miteinanders, die jedoch den Keim ihrer Zerstörung bereits in sich trägt.

Felix von Groeningen übersetzt in seinem Film „Café Belgica“ diesen fast utopischen Traum in intensive Bilder eines wüsten Exzesses aus Musik, Drogen und Sex. Weil sich dadurch in Konfliktsituationen private Freundschaften und geschäftliche Interessen zunehmend vermischen und überdies der versoffene Frank immer unsolider wird, schlägt die Bruderliebe um in einen Bruderkampf. Bald ist die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit, alternativem und echtem Leben unüberbrückbar. Frank verliert sich im Rausch, verrennt sich in Obsessionen und zerstört dabei Beziehungen. Fast scheint es, als manifestiere sich in seinen Abstürzen ein negatives Erbe, das ihn zum geborenen Verlierer und damit zum tragischen Helden macht. Doch dann gewinnt der umsichtige Jo in gleich mehrfacher Hinsicht die Kontrolle zurück. Felix von Groeningens Film „Café Belgica“ lässt sich auch als wehmütigen Abgesang auf das Ende einer Ära verstehen.

American Honey

(GB/USA 2016, Regie: Andrea Arnold)

Verlorene Verlierer
von Wolfgang Nierlin

Eine junge Frau sucht im Container eines Supermarktes nach Lebensmitteln. Zusammen mit zwei jüngeren Geschwistern lebt sie bei ihrem (sexuell) übergriffigen Vater in sozial prekären Verhältnissen. Doch ganz klar sind …

Eine junge Frau sucht im Container eines Supermarktes nach Lebensmitteln. Zusammen mit zwei jüngeren Geschwistern lebt sie bei ihrem (sexuell) übergriffigen Vater in sozial prekären Verhältnissen. Doch ganz klar sind die Verwandtschaftsbeziehungen und Lebensumstände nicht gezeichnet. Diese stecken vielmehr in den Details einer verwahrlosten Wohnung, in der die Kinder sich selbst überlassen sind. Einschnürende Enge ist deshalb das deprimierende Gefühl, aus dem die 18-jährige Star (Sasha Lane) ausbrechen möchte. Die britische Regisseurin Andrea Arnold akzentuiert in ihrem neuen, vielgelobten Film „American Honey“ diese Dialektik zwischen Gefangenschaft und Freiheitssehnsucht, indem sie ihre Figuren in das fast quadratische Academy-Format „einsperrt“. Doch dann verliebt sich Star in den charmant unkonventionellen Jake (Shia LaBeouf), der sie für seine Drückerkolonne anwirbt.

Dabei ist das titelgebende Südstaatenmädchen mit dem assoziationsreichen Namen naiv und gutgläubig genug, um diesen Aufbruch zunächst als Versprechen für ein besseres Leben zu empfinden. Unterwegs durch die weite, sonnenbeschienene Landschaft gibt sich die bunte, stets bekiffte Truppe, die als eingeschworene Gemeinschaft erscheint, jedenfalls ziemlich relaxt, optimistisch und siegessicher: „Wir arbeiten nicht nur, wir erobern Amerika, wir feiern.“ Doch solche Sprüche, permanente Ausgelassenheit und regelmäßige Rauschzustände können nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Jugendlichen zu den Verlierern der Gesellschaft gehören. Versklavt und ausgebeutet von ihrer zwielichtigen Chefin Krystal (Riley Keough), die überdies ein undurchsichtiges Verhältnis zu ihrem Anwerber und Vorarbeiter Jake pflegt, gehen die Drücker von Tür zu Tür, um mit Tricks und Schwindeleien Zeitschriften-Abos zu verkaufen. Im Kontrast zum umgebenden Wohlstand erscheinen die Verlierer dabei nicht selten als Verlorene.

Man müsse diese Arbeit als Spiel auffassen, sagt Jake, der die Menschen blendet und verführt. Doch dafür ist Star zu aufrichtig, weshalb sie bald in Konflikte und zweideutige Situationen gerät, vor allem aber in ihrer Beziehung zu Jake und seinen Glücksversprechungen ernüchtert wird. Andrea Arnolds Interesse gilt dabei – trotz der dokumentarrealistischen Ästhetik ihres Films – weniger der Arbeit, sondern vielmehr dem Blick auf ein vielgestaltiges Land, dessen extreme soziale Ungleichheit von der Mitte bis zu den Rändern der Gesellschaft ebenso Wohlstand wie Armut und Verwahrlosung umfasst. Das Genre des Roadmovies ist dafür allerdings nicht nur ein Vehikel; das Unterwegssein, durch Musik und Drogenkonsum stimmungsvoll aufgeladen, erscheint selbst als Gegengewicht beziehungsweise Korrektiv dazu. „Dream baby dream. We gotta keep the fire burning“, tönt es einmal von Bruce Springsteen alias „The Boss“ aus dem Auto-Radio. Das klingt wie bittere Ironie angesichts jener unerreichbaren Wirklichkeit, durch die sich die Jugendlichen mit ihren vagen Träumen fas bewusstlos bewegen.

Hier findet sich eine weitere Kritik zu ‚American Honey‘.

Snowden

(USA / D / F 2015, Regie: Oliver Stone)

Ein Mann sieht nur mit dem Herzen alles
von Drehli Robnik

Prismen prägen das Bild. Es geht um Prismenprogramme, die die NSA einsetzt, um terrorverdächtige Formulierungen aus zahllosen weltweiten E-Mails zu filtern; da passt es doch gut, dass in ‚Snowden‘ manch …

Prismen prägen das Bild. Es geht um Prismenprogramme, die die NSA einsetzt, um terrorverdächtige Formulierungen aus zahllosen weltweiten E-Mails zu filtern; da passt es doch gut, dass in ‚Snowden‘ manch ein Objekt und Gesicht per Lichtbrechung deformiert und für das Auge schwer zu lesen ist.

Oliver Stones Biopic über den Whistleblower Edward Snowden sucht die Killer-App. Wie kann das Abstraktum ‚Überwachung als globaler Staatsmacht-Übergriff‘ anschaulich werden? Durch Satire-Montagen nach Art von Michael Moore? Durch Filmbilder, die – wie etwa in ‚Inside Wikileaks‘ – so aussehen, als wollten sie ein digitales Hirnsausen noch übertrumpfen? Beides gibt es hier (und einen Hongkong-Hotel-Interview-Videodreh mit Snowden und beherzten Zeitungsreportern als Rahmenhandlung zum Lebensstationenplot); aber der Akzent liegt weder darauf noch auf den Prismen selbst, sondern: Wie in all seinen Historienfilmen, von ‚Alexander‘ (dem Großen nämlich) über die gewalttätigen Sixties (‚Platoon‘, ‚Born on the 4th of July‘, ‚The Doors‘, ‚JFK‘) bis zum Schutt des ‚World Trade Center‘, setzt Stone als Regisseur auf das biografische Individuum als Erfahrungsträger. Das heißt, zur Machtkritik muss der echte Mann ran: Er ist es, der Bilderfluten und -brechungen wie auch den Zynismen seiner Zunft standhält (‚All das können wir machen!‘ sagt der Techniknerd, ‚All das müssen wir machen!‘ sagt die Staatsräson jeweils zu Snowden); der echte Mann verarbeitet Eindrücke, wägt sie gegeneinander und gegen Grundsätze ab, gelangt dabei zur ethischen Reife und lässt all das zum richtigen Zeitpunkt als Ausdruck, sprich: Monolog, raus. So weit, so konservativ und autoritär.

Stone bietet Imperialismusskepsis als eine Form von Amerikapatriotismus. Das macht sein Projekt knifflig. Dass er Snowdens Herzensprägung gar so unterkomplex rüberbringt, das wirkt, als würde es sicherheitshalber geschehen. Bis der NSA-Bub seinen verhärteten väterlichen Mentor zuletzt als ultimative Riesenmonitorpatriarchenfratze sieht, müssen wir in viele ostentativ ominöse, betriebsblinde, pathetische Gesichter blicken, die uns alle sehr viel sagen sollen; Snowdens liberale Freundin gibt dazu das Plauderton-Kontrastprogramm, ebenso ostentativ. Ein Sinn für bunkerartige Büroräume, die das durchwegs männliche Programmierermilieu mit formen, zeigt sich und dringt doch nicht ganz durch.

Nicolas Cage tritt als guter Mentor nur kurz auf; aber sein zur Trademark gewordenes Schmierenspiel scheint den Ton für alle darstellerischen Leistungen in diesem Film vorzugeben – für Melissa Leo, Zach Quinto und Tom Wilkinson als Hotelzimmerservice-Trio der kritischen Medien sowie für Rhys Ifans, Shailene Woodley und selbst Joseph Gordon-Levitt in der sympathischen Titelrolle. Am Ende steht Snowdens Exil in Moskau: Da wird es dann echt echt. Es soll nicht gespoilert werden – zum einen, weil es eh ein bissl klar ist; zum anderen ist es schon auch rührend.

The Purge: Election Year

(USA / F 2016, Regie: James DeMonaco)

Black Power versus Nationalwahn im Wahljahr
von Drehli Robnik

Es begann 2013 als Home Invasion-Thriller rund um die Heimsuchung reihenhäuslich abgeschotteter weißer Mittelständler durch ihre Schuldgefühle und durch einen schwarzen Schutzsuchenden. Teil 3 wächst sich zur Gangland-Dystopie kreuz und …

Es begann 2013 als Home Invasion-Thriller rund um die Heimsuchung reihenhäuslich abgeschotteter weißer Mittelständler durch ihre Schuldgefühle und durch einen schwarzen Schutzsuchenden. Teil 3 wächst sich zur Gangland-Dystopie kreuz und quer durch Washington aus. ‚The Purge: Election Year‘ etabliert das Franchise-Setting viel zu kurz (immerhin, die krasse Sirene ist noch da): Für eine Nacht im Jahr dürfen alle, die wollen, ’säubern‘ – bis hin zum Mord (der hier nun gepimpt ist zu grotesken Foltern und Ritualen). Opfer dieses rechten Staatsneugründungsfeiertags (America – a nation reborn) sind zumeist Arme und People of Color. Eine weiße Präsidentschaftskandidatin mit Hipsterbrille will das ändern. Frank Grillo, der Held von ‚The Purge: Anarchy‘ (2014), spielt ihren Bodyguard. Er wird der neue Dolph Lundgren.

Rassismus- und Klassismuskritik ist hier Teil des umfassenden Action-Cosplay: Die weiße Altherren-Junta feiert ihre Allmacht in der Kathedrale, eine Black Power-Organisation richtet Ärztenotruf- und Selbstschutz-Dienste ein. Das ist grell, aber es ist nicht nichts – zumal im endlosen Election Year, dort wie hier.

Die glorreichen Sieben

(USA 2016, Regie: Antoine Fuqua)

Suicide Squad mit Bart und Hut
von Drehli Robnik

‚Die glorreichen Sieben‘ ist das Remake des gleichnamigen Gunslinger-Teamwork-Westerns von 1960, folgt aber dem Skript von Akira Kurosawas ‚Die sieben Samurai‘ von 1954 (auf dem wiederum sechs Jahre später der …

‚Die glorreichen Sieben‘ ist das Remake des gleichnamigen Gunslinger-Teamwork-Westerns von 1960, folgt aber dem Skript von Akira Kurosawas ‚Die sieben Samurai‘ von 1954 (auf dem wiederum sechs Jahre später der Western basierte). So heißt es im Abspann und im Promo-Interview zur aktuellen Verfilmung. Immerhin ist nun, wenn schon kein Samurai so doch ein Schwertkämpfer, gespielt vom Koreaner Byung-hun Lee, Teil der ‚Magnificent Seven‘ (O-Titel) im Western-Outfit.

Das ist nicht die einzige ethnische Innovation. Der 1960er Film war ambivalent: Er zeigte einerseits, ganz kolonial, die mexikanischen Bauern, denen sieben US-Profis gegen eine lokale Mordbrenner-Bande beistehen müssen, als feig und blöd; zugleich aber wurden sie im Dialog von ihren Ami-Helden-Helfern ständig um ihr sesshaftes Leben beneidet und so als legitime Spießer, eigentlich Pendants zu den vielen, die im Kino sitzen, rehabilitiert. Und es gab auch Anspielungen auf weißen Rassismus – gegenüber ‚Indianern‘ (zumal toten, die auf den Friedhof sollen).

Würde der 2016er Film Mexikaner so zeigen, als Dillo-Dorf bzw. Killer-Gang, wäre er für Trump. Ist aber nicht so: Er spielt in den USA, der Schurke ist quasi Immobilienhai (Peter Sarsgaard als obszön parlierender neofeudaler Grundherr). Die multiethnischen Sieben (schwarz, weiß, American Native, Latino, Asian) führt Denzel Washington in der ‚Yul Brynner-Rolle‘ recht souverän an, wieder unter seinem Hausregisseur Antoine Fuqua. Aus dem farblosen Dorfvolk sticht Haley Bennett als Girl with a Gun hervor.

In den Sixties waren die Sieben wortkarg, gelassen und prägend für Eastwoods und Djangos Coolness-Etüden; heute sind sie den Plaudertaschen von Tarantino-Western nachgestaltet. (An Western-Vorbildern blinkt da aber Verschiedenes durch, von Eastwoods ‚High Plains Drifter‘ bis Leones ‚My Name Is Nobody‘.) Die einstige Outsider-Melancholie weicht nun dem Freak-Chic einer Saloon-Therapiegruppe. Ethan Hawke ist schön schäbig, Vincent D’Onofrio zu bärig, Chris Pratt wär gern lustig. (Falls jemand fragt: Pratt spielt die Steve McQueen-Rolle, Hawke die von Robert Vaughn; aussehen tut er aber wie ein Downgrade von John Carradine als abgehalftertem Südstaaten-Gentleman in John Fords ‚Stagecoach‘. Ein Pendant zu Horst Buchholzens Rookie-Rolle gibt es nicht.)

Mehr erdig als nerdig ist die Action: knarrende Balken, rauschende Bärte, rauchende Colts, rächende Burschen. Am Ende Endlosgeballer, unter anderem mit der gefürchteten knatternden Gatling Gun, gute Stunts vom Pferd oder Dach aus, mehr als ein Hauch von Westernkulissenstadtshow. Geht aber eh okay. Zuletzt kommt noch Elmer Bernsteins tolles Titelthema. ‚The Magnificent Seven‘ von The Clash kommt nicht. Macht auch nix.

Alice und das Meer

(F 2014, Regie: Lucie Borleteau)

Irrfahrt der Gefühle
von Wolfgang Nierlin

Blau ist die Farbe dieses Films über die Sehnsucht nach Liebe inmitten unsteter Gefühle. Aus der Vogelperspektive erfasst die Kamera eine junge Frau beim Schwimmen im klaren, frischen Meer. Sie …

Blau ist die Farbe dieses Films über die Sehnsucht nach Liebe inmitten unsteter Gefühle. Aus der Vogelperspektive erfasst die Kamera eine junge Frau beim Schwimmen im klaren, frischen Meer. Sie ist nackt und schön, jung und frei. Am Strand hat Alice (Ariane Labed) Sex mit Félix (Anders Danielsen Lie), einem Comic-Zeichner aus Norwegen. Dieser zeichnet gerade ein Bild, auf dem Alice eine Meerjungfrau ist, die sich in die Fluten stürzt, während er selbst tränenüberströmt an Land zurückbleibt. Alices Element ist das Wasser. Als Zwitterwesen muss sie Leben, Liebe und Arbeit aufteilen zwischen den Tagen an Land und denen auf See. Tatsächlich arbeitet sie trotz ihrer zarten Erscheinung als zweite Mechanikerin auf einem Frachtschiff inmitten von Männern. Doch Alice ist selbständig und resolut genug, sich zu verteidigen und ihre Unabhängigkeit zu wahren.

„Fidelio, l’odyssée d’Alice“ heißt Lucie Borleteaus beeindruckender, eigenwillig gestimmter Debütfilm „Alice und das Meer“ im französischen Original. Zwischen Treue und sexueller Hingabe, Sehnsucht und Lust navigiert die maritime Heldin auf einer Irrfahrt der Gefühle durch das Blau einer schieren Unendlichkeit und gerät dabei in einen Konflikt zu ihrer „großen Liebe“ Félix, nach dem sie sich in Erwartung verzehrt. Denn auf der maroden „Fidelio“, die früher „Éclipse“ hieß, begegnet sie in Gestalt des Kapitäns ihrem früheren Ausbilder und Liebhaber Gaël (Melvil Poupaud), mit dem sie erneut eine stürmische Affäre beginnt. Alice, die sagt, sie werde „nie eine normale Frau sein“, will alles in der Liebe und setzt sich damit der Angst aus, „alles zu verlieren“. Denn nicht immer bleibt das, was auf See passiert, auch dort, wie ein alter Seemannsspruch behauptet. Und die Gefühle sind so unstet wie das schwankende Schiff auf den bewegten Wassern.

Ganz unaufdringlich und zart spielt Lucie Borleteau mit diesen Motiven und Metaphern, um ihren ansonsten realistischen Film in eine sinnliche Atmosphäre zu tauchen. Überraschend offen und freizügig begleitet sie die Odyssee ihrer sehnsuchtstrunkenen Heldin zwischen leidenschaftlichem Sex und der vergeblichen Suche nach Liebe. Von einer solchen handelt nämlich das Tagebuch eines verstorbenen, herzkranken Seemanns, dessen Kajüte Alice eingangs bezieht. In den Schattenseiten der poetischen Notate findet sie schließlich Kraft für ihr eigenes Leben. Gleichwohl lösen sich im Spiegel der Negation nicht einfach die Konflikte, sondern Lucie Borleteau schafft durch Ellipsen, Unausgesprochenes und beredte Blicke immer wieder Raum für die Ungewissheit. Das Schiff mit seinem engen, labyrinthischen Maschinenraum ist kein sicherer Ort und das Meer ist voller Gefahren und dunkler Lockungen, worauf schon der mysteriöse Beginn des Films hindeutet, wenn Alice in dunstiger Nacht die „Fidelio“ besteigt. Dazu passen Sätze aus dem Tagebuch des einsamen Seefahrers, wo es ahnungsvoll heißt: „Der Wind hat sich gelegt. Das Meer lächelt sein blaues, scheinheiliges Lächeln und versteckt seine Zähne aus weißer Gischt.“

War Dogs

(USA 2016, Regie: Todd Philips)

Dummdreiste Dudes drehen dickes Ding, oder: Was war nochmal Neoliberalismus?
von Drehli Robnik

Zur Mitte dieser fact-based Farce über zwei betrügerische US-Waffenhändler in den Bush- und Irakkriegsjahren gibt es eine Sequenz auf einer grotesken Rüstungsindustriemesse in Las Vegas (‚like Comicon with grenades!‘). Plötzlich …

Zur Mitte dieser fact-based Farce über zwei betrügerische US-Waffenhändler in den Bush- und Irakkriegsjahren gibt es eine Sequenz auf einer grotesken Rüstungsindustriemesse in Las Vegas (‚like Comicon with grenades!‘). Plötzlich taucht Bradley Cooper als ominös eingeführte Oberchecker-Nebenfigur auf. Der Star der ‚Hangover‘-Filme an deren Hauptschauplatz, in einem Ulk von ‚Hangover‘-Regisseur Todd Phillips: Dieser Moment sagt ,,He, ich mach einfach mein Ding!‘ – und signiert so quasi, worum es in ‚War Dogs‘ geht: das große Getting away with it.

Wie in ‚Hangover‘: Dudes auf Droge drehen es irgendwie. Spießig, zynisch, ramponiert, bei dubiosem Tun, das aufgetürmte Notlügen vor der Gattin verbergen: Rumalbern in Albanien, Fellatio in Falludja (‚This is a Muslim country! I can´t even get a blowjob here!‘). Die Orientalismen von Ugly Americans sind so offenherzig, ohne Relativierungsrahmen, ausgestellt wie ihre Deals: insbesondere das Repackaging veralteter, mit Embargo belegter chinesisch-albanischer Munition, die als Neuware ans Pentagon geht. Wenn Selbstüberschätzer mit RayBan zu ‚Wish You Were Here‘ in Zeitlupe die AK-47 melken, ist das ein Zitat der meistzitierten Kinokomikikone der Zehnerjahre: der Wolfpack-Zeitlupenpose wilder Dillos aus ‚Hangover‘.

Es kommt noch dicker: Jonah Hill spielt den Skrupelloseren (den Skrupulöseren gibt Miles Teller). Also heißt es Wolfpack of Wall Street, Vegas heißt Casino, die Dealer sind Good Fellas (in Fellatio-Not). Machos auf Koks improvisieren in einer kriminell ambitiösen Ökonomie zwischen Bröselprofiten und dem zu großem Kuchen, in Standbildern, Flashback und effektivem Timing von Sagern und Songs: Das ist Scorsese repackaged. Nur ist es weniger schlau (trotz auf entlarvend machender Titelinserts wie ‚God bless Dick Cheney´s America!‘); es ist auch nicht Hormonhabitusanalyse mit pädagogisch-kokettem Anspruch wie The Big Short‚. Es ist halt vorwiegend nur kokett, nicht mehr und nicht weniger (weder Kuchen noch Brösel): nettes Nullerjahre-Retro, Neoliberalismusnostalgie im Rückblick auf die Zeit vor dem endlosen Hangover.

Ma Folie

(A 2015, Regie: Andrina Mracnikar)

Ver-rückte Wirklichkeit
von Wolfgang Nierlin

Ein langer Blick in einem Pariser Café setzt die Amour fou zwischen Hanna (Alice Dwyer) und Yann (Sabin Tambrea) in Gang. Zugleich überführt er die zunächst subjektive Perspektive des Zuschauers …

Ein langer Blick in einem Pariser Café setzt die Amour fou zwischen Hanna (Alice Dwyer) und Yann (Sabin Tambrea) in Gang. Zugleich überführt er die zunächst subjektive Perspektive des Zuschauers in eine objektive, die allerdings vorläufig bleibt. Denn Adrina Mra&#269;nikar inszeniert in ihrem eindrucksvollen Debütfilm „Ma folie“ mit zunehmender Intensität ein ebenso komplexes wie irritierendes Spiel mit der Wahrnehmung. Obwohl Setting und Handlung stets „realistisch“ bleiben, wird die „Wirklichkeit“ unsicher. Zwischen Wahrheit und Lüge, Einbildung und Realität bekommt das Leben Risse, droht es zu entgleiten.

Zurück in Wien erreichen Hanna, die als Psychotherapeutin mit traumatisierten Kindern arbeitet, nämlich Videobotschaften von Yann, sogenannte „Lettres filmée“, in denen sich Spielfilmschnipsel, Found footage-Material aus dem Internet und private Handyaufnahmen mischen. Diese unterlegt der verliebte Absender mit merkwürdig tragisch klingenden Sehnsuchtssätzen: „Ich übe, ohne dich zu sein.“ Und: „Du bist alles, was ich immer wollte.“ Mit diesem leicht bedrohlich wirkenden Ausschließlichkeitspathos zieht Yann bald darauf zu Hanna nach Wien, wo sich zwischen den beiden eine leidenschaftliche Liebe entspinnt. Deren Verrücktheiten führen jedoch auch zu Verrückungen des Alltags, zu Nachlässigkeiten und Versäumnissen. Vor allem aber reagiert Yann auf Hannas früheren, langjährigen Freund Goran (Oliver Rosskopf) mit unerwartet heftiger Eifersucht. Dabei zeigt er sich dominant und auf zunehmend verstörende Weise unberechenbar, bis es schließlich zum Bruch zwischen den beiden kommt.

Adrina Mra&#269;nikar verwandelt in der Folge ihren Liebesfilm konsequent in einen spannenden Psychothriller, der das Vertrauen der Heldin ins vorgeblich Tatsächliche, schließlich aber auch in sich selbst nachhaltig erschüttert. Schleicht sich der Horror zunächst noch durch Yanns zunehmend gewalttätiger aussehende Videobriefe in ihren Alltag, muss Hanna bald darauf erkennen, dass sie von ihm wie von einem dunklen Schatten „gestalkt“ und überwacht wird. Überlagert und gespiegelt findet sich diese latente Bedrohung, auf die Hanna mit Angst und Panik reagiert, durch Konflikte am Arbeitsplatz. Im dichten Gewebe aus unheilvollen Zeichen und Alpträumen, Schuldgefühlen und Stress, Selbst- und Fremdwahrnehmung werden Hannas Gewissheiten (und die der Zuschauer) empfindlich erschüttert. Die Wirklichkeit selbst scheint sich in Manipulationen und Täuschungen zu verlieren. Das Bild von ihr wird zu einer Frage der (filmischen) Perspektive, der psychischen Verfassung oder auch der Materialität des Aufnahmeträgers.

Blair Witch

(USA 2016, Regie: Adam Wingard)

The Seventeen Year Witch
von Drehli Robnik

The Blair Witch Project‚ war 1999 der Auftakt zu vielem: Online-Ausfransung von Kino, virale Werbung für Konzeptfilme, Found Footage-Horror, Popularisierung von Mockumentary und Wackelkamera. Und es war ein toller Schocker …

The Blair Witch Project‚ war 1999 der Auftakt zu vielem: Online-Ausfransung von Kino, virale Werbung für Konzeptfilme, Found Footage-Horror, Popularisierung von Mockumentary und Wackelkamera. Und es war ein toller Schocker (sowieso das bessere Dogma-Kino) wie auch prägnante Bildwerdung eines medienhistorischen Moments: Es gab gerade soviel an Video für alle (und Netz für manche), dass alles mögliche gezeigt werden konnte, eben auch Bilderspuren dreier Slacker beim Rumtorkeln, Einander-Dokumentieren, Nuscheln und Kreischen in den Black Hill Forests von Maryland, aber doch so wenig, dass davon fast nichts wahrzunehmen war: nur Rauschen in Wald, Bild und Ton. Nix mit Hex.

Und nun (nach der üblen Überraschungserfolgs-Exploitation-Nicht-Fortsetzung von anno 2000) das Streber-Sequel ‚Blair Witch‘ vom an sich okayen Horrorhommagenjungmeister Adam Wingard: Hexenwald-Aufmarsch der Schönen in Teamstärke und unter Drones, mit Drohne und Fußfäulniswurm; Wackeln, Glitch und Kreisch im Dunkeln als Klassizismus; Endlosfinale im Handabdruck-Haus. Wo einst perfide Krudheit und Mangelökonomie waren, regieren nun Verfügbarkeit, Stilwille, richtige Regie und mäßiger Grusel. Daraus die Lehre: Es fehlt die Leere. Am besten kommt immer noch Lichtflattern auf dichten Blättern. Auch diesmal heißt es markenzeichenhaft ‚I´m so sorry!‘. Ja, eh ist’s schad.

Meine Zeit mit Cézanne

(FR 2016, Regie: Danièle Thompson)

Szenen einer Freundschaft
von Wolfgang Nierlin

Der Gegensatz ist das Motiv dieser fast lebenslangen, in vielen Briefen dokumentierten Freundschaft. Entsprechend kontrastreich erzählt die französische Regisseurin und Drehbuchautorin Danièle Thompson in ihrem Film „Meine Zeit mit Cézanne“ …

Der Gegensatz ist das Motiv dieser fast lebenslangen, in vielen Briefen dokumentierten Freundschaft. Entsprechend kontrastreich erzählt die französische Regisseurin und Drehbuchautorin Danièle Thompson in ihrem Film „Meine Zeit mit Cézanne“ (‚Cézanne et moi‘) von der ebenso tiefen wie schwierigen Beziehung zwischen dem Schriftsteller Émile Zola und dem gleichaltrigen Maler Paul Cézanne. Wie der Titel des Biopics bereits andeutet, ist dafür die Perspektive des berühmten Autors bestimmend oder zumindest vorherrschend. Weshalb dieser auch gleich zu Beginn, inmitten eines Wusts von Manuskriptseiten, die Erinnerung in Gang setzt und damit auch die verschachtelte, zwischen verschiedenen Zeit- und Ortsangaben wechselnde Erzählkonstruktion. 1888 erwartet Zola an seinem stattlichen Wohnsitz in Médan, was historisch nicht belegt ist, seinen Künstlerfreund aus dem Süden und wirkt dabei eher unwillig.

Während Thompson in ihrem episodisch strukturierten, fast impressionistisch hingetupften Film die Kindheit und Jugend der beiden Freunde in Aix-en-Provence sehr kursorisch und gerafft behandelt und dabei zugunsten einer pittoresken Süßlichkeit einiges verschenkt, dehnt sie den künstlerischen Konflikt der beiden genialisch veranlagten Männer auf fast zwei Stunden. Denn in Paris reüssiert Zola (Guillaume Canet) bald zum gefeierten Schriftsteller, der sich als Kritiker für die umstrittenen Impressionisten einsetzt; er heiratet das Malermodell Alexandrine (Alice Pol), begehrt trotzdem das scheue Hausmädchen Jeanne (Freya Mavor) und ergreift Partei („J’accuse“) in der Dreyfus-Affäre. Dagegen erscheint der stets impulsiv, unangepasst und zornig auftretende Cézanne (Guillaume Gallienne), Spross einer wohlhabenden Familie, als verkanntes Genie, das sich von seinem Freund zunehmend verraten fühlt. Den Gnadenstoß versetzt ihm schließlich die Lektüre von Zolas autobiographischem Buch „Das Werk“, das 1886 (!) erscheint.

Der kompromisslose Avantgardist und Wegbereiter der Moderne, dem künstlerische Anerkennung und finanzieller Erfolg verwehrt bleiben, sieht darin ihre Freundschaft ausgebeutet. Zudem muss er, der selbst die Kunst über das Leben stellt und seine Lebensgefährtin Hortense (Déborah François) instrumentalisiert, erkennen, dass Zola ihn zwar finanziell unterstützt, aber nicht wirklich an ihn glaubt. Einmal sagt Cézanne: „Ich würde gerne so malen können wie du schreibst.“ Dabei ringt Zola insgeheim selbst oft schmerzlich um seine Kunst. Doch das alles wird von Danièle Thompsons etwas langatmigem Film, der an vielen reizvollen Originalschauplätzen gedreht wurde, in ausführlichen Dialogen und hitzigen Wortgefechten mehr behauptet als in Bildern erzählt. Diese bleiben ihrem Gegenstand weitgehend äußerlich. Sogar die künstlerischen Antriebe der beiden Protagonisten muten etwas blass an angesichts einer Freundschaft, die ihren Ausgang bei einem gemeinsam gegen andere Mitschüler ausgefochtenen Ringkampf nimmt.

Girl on the Train

(USA 2016, Regie: Tate Taylor)

Wer hat schon heute noch einen Gärtner?
von Drehli Robnik

Früher einmal stammten Gebrauchskrimis zum Lesen oder zum Anschauen (und nebenbei Lesen) von Agatha Christie, spielten unter undurchsichtig verbandelten Tatverdächtigen mit Erbschaftszwist und Rachegelüsten auf feudalen Landsitzen in Dorchester, nahe …

Früher einmal stammten Gebrauchskrimis zum Lesen oder zum Anschauen (und nebenbei Lesen) von Agatha Christie, spielten unter undurchsichtig verbandelten Tatverdächtigen mit Erbschaftszwist und Rachegelüsten auf feudalen Landsitzen in Dorchester, nahe London, hielten uns mit übersehenen Details zum Narren, hatten am Ende eine Rückblende und entlarvten Sir Henry als den Mörder. Oder den Gärtner. (Also, sie entlarvten den Gärtner als den Mörder – nicht Sir Henry als den Gärtner.)

Heute stammen Gebrauchskrimis wie Paula Hawkins‘ ‚Girl on the Train‘ (der Titel verbirgt es nur mühsam) vom Romanbestseller ‚Gone Girl‘ ab, spielen unter als Traumatherapiesoziotop und per Smartphone verbandelten, fad verdächtigen Vorstadtweibern und -mandln mit Ehekrise und Kinderwunsch auf mittelständischen Landsitzen in Westchester, nahe New York, machen sich mit ihrem Perspektivwechselgeprotze zum Narren, bestehen aus oberschlauen Rückblenden und entlarven am Ende irgendwen als Mörder.

Wen, das darf keinesfalls gespoilert werden, sonst ist der ganze eh nicht so große Spaß an dem Film weg. Inszeniert hat ihn Allesfresser Tate Taylor, nicht düster wie Fincher, mehr so mit Problemfilmflair und in gedecktem Kolorit. Überall Schmerz; lässt aber eh bald nach. Am Ende ist Heilung da. Muss ja, sonst würde es nicht in der Voice-over der titelgebend manisch bahnfahrenden Heldin so groß ausbuchstabiert, von wegen, dass sie jetzt in einem anderen Zug sitzt und nach vorne schaut. Das Leben scheint irgendwie wie eine Zugfahrt zu sein – aber das ist jetzt wahrscheinlich eine eher gewagte Deutung.

Wie die meisten noch der nichtssagendsten Filme ist auch dieser recht okay und engagiert gespielt, mit Emily Blunt allen voran als Alkoholikerin mit Vodka-Nuckelflasche und Filmriss, aber ohne Makeup.

Blair Witch Project

(USA 1999, Regie: Daniel Myrick, Eduardo Sánchez)

Aktenzeichen XY
von Drehli Robnik

Ein No-Budget-Film als Horror-Welterfolg, Fälschung und Hypertext: ‚The Blair Witch Project‘ zeigt, wie Jugendliche, die an Hexen glauben, sich verirren; erst im Wald, dann im Internet. ‚Ihr redet nur von …

Ein No-Budget-Film als Horror-Welterfolg, Fälschung und Hypertext: ‚The Blair Witch Project‘ zeigt, wie Jugendliche, die an Hexen glauben, sich verirren; erst im Wald, dann im Internet.

‚Ihr redet nur von den Projekten und von eurem neuen Stück.
Manchmal frag ich mich, bin ich oder ihr verrückt.‘
Tocotronic

Der letzte Sommer war ein Horror-Sommer, zumindest in den US-Kinos, woraus sich für Österreich ein Horror-Winter ergibt: ‚The Haunting‘ blockiert noch mehrere Säle, mit ‚House on Haunted Hill‘ kommt bald ein weiterer Spukhaus-Film, und ‚Stigmata‘ weckt in den USA gerade Erinnerungen an den ‚Exorzist‘ (dessen Hauptdarstellerin Linda Blair hieß). ‚The Blair Witch Project‘ reitet auf einer Welle mit, die den Horror verschiebt: von der an Ekelgrenzen rührenden Fleischlichkeit des ‚body horror‘ (Splatter und Cyberpunk der Achtziger) zu einem eher atmosphärischen Gruseln. Schon 1998 deuteten die spukhausartigen SciFi-Ambientes von ‚Event Horizon‘ und ‚Sphere‘ eine Neue Unheimlichkeit an, die sich nun prätechnologischer Sujets bedient: Geister, Teufel und die ‚Blair Witch‘. Von der sieht man im nach ihr benannten Film nur Spuren – geflochtene Talismännchen, ein ausgerissener Zahn –, hört man nur Schreie und Rascheln im Wald. Gezeigt wird sie nicht, und zwar deshalb, weil es sie gibt. ‚Blair Witch Project‘, von Haxan Films, einem Team von Filmstudenten aus Florida, um 35.000 Dollar gedreht, ist eine gruslige, minimalistische ‚Fake-Doku‘, eine gefälschte Dokumentation zwischen Reality-TV und Found Footage.

1994 verschwanden drei Filmschul-Studis bei Arbeiten an einer Reportage über eine Hexenlegende in den Wäldern von Blair, unweit von Washington; gefunden wurde nur ihr gedrehtes Material. Diese auf den Werbeträgern sowie am Beginn des Films zu lesende Behauptung ist der Parameter, unter dem das Gezeigte verstanden sein will: Zwei Burschen und ein Mädchen interviewen Dorfleute, irren tagelang durch den Wald, werden nachts von der Hexe umspukt, leiden an panischer Angst und Erschöpfung, streiten sich und filmen einander dabei unentwegt (oft auf Video, manchmal auf 16mm, immer verwackelt), bis sie abrupt verschwinden. Das Bild dient, umso mehr, als es so räudig ist und nur seinen Herstellungsprozess zeigt, als Beweismittel, aber als gefälschtes. Beides sieht man zugleich: die Echtheit und ihre Fabrikation; der Reiz beim Anschauen liegt im Schwanken zwischen schauderndem ‚I want to believe‘ und Freude an der fälscherischen Virtuosität.

Man muss jedoch zweierlei bedenken: erstens die Naivität vieler Amis und anderer, die das ‚double-coding‘ nicht mitspielen, sondern, so heißt es, die rätselhaften Vorfälle eins zu eins nehmen. Zweitens den Umstand, dass ‚Blair Witch Project‘ (im Unterschied zu Fake-Dokus wie ‚Zelig‘, ‚Mann beißt Hund‘ oder der famosen Alien-Reportage ‚Die Delegation‘) eher ein intermedial wuchernder Hypertext als ein Film ist, work in progress, open case mit open end, ein Projekt: Der Kinofilm ist Gegenstand und Vorwand, Herz und Beiwerk einer cleveren PR-Kampagne – von an Schulen in den USA verteilten Vermisstenanzeigen über eine zum Kinostart gesendete TV-Fake-Doku bis zur ‚Blair Witch‘-Website. Sie ist die Matrix, aus der das Projekt entsteht; sie kocht Gerüchte, bewirbt den Film als Fall und seine dauerhaft auswertbaren Derivate als Indizien (Soundtrack, buchförmiges Polizei-Dossier, ‚unveröffentlichtes Material‘ auf Kaufvideos) und gibt der Rezeption einen Leitmodus vor: Das Film-Schauen wird überformt vom nachhaltigen Surfen, Chatten und Zuhause-Weiterkochen.

Klingt nach Kult. Klingt, als wäre alles Diskurs und Design, Marketing eines No-Budget-Videos nach dem Blockbuster-Prinzip, ‚Twin Peaks‘ auf echt plus Internet, wobei Laura Palmers Tagebuch das Notizheft der verschwundenen Videofilmerin auf der Website entspricht. ‚Documentation. Verifying existence. I am verifying that I am still here.‘ lautet ein Eintrag darin. Das formuliert ein anderes, zutiefst ‚filmbildliches‘ Projekt: Der oft bedrückende Realismus der fragilen, wackligen Bilder, der zerbrechliche Menschlein in einem Jammertal aus Verirrtheit, Erschöpfung und Todesangst zeigt, reiht ‚Blair Witch Project‘ unter die ‚Survival-Filme‘ der Neunzigerjahre. Etwas hat überlebt: Menschen verschwinden (auf sehr unterschiedliche Weise), aber es bleiben berührende, ‚authentische‘ Filmbilder, die ihre Existenz bezeugen, ihre verzweifelte Kreatürlichkeit vergegenwärtigen – bei Spielberg, auf der ‚Titanic‘ oder im Wald von Blair: kunstvoll kaputte Bilder vom Leid ermordeter Juden oder sterbender Soldaten; Kate Winslet, wie sie vor Kälte winselt; eine zitternde, verschnupfte Filmstudentin, die ihren Rest an Dasein in die Hi8-Kamera wimmert.

Das Pathos des Überlebens macht kulturellen Sinn als Drama jener Überflüssigkeit, die viele Leute (und Studierende) im Neoliberalismus an sich selbst empfinden; es beschwört aber auch das Überleben des Kinos, zumal das Projekt seiner Wiederbelebung als Handwerk mit Herz im Zeichen der Video-Amateur-Ästhetik. Artisan (‚Handwerker‘) heißt die Independent-Firma, die ‚Blair Witch Project‘ gekauft hat, von einem Team, das nach ‚Häxan‘ benannt ist, einer 1922 vom Dänen Benjamin Christensen gedrehten Horror-Spieldoku über Hexenkult. Natürlich, Dänemark: Dort dreht man heute auch auf Video, nach dem cinephilen Reinheitsgebot des Handkamera-Minimalismus, mit method actors in Selbsterfahrungsgruppen, die sich existenzielles Leid virtuos aus dem Leib schreien. ‚Dogma‘ nennen das die Dänen, und sie lügen nicht; ‚method filmmaking‘ nennen die Fälscher aus Florida ihre Art des Drehens als ‚Survival-Training‘ mit im Wald ausgesetzten Darstellern, die improvisieren, einander filmen und ihre Angst wirklich empfinden. Alles ‚Absolut Life‘: ein PR-Schmäh, dem im gleichnamigen ORF-Magazin ein Psychologe die Echtheit bescheinigte.

Dogma-Filme sprießen zur Zeit weltweit wie die Schwammerln, und vielleicht finden auch die Haxan-Wizards Nachahmungstäter, die mit der Digicam zum Trashfilm-Survival-Fake z.B. in den Wienerwald ausrücken. Die US-Parodie ‚The Blair Clown Project‘ ist bereits in Produktion; eine nettere Paraphrase hat ein texanischer Zeitungscartoonist mit seiner Deutung des Dramas als Leiden an Kopfhautjucken vorgelegt: ‚The Hair Itch Project‘.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Falter #48/1999

Auf einmal

(DE/NL/FR 2016, Regie: Asli Özge)

Einer von euch
von Wolfgang Nierlin

Auf der inhaltlichen Ebene wissen wir von diesem Film nur, was uns seine Hauptfigur wissen lässt. Konsequent konzentriert sich Asli Özge in ihrem scharf beobachteten, gesellschaftskritischen Psychothriller „Auf einmal“ auf …

Auf der inhaltlichen Ebene wissen wir von diesem Film nur, was uns seine Hauptfigur wissen lässt. Konsequent konzentriert sich Asli Özge in ihrem scharf beobachteten, gesellschaftskritischen Psychothriller „Auf einmal“ auf das Erleben ihres Helden Karsten Böhm (Sebastian Hülk). Nach einer Party und dem Tod einer jungen Frau gerät der aus gutsituierter Kleinstadtfamilie stammende Banker ins Zwielicht und unter Verdacht. Weil er nicht rechtzeitig den Notruf gewählt hat, wird wegen unterlassener Hilfeleistung gegen ihn ermittelt. Zu Selbstvorwürfen und unterschwelligen Schuldgefühlen kommt also noch eine öffentliche Anklage hinzu, was durch die Enge der von Bergen eingekesselten Stadt Altena verstärkt wird. Selbst Karstens Freundeskreis reagiert mit Misstrauen und zunehmender Distanz. Seine Freundin Laura (Julia Jentsch) verlässt ihn; von seinem Arbeitgeber wird er versetzt. Während der äußere Druck steigt, gerät Karsten in eine gesellschaftliche Isolation.

„Denn an sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu“, zitiert Asli Özge zu Beginn aus Shakespeares „Hamlet“. Ungeklärte Details, ein Anflug von Schwäche sowie Karstens „irrationales“ Handeln in der Unglücksnacht lassen die bösen Gedanken wachsen. Lügen und Geheimnisse treten zutage, aber auch die jeweiligen Eigeninteressen der Beteiligten. Mit Machtspielen versuchen diese, dem Konformitätsdruck standzuhalten und ihr Image zu wahren. Im kleinstädtischen Milieu werden dabei vor allem kulturelle und soziale Trennlinien sichtbar. Denn das Opfer stammt aus einer Familie von Russlanddeutschen.

Als seine Pflicht erfüllendes Mitglied des Systems, das noch in seinem persönlichen Rachefeldzug darauf bedacht ist, den Status quo wiederherzustellen, sagt Karsten einmal wutentbrannt zu seinen Eltern: „Das Schlimmste ist es, einer von euch zu sein.“ Bei einem kurzen Ausbruchsversuch in die Natur sieht man den Protagonisten hoch oben auf einem Berg, aus der Untersicht gerahmt von Gipfelkreuz und Deutschlandflagge. Mit einer ausgefeilten Bildsprache und einem unterkühlten Erzählduktus zeichnet Asli Özge in ihrem spannenden, mit vielen blinden Flecken versehenen Film eine widersprüchliche Figur, die sich einer einseitigen Identifikation entzieht. Und die unter dem Druck der Gesellschaft vom Opfer zum Täter wird, als sei dies ein Naturgesetz. Rammsteins brachialer, den Bandnamen zitierender Abspannsong wirkt diesbezüglich wie ein radikaler Schlussstrich unter Özges düstere, in Herbstfarben getauchte Gesellschaftsvision.

Nerve

(USA 2015, Regie: Henry Joost, Ariel Schulman)

Game-Action zum Mitschreiben: Spielend lernen mit Nerve und etwas Verve
von Drehli Robnik

Von Drogennehmen und Discotanzen bis Rucksackreisen und Kochen: Das Kino war an sich stets gut darin, diverse Freizeittrends in Form von Filmdramen oder -satiren abzubilden. Schwerer allerdings tut es sich …

Von Drogennehmen und Discotanzen bis Rucksackreisen und Kochen: Das Kino war an sich stets gut darin, diverse Freizeittrends in Form von Filmdramen oder -satiren abzubilden. Schwerer allerdings tut es sich bei heutigen Netz-affinen Formen trendiger Bespaßung: Für die ist das Kino schlicht zu langsam und zu eitel. Soll heißen: Eine Romantic Comedy im Pokémon-Jagd-Milieu würde wohl erst in Produktion gehen, wenn der betreffende Hype längst Historie ist. (Das Kino taugt eher für ein Retro-Film-Vehikel, das 2026 den Monstersommer 2016 verkultet.) Und außerdem zeigt die Leinwand gern etwas, das im großen und ganzen schöner (beeindruckender, krasser) ist als all die Laptop-, Tablet- oder Handy-Screens. Der Vorjahrsschocker ‚Unfriended‘ (bzw. ‚Unknown User‘), der nichts als ein Rudelskype-Monitormenü im Bild hatte, war zwar irgendwie mutig – aber auch irgendwie nervig.

‚Nerve‘, ein Hollywood-Teen-Thriller mit Twen-Besetzung, geht eine vergleichbare Sache flexibler an, zeigt mit zunehmender Laufzeit weniger Splitscreens, Popups, Bildglitches und mit User-Kommentaren betextete Hochhauspanoramen. Die Story: Highschoolkids aus dem Speckgürtel der großen Stadt verstricken sich in New York in die titelgebende Gameshow aus dem (wuuuh!) Darknet. Das Spielprinzip: Weltweite Watchers verlangen einigen Players stets neue, live zu übertragende Mutproben ab – Fremden-Mann-Küssen, Luxuskleid-Klauen, Gerüst-Kraxeln. (Sogar ein Tattoo lässt die Heldin sich stechen – auf Geheiß der vielen, die ihre Direktiven an sie ins Spiel reintippen.)

Das ist so simpel wie die Bildungsroman-Logik (Unsichere Strebermaus reift unterm Beifall ihrer Nerve-Followers zur Badassbitch und sag’s der Divafreundin voll rein), das Action-Calvarium und die mittelschuldebattenkompatible Voyeurismus- und Geltungssuchtschelte im auf Gladiatorenarena gemünzten Finale. (Da schauen wir uns aber, bitte, zuerst lieber ‚The Purge‘ an und diskutieren den in legerer Runde ohne Prüfungszwang, liebe*r Frau Deutsch- bzw. Herr Ethik-Lehrer.) Am Ende wird dann auch ein bissl geschossen: Insgesamt aber ist der von Henry Joost und Ariel Schulman nach einem Erfolgsroman von Jeanne Ryan gedrehte Film merklich arm an Cyberthriller-typischen Gewaltmomenten und wohl für Zielgruppen gedacht, die eben dem ‚Ice Age‘ entwachsen sind, von den Erzählungen ihrer älteren Geschwister Hunger auf Filme mit Games – und mit verliebten Heldinnen – gekriegt haben, aber noch von Altersfreigaberegelungen umhegt sind. Zumindest im Kino.

Und doch: Aus den an sich banalen Mutprobensituationen entsteht da und dort mal so etwas wie Spannung, der Quasi-Echtzeit-Plot (einige Handy-gehetzte Nachtstunden) macht ein wenig Sog, der Dreamy Disco-Score ist irgendwann so entwaffnend wie die Romanze von Emma Roberts (als Komikerin besser) mit Dave Franco (Bruder von James, mit mehr Muckis und Tom Cruises Mund), und das Neonbunt im Styling ist Nicolas Winding Refn mit menschlichem Antlitz. Vielleicht wird diesem Film dereinst so etwas wie Prägnanz nachgesagt werden in Sachen einer (diffus skeptischen) Bildformung der Durchdringung jugendlichen Lebens und städtischer Ambiente mit sozialen Hetzwerken. Und für die Oldies (die schon dabei waren, als digital kapitalisierter Alltag noch Virtual Reality hieß) gibt’s die einst grungige Juliette ‚Strange Days‘ Lewis in der Rolle einer Krankenpflegerin und Mutter.

Belladonna of Sadness

(J 1973, Regie: Eiichi Yamamoto)

Erloschene Zukunft
von Wolfgang Nierlin

Groß und machtvoll erhebt sich das Schloss über dem mittelalterlichen Dorf mit den geduckten Häusern. Dessen in Armut und Not lebende Bewohner werden von einem finsteren Fürsten, der diabolische Züge …

Groß und machtvoll erhebt sich das Schloss über dem mittelalterlichen Dorf mit den geduckten Häusern. Dessen in Armut und Not lebende Bewohner werden von einem finsteren Fürsten, der diabolische Züge trägt, hemmungslos ausgebeutet. Schwarz ist die dominierende Farbe seiner Erscheinung. Als das junge Bauernpaar Jeanne und Jean den Bund fürs Leben schließt und sich ewige Liebe verspricht, fordert der Fürst die erste Liebesnacht mit der frisch vermählten Braut. Ganz sacht und schrittweise mischen sich zu Beginn von Eiichi Yamamotos aus dem Jahre 1973 stammenden Animationsfilm „Belladonna of Sadness“ (Die Tragödie der Belladonna), der digital restauriert jetzt wiederaufgeführt wird, blasse Farben ins Bild der unschuldig Liebenden. Bis der Fürst, begleitet von höllischem Gelächter, durch seine brutale Vergewaltigung der jungfräulichen Jeanne bewirkt, dass ein gewaltiger Strom von Blut aus ihrem Unterleib hervorbricht.

Damit steht für die Geschändete und ihren Mann am Beginn eines möglichen neuen Lebens ein Trauma. Die Zukunft ist erloschen, noch ehe sie begonnen hat, heißt es dazu in einem Lied. In ihrer Not erscheint Jeanne der Teufel, der sich ihrer Spindel entwindet, um daraufhin die Gestalt eines sprechenden Phallus anzunehmen. „Ich bin du selbst“, sagt der Verführer, der vorgibt, Jeannes „Ruf des Herzens“ zu folgen und ihre innersten Wünsche zu kennen. So verkauft die schöne, von ihren Seelenqualen überwältigte Braut zunächst ihren Körper, später ihre Seele dem Teufel und gewinnt dadurch zunehmend an Macht und Ansehen. Bald gilt sie als eine vom Teufel besessene Hexe. Während das Land in Hunger, Krankheit und Krieg versinkt, steigt Jeanne zu einer dem Fürsten nahezu gleichgestellten Herrscherin auf, die mit der als magisch geltenden Pflanze Belladonna (ein hier doppeldeutiger Name) und einer überschäumenden sexuellen Kraft Menschen heilt und damit zu ihrer Gefolgschaft macht. Ihre rachsüchtige Revolte kulminiert allerdings in Hybris („Ich will alles auf dieser Welt.“) und endet schließlich auf dem Scheiterhaufen.

Das erinnert nicht von ungefähr an das Schicksal der französischen Nationalheldin Jeanne d’Arc. Eiichi Yamamoto und sein Produzent Osamu Tezuka, der in Japan als legendärer Manga-Künstler gilt, haben sich für ihren Anime nämlich von Jules Michelets Traktat „La Sorcière“ (Die Hexe) von 1862 inspirieren lassen. Darin wendet sich der als radikaler Republikaner geltende Historiker gegen die Unterdrückung der Frau zur Zeit der mittelalterlichen Hexenverfolgung und portraitiert die Hexe als „Ärztin des Volkes“. In ausgedehnten, durch minimale Animation und eine intensive Tonspur gekennzeichneten Sequenzen evoziert Yamamoto surreale Bilder von Schrecken, Leid und Tod. Unterlegt mit zeittypischer Pop- und Jazzmusik, schwelgt der Film in einem psychedelischen Rausch aus Farben und ornamentalen Formen, deren Verschlingungen dem Konzept permanenter Verwandlung huldigen und so immer wieder Sex und Gewalt verschmelzen. Doch trotz dieser überbordenden Phantastik bleibt in Yamamotos Fabel über Macht und Unterdrückung, die mit dem Blick auf Eugène Delacroix‘ revoltierende Marianne als Motiv seines berühmten Gemäldes „Die Freiheit führt das Volk“ (1830) endet, stets die identifizierende Phantasie des Zuschauers gefordert.

Bibi und Tina 3: Mädchen gegen Jungs

(D 2016, Regie: Detlev Buck)

Tochter gegen Papa
von Lilly Thomas, Andreas Thomas

Da bibit sie also wieder, unsere Bibi, gemeinsam mit der teeniegen Tina, um unsere Jugend zu erfreuen, unsere desorientierte Jugend, zwischen Geocache (2015, zu Dreharbeitenzeit noch vor Pokémon Go) und …

Da bibit sie also wieder, unsere Bibi, gemeinsam mit der teeniegen Tina, um unsere Jugend zu erfreuen, unsere desorientierte Jugend, zwischen Geocache (2015, zu Dreharbeitenzeit noch vor Pokémon Go) und Dschungelcamp und angeblich entweder One Direction und Schminken. Das brüllen (jaja man nennt das hier rappen …) jedenfalls die Jungens über die Mädchen, die, angeblich auf einmal alle gegeneinander (oder besser Mädchen gegen Jungs, denn die brüllen zurück) sein sollen, auch was, über dessen Ursache der Film uns nichts erklärt. Ein künstlich herbeigeführter Konflikt kann nur einen künstlich herbeigeführten Film nach sich ziehen.

Ging es in den erfreulicheren ersten beiden Teilen (‚Bibi und Tina 1‘ und ‚Bibi und Tina 2‘) noch um so klar definierte themes wie: Pferd trifft Mädchen oder Mädchen trifft Junge, oder (die in quasi allen Kinderfilmen der letzten zehn Jahre unentbehrliche) ‚Der Alte Fritz‘-Darstellerin Katharina Thalbach (erster Preis für ‚Mützen, die ums Weggelassen werden betteln‘ (Max Goldt)), so kommt selbige letztere auch diesmal vor, aber auch sie wird weggelassen in diesem Stück, besser Stückwerk, das sich so was von gar nicht mehr einlassen mag auf eines seiner overloads an themes, sodass man geneigt ist, wegzugucken vor lauter theme-Stückelei. Handlung ist diesmal nicht mehr auffindbar, außer dass man gelbe Sterne zu sammeln hat á la ‚Ich bin ein Star, holt mich hier raus-Sternen‘, die ja eigentlich keine Kinder unter 12 kennen dürfen sollten, aber Bibi und Tina sind auch schon lange keine 12 mehr.

Die Darstellerinnen Lina Larissa Strahl (Bibi) und Lisa-Marie Koroll (Tina) werden beide im Dezember 2016 komplette 19 Jahre alt sein und Regisseur Detlev Buck ist mit seinen jungen 54 Jahren inzwischen so reif, dass er dem minderjährigen Publikum schöne alte Hippie-Witze erzählen kann, die das garantiert nicht versteht, nämlich dass man zum Beispiel beginnt, überall Affen zu erblicken, wenn man von komischen Pilzen (aus deutschen Walden) gegessen hat. Ganz davon ab, dass die Animation dieser Animals, äh, dieser Affen genauso wie der initiale Ritt Bibis auf dem Besen optisch unter aller Kanone ist, quasi jenseits von Pan Tau (kennt heute auch kein Teenieschwein mehr), genauso deplatziert und jugendlich empathiemangelnd ist die Präsentation und Parodie eines aus den Vorgängerfilmen überlebt habenden Kagmann (???, muss denn solch Name wirklich sein, als pädagogisches Element? Nanunanunanu!), der sowas von völlig auf dem Ausstieg-Öko-Buddha-Trip dahinschwebt, dass sich das Siebziger-Jahre-Fäustchen des Siebziger-Jahre-Insiders Buck herzlich in sich selbst hineinlachen mag, die Jugend von heute aber dabei sowas von nicht getouched ist, dass man würde sagen: Zielgruppe verfehlt, weil Zielgruppe ist Teenie und aus 2016 und nicht 1973.

Zu allem hinzukommt die Dominanz des Klanges, sprich der Wortmelodie, sings: Des Songs, also des gesungenen Worts, ‚immer dann, wenn die Gefühle zu groß werden für die Handlung‘ (Detlev Buck), also dauernd. Muss ja auch, denn heute verkaufst du ohne ‚Emotionen‘ keine Tüte Pommes, also muss, wie auch in den beiden Bibi und Tina-Vorgängern, wieder Mal Emotio-Spezialist Komponist Peter (‚bald hab ich auch ne Platte‘) Plate ran, welcher seine Feelings früher immer im Unterhemd oder auch gleich hemdlos (Wikipedia-Fotos) im Duo Rosenstolz für zerbrechende und dabei urst ambivalente oder dominante oder submissive Herzen gesorgt hatte.

Ganz ehrlich meine Meinung: Die Songs sind der Gewinner und das Wichtigste am Film (seien sie auch sonst nicht so ganz, was der Vater hört). Ich glaube, die Tochter meint mit ihm.

Was man also sieht, ist so ein wirklich quietschbunter Film, der die Augen bereits nach Minuten mit seinen Bonbonfarben verätzt sowie eine für ältere Althippies herrlich verquere Gelegenheit, Humor – gemeint sei hier damit: 70 Jahre alte Witze – neu und witzig einzuflechten, dabei außer acht lassend, dass man eigentlich die Jugend von heute unterhalten wollte.

Das Problem wiederum mit der Jugend: diese ist hier beispielsweise noch 10, ist teilweise leider bereit dazu, alles gut zu finden, zu glauben und akzeptieren, was die Power hat, den Weg ins Kino oder in die Charts zu finden. Deshalb verifiziert Jugend (jedenfalls in diesem Fall) zum Teil auch einfach das ihr Angebotene, und indem sie es glaubt, wird es Teil ihres eigenen Selbstbildes, Weltbildes, auch wenn es nur Gerüchte sind, Spekulationen aus den Köpfen alter Leute: Die Jugend hält für wahr, was das Kino zeigt, und sie übernimmt dessen Phänomenologie für sich. Die Kraft des Mediums ist realer als die Kraft der eigenen Wirklichkeit. Aber welche ist das schon noch heute, wenn nicht eine medial dominierte?

Und halt, hier sollten wir alle in uns gehen und uns fragen: Haben wir Eltern und Regisseure und überhaupt von irgendetwas Erwachsene und wir Filmkritiker unsere Hausaufgaben gemacht? Aber zuerst die Tochter: Hast du deine Hausaufgaben gemacht? Oder mal wieder zuviel gebibit und geteeniet?

Bang Gang – Die Geschichte einer Jugend ohne Tabus

(F 2015, Regie: Eva Husson)

Emotionale Häutungen
von Wolfgang Nierlin

Das Motto von Eva Hussons Film „Bang Gang – Die Geschichte einer Jugend ohne Tabus“, der im französischen Original allerdings „Bang Gang, une histoire d’amour moderne“ heißt, stammt vom Tiefenpsychologen …

Das Motto von Eva Hussons Film „Bang Gang – Die Geschichte einer Jugend ohne Tabus“, der im französischen Original allerdings „Bang Gang, une histoire d’amour moderne“ heißt, stammt vom Tiefenpsychologen C. G. Jung: „Man wird nicht dadurch hell, dass man sich Helles vorstellt, sondern dadurch, dass man sich Dunkles bewusst macht.“ Es geht in Hussons teilnehmender Darstellung von zeitgenössischer Adoleszenz also nicht um die Abwehr des Negativen, sondern um einen mitunter schmerzlichen Prozess der Bewusstwerdung und der Häutung in einer emotional schwierigen Phase. Die Suche nach (sexueller) Identität, Liebe und gesellschaftlicher Teilhabe vollzieht sich demnach in der Erforschung von Grenzen und in der Konfrontation mit persönlichen Abgründen. Zwischen der Erfahrung des Andersseins und dem Wunsch nach Zugehörigkeit wächst das Ich. Nur die Bedingungen, unter denen dies geschieht, scheinen sich zu ändern. Darauf bezieht sich der französische Titel des Films, während der deutsche etwas reißerisch aufs Spekulative zielt.

Inspiriert von wahren Begebenheiten, zeichnet Eva Husson die Portraits von Jugendlichen, die an der Atlantikküste bei Biarritz leben und sich irgendwann regelmäßig zu Sexpartys treffen. Doch bis es zu diesem orgiastischen Grenzübertritt kommt, folgt Hussson behutsam der Entwicklung ihrer Protagonisten. Die beiden 16-jährigen Schülerinnen Laetitia (Daisy Bloom) und George (Marilyn Lima) sind beste Freundinnen. Während Laetitia, die von ihrem Vater kontrolliert wird, leicht unsicher wirkt und sexuell unerfahren ist, hat die mehr Freiheiten genießende George bereits mit mehreren Jungs geschlafen. Deren Namen verzeichnet sie wie Trophäen stolz in ihrem Tagebuch. Als sie sich jedoch mit dem etwas älteren Alex (Finnegan Oldfield) einlässt, der seine Affären schon nicht mehr zählt, wahlweise Pornos und Rhythmische Sportgymnastik schaut sowie Nähe und Gefühle meidet, erfährt die hübsche George eine tiefe Enttäuschung. Als schließlich auch noch Laetitia ihr erstes Mal ausgerechnet mit Alex erlebt, kommt es zum Bruch der Freundschaft.

In der Folge lässt sich George gehen und treiben. Ihre verletzten Gefühle und ihr verzweifelter Liebeswunsch werden zum Auslöser für Sexpartys, die zunächst harmlos und verspielt beginnen, sich unter dem Druck der Gruppe und der Dynamik eines hedonistischen Lustprinzips aber zu einer sexuell entgrenzten Parallelwelt auswachsen. In ihr finden nicht nur jugendliches Triebverhalten, sondern auch die Sehnsucht nach „Glück und Wärme“ ihren rauschhaften Widerhall. Sich lebendig und frei und „für immer gut fühlen“, lautet das Ziel. George will gar ein „Kernkraftwerk“ sein, „das im Innern Glücksenergie erzeugt“ und ihre Gefährten „in kleine Sonnen verwandelt“. Doch dann explodiert die instabile Utopie: Ein diskreditierendes Video zirkuliert, Geschlechtskrankheiten werden diagnostiziert, der „Skandal des Jahrzehnts“ wird öffentlich und die kollektive Ernüchterung unabwendbar.

Eine melancholische Verlorenheit grundiert den sexuellen Eskapismus dieses sehr sinnlichen Films, der gleich zu Beginn eine traumhafte, leicht entrückte Atmosphäre etabliert. Zwischen körperlicher Ekstase und schläfrigem Drogenrausch, getragen von sanften Synthie-Sounds und fernen Naturgeräuschen, bewegt sich die schweifende Kamera fast wie in Trance durch die vernebelte Szenerie aus nackten Körpern und zärtlicher Lust. Eva Hussons poetischer Blick gilt aber auch immer wieder dem Meer, bizarren Wolkenformationen und den in warme Rottöne getauchten Sonnenuntergängen. Ein anderes Mal sprechen die Bilder stumm. Der zunehmende Realitätsverlust und die Zerbrechlichkeit der Teenager, die nicht zuletzt Folgen sich auflösender Familienstrukturen sind, werden schließlich konfrontiert mit einer Reihe medial vermittelter Katastrophen: Mehrere Zugunfälle und eine große Hitzewelle fordern zahlreiche Opfer. Es scheint, als sei das „instabile System“ der Jugendlichen nicht nur in seinen Ursachen, sondern auch in seinen Wirkungen nichts anderes als ein Spiegelbild der Wirklichkeit.

Seefeuer – Fuocoammare

(F/I 2015, Regie: Gianfranco Rosi)

Leuchten im Kino
von Jürgen Kiontke

Gianfranco Rosis kontroverser Dokumentarfilm „Fuocoammare – Seefeuer“ zeigt das Leben auf Lampedusa, dem Anlaufziel für Flüchtlinge, aus dem Blickwinkel eines zwölfjährigen Jungen Samuele schaut, zielt und drückt ab. Mit seinem …

Gianfranco Rosis kontroverser Dokumentarfilm „Fuocoammare – Seefeuer“ zeigt das Leben auf Lampedusa, dem Anlaufziel für Flüchtlinge, aus dem Blickwinkel eines zwölfjährigen Jungen

Samuele schaut, zielt und drückt ab. Mit seinem Kumpel spielt er Krieg, aber käme es drauf an, hätte er schlechte Karten: Er hat ein träges Auge, er sieht nicht gut, er muss zum Arzt.
Samuele lebt auf Lampedusa, dem Hotspot der Flüchtlingswellen aus Nordafrika in Italien, dort wo die Seelenverkäufer der Schlepper anlanden oder gerettete Menschen hingebracht werden.

Auf einem Auge blind, das ist nicht nur der Zwölfjährige, der hier über die Wiese tobt, so will dies der Regisseur Gianfranco Rosi verstanden wissen, dessen Dokumentarfilm „Fuocoammare“ der Insel Lampedusa ein Denkmal setzt. Die Krankheit des Jungen, der Fischer werden soll und hier ganz normal aufwächst, soll eine Metapher sein für das Agieren in der Flüchtlingsdebatte. Und schon der Titel soll erhellen: Seefeuer, das ist das Licht der Leuchtraketen, die die Rettungskräfte auf der Suche nach Überlebenden untergegangener Schiffe abschießen. Denn Leuchtpunkte will auch Rosi mit seinem Film in der aktuellen Debatte setzen, das Schicksal der Bootsinsassen soll nicht vergessen werden, „Fuocoammare“ soll dazu beitragen.

Ein Film zwischen jugendlicher Lebensfreude und Todeszone – zum Beginn der Arbeiten war diese Entwicklung zunächst aber nicht abzusehen. Als Rosi auf die Insel kam, waren keine Flüchtlinge da, das Zentrum für die Erstaufnahme wurde renoviert und war für einige Zeit geschlossen. Da lag es nahe, das andere, das eigentliche Lampedusa kennenzulernen, abseits des großen politischen Themas. So blieb es bekanntlich nicht, und Rosi bleibt auch nicht bei Samuele stehen. Er filmt beim einzigen Insel-Arzt, Pietro Bartolo, der Rosi mit seinen Schilderungen überhaupt erst dazu gebracht hat, den Film zu drehen. Ja, der Film ist notwendig.

Zu Bartolo gehen Samuele und auch die Menschen, die übers Meer kommen. Er erzählt von den Notrufen, die in der Rettungszentrale einlaufen, von sinkenden Schiffen und Überlebenden, die er aufsucht. Und auch Rosis Kamera ist dabei, wenn die Rettungskräfte die Boote ausräumen. Bei einem der abgeschleppten Schiffe ist der Innenraum voller Leichen. Ein Moment, wo das Medium Kino gleichsam zu einem Ende findet: Da ist auf der einen Seite der Willen des Künstlers, authentische Bilder für sein Anliegen zu finden, und das dürfte in diesem Moment auch gelungen sein. Drastischere Bilder als die von den während der Überfahrt Verstorbenen lassen sich schwerlich filmen; wie die Menschen gestorben sind, mag sich das Publikum dann ausmalen.„Anders als beim Holocaust oder bei Ruanda gibt es simultan Bilder und nicht erst danach“, sagt Rosi. Niemand könne sagen, er habe nichts gewusst. „Das nimmt die Politik in die Verantwortung: So wie die Regierungschefs sich zum Klimagipfel treffen, müssen sie zu Flüchtlingsgipfeln zusammenkommen und gemeinsam die Probleme in den Herkunftsländern angehen. Und sie müssen sich gemeinsam um die Aufnahme der aus Kriegen, Hungersnöten und schrecklichem Elend Geflüchteten kümmern.“

Die Bilder haben aber noch eine andere Seite: Sie befördern auch den Gewöhnungseffekt. Mit der Verarbeitung zum stilisierten Dokumentarfilm ist zudem gerade der Wille, die Ereignisse in ihrer ganzen drastischen Weise aufzuzeigen, ad absurdum geführt – hat man es nicht mit einem Kunstprodukt zu tun, das in diesem Februar einen bedeutenden Filmpreis gewinnt und im nächsten Jahr tut dies ein anderer Film?
Der Kunstbetrieb befördert auch die Beliebigkeit, das Flüchtige und Serielle; morgen sehen wir uns etwas anderes an. Flucht, der Kultur-Event. Und was mag es überhaupt für einen Jungen bedeuten, neben den Toten als Hauptfigur zu agieren, und dann als Premieren-V.I.P. auf dem roten Teppich zu stehen? Diesem Dilemma, die Fragen nach der Reproduzierbarkeit des Schrecklichen, das später dann mal im Nachtprogramm von Arte versendet wird, umschifft Rosi, er debattiert es nicht. Und vielleicht ist es so am elegantesten: Er stellt die beiden Wirklichkeiten nebeneinander: Dort die Welt der Italiener, dort die Geflüchteten und mittendrin der Arzt.

Hätte es anders gehen können? Vielleicht ist für dieser Art Fragen keine Zeit. „Seefeuer“ soll im Kino leuchten, will ein brutaler, ein emotional krasser Film sein, der sein Publikum in die Wechselbadewanne der Gefühle taucht. Ist das Mittelmeer nicht auch so? Szenen wie die beschriebene folgen solche aus dem Alltagserleben Samueles, der reichlich Talent zum Slapstick hat. Sei es beim Spaghetti-Schlürfen oder auch bei der Vorbereitung auf das zukünftige Leben. Talent zum Lügen hat er nicht unbedingt, wenn die Familie sich nach den Hausaufgaben erkundigt. Aber Schule ist auch nicht unbedingt auf der Prioritätenliste ganz oben; Samuele soll schließlich Fischer werden, wie alle auf Lampedusa. Da gibt es ganz andere Probleme: Er ist seekrank, mit der Seefahrt hat er es nicht.

Dann wieder Zahlen. 400.000 Menschen haben in den letzten Jahren die Überfahrt riskiert, man rechnet mit 15.000 Toten. Die Schiffe feuern Leuchtraketen ab, Seefeuer. Wieder und wieder am nächsten Morgen sind die geborgenen Reste der maroden Boote zu besichtigen. Der Arzt Bartolo rückt dabei immer wieder erklärend ins Zentrum. Er untersucht die Flüchtlinge, wenn sie vom Boot kommen, kümmert sich um die Kranken und die Schwangeren, erklärt die Vorgänge, kritisiert die europäische Politik, die von den Einwohnern Lampedusas, einem Eiland von 20 Quadratkilometern, gemanagt wird.

Die Geflüchteten selbst kann Rosi nicht ins Bild setzen oder nur unzureichend, wenn nicht gleich als Verstorbene, dann als Wesen ohne Namen. Er habe zwar ein Jahr auf der Insel zugebracht, aber diese Menschen blieben immer nur ein bis zwei Tage, sagt Rosi. Nur einmal gelingt eine länge Einstellung: Ein Afrikaner rappt seinen Reiseweg durch die Wüste über Libyen bis nach Europa – ein trostloser, harter und trockener Sound, gesungene Klage. Gesprochen wird mit ihm und den Männern um ihn herum nicht. Gleichwohl stecke die Essenz des Dramas, denn diese Szenen brächen mit der Routine, die man vorher im Film erlebe: Ankunft der Boote, Flüchtlinge im Bus, die Stationen der Erstaufnahme – ein geregelter Ablauf, der sich fast täglich wiederhole.

Ein denkwürdiger, Film, einer, der noch nicht zu Ende ist. Mit seiner Mischung aus „skurrilen, traurigen, komischen und bedrückenden Szenen“ vermittle der Film das Ausmaß der ganzen Tragödie von Lampedusa, urteilte die Film-Jury von Amnesty International auf den diesjährigen Berliner Filmfestspielen und vergab den Amnesty-Filmpreis an „Seefeuer“ (und zu gleichen Teilen den iranischen Beitrag „Royahaye Dame Sobh“).
Die Berlinale-Hauptjury um Meryl Streep sah das nicht viel anders und vergab den Goldenen Bären ebenfalls an Rosi – so erhielt seit 60 Jahren das erste Mal ein Dokumentarfilm diese Auszeichnung.

Falsch liegt man damit nicht: Jetzt, im Sommer, ist der Film erschreckend aktuell. Um Lampedusa war es im letzten Jahr ruhiger geworden, jetzt aber, nach Türkei-Deal und Schließung der Balkan-Route, sind die Flüchtlinge einmal weiter ums Mittelmeer herumgewandert. Die Hauptwege laufen nun wieder über Italien; Bilder wie sie „Seefeuer“ zeigt, werden dann wieder die Nachrichten beherrschen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal 8/2016

Alles was kommt

(F/D 2016, Regie: Mia Hansen-Løve)

Zerbrechliches Leben
von Wolfgang Nierlin

Das Sommerdomizil in der Bretagne ist ein verwunschener Ort. Direkt am Meer gelegen, abgeschirmt von Felsen und Bäumen und begrenzt von einem Blumengarten, beschreibt es eine perfekte Idylle. Hier verbringt …

Das Sommerdomizil in der Bretagne ist ein verwunschener Ort. Direkt am Meer gelegen, abgeschirmt von Felsen und Bäumen und begrenzt von einem Blumengarten, beschreibt es eine perfekte Idylle. Hier verbringt das Pariser Lehrer-Ehepaar Nathalie (Isabelle Huppert) und Heinz (André Marcon) mit seinen beiden Kindern Chloé und Johann die Ferien. Natur und Kultur, Muße und Arbeit bilden eine organische Einheit. Ablesbar ist das an den vielen Büchern und der geschmackvollen Einrichtung, mit denen Mia Hansen-Løve in ihrem neuen Film „Alles was kommt“ (L’avenir) die Schönheit einer intellektuellen Daseinsform wie mit flüchtigen Pinselstrichen skizziert. Doch wie die Gezeiten mit ihrem Wechsel von Ebbe und Flut ist auch dieses Leben nicht von Dauer. Zweimal erklingt im Verlauf des Films Franz Schuberts Lied „Über den Wassern zu singen“. Das korrespondiert mit Heinz‘ Aufforderung, Musik nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. Im Blick auf Chateaubriands Grabstätte über dem Meer in der Schlusseinstellung der Exposition liegt also eine Vorbedeutung für das, was folgt.

„Können wir uns in andere reinversetzen?“, lautet die Eingangsfrage des Films. Nathalie und Heinz, beide leidenschaftliche Philosophiedozenten an renommierten Gymnasien, werden sich ein paar Jahre später trennen, ohne darüber einen Dialog zu führen. Doch weil ein Unglück angeblich selten allein kommt und Mia Hansen-Løve ihr sensibles Frauenportrait zu einer Lebenskrise verdichtet, folgen weitere Schicksalsschläge: Ihre unter Einsamkeit und Panikattacken leidende Mutter (Édith Scob) stirbt und Nathalies Verlag möchte aus marketingtechnischen Gründen ihre „veralteten“ Lehrbücher nicht mehr neu auflegen. Zu diesen Einschnitten und Veränderungen kommt noch, dass ihr ehemaliger Lieblingsschüler Fabien (Roman Kolinka), der über Adorno promoviert, sich von ihr emanzipiert und in eine anarchistische Kommune im Vercors zieht. Außerdem bekommt ihre Tochter Chloé (Sarah Le Picard) ein Kind. Zwar sagt Nathalie, sie liebe ihre Arbeit und führe ein intellektuell erfülltes Leben. Doch die von ihr bekundete „totale Freiheit“, in die sie durch diese Verluste gezwungen wird, fühlt sich nicht wie Glück an. Eher erscheint Nathalie als einsame Außenseiterin, die Schwierigkeiten hat, sich den neuen Verhältnissen anzupassen.

Immer ist die leicht forsch und autoritär wirkende Lehrerin leicht gestresst und in Bewegung. Das korrespondiert mit Denis Lenoirs flüssig und dynamisch gestalteter Kameraarbeit, den oft abrupten, harten Schnitten und den vielen Ellipsen. In diese dicht gefügte Erzählung implementiert Mia Hansen-Løve, die sich mehr für Rhythmus, Struktur und Atmosphäre ihres Films interessiert als für Figurenpsychologie und Handlungsaufbau, ein Geflecht intertextueller Referenzen und Zitate, in denen es unter anderem um das Verhältnis von Theorie und Praxis, Freiheit und Verantwortung, Jugend und Alter, vor allem aber um die Flüchtigkeit des zerbrechlichen Lebens geht. Das mutet in seiner impressionistischen Kürze und engen motivischen Verzahnung oft plakativ und klischeehaft an, transportiert als poetische Anrufung aber zugleich viel Sinnlichkeit, Gefühl, und Offenheit.

Deadpool

(USA 2016, Regie: Tim Miller)

Ostern im Nonsensekino
von Ricardo Brunn

Was sich in „Ant-Man“ (USA 2015; R: Peyton Reed) und den Iron-Man-Teilen immer wieder angedeutet hat, wird in „Deadpool“ zur Gewissheit: Um von erzählerischer Phantasielosigkeit abzulenken, werden die schweren Geschütze …

Was sich in „Ant-Man“ (USA 2015; R: Peyton Reed) und den Iron-Man-Teilen immer wieder angedeutet hat, wird in „Deadpool“ zur Gewissheit: Um von erzählerischer Phantasielosigkeit abzulenken, werden die schweren Geschütze ironisch verklärter Selbstreflexion aufgefahren. Doch die dauerhafte Anwendung dieses Stilmittels unterstreicht die tesafilmdünne Geschichte um einen weiteren (Anti)Helden des leider unerschöpflichen Marvel-Strumpfhosenensembles in ihrer Durchsichtigkeit nur noch schärfer, als dass sie sie verschleiern könnte.

Nach einer Karriere als Special-Forces-Kämpfer verdingt sich Wade Wilson (Ryan Reynolds) als Söldner mit ziemlich losem Mundwerk. In seiner Stammkneipe trifft er eines Tages auf Vanessa (Morena Baccarin) und die große Liebe nimmt ihren an den Pornofantasien des Regisseurs geschulten Lauf. Als bei Wade Krebs diagnostiziert wird, bietet ein ominöser Anzugträger seine Hilfe an und Wade unterzieht sich einem riskanten Experiment im Labor des skrupellosen und wenig charismatischen Ajax (Ed Skrein). Ajax will mit seinen Experimenten jedoch nur die verborgenen Mutantenkräfte seiner Versuchsobjekte zu Tage fördern. In Wade Wilsons Fall sind das enorme Selbstheilungskräfte. Den Krebs kann Wade damit besiegen, doch haben die Nebenwirkungen der Mutation ihn zugleich so sehr entstellt, dass er seiner Freundin nicht mehr unter die Augen treten will. Stattdessen schlüpft er in ein knallenges Superheldenkostüm und macht als Deadpool sodann Jagd auf Ajax, um ihn dazu zu bringen, die Mutation rückgängig zu machen.

Während sich die Bilder eines sichtlich erschöpften Blockbusterkinos lauwarm über den Zuschauer ergießen, wendet sich Protagonist Wade alias Deadpool getreu den Comicvorlagen mit Kommentaren zum Geschehen wiederholt ans Publikum. Augenzwinkernd macht sich Ryan Reynolds über sich selbst und seine verschiedenen Superheldenauftritte in anderen Filmen lustig, verspottet die aus der zweiten Reihe stammenden X-Men-Helden, die Wade für ihre Sache gewinnen wollen. Es sind Versuche mit Humor über sich selbst hinaus auf irgendetwas zu verweisen. Ein Außerhalb existiert jedoch nicht, weil „Deadpool“ bei aller Selbstreflexion und Selbstreferenzialität ein Gefangener seiner eigenen computergenerierten Welt bleibt. Mit einer Hauptfigur im Selfie-Modus ist „Deadpool“ ein Metafilm ohne Metaebene.

Seinen entsprechenden Ausdruck findet dieses nur noch auf sich selbst bezogene Burnout-Kino im Easter Egg. Auf Youtube lassen sich zu „Deadpool“ und anderen Comicverfilmungen neueren Datums zahlreiche Videos finden, die akribisch sämtliche Anspielungen unter dem Sammelbegriff Easter Egg auflisten. Mehr als einhundert sollen es in „Deadpool“ sein und die User überbieten sich geradezu mit immer neuen Funden. Die Bandbreite reicht dabei von Namen auf Straßenschildern über Cameoauftritte bis hin zu Ausstattungsgegenständen. Zwar ist das Easter-Egg, das seinen Ursprung als versteckter Scherz in Computerprogrammen (die „barrel roll“ der Google-Startseite beispielsweise) und Videospielen hat und somit direkt auf die Zielgruppe der heutigen Comicverfilmungen abzielt, dem Zitat verwandt. Allerdings sind die Verweisstrukturen des Easter Eggs gänzlich anders gelagert. Das (Bild)Zitat verweist als Hommage nicht nur auf Vorbilder. Als Spiel mit Genremustern und damit einhergehend demonstrativen Brüchen mit Erzählkonventionen stellt es eine Auseinandersetzung mit der Filmgeschichte und den Möglichkeiten und Notwendigkeiten filmischen Erzählens dar. Indem es Bezug nimmt, bietet es im besten Fall den Ausgangspunkt für eine Interpretation.

Das Easter Egg kommt ohne Sinnzusammenhänge dieser Art aus. Ihm ist ein Warum nicht eingeschrieben. Es steht damit dem geschichts- und narrationsarmen Gimmick, dem Werbegag in seiner Beschaffenheit deutlich näher als dem Zitat. Es verweist nicht über die Grenzen des eigenen Kosmos hinaus. Genau hierin liegt auch seine Funktion, denn es besteht eine direkte Verbindung zwischen Easter Eggs im Film und der Suche nach Pokemons im Videospiel. Beides zielt auf einen Menschen, der ganz Konsument ist, Waren unhinterfragt sammelt und das Konsumprodukt in einen weiteren Konsumzusammenhang zu stellen bereit ist. Denn einmal gefunden lässt sich mit Easter Eggs und Pokemons nicht mehr viel anstellen, außer den Fund an sich zu verbalisieren. Finden und Sammeln sind Addition ohne die anschließende Möglichkeit für eine Erzählung und somit Bedeutung. Die Demonstration des Additiven in Youtube-Videos kommt folglich nicht nur dem Selbstdarstellungsdrang der User entgegen. Die Videos stellen zugleich das langanhaltendste und kostengünstigste Marketing dar, das ein Filmverleih sich wünschen kann. Das Easter Egg bedeutet Ostern für den Filmverleih, der sich die Hände reibt, während die Zuschauer immer weiter suchen und eigentlich gar nichts finden.

Wiener Dog

(USA 2016, Regie: Todd Solondz)

Solondz auf Bressons Spuren
von Ulrich Kriest

Buchstäblich auf den Hund gekommen ist Todd Solondz, der boshafte Psychopathologe des US-Suburbia, mit seinem neuen Film. Immerhin schafft er es mit ‚Wiener-Dog‘ erstmals seit ‚Palindrome‘ (2004) hierzulande wieder in …

Buchstäblich auf den Hund gekommen ist Todd Solondz, der boshafte Psychopathologe des US-Suburbia, mit seinem neuen Film. Immerhin schafft er es mit ‚Wiener-Dog‘ erstmals seit ‚Palindrome‘ (2004) hierzulande wieder in die Kinos. Formal bleibt sich Solondz in jeder Hinsicht treu, dient der titelgebende Dackel doch als dramaturgische Klammer von vier autonomen Episoden, die einerseits mit sardonischem Witz von Dummheit, Borniertheit, Ressentiments, Krankheit, Behinderung, Einsamkeit, Lebenslügen und Angst erzählen, andererseits aber auch Spuren ins Gesamtwerk legen.

So begegnen wir Dawn Wiener, der Protagonistin von ‚Willkommen im Tollhaus‘ (1995), die sich zu Beginn von ‚Palindrome‘ umgebracht hatte. Sie wiederum begegnet ihrem ehemaligen Klassenkameraden Brandon McCarthy wieder, der es mittlerweile zum wortkargen Junkie gebracht hat. Doch zunächst einmal wird der Hund einem Kind geschenkt, das gerade eine Krebserkrankung überstanden hat und einen Spielkameraden gut gebrauchen kann. Später wird Dawn Wiener Wiener-Dog vor dem Einschläfern bewahren, um ihn dann ihrerseits Brandons Bruder und seiner Frau zu überlassen, die beide Trisomie 21 haben. Diese und zwei weitere Episoden erzählt Solondz mit erstaunlicher Starbesetzung und dem ihm eigenen Humor und ideologischer Indifferenz.

Er selbst bringt Robert Bressons ‚Zum Beispiel Balthasar‘ ins Spiel: Das Elend der Menschen spiegelt sich im Auge der Kreatur, die die USA durchquert, um den gemarterten Seelen Trost zu spenden. Was dem Esel Balthasar am Ende die Schafherde, ist Wiener-Dog der Asphalt der neu gebauten Umgehungsstraße direkt neben dem Altersheim. Zwar trägt der ausgebrannte Filmhochschuldozent den sprechenden Namen Dave Schmerz, aber Solondz’ Haltung bringt wohl eher ein mexikanisches Mariachi-Trio auf den Punkt: ‚Amerika ist ein trauriger Elefant, der in einem See aus Verzweiflung langsam ertrinkt.‘ Die Schönheit in diesem Elend ist von so ausgesuchter Hässlichkeit in allen Details, dass Solondz den Blick nicht abwenden mag: Ein exquisites Travelling folgt geduldig den Resultaten gutgemeinter, aber grundfalscher Fütterung von Durchfallpfütze zu Durchfallpfütze. Fasziniert und faszinierend.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 9/2016

Zeit für Legenden

(USA / CAN 2016, Regie: Stephen Hopkins)

Googeln hätt' geholfen
von Jürgen Kiontke

Die Biografie des Ausnahmesportlers Jesse Owens ist eine Mustererzählung des 20. Jahrhunderts. Vierfacher Goldmedaillengewinner bei der Hitler-Olympiade in Berlin 1936, Ikonendarsteller für die Menschenrechte, Schauläufer gegen Pferde, Kettenraucher, Diskriminierter, Jazzimpresario, …

Die Biografie des Ausnahmesportlers Jesse Owens ist eine Mustererzählung des 20. Jahrhunderts. Vierfacher Goldmedaillengewinner bei der Hitler-Olympiade in Berlin 1936, Ikonendarsteller für die Menschenrechte, Schauläufer gegen Pferde, Kettenraucher, Diskriminierter, Jazzimpresario, Werbeprofi, mehrmals pleite gegangen: Das Lebensprogramm, das der schwarze Ausnahmeathlet, 1917 geboren und 1980 gestorben, absolvierte, reicht mit Sicherheit für mehr als einen Kinofilm.

Allerdings offensichtlich nicht so ganz für den von Stephen Hopkins. Der hat sich zwar mit Stephan James einen sehr guten Hauptdarsteller ausgesucht – und rennt Weltklasse durch die Erzählung von Owens’ Zeit auf der Universität bis zum Bankett zu seinen olympischen Ehren, das er durch den Seiteneingang und den Lastenaufzug betreten darf. In der Uni durfte er nur duschen, wenn es ihm vom weißen Footballteam erlaubt wird; der Ruhm scheint nicht viel wert.

Noch mal richtig gut wird der Film, wenn es um die Diskussionen im Olympischen Komitee geht. Sollen die USA im nationalsozialistischen Deutschland auflaufen? Mit welchem Team? Da fallen Funktionär Avery Brundage prima Argumente ein, warum Juden nicht für die USA starten sollen.

Was ‚Zeit für Legenden‘ hingegen gar nicht hinkriegt, sind Hitler und Konsorten wie Joseph Goebbels, dessen Darsteller Barnaby Metschurat nicht nur optisch eine rechtschaffene Fehlbesetzung ist. Text hat man ihm auch nicht gegeben. Vielleicht hätte das Team den Propagandaminister vorher mal googeln sollen.

Gründe, den Film komplett zu verreißen, sind das trotzdem nicht. Was in der Hauptsache an James’ darstellerischen Fähigkeiten liegt. Darüber hinaus überzeugen einige Szenen in ihrer Modellhaftigkeit: Das Problem, dass Politik im Sport bis heute nichts zu suchen hat, wird mehrfach bei den Komitee- und Politikertreffen ausgeleuchtet. Jeremy Irons glänzt hier als Prototyp aller korrupten Funktionäre in der Rolle des US-Sportpolitikers Brundage, dem bei den olympischen Verhandlungen mit den Nazis wie beiläufig auffällt, dass er ja auch noch ein Bauunternehmen hat.

Owens hingegen ist am anderen Ende der Skala: Soll er das Sportfest boykottieren, um ein starkes Zeichen zu setzen, oder soll er einen extrastarken Wettkampf abliefern? Eine Debatte wie von heute. Nennen wir es eine Studie, eine sehenswerte.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 8/2016

Rudolf Thome – Überall Blumen

(D 2016, Regie: Serpil Turhan)

Arbeit gegen die Vergänglichkeit
von Wolfgang Nierlin

Das Filmerbe lagert in einer alten Scheune. Bedeckt von Staub und Spinnweben, finden sich hier Kopien, Requisiten, Plakate und Klappen. Es sind Gegenstände, in denen Filmgeschichte gespeichert ist und die …

Das Filmerbe lagert in einer alten Scheune. Bedeckt von Staub und Spinnweben, finden sich hier Kopien, Requisiten, Plakate und Klappen. Es sind Gegenstände, in denen Filmgeschichte gespeichert ist und die persönliche Geschichten erzählen. Öffentliches Interesse und private Erinnerungen vermischen sich in ihnen, sind förmlich miteinander „verwachsen“ – wie der Bauernhof im brandenburgischen Örtchen Niendorf, wo Rudolf Thome lebt, und dessen Filmemachen, das nach 28 Langfilmen an ein Ende gekommen scheint. „Das braucht man alles nicht mehr“, sagt der Regisseur von „Rote Sonne“ und „Berlin Chamissoplatz“ mit leichter Wehmut und wünscht sich zugleich, es wäre anders. Denn der 1939 geborene Thome, der gern ein wenig bekannter wäre und der seit seinem 2011 entstandenen „Ins Blaue“ keinen Film mehr realisieren konnte, hat Sorge, „aus dem Gedächtnis der Filmwelt zu verschwinden“. Einmal vergleicht er sich deshalb mit einem Mann im Treibsand, von dem nur noch der Kopf zu sehen ist, während der Körper immer mehr versinkt.

Serpil Turhans Film „Rudolf Thome – Überall Blumen“ richtet sich gewissermaßen gegen dieses allmähliche Verschwinden, das einen thematischen Rahmen bildet. Indem Thome ein neues Drehbuch beginnt, obwohl die Finanzierung noch ungewiss ist, und Turhan dies dokumentiert, arbeiten die beiden gegen die Vergänglichkeit. „Man muss immer positiv denken, sonst hätte ich schon längst keinen Film mehr gemacht und würde auch jetzt nicht dieses Drehbuch schreiben“, sagt Thome einmal zu seiner Tochter Joya, die selbst einen Film drehen will und dem Vater verspricht, ihn beim Crowdfunding seines Projekts zu unterstützen. Für Rudolf Thome, der früh seine geliebte Mutter verloren hat und der in einer Tagebucheintragung auch vom Tod seines zweiten Sohnes Max und seines langjährigen, ihm sehr nahe stehenden Kameramannes Martin Schäfer spricht, ist die künstlerische Arbeit aber nicht nur ein Mittel gegen das Vergessen, sondern vor allem der Versuch, von möglichst vielen Menschen geliebt zu werden.

Sein mit vielen Fotos und kurzen Filmen angereichertes Internet-Tagebuch ist insofern ein weiteres Kommunikationsmedium, mit dem Thome sein (künstlerisches) Leben „rettet“, indem er es mit anderen teilt. Immer wieder zitiert Serpil Turhan daraus, während sie in ruhigem, fast bedächtigem Rhythmus Thomes Alltag auf seinem Bauernhof dokumentiert. Dieser wird bestimmt von täglichen Ritualen und Routinen, der Arbeit im Garten inmitten einer üppigen Pflanzen- und Blumenwelt sowie Thomes täglichen Fahrradtouren. So entsteht ein ebenso intimes wie liebevolles Portrait, das unverstellt und direkt einen mal ungeduldigen und schroffen, dann wieder nachdenklichen und gefühlvollen Menschen zeigt. Spontan, fast absichtslos und wie nebenbei entwickelt Turhan, die in früheren Thome-Filmen als Schauspielerin und Assistentin mitgewirkt hat, Motive und Themen. Dabei teilt sie mit dem Portraitierten eine „Liebe zur Poesie des Alltäglichen“. Als Thome für sich erkennt, dass ihm wohl die Kraft fehlt, mit weniger als den einmal erreichten Produktionsstandards einen weiteren Film zu drehen, geht auf melancholische Weise ein Lebensabschnitt zu Ende. Zugleich beginnt jedoch ein neuer, für den der optimistische Filmemacher sich vornimmt, seine Autobiographie zu schreiben und neunzig Jahre alt zu werden.

Lou Andreas-Salomé

(D 2016, Regie: Cordula Kablitz-Post)

Selbstermächtigung einer starken Frau
von Wolfgang Nierlin

Die Filmemacherin Cordula Kablitz-Post hat ihr Biopic über die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé raffiniert konstruiert: Während die Nazis im Mai 1933 öffentlich Bücher der von ihnen verfemten Autoren verbrennen, arbeitet die …

Die Filmemacherin Cordula Kablitz-Post hat ihr Biopic über die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé raffiniert konstruiert: Während die Nazis im Mai 1933 öffentlich Bücher der von ihnen verfemten Autoren verbrennen, arbeitet die 72-jährige, altersschwache Dame (Nicole Heester) zusammen mit dem jungen, unglücklichen Germanisten Ernst Pfeiffer (Matthias Lier) in Göttingen an ihren Memoiren. Ihre Lebenserinnerungen stehen also von vornherein gegen das offiziell betriebene Vergessen durch ein barbarisches Regime, dessen Drohungen immer vernehmlicher werden. Zugleich nutzt die Regisseurin diesen Ausgangspunkt für Rückblenden in das bewegte Leben der emanzipierten Philosophin (Katharina Lorenz), das von Begegnungen mit zahlreichen Künstlern und Gelehrten geprägt war. Das Vergrößerungsglas, das die Portraitierte zum Lesen benutzt, ist deshalb zugleich das Instrument, mit dem Kablitz-Post auf exemplarische Weise bedeutende Episoden einer ungewöhnlichen Frauen-Biographie erhellt.

Dass es sich bei biographischen Arbeiten nur um die „halbe Wahrheit“ handeln könne, gibt die betagte Intelektuelle selbst zu bedenken. Insofern fokussiert Cordula Kablitz-Post ihren Film „Lou Andreas-Salomé, der mit einem stummen Nein beginnt, vor allem auf die Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung. Diese steht ziemlich quer zu den gesellschaftlichen Konventionen der Zeit. 1861 in St. Petersburg als Jüngste neben fünf Brüdern geboren, leidet das widerspenstige Mädchen zudem unter dem frühen Verlust des geliebten Vaters. „Werde die, die du bist“, sagt dieser einmal zu ihr. Zum Mentor und Vaterersatz wird ihr dabei der geistliche Privatlehrer der Familie, der durch seine Übergriffigkeit die Heranwachsende (Liv Lisa Fries) allerdings traumatisiert. Erst ihre spätere Begegnung mit Sigmund Freud (Harald Schrott) in den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts bringt dieses verdrängte Kapitel zur Sprache.

Dazwischen liegen ihre Studienjahre in Zürich, ihre Kämpfe mit der Mutter, eine schwere Lungenkrankheit, vor allem aber ihre einschneidende Begegnung mit den geistesverwandten Philosophen Paul Rée und Friedrich Nietzsche in Rom. Doch noch wehrt Andreas-Salomé die Heiratsanträge ihrer zahlreichen Verehrer, die reihenweise liebeskrank oder verrückt werden, ab. „Kameradschaft, sonst nichts!“, lautet das Credo der Heiratsunwilligen, die nach Freiheit und Unabhängigkeit als Voraussetzungen für eine geistige Vervollkommnung strebt. Apollinisches und dionysisches Prinzip liegen bei ihr, Nietzsche folgend, in einem harten Konflikt, der erst später in ihrer leidenschaftlichen Liebesbeziehung zu dem um fast fünfzehn Jahre jüngeren Dichter Rainer Maria Rilke besänftigt wird.

„Sofern du willst ein Leben haben, raube dir’s.“ Dieses leitmotivische Zitat von Lou Andreas-Salomé beflügelt in weiten Teilen auch Kablitz-Posts Portrait einer unkonventionellen Künstlerin und starken Frau, die für viele Weggefährten zur Förderin und Inspirationsquelle wurde. Allerdings gerät der Regisseurin das Exemplarische dieses emanzipatorischen Widerspruchs gemäß den genretypischen Konventionen arg plakativ. Da muss das Mädchen auf Bäume klettern, als unfreiwillige Konfirmandin im Gottesdienst dem Pfarrer provozierend widersprechen oder als junge Gelehrte in der Begegnung mit Gleichgesinnten druckreif philosophische Sätze aufsagen. Das ist zwar meisten unterhaltend und manchmal sogar (unfreiwillig?) komisch, aber eben auch oberflächlich. Gelungener ist der Film in seiner motivischen Gestaltung. So befördert Lou Andreas-Salomés Analyse bei Freud neben der Bearbeitung ihres Traumas auch die Frage nach ihrer narzisstischen Persönlichkeit. Und ihre Begegnung mit Pfeiffer, die manchmal einem letzten Flirt mit einem seelenverwandten Verehrer ähnelt, akzentuiert neben der „geretteten Erinnerung“ noch einmal ein komplizenhaftes Lehrer-Schüler-Verhältnis.

Deutschland. Dein Selbstporträt

(D 2016, Regie: Sönke Wortmann)

Ein Film wie eine Nationalhymne
von Jürgen Kiontke

Die Deutschen schauen gern in den Spiegel. Jetzt haben sie einen ganzen Film aus dieser Macke gemacht, eine Art Gesamtselfie aller, die da mitmachen wollten. Auf einer Homepage konnte man …

Die Deutschen schauen gern in den Spiegel. Jetzt haben sie einen ganzen Film aus dieser Macke gemacht, eine Art Gesamtselfie aller, die da mitmachen wollten. Auf einer Homepage konnte man Videos hochladen, in denen man zu sich und sonst so Stellung beziehen konnte. Deutschlandmuckel Sönke Wortmann schnitt daraus eine Art Best-of Germany, zunächst ein bisschen à la lustige Unfallvideos auf RTL2.

„Das ist meine Wohnung, penibel eingerichtet, ein bisschen unaufgeräumt, wie mein Seelenzustand“, kommentiert eine lädierte Frauenstimme ihr Video. „So ist es, wenn man von Freunden und Ehemann verlassen wurde. „Dunkel, dunkel, dunkel.“ Ey, super Film. Leider bleibt‘s nicht so lustig. Es ist der 20. Juni 2015, „Deutschland“ ist aufgerufen, diesen Tag bei sich zu Hause zu filmen und einzuschicken.

Es gibt Leute, die machen bei so was mit. Am frühen Morgen ist die Stimmung am besten. Es treten auf: deutsche Mutter, deutsche Ente, deutscher Autofahrer. Und der deutsche Hippie moniert: Wir hätten viel zu viele Gesetze, zum Beispiel sei das Wasserklosett vorgeschrieben.
Was den Deutschen außerhalb sanitärer Einrichtungen wichtig ist: Liebe, Freunde, Kuscheln, Behinderte, 3. Weltkrieg, Sex, Auto und das Wetter. Und Musik: Die ist so penetrant nationalpathetisch, dieses Selbstporträt hätte es auch zu längst vergangenen Zeiten schon getan.

Aus ungewöhnlichen Ecken des Landes stammen viele Filme: Aus dem Trachtenclub, den Vegetariern, dem Knast in Kassel, wo der Justizvollzugsbeamte sagt: „Ich liebe meine Arbeit, die festen Strukturen.“ Auch olle Asylbewerber findet Deutschland gut, blöd ist das mit der Duldung seit 23 Jahren. „Die, die jetzt kommen, sind gleich anerkannt“, schimpft der junge Libanese. Ach, schau mal: Der Ausländer schimpft über Ausländer. Irgendwann geht’s dann mit den Kindern los, den Blonden. – „Was ist für dich Deutschland“? – „Brabbelbrabbel“, es antwortet die Dreijährige. Darf man sowas überhaupt, die Gören so für politische Zwecke verwursten?
„Deutschland ist…“, brüllt der Film ab jetzt bis zum Abspann. 40 Minuten sind‘s noch. „…So toll, so super, so Deutschland!“, schallt’s aus dem Wald.

Da haben dann alle schon Schwarz-Rot-Gold an, und ein bisschen ist es wie am Ende von „Er ist wieder da.“ Ein Film wie eine Nationalhymne. Alle Strophen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 7/2016

Bastille Day

(GB/USA/FR 2016, Regie: James Watkins)

Rechts blinken, links zuschlagen
von Nicolai Bühnemann

Eine nackte junge Frau schreitet die Treppen vor Sacre-Coeur hinab. Die so abgelenkte Aufmerksamkeit geifernder, applaudierender, eifrig fotografierender Männer macht sich Michael Mason (Richard Madden) zunutze, um ihnen mit flinken …

Eine nackte junge Frau schreitet die Treppen vor Sacre-Coeur hinab. Die so abgelenkte Aufmerksamkeit geifernder, applaudierender, eifrig fotografierender Männer macht sich Michael Mason (Richard Madden) zunutze, um ihnen mit flinken Füßen und noch viel flinkeren Fingern allerlei Wertgegenstände zu entwenden. Beinahe tänzelnd bewegt er sich von einem seiner Opfer zum nächsten. Ebenso flink wird er wenig später in der U-Bahn die junge Frau, die sich inzwischen angezogen hat, abservieren. Damit beendet der Film auch das Thema Paar-Beziehungen, da ist er noch keine fünf Minuten alt, ohne jemals wieder darauf zurück zu kommen. Im weiteren Verlauf geht alles so schnell und ist dabei derart aufs Wesentlichste reduziert, dass für Liebesdinge schlichtweg keine Zeit bleibt.

Michael ist Amerikaner, der sich in Paris sein Geld damit verdient, die Dinge zu verhökern, die er mit größtem Geschick klaut. Jedoch nimmt sein Schicksal eine unerwartete Wendung, als er eines Nachts der jungen Zoe (Charlotte Le Bon) eine Tasche klaut, die er, weil sie nichts Brauchbares enthält, auf einem Platz achtlos hinter sich schmeißt – und es plötzlich gewaltig rumst und vier Menschen ihr Leben verlieren. Denn in der Tasche befand sich eine Bombe, die Zoe in der vermeintlich leeren Zentrale einer nationalistischen Partei platzieren sollte, wobei sie jedoch einen Rückzieher machte, als sie merkte, dass sich in dem Gebäude eine Putzkolone befand. Michael wird zum Terrorverdächtigen und gerät damit ins Visier des in Paris operierenden, knallharten CIA-Agenten Sean Briar (Idris Elba), den er jedoch bald von seiner Unschuld überzeugen kann. Gemeinsam mit Zoe suchen sie nach den wahren Terroristen und kommen dabei einer Verschwörung auf die Spur, die sich in bis in höchste Regierungskreise erstreckt.

Die Figur des hart gekochten, kräftig zupackenden Agenten, der es mit seinen Vorgesetzten und ihren Befehlen eher nicht so hat, sieht Regisseur James Watkins, der sich mit seinem Debüt, dem noch in seiner britischen Heimat entstandenen Backwood-Splatterfilm „Eden Lake“ (2008), selbst als Mann fürs Grobe vorstellte, in der Tradition von Filmen wie „Dirty Harry“, „The French Connection“ oder „48 Hours“. Nun sind solche Vergleiche zur klassischen Moderne des Action-Kinos leicht gezogen, besonders wenn es darum geht, einen Film zu vermarkten. Das Erstaunliche ist aber, dass Idris Elba, der sich mit seiner Rolle als Dealer Stringer Bell in der visionären HBO-Serie „The Wire“ für Hollywood empfahl, tatsächlich eine Ausstrahlung und eine rein physische Präsenz an den Tag legt, wie sie Clint Eastwood, Gene Hackman oder Nick Nolte in ihren besten Tagen hatten (und tatsächlich steht Elba trotz seines hünenhaften Äußeren eher in der Tradition dieser Action-Mimen als der Generation nach ihnen, in den Achtzigern um Schwarzenegger und Stallone).

Georg Seeßlen schrieb über „Dirty Harry“ einmal, dass der Film mitnichten so rechts sei wie sein Protagonist. Das Update dieser Figur ist in der sich stetig verkomplizierenden politischen Realität des Jahres 2016 längst aus allen ideologischen Zusammenhängen gefallen. Die Motivation seines Handelns hat nichts mehr mit irgendwelchen Weltbildern zu tun. Einmal behauptet er, er tue, was er tut, weil sein Widersacher eine von ihm sehr geschätzte CIA-Kollegin auf dem Gewissen habe, aber das bleibt wenig glaubhaft. Vielmehr geht es ihm wohl um die pure Lust am Prügeln und Schießen und Befehle missachten. Und man kann Elba kaum genug dafür loben, dass dieser Brutalo-Anarchist, dem der Filme konsequent eine Back- oder Lovestory sowie jegliches andere Attribut verweigert, dass ihn menschlicher machen könnte, nicht nur charmant, sondern sogar sympathisch wirkt.

Noch viel toller ist es allerdings, dass diese Figur in den Kontext eines Films gestellt wird, der entgegen seines sonstigen Tempos ganz langsam eine dezidiert linke Agenda entwickelt. Da bekommt der Super-Agent Hilfe von einem Dieb und einer Frau unter Terrorverdacht, ja, im Finale sogar von linken Demonstranten, die eine Bank stürmen und damit in Anlehnung an den Titel gar eine neue Französische Revolution ausrufen, die für Momente geradezu physisch greifbar wird. Da nutzen nationalistische Politiker den Terror, um in den Nachrichten gegen muslimische Zuwanderer zu hetzen, von denen denn auch einer, wie wir ebenfalls aus den Nachrichten erfahren, von der Polizei auf einer Demo krankenhausreif geschlagen wird (das Paris des Films, der durchweg an Originalschauplätzen gedreht wurde, sieht sowieso nur manchmal aus wie aus der Gauloises-Werbung und wird inhaltlich mehr und mehr zu einem sehr konkreten historischen Ort). Da wird der Terrorismus zum Deckmantel, unter dem Leute aus den höchsten politischen Kreisen agieren, denen es, wie ihren Vorgängern im ersten „Stirb langsam“-Film, letztlich nicht um Politik, sondern um sehr viel Geld geht. Im Kontext des Genres mag man an Steven Seagal denken, der nach den Ausführungen seines großen Apologeten Vern, im Gegensatz zu seinen reaktionären Kollegen, Action-Filme immer wieder mit linken Politics anreichert oder auch an eine wesentlich konkretere Version des rührend infantilen Anti-Establishment-Duktus von James Camerons „Terminator 2“ (1992), in dem die Guten Rockerkluft und Public Enemy-T-Shirt und die Bösen fast durchweg Uniform tragen.

Was die Inszenierung der Action anbelangt, ist Watkins kaum etwas daran gelegen, das Rad neu zu erfinden. Er verzichtet auf CGI und setzt stattdessen auf die Unmittelbarkeit von Handkameras, die oft in subjektiven Einstellungen eingesetzt und immer direkt im Geschehen sind. Einen frühen Höhepunkt (und genau das richtige für Menschen mit Höhenangst wie mich) stellt eine Verfolgungsjagd über die Spitzdächer von Pariser Altbauten dar. Später geht es unter anderem im Laderaum eines zeitweise fahrerlos dahin schlingernden Transporters mächtig rund. Das World Building ist in „Bastille Day“, darin ist er „Mad Max: Fury Road“ nicht unähnlich, nichts was unabhängig von der Action geschieht, sondern es entsteht quasi nebenbei, während der Film mit atemberaubender Geschwindigkeit von einem set piece zum nächsten hetzt. Was Watkins gelungen ist, ist ein spektakulärer, brillant gespielter thinking man’s action movie ohne falsche intellektuelle Allüren. Hut ab!

Dies ist die leicht erweiterte Version eines Textes, der zuerst beim Perlentaucher erschienen ist.

Dolls

(I/USA 1987, Regie: Stuart Gordon)

Bad Parents Nightmare oder: Wie Mörderpuppen die schwarze Pädagogik auf den Kopf stellen
von Nicolai Bühnemann

Stuart Gordon und sein – zumindest als Regisseur immer noch sträflich unterschätzter – Kompagnon Brian Yuzna machten sich ab der Mitte der Achtziger Jahre nicht nur zu Erneuerern eines sich …

Stuart Gordon und sein – zumindest als Regisseur immer noch sträflich unterschätzter – Kompagnon Brian Yuzna machten sich ab der Mitte der Achtziger Jahre nicht nur zu Erneuerern eines sich in endlosen Slasher-Sequels und –Rip-Offs totlaufenden amerikanischen Horrorkinos, sie zählen mit ihren betont kleinen Filmen auch zu den großen subversiven Kräften des amerikanischen Films ihrer Zeit überhaupt. So wie die Splatterfilme von Craven, Hooper oder Romero in den Siebzigern auch als grimmige Antworten auf den Watergate-Skandal und den Krieg in Vietnam gelesen werden können, so reagieren Gordon und Yuzna mit den ihren auf die Zumutungen einer von der Politik von Reagan und Thatcher – und ihren Nachahmern – geprägten Dekade.

So formuliert etwa ein Film wie Yuznas erste – und wohl nach wie vor beste – Regiearbeit „Society“ (1989), weit über ihre ja schon im Titel steckende Gesellschaftskritik, durch die geradezu infantile Lust am deformierten, entgrenzten, fragmentierten, de- und rekonstruierten Körper Einspruch gegen die Körperpolitik des Neoliberalismus. So wird der durch diese Rolle zur Kultfigur unter Genre-Aficionados avancierte Jeffrey Combs als mad scientist Herbert West in den „Re-Animator“-Filmen, der die Toten wiederauferstehen lässt, einfach nur, weil er es kann, auch zum Albdruck eines keinem moralischen Gesetz unterworfenen, nur durch die eigenen Möglichkeiten der Reproduktion gezügelten Kapitals. Und was den sein berufliches Instrumentarium zum wirklich fiesen Morden missbrauchenden Zahnarzt aus Beverly Hills in den „Dentist“-Filmen anbelangt, well, you catch my drift …

Wie passt nun „Dolls“, 1985 unter der Regie von Gordon und der Produktion von Yuzna in Italien gedreht, aber erst 1987 in die Kinos gebracht, in dieses Bild? Nun, vielleicht sollte man damit beginnen anzumerken, dass wir es hier mit einem, auch für Gordon/Yuzna-Verhältnisse, in jeder Hinsicht kleinen Film zu tun haben. Mit wahrscheinlich recht überschaubarem Budget und – sieht man von der Vielzahl mordender Spielzeuge einmal ab – noch überschaubarerem Figurenensemble, erzählt „Dolls“ in kompakten 78 Minuten einen Plot, der zum Großteil in einem einzigen, freilich recht riesigen Haus spielt, und locker auf einen Bierdeckel passt. Dazu passt, dass sich die kritischen Töne hier nicht auf ein gesellschaftliches großes Ganzes beziehen, sondern vielmehr auf die Keimzelle der Gesellschaft abzielen: die Familie.

Und die Familie, Vater, (böse) Schwiegermutter, kleine Tochter, die wir in den ersten Szenen im Auto kennenlernen, ist kein Ort, an dem ein Kind großgezogen werden sollte, soviel steht fest! Die beiden ihre wohl chronische schlechte Laune sowieso schon permanent an der siebenjährigen Judy auslassenden Erwachsenen werden noch garstiger, als sie bei ihrem Urlaub im englischen Hinterland mit dem Auto im Schlamm stecken bleiben. Unterschlupf bietet ein altes Anwesen, das – scheinbar! – nur von dem alten Puppenbauer Gabriel Hartwicke (Guy Rolfe) und seiner Frau Hilary (Hilary Mason) bewohnt wird, und in dem schon der Kindskopf Ralph (Stephen Lee) mit zwei punkigen Anhalterinnen Zuflucht vor dem Gewitter gefunden haben. Doch Judy, die schnell in Ralph (der eigentlich gar nicht viel machen muss, außer ängstlich und in jeder seiner Bewegungen entschieden unerwachsen zu wirken, um eine der tollsten Figuren des Kinos der Achtziger zu werden) einen Verbündeten findet, bemerkt sehr bald, dass hier etwas nicht stimmt. Ist vielleicht an der Geschichte von dem Spielzeug, das, während man schläft, zum Leben erwacht, etwas dran? Und geht es bei diesem Eigenleben der vermeintlich unbelebten Puppenwelt am Ende gar mörderisch zu?

„Dolls“ setzt auf routinierten Grusel, der durch die finsteren, immer wieder vom draußen tobenden Unwetter durchblitzten Gänge des Anwesens und die wirklich creepy animierten Puppen entsteht. Dazu kommen noch einige recht garstige blutige Kills. Die Angstphantasie von dem lebenden bösen Spielzeug entwickelt sich am Schluss zur Erfüllung der Rachephantasie vom Anfang, aus der einen nun kein stiefmütterlicher Klaps mehr wecken kann. Dabei bleibt das Ende gerade dadurch ambivalent, dass es scheinbar so ganz und gar auf Ambivalenzen verzichtet, sich ganz auf die Seite der Kinder und Kind gebliebenen schlägt und die geldgeilen, gehässigen und gefühlskalten Erwachsenen von nun an dazu verdammt, Ihresgleichen zu zerfleischen. Schwarze Pädagogik einmal anders herum.

Der in Deutschland vollkommen unzeitgemäßerweise immer noch indizierte Film liegt in Österreich auf einer ordentlichen Blu-Ray-Edition von Koch Media und NSM vor.

Independence Day: Wiederkehr

(USA 2016, Regie: Roland Emmerich)

Sie versuchen es noch einmal!
von Drehli Robnik

Anmerkungen zu Postmemory und Realpolitik in ‚Independence Day: Wiederkehr‘ London liegt in Trümmern, ein Land ist ohne Führung, aber willens, seinen Unabhängigkeitstag neu zu definieren. Zugleich kommt es zu einer …

Anmerkungen zu Postmemory und Realpolitik in ‚Independence Day: Wiederkehr‘

London liegt in Trümmern, ein Land ist ohne Führung, aber willens, seinen Unabhängigkeitstag neu zu definieren. Zugleich kommt es zu einer Häufung von Präsidentenfiguren: Eine davon ist gewählt (das aber nur für kurze Zeit), eine ist ein charismatischer Altpräsident, eine ist ein interimistisches Vertretungsstaatsoberhaupt in Waffen. Währenddessen wittern feindselige Mächte, deren Eroberungsversuch damals nur ganz knapp abgewehrt werden konnte, ihre zweite Chance – und bekommen sie. Das ist endlich mal Katastrophen-SciFi mit Zeitbezug – nicht nur in Großbritannien nach dem Brexit-Votum und in Österreich nach dem Wahlwiederholungsentscheid. Das ist ‚Independence Day: Wiederkehr‘.

Im Sommer vor einer US-Präsidentenwahl legt Hollywood sich nicht gern fest (installiert nicht gern eine definitives Oberhaupt, sondern deren drei). Da trifft sich auch gut, dass Frauen, sofern sie hier nicht als Kriegerbraut oder im Pflegedienst fungieren, im baldigen Abgang (Exit) sind: Letzteres widerfährt denn auch der farblosen (weißen) US-Präsidentin – also übernimmt ein General (Eventmovie-Urgestein William Fichtner) die provisorische Staatsführung im Abwehrkrieg. Derweil treiben Pflichtgefühl und senile Bettflucht den Mann, der in Teil 1 Bill Clinton nachempfunden war (beide Male gespielt von Bill Pullman), als Altpräsident zurück in den Kampf.

‚Independence Day‘ beschwor 1996 ein globales Amerika im Zeichen von poppiger Geschichtsverwurstung (Zweiter Weltkrieg, Alien-Mythen des Kalten Krieges, Aufbrüche und Konflikte der Sixties) und von Multikultur, mit Akzent auf Kultur, vom Multi nicht zuviel: Postpolitische Memory Culture, Differenzen kontrolliert und begrenzt, in Form von Diversität zur Schau gestellt. Roland Emmerichs Neuauflage ersetzt die 1990er Gemeinschaftsparameter von Kultur und Gedächtnis durch die aktuellen von Geo- und Realpolitik (wie es schon im Vorjahr ein anderes Reboot, „Jurassic World‘, tat): Meines Feindes Feind ist mein Freund, also schmieden wir pragmatische, aber schwach fundierte Allianzen – das gilt für zentralafrikanische Warlords, für eine zweite Alien-Fraktion, gar für eine Französin (Charlotte Gainsbourg, heiser wie immer, diesmal in Safari-Shorts). Anstelle der zentralen Black-Jewish-Alliance Smith-Goldblum von 1996 trumpft nun die Welt- und Markt-Macht China auf und liefert halbe Hauptfiguren, zumal den Kommandeur der Mondstation und dessen Tochter.

Überhaupt sind hier alle Söhne und Töchter von irgendwem, zum Teil von Vorfahren aus dem ersten Film, zum Teil einfach so, weil die Realpolitik der Zweckbündnisse und zu umschmeichelnden neuen Absatzmärkte wenig an dauerhaften Bindungen zulässt, wenig an institutionellen Referenzen. Da bietet sich die Familie im Sinn eines stolzen Stammbaums an; der verweist nun aber weniger ins kulturelle Gedächtnis zurück (als Geschichtsüberformung nach Art der 1990er, siehe am allerexemplarischsten ‚Forrest Gump‘), auch nicht in die B-Movie-Historie, die ‚Independence Day‘ damals zur imperialen Staatskunst der Ironie als verordnetem Massenhabitus erhob. Sondern: Referenz ist nun vor allem der zwanzig Jahre alte Film selbst (den Emmerich persönlich seitdem noch gefühlte fünf Mal, de facto aber nur drei Mal in abgewandelter Form neu gedreht hat) – für den neuen Film, dessen Plot mit Gedenkfeierlichkeiten zu einem zwanzig Jahre zurückliegenden Krieg beginnt. Bei diesen Feiern hat der Ende 2015 verstorbene Schauspieler Robert Loggia einen letzten Filmauftritt, als greiser General, der eine Einstellung lang von der Veteranentribüne der ‚War of ’96‘-Gedenkzeremonie runtergrinst und dabei noch lächerlicher aussieht als mit der Camouflage-Mütze, die er vor zwanzig Jahren in ‚Independence Day‘ trug.

Staatsmachtträger treten hier als entweder lächerlich, dezentriert oder auf mehrere Figuren verteilt auf (die drei Präsis, keine/r davon ‚richtig‘). Das entspricht einem Zustand, in dem drei Präsidenten – zwei aus postpatriarchalen bzw. bürgerrechtlichen Nachfolgebewegungen der langen Sixties stammend (Clinton, Obama), einer aus dem Polit-Biotop der aggressiv Marktwirtschaftsdemokratie exportierenden Neocons (Bush jr.) – enttäuschte sozialstaatliche Hoffnungen bzw. desaströs gescheiterte Expansionsprojekte zurücklassen und die nachfolgenden Machthabenden durch Toupets, Irrsinn, Skandale (oder in exotischen Ländern durch verfassungsgerichtlich angeordnete Wahlwiederholung) so kompromittiert sind, dass das Eventkino die Formen ihrer – übersetzten – Bildwerdung (oder Anbetung) erst entwickeln wird müssen. Überhaupt: Welche Staatsmachtsymbole sollen Alien-Invasoren 2016 denn groß zertrümmern, wenn das Weiße Haus 1996 von Emmerich synchron mit Kapitol, New York und Los Angeles außerirdisch zerstrahlt und seitdem in mehreren Actionfilmen verwüstet wurde? Folgerichtig wird das Weiße Haus diesmal durch eine Flutwelle mit allerlei Großgeröll ’nur‘ gedepscht und geknickt. Dafür sind in ‚die Sequenz‘, die es in jedem Emmerich-Film geben muss, rezente historische und als Medienevents global halbwegs erinnerliche Zerstörungsereignisse eingearbeitet – der Tsunami, Hurricane Katrina sowie die terroristische Realinszenierung von 9/11, weshalb diesmal nicht mit Autos, sondern mit Megagerät geworfen wird: Es regnet Passagierjets. Und es hagelt Oneliner, die uns darauf einschwören, dass dieser Film an seinem Vorgänger zu messen und als größer einzustufen ist; einer davon ist sogar ganz lustig – ‚They like to get the landmarks,‘ wird trocken vermerkt, als die Alien-Armada gerade Londons Tower Bridge zerstört.

Der Rest ist ein langer Film, der sich kurz abhandeln lässt. Die Rechenleistung hat sich seit damals erhöht, Luftkampf und Telepathie werden diesmal zu Routinehandlungen für den kleinen Gusto zwischendurch, ‚Transformers‘ war eh auch öd, und der andere Hemsworth ist eh auch fesch. Jeff Goldblum meint es gut, Will Smith wusste es besser, und am Ende – als einmal mehr in der strahlend weißen Salzwüste Tabula Rasa gemacht und rasende Mehrfachhochzeit gefeiert wird (was aber nur noch wenig Sinn abwirft, weil in diesem Film andere Soziierungsformen dem bürgerlichen Paar den Rang abgelaufen haben: neben der Herkunftfamilie ist dies der sozial vernetzte Freundeskreis, der sich dauernd updatet und bei irgendwelchen turbulenten Ausflügen trifft) –, am Ende ertönen Rufe nach Alien-Asskicking in einem weiteren Sequel, die umso unbeholfener klingen, als dieser Film in den USA gefloppt ist. Na, geh! Sei noch vermerkt, dass hier ein schwules Altherren-Pärchen auftritt, das offenbar dann akzeptabel ist, wenn es die Oberdodln abgibt in diesem Postdemokratie-Panorama am Deppen-Dance-Day.

Ein einsamer Ort

(USA 1950, Regie: Nicholas Ray)

Die feministische Aneignung des Film Noir
von Nicolai Bühnemann

Humphrey Bogart ist großartig als zynischer, getriebener, abgehalfterter, gewalttätiger Hollywood-Drehbuchautor, den wir schon in der ersten Szene als Mann kennenlernen, der keiner Schlägerei aus dem Weg geht. Er gibt alles, …

Humphrey Bogart ist großartig als zynischer, getriebener, abgehalfterter, gewalttätiger Hollywood-Drehbuchautor, den wir schon in der ersten Szene als Mann kennenlernen, der keiner Schlägerei aus dem Weg geht. Er gibt alles, was er hat (und ich sage das als sowieso schon großer Bewunderer dieses Darstellers), um zu verdeutlichen, dass seine Figur, die sich wohl in einer seit Jahren andauernden Schaffenskrise befindet, kein „schlechter Mensch“ ist, sondern jemand, der sich im beständigen Kampf mit sich selbst, mit seinen eigenen Impulsen und Gefühlen befindet. Eine durch und durch zerrissene Figur, der man ihre Zerrissenheit schon in dem von ständigen Stimmungswechseln, ja, -brüchen bestimmten Mienenspiel ansieht.

Und doch bildet das heimliche Zentrum in Nicholas Rays „In a Lonely Place“ nicht er, sondern die Frau, Gloria Grahame. Als seine Nachbarin hat sie ein Auge auf ihn geworfen (sie auf ihn, die Attraktion geht vom Mann aus, das ist entscheidend in diesem Film) und fungiert zunächst als Entlastungszeugin bei der Polizei, als ein junges Naivchen, das Bogart unter dem Vorwand, ihm die Geschichte eines Romans, aus dem er ein Drehbuch machen will, zu erzählen, in seine Wohnung gelockt hat, wenig später ermordet aufgefunden wird. Nach anfänglichem Zögern der selbstbewussten Frau, die nicht nur vorgibt, zu wissen, was sie will, lässt sie sich auf eine Beziehung zu dem Mann ein. Doch Bogarts Temperament, seine auto- und fremdaggressiven Tendenzen lassen sie schon bald wieder an ihrer Entscheidung zweifeln.

Man könnte meinen, dass der Film aufgrund seiner Perspektivierung durch die Frau, die sich gegen die Einwände der Polizei, die Bogart lange Zeit für einen Mörder hält, gegen die Einwände ihrer Masseurin, die sie vor ihm und seinem Wesen warnt, ja, wohl zumindest teilweise auch gegen ihr eigenes besseres Wissen, auf diesen Mann einlässt, eher Melodram als Film noir ist. Vielmehr erscheint mir aber, dass Ray und sein Drehbuchautor Andrew Solt, dessen Script übrigens auf der Kurzgeschichte einer Frau, Dorothy B. Hughes, fußt, ein zentrales Motiv in der typischen (Gender-)Identifikationsstruktur des Noir auf den Kopf stellen. Die – zumindest potenziell – misogyne Geschichte vom Mann, der der femme fatale verfällt, obwohl er doch genau weiß, dass sie für ihn – und seine Konkurrenten um ihre Gunst – nur Verderben bringen kann, wird hier konterkariert durch die Geschichte einer Frau, die ihre Finger nicht von einem gefährlichen Mann lassen kann.

Jedenfalls wenn man „In a Lonely Place“ mit Billy Wilders im gleichen Jahr entstandenen, ungleich berühmteren „Sunset Boulevard“ vergleicht, scheint es, dass Filme über Drehbuchautoren immer auch Filme über die Krise(n) der Traumfabrik sind. Zwar verdeutlicht ein Dialog zu Beginn in einem Club, dass es prekäre Existenzen im Showbusiness mitnichten nur unter den Männern gibt, wenn Bogart eine junge Schauspielerin fragt: „How are you?“ und zur Antwort erhält: „Between pictures.“ Aber für den Hauptplot ist wiederum entscheidend, dass der gefallene Engel, der vom Glamour der Filmwelt nicht (mehr) erleuchtet wird, hier eben wieder der Mann ist. Der script writer als männliche Antwort auf all die Show- und dime for a dance-girls der Filmgeschichte.

Bleibt zu sagen, dass der Film seiner weiblichen Hauptfigur mit wesentlich mehr Verständnis und Empathie begegnet als viele andere Noirs ihren männlichen Pendants, für die die Frau letztlich nur als eine Art Verlängerung des eigenen Todestriebs fungiert. In der schönsten Szene des Films sitzen Bogart und Grahame zwischen anderen Leuten in einem Club an einem Flügel, auf dem eine schwarze Frau (um deren Hautfarbe hier keinerlei Aufhebens gemacht wird) einen wunderschönen romantischen Song spielt. Von der Totalen des Raumes gibt es einen Schnitt auf die Sängerin, die nun nur noch für die beiden singt, die die nächste Einstellung ganz für sich haben. Bogart zündet eine Zigarette an, gibt sie ihr, zündet dann sich eine an (egal, was militante Nichtraucher, die Zigaretten und Tabak heute mit „Schockbildern“ verunstalten lassen, dazu sagen, das zeitgenössische Publikum hat verstanden, dass das eine sehr zärtliche, fürsorgliche Geste ist, und wer wem eine Zigarette anzündet, wer sie annimmt oder auch ausschlägt, sagt in diesem Film sehr viel über die momentane Befindlichkeit des Paares aus), lehnt sich zu ihr hinüber, flüstert ihr ins Ohr, sie lächelt. Dieser Moment gehört ganz und gar ihnen – und wird doch jäh unterbrochen, als ein Polizist mit seiner Frau in der Bar erscheint und Bogart einen seiner „Anfälle“ bekommt, wenn auch einen vergleichsweise milden. Ist „In a Lonely Place“ – mehr oder weniger latent – schon eine ganze Weile auch ein Film über häusliche Gewalt, so wird er es am Schluss ganz explizit. Und bereits 1950 wussten Ray und sein Team, was für ein schwieriges, ambivalentes Thema das gerade für die Frau ist, weswegen es ja bis heute viel zu selten zur Anzeige gebracht wird. Ihr bleiben am Ende in einer endgültigen Aneignung der männlichen Rolle nur noch die Worte, die er geschrieben hat: „I lived a few weeks while you loved me.“ (Und wie viel besser hatte es frau doch damals schon manchmal, wenn sie wenigstens zum Abschied weinen darf!)

Dass der vielleicht wichtigste Film von Nicholas Ray, der sich hier als ganz großer, bedingungsloser Humanist offenbart, immer noch auf seine deutsche Heimmedien-Premiere wartet, ist für den oder die Zuständige für das Verwalten des Backkatalogs von Columbia hierzulande eine große Schande.

Toni Erdmann

(D/A 2016, Regie: Maren Ade)

Verkleidet und nackt
von Wolfgang Nierlin

Zwei Tode rahmen Maren Ades tragikomische Vater-Tochter-Geschichte, von der sie in ihrem Film „Toni Erdmann“ erzählt. Das Uneigentliche, das mit seiner ironischen Distanz zwischen Winfried Conradi (Peter Simonischek) und Ines …

Zwei Tode rahmen Maren Ades tragikomische Vater-Tochter-Geschichte, von der sie in ihrem Film „Toni Erdmann“ erzählt. Das Uneigentliche, das mit seiner ironischen Distanz zwischen Winfried Conradi (Peter Simonischek) und Ines (Sandra Hüller) herrscht, kommt dann für lange Augenblicke zur Ruhe: Wann spürt sich der Mensch als Mensch? Was macht das Leben lebenswert? Und kann man das Glück immer nur in der Rückschau auf vergangene Erfahrungen und Erlebnisse fassen? Diese existentiellen Fragen begleiten die skurrilen Begegnungen zwischen Vater und Tochter, schwingen zwischen ihnen im permanenten Austarieren von Nähe und Distanz. Denn auf ganz verschiedene Weise sind beide Protagonisten Verkleidungskünstler und Maskenträger: Während Musiklehrer Conradi mit Perücke und falschem Gebiss seine Mitmenschen verunsichert, spielt Ines ihre Rolle als Unternehmensberaterin im „Ölbusiness“, die mit „Outsourcing-Projekten“ betraut ist.

Doch eigentlich bleibt ihre abgehobene Arbeit wenig griffig, fast abstrakt. Ihr von Stress, Anspannung und fortwährendem Zeitdruck begleitetes Geschäftsgebaren wird bestimmt von Äußerlichkeiten und Floskeln, verschwurbeltem Fachsprech und inszenierten Scheinkämpfen. Als Ines überraschend von ihrem eher unberechenbaren Vater in Bukarest besucht wird, ist sie einerseits peinlich berührt, weil der unkonventionelle Winfried ziemlich quer zu ihrem Alltag steht; andererseits fühlt sie sich an ihre Tochterpflichten erinnert. Sehr genau blickt Maren Ade mit den Augen des außenstehenden Vaters, den die Tochter am liebsten verstecken würde, auf die von hierarchischen Strukturen und unwürdigen Machtspielen geprägte Arbeitswelt von Ines. Existenzängste und eine tiefsitzende Einsamkeit beherrschen ihr Tun, dessen Brüchigkeit in vielen Details immer wieder aufblitzt und das zudem kontrastiert wird mit der Armut der umgebenden rumänischen Gesellschaft.

Als Winfried nach einer Auseinandersetzung früher als geplant abreist, ist Ines fast schon erleichtert. Doch dann kehrt der Vater völlig unerwartet in der ziemlich schrägen Gestalt des titelgebenden Helden Toni Erdmann zurück und konfrontiert mit seiner falschen Identität die Tochter mit ihrem Leben. Das führt zu einer Reihe grotesker Situationen und Verwicklungen, die aber nie nur komisch und irritierend sind, sondern immer auch ein bisschen traurig. Sehr realistisch übersetzt Maren Ade den familiären Konflikt zwischen Nähe und Distanz in ein schillerndes Spiel zwischen Verstellung und Echtheit, Verkleidung und Nacktheit. Auf dessen Höhepunkt singt Ines, von ihrem Vater am E-Piano begleitet, eine wunderbar gefühlvolle und zugleich vielfach gebrochene Version von Whitney Houstons Songklassiker „Greatest love of all“. Erst danach können die Hüllen fallen und kann Ines sich für einen zärtlichen Moment fallen lassen – ins wärmende, schützende Zottelfell des als Kuker verkleideten und damit die bösen Geister vertreibenden Vaters.

Der Bunker

(D 2015, Regie: Nikias Chryssos)

'Das ist Erziehung'
von Nicolai Bühnemann

„Da kommt ja gar kein Licht hinein.“ „Aber auch keines hinaus.“ Und ums nicht (recht) Hineinkommen und (nie wieder) Hinauskommen geht es im Langfilmdebüt von Nikias Chryssos (Regie, Drehbuch, Produktion). …

„Da kommt ja gar kein Licht hinein.“ „Aber auch keines hinaus.“ Und ums nicht (recht) Hineinkommen und (nie wieder) Hinauskommen geht es im Langfilmdebüt von Nikias Chryssos (Regie, Drehbuch, Produktion). Der da zu Beginn hinein kommt in die Bunkerwohnung, aber bei dem, was hier vor sich geht, doch lange Zeit außen vorbleibt, ein Fremder, ist der Student (Pit Bukowski gibt ihn mit charakteristischer Hasenscharte und zunächst stoischer Ruhe angesichts des Abstrusen, ja, auch Grausamen, was ihm hier begegnet, unter der man doch mehr und mehr das Brodeln wahrnimmt). Abgeschiedenheit und Ruhe sucht er für seine Studien, die, wie so manches in diesem Film, absolut kryptisch, ein Rätsel bleiben. Die Schneelandschaft, durch die er den Bunker in den ersten Szenen erreicht, lässt kunstvoll offen, wie es um den Rest der Welt, (zumindest den Rest von Deutschland, denn hier befinden wir uns bei aller Abgeschiedenheit, allem aus Zeit und Raum Fallen des hermetisch abgeriegelten Schauplatzes) doch sehr deutlich bestellt ist.

Der ihn aufnimmt in seinen Bunkerkeller, in den kein Licht hinein kommt und keines hinaus, das ist der Vater (schnurrbärtig schmierig: David Scheller). Er macht dem Neueingetroffenen erst einmal ein Fußbad, was man mit Oliver Nöding schon deshalb nur schwer für ein Zeichen christlicher Nächstenliebe halten kann, weil er denkbar grotesk darüber witzelt, aus dem Wasser anschließend ein leckeres Süppchen für alle zu kochen. Zu der Familie, in die der Student hineingerät, gehören außer ihm noch die Mutter (matriarchalisch bis hysterisch: Oona von Maydell), sowie der achtjährige Sohn Klaus, der als einziger einen Eigennamen trägt, der über seine Funktion in der Versuchsanordnung dieses Films hinausgeht, und von einem erwachsenen, beeindruckend geschminkten Darsteller (noch verstörender als das restliche Personal: Daniel Fripan) gespielt wird.

Vier Figuren (fünf, rechnet man „Heinrich“ mit, eine Art Gottheit, die den Körper der Mutter bewohnt und durch eine vage cronenbergeske Wunde an ihrem Bein in Erscheinung tritt), ein Bunkerhaus, das die Kamera nur einmal verlässt und das auch nur, um zu zeigen, dass es draußen auch nichts gibt außer Schnee und kahlen Bäumen und den Bunkereingang, das ist das Ensemble und die Welt von „Der Bunker“. Chryssos filmt das mit größtem Gespür für Atmosphäre und Stimmung in Einstellungen, die luft- und lichdicht erscheinen und bei denen nur äußerst selten jemand den Bildkader betritt oder verlässt, die Figuren meist so statisch bleiben wie die Kamera. Die Scope-Blicke der Kamera können niemals in die Weite gehen, immer nur die vage an die Fünfziger erinnernde Tristesse des titelgebenden Schauplatzes mit einfangen. Jedes Bild ein eigener Bunker.

Es begibt sich nun, dass der Student, weil er bei den Knödeln noch mal einen Nachschlag nimmt, Schulden bei seinen Vermietern akkumuliert, die er begleichen soll, indem er Klaus unterrichtet. Der Bambusstecken wird ihm vom Vater gleich beim Betreten des Klassenzimmers gezeigt, von dem Gebrauch zu machen sei, sollte Klaus nicht parieren. Und mindestens so enervierend wie die Lernresistenz des Schülers sind die ständig wiederholten Fragen des Lehrers („Hauptstadt von Frankreich?“), die mit einem Nachdruck und einer Insistenz gestellt werden, die den Bambusstab auf den Fingern tatsächlich als logische Verlängerung des verbalen Drills erscheinen lassen. Es ist eine der hinterhältigen Pointen dieses Films, dass diese Art der Erziehung dann auch tatsächlich nur mit Schlägen funktioniert. Das Lernen der Hauptstädte, das zunächst nur mit Schummeln durch den Studenten vorgetäuscht wird, gelingt Klaus erst tatsächlich, als der Student vom Bambus Gebrauch macht. Die Verbände an den Händen des Jungen, durch die am Ende das Blut suppt, geben direkten Aufschluss über voranschreitende Lernleistungen.

Ödipales gibt es in der Konstellation des Films durchaus. Allerdings bezeichnenderweise nicht bei Klaus, sondern beim Studenten. Nachdem er Klaus besonders erfolgreich unterrichtet hat, kommt die Mutter zum sonderbar desinteressierten Fick in seinem Zimmer vorbei, bei dem er beständig weiter „arbeitet“, also seitenweise Papier mit konzentrischen Kreisen und Kästchen vollschmiert, um hinterher eine Wand seines Zimmers damit zu tapezieren. Und wenn der Student schließlich am Schluss die Schnauze endgültig voll hat von den Marotten seiner Gastfamilie, stürzt er sich kampfeslustig auf den Vater. Ob man hier mit Freud aber wirklich weiterkommt, ob es etwa um das Nicht-Überwinden des Ödipuskomplexes geht, der der Psychoanalyse ja als notwendiger Akt der Zivilisierung des Kindes, der Zügelung seines Urbedürfnisses nach sex and violence gilt, und der also zu dem, was man gemeinhin Erwachsenwerden nennt, unumstößlich dazu gehört, und ob das Ausbleiben dieser Überwindung eben zu erwachsenen Kindern führt, sei dahin gestellt.

Überhaupt bleibt der Film bei aller Geschlossenheit der Diegese wie der Form erfreulich offen für Lesarten aller Art – ohne sich irgendeiner von ihnen jemals ganz zu verpflichten. Sicherlich ist „Der Bunker“, in dem mit Klaus einem, gelinde gesagt, nicht übermäßig begabten Kind die Bürde aufgelastet wird, es bis zum Präsidenten schaffen zu müssen, dieser niemals auf eine normale Schule geschickt wird, weil er laut seiner Eltern dort unterfordert sei, auch ein groteskes Zerrbild der beinahe schon zum Klischee erstarrten gutbürgerlichen Familie, die ihre Kinder vom Geigen- zum Klavier- zum Schach- zum Schwimmunterricht bringen, ohne ihnen in ständiger Vorbereitung auf eine (Arbeits-)Welt, in der mensch nicht nur alles können, sondern in allem der oder die Beste sein muss, Raum für Freizeit, Spielen, Nichtstun zu lassen. „Das ist doch grausam.“ „Das ist Erziehung.“

Nachdem Drop-Out Cinema den Film im Januar in die Kinos gebracht hat, erscheint er nun am 22.07.2016 bei Bildstörung auf DVD und Blu-ray. Wie von diesem Label nicht anders gewohnt, handelt es sich dabei um bestens ausgestattete Scheiben, die neben einem einstündigen Making-Of, das in Interviews den gesamten Entstehungsprozess des Projekts von der – äußerst schwierigen – Finanzierung über den Dreh bis hin zum Schnitt nachzeichnet, auch einen Audiokommentar des Regisseurs enthält. Im Booklet schreibt Oliver Nöding sehr ausführlich über den Film und gibt in einem recht langen Exkurs gelehrigen Aufschluss über die Geschichte des deutschen Genre- (vor allem Horror-)Films von den „expressionistischen“ Klassikern der Zwanziger bis zur aktuellen Renaissance durch Filme wie „Der Bunker“, „Der Nachtmahr“, „Der Samurai“ (den ich hier mit aufzähle, auch wenn ich ihn immer noch nicht gesehen habe) oder „German Angst“ (wobei ich hier unbedingt noch „Tore tanzt“ mitrechnen würde, ein waschechter deutscher „torture porn“, no less). Neben dem üblichen (Trailer, Out-takes) wird die wirklich vorzügliche Edition abgerundet durch zwei Kurzfilme, die Chryssos während seines Studiums an der Filmakademie Baden-Württemberg realisierte: „Schwarze Erdbeeren“ (2005) und „Der Großvater“ (2012). Beide geben schon eindrucksvoll davon Zeugnis, wie er es versteht, aus einem Minimum an Figuren und Setting ein Maximum an Intensität und Atmosphäre herauszuholen.

Frühstück bei Monsieur Henri

(F 2015, Regie: Ivan Calbérac)

Wohlwollende Harmonisierung
von Wolfgang Nierlin

Eine Parallelmontage führt die gegensätzlichen Charaktere zusammen: den alten Misanthropen Henri Voizot (Claude Brasseur) und die junge Studentin Constance (Noémie Schmidt). Während der ungesellige Grantler, der früher Steuerbeamter war, seit …

Eine Parallelmontage führt die gegensätzlichen Charaktere zusammen: den alten Misanthropen Henri Voizot (Claude Brasseur) und die junge Studentin Constance (Noémie Schmidt). Während der ungesellige Grantler, der früher Steuerbeamter war, seit dem Tod seiner Frau zurückgezogen in einer großen Pariser Altbauwohnung lebt, hilft die hübsche Constance genervt auf dem elterlichen Marktstand in Orléans und fällt mal wieder durch die Fahrprüfung. Ihr fortgesetztes Scheitern transportiert als Motiv die schwierige Suche junger Menschen nach einem Platz im Leben und führt, nach einer eher streiflichtartigen Zimmersuche in Paris, geradewegs zur Untermiete beim mürrischen Pensionär, der schroff und unverblümt seine Anschauungen streut: „Das Leben ist nichts, was man schaffen oder verpfuschen kann.“

Manchmal versucht Henri, der immer sagt, was er denkt und dem offensichtlich nichts heilig ist, auf seine neue, misstrauisch beäugte Mitbewohnerin aber auch „ermutigend“ zu wirken: „Das Schicksal ist ein Haufen Scheiße.“ In Ivan Calbéracs leichthändig inszenierter und mit prägnantem Dialogwitz aufwartenden Generationenkomödie „Frühstück bei Monsieur Henri“, die sich dementsprechend auch mit der Macht der Väter beschäftigt, kommt es also eher später zu einer Annäherung der gegensätzlichen Protagonisten. Das gibt dem französischen Filmregisseur und Theaterautor, der sagt, die Komödie ermögliche „eine Versöhnung mit der Realität“ und relativiere im Lachen das Tragische, die Möglichkeit, kursorisch und mit einigem Tempo thematische Nebenschauplätze zu touchieren.

Als dramaturgisches Vehikel dient Calbérac dabei ein eher unwahrscheinliches unmoralisches Angebot: Gegen eine großzügige Mietminderung soll die offenherzige Constance, die erfolglos ein nicht näher bezeichnetes Fach an der Fakultät für „Literatur, Sprachen und Sozialwissenschaften“ studiert, die dem Alten verhasste Ehe seines Sohnes Paul (Guillaume de Tonquédec) mit Valérie (Frédérique Bel) aufmischen beziehungsweise auf die Probe stellen. Die leichtlebige und immer wieder scheiternde Studentin verdreht dem steifen Mittvierziger also wenig überraschend erfolgreich den Kopf, woraufhin dieser seine zweite Jugend erlebt. Nebenbei entdeckt Constance, von Henri heimlich gefördert, ihre verdrängte Liebe und Berufung zur Musik. Ivan Calbérac geht es in seinem inhaltlich leicht überfrachteten Film um die Lösung „innerer Blockaden“ und die Eröffnung neuer Perspektiven; wofür er sich nicht zuletzt auf Hermann Hesses Wort von der Selbstdeutung in der Vorrede zum „Demian“ beruft. Gefühlvoll, aber ohne wirkliche Tiefe steuert er seine Komödie zielsicher in eine wohlwollende Harmonisierung.

Blow Out – Der Tod löscht alle Spuren

(USA 1981, Regie: Brian de Palma)

Ende einer Ära
von Nicolai Bühnemann

Alles dreht sich im Kreis. Die Spulen der Tonbandgeräte, die John Travolta in einer Szene hermetisch einzuschließen, zu umzingeln scheinen, die Kamera, der Film und alle Figuren in ihm. Aber …

Alles dreht sich im Kreis. Die Spulen der Tonbandgeräte, die John Travolta in einer Szene hermetisch einzuschließen, zu umzingeln scheinen, die Kamera, der Film und alle Figuren in ihm. Aber eben auch: der Filmstreifen in der Kamera, im Projektor. Und, so sagt es Brian de Palma, der vielleicht mit „Blow Out“ sein ultimatives Meisterwerk vorlegte, die Kamera lügt, 24-mal in der Sekunde. Nicht in einem Netz findet sich Travolta in diesem Film wieder, sondern in einer endlosen Spirale der Lügen und Inszenierungen, der Täuschungen und Ent-Täuschungen, der Traumata und vergeblichen Hoffnungen. Was auf der Strecke bleibt, während sich die Spirale, der Film im Projektor, weiter dreht, ist die Wahrheit. Auch die Liebe vielleicht, wenn es sie denn je gegeben hat (und: wer weiß das schon? Wer weiß überhaupt irgendwas in einem Film von Brian de Palma, diesem Meister der Verunsicherung?). Also kehrt am Ende, wenn sich die Kamera um John Travolta und Nancy Allen dreht, das Feiertagsfeuerwerk, hinter ihnen, um sie herum, alles zurück: das Trauma des Protagonisten, der Film dorthin, wo er begonnen hat.

Ekkehard Knörer bezeichnet Brian de Palma als „den wichtigste[n] Vertreter einer typischen Bewegung in der Formengeschichte aller Künste […], einer manieristischen Reaktion aufs Klassische“, also auf Hitchcock (auf dessen wohl ikonischste Szene, den Duschmord in „Psycho“, de Palma in seinen Filmen immer wieder zurückkommt, so auch in dem (Slasher-)Film-im-Film, mit dem „Blow Out“ beginnt, und wo diese Szene, ähnlich wie in Tobe Hoopers im selben Jahr entstandenen „The Funhouse“, in den Untiefen der „U-Kultur“ angekommen scheint), also auf Antonioni (dessen „Blow Up“ bereits im Titel anklingt, wobei jedoch die Prämisse dieses Films, in dem ein Fotograf durch immer weitere Vergrößerung eines Bildes versucht, ein Verbrechen aufzuklären, hier vom Visuellen ins Akustische verschoben wird).

In dieser Hinsicht stellt „Blow Out“ wohl einen (wenn nicht den) Kulminationspunkt im Schaffen de Palmas dar: Mehr Manierismus geht nicht! Der Film ist ein wahres Lexikon der stilisierten Filmsprache! So gibt es die wunderbare agile Plansequenz zu Beginn, für die Garret Brown, wie ein Jahr zuvor in „The Shining“, die von ihm erfundene Steadicam führte. In zahlreichen Einstellungen wurde ein Split-Diopter genutzt, um verschiedene Bildebenen scharf im Fokus zu haben (besonders eindrucksvoll in einer Einstellung, in der im Vordergrund eine Eule, im Hintergrund Travolta zu sehen ist oder einer anderen, in der, eine Reminiszenz an „The Night of the Hunter“, riesig ein Frosch im Bildvordergrund sitzt, ohne dass die Brücke hinter ihm deshalb out of focus wäre). Hiermit wie auch mit den direkten Split-Screens, einem weiteren Markenzeichen dieses Filmemachers, zeigt sich, wie genau die Cinemascope-Einstellungen dieses Films durchkomponiert sind, in denen immer wieder in unterschiedlichen Bildebenen Unterschiedliches passiert. Zu den komplizierten Dolly-und „Karussell“-Shots, bei denen sich die Kamera um sich selbst respektive die Protagonisten dreht, gesellen sich im Finale Furioso noch extreme Zeitlupen.

Zur extremen Stilisierung kommt noch die Selbstreflexivität des Films, der ja von Anfang an (auch) einer über das Filmemachen ist, in dem sich die Inszenierung von Wirklichkeit, als Prinzip des fiktionalen Films, bis in diverse Subplots hinein spiegelt. So kommt der Plot dadurch in Gang, dass Travolta, der den Allerweltsnamen Jack trägt, als Soundmann auf einer Brücke Geräusche für einen B-Film sucht, wobei er Zeuge eines Unfalls wird, hinter dem er durch einen Schuss, den er meint gehört zu haben, ein Verbrechen, später gar eine groß angelegte Verschwörung entdeckt. Er rettet Sally (Nancy Allen) aus einem im Fluss untergehenden Auto. Sie verdiente ihr Geld damit, sich mit Politikern oder anderen einflussreichen Männern in zwielichtigen Posen ablichten zu lassen, ohne, so behauptet sie zumindest, mit ihnen Sex zu haben. Eine weitere, im Bild manifest werdende Täuschung, Inszenierung. Über Jack erfahren wir, dass er einst für die Polizei arbeitete, bis ein Undercover-Ermittler durch einen Fehler, den er beim Anlegen einer Wanze machte, von Gangstern ermordet wurde. Die Rückblende ist fast wie ein weiterer Film-im-Film angelegt, diesmal kein Slasher, sondern ein Polizei-Thriller, und zeigt, dass das Aufdecken einer Inszenierung in der Welt dieses Films, wie in der etlicher Genrefilme vor und nach ihm, tödlich enden kann. Schließlich ist da noch John Lithgow als psychopathischer Killer, der eine ganze Mordserie „inszeniert“, obwohl es ihm doch eigentlich nur um ein einziges Opfer geht. Thomas Groh zeigt in seinen Anmerkungen auf, wie Jacks Rekonstruktionsarbeiten an den Bildern, die ein Fotograf von dem „Unfall“ geschossen hat, mit der Unterlegung der Tonspur seiner eigenen Aufnahmen die gesamte Genese des Mediums Film nachempfinden: „Aus einzelnen Bildern wird ein Daumenkino, daraus ein Stummfilm und schließlich, unter Hinzunahme der vorliegenden Tonspur, ein Tonfilm“.

Das faszinierende, das großartige an „Blow Out“ ist aber, dass alle Stilisierung und alle Selbstreflexivität hier nicht zu einer Distanzierung der Zuschauenden vom Geschehen auf der Leinwand führt. Die Tragödie der Travolta-Figur, die kein Held werden, nicht die Frau retten kann und schon gar nicht die Welt, trifft einen in der finalen Pointe mit voller, niederschmetternder Wucht. Lukas Foerster schreibt über den in den späten Siebzigern zu Starruhm gelangten John Travolta, er stehe ein „für eine neue Schauspielergeneration, die auch eindeutig nicht mehr New Hollywood angehört, das sieht man schon ihren Körpern an, erst recht ihrem Schauspiel.“ Mag das New Hollywood offiziell auch mit dem kolossalen Scheitern gigantomanischer, irrsinniger Produktionen wie „Apocalypse Now“ und „Heaven’s Gate“ enden sowie dem Aufkommen des Blockbusters, der den Studios zeigte, wie viel Geld man mit Filmen tatsächlich verdienen konnte, die kulturelle und politische Aufbruchsstimmung der Sechziger und Siebziger endet im US-amerikanischen Kino 1981 mit dem Schluss von „Blow Out“. Wenn der Mann, der immer versucht hatte Gutes zu tun, auf der richtigen Seite zu stehen und allem, der Wahrheit und der Liebe, zum Greifen nah war, nur damit ihm schließlich alles durch die Finger rinnen konnte, sich wieder in seinem Tonstudio verkriecht, um weiterhin billige Exploitationfilme zu vertonen, endet nicht nur ein Film, sondern eine Ära.

(Pink Floyd sangen schon zwei Jahre zuvor: But it was only a fantasy / The wall was too high as you can see / No matter how he tried he could not break free / And the worms ate into his brain)

Zur Blu-ray: Während „Blow Out” im Ausland schon lange in formidablen Blu-ray-Editionen vorliegt, etwa der Criterion Collection in den USA, gab es hierzulande bislang nur eine ziemlich schmucklose und über dies schon lange vergriffene DVD. Dem schafft Koch Media nun Abhilfe, indem sie den Film im Mediabook veröffentlichen, dass den Film auf beiden Formaten sowie eine Bonus-DVD enthält. Letztere beinhaltet einige Interview-Featurettes, in denen sich Produzent John Litto und Nancy Allen darüber freuen, dass der Film, der einst an den Kinokassen floppte, sich seitdem stetig zunehmender Beliebtheit erfreut. Das Interview mit dem Komponisten Pino Donaggio sowie der Booklet-Text von Martin Beine sind exklusiv für diese Edition angefertigt. Das interessanteste Gespräch ist aber sicherlich das mit Vilmos Zsigmond, mit imposant hoher Augenbrauenpartie und charmantem Akzent erinnert sich der Kamerameister an die Dreharbeiten und gibt ausführliche Auskunft über die Bildgestaltungsmanie de Palmas. So finden sich die amerikanischen Nationalfarben Rot, Blau und Weiß in diesem „Feiertagsfilm“ immer wieder in der Komposition einzelner Einstellungen, bis hin zur Kleidung der Protagonisten. Dieser vermeintliche Patriotismus erscheint in diesem inhaltlich so schwarzmalerischen Film natürlich als blanker Hohn.

High-Rise

(GB/BEL 2015, Regie: Ben Wheatley)

Tower of Power auf Dauer, schick versifft
von Drehli Robnik

Oben die Oberschicht, unten die Unterschicht, mittendrin die Mittelschicht, bis das Haus zusammenbricht. Ein simples Sinnbild entnimmt die britische Sozialdystopie ‚High Rise‘ der titelgleichen Romanvorlage von J.G. Ballard aus dem …

Oben die Oberschicht, unten die Unterschicht, mittendrin die Mittelschicht, bis das Haus zusammenbricht. Ein simples Sinnbild entnimmt die britische Sozialdystopie ‚High Rise‘ der titelgleichen Romanvorlage von J.G. Ballard aus dem Jahr 1975. Ein Wohnturm als Raum- und Denk-Bild von klassengesellschaftlichen Gewaltpotenzialen, die fast widerstandslos epidemisch ausbrechen – Sagt uns das viel über Hochhäuser heute? Über Hubschrauberlandeplätze und Gated Communities der Reichen oder über hiesige Pendants: Stadtwohnraum als mehrstöckige Tragestruktur für Dachausbauten mit Terrasse oder Geldanlage in Nachfolge des (wohl deshalb einst wohnturmsilhouettenförmigen) Sparbuchs?

Muss ja nicht. Der Film spielt in der Gegenwart des Romans, also circa 1975. In diesem Jahr legte David Cronenberg sein themenähnliches Spielfilmdebüt ‚Shivers‘ vor und zeigte darin eine modernistische Wohnmaschine, wie in ‚High Rise‘ mit Sportanlage und Swimmingpool, im Verlauf des Umkippens von steriler Wohlstandsplanung in pansexuelle Aggression: letzte, ambivalente Grüße des Revolutionsgedankens, bevor er in Submilieu-Lifestyles verpuffte (siehe dazu Ballards/Cronenbergs ‚Crash‘). ‚High Rise‘ setzt Auflösung, Hysterie und Stromausfall als stets schon wuchernde Prozesse voraus und seinen Turmsolitär auf eine Großbrache mit Großstadt im fernen Hintergrund. Die Stockwerkstruktur wird nie sinnlich eigenlogisch; das Haus bleibt Behauptung, der Raum bleibt Bühne für Marotten: ein Pferd im Dachgarten, Sex und Suizid auf dem Balkon, Kindergeburtstagsparty auf Repeat.

Von allen Filmen, in denen das Kreativ-Pärchen Ben Wheatley (Regie) und Amy Jump (Drehbuch) Kopplungen von Irrsinnsgewalt und Normalverhalten durchtestet (Auftragsmörder als Mittelklasse-Ehemänner in ‚Kill List‘, Spießertouristen-Pärchen als psychotische Amour fou-Killer in ‚Sightseers‘, Altenglisches Auszucken im Wams mit Hilfe von Pilzen in Schwarzweiß in ‚A Field in England‘) – von all ihren spleenigen Genre-Mutationen und Brit-Kino-Hommagen (vom ‚Wicker Man‘ bis Kubrick) ist dies die teuerste, wirrste und längste. Positiv formuliert: ‚High Rise‘ spielt hinsichtlich Styling und Besetzung in einer anderen Liga als sonstige Hochhaus-Horrorfilme und Wohnviertel-Dystopie-Thriller, die das Kino der britischen Inseln in den letzten Jahren hervorgebracht hat.

Jedoch: Erstens kommt Wheatleys Renommee-Bomber an die räumliche, soziale und politische Prägnanz von Attack the Block‚ (Alien-SciFi-Satire in Wohntürmen am anderen Ende der Reichtumsskala, GB 2011) nicht einen Moment lang heran, und zweitens reicht sein Augen- und Ohrenfutter nur für die halbe Laufzeit: Dekadenzdekor auf Brutalismusbeton, versiffte Visionen in Bunt und in Zeitlupe, Partyexzesse zu ABBA und Krautrock (sogar, etwas anachronistisch DAF), Vögeln und Dögeln im leicht konfus versammelten Ensemble, das irgendwann (vielleicht nur konsequent, von wegen Entropie und so) nur noch in Indifferenz dahinbummelt und regrediert. Statt Kollektivität oder Chaos oder das eine im anderen wahrnehmbar zu machen, bietet ‚High Rise‘ Dialogduelle hochkarätiger Mimen: Ben Hiddleston, Sienna Miller, Elisabeth Moss, Luke Evans, Jeremy Irons (als der Architekt, der doch nur Gutes wollte oder seine Frau an sich binden oder Squash spielen, irgendsowas). Alle reden. Im Schlussbild redet aus dem Off Margret Thatcher über Segnungen des Kapitalismus, während Pfeifenblasen – pipe dreams bzw. bubbles – in den Himmel schweben. Ach ja, die Anfänge dieses Dingsda, dessen Name mit N beginnt und mit eoliberalismus endet. Dann wüten zum Abspann The Fall. Das will wohl voll vielsagend, urarg und dennoch schon auch schön sein. Aber wovor soll ich mich da jetzt groß gruseln, wenn ich in einem Land lebe, in dem demnächst ein völkischer Zahnarzt und sein Freund mit der Glock regieren?

A Bigger Splash

(I/F 2015, Regie: Luca Guadagnino)

Feuchte Entladungen auf trockener Insel
von Ricardo Brunn

Idylle bedeutet gemeinsam in schöner Landschaft zu schweigen. Am Strand von Pantelleria zum Beispiel. Mit Sonnenbrille im Haar und Schlammpackung auf der Haut erholt sich Sängerin Marianne (Tilda Swinton) mit …

Idylle bedeutet gemeinsam in schöner Landschaft zu schweigen. Am Strand von Pantelleria zum Beispiel. Mit Sonnenbrille im Haar und Schlammpackung auf der Haut erholt sich Sängerin Marianne (Tilda Swinton) mit ihrem Freund Paul (Matthias Schoenaerts) hier von einer Stimmbandoperation, während die Hitze erbarmungslos jedes störende Geräusch unterdrückt. Doch so wie der dominante Spritzer auf David Hockneys Gemälde „A Bigger Splash“ von 1967 die Flächigkeit des Bildes zerreißt, legt sich Harry Hawkes (Ralph Fiennes) mit Tochter Penelope (Dakota Johnson) im Schlepptau wie ein lärmender Schatten aus der Vergangenheit in Luca Guadagninos gleichnamigem Film über das friedliche Paradies. Einst war Harry – das wird in einigen Rückblenden deutlich – Mariannes Produzent und mit ihr liiert, hat sie später mit dem wortkargen Paul bekannt gemacht. Nun will er sie zurück erobern.

Harry ist bei Guadagnino das, was in Hockneys Gemälde unsichtbar bleibt und dort in der Frage „Wer springt da eigentlich?“ einen analytischen Ausgangspunkt bildet. Als einziger des ungleichen Quartetts kann er vom kühlen Nass nicht genug bekommen und sorgt mit seinen bis zum Exzess wiederholten und sehr beherzten Sprüngen in den Pool zu jeder Tages- und Nachtzeit für kräftige Spritzer. Und so wie Hockneys Bild die Frage aufwirft, in welchem Verhältnis die eruptive Kraft des Spritzers zum strengen quadratischen Format und zur Flächigkeit des Farbauftrages steht, zwingen Harrys verbale Entladungen alle Beteiligten aus der schweigsamen Deckung heraus in die Reflexion über die eingegangenen Beziehungen. Entspricht also die Flachheit in der Darstellung der Umgebung in David Hockneys Gemälde der Wortlosigkeit des Paares Marianne-Paul, so stemmen sich Harrys „Spritzer“ vehement gegen die, in seinen Augen, Flachheit der bürgerlichen Lebenswelt des angeblich glücklichen Paares.

Indem er den Plot und sein Figureninventar im Vergleich zur filmischen Vorlage „Der Swimmingpool“ (FRK/IT 1969; R: Jacques Deray) mit formalen Spritzern augenzwinkernd dekonstruiert, versucht Guadagnino die emotionale Leere und Beziehungslosigkeit ins Zentrum der Betrachtung zu rücken. Zooms und Großaufnahmen des klassischen Kriminalfilms lenken die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf scheinbar wichtige Details, ohne dass diese Spuren weiterverfolgt werden. Auch die ab und an in die Handlung ragenden Bilder von Flüchtlingen lassen sich unter diesem Blickwinkel als Spritzer auf die dekadente Oberflächlichkeit der Protagonisten lesen, die im Angesicht der angespülten Menschen schweigend verharren. Die deutlichsten Spritzer resultieren aus der Verweigerung plakativer erotischer Momente. Swinton hat in ihrem androgynen Wesen nichts mehr von der unnahbaren Romy Schneider und Dakota Johnson ist in der Rolle von Harrys Tochter nicht die typisch laszive Lolita.

Allein, was dem bigger splash durch Reduktion und Konzentration im Bildaufbau von Hockneys Gemälde gelingt, verliert sich bei Luca Guadagnino in allzu gewollter Virtuosität. Der Anlauf für den Sprung ist einfach zu ambitioniert für all die kleinen Spritzer, die einem „A Bigger Splash“ dann zaghaft neckend mit den Fingern ins von der Hitze ausgetrocknete Gesicht schnippt. Die formalen Wege, die Guadagnino immer mit Blick auf das Gemälde und die filmischen Vorlage beschreitet, um sie kurz darauf wieder zu verlassen, werden durch eine mäßige dramaturgische Kraft zusammengehalten. So gegenläufig der Regisseur seine Figuren im Vergleich zur Vorlage von 1969 auch inszenieren will, interessanter wird dadurch kaum etwas. Das Beharren auf der Form beschädigt ihre Dreidimensionalität genauso wie die in den Beziehungsgefügen schlummernde Spannung. Fleißig schweigend und gestikulierend kann Swinton ihrer Figur nur wenig Aura verleihen, wirkt im Gegenteil unfreiwillig schrill bis arg bemüht. Dakota Johnson wiederum fehlt dann doch die Ambivalenz einer selbstbewusst mit der eigenen Sexualität umgehenden Ludivine Sagnier, die Francois Ozons Interpretation des Stoffes („Swimming Pool“; FRK 2003) erst so wunderbar machte. Selbst Matthias Schoenaerts bleibt in der Rolle des melancholischen Dokumentarfilmers ohne jeden (und ihm sonst so eigenen) Charme. Einzig Ralph Fiennes weiß das Maximale aus seiner Rolle herauszuholen, bekommt vom Drehbuch aber auch die besten Vorlagen.

So ist die selbstbewusste Behauptung der Autorenschaft in der Setzung des Regisseurnamens vor den Filmtitel trotz der großartigen Idee, die thematischen Grundzüge des Gemäldes von David Hockney kunstvoll in den Film hinüber fließen zu lassen, etwas großspurig geraten. „A Bigger Splash“ scheitert am Tunnelblick auf die eigene Form. Zu viele thematische Schlenker, zu häufiges Augenzwinkern angesichts des Krimiplots, dazu die recht ausladend inszenierte Dekonstruktion der Figuren und die lose Einbindung der Flüchtligsthematik führen zu rasantem Spannungsabfall. Die Ohrfeige am Schluss, als letzter Reflexion auslösender Spritzer, kommt somit ein wenig auch wie die Erlösung von einen Film, der sich wie ein Sommerurlaub anfühlt, in den man das falsche Buch mitgenommen hat. Da liegt man mit Sonnenbrille im Harr am heißen Strand und nach den ersten fünfzig Seiten wird klar, dass das Buch sich arg dahinschleppen wird und die kommenden Tage recht langweilig werden könnten, wenn nicht schnell eine andere Beschäftigung gefunden wird.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚A bigger Splash‘.