Archiv der Kategorie: Filmkritik

Happy End

(F/D/AT 2017, Regie: Michael Haneke)

Welt ohne Mitleid
von Wolfgang Nierlin

Am Anfang steht der subjektive Blick, aus der Distanz gefilmt mit einer starren Handy-Kamera. Noch wissen wir nicht, wem er gehört und wer zeitgleich dazu die Bilder kommentiert, die eine …

Am Anfang steht der subjektive Blick, aus der Distanz gefilmt mit einer starren Handy-Kamera. Noch wissen wir nicht, wem er gehört und wer zeitgleich dazu die Bilder kommentiert, die eine Frau bei der Abendtoilette zeigen und kurz darauf einen Hamster, der unter den Wirkungen von Antidepressiva in seinem Käfig stirbt. Dann wird der Film scheinbar objektiv, behält aber die subjektive Perspektive bei, wenn er in der erhöhten Totale eine Großbaustelle zeigt, auf der, durch einen Erdrutsch verursacht, ein Unfall passiert. Dazu hören wir ein Telefonat, dessen einer Teilnehmer außerhalb des Bildrahmens sitzt und der unseren Blick teilt. „Happy End“, der neue Film von Michael Haneke, beginnt also mit Unfällen, Schicksalsschlägen, vielleicht Morden. Genauso wichtig ist aber, dass die im Wechsel von subjektiven und objektiven Blickrichtungen dargestellten Ereignisse nicht in verknüpfte Handlungen eingebettet sind, mithin kein Handlungszentrum beanspruchen.

Der renommierte österreichische Regisseur, der für seine Arbeiten vielfach ausgezeichnet wurde, ist ein Meister des fragmentarischen Erzählens und der produktiven Irritation. Weder erklärt er, was er zeigt, noch erleichtert er überhaupt die Identifizierbarkeit des Materials, das ungemein dicht und konzentriert inszeniert ist. Vielmehr muss der Zuschauer die losen Bruchstücke, in denen Bild und Ton oftmals entkoppelt sind und dadurch ihre „eigenen“ Geschichten erzählen, miteinander verknüpfen, auch wenn dann aus der Mehrstimmigkeit nicht unbedingt ein Ganzes entsteht. Überhaupt ist die Summe der Teile selbst ein Fragment. Es ist also nur bedingt legitim, hier so etwas wie eine linear erscheinende Geschichte zu erzählen.

Weil ihre depressive Mutter nach einem angeblichen Selbstmordversuch im Krankenhaus liegt, zieht die 12-jährige Ève (Fantine Harduin) zu ihrem Vater Thomas (Mathieu Kassovitz) nach Calais. Der Arzt und Klinikchef hat nach der Scheidung wieder geheiratet, betrügt aber auch seine neue Frau Anaïs (Laura Verlinden). Einmal sagt er zu Ève, die einsam und traurig ist: „Ich bin es nicht mehr gewohnt, eine Tochter zu haben.“ Die Distanziertheit, ja Liebesunfähigkeit des Vaters korrespondiert mit der emotionalen Verhärtung des Kindes, das in vielfacher Hinsicht vom Tod umlagert ist. Die Sprachlosigkeit zwischen den beiden entspricht wiederum der Gefühlskälte und den instabilen Beziehungen im größeren Kontext der großbürgerlichen Familie Laurent, die im Bausektor ihre Geschäfte macht und deren Wohlstand ein ganz selbstverständliches Distinktionsmerkmal ist, was viele Szenen vermitteln. Während der 85-jährige Familien- und Firmenpatriarch Georges (Jean-Louis Trintignant) unter seinem Alter leidet und nach Wegen sucht, sein Leben zu beenden, führt sein Tochter Anne (Isabelle Huppert) die Geschäfte und ringt zugleich mit ihrem Sohn Pierre (Franz Rogowski), der sich den Erwartungen seiner Mutter verweigert.

Was Michael Haneke in den komprimierten Dramen seiner Erzählfragmente mit kühl analysierendem Blick registriert, sind die Zersetzungs- und Zerfallsprozesse einer großbürgerlichen Familie, die in der Gefühlskälte zerrütteter Beziehungen gefangen ist. Im Rekurs und zugleich in der Fortführung seiner in früheren Filmen etablierten Motive und Formsprache schildert Haneke in „Happy End“ eine Welt ohne Mitleid, die von einem egozentrischen Blick bestimmt ist. Dieser erlaubt es den Figuren leider nicht, durch den Schleier aus Lügen und Wohlstandsäußerlichkeiten hindurch den Anderen und also den Nächsten zu sehen.

Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Happy End“.

Blade Runner 2049

(USA/GB/CDN 2017, Regie: Denis Villeneuve)

Like tears in rain
von Drehli Robnik

Als im Jahre 1982 ein Science-Fiction-Film mit Harrison Ford als Detektiv unter dem Synchrontitel „Der Blade Runner“ in die Wiener Kinos kam, da erklärte mir ein Schulfreund (der sich zuvor …

Als im Jahre 1982 ein Science-Fiction-Film mit Harrison Ford als Detektiv unter dem Synchrontitel „Der Blade Runner“ in die Wiener Kinos kam, da erklärte mir ein Schulfreund (der sich zuvor in London bestens informiert hatte), für solch eine Art von Film gebe es jetzt ein neues Wort. Ich sagte: „Ja, eh – Film Noir.“ Und er meinte, nein, das sei die sogenannte Postmoderne. Sehr mysteriös und kompliziert also, das ganze. (Außerdem klang der Titel für österreichische Ohren nach einem Fall von Fettleibigkeit im Turnunterricht.)

Der neuen Regiearbeit des kanadischen Wunderwuzzis Denis Villeneuve („Prisoners“, „Sicario„, „Arrival„) eilt viel voraus: Das reicht vom Konsenswerk- und Stilbildner-Status des Original-Replikantenfilms bis zu breit gestreuten PR-Kraftakten für Blade Runner 2049″. Dieser ist unweigerlich mehr als eine Fortsetzung, und er operiert virtuos zwischen Reverenz und Revision. Homme triste Ryan Gosling in der Titelrolle ist nun (definitiv) ein Replikant, der im Polizeidienst folgsam auf seinesgleichen Jagd macht und darüber in ständiger Melancholie lebt. Entlang eines Detektivplots und durch Panoramen von ökologisch und posturbanistisch ruinierten Milieus arbeitet der Film seinen Vorgänger durch. Das geschieht sowohl im Modus eines Revisiting von Topoi (Verhör, Wand-Durchbruch, ein Lookalike zur Figur der Pris, eine Entsprechung zum Bradbury Building, paradigmatisch: das Scannen von Räumen auf Kommando) als auch narrativ: Die allmähliche Einsicht in die eigene Herkunft führt zum großen Generationentreffen zwischen Gosling und Ford.

Wie hier Umlenkungen und Phrasierungen gesetzt sind in unserer Erwartung und Erinnerung, sowie in einem vertraut anmutenden ödipalen Phantasma des Besonders- und Auserwählt-Seins, das ist konsequent in Sachen einer Cyborg-Ethik/Politik, die Künstlichkeit als Kategorie anerkennt – und sich dann nach Möglichkeiten von Subjekt-Werdung und Allianzen zwischen verdinglichten Existenzen umschaut. Zugleich aber entsteht an diesem „ideologisch“ spannenden Punkt etwas Krampf und Holpern in einer Story, die ansonsten packend und rührend ist, gerade in ihrer soghaften (im SciFi-Mainstream-Kino bemerkenswerten) Langsamkeit. (Insofern sind zwei der drei den Filmstart online flankierenden Kurzfilme, „Blade Runner 2022“ und „Blade Runner 2048“, in ihrer Krawall-orientierten Grobschlächtigkeit irreführend.) Ähnlich verhält es sich bei der Verbindung des Villeneuve-typischen Sujets „verlorene Kinder“ (seit „Incendies – Die Frau, die singt“ meist in eine etwas betuliche Mindgame-Erzählstruktur eingefasst) mit Motiven der Sklaverei, der Freilassung und der Kooperation mit dem Master, der Sweatshop-Ökonomie und Klassenherrschaft: Das ist politisch begrüßenswert – obwohl: Die Zentralstellung, die hier der Fortpflanzung eingeräumt wird (Auto-Reproduktion als Schlüssel zur Selbstregierung), ist diskutierbar –, aber es wird etwa in den Szenen mit Jared Leto als Konzernherr, Pendant zur Figur des Tyrell von 1982, ein bissl gar redselig. (Insofern ist der dritte Kurzfilm, „Blade Runner 2036“ mit Leto in der Replikanten-Konstrukteurs-Rolle, durchaus nicht irreführend.)

Markant ist hier, wie das Männerduo eingebettet ist in eine Riege von Frauen, die trotzig ihre Traurigkeit herunterschlucken und ihre jeweilige Mission verfolgen: Robin Wright als Polizeichefin, Ana de Armas als Hologramm-Geliebte, Sylvia Hoeks als Killer-Sekretärin. (File under Hommage: Die bedrohlichste und härteste Replikanten-Figur bleibt, wie einst Rutger Hauer, einer Darstellerin aus den Niederlanden vorbehalten.) Wie sehr damit ein rein männlicher Fokus in Sachen experience relativiert oder aber, gerade im Weg seiner Kränkung, bestätigt und in einen Rahmen gesetzt ist, wäre wohl noch auszuschnapsen. Jedenfalls wird auch Sean Youngs Figur der Rachel von 1982 hier regelrecht ein- und abgespielt und bietet vor allem Harrison Ford Gelegenheit zu einer großen Geste. Eine solche wiederum fehlt dem Action-Showdown, einer Hover-Car-Verfolgungsjagd mit anschließendem nächtlichem Nahkampf im strandnahen Meerwasser: Die Szene macht sich ganz selbständig gegenüber ihrem Vorgänger-Pendant, lässt aber auch dessen Prägnanz und moralische Aufladung vermissen.

Super aber ist „Blade Runner 2049“ unter einem Gesichtspunkt, der schon bei Ridley Scotts „Blade Runner“ seit jeher prägend war, nämlich als Eye&Ear-Candy oder, weniger zynisch gesagt, als Motivlandschaft: Wie hier eine sozialräumlich-rhythmische Textur aus Ausleuchtung und Überblendung, Abwarten und Umwerten, Regen und Weinen, Slum und Stille, Gelb und Glitch entfaltet wird, das geht – und zwar nicht im Sinn von „visionärer Kunst“, sondern im Sinn von sinnvoll ins Kino Gehen – in Richtung „I´ve seen things“.

Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Blade Runner 2049“.

Die Geträumten

(AT 2016, Regie: Ruth Beckermann)

Im Schweren beheimatet
von Wolfgang Nierlin

Zwei junge Menschen in einem Raum lesen sich Briefe vor, die auf sehr poetische Weise von der Liebe handeln und von der Literatur. Die Dichter Ingeborg Bachmann und Paul Celan, …

Zwei junge Menschen in einem Raum lesen sich Briefe vor, die auf sehr poetische Weise von der Liebe handeln und von der Literatur. Die Dichter Ingeborg Bachmann und Paul Celan, ein ungleiches, aber seelenverwandte Paar, haben sich diese ab Mitte 1948 geschrieben, nachdem sie sich im Frühjahr in Wien kennengelernt hatten. Jetzt, nach den traumatischen Erfahrungen des Krieges, lebt der 1920 in Czernowitz geborene Jude in Paris, wohin die 23-jährige österreichische Philosophiestudentin ihre sehnsuchtsvollen Zeilen schickt. Dabei wird das räumliche Getrenntsein zum imaginären Raum für eine Liebe, die in knapp zwanzig Jahren nur zu einigen wenigen Begegnungen findet. „Im Schatten beheimatet“, wie Celan einmal schreibt, handelt die aufschlussreiche Korrespondenz vor allem von einem konfliktreichen Wechsel zwischen Nähe und Distanz. Die Last der Geschichte, ungleich verteilter literarischer Erfolg, weibliche Emanzipation und psychische Zerrüttungen sind in ihn eingeschrieben.

Burgtheater-Schauspieler Laurence Rupp und Anja Plaschg, als Musikerin auch unter dem Künstlernamen Soap & Skin bekannt, lesen in Ruth Beckermanns Film „Die Geträumten“ diese Texte über das Hin und Her der Gefühle im Studio 3 des Wiener Funkhauses. Sprache und Sprechen werden zu einem Ereignis, das von der subtilen Inszenierung im Rahmen des reduzierten, kammerspielartigen Settings als ebenso dokumentarisch wie fiktional ausgewiesen wird. So erzeugt die Einbeziehung der Arbeits- und Aufnahmesituation zwar eine fortgesetzte Brechung der Illusion und damit eine gewisse Nüchternheit; andererseits vermittelt die „Verlebendigung“ der Texte durch den Vortrag der Schauspieler starke Emotionen. Diese bewirken, so scheint es zumindest, dass die Sprecher zeitweise aus ihren „Rollen“ heraustreten.

Tatsächlich oder wortwörtlich geschieht das in den Pausen, wenn Plaschg und Rupp zusammen Zigaretten rauchen, die Kantine aufsuchen oder einer Orchesterprobe beiwohnen (von Wolfgang Rihms „Die Eroberung von Mexiko“) und dabei sowohl über Privates plaudern als auch die Situation der Briefeschreiber in ihrem schwierigen Ringen um Leben und Kunst reflektieren. Ihre Begegnungen vor und jenseits der Mikrofone, vermittelt durch Einstellungsgrößen, die Positionen der Sprecher im Raum und zueinander sowie durch wechselnde Lichtstimmungen, werden schließlich auch zu Spiegelbildern jenes Ringens zwischen Nähe und Distanz, in dem die Briefeschreiber gefangen sind.

Borg mcenroe

Borg McEnroe

(DK/SWE/FIN 2017, Regie: Janus Metz)

Die Dämonen in uns
von Ricardo Brunn

Durch das Gitternetz der Saiten eines Tennisschlägers blickt der viermalige Wimbledon-Gewinner Björn Borg aus dem Jahr 1980 nach unten auf den Zuschauer im Kinosaal des Jahres 2017. Die untersichtige Großaufnahme …

Durch das Gitternetz der Saiten eines Tennisschlägers blickt der viermalige Wimbledon-Gewinner Björn Borg aus dem Jahr 1980 nach unten auf den Zuschauer im Kinosaal des Jahres 2017. Die untersichtige Großaufnahme lässt den Tennisspieler, der kurz davor steht seinen fünften Sieg auf dem Londoner Grün davonzutragen, überlebensgroß erscheinen. Doch den Zügen seines Gesichtes ist zu entnehmen, dass er dieser Hierarchie nicht gewachsen ist, weshalb der prüfende Blick auf die Saiten des Tennisschlägers wie ein Blick durch Gefängnisstäbe anmutet. Dass Borg nicht nur dieses erste Bild des Filmes gehört, sondern sein Name im Filmtitel ebenfalls an erster Stelle rangiert, unterstreicht die Situation, in der er sich mit seinen 24 Jahren befindet, zusätzlich: Er ist der Star der Tenniswelt, doch damit auch gewaltigem Druck ausgesetzt. Zugleich beschreibt der Filmtitel (und in gewisser Weise auch das den Protagonisten einengende erste Bild), wie sein Kontrahent, der zum damaligen Zeitpunkt erst 21-jährige Rüpel John McEnroe, hinter Borg langsam aber sicher ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt und dem „Eisborg“ den Rang abzulaufen droht.

Entlang dieser Ordnung hangelt sich der dänische Regisseur Janus Metz in seinem Film „Borg McEnroe“, um im Rahmen der zweiwöchigen Vorbereitung auf das berühmte Wimbledon-Finale 1980 das Psychogramm zweier nur auf den ersten Blick ganz und gar unterschiedlicher Spieler zu entwerfen. Dabei führt er das öffentliche Aufmerksamkeitsgefälle auch auf dramaturgischer Ebene weiter. Der Schwede Borg steht im Zentrum der Betrachtung, während sein Kontrahent in der ersten Hälfte des Filmes die eindeutige Nebenrolle zugeschrieben bekommt. Immer geht es nur um Borg, beklagt der aufstrebende McEnroe in einer US-Late-Night-Show. Und tatsächlich wird seine Rolle erst mit dem Näherrücken des Finalspiels stärker, gewährt der Regisseur uns dann auch Einblicke in dessen Gedankenwelt. Und bei aller Rivalität, die der Film über die Parallelmontage zu erzeugen vermag, wird sehr schnell deutlich, dass beide Spieler der Umgang mit den inneren Dämonen, die ihre dunklen Schatten aus der Vergangenheit bis ins gleißend helle Sonnenlicht des Tenniscourts werfen, vereint. Während wir Borg als einen sich selbst bis ins Manische kontrollierenden Menschen erleben, der immer im selben Auto fährt, im selben minimalistischen und keinerlei Ablenkung bietenden Hotelzimmer schläft und sich immer auf dieselbe Art für ein Spiel vorbereitet, um seinen Ängsten den Raum zu nehmen, wird McEnroe als Gegenpol inszeniert, der Hotelwände bekritzelt, dabei laut Musik hört und sich an keinerlei Regeln zu halten scheint. Auf und neben dem Platz ist es gerade sein unorthodoxes Verhalten, das ihm hilft, die Dämonen lautstark zu vertreiben. Und in einer Szene, in der Borg McEnroes Spiel am Fernsehgerät analysiert, wird dem schwedischen Spieler ihre Ähnlichkeit bewußt, wenn er hinter den Wutausbrüchen McEnroes nicht Unsicherheit, sondern Konzentration erkennt.

Im Tennis, so beschreibt es Andre Agassi in seiner Autobiografie „Open“, ist man wie in keinem anderen Sport auf einer Insel. Selbst der als einsam geltende Boxer im Ring hat seinen Trainer in der Ecke. Doch auf dem Court gibt es niemanden, mit dem man reden kann und darf, wenngleich man umgeben ist von Menschen. Im Sport – und das langwierige Tennisspiel steht vielleicht ganz exemplarisch dafür – kämpft man nicht gegen einen Gegner. Man kämpft im Grunde genommen die ganze Zeit gegen sich selbst, gegen die eigenen Dämonen. Selten ist der Gegner einfach nur der bessere Spieler. Vielmehr scheitert man am eigenen Geist, an den eigenen Ängsten, die sich häufig aus der individuellen Sozialisation und Erziehung speisen. Genau deshalb schauen wir sportliche Ereignisse dieser Art so gern. Es geht nicht nur um Sieg oder Niederlage, Macht und Geld, sondern darum zuzuschauen, ob und wie die Rivalen auf dem Platz ihre inneren Dämonen stellvertretend für uns bezwingen. Und für diese Seite des Sports interessiert sich Janus Metz in „Borg McEnroe“.

Dementsprechend wenig beschäftigt sich der Regisseur mit der für Sportfilme typischen Inszenierung von Bewegung. Das Athletische und die Darstellung des kraftvollen Körpers bleiben nahezu außen vor. Die Tennismatches werden in kurze Bildeinheiten zergliedert, selten sieht man einen zusammenhängenden Ballwechsel in aller Ausführlichkeit. Das dynamische Gegeneinander wird in ein energetisches Jeder-für-sich aufgeteilt. Jeder Schnitt ist wie das Netz in der Mitte des Platzes selbst. Zwei Seiten (oder eben zwei Bilder) werden zusammengeführt und bleiben doch streng voneinander getrennt. In jedem Blick von Sverrir Gudnason ist die unterdrückte Anspannung Borgs zu spüren und in jeder Bewegung Shia LaBeoufs steckt die kaum zähmbare Energie eines John McEnroe. Beide Darsteller sind deshalb trotz ihres Alters die ideale Besetzung für diese Charaktere. Ihnen will man als Zuschauerin folgen.

Aber so gut Montage und Hauptdarsteller auch sein mögen, in der Bombast-Inszenierung und der eindringlich um Beachtung ringenden musikalischen Untermalung verliert sich die Grundkonstellation des Filmes in allzu seichter Küchenpsychologie, die mit Rückblenden in die Kindheit und Jugend eine klischeebeladene Ursachenforschung betreibt. Mit viel Tamtam stellt sich der Film somit selbst ein Bein, gibt die Intimität des Blickes auf das Sportlerdasein zugunsten eines übertriebenen Spektakels auf, setzt auf den Effekt und riskiert somit wiederum Ungenauigkeiten in der Figurenzeichnung. Ganz so, als hätte der Film die gleiche Angst, die auch Björn Borg umtreibt, nämlich in Vergessenheit zu geraten, ist er (John McEnroes Auftreten nicht unähnlich) lauter, als er es nötig gehabt hätte.

Mother!

(USA 2017, Regie: Darren Aronofsky)

Ich bin ich
von Wolfgang Nierlin

Aus der Asche des Feuers, das vernichtet, entsteht das Neue, in dem sich das Alte wiederholt. Vergangenheit und Zukunft fallen in eins. Darren Aronofskys Film „Mother!“ beginnt mit einer Transformation …

Aus der Asche des Feuers, das vernichtet, entsteht das Neue, in dem sich das Alte wiederholt. Vergangenheit und Zukunft fallen in eins. Darren Aronofskys Film „Mother!“ beginnt mit einer Transformation und einem Erwachen. Er erzählt in Wiederholungsschleifen und konzentrischen Kreisen. Rund ist auch das oktogonale viktorianische Holzhaus, das sich wie eine abgeschiedene Insel inmitten der Natur erhebt. Hier durchstreift an einem Morgen die namenlose Titelheldin (Jennifer Lawrence) die Räume auf der Suche nach ihrem namenlosen Mann (Javier Bardem). Ihre Bewegungen sind ahnungsvoll und haptisch, ihr Geist wirkt angespannt. Als Hüterin des Hauses, die mit seiner sorgsamen Renovierung beschäftigt ist, hat die Frau eine besondere, geradezu körperliche Beziehung zu ihrem Heim. Wenn sie die Wände berührt, ist es, als spüre sie dessen geheimen Pulsschlag. Die langen, subjektiven Kamerabewegungen von Matthew Libatique sind ganz nah und eng mit der Heldin und ihrer symbiotischen Beziehung verflochten. Diese sagt einmal über das Haus: „Ich will daraus ein Paradies machen.“

Doch hinter ihren zögerlichen, vorsichtigen Bewegungen lauern Angst und Schrecken, den Aronofsky in typischer Horror-Manier von Anfang an auf den Zuschauer überträgt. Die Kontrollverluste, die die Protagonistin fortan und immer gravierender erleidet, erleben auch wir. In deren Mittelpunkt steht zunächst ein unausgesprochener ehelicher Konflikt zwischen der Frau und ihrem um etliche Jahre älteren Mann, einem erfolgreichen Schriftsteller, der sich seit dem Hausbrand in einer Schaffenskrise befindet. Verstärkt und katalysiert werden diese Spannungen, hinter denen auch ein unerfülltes Sexualleben und ein unausgesprochener Kinderwunsch stehen, durch zwei unerwartete fremde Gäste, die nacheinander eintreffen: einen todkranken Arzt (Ed Harris) und seine ziemlich tabulose Frau (Michelle Pfeiffer). Die beiden geben sich nicht nur zunehmend aufdringlich, indiskret und besitzergreifend, sondern initiieren durch ausufernde Familien- und Erbschaftsstreitereien eine irritierende Invasion. Bald stören immer mehr Fremde das Gewohnte und versetzen das Haus in einen Zustand der Unordnung. Während die unfreiwillige Gastgeberin einen nervlichen Alptraum erlebt und sich vom Eigenen zunehmend ausgeschlossen fühlt, begrüßt ihr Mann die willkommene Abwechslung und den Austausch.

„Das Haus ist zu groß für uns beide“, sagt der Schriftsteller, der das „Leben ins Haus lassen“ will und dessen Inspiration dadurch neue Nahrung zu bekommen scheint. In der Folge bietet Darren Aronofsky ziemlich viel abgründige Phantasie und surreale Alpträume auf, um das häusliche Paradies in eine wüste Hölle und seinen untergründigen Psychothriller in einen ebenso monströsen wie blutigen Horrorfilm zu verwandeln. Dieser steigert die subtil inszenierte Ehekrise in ein maßlos überspanntes, im Krieg der Geschlechter und den Gewaltexzessen fanatischer Anhänger des Schriftstellers kulminierendes Künstlerdrama über eine geradezu kannibalistische Schöpfergestalt, die sich vom Mütterlichen nährt und, als narzisstischer Heiliger verehrt, zum Anführer einer Sekte wird.

Aronofsky beschreibt mit zeitgeschichtlichen Bezügen deren chaotisches Eindringen ins Haus als anarchische Okkupation des Eigenen durch das Fremde. Dabei weckt sein vieldeutiges, Konventionen, Tabus und Grenzen überschreitendes Werk Assoziationen an Filme von Hitchcock, Polanski, Kubrick und Romero. Auf der symbolischen Ebene folgt Aronofskys negative Heilsgeschichte über einen gefräßigen, das männliche Prinzip verkörpernden Schöpfer-Gott allerdings vor allem biblischen Motiven. Diese reichen von der Vertreibung aus dem Paradies bis hin zum christlichen Opfermythos, der hier gewissermaßen als heidnischer Selbstkult zelebriert wird. Darin spiegelt der Film „Mother!“ nicht zuletzt eine düstere, verstörende und zugleich fatalistische Vision der Menschheitsgeschichte, die mit der vom nunmehr wieder produktiven Schriftsteller geäußerten Tautologie des „Ich bin ich“ und insofern mit einem dezidiert männlichen Zerstörungsakt unheilvoll beginnt und endet.

grandfilm felicite

Félicité

(FRK/SN/BEL/D/LB 2017, Regie: Alain Gomi)

Gedehnte Zeit
von Wolfgang Nierlin

Bevor die Musik beginnt, gehen die Stimmen der Barbesucher hin und her, schweift die bewegte Handkamera zwischen Gesichtern und Körpern, die bald tanzen oder in stoischer Trance verharren. Auch in …

Bevor die Musik beginnt, gehen die Stimmen der Barbesucher hin und her, schweift die bewegte Handkamera zwischen Gesichtern und Körpern, die bald tanzen oder in stoischer Trance verharren. Auch in der Musik der Kasaï Allstars, die kurz danach zu spielen beginnen, überlagern sich die Gesangsstimmen in Schichten wiederkehrender Phrasen, die einander in einem schier endlosen Zirkel zu antworten scheinen und dabei die Intensität der Monotonie zum Delirium steigern. Bewegung und Rausch, Ekstase und Vergessen bilden auch in Alain Gomis‘ preisgekröntem Film „Félicité“ eine Einheit. Mit dokumentarischen Mitteln an Originalschauplätzen der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa gedreht, ist der Film vor allem ein Dokument der gedehnten Zeit, in deren Flächigkeit sich die Kontraste, Handlungen und Absichten verlieren.

Nacht für Nacht singt die von Véro Tshanda Beya gespielte Titelheldin mit dem Musiker-Kollektiv, das es tatsächlich gibt (sonst allerdings mit der Sängerin Muambuyi besetzt ist); bis der Alkohol die Glieder schwer macht oder ein Gerangel unter den Gästen die Party auflöst. Als Félicités Sohn Samo (Gaetan Claudia) nach einem Motorradunfall schwer verletzt im Krankenhaus liegt, wird die mutige Frau zur Bittstellerin und resoluten Geldeintreiberin. Denn nur eine teure Operation kann das gebrochene Bein ihres Sohnes retten. Gomis begleitet seine Heldin auf ihrem Gang durch eine Stadt voller Widersprüche und sozialer Kontraste. Dabei erfährt sie sowohl Zuspruch und Hilfsbereitschaft als auch mitleidlose Kälte. Als sie schließlich die nötige Geldsumme zusammen hat, ist es zu spät für die Rettung von Samos Bein.

Was nun folgt, ist ein Stillstand der Bewegungen und Gefühle. Genährt vom Schmerz des Verlusts und der Verzweiflung legt sich ein tiefes Schweigen zwischen die Figuren. Selbst die Musik der Band ist reduziert, wenn deren Mitglieder einmal zusammen mit Félicité einen melancholischen A-cappella-Gesang anstimmen. Alain Gomis strukturiert und kommentiert die minimalistische Handlung seines Films mit Musik und verwendet dafür auch Aufnahmen eines Amateur-Sinfonieorchesters, des Orchestre Symphonique Kimbanguiste, das gerade Arvo Pärts „Fratres“ probt. Immer öfter wechselt er dabei zu geheimnisvollen Traumsequenzen, die die gleißende Helligkeit der tristen Realität gegen das Dunkel einer brüderlichen Nacht tauschen; und in denen Félicité, von der es heißt, sie sei als Kind schon einmal tot gewesen, in einen Fluss eintaucht, darin versinkt, um kurz darauf gestärkt wieder aufzutauchen. „Man muss neu anfangen. Wieder und wieder“, sagt ihr Freund Tabu (Papi Mpaka) einmal im Alkoholrausch.

Paradies

(RUS/D 2016, Regie: Andrei Konchalovsky)

Die Geister der Getöteten
von Wolfgang Nierlin

Die Monologe der drei Protagonisten sind in einem betont nüchternen, dokumentarischen Stil vor neutralem Hintergrund inszeniert. Im kontrastlosen Schwarzweiß dieses leeren Raums, gegliedert durch abrupte Schritte und die zeitlichen Begrenzungen …

Die Monologe der drei Protagonisten sind in einem betont nüchternen, dokumentarischen Stil vor neutralem Hintergrund inszeniert. Im kontrastlosen Schwarzweiß dieses leeren Raums, gegliedert durch abrupte Schritte und die zeitlichen Begrenzungen des Schmalfilmmaterials, wenden sich die Figuren direkt an den Zuschauer. Das unsichtbare Gegenüber für diese gewissenhaften Lebensbeschreibungen, rückhaltlosen Selbstbekenntnisse und mehr oder weniger selbstbewussten Rechtfertigungen sind also zunächst (aber nicht ausschließlich) wir als nachgeborene Zeugen ihrer Geschichten, die uns Andrei Konchalovskys Film „Paradies“ dann dazwischen auf andere Weise erzählt; und in denen die Wirkungen der politischen Geschichte während der Zeit des Nationalsozialismus bis in die Gegenwart andauern. Der russische Regisseur (Jahrgang 1937) alterniert zwischen vorgeblichem Dokument und Fiktion und verknüpft fern jeglicher Melodramatik in parallelen Erzählsträngen die erschütternden Schicksale seiner Figuren.

Im Jahre 1942 wird die russische Aristokratin Olga (Julia Vysotskaya) als mutmaßliches Mitglied der Résistance in ein französisches Gefängnis gesperrt. Wir hören zu Beginn des Films die Schließgeräusche aus dem Off, bevor im Kontrast dazu der Titel „Paradies“ über der verschlossenen Zellentür erscheint. Die attraktive Moderedakteurin soll zwei jüdische Kinder versteckt haben, was sie im Verhör mit dem doppelgesichtigen französischen Polizeipräfekten Jules (Philippe Duquesne) abstreitet. Der Mitläufer und materielle Privilegien genießende Kollaborateur, der ganz selbstverständlich zwischen trautem Familienleben und seinen Aktivitäten bei der brutalen Folter-Behörde wechselt, verkörpert als kalt berechnender Realist die Banalität des Bösen. Als er ermordet wird, landet Olga in einem Konzentrationslager, wo sie auf den deutschen Adligen Helmut (Christian Clauß) trifft, dem sie schon einmal vor dem Krieg bei einem (noch) unbeschwerten Aufenthalt in der Toskana begegnet ist.

Der gebildete Slawist und mit militärischen Ehren bekränzte Antisemit fungiert, von Reichsführer Himmler in einer düsteren Szene dazu bestimmt, als SS-Sonderermittler, der Korruption und Diebstahlsdelikte in den eigenen Reihen aufspüren soll. Der junge, kultivierte Standartenführer besitzt eine gespalten Persönlichkeit und lebt wie die anderen Figuren in Widersprüchen. Er fliehe die Realität durch seine Beschäftigung mit der russischen Literatur, sagt Helmut einmal. Er sieht Deutschland in einem „ekelerregenden Sumpf“ versinken und findet doch keine Alternative zu seiner patriotischen Treue. Helmut ist ein williger Ideologe, der noch in Untergang und Resignation an seinem Ideal des „Übermenschen“ und eines „deutschen Paradieses auf Erden“ festhält, während er doch von den Geistern der Getöteten verfolgt wird. Zwar versucht er Olga, in die er noch immer verliebt ist, zu helfen, doch deren schmerzliche Erfahrung der Entmenschlichung führt sie inmitten von Grausamkeit und Tod durch eine selbstlose Tat schließlich zurück ins Humane. Konchalovskys vielschichtiger, präzise und schnörkellos gestalteter Film stellt die Frage nach der persönlichen Verantwortung angesichts ungeheuerlicher Verbrechen; und er beschwört gegen diese mit verhaltener Geste die Kraft von Liebe und Menschlichkeit.

Mr. Long

(JP/HK/TW/CN/DE 2017, Regie: Sabu)

Neugeburt eines Killers
von Wolfgang Nierlin

Die bewegten Bilder nächtlicher, in Neonlicht getauchter Hochhausschluchten von Kaohsiung und Tokio werden getragen von einem sphärisch-schwebenden, feierlich-melancholischen Klangteppich, der wie eine Ouvertüre alles Folgende grundiert. Noch in seinen losen, …

Die bewegten Bilder nächtlicher, in Neonlicht getauchter Hochhausschluchten von Kaohsiung und Tokio werden getragen von einem sphärisch-schwebenden, feierlich-melancholischen Klangteppich, der wie eine Ouvertüre alles Folgende grundiert. Noch in seinen losen, repetitiv verschlungenen Enden stützt der Soundtrack von Junichi Matsumoto die gegenläufigen Bewegungen aus Ruhe und Dynamik, Stille und Gewalt, motion und emotion. Die Genre-Typologien, in die der japanische Regisseur Sabu die Geschichte und Figuren seines Films „Mr. Long“ einhegt, vermitteln die Wirklichkeit fast ausnahmslos in Stilisierungen. Wo das Handeln vornehmlich fatalistisch gedeutet wird und die Welt in den (filmischen) Koordinaten von Hell und Dunkel, Gut und Böse, Liebe und Tod gefangen ist, liegen auch Kunst und Kitsch eng beieinander.

So ist natürlich auch Titelheld Long (Chen Chang), ein schweigsamer taiwanesischer Killer, mit ikonischen Eigenschaften ausgestattet: Sein starrer, kühler Blick gehört einem einsamen Samurai, der konzentriert, mit äußerster Präzision, kaltblütig und mit schier übermenschlichen Fähigkeiten mordet. Weil er sein blutiges Geschäft mit einem Messer ausübt und dabei stets allein gegen alle kämpft, paaren sich Stille und Dynamik mit körperlicher Geschicklichkeit und brutaler Gewalt. Diese genau choreografierten und montierten Kampfszenen, in denen schließlich auch die Martial-Arts-Traditionen fortleben, versehen den Film mit einem blutroten Rahmen.

Nach einem gescheiterten Auftrag in der japanischen Hauptstadt erlebt der schwer verwundete Long in der Helle eines heruntergekommenen, verlassenen Viertels von Tokio eine Art Neugeburt als Mensch und soziales Wesen. Der schweigsame Ausländer kümmert sich nämlich um den kleinen Jun (Runyin Bai) und seine drogensüchtige Mutter Lily (Yiti Yao), eine ehemalige Prostituierte, die eine tragische, nicht enden wollende Geschichte in sich trägt. Sabu erzählt von dieser Liebe im Zeichen des Todes in einer langen Rückblende und hat auch sonst keine Scheu, die lineare Plot-Konstruktion durch verschiedene, bevorzugt kulturelle Unterschiede thematisierende Exkursionen aufzubrechen. Im Zentrum der versöhnlichen Völkerverständigung steht dabei Longs Kochkunst, mit der er nicht nur neue Freunde und eine Ersatzfamilie gewinnt, sondern bei aller Tragik, mit der die Schrecken der Vergangenheit zurückkehren, auch ein neues Leben entwirft.

Der Preis

(MEX/FRK 2011, Regie: Paula Markovitch)

Im Versteck
von Wolfgang Nierlin

Dichter Nebel hängt über dem Meer und entzieht den Bildern von Wasser, Sand und Schilf die Farben. Ein langsamer Kameraschwenk in der Totale erfasst die Weite und in ihr ein …

Dichter Nebel hängt über dem Meer und entzieht den Bildern von Wasser, Sand und Schilf die Farben. Ein langsamer Kameraschwenk in der Totale erfasst die Weite und in ihr ein sich näherndes Kind, das sich auf Rollschuhen den Strand entlang schleppt. Dieses beschwerliche, auch befremdliche Gehen korrespondiert mit der Enge der kleinen Behausung in den Dünen, wo das 7-jährige Mädchen mit seiner Mutter lebt. Die zugige, spärlich ausgestattete Einraumwohnung wirkt wie ein spartanisches Refugium, ein vorübergehendes Versteck für Fremde, die ihren Lebensmittelpunkt verloren haben. Mutter und Tochter reden nicht viel miteinander, die Atmosphäre ist bedrückend trostlos, und die Radiowellen liefern nur Störgeräusche, die sich wiederum mit sparsam eingesetzten dissonanten Pianoklängen (von Sergio Gurrola) verbinden. Einmal fragt die kleine Cecilia (Paula Lucía Galinelli Hertzog) ihre schweigsame, in sich gekehrte Mutter Lucía (Laura Agorreca): „Was bedeutet ‚Pessimist‘?“

Über Zeit, Ort und Hintergründe der unspektakulären Handlung in Paula Markovitchs preisgekröntem Spielfilmdebüt „Der Preis“ (El Premio) erfährt man zunächst fast nichts. Konsequent aus der Perspektive des Kindes und mit einem reduzierten, fast absichtslosen Zeigegestus erzählt, lenkt die mexikanische Regisseurin argentinischer Herkunft in ihrem stillen, subtil beobachteten Film den Blick auf Details: In der neuen Schule soll Cecilia die wahre Identität der Eltern verschweigen; zusammen mit der Mutter vergräbt sie Bücher im Sand. Einmal klagt das Kind, das sich öfters langweilt und sich meist selbst überlassen ist, über Heimweh, während die immer apathischer werdende Mutter sagt: „Ich habe Angst.“

Mit minimalistischen Mitteln beschreibt Paula Markovitch in ihrem autobiographisch getönten Film einen Stillstand, ein Verharren und eine individuelle Lähmung, deren gesellschaftliche Ursachen nach und nach sichtbar werden. In der Schule, deren ärmliches Ambiente von militärischer Disziplin auf groteske Weise zusammengehalten werden soll, treten Soldaten auf, rufen einen patriotischen Wettbewerb auf die argentinische Nationalflagge aus und beschwören die unselige Allianz von „Bildung und Waffen, Schule und Armee“. Wir beginnen zu ahnen, dass Cecilias Vater zu jenen „Verschwundenen“ (Desaparecidos) gehört, die während der argentinischen Militärdiktatur Ende der 1970er Jahre in geheimen Gefängnissen inhaftiert und gefoltert wurden – und deren ungewisses Schicksal die Familien und angehörigen (teils bis heute) belastet (vgl. dazu Marco Bechis‘ erschütternden Film „Garage Olimpo“).

Markovitchs verhaltener Film über eine innere Emigration zeigt die impliziten, psychischen und innerfamiliären Wirkungen der Diktatur. Als Cecilia, die gut Lesen und Schreiben kann, den Wettbewerb gewinnt, kommt es zu Spannungen und Konflikten mit ihrer besten Freundin Silvia (Sharon Herrera), vor allem aber mit ihrer Mutter. Die spärlichen Reste von Geborgenheit und symbiotischer Zweisamkeit im Abgeschiedenen scheinen vollends aufzubrechen und sich zu verflüchtigen, während ein unaufhörlicher Wind den Schmerz darüber weiterträgt.

Django

(FRK 2017, Regie: Etienne Comar)

Nicht mal die eigenen Ohren sind frei
von Jürgen Kiontke

Eine Künstlerbiografie der besonderen Sorte ist „Django“, das filmische Porträt des genialen Gitarristen Django Reinhardt, dem Noten erstmal fremd sind. Denn der Film thematisiert das ambivalente Verhältnis von Kunst und …

Eine Künstlerbiografie der besonderen Sorte ist „Django“, das filmische Porträt des genialen Gitarristen Django Reinhardt, dem Noten erstmal fremd sind. Denn der Film thematisiert das ambivalente Verhältnis von Kunst und Diktatur. Ausgerechnet Reinhardt, der durch einen Unfall zwei Finger an der linken Hand verlor und gerade deshalb eine besondere Spielweise entwickelte und damit in den vierziger Jahren zum König des „Gipsy Swing“ aufstieg, wollten die Nazis als Soundtrack für ihre Tanzveranstaltungen einspannen. Seine Musik sollte gegen die amerikanische „Negermusik“ anklingen.

Reinhardt, der in diesem Eröffnungsfilm der Berlinale 2017 als ein in politischen Dingen unentschiedener Charakter geschildert wird, steckt sich eine Zigarette an und beginnt zu spielen. Mit den Füßen zu wippen, ist streng verboten. Und während andere schon ins KZ unterwegs sind, ist Reinhardt aufgrund seines Pop-Status noch recht sicher.
Bis ihn Hitlers Kulturpolitiker auf Deutschland-Tour schicken wollen. Seine Flucht beginnt – die Nazis immer dicht auf den Fersen.

Regisseur Etienne Comar porträtiert einen Künstler und Freigeist, dem das Leben so beiläufig mitspielt wie er selbst seine Musik. „Django“ ist ein mitreißender Film, vor allem in den musikalischen Sequenzen, von denen es viel zu wenige gibt. Denn seine Musik symbolisiert am besten, was faschistische Politik bedeutet: Nicht mal die eigenen Ohren sind frei.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal

Wenn Gott schläft

(D/USA 2017, Regie: Till Schauder)

Verfolgte Musik
von Jürgen Kiontke

Wenn Gott so mächtig ist, warum habt ihr dann solche Zweifel?“ Diese Frage stellt der Rockmusiker Shahin Nayafi, der aus dem Iran flüchten musste, seinen konservativen Verfolgern. Er selbst hält …

Wenn Gott so mächtig ist, warum habt ihr dann solche Zweifel?“ Diese Frage stellt der Rockmusiker Shahin Nayafi, der aus dem Iran flüchten musste, seinen konservativen Verfolgern. Er selbst hält sich für einen Atheisten, und so sehen auch seine Texte aus. Im Jahr 2012 veröffentlichte er einen satirischen Rap, der dazu führte, dass er mit einer Todes-Fatwa belegt wurde. Wer Najafi umbringt, kann mit 100.000 Dollar Belohnung rechnen.

Seit seiner Flucht lebt Nayafi in Deutschland im Exil. Seine Musik ist ein Statement des Lebens, eine Selbstbehauptung. In Till Schauders Nayafi-Dokumentation „When God Sleeps“ lernt man Internet-Tutorials kennen, die zeigen, wie der Sprengstoff zu mischen ist, mit dem man den Musiker von der Bühne pusten kann. Bei der Sicherheitsberatung der deutschen Polizei nennt man das „abstrakte Bedrohung“. Es kommen Mitmusiker zu Wort, die Konzerte aus Angst absagen, Günther Wallraff gibt ein Interview, er hat den Künstler einige Monate beherbergt. Original-Prügelvideos aus dem Iran sind zu sehen, wie auch beiläufig-ironische Alltagsszenen des Musikerlebens, etwa wenn der Gitarrist ein Riesenpeniskostüm für einen Auftritt erwirbt. Zusammen ist er mit der Enkelin eines ehemaligen iranischen Ministerpräsidenten. Najafis Musik zählt nicht zu dessen Vorlieben. Den Freund seiner Tochter nennt er einen „Anarchisten“. Nayafis Fazit: „Frauen sind stärker als Männer.“

„When God Sleeps“ ist ein beeindruckendes filmisches Porträt.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal

Die Nile Hilton-Affäre

(DE/DK/SW 2017, Regie: Tarik Saleh)

Ein politischer Mord
von Jürgen Kiontke

„Vergiss Gerechtigkeit“ – das ist einer der ersten Sätze, der in Tarik Salehs sehenswertem Thriller „Die Nile Hilton-Affäre“ fällt. Und er bleibt Programm für diese Geschichte über den ägyptischen Polizisten …

„Vergiss Gerechtigkeit“ – das ist einer der ersten Sätze, der in Tarik Salehs sehenswertem Thriller „Die Nile Hilton-Affäre“ fällt. Und er bleibt Programm für diese Geschichte über den ägyptischen Polizisten Noredin (Tares Tares), die einen wahren Fall zum Aufhänger nimmt: 2008 wurde die Sängerin Suzanne Tamim in Dubai ermordet. Die Spuren führten damals zu einem der einflussreichsten Männer Ägyptens, einem Bauunternehmer mit besten Verbindungen nach oben. Der Fall sorgte in den arabischen Ländern für viel Aufsehen. Ging es doch um persönliche Abhängigkeiten, Erpressung und Korruption. Regisseur Saleh hat aus diesem Gebräu einen spannenden Film gemacht und die Handlung ins Kairo der „Arabellion“, ins Jahr 2011, verlegt.

An den Hauswänden wird noch für den Aufbau des Landes von Präsident Mubarak geworben – und noch viel mehr für die neuen Eigentumswohnungen, die der Bauunternehmer Hatem Shafiq hat errichten lassen. Der steht aufgrund seiner politischen Aktivitäten unter Immunität, gerät aber bald unter Verdacht, die Sängerin Lalena umgebracht zu haben. Die war blutüberströmt in einem Hotelzimmer aufgefunden worden und die zentrale Figur eines Verbrechersyndikats gewesen, das Prominente erpresst. Noredin soll den Mord aufklären. Und er ist ein bisschen überfordert: Denn normalerweise beschäftigt er sich damit, Schutzgeld von Straßenhändlern und Kleinkriminellen zu erpressen. Die Polizei erscheint hier als Familienbetrieb und Geldeinzugszentrale: Denn Noredins Onkel hält als Chef der Polizeiwache nicht nur beide Hände über die krummen Geschäfte. Nein, er fordert von seinen Beamten sogar mehr Umsatz.

Da ist das Kapitalverbrechen streckenweise nur der Hintergrund, vor dem die Machenschaften der Beamten erzählt werden: Am Tatort bestellen sich die Ermittler erst mal das Mittagessen auf Rechnung der Toten – der sie umgehend das Bargeld aus der Handtasche klauen. Vor allem erpressen sich die Polizeieinheiten verschiedener Bezirke auch untereinander, wichtige Zeugen sterben in der Untersuchungshaft im Beisein eines ganzen Polizeireviers. Ermittlungsergebnis: Selbstmord.

In diese Melange hinein gerät die junge Putzfrau Salwa. Die wichtigste Zeugin des Verbrechens hält sich illegal in Ägypten auf – viel größer kann die soziale Distanz zwischen den Milieus eigentlich nicht sein. Während Bauunternehmer Shafiq im Luxus schwelgt, werden Salma und ihre Mitbewohner unter Druck gesetzt, indem man ihnen die Pässe abnimmt, sie zusammenschlägt, einige (?) tötet. Mit Salmas Hilfe will Noredin das Verbrechen aufklären – in dem er bis zum Hals drinsteckt, ohne es gewusst zu haben.

„Die Nile Hilton Affäre“ ist ein Polizeifilm der komplett anderen Art: Er zeigt ein korruptes Behördensystem, dessen Auswirkungen – Missachtung der Gesetze und Vorteilsnahme – bei den Protesten auf dem Kairoer Tahrir-Platz öffentlich angeprangert wurde. Einer der Auslöser der „ägyptischen Revolution“ war der Tod des Bloggers Chaled Said. Der junge Mann war von zwei korrupten Polizisten zu Tode geprügelt worden. Ein Mord, der ein „Schlaglicht auf die von ägyptischen Sicherheitskräften Tag für Tag ausgeübte brutale Gewalt wirft“, wie Amnesty International damals befand. Mit einigen Jahren Abstand schlägt der Film nun in die gleiche Kerbe.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal

Die Wunde

(ZA/D/NL 2017, Regie: John Trengove)

Unglückliche Liebe
von Wolfgang Nierlin

Sehr lange blicken wir in das verstockte Gesicht des Gabelstaplerfahrers Xolani Radebe (Nakhane Touré), während dieser durch eine Lagerhalle im südafrikanischen Queenstown fährt und dabei förmlich zu schweben scheint. Der …

Sehr lange blicken wir in das verstockte Gesicht des Gabelstaplerfahrers Xolani Radebe (Nakhane Touré), während dieser durch eine Lagerhalle im südafrikanischen Queenstown fährt und dabei förmlich zu schweben scheint. Der zurückhaltende, introvertierte junge Mann lebt allein und ohne Mitte. Wenn er kurz danach auf der Ladefläche eines Pick-ups sitzt, der ihn in die Berge der Provinz Ostkap zu einem Initiationsritus der Xhosa bringt, wirkt er verloren. Auch wenn ihn dieses alljährliche Treffen, bei dem er als Betreuer der Initianden fungiert, seiner Liebessehnsucht näher bringt. Xolani ist nämlich homosexuell und seit Jahren mit dem verheirateten Vija (Bongile Mantsai), einem anderen Betreuer, befreundet. Wenn sich die beiden heimlich zum Sex treffen, wird schnell klar, dass Xolani ein unglücklich Liebender ist, ein Abhängiger, der nur mühsam seine Gefühle unterdrücken kann.

Denn unter den Xosha ist Homosexualität ein schweres Tabu; besonders an einem Ort, an dem die alten Traditionen mit Vehemenz gepflegt und glorifiziert werden und Jünglinge zu Männern reifen sollen. Ein rabiat durchgeführtes, ebenso schmerzhaftes wie gefährliches Beschneidungsritual gilt als erstes Zeugnis dieser Transformation zur Männlichkeit. Xolani, der einst selbst stark darunter gelitten hat, ist nun dem jungen Kwanda (Niza Jay Nicogini) aus Johannesburg zugeteilt. Dieser gilt innerhalb der Gruppe als verweichlichter „Stadtjunge“, zumal er offensichtlich aus Wohlstandsverhältnissen stammt und sich offensiv den Traditionen verweigern möchte. Tatsächlich ist der jugendliche Außenseiter ebenfalls schwul und durchschaut sehr schnell Xolanis Doppelleben: „Du hast Angst zu tun, was du willst“, schleudert er ihm entgegen. Dabei scheint sich sein eigenes Begehren zunehmend auf den provozierend attraktiven Vija zu richten.

Der weiße südafrikanische Filmemacher John Trengove, der sich mit dieser Außenseiterposition identifiziert, um sich dem komplexen Thema zu nähern, erzählt in seinem Langfilmdebüt „Die Wunde“ (Inxeba) zwar dramatisch verhalten, aber sehr intensiv und spannend von den lauernden, brodelnden Gefühlen seiner Protagonisten. In deren fragilem Beziehungsdreieck muss sich jeder auf seine Weise mit den dominanten, lebensbestimmenden Traditionen auseinandersetzen, deren patriarchalisches Konzept der Männlichkeit Homosexualität ausschließt. John Trengove, der die intimen Rituale und Spannungen innerhalb dieser zeitlich befristeten Männer-Gemeinschaft in einem dokumentarischen, gegen Darstellungsklischees arbeitenden Stil aufzeichnet, registriert das Geschehen, ohne es zu bewerten oder gar Lösungen für die thematisierten Probleme anzubieten. In seinem Film folgt vielmehr alles – gerade auch die impulsiven, schier unvermeidlichen Ausbrüche schwelender Gewalt – der inhärenten Logik notwendiger Bewegungen.

Alain delon eiskalte engel

Der eiskalte Engel

(FRK 1967, Regie: Jean-Pierre Melville)

Der Kodex der Einsamkeit
von Wolfgang Nierlin

Es gibt Leoparden, Schakale und Schafe. (J.-P. Melville, L’Ainé des Ferchaux) 1. Jean-Pierre Melvilles 1967 entstandener Film „Le Samuraï“, der in der deutschen Verleihfas­sung „Der eiskalte Engel“ heißt, ist mittlerweile …

Es gibt Leoparden, Schakale und Schafe.
(J.-P. Melville, L’Ainé des Ferchaux)

1.

Jean-Pierre Melvilles 1967 entstandener Film „Le Samuraï“, der in der deutschen Verleihfas­sung „Der eiskalte Engel“ heißt, ist mittlerweile zum Inbegriff des klassischen französischen Gangsterfilms geworden. Er gehört damit zu jenen seltenen Werken, die nicht altern und denen die Zeit nichts anhaben kann, weil sie sich ihrem Zugriff entziehen. Was Melvilles Film zeigt, ist so wirklich wie die Wirklichkeit und doch zugleich so künstlich wie es nur eine hermetisch abgeriegelte Kunstwelt sein kann. Seine bis ins Detail akribische Inszenierung folgt einer Obsession, die der Film thematisiert und zugleich abbildet: dem Ideal des Lebens als Ritual, das sich in strengen Ordnungen, festgefügten Gewohnheiten und kompromisslosem Handeln mit kalter Präzision manifestiert. In der Gesetzmäßigkeit von Melvilles Gangsterwelt spielt der Zufall keine Rolle. Vielmehr ist es der Verrat an ehernen Grundsätzen, menschliche Schwäche oder ein kleiner Fehler in einer auf Perfektion ausgerichteten Kalkulation, die die Figuren aus ihrem Gleichgewicht bringt und ihre unbedingte Stellung in dem sie bedingenden System in Frage stellt. So kann der Killer Jeff Costello (Alain Delon) von sich sagen: „Ich verliere nie – niemals wirklich.“ Leben und Arbeit sind bei ihm untrennbar miteinander verknüpft. Streng und unnachgiebig gegen sich und andere versucht er, das sich selbst auferlegte Gesetz zu erfüllen, um im kompromisslosen Handeln seine Integrität zu wahren. In der Evidenz einer solchen Existenz liegt zugleich ihre Verwundbarkeit: Einmal im Ungleichgewicht, kann Costello nur durch die äußerste Konsequenz seines Freitodes das Gleichgewicht wiederherstellen. Die in seinem Ehrenkodex niedergelegte Klarheit der Einsamkeit rettet ihre Unabhängigkeit in der letzten aller möglichen Selbstbestimmungen: in der Unangreifbarkeit eines heldenhaften Todes. Wie ein Samurai, der sich der Schmach der Gefangennahme durch Harakiri entzieht, erfüllt Costello das Ideal seiner Existenz.

* * *

2.

So wie Regisseur Melville ein Meister der Konzentration ist, dessen funktionale Ästhetik Raum, Zeit und Aktion in größtmöglicher Dichte miteinander verknüpft und damit durch Reduktion seiner Elemente größtmögliche formale Geschlossenheit und Transparenz erreicht, ist seine Kunstfigur Joseph Costello eine Meister der Askese, der das Tageslicht meidet und sich durch die Stadt vorzugsweise in der Untergrundbahn bewegt. Seine spärlich eingerichtete Einzimmerwohnung ist zugleich Klause und Zelle, Zufluchtsort und provisorische Unterkunft: das innenräumliche Pendant zum Außenraum der Stadt. Schon die Metapher des Vogels im Käfig, zu dem Costello bezeichnenderweise eine wortlose, instinktive Beziehung unterhält, die jenseits von Misstrauen, Zweifel und Betrug liegt, verweist durch ihren Status als integrativer Bestandteil des dramatischen Geschehens auf diese Ambivalenz. So ist der Vogel im Käfig nicht nur ein Spiegelbild für die existentielle Situation des Helden und für die Ambiguität seiner Einsamkeit zwischen Selbstschutz, Selbstvervollkommnung und Selbstzerstörung, sondern an der Aufgeregtheit und Nervosität des Tieres kann Costello zugleich den Grad seines eigenen Bedrohtseins ablesen, da dieses mit Veränderungen im Raum und mit der Anwesenheit fremder Eindringlinge korreliert, was die Unruhe des Vogels wie ein Indikator anzeigt. Zugehörigkeit zu einem Raum, die Bewegung in ihm, seine Okkupation: Konstituenten einer existentiellen Zuspitzung, deren Suggestion den Zuschauer erfasst und bannt, seinen Körper zur Identifikati­on mit dem Körper des Samurais bringt. So vollzieht sich der Fatalismus der griechischen Tra­gödie im kathartischen Raum eines Films, von dem Melville sagt, dass es ein japanischer sei.

* * *

3.

Fast sprichwörtlich geworden ist das vom Regisseur erfundene Motto des Films, das er dem Samurai-Buch „Bushido“ entnommen haben will: „Es gibt keine größere Einsamkeit als die eines Samurai, es sei denn die eines Tigers im Dschungel.“ Als „einsamen Wolf“ bezeichnet der Kommissar (François Périer) an einer Stelle des Films seinen Kontrahenten, um damit sein un­angreifbares Einzelgängertum zu beschreiben, das sich jeglichem Zugriff zu entziehen versucht, indem es die Abhängigkeiten von Beziehungen meidet. Obwohl Costello sowohl bei der Konstruktion als auch bei der Aufrechterhaltung seines Alibis auf Menschen angewiesen ist und sich also in eine für ihn gefährliche Abhängigkeit begibt, verbindet sich damit nur scheinbar sein Verhängnis. Denn die Beziehungen, die er unterhält oder eingeht, gründen nicht auf einem Vertrag, der den Ausgleich zwischen den wechselseitigen Ansprüchen des Gebens und Nehmens regelt, sondern auf der persönlichen Integrität singulärer Individuen, die sich an überzeitlichen Idealen bemisst und Begriffe wie Ehre und Treue in allgemeiner Weise zu verwirklichen sucht. Das konkrete Ereignis mit seinen zu gewärtigenden Widrigkeiten oder Anfechtungen ist lediglich ein Prüfstein, um die Stärke einer Persönlichkeit zu erweisen. So sind es nicht in erster Linie die Gefühle, die die beiden Hauptzeuginnen, Costellos Geliebte Jeanne (Nathalie Delon) und die schwarze Pianistin Valérie (Cathy Rosier), veranlassen, diesen zu entlasten und vom Verdacht des Mordes am Besitzer des Nachtclubs „Martey’s“ freizuspre­chen, sondern deren sich selbst verpflichtete Unabhängigkeit, die eine einmal getroffene Entscheidung streng und konsequent verfolgt. Moralische Erwägungen spielen dabei eine un­tergeordnete Rolle, weshalb die Pianistin eine Komplizin der Verbrecherorganisation sein kann und Costellos Freundin dem Kommissar gegenüber äußern darf, dass sie ihren Freund nicht liebe. Beide beharren unerschütterlich darauf, die Wahrheit zu sagen.

* * *

4.

Überraschenderweise wird hier ein vermeintliches Männerideal in gleicher Weise von Frauen verkörpert. Denn „Le Samuraï“ ist vor allem ein Film über Männer und deren Rituale, die von der Kleidung des Gangsters als einer Rüstung des Kriegers bis zum klassischen Polizeiverhör und der damit verbundenen Gegenüberstellung, in der wiederum die Kleidung als dramaturgi­sches Element zum Indiz für die Relativität von Wahrheit in Abhängigkeit von der subjektiven Wahrnehmung wird, die Handlung durchziehen. Dazu gehört sowohl der obligatorische Blick Costellos in den Spiegel beim Verlassen des Zimmers, der den Sitz des Hutes prüft, wobei die Hand über die Hutkrempe streicht, als auch die westernmäßige Duellsituation, in der Costello immer den gegnerischen Griff zur Waffe abwartet, ehe er selbst schießt. In der rituellen Handlung manifestiert sich die Unbedingtheit eines kompromisslos sich selbst verpflichteten Lebens, das sich in der Arbeit eines streng ausgeübten Handwerks vollzieht und in der konsequenten Verfolgung eines bestimmten Ziels die kleinsten Veränderungen bzw. Störungen registriert und integriert oder aber als irrelevant ausschließt, beispielsweise wenn das Desinteresse des Killers gegenüber der Persönlichkeit seiner Opfer thematisch wird. Am offensichtlichsten wird diese Arbeits- und Lebensregel, die einer Übung in Askese gleich­kommt, wenn Costello bei seinen Autodiebstählen unerschütterlich und – dabei einen patrouillie­renden Streifenpolizisten provokativ ignorierend – die Schlüssel seines mit großer Auswahl bestückten Schlüsselbundes nach keinem anderen Prinzip als dem der Reihenfolge durchpro­biert. Das Erreichen des Zieles ist nur eine Frage der Zeit, der Geduld, der sich selbst bewuss­ten Coolness. Das mechanische, kalkulierte Handeln ist die Entsprechung für ein rigides Bewusstsein. Dass die Polizei beim Einbruch in Costellos Wohnung ebenso verfährt, illustriert lediglich Melvilles These, dass zwischen Gangster und Polizist kein prinzipieller Unterschied besteht. Deshalb kann der sich als liberal gebende und bei seinen Ermittlungen mit Einschüch­terungen und psychischen Manipulationen arbeitende Kommissar alle Spekulationen in bezug auf den möglichen Täter, seine Strategie und Verfolgungsmethoden zurückweisen, indem er sagt: „Ich denke niemals.“

* * *

5.

Jean-Pierre Melville hat mit „Le Samuraï“ einen Film gemacht, der seine Bedingungen zeigt und die sich daraus ergebenden Konsequenzen vollzieht. Die Ordnung des Lebens, die sich in der Einsamkeit des Helden widerspiegelt, der den Tod als äußerste und zugleich letzte Möglichkeit versteht, diese Einsamkeit zu verwirklichen, ist die Ordnung eines Übermenschen, dessen Ehre sich in seinem Handeln erweist. Vermutlich folgt die formale Perfektion des Films der perfekten Einsamkeit seines im Verborgenen lebenden Schöpfers, der als Samurai in seinem amerikanischen Ford Galaxy die Außenbezirke des nächtlichen Paris durchstreifte.

Adieu au langage

(CH 2014, Regie: Jean-Luc Godard)

Im Wald der Bilder
von Wolfgang Nierlin

Vielleicht nähert man sich den Filmen aus dem Spät- und Alterswerk Jean-Luc Godards am besten in der Negation, also indem man beschreibt, was sie nicht sind und dabei die Möglichkeiten …

Vielleicht nähert man sich den Filmen aus dem Spät- und Alterswerk Jean-Luc Godards am besten in der Negation, also indem man beschreibt, was sie nicht sind und dabei die Möglichkeiten der Rezeption zu diesem Nicht-Sein in Beziehung setzt. Godardfilme, wie Klaus Theweleit sie einmal genannt hat, erzählen keine Geschichten, auch wenn sie manchmal so tun. Sie stehen jenseits des konventionellen Erzählkinos, sagen aber nicht, was sie sind und wo genau ihr Ort ist. Weil sie nichts erzählen oder nur so tun, ist der Zusammenhang dessen, was sie zeigen, ebenso willkürlich und zufällig wie flüchtig. Godardfilme bestehen insofern aus Teilen oder Fragmenten, aus Bildern und Tönen, die in der Montage zwar miteinander verknüpft sind, aber sich nicht notwendigerweise aufeinander beziehen oder miteinander zusammenhängen. In diesen Fragmenten entkoppelter Bilder und Töne verflüchtigt sich das Ganze. Die Synthese ist gewissermaßen auf der Flucht. Die Dekonstruktion der Form zersetzt zugleich den Inhalt oder das, was man traditionell als Thema eines Films bezeichnet. Wenn es keine Antworten gibt, dann gibt es vielleicht auch keine Fragen.

Godardfilme sind postmoderne Sammlungen verschiedener visueller und akustischer Materialien von unterschiedlicher Güte und Qualität. Sie beinhalten sowohl Dokumente in Form audiovisueller Zitate und gefilmter Tatsachen als auch Fiktionen. Nur sind die immer rudimentärer werdenden Spielszenen nicht mimetisch: Sie bilden keine Wirklichkeit ab, sind nicht die Inszenierung von Charakteren, die Gefühle oder Seelenzustände darstellen, sondern reine Handlung beziehungsweise Aktion oder auch „Körperbild“. Sie resultieren nicht aus einem Handlungsgrund, der wiederum eine Absicht verfolgen würde. Ihr improvisierender Gestus fügt sich vielmehr gleichrangig ein in die assoziativ, spontan und zufällig organisierte Struktur. Jenseits der Erzählhierarchien sprechen die Teile, deren Summe zwar kein Ganzes, aber vielleicht eine Kohärenz ergibt.

Wer aber spricht tatsächlich, ließe sich fragen angesichts der wechselnden Stimmen, die sich nicht ohne weiteres einem Träger zuordnen oder überhaupt identifizieren lassen. Godardfilme erzeugen Orientierungsverluste, indem sie dem Rezipienten Identifizierungsmöglichkeiten vorenthalten. Sie überfordern durch eine größtmögliche Zahl gleichzeitiger Ereignisse. Trotzdem oder gerade deshalb vermitteln sie starke ästhetische Erlebnisse, sind sie persönlich, eigentümlich und poetisch. Sie verwirren das Sehen und Denken und wirken physisch nach. Noch in den Abspanntiteln negieren Godarfilme das Subjekt des Künstlers, dessen eigenwillige Handschrift andererseits zuvor doch alles organisiert hat.

Jean-Luc Godard, der als Meister des Zitats die Autorenschaft seiner späten Filme förmlich ablehnt, liebt das Spiel mit Nivellierungen, Umkehrungen, Paradoxien und Kalauern, was immer auch komisch ist. Der Unernst und damit das Uneigentliche ist den Werken dieses großen Verweigerers, Bilderstürmers und Rebellen eingeschrieben, der mit jeder neuen Arbeit die Differenz fortschreibt. „Ich bin hier, um nein zu sagen“, heißt es wiederholt in seinem 3-D-Filmexperiment „Adieu au langage“. Dieses Nein ist in dem verzweigten Filmessay wörtlich und bildlich, direkt und indirekt zu verstehen, formuliert Kritik und ist zugleich künstlerisches Prinzip. Godards Nein bezieht sich auf die gesellschaftliche Zurichtung des Individuums, meint insofern individuelle und politische Unfreiheit, aber auch der zerstörerische Determinismus von Geschichte, die Logik des Krieges und ganz allgemein die „Demütigungen“ der menschlichen Existenz.

In „Adieu au langage“ richtet sich das Nein vorzugsweise aber auch gegen die filmische Illusion. „Wer keine Phantasie hat, flieht in die Realität“, lautet der paradox erscheinende erste Satz des Films, der das Analoge von Sprache und Schrift der digitalen Bilderwelt entgegensetzt. Deren Zerstörungen, in denen sich Gegenwart und Kunst gleichermaßen verflüchtigen, markieren für Godard eine Zuspitzung der Realität. Der Filmemacher, der sich als Künstler im Widerspruch zwischen Leben und Kunst gefangen sieht, antwortet darauf, indem er mit den Mitteln des Films und hier besonders der 3-D-Technik die „Realitätserfahrung“ noch forciert. In „Adieu au langage“ schweben die Buchstaben und Wörter im Raum, verdeckt der Vordergrund öfters das Dahinterliegende, streben die Bilder über ihren Rahmen hinaus, sind die Proportionen der Gegenstände und Körper verzerrt und immer wieder sehr nah oder wird gar das stereoskopische Bild quasi „gespaltet“ und auf zwei parallele Handlungen „verteilt“.

Godards visuelle Experimente bewirken anstrengende Seherfahrungen, die die Bedingungen filmischer Illusion fortwährend befragen und den Rezipienten in eine Reflexionsdistanz setzen. Die Welt der Bilder als undurchdringliches Dickicht erscheint hier nicht weniger als ein Wald als die reale Welt, um eine im Film aufgerufene Metapher zu verwenden. Jean-Luc Godards stets erneuerte Flucht vor den Identitätsfallen im Sprechen und Denken, in Film, Kunst und Literatur führt als geradewegs – den Weg vom Menschen zum Tier eingeschlossen – in die Natur.

The Night of the Virgin

(ES 2016, Regie: Roberto San Sebastián)

Die dunkle und schleimige Höhle, in der wir wohnen
von Nicolai Bühnemann

In einem sehr treffenden Artikel beklagte Rajko Burchard, dass der Filmvorspann im Gegenwartskino eine ausgestorbene Kunst sei. Das stimmt natürlich – größtenteils. Ein Gegenbeispiel bietet „La noche del virgén“. Hier …

In einem sehr treffenden Artikel beklagte Rajko Burchard, dass der Filmvorspann im Gegenwartskino eine ausgestorbene Kunst sei. Das stimmt natürlich – größtenteils. Ein Gegenbeispiel bietet „La noche del virgén“. Hier sehen wir zunächst in einem winzig kleinen Fenster, mittig auf der Leinwand, eine Fernsehsendung, in der eine Moderatorin und ein Moderator, der eine Dracula-mäßige Kutte trägt, uns auf einen Jahreswechsel einstimmen sollen und zwar den von 2015 auf 2016. Wie vieles später in diesem Film scheinen die beiden und ihre Sendung irgendwie aus der Zeit gefallen zu sein. Weder das 4:3-Bildformat, die Artefakte, die es durchflimmern, noch die ganze Aufmachung scheinen sonderlich viel mit der zweiten Hälfte der 2010er zu tun zu haben.

Während die beiden, mäßig komisch, aber sehr sonderbar, über ihre Schwangerschaft, von der sie nichts weiß, darüber, dass im Jahr, das kommt, doch bitte weder David Bowie noch Prince noch George Michael sterben müssen (oder wenn doch einer von ihnen, dann nur letzterer), über die Religiosität von Festen (Weihnachten ist doch wohl ein religiöses Fest, schließlich wurde da unser Herr, Jesus Christus, geboren) und über die Migranten, die unten vor dem Tor gefälschte Fußballtrikots verkaufen, wird ihr kleines Fenster immer größer, bis es schließlich die gesamte Scope-Leinwand ausfüllt. Die Fernsehsendung wird also nach und nach zu dem Film, den wir sehen, nur um dann wieder aus ihm ausgelagert zu werden, in den Hintergrund des Geschehens in seiner ersten Szene, die in einem Club spielt, in dem Menschen ins neue Jahr hinein feiern und tanzen.

Hier lernen wir auch unseren Protagonisten kennen, der Nico heißt (Javier Bódalo) und die Jungfrau aus dem Titel ist (der spanische Originaltitel, der übrigens leinwandfüllend, in sehr ansprechend gestalteten Lettern vor rotem Hintergrund eingeblendet wird, was wiederum sehr schön ist, verrät übrigens, anders als seine deutschen oder englischen Übersetzungen, bereits, dass es sich um eine männliche Jungfrau handelt). Nico ist auf der Suche nach einer Frau, tanzt dann zunächst auch mit einer, die jung und attraktiv, aber auch so breit ist, dass die beiderseitige Annäherung abrupt damit endet, dass sie auf die Tanzfläche kotzt. Schließlich geht er, der mit seinem schiefen Blick und seinem sonderbaren Gebiss nicht eben als Schönheit zu bezeichnen ist, nun doch mit einer Frau mit, die aber nun bedeutend älter ist als er.

Als sie in ihrer Wohnung ankommen, wird es dann schnell so weird, wie es schon der Vorspann vermuten ließ, auch wenn uns dieser sicherlich nicht vollends auf die geballte Sonderbarkeit vorbereiten konnte, die uns erwartet – ich glaube, nichts könnte das. In ihrer Wohnung also gibt sie ihm zunächst die Anweisung, nicht auf die Kakerlaken zu treten, die hier überall über den Boden flitzen, das bringe nämlich Pech. Dass er dann doch auf eine tritt, der Film zeigt uns die zertretene Kakerlake, die er sich nun von seinem Schuh abpult und in seine Hosentasche steckt, im Close-Up, ist wohl der Grund für das, was ihm im weiteren Film widerfahren wird, wenn es denn dafür irgendeines Grundes bedarf.

Jedenfalls erzählt sie in ihrer einmalig versifften Wohnung von mythischen Kriegerinnen, hat eine buddhistische Statue rumzustehen und heißt denn auch, passend zu all dem, Medea (Miriam Martín). Er lügt darüber, mit wie vielen Frauen er Sex hatte (drei und dazu noch einige Huren, deren Zahl variiert). Medea und wir wissen natürlich, dass er noch Jungfrau ist. Über WhatsApp unterhält er sich mit einem Kumpel über das bevorstehende Glück, wird von diesem in mit sexuellen Kraftausdrücken gespickter Sprache dazu angefeuert, der Oma mal zu zeigen, wo der Hammer hängt – und Fotos zum Beweis zu machen. Zunächst holt sie ihm dann bald einen runter, hält aber Inne, ehe er fertig ist. Er beendet dann, was sie angefangen hat, zunächst an einem ihrer Slips riechend, der offenbar so stinkt, dass er es nach dem zweiten Versuch aufgibt. Als Vorlage verwendet er übrigens ein altes Fotoalbum von ihr. Der Schnitt, der nicht nur hier ziemlich toll ist, zeigt in immer schnellerem Wechsel, das sich zu einem Stakkato steigert, sein Gesicht, seinen Schwanz in seiner Hand und die sonderbar aufreizenden Fotos in dem Album. Schließlich kommt er. Und wie! Sein – übrigens recht kleiner – Schwanz wird regelrecht zum Feuerwehrschlauch, aus dem es spritzt und schäumt, dass es nur so eine Art hat.

Es kommt bald ihr Freund hinzu, der von draußen, aus einem Außen, das es in diesem Film eigentlich längst nicht mehr zu geben scheint, gegen die von ihr sorgfältigst verriegelte Tür hämmert und brüllt, droht und flucht, was das Zeug hält. Er heißt übrigens Araña (spanisch für „Spinne“, Víctor Amilibia). Wer lernen möchte, auf Spanisch zu fluchen, dem sei die Originalversion von „La noche del virgén“ ans Herz gelegt, in der wohl, mehr als einmal, jedes nur erdenkliche Schimpfwort vorkommt, das diese Sprache zumindest im iberischen Raum zu bieten hat. Daran hat dann eben Araña hinter der Tür den größten, wenn auch sicherlich nicht den einzigen Anteil. Das I-Phone von Nico, übrigens ein auch zum Zeitpunkt der Handlung schon ziemlich veraltetes Modell, mit dem er die Polizei rufen will, lässt Medea, die von dieser Idee nichts hält, dann verschwinden – in ihrer Möse.

Bei zwei Fluchtversuchen aus der Wohnung hängt unsere tapfere, im Verlauf des Films mehr und mehr geschundene Jungfrau aus dem Fenster, wo ihr in zwei Szenen jeweils zwei Männer nicht helfen wollen. Das erste Männer-Paar erscheint in einem Fenster über ihm, zunächst ein Kopf, der stöhnt und sich rhythmisch vor und zurück bewegt, dann hört das Stöhnen und die Bewegung auf und neben dem Kopf erscheint ein zweiter, sie beschimpfen ihn nicht nur ziemlich wüst, sondern werfen ihm schließlich auch ein benutztes und gut gefülltes Kondom ins Gesicht. Der Abspann, in dem alle Figuren noch einmal zu sehen sind, und ihre Rollen- und Darstellernamen eingeblendet werden, stellt sie uns übrigens als aktiver und passiver Sodomit vor. Ob das nun homophob oder einfach nur geschmacklos ist, spielt im Kontext dieses Films kaum eine Rolle. Denn Tabubruch und Geschmacklosigkeit dienen hier nicht, wie bei, sagen wir, Rolf Olsen, Paul Verhoeven oder in „You Don’t Mess with the Zohan“ (Denis Dugan, USA 2008) dazu, unter dem Teppich hervorzuholen, was der gute Geschmack und das, was heute political corectness genannt wird, lieber gründlich unter ihn gekehrt wissen, sondern sind reiner Selbstzweck.

Das zweite Männerpaar ist dann nicht über, sondern unter ihm, zwei Penner auf der Straße, die sich zunächst einfach über ihn lustig machen, indem sie vorgeben, mit einem schon wieder aus der Zeit gefallenen Telefon, dessen Kabel ins Nichts läuft, die Polizei zu rufen, dann aber auch dazu übergehen, ihn mit Kraftausdrücken zu traktieren. Man würde den Film wohl zu ernst nehmen, wenn man fragen würde, ob Schwule und sozial Benachteiligte einfach so sind, es geht eben nur darum, dass er die im Exploitationkino ja immer vorherrschende Tendenz, dass die Menschen nicht sonderlich freundlich oder hilfsbereit sind – man kann für dieses Kino mehr oder minder verallgemeinern, was Jacques Rievette in denkwürdigen Worten über die Filme Paul Verhoevens sagte: „Es geht ums Überleben in einer Welt, die von Arschlöchern bevölkert wird“ – auf die Spitze zu treiben. Es geht dabei aber, und dafür ist es dann doch wieder bedeutend, dass die Arschlöcher hier schwul und obdachlos sind, wiederum nur darum, zu provozieren. Das will auch gute Exploitation, aber sie will, das ist wohl der maßgebliche Unterschied zu schlechter Exploitation, mehr als das.

So geht das weiter. Ohne zu verraten, wie genau (der Film ist über weite Strecken so eigenartig, dass es einen Gutteil seines Reizes ausmacht, dass man keine Ahnung hat, wo das noch hinführen soll), sei doch so viel gesagt: Ein Kind wird geboren werden. An der Kinotür beim Screening auf dem diesjährigen Fantasy Filmfest wurden übrigens Kotztüten verteilt und auch wenn sie wohl niemand im Saal tatsächlich benutzt hat, saut der Film dann im Finale so sehr rum, dass es auch hartgesottenen Genrefans etwas flau im Magen werden kann. Am Ende sind der ganze Film, die Wohnung, die Figuren und Telefone imprägniert mit Kotze, Blut, Scheidensekret und wohl noch anderen Körperflüssigkeiten, von deren Existenz wir zuvor wahrscheinlich nicht mal ahnten. In der vor Dreck geradezu starrenden Wohnung, in der der Großteil des Films spielt, befinden wir uns wohl im Inneren eines Körpers, in der dunklen und schleimigen Höhle, in der wir wohnen. Man darf wohl, den Themen von Geburt et al entsprechend, davon ausgehen, dass es sich um einen Mutterleib handelt.

Und nun? Tja, ich war gebannt, hab mich geekelt, bin mir bewusst geworden, dass das Leben und sein Zyklus, dass Geburt und Tod und alles, was zwischen ihnen liegt, verdammt schmerzhaft sein können (was immerhin eine Erkenntnis ist, wenn auch keine sonderlich neue) und habe mich im Endeffekt dann aber doch nur gefragt: Was soll der Scheiß?

Bullitt

(USA 1968, Regie: Peter Yates)

Ohne Grund zur Arbeit
von Nicolai Bühnemann

Dies ist eine Einführung zu „Bullitt“, die ich auf dem dritten KARACHO – Festival des Actionfilms gehalten haben, das vom 8. bis 10. September 2017 im Nürnberger KommKino statt fand. …

Dies ist eine Einführung zu „Bullitt“, die ich auf dem dritten KARACHO – Festival des Actionfilms gehalten haben, das vom 8. bis 10. September 2017 im Nürnberger KommKino statt fand.

Wie gestern möchte ich auch heute mit einem Zitat beginnen, das diesmal von einem Kritikerkollegen stammt, der hier im KommKino schon sehr oft ein sehr gerne gesehener Gast war. Oliver Nöding schreibt in seiner Kritik zu „Touch of Evil“ auf seinem Blog Remember it for later: „Orson Welles hat mit „Touch of Evil“ sowohl inhaltlich wie formal das Kunststück vollbracht, im Jahr 1958 nicht nur die Fünfziger-, sondern sogar schon die Sechzigerjahre hinter sich gelassen zu haben. Wir sind hier schon im pessimistischen, ja, zynischen Polizeifilm der Siebzigerjahre angelangt, nur noch Versatzstücke sowie Lokal- und Zeitkolorit erinnern uns daran, wo wir uns wirklich befinden.“

Der von Orson Welles selbst gespielte rassistische Quinlan, laut Oliver „fulminant fett und furchteinflößend“, nimmt also demnach schon die großen und großartigen Erzreaktionäre Dirty Harry Callahan und Jimmy „Popeye“ Doyle vorweg, die uns in den frühen Siebzigern zu atemberaubenden Reisen ins Herz der Finsternis einluden, das zu dieser Zeit nicht im Kongo oder Kambodscha schlug, sondern auf den Straßen von San Francisco und Brooklyn, aber vor allem in den Figuren selbst, die wir durch den concrete jungle begleiten. Es gab denn auch einen linken Gegenentwurf zu den zuvor genanten: Frank Serpico. Egal auf welcher Seite der ideologischen Grabenkämpfe der Zeit sie stehen, sie eint nicht nur ihre tiefe Zerrissenheit, sondern auch, dass sie sich, vielleicht das wichtigste Narrativ im Kino der Zeit überhaupt, aber insbesondere des sogenannten New Hollywood, im Kampf mit einem System befanden. Dieses ist, auch hier ist die politische Ausrichtung egal, der Polizeiapparat. Bei Callahan ist er nach den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Sechziger so „liberal“, dass er ihn hindert, seinen Job zu machen, mit knallharter Hand und .357 Magnum so richtig aufzuräumen, mit den Worten eines anderen großen Faschisten des amerikanischen Kinos der Siebziger, all den Abschaum von den Straßen zu spülen. Bei Serpico hingegen ist er so korrupt, ja, mafiös organisiert, dass die einzigen Verbrecher, die er überhaupt noch bekämpfen kann, Verbrecher with a badge sind.

Warum erzähle ich das alles? Nun, weil wir heute Abend mit „Bullitt“ von Peter Yates einen Polizeifilm sehen werden, der genau aus der Dekade stammt, die Welles überspringt, und ich die Frage interessant finde, wie sich ein berühmter Filmcop aus einem berühmten Copfilm in den Sechzigerjahren zu seinem Vorgänger und seinen Nachfolgern verhält, die sich ja, folgt man Oliver, was ich an dieser Stelle unbedingt tue, recht ähnlich sind.

Doch fangen wir am Anfang an. Rajko Burchardt beklagte einst in einem Artikel, dass die große Kunst des Filmvorspanns leider im Gegenwartskino größtenteils ausgestorben sei. Ein vortreffliches Beispiel dafür, wie Vorspann einst ging, aber eben leider nicht mehr geht, können wir in „Bullitt“ bewundern. Zu dem funky swingenden Score von Lalo Schifrin sehen wir Räume und die Männer in ihnen im Chrom eines Lampenschirms gespiegelt. Da fliegen die Credits auf uns zu und übernehmen die Rolle von Überblenden, lassen ein Bild ins nächste gleiten, wobei die Bilder mal farbig, mal schwarz-weiß sind und Männer zeigen, die ihrem hier absolut undurchsichtig bleibenden Gangsterhandwerk nachgehen. Ein nicht nur in sich abgeschlossenes, sondern auch absolut hermetisches kleines Kunstwerk ist dieser Vorspann.

Steve McQueen gibt die Titelfigur mit extremen Understatement. Schon darin könnte er von der Schmiere von Welles Quinlan, dem Knurrigen von Eastwoods Callahan oder dem Cholerischen von Hackmans Doyle kaum weiter entfernt sein. Mit Pacinos Serpico verbindet ihn immerhin, dass er dem Film seinen Titel gibt und sie den gleichen Vornamen teilen: Frank. Ansonsten allerdings auch rein gar nichts. Bullits stoische Ruhe scheint den ganzen Film anzustecken, der im allgemeinen ziemlich slow paced ist und sein Tempo dann immer nur in seinen Actionszenen abrupt steigert.

Auch Bullitt, der zu Beginn den Auftrag erhält, einen Mann zu beschützen vor einer Organisation, die immer nur „die Organisation“ genannt wird, wird sich mit seinem Auftraggeber anlegen. Jedoch bedeutet das bei ihm so gut wie nichts. Steht das Entstehungsjahr des Films, 1968, oft geradezu synonym zum Menschen in der Revolte, dann liefert Yates uns eine große Gegenerzählung, indem er von einem Mann erzählt, der längst aufgegeben hat. Wenn er denn jemals ein Kämpfer war, des Kämpfens wohl schon vor langer Zeit endgültig müde geworden ist und nur noch wie ein Roboter funktioniert. Er raucht nicht, er säuft nicht, er stopft keine Hot-Dogs in sich hinein, er flucht selten und haut niemandem auf die Fresse, kurz gesagt, er tut nichts von all dem, was so vielen anderen Bullen der Filmgeschichte vielleicht eine kurzfristige Linderung von ihrem sonst ziemlich tristen Dasein verschafft. Käuflich ist er zwar nicht. Was sollte er aber auch mit dem Geld, das er verdienen könnte, wenn er es wäre, machen? Eine Freundin hat er zwar und eine äußerst attraktive noch dazu, weiß mit ihr aber augenscheinlich so gar nichts anzufangen. Mit dieser, gespielt von Jacqueline Bisset, führt er an einer Stelle folgenden Dialog: Sie: „Ist dein Inneres je berührt? Wirklich berührt? Oder kommt nichts mehr an dich heran? Du lebst im Morast. Tag für Tag.“ Er: „Man kann dem nicht entfliehen.“ Sie: „Ich weiß, aber ich will es nicht sehen. All das Hässliche um uns herum. Du lebst mit Gewalt und dem Tod.“ Er schweigt und durch sein Schweigen spricht hier einer, der längst resigniert hat gegenüber dem Grauen, aber vor allem gegenüber der Tatsache, dass er nichts an ihm ändern wird. Wenn es einen Grund dafür gibt, dass Frank Bullitt immer noch jeden Morgen aufsteht und zur Arbeit geht, dann erfahren wir ihn in den 114 Minuten des Films nicht mal im Ansatz.

Über „Bullitt“ kann man sicherlich nicht sprechen, ohne seine große Verfolgungsjagd zu erwähnen, die zehn Minuten und 53 Sekunden dauert und eine der berühmtesten der Filmgeschichte ist – schon gar nicht im Kontext eines Festivals, das sich ganz dem Actionfilm widmet. Sie geht betont langsam los und steigert sich in einem großen Crescendo, wenn der Verkehr immer dichter wird und die Verfolgten aus ihrem Dodge Charger mit einer Schrotflinte das Feuer auf Bullitts Ford Mustang eröffnen. Sie endet mit einem Knall, mit erheblichem pyrotechnischen Aufwand und damit, dass die buchstäblich zur Strecke gebrachten Gangster im Feuer schmoren.

Mit einem Gedanken zu dieser denkwürdigen Szene möchte ich dann auch schließen. Wenn es einen Abschnitt auf der IMDb-Seite eines Films gibt, den ich immer geflissentlich ignoriere, dann sind es die Goofs. Gestern habe ich eine Ausnahme gemacht und mit Grauen, wohlgemerkt: vor der Seite, nicht dem Film, festgestellt, dass an dieser Stelle zu „Bullitt“ insgesamt 53 Filmfehler gelistet werden. Sensationelle 23 davon nur bei der Verfolgungsjagd. Wenn also, um nur den markantesten und bekanntesten der „Fehler“ zu nenne, der Dodge wesentlich mehr als vier Felgen verliert, dann gibt es wohl Leute, die das als reine Schlampigkeit abkanzeln, ich hingegen möchte es lieber als ein starkes Statement für die künstlerische Autonomie des Kinos begreifen, das sich eben, wenn überhaupt, nur an seine eigenen Regeln zu halten hat, sich von dem, was man gemeinhin Realität nennt, immer wieder emanzipieren darf, ja, vielleicht sogar muss. Oder, etwas anders ausgedrückt: man kann diese Szene auch so lesen, dass der Film mit ihr den Erbsen-, Filmfehler- und Felgenzählern des Internetzeitalters über die Jahrzehnte hinweg den Mittelfinger zeigt.

Immer noch eine unbequeme Wahrheit – Unsere Zeit läuft

(USA 2017, Regie: Bonni Cohen, Jon Shenk)

Immer noch Al Gore
von Jürgen Kiontke

Amerikaner wissen, wie man dramatische Filme dreht. „Dies ist unser Zuhause – lasst euch nicht erzählen, wir würden in Raumschiffe steigen und zum Mars abhauen!“, warnt der US-Präsident. „Es geht …

Amerikaner wissen, wie man dramatische Filme dreht. „Dies ist unser Zuhause – lasst euch nicht erzählen, wir würden in Raumschiffe steigen und zum Mars abhauen!“, warnt der US-Präsident. „Es geht um alles, wir müssen die Menschheit retten!“ Das Symphonieorchester weiß, was es zu tun hat.

Du bist nicht in der nächsten „Transformers“-Folge und auch nicht in „Independence Day 3“. Es ist schlimmer. Der Film heißt „Immer noch eine unbequeme Wahrheit“ und ist die unbequeme Fortsetzung von „Eine unbequeme Wahrheit“ aus dem Jahr 2006. Der charismatische Typ, der da redet, ist immer noch der ehemalige US-Vizepräsident Al Gore, der mit 537 Stimmen in Florida gegen George Bush die Wahl verlor. Stattdessen bekam er den Friedensnobelpreis.

„Wir müssen aktiv werden, bevor die USA ein Schurkenstaat werden“, sagt er. Gore würde sich auch heute gut machen als US-Klima-Präsident. Warum bloß hat er nicht noch mal kandidiert? Schade, denkt man. Er wäre wohl passender als Donald Trump. Der tritt hier auch auf, als naturfeindlicher Anti-Gore. Da steht er in einer seiner Wahlversammlungen, die bis heute andauern, und ruft ins Publikum: „Heute soll es 21 Grad warm sein. Es ist aber eiskalt. Wer sagt denn mal: Wir brauchen eine globale Erwärmung?“

Im neuen Film der „Unbequeme Wahrheit“-Macher dient Trump als abschreckendes Beispiel. Gut 100 Minuten lang werden ihm und uns Bilder von Stürmen, Überschwemmungen und Waldbränden entgegengehalten. Den meisten Ärger habe er nach seinem ersten Film mit der Aussage gehabt, das 9/11-Denkmal in New York werde versinken, wenn der Meeresspiegel steigt. 2012 war es beinahe so weit: Hurrikan Sandy setzte ihn immerhin unter Wasser. „Sie hat einen guten Job gemacht“, würde Trump wohl sagen.

Gore hat solche Orte mit einem Kamerateam besucht, schüttelt Hände, stellt sich mit Gummistiefeln in die Pfütze, spricht mit Klimaexperten und Trost zu. Dann flitzt er zum nächsten Schauplatz, steht inmitten tauenden Eises am Süd- oder Nordpol, schaut beim Pariser Klimagipfel vorbei. Er hält seinen berühmten Slideshow-Vortrag und bildet Naturschützer aus.
Wie im Katastrophenspielfilm üblich, kommt bei all dem jede Menge Technik zum Einsatz. Gore benutzt iPhone, iPad, Beamer, VW-Geländewagen – ausgerechnet-, Riesenlimousinen, Heli, das Forschungsschiff und Kapitalismus. Der Klimaretter à la USA ist nicht technikfeindlich, im Gegenteil. Die Technik wird uns helfen. Es drohen viele neue Kohlekraftwerke im Schwellenland? Ein Anruf, schon beginnt in Indien das Zeitalter der Solartechnik. Technik ist was Gutes: Grüne jedenfalls. In den letzten Jahren hat sich die Industrie durchaus zum Positiven entwickelt, sagt Gore.

Der Al Gore dieses Films ist ein moderner und antiker Unternehmer zugleich: Diese gewichtige, visionäre Renaissance-Figur geht mit neuesten Ideen vorneweg. Ein Heinrich der 8. der postfordistischen Produktion. Egal, mit wem er spricht: Er wirkt mitreißend und überzeugend auf seine Gesprächspartner – wenn sie nicht ohnehin schon auf die richtige Seite gekommen sind. Wie jener specknackige Bürgermeister einer texanischen Stadt, die komplett auf erneuerbare Energien umgestiegen ist. Nicht weil es das Klima schont. Sondern weil es billiger ist. Aber richtige Gesprächspartner sind das nicht, die braucht der Protagonist eigentlich nicht. Denn dieser Film ist ein Monolog. Eine Rede an die Erde, mit uns darauf. Der Filmheld wird sie und uns retten, ganz sicher! Vielleicht werden wir mit der Erde zum Mars fliegen.

The Last Boy Scout

(USA 1991, Regie: Tony Scott)

Helden der 90er
von Nicolai Bühnemann

Dies ist eine kleine Einführung zu Tony Scotts „The Last Boy Scout“, die ich vor dem Screening auf dem dritten KARACHO – Festival des Actionfilms gehalten habe, das zwischen dem …

Dies ist eine kleine Einführung zu Tony Scotts „The Last Boy Scout“, die ich vor dem Screening auf dem dritten KARACHO – Festival des Actionfilms gehalten habe, das zwischen dem 8. und 10. September 2017 im Nürnberger KommKino stattfand.

Ich beginne mit einem Zitat. Laut der wundervollen, mustergültigen Definition von Rainer Knepperges ist „Der Film Noir eine Kunstform des Nachkriegs, die Mitleid mit Menschen hat, die ihre Seele verloren haben.“

Der Film, den wir gleich sehen werden, „The Last Boy Scout“, 1991 unter der Regie von Tony Scott entstanden, ist ein Neo-Noir, wenn es jemals einen gegeben hat. Der Kalte Krieg war damals gerade vorbei, aber viel entscheidender ist wohl, dass dieser Film von Menschen bevölkert wird, die wohl ihre Seelen verloren haben, wenn man es freundlich ausdrückt. Anders und weniger freundlich gesagt, sind sie vollkommen kaputt und abgefuckt. Zumindest die männlichen und unter ihnen, insbesondere die Hauptfigur: der von Bruce Willis gespielte Privatdetektiv Joe Hallenbeck.

Wie diese Figur eingeführt wird, spricht Bände. Er schläft nämlich in seinem Auto einen gewaltigen Rausch aus, als ihm ein paar Kinder ein totes Hörnchen durch das geöffnete Autofenster in den Schoß werfen. Er kommentiert das wenig später mit den Worten: „I think I fucked a squirell to death.“

Tief gefallen ist auch der Mann, mit dem er sich später zusammenraufen muss, um ein paar Verbrecher zur Strecke zu bringen. „The Last Boy Scout“ ist also auch ein buddy moviefrom hell.

Hallenbecks anfänglicher Partner in spe wird gespielt von Damon Wayans. Halle Berry und Michelle Harris runden den großen Neunziger-Cast ab.

Scott out-noirt hier den klassischen Noir, was wohl nicht zuletzt an der Zeigefreudigkeit seiner Entstehungszeit liegt. Hatte das Hollywood-Kino der Vierziger und Fünfziger unter den rigiden Zensurbestimmungen des Hays Codes zu leiden, sind dem, was Scott 1991 an Sex und Gewalt zeigen durfte, kaum Grenzen gesetzt. So gibt es gleich zu Beginn eine ziemlich widerwärtige Szene von sexueller Gewalt, in der ein fetter Mann, eine nur mit einem Bikiniunterteil bekleidete Frau und ein Whirl-Pool vorkommen. Wenn dem sinistren Treiben des Mannes schließlich mit einem sehr gezielten Footballwurf Einhalt geboten wird, ist mir nach Applaudieren zumute. Nur ein Beispiel dafür, wie geschickt Scott hier auf unserer emotionalen Klaviatur spielt. „The Last Boy Scout“ ist, von Anfang bis Ende, großes Affektkino. Später macht das Gehirn eines Mannes, der besser auf Hallenbecks Warnungen gehört hätte, Bekanntschaft mit seinem Nasenbein.

Schließlich muss, weil wir uns immer noch in einem Mainstreamactionfilm befinden, wenn auch eben in einem sehr harten, auch der Oberschurke das Zeitliche segnen. Wie er das genau tut, soll hier nicht verraten werden. Nur so viel: Wie Hans Gruber in „Die Hard“, den vielleicht der eine oder andere hier im Saal gesehen hat, fällt auch er, nur landet er noch wesentlich unbequemer. Es gibt hier also eine deutliche Steigerung. Von 1988 zu 1991. Von John McTiernan zu Tony Scott. Der letzte Vergleich stammt übrigens nicht von mir. Ich habe ihn vor sehr langer Zeit in einem mehr oder minder zeitgenössischen Text zu „The Last Boy Scout“ gelesen. Ich glaube in der Cinema. Wenn der Text tatsächlich aus der Cinema stammt, die ja bekanntlich nicht eben für qualitativ hochwertigen Filmjournalismus bekannt ist, dann gilt hier wohl: Auch ein blindes Huhn trinkt mal ’nen Korn. Das tut auch Bruce Willis als Joe Hallenbeck. Manchmal vielleicht auch mehr als einen.

The Circle

(USA 2017, Regie: James Ponsoldt)

Share dich zum Teufel!
von Ulrich Kriest

Herrschaften, hereinspaziert! Hier kommt der Dieselgipfel unter den politischen Filmen, der eindrucksvoll belegt, wie man ein schlechtes Buch kongenial verfilmt und dabei immer noch so tut, als würde ein heißes …

Herrschaften, hereinspaziert! Hier kommt der Dieselgipfel unter den politischen Filmen, der eindrucksvoll belegt, wie man ein schlechtes Buch kongenial verfilmt und dabei immer noch so tut, als würde ein heißes Eisen angepackt. Schöne neue Datenwelt, in der es sexy ist, wenn man sich umfassend transparent macht, damit man umfassend bekümmert werden kann. Sharing ist schließlich caring! Und der Mensch des Datenkraken Follower: Privatsphäre ist doch so was von Neunziger.

Der Internetkonzern The Circle, eine Mischung aus Facebook, Google, Twitter etc., arbeitet an der Zusammenführung aller Daten eines Individuums unter einer einzigen Internetidentität: eine große Dienstleistungsutopie, die Service, Antizipation und sanften Zwang zusammendenkt. Zugleich ist »The Circle« ein Musterbeispiel der schönen, neuen Campus-Arbeitswelt: hip, chic, grün, sportiv, flache Hierarchien, sozial engagiert. Schön, ein Teil dieses Zirkels zu sein, der sich wie eine Community anfühlt. Protagonistin Mae, als Figur völlig unterentwickelt und von Emma Watson darstellerisch exekutiert, arbeitet zunächst in einem öden Callcenter, später, als sie dank persönlicher Kontakte Teil des exklusiven Circle wird, malocht sie eben in einem hypermodernen Callcenter, bis sie zum Prototyp einer lachhaft naiven Angestellten wird, die alles mit sich machen lässt. Warum? Weil Vati an MS erkrankt und zu schlecht krankenversichert ist, um sich eine Behandlung leisten zu können. Da springt generös der Circle ein. Im Gegenzug macht sich Mae exemplarisch transparent, lässt sich, ihr Leben und ihre Kommunikation 24/7 mit der Kamera begleiten und in die Cloud stellen. Sex hat sie eh nicht, und am Toilettenbesuch ist der Circle (noch) nicht interessiert.

Auch sonst ist in James Ponsoldts Bestsellerverfilmung alles schön sauber nach Daily-Soap-Regeln verteilt: erst die Ausbreitung der Verlockungen, dann deren Janusköpfigkeit. Einmal pro, einmal contra, hü und hott. Hier der lockere charmant-charismatische CEO, dort sein sinister-mephistophelischer Gegenpart. Und in den Katakomben vom Circle, dort, wo die Rechner der Datenkrake summen, begegnet Mae dem einst idealistischen Cogründer der Firma, der längst vom Glauben abgefallen ist und nun die naive junge Frau über die Gefahren der totalen Transparenz aufklärt. Gemeinsam schmiedet man einen Plan, dem Circle das Handwerk zu legen. Vielleicht durch ein kostengünstiges Software-Update?

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

What Our Fathers Did: A Nazi Legacy

(GB/AT/PL 2015, Regie: David Evans)

Die Söhne der Nazis
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Film zum Aufregen. Eine Spielfilmlänge lang beharken sich die Söhne der beiden Nazi-Schlächter von Lemberg. Was halten sie heute von ihren Papas? Kontrovers. Ohne dramatöse Dramaturgie. Ohne Kommentar. Ohne …

Ein Film zum Aufregen. Eine Spielfilmlänge lang beharken sich die Söhne der beiden Nazi-Schlächter von Lemberg. Was halten sie heute von ihren Papas? Kontrovers. Ohne dramatöse Dramaturgie. Ohne Kommentar. Ohne Schauspieler. Ohne Ende.

Und? Um es gleich zu sagen, ich wurde in die Bilder dieses Dokumentarfilms hineingesogen. Die Kinder sind heute 70plusplus, die Väter des Judenmassakers von 1941 längst tot. Aber noch gärt es in den Köpfen. Egal, ob’s ein Trauma ist oder nicht. Es ist da, und die Söhne, eigentlich befreundet, wollen einander bekehren. Frank jr. nimmt jetzt Platz dort, wo damals sein Vater Hans im Nürnberger Prozess saß, als ihn das Gericht zum Tod durch den Strang verurteilte – seinen Papi, den berüchtigten Generalgouverneur von Polen, ganz oben in der Hierarchie der Nazis. Den Galgen hat er verdient, sagt Sohn Niklas.

Sein Kontrahent, Horst von Wächter, ist dagegen von der Unschuld seines Vaters Otto, des Nazi-Gouverneurs von Galizien, überzeugt, und er bleibt dabei, auch wenn die beiden mit Drehbuchautor Philippe Sands am Ort des Verbrechens stehen, am längst zugewachsenen Massengrab. Holocaust-Forscher Sands hat die Söhne zusammengebracht. Er selbst hat viele Mitglieder seiner jüdischen Familie im Holocaust verloren.

Zwischengeschnitten sind viele, kaum oder gar nicht bekannte Fotos und Filme. Unversehens bleibt der Film stehen. Ein Ende ohne Ende. Keiner der beiden Freunde/Kontrahenten wird zum Sieger ausgerufen. „What our Fathers did“ enthält sich einer expliziten Stellungnahme. Man hört förmlich die Entrüstungsschreie unserer Volkspädagogen: Der deutsche Zuschauer muss doch belehrt werden. Er ist doch zur eigenen Stellungnahme gar nicht fähig.

Okay, also unbedingt angucken und (sich) selbst etwas dazu sagen. Papa war der Beste. Papa ist ein Massenmörder. Was unsere Väter taten, betrifft auch uns, die wir im Kino sitzen. Was eigentlich holt uns ein, was genau ist das Unerledigte?

Die Söhne sind in der Ukraine bei einer Gedenkveranstaltung. Die Veteranen von 1941 feiern jetzt ihren Einsatz von damals. In den alten Uniformen. Ein Wehrmachtskübelwagen steht herum. Horst von Wächter kriegt leuchtende Augen. Zum ersten Mal in diesem Film. Er ist es jetzt, der gefeiert wird, der Sohn des Massakervaters.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

Körper und Seele

(HU 2017, Regie: Ildikó Enyedi)

Die Macht der Träume
von Wolfgang Nierlin

Zwei Hirsche, eine Kuh und ein Bock, durchstreifen auf der Suche nach Nahrung den winterlichen Wald. Vertraut, fast zärtlich ist ihr Zusammensein unterwegs, wenn sie sich beschnüffeln, sich leicht berühren …

Zwei Hirsche, eine Kuh und ein Bock, durchstreifen auf der Suche nach Nahrung den winterlichen Wald. Vertraut, fast zärtlich ist ihr Zusammensein unterwegs, wenn sie sich beschnüffeln, sich leicht berühren oder ihre Körper aneinander wärmen. Was in den ersten, seltsam fernen Bildern von Ildikó Enyedis Film „Körper und Seele“ Natur ist, wird kurz darauf, beim Blick in ein Schlachthaus, zum bloßen Objekt einer künstlichen Welt. Das gefangene, schließlich getötete Tier ist hier nur noch ein Ding, das mit routinierten Handgriffen zur Ware verarbeitet wird. Besonders monströs wird das in den Pausen, wenn die Arbeit ruht und die Metzger rauchend in der Sonne stehen, während die Tiere auf ihren Tod warten.

An diesem unwirklichen Ort, einer Parallelwelt, treffen zwei Versehrte aufeinander, über deren persönliche Vergangenheit wenig ausdrücklich gesagt wird. Maria (Alexandra Borbély) ist die neue, penibel nach Dienstvorschrift arbeitende Qualitätskontrolleurin in dem Betrieb, der von dem etliche Jahre älteren Endre (Géza Morcsányi) kollegial und umsichtig geleitet wird. Über Maria, die steif wirkt, wenig spricht und unter einem Ordnungszwang leidet, sagen die Kollegen bald: „Sie hockt allein im Dunkeln.“ Nur Endre, der ebenso einsam ist wie die junge, neurotische Außenseiterin, scheint sich für sie und ihr merkwürdiges Verhalten zu interessieren.

Was die beiden, die einander lieben, ohne es sich zu sagen, aber vor allem verbindet, sind ihre Träume. Ein psychologischer Test, der im Rahmen einer polizeilichen Ermittlung in dem Betrieb durchgeführt wird, bringt das ans Licht: Maria, die sich vor körperlicher Berührung fürchtet, und Endre, der in gewisser Weise genug davon hat, träumen Nacht für Nacht denselben Traum; und zwar von jenem Hirsch-Paar, in dem sich gewissermaßen ihre Beziehung einer zögerlichen Annäherung spiegelt.

Ildikó Enyedi erzählt diese ungewöhnliche Liebesgeschichte zweier Seelenverwandter, die ihre Gefühle zurückhalten, lakonisch, trocken und in leicht stilisierten Bildern. Deren Tendenz zum poetischen Detail und zur Abstraktion wird ausbalanciert durch einen nuancierten, sehr konkreten Blick auf die Wirklichkeit. Die ungarische Regisseurin wurde für die melancholische Schönheit dieses abstrakten Realismus mit dem Goldenen Bär der Berlinale ausgezeichnet.

Tangerine Dream

Revolution of Sound: Tangerine Dream

(D 2017, Regie: Margarete Kreuzer)

Viel Affirmation, wenig Distanz
von Ulrich Kriest

Die Berliner Psychedelic-Formation Tangerine Dream, bereits 1967 vom Keyboarder Edgar Froese gegründet, gehört retrospektiv sicher zu den Pionieren der elektronischen Musik aus Deutschland, deren internationales Renomeé heutzutage wohl nur noch …

Die Berliner Psychedelic-Formation Tangerine Dream, bereits 1967 vom Keyboarder Edgar Froese gegründet, gehört retrospektiv sicher zu den Pionieren der elektronischen Musik aus Deutschland, deren internationales Renomeé heutzutage wohl nur noch von Kraftwerk und Can übertroffen wird. Neben Klaus Schulze, der in der Frühphase auch einmal als Drummer der Band fungierte, Ash Ra Tempel und Kluster resp. Cluster widmeten sich die Exponenten der sogenannten „Berliner Schule“ früh ihrem Entwurf einer „Kosmischen Musik“. Seltsam, dass die Band ausgerechnet mit wachsendem Erfolg in den USA hierzulande etwas aus dem Blick geriet und jetzt, ein paar Jahre nach Froeses Tod, wiederentdeckt werden darf.

Ob allerdings Margarete Kreuzers etwas arg unkritisch geratenes Porträt für ein durchaus anstehendes Tangerine-Dream-Revival taugt, muss bezweifelt werden. Obschon die Filmemacherin nach eigener Aussage Mitte der 1980er Jahre auch vom Sound Tangerine Dreams ins Subkultur-Paradies West-Berlin gelockt worden war, kam es erst zu einem ersten persönlichen Kontakt mit Froese, als Kreuzer zu einer David-Bowie-Geschichte recherchierte. Über die Jahre entwickelte sich ein kontinuierlicher Kontakt, der auch dazu führte, dass die Filmemacherin postum Zugang zum umfangreichen filmischen und fotografischen Nachlass Froeses bekam, da jener offenbar systematisch seinen Alltag zu dokumentieren pflegte. Leider ein Danaergeschenk. Die Filmemacherin, die Froese im Presseheft als explizit „mehr als hochintelligent“ charakterisiert, versteht ihr Band-Porträt als Hommage an den Bandleader. Was auch dazu führt, dass neben allerlei Archivmaterial, ein paar Band-Kollegen und ein paar befreundeten Musikern wie Jean-Michel Jarre oder Brian May nur noch Freunde, Familie und der unvermeidliche Jim Rakete zu Wort kommen. So bietet diese filmische Hagiografie wesentlich eine durch keinerlei musikhistorische Reflexion oder auch kulturkritische Anmerkung angekränkelte Innenansicht der Bandgeschichte, die hier chronologisch und affirmativ aufgerollt wird.

Interessant sind die Anfänge allerdings schon, denn Froese hatte auch vor Tangerine Dream eine Beatband, pflegte Kontakte in die Kunstszene und war Teil der Berliner Szene um das legendäre West-Berliner „Zodiak Free Arts Lab“. Mit bedeutungshubernden Alben wie „Electronic Meditation“, „Alpha Centauri“, „Zeit“ und „Atem“ entwickelten sich Tangerine Dream binnen kurzer Zeit von einer Free-Rock-Band mit Avantgarde-Touch zu einem Synthesizer-Trio, für das sich nicht nur der „Virgin“-Label-Gründer Richard Branson begeisterte, auf dessen Label die wichtigsten Alben von Tangerine Dream erscheinen sollten. Leider bleibt zumindest in Kreuzers Dokumentation die Frage ungeklärt, wie die Band ihren erstaunlichen Maschinenpark an Equipment überhaupt finanzierte. Immerhin: die nächsten Karriere-Stationen werden brav und unterfüttert mit privatem Archivmaterial abgehakt, wobei die sich auftuenden Lücken sprechender sind als der Film selbst. Zwei Beispiele: Legendär ist das Konzert von Tangerine Dream in der Kathedrale zu Reims vom Dezember 1974, das eben nicht nur 6000 begeisterte Fans, sondern auch ein beschädigtes Gebäude zurückließ, weil man die Toiletten vergessen hatte. 1977 entdeckte dann „Hollywood“ in Gestalt von William Friedkin („Scorcerer“) und Michael Mann („Thief-Der Einzelgänger“) das Filmmusik-Potential der Band. In der Folge lieferten Tangerine Dream in diversen, immer wieder wechselnden Besetzungen Soundtracks für Filme von Paul Brickman, Ridley Scott oder Kathryn Bigelow, mutierte aber in den folgenden Jahrzehnten durch Einbezug von weiteren Instrumentalisten zu einer Art New Age-Band in weißen Kostümen. Auch hier glänzt der Film mit Lücken. William Friedkin war offenbar nicht an einer Mitwirkung interessiert, weshalb erste Kontakte in die USA nicht etwa analytisch aufbereitet werden, sondern stattdessen mit albernen Pool-Bildern illustriert werden. Aufschlussreich dann wieder ein Interview mit Michael Mann, während die Gründe für die zahlreichen Umbesetzungen der Band nicht weiter thematisiert werden. Lustig immerhin ein Ausschnitt aus dem obskuren Pohland-Film „Warum die UFOs unseren Salat klauen“ von 1980, in dem Edgar Froese in Strumpfhosen neben Curd Jürgens einen Außerirdischen spielt.

Die Filmemacherin hat nach eigener Aussage Edgar Froese längere Zeit mit der Kamera begleitet. Doch nur wenige Bilder haben in den Film gefunden, weil Froese 2013 bei einem Sturz schwere Kopfverletzungen und einen Kieferbruch erlitt und infolgedessen mit schweren Artikulationsproblemen zu kämpfen hatte. Weil die Filmemacherin „die Legende Edgar Froese nicht zerstören“ wollte (Presseheft), entschloss sie sich, stattdessen Texte aus Froeses Autobiografie auf dem Off von Alexander Hacke (Einstürzende Neubauten) einsprechen zu lassen. Doch Hacke ist kein professioneller Sprecher und die ausgewählten Texte sind in ihrer Kürze zumeist lapidar. Auch dies eine weitere Schwäche einer Musikdokumentation, die geflissentlich ignoriert, dass es durchaus Gründe gegeben hat, sich Tangerine Dream in den 1970er Jahren auch ironisch zu nähern, wenn es darum ging, sich mit dem Auftreten der Musiker auseinander zu setzen. Damals schrieb Lester Bangs eine Kritik mit dem Titel: „Ich sah Gott und/oder Tangerine Dream“. Und ein anderer Kritiker ergänzte: „Die Jungs sitzen an ihren Geräten wie Hohepriester vor ihren Altären und (…) zelebrieren (den) Kult männlicher Macht und Herrlichkeit.“ Will sagen: ein wenig kritisch-ironische Distanz zum Phänomen und zum Material hätte dem Film sicher gut getan, war aber vielleicht aufgrund der Nähe zum Objekt nicht mehr zu haben. Oder gewollt.

Dieser Text ist zuerst erschienen im Filmdienst.

On the Milky Road

(RS/GB/USA 2017, Regie: Emir Kusturica)

Und wer schreibt das Attest?
von Jürgen Kiontke

Das Schwein wird geschlachtet, das Blut kommt in die Wanne, die Gänse baden darin, die Fliegen setzen sich auf die Federn, der Falke frisst die Schlange, die Zwiebeln sind geschnitten, …

Das Schwein wird geschlachtet, das Blut kommt in die Wanne, die Gänse baden darin, die Fliegen setzen sich auf die Federn, der Falke frisst die Schlange, die Zwiebeln sind geschnitten, der Hubschrauber fliegt über das Dorf. Emir Kusturicas neuer Film ist eine große surreale Oper, die Naturgesetze sind außer Kraft, die Ereignisse stehen nebeneinander statt ordentlich chronologisch sortiert. Hier wird Atmosphäre generiert, es ist Kino wie gemalt und nicht gefilmt.

Im Zentrum der Handlung, sofern man davon reden mag, gibt es den Krieg, seine Gräben und jemanden, dessen Handwerk die Grenzüberschreitung ist. Der Krieg ist das Lieblingsmaterial des serbisch- kosmopolitischen Regisseurs; er hasst ihn und schreibt ihm zugleich Lieder. In seinem neuen Film „On the Milky Road“ ist der Held ein Grenzgänger, damit schließt Kusturica an frühere Werke wie „Underground“ an, seine großangelegte Auseinandersetzung mit dem Jugoslawienkrieg.

Milchmann Kosta, von Kusturica selbst hintergründig verletzlich gespielt, passiert täglich auf dem Esel die diffuse Front eines Bürgerkrieges. Der hat seine Zeiten, und wenn die Turmuhr läutet, fliegen Kugeln und Granaten. Kosta scheint es nur beiläufig wahrzunehmen, zur Sicherheit dient ihm und den Milchkanistern ein schwarzer Schirm. Er schaut nicht hervor. Worüber soll er sich auch aufregen, erklärt man sich im Ort – der talentierte Musiker musste als Kind mit ansehen, wie sein Vater mit der Kettensäge geköpft wurde.

Die Zeit geht rum mit Schnaps und Zigaretten. Man kann förmlich zusehen, wie sie sich die Beine abrauchen! Aber raus kommt der Qualm bitte schön bei den Ohren. Skurrile Szenen nennt man das in anderen Zusammenhängen. Im Stummfilm anno 1919 würde es auch gut passen.

Die Milky Road ist der Weg durch ein sterbendes, blühendes Europa der Länder, einer durch die Natur. Schlangen begleiten den Boten, und wenn die Milch aus den zerschossenen Kanistern fließt, baden die Reptilien in den Pfützen. Ein mystisches Geschehen, von dem es einige gibt in diesem aus der Zeit gefallenen Film, in dem sich Hühner im Spiegel betrachten und Falken schwofen wie die tanzende Cola-Dose. Kusturica riskiert selbst eine Menge, ganz sprichwörtlich. In einer Szene frisst ihm ein riesiger Bär Apfelsinenstücke aus dem Mund. Nicht nur das Belebte ist belebt, auch die Gegenstände machen mobil: Ist es nicht die Turmuhr, die den Menschen in die Hand beißt?

Man dünkt sich in einem Film über das Leben kurz vor dem Tod. Ein Spätwerk des angejahrten großen Regisseurs, der hier viele Genres verknüpft; so ein Gehirn streamt, was es will. Eben auch Klischees: harte Krieger, liebestolle Frauen. Warum nicht mal fünf Minuten verschlafen, die Filmfiguren tun das doch auch! Nei-e-n, volle Konzentration: weil du nicht weißt, was im nächsten Moment passiert. Vielleicht zerreißt eine Granate das Dorforchester. Mutters Bett hat Rollen; Monica Bellucci, in der Fischreuse gefangen! Spezialeffekte – bei Ein-Euro-Ebay gekauft. Die beiläufige Story lässt einen verzweifeln, und manchmal glaubt man, Tele 5 zu gucken.

Die attraktive Milena (Sloboda Mićalović), Exturnmeisterin von Jugoslawien, will Kosta heiraten. Und wenn sie nicht zur Musik von „Flashdance“ so dilettantisch in den Handstand geht, dass man sofort weiß, sie wird irgendwo festgehalten, träumt sie von der Doppelhochzeit, gemeinsam mit ihrem Bruder Žaga (Predrag Manojlović), der irgendwie in Afghanistan zum einäugigen Kriegshelden wurde. Der hat sich eine geheimnisvolle Italienerin (Bellucci) bestellt. Kaum taucht sie auf, ist es um Kosta geschehen. Und auch sie, die nur »die Braut« heißt, ist Kosta mehr verfallen als dem Kriegsfürsten. Liebe im Film, keine Einbahnstraße. Als Milena und Žaga den beiden auf die Schliche kommen, bleibt dem Liebespaar nur durchzubrennen.

Lange währt das Glück nicht, wird »die Braut« doch auch von ihrem Ex gejagt, einem britischen General. Der hat seine Gattin für sie umgebracht, nun will er die Geliebte zurück. Dafür lässt er die komplette Szenerie und den mittlerweile geschlossenen Friedensvertrag von Spezialeinheiten in Schutt und Asche schießen.

Hä, Heirat, Hochzeit, noch ’ne Hochzeit – wen soll das interessieren? »Nach drei Geschichten und vielen Phantasien« sei der Plot geschaltet, so verklickert es uns die Einblendung. Den Soundtrack mal beiseite, der – für dieses Mal schließe ich mich dem Urteil des verstorbenen brasilianischen Kritikers José Carlos Avellar an, Filmmusik brauche kein Mensch, sie könne den Bildfluss erheblich stören – in Kusturicas Gesamtwerk die Konzentrationsfähigkeit wegtrötet, scheint es nicht um das reale Erleben zu gehen, sondern um die Lebensrennerei an sich. Zumindest wird den Rest des Films hindurch geflohen.

„On the Milky Road“ ist ein Crossover in die bildende Kunst. Du sollst dir die Einstellung merken, das Bild im Kopf mit anderen teilen. Der Film produziert regelrecht »Sharepics«, Standbilder für die Erinnerung, eine prägnante optische Aufarbeitung von Krieg. Etwa, wenn Kosta, um sich und die Braut zu schützen, eine Schafherde in ein Minenfeld treibt: Kadaverteile fliegen nur so umher.

Seinen Hang zur Darstellung extremer Grausamkeit lebt der Regisseur aus Bosnien-Herzegowina, der heute in Serbien und Paris wohnt, auch an anderer Stelle aus. Es wird gern mal lebendig verbrannt. Viel Liebe zum Detail lässt sich in diesem Theater of Hate ausmachen – andere Szenen wirken rüde geschlampt.

Was will dieser Film? Er will Bilder schöpfen. Und Sprache:

– Wann unterhalten wir uns mal?

– Nach dem Krieg.

– Er schnupft Staaten wie andere Koks.

– Ich bin nicht mehr, wer ich einmal gewesen bin.

– Vielleicht willst du sterben. Ich muss die Kinder durchs Studium bringen.

– Ich suche nach einer Wand, an die ich meinen Kopf schlagen kann.

»Ihr spinnt wohl«, sagt der Feldarzt, als er mehrere Opfer mit den gleichen charakteristischen Wunden operieren soll. »Ihr sagt, sie wurden von einer Uhr gebissen? Schwester, schicken Sie diese Leute zum Psychiater!« Kann gut sein, dass man nach diesem Film einen braucht.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

Paris Barfuß

Barfuß in Paris

(FRK/BEL 2016, Regie: Dominique Abel, Fiona Gordon)

Glückliche Zufälle
von Wolfgang Nierlin

Der Blick von oben, der den Film rahmt und einschließt, betrachtet das Leben als menschliche Komödie. Die Übergänge zwischen dem kleinen kanadischen Dorf im Schneesturm, das aus der Vogelperspektive wie …

Der Blick von oben, der den Film rahmt und einschließt, betrachtet das Leben als menschliche Komödie. Die Übergänge zwischen dem kleinen kanadischen Dorf im Schneesturm, das aus der Vogelperspektive wie eine Miniatur erscheint, und der großen Metropole an der Seine sind fließend. In beiden Fällen handelt es sich um einen Mikrokosmos, in dem sich die Figuren und Wege fortwährend kreuzen, die Dinge ihr Eigenleben führen und alles miteinander zusammenhängt. Die Filmkomödie „Barfuß in Paris“ von Abel & Gordon erinnert diesbezüglich an die absurden, kreisförmigen Dramen von Otar Iosseliani. Hier wie dort sind die typisierten Figuren, Orte und Handlungen in einem ständigen Austausch, der die Wiederholung beziehungsweise Wiederbegegnung als (glücklichen) Zufall deklariert. In „Barfuß in Paris“ ist die französische Hauptstadt ein Dorf, das inmitten der Seine auf der Île aux Cygnes liegt, die sich vom nahen Eiffelturm aus vortrefflich beobachten lässt.

An diesem verwunschenen, künstlichen Ort sucht die kanadische Bibliothekarin Fiona (Fiona Gordon) nach ihrer verschwundenen Tante Martha (Emmanuelle Riva). Die 88-jährige Tänzerin, die noch immer ihr tägliches Hanteltraining absolviert, ist nämlich ausgebüxt, um sich einer Einlieferung ins Altersheim zu entziehen. Zuvor hat sie aber noch einen Hilferuf an ihre schusselige, irgendwie verpeilte Nichte abgeschickt. Deren Ankunft in der fremden Stadt provoziert eine Kette von Pannen und Missgeschicken, die dazu führen, dass die ziemlich unbedarfte Fiona ihre Habe verliert; wobei, wie gesagt, in den Erzählschleifen dieses liebenswerten Films natürlich nichts wirklich verloren geht. Die Suche, die das Geschehen vorantreibt, ist vielmehr mit einem vielfältigen Finden verbunden. Und so trifft Fiona erst einmal auf den Clochard und Lebenskünstler Dom (Dominique Abel), der in einem Iglu-Zelt an der Seine „wohnt“ und ganz zufällig den knallroten Tramper-Rucksack der Touristin aus dem Fluss gefischt hat.

Insofern erzählt „Barfuß in Paris“ natürlich auch eine Liebesgeschichte mit Hindernissen. Das belgisch-kanadische Komiker-Paar Abel & Gordon, das sich in den Hauptrollen ihres Films selbst inszeniert, tut dies in der Tradition von Jacques Tati und Pierre Étaix mit pantomimischem Witz, humorvollem Slapstick und bezaubernden Tanzeinlagen. Respektlos und ein bisschen anarchisch setzen die beiden Komiker kleinere Unfälle und vertrackte Verwicklungen in Szene, die vom Sturz in die Seine bis zu der in der Fahrstuhltür eingeklemmten Nase nie schlimm enden, sondern mit einem fröhlichen Augenzwinkern und unverkennbarer Lust an absurden Situationen die Tücke von Objekten in den Blick nehmen. Wenn die komischen Helden am Schluss, bei einer intimen Trauerfeier mit „biologisch abbaubarer Urne“, eine Schweigeminute abhalten, setzt just zu diesem Zeitpunkt ein heftiger Regenschauer ein. Der natürlich keine Sekunde länger dauert als die verabredete Gedenkzeit. Und der dem traurig-komischen Geschehen eine melancholische Note beimischt.

Das ist unser Land!

(F 2017, Regie: Lucas Belvaux)

Keine gute Analyse
von Jürgen Kiontke

Wir lernen Pauline als umtriebige und vertrauenswürdige Krankenpflegerin kennen, die sich für ihre Patienten aufopfert, sich um den brummeligen Kommunistenvater kümmert und auch noch zwei Kinder allein großzuziehen hat. All …

Wir lernen Pauline als umtriebige und vertrauenswürdige Krankenpflegerin kennen, die sich für ihre Patienten aufopfert, sich um den brummeligen Kommunistenvater kümmert und auch noch zwei Kinder allein großzuziehen hat. All das ohne große Klage in einer vom wirtschaftlichen Niedergang gezeichneten Gegend im Norden Frankreichs. Sie schaut täglich ins Leben ihrer Klienten hinein. Es versteht sich von selbst, dass sie allseits beliebt ist. Pauline ist authentisch.

So wird sie für die Politik interessant. Ihre Glaubwürdigkeit will sich die nationalistische Partei, deren Parteiführerin Agnès Dorgelle ohne Zweifel an Marine Le Pen erinnert, zunutze machen. Ihr Repräsentant vor Ort, der Dorfarzt, wirbt sie als Kandidatin für die Bürgermeisterwahlen an. Und Pauline ist gut: Gerade die alten Wähler vertrauen ihr, da muss sie gar nicht viel reden. Das besorgt der Le-Pen-Verschnitt. Probleme gibt es trotzdem. Denn Pauline hat ihren Schulfreund wiedergetroffen und sich verliebt. Und der Liebste gehört zur faschistischen Schlägertruppe, die das Sauberfrau-Image stört.

Die erste Runde geht klar an den Film. Er entwirft das rechte Milieu sehr überzeugend und mit kleinen Beobachtungen an der Seitenlinie – etwa wenn ein Vater sich über den Pornokonsum seines Sprösslings sorgt, der sich aber in Wahrheit als Nazi-Videoblogger betätigt. Regisseur Lucas Belvaux trickst das Publikum meisterlich aus: Was würdest du tun, wenn du Paulines Möglichkeiten hättest, Arschloch?

Die Ambivalenz hält er allerdings nicht durch. Alsbald weiß man, dass die Rechten – ob mit Glatzkopf oder im Kostüm – Dumpfbacken sind. Da dürften sich Regisseur und Publikum bald einig werden. Allzu plakativ agiert die Bande, entlarvt hat man sie schnell. Dabei wäre es einfach gewesen, weiter auf dem Glatteis zu bleiben. Was, wenn es einen Anschlag des IS geben würde – vielleicht auf ein Konzerthaus mit vielen Toten? Was würde dann der Film aus seinem Publikum machen?

Friktionsflächen dieser Art fehlen, und das macht aus dem Film ein antifaschistisches Statement. Verständlich ist das, auch legitim. Eine gute Analyse, die kritische und vor allem komplizierte gesellschaftliche Zustände zeigt, ist das nicht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

Eine weitere Kritik zu „Das ist unser Land!“ findet sich hier.

Tango & Cash

(USA 1989, Regie: Andrey Konchalovskiy)

Patriarchat und Homophobie ins Gesicht lachen mit dem schönsten (Nicht-)Paar der Actionfilmgeschichte
von Nicolai Bühnemann

Am Anfang ist der eine ein Upper-Class-Super-Cop und der andere ein White-Trash-Super-Cop. Aber Liebe kennt ja bekanntlich keine (Klassen-)Grenzen (zumindest nicht im Hollywood-Kino, ach was, der Kunst im Allgemeinen). Liebe? …

Am Anfang ist der eine ein Upper-Class-Super-Cop und der andere ein White-Trash-Super-Cop. Aber Liebe kennt ja bekanntlich keine (Klassen-)Grenzen (zumindest nicht im Hollywood-Kino, ach was, der Kunst im Allgemeinen). Liebe? Ja, Liebe. Denn „Tango & Cash“ ist ein Film über zwei Männer, die kein Paar werden dürfen. Darin liegt die tiefe Tragik dieser Komödie. Und zugleich weiß der Film, dass wir wissen, dass seine beiden Protagonisten nur so zueinander finden können, wie zwei Männer eben in einem Buddy-Movie zueinander finden dürfen, und daraus zieht er einen Großteil seiner Komik.

Der Plot gibt sich ausgeklügelt, läuft aber in a nutshell darauf hinaus, dass die beiden Superbullen einigen Gangstern unter Führung des von Jack Palance gespielten Oberschurken ein Dorn im Auge sind. Von diesen zunächst ausgetrickst und in die Bredouille bzw. den Knast gebracht werden, aus dem sie dann relativ schnell wieder ausbrechen können, um ihre Widersacher zur Strecke zu bringen. Dass das so generisch ist, dass es letztlich vollkommen egal ist, mag Absicht sein oder auch nicht. So oder so gibt es dem Publikum die Möglichkeit sich ganz auf das Wesentliche in diesem Film zu konzentrieren: die beiden Hauptfiguren und ihre Beziehung zueinander.

Da ist Ray Tango (Sylvester Stallone), der gerne teure Anzüge trägt und sich nebenher im Finanzbuisness etwas dazu verdient. In diesem Kontext gibt es die vielleicht schönste Dialogzeile dieses an schönen Dialogzeilen nicht eben armen Films, in der ihm in seinem Büro mitgeteilt wird: „What is a margin call? Your stockbroker just called.“ Nur scheinbar ist der Schauspieler – der damit berühmt wurde, dass er einen Boxer spielte, der es aus den Slums ganz nach oben schaffte – hier gegen sein Image besetzt. Denn der Action-Held ist immer ein Prolet. Vielleicht ist es der Sturzregen, der hier in der sehr langen Szene fällt, in der die beiden Männer aus dem Knast ausbrechen, der nicht nur ihre gut definierten Muskeln zum Glänzen und Glitzern bringt, sondern auch das ganze Schicki-Micki-Gehabe von Tango abwäscht und ihn das tun lässt, was er am besten kann: Kicking some ass. Wenn er sich dann fürs große Finale wieder richtig herausputzen darf, dann ist er eben wieder ein Action-Held-Prolet in einem teuren Anzug.

Dann ist da Gabe Cash (Kurt Russell), der zunächst sein Rivale für den Titel des Super-Cops von Los Angeles ist, und bei seiner Einführung in den Film ebenfalls auf Verbrecherjagd geht. Selbstverständlich im Ghetto. Selbstverständlich mit Vokuhila und in Jeans. Und als Mann der Straße ist er dann auch selbstverständlich für eher harte Verhörmethoden bekannt. Der asiatische Gangster, den er jagt und fängt, überlegt sich das mit dem Nicht-Englisch-Sprechen im Angesicht des drohenden Erstickungstodes ganz schnell anders.

„Tango & Cash“ ist postmodernes Zitate-Kino. Eine Meta-Actionkomödie. Ein Meta-Buddy-Movie. Ein Meta-Achtziger-Jahre-Film. Der Film hat kaum angefangen, schon muss sich Tango von seinen Kollegen anhören, dass er sich wohl für Rambo halte und darf äußerst bescheiden antworten: „Rambo is a pussy.“ Sein Zugriff auf das Genre der Buddy-Actionkomödie ist ein durch und durch ironischer, was sich nicht nur, aber doch zum Großteil eben in seiner Rekurrenz auf den homoerotischen Subtext des Genres niederschlägt. Buddy-Movies sind Filme, in denen zwei denkbar unterschiedliche, einander zunächst meist feindlich gesinnte Männer sich zusammenraufen müssen, sehr oft um ein paar Verbrecher zur Strecke zu bringen. Frauen fungieren oft nur als störendes Beiwerk. Es geht im Kern immer um die Männerfreundschaft, auch explizit als Alternative zu Familie, Sex, etc. (Natürlich gibt es Buddy-Movies inzwischen auch mit weiblichen Hauptfiguren, etwa Paul Feigs schönen „The Heat“ (USA 2013) mit Melissa McCarthy und Sandra Bullock. Hier geht es aber eben um das männliche Genre-Archetyp.).

Dabei ist es durch die Konventionen des Genres gesetzt, dass die Männer eben Buddys werden müssen, aber niemals fuck buddys bzw. ein Liebespaar werden dürfen. Was an dieser Spielart des Genrekinos immer schon mehr oder minder versteckt homoerotisch war (in Chaplins „City Lights“ (USA 1931), der vielleicht erste, zumindest aber frühe Film dieser Art), ist nun in „Tango & Cash“ ganz offensichtlich. Damit ist der Film zugleich auch der bessere „Thelma & Louise“ (USA 1991; R: Ridley Scott).

Über die mindestens tendenziell homophobe Prüderie des Genres macht sich der Film dann eben in einem fort lustig. Am weitesten geht er wohl in einer Szene, in der Tango und Cash im Gefängnis ankommen und gemeinsam unter die Dusche gehen, wobei denn auch ihre knackigen Körperrückseiten in voller Blöße zu sehen sind. Cash geht vor Tango auf die Knie, was letzteren zunächst mit großem Unbehagen erfüllt. Doch seine Sorge ist unbegründet, denn sein Partner will natürlich nur (was sonst?) die Seife aufheben, natürlich ohne ihm den Rücken zuzuwenden, und er muss dann noch gleich die Größe des Geschlechtsteils seines Gegenübers bemängeln („peewee“!). Wo die beiden Männer hier nicht Subjekt eines gleichgeschlechtlichen Begehrens werden dürfen, das dann aber dennoch irgendwie da ist, werden sie eine Szene später, bei ihrem Gang durch den Knast, zum Objekt von Männerhass und Männerbegehren.

Darin spiegelt der Film denn auch die Rezeptionshaltung seiner Zielgruppe. Mehr als in anderen Mainstreamfilmen seiner Zeit hat man in „Tango & Cash“ das Gefühl, dass sich die Sexualisierung des durchtrainierten Männerkörpers nicht nur an ein weibliches, sondern auch an ein männliches Publikum richtet. Abgerundet wird das Ganze durch den Schwanzvergleich, bei dem bemängelt wird, dass der eine einen größeren hat als der andere. Ballermann natürlich. Was auch sonst? Und last, aber sicherlich nicht least durch Russells Auftritt in Frauenkleidern und mit sehr dick aufgetragenem Lippenstift, der großartig und sehr sexy ist.

Eine Frau braucht es natürlich auch noch. Die ist Tangos Schwester und Cashs love interest. Das Patriarchale an der Frau, die nur dazu da ist, damit sie der eine liebhaben, der andere beschützen kann, ist so offensichtlich, dass es nur noch ein Witz ist. Das Patriarchat ist, genau wie die eng mit ihm verbundene und in ihm verwurzelte Homophobie, hier immer für einen Lacher gut. Teri Hatcher spielt als erotische Tänzerin Catherine durchaus eine selbstbestimmte Frau, ganz emanzipieren kann sie sich von der Rolle als reine Plot-Funktion, die der Film ihr zuweist, aber leider doch nicht.

Während es vorher zum running gag wurde, dass die beiden Protagonisten sich high five geben wollen, es aber schließlich doch nicht tun, sondern vorher innehalten, endet der Filme damit, dass sich ihre Hände nun doch heroisch in der Luft treffen, triumphierend auf der Titelseite einer Zeitung, die verkündet, dass nun alles gut ist, Tango und Cash wieder vollständig rehabilitiert sind. Der Film ist natürlich klug genug, um zu wissen, dass das eine reine Ersatzhandlung ist. Am Ende finden endlich Hände zueinander, wo Körper nicht zueinander finden dürfen.

Abluka

Abluka – Jeder misstraut jedem

(FRK/QA/TUR 2015, Regie: Emin Alper)

Moloch der Macht
von Wolfgang Nierlin

Der Terror kommt zunächst von der Tonspur: Detonationen von Bomben, markerschütternder Maschinenlärm, dröhnendes Hämmern und Schreie grundieren die endzeitliche Szenerie von Emin Alpers preisgekröntem Film „Abluka – Jeder misstraut jedem“ …

Der Terror kommt zunächst von der Tonspur: Detonationen von Bomben, markerschütternder Maschinenlärm, dröhnendes Hämmern und Schreie grundieren die endzeitliche Szenerie von Emin Alpers preisgekröntem Film „Abluka – Jeder misstraut jedem“ aus dem Jahre 2015. In den schmutzigen Straßen der Istanbuler Außenbezirke brennen die Müllcontainer, Fernsehbilder zeigen Straßenschlachten, Spezialkommandos der Polizei durchkämmen die Quartiere auf der Suche nach Terroristen und errichten dafür Straßensperren. Die Metropole am Bosporus mit ihren gigantischen Verkehrsströmen und heterogenen Stadtlandschaften befindet sich im Ausnahmezustand und versinkt zunehmend im Chaos. Emin Alper filmt diesen alles verschlingenden Moloch aus Schönheit, Dreck und Gewalt im fahlen, nebelgrauen Licht des Winters und in entsättigten Farben.

In diesem Klima des Misstrauens und der Verunsicherung, der Denunziationen und Verhaftungen situiert der türkische Regisseur die Geschichte zweier Brüder. Kadir (Mehmet Özgür), der Ältere, wird vorzeitig aus einer langjährigen Haft entlassen unter der Bedingung, dass er für die Geheimpolizei Spitzeldienste übernimmt. Dafür durchwühlt er zusammen mit anderen Männern den Müll der radikalisierten Problemviertel auf der Suche nach Sprengstoff und verdächtigen Chemikalien. Kadirs treue, bald übermotivierte Ergebenheit zeigt ihn als williges, manipulierbares Werkzeug der Macht. Sein Bruder Ahmet (Berkay Ates) wiederum, von Frau und Kindern verlassen, lebt einsam und zurückgezogen und hat einen nicht minder miesen Job: In staatlichem Auftrag tötet und „entsorgt“ er streunende Hunde. Einmal sagt er zu Kadir über das drastisch veränderte, von zunehmender Isolation geprägte gesellschaftliche Leben: „Jeder sitzt in seinem Loch.“

Loyalitätskonflikte, gesteigert zu persönlichen Krisen, bestimmen im Weiteren das Schicksal der Figuren. Während Kadir, der im Haus eines mit Ahmet befreundeten Ehepaars wohnen kann, unter dem Druck seiner Auftraggeber, und von unterdrücktem Begehren getrieben, seine Nächsten verrät, pflegt Ahmet entgegen seinen Weisungen einen angeschossenen Hund gesund. Beide geraten dabei in einen existentiellen Zwiespalt, der sie von sich und den anderen entfremdet, was Emin Alper als einen zunehmenden Realitätsverlust inszeniert. In Zeitschleifen, wechselnden, bevorzugt subjektiven Perspektiven sowie Alpträumen verwandelt sich die surreale Wirklichkeit in eine wahnhafte Zwangsvorstellung, die zu fatalen Entscheidungen und Handlungen führt. In Emin Alpers eindringlich gestaltetem, dystopischem Psychothriller „Abluka“, was übersetzt „Blockade“ heißt, gibt es keinen Ausweg aus der Paranoia. Als filmische Parabel auf politische Krisen und Unrechtssysteme ist er auf verstörende Weise ebenso zeitlos aktuell wie visionär.

Axolotl Overkill

(D 2017, Regie: Helene Hegemann)

Fetter Überdruss
von Ulrich Kriest

Ob bei einer nächtlichen Taxifahrt, im Zimmer der Schuldirektorin oder in der Mensa ihrer Schule: Mifti provoziert gerne, fordert Reaktionen heraus – nicht immer oder nur sehr bedingt zu ihrem …

Ob bei einer nächtlichen Taxifahrt, im Zimmer der Schuldirektorin oder in der Mensa ihrer Schule: Mifti provoziert gerne, fordert Reaktionen heraus – nicht immer oder nur sehr bedingt zu ihrem Vorteil. Mifti kokettiert mit Vergewaltigungsfantasien, muss aber auf dem Weg dorthin ganz schön einstecken. Mal bekommt sie ein Portion Spaghetti ins Gesicht, mal einen Becher frisch gebrühten Kaffees. Und dann ist da ja auch noch der Taxifahrer, der sich die günstige Gelegenheit auf eine schnelle Nummer nicht entgehen lässt. Mifti scheint über derlei Feedback mitunter erstaunt, aber durchaus nicht unerfreut. Immerhin passiert mal was!

Nach dem Tod ihrer Mutter lebt die 16-jährige Mifti mit ihren Halbgeschwistern Anika und Edmond in einer Berliner WG und ist zumeist vorzugsweise irritiert. Was sie allerdings mit kessen Sprüchen und coolen Gesten gekonnt überspielt. Mifti driftet durch ihren Alltag, nächtens, was die Option eines regelmäßigen Schulbesuchs zumeist erfolgreich hintertreibt. Aber gleichaltrige Freunde hat Mifti eh nicht. Wie auch, wenn man als 16-Jährige vielleicht sogar noch etwas jünger aussieht, sich aber mit dem Erfahrungshorizont einer Mittdreißigerin durchs Leben bewegt. Von ihrer Familie hat Mifti nicht viel zu erwarten. Der Vater lebt mit seiner Geliebten in einem Designerhaus, schwadroniert über Terrorismus als zeitgemäße Karriereoption und nimmt die Welt nur noch als ästhetisches Phänomen wahr. Schwester Anika, selbst zuverlässig hysterisch, würde gern als Miftis Ersatzmutter agieren, besäße sie auch nur einen Funken Autorität. Bruder Edmond ist lethargisch und ohne jedes Interesse. Bleiben noch die Erinnerungen an die elegante Mittvierzigerin Alice, coole Drogendealerin für die Hautevolee der Hauptstadt, mit der Mifti eine offenbar längere Affäre hatte. Und ganz aktuell: Ophelia, Fernsehstar, wegen Volltrunkenheit am Steuer zu Sozialstunden in der Küche von Miftis Schule verdonnert. Auch Ophelia ist damit beschäftigt, ihrer Verzweiflung durch ständige Action keinen Raum zu lassen.

Ganz schön fett, was hier an umfassenden Überdruss aufgeboten wird! Dass es Helene Hegemann („Torpedo“) gelungen ist, selbst die Regie bei der Verfilmung ihres vom Feuilleton erst gefeierten, dann geschmähten Bestseller-Debüts „Axolotl Roadkill“ zu übernehmen, ist als Glücksfall zu werten. Bot sich ihr doch mit etwas zeitlichem Abstand die Chance, eine Wiederholung der in ihren Augen ärgerlichen Fehlrezeption des Stoffes als Coming-of-Age-Geschichte oder gar Generationen-Porträt zu unterbinden. Ziemlich konsequent hat Hegemann einer konventionell psychologisierenden Charakterisierung ihrer Protagonistin filmische Hindernisse in den Weg gelegt, die das Rätselhafte des Geschehens profilieren. Gegenüber der literarischen Vorlage wechselt die Verfilmung konsequent die Erzählperspektive, wechselt von der Ich-Erzählung ins personale Erzählen, wodurch „Axolotl Overkill“ gewissermaßen zu einer objektivierten Variante von „Axolotl Roadkill“ wird, was für Leser des Buches ein durchaus spannendes Angebot ist.

Zugleich aber verweigert der Film Chronologie und Linearität der Erzählung und gerät dadurch zu einer Folge zugespitzer Szenen, die gerne auf komische oder provokante, politisch unkorrekte Pointen hin gearbeitet sind. Zudem setzt Hegemann auf episch-distanzierende Erzählstrategien, auf surreale Einsprengsel, verblüffende Auftritte von Pinguinen, Alpakas und Einhörnern und einen stupend gut getimeten Deadpan-Humor.

Wie bereits im Fall ihres Filmdebüts „Torpedo“ kann sich die Filmemacherin auf einen glänzend zusammengestellten (Theater-)Cast mit Mavie Hörbiger oder Bernhard Schütz verlassen. Perfekt ist die Besetzung der verwirrten, gegen Familie, Schule, Umwelt und vor allem ihr Alter revoltierenden Protagonistin mit der stets und zuverlässig faszinierenden Jasna Fritzi Bauer („Ein Tick anders“, „Scherbenpark“, „About a Girl“). Durch den Verzicht auf Linearität und Chronologie kommt der Film zwar nicht so recht vom Fleck, aber dieses Problem teilen Protagonistin und Film nicht grundlos, sondern bewusst mit dem titelgebenden Schwanzlurch.

Dieser Text erschien zuerst in: Filmdienst

Hier findet sich ein Interview mit Regisseurin Helene Hegemann.

Viral

Viral

(USA 2016, Regie: Henry Joost, Ariel Schulman)

Von Parasiten und Zungenküssen
von Nicolai Bühnemann

Der Vorspann ist reichlich generisch. Unter dem Mikroskop sehen wir Bilder von Bakterien, Viren, Würmern. Dazu hören wir Fetzen von Nachrichtensendungen, die von einer drohenden Epidemie künden. In Taiwan. In …

Der Vorspann ist reichlich generisch. Unter dem Mikroskop sehen wir Bilder von Bakterien, Viren, Würmern. Dazu hören wir Fetzen von Nachrichtensendungen, die von einer drohenden Epidemie künden. In Taiwan. In den USA. Die Welt droht unterzugehen. Mal wieder.

Die erste Einstellung zeigt, sicherlich nicht minder generisch, einen amerikanischen Suburb aus der Luft. In der zweiten Einstellung wird dann leidenschaftlich rumgeknutscht. Die, die bei dem Spiel sich liebkosender Zungen außen vor ist, in die Situation einer reinen Beobachterin, ja, einer Spannerin verbannt, heißt Emma Drakeford (Sofia Black-D’Elia) und wird die Hauptfigur dieses Films sein. Wenig später bekommt sie eine SMS von Luzifer persönlich. Hinter dem Namen des Leibhaftigen versteckt sich ihre Schwester Stacey (Analeigh Tipton), die mit ihr gemeinsam auf die High School geht. „Viral“ führt den Konflikt zwischen zwei Schwestern, der einer der zentralen des Films sein wird, durchaus geschickt ein. Stacey jedenfalls beordert Emma auf die Mädchentoilette, weil sie einen Tampon braucht. Dass sie mit der Hand, die sie gerade in ihrem Intimbereich hatte, der Schwester nun durch die Haare fährt, findet diese eher weniger appetitlich. In dem Film wird es also um Körper gehen, um Körperflüssigkeiten und deren Austausch, später dann um Parasiten, die sich in Körper einnisten und diese zerstören und dazu bewegen, andere zu zerstören. „Viral“ ist in einem Wort: Body-Horror.

Natürlich assoziiert der geschulte Genre-Fan mit diesem Wort vor allem einen Namen: David Croneneberg. Hierzu passt, dass dieser mit „Shivers“ 1975 die Mutter des modernen Parasitenhorrors und ein Meisterwerk des polymorph-perversen Kinos schuf. Dort bekamen es die BewohnerInnen eines Luxusappartementhauses außerhalb von Montreal mit Parasiten zu tun, die aussahen wie eine Mischung aus Phallus und Exkrement und, wie es in einer Szene heißt, eine Mischung aus Aphrodisiakum und Geschlechtskrankheit sind. Jedenfalls verwandeln sie die Menschen in eine Art Zombies, die es hier nicht aufs Fressen, sondern aufs Ficken abgesehen haben. Da werden zwei junge Mädchen an der Leine durchs Haus geführt (ob Cronenberg hier von Pasolini oder doch Pasolini von Cronenberg geklaut hat – „Salò“ ist wie „Shivers“ von 1975 – ist von einigem filmhistorischen Interesse, interessiert mich jedenfalls brennend, ist aber wohl nicht endgültig zu klären. Vielleicht hatten auch einfach nur zwei transgressive Filmemacher die gleiche Idee). Da treibt es der alte Vater mit der jungen Tochter. Jeder mit jedem und jede mit jeder. Am liebsten aber alle zusammen. Und zwar in einer wunderbar orgiastischen und orgasmatischen Szene im Pool.

Was erst mal vielleicht wie eine kleinbürgerlich-reaktionäre Phantasie von Gegenkultur und „sexueller Revolution“ aussehen mag (wussten die Spießer nicht immer schon, dass die Hippies genau so leben?) oder aber wie eine Unterschichts-Phantasie von der Oberschicht (wussten wir hier unten nicht immer schon, was die da oben in den Pools ihrer Appartementhäuser so treiben?), ist bei Cronenberg wesentlich schwieriger auf einen ideologischen Nenner zu bringen. Wenn am Ende, wie eine Dekade zuvor in „The Fearless Vampire Killers“, das Böse (oder eben doch nur: das vermeintliche Böse?) hinaus in die Stadt, in die Welt getragen wird, kann man darin wohl auch eine sehr eigene, ziemlich fiese Utopie sehen: Die sexuelle Revolution hat gerade erst begonnen. Let’s quit the foreplay and let’s fuck!

Der Vergleich ist sicherlich ungerecht, denn natürlich hat „Viral“ weder die gesellschaftspolitische noch die filmgeschichtliche Relevanz eines „Shivers“. Cronenberg ging sowohl in der Verquickung von Sex und Splatter als auch in der Graphik von deren Darstellung weiter, als es sich das junge Regie-Duo Henry Joost und Ariel Schuhmacher je erlauben würde. Was man dem Film, wenn man es gut mit ihm meint, und ich sehe keinen Grund, das nicht zu tun, hoch anrechnen kann, ist, dass er auch keine derartigen Ambitionen hat. Es ist ein absolut nicht wichtigtuerischer Film. Ebenfalls für ihn spricht die Ernsthaftigkeit, mit der er seine Geschichte erzählt. Die klassische Moderne des nordamerikanischen Horrorfilms ist hier sicherlich irgendwie da, aber sie ist es sicherlich nicht in Form von dämlichen Verweisen, die von einem eher kümmerlichen Ironieverständnis zeugen, oder dem postmodernen Spiel mit Zitaten und Versatzstücken.

Wenn es dann in „Viral“, wie in unzähligen Teenie-Horrorfilmen zuvor, eine Szene gibt, in der wir einer Unterrichtsstunde beiwohnen, dann will der Film eben nicht nur darauf hinaus, dass wir das kennen und wiedererkennen, sondern es erfüllt gleich mehrere narrative Zwecke. Zunächst einmal befinden wir uns im Biologieunterricht, wo es natürlich um Parasiten geht, die der Lehrer mit wirklich nicht schönem Anschauungsmaterial seinen SchülerInnen näher bringt, nicht ohne eine gewisse sadistische Freude an ihrem Ekel. Aber noch wichtiger ist, dass der Lehrer von Emma und Stacey gleichzeitig ihr Vater ist, der übrigens von Michael Kelly gespielt wird, den ich durch seinen Auftritt als trockenen Alkoholiker in wichtiger politischer Funktion in der Serie „House of Cards“ sehr ins Herz geschlossen habe.

Damit wären wir bei dem, was in erster Linie für diesen Film spricht, nämlich seine gerade in ihrer Verunsicherung äußerst sympathischen Figuren. Auch wenn es in seiner zweiten Hälfte Standard-CGI-Bilder von Menschen gibt, die sich unter dem Parasitenbefall in zombieartige Monster verwandeln, die andere Menschen, unter denen auch ihre eigenen Angehörigen sind, erbarmungslos angreifen, bleibt der Film doch bis zum Schluss vor allem character driven. Der Zerfall der äußeren Ordnung korreliert hier mit dem Zerfall der Familie. Der Vater hat die Mutter mit einer seiner Studentinnen betrogen, die Mutter sich von ihm und der Familie abgewandt. Im Film kommt sie nur noch in den dringlichen Fragen ihrer Töchter an den Vater vor. Auch das ist, gelinde gesagt, nicht neu, aber eben weil ich die Figuren so mochte, interessierten mich auch ihre Konflikte untereinander und mit sich selbst.

Am Ende ist die Welt weit davon entfernt, gerettet zu sein, aber Emma darf nun zu ihrem Schwarm finden – und also endlich auch selber rumknutschen. Immerhin.

(„Viral“ ist von 2016, als Barack Obama Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika war. Damals. Letztes Jahr. Er kommt hier tatsächlich auch vor, in einem Fernsehauftritt, in dem er im Angesicht der Epidemie zu Besonnenheit aufruft. Wahrscheinlich muss man sich nicht einmal übermäßig für Politik interessieren, um bei dieser Szene nostalgisch zu werden. Was für ein Charisma hat dieser Mann, was für eine sympathische Erscheinung ist er – nicht nur, aber eben ganz besonders im Vergleich zu seinem Nachfolger.)

western

Western

(D/AT/BG 2017, Regie: Valeska Grisebach)

Spannung des Nichtverstehens
von Wolfgang Nierlin

Ganz klassisch kommt der Held des Films allein und geschichtslos aus der Tiefe des Bildes auf den Betrachter zu. Meinhard (Meinhard Neumann) ist in Valeska Grisebachs unkonventionellem Genre-Film „Western“ ein …

Ganz klassisch kommt der Held des Films allein und geschichtslos aus der Tiefe des Bildes auf den Betrachter zu. Meinhard (Meinhard Neumann) ist in Valeska Grisebachs unkonventionellem Genre-Film „Western“ ein schweigsamer, melancholischer loner ohne Heimat und Familie, der bei einer Berliner Baufirma anheuert. „Was bist du für einer?“, wird der „Neue“ von einem Kollegen gefragt. „Ich bin hier, um Geld zu verdienen“, entgegnet dieser pragmatisch knapp und ein bisschen geheimnisvoll. Der distanzierte Baggerfahrer ist zunächst in seiner Beobachterposition präsent, von der aus er an den Ränken, Machtspielen und Witzeleien seiner männlichen Kollegen teilnimmt. Als die Truppe für den Bau eines Wasserkraftwerkes nach Bulgarien aufbricht, verschärft sich seine Rolle als Außenseiter. Der ehemalige Fremdenlegionär, der sich unabhängig und freiheitssuchend gibt, wird in der Fremde nämlich nicht nur zum Vermittler zwischen seinen Kollegen und den Einheimischen, sondern gerät auch zwischen ihre Fronten.

Valeska Grisebachs fast absichtsloses, szenisch beobachtendes Erzählen begleitet unaufdringlich und mit dokumentarischem Blick Schritt für Schritt einen ambivalenten Prozess der Anziehung und Abstoßung und gewinnt dabei zunehmend an Intensität und Gewicht. Meinhard nähert sich zögerlich, aber bestimmt der Dorfbevölkerung an, erwirbt ein Pferd und findet Freunde. Bezeichnenderweise an der griechischen Grenze gelegen, wird das Dorf zum Austragungsort sprachlicher und kultureller Differenzen. Immer wieder kommt es zu Missverständnissen und Konflikten, bleiben die Fremden entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis fremd und Grenzen auf fast natürliche Weise nahezu unverrückbar. Es gibt in Valeska Grisebachs Inszenierung der schwierigen und mitunter komischen Kommunikationssituation aber auch eine Spannung des Nichtverstehens, gewissermaßen ein Verstehen jenseits sprachlicher Codes.

In dem mit nicht-professionellen Schauspielern besetzten eindrucksvollen Film geht es aber, forciert durch die Konfrontation mit dem Fremden, auch um das Duell zweier Männer. Getrieben von Rivalität und Eifersucht, kommt es immer wieder zur Konfrontation zwischen dem besonnenen Meinhard und seinem impulsiven Vorgesetzten Vincent (Reinhardt Wetrek). Grisebachs authentische Milieu- und Figurenzeichnung, eingebettet in ein sehr sinnliches „Natur-Setting“ und getragen von einem starken Interesse am gewöhnlichen, alltäglichen Leben, entfaltet diesen Konflikt höchst realistisch. Ihr dokumentarischer Realismus, der die Sprache der Gesichter ebenso integriert wie eine moderne elliptische Erzählweise, verbindet sich wiederum ganz selbstverständlich mit Genre-Elementen. Obwohl Meinhard, der für sich das Gesetz des Stärkeren verinnerlicht hat, stets aus der Deckung und fast schon „zurückhaltend“ kämpft, wirkt er am Ende in seinen bescheidenen Siegen wie ein Verlorener, der sich von seinem einheimischen Freund Adrian (Syuleyman Alilov Letifov) fragen lassen muss: „Was suchst du hier?“

Hier gibt es einen weiteren Text zu ‚Western‘.

traumhaft weg

Der traumhafte Weg

(D 2016, Regie: Angela Schanelec)

Ein schwebendes Mobile
von Ulrich Kriest

Etwas geschieht – und etwas (davon) wird sichtbar. Ein junges Paar erklimmt mühevoll einen Anhang zu einem Platz. Oben angekommen wird gemeinsam musiziert: „The Lion Sleeps Tonight“. Straßenmusik. Dann kommen …

Etwas geschieht – und etwas (davon) wird sichtbar. Ein junges Paar erklimmt mühevoll einen Anhang zu einem Platz. Oben angekommen wird gemeinsam musiziert: „The Lion Sleeps Tonight“. Straßenmusik. Dann kommen andere junge Menschen hinzu, die ihrerseits eine Agenda haben. Ein Plakat wird ausgebreitet. Sommer 1984, der EU-Beitritt Griechenlands steht bevor und ist mit einigen Hoffnungen verbunden. Als der junge Mann, nennen wir ihn Kenneth, einen Anruf tätigt, erhält er eine Nachricht, die ihn zusammenbrechen lässt. Eine Beobachterin der Szene wird aufgeklärt, dass Kenneths Mutter einen Unfall erlitten habe. Kurz darauf kommt es zu einer erneuten Begegnung des Paares, diesmal in ihrer Heimatstadt. Eine gewisse Entfremdung ist nicht zu übersehen. Trotzdem werden Zukunftspläne geschmiedet. Jeder für sich. Die junge Frau, nennen wir sie Theres, will Lehrerin werden. Griechisch und Latein.

„Der traumhafte Weg“, der neue Film von Angela Schanelec, ist angelegt wie ein schwebendes Mobile aus Einzeleinstellungen, die ein genaueres Hinsehen erfordern, wenn man der/die Geschichte(n), die sie (auch) erzählen, auf die Spur kommen will. Vertrauend auf die Neugier und die Phantasiebegabung des Zuschauers belastet die Filmemacherin ihre Figuren nicht mit Geschichte oder psychologischen Profilen, sondern nimmt stattdessen die Körper und die Textur ihrer Kleidung als Medien. Hier wird buchstäblich über Schuhe und Pullover erzählt. Hatten die Filmemacherin und ihr beständiger Kameramann Reinhold Vorschneider in früheren Filmen ihren Einfluss auf die Figuren/Darsteller durch lange Plansequenzen beschränkt, so inszenieren sie in „Der traumhafte Weg“ durch Ausschnitte und Einstellungen, deren Manier an Robert Bresson („Das Geld“; F 1983), Jean-Luc Godard („Nouvelle Vague“; F 1990) oder Jean-Marie Straub und Danièle Huillet („Klassenverhältnisse“; D 1984) erinnert – und durchaus von einem spezifischen Humor oder einer Freude am vermittelten Erzählen zeugt.

Der Film folgt den Geschichten des Paares, das sich aus den Augen verloren hat. Da ist die Geschichte von Kenneth, der mit seinem Schicksal hadert, Junkie wird, gemeinsam mit dem fast blinden Vater die im Koma liegende Mutter erlöst, als gerade die Ostdeutschen den Reiz österreichisch-ungarischer Grenzgebiete entdecken. Da ist die Geschichte von Theres, die ein Kind bekommt, studiert und schließlich mit dem Kind nach Berlin zieht. In Berlin, dem Berlin der Gegenwart, kommt eine weitere Geschichte vom Ende einer Beziehung hinzu: Eine Schauspielerin versucht sich von einem Anthropologen zu trennen, mit dem sie eine Tochter hat. Auch hier wirkt manches auf den ersten Blick mysteriös, fragmentarisch und isoliert, aber, wenn man die Puzzleteilchen an Informationen zusammenlegt, wird auch hier deutlich, wie präzise der Erzählfluss des Films, wie durchdacht und sinnig jedes Detail in Szene gesetzt ist. „Der traumhafte Weg“ – der Filmtitel bezeichnet ziemlich präzise das Erzählverfahren und seine Freiheit(en) – fungiert dabei durchaus auch als Intervention gegenüber dem konventionellen und überdeterminierten Fernsehspiel-Realismus, wie er hierzulande mittlerweile auch 80% der Kinofilme zu eigen ist, aber nicht im Sinne einer destruktiven und frustrierenden Hermetik, sondern eher als Geste freundlichen Entgegenkommens auf der Basis gegenseitigen Respekts.

Wenn die Geschichten, die in „Der traumhafte Weg“ vorgestellt werden, auf der Zielgeraden – nach mehr als 30 Jahren! – dann enggeführt werden, ist es das Privileg des aufmerksamen Beobachters die Spannung dieser Engführung zu genießen. Den Figuren bleibt sie verborgen, weil sie nichts voneinander wissen. Am Ende: ein Verschwinden, ein Schuh auf dem Bahnsteig. Und der Film? Der hat sich wesentlich um einen Ort bekümmert, an dem die Engführung, die keine Begegnung ist, »plausibel« ist. Wenn Angela Schanelec davon spricht, dass sie schließlich auch die Zuschauerin ihres Films sei, dann sollte man das als Angebot verstehen, ihr ein wenig dabei in die Karten schauen zu dürfen, wie sie selbst sich eigene Fragen beantwortet und dafür ungewöhnliche künstlerische Lösungen findet. Ausgangspunkte von „Der traumhafte Weg“ waren vielleicht die Begegnung mit Obdachlosen im Alltag und die Fragen nach deren Geschichten, ergänzt vielleicht durch eine Lektüre von „Traurige Tropen“ von Levi-Strauss, die Begegnung mit Thorbjörn Björnsson und die Lust, einmal mehr mit Maren Eggert zu drehen. Was daraus wurde? Ein Kinofilm im emphatischen Sinne und eine Einladung, sich auf das Abenteuer des Sehens und des Nachdenkens einzulassen.

Hier gibt es einen weiteren Text zu ‚Der traumhafte Weg‘.

Eine fantastische Frau

(CH/D/USA/ESP 2017, Regie: Sebastián Lelio)

Im Fluss der Trauer
von Wolfgang Nierlin

Orlando Onetto (Francisco Reyes) ist ein kultivierter, ausgeglichen wirkender Mann Mitte sechzig, der zu Beginn der Films eine Sauna besucht. Entspannt und nachdenklich liegt er ausgestreckt auf der Massagebank. Dabei …

Orlando Onetto (Francisco Reyes) ist ein kultivierter, ausgeglichen wirkender Mann Mitte sechzig, der zu Beginn der Films eine Sauna besucht. Entspannt und nachdenklich liegt er ausgestreckt auf der Massagebank. Dabei sieht er aus wie ein Toter. Später am Abend trifft er in einem Nachtclub von Santiago de Chile die Sängerin Marina Vidal (Daniela Vega), die vierzig Jahre jünger ist als er und die gerade singt: „Deine Liebe ist wie eine Zeitung von gestern“. Der von seiner Familie getrennt lebende Orlando und die als Kellnerin arbeitende Marina sind auf selbstverständliche Weise ein Paar. Der Ältere begegnet der Jüngeren, die an diesem Tag Geburtstag feiert, mit sanfter Aufmerksamkeit. Die beiden lieben sich. Als später in der Nacht Orlando über starkes Unwohlsein klagt, kurz darauf infolge eines Treppensturzes das Bewusstsein verliert und auf dem Weg ins Krankenhaus plötzlich stirbt, ist das ein Schock, der lange nachwirkt.

Überwältigt von Schmerz und Trauer muss sich Marina trotzdem einer peinigenden, polizeilichen Befragung unterziehen. Denn der behandelnde Arzt und die herbeigerufene Polizei begegnen ihr mit Misstrauen und Vorurteilen. Marina, deren amtlicher Vorname Daniel lautet, besitzt nämlich eine schillernde, zwischen den Geschlechtern oszillierende transsexuelle Identität, die starker Diskriminierung ausgesetzt ist. Sebastián Lelio vermittelt das in seinem bei der Berlinale gleich mehrfach (Silberner Bär, Teddy Award) ausgezeichneten Film „Eine fantastische Frau“ indirekt über die deutlichen Vorbehalte und abschätzigen Reaktionen von Marinas Gegenspielern. Von Orlandos Ex-Frau wird sie etwa als „Schimäre“ bezeichnet: „Wenn ich dich ansehe, weiß ich nicht, was sich sehe.“ Marina ist eine Ausgestoßene, die überall auf Ablehnung trifft und durch ihr Anderssein zur Projektionsfläche für die Aggressionen der anderen wird.

Marina geht still leidend, aber mutig gegen den Wind, was Sebastián Lelio in seinem magisch zwischen Erinnerungen und Visionen changierenden Film bildlich nimmt. Sein visuell eindrucksvoll gestaltetes Werk, von dem der chilenische Regisseur sagt, es besitze eine „multiple Identität“, entfaltet Marinas Kampf gegen Vorurteile und für das Recht, in Würde trauern zu dürfen, nämlich vor allem in atmosphärischen Stimmungen und faszinierenden Bildern. Lelio zeigt eine Frau, die durch ihren unbeugsamen Widerstand Stärke gewinnt und dabei einen Weg findet, sich gegen alle Anfeindungen in einem Prozess der Trauer von Orlando zu verabschieden. „Alles fließt“, könnte man mit Heraklit angesichts der von Sebastián Lelio in seinem bewegenden Film etablierten Wassermetaphorik sagen, die in Fontänen, Dampfbädern und den beeindruckenden Wasserfällen von Iguazú ihren Ausdruck findet. Und sich schließlich kongenial mit dem Song „Time“ des Alan Parson Project verbindet: „But time keeps flowing like a river to the sea“.

blutiger freitag

Blutiger Freitag

(BRD/IT 1972, Regie: Rolf Olsen)

Ausbruch aus der BRD-Hölle? Nicht mit Rolf Olsen!
von Nicolai Bühnemann

Das Regie-Werk Rolf Olsens beginnt mit einer sehr bezeichnenden Texttafel, auf der steht: „Alle Gerüchte wonach dieses Filmwerk mehrfach preisgekrönt wurde, weisen wir empört zurück“. Der augenzwinkernde Mittelfinger in Richtung …

Das Regie-Werk Rolf Olsens beginnt mit einer sehr bezeichnenden Texttafel, auf der steht: „Alle Gerüchte wonach dieses Filmwerk mehrfach preisgekrönt wurde, weisen wir empört zurück“. Der augenzwinkernde Mittelfinger in Richtung festival circuit, Qualitätskino und des guten Geschmacks mag nicht nur exemplarisch stehen für den Film, der ihm folgt, die Cross-Dressing-Schlagerklamotte „Unsere tollen Tanten“ (1961), in der denn auch Dialogzeilen aufgesagt werden dürfen wie: „Edeltraud, Sie haben Ansichten wie ein Filmkritiker“, sondern für das Kinoverständnis des Schauspielers, Drehbuchautors und Regisseurs Rolf Olsen. Zwischen 1961 und 1990 hat Olsen, der seine Drehbücher in der Regel selbst schrieb, bei 33 Spielfilmen und einer Fernsehserie Regie geführt. Darunter sind Schlagerfilme, Krimis, Komödien, ein Western und in seinem Spätwerk mit den beiden „Shocking Asia“-Filmen und anderen der seltene bundesrepublikanische Ausflug in die Gefilde des Mondo-Films. Nach Olsens Auffassung ist das Kino durch und durch populär, ist Unterhaltung, pulp, Exploitation, Kolportage, kurz: alles, was den Verfechtern des Kinos als einer „seriösen“ Kunst ein Dorn im Auge ist.

Was ihn dabei von anderen „Schundfilmern“ unterscheidet, ist nicht so sehr eine ausgefeilte Autorenhandschrift als vielmehr die Dringlichkeit, mit der er seine Szenarien (oder zumindest einzelne Szenen) ernst nimmt und, mit tatkräftiger Unterstützung der großartigen Kamera von Franz X. Lederle, immer wieder inszeniert, als ob es kein Morgen gäbe. Zwei Beispiele: In „Der Arzt von St. Pauli“ (1968) bekommt die gute, von Curd Jürgens gespielte Titelfigur als Antagonisten den eigenen Bruder gegenübergestellt, der ebenfalls Arzt ist, in diesem Fall ein in allerlei kriminelle Machenschaften verstrickter Gynäkologe. Biblische Gravitas legt sich über St. Pauli und den Groschenromanplot. Wenn Jürgens hier in einer Szene, die mit dem gnadenlosen Ticken einer Wanduhr unterlegt ist, um das Leben eines Kindes kämpft, ist das lupenreine Suspense, wie man sie selten in solcher Intensität erlebt. In „Käpt’n Rauhbein aus St. Pauli“ (1971) wird ein Unfall, bei dem der wiederum von Jürgens gespielte Protagonist seine Frau aus Versehen ein Treppenhaus hinunter und in den Tod stürzt, ebenfalls mit beträchtlichem Können und ausufernder Dramatik gefilmt. Ganz so, als wüssten die Beteiligten nicht, dass der Film, der auf diese Szene folgt, ziemlicher (wenn auch verdammt spaßiger) Unfug ist, der sich um die derartige Traumatisierung seiner Hauptfigur nicht im Geringsten schert.

Ich habe bislang nur eine Handvoll Olsen-Filme gesehen, zumeist Krimis, aber glaube dennoch sagen zu können, dass sein Kino mit „Blutiger Freitag“ eine Art Apotheose erreicht. Einerseits, weil Olsens unbestreitbares inszenatorisches Talent hier ganz im Dienst einer Erzählung steht. Andererseits, weil das Populäre, für das der Filmemacher steht, hier auf einmal eine so große gesellschaftliche Relevanz entwickelt, wie sie auch dem „Kunstkino“ nur in den besten Momenten eigen ist. Philipp Stiasny und Thomas Groh schreiben in ihrem Artikel zum Film: „Fassbinders langjähriges Projekt, die Problematisierung dessen, ob und wie man in diesem Land leben kann, gesellt sich hier ein unerwarteter Bündnispartner aus der krachledernen Kolportage zur Seite.“

Der Film beginnt wiederum mit einer Texttafel: „Die hier gezeigten Ereignisse beruhen auf ähnlichen Begebenheiten der jüngsten Zeit. Aus naheliegenden Gründen wurden Fakten und Namen geändert. Mit der Wesentlichkeit gewisser Realitäten hat dies nichts zu tun.“ Zunächst einmal wollen diese Worte natürlich möglichst reißerisch einen Bezug des Films zu den Banküberfällen mit Geiselnahme herstellen, die in den frühen 1970er Jahren die Bundesrepublik erschütterten, namentlich dem in der Münchener Prinzregentengasse am 4. August 1971, aber auch zu den Verbrechen der RAF.

Dann hat es aber mit den „gewissen Realitäten“ auch noch eine andere Bewandtnis, weil der Film von 1972 wie kaum ein anderer ein Gesellschaftspanorama und Stimmungsbild der BRD seiner Zeit liefert. Welche Hoffnungen auf eine bessere Welt es in den späten Sechzigern auch immer gegeben haben mag, in den frühen Siebzigern, wie sie „Blutiger Freitag“ porträtiert, sind sie längst verflogen. Wir befinden uns in einem Land, das förmlich zerrissen ist zwischen erdrückend spießiger Kleinbürgerlichkeit und dem (in letzter Instanz reichlich fehlgeleiteten) Aufbegehren gegen sie, zwischen alten Nazis und jungen Wilden, zwischen der Entfremdung in kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnissen und der ungezügelten Gewalt, die hier als letzte Alternative zu ihr erscheint.

Wie so oft ist es gerade die Exploitation, die in der hemmungslosen Überzeichnung ihrer Szenarien der Wirklichkeit näher kommt als der Autorenfilm im ursprünglichen Sinn des Wortes, das so genannte „Qualitätskino“. So wie es fünfzehn Jahre später eine so zynische, brutale und obszöne Satire wie „Robocop“ brauchte, um den Zynismus, die Brutalität und die Obszönität des Neoliberalismus gebührend zur Kenntlichkeit zu entstellen, so braucht es die am zeitgenössischen italienischen Genrekino geschulte Härte (es verwundert keineswegs, dass es sich hier um eine italienische Koproduktion handelt), die Kompromisslosigkeit und Rohheit eines „Blutiger Freitag“, um der Ausweglosigkeit der Situation vieler junger Menschen im West-Deutschland der frühen Siebziger gerecht zu werden.

Hauptdarsteller Raimund Harmstorf wurde ein Jahr zuvor durch seine Darstellung der Titelfigur in dem TV-Vierteiler „Der Seewolf“ nach Jack London bekannt, bei dem übrigens Wolfgang Staudte die Regie übernahm, der eine weitere Größe des bundesrepublikanischen Kinos (nicht nur, aber auch des Genrekinos) war, die es wiederzuentdecken gilt. Schon dort gab er mit seinem hünenhaften Äußeren einen gebrochenen Bösewicht, der absolut larger than life war. Hier also spielt er Heinz Klett, den muskelbepackten Rotschopf mit Vollbart und dem im Mundwinkel klemmenden dünnen Zigarillo, den markigen Macho, der seine Sonnenbrille auch nachts nicht absetzt und dessen schwarze Lederhose im Schritt imposant ausgebeult wird. Den Gewaltproleten mit der Maschinenpistole. Den Mörder und Vergewaltiger. Das Schicksal des Darstellers nahm einen ähnlich tragischen Lauf wie das seiner großen Figuren. An Parkinson erkrankt, führte seine ausufernde Selbstmedikation zu Depressionen, wegen derer er auch stationär behandelt werden musste. Als die Bild-Zeitung dann titelte: „Harmstorf in der Klapsmühle“ hängte sich der damals 58-jährige 1998 auf. In einer besseren Welt wäre Klett (mindestens in Deutschland) eine zur popkulturellen Allgemeinbildung gehörende Kultfigur, eine Ikone des Bösen wie Darth Vader oder Travis Bickle. So ist er nur ausgesuchten Aficionados des deutschen Genrekinos vergangener Dekaden überhaupt ein Begriff.

Seine Mitstreiter bei dem vermeintlichen großen Coup sind sehr heterogen. Sie eint aber, dass ihnen dieses gottverdammte Land zu einem riesigen Gefängnis geworden ist. Da nimmt es wenig wunder, dass der Film mit einem Ausbruch beginnt. Mithilfe zweier Komplizen flieht Klett zu Beginn auf dem Weg zu seiner Gerichtsverhandlung wegen kleinerer Delikte aus dem Gerichtsgebäude. Die beiden Polizisten, die ihn bewachten, bekommen gehörig auf die Fresse. Klett ist wieder frei, sein Kompagnon Stevo wird bei der Aktion erwischt. Um Klett scharen sich der italienische „Gastarbeiter“ Luigi (Gianni Macchia), der in seinem Job und darüber hinaus immer wieder mit dem schwelenden Rassismus der Gesellschaft konfrontiert wird. Am deutlichsten wohl in einer Szene, in der ihn ein fetter reicher Unsympath als Kunde der Tankstelle, an der er arbeitet, wüst verbal traktiert und zum Abschied als „Arschloch“ beschimpft (gespielt wird dieser von Rolf Olsen, der sich mit seinem Cameo selbst lustvoll in das Establishment einschreibt, das der Film so vernichtend zeichnet). Luigis Freundin Heidi (Christine Böhm) verzweifelt an ihrer Arbeit in einem Großraumbüro ebenso wie an den kleinbürgerlichen Vorstellungen vom Glück als Mischung aus Familie und Konsum, die ihr ihre Kolleginnen vorleben. Schließlich ist da ihr Bruder Christian (Amadeus August), der aufgrund ewiger Schikanen durch seine Vorgesetzten von der Bundeswehr desertiert ist.

Sie alle überfallen also eine Bank in München mit der festen Überzeugung, dass es nur der richtigen Planung bedarf, um nicht in die gleiche Falle zu tappen wie ihre realen Vorbilder. Zwar scheint es das Glück zunächst gut mit ihnen zu meinen, wenn sich unter ihren Geiseln auch die Tochter (Gila von Weitershausen) eines steinreichen Kaufhausbesitzers findet, doch bald gibt es erste Tote, gerät die Lage immer mehr außer Kontrolle, was sicherlich nicht zuletzt am steigenden Alkoholpegel Kletts liegt.

Es passt zur düster pessimistischen Weltsicht des Films, dass es keinen Silberstreif am Horizont gibt. Groh und Stiasny schreiben: „Selten hat ein deutscher Unterhaltungsfilm so mit Sympathiepotenzialen gegeizt.“ Auch für die Zuschauenden gibt es in dieser Welt längst keine Möglichkeit der (positiven) Identifikation mehr. Der Film lässt die Gegensätze aufeinanderprallen im Konflikt zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen, zwischen verschiedenen Weltbildern. Am drastischsten wohl in der in dokumentarischem Duktus gefilmten Szene vor der Bank, bei der ein Fernsehteam die Schaulustigen auf der Straße interviewt, wobei ein unüberwindbarer Abgrund aufklafft zwischen den Älteren, die hartes Durchgreifen und die Todesstrafe fordern, und den Jüngeren, meist Bärtigen, die die Ursachen des Verbrechens in den gesellschaftlichen Zu- und Missständen suchen. So ätzend wie der Film das kleingeistige, verschlossene, von alter Naziideologie durchtränkte, fremdenfeindliche Establishment auch zeichnet, macht er doch keine Hoffnung darauf, dass mit den jungen Verzweifelten, die Marx in den immergleichen klassenkämpferischen Phrasen von sozialer Ungerechtigkeit vulgarisieren, eine Revolution vor der Tür stehen würde oder auch nur möglich wäre.

Alle Vorstellungen von einer anderen besseren Welt der Rebellierenden bleiben denn auch denkbar unbeholfen und naiv. Wo soll die Beziehung von der schwangeren Heidi und Luigi, die wohl einfach nur ungestört zusammen sein wollen, hinführen, wenn nicht wieder in die Kleinbürgerlichkeit, der sie zuallererst entfliehen wollten? Und was sagt Kletts Fantasie von dem Geschäft mit Fleischkonserven im Ausland schon anderes als: „Ich will hier raus?“ Anstatt seine wirklich revolutionäre Agenda zu erschaffen, träumen die Antihelden von „Blutiger Freitag“ nur noch davon, die bestehenden Verhältnisse zu reproduzieren – natürlich mit sich selbst nunmehr auf der Gewinnerseite. Letztlich handelt es sich hier weder um einen linken noch um einen rechten, sondern um einen (nicht nur, aber eben auch politisch) nihilistischen Film, der vom gewaltsamen Zusammenhalt einer an allen Ecken erodierenden Ordnung erzählt. Die einzige Gewissheit, die den Figuren bleibt, lässt sich mit den Worten Jim Morrisons zusammenfassen: „No one here gets out alive“.

Das wirklich Großartige an „Blutiger Freitag“ ist allerdings, wie er es schafft, Gesellschaftsporträt und Genrefilm kurzzuschließen. Der Dreh an Originalschauplätzen mit der höchst mobilen, sich in ständiger Bewegung befindenden Kamera von Lederle unterstreicht einerseits die ungefilterte, rohe Authentizität des Gezeigten, andererseits bestimmt sie auch das atemberaubende Tempo und die Spannung des Films, die mit den Themen von Ausbruch und Flucht korreliert. Denkwürdig unter den immer recht blutig ausgewalzten Gewaltszenen bleibt wohl die Splattereinlage, in der sich ein Polizist auf eine Handgranate wirft, mit der zuvor ein kleiner Junge spielte, den er so mit dem Preis seines eigenen Lebens rettet (die wohl einzige wirklich heldenhafte Tat in diesem Film), und von dessen Oberkörper nur noch ein einziger Matsch aus Blut und Eingeweiden bleibt, der sich über die Straße ergießt. In dieser Szene und einer Montagesequenz bei einer Vergewaltigung gegen Ende, die den brutalen Akt mit Bildern von in einer Metzgerei zerhackten Tierkadavern und einem lesbischen Stelldichein kurzschließen, das (nur in der nun erstmals auf DVD und Blu-ray vorliegenden Langfassung) explizite Aufnahmen von weiblichen primären Geschlechtsorganen liefert, lässt Olsen alle Hemmungen fallen, überantwortet sich ganz dem Exzess und zitiert damit nicht nur die Deliranz italienischer Vorbilder, sondern schafft es sogar noch, diese zu überbieten.

Schon die Breite des DVD/Blu-ray-Digipacks aus dem Hause Subkultur Entertainment zeigt, dass wir es bei ihrer Veröffentlichung des Films buchstäblich mit einem ganz dicken Ding zu tun haben. Als Extras gibt es zwei Audiokommentare, einen von den Filmgelehrten Christian Keßler und Pelle Felsch, den anderen von Daniela Giordano und Giacomo de Nicolò, die zweistündige (!) Dokumentation „Der kalte Tag“, für die, wie bei diesem Label üblich, Sadi Kantürk verantwortlich zeichnete, der sich ausgiebig und informativ mit den Beteiligten unterhält, die noch am Leben sind. Abgerundet wird das Paket durch Trailer, eine Bildergalerie und das Booklet mit dem oben bereits zitierten Text von Thomas Groh und Philipp Stiasny. Diese Edition war nicht nur überfällig, weil der Film bislang nur auf fürchterlichen Grabbeltisch-DVDs erhältlich war und die erhaltenen 35-mm-Kopien wie so viele aus dieser Zeit extrem rotstichig sind. Das Label hat auch nicht die Mühe gescheut, eine Langfassung des Films anzufertigen, die der Version entspricht, die ursprünglich vorgesehen war, aber fürs Kino an einigen Stellen zensiert werden musste. Die Langfassung ist nicht nur wegen der Lesbenpornoszene der Kinofassung klar vorzuziehen. Weil Subkultur aber nun mal Subkultur ist, hat das Publikum die Wahl: auf den vier Discs, zwei DVDs, zwei Blu-Rays, befinden sich beide Versionen und noch eine italienische Variante des Films. Ein abgespeckte Single-Disc-Version für den kleineren Geldbeutel gibt es übrigens auch noch. So soll es sein.

chance 2000

Chance 2000 – Abschied von Deutschland

(D 2017, Regie: Kathrin Krottenthaler, Frieder Schlaich)

Fracking für Kultur
von Andreas Thomas

Wer sich dieser Tage mal die documenta 14 anschaut, wird vielleicht bemerken, dass es ihr an zwei Dingen mangelt: an Ironie bzw. Humor und an Provokation im kreativen Sinne. Mittlerweile …

Wer sich dieser Tage mal die documenta 14 anschaut, wird vielleicht bemerken, dass es ihr an zwei Dingen mangelt: an Ironie bzw. Humor und an Provokation im kreativen Sinne. Mittlerweile 20 Jahre ist es her, als Christoph Schlingensief und sein Mitarbeiter Bernhard Schütz es schafften, für die Kunstperformance „48 Stunden Überleben für Deutschland“ auf der documenta 10 polizeilich abgeführt und kurzzeitig festgenommen zu werden. Heute ist dergleichen auf der documenta undenkbar, auf der bierernst und über jeden inneren Diskurs erhaben, ausgestellt und angeprangert wird, in welch unerträglichem Zustand unsere Welt sich befindet – mit Recht einerseits und eben auch leblos, weil eine nur leicht getönte Kopie von was auch immer eben wenig Kunst ist und selten neues hervorzubringen vermag. Man hat den Eindruck, dass die documenta lediglich das moralisch angezeigte schlechte Gewissen streicheln und hegen soll, aber verändern, bewegen, anstoßen, aktivieren, ins Herz der Besucher zu gehen, das scheint sie nur in Ansätzen zu wollen oder wenigstens zu schaffen.

Schlingensief hat es damals vorgemacht, wie man Dinge bewegt und gleichzeitig gezeigt, was Kunst sein und tun kann. Er griff damals auf, was Joseph Beuys als „Soziale Plastik“ entworfen und entwickelt hatte. Was bei Beuys noch ein eher positiver und kulturell und politisch gestalterisch und basisdemokratischer Ansatz war, wurde bei Schlingensief zu einem Fracking für kulturelle Blähungen. Er setzte Sprengsätze an, übte Druck auf gesellschaftlich neuralgische Punkte aus, und fand immer wieder, in seinem integrativen Charisma vergleichbar mit Fassbinder, Anhänger, Ausführende dieser Sozialen Plastiken. Soziale Skulpturen, die immer auch in Gestalt von seinen Filmen, Theaterstücken, Talkshows oder eben Kunstaktionen entstanden, mit Schlingensief als crazy agent, die Dynamiken der Gruppe(n) und der Individuen aktivierend und provozierend.

Auch die sich über anderthalb Jahre erstreckende Kreation der Partei „Chance 2000“ mit ihrem programmatischen Motto „Scheitern als Chance“ gehört zu den großen Sozialen Plastiken Schlingensiefs. Ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl 1998 registriert Schlingensief die „Stimmung im Lande“ angesichts der 16 Jahre währenden Amtszeit des Bundeskanzlers Helmut Kohl, eine Art Übersättigung, einen Stillstand, gepaart mit dem Gefühl, keinen Einfluss auf die Politik mehr zu haben, und modelliert, triggert daraus einen der wenigen politisch-künstlerischen Aufreger dieser Jahre, in denen es noch keinen IS gab, in denen Selbstmordattentate noch etwas Makaber-Exotisches waren, eine Zeit, in der das Skandalöseste, was ein US-Präsident tun konnte, war, sich oral von einer Praktikantin befriedigen zu lassen. Es war eine verhältnismäßig friedliche Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges, aber auch eine Zeit, in der man realisierte, dass der Traum einer sozial gerechteren Welt schier ausgeträumt war, denn es gab ja keine „real existierenden“ Modelle dafür mehr, es gab nur noch funktionierenden und enthemmten Kapitalismus, der mehr und mehr zu einer rücksichtslosen Globalisierung mutierte, ausgebeutete Arbeitskräfte in den Billiglohnländern, Arbeitslose in den traditionellen Industrienationen. Auch hier setzte „Chance 2000“ thematisch an. Wenn, in typisch schlingensiefscher Manier, anstatt von etwa damals 4 Millionen Arbeitslosen von 6 Millionen Arbeitslosen die Rede ist, „sechs Millionen Unsichtbaren“, die wieder „lebendig werden müssen“, dann liest Schlingensief deutsche Geschichte quer und konnotiert den Mord an 6 Millionen Juden mit den in „Vergessenheit geratenen“ 4 Millionen Arbeitslosen in Deutschland. Ein gewagter und politisch ziemlich inkorrekter Vergleich, an den eine Kunstaktion der documenta 2017 erinnert, wo die europäische Ignoranz des Sterbens tausender Bootsflüchtlinge im Mittelmeer mit dem Wort „Auschwitz on the Beach“ charakterisiert wird. Beide Vergleiche brechen Tabus, Schlingensiefs etwas verstecktere Konnotation noch weit unverschämter als der Gedankengang, das „Salzwasser des Mittelmeers sei das neue Zyklon B“. Beides will aber nicht den Holocaust verharmlosen und verniedlichen, sondern provozieren und zu bedenken geben, welche politischen Bedingungen und Haltungen generell Tendenzen zur Unmenschlichkeit begünstigen.

Natürlich muss man die Gleichsetzung der Arbeitslosen 1998 mit den ermordeten Juden bei Schlingensief in einem völlig anderen Kontext verstehen. Bei Schlingensief geht es um Verdrängung, Ignoranz, ums Totschweigen als etwas dem Töten Verwandtes, deutsche „Tugenden“ also, die typisch deutsche Pathologien charakterisieren und wieder neue Pathologien produzieren. Der Gesamtrezipient Schlingensief stürzt sich auf und in diese Pathologien und bringt sie zum Schwingen und Vibrieren, indem er gleichermaßen diffus und agitatorisch durch Fernsehtalkshows tingelt, auf unzähligen Parteiveranstaltungen wirkt wie ein Rudi Dutschke, quasi ein neuer Messias – und dabei sinngemäß skizziert, dass er keine Antwort habe und dass eben das seine Antwort sei. So sieht ihn Deutschland bei Polit-Talkerin Sabine Christiansen in Gegenwart von Bernhard Brink proklamieren: „Wir sind die Partei, wir sind der Bodensatz“, bei Alfred Biolek (ein Förderer der ersten Stunde) in Gegenwart von Hannelore Elsner und Hella von Sinnen: „Aus ‚Tötet Helmut Kohl‘ ist ‚Helft Helmut Kohl‘ geworden.“ Schlingensief redet vom „Scheitern als Chance“ proklamiert Verstörendes wie „ Wähle dich selbst, töte dich selbst!“, Erkenntnisse wie „Alle Minderheiten zusammen sind die Mehrheit!“, „Wir wollen nur wieder merken, dass wir was gemacht haben“. Mit gekonnten, eingängigen Slogans solcher Art (je widersprüchlicher, desto faszinierender) jongliert er mit den Ängsten und Hoffnungen und schließlich unbewussten Schichten seiner Anhänger und Parteimitglieder, dabei jeder/m ihren/seinen ganz individuellen Entfaltungsraum gebend, ja geradezu ihn einfordernd. „Chance 2000“ ist wie ein schnell wachsendes Bäumchen, dessen Wurzel Schlingensief ist, dessen Nahrung aber die Individuen seiner MitmacherInnen sind. Mit dabei: Dietrich Kuhlbrodt in seiner Eigenschaft als Ex-Oberstaatsanwalt, Carl Hegemann, Tom Tykwer, Harald Schmidt als Vereinsgründungsmitglied und viele Schauspieler, Behinderte und Artisten.

Die spektakulärste Aktion von „Chance 2000“: Mit möglichst vielen (es waren vielleicht maximal 100 Leute) der „6 Millionen Arbeitslosen“ den Urlaubsort von Helmut Kohl besuchen, gemeinsam baden gehen und dadurch den Pegel des Wolfgangsees so weit ansteigen lassen, bis der Ferienbungalow des Kanzlers unter Wasser steht. Auch hier ist die Idee das Revolutionäre, nämlich die Vorstellung, dass das die „Unsichtbaren“ sichtbar und spürbar werden könnten, real werden könnten. Rein physikalisch, erzählt Schlingensief nebenbei, hätten 6 Millionen Körper den Pegel des Wolfgangsees lediglich um 2-3 Zentimeter angehoben. Aber hier geht es um die Welt als Vorstellung, um gefühlte Utopie und nicht nur um Kunst, die dann eben keine Wirkung mehr hat, wenn man sie als solche bezeichnet.

Das Schlingensief-Feeling fehlt uns heutzutage, und es scheint keiner in Sicht zu sein, der da anknüpft, wo er, der Getriebene, mit 49 Jahren vor heute, 2017, sieben Jahren aufgehört hatte. Die Dokumentation „Chance 2000“ von Frieder Schlaich und Kathrin Krottenthaler ist ein posthum aus 90 Stunden vorhandenem Filmmaterial zusammengestellter, unkommentierter Rückblick von heute auf ein Gestern, in dem die Welt noch so beruhigend langweilig war, dass man dankbar für jeden Wirbel war. Ein Rückblick, der trotz aller inhaltlichen Vitalität des gezeigten Aktionismus, wie ein Blick in eine entfernte Welt schaut, der man nachtrauern kann, aber die unwiederholbar zu sein scheint. Das Feuer von Schlingensiefs Spektakeln, das einen in Filmen wie etwa Paul Poets „Ausländer Raus!“ heute immer noch direkt anspringt, geht dieser sorgfältigen Chronologie der Ereignisse manchmal ein wenig ab. Gucken Sie sie trotzdem an, denn es brennt darin immer noch heiß genug!

western

Western

(D/AT/BG 2017, Regie: Valeska Grisebach)

Cowboys in Europa
von Ulrich Kriest

Direkt aus der heruntergekommenen Sammelunterkunft geht es für eine Gruppe deutscher Bauarbeiter ins bulgarisch-griechische Grenzgebiet, wo sie für ein größeres Bauvorhaben die Infrastruktur schaffen sollen. Mit schwerem Gerät und viel …

Direkt aus der heruntergekommenen Sammelunterkunft geht es für eine Gruppe deutscher Bauarbeiter ins bulgarisch-griechische Grenzgebiet, wo sie für ein größeres Bauvorhaben die Infrastruktur schaffen sollen. Mit schwerem Gerät und viel Körpereinsatz. Die Männer leben in einer Hütte in der Nähe der Baustelle. Erste Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung am Fluss verlaufen unglücklich und sorgen für Verstimmungen.

Die reisefreudigen unter den deutschsprachigen FilmemacherInnen begeben sich gerne einmal auf Erkundungsreise gen Osten: nach Tschechien, in die Slowakei, die Ukraine oder nach Rumänien. Erinnert sei nur an Filme wie „Blue Moon“ (2002), „Slumming“ (2006), „Import/Export“ (A 2007) oder jüngst „Toni Erdmann“ (D 2016; R: Maren Ade). Mit Bildern und Konstellationen ihrer TV-Western-Sozialisation im Kopf hat Valeska Grisebach („Sehnsucht“; D 2009) die frontier mit mehr als überzeugenden Ergebnissen in den Wilden Osten verlegt.

Im Gegensatz zu Thomas Arslans „Gold“ (D 2015) kann Grisebach durch das klug gewählte Setting auf historische Kostümierung verzichten und einen »modernen Western« drehen. Hier wird einerseits mit modernen Baumaschinen das agrarisch geprägte Hinterland urbar gemacht, andererseits auf Pferden geritten, Flagge gezeigt und Tauschhandel mit den Eingeborenen betrieben. Die vorhandene Sprachbarriere erfordert besondere Sensibilität, Zurückhaltung und Respekt im interkulturellen Umgang, Qualitäten, die in unterschiedlichen Charakteren unterschiedlich ausgeprägt sind, was innerhalb der Männergruppe schnell zu Reibereien und Rivalitäten führt. Allesamt Motive und Konflikte, die in unzähligen Western ausbuchstabiert wurden, aber auch hier bestens und höchst unterhaltsam tragen, unterstützt und befördert durch die immer wieder überraschende und den Blick öffnende Bildgestaltung von Bernhard Keller. Hinzu kommt, dass Grisebach komplett auf Laiendarsteller gesetzt hat, was dem ruhigen Bilderfluss quasi dokumentarische Qualitäten verleiht.

„Western“ ist auch ein genau beobachteter Film über Männer mit Statusinkonsistenzen, die „auf Montage“ in der Fremde teilweise eine etwas altmodisch erscheinende Form von Männlichkeit »genießen« oder dies als Selbstentwurf zumindest einmal versuchen. Andererseits – und dies ist nun die Pointe von „Western“ – ist die Frontier-Erfahrung der Bauarbeiter, die Stimmigkeit der Western-Motive in der Wahrnehmung des Zuschauers natürlich immer als eine Projektion erkennbar, ein bewusst konstruiertes Narrativ, ein Rollenspiel mit Ungleichzeitigkeiten, Resultat der hintersinnigen Konstruktion Valeska Grisebachs.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

ana mon amour

Ana, mon amour

(RO 2017, Regie: Calin Peter Netzer)

Dem bösen Wolf gegenübertreten
von Wolfgang Nierlin

Ana (Diana Cavallioti) und Toma (Mircea Postelnicu) studieren Literatur und sind ein Paar. Am Anfang von Călin Peter Netzers sozialpsychologischer Beziehungsstudie „Ana, mon amour“ sitzen sie zusammen in einem Zimmer …

Ana (Diana Cavallioti) und Toma (Mircea Postelnicu) studieren Literatur und sind ein Paar. Am Anfang von Călin Peter Netzers sozialpsychologischer Beziehungsstudie „Ana, mon amour“ sitzen sie zusammen in einem Zimmer ihres Studentenwohnheims in Bukarest und lernen sich erst noch kennen. Sie diskutieren mit einer gewissen Ironie und offensichtlich ineinander verliebt über Nietzsches Moralbegriff, während im Zimmer nebenan geräuschvoll gevögelt wird. Die unruhige Kamera erfasst dabei intuitiv und tastend ihre Gesichter und Hände, wandert über ihre Körper und streift Details. Andrei Buticá filmt unmittelbar und direkt, ebenso flüchtig wie insistierend Bilder großer Nähe und Intensität, die von der mit dem Silbernen Bären ausgezeichneten Cutterin Dana Bunescu zu einem nervösen, unkalkulierbaren Rhythmus montiert werden. Als Ana plötzlich eine Panikattacke erleidet und um Luft ringt, wird die Intimität noch gesteigert. Denn Toma mildert die Symptome durch seine körperliche Nähe.

Die Liebesbeziehung der beiden fußt also von Beginn an in einer Schwäche, einer Krankheit, einem unbewussten Trauma. Toma braucht Ana, um sich um sie zu kümmern und ihr quasi in Sorge und Pflege nahe zu sein. Dabei quält ihn selbst eine uneingestandene Versehrtheit. Aus dem Hintergrund eines Rockkonzertes, das die beiden besuchen, taucht eine Textzeile auf: „Ich bin der, der in dir wohnt.“ Überhaupt ist die unterschwellig und sehr gedimmt mit Musik bespielte Tonspur beredt. Als die beiden wechselseitig in den jeweiligen Elternhäusern des anderen zu Gast sind, kommt es hier wie dort zu lautstarken, gar handgreiflichen Konflikten. Netzers ungeschönt realistischer Blick deutet gesellschaftspolitische Verwerfungen an und akzentuiert zugleich die dunklen Stellen im jeweiligen Familienkontext. Denn Anas unbestimmten Angstzustände und ihre daraus resultierende Tablettensucht haben Gründe, die sie selbst noch nicht versteht.

Sie unterzieht sich deshalb einer Psychoanalyse, bearbeitet ihre Probleme, wächst daran, während Toma in seinem symbiotischen Abhängigkeitsverhältnis gefangen und infolgedessen stehen bleibt: „Ich liebe dich unendlich“, insistiert Toma, während Ana ihm vorwirft, sich von ihrer Krankheit zu nähren. Als sie schwanger wird, verstärken sich diese unguten Beziehungsmuster bis zur Beklemmung und einem wohl unausweichlichen Scheitern der Liebe.

Auch Toma vertraut einem Psychoanalytiker (Adrian Titieni) seine Geschichte an, was Călin Peter Netzer wiederum für die nicht-chronologische Erzählstruktur seines psychologisch vielschichtigen Films nutzt. In Ausschnitten und Fragmenten wechselt dieser zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Traum und konstruiert dabei eine sehr subjektive, nicht eindeutige Wirklichkeit. Offensichtlich wiederholen sich die Konflikte über Generationen hinweg geradezu schicksalhaft und ohne Ausweg. Einmal sucht Toma seinen Beichtvater auf, der ihm zur unbedingten Offenheit in Beziehungen rät: Man müsse „dem bösen Wolf gegenübertreten.“

sapienza

Das Licht der Weisheit

(IT 2014, Regie: Eugène Green)

Heilung ist möglich
von Wolfgang Nierlin

Der Blick auf den Lago Maggiore öffnet den Raum für die Musik von Claudio Monteverdi. Der Geist des Barock schwebt über den Wassern, bevor er sich materialisiert im Stein von …

Der Blick auf den Lago Maggiore öffnet den Raum für die Musik von Claudio Monteverdi. Der Geist des Barock schwebt über den Wassern, bevor er sich materialisiert im Stein von Gebäuden, Fassaden und Skulpturen. Die kunstvoll komponierte Montage in der Exposition von Eugène Greens Film „La Sapienza“ (dt. Das Licht der Weisheit) strebt absichtsvoll zur Kuppel, zum Licht, zum Raum, in dem das Göttliche wohnt. Wenn kurz darauf der Architekt Alexandre Schmidt (Fabrizio Rongione) in einer aus dem Off kommenden, weihevoll anmutenden Sprache für sein Lebenswerk geehrt wird, sehen wir Bilder einer grauen, großstädtischen Architektur. In meisterhafter Verdichtung von Wort und Bild etabliert Eugène Green zu Beginn seines motivisch überaus reichen Films einen Antagonismus zwischen Spiritualität und Materialismus. Alexandre, der sich selbst in seiner Dankesrede als Materialist und Laizist bezeichnet, verwirklicht sein humanes Anliegen in funktionalistischen Bauten.

„Ich glaube, dass der Mensch sich selbst genügt“, formuliert der introvertierte Architekt mit finsterem Blick. Doch tatsächlich befindet er sich in einer Sinn- und Schaffenskrise, Selbstzweifel nagen an ihm. Zudem liegt ein Schatten über seiner Ehe mit Aliénor (Christelle Prot Landman), einer Psychologin, die sich mit dem unglücklichen Bewusstsein sozialer Randgruppen beschäftigt. Um über ihre beruflichen und ehelichen Probleme nachzudenken, nehmen sie sich eine Auszeit und fahren an die oberitalienischen Seen. In gewisser Weise handelt es sich dabei um eine Referenz an Roberto Rossellinis „Viaggio in Italia“ („Liebe ist stärker“, IT 1954). Noch leben die beiden nebeneinanderher, was Green in seine statuarische, von seiner barocken Theaterarbeit herstammenden Inszenierung integriert. Darin übersetzen die Figuren durch ihr stilisiertes Spiel keine psychologischen Vorgänge oder ein emotionales Befinden. Vielmehr adressieren sie ihre klar und konzentriert artikulierte Rede direkt an den Zuschauer.

Dieses nicht-mimetische, analytische Konzept zielt jedoch nicht auf eine Brechung der Illusion, sondern auf eine Evokation des Verinnerlichten und Eingeschriebenen, das sich in einem energetischen Sinn gewissermaßen verflüssigt. Das Unsichtbare, das in Greens Film stets auch das Göttliche meint, soll sichtbar und erfahrbar werden, ohne zuvor vom Schauspieler eine individuelle Formung zu erfahren. Obwohl Eugène Green mit professionellen Darstellern arbeitet, bezieht er sich dabei auch auf Robert Bressons filmtheoretische Überlegungen zur Arbeit mit sogenannten „Modellen“. Darüber hinaus gestaltet der 1947 in New York geborene, seit Ende der 1960er Jahre in Frankreich lebende Regisseur und Autor in seinem Film eine dichte Anordnung von Bezügen, symmetrischen Entsprechungen und motivischen Spiegelungen, die ineinandergreifen, um jene „spirituelle Energie“ auszudrücken oder zu vermitteln, die sich einer planen Repräsentation widersetzt. Dabei ist der Film immer in seinem Zentrum. Nie gibt es eine Abschweifung oder gar etwas Überflüssiges. Jeder Satz und jedes Bild ist „bedeutsam“.

Das Unterwegssein in „La Sapienza“ verbindet die Suche nach sich selbst und nach dem anderen mit einer komplexen, mehrfachen Bildungsreise. Alexandre, von der raschen Vergänglichkeit seines eigenen Schaffens ernüchtert, folgt in Italien den Spuren des Barockarchitekten Francesco Borromini (1599–1667), um in seiner beruflichen Auszeit eine Studie über ihn zu schreiben. Als er und seine Frau in Stresa dem überaus ernsten und kultivierten Geschwisterpaar Goffredo (Ludovico Succio) und Lavinia (Arianna Nastro) begegnen, entwickeln sich daraus trotz oder gerade wegen des großen Altersunterschiedes höchst spannende Lehrer-Schüler-Verhältnisse. Während sich Aliénor mit der egelhaften, an periodisch wiederkehrenden Schwächeanfällen leidenden Lavinia anfreundet, begeben sich die beiden Männer auf Studienfahrt nach Turin und Rom. Der 18-jährige, sehr bestimmt wirkende Goffredo, der in Alexandre auch einen Vaterersatz findet (so wie dieser umgekehrt in dem Schüler einen Sohn) und bald ein Architekturstudium in Venedig aufnehmen möchte, erweist sich dabei als der Spirituellere von beiden. Immer wieder reflektiert er über die Notwendigkeit, Räume zu schaffen, die von Licht und damit – so Goffredos Überzeugung -von göttlicher Präsenz erfüllt werden.

In manchem entspricht ihr Verhältnis der Rivalität zwischen Borromini, dessen Werk einen „mystischen Barock“ verkörpert, und seinem „rationaleren“ Zeitgenossen und Kollegen Gian Lorenzo Bernini (1598–1680). Doch während Alexandre dem aufgeschlossenen Goffredo die architektonischen Besonderheiten der beiden erklärt, lernt er zugleich von dem Jüngeren und identifiziert sich zunehmend stärker mit dessen spiritueller Position. Parallel zu dieser Erweckungs- und Erleuchtungsgeschichte, die schließlich immer deutlicher um den Opfergedanken kreist, erleben die beiden Frauen – jede auf ihre Weise – ihrerseits eine Form der Heilung. Dabei spielt ein Theaterbesuch (gegeben wird Molières „Der eingebildete Kranke“ in einer Inszenierung des „Théâtre de la Sapience“, d. i. Greens Gruppe) sowie das dramatische Schicksal eines chaldäischen Flüchtlings und Sehers, der von Eugène Green selbst gespielt wird, eine zentrale Rolle. Wo beim einen Paar die symbiotischen geschwisterlichen Bande einer Lockerung bedürfen, braucht es bei den Ehepartnern die Überwindung einer Distanz. In jedem Fall aber, so der christliche Sternendeuter „aus der Ebene von Ninive“, bedürfe es eines Ortes, wo das Licht Gottes empfangen werden könne. Sonst sei man unglücklich.

agnus dei

AGNUS DEI – die Unschuldigen

(F/P 2016, Regie: Anne Fontaine)

Wie lange kann ein Glauben halten und wie lange der Glauben an Gottes Willen?
von Britta Rotsch

„Mein Auftrag ist, unser Geheimnis zu bewahren“, sagt die Mutter Oberin, die in der Hierarchie des Klosters ganz oben steht und von der eine Kälte und Bestimmtheit ausgeht, der man …

„Mein Auftrag ist, unser Geheimnis zu bewahren“, sagt die Mutter Oberin, die in der Hierarchie des Klosters ganz oben steht und von der eine Kälte und Bestimmtheit ausgeht, der man sich nur unterwerfen kann – so scheint es zumindest.
Während in Polen im Jahr 1945 Krieg herrscht, schwingt ein dunkles Geheimnis um das abseits gelegene Kloster. Stille, Totenstille hüllt sich um die hohe, steinerne Mauer, die ein tragisches Kollektivschicksal der Nonnen verbirgt.

Der Film „Agnus Dei“ basiert auf einer wahren Begebenheit und erzählt die Geschichte von sieben schwangeren Nonnen, die während der Besatzung von russischen Soldaten verfolgt, vergewaltigt und geschwängert wurden und nun, befleckt mit dieser Schande, um ihr Leben, den Ruf des Klosters und um die Verurteilung durch Gott bangen müssen.

Letztlich steht immer wieder eine Frage im Raum: Was ist der richtige Weg?

Aus dem Nichts hört man ab und an eine Bombendetonation hinter dem schneebedeckten Wald, die bis ins Innenleben des Klosters schallt und an den Krieg erinnert, der draußen in einer anderen Welt herrscht. Als eine Nonne, an den dunklen schneebedeckten Waldboden angepasst, wie ein Chamäleon mit ihrer schwarz-weißen Kutte, zu einer Auffangstation der im Krieg verletzten Soldaten gelangt und eine Ärztin um Hilfe bittet, lehnt diese erst ab, unwissend, welches große Geheimnis von der Bitte der Nonne ausgeht. Doch die französische Ärztin Mathilde überwindet sich, denn in ihr tobt die Erinnerung an die unterlassene Hilfeleistung und ebenso die Neugierde, wohin die Nonne sie bringen möchte. Sie macht sich auf den Weg zu dem Kloster, abseits von geradlinigen Straßen, quer durch den Wald. Das Eindringen hinter die Mauern des Klosters bringt die junge Ärztin zur eigenen Glaubensprobe, denn als Mathilde bemerkt, was im Frauenkloster vor sich geht, möchte die Ärztin am liebsten alle ärztlichen Schwüre und Eide über Bord werfen. Doch genauso wie die Nonnen an ihre Gelübde gebunden sind, muss sich auch die Ärztin an ihren abgelegten Eid erinnern.

Auch im Film gelangen wir immer wieder visuell und metaphorisch an Kreuzungen. Wohin geht man und wem gehorcht man? Dem Glauben, den Vorschriften? Dieser Fragen bedient sich die französische Regisseurin Anne Fontaine, die für die Recherchen zum Film selbst in ein Kloster ging, um die Strukturen einer Glaubensgemeinschaft zu durchdringen und ein Gefühl für das Leben hinter den Mauern zu bekommen. Auch wenn heutzutage anders in einem Kloster gelebt wird als zu den Zeiten des Zweiten Weltkriegs, so leben dennoch die Glaubensvorstellungen fort, die der Film vorführt.

Dieses Schicksal ist eine harte Prüfung für die keuschen Gottesfrauen. Nicht nur, dass die Ungeborenen zur Welt gebracht werden müssen, auch wird den Frauen das Mutterdasein von der Mutter Oberin verwehrt. Diese nimmt sich der Neugeborenen an und bringt sie in die Welt jenseits der Klostermauern. Ein weiteres, stilles Tabu tut sich auf. Um die drohende Schließung des Klosters abzuwenden, darf nicht publik werden, was hinter den Mauern vor sich geht.

Wie viel Leid kann ein einzelner Mensch ertragen und sich für andere und den Glauben aufopfern?

Doch auch die Mutter Oberin trägt eine schwere Last. Weil sie den Ruf und die Zukunft des Klosters retten will, muss sie Entscheidungen treffen, die ihr christliches Ethos torpedieren. Auch sie hadert mit den strengen Regeln der Kirche. Nichts ist in Stein gemeißelt, und dennoch sind alle Frauen von den christlichen Regeln eingenommen. Sich von diesen zu befreien, hieße Gott und die eigene Identität zu verraten. Manchmal muss man also Opfer bringen für eine größere Mission, oder?

Es ist kein Zufall, dass Anne Fontaine den Filmtitel „Agnus Dei“ gewählt hat. Übersetzt bedeutet es „das Lamm Gottes“ und ist ein Symbol für Jesus Christus und sein Kreuzesopfer. Im übertragenen Sinne sind die Lämmer Gottes die neugeborenen Kinder der Nonnen und symbolisieren durch ihren Tod ebenso das Kreuzesopfer Jesus Christi.

„An irgendetwas muss man ja glauben“

Das Hadern entwickelt sich sukzessive: „Ich kann meinen Glauben nicht mehr mit diesen schrecklichen Ereignissen vereinbaren“, sagt eine schwangere Nonne. Jeden Tag aufs Neue erinnert sich die Glaubensschwester an die Vergewaltigungen, immer noch verfolgt sie der Geruch der Soldaten. Ein weiteres Thema – Vergewaltigung als Kriegswaffe. Auf dem Rückweg vom Kloster wird auch die Ärztin Mathilde Opfer einer Vergewaltigung, auch sie findet Zuflucht im Kloster.

Es ist die Angst, die die Frauen verbindet. Angst vor der Verdammung und der Hölle. 24 Stunden zu hoffen und eine Minute zu glauben, lautet der Konsens. „Hinter jeder Freude steht das Kreuz“, sagt eine Nonne zu Mathilde. Hinter jedem menschlichen Gedanken kann die göttliche Strafe lauern.

Der Film rechnet in dem Sinne nicht mit der Kirche und dem christlichen Glauben ab. Jedoch wirft er viele Glaubens- und Sinnfragen auf: Kann es wirklich Gottes Wille sein, solche Brutalitäten noch dazu an solch heiligen Orten zuzulassen? Der Film erinnert daran, was hinter heiligen Mauern passieren kann, dass kein Ort vor Gewalt geschützt, weder vor Pädophilie noch Kriegsverbrechen gefeit ist – damals wie heute.

rodin

Auguste Rodin

(F/B 2017, Regie: Jacques Doillon)

Im Ringen um Wahrhaftigkeit
von Wolfgang Nierlin

Im Paris der beginnenden 1880er Jahre arbeitet der 40-jährige Bildhauer Auguste Rodin (Vincent Lindon) an seinem von Dantes „Göttlicher Komödie“ inspirierten Bronzeportal „Das Höllentor“, das für den Eingang des neuen …

Im Paris der beginnenden 1880er Jahre arbeitet der 40-jährige Bildhauer Auguste Rodin (Vincent Lindon) an seinem von Dantes „Göttlicher Komödie“ inspirierten Bronzeportal „Das Höllentor“, das für den Eingang des neuen Musée des Arts Décoratifs im Louvre gedacht ist. Unterstützt wird er dabei von seiner 24 Jahre jüngeren Schülerin Camille Claudel (Izïa Higelin), mit der ihn auch eine Liebesbeziehung verbindet. Zu Beginn von Jacques Doillons sehr konzentriertem Film „Auguste Rodin“, der den biographischen Stoff seines vielschichtigen Künstlerportraits in sanft ausschwingenden Fragmenten destilliert, sieht man die beiden im Werkstattgespräch über die Einzelskulptur „Der Kuss“ inmitten der Verdammten. In der Kunst der beiden spiegelt sich das Leben, besonders aber immer wieder ihre Beziehung, die durch Höhen und Tiefen zehn Jahre andauert. In ihren unterschiedlichen Interpretationen ihrer jeweiligen Werke zeigen sich wiederum Projektionen individueller Wünsche und Sehnsüchte.

Die schwierige, in Teilen aber auch schwerelose Beziehung zwischen dem eher melancholisch und nachdenklich wirkenden Rodin und der ebenso selbstbewussten wie lebenshungrigen Camille Claudel, die im Schatten des Meisters unter mangelnder Anerkennung leidet, bildet eine thematische Konstante des Films. Eng verknüpft ist diese mit der Beobachtung von Rodins schöpferischem Tun, seiner konkreten Arbeit in der Werkstatt sowie den Krisen und Selbstzweifeln, die das Ringen des Künstlers um Wahrhaftigkeit begleiten. Doillon gibt dieser wortlosen Spannung des Schaffensprozesses Raum und Zeit, indem er zusammen mit seinem Bildgestalter Christophe Beaucarne die Bewegungen der Figuren in langen Plansequenzen choreographiert. Die matte Farbigkeit seines Films, der teils an Originalschauplätzen gedreht werden konnte, korrespondiert dabei mit dem aus dem Dunkel skulptierten Licht beziehungsweise den schwach beleuchteten Körpern in der grau-schwarzen Werkstattdämmerung.

Indem Jacques Doillon fast dokumentarisch Rodins schöpferische Auseinandersetzung mit einzelnen zentralen Werken nachzeichnet, vermittelt er zugleich dessen wesentliche künstlerische Ideen. Während die geradezu spielerisch improvisierte Arbeit an einer Büste Victor Hugos und die Figurengruppe „Die Bürger von Calais“ noch verhältnismäßig glimpfliche Reaktionen provozieren, ist das Urteil seiner zeitgenössischen Auftraggeber über seine in jahrelangem Ringen geschaffene Balzac-Skulptur geradezu vernichtend. Denn obwohl Auguste Rodin, der sich immer wieder unverstanden fühlt, in seiner Arbeit pure, kraftvolle Lebendigkeit ausdrückt, sehen seine Kritiker darin nur einen „Haufen unförmiger Masse“. Tatsächlich habe ihn dieses Werk wie kein anderes verändert, bekennt der leidenschaftliche Bildhauer, dessen unbedingte Modernität der Film immer wieder unterstreicht. Diese zeigt sich nicht zuletzt auch in der Schönheit des Unvollendeten, von der Rodin sagt: „Mit dem Fleisch ist man nie fertig.“

Hände Mutter schwarz jessica

Die Hände meiner Mutter

(D 2016, Regie: Florian Eichinger)

Sachliche Auseinandersetzung
von Ricardo Brunn

Familienfeste bergen reichlich Eskalationspotential in sich und sind schon allein deshalb im Kino gern gesehener Ausgangspunkt für die Erforschung innerfamiliärer Konfliktherde und gesellschaftlicher Zustände. Das weiß die aufmerksame Zuschauerin nicht …

Familienfeste bergen reichlich Eskalationspotential in sich und sind schon allein deshalb im Kino gern gesehener Ausgangspunkt für die Erforschung innerfamiliärer Konfliktherde und gesellschaftlicher Zustände. Das weiß die aufmerksame Zuschauerin nicht erst seit Thomas Vinterbergs „Das Fest“ (DK 1998). Als Motiv hat das „Familienfest“ (D 2015; R: Lars Kraume) einen wehrhaften Schützengraben auch durch das deutsche Kino gezogen, widmet sich der Vergangenheit und fragt „Was bleibt“ (D 2012; R: Hans-Christian Schmid), wenn man selbst erwachsen geworden ist und meint, die Zwänge der Familie weitgehend hinter sich gelassen zu haben. Wie im Kaspertheater, wo jeder weiß, dass der kostümierte Spaßvogel trotz Schusseligkeit dem bösen Krokodil am Ende immer eins überbrät, folgen Familienfeiern gern einer Dramaturgie absichtsvoller Eintönigkeit. Die Leute tun das, was von ihnen erwartet wird und stellen damit sicher, dass all das sorgsam Verdrängte nicht ans Tageslicht gelangen kann, bis es naturgemäß doch herausbricht und sich eitrig über die Anwesenden ergießt.

Florian Eichingers Familiendrama „Die Hände meiner Mutter“ beginnt dieser filmischen Tradition folgend auf solch einem Fest mit der geschätzten Sippe. Papa (Heiko Pinkowski) wird 60 und auf einer Bootsfahrt sehen die Eltern ihre Kinder wieder, die längst selbst zu Eltern geworden sind und ihre eigenen Kinder vorzeigen. Peinliches „Du bist aber groß geworden!“ und kunstvolles Sich-aus-dem-Weg-gehen wechseln mit lieb gemeint schlimmen Geburtstagsständchen und -reden. Und gerade noch klärt Markus (Andreas Döhler) seinen Sohn Adam über das seltsame Kaspertheater der Erwachsenen an derlei Festtagen auf, schon fällt er selbst aus der Rolle. Ein Kratzer am Kopf seines Sohnes löst Erinnerungen aus. Etwas ist in Markus’ eigener Kindheit vorgefallen und sucht sich jetzt einen Weg an die Oberfläche. Erst als verwirrter Blick, dann als Stimme aus dem Off, schließlich als konkretes Bild aus der Vergangenheit. Alles muss raus, weshalb Markus die Familienfeier von Übelkeit geplagt verlassen muss.

Schnell nähert sich der Film dem Ursprung des Unwohlseins, findet über Markus’ Erinnerungen an den sexuellen Missbrauch durch die Mutter und knappe Auseinandersetzungen mit Freunden und Familie überraschend zu einem nüchternen Geständnis. Dadurch tritt die Frage wie das passieren konnte in den Hintergrund und der Film konzentriert sich auf seinen Protagonisten und dessen Versuch mit dem aufgewirbelten Familienstaub irgendwie zurechtzukommen. Schon die allererste Einstellung des Filmes legt diesen Schluss nahe. In einer Prospektive werden Markus und seine Frau Monika (Jessica Schwarz) im Bett gezeigt. Die Frage, wie es weitergehen soll, steht ungelöst zwischen ihnen, und auch die innige Umarmung Monikas kann die emotionale Distanz zwischen dem Paar nicht auflösen. Im Umschnitt fährt das Schiff der Geburtstagsgesellschaft genau an der Stelle entlang, wo zuvor der eine Körper sich an den anderen zu schmiegen versuchte und betont noch einmal den Graben zwischen den beiden. Als links und rechts neben dem von oben gezeigten Boot die Namen der Schauspieler eingeblendet werden, öffnet sich eine weitere Dimension. Auf der einen Seite steht die Elterngeneration, auf der anderen die der Kinder. Wie ein Keil treibt das Boot damit unaufhaltsam zwischen den Personen und Generationen hindurch der oberen Bildbegrenzung entgegen und verweist auf die Tatsache, dass das, was Markus in der Kindheit widerfahren ist, sich jetzt nicht nur auf ihn selbst und die Menschen in seinem näheren Umfeld auswirken wird, sondern sich als ein intergenerationelles Problem darstellt.

Von der ersten unscharfen Erinnerung bis zur Erkenntnis, dass sich der Missbrauch durch mehrere Generationen der Familie zieht, gibt sich „Die Hände meiner Mutter“ erzählerisch und visuell ambitioniert. Isolation und Trennung bekommen deutliche Bilder. Die Kamera hält Markus nicht nur im Fokus, sie engt ihn durch gezieltes Spiel mit der Tiefenschärfe oder Rahmungen ein, und in Dialogen wird er in beklemmende Positionen gebracht, steht unter Dachschrägen oder sitzt (oftmals in geduckter Haltung) mit dem Rücken zur Wand. Die reduzierte Farbpalette tut ein Übriges, um die Zuschauerin die bedrückende Situation des Protagonisten nachempfinden zu lassen. Sobald es allerdings um die therapeutische Aufarbeitung der Erlebnisse geht, versachlicht der Film seine Handlung und seine Figuren immer stärker und folgt einer mit Bedacht und Blick auf den richtigen Gehalt hin durchexerzierten Dramaturgie vermeintlicher Objektivität; ganz so, als würde der Film selbst im Therapeutensessel Platz nehmen und mit aller gebotenen Neutralität ausdruckslos Fragen an den Patienten richten. Direkt und wenig subtil werden verschiedenste therapeutische Ansätze vorgestellt, die Familienmitglieder in Beziehung zueinander gesetzt und Lösungsansätze gesucht. Zeigen, ertragen, ratlos bleiben. Raum für überraschende Entwicklungen lässt der Film ab diesem Zeitpunkt nur wenig. Reden ist in „Die Hände meiner Mutter“ immer Trumpf und scheinbar auch sehr einfach. Irritationen und die schwere emotionale Verarbeitung des Erlebten entwickeln im Fluss der Erzählung eine gewisse Gleichförmigkeit, und der Film beginnt – wie das Ausflugsboot vom Anfang – gemächlich voranzusteuern, wodurch Beklemmung und Ausbruch, Eskalation und Rückzug auf eine größtmögliche Rationalität heruntergekocht werden. So sehr „Die Hände meiner Mutter“ damit nicht auf das Spektakuläre schielt, so sehr geht ihm dann doch auch Spannung und die Möglichkeit zur Einfühlung verloren. Dramaturgische Einfälle, wie ein angedeuteter Perspektivenwechsel durch Einblendung von Namen als Kapitelüberschriften, scheinen dem entgegenwirken zu wollen, bleiben aber skizzenhaft und wirken sich eben nicht auf die Handlung, die Figuren oder die Erzählperspektive aus.

Rosa von Praunheims „Härte“ (D 2015) wählte zu einem vergleichbaren Thema einen ungleichsam vielversprechenderen Ansatz. In der Vermischung von dokumentarischer Erzählung und kulissenhafter Reinszenierung der Ereignisse spiegelt sich der schwierige Versuch Erinnerungen abzubilden, derer man sich eigentlich entziehen wollte. Gerade weil in der kriminologischen Nachstellung der Erlebnisse nicht auf Realismus gesetzt wird, werden Mechanismen des Missbrauchs und die damit verbundenen Verdrängungsleistungen erfahrbar. Auch das Punktuelle und Fragmentarische der Erinnerungen, die selten erzählerischen Charakter besitzen, wird so erfahrbarer. „Die Hände meiner Mutter“ ist dagegen ein um gehaltvolle Sachlichkeit bemühter Film, der alles so richtig machen möchte, dass die zentralen Themen Vergessen und Verdrängen gerade nicht dazu führen, dass man nach diesem Film selbst verdrängen will, um vergessen zu können. Stattdessen überwiegt das Gefühl einem sehr guten Lehrfilm beigewohnt zu haben.

Hier gibt es einen weiteren Text zu ‚Die Hände meiner Mutter‘.

coppola

Die Verführten

(USA 2017, Regie: Sofia Coppola)

Schöne Lenden blenden, bis sie in bleichen Händen böse enden
von Drehli Robnik

Der eine, die vielen; der Mann, die Frauen; der Nordstaatler, die Südstaatlerinnen. Die auf ein halbverlassenes Mädchenseminar im Virginia des US-Bürgerkriegs beschränkte Welt in „Die Verführten“ ist streng aufgeteilt; der …

Der eine, die vielen; der Mann, die Frauen; der Nordstaatler, die Südstaatlerinnen. Die auf ein halbverlassenes Mädchenseminar im Virginia des US-Bürgerkriegs beschränkte Welt in „Die Verführten“ ist streng aufgeteilt; der Originaltitel „The Beguiled“ aber lässt offen, wer hier verführt (oder, wie das für ältere Ohren klingt, regelrecht begeilt) wird: Sie, er oder alle? Die Frauen hinter dem griechischen Villenportal ihres Instituts, die den verwundeten Feind bei sich verstecken – aber nur, so heißt es, bis er gesund genug ist, um in Kriegsgefangenschaft zu gehen –, wodurch die streng geregelte Damenwelt in Unruhe gerät? Oder der Soldat, der sich über die Zuneigung täuscht, die ihm entgegenbracht wird, mit üblen Folgen für sein leibliches Wohl?

Jedenfalls fangen fast alle der Frauen ein jeweils altersgemäßes Gspusi mit ihm an: Schwärmerische kleine Myladys wollen Aufmerksamkeit und Freundschaft, die älteste Schülerin (Elle Fanning) will Sex, Miss Französischlehrerin (Kirsten Dunst) sucht Wege aus der Verzopftheit und Ma’am Schulleiterin (Nicole Kidman) verhehlt nur mit Mühe ihre Angetanheit vom Beistand eines Galans, der ihre Stärke als Frau mit schmeichlerischen Worten würdigt und ihren verwilderten Garten mit imposantem Körpereinsatz pflegt.

„The Beguiled“ ist zu weiten Teilen ein Remake. Gegenüber Don Siegels Erstverfilmung des Romans „A Painted Devil“ von Thomas Cullinan (1966) allerdings gibt es Akzentverlagerungen, De- und Rezentrierungen, und da sticht schon die Besetzung ins Auge: Stand im Beguiled-Film von 1971 Clint Eastwood als der He-Man-Western-Weltstar schlechthin, dessen unbeirrte Roheit routinemäßig in entfremdete Milieus einbricht, einem Cast von weitaus weniger prominenten Darstellerinnen gegenüber (Geraldine Page in der Rolle der Schulleiterin), so sind nun Kidman & Kirsten Kaliber, angesichts derer Colin Farrell in der Blaurock-Rolle mittelgewichtig und passenderweise ins Eck getrieben wirkt; vor allem aber mutet er eher als schöner Leib denn als Tatmensch an.

Überhaupt ist hier der Mann ein leicht verängstigter Körper, der sich reihum prostituiert, der Lenden, Innuendo und grünen Daumen einsetzt, um zu überleben; die Frauen hingegen sind ganz gemessener Geist und gefesselte Form, Sprachkunde und Betstunde in Spitzenkleid und Kerzenlicht. Wie so oft bei Sofia Coppola, die für „The Beguiled“ den Regiepreis in Cannes erhielt, sind die Mädchenkleingruppen narzisstisch und etherisch-bleich, siehe „The Bling Ring“ oder „The Virgin Suicides“. (Die schwarze Haussklavin, 1971 eine Nebenfigur, kommt bei ihr nicht vor.) Und die Baumkronen, kunstvoll durchzogen von Sonnenstrahlen und Dunstschwaden, Sommerflirren, fernem Kanonendonner und Synthie-Flächen von Phoenix (J-Boy als Toyboy), kurz: das Atmosphärische des Naturraums fungiert hier mehr als schwelgender Hintergrund denn als dampfende Kampfmetapher (wie 1971, auf einem Höhepunkt der Zweiten Frauenbewegung) – in einem erwartungsgemäß attraktiven und gut, aber schematisch funktionierenden Drama.

le pen

Das ist unser Land!

(F 2017, Regie: Lucas Belvaux)

Marionette rechtspopulistischer Machenschaften
von Wolfgang Nierlin

Der Morgen dämmert über der fiktiven nordfranzösischen Kleinstadt Hénart. Noch ist alles ruhig auf den Plätzen und Straßen, in denen die gleichförmigen Häuser schnurgerade aufgereiht sind. In den ehemaligen Arbeitersiedlungen …

Der Morgen dämmert über der fiktiven nordfranzösischen Kleinstadt Hénart. Noch ist alles ruhig auf den Plätzen und Straßen, in denen die gleichförmigen Häuser schnurgerade aufgereiht sind. In den ehemaligen Arbeitersiedlungen des Départements Pas-de-Calais herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit, die Menschen fühlen sich abgehängt und vergessen. Der lange, intensive Arbeitstag der ambulanten Krankenpflegerin Pauline Duhez (Émilie Dequenne), die sich ziemlich gehetzt von einem Ort zum anderen bewegt, saugt die Sorgen und Nöte ihrer Patienten förmlich auf und liefert damit gewissermaßen ein Spiegelbild der umgebenden Gesellschaft. Die alleinerziehende Mutter zweier Kinder ist engagiert und deshalb beliebt. Das erkennt auch der geschätzte Arzt und Politiker Philippe Berthier (André Dussollier), der ihr zudem attestiert „einfach, couragiert, intelligent und sympathisch“ zu sein und sie deshalb als Bürgermeisterkandidatin für seine rechtspopulistische Partei gewinnen will.

„Frankreich braucht neue Kräfte“, schmeichelt der doppelgesichtige Berthier der Umworbenen und gibt sich dabei volksnah. Weil sie das Leben und die Menschen kenne, könne sie etwas bewirken und dabei auch ihre eigene Situation verändern. „Man kämpft im Jetzt – für die Zukunft“, gibt sich der Arzt engagiert, womit er als aufrechter Patriot („Mein Volk, mein Land“) natürlich vor allem die Zukunft seines Heimatlandes meint. Bald findet sich Pauline inmitten einer nationalen Volksbewegung, die sich Rassemblement National Populaire (RNP) nennt und sich nach außen Mühe gibt, ihre Herkunft aus rechtsradikalen Zusammenhängen zu kaschieren oder auch zu eliminieren. Zu dieser dunklen Vergangenheit gehört auch der militante Rechtsextremist Stéphane Stanko (Guillaume Gouix), Paulines zwielichtiger Jugendfreund, in den diese sich gerade erneut verliebt.

Lucas Belvaux inszeniert sein um Aufklärung bemühtes Politdrama „Das ist unser Land!“ (Chez Nous) erkennbar absichtsvoll und zielgerichtet. Im Sozialen geerdet, beleuchtet sein ebenso spannender wie vielschichtiger Film die Hintergründe, Verflechtungen und dunklen Machenschaften des Rechtspopulismus. Belvaux ist damit ein hochaktuelles Werk gelungen, das am Beispiel einer unbescholtenen Frau, die zur Marionette der Macht wird, nicht nur die manipulative Kraft doppelgesichtiger Demagogen zeigt, sondern auch die gesellschaftlichen Konflikt- und Trennungslinien, die sich schmerzlich durch Freundeskreise und Familien ziehen.

Eine weitere Kritik zu „Das ist unser Land!“ findet sich hier.

transformers bay

Transformers 5: The Last Knight

(USA 2017, Regie: Michael Bay)

Scheiße aus Gold
von David Auer

In einer bezeichnenden Szene im vierten „Transformers“-Teil, mit dem passenden Untertitel „Age of Extinction“ (2014), moniert der Besitzer eines ausrangierten Kinos, dass Filme, zumal unter Einfluss von Sequelitis und Remake-Mania, …

In einer bezeichnenden Szene im vierten „Transformers“-Teil, mit dem passenden Untertitel „Age of Extinction“ (2014), moniert der Besitzer eines ausrangierten Kinos, dass Filme, zumal unter Einfluss von Sequelitis und Remake-Mania, heutzutage „a bunch of crap“ seien. Der von Mark Wahlberg gespielte Protagonist, ein müllaffiner Erfinder, kauft ihm einen alten aber funktionstüchtigen Lastwagen ab. Der Frage seiner Tochter, warum er diesen Schrotthaufen überhaupt erworben habe, entgegnet er unbedarft: „Look at the junk and see the treasure“. („Überraschenderweise“ stellt sich der Lastwagen später als Optimus Prime, Chef der Autobot-Clique, heraus.) Keine Frage, hier adressierte Michael Bay jene Unkenrufer, die das Spielwarenadaptionsfranchise in Eintracht als veritable Katastrophe fürs Kino betrachten. Das Publikum schert das recht wenig, die kontinuierlich phänomenalen Box Office-Zahlen sprechen dafür. Und wie die Figuren im Bayversum oft nur untätig und mit weit aufgerissenen Augen und Mündern bloß zuschauen können, während die massiven Roboter über ihren Köpfen hinweg ihr brachiales Unwesen treiben, bleibt auch angesichts von „The Last Knight“ kaum mehr, als es ihnen gleichzutun und sich der Materialschlacht hinzugeben.

Selbst ein sich kritisch dünkender Geist muss sich nämlich auch diesmal ab spätestens der Halbzeit der üblicherweise mehr als zweieinhalbstündigen Ungetümer von Transformers-Filmen geschlagen geben, zumal Bay versiert darin ist, das Sensorium überzustrapazieren. Als prononcierter Edeljunk-Dealer versteht er es nicht nur, mittels einer gelungenen Melange aus computergenerierten und praktischen Effekten die Leinwand zu einem überwältigenden Mosaik zu verwandeln – der hektische Schnitt trägt einiges dazu bei –, sondern auch, Geschichte, Mythologie und Gegenwart zu einem Gordischen Knoten zu verknüpfen. Der Parallelisierung der König Artus-Sage, die er als Barbarenbezwingung mithilfe von Robo-Rittern inszeniert, mit der Gegenwart, in der die Rede ist von „endless waves of alien beings“, die die (westliche) Welt bedrohen – dieser Parallelisierung eine böse Botschaft zu attestieren, gliche des Knotens einseitiger Auflösung. Genauso wie den Bilder von vor illegalisierten guten Bots wimmelnden No-go Zones, die von der kaum positiv konnotierten durchmilitarisierten „New World Order“ patrouilliert werden, und des „… to punisch and enslave“-Schriftzugs (anstatt von „… to serve and protect“) auf einem Polizeiauto eine dezidiert politische Schlagseite abzugewinnen. Sprich: Diese bits und pieces bieten sich zu allerlei Allegorisiererei an – inmitten des üblichen Bayhem, das heißt Pyro-Porno, Robo-SloMo und Schauplatz-Stakkato lassen sie sich aber auch schlichtweg als schlecht recycelter Diskursmüll abtun.

Die Transformers-Reihe, samt der der dringlichen Kritik daran, ist Mist, der nur schwer voneinander zu trennen ist: Wo jene immer wieder und nicht enden wollend auf den Kollaps der Menschheit sowie der Erde zusteuert, schreibt diese im angestrengt-cinephilen Pflichtbewusstsein mantraartig den Untergang des Kinos durch Bay herbei. Dass beides so weitergeht, ist nur eine kleine Katastrophe, die Antwort auf die Frage, warum es das muss, Symptom einer weitaus größeren, schon längst eingetroffenen. Das Festhalten an der feinsäuberlichen Trennung von Hoch- und Niedrigstkunst, wenn man so will, ist nämlich nur noch reine Prätention, sie kann auf den Abfallhaufen der Geschichte. Eine Wahrheit, die sich durch Bays Schaffen ausdrückt – aber auch noch lange kein Beweis dafür, dass jeder Trash gleich Treasure ist, nur weil Marky Mark es behauptet. Weniges nämlich, das in „The Last Knight“ im perfekten CGI glänzt, ist golden, dennoch ist vieles davon schön anzuschauen, wenn auch nur schwer auszuhalten.

helle nächte

Helle Nächte

(D/NOR 2017, Regie: Thomas Arslan)

Suche nach Nähe in der Weite
von Wolfgang Nierlin

Melancholie und Trauer, Abschied und Aufbruch sind von Anfang an gegenwärtig in den Bildern, die Reinhold Vorschneider für Thomas Arslans stillen, großen Film „Helle Nächte“ in Cinemascope aufgenommen hat: Der …

Melancholie und Trauer, Abschied und Aufbruch sind von Anfang an gegenwärtig in den Bildern, die Reinhold Vorschneider für Thomas Arslans stillen, großen Film „Helle Nächte“ in Cinemascope aufgenommen hat: Der Blick auf eine triste Baustelle, auf Kräne, Halbfertiges und Betonverschalungen, unterlegt mit einem monotonen, gedehnten Orgelton des Musikers und Komponisten Ola Fløttum. In sich versunken und stumm sitzt Bauingenieur Michael (Georg Friedrich, der für seine Darstellung mit dem Silbernen Bären der Berlinale ausgezeichnet wurde) in seinem Büro, flankiert von mehreren Bildschirmen und schmutzigen Scheiben. Die Kamera zeigt ihn von hinten und aus der Distanz. Michaels Vater ist an einem Herzinfarkt gestorben und hat verfügt, dass er an seinem letzten Wohnort in Norwegen beerdigt wird. Man erfährt, dass die familiären Bande und Michaels Verhältnis zum Vater nicht sehr eng waren. Trotzdem wirkt es wie eine doppelte Verlassenheit, als der Trauernde kurz darauf von seiner Lebensgefährtin Leyla (Marie Leuenberger), einer Journalistin, erfährt, dass diese für ihre Zeitung ein Jahr lang in Washington arbeiten möchte.

Thomas Arslan verknüpft in „Helle Nächte“ mit großer Offenheit und untergründiger Spannung das Genre des Roadmovies mit einer Vater-Sohn-Geschichte. Denn kurz darauf sehen wir Michael zusammen mit seinem 14-jährigen Sohn Luis (Tristan Göbel) durch die nebelverhangene Landschaft im äußersten Norden Norwegens fahren. Die beiden verstehen sich nicht und kennen sich kaum, weil Luis bei seiner Mutter aufgewachsen ist und sein Vater sich nicht um ihn gekümmert hat. Die beiden sind sich fremd, schweigen sich an oder streiten miteinander. Michaels wiederholte Versuche, die (kommunikative) Distanz aufzubrechen und Nähe herzustellen, blockt Luis genervt und feindselig ab. Weder will sich dieser bevormunden lassen noch interessieren ihn überhaupt die Belange des Vaters. Dass seine teils aggressive Haltung nicht nur in persönlichen Verletzungen seinen Grund hat, sondern auch in einem Generationenkonflikt, macht der Film an vielen Stellen deutlich.

Unterwegs durch die großartige, nahezu menschenleere Landschaft der Region Troms wird die raue Natur zum Resonanzraum für eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung. Michael sucht die Nähe zu seinem Sohn in der Weite und will die Distanz zwischen ihnen durch Bewegung überwinden. So setzen sie nach der Beerdigung des Vaters ihre gemeinsame Reise noch fort, erleben Widerstände und wechselseitige Abhängigkeiten, den Leerlauf der Zeit und die Konfrontation mit sich selbst. Das alles geschieht in der stumpfen Helligkeit des polaren Mittsommers mit seiner besonderen Atmosphäre halbbewusster Wachheit. In einer der schönsten, fast schon unheimlichen Szenen des Films taucht die Kamera in subjektiver Perspektive während einer minutenlangen Fahraufnahme immer tiefer hinein in die schier unendlichen Nebel jenseits der Baumgrenze. Und das wirkt wie ein archetypischer Übertritt in eine andere Welt, in der etwas Neues, vielleicht eine zarte Nähe zwischen den einander Fremden entstehen könnte. Thomas Arslans intensiver, bildstarker Film eröffnet hier einen Möglichkeitsraum, in dem der Sohn nicht mehr ausgesetzt, sondern von seinem Vater gesucht und getragen wird.

 

innen leben

Innen Leben

(B/F/LBN 2017, Regie: Philippe Van Leeuw)

Innere und äußere Gewalt
von Jürgen Kiontke

Was macht eigentlich die Zivilbevölkerung im Krieg? In Philippe van Leeuws Spielfilm „Innen Leben – Insyriated“ erlebt sie den Krieg vom Balkon aus wie weiland die Menschen bei Sokrates das …

Was macht eigentlich die Zivilbevölkerung im Krieg? In Philippe van Leeuws Spielfilm „Innen Leben – Insyriated“ erlebt sie den Krieg vom Balkon aus wie weiland die Menschen bei Sokrates das Höhlengleichnis. Indirekt, halbblind, vom Hörensagen, als Unsicherheit: Außer der philippinischen Haushaltshilfe Delhani traut sich niemand an die Luft, und auch die sieht nur Schatten. Die künden davon, wie Scharfschützen Menschen auf der Straße umlegen. Kein Wasser, kein Strom und draußen stirbt gerade jemand – ist es gar der Mitbewohner? Es sieht aus, als trüge der Verletzte seine Schuhe…

Van Leeuw hat sein Bürgerkriegskammerspiel, das drei Frauen ins Zentrum stellt, in die Außenbezirke der syrischen Hauptstadt verlegt. Hausherrin Oum harrt mit Schwiegervater, Delhani und drei Kindern in ihrer Wohnung im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses aus. Außerdem gewährt die kleine Gruppe einem jungen Paar aus der ausgebombten Nachbarswohnung, Halima und Samir sowie dem Freund der Tochter Asyl, der bei einem Besuch von schweren Gefechten überrascht wurde.

Welch ekelhafte innere die äußere Gewalt produziert, dafür bringt der Film ein schlimmes Beispiel. Zwei üble Gesellen verschaffen sich Zutritt zu der Wohnung, Halima hat es mit ihrem Baby nicht in die sicheren, verbarrikadierten hinteren Räume geschafft. Die Typen werden sich an ihr vergehen, die anderen erleben das Verbrechen durch verschlossene Türen mit.
Werden sie helfen? Würden wir helfen? Der Film ist sich da nicht so sicher. Leeuw stellt den Schmerz in den Raum, will die ganze Aufmerksamkeit seines Publikums, verhandelt existenzielle Fragen. Soll ich mich in Gefahr bringen, um andere zu retten, wenn ich womöglich selbst dabei Schaden nehme?

Erzählt wird mit Spannung, Filme wie „Panic Room“ von David Fincher oder besser noch „Sieben“ bilden die Referenz. Je weniger man sieht, desto mehr Bilder entstehen im Kopf. Wenn man denn noch einen hat.

Über den Syrien-Krieg hinaus stelle er nach Nachforschungen zu Menschenwürde an, sagt der Regisseur. Hat er gemacht, keine Gegenrede. Ihm ist ein fieser Antikriegsfilm gelungen, der Gewalt mit minimalen Mitteln darstellt und gerade damit zeigt, welche Verwüstungen sie in den Menschen anrichtet.

Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes

(D 2017, Regie: Julian Radlmaier)

Kommunismus ohne Kommunisten
von Wolfgang Nierlin

Die Schriftgestaltung des Filmplakates erinnert an Veröffentlichungen aus dem Suhrkamp Verlag. Und auch der leicht absurd klingende Filmtitel „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ könnte sich ganz selbstverständlich in eine theoretische Schriftenreihe …

Die Schriftgestaltung des Filmplakates erinnert an Veröffentlichungen aus dem Suhrkamp Verlag. Und auch der leicht absurd klingende Filmtitel „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ könnte sich ganz selbstverständlich in eine theoretische Schriftenreihe des traditionsreichen Verlagshauses einfügen. Julian Radlmaiers vielgelobte „politische Komödie mit magischen Wendungen“, vom jungen Filmemacher zudem als ein „burlesker Essayfilm“ bezeichnet, ist zunächst ein postmodernes ironisches Spiel mit Zitaten, Referenzen und Anspielungen. Wenn eingangs auf mattroter Leinwand die Credits erscheinen und dazu aus dem Off die auf einem E-Piano gespielte Internationale erklingt, sind mit feinem Humor die ersten politischen Farbtupfer gesetzt. Wenn sich kurz darauf dann auch noch Julian Radlmaier selbst in der Rolle des von ihm verkörperten Regisseurs Julian zu Wort meldet, verbindet sich das Politische auf selbstreferentielle Weise mit der selbstironischen Betrachtung des eigenen künstlerischen Tuns.

Der utopische Anspruch ist diesem auf augenzwinkernde Weise implementiert: Wie lassen sich Leben, Arbeit und Liebe im Geist des Kommunismus so miteinander verbinden, dass sich Individuum und Gemeinschaft, Freiheit und Notwendigkeit in einer möglichst herrschaftslosen, von Unterdrückung und Ausbeutung befreiten Balance befinden? Und ist insofern ein „Kommunismus ohne Kommunisten“ möglich? Der angehende Filmemacher Julian, der „ästhetisch-politisch“ arbeiten will, dafür aber keine finanzielle Förderung erhält und deshalb von Sozialhilfe leben muss, ist jedenfalls gefangen zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Als er vom Arbeitsamt zum Ernteeinsatz auf einer ostdeutschen Apfelplantage namens „Oklahoma“ abkommandiert wird, beschließt er, diesen gleichzeitig für ein Filmprojekt über die Arbeitsbedingungen im Spätkapitalismus zu nutzen. Und weil er sich daneben auch noch in die kanadische Kunststudentin Camille (Deragh Campbell) schwärmerisch verliebt hat, „engagiert“ er diese kurzerhand als Drehbuch-Assistentin.

Natürlich ist das nur ein Vorwand für eine „romantische Offensive“, die bei dem verliebten Helden ebenso unentschlossen ins Leere läuft, wie es seinem irgendwie halbherzigen Projekt zu ergehen scheint. Doch tatsächlich sehen wir als unmerklichen Film-im-Film mit dem Titel „The Persuit of Happiness“ bereits das schillernd doppelbödige „Ergebnis“ seines Aufenthaltes auf der Plantage, bei dem Julian mehr oder weniger distanzierter Beobachter bleibt. Ganz im Gegensatz zu den beiden entlassenen Museumswärtern Hong (Kyung-Taek Lie) und Sancho (Beniamin Forti), die ganz naiv an das „Paradies auf Erden“ glauben und dafür innerhalb einer ziemlich heterogenen Gruppe von Individualisten kämpfen; bis sie schließlich von einem stummen Mönch, der den Rat von Vögeln einholt, ins gelobte Land Italien geschickt werden. Denn natürlich folgt die von der Gutsbesitzerin Elfriede Gottfried als „lustige Ernte-Olympiade“ apostrophierte Apfellese vor allem den Gesetzen des globalen Kapitalismus.

Julian Radlmaiers ebenso witzige wie beziehungsreiche filmische Vermittlung von Theorie und Praxis nutzt das doppeldeutige Spiel mit unterschiedlichen Graden der Fiktion, um das Scheitern seiner idealistischen Klassenkämpfer abzumildern. Multiperspektivisch und zugleich sehr statisch betrachtet und analysiert er in seinem trotzdem sehr durchlässigen und unterhaltenden Film „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ ein Dilemma, in dem nicht nur der Regisseur und seine Protagonisten stecken, sondern wir alle; und für das es nur in der Kunst – so die These – als einer Möglichkeit, das Andere zu „realisieren“, vorübergehend Rettung gibt.

Hier gibt es eine weitere Kritik zum Film.

Der Ornithologe

(P/FRK/BRA 2016, Regie: João Pedro Rodrigues)

Weg der Verwandlung
von Wolfgang Nierlin

„Wer sich dem Geist nähert, wird seine Wärme spüren und sein Herz wird sich in neue Sphären erheben“, heißt es in der berühmten Pfingstpredigt des heiligen Antonius aus dem Jahre …

„Wer sich dem Geist nähert, wird seine Wärme spüren und sein Herz wird sich in neue Sphären erheben“, heißt es in der berühmten Pfingstpredigt des heiligen Antonius aus dem Jahre 1222. Der portugiesische Filmemacher João Pedro Rodrigues stellt dieses Wort als Motto an den Anfang seines neuen Films „Der Ornithologe“. Daraufhin folgen Bilder, in denen die Natur zur reinen Gegenwart wird; und in denen sie in Gestalt von Vögeln zurückblickt auf den Menschen. Diese Interaktion zwischen Blick und Gegen-Blick bestimmt das Verhältnis zwischen dem titelgebenden Ornithologen und den Vögeln, die er durch sein Fernglas beobachtet. Wobei der jeweilige Wechsel in die subjektive Perspektive den Zuschauer zum Mitbeobachter des jeweils anderen macht. Der stark und sehr männlich wirkende Fernando (Paul Hamy), der als gut angepasster Naturforscher einen intensiven Umgang mit den Elementen pflegt, ist andererseits auf die Vermittlung seines Vergrößerungsglases angewiesen. Zwischen Nähe und Distanz bleibt sein Verhältnis zur Natur also zunächst ambivalent.

Das ändert sich, als er auf seiner vogelkundlichen Expedition in einer abgelegenen Flusslandschaft im Norden Portugals mit seinem Kajak in Stromschnellen gerät und kentert. Im weiteren Verlauf der nach einzelnen Stationen gegliederten Handlung, die gleichermaßen eine Odyssee und eine Selbstsuche beschreibt, scheint Fernando mehrere Tode zu sterben. In der vom Leben und von den Legenden des heiligen Antonius inspirierten Geschichte, die phantasievoll und natürlich die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, Überlieferung und Mythos überschreitet, ist Fernando zunächst eine Wasserleiche, die von zwei chinesischen Pilgerinnen zum Leben erweckt wird. Weil der bekennende Atheist aber kurz darauf in Fesseln erwacht und bekehrt werden soll, entzieht er sich heimlich der Folter durch einen Akt der Selbstbefreiung. Rodrigues zitiert hier die Ikonographie der Märtyrer-Darstellungen.

Der Weg zurück zum Ausgangspunkt wird daraufhin für Fernando zu einem Weg der Verwandlung, wobei er sich unterwegs durch einen magischen Wald immer mehr von seinem alten Leben löst. „Hier geht etwas Seltsames vor sich“, spricht er bald darauf in sein Diktiergerät. Nachts beobachtet er ein wüstes, heidnisches Stammesritual; am Tag darauf begegnet er einem taubstummen Ziegenhirten namens Jesus (Xelo Caglao), mit dem er eine zärtliche Liebe erlebt und an den ihn zugleich eine schmerzliche Schuld kettet. Um sich von dieser zu befreien, muss sich Fernando aber erst in António (gespielt von Rodrigues selbst) verwandeln. Diesen Prozess erfährt er als „unergründliches Geheimnis“ der Neugeburt, in deren Verlauf er zu den Fischen predigt („Warum sucht ihr nicht nach klaren Gewässern?“) und den toten Jesus, der jetzt in der Rolle des zunächst maskierten (ungläubigen) Tomé erscheint, zum Leben erweckt.

„Ich wollte herausfinden, wie der heilige Antonius in mir existiert“, hat João Pedro Rodrigues über seine spirituelle filmische Selbstsuche gesagt. „Ich bin nicht mehr derselbe“, bekennt wiederum sein Alter Ego am Ende des Films; und fühlt sich zugleich in einem ganz säkularen Sinn befreit für die (gleichgeschlechtliche) Liebe.

Der Tod von Ludwig XIV.

(FRK 2016, Regie: Albert Serra)

Am qualvollen Ende der absoluten Macht
von Wolfgang Nierlin

Der alte König ist geschwächt und muss das Bett hüten. Das leichte Zittern seiner Hände, ein Zucken um die Mundwinkel, zunehmende Bewegungsunfähigkeit und ein mühevolles Sprechen deuten auf eine Krankheit. …

Der alte König ist geschwächt und muss das Bett hüten. Das leichte Zittern seiner Hände, ein Zucken um die Mundwinkel, zunehmende Bewegungsunfähigkeit und ein mühevolles Sprechen deuten auf eine Krankheit. Ablesbar ist diese Vermutung auch an den sorgenvollen Gesichtern seiner Dienerschaft, die ihn umgibt, und an den zwischen Neugier und Verunsicherung schwankenden Blicken der Hofgesellschaft. Ihrer auffordernden Bitte, Ludwig XIV. (großartig gespielt von Jean-Pierre Léaud) möge sich zu ihnen gesellen, entgegnet der greise „Sonnenkönig“ knapp: „Ich würde gerne, ich kann nicht.“ Im Kontrast zwischen Wollen und nicht Können, zwischen einstiger Stärke und zunehmender Schwäche vollzieht sich in Albert Serras tief beeindruckendem Film „Der Tod von Ludwig XIV.“ das Schicksal des absolutistischen Herrschers (1638 – 1715). Dabei erfreut er sich eingangs auf fast kindlich-naive Weise noch an seinen Hunden, hegt immer noch ein neugieriges Interesse an weiblichen Reizen sowie eine Liebe zur Musik. Mit den Worten: „Was zählt, ist der Verstand!“, versucht der König einmal erfolglos, die Hinfälligkeit des gebrechlichen Körpers zu negieren.

Ludwigs bemühter Leibarzt Dr. Fagon (Patrick d’Assumçao), der die Augenfarbe des Kranken untersucht, vermutet den Krankheitsherd zunächst unterhalb der Nieren und verordnet Eselsmilch. Doch der appetitlose Regent klagt über „furchtbare Schmerzen im linken Bein“ und hat schlimme Nächte. Als an seinem Fuß schließlich schwarze, übel riechende Flecken sichtbar werden, vermutet man einen Wundbrand, ohne genau zu wissen, was das ist und wie er zu therapieren sei. Die hinzugezogenen Mediziner der Sorbonne empfehlen einen Aderlass, eine Amputation wird erwogen, aber zugleich als unwürdige Verstümmelung abgelehnt; und das krude, aus Stierblut und Froschwasser bestehende Elixier eines Wunderheilers aus Marseille erweist sich schließlich als unwirksam. Der Film thematisiert hier die Grenzen und das Scheitern der zeitgenössischen Medizin zwischen mechanistischen Vorstellungen, Aufklärung, Naturheilkunde und Wunderglaube.

Was Albert Serras stilles, in Dunkelheit und Kerzenlicht getauchtes Kammerspiel auf ebenso nüchterne wie bewegende Weise aber vor allem zeigt, ist der Prozess eines qualvollen Sterbens unter den Bedingungen königlicher Etikette. Konzentriert auf die gedämpfte Geräuschkulisse des fürstlichen Schlafgemachs und das leidvolle Antlitz Ludwigs, erzählt der katalanische Filmkünstler langsam und bedächtig von Apathie und Schmerz, Siechtum und Agonie, die einmal in einem ungewöhnlichen Moment mit einem Ausschnitt aus Mozarts c-Moll-Messe zugespitzt und in der Schwebe gehalten wird. Auf außerordentlich spannende und ergreifende Weise verdichtet Serra den Stillstand des Handelns und das Ende aller Wünsche im Angesicht des Todes. Bevor Ludwig aber beichtet, seine letzte Ölung empfängt und bald darauf stirbt, erteilt er seinem noch kindlichen Thronfolger in Reue einen Rat: Er solle seine, also Ludwigs eigene „Bauwut“ und „Kriegslust“ nicht übernehmen; vielmehr möge er Gott zurückgeben, was ihm gebühre und das Leben des Volkes erleichtern. Aus der Absage an den Absolutismus schimmert am Ende also zugleich die Vision zukünftiger Revolutionen.

Kein Platz für wilde Tiere / Serengeti darf nicht sterben

(D 1956, Regie: Bernhard Grzimek, Michael Grzimek / Bernhard Grzimek)

Afrikabilder
von Nicolai Bühnemann

Am Anfang war der Niedergang. Zeichentrickanimationen künden von Bevölkerungsexplosion, Verstädterung, Vertrocknung und Verwüstung einst fruchtbarer Landschaften. Auch in Afrika, wie Bilder des chaotischen Verkehrstreibens in Nairobi belegen sollen, gibt es …

Am Anfang war der Niedergang. Zeichentrickanimationen künden von Bevölkerungsexplosion, Verstädterung, Vertrocknung und Verwüstung einst fruchtbarer Landschaften. Auch in Afrika, wie Bilder des chaotischen Verkehrstreibens in Nairobi belegen sollen, gibt es immer weniger Platz für wilde Tiere.

Zu den Bildern von bettelnden Schwarzen und den wuchernden Slums an den Rändern der großen Städte verkündet das Voice-Over mit bitterem Pathos von den Kehrseiten der sich auf dem Kontinent ausbreitenden Zivilisation. „Kein Platz für wilde Tiere“, der Film, den der Tierforscher und langjährige Direktor des Frankfurter Zoos Prof. Dr. Bernhard Grzimek zusammen mit seinem Sohn Michael 1956 realisierte, bedient damit die Erzählung von der vermeintlichen Zivilisierung der Erde als Verlust, die einhergeht mit einer Sehnsucht zivilisationsmüder Okzidentalen nach Natur, Ursprünglichkeit, Unberührtheit. Wir kennen diese Erzählung aus dem Western ebenso wie aus Alejo Carpentiers ebenfalls in den Fünfzigern entstandenen Roman „Die verlorenen Schritte“, dessen namenloser Protagonist sich aus der Entfremdung seines Dasein in New York in die Wildnis Südamerikas flüchtet, wobei seine Reise nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit zu führen scheint, von der westlichen Metropole der Gegenwart bis zu Menschen, die scheinbar noch in der Steinzeit leben.

Solche nostalgischen Verklärungen sind dem wissenschaftlichen Ansatz der Grzimeks fremd. Dennoch ist ihr lobenswerter Kampf für den Erhalt der letzten Naturparadiese schon hier, aber vor allem in dem programmatisch betitelten und 1959 mit dem Oscar ausgezeichneten Nachfolgefilm „Serengeti darf nicht sterben“ der gleichen tief in der Mythologie des Kolonialismus verwurzelten Sehnsucht geschuldet. Wenn die Welt klein ist, wie Kolumbus lakonisch feststellte, und in dem Maße, wie sie durch Globalisierungsschübe wie jener, die die Fahrten des mailändischen Seemanns einleiteten, immer kleiner wird, sehnt sich der westliche Mensch nach der „jungfräulichen“ von ihm unberührten Natur. Seit Kolumbus stehen die Erzählungen vom Guten Wilden und dem bösen Kannibalen als Extreme der Darstellung kultureller Alterität. Projektionen sind sie beide. Wo erstere das Gute im Fremden sucht, in dem bitteren Bewusstsein, dass dieses durch die Berührung durch das koloniale Subjekt auf immer verloren gehen wird, steht letztere für die eigenen Grausamkeit und zugleich als Rechtfertigung für dieselbe.

Auch wenn „Kein Platz für wilde Tiere“ natürlich in erster Linie ein Tierfilm ist, spuken durch ihn doch auch diese westlichen Gemeinplätze im Umgang mit den Menschen der Fremde, hier Afrikas, was ihn noch um einiges interessanter macht als seinen Nachfolger. Wo der Anthropomorphismus des Voice-Overs im Bezug auf die Tiere die Unmöglichkeit verdeutlicht, im Anderen etwas anderes als Spieglungen des eigenen Selbst wahrzunehmen, ist der Umgang mit den afrikanischen Menschen, die den Forschern auf ihrer Reise begegnen, wesentlich komplexer. Es kann im zeitlichen Kontext der Entstehung des Films durchaus verblüffen, dass zunächst von Schwarzen anstatt von Negern die Rede ist. Noch bemerkenswerter ist dann aber die Art, wie das „N-Wort“ schließlich doch noch zu seinem Recht kommt. Als Neger werden nämlich nicht alle Afrikaner bezeichnet, sondern nur die, die schon von der westlichen Zivilisation verdorben sind, in Abgrenzung von den noch ganz ursprünglich lebenden Pygmäen, die der Film den auch mit paradiesisch anmutenden Bildern zeigt. Der „Neger“ wird als Fortsetzung der eigenen zivilisatorischen Bemühungen wahrgenommen. Er ist gerade als Komplize des Europäers der böse Wilde, was sich auch in seinem Begehren für die Pygmäenfrauen ausdrückt, die er in einer Szene für einen Haufen Geldscheine bei den Männern des Stammes kauft. Er ist einerseits ganz Agent der westlichen Welt, aber andererseits noch nicht mit deren moralischen Begrenzungen ausgestattet. Dass der „Neger“ ganz unser Produkt ist, ist eine der Wahrheiten über den kolonialistischen Diskurs, die sich implizit aus dem Film ablesen lässt.

Seinen tollkühnsten und wahrhaftigsten Moment hat der Film denn auch in der Darstellung nicht wilder Tiere, sondern wilder Menschen. Zu Bildern eines ekstatisch tanzenden Stammes in voller Kriegsbemalung wird betont reißerisch von der Wildheit der Batussi gesprochen – nur damit das Treiben sich nach einem Schnitt als Teil einer Inszenierung für die Augen westlicher Reisender herausstellen darf. Neben dem Seitenhieb auf die neokolonialistischen Züge des modernen Massentourismus, für den das vermeintlich Archaische in den Zusammenhängen einer durch und durch kapitalisierten Welt ebenso zur Ware wird wie Tierfelle, nimmt sich diese Szene auch geradezu prophetisch im Hinblick auf ein Subgenre des europäischen Genrekinos aus: den erst 1962, also sechs Jahre nach „Kein Platz für wilde Tiere“, durch „Mondo Cane“ begründeten Mondofilm, in dem unter anderem die Riten „archaischer“ Völker dafür herhalten müssen, das Bedürfnis des Publikums nach blutigen Schauwerten zu befriedigen.

Die ätzende Kritik des Films an den Praktiken der ebenfalls touristisch ausgeschlachteten Großwildjagd untermauert der Film gegen Ende mit den bedrückenden Bildern einer durch Schüsse verletzten Elefantenkuh, die im Wasser Linderung ihrer Schmerzen sucht (Ulrich Seidls „Safari“ habe ich noch nicht gesehen, könnte mir aber vorstellen, dass er mit seiner Darstellung des Tötens als Sport in eine ähnliche Kerbe schlägt).

Der große Erfolg dieses Films, ermöglichte es drei Jahre später „Serengeti darf nicht sterben“ zu drehen, in dem dokumentiert wird, wie das Team um die Grzimeks den Serengeti-Nationalpark vermisst, um ihn so einzurichten, dass es den hier lebenden Tierherden möglich bleibt, ihre Wanderungen zu unternehmen. Der Kampf gegen Wilderer wird ebenso thematisiert wie die großen Gefahren, die das Team für seine Arbeit auf sich nimmt. Tatsächlich bezahlte Michael Grzimek sein Engagement mit dem Leben. Er starb während der Dreharbeiten bei einem Flugzeugabsturz.

Universal Music Familiy Entertainment/Karussell macht die beiden Filme nun erstmals digital restauriert in HD zugänglich. Die Blu-ray bietet neben den Filmen im deutschen Original und auf Englisch eine Bildergalerie. Etwas mehr Informationen zur Biographie der Filmemacher wären schön gewesen. Anders als es die zum Glück falschen Angaben auf dem Cover befürchten lassen, liegen die Filme auch im korrekten Bildformat von 1:1,33 vor. Die Erhabenheit der Tiere und der Landschaft, durch die sie sich bewegen, kann so in neuem Glanz erstrahlen.

Nocturama

(BE/DE/FR 2016, Regie: Bertrand Bonello)

Terror als surrealistische Geste
von Ulrich Kriest

Hubschraubergeräusche, noch vor den Titeln, die dann mit elegantem retrofuturistischen Minimaltechno unterlegt sind. Ein Postkarten-Totale von Paris mit Louvre, Notre Dame und Centre Pompidou, dann geht es runter in die …

Hubschraubergeräusche, noch vor den Titeln, die dann mit elegantem retrofuturistischen Minimaltechno unterlegt sind. Ein Postkarten-Totale von Paris mit Louvre, Notre Dame und Centre Pompidou, dann geht es runter in die Metro. Früher Nachmittag. Eine ausgesucht divers durchmischte Gruppe junger Menschen zwischen modisch interessierter jeunesse dorée, Business-Look und HipHop-Outfit bewegt sich offenkundig gemäß einer wohl informierten Choreografie durch ein Paris ganz unterschiedlicher Milieus. Es kommt zu kurzen Begegnungen. Blicke werden gewechselt, Gesten der Zugehörigkeit, aber keine Worte. Schnell lösen sich die Begegnungen dann auch wieder auf, was die Kamera auf das Eleganteste dokumentiert. Nur nicht auffallen. Mobiltelefone werden entsorgt. In stylisher Slowmotion. Autos werden umgeparkt, Kofferräume geöffnet. Plastiktüten transportiert. Sprengstoff platziert. Kommuniziert wird via Smartphone. Eine Anspannung liegt in der Luft, zumal die jungen Akteure zwar einem präzisen Plan zu folgen scheinen, dabei aber nicht sehr abgeklärt auftreten.

Alles ein Spiel? Stadtführung gefällig? Raus nach La Defense! Wir hören die Namen der (bestürzend gepflegten) Metro-Stationen, bekommen Stadtplan-Ausschnitte und Uhr-Zeiten zur Orientierung an die Hand. Zwischenzeitlich verlässt der Film die Gegenwart und liefert ein paar Szenen, die vielleicht von der Entstehung der Gruppe erzählen. Man traf sich in der Kneipe bei Prüfungsvorbereitungen oder im Warteraum bei Arbeitsamt. Ein Paar ist auch dabei. Die Akteure agieren entschlossen, aber nicht fanatisch. Eine Leerstelle: die Motivation der Gruppe.

Um 19.15 Uhr explodieren an vier Orten in Paris gleichzeitig Sprengsätze. Zuvor hat es bereits mehrere Tote gegeben. Auch das weitere Vorgehen ist genau geplant. Die Gruppe lässt sich in einem Nobelkaufhaus einschließen, dass auch – wie geplant – aus Sicherheitsgründen evakuiert wird. Jetzt gilt es die Nacht auszuharren, um am nächsten Morgen unerkannt in das alte Leben abzutauchen.

Von dieser Wartezeit erzählt der zweite, längere Teil von „Nocturama“. Der Plan ist genial, aber auch perfide – für unser Bild für die terroristischen jungen Leute, die geradezu höhnisch darauf hingewiesen werden, dass sie genauso sportlich gekleidet sind wie die Schaufensterpuppen des Kaufhauses. Waren die zuvor gezeigten Bewegungen im Raum scharf und zielorientiert, so werden sie jetzt zu einem ziellosen Flanieren durch die Gänge und Stockwerke des Kaufhauses. Immerhin: man erkennt seine Lieblingskosmetika wieder, checkt ein paar Kleidungsstücke und die neueste, unbezahlbare High-end-Anlage von B&O aus, speist kostspielig zur Nacht und lädt sich als Gäste ein Clochard-Paar ein. Das Kaufhaus ist eine Monade des Luxus: keine Fenster, kein Netz, schallisoliert. Erst nach 22 Uhr kommt jemand auf die Idee, die Flatscreens in der Medienabteilung anzuschalten. Emotionslos stellt einer der Akteure angesichts der Fernsehbilder fest: „Krass, dass in echt zu sehen.“ Ein anderer Akteur wird später via Karaoke-Maschine seine ganz persönliche Version von „My Way“ performen. Ist das als Sarkasmus zu verstehen? Oder ist „Nocturama“ selbst Karaoke? Es war zu lesen, dass Bertrand Bonellos siebter Spielfilm, dessen Drehbuch bereits 2011 geschrieben wurde, ursprünglich „Paris est une fete“ heißen sollte, was nach den Anschlägen vom November 2016 mindestens frivol, wahrscheinlich aber als zynisch wahrgenommen worden wäre.

Nachdem sich Bonello in früheren Filmen auf höchst reflektierte und anspielungsreiche Weise mit Dienstleistungen, die historischem Wandel unterworfen sind, wie der Pornografie, der Prostitution und der Mode auseinandersetzt hat, so nimmt er mit „Nocturama“ einen Faden aus „Der Pornograph“ (2001) wieder auf. Damals traf der gealterte Porno-Filmer Jacques auf seinen Sohn Joseph, der sich einer politisch radikalen Jugendgruppe angeschlossen hat, die versucht, der Libertinage der 68er durch moralischen Rigorismus zu begegnen. Die vorgeschlagene Strategie: Schweigen als ultimativer Protest, keine Zugeständnisse und keine Gegenvorschläge dem politischen System, das sich seines Gegenübers nur mittels kursierender Bilder versichert. „Nocturama“ präsentiert jetzt eine Radikalisierung dieser Strategie. Ein terroristischer Anschlag als Botschaft ohne Inhalt. Eine surrealistische Geste als Bedingung der Möglichkeit der Revolte, jenseits tagesaktueller Zuschreibungen. Als einer der Akteure zum Rauchen das Kaufhaus verlässt, trifft er draußen auf eine junge Frau mit einem Fahrrad, die etwas kryptisch davon spricht, dass etwas passieren musste und dass es jetzt passiert sei. Dieser Gedanke erinnert an eine Überlegung von Jean-Francois Lyotard zum Erhabenen. Lyotard hält fest: „Es handelt sich nicht um die Frage nach dem Sinn und der Wirklichkeit dessen, was geschieht, oder was das bedeutet. Bevor man fragt: was ist das?, was bedeutet das?, vor dem quid, ist »zunächst« sozusagen erfordert, dass es geschieht, quod. Denn dass es geschieht: das ist die Frage als Ereignis.“ „Nocturama“ geht es genau um diese surrealistische Qualität des Jetzt, weshalb auch die geloopten Bilder der Fernsehberichterstattung über die Anschläge exakt die bereits gezeigten Filmbilder sind, die ja logisch nur die Erwartung der Täter einlösten, während alle anderen überrascht wurden. Mit der Tat haben die Täter ihre Mission erfüllt, nach der Einsicht „Wir werden sterben!“ besteht der Rest der Nacht im Warten auf das Eintreffen der Einsatzkommandos der Polizei. Bonello bezieht sich auch im Falle von „Nocturama“ wieder explizit auf Vorbilder der Filmgeschichte wie Bresson („Der Teufel möglicherweise“), Fassbinder („Die dritte Generation“), Romero („Zombie“), Clarke („Elephant“) oder Kubrick („The Shining“), aber der Filmtitel selbst ist eben nicht nur ein Albumtitel von Nick Cave, sondern auch eine bestimme Käfiganlage zur Präsentation nachtaktiver Tiere im Zoo. Wem diese Pointe nicht böse genug ist, dem sei noch verraten: war die Botschaft der Jugend das reine Ereignis, so fällt die Antwort der Exekutive entsprechend aus. Keine weiteren Fragen, keine Gefangenen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Nocturama‘.

Nocturama

(FR/DE/BE 2016, Regie: Bertrand Bonello)

Krankheit zum Tode
von Wolfgang Nierlin

Zu Beginn des Films verknüpft die Montage auf magische Weise die von Rotorengeräuschen unterlegte Vogelperspektive auf Paris mit dem Metro-Untergrund der Weltstadt. Auf den geheimnisvollen Kontrast folgen multiperspektivisch die konspirativen …

Zu Beginn des Films verknüpft die Montage auf magische Weise die von Rotorengeräuschen unterlegte Vogelperspektive auf Paris mit dem Metro-Untergrund der Weltstadt. Auf den geheimnisvollen Kontrast folgen multiperspektivisch die konspirativen Bewegungen einer Gruppe Jugendlicher von den Rändern ins Zentrum. Unterwegs auf den Straßen und Schienen der Metropole evozieren ihre verschworenen Blicke und Gesten die Abgeklärtheit von Genre-Figuren. Zwar suggerieren die dokumentarisch wirkenden Handkamerabilder und präzise Zeitangaben einen forcierten Realismus, doch tatsächlich geht es Bertrand Bonello in seinem neuen Film „Nocturama“ um fiktive Überhöhung. Im hypnotischen Flow des von ihm selbst komponierten elektronischen Scores folgen wir zunehmend gespannt den parallelen Aktionen der Figuren, über die wir nur das Nötigste erfahren und deren Handlungsmotive mehr schlagwortartig angedeutet werden. Es scheint, als folgten sie einer inneren, nicht näher zu spezifizierenden Notwendigkeit.

Die jungen, unscheinbar wirkenden Protagonisten entstammen als Schüler, Studenten und Arbeitslose offensichtlich unterschiedlichen sozialen Milieus. Was sie eint, sind gemeinsame Feindbilder und ein nicht näher erläutertes Leiden an der Wirklichkeit, vielleicht sogar ein Lebensüberdruss. Diese Krankheit der Jugend, von Bonello als utopische Sehnsucht nach Verweigerung und Zerstörung apostrophiert und ins digitale Zeitalter transferiert, kulminiert und bezeugt sich in der gemeinsamen Planung und Durchführung mehrerer synchroner Sprengstoffanschläge. Über einen Zeitraum von fünf Stunden folgen wir im ersten Teil des Films den Vorbereitungen, registrieren Pannen, Unsicherheiten, Nervosität und Angst und werden zugleich mit schrecklich mörderischen Konsequenzen konfrontiert. Fast unmerklich bricht Bonello die Chronologie auf, fügt zeitliche Überlappungen und kurze Rückblenden in den Fluss der Geschehnisse ein, ohne dabei psychologisieren zu wollen. Als schließlich symbolisch und repräsentativ ein Teil des Innenministeriums, eine Revolutionsstatue, ein Hochhaus in La Défense und eine Reihe von Autos explodieren, wirkt das wie ein Fanal des Abschieds.

„Wir haben getan, was wir tun mussten“, sagt später einmal einer der Attentäter. Nicht Hoffnung und der Wunsch nach Aufbruch motivieren ihr Handeln, sondern eher ein existentieller Fatalismus, dem die Gewissheit letztlichen Scheiterns innewohnt. Auf das Feuer folgt eine gespenstische Stille. Paris verwandelt sich in eine Geisterstadt und die Jugendlichen ziehen sich im zweiten, „nächtlichen“ Teil in ein großes Kaufhaus zurück. Dieses fungiert zunächst als Versteck und schützender Kokon, zugleich aber auch als phantasievolles Traumreich und ambivalente Todeszone. Im Spiegel der Konsumwelt und des künstlichen Scheins begegnen die Protagonisten sich selbst und ihren innersten Wünschen; sie erkennen sich dabei in den Doppelgängern und Abziehbildern einer Welt, die sie selbst bekämpfen.

Unterstützt von prägnanten Musikeinsätzen – etwa Shirley Basseys Version von Paul Ankas Song „My Way“ sowie Blondies „Call Me“ – und schillernden Selbstdarstellungen, inszeniert Bertrand Bonello in diesen Passagen einen ebenso rauschhaften wie melancholischen Tanz vor dem unausweichlichen Untergang. Die Gewissheit des Todes, im künstlichen Stakkato mitleidlos präziser Gewalt (auch akustisch) verdichtet, erzeugt schließlich nur noch nackte Angst und eine verzweifelte Hoffnungslosigkeit: „Helft mir!“, ruft einer von ihnen zuletzt gegenüber dem maskierten Exekutionskommando der Polizei.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Nocturama‘.

Song to Song

(US 2017, Regie: Terrence Malick)

Häutungen
von Wolfgang Nierlin

In seinen jüngeren Filmen verzichtet Terrence Malick auf eine herkömmliche dramatische Handlung, um sich immer mehr einem Kino der visuellen Poesie anzunähern. Erzählstrukturen, Dialoge sowie im Grunde auch das Schauspiel …

In seinen jüngeren Filmen verzichtet Terrence Malick auf eine herkömmliche dramatische Handlung, um sich immer mehr einem Kino der visuellen Poesie anzunähern. Erzählstrukturen, Dialoge sowie im Grunde auch das Schauspiel sind weitgehend suspendiert. Stattdessen werden Wort und Bild, Raum und Zeit, Musik und Bewegung in einer relativ sprunghaften Montage aufeinander bezogen. Die leicht schwebenden, an ihren Rändern gekrümmten Cinemascope-Bilder, mit einer Steadycam von Emmanuel Lubezki aufgenommen, führen ein Eigenleben, ohne sich zu einer Geschichte zu fügen. Ihre von goldenem Licht beleuchtete Schönheitstrunkenheit – eine zu Redundanz und visuell überwältigendem Overkill neigende Anhäufung geschmackvoller Oberflächen und erlesener Interieurs – ist eher Ausdruck einer schwelgerischen Anrufung der Welt und des Lebens, gewissermaßen Zeugnis einer göttlichen Schöpfung. Selbst die Schauspieler, ein durchweg prominenter Cast, fungieren nur als Bestandteil des „filmischen Materials“. Wie in einer meditativen, selbstreferentiellen Endlosschleife vollzieht sich das rudimentäre Geschehen.

Gegliedert wird dieses in Malicks neuem Film „Song to Song“ hauptsächlich durch die inneren, quasi entindividualisierten Monologe der Figuren, die sich als mehrstimmiger, in ihrer Sprache teils schwülstig wirkender Bewusstseinsstrom aus dem Off verstehen lassen. In ihnen wird die „Handlung“ des Films strukturell als christliche Heilsgeschichte deutbar beziehungsweise ist dieser nachempfunden. Auf die Dunkelheit folgt das Licht, auf Sünde die Vergebung und auf den Fall die Errettung. „Was ich war und jetzt bin“, lautet in diesem Sinne ein Satz, der auf jene „Häutungen“ verweist, durch die wie in einem Prozess der Reinigung und Erkenntnis das alte Leben abgestreift wird für ein neues, befreiteres. Terrence Malick geht es im Verlauf dieser Bewusst- und Selbstwerdung um nichts weniger als um die Essenz des Seins und um ein „neues Paradies“. Denn dass Leben, Liebe und Sex unter den Bedingungen von Konsum und Kommerz trivialisiert, pervertiert und ihres eigentlichen Wesens und Sinns entfremdet sind, daran lässt der Metaphysiker unter den amerikanischen Filmemachern keinen Zweifel.

Angesiedelt in der schillernden Musikszene von Austin, Texas und angereichert mit dokumentarischem Material (beispielsweise mit Auftritten von Iggy Pop und Patti Smith), setzt Malick die Verwirrung der Gefühle als improvisiertes Bewegungsballett von zwei Frauen und zwei Männern in Szene. Während die erfahrungshungrige Faye (Rooney Mara) in ihrer Sehnsucht nach Freiheit erst einen Versucher abwehren muss, obliegt es ihrem Freund BV (Ryan Gosling), einem aufstrebenden Musiker, sein Misstrauen zu überwinden und ihr zu verzeihen. Michael Fassbender spielt als reicher, dekadenter Musikproduzent namens Cook jenen verdorbenen Materialisten und zerstörerischen Mann, für den „alles nur Show“ und „freier Fall“ ist, der nicht recht an die Liebe glaubt und sexuelle Orgien feiert, schließlich aber in der tragischen Begegnung mit der Kellnerin Rhonda (Natalie Portman) doch noch von etwas „anderem“ berührt wird.

Malick spiegelt diesen Weg „durch Schmerz zum Leben“ als Grundmuster in den wechselnden Beziehungen seiner Figuren und ihrer Suche nach Liebe. „Die Welt baute einen Zaun um mich“, heißt es mehrfach über die irdisch-materiellen Begrenzungen, die im Kontrast zur (ewigen) Natur als schöner Schein leerer Oberflächen inszeniert wird. Doch schon im ersten Bild von „Song to Song“ fällt Licht durch einen schmalen Spalt, öffnet sich die Tür zu einer vielleicht anderen Wirklichkeit.

Jahrhundertfrauen

(USA 2016, Regie: Mike Mills)

Zeichen des Umbruchs
von Wolfgang Nierlin

Santa Barbara, 1979. Im Vogelflug über ein sonniges, grünes, entspanntes Terrain geht der Blick bis zum Meer. Auf dem Parkplatz eines Supermarktes steht ein alter Ford Galaxie in Flammen. Mike …

Santa Barbara, 1979. Im Vogelflug über ein sonniges, grünes, entspanntes Terrain geht der Blick bis zum Meer. Auf dem Parkplatz eines Supermarktes steht ein alter Ford Galaxie in Flammen. Mike Mills beginnt seinen schönen Film „Jahrhundertfrauen“ (20th Century Women) mit dem Fanal eines Umbruchs: Der 15-jährige, eher nachdenkliche Jamie (Lucas Jade Zumann) steht an der Schwelle zur Mannwerdung und seine alleinerziehende Mutter Dorothea Fields (Annette Bening), Jahrgang 1924, weiß nicht recht, wie sie damit umgehen soll. Dass ihr altes, stilvolles Haus gerade renoviert wird, ist deshalb ein weiterer Hinweis für ein Leben im Wandel. Althippie William (Billy Crudup), der sich als kreativer Handwerker um die Instandsetzung kümmert, könnte also theoretisch gleich eine doppelte Leerstelle besetzen; aber Jamie kann mit dem vermeintlichen Vaterersatz nichts anfangen und für Dorothea ist er aus verschiedenen Gründen nicht der richtige. Also bittet sie ihre Untermieterin Abbie (Greta Gerwig), die knapp Mitte zwanzig ist, und Jamies beste, zwei Jahre altere Freundin Julie (Elle Fanning) darum, die „Männlichkeitserziehung“ ihres Sohnes zu übernehmen.

„Was ist heute ein guter Mann?“, fragt Dorothea, die die kulturelle Gegenwart als chaotisch und verwirrend erlebt und selbst aus einer Zeit stammt, in der es noch „echte Menschen“ gab. Ketterauchend lebt die Zeichnerin, die in einem Architekturbüro arbeitet, aber einst Pilotin werden wollte, in ihren Enttäuschungen: „Das Leben ist immer anders als man es sich vorstellt.“ Um das aufkeimende Unabhängigkeitsstreben ihres Sohnes zu kanalisieren, bittet sie also Abbie um Rat und Beistand. Doch die punkige Fotografin befindet sich nach einer überstandenen Krebserkrankung selbst in einer Krise; und die feministische Literatur, die sie Jamie zum Lesen gibt, zeitigt Effekte, die Dorothea zu weit gehen. Die in sexuellen Dingen bereits erfahrene Julie wiederum, in die Jamie verliebt ist, möchte ihr Verhältnis bei einer platonischen Beziehung belassen. Überdies hat die seelisch instabile Tochter einer Psychotherapeutin Probleme damit, echte emotionale Nähe zuzulassen.

Mike Mills verbindet in seinem sehr dynamisch und visuell einfallsreich erzählten Film, der von autobiographischen Erfahrungen inspiriert ist, seine Coming-of-Age-Geschichte mit dem Portrait dreier Frauen, die aus verschiedenen Generationen stammen. Exemplifiziert wird diese Differenz an kulturellen Phänomenen, namentlich – und in vielen Szenen – an der rohen Energie der Punkmusik, über deren befreiendes Potential Abbie einmal sagt: „Die Leidenschaft ist größer als die Ausdrucksmittel.“ Zwar konzentriert sich Mills in seiner ebenso nachdenklichen wie witzigen Darstellung eines markanten Lebensabschnitts auf das auch in politischer Hinsicht einschneidende Jahr 1979 – so versammelt sich einmal die „Patchworkfamilie“ zur Übertragung von Jimmy Carters „Malaise Speech“ vor dem Fernseher; doch zugleich spinnt er seine erzählerischen Fäden in phantasievollen Collagen und mit wechselnden Off-Erzählern über die unmittelbare Gegenwart hinaus in eine verlorene Vergangenheit und eine zu erwartende Zukunft. Die Wehmut über unerfüllte Träume angesichts der vergehenden Zeit schwingt darin mit.

The Founder

(USA 2016, Regie: John Lee Hancock)

Von San Bernardino um die Welt mit dem (Nicht-)Gründer Kleptokapitalisten-Kroc
von Nicolai Bühnemann

„The Founder“ ist, so viel kann man wohl mit Fug und Recht sagen, ein Faszinosum. Ein Film, der faszinierend ist in seiner eigenen Faszination für das Böse, die bedingungslose Über-Leichen-Geh-Mentalität …

„The Founder“ ist, so viel kann man wohl mit Fug und Recht sagen, ein Faszinosum. Ein Film, der faszinierend ist in seiner eigenen Faszination für das Böse, die bedingungslose Über-Leichen-Geh-Mentalität seiner Hauptfigur, die an einer Stelle erklären darf: „Contracts are like hearts, they’re made to be broken.“ Besagte Hauptfigur ist der von einem manisch aufspielenden Michael Keaton gegebene Ray Kroc. ‚Ray wer?‘, fragen Sie sich jetzt wahrscheinlich. Und gegen Ende des Films erklärt Croc, dass man mit einem Namen wie dem seinen mit seinem slavischen Touch einfach kein richtiges Geld verdienen könne. Dazu braucht es schon einen Namen, der nach etwas klingt, der sich richtig amerikanisch anhört (wobei das „Amerikanische“ hier auch schon irischen Ursprungs ist). Und der, dem er das erklärt, hat einen solchen Namen, der ihm doch am Ende kaum etwas einbringt, den er regelrecht verliert an den Mann, der Kroc heißt. Dieser Name lautet Mac McDonald, wie in dem Schnellrestaurant, das nach ihm und seinem Bruder benannt wurde, und dessen Rechte sie schließlich für einen Preis an Kroc abgeben müssen, der sich verglichen mit dem Imperium, das aus ihrem Laden im kalifornischen San Bernardino über die Franchise-Idee Krocs erwächst, ausnimmt wie die Waren im Wert von 60 niederländischen Gulden für die, die europäischen Siedler von deren indigenen Bewohnern eine Insel an der amerikanischen Ostküste kauften, die später Manhattan heißen sollte.

Ob diese Assoziation von Regisseur John Lee Hancock und seinem Drehbuchautor Robert D. Siegel intendiert war oder ob sie alleine das Produkt meiner postkolonialistisch geschulten Phantasie ist, tut dabei wenig zur Sache, denn sie ist dahingehend stimmig, dass bei Siedlern und „Indianern“ wie bei Kroc und den McDonald-Brüdern zwei Wertsysteme aufeinander prallten, die sich so grundlegend voneinander unterschieden, dass sie zwangsläufig in die Unterwerfung und Ausbeutung des einen durch das andere münden mussten. Dass es bei Krocs McDonald-Imperium schließlich darum gehen wird, das Land zu verpachten, auf dem immer mehr der beliebten Schnellrestaurants entstehen, dass es also um die Erde geht, auf der Kroc gleich mehrmals sitzen darf, die ihm symbolträchtig durch die Finger rinnt, unterstreicht nicht nur die kolonialen Konnotationen dieser Art des Wirtschaftens, es wird auch noch im top shot gefilmt. Über dem McDonalds-Gründer steht höchstens noch Gott, und wer sich in derart „von oben“ legitimierter Landnahme übt, der kann es kaum vermeiden, sich dabei auch die Hände schmutzig zu machen.

Nur ganz zu Beginn seines kometenhaften Aufstiegs sieht Kroc auch noch in dem bewunderten Schnellrestaurant in San Bernardino nach dem Rechten, kontrolliert akribisch, dass auf jedem Burger die gleiche Anzahl von Gurkenstückchen landet. Ob die Assoziation zur Robert De Niro-Figur in Martin Scoseses Meisterwerk „Casino“, die als mafiöser Casino-Betreiber seine Untergebenen in der Küche energisch dazu anhält, die gleiche Menge Blaubeeren in jeden Muffin zu füllen, von den Filmemachern beabsichtigt war oder ob sie wiederum ein Produkt meiner cinephil geschulten Phantasie ist, tut ebenfalls nichts zur Sache, denn auch hier passt die Analogie zwischen dem großen Gründer und dem Gangster wie die Faust aufs Auge oder eben wie die Gürkchen auf den Burger. Das ist schon deshalb interessant ist, weil die beiden Erfolgsgeschichten auf den ersten Blick konträrer nicht sein könnten. Die Spießigkeit des Familienamerikas der Fünfziger hier, der absolut nicht jugendfreie Glamour der Siebziger dort, der spätestens mit Einsetzen der Achtziger endgültig in Gewalt und Exzess pulverisiert wird. Interessant ist auch der Vergleich der beiden Frauenfiguren. Sharon Stone säuft und kokst sich bei Scorsese tot, Laura Dern, die hier alles, aber sicherlich nicht wild at heart ist, sehen wir dabei zu, wie sie sich langsam, aber sicher zu Tode langweilt. Den Ambitionen ihres Mannes steht sie so lange mit eingefrorener Mine im Weg, bis er betont einsilbig beim Essen die Scheidung von ihr verlangt.

Wo das Geschäft mit dem Laster sich auf Las Vegas beschränkt, wie San Bernardino eine Stadt in der Wüste, wenn auch eine etwas größere, bilden die family values, das „religiöse“, das (ur)“amerikanische“ (dazu später mehr) und der mit ihnen – nicht zwangsläufig, aber doch sehr wahrscheinlich – einhergehende Verzicht bald ein globales Netzwerk, das in Sachen krimineller Machenschaften nicht nur das Gangster-Über-Ich eines De Niro, sondern auch noch das psychopathische Es, das bei Scorsese von Joe Pesci verkörpert wird, wie zahme Provinzgauner dastehen lässt. Und für einen langen schmerzlichen Augenblick fragt man sich dann, ob die Stone-Figur nicht doch alles richtig gemacht hat.

Doch fangen wir am Anfang an. Da scheint der Keaton-Kroc, der selbst noch als talking head larger than life ist, wie er da mittig im Scopebild prangt, sich direkt an die Zuschauenden zu wenden, um ihnen einen Mixer zu verkaufen – bis ein Schnitt seine Bemühungen in einen anderen Kontext stellt. Den Mixer kauft der Mann, der nun in der Szene unsere Position als Adressat von Krocs Verkaufsmonolog einnimmt, dann erst mal nicht. Dafür bestellt ein rätselhaftes Restaurant in Kalifornien gleich sechs der Milchshakemacher, was bei Kroc so viel Eindruck schindet, dass er den weiten Weg aus Illinois in Richtung Westen antritt.

Das Restaurant der Brüder Dick (Nick Offerman) und Mac McDonald (John Carroll Lynch) versetzt ihn zunächst gehörig ins Staunen. Das Essen ist schon fertig, kaum hat man es bestellt. Statt Teller, Besteck und Glas gibt es einen Pappbecher und eine Papiertüte, was es ermöglicht, seine schnelle Mahlzeit überall einzunehmen. Zuhause, im Auto, auf einer der Bänke vor dem Lokal, vor dem sich eine lange Schlange gebildet hat. Bei einer Tour kann sich der Geschäftsmann von den Vorzügen des sogenannten Speede-Systems überzeugen. Also will Kroc ins florierende Geschäft einsteigen. Franchises von McDonalds überall in Amerika, ach was, der ganzen Welt eröffnen. Nicht mal diese Idee stammt indessen wirklich von ihm. Die Brüder hatten bereits zuvor versucht, an verschiedenen Stellen des Landes neue Filialen zu eröffnen, was aber letztendlich wohl an ihrer Gutmütigkeit gegenüber den Franchises scheiterte, die ihnen mit ihren eigenen Ideen und Visionen gehörig auf der Nase herumtanzten (oder vielleicht war die Welt ein paar Jahre oder Monate vor dem Siegeszug Ray Krocs einfach noch nicht so weit, dass man überall auf ihr das gleiche Essen in einem Restaurant derselben Kette kaufen konnte, so viel Hoffnung sei, wenn schon nicht in die Zukunft, dann doch immerhin in die Vergangenheit gesetzt).

Zentralisierte Gleichschaltung ist also das Konzept, die Vision des Ray Kroc, der nichts mehr erfinden oder gar produzieren muss, um ein Imperium aufzubauen. Ja, selbst der „golden arch“, aus dem später das ikonographische, raumgreifende, aus den urbanen Architekturen der Gegenwart schwerlich wegzudenkende M werden sollte, war nicht seine Idee, sondern lediglich die Vision, dass sich dieser gelbe Bogen irgendwann, wie das Kreuz auf den Kirchen und die Fahne auf den Rathäusern, in jeder amerikanischen Kleinstadt finden solle. Die Nation, die Religion – und McDonalds. Das Kapital will sich, schon lange vor seiner neoliberalen Entfesselung und mitten in den stockkonservativen Fünfzigern, gleichwertig neben Gott und Vaterland stellen, ja, es versteht es sogar, den Zeitgeist geschickt für sich zu nutzen, indem es an die wichtigste Institution einer, nun ja, wertkonservativen Gesellschaft appelliert: die Familie. (Der Film unterstreicht, dass Ideale, Bilder für jemanden wie Kroc nur eine Ware sind, die es gewinnbringend zu handeln gilt, durch seine eigene kinderlose frustrierende Ehe. Dadurch dass dieser Kroc gewiss kein family man ist.)

Kroc tritt denn auch als eine Art komplett ökumenischer Prediger auf, der sich in explizit religiösen Kontexten, in Kirchen und Synagogen an verschiedenste Religionsgemeinschaften wendet, um Franchises anzuwerben. Rabbi, Pfarrer, Priester vereint in einem Mann mit der Mission, weltliche Güter zu vermehren – auch für die Masse, der er predigt, aber in erster Linie für sich selbst. Eine furiose Montagesequenz, an exponierter Stelle ziemlich genau in der Mitte des Films, lässt seine verschiedenen Predigten vor sehr heterogenem, aber in gleichem Maße gebannten Publikum zu einem abgehackten Einerlei aus einigen ständig wiederholten Schlagwörtern werden. Wie wenig kritisch der Film sich auch dem System gegenüber gibt, das Karrieren wie die Krocs erst möglich macht, seine Sprache nimmt hier eindeutig den Motivationssprech des Neoliberalismus vorweg. Eins werden nicht nur die Ansprachen vor Juden, Katholiken, Baptisten, sondern auch die (kapitalismus-)geschichtlichen Epochen.

Dass ich den Film nicht so uneingeschränkt mögen kann, wie ich gerne würde, dass er bei allen unzweifelhaften Qualitäten doch eine sehr zwiespältige Angelegenheit bleibt, liegt daran, dass er letztlich sein Potenzial für eine grundsätzliche Kritik an dem System verschenkt, das Menschen wie Kroc erst den Nährboden für ihre Machenschaften gibt, die, wenn (noch) nicht offen kriminell, dann doch, gelinde gesagt, moralisch mehr als fragwürdig sind. Bei aller Faszination für seine Hauptfigur lässt der Film zwar kaum einen Zweifel daran, dass Kroc ein ziemlich skrupelloses Arschloch war, er tut aber nichts anderes als ausgerechnet den Kapitalismus der McDonalds-Brüder als das Gute gegen diese Ruchlosigkeit und Amoral aufzustellen. Schon dieser begründetet aber auf Raubbau an Mensch und Natur.

Das von den Brüdern entwickelte Spedee-System in der Küche sieht schick aus, wenn man es im capitalist gaze-Modus auf einem Tennisplatz einübt, natürlich mal wieder aus der Vogelperspektive gefilmt. Für die MitarbeiterInnen aber bedeutet es mehr Stress, den Preis für das Essen in 30 Sekunden bezahlen letztlich sie durch einen Sprung in der – kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnissen immer schon eingeschriebenen – Entfremdung von dem Produkt ihrer Arbeit, an dessen Produktion sie nur noch als menschliche Zahnräder in einer perfekt geölten Maschinerie beteiligt sind. Und damit ist kein Wort gesagt über die Belastung der Umwelt, die der Verzicht auf wiederverwertbares Geschirr zugunsten von Wegwerfverpackungen aus Pappe und Plastik mit sich bringt.

Die Los Angeles Times sieht in dem, was Kroc mit den Brüdern macht, auch eine Vorwegnahme des Verrats der Ideale einer Nation durch eine kleptokratische Elite, wie sie sich gerade im Trump-Amerika wiederholt. Doch das greift eben zu kurz. Das eigentliche Problem sind nicht Raymond Kroc, Donald Trump oder Mark Zuckerberg. Das Problem ist ein Wirtschaftssystem, das auf Ausbeutung, Gier und Skrupellosigkeit fußt: der Kapitalismus.

Dieser Text ist zuerst gekürzt erschienen auf: perlentaucher.de

Das Ende ist erst der Anfang

(BE/FR 2015, Regie: Bouli Lanners)

Gegen die Angst immer geradeaus
von Wolfgang Nierlin

Über der flachen, schier endlosen Weite ist der schwere Himmel bewölkt. Fahles Herbstlicht fällt in die nebelverhangene, baum- und strauchlose Landschaft, die von kerzengeraden Straßen durchzogen wird. Die Figuren aus …

Über der flachen, schier endlosen Weite ist der schwere Himmel bewölkt. Fahles Herbstlicht fällt in die nebelverhangene, baum- und strauchlose Landschaft, die von kerzengeraden Straßen durchzogen wird. Die Figuren aus Bouli Lanners neuem Film „Das Ende ist erst der Anfang“ (Les premiers les derniers) verlieren sich darin. Allesamt sind sie unterwegs mit ungewissem Ziel, wobei sich ihre Wege paradoxerweise immer wieder kreuzen. Vor allem aber sind sie Fremde an einem unwirtlichen Ort, der von leeren Lagerhallen, zerfallenden Industriebrachen, einer verlassenen Tankstelle und einer provinziellen Spelunke gesäumt wird. Der wilde Westen, aufgenommen in der französischen Beauce, hat hier den Charakter einer endzeitlichen Landschaft. „Im Fernsehen haben sie gesagt, die Welt wird untergehen.“

Der das äußert heißt Willy (David Murgia). Zusammen mit seiner Freundin Esther (Aurore Broutin) ist er auf unbestimmter Flucht. Dabei wirkt das schutzlos ausgesetzte Pärchen unbeholfen und verletzlich. Die orangefarbenen Signaljacken, in denen die beiden notdürftig stecken, sind wie ein Ausweis ihrer Obdachlosigkeit. Aber das riesige Universum mit seinen Milliarden von Sternen könne nicht einfach verschwinden, sagt ein Mann, der sich Jesus (Philippe Rebbot) nennt und ihnen die Angst nehmen will. Später liegt Jesus mit durchschossener Hand in einem Krankenhaus und erklärt seinem Bettnachbar Gilou (Bouli Lanners), der nach einem Zusammenbruch eingeliefert wurde: „Das Herz mag nicht, wenn man sich Sorgen macht.“ Der alternde, vermeintlich herzkranke Ganove leidet nämlich vor allem unter Einsamkeit und Todesangst.

Zusammen mit seinem Kumpel Cochise (Albert Dupontel) und dem kleinen Hund Gibus ist er in besagter Landschaft unterwegs, um in geheimem Auftrag ein Handy mit sensiblen Daten zu orten und sicherzustellen. Doch das Signal, dem die beiden schweigsamen Männer in ihrem Pick-up eher lustlos folgen, ist meistens ausgeschaltet. Überdies wechselt das Handy, ausgelöst durch skurrile Begegnungen und Verwicklungen, wiederholt den Besitzer. Doch eigentlich ist diese konfliktreiche Suche in Lanners lakonischem Roadmovie, das (visuelle) Motive des Westerns zeitgemäß variiert, nur ein Aufhänger für existentielle Fragen. Zwar geraten die fremden nacheinander in gewalttätige Auseinandersetzungen mit den ortsansässigen, selbsternannten Ordnungshütern, aber Lanners eigentliches Interesse gilt einer „Botschaft der Hoffnung“.

Mit trockenem Humor, in stilisierten, fast farblosen Bildern und teils surrealen Szenerien beschwört sein meisterlich erzählter Film den Lebensmut gegen die Todesangst. „Ich war tot und bin ins Leben zurückgekehrt“, lässt der belgische Filmemacher und Schauspieler zwei sehr alte Männer in ihrer Grabrede für eine mumifizierte Leiche aus der Bibel zitieren. Gespielt werden sie von Michael Londsdale und Max von Sydow, zwei legendären Altstars des europäischen Kinos.

Rückkehr nach Montauk

(DE, FR, IE 2017, Regie: Volker Schlöndorff)

Tier mit wechselnden Standpunkten
von Wolfgang Nierlin

In der Titelsequenz des Films ordnen sich auf Schreibmaschinenpapier fliegende Buchstaben zu animierten Mustern von Fortbewegungsmitteln, deren Geräuschkulisse auf der Tonspur großstädtischen Betrieb imaginieren lässt. Erst aus dem Off, dann …

In der Titelsequenz des Films ordnen sich auf Schreibmaschinenpapier fliegende Buchstaben zu animierten Mustern von Fortbewegungsmitteln, deren Geräuschkulisse auf der Tonspur großstädtischen Betrieb imaginieren lässt. Erst aus dem Off, dann frontal zum Zuschauer erzählt ein Mann seine Geschichte. Dass diese eigentlich ein Text ist, den er vorliest, ohne ins Buch zu schauen, erfahren wir kurz darauf durch eine Veränderung der Perspektive. Der aus Berlin angereiste Schriftsteller Max Zorn (Stellan Skarsgård) liest in einer New Yorker Bibliothek aus seinem neuen Werk „Jäger und Gejagte“. Darin geht es um eine verlorene Liebe, eine vertane Chance und die Unumkehrbarkeit versäumter Möglichkeiten. Volker Schlöndorff inszeniert diesen Beginn seines neuen Films „Rückkehr nach Montauk“ als doppelbödiges Spiel zwischen Wirklichkeit und Fiktion, (autobiographischer) Erinnerung und literarischer Erfindung.

Knapp eine Woche verbringt der merkwürdig farblose, offensichtlich unstete Autor für Lesungen in der geschäftigen Stadt am Big Apple. Begleitet wird er dabei von der jungen, hübschen und ihm gegenüber stets loyalen Presseagentin Lindsey (Isi Laborde). In einem Radiointerview charakterisiert sich Zorn etwas plakativ als ein Tier mit wechselnden Standpunkten. Doch das bleibt wie vieles andere in diesem Film eine verbale Behauptung. Dass er mit der um einige Jahre jüngeren, lebenshungrigen Clara (Susanne Wolff) zusammen ist, die in prekären Verhältnissen lebt, wovon Max wiederum nichts weiß, versteht man nicht richtig. Die Faszination für diesen charakterschwachen Mann teilt sich einfach nicht mit. Dass Max Zorn überdies sämtliche Vertraulichkeiten seines Privatlebens mit Lindsey teilt, ist nicht nur unwahrscheinlich, sondern vor allem eine Strategie des Drehbuches, um das, was die Bilder nicht erzählen, als gesprochenen Text zu vermitteln.

Darin geht es vor allem um Max‘ Wiederbegegnung mit Rebecca (Nina Hoss), die inzwischen als erfolgreiche Anwältin arbeitet. Für ein langes, gemeinsames Wochenende in Montauk, am äußersten Ende von Long Island, vermischen sich noch einmal Literatur und Leben, Erinnerung und Gegenwart, als könnte die Geschichte, längst zur Fiktion geworden, noch einmal von vorne oder ganz anders beginnen. Doch unterschiedliche Erfahrungen und Lebenswege stehen zwischen den beiden.

Schlöndorff spiegelt diese Distanz zwischen dem einstigen Paar in den Räumen und der Transparenz eines leerstehenden Hauses und in den Strandbildern vor einem weiten Horizont, in die sich elegische Klänge aus Mahlers 5. Sinfonie mischen. „I want you“, singt an anderer Stelle Bob Dylan, bevor das Auto der beiden (auch symbolisch) kurz darauf im Sand einer Stranddüne stecken bleibt. Doch warum Max einst Rebecca verließ, die sehr viel farbiger und ironiebegabter als der Schriftsteller erscheint, bleibt so unklar, als wäre diese gewichtige Entscheidung der Laune eines Augenblicks geschuldet. Erst ganz am Ende, als alles längst zu spät ist, zeigt der sich selbst fremde Held in anderem Zusammenhang doch noch Charakter. Die Gründe dafür bleiben allerdings vage.

Humanoid

(USA 2016, Regie: Joey Curtis)

Endlose Schlachten im ewigen Eis
von Nicolai Bühnemann

Das Jahr ist 2307. Die Welt ist vereist, befindet sich in einem Jahrhunderte andauernden Winter. So kaputt wie die Welt, in der er lebt, ist auch der Protagonist. Wir begegnen …

Das Jahr ist 2307. Die Welt ist vereist, befindet sich in einem Jahrhunderte andauernden Winter. So kaputt wie die Welt, in der er lebt, ist auch der Protagonist. Wir begegnen ihm zuerst in einem Nachtclub, durch den uns eine stylische Plansequenz führt, bei der die Kamera dem Tablett in den Händen einer Kellnerin folgt, auf dem ihm das einzige serviert wird, was dem bärtigen, langhaarigen, verwahrlosten Mann nach dem Tod seiner schwangeren Frau noch Linderung verschaffen kann: Q-Vapor heißt die ultimative Droge der Zukunft.

Aus seinem Rausch wird Bishop (Paul Sidhu) sehr unsanft geweckt. Sein einstiger Vorgesetzter beim Militär hat einen Auftrag für ihn. Er soll den Anführer eines Aufstands unter den Humanoiden (kurz „Noids“ genannt) ausfindig machen und eliminieren. Für den Soldaten eine sehr persönliche Aufgabe, denn ebendieser Anführer ASH-393 hat auch seine Frau und sein ungeborenes Kind auf dem Gewissen, wobei letzteres, so wird behauptet, noch am Leben sein soll. Für Bishop und seine schießwütige Einheit beginnt eine Reise durch die unwirtliche Landschaft der sogenannten Dead Zone, an deren Ende es einige Überraschungen für ihn und die Zuschauenden geben wird.

Wie man es von echter Exploitation gewohnt ist, nimmt sich auch „2307: Winter’s Dream“, wie „Humanoid – Der letzte Kampf der Menschheit“ im Original heißt, von anderen Filmen, was er braucht. Neben den mehr und mehr fühlenden künstlichen Menschen, wie wir sie aus Ridley Scotts „Blade Runner“ kennen, scheint Bishops Platoon eine B-Movie-Variante der Einheit um Ripley in James Camerons „Aliens“ zu sein. Die ewige Eiszeit der Zukunft erinnert an „Snowpiercer“. Das Motiv der Reise ins Herz der Finsternis, um einen Mann zu töten, geht bis auf Joseph Conrad zurück und wurde im Kino etwa von Francis Ford Coppola in „Apocalypse Now“ variiert. Leider gehört „Humanoid“ nicht zu den Filmen, denen ihre direct-to-video-Machart dazu verhilft, aus ihren prominenten Vorbildern dahingehend Kapital zu schlagen, dass es gelingen würde, deren Motive neue Facetten abzugewinnen, Dinge zu thematisieren, die das höher budgetierte Kino nicht behandeln kann oder will.

Dabei beginnt der Film durchaus fulminant. Mit der Vision einer Zukunft wie sie abgefuckter kaum sein könnte, in der alle Lebensfreude ausgelöscht scheint und alle „Pleasure Models“ (künstliche Sexsklavinnen) nicht mehr über die erlebten Traumata hinwegtrösten können. Spätestens aber mit dem Beginn der Reise wendet sich das Blatt. Die Atmosphäre bleibt auch weiterhin und buchstäblich eisig, der Film ermüdet aber nun mit seinen ausgewalzten bisweilen auch relativ blutigen Actionszenen zunehmend.

Am Ende dann werden alle Grenzen zwischen Gut und Böse neu verlegt. Die sich schließlich nur noch gegen die Noids richtenden Rassenreinheitsressentiments der ihm von Anfang an feindlich gesinnte strohblonde Soldatin Bishops, deren Bibel „Mein Kampf“ ist, werden ad absurdum geführt. Bishop, der seinen missionarischen Eifer schon im Namen trägt, darf eine aus Menschen und Humanoiden zusammengesetzte Bande in neue Schlachten führen. Ob die Tatsache, dass er an den eigentlichen Verursachern seines Leids hier keine Rache mehr nehmen kann, nun eine Unterwanderung von Genrekonventionen darstellt oder man sich das nur für eine Fortsetzung aufspart, wird sich zeigen. So oder so: Uns erwarten eisige Zeiten.

Sieben Minuten nach Mitternacht

(USA/ES 2016, Regie: Juan Antonio Bayona)

Trauer, Traum, Fabelbaum
von Drehli Robnik

Wenn in diesem Fantasy-Familiendrama das Bild zerrinnt, dann liegt das an der Aquarell-Optik einiger Visionssequenzen – und daran, dass wir weinen. (Zumindest ich.) (Aber wohl nicht nur ich.) Ein schmaler, …

Wenn in diesem Fantasy-Familiendrama das Bild zerrinnt, dann liegt das an der Aquarell-Optik einiger Visionssequenzen – und daran, dass wir weinen. (Zumindest ich.) (Aber wohl nicht nur ich.) Ein schmaler, von Bullies bedrängter englischer Schulbub (intensiv: Lewis MacDougall) muss lernen, mit seiner hantigen Oma (imposant: Sigourney Weaver) zurechtzukommen und vice versa, während seine Mutter in Chemotherapie – und der in Amerika lebende Vater nur kurz zu Besuch – ist. Die ritualisierten Begegnungen mit einem erzählfreudigen Baummonster um ‚Sieben Minuten nach Mitternacht‘ (Originaltitel: ‚A Monster Calls‘) werden ihm zu einem Ausweg, der nicht Flucht ins Fabulieren heißt, sondern Umnutzung des Märchenhaften zur Trauertherapie.

Krebs bleibt Krebs, Kitsch bleibt Kitsch – beides hier aber mit unerwarteten Wendungen; dazwischen kracksen und knirschen Holz und Haus und lässt die Bassstimme des Baumes uns Weinende wummern. Intimes und Monströses rinnen ineinander, ebenso die moralischen Zuschreibungen und Wertungen von Figuren und Handlungen. All das Bersten führt doch nur die Ohnmacht zur Einsicht – zum Sich-Arrangieren damit, dass Wünsche und Ängste quer zur Gut-Böse-Moral liegen und dass Schmerz nichts Edles an sich hat.

Gott ist tot, und den Sozialstaat haben wir umgebracht: Wie in den vorigen, ebenfalls schwelgerisch schönen Schreckensfilmen des Spaniers J.A. Bayona – ‚Das Waisenhaus‘, ‚The Impossible‘ – geht es um Familien, die sich beschädigt durch Angsterfahrungen und Traumata wursteln und fragile Strukturen einer nur relativen Geborgenheit als das, was an Lebensressource bleibt, anzuerkennen lernen. Und wie in den genannten Filmen, sowie seinem nächsten, einem Sequel zu Jurassic World‚, hat Geraldine Chaplin, Tochter des gleichnamigen Charlie, hier einen Kurzauftritt.

Victoria – Männer & andere Missgeschicke

(FR 2016, Regie: Justine Triet)

Selten innerer Frieden
von Wolfgang Nierlin

Im Gegensatz zu ihrem Namen lebt die Titelheldin aus Justine Triets Film „Victoria – Männer & andere Missgeschicke“ eher in ihren Niederlagen. Gleich zu Beginn der turbulenten Komödie fragt sich …

Im Gegensatz zu ihrem Namen lebt die Titelheldin aus Justine Triets Film „Victoria – Männer & andere Missgeschicke“ eher in ihren Niederlagen. Gleich zu Beginn der turbulenten Komödie fragt sich die alleinerziehende Enddreißigerin: „Wann hat mein Leben angefangen, so den Bach runter zu gehen?“ Als gestresste Anwältin unter permanentem Zeit- und Arbeitsdruck kriegt Vicotria (Virginie Efira) den Kopf nicht mehr frei und verliert dadurch zunehmend die Kontrolle über ihr Leben. Liebe und Sex hat die attraktive Single-Frau durch Arbeit ersetzt („Ich bekomme meinen Orgasmus in der Regel bei der Arbeit.“), ihre beiden vernachlässigten Töchter verwahrlosen in der bunten, ziemlich chaotischen Wohnung, ihr Babysitter hat soeben gekündigt und, als wäre das nicht schon genug, gibt es auch noch Ärger mit ihrem schriftstellernden Ex-Mann. „Ich habe so selten inneren Frieden“, konstatiert Victoria, die gleichzeitig einen Psychoanalytiker und eine Hellseherin konsultiert, um ihre Probleme in den Griff zu bekommen.

Doch das ist erst der Auftakt zu einer Reihe absurder Verwicklungen, von denen Justine Triets überhitzte, tempogeladene „Satire über Sex und Beziehungen“ ebenso witzig wie geistreich erzählt. Denn bei einer skurrilen Hochzeitsfeier trifft sie nicht nur ihren alten Freund Vincent (Melvil Poupaud) wieder, der tags darauf unter den abstrusen Verdacht eines Mordversuchs an seiner Freundin gerät, sondern auch ihren früheren Mandanten Sam (Vincent Lacoste), einen jungen Ex-Dealer, der sich neuerdings um seine Zukunft sorgt und seinem Leben eine neue Richtung geben will. „Ich befinde mich in der Clean-Phase meines Lebens“, sagt der sympathische Loser, bevor er bei Victoria als persönlicher Assistent anheuert und überraschenderweise zum Ruhepol innerhalb des allgemeinen Chaos wird. Bald ist Sam nämlich nicht nur Victorias Au-pair-Junge und Seelentröster, sondern irgendwann auch noch ihr Anwaltsgehilfe und Liebhaber.

Auf die verdränge, ausgeblendete Liebe läuft Justine Triets romantische Komödie auf Umwegen und durch allerlei Turbulenzen hindurch nämlich zu. Das Chaos des Lebens und den emotionalen Ausnahmezustand ihrer konfusen Heldin inszeniert Triet als Gleichzeitigkeit der Ereignisse. Dabei überwindet sie spielerisch Raum und Zeit, pflegt ganz selbstverständlich den Austausch zwischen realen und absurden Ereignissen sowie denjenigen zwischen Therapiesitzungen und Gerichtsverhandlungen. Im Zoom aus der Vogelperspektive wird Victoria zur Stellvertreterin moderner Lebensverhältnisse und Befindlichkeiten. Und natürlich überschattet auch bei ihre öfters der Schein das Sein: „Unter meinen Fehlern schlummern enorme Qualitäten.“

Tiger Girl

(DE 2016, Regie: Jakob Lass)

Destruktive Selbstfindung
von Wolfgang Nierlin

Der misslungene Bocksprung mit hartem Aufschlag zu Beginn von Jakob Lass‘ Film „Tiger Girl“ ist symptomatisch für Maggies (Maria Dragus) persönliche und soziale Unsicherheit. Die junge, etwas unbedarfte Frau scheitert …

Der misslungene Bocksprung mit hartem Aufschlag zu Beginn von Jakob Lass‘ Film „Tiger Girl“ ist symptomatisch für Maggies (Maria Dragus) persönliche und soziale Unsicherheit. Die junge, etwas unbedarfte Frau scheitert an der Aufnahmeprüfung für die Polizeischule und landet stattdessen unter lauter Männern in einem Kurs für Sicherheitsdienste. Vor allem aber ist Maggie in ihrem Alltag, der weitgehend ohne Hintergrund bleibt, ständigen Übergriffen ausgesetzt. Unterwegs im Großstadtdschungel wird sie von allen Seiten bedrängt, genötigt und angegriffen. Der ruppige Refrain des gleichnamigen Songs der Berliner Band Großstadtgeflüster bringt ihre Unerfahrenheit auf den Punkt: „Denn du weißt nicht wie man Feuer macht.“ Und das Gelernte sei nichts mehr wert. Um zum Raubtier zu werden ist erst noch eine Schulung nötig, die natürlich auf den Großstadtstraßen stattfindet.

Und dazu bedarf es in Jakob Lass‘ unkonventionellem Coming-of-Age-Film erstmal einer „Lehrerin“ mit Streetcredibility. „Tiger“ nennt sich das toughe Mädchen, das in einem ausrangierten Bus mit Kleindealern abhängt und Maggie wie ein Schatten folgt. Immer wenn es für diese brenzlig wird, ist „Tiger“ mit ihrer überlegenen Stärke zur Stelle. Sie lässt sich nichts gefallen, wehrt sich, schlägt zurück. „Tiger“ ist eine Kämpferin, die provoziert und sich nicht anpasst. Mit gewieften Tricks schlägt sie sich durchs Leben und hat dabei immer das Herz auf dem rechten Fleck. „Sag, was du willst, dann kriegst du’s“, sagt sie zu Maggie. Deren Höflichkeit bezeichnet „Tiger“ als Gewalt gegen sich selbst. Doch unter „Tigers“ Einfluss wird Maggie zunehmend selbstbewusster und mutiger. In komischen Rollenspielen und mit provozierender Lust an der Täuschung „ziehen sie Leute ab“ und überschreiten dabei Grenzen.

Jetzt heißt Maggie „Vanilla, the Killer“ und was zunächst Spiel war, wird bald gewalttätiger Ernst. Im Zeichen weiblicher Selbstermächtigung werden Gewalt und Zerstörung für „Vanilla“ zunehmend zum Selbstzweck, bis sich die gelehrige „Schülerin“ offen gegen ihre „Lehrerin“ stellt und ihre Freundschaft zerbricht.

Die destruktive Selbstfindung seiner negativen Adoleszenz-Geschichte erzählt Lass allerdings nicht als soziales Lehrstück, sondern als trashige Komödie mit Anleihen beim Karatefilm. Mit seinem bereits in „Love Steaks“ erprobten doku-fiktionalen Stil behauptet der Regisseur eine Authentizität, die durch coole Genre-Referenzen zugleich ironisiert wird. In den lose, kaum erzähllogisch verknüpften Szenen aus dem ganz gegenwärtigen, gesellschaftliche Zusammenhänge ausblendenden Hier und Jetzt, geht es eben nicht um die wirkliche Wirklichkeit, sondern nur um die gestische Behauptung derselben. Streng genommen ist also auch die „Echtheit“ nur eine Attitüde und ein Mittel unter anderen für eine Unterhaltung, die mit viel rockigem Drive zwar kurzweilig und irgendwie cool ist, aber eben auch nicht mehr und vor allem auf die Dauer ziemlich redundant.

Mauerpark

(D 2011, Regie: Dennis Karsten)

Berlin, du bist so wunderbar
von Ricardo Brunn

Im Jahr 2005 wurde der amerikanische Fotograf David Burnett für seine Fotografien der Olympischen Spiele 2004 mit dem „World Press Photo Award“ ausgezeichnet. Das Besondere dieser Bilder war, dass die …

Im Jahr 2005 wurde der amerikanische Fotograf David Burnett für seine Fotografien der Olympischen Spiele 2004 mit dem „World Press Photo Award“ ausgezeichnet. Das Besondere dieser Bilder war, dass die Sportdisziplinen im Modus extremer Tiefenunschärfe aufgenommen wurden. Diese Tilt-Shift-Effekt genannte Technik lässt alle Objekte im Bildmittelgrund als Miniaturen erscheinen, weil Bildvorder- und Bildhintergrund unscharf bleiben. Gerade in der Sportfotografie, wo jede Bewegung, jeder Augenblick entscheidend sein können, verleiht dieser über eine Neigung der Bildebene in der Kamera (oder ein entsprechendes Objektiv) erzeugte Effekt den Bildern eine geradezu irreale Spannung. Auf gewöhnliche Orte und Objekte angewandt, überwiegt jedoch schnell der Eindruck schnöder Verkleinerung. Hinter dem durch die Unschärfen verengten Bildausschnitt kann im langweiligsten Fall die Idee stecken, das Bild für den Betrachter interessanter zu machen, als es ist.

Der Dokumentarfilm „Mauerpark“ von Dennis Karsten beginnt mit Totalen, die diesen Tilt-Shift-Effekt ebenfalls nutzen. Sie zeigen den Mauerpark in Berlin aus der Vogelperspektive. Sofort wird klar, hier geht es um Menschen in einem Mikrokosmos. Im Folgenden geben Anwohner, Zugezogene, Künstler, Alt-Raver und Jung-Hippies Interviews und ihre Sicht auf den Mauerpark preis. Weil der Film ein lebendiges Portrait im Sinn hat, bemüht er sich um ein größtmögliches Spektrum an Persönlichkeiten aus der näheren Umgebung des Parks. Da steht der glatzköpfige Ex-Marzahner Conny neben dem (tatsächlich nicht wie fünfzig Jahre alt aussehenden) Dr. Motte und dem fast schon stoischen BSR-Mann Horst, der als einziger nicht in der Nähe des Parks wohnt und somit ansatzweise einen Blick von außen repräsentiert. Leider sind die Aussagen der Interviewpartner nicht so vielfältig wie deren Herkunft geraten und pendeln sich allzu schnell auf den Vollsuffslogan einer bekannten Großstadt-Kinowerbung ein, um sich im weiteren Verlauf des Filmes in redundantem Geplauder zu verlieren. Berlin präsentiert sich einmal mehr als Partyhauptstadt im Feel-Good-Movie. Die eingesetzte Musik unterstützt das Lebensgefühl vieler Dauertouristen dieser Stadt zusätzlich. Nur der Müll nervt und die diffusen Pläne des Senats zur Bebauung des Geländes. Oder die Red-Bull-Trucks, die das Selbstgemachte und damit die Einzigartigkeit der ansässigen Bohème zu Grabe tragen. Was nach dem Film bleibt, ist das Bewusstsein, dass der Mauerpark eine riesige Spielwiese für allerlei kreatives Personal der Sonderbewirtschaftungszone Prenzlauer Berg ist. Und so sehr sich das Gefühl, dass da was geht im Prenz’lberg, auch auf den Zuschauer überträgt, es braucht dazu einfach keine 79 Minuten.

„Mauerpark“ leidet unter seiner Montage und der mangelhaften Strukturierung mit Tendenz zum Unkonkreten. Er schafft es nur selten, Figuren und Themen zu ordnen oder herauszuarbeiten. So werden dem Publikum im Verlauf des Filmes verschiedenste Musikgruppen und Solokünstler vorgestellt, deren Aussagen sich jedoch kaum voneinander abheben, dadurch Gewichtung verlieren und über den Film hinaus nicht im Gedächtnis des Zuschauers präsent bleiben. Stellenweise verliert sich der Film in der Masse seiner Figuren, verpasst es Überflüssiges auszusortieren. Da platzen die Basketball-Mädchen Evi und Maike mal eben unerwartet in die Erzählung, obwohl deren Geschichte schon 25 Minuten zuvor behandelt und zu einem sinnvollen Ende geführt wurde. Solche Momente fühlen sich an, als wollte der Regisseur auf Biegen und Brechen einen Langfilm aus dem Material stemmen, welches dem klassischen Reportagestil näher ist als dem forschenden Dokumentarfilm.

Bei aller ausladender Geste bezüglich seines Figurenrepertoires verweigert der Film vehement einen größeren Rahmen oder den von Maler Eldar im Film angesprochenen Perspektivwechsel. So passen auch die Aussagen der beiden Alt-DJ‘s Tanith und Dr. Motte zur Techno-Szene im vereinten Berlin nicht in den Film. Denn weder hat das etwas mit dem Mauerpark zu tun, noch spannt der Film einen Bogen und bezieht tatsächlich die Geschichte der Stadt Berlin in seine Betrachtungen mit ein, um zu erläutern, was an so einem Ort unter bestimmten (auch historischen) Bedingungen entstehen kann, wenn es von Staat und Gesellschaft mehr oder weniger zugelassen wird. Über die Geschichte dieses Ortes, der immerhin einmal Teil des Todesstreifens war, erfährt die Zuschauerin so gut wie gar nichts. Und auch Themen wie die Gentrifizierung, die direkt an der Mauerparkgrenze neue Mauern durch die Stadt zu ziehen begonnen hat, gehört eigentlich genauso zum Bild dieses Parks wie die rasant steigenden Mietpreise, die viele Anwohner bald in die Peripherie vertreiben werden. Plötzlich wirken da die extremen Unschärfen der Anfangsbilder wie die Scheuklappen eines Rennpferdes. Dahingehend verhält sich der Film kongruent zum Statement von Wladimir Kaminer: Alles abbauen, wegschmeißen und so tun, als wäre nie etwas gewesen. „Mauerpark“ von Dennis Karsten ist somit ein kurzweiliger, aber ebenso oberflächlicher Film über den Mikrokosmos eines Parks geworden, der kein Außen zu kennen scheint. Den Ansprüchen an einen Dokumentarfilm wird er damit allerdings nicht gerecht.

Gerhard Richter Painting

(D 2011, Regie: Corinna Belz)

Grauer Star
von Ricardo Brunn

Zugespitzt formuliert, stellt Gerhard Richter seit den 1960er Jahren der Postulierung vom Ausstieg aus dem Bild eine Idee des Bildes entgegen. Konsequent befragt er Genres, Techniken und Traditionen nach ihren …

Zugespitzt formuliert, stellt Gerhard Richter seit den 1960er Jahren der Postulierung vom Ausstieg aus dem Bild eine Idee des Bildes entgegen. Konsequent befragt er Genres, Techniken und Traditionen nach ihren Möglichkeiten im Angesicht ihrer vermeintlichen Abgeschlossenheit. Wenn schon alles gemalt wurde, was kann dann noch gemalt werden? Welchen Sinn macht es, sich im Hier und Jetzt mit Seestücken oder Vanitasmotiven zu beschäftigen? Das ist die eigentliche Leistung dieses erstaunlichen Künstlers: Gerhard Richter malt. Und er setzt sich dabei stets mit der Wahrnehmung von Wirklichkeit und den Erkenntnismöglichkeiten von Kunst auseinander. Für Richter ist die Welt unbegreifbar. Dies drückt er auf unnachahmliche Weise in seinen Bildern aus, wenn er aus fotografischen Vorlagen unscharfe Gemälde reproduziert oder einen Tisch – trotz Vermalung bis zur Unkenntlichkeit – ins Bild hinein behauptet. Am eindringlichsten wird das Thema der vermeintlichen Gewissheit des Sehens und damit des Bildes von Realität vielleicht in seinen Spiegelarbeiten behandelt, weil der Betrachter hier am direktesten in das Kunstwerk einbezogen wird. Er sieht sich in den Spiegeln und Glasscheiben seitenverkehrt, manchmal unscharf oder halbdurchsichtig und überlagert vom Raum dahinter oder davor und wird so in die Hinterfragung der Wahrnehmung mit eingebunden. Auch in den abstrakten Bildern, die seit Mitte der 1970er Jahre entstehen, wird der Betrachter mit seinem eigenen Blick und dem Drang etwas erkennen und durchdringen zu wollen konfrontiert. In den Überlagerungen und Verwischungen, die durch den speziellen Farbauftrag des Rakelns entstehen, meint er immer wieder objekthafte Strukturen ausmachen zu können, obwohl diese nicht vorhanden sind und er eigentlich auch darum weiß. In Richters Kunst liegt etwas Ungewisses, das sich aus der Unmöglichkeit einer vollkommenen Durchdringung der Wirklichkeit ergibt. Und erst, wenn man den Versuch aufgibt, in seinen Bildern etwas sehen zu wollen, wird es möglich zu fühlen und das Hoffnungsvolle in seiner Kunst zu entdecken.

In einigen hervorragenden Szenen ihres Dokumentarfilmes „Gerhard Richter Painting“ schöpft die Regisseurin Corinna Belz genau aus diesem Themenkomplex. Gleich zu Beginn des Filmes, in dem sie den mittlerweile über 80jährigen bescheidenen Star der Kunstwelt bei der Arbeit an einer Serie abstrakter Gemälde begleitet, lässt sie Richter eine Filmkamera aufbauen. Später sehen wir dem Maler dabei zu, wie er die Anwesenheit dieser Kamera während der Arbeit immer mitdenkt, unsicher wird und sich fragt, welche Konsequenzen seine gegenüber der Kamera geänderten Verhaltensweisen für die entstehenden Bilder wohl haben mögen. Permanent befragt Richter seine Kunst unter dem eigenen Blick, dem Blick anderer und dem Blick konkurrierender Bilder. So wird ein grüner Zaun am Straßenrand für den Künstler zu einem interessanten Objekt, obwohl dieser für die Zuschauerin ganz gewöhnlich scheint. Eine Grafik Picassos vergrößert Richter nur deshalb, um diese seitenverkehrt aufzuhängen und zu schauen was dann mit ihr und ihm selbst passiert und was dieses kleine Bild uns heute noch zu sagen vermag.

Leider bleiben diese Momente glückliche Sonderfälle in einem ansonsten unglücklich geratenen Film, denn es gelingt der Regisseurin nicht, diesem richtigen Ansatz eine formale Idee an die Seite zu stellen. Sie flüchtet sich stattdessen aus dem Atelier in das Umfeld des Malers und, was schlimmer wiegt, in Erklärungen. Diese geben zwar Einblick in die Akribie des Malers, dem selbst die Hängung seiner Bilder scheinbar alles abverlangt, und unterstreichen zugleich seine Scheu vor der Kamera und der Öffentlichkeit, doch den Blick auf sein Werk schärfen selbst die Archivmaterialien kaum. Auch die Anspielungen auf die Familiengeschichte Richters, als dieser einige Familienfotos durchsieht, bleiben unbeholfene Versuche, sich der Person abseits der Bilder zu nähern und sind ebenso unnötig und bemüht wie die Einbindung des Kunsthistorikers Benjamin Buchloh, der in einem arg gestellten Interview mit Gerhard Richter eifrig von dessen Malerei und dem Dahinter zu erzählen versucht. Dazwischen müssen die Assistenten Richters wiederholt ihre Tätigkeiten beschreiben. Viel lieber will man Richter malen sehen.

Dem ergrauten Star des Kunstbetriebes begegnet „Gerhard Richter Painting“ mit einigen Sehstörungen. Denn es ist der journalistische Blick der Regisseurin, der die Möglichkeit, dem Zuschauer die Malerei Richters nahe zu bringen, von vornherein verbaut, weil er die Kunst auf die Person reduziert. Es fehlt ein künstlerischer Blick, der den Protagonisten nicht nur versteht, sondern mithilfe dieses Verständnisses einen eigenen künstlerischen Standpunkt formulieren und eine Annäherung an das Unerklärbare wagen könnte. Stattdessen werden der Akt des Malens und die im Gesicht Richters ablesbare und seit jeher präsente Frage, was zu malen sei und wie es zu malen sei, durch den Erzählzwang gestört. Richters Gefühl des Ausgeliefertseins, das er einmal im Film anspricht, resultiert womöglich aus der Tatsache, dass die Regisseurin ihm allen Grund dazu gibt. Ironie des Schicksals ist es da, dass die Kamera, die Richter zu Beginn überlassen wurde – damit er den Prozess seiner Arbeit konsequent weiter filmen konnte, auch wenn das Filmteam nicht anwesend war – nur unscharfe Bilder produzierte. Das Sehen ist und bleibt ein unzuverlässiger Akt der Erkenntnis, das muss sich auch „Gerhard Richter Painting“ letztendlich eingestehen.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Gerhard Richter Painting‘.

Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes

(D 2017, Regie: Julian Radlmaier)

Der komische Aufstand
von Drehli Robnik

Manch eine Landschaft ist so schön – die kann gar nicht nur Privateigentum einer einzigen Person sein. Und: Wenn alle Italiener*innen zum Putzen aller öffentlichen WCs Italiens zur Verfügung stünden, …

Manch eine Landschaft ist so schön – die kann gar nicht nur Privateigentum einer einzigen Person sein. Und: Wenn alle Italiener*innen zum Putzen aller öffentlichen WCs Italiens zur Verfügung stünden, dann käme jede/r von ihnen nur alle 30 Jahre zum Putzen dran. Diese und andere Schrullen treten in ‚Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes‘ an, um die praktische Möglichkeit von Kommunismus zu veranschaulichen.

Bürgerlich beginnt’s zunächst in Berlins Kreativ- und Projektarbeitsmilieu: Kulturforum, Filmsubvention, Salonabend, Museumsbesuch. Dann heißt’s ab zur Apfelernte nach Brandenburg, der Liebe und HartzIV-Auflagen wegen. Kreativ gestaltet sich auch das Landleben unter Lohnarbeitszwang: Johanna Orsini-Rosenberg (aus den mit dem ‚Bürgerlichen Hund‘ motivisch verwandten Daniel Hoesl-Oesi-Farcen ‚Soldate Jeanette‘ und ‚Win Win‘) hält als gestrenge Agrarmagnatin ihrem entrechteten Pflückpersonal Reden voller Motivationspoesie: Aufrufe zum Lohnverzicht aus Solidarität gegen hinterlistige US-Obst-Trusts, zur ‚lustigen Ernte-Olympiade‘ (wer pflückt mehr im Akkord?), zur Rückkehr zu Kern-Tugenden (es geht um Äpfel, nicht um Pseudo-Sozi-Kanzler am Reichtumsstandort Österreich). Den Habitus jeweils der Bohème und des Kapitals kontrastiert der Film nun nicht etwa mit bodenständig-rauer Arbeitsalltagsrealität; vielmehr halten die Hackelnden in der Freakigkeit ihrer Klamotten, Marotten, Sprachen und Erfahrungen, Akzente und Zitate dagegen, tricksen, feiern, revoltieren, pilgern schließlich mit einem Bettelmönch, der mit Vögeln redet, gen Italien. Im letzten Drittel hat sich die Personnage des Films auf Camille, Hong und Sancho (Deragh Campbell, die Vollprofi im Cast, sowie Kyung-Taek Lie und Benjamin Forti) reduziert; sie ziehen durch ein sonniges Utopia, als sei es das Land Oz. Auf Grammophon und als Midi-Gedudel läuft dazu die ‚Internationale‘.

Wer nicht an die proletarische Macht zum Gemeinsamhandeln ohne Ressentiment glaubt (sondern womöglich an die Selbstgenügsamkeit der Kunst), wird in einen Windhund verwandelt – und sei es der Regisseur selbst, der am Ende seinen Film-im-Film beim Festival in Venedig präsentiert und sich pessimistisch über die nichtbesitzenden Massen äußert. Ihn, also sich, spielt der Wahlberliner Julian Radlmaier. In klaren Tableaus und schön steifen Reihum-Aufsagern nimmt er sich’s von Godard, Achternbusch, Buñuel, Rossellini, Pasolini und gibt es uns mit großer Geste: Roadmovie, Märchen, Wunder, Debatten, Witze. Manche davon – zumal jene mit einem falsch auf heutige Situationen applizierten altlinken Genossen-Jargon – mühen sich. Insgesamt aber ist hier ein ‚Kommunismus ohne Kommunisten‘ das Ziel einer so hochreflexiven wie clownesken Komödie ohne Komödiantisches: statt Gags die Anmutung von deren Ankunft. Wie der Kommunismus ist auch der Schmäh im Kommen; und oft kommt er ja auch gut. Und mit Radlmaier, wie er hängenden Hemdes in der Non-Lovestory seines dffb-Abschlussfilms (und abendfüllenden Regiedebüts) zappelt, geht auch ein veritabler Slapstick-Gebrauchswert lockig im Hier und Jetzt um: ein Hauch von Woody Allen aus jener Zeit, als er noch leiwand und bananas war. Auch dass Radlmaier aussieht wie Heath Ledger, freut das Auge und dient der Sache.

Hier gibt es eine weitere Kritik zum Film.

traumhaft weg

Der traumhafte Weg

(DE 2016, Regie: Angela Schanelec)

Trost durch Schönheit
von Wolfgang Nierlin

Kenneth und Theres, ein Paar, das reist und musiziert ist Mitte der 1980er Jahre in Griechenland unterwegs. Die beiden gehen auf steilem Weg durchs Gelände, sie sitzen am Straßenrand und …

Kenneth und Theres, ein Paar, das reist und musiziert ist Mitte der 1980er Jahre in Griechenland unterwegs. Die beiden gehen auf steilem Weg durchs Gelände, sie sitzen am Straßenrand und singen sehr schön „The lion sleeps tonight“. Geld fällt in ihre Mütze. Auf einer Demo ist vom „neuen Europa“ die Rede und vom Pioniergeist Griechenlands. Dann telefoniert Kenneth nach Hause, erfährt, dass seine Mutter ins Koma gefallen ist, bricht zusammen, wird gehalten.

Der Ausschnitt und die Details stehen in Angela Schanelecs neuem, sehr beeindruckendem Film „Der traumhafte Weg“ für das nicht erklärbare Ganze. Im Geiste Robert Bressons zeigt sie, aufgenommen von ihrem renommierten Bildgestalter Reinhold Vorschneider, immer wieder bestimmte Körperpartien wie Hände und Füße, einzelne Gegenstände oder auch bewusste, sorgsame Bewegungen. Intime Handgriffe verdichten auf behutsame Weise das Wesen einer Handlung, erschließen im Sinne von Heideggers Begriff der ‚Zuhandenheit‘ gewissermaßen das Dasein. Zugleich sind sie sinnlich, konkret und überzeitlich. Ohne äußerliches Altern bleiben auch die Figuren, währen die erzählte Zeit etwa dreißig Jahre umfasst. Doch Angela Schanelecs filmische Ästhetik zielt nicht auf Mimesis: So wie das antinaturalistische Spiel ihrer Figuren Abstand hält und ein Nachahmen von Emotionen meidet, verweigert sich die Struktur ihres Films der Erzählung, ist offen und stark elliptisch gefügt. Das Abwesende spricht aus den Lücken. Deshalb interessiert sich die Filmemacherin auch weniger für Begründungszusammenhänge, sondern vielmehr für unterbewusste Verbindungen, die in symbolischen Handlungen liegen.

Zurück in England besucht Kenneth (Thorbjörn Björnsson) seine kranke Mutter und seinen nahezu blinden Vater. Er sehe nur Schatten und Licht, keine Farben und sich selbst nur als Fleck im Spiegel, sagt er. Jahre sind vergangen, Kenneth nimmt noch immer Heroin und im Fernsehen heißt es, dass die Grenzzäune des Ostblocks fallen. Dann beschließen Vater und Sohn, der Mutter mit Morphium beim Sterben zu helfen. Später legt sich Kenneth in eine frisch ausgehobene Grube im Wald, bedeckt sich mit Erde, als wolle er zurückkehren in den Mutterleib. Früher im Film sagt er einmal zu seinem Vater: „Ich bin gläubig. Aber mein Gott hilft mir nicht. Er gibt mir keine Kraft.“ Kenneth, der immer wieder über sein abgenutztes Schuhwerk ins Bild gesetzt wird, taucht irgendwann später als Obdachloser in Berlin auf.

Seine Geschichte mit Theres (Miriam Jakob), die in der erzählten Gegenwart des Films mittlerweile ebenfalls in Berlin lebt, verwirklicht sich nicht. Der Schatten des Todes verbindet die beiden. Gespiegelt wird das Motiv der Trennung wiederum in der scheiternden Liebe zwischen der Schauspielerin Ariane (Maren Eggert) und dem Anthropologen David (Phil Hayes), worunter vor allem die gemeinsame Tochter leidet. Ariane ist einsam und trinkt. David sucht sich eine neue Wohnung. Wenn sich bei der Besichtigung des Apartments die elektrisch gesteuerte Jalousie langsam schließt und kurz darauf wieder öffnet, ist das wie eine kleine Reise durch die Dunkelheit zum Licht. Doch Angela Schanelecs Film „Der traumhafte Weg“ findet nicht zur Hoffnung oder gar zu einer Synthese für die Widersprüche des Lebens, sondern allenfalls zu einem Trost, der aus der Schönheit kommt.

Die Schlösser aus Sand

(FR 2015, Regie: Olivier Jahan)

Lauter Abschiede und ein Neubeginn
von Wolfgang Nierlin

Fünf Jahre lang waren die Fotografin Éléonore (Emma de Caunes) und der Geschichtsdozent Samuel (Yannick Renier) ein Paar. Und im Grunde gehören sie auch nach ihrer Trennung noch immer zusammen, …

Fünf Jahre lang waren die Fotografin Éléonore (Emma de Caunes) und der Geschichtsdozent Samuel (Yannick Renier) ein Paar. Und im Grunde gehören sie auch nach ihrer Trennung noch immer zusammen, auch wenn Samuel mittlerweile neu verliebt ist und Éléonore unter ihrer Einsamkeit leidet. Sie lebe in der Gegenwart, er in der Vergangenheit, heißt es über ihre gegensätzlichen Charaktere. Als Éléonores Vater stirbt, verdoppelt sich ihre Trauer und verwandelt sich schließlich in mehrere Abschiede. Denn die jetzt auf sich allein gestellte Éléonore ist aufgefordert, das schön gelegene, mit vielen Erinnerungen behaftete Haus in der Bretagne zu verkaufen. Und weil sie sich in dieser Angelegenheit unsicher fühlt, bittet sie Samuel, ihr zu helfen. „Das Paradies hatten sie schon erlebt. Jetzt konnte nur noch die Hölle kommen“, heißt es unheilschwanger und ziemlich übertrieben über das bevorstehende Wochenende.

Überhaupt ist die recht ausführliche Off-Erzählung in Olivier Jahans Film „Die Schlösser aus Sand“ ein Problem. In ihrem Gestus erinnert sie zwar von fern an Truffauts Adaption von Henri-Pierre Rochés Roman „Jules und Jim“, klingt letztlich aber sehr viel trivialer, um nicht zu sagen kitschiger. Vor allem degradiert die umfangreiche Schilderung von privaten Hintergründen und intimen Details die Bilder streckenweise zu bloßen Begleiterscheinungen. Daneben versäumt das Drehbuch von Jahan und seinem Koautor Diastème die Charaktere und Konflikte zu entwickeln. Vieles erscheint oberflächlich und unmotiviert. Außerdem versucht der Regisseur, durch die wiederholte Durchbrechung der Illusion mit modernen Stilmitteln eine Tiefe zu suggerieren, die der Film leider nicht hat. Auch wenn dafür neben anderem ein Gedicht von Tomas Tranströmer bemüht wird, bleibt vieles sentimentale Stimmungsmalerei.

Der Tonfall des Films schwankt dabei zwischen Liebesdrama und Komödie. An den humorvollen Passagen wiederum hat vor allem die alleinstehende Immobilienmaklerin Claire (Jeanne Rosa) einen gewichtigen Anteil. In einer stimmigen Balance zwischen Nähe und Distanz erledigt sie die Geschäfte mit den potentiellen Kaufinteressenten, die mitunter ironisch, gar skurril gezeichnet sind, und verliebt sich dabei heimlich in das Ex-Paar. Durch gemeinsame Erinnerungen und Aufgaben findet sich dieses bald in alte Rollenmuster, Konflikte und Gefühle verstrickt. Schließlich verweist der Titel des Films auf jene fragilen Gebilde aus Sand, die schnell kaputtgehen, um danach in mühevoller Arbeit wieder aufgebaut zu werden. Olivier Jahnas kurzweilig-unterhaltender Film handelt in gleich mehrfacher Hinsicht von einem Neubeginn.

Nacktbaden – Manche bräunen, andere brennen

(GR/D 2016, Regie: Argyris Papadimitropoulos)

Fehlgeleitete Besessenheit im Partyparadies
von Nicolai Bühnemann

Zu Beginn kommt Kostis, ein Arzt Ende vierzig, auf Antiparos, einer kleinen griechischen Urlaubsinsel an, wo er seinen neuen Posten antritt. Es ist Winter. Er wird vom Bürgermeister der Insel …

Zu Beginn kommt Kostis, ein Arzt Ende vierzig, auf Antiparos, einer kleinen griechischen Urlaubsinsel an, wo er seinen neuen Posten antritt. Es ist Winter. Er wird vom Bürgermeister der Insel persönlich in Empfang genommen, man duzt sich hier, so erfährt er. Wir sehen ihn bei der Ankunft in seiner Wohnung. An der Supermarktkasse, wo ihm der Verkäufer mit dem Hinweis, dass er zu viel Tiefkühlprodukte kauft, etwas Gemüse aus eigenem Anbau schenkt. In seiner Praxis, wo er in zwei Szenen zunächst eine ältere Frau, dann etwas später einen Mann ebenfalls fortgeschrittenen Alters untersucht. Beim Essen in der örtlichen Wirtschaft, wo ihn der Möchtegernfrauenaufreißer des Ortes über die Vorzüge des Sommers hier aufklärt: internationale Muschis.

Argyris Papadimitropoulos, der mit „Suntan“ (deutscher Titel: „Nacktbaden – Manche bräunen, andere brennen“) seinen dritten Film als Regisseur vorlegt und auch das Drehbuch verfasste, kadriert seine extrabreiten Scope-Bilder (Seitenverhältnis: 2,66:1) sehr exakt, löst viele der Szenen in einer einzigen Einstellung auf, die jeweils komplett statisch und dementsprechend lang ist, denen die Langeweile auf der Insel zur off season förmlich eingeschrieben steht. Erst kurz vor der Titeleinblendung, die erst nach satten zwölf Minuten erscheint, kommt die Kamera in Bewegung, fährt von Kostis, der auf dem Bett in seiner Wohnung sitzt, zurück, so dass das Fenster ins Bild gerückt wird, durch das wir ihn nun sehen. Wir haben ihn, ohne irgendetwas über seine Biographie zu erfahren, als einen Mann kennengelernt, der so in seinem Leben eingeschlossen scheint, wie ihn die Kadrierung dieser Einstellung einschließt, die durch den Rahmen des Fensters verdoppelt wird.

Papadimotropoulos erzählt in einem Interview, dass er zu dem Film inspiriert wurde durch seine eigenen Aufenthalte auf Antiparos, wo auch zur Hochsaison mit echten Feiernden in der Disko und echten NudistInnen am Strand gedreht wurde, sowie durch die Lektüre Michel Houellebecqs. Wer dessen Schaffen kennt, insbesondere vielleicht seine Romane „Elementarteilchen“ und „Plattform“, weiß, dass das sexuelle Glück mittelalter Männer bei ihm selten von Dauer ist. Das gilt auch für „Suntan“, wobei der Film in einer Hinsicht noch ein Stück weiter geht als die beiden Romane, deren Protagonisten immerhin von der sexuellen Erfüllung kosten dürfen, nur um dann ganz schnell festzustellen, wie zerbrechlich ihr neugewonnenes Glück ist.

Nach dem Titel dann scheint zunächst alles anders zu sein. Die Kamera und der Plot kommen in Bewegung mit Eintritt des Sommers, der Saison, in der die Insel scharenweise Menschen auf der Suche nach hedonistischen Sinnenfreuden anzieht: Sex, Partys, Alkohol. Ins erstarrte Leben von Kostis kommt Fahrt, der sich auch in der Form, in den Bildern niederschlägt, die nun mit der Handkamera eingefangenen werden, als Anna (Elli Tringou) mitsamt ihrer internationalen Clique von jungen Feierwütigen seine Praxis eher stürmt als betritt. Die Beziehung von Kostis zu Anna, die nie ohne ihre Entourage anzutreffen ist, hält für den Mann eine sich durch den ganzen Film ziehende Reihe von Demütigungen parat.

Das beginnt gleich beim Kennenlernen, wenn nicht nur Kostis Autorität als Arzt empfindlich dadurch in Frage gestellt wird, dass es der Gruppe ganz und gar nicht beliebt, seiner Aufforderung nachzukommen, vor seiner Praxis auf ihre Freundin zu warten, die sich beim Motorradfahren verletzt hat. Dann macht, während sich Kostis über Anna beugt, um die Wunde an ihrem Bein zu untersuchen, eine ihrer Freundinnen eine Bewegung, als würde sie ihn von hinten penetrieren. Seine Männlichkeit, seine phallische Kontrolle über die Situation wird dem Mann so mit einer einfachen Geste abgesprochen.

Und das setzt sich fort als Kostis, weiß wie ein Bettlaken, unbeholfen in seinen langen Klamotten über den Strand voller nackter und halbnackter, braungebrannter junger Menschen läuft, auf dem er so offensichtlich ein Fremdkörper ist. Einen vorläufigen Höhepunkt erreicht es aber mit ihm, als er, endlich am Ziel seines Begehrens angekommen, ebendieses nicht zügeln kann und beim Sex mit Anna an einem abgelegenen Strand viel zu schnell kommt. Von diesem Klimax geht es für ihn steil bergab bis zum absoluten Tiefpunkt.

Nach der erotischen Begegnung am Strand sind sie und die anderen plötzlich verschwunden. Fünf Tage lang, in denen Kostis durch das Nachtleben der Insel zieht. Zu viele Zigaretten raucht, zu viel Bier trinkt, die Feiernden um sich herum, die etwa nackt am Strand um ein Lagerfeuer tanzen, Geburtstag feiern. Mit dem misogynen Möchtegernmacho versucht, eine Frau aufzureißen, die ihm schließlich einen bläst, was auch keine echte Ablenkung von seinem Kummer bringt. Kostis ist allein, verloren, und Kamera und Inszenierung entwickeln auch hier ein sehr genaues Gespür für seine Einsamkeit, seine Verlorenheit inmitten der feiernden Massen.

Dann kommt Anna zurück. Auf Mykonos war sie, so erzählt sie zunächst ausgelassen. Auf die Szene, die er ihr macht, sich beschwert, dass sie ihm nichts gesagt hat, von ihrem Ausflug, seine Eifersüchteleien, reagiert sie zunächst verständnislos, dann mehr und mehr ungehalten. Sie fordert ihn auf, zu gehen, und von da an ist nichts mehr so, wie es war. Nicht mal mit eiskaltem Bier in der Mittagshitze kann er die Gruppe noch locken, die nackt in der Sonne brütet. Sie bräunen, er brennt. Für sie.

Er hat gegen eine ungeschriebene Regel verstoßen, indem er eine Obsession entwickelte, wo es für Anna nichts als Spaß und einen Urlaubsfick gab. Er wittert eine letzte Chance, nicht nur das nachzuholen, was er vielleicht in der eigenen Jugend verpasst hat, sondern seinem verwirkten Leben doch noch eine Wendung ins Positive zu geben. Anna ist für ihn, der sich wie ein Ertrinkender fühlt, der letzte Strohhalm, an den er sich erbarmungslos klammert. Die Tragödie, die sich aus diesem Zusammenprall zweier grundverschiedener und unmöglich miteinander in Einklang zu bringender Vorstellungen des Lebens ergibt, kostet der Film wiederum gnadenlos aus. Er verliert sie, die er doch niemals besessen hatte, seinen Job, seine Hoffnung. Vor allem aber sich selbst. „Davor war’s schöner allein zu sein“, heißt es in einem Song der Fantastischen Vier, für Kostis könnte man wohl eher sagen, nicht ganz so unerträglich.

Er, den wir in der Interaktion mit Anna als Kontrollfreak kennenlernen, hat nichts unter Kontrolle. Anna nicht und noch viel weniger seine eigenen Gefühle für sie. So kommt es zu einem letzten ganz und gar verzweifelten Akt, mit dem der Mann versucht, die Kontrolle wieder an sich zu reißen, die Frau, die nicht seine sein, nicht besessen werden will, sondern jung sein, ficken, saufen, tanzen und in der Sonne liegen will, doch zu besitzen, ganz für sich alleine zu haben. Der Film entlässt uns mit einem wahrlich verstörenden letzten Bild in den Abspann.

Wie „Spring Awakening“ wurde auch „Suntan“ von Pierrot Le Fou auf DVD und Blu-ray veröffentlicht. Leider beschränken sich auch wie dort die Specials auf einen Trailer und ein Wendecover. Für jemanden wie mich, der sich im griechischen Kino absolut nicht auskennt, ist es interessant zu sehen, was für ein kraftvolles, dringliches Kino derzeit aus diesem krisengeschüttelten Land kommt. Dass man dieses, auch wenn es wie dieser Film auf vielen internationalen Festivals zu sehen ist, hier nicht im Kino erleben kann, sondern nur zuhause auf Scheibe, ist sehr schade.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Nacktbaden‘.

Spring Awakening

(GR 2015, Regie: Constantine Giannaris)

Fotoalbum der Rebellion
von Nicolai Bühnemann

Vermummte DemonstrantInnen. Prügelnde PolizistInnen. Feuer. Graffiti. Lines auf einem Spiegel. Ein Konzert. Ein Mädchen, das ein Buch liest. Eine zerstörte Familie beim Essen am Tisch, der für einen mehr, einen …

Vermummte DemonstrantInnen. Prügelnde PolizistInnen. Feuer. Graffiti. Lines auf einem Spiegel. Ein Konzert. Ein Mädchen, das ein Buch liest. Eine zerstörte Familie beim Essen am Tisch, der für einen mehr, einen Toten gedeckt ist (eisig die Atmosphäre, Entfremdung pur). Eine Familienfeier (ausgelassen die Atmosphäre, doch der Jugendliche allein, isoliert zwischen all den Menschen, die ihm nahe stehen sollten, es aber nicht tun). Eine flüchtige Begegnung einer jungen Frau mit ihrer ebenfalls noch recht jungen Mutter in der Küche. Ein Gespräch über Verhütungsmittel. Danach die Scherben eines Glases auf dem Fußboden, über die ein nackter Fuß wandert (ein verdammt eindringliches, sich in die Erinnerung einbrennendes Bild). Ein Gruppenfoto mit Kalaschnikow und Colt (die unterschiedlichen Erzählungen der Waffen, der Revolver, der die Menschen gleich macht, das Sturmgewehr der Revolution, werden eins in den Händen einiger verirrter Jugendlicher). Ein Mädchen, das im Versteck sitzt und masturbiert, während sie auf ihren Freund wartet, der nicht ans Telefon geht. Zwei Männer, einer von ihnen der Freund des Mädchens, das auf ihn wartet, die miteinander ins Bett gehen.

Fünf jungen Menschen, an denen die Kamera langsam entlang fährt. Gebieterisch stehen sie da, im Hintergrund eine pittoreske Landschaft mit See und Hügeln. Der letzte von ihnen, auf dem die Kamera stehen bleibt, zieht schließlich eine Pistole, fuchtelt mit ihr herum. Von dieser Einstellung kann es eigentlich nur noch abwärts gehen. Und das tut es dann auch. All the way. (Wo 1987 in Alan Parkers „Angel Heart“ Mickey Rourke noch den Fahrstuhl hinab nahm, wo Robert De Niro auf ihn wartete, gehen die fünf Jugendlichen hier in der letzten Einstellung, die in einer Rotblende endet, ein langes Treppenhaus hinunter – in die Hölle, in der sie sich doch von Anfang an befanden, nur das ihre sowieso denkbar ungestüme Rebellion gegen die Verhältnisse nun endgültig gescheitert ist.)

Eine Szene oder eigentlich vielmehr ein Requisit bildet in „To xypnima tis anoixis“ (deutscher Titel: „Spring Awakening – Aufstand der Jugend“) ein Mise en abyme. Die weiblich Hauptfigur, Ionna (Daphne Patakia), entreißt ihrer Mutter einmal ein Album, von dem sie vorgibt, es für die Schule gemacht zu haben, in dem sich Zeitungsausschnitte über Gewaltverbrechen neben Fotos von vollautomatischen Waffen finden. Ein solches Album ist der Film von Constantine Giannaris. Ein Fotoalbum der Rebellion und des Aufstands einer Jugend, die viel zu sehr verloren scheint, gemeinsam in der Geschichte eines Landes am Abgrund und jede/r für sich in der eigenen Biographien, als dass es noch möglich wäre, ihre schwelenden Aggressionen politisch zu kanalisieren. Darin besteht – sicherlich nicht ausschließlich, aber doch wohl im Kern – ihre große Tragik.

Das schlägt sich schon in der Form des Films nieder. Immer wieder wird der Bilderfluss, der eh schon einen Teufel tut, sich für die Ansprüche einer Narration im engeren, konventionelleren Sinne bändigen zu lassen, unterbrochen von freeze frames, die, eben wie in einem (digitalen) Fotoalbum, gerahmt, in ein künstliches Sepia getaucht, mit allerlei optischen Effekten versehen, die Szenen festhalten, in denen sich die jugendlichen ProtagonistInnen befinden. So sehen wir auf diese Art Ionna auf dem Klo sitzend, rauchend. Und ein anderes Mal ist ihre Muschi zu sehen, die gerade geleckt wird. Aber davon abgesehen, dass die Schauspielerin Patakia den vier männlichen Darstellern um sie herum, den anderen Mitgliedern ihrer Gang, ziemlich gnadenlos die Show stiehlt, inszeniert sie der Film nie als reines Objekt männlicher begehrender Blicke. Vielmehr gehört zu dieser Muschi auch ein Kopf, der auf schließlich maximal zerstörerische Weise weiß, was er will.

Zu den eingefrorenen Bildern der Szenen, die ihre Ausweglosigkeit verdeutlichen, kommen im gleichen grafischen Stil gehaltene Bilder von Graffiti an den Wänden der Stadt, wir befinden uns in Athen, die das Geschehen weiter kommentieren („I shot the sheriff“, „Bullen – eure Kinder werden euch töten“, „Bewaffnet euch‘)

Natürlich kann man all dem erst einmal sehr skeptisch gegenüber stehen, muss man den suggestiven Einsatz von Affektbildern, wie sie der Film praktiziert, nicht gutheißen. Ja, an jeder Straßenecke scheint hier die Gefahr zu lauern, in reine Revolutionsfolklore abzurutschen, wie man sie im Kino zum Beispiel aus dem schrecklichen „Mandela – Long Walk to Freedom“ kennt. Jedoch vor all dem, jeder berechtigten Skepsis entgegenstehend ist in „Spring Awakening“ die Dringlichkeit, mit der der Film eine selten gesehene Intensität entwickelt.

„Gewalt war auf einmal schön,“ sagt einer der Jugendlichen in dem Polizeiverhör, das den Rahmen der Erzählung bildet, das verdeutlicht, wir kennen das aus den retrospektiv vom Ende her erzählten Voice Overn im Film Noir, die sich wie ein fatalistischer Schleier über die eigentliche Handlung legen, dass das alles kein gutes Ende nehmen wird. Diese Rahmung durch die Verhöre, in denen den jugendlichen Verdächtigen oft brutale Gewalt angetan, der Albaner unter ihnen darüber hinaus auch rassistisch beleidigt wird, setzt nach ihrer grausamen Tat den gesellschaftlichen Zwang, den sozialen Druck fort, der sie erst zu dieser getrieben hat, ja, verschärft ihn noch.

In dem mörderischen Verbrechen kann man dann gut beobachten, wie die letzten Reste von politischer Legitimation der Gewalt schwinden, wie das Es sich über das Über-Ich erhebt – wie es nun einmal in aller interessanten Kunst zu geschehen pflegt. Dass die Opfer Deutsche sind, bei denen Ionnas Mutter als Masseurin arbeitet, mag man noch als die Verteilung der (ökonomischen) Macht im Griechenland in Zeiten von Wirtschaftskrise und Austeritätspolitik erkennen, die Tat läuft dann aber auf nichts anderes als auf persönliche Bereicherung und Rache hinaus. Die Verhältnisse sind zu stark, zu übermächtig, um sie verändern zu können. Alles worauf die Rebellion noch hinaus kann, ist grenzenloses Leid unschuldiger Menschen. In einer nicht endenden Spirale der Gewalt reproduziert sie genau die Machtverhältnisse, denen sie zuallererst entsprungen ist. Stark ist, wer die Waffe in der Hand hat – aber auch das nicht für lange Zeit.

Giannaris hat einen ohnmächtig wütenden Film gemacht, wie er im Kino der Gegenwart selten geworden ist. Als Referenz fällt mir eigentlich nur der natürlich ästhetisch vollkommen anders gelagerte, eher Scorseseeske „Menace II Society“ der Hughes Brothers ein oder auch Brian De Palmas vielleicht pessimistischster Film „Blow Out“. Darüber hinaus gelingt es Giannaris wie wenigen RegisseurInnen der Gegenwart, ganz und gar visuell zu erzählen. Der Film kommt über weite Strecken mit sehr wenig bis gar keinem Dialog aus.

Dass ein so aufregender, düster energiegeladener Film wie dieser, glaubt man der IMDb, nirgends außer in seinem Herkunftsland einen Kinostart bekommen hat, ist schon ziemlich traurig. Immerhin kommt der Film nun in Deutschland bei Pierrot Le Fou auf DVD, Blu-Ray und als Video on Demand heraus. Leider ist diese Edition, von der ich mir gewünscht hätte, dass sie den Film mit umfangreichem Bonusmaterial in den gesellschaftlich historischen Kontext seiner Entstehung einbindet, denkbar spartanisch ausgefallen. Mit an Bord sind nur ein Trailer und ein Wendecover – sonst nichts.

Guardians of the Galaxy Vol. 2

(USA 2017, Regie: James Gunn)

Daddy Issues im Familien-Business
von David Auer

Disney/Marvel ist ein guter Papa, zumindest für all jene Regisseure, die sich das monströse Unternehmen für sein Superhelden-Franchise ins Boot holt, welche nicht zu sehr aufmucken. Der eine oder andere, …

Disney/Marvel ist ein guter Papa, zumindest für all jene Regisseure, die sich das monströse Unternehmen für sein Superhelden-Franchise ins Boot holt, welche nicht zu sehr aufmucken. Der eine oder andere, manchmal direkt aus dem Indie-Becken gefischte Blockbuster-Debutant in spe (wie Taika Waititi – „What we do in the Shadows“, „Hunt for the Wilderpeople“ -, der soeben den dritten „Thor“ inszeniert) darf nämlich gern seine Eigenheiten, für die er in „der Szene“ bekannt ist, auf der Leinwand ausleben, das einzelne Produkt muss dennoch in den Bahnen des Konzerns fließen (zumal diese ja immer in einen „Avengers“-Phasenabschlussfilm münden müssen). Kompromisse werden gerne eingegangen – z. B. ist es Shane Black in „Iron Man 3“ durchaus gestattet, seinen immerwährenden Buddy-Comedy-Vogel auszuleben, sofern der Film brav mit dem Genre-üblichen Spektakel-Overkill endet –, dienen sie doch dem absichtsvoll berechenbaren Apparat als regelmäßig verordnete Frischzellenkur und Marketingvehikel. Zu viel Eigensinn wird jedoch bestraft: Edgar Wright fand aufgrund „kreativer Differenzen“ letztendlich keinen Eingang ins Familien-Business (an seiner statt hat der eh okaye Peyton Reed den recht schmunzeligen, aber bis auf ein paar atemberaubende Groß-Klein-Modulierungs-Effekte konventionellen „Ant-Man“ fürs Kino inszeniert).

Nicht jeder weist derlei Künstlerallüren wie Wright auf, der mit „Scott Pilgrim vs. The World“ bereits bewiesen hat, dass er Comic-Panels und Leinwand bestens zu versöhnen weiß (und die beschränkte Ästhetik des Marvel Cinematic Universe, MCU, ein paar Jahre vor seinem Engagement locker bereits weit hinter sich gelassen hat). Die meisten sind, und sie werden nicht müde, es zu betonen (vermutlich auch, weil es in ihrem Vertrag verankert ist), über alle Maßen dankbar für die Chance, die ihnen das Studio bietet. Ein fast schon infantiles Ausmaß nimmt diese Dankbarkeit bei James Gunn, auch Superhelden-Verfilmungs-erfahren (grimmig-skurril: „Super“), an, der seine Fans auf Facebook euphorisiert dafür feiert, dass sie so zahlreich Tickets für sein „Baby“, „Guardians of the Galaxy“, eingelöst haben. Weltweit hat der erste Teil nämlich knapp 800 Mio. Dollar eingenommen, weshalb es wenig verwundert, dass er auch gleich die Fortsetzung übernommen hat.

Gespannt darf man sein, was er über die Dreharbeiten zu „Guardians of the Galaxy Vol. 2“ zu erzählen hat (vielleicht Ähnliches wie Joss Whedon, der nach „Avengers: Age of Ultron“ wie ein verzogener Bengel lautstark gegen Disney wetterte?), denn darin reflektiert er eine möglicherweise widersprüchliche Erfahrung mit dem Mutter-, Pardon, Vaterkonzern, zumindest wenn man dessen Geschehnisse grob allegorisch fasst. Im Zentrum steht der sich unbewusst seiner Ahnenlinien gewisse und dementsprechend selbstbetitelte draufgängerische Star-Lord Peter Quill, der wie auch im Vorgänger am Tod seiner Mutter und der Abwesenheit seines Vaters leidet. Als der ihn nun eines Tages auffindet, ist der Sohnemann hellauf begeistert. Eine Begeisterung, die schnell weicht, sobald ihm der von Kurt Russel lässig-größenwahnsinnig verkörperte Patriarch, der ausgerechnet Ego heißt, seine Pläne offenbart: Ein Mensch ist er nämlich nicht, sondern ein Gott, der sich eine Welt (genauer: einen Planeten) nach seinem Ebenbild erschuf und überall im Universum seinen Samen verstreut, „until everything is me“, wie er einmal sagt. Grob kann man darin die Integrationsmanie Disneys erkennen: Neben jeder Marvel-Figur, deren Rechte nicht schon im Besitz eines konkurrierenden Studios liegen, versammelt das Haus mit der Maus neuerdings auch Lucas Film unter seinem Dach und appliziert das MCU-Prinzip auf „Star Wars“, dessen zentraler Konflikt ebenso der zwischen herrschsüchtigem Vader und rebellischem Sohn ist.

Nicht nur erzählerisch nähert sich Gunn also einem der Ur-Franchises an: Das verschlissene Innenleben der Raumschiffe, die Vielfalt im Creature-Design, die divers zusammengewürfelte Kerncrew aus teils kriminellen Misfits, das Gefühl, im Kosmos würd‘s nur so vor sich hinwuseln: „Guardians of the Galaxy Vol. 2“ atmet mehr alten Sternenkrieg-Staub als „The Force Awakens“ oder die über weite Strecken misslungenen, jedoch ambitionierten Prequels. Und genauso wie deren CG-Welten wirkt auch die von Papa Ego zu glatt, leblos, forciert durchkomponiert und –kalkuliert. Gunn spielt also im Kampf Herkules (Star-Lord als Halbgott) gegen Narziss (Ego als selbstverliebter Geck, der sich selbst zwanghaft ins Außen spiegelt) Chaos gegen Ordnung, vermeintlich gewachsene Echtheit gegen gemachte Künstlichkeit aus – und das stößt auf, nicht nur aufgrund des Anti-Imp-Pathos, der sich im Kampf der Rebellen bzw. Wächter gegen das „Empire“ (Negri/Hardt/Lucas) ausdrückt. An den Zeitgeist linkester Prägung schmiegt sich auch die Patchwork-Emphase an, die in der biologischen Herkunft allein das Böse, Zerstörende sieht und im selbst gewählten Bandenwesen das Antidot gegen Patriarchat, Imperialismus, Kapitalismus und was sonst noch an zu Reklameformeln verstockten Schlagworten den tendenziell in bloßem Schwarz-Weiß-Schema denkenden Social Justice Warriors allzu leicht von der Zunge rollen, wenn es um die allzu schnelle Identifizierung des Unheils geht. Sogar die buntgescheckten Schwestern Nebula und Gamora legen ihre lebenslange Fehde beiseite, als sie erkennen, dass die schwarze Pädagogik von Daddy Thanos daran Schuld ist (und nicht nur Kenner erkennen in ihm wiederum Anschlusspotential ans Großprojekt, in das Star-Lord und Co. bald integriert werden).

Verwässerter Ödipus und Mythos, der als Pop wieder in sich selbst umschlägt: Die Marvel-Fanboys und -girls erkennen sich darin bereitwillig wieder, werden den zweiten „Guardians“ genauso pflichtbewusst abfeiern wie den ersten und gleich einem Uhrwerk gegen den vermeintlichen farblosen Konservatismus Zack Snyders online zu Kriege ziehen (der gemeinsam mit DC zurzeit am bisher besseren Comic-Franchise arbeitet). Man kann es ihnen nicht verübeln, denn sowohl die bunte Lolipop-Ästhetik als auch das im besten Sinne weirde Figurenensemble, das u.a. aus dem zynischen sprechenden Waschbären Rocket, dem wortkargen Babybaumwesen Groot und dem Muskelprotz Drax, der alles wörtlich nimmt, besteht, nötigen einem schlichtweg mehr an Fun-Affirmation ab. Es letzterem gleichzutun und James Gunns fantasievoll und rasant inszenierte Marvel-Weltenerkundung ostentativ nicht-allegorisch zu verstehen, als „bloßen“ jolly good ride also, tut auch niemandem weh (was eben vielleicht auch das Problem ist, aber … ja eh), besonders wenn am Schluss sogar ein paar verdiente tearjerker-Momente für nah am Wasser Gebaute dabei abfallen.

Get Out

(USA 2017, Regie: Jordan Peele)

Black Lives Matter, White Lies Splatter
von Drehli Robnik

Der Titel gibt schon mal ziemlich viel her: ‚Get Out‘ ist so prägnant wie mehrdeutig. Welches Innen und Außen ist da gemeint? Wem gilt die Aufforderung ‚Raus hier!‘ – beim …

Der Titel gibt schon mal ziemlich viel her: ‚Get Out‘ ist so prägnant wie mehrdeutig. Welches Innen und Außen ist da gemeint? Wem gilt die Aufforderung ‚Raus hier!‘ – beim ersten Besuch eines jungen Fotografen (Daniel Kaluuya) im Landhaus der Eltern seiner Freundin (Allison Williams)? Er ist schwarz, die Eltern (Catherine Keener, Bradley Whitford) sind weiß und unerwartet scheißfreundlich (fast schon zu sehr), ihre Hausbediensteten schwarz und von altvaterisch gezierter Höflichkeit. Alles sehr seltsam.

Dies ist ein satirischer Horrorfilm, und zwar ein superer. Also widmet er sich, wie es sein soll, der Ergründung von Lebensweisen – und das heißt, über die Habitus-Analyse hinaus, der überraschenden Offenbarung einer regelrechten Seinsstruktur: eines Verhältnisses, das die Chiffre ‚Black Lives Matter‘ hier ebenfalls mehrdeutig benennt. Selbsterkenntnis als gefährdet für die einen, Erkennen anderer in ihrer Rolle als Abschöpfer von Alltagslebensenergie (also etwa die Beziehung initiationsbereiter weißer Jugendlicher zum Arbeitsmarkt im schwarzen Monteursoverall eines Michael Myers oder zu jener umfassenden Mediatisierung des Lebens, für welche die Hexe von Blair als Name des Unaussprechlichen steht, das Gesellschaft ist) – das heißt in ‚Get Out‘: Schwarze Leben sind, zumal in ihrer sozial ‚ausgesetzten‘ Materialität, höchst kostbar: Das erfährt nicht nur der junge Besucher mehr und mehr am eigenen Leib. Es gilt auch für seine Gastgeber, die keineswegs Rassisten sind, sondern beflissene liberals: Blackness ist ihnen etwas ausgesprochen Begehrenswertes – und das nicht nur in dem Sinn, dass sie, wenn sie gekonnt hätten, für eine dritte Amtszeit Obamas gestimmt hätten, wie der joviale Dad sagt. Alles Begehren, alle Projektion geht hier tiefer, näher, und das in einer Weise, die so klar, straightforward und sinnvoll mit den Details einer vertrackten sozialen Situation umgeht, dass schon allein das staunen macht.

‚Get Out‘ ist das Regiedebüt eines schwarzen Komikers: Jordan Peele brillierte 2016 in der Gangster-Thug-Life-Projektionen-Satire ‚Keanu‘. Dass der Mann nicht aus den von weißen Nerds und Handwerkern dominierten Produktions- und Diskursmühlen des Horrorfilms kommt, ist mit ein Grund, warum in ‚Get Out‘ vom Motiv-Repertoire dieses Genres ein Gebrauch gemacht wird, der sich weit jenseits von Auskennermechanik und Retrogesten ansiedelt. ‚Rosemarys Baby‘ und ‚Die Frauen von Stepford‘ (eher der alte aus den Seventies) liegen als Vergleichstitel nahe: Ihr perfider Humor, ihr konspirativer Weltentwurf und Sinn für die Gewalt von Bildungsmilieus rahmt ein ‚Rat mal, wer zum Essen kommt‘-Szenario. Auch Carl Theodor Dreyers Paranoiaklassiker ‚Vampyr‘ klingt hier zu dissonanten Harfenklängen und ‚Omen’ösen Chören an, sowie nicht zuletzt Eli Roths ‚Hostel‘-Filme (zumal Teil 2), moderne Klassiker in Sachen Ergründung einer Geheimökonomie radikalisierter Ausbeutung zwecks Reproduktion weißen Wohlgefühls. Folter? Nein. (War auch in ‚Hostel‘ nicht das Um und Auf.) Aber Zerren an den Nerven, erst zart, dann immer fester. Und Wellness-Satire, die irgendwann in den Lifestyle-Reproduktions-Ort im Hobbykeller mündet. Außerdem: Klassen sind Sekten, das heißt, sie sind geschlossene Ensembles, und – es gibt sie doch.

Statt zu spoilern sei es so gemach wie’s die Regie hier tut: Hintergründiges andeuten, Verhängnisvolles in den Raum stellen – und abrupt umschneiden. Das praktiziert ‚Get Out‘ mit einer nachgerade choreografischen Eleganz, in klaren Bildern und pointierten Rhythmen, die in die Griffigkeit von Mad Scientist-Horror und Typenkomik rund um eine so beleibte wie beherzte Helferfigur münden. Der Low Budget-Film war in den USA ein viel diskutierter Riesenerfolg; ein solcher ist ihm auch in diesen Breitengraden zu wünschen. Übrigens kommt ‚Get Out‘ beim zweiten Mal anschauen noch besser als beim ersten Mal, also am besten gleich zwei Kinokarten kaufen.

Hier und hier gibt es weitere Kritiken zu ‚Get Out.‘

Get Out

(USA 2017, Regie: Jordan Peele)

Kollektiver Albtraum der amerikanischen Zivilgesellschaft
von Nicolai Bühnemann

Über „Get Out“ schreiben heißt rund zwei Monate nach seinem regulären Kinostart in den USA nicht mehr nur über einen Film schreiben, sondern über ein gesellschaftliches Phänomen. Das Regiedebüt von …

Über „Get Out“ schreiben heißt rund zwei Monate nach seinem regulären Kinostart in den USA nicht mehr nur über einen Film schreiben, sondern über ein gesellschaftliches Phänomen. Das Regiedebüt von Comedian, Schauspieler und script writer Jordan Peele, der auch hier das Drehbuch verfasste, ist momentan der zweiterfolgreichste Horrorfilm mit einem R-Rating aller Zeiten nach William Friedkins „The Exorcist“. Er spielte bislang allein in den USA 189 Millionen Dollar ein, wobei im Publikum unter den drei wichtigsten ethnischen Gruppen des Landes mit 39 Prozent AfroamerikanerInnen am meisten vertreten waren. Der Film hält derzeit bei dem Kritikbarometer Rotten Tomatoes ein Ergebnis von 99 Prozent positiven Kritiken. Die Superlative ließen sich noch eine ganze Weile fortsetzen, aber es reicht wohl zu sagen, dass „Get Out“ augenscheinlich den Geist seiner Zeit mitten ins Schwarze (no pun intended) getroffen hat. Es fragt sich nur, warum dem so ist.

„Get Out“ erzählt von dem jungen Chris (Daniel Kaluuya), der mit seiner Freundin Rose Armitage (Allison Williams) eine kleine Reise plant, um seine künftigen Schwiegereltern kennenzulernen. Da diese einer gebildeten und aufgeklärten Oberschicht angehören, die Mutter Missy (Catherine Keener) ist Hypnotherapeutin, der Vater Dean (Bradley Whitfford) ein Neurochirurg, der Chris gleich zu Anfang versichert, dass er, wenn es denn möglich gewesen wäre, gerne noch ein drittes Mal für Obama gestimmt hätte, sollte es eigentlich keine Rolle spielen und tut es doch von Anfang an, dass Chris Afroamerikaner ist, seine Freundin und deren Familie jedoch weiß sind. Zunächst beunruhigt es vor allem Chris, der sich Gedanken darüber macht, wie Roses Familie ihren angeblich ersten schwarzen Freund aufnehmen wird – dann wird jedoch, in dem Maße, wie alles komplizierter, vielschichtiger wird, dieser (nur vermeintlich kleine) Unterschied zum entscheidenden Thema des Films bzw. die Frage danach, welche sozialen und kulturellen Konstruktionen es bedingen, dass der Rassenunterschied gerade in einer vermeintlich aufgeklärten Gesellschaft solche immensen Formen annimmt.

Gar nicht subtil, sondern zunächst geradezu erdrückend offensichtlich ist das Machtverhältnis zwischen schwarz und weiß in der Familie Armitrage. Schwarze Bedienstete und weiße Herrschaften. Wobei die Unterwürfigkeit, die scheinbare geistige Abwesenheit des Hausmädchens Georgina (Betty Gabriel, ihr gehört die vielleicht unheimlichste Szene dieses durch und durch unheimlichen Films) und des Gartenarbeiters Walter (Marcus Henderson ), Chris von Anfang an zusätzlich verunsichern. Interessant ist auch die Verteilung der Geschlechterrollen in diesem Duo: während die Domäne der Frau das Haus und die in ihm anfallenden (Dienerinnen-)Tätigkeiten sind, ist der Mann für die Arbeit im Freien, im Garten (die hart ist, einmal sehen wir ihn beim Holzhacken) zuständig, in dem das Feld aus Zeiten der Sklaverei nachhallt (in Spike Lees Meisterwerk „Bamboozled“ etwa beschimpfen sich eine Frau und ihr Bruder als house- (sie) bzw. field nigger (er)).

Ohne zu viel verraten zu wollen, sei gesagt, dass der Film in der zweiten Hälfte einen zunehmenden Twist in Richtung Horrorfilm unternimmt. Das, was im Hause Armitage mit Schwarzen angestellt wird, übersteigt selbst noch die Phantasie von Chris‘ Kumpel Rod (LilRel Howery) um Längen, der ihn von Beginn an vor seiner neuen weißen Familie und dem Besuch bei ihr warnte, der ihm später versichert, er werde Opfer eines Plots, in dem sich Weiße schwarze Sexsklaven suchen.

Sicherlich gilt auch für „Get Out“, schon wegen des Hypes, aber sicherlich auch von der Anlage des Films her, was Vern über einen ganz anderen Film schrieb: „It’s just begging you to analyze the shit out of it.“ Ein Film, in dem alles so überdeterminiert ist wie in diesem, in dem kein Detail einfach es selbst sein kann, sondern immer mit Bedeutung aufgeladen werden muss, ist schon eine, wenn nicht fragwürdige, dann doch zumindest anstrengende Angelegenheit. Peele denkt gewissermaßen die zukünftigen Doktorarbeiten mit, die über seinen Film, dessen Bezüge zur Popkultur ebenso wie zu gegenwärtigen akademischen Diskursen, geschrieben werden, und in denen jedes kleinste Detail so dechiffriert wird, wie es zuvor vom Drehbuchautor chiffriert wurde – sicherlich nicht ohne dass dabei ein erheblicher interpretatorischer Überschuss entsteht.

Eigentlich vertreibt mir ein Film, der so sehr darum bettelt, analysiert zu werden bis zum Umfallen, die Lust an der Analyse ziemlich gründlich. Ich will mich deshalb auf einen Aspekt beschränken: die Bezüge zur Sklaverei. Der offensichtlichste sind natürlich die beiden Bediensteten, auf die ich oben schon weiter eingegangen bin, aber auch die Szene, in der Chris als schwarzer Mann, in einer Gesellschaft von weißen Reichen, die bizarrer nicht ausfallen könnte, versteigert wird, spricht in dieser Hinsicht sicherlich Bände. Bleibt ein Detail zu erwähnen, das in dem generischen Empowerment des schwarzen Helden am Ende des Films von entscheidender Bedeutung ist. Um sich aus den Klauen seiner PeinigerInnen zu befreien, wendet Chris einen Trick an, er verstopft sich die Ohren mit der Füllung des Sessels, an den er gefesselt ist, um zu verhindern, dass Missy ihn erneut hypnotisieren kann. Es handelt sich dabei um Baumwolle. Eben der Stoff, den einst die Sklaven auf den Feldern ihrer Herren in qualvoller Arbeit ernten mussten, wird hier zu entscheidenden Waffe der Befreiung.

Weiterhin ist ein entscheidender Hinweis für Chris, dass bei den Armitages etwas ganz und gar nicht mit rechten Dingen zugeht, eine Schachtel mit Fotos, die Rose, die ihm am Anfang versicherte, er sei der erste Schwarze, mit dem sie eine Beziehung hätte, in romantischer Pose mit vielen verschiedenen schwarzen Männern zeigen. Einerseits spukt durch die Figur Rose damit die klassische femme fatale, die Männer reihenweise verführt und verdirbt, hier allerdings nicht (nur) allein und im eigenen Interesse handelnd, sondern als Teil des familiy business, das seinerseits Teil einer groß angelegten Verschwörung ist. Andererseits ist das fatale Begehren der weißen Frau für viele schwarze Männer auch ein auf den Kopf gestellter Albdruck des Schreckgespenstes vom Begehren des schwarzen Mannes für weiße Frauen, das seinen Ursprung wohl auch in Sklaverei und Kolonialismus hat, und bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein in einigen Teilen der USA nicht selten zu Lynchmobs führte, die angebliche Vergewaltigungen sühnen wollten.

Natürlich steht „Get Out“ auch über solche historischen Konnotationen hinaus in einem filmgeschichtlichen Kontext, ist Teil eines Genres, das sich immer wieder zum Sprachrohr der Schwachen und Marginalisierten machte. Peele selbst verweist etwa auf „Night of the Living Dead“, der ja auch über einen schwarzen Helden verfügte, der dem weißen Establishment am Ende bekanntlich nicht mehr als eine Kugel wert ist. Aber gerade im Zombiegenre lässt sich etwa das Thema der Hypnose bis zu dessen Ursprung mit Victor Haperlins „White Zombie“ von 1932 zurück verfolgen.

Was „Get Out“ allerdings zu einem wirklich gelungenen Film macht, der dem Hype vollends gerecht wird, ist nicht sein weit gefasster diskursiver Rahmen, sondern die Tatsache, dass es Peele versteht, einen satirisch überspitzten, sich gerade in einer aufgeklärten high society verbreitenden Alltagsrassismus mit Elementen des Horrorkinos zu unterfüttern. Ekkehard Knörer übersetzt den Titel „Creepy“ des Horrorfilms von Kiyoshi Kurosawa mit dem Wort unheimlich und bezieht dieses dann auf Freud. Mit creepy ist auch die Atmosphäre dieses Films in der guten Stunde vor dem kathartischen Finale hinlänglich beschrieben. Das Unbehagen an der Kultur, die keinesfalls eine abstrakte ist, sondern sehr deutlich die der USA der Gegenwart, korrespondiert mit einem generisch gehaltenen Unheimlichen, bei dem das Altbekannte, Verdrängte sich erneut seinen Weg an die Oberfläche bahnt.

Aber „Get Out“ ist nicht nur ein gelungener Genrefilm, sondern auch ein wichtiger, weil sein Erfolg bei Kritik und Publikum, ebenso wie der des Oscarabräumers „Moonlight“, in dem es ebenfalls um dezidiert afroamerikanische Lebenswelten geht, zeigt, dass die amerikanische Zivilgesellschaft in einer Zeit, in der das Establishment mitnichten daran arbeitet, den Schutz von Minderheiten voranzutreiben, nicht schläft. Oder wenn sie es doch tut, ist dieser Film einer ihrer kollektiven Albträume, aus dem sie die Chance hat, sehr wachsam, mit neu geöffneten Augen zu erwachen.

Hier und hier gibt es eine weitere Kritik zu „Get Out“.

Get Out

(USA 2017, Regie: Jordan Peele)

The Horror, the Horror
von Marit Hofmann

„Der kleine Haley Joel Osment in ›The Sixth Sense‹ kann Tote sehen. Und ich kann Rassisten sehen.“ Jordan Peeles Gabe hat so wenig mit Übersinnlichem zu tun wie der Kern …

„Der kleine Haley Joel Osment in ›The Sixth Sense‹ kann Tote sehen. Und ich kann Rassisten sehen.“ Jordan Peeles Gabe hat so wenig mit Übersinnlichem zu tun wie der Kern seines Mysterythrillers „Get Out“: Der social horror lässt dich ‚die Welt durch die Augen einer schwarzen Person sehen‘ – durch die oft schreckgeweiteten von Chris, der als Fotograf aufs Beobachten gepolt ist.

Du steigst mit ins Auto, als deine neue weiße Freundin dich ihren Eltern vorstellen will. Die seien keine Rassisten, hätten Obama gern noch ein drittes Mal gewählt. Die Begrüßung fällt überschwenglich aus, aber das schwarze Hauspersonal redet auch dann noch in höflichen Phrasen, wenn ihm Tränen über die Wangen rinnen. Und du siehst eine auf Hypnose spezialisierte Psychiaterin in der Teetasse rühren.

Auf der Gartenparty starrt dich das Horrorkabinett einer alten weißen Elite mit vom Reichtum entstellten Gesichtern an, bewundert deinen trainierten Körper, fasst dich an. Du erlebst auch weniger subtilen Rassismus, die Standardsituation: Ein Polizist verlangt grundlos deine Papiere (der britische Hauptdarsteller Daniel Kaluuya verklagte im Real-Life-Horror bereits die Londoner Polizei, die ihn als vermeintlichen Dealer eingesperrt hatte).

Nachdem du all das stoisch ertragen hast, musst du wohl oder eher übel kämpfen. Denn auch die Weißen in diesem Black-Lives-Splatter sind scharf darauf, durch deine Augen zu sehen – allerdings wollen sie dich dafür zur Marionette machen. Während Hollywood gerade wieder wegen Whitewashings (der Mangaverfilmung „Ghost in the Shell“) kritisiert wird, landet nun nach Oscar-Gewinner „Moonlight“ ein weiterer Film von und mit Schwarzen einen Überraschungserfolg in Trumps Amerika. Waren sie im Horrorgenre oft nur das erste Todesopfer, überträgt Peele hier das Umpolen von Frauen etwa in „The Stepford Wives“ auf den schwarzen Körper. „Dieser Film zeigt“, sagt Kaluuya, „wie Rassismus sich anfühlt. Du wirst paranoid und kannst nicht drüber reden.“

Die Soundeffekte sind zum Fürchten, satirische Elemente und der Comedian Lil Rel Howery, mit denen der als Komiker bekannte Peele das Genre auflockert, zum Lachen. Anders als in dem geistreich beginnenden „Split“ vom selben Produzenten gerät hier der Showdown nicht nur zum dumpfen Gemetzel. Als der rettende Polizeiwagen zu kommen scheint, hebt das Opfer die Hände. Du weißt: Als Schwarzer kannst du jeden Moment erschossen werden.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

Hier und hier gibt es weitere Kritiken zu „Get Out“.

Gaza Surf Club

(D 2016, Regie: Philip Gnadt, Mickey Yamine)

Surfen im Gaza-Streifen
von Jürgen Kiontke

Ibrahim liebt surfen. Aber da wo er wohnt, wollen die die Wellen nicht immer so, wie er will. Wenn der Wind gut steht, lässt er jedoch auch schon mal den …

Ibrahim liebt surfen. Aber da wo er wohnt, wollen die die Wellen nicht immer so, wie er will. Wenn der Wind gut steht, lässt er jedoch auch schon mal den Job sausen. Arbeit gibt es immer, aber gute Wellen nur manchmal. Vieles will nicht so, dort wo Ibrahim wohnt. Denn er ist einer der wenigen Wellenreiter im Gaza-Streifen. Ihnen ist der Film „Gaza Surf Club“ gewidmet.

Das Surfen ist für sie eine beliebte Abwechslung. Ibrahim träumt davon, selbst Bretter zu bauen, denn als Importware liegen sie durchaus schon mal zwei Jahre bei den israelischen Behörden herum. Er hat sich für ein Praktikum in den Board-Werkstätten auf Hawaii beworben. Mehr Stress machen die Tradition und die in Gaza regierende Hamas jungen Mädchen, die ebenfalls surfen wollen. So wie die 15-jährige Sabah, die von ihrem Vater schon als Kind aufs Brett gestellt wurde. „Ich lasse sie surfen“, sagt der Vater. „Aber spätestens wenn sie verheiratet ist, wird es ihr Mann ihr verbieten.‘ Sabah sagt: „Ich bin mal fast abgesoffen, weil sich mein Kopftuch im Wasser um den Hals gewickelt hat.“ Wenn sie 100 Meter draußen ist, schwimmt Sabah nur im Badeanzug: „Im Wasser bin ich glücklich.“

„Gaza Surf Club“ von Philip Gnadt und Mickey Yamine ist ein kleiner, harter Film, wie man auch unter widrigen Bedingungen besonderen Hobbys frönen kann. Und er zeigt: Gaza wäre ein guter Surfspot. Der Name ist schon mal weltbekannt, am besten wandelt man das ganze Areal in eine hippe Party-Location um. Motto: Raketen zu Surfbrettern.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal 4/17

Do not Resist. Police 3.0

(USA 2016, Regie: Craig Atkinson)

Die Aufrüstung der Polizei
von Jürgen Kiontke

„Ohne Gerechtigkeit kein Frieden“ ist das Motto der neuen Bürgerrechtsbewegung in den USA. Der Hintergrund: Mehrere US-Bürger sind letztes Jahr von der Polizei erschossen worden. Sie waren unbewaffnet und zum …

„Ohne Gerechtigkeit kein Frieden“ ist das Motto der neuen Bürgerrechtsbewegung in den USA. Der Hintergrund: Mehrere US-Bürger sind letztes Jahr von der Polizei erschossen worden. Sie waren unbewaffnet und zum Teil sogar schon am Boden fixiert.

Wie kommt es zu solchen Vorfällen? Der Dokumentarfilm „Do Not Resist“ liefert einen Erklärungsansatz. Die US-Polizei ist in den letzten Jahren immens aufgerüstet worden. Der Grund hierfür ist in den militärischen Konflikten zu finden, an denen das Land beteiligt ist: Weil die Rüstungsindustrie Überkapazitäten produziert, werden die Waffen der Polizei „geschenkt“. Mit gepanzerten Fahrzeugen, Maschinenkanonen und sogar aufgepflanzten Bajonetten wird nun bis ins letzte Dorf patrouilliert, um Parksünder dingfest zu machen.
Damit einhergeht – Achtung, Terrorgefahr! – die ideologische Brutalisierung der Beamten. Lehrkräfte trimmen sie auf Kriegstruppe.

Regisseur Craig Atkinson begleitet Spezialeinheiten auf ihren Einsätzen, filmt Ausschreitungen und besucht Überwachungszentralen à la Robocop. Sein Film beschäftigt sich auch mit totaler Videoüberwachung und Technologien des „Predictive Policing“: den Möglichkeiten, per Algorithmus Prognosen auf die potenziell kriminelle Karriere eines jeden einzelnen zu stellen. „Und zwar schon vor der Geburt“, wie einer der befragten Experten sagt.

Prädikat: wertvoll. Allerdings wünscht man sich hinterher, man hätte nur einen Spielfilm gesehen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal 4/17

CHiPs

(USA 2017, Regie: Dax Shepard)

Aufgemotzt und angepatzt
von Drehli Robnik

Was sie öfter mal in Filmen zeigen sollten: wie es bei Verfolgungsjagden Leuten auf dem Autorücksitz, die sich zu cool sind, Sicherheits- oder Haltegurte zu benutzen, die Birnen aneinanderhaut; wie, …

Was sie öfter mal in Filmen zeigen sollten: wie es bei Verfolgungsjagden Leuten auf dem Autorücksitz, die sich zu cool sind, Sicherheits- oder Haltegurte zu benutzen, die Birnen aneinanderhaut; wie, ebenfalls bei Verfolgungsjagden, ein unbeteiligter Passant, der gerade seinen Selfiestick justiert, von einem Gangstertruck niedergemäht wird; wie ein Cop der California Highway Patrol, kurz ‚CHiPs‘, seinem beim Shootout fast getöteten Buddy Blumen ins Spital bringt, aber dabei dauernd in falsche Krankenzimmer läuft; wie besagter Buddy sich beim Pausen-Hotdog-Verzehr die ohnehin schon eigenwillig sitzende Motorrad-Cop-Uniform mit Ketchup vollpatzt; wie der bestialische Gestank im Drogenmafia-Versteck nicht von vermodernden Folteropfern, sondern einem Katzenklo herrührt.

Das und noch mehr zeigt diese Kinoversion einer 1980er Actionserie. Seitens Teilen der US-Filmkritik heißt es, ‚CHiPs‘ sei hypermasculine und macho. Stimmt: Dax Shepard (auch Co-Drehbuch Regie) und Michael Peña (immer gut) spielen zwei Hetero-Machos mit verspannungsbedingter Lähmung, Sexting-Spleen, Schamhaarpanik und Masturbationsmanie. In schöner Umkehrung ethnischer Stereotypik ist der Anglo mit seiner forcierten Emotionalität und Einfühlsamkeit eine Nervensäge, der Latino hingegen voll in den Fall verbissen. Bei Shepard ist schon seine drahtige, aber nach zahllosen Motorradunfällen schlaksig hinkende Erscheinung lustig. (Und: Ja, der ‚Starsky & Hutch‘-Kinofilm war wahrscheinlich besser und ’22 Jump Street‘, also der zweite Film, sowieso weirder; aber der Slapstick, zumal mit zertrümmerten Vehikeln, und die Mienenspiele in ‚CHiPs‘ schaffen sich ein Nischchen, in dem sie brillieren.)

Mir kommt ja vor, hier wird Machismo verarscht. Das heißt, auch wenn Ironie als Kritik-Praxis weitgehend auf den Hund gekommen bzw. als Einverständnis-Technik kooptiert ist – ein bissl Freude an einer leicht(gewichtig) desavouierenden Sicht auf herrschaftliche Sachverhalte und Verhaltensweisen soll schon sein dürfen. Sonst gehst du ja ein. Aber vielleicht wird mann heute ja bescheiden – im Jahr 41 nach Kottan, ohne jemals ‚Police Academy‘ gesehen zu haben, sowie in Zeiten der laufenden Re-Erotisierung viriler Autorität und uniformierter Durchgriffsgewalt. (Nicht nur in Ösistan.) (Leider nicht nur dort.) Der Macho in mir – der mit der Verspannungslähmung – hat jedenfalls recht gelacht.

Homo Sapiens

(AT 2016, Regie: Nikolaus Geyrhalter)

Paradoxe Hinterlassenschaften
von Ricardo Brunn

Seit mittlerweile 20 Jahren schaut der österreichische Filmemacher Nikolaus Geyrhalter, der zugleich auch immer Kameramann seiner Filme ist, auf Orte, die sich unserer Wahrnehmung entziehen oder die wir bewusst ausblenden. …

Seit mittlerweile 20 Jahren schaut der österreichische Filmemacher Nikolaus Geyrhalter, der zugleich auch immer Kameramann seiner Filme ist, auf Orte, die sich unserer Wahrnehmung entziehen oder die wir bewusst ausblenden. Hinter der oberflächlich recht einfachen Frage danach, wie es „Elsewhere“ (AT 2001) aussieht, steckt häufig die tief greifende Auseinandersetzung mit den Formen menschlichen Zusammenlebens und damit verbundener Verdrängungsleistungen. „Unser täglich Brot“ (AT 2005) ruft die Abkopplung von Lebensmittelproduktion und -konsumption ins Gedächtnis. „Abendland“ (AT 2011) fragt nach den gern verschwiegenen inneren und äußeren Grenzen der offenen Gesellschaft westlichen Typs. In „Homo Sapiens“ lässt Geyrhalter den Menschen nun gleich ganz verschwinden, um in den Hinterlassenschaften der Zivilisation nach den Grundideen und Organisationsweisen dieser Gesellschaft zu suchen.

In den festen Einstellungen, die verlassene Kindergärten, Shopping-Malls, Krematorien, Versammlungsräume und Kinos zeigen und die der Regisseur jeweils zwischen zwanzig und vierzig Sekunden stehen lässt, kann die Zuschauerin die eigene Abwesenheit erkunden, die eigene, noch nicht vollendete Geschichte zu Ende denken. Im gleichmäßigen Fluss der Bilder, die ganz ohne Dialoge oder Kommentare auskommen, schweifen die Gedanken ab und öffnen den gedanklichen Raum für eine Welt ohne uns. Und auf einmal steht da eine Achterbahn mitten im Wasser, das dünne Metallgerüst verbogen, jederzeit bereit in sich zusammenzufallen. Doch nichts geschieht. Geyrhalter suspendiert in seinen eindrucksvollen Bildern, von denen jedes als Druck über der Wohnzimmercouch hängen könnte, jede erzählerische wie physische Bewegung. So sind es dann die kleinen Regungen der zivilisatorischen Überreste, die besonders irritieren, irgendwann zu schmerzen beginnen und schließlich so etwas wie ein apokalyptisches Gefühl evozieren. Im Krankenhaus spielt der Wind mit einer Plastiktüte, in der Kaufhauspassage mit einer Rolle Klopapier. Es sind perfekte Kompositionen, die davon erzählen, dass der Mensch die Katastrophe selbst verschuldet haben wird und dass der Klopapierrolle wie dem umgestürzten Baum im Indoor-Spaßbad unsere Abwesenheit reichlich egal sein werden.

Doch so sehr sich die Inszenierung darum bemüht ein Gefühl für einen vom Menschen entleerten Planeten zu erzeugen, so sehr ist der Mensch doch anwesend, wird vom Film selbst immer mitgedacht und vorausgesetzt. Denn wie in jedem Film des Österreichers, geht es auch in „Homo Spiens“ nicht um Orte, sondern deren (ehemalige) Bewohnerinnen. Bereits im Filmtitel und den ersten Einstellungen, die Abbilder des Menschen in einem verfallenden Mosaik zeigen, macht Geyrhalter dies selbst deutlich. Und gerade in den perfekten Bildkompositionen bricht sich die vermeintliche objektive Distanz, wird offensichtlich, dass jemand anwesend ist an diesen menschengemachten und von ihm verlassenen Orten. Auf die gleiche Weise wie in den Katastrophenszenarien dieser Tage, unserem Wunsch nach Sicherheit und den damit verbundenen Präventionsmaßnahmen (die mancherorts in Entmündigung umschlagen), Fiktion und Wirklichkeit beständig ineinander greifen, bildet „Homo Sapiens“ diesen Vorgang filmisch ab, indem der Zuschauer in eine zwiespältige (anwesende und zugleich abwesende) Position gerückt wird. Der Film veranschaulicht damit das Paradox, dass wir in ständiger Alarmbereitschaft leben, Dauerkrisen uns umgeben, wir aber nicht nur unfähig sind zu handeln, sondern im Gegenteil große Verdrängungsarbeit leisten. Die Katastrophe besteht in der Tatsache, dass wir einfach weitermachen wie bisher. Die zukünftige Katastrophe wird in „Homo Sapiens“ deshalb mithilfe bereits geschehener Katastrophen erzählt. Und natürlich erkennt das Publikum in vielen Bildern reale Katastrophenorte wie Fukushima oder Pripyat wieder oder interpretiert sie in diese hinein.

Zusätzlich dazu unterbricht Geyrhalter in regelmäßigen Abständen mit Schwarzfilm barsch den postapokalyptischen Bilderreigen. Dieser unterteilt die Orte grob, akzentuiert, fungiert jedoch nicht als rein ordnende Instanz, teilt den Film nicht in klare Kapitel. Er betont vielmehr den Zwischenraum. Im Schwarz stirbt die Erzählung und damit das Fortkommen. Zugleich macht das Schwarz dem Zuschauer den Film als Film bewusst und damit seine Rolle als Zuschauer. Wieder wird in diesen Momenten die Abwesenheit des Menschen in „Homo Sapiens“ verunmöglicht und betont, dass diese nur von ihm selbst gedacht werden kann. Das hypothetische Zukunftsszenario Nikolaus Geyrhalters blickt in diesen Momenten auf die Gegenwart zurück und macht uns zu Komplizen der künftigen Katastrophe, die darin besteht, dass es kein plötzliches Ereignis geben wird, welches die Welt in den Abgrund rutschen lässt. Der Schwarzfilm betont noch einmal, weil er an die Dunkelheit des Kinos kurz vor und nach einem Film erinnert, dass „Homo Sapiens“ keinen natürlichen Anfang und kein natürliches Ende besitzt und eine Katastrophe ohne Ereignis bebildert, an der wir stillschweigend teilnehmen.

„Homo Sapiens“ ist bisher nicht in den deutschen Kinos gestartet und wird es aller Voraussicht nach auch nicht mehr. Das ist traurig, denn Geyrhalters fotografische Virtuosität und das präzise Sounddesign, das die Stille durch gezielt gesetzte Naturgeräusche erst so außerordentlich bedrückend macht, gehören auf die große Leinwand, können nur dort ihre Wirkung entfalten und die Zuschauerin in einen Zustand irritierter Kontemplation versetzen.

Battle Royale (WA)

(J 2000, Regie: Kinji Fukasaku)

Nepper, Schlepper, Kinderfänger
von Nicolai Bühnemann

Die Regeln des Spiels sind denkbar einfach, ja, eigentlich gibt es nur eine einzige Regel. Die besagt, dass es am Ende nur eine/n Überlebende/n geben darf. Hierfür wird eine Schulklasse …

Die Regeln des Spiels sind denkbar einfach, ja, eigentlich gibt es nur eine einzige Regel. Die besagt, dass es am Ende nur eine/n Überlebende/n geben darf. Hierfür wird eine Schulklasse beim gemeinsamen Ausflug im Bus betäubt, entführt und auf eine einsame Insel verfrachtet. Jeder bekommt als Ausrüstung eine Waffe, wobei sich die Ausrüster nicht nur in ihrer starken militärischen Präsenz als Schicksalsmacht generieren, sondern auch dadurch, dass sie entscheiden, ob man oder frau sich mit einer vollautomatischen Maschinenpistole, einer Sichel oder doch nur einem Fernglas oder einem Topfdeckel in den Kampf stürzen kann. Nun heißt es jeder gegen jede – und sollten beim Ablauf von drei Tagen noch mehr als eine/r der SchülerInnen am Leben sein, detoniert eine Sprengladung in den Halsbändern, die ihnen während ihrer Bewusstlosigkeit angelegt wurden und über die sie auch jederzeit geortet werden können. Gleich zu Beginn demonstriert Oberlehrer (Takeshi) Kitano seine Macht und seine kaltblütige Entschlossenheit, indem er die Schülerzahl erst einmal von 42 auf 40 dezimiert.

Das Motiv der Menschenjagd ist ziemlich alt. Im Kino findet es sich spätestens seit der frühen Tonfilmzeit. Prominent etwa in „The Most Dangerous Game“ von 1932, der von den „King Kong“-Machern Ernest B. Schoedsack (Regie) und Merian C. Cooper (Produktion) stammt, und auf einer Kurzgeschichte beruht, die bereits 1924 erstveröffentlicht wurde. Populär ist dieses Szenarium nicht erst seit dem Erfolg der „Hunger Games“ in Wort und Bild. So verwendete es etwa Stephen King in den frühen Achtzigern in seinem Roman „The Running Man“, der mit Arnold Schwarzenegger verfilmt wurde. Und in den Neunzigern wurde es unter anderem von John Woo in seinem ersten US-amerikanischen Film „Hard Target“ mit Jean-Claude Van Damme spektakulär aufgegriffen, wobei sich auch im Detail einige Anspielungen auf „The Most Dangerous Game“ ausmachen lassen. Längst ist die Menschenjagd ein Stück Populärkultur geworden und wird selbst in „Buffy“ oder den „Simpsons“ aufgegriffen.

„Battle Royale“ ist in vielerlei Hinsicht ein finaler Film, ein Abgesang – auf die Jugend, das Leben, das Kino. Es ist der einundsechzigste und letzte vollendete Kinofilm von Filmemacher, Produzent und Drehbuchautor Kinji Fukasaku, der drei Jahre später während der Dreharbeiten zur Fortsetzung an Krebs starb, so dass sein Sohn Kenta, der hier wie auch schon beim Erstling das Drehbuch geschrieben hatte, den Platz auf dem Regiestuhl übernehmen musste. Einen Namen hatte sich der Vielfilmer, der etwa 1961, dem ersten Jahr seiner Karriere, nicht weniger als fünf Filme gedreht hatte und damit auch als Vater im Geiste eines Takashi Miike gelten kann, vor allem mit Yakuza-Streifen der härteren Gangart wie etwa „Graveyard of Honor“ (1975), der übrigens von Miike 2002 neu verfilmt wurde.

Die Insel, auf die die Schulklasse gegeneinander aufgehetzt wird, spiegelt die, auf der Graf Zaroff bei Schoedsack und Cooper seine Menschenjagd abhielt, wobei es schon eine entscheidende Veränderung ist, dass an die Stelle des aristokratischen Souveräns mit seinen kolonialistischen Wurzeln hier eine Regierungsorganisation tritt, die das „Spiel“ minutiös plant und ausführt und gewissermaßen als pädagogische Maßnahme gegenüber der respektlosen Schülerschaft auffasst. An die Stelle des sadistischen Einzelnen in den Dreißigern ist zur Jahrtausendwende ein, nun ja, System getreten, das von der adoleszenten Grausamkeit zehrt oder zumindest: von ihr zu zehren versucht. Und natürlich ist Takeshi Kitano als Oberlehrer so viel besser als der stocksteife Leslie Banks. Kitano gibt seine Figur mit der Müdigkeit eines Mannes, der immer schon mit allem abgeschlossen hat, von der Welt nichts mehr zu erwarten hat außer den Tod. Und keiner stirbt auf der Leinwand so eindrucksvoll, so überlebensgroß und dabei dennoch banal wie er, nicht nur, aber eben ganz besonders in diesem Film.

Darüber hinaus ist die Insel aber auch ein Ort, an dem viele Traditionslinien des internationalen (Genre-)Kinos zusammenlaufen. Die Fukasakus nehmen etwa den Zynismus eines Paul Verhoeven, und insbesondere wohl dessen „Robocop“, und geben ihm eine ganz eigene Note, überführen ihn letztendlich in eine ganz eigene Form von radikalem Humanismus, der eher ein narrativer als ein formalästhetischer ist und der sich, ganz allgemein gesprochen, in einer bedingungslosen Parteinahme des Films für die jeweils Schwächeren gegenüber den Stärkeren, den Opfern gegenüber den Tätern, den Gepeinigten gegenüber ihren Peinigern niederschlägt. Nicht zuletzt erzählt „Battle Royale“ auch von dem Triumph der Geeks gegenüber den Jooks, der Emos gegenüber den Brutalos. Eine kleine Gruppe von Computernerds schafft es schließlich sogar, den Computer der Organisation zu haken – manchmal ist der Topfdeckel eben doch stärker als die Axt (auch wenn ihre Freude über den errungenen Sieg jäh und grausam beendet wird).

All das soll hingegen nicht bedeuten, dass Fukasaku Kunst als reines Mittel zum Zweck der Bebilderung soziologischer Thesen auffasst. „Battle Royale“ ist ordentlich zupackendes Splatter-Kino, dem man (nicht nur) in den brillant choreographierten shoot outs die gar nicht müde Könnerschaft des alten Meisters mit vierzig Jahren Erfahrung in der Filmindustrie ansieht. Es gibt zwischen den Schülern etwas, das es in der Welt Verhoevens nicht (mehr) geben kann: Solidarität. Viele von ihnen wählen den Freitod als Ausweg, um bei dem grausamen Spiel nicht mitmachen zu müssen. Die Jugend, die der Film porträtiert, ist eindeutig besser als ihr Ruf.

Auch ist der Film aufgebaut wie eine Zwiebel, bei der aus dem typisch japanischen (es bräuchte wahrlich einen größeren Kenner fernöstlicher Kultur als mich, um zu verstehen, wie japanisch dieser Film ist), einer speziellen Form der Überzeichnung, der Komik, des over acting auch, Schicht für Schicht sehr allgemein menschliche Tragödien und Traumata geschält werden. Es geht in den Geschichten der Schülerinnen und Schüler um Verrat, Freundschaft, zärtlich gewachsene Liebe und grausam erwachendes Begehren, peer pressure, Cliquenbildung, soziale Segregation und – natürlich – den (viel zu frühen) Tod. „Battle Royale“ ist ein wahrlich sonderbares, zutiefst eigensinniges Konglomerat aus Actionfilm, Noir und Coming of Age-Geschichte, das eindrucksvoll vorführt, dass fliegende Kugeln kein Alter, keine sozialen Klassen, keine Nationalitäten kennen. Frei nach dem alten Revolverslogan: God made men, but an Uzi makes them equal.

In Deutschland wurde der Film zunächst nur in einer um acht Minuten gekürzten Fassung freigegeben, bei der, was besonders ärgerlich ist, die Texteinblendungen, die den Zuschauenden anzeigen, welche der SchülerInnen getötet wurden und wie viele noch übrig sind, aus dem Bild getilgt wurden, was ein gutes Beispiel dafür ist, wie Zensur, die einen Film eigentlich entschärfen soll, ihn noch zynischer machen kann. Davon abgesehen, dass dieser Countdown Momente der Besinnung im mörderisch hektischen Treiben des Films schafft und deshalb für dessen Rhythmus und Erzählökonomie von entscheidender Bedeutung ist, macht er die Leinwand zu einer Gedenktafel für die adoleszenten Opfer.

Zu allem Überfluss landete dieser Torso dann auch noch auf dem Index, eine ungeschnittene Fassung des Films von Capelight Pictures wurde 2013 bundesweit beschlagnahmt. Ein Urteil, gegen das das Label allerdings juristisch vorging, so dass der Film nur für wenige Monate auf der Liste der bösen Film verweilte, einige Jahre später wurde auch die Indizierung aufgehoben, und nun steht einer mustergültigen DVD/Blu-ray-Edition, die sowohl die Kinofassung als auch den einige Minuten länger laufenden Extended Cut beinhaltet, für die Mediamärkte dieser Republik nichts mehr im Wege. Noch vorbildlicher ist allerdings, dass das Label auch dafür gesorgt hat, dass man den Film in beiden Versionen wieder dort erleben kann, wo Kinofilme hingehören, auf der großen Leinwand.

Dieser Text ist in kürzerer Form bereits bei perlentaucher.de erschienen.

The Runaround – Die Nachtschwärmer

(USA 2017, Regie: Gavin Wiesen)

L.A. mit Eigenleben
von Nicolai Bühnemann

Laut einem Gemeinplatz der Küchenphilosophie ist der Weg das Ziel. Wie verhält sich dieser Satz nun zu bestimmten (Sub-)Genres, in denen das Ziel, das, worauf das alles hinaus will, von …

Laut einem Gemeinplatz der Küchenphilosophie ist der Weg das Ziel. Wie verhält sich dieser Satz nun zu bestimmten (Sub-)Genres, in denen das Ziel, das, worauf das alles hinaus will, von vornherein fest steht, gewissermaßen als Voraussetzung durch die Genrekonventionen gesetzt ist. Etwa im Sportfilm, im Slasher (wobei schon alleine aufgrund der Masse an Filmen hier Subversionen wesentlich häufiger sind) – oder eben im Buddy Movie.

Der vielleicht erste Film dieser Art stammt übrigens von 1931. Charles Chaplins Pre Code-Preziose „City Lights“, ein Film, der die heute so bekannte Geschichte von zwei grundverschiedenen Männern erzählt, die sich zusammen raufen müssen, um gemeinsam eine Aufgabe, eine Mission zu erfüllen. Chaplin setzte diese Formel, um sie sogleich weniger zu dekonstruieren als vielmehr in die Luft zu jagen, etwa dadurch, dass die interessanteste Figur hier nicht Chaplins gewohnter Tramp ist, sondern sein Gegenpart, der bipolare und alkoholkranke Millionär, der schlicht nicht in der Lage ist, die gleichmäßige Entwicklung zu durchlaufen, die man aus späteren Vertretern des Genres kennt. Auch nutzte er die viel besungene Freiheit im Hollywood der Zeit, um einen homoerotischen Subtext zwischen den beiden Männern zu etablieren, die nach durchzechter Nacht gemeinsam in einem Bett aufwachen. 1982 schuf Walter Hill mit „48 Hours“ einen Archetypen des Action-Buddy-Movies für die Moderne und Postmoderne, auch variierte der Regisseur diese Prämisse später meisterlich, nämlich in „Red Heat“ (1988) und in „Bullet to the Head“ (2012).

In „All Nighter“ (oder zu Deutsch: „The Runaround – Die Nachtschwärmer“) nun besteht das ungleiche Paar, das keins werden darf, aus dem kiffenden, tofuessenden und im extremen Maße selbstunsicheren Banjo-Spieler Martin (Emile Hirsch) und seinem vielbeschäftigten Schwiegervater Frank Gallo (J. K. Simmons), der eine Vorliebe für blutige Steaks, teure Anzüge und schnelle Autos hat. Eine einzige Szene, ein gemeinsames Essen in einem noblen Restaurant, bei dem Martins Freundin Ginnie (Analeigh Tipton) ihn ihrem Vater vorstellt, reicht dem Film, um zu zeigen, dass diese Männer einfach nicht zusammen passen wollen.

Wobei Regisseur Gavin Wiesen und sein Drehbuchautor Seth Owen die ewig gleiche Genreformel dahingehend variieren, dass in dieser Szene offen bleibt, ob der sich distinguiert bedeckt haltende Frank Martin tatsächlich nicht ausstehen kann oder ob es nicht vielmehr die enorme Unsicherheit des letzteren ist, der dieser Eindruck entspringt. J. K. Simmons, der Star des Films, der für seine Rolle in Damien Chazelles „Whiplash“ den Oscar gewann, mir aber vor allem durch sein exaltiertes over acting als opportunistischer, geldgeiler und geiziger Zeitungsverleger J. Jonah Jameson in Sam Raimis „Spider-Man“-Trilogie im Gedächtnis ist, gibt seine Rolle mit ungewöhnlichem Understatement und bildet gerade dadurch eine Projektionsfläche für Martins Böser-Schwiegervater-Ängste.

Jedenfalls setzt sechs Monate nach diesem Abend die eigentliche Handlung des Films ein, als Frank, der zwischen zwei Arbeitsaufträgen einen Abstecher nach L.A. Macht, um seine Tochter zu besuchen, diese aber weder antrifft noch mit den modernen Kommunikationsmitteln erreicht und sich nun große Sorgen um sie macht, Martin um Hilfe bittet sie zu finden, ohne zu wissen, dass dieser sich drei Monate zuvor von ihr getrennt hat, worüber er nicht wirklich hinweggekommen ist. Die beiden beginnen Los Angeles nach den Bezugspunkten ihrer Tochter respektive Ex-Freundin abzugrasen, starten die Suche, die sich eine ganze Nacht lang hinziehen wird.

Für feministische KritikerInnen des Buddy Movie-Genres bietet „All Nighter“ nicht nur ein gefundenes Fressen, sondern geradezu ein Festmahl. So heißt es etwa in „The Complete Film Dictionary“: „Such films extol the virtues of male comradeship and relegate male – female relationships to a subsidary position.“ Ginnie, die weibliche, nun ja, Hauptfigur des Films erfüllt einzig und alleine die Funktion eines McGuffin, der dazu gebraucht wird, die Annäherung der beiden männlichen Protagonisten voranzutreiben, ohne, wie es bei Wikipedia heißt, „selbst von besonderem Nutzen zu sein.“ Analeigh Tipton ist nett anzusehen – und gerade darin auf ihre reine Funktion des Plots beschränkt, ein Eigenleben als Figur ist ihr definitiv nicht vergönnt. Daran ändert auch nichts, dass sie am Ende einen neuen Freund haben wird, ja, vielmehr gibt die Tatsache, dass dieser, judging by his Urlaubsziel einer höheren Gehaltsklasse als Martin angehört, dieser Nicht-Figur einen noch schaleren Beigeschmack als eh schon. Schöne Frauen schlafen sich also gerne hoch, ziehen die aalglatten Gewinner den Losern vor – und seien sie auch so grundsympathisch wie eben Martin. Aha.

Für Frank und Martin reicht es sicherlich aus, dass die Frau unerreichbar ist – für den an Weltschmerz leidenden Ex ebenso wie für den sie vernachlässigenden Vater. Man könnte den Film so zusammenfassen, dass Frank seine Tochter nicht (oder doch nur sehr teilweise) zurück-, dafür aber einen neuen Sohn gewinnt. Oder, weniger zimperlich, könnte man auch an die Funktion der Frau in einer double penetration denken, wo sie den heterosexuellen Katalysator bildet, der dafür sorgt, dass sich die beiden Schwänze, die sich so nacheinander sehnen, nicht (ganz) zusammenkommen, weil sie immer noch ein Stück weibliche Haut voneinander trennt.

Trotz solcher ideologiekritischen Einwände mochte ich „All Nighter“ recht gerne, was nicht zuletzt an dem L. A. liegt, das der Film porträtiert. Den Nebenfiguren, denen das Duo bei ihrer Suche in Cafés, Clubs, Restaurants begegnet, wird, anders als Ginnie, durchaus ein Eigenleben zugestanden. Was sie von den Typen trennt, die schon noch recht deutlich in der Anlage ihrer Figuren durchscheinen, bzw. in dem Fall des mit Martin befreundeten Pärchens Gary (Tarran Killam) und Roberta (toll: Kristen Schaal) in ihrer Beziehung, ist eine exquisite weirdness. Ganz „normal“ ist in diesem Film, diesem Los Angeles definitiv niemand, was den überkommenen Begriff der Normalität dann eben auf eine harte Probe stellt. Gary und Roberta sind mehr als die Zweckgemeinschaft zwischen einem Stoner, der lieber Pilze frisst als, Gott bewahre, erwachsen zu werden, und einer so fürsorglichen wie eifersüchtigen Frau. Ja selbst Megan (Xoscha Roquemore), eine andere Bekannte Martins, die sie in ziemlich betrunkenem Zustand in einer Disko treffen, die sie schließlich nachhause bringen, was zu Missverständnissen mit ihrem White Trash-Freund führt, ist mehr als nur das naive Partygirl.

Auch verhält sich der Film gegenüber den homoerotischen Implikationen seiner Geschichte wie des ganzen Genres, die, wie eingangs erwähnt, schon bei Chaplin mehr als offensichtlich waren, nicht wirklich so blauäugig, wie man zunächst meinen könnte. So borgt sich Frank, nachdem ihm Megan den Anzug vollgekotzt hat, ein rosa T-Shirt von ihrem Freund, ein T-Shirt mit der Aufschrift „Keep it Juicy“. Schließlich entlässt der Film, der ansonsten die Genreformel gewissenhaft abarbeitet, uns nicht mit einem zu hohen Maß an Versöhnlichkeit. Auf das große Pathos der Wiedervereinigungen verzichtet er sehr bewusst. Auch tut er gut daran, das Mysterium um Franks Beruf, das einige Zeit lang die Konklusion offen hält, dass er ein Spion, (Super-)Cop oder Auftragskiller ist, schließlich anders aufzulösen und Ausflüge in andere Genregefilde lieber jemandem wie Paul Feig zu überlassen.

Die ganz große Komik, den subversiven Sprengstoff, die befreiende Vulgarität und ausufernde Selbstreflexivität der ganz großen Meisterwerke im amerikanischen Genre des Komischen, etwa eines Judd Apatow, sucht man hier unterdessen vergeblich – trotz des einen oder anderen nerdy Bezug auf die Populärkultur und der mit dem Wort „Fuck“ gespickten Dialoge.

Für einen Start in deutschen Kinos hat es für „All Nighter“ leider wieder einmal nicht gereicht. Allerdings kommt der Film, der gerade letzten Monat erst in den amerikanischen Kinos gestartet ist, bereits am 21.04. 2017 bei Ascot Elite auf DVD, Blu-ray und VOD heraus.

Die Zärtlichkeit der Wölfe

(BRD 1973, Regie: Ulli Lommel)

Einer von uns
von Nicolai Bühnemann

Am Anfang ist er nur ein Poltern. Auf der anderen Seite der Wand. Dann wird er zu einer Stimme, die der Nachbarin das Fleisch verwehrt, für das sie gerne über …

Am Anfang ist er nur ein Poltern. Auf der anderen Seite der Wand. Dann wird er zu einer Stimme, die der Nachbarin das Fleisch verwehrt, für das sie gerne über den nächtlichen Lärm hinwegsieht. Dann, im Vorspann, ist er nur ein Schatten. Der Schatten eines Mannes mit Hut auf einer roten Backsteinwand der bestimmten, ja, getriebenen Schrittes eine Straßen entlang schreitet, während die Credits zu sehen sind, die deutlich verraten, dass dieser Film ein Projekt von Rainer Werner Fassbinder ist, der nicht nur für die Produktion zuständig war, sondern auch in einer kleinen Rolle als Schwarzmarkthändler zu sehen ist, in der er mit einmal gleich drei Uhren am Handgelenk, einer Kippe im Maul unter dem markigen Schnauzer und einem zu gleichen Teilen protzigen und potthässlichen Anzug beweisen darf, dass er als Darsteller der größte Schmierlappen of them all war.

Fassbinder trat an Ulli Lommel heran, so berichtet letzterer, und sagte ihm, dass er noch einige Hunderttausend Mark an Fördergeldern habe, die er bis Ende des Jahres aufbrauchen müsse und mit denen er die Realisierung eines Drehbuchs von Kurt Raab finanzieren wollte. Lommel erzählt weiter, dass Fassbinder erleichtert war sich nicht um die Regie des Films kümmern zu müssen, und außer an seinen zwei Drehtagen als Schauspieler nicht mehr am Set auftauchte. Gedreht wurde mit der Fassbinder-Entourage, die zu dieser Zeit am Schauspielhaus von Bochum, dem hauptsächlichen Drehort, mit Fassbinder arbeitete. Das gab dem Film die Möglichkeit, quasi für Lau eine Menge zu dieser Zeit bekannte Gesichter zu präsentieren. Es soll, so berichtet Kameramann Jürgen Jürges im Interview, an den ewigen Machtspielchen zwischen Fassbinder und Raab gelegen haben, die eine regelrechte Hassliebe verband, dass die Regie an Lommel übergeben wurde, der hier seinen dritten Film als Regisseur vorlegte, vorher als Schauspieler unter anderem bei Fassbinder und in Thomes „Detektive“ in Erscheinung getreten war und später in die USA ging, um billige Horrorfilme von der Stange zu drehen. Bei der Aufführung als Eröffnungsfilm der Berlinale im Zoopalast vor etwa tausend Zuschauern soll ein damaliger Starkritiker (ja, so etwas gab es 1973 noch), dem etwa die Hälfte des dort versammelten Publikums folgte, bei der ersten Gewaltszene des Films einen Skandal herbeigeschrien haben.

Kurt Raab also, der auch die Hauptrolle übernahm, der homosexuelle Katholik (oder doch: katholische Homosexuelle), hatte sich die Rolle eines Mannes auf den Leib geschrieben, der dazu verdammt ist, immer eine Rolle zu spielen, schon wegen seiner sexuellen Orientierung, von der die Nachbarn alle wissen, über die sie alle sich in eindeutigen Andeutungen ergehen („Fritzchen ist die ideale Hausfrau.“ „Er küsst ja doch nur seine Knaben.“). Die auch, da stellt sich der Film quer zum Stereotyp des gezeigten kleinbürgerlichen Milieus, niemanden stört, solange er nur nicht mit dem Fleisch geizt. Also ist Haarmann, wie die Raab-Figur in Ulli Lommels „Die Zärtlichkeit der Wölfe“ nach einer historischen Persönlichkeit heißt, was den Film aber nicht daran hindert, seine Geschichte von den Zwanzigern ins Nachkriegsdeutschland zu verlegen, (Hilfs-)Polizist und (falscher) Priester, der an der Tür im Namen der Caritas um Almosen bittet, um diese dann bei einem algerischen Soldaten (El Hedi Ben Salem) gegen Konserven einzutauschen, Serienkiller, Vampir und nicht zuletzt Fleischer (und zwar einer, der das blutige Treiben der Schlachthoffamilie in Tobe Hoopers „The Texas Chainsaw Massacre“ um genau ein Jahr vorweg genommen hat).

Die Rollen, in die dieser Haarmann schlüpft, sind bezeichnend. Er repräsentiert die staatliche Gewalt und die christliche Fürsorge ebenso wie die Versprechungen des Wirtschaftswunders (Fleisch für alle!). Der gesellschaftliche Außenseiter, der schwule Jungenmörder, ist in der kleinbürgerlichen BRD der Fünfziger Jahre, wie sie der Film porträtiert, eine Figur, die direkt dem kollektiven Unbewussten dieser Gesellschaft zu entspringen scheint, in der ihre geheimsten Wünsche und Bedürfnisse (nach Fleisch!) verkörpert werden und in deren Schuld sich die eigene aufzulösen scheint, deren dunkle Geheimnisse die eigenen Leichen im Keller spiegeln. Auch deshalb kann er wohl hier so lange ungestört morden. Wäre da nicht die eine Nachbarin (Margit Carstensen), die ihm (und den vielen jungen Männern, mit denen er sich ständig umgibt, die in einem Fort bei ihm ein-, aber eben oft nicht wieder ausgehen) spinnefeind ist, die der Polizei von dem Krach in der Wohnung berichtet, davon, wie er ständig mit riesigen Paketen die Wohnung verlässt, aber sie nie mit ebensolchen betritt.

In der letzten Einstellung bleiben nur noch Schatten, die eine Straße hinab gehen. Haarmann und die anderen werden eins im Zwielicht. Der historische Serienkiller Haarmann, so erfahren wir von einer Texttafel am Ende, wurde 1925 hingerichtet. Der filmische hingegen wird als Schatten endgültig einer von uns.

Den Film, der trotz seines großen Erfolges an der Kinokasse, wo er 1973 am drittbesten abschnitt, lange Zeit quasi nicht verfügbar war, gibt es bereits seit 2015 von CMV auf DVD und Blu-ray sowie in einem auf tausend Stück limitierten Mediabook mit beiden Formaten. Die Freude an dieser Veröffentlichung, die mit einem dekorativen Booklet und umfangreichen Extras daherkommt und eine regelrechte „Studienausgabe“ bietet, wie sie dieser Film auch verdient hat, wird empfindlich geschmälert durch die Tatsache, dass sie nicht über das richtige Bildformat verfügt, den Film statt in 1,66:1 in 1,78:1 präsentiert, um die Nutzer heute gängiger 16:9-Fernseher nicht mit schwarzen Balken an den Bildrändern zu behelligen. Das mag weniger schlimm sein als das Zurechtschnippeln von Cinemascope-Filmen auf 4:3 zu VHS-Zeiten, wird aber den Möglichkeiten einer Blu-ray absolut nicht gerecht.

Verleugnung

(USA, GB 2016, Regie: Mick Jackson)

Passt!
von Dietrich Kuhlbrodt

Verleugnung auf allerlei Ebenen! Vergasungen haben in Auschwitz nicht stattgefunden, weil’s keine Gaskammern gab – sagte vor 30 Jahren David Irving, Geschichtswissenschaftler mit vielen Followern. – Gelogen, wir wissen’s längst. …

Verleugnung auf allerlei Ebenen! Vergasungen haben in Auschwitz nicht stattgefunden, weil’s keine Gaskammern gab – sagte vor 30 Jahren David Irving, Geschichtswissenschaftler mit vielen Followern. – Gelogen, wir wissen’s längst. Die amerikanische Professorin Deborah E. Lipstadt sagt es ihm. Er, der Leugner, verklagt sie wegen Verleumdung.

Zuständig ist ein britisches Gericht. Dort im Lande gilt was Besonderes: Der Kläger legt die Hände in den Schoß, der Beklagte muss beweisen, dass der Leugner Unrecht hat. Der historische Prozess beginnt.
Wir haben Anfang des Jahrtausends. Wir erfahren alles über das englische Justizsystem. – Gähn, ist das spannend? Ist es. Weil ‚Verleugnung‘ kein Belehrungsfilm aus der deutschen Gremienkultur ist – die wird glatt verleugnet –, sondern ein Unterhaltungsfilm. Voll das Entertainment. Leute, guckt euch den britischen Kronanwalt an, der der Angeklagten, von der Beweislast schier erdrückt, schließlich zum Sieg über den Leugner verhilft. Voll sympathisch der Mann. Der Film widmet sich ausführlich seinem Alkoholkonsum. Halbes Dutzend südenglische Weinflaschen den Tag? Wohin führt das? Zu Spitzenleistungen im Beruf! Er ist einfach der Beste, und Irving liegt am Boden.

Der Film zeigt Spitzencharaktere von – übertreiben wir ein klein bisschen – Shakespeareschem Format, und wieder sind die deutschen Belehranstalten verleugnet. Also: eine wahre Geschichte, beste Unterhaltung vor topernstem Hintergrund. Das gilt für alle Akteure. Sie kommen persönlich nahe, und was sie transportieren, kommt hinterher. Ja, den Holocaust gab es. Und das britische Justizsystem ist verbesserungswürdig (dem Angeklagten müsste die Schuld nachgewiesen werden, nicht umgekehrt).

Aber: In ‚Verleugnung‘ beweisen die Schauspieler in erster Linie sich selbst, alles andere folgt; zum Schluss Verneigung und Applaus. Regisseur Mick Jackson hat dafür ein anderes pathetisches Bild gefunden, eben nicht Vorhang zu, sondern Küsschen der Schauspieler auf offener Bühne. Passt doch!

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

La libertad del diablo

(MEX 2017, Regie: Everardo González)

Eine Freiheit, die keine sein sollte
von Jürgen Kiontke

Der diesjährige Amnesty-Filmpreis bei den Berliner Filmfestspielen ging an den mexikanischen Regisseur Everardo González für seinen Dokumentarfilm „La libertad del diablo“. „Meinen ersten Mord habe ich im Alter von 14 …

Der diesjährige Amnesty-Filmpreis bei den Berliner Filmfestspielen ging an den mexikanischen Regisseur Everardo González für seinen Dokumentarfilm „La libertad del diablo“.

„Meinen ersten Mord habe ich im Alter von 14 Jahren verübt. Ich hatte meine Schuluniform dabei an.“
Ein junger Mexikaner, Berufsbild Auftragsmörder, aus der Gegend um Ciudad Juárez, erzählt von seinem Alltag. Einem Arbeitsalltag im Drogenkrieg. Er tut dies in Everardo González‘ Berlinale-Film „La libertad del diablo“ (MEX 2017).

Wenn es dieses Jahr einen heftigen Film auf den Berliner Filmfestspielen im Februar zu sehen gab, dann war es dieser. González, mexikanischer Regisseur, Produzent und Kameramann, ist eine der wichtigsten Stimmen unter den lateinamerikanischen Dokumentarfilmern. Bei seinem neuesten Werk hat sich der Teufel in der Tat alle Freiheiten genommen – und der Zuschauer ist gefordert darüber nachzudenken, wie es gelingen kann, ihm diese wieder zu nehmen.

Der Film handelt vom Krieg mexikanischer Drogenbanden, von bezahlten Mördern, von Geldeintreibern und ihren Opfern. Die Drogenkriminalität und ihre Bekämpfung gleichen einem Bürgerkrieg, der in den vergangenen fünf Jahren um die 100.000 Tote gefordert hat. Da sind die Kollateralschäden noch nicht dabei. Um die aber geht es González: Er lässt die Angehörigen zu Wort kommen – ebenso wie die Täter. Denn Statistiken bleiben abstrakt, über schreckliche Nachrichten regt sich in Mexiko kaum noch jemand auf. González will die Geschichten hinter den Zahlen erlebbar machen. Vor seiner Kamera, so die Idee, können Opfer und Täter ihre Gefühle aussprechen, ohne Wertung, nach dem Prinzip einer Wahrheitskommission.
Damit sie vor Verfolgung und Rache halbwegs geschützt sind, tragen Täter wie Opfer Stoffmasken. Die Erzählungen werden spärlich von Alltagsszenen illustriert: Männer posieren mit Waffen, eine Fahrt durch die Wüste.

Vielen mag dieser Film im allgemeinen Festivalgewusel entgangen sein, er lief in der eher unbedeutenden Festival-Sektion „Berlinale-Spezial“. Dabei hätte er durchaus in den Wettbewerb gehört, zumal er in Berlin Weltpremiere hatte. Denn nicht nur die Interviews mit den Protagonisten sind beeindruckend, sondern auch die Art, wie der Film gemacht ist. Mit der Maskierung wird auch ein komplexes Drama inszeniert. Dass die Täter zu Wort kommen, ist schwer auszuhalten, soll aber den Angehörigen ermöglichen, mit den grässlichen Folgen der Taten abzuschließen, gleichsam Vergebung durch Trauer zu ermöglichen.

Darüber hinaus sorgte der Film schlichtweg für die eindrucksvollste Filmszene der Berlinale: Als eine Mutter erzählt, wie ihre Kinder hingerichtet wurden, beginnt sie zu weinen. Unter den Augen beginnt sich der dünne Stoff durch die Tränen dunkel zu färben. Auch bei anderen passiert das, während sie von den Gräueltaten berichten. Ein Bild, das den Film in aller Schrecklichkeit strukturiert. „La libertad del diablo“ lässt so manchen Zuschauer schockiert im Kinosessel zurück. Ein radikaler Film, der nicht zu Ende ist, wenn das Licht angeht. Und er ist auch nicht mit der üblichen Kinoware vergleichbar.

Dabei ist es nicht das erste Mal, das Regisseure auf solch grausame Weise verknüpfte Schicksale auf die Leinwand bringen. Da gibt es Claude Lanzmanns „Shoah“, in dem Beteiligte die Geschehnisse des Holocausts im Interview schildern. Auch Lanzmann arbeitet ohne Archivbilder. Oder Joshua Oppenheimer, der Opfer und Massenmörder – die der indonesischen Militärjunta – inszenierte.

Nur, dass die Ereignisse in „La libertad del diablo“ in der Gegenwart stattfinden, jetzt, in dieser Minute. Andere sehr starke Beiträge, die nominiert waren, wie „Maman Colonelle“ (COD/FRA 2017) über eine kongolesische Polizistin und „I Am Not Your Negro“ (F/US/BEL/CH 2016) über den US-Schriftsteller und Bürgerrechtler James Baldwin, wirken dagegen beinahe konventionell.

Was in den Tätern vorgeht, weiß in der Tat wohl der Teufel am besten. Wenn man die Menschen, die es zu töten gilt, nicht persönlich kenne, dann störe einen die Tat selbst nicht sonderlich, sagt ein Mörder lapidar. Wenn Mord eine Alltagsverrichtung ist, lebt man damit. Wobei: „Kinder töten fällt schwer. Das tut schon weh“, sagt ein Bandenmitglied. Aber den Audi A4 vor der Tür zu haben, das wäre schon cool. Und es sei ein gutes Gefühl, wenn die Leute aus Angst vor einem weglaufen, heißt es ein anderes Mal. Demgegenüber stehen die Aussagen der Opfer. Eine Mutter berichtet, wie sie mit den Tätern verhandelt habe, sie mögen ihre Kinder in Frieden lassen. Aber die hatten anderes im Sinn. Sie erzählt, wie sie später die Knochen der Opfer ausgegraben habe und die Turnschuhe ihrer Kinder wiedererkannt habe. Immer wieder kommt es zu Pausen, die Betroffenen müssen sich sammeln.

Und wieder wechselt die Perspektive. Kinder im Micky-Maus-T-Shirt, ebenfalls mit Masken, fordern angemessene Rache, sie wollen, dass die Täter ebenso behandelt werden wie die Opfer. Die Kinder wollen ihren Tod. Und die Polizisten, die sich in González‘ Film äußern, sagen, schon der Selbstschutz gebiete, festgenommene Täter umgehend zu liquidieren, sonst hätte man später selbst das Nachsehen. Hier spricht eine Gesellschaft vor der Gesellschaft; als gebe es außer Mord und Totschlag keine Geschäftsgrundlage für ein Leben, das kein Zusammenleben erlaubt. Killer wie Polizisten haben zuweilen dieselbe Erklärung: Sie würden „Befehle“ befolgen. Hier haben sich alle schon ein bisschen mit den Umständen arrangiert. Wer immer auch zu Wort kommt: Bald fragt sich der Zuschauer, was in diesem Gebiet der Erde bloß passiert sein mag.

Die diesjährige Jury des mit 5.000 Euro dotierten Amnesty International-Filmpreises war von „La libertad del diablo“ überzeugt. „Schonungslos schildert Regisseur Everardo González das unermessliche Grauen, indem er Opfer und Täter gleichermaßen zu Wort kommen lässt‘, sagte der Regisseur Oliver Hirschbiegel bei der Verleihung des Preises im Namen der Jury, der neben ihm Schauspielerin Aylin Tezel und Anne-Catherine Paulisch von Amnesty International angehörten. Mit großem Respekt zeige der Filmemacher ihren Schmerz und ihre Verletzungen, ohne zu werten, zu kommentieren und zu belehren. „In intensiven und streng komponierten Bildern entsteht das zutiefst ehrliche und feinfühlige Portrait einer Gesellschaft, in der Angst und tiefe Verunsicherung dominieren, weil Gewalt von allen Seiten kommen kann“, so die Begründung der Jury.

Und dies führt zu einem weiteren Aspekt des Films. Denn González‘ Absicht ist es, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Dies könne aber nur über die Vergebung der Angehörigen geschehen. „Denn Mord bringt Mord hervor“, sagte Jean-Christophe Simon vom zuständigen Weltvertrieb, der den Amnesty-Preis für González entgegennahm. Die Auszeichnung für diesen Film sei besonders wichtig, sagte Simon, weil er für Aufmerksamkeit sorge und so auch eine Schutzfunktion für die Befragten und das Filmteam habe. Denn das Problem sei ja nicht aus der Welt. Die Auswahl der 17 für den Amnesty-Preis nominierten Filme sei großartig gewesen, sagte Aylin Tezel dem Amnesty Journal. „Aber dieser Film ist so ehrlich, man kann sich nicht distanzieren.“ Täter und Opfer seien dermaßen präsent, als sei man selbst im Gespräch mit ihnen.

„Filme können Geschichten und Ereignisse nahebringen, die außerhalb unseres Alltags passieren. Sie können Menschenrechtsverletzungen bekannt machen oder Menschen in den Vordergrund stellen, die sich unter Einsatz ihres Lebens für eine bessere Welt einsetzen und von denen wir sonst nie erfahren würden“, hatte Anne-Catherine Paulisch zu Beginn der Berlinale gesagt. Man könne die Arbeit von Filmschaffenden, die Menschenrechtsthemen auf besondere Weise abbilden und erlebbar machen, unterstützen, „und die Menschen dazu ermutigen, sich für den Schutz der Menschenrechte einzusetzen“. Einen besseren Preisträger hätte man so gesehen kaum finden können.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal

40 Tage in der Wüste

(US 2015, Regie: Rodrigo García )

Möglichkeiten der Befreiung
von Wolfgang Nierlin

Karg, steinig und unwegsam erstreckt sich bis zum Horizont eine Wüstenlandschaft vor dem Auge des Betrachters. Die unwirtliche, wilde Ödnis, von einer unbarmherzigen Sonne beschienen, ist ein ambivalenter Ort: Einerseits …

Karg, steinig und unwegsam erstreckt sich bis zum Horizont eine Wüstenlandschaft vor dem Auge des Betrachters. Die unwirtliche, wilde Ödnis, von einer unbarmherzigen Sonne beschienen, ist ein ambivalenter Ort: Einerseits umschließt sie einen ganz diesseitigen Raum der Entbehrung, ist fremd und ohne Zukunft; der Mensch erfährt sich in ihr als ausgesetzt und ganz auf sich allein gestellt. Andererseits kann die Wüste, befreit von allem Materiellen, in ihrer Stille und Verlassenheit zu einem Ort der Sammlung und der inneren Einkehr werden, der die Gegensätze zuspitzt und zugleich aufhebt. Die heißen Tage und die kalten Nächte, das unfruchtbare Land und die Schätze aus Stein, Gut und Böse sind in ihr vereint.

Auf der Suche nach Erkenntnis in der Begegnung mit sich selbst hat sich Jeshua (Ewan McGregor) in die Wüste begeben. Die Grenzenlosigkeit des unbebauten Raums als Bedingung der Askese soll körperliche Entbehrung und geistige Übung ins Gleichgewicht setzen. Betend und fastend sucht der „heilige Mann“ das Zwiegespräch mit sich selbst und mit Gott. Auf dem Weg nach Jerusalem will sich Jeshua auf „seine Aufgabe“ vorbereiten und ringt dabei um Antworten. Doch sein himmlischer Vater schweigt. Stattdessen meldet sich sein Versucher zu Wort, der ebenfalls von Ewan McGregor gespielt wird und der deshalb als kaum unterscheidbarer Doppelgänger erscheint. Nur Jeshua kann seinen Widersacher sehen und hören, der als Verneiner und Nihilist Zweifel sät und unbequeme Ansichten formuliert: Der schweigende Vater liebe nur sich selbst; und das Leben bestehe aus einer endlosen Reihe von Wiederholungen, die zu keinem Ziel führten. Der listige, durchaus kommunikative Verführer agiert mit den Mitteln der Täuschung; zugleich könnte er eine Abspaltung von Jeshuas Ich sein, gewissermaßen dessen Unterbewusstes.

Rodrigo García bezieht sich mit seinem vielschichtigen Film „Last Days in the Desert“ in sehr freier, parabolischer Form und mit einem reduzierten Setting auf jene Episode im Leben Jesu, die der deutsche Verleihtitel „40 Tage in der Wüste“ wachruft. Gemeint ist der Zeitraum zwischen Jesu Taufe im Jordan und seinem Auftreten in Galiläa, als Jesus vom Teufel dreifach versucht wird und dabei in der Treue zu Gott standhaft bleibt. García wählt diesen biblischen Hintergrund und die mit ihm verknüpften Anfechtungen seines Protagonisten, um in dessen Begegnung mit einer Familie „die menschliche Dimension von Jesus zu untersuchen“ und die „Auseinandersetzung mit allgemein menschlichen Glaubens- und Daseinskonflikten“ zu gestalten. Dabei interessiert sich der Sohn des Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez vor allem für den Vater-Sohn-Konflikt seiner Geschichte, den er in der Konstellation der portraitierten Familie widerspiegelt.

„Ich bin kein schlechter Sohn“, resümiert einmal der heranwachsende junge Mann (Tye Sheridan) mit Nachdruck gegenüber Jeshua seine konfliktreiche Beziehung zum Vater (Ciarán Hinds). Während dieser seinen Sohn in der Einöde halten will und deshalb ein Haus für ihn baut, träumt jener von Jerusalem, vom Meer und vom Aufbruch in ein Leben, in dem er Spuren hinterlassen möchte. Der schweigsame Jeshua hört verständig zu, fungiert als Vermittler und Spiegelbild und hat nicht immer eine Antwort. Vor allem gegenüber der todkranken, noch jungen Mutter der Familie (Ayelet Zurer) empfindet er sich als hilflos und schwach. Und er, der von sich einmal Taten statt Worte fordert, kann schließlich auch nicht verhindern, dass der Vater beim Versuch, an einer schwer zugänglichen Felswand einen wertvollen Jaspis abzutragen, tödlich verunglückt.

Der Tod des „irdischen Vaters“ sowie der Kreuzestod des „himmlischen Sohns“ am Ende des Films, beide als Opfer deutbar, verweisen in Rodrigo Garcías meditativem, von großer Konzentration getragenem Film auf Möglichkeiten der Befreiung und Erlösung. Er habe die „Sehnsucht individueller Selbstverwirklichung“ und den Glauben an eine „höhere Berufung“ aufeinandertreffen lassen wollen, sagt der kolumbianische, in den USA arbeitende Regisseur. Die faszinierenden, von dem renommierten Kameramann Emmanuel Lubezki gestalteten Bilder einer ebenso realistischen wie symbolischen Wüstenlandschaft, aufgenommen im südkalifornischen Anza-Borrego Desert State Park, antworten gewissermaßen auf die Zeitlosigkeit dieser Themen. Fast scheint es, als sei zwar nicht der innerweltliche, aber der metaphysische Sinn des Opfers vergessen. Für die Touristen jedenfalls, die durch ihr Auftreten am Schluss einen Bezug zur Gegenwart herstellen, ist die (geschichtsträchtige) Landschaft nurmehr ein Fotomotiv.

A Serious Man

(USA 2009, Regie: Ethan Coen, Joel Coen)

Please, accept the mystery!
von Ricardo Brunn

Lawrence Gopnik (Michael Stuhlbarg) ist ein ernsthafter, geradliniger Mann. Und gewiss ist er auch ein guter Autofahrer. Nur an diesem einen Tag ist er es nicht. Abgelenkt von einem seiner …

Lawrence Gopnik (Michael Stuhlbarg) ist ein ernsthafter, geradliniger Mann. Und gewiss ist er auch ein guter Autofahrer. Nur an diesem einen Tag ist er es nicht. Abgelenkt von einem seiner Studenten, den Larry aus dem Auto heraus auf dem Bürgersteig erspäht, achtet der sonst so gefasste und aufmerksame Familienvater und Mathematikprofessor nicht mehr auf den Verkehr, schon ist es passiert. Handlungen haben nun einmal Konsequenzen. Doch Glück im Unglück bleibt Larry unversehrt. Zur gleichen Zeit fährt auch Sy Ableman (Fred Melamed), Larrys engster Freund und ebenso ernsthafter Mann wie vorbildlicher Autofahrer, mit seinem Wagen durch die Stadt. Im Gegensatz zu Larry konzentriert sich Sy auf den Verkehr, fährt nicht zu schnell, schaut regelmäßig in den Rückspiegel, setzt den Blinker, achtet sehr genau auf nahende Fahrzeuge. Trotzdem wird auch er in einen Unfall verwickelt – in einen für ihn tödlichen, wie wir im weiteren Verlauf des Filmes erfahren sollen.

Diese in „A Serious Man“ parallel erzählten Zwischenfälle veranschaulichen, was der Film der Coen-Brüder verhandelt. Es geht um nicht weniger als die Frage, ob all unsere Handlungen und daraus entstehenden Konsequenzen dem Zufall unterworfen sind oder ob im Gegenteil alles einem Plan folgt, wir in unseren Aktionen determiniert sind und somit alles erklär-, im besten Fall sogar berechenbar ist. Es ist, wenn man so will, die zentrale Frage des coenschen Gesamtwerkes. Immer wieder lassen die beiden Regisseure ihre kuriosen Figuren an diesem Problem und damit an der Welt scheitern. Oder sie umgeben sie mit einem strengen Regel- und Wertekatalog, der Ordnung ins vermeintliche Chaos bringen soll. Walter Sobchak (John Goodman) sind in „The Big Lebowsky“ (USA 1998; R: Joel & Ethan Coen) Linien deshalb nicht nur auf der Bowlingbahn äußerst wichtig. Und Larry Gopnik versucht in „A Serious Man“ sein Leben unter den Gesetzmäßigkeiten einer mathematische Gleichung zu betrachten. Doch die Welt lässt sich nicht nach „x“ auflösen, ist den Figuren immer einen Schritt voraus. In der Sekunde, in der der Mensch willensfreie Entscheidungen trifft, muss er erkennen, dass manche Dinge dem Zufall zu unterliegen scheinen, dass das Glück unbeständig und die menschliche Handlungsfähigkeit tatsächlich eingeschränkt sind. Unvereinbar stehen sich im Universum der Coens der gesunde Menschenverstand, Wissenschaft, Religion und Esoterik gegenüber, können miteinander kommunizieren, aber alle Oppositionen am Ende doch nicht aufheben, weil sie den Zufall stets ausklammern. Was den Figuren in ihrer Unsicherheit bleibt, ist die obsessive Befragung der Wirklichkeit und ihr Staunen über den Lauf der Dinge.

In „A serious man“ beginnt dieses Staunen mit einer Bewegung durch den Gehörgang. Langsam kriecht die Kamera aus dem Schwarz in die Handlung des Filmes, den Geräuschen entgegen, dringt die Liedzeile „When the truth is found to be lies“ von Jefferson Airplane ans Trommelfell, welches in diesem Moment nur die Leinwand des Kinos sein kann. Das Ohr wird hier ganz bewusst als Sitz des Gleichgewichtsorgans und Organ des Verstehens inszeniert, geht es doch im Film um eine aus dem Gleichgewicht geratene Hauptfigur, die vom Wunsch nach Selbstbestimmung getrieben und von Fortuna verraten umherirrt und (sprachlich wie kognitiv) die Geschehnisse verstehen will. „You can‘t do the physics without the mathematics“, sagt Larry einmal zu seinem koreanischen Problemstudenten, der nicht begreifen will, dass er erst das eine Fach bestehen muss, um im anderen eine Prüfung ablegen zu können. Es ist ein sehr eng gefasstes Primat des kausalen Zusammenhangs, das Larry Gopnik auf das Leben anwendet. Umso unbegreiflicher bleibt es für Larry, als sein geregeltes Leben mit Reihenhaus, Familie und Chance auf lebenslange Anstellung an der Universität nach und nach aus der gewohnten Ordnung zu fallen droht. Plötzlich will sich seine Frau Judith (Sari Lennick) von ihm scheiden lassen und es mit Larrys Kumpel Sy versuchen. An der Universität tauchen aus dem Nichts Briefe auf, die Larry diskreditieren. Ein Student versucht ihn zu bestechen. Und schließlich muss er aus seinem Haus aus- und in ein Motel einziehen und sich einen Scheidungsanwalt suchen. Dabei hat er nichts verbrochen, keine Fehler gemacht, sich immer ordentlich verhalten, weshalb auch nichts Abwegiges geschehen dürfte.

Alle Schicksalsschläge, die Larry als modernem Hiob ereilen, inszenieren die Coen-Brüder in ihrer bissigen Komödie mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Konsequent lassen sie jeden Dialog, der zu Klärungen führen soll, scheitern. Für keines der aufgeworfenen Probleme Larry Gopniks wird eine adäquate Lösung angeboten. Kein Rabbi kann Larry mit sicherem Rat zur Seite stehen. Alle Gespräche mit seinem Anwalt werden durch Zwischenfälle unterbrochen. Und das absurdeste Gespräch von allen mündet nach einem Schlagabtausch, in dem Larry verzweifelt versucht, sich einen offensichtlichen Bestechungsversuch bestätigen zu lassen, in der finalen Antwort des beschuldigten Gegenübers: „Please, accept the mystery.“

Das Leben ist ein Mysterium, an dem Larry Gopnik stellvertretend für uns scheitert. Er selbst beweist das, wenn er in einem Alptraum mit ausgebreiteten Armen vor einer haushohen, bis auf den letzten Zentimeter bekritzelten Tafel steht und verkündet, dass wir nach der Heisenbergschen Unschärferelation niemals genau sagen können, was überhaupt vor sich geht. Und die Coens sind ehrlich genug, zuzugeben, dass auch sie zu keiner Lösung kommen können. Schrödingers Katze ist eben lebendig und tot zugleich. Das Glück kommt und geht und der Mensch muss damit umgehen. Oder anders formuliert: Please, accept the ambiguity. Deshalb kann es auch sein, dass in der Sekunde, da Larry Gopnik Gutes widerfährt und er auf Lebenszeit angestellt wird, eben diese Lebenszeit durch einen Telefonanruf seines Hausarztes in Frage gestellt wird und ein Tornado am Horizont die Ordnung der Welt aus den Angeln zu heben droht. Die Coens spielen in „A Serious Man“ nicht Gott, sondern das Spiel des Lebens selbst: sie sind unberechenbar und voller Fragen an den Lauf der Dinge.

Hier findet sich eine weitere Kritik zu ‚A Serious Man‘.

Die andere Seite der Hoffnung

(FI 2017, Regie: Aki Kaurismäki)

Phönix mit gebrochenen Flügeln
von Wolfgang Nierlin

„Eira“ heißt das Schiff, das in den nächtlichen Hafen von Helsinki einfährt, was, als Anagramm gelesen, ein bisschen an den Filmtitel „Ariel“ erinnert. Aki Kaurismäkis Verlierergeschichte aus dem Jahre 1988 …

„Eira“ heißt das Schiff, das in den nächtlichen Hafen von Helsinki einfährt, was, als Anagramm gelesen, ein bisschen an den Filmtitel „Ariel“ erinnert. Aki Kaurismäkis Verlierergeschichte aus dem Jahre 1988 endet dort, wo sein neuer Film „Die andere Seite der Hoffnung“ anfängt. Geographisch betrachtet, handelt es sich um gegensätzliche Bewegungen. Doch tatsächlich sind jener Aufbruch und diese Ankunft im Motiv der Flucht miteinander verbunden. In beiden Fällen und aus sehr unterschiedlichen Gründen können es die Protagonisten an ihren angestammten, lebensfeindlich gewordenen Orten nicht mehr aushalten. Nur tragen die individuellen Gründe – bei aller Ähnlichkeit der kaurismäkischen Helden – dreißig Jahre später deutliche Zeichen der Globalisierung; und zwar überaus aktuell und dezidiert politisch.

Wenn sich zu Beginn des Films eine dunkle, von Kohlestaub bedeckte Gestalt aus einem riesigen Berg Koks erhebt, entsteigt Phönix der Asche. Doch bei aller Würde, die dieses emblematische Bild vermittelt, ist Kahled Ali (Sherwan Haji) ein schwarzer Engel mit gebrochenen Flügeln. Nur mit Not dem Grauen des syrischen Bürgerkriegs entronnen, wo er außer seiner Schwester Miriam die ganz Familie verloren hat, ist er nach abenteuerlicher Flucht über die Balkanroute eher unfreiwillig und als blinder Passagier in einem Land angekommen, das ihn nicht haben will und sein Asylgesuch ablehnt. „Dieses Land ist unwirtlich und steinig“, heißt es in einem der Songs, die die Handlung kommentieren.

Dabei hat der ernst und unerschrocken wirkende junge Mann seine Ansprüche auf ein menschenwürdiges Dasein längst auf ein Minimum beschränkt. Kahled ist zu allem bereit: „Sterben ist leicht, aber ich will leben“, formuliert er mit existentieller Radikalität. Ironisch und mit Lust an der paradoxen Zuspitzung respektive Übertreibung engagiert sich Aki Kaurismäki einmal mehr für die Entrechteten und die bürokratischer Willkür ausgesetzten Außenseiter der Gesellschaft. Wenn nach Nachrichtenbildern vom zerstörten Aleppo die Abschiebung Kahleds erfolgen soll, besitzt das Plakative nicht nur eine dringliche Deutlichkeit, sondern auch einen bitteren, dem Widersinn geschuldeten Humor. Kaurismäki spricht einfache Wahrheiten aus, indem er ihren humanen Kern offen und unverstellt, bewusst naiv und direkt freilegt.

Der finnische Melancholiker, der seine stoischen Helden in stets „altmodischen“, in einem speziellen Sinne „zeitlosen“ Interieurs inszeniert, erzählt insofern immer auch moderne Märchen. In entsprechend stilisierten Bildern und mit bewährt lakonischem Erzählduktus beschwört er eine anachronistische, gewissermaßen rückwärtsgewandte Gegenwelt, in der die Solidarität und Verbundenheit der nicht nur sozial Benachteiligten einen vornehmen Platz einnimmt. Die parallel erzählte Geschichte des Handelsvertreters Waldemar Wikström (Sakani Kuosmanen), der wortlos seine Frau verlässt beziehungsweise seiner Ehe entflieht und sein Hemdenlager gegen ein heruntergewirtschaftetes Lokal mit Namen „Zum goldenen Krug“ tauscht, fungiert dabei zum einen als Spiegelgeschichte unter veränderten Vorzeichen; zum anderen finden die nach biographischen Brüchen obdach- und heimatlos gewordenen Helden im „Goldenen Krug“ einen geschützten Hort der Gemeinschaft und der gegenseitigen Unterstützung. Doch trotz aller Hoffnung und utopischer Sehnsucht wird daraus kein Paradies. Dafür sind die Feinde der Menschlichkeit zu real und hässlich.

Halloween 3 – Season of the Witch

(USA 1982, Regie: Tommy Lee Wallace)

Welcome to Dystopia!
von Nicolai Bühnemann

Dass ich diesen Film – von Genre-Geeks und Slasher-Nerds leidenschaftlich gehasst, von der Kritik überwiegend gescholten und dem Publikum größtenteils ignoriert – mögen würde, wusste ich bereits bei einer Szene …

Dass ich diesen Film – von Genre-Geeks und Slasher-Nerds leidenschaftlich gehasst, von der Kritik überwiegend gescholten und dem Publikum größtenteils ignoriert – mögen würde, wusste ich bereits bei einer Szene im Krankenhaus nach etwa zehn Minuten. Großartig, wie die Kamera von Dean Cundey, der später unter anderem die „Back to the Future“-Filme und „Jurassic Park“ fotografieren sollte, die sterile Leere des Schauplatzes einfängt. Bei dem Mord, der hier geschieht, erinnert nicht nur die Tatsache, dass der Killer schwarze Handschuhe trägt, an einen Giallo. Ein Bezug, mit dem der Film über den Kontext seines Subgenres, des Slasherfilms hinausgeht (auch wenn „Haloween III“ für solche festen Zuschreibungen viel zu eigensinnig ist, doch dazu später mehr) und auf dessen italienische Vorgänger verweist, so wie er seine Hauptfigur an einer Stelle auf das irisch-keltische Fest Samhain verweisen lässt, dessen Bräuche die US-amerikanische Halloween-Kultur entschieden prägten. Die (Pop-)Kultur in einem Einwanderungsland wie den USA ist nie eine ausschließlich „amerikanische“ Angelegenheit, hat ihre Wurzeln immer schon überall auf der Welt, auf anderen Kontinenten, in anderen Zeiten und anderen (Pop-)Kulturen, was, nebenbei bemerkt, sicher nicht das einzige ist, was einen Slogan wie „America first!“ als vollkommen schwachsinnig erscheinen lässt. Nach dem Mord nimmt die Kamera Fahrt auf, rast durch die von schummrigem Neonlicht erleuchteten Gänge.

Dass ich diesen Film lieben würde, wusste ich spätestens bei einer Szene in einer Bar, in der sich die männliche und die weibliche Hauptfigur kennenlernen, die wenig überraschend bald ein Paar sein werden. Beide sind sie im Leben gestrandet, auf einem Plateau angekommen: Er lebt frisch in Scheidung von seiner Frau, mit der er zwei Kinder hat, ihr geliebter Vater ist gerade ermordet worden. Die Atmosphäre in dieser Bar, in der ein Fernseher flimmert, der den im Film allgegenwärtigen Halloween-Tage-Count Down zur Melodie von „London Bridge“ spielt, in dem eine Programmankündigung für John Carpenters „Halloween“ zu sehen ist. Das Licht und die Atmosphäre in dieser Bar sind so unverwechselbar, dass man sich keinen schöneren Ort für ein Filmpaar in spe vorstellen könnte, um einander zum ersten Mal zu treffen.

Der Vorgänger ging ganz auf Nummer Sicher, indem er in jeder Hinsicht an Carpenters Meisterwerk von 1978 anknüpfte, dessen DarstellerInnen-Duo Jamie Lee Curtis und Donald Pleasence übernahm, den Villain Michael Myers, die Titelmelodie von Carpenter (in der bei ihm das Geschnatter der High School Girls unterging und durch die die Suburbia-Schauplätze bereits am Tag, auf den eine mörderische Nacht folgen sollte, unheimlich aufgeladen wurden) und dessen Geschehen zu allem Überfluss nicht in der Gegenwart des Jahres 1981 spielte, sondern in der Halloween-Nacht des Jahres 1978, also unmittelbar an die Ereignisse des Erstlings anschloss. Der Body-Count des in dieser Hinsicht eher zurückhaltenden Carpenter-Films wurde drastisch nach oben korrigiert, der Schauplatz Krankenhaus recht geschickt ausgenutzt, wobei unter anderem Spritzen und Whirlpools zu Mordwaffen umfunktioniert wurden. Alles in allem kein schlechter, aber auch kein sonderlich bemerkenswerter Genrebeitrag.

Was für ein anderes Kaliber Film ist dagegen „Halloween III“! Was für ein sperriger und, das wiederhole ich an dieser Stelle gerne, eigensinniger Film, der der Überbietungslogik eines Sequels nicht nur darin gerecht wird, dass die Menge an Splatter- und anderen Spezialeffekten – allerdings, das sei der Fairness halber dazu gesagt, waren diese schon 1982 kaum auf der Höhe der Zeit, haben dafür einen ganz eigenen naiven Fünfziger Jahre-Charme – im Vergleich zu den beiden Vorgängern hoch gesetzt wurde. Auch der Body-Count beläuft sich laut einer OFDb-Review auf nicht von mir geprüften 23 Toten, was mehr wären als in den beiden Vorgängern zusammen.

Regie-Debütant Tommy Lee Wallace konnte mit dem finanziellen Desaster, das dieser Film an der Kinokasse war, natürlich nicht in eine große Karriere starten, arbeitete später hauptsächlich fürs Fernsehen, wo er immerhin unter anderem bei dem Zweiteiler „It“ nach dem Roman von Stephen King Regie führte, den ich unbedingt nachholen möchte. Natürlich kann man sich für Fans der Reihe keinen größeren Affront vorstellen als seinen „Halloween“-Beitrag. Ein Slasher-Sequel, das nicht nur auf den vier Jahre nach seinem ersten Auftritt bereits ikonographischen Michael Myers verzichtet und auf seine guten Gegenspieler sowieso, sondern, auch, und das noch bei der weitesten Dehnung des Begriffes, vieles ist, aber eines nicht: ein Slasher.

Vielmehr wird die factory town Santa Mira, Sitz des gigantischen Halloweenmaskenherstellers Silver Shamrock, in die es das Protagonistenpaar Dr. Daniel Challis (Tom Atkins) und Ellie Grimbridge (Stacey Nelkin) auf der Suche nach dem Mörder ihres Vaters, der sein Patient war, verschlägt, zu einer beeindruckenden Dystopie. Der Ort bildet als Mikrokosmos einen absolut entfesselten Monopolkapitalismus ab, in dem nur eine einzige Firma das Sagen hat, nicht nur alleiniger Arbeitgeber ist, sondern auch alles überwacht, jede/n ausschaltet, der oder die ihr nicht in den Kram passt. „I feel like a gold fish“, sagt Ellie angesichts der vielen starrenden Augen bei der Fahrt durch den Ort und Challis stellt etwas später fest: „This place is a zoo.“ Geleitet wird Silver Shamrock von dem heimlich fiesesten, weil menschlichsten Villan der “Halloween“-Reihe Conal Cochran (Dan O’Herlihy, der auch fünf Jahre später in „Robocop“ einen fiesen Firmenleiter spielen sollte, der mit dem organisierten Verbrechen paktiert), der in seinem Reich nicht nur alleiniger Souverän ist, sondern, indem er künstliches Leben erschafft, sich quasi zum Gott erhebt. In diesem an eine faschistische Diktatur gemahnenden Mikrokosmos floriert die von altem irischem Kapital (denn nicht mal das ist hier US-amerikanisch) beheizte Wirtschaft, was jedoch nicht allen ihren BewohnerInnen zum Vorteil gereicht, wie Challis gleich nach seiner Ankunft feststellt, als ihn ein Obdachloser auf der Straße anspricht und um einen Schluck aus der soeben erworbenen Schnapsflasche bittet, den er ihm, in dem er einen willkommenen Verbündeten und Informanten sieht, natürlich sofort gewährt.

Santa Mira ist zugleich ein Ort, an dem verschiedenste Traditionslinien des Genrekinos zusammenlaufen. Da ist zunächst neben dem Giallo sicherlich der Paranoiathriller der Siebziger, wobei die wichtigste Referenz vielleicht Philip Kaufmans „Invasion of the Body Snatchers“, der bereits 1978, also im selben Jahr wie der erste „Halloween“, Elemente von Science Fiction, Horror und (Paranoia-)Thriller meisterlich kombinierte. Es ist keineswegs zufällig, dass es sich hierbei um ein Remake des gleichnamigen Don Siegel-Films von 1956 handelt, denn auch die Fünfziger spuken durch das 1982 in Santa Mira. Sie finden sich etwa in den Spezialeffekten von Gesichter verbrennenden Laserstrahlen, aber auch in der absolut gruseligen Vorzeigefamilie eines Angestellten der Fabrik, die ein ziemlich blutiges Ende findet. Santa Mira ist ein dialektisches Wunderwerk, ein Ort, der ganz und gar zeitlos ist, nur im Kino existieren kann, aber dabei doch den Zeitgeist der frühen Achtziger mitten ins Herz trifft. Und die zerrüttete Familiengeschichte des Protagonisten sowie die Liebe des Films für krisengeschüttelte gesellschaftliche Außenseiter, die hier auch ruhig mal Arzt sein können, ohne ihren Platz in der Welt so recht zu finden, lässt ihn eh als Spätausläufer des New Hollywood erscheinen.

So ist Challis einfach kein family man wie Michael Myers – schon eher ein dirty old man in der Art von Charles Bukowskis Alter Ego Henry Chinaski. Die Monogamie ist seine Sache nicht, der sich vor den Aufwartungen hübscher Frauen nicht retten kann, einer befreundeten Krankenschwester auch mal selbst seine Aufwartungen macht – mit einem Klaps auf den Hintern. Im Umgang mit seinen Kindern gibt er sich gleich zu Beginn denkbar unbeholfen. Die Halloweenmasken, die er ihnen mitbringt, können gegen die ständig im Fernsehen beworbenen aus dem Haus Silver Shamrock, die ihnen ihre Mutter geschenkt hat, nicht anstinken. Damit ist die family time gleich zu Beginn auch schon wieder beendet, die Exfrau, die ihm bei dieser Gelegenheit Vorhaltungen über „drinking and doctoring“ macht, eine Anspielung auf sein wohl ziemlich ausgewachsenes Alkoholproblem, kommt im folgenden Film nur noch als wutentbrannte Stimme aus dem Hörer eines öffentlichen Telefons vor. Als die viel jüngere Ellie und er in Santa Mira ankommen haben sie erst einmal so leidenschaftlichen Sex, wie ihn nur frisch Verliebte haben können, der leider viel zu schnell ausgeblendet wird mit einem Schnitt zu einem establishing shot auf die ausgestorbene nächtliche Straße des Ortes, in dem Moment, als er sich mit dem Mund über ihren Nippel hermacht. Dafür gibt es eine Einstellung später den schönsten postkoitalen Dialog in einem Film ever: Als sie sich gleich wieder über ihn hermachen will, beginnt ihn zärtlich zu küssen, antwortet er mit der Frage: „Aren’t you just the least bit tired?“ „No.“ „Wait a minute, how old are you?“ „Relax! I’m older than I look.“

Aber „Halloween III“ hat nicht nur Vorbilder, sondern er kann auch selbst als ungewürdigter Begründer einer Traditionslinie des amerikanischen Genrekinos gesehen werden, als Vorreiter von Filmen wie „They Live“, einem späteren, endlos deliranten und düster dystopischen Meisterwerk John Carpenters, in dem das Böse ebenfalls unter anderem aus dem Fernseher kommt, oder durch die metafiktionalen Spielereien mit dem ersten „Halloween“, der hier gleich mehrmals über Fernsehbildschirme flimmert, die, freilich etwas weiter ausgearbeitet, in einer anderen Slasher-Reihe, zwölf Jahre später, endgültig zum Tragen kamen, nämlich in „Wes Craven’s New Nightmare“, dem siebten Teil der „Nightmare on Elm Street“-Reihe. Oder auch, wesentlich weniger ambitioniert, in „Seed of Chucky“, dem fünften Teil der Serie um die Mörderpuppe, dem Regie-Debüt von deren Erfinder Don Mancici. Ja, der Film war von Produzent Carpenter sogar als Beginn einer neuen Reihe geplant, in der nach dem Tod Myers am Ende von „Halloween II“ jedes Jahr ein neuer Film mit einem anderen Halloween-Bezug in die Kinos kommen sollte, was aber nach dem kommerziellen Misserfolg von „Halloween III“ komplett im Sande verlief. Übrigens startete der Film nur wenige Monate nach „Blade Runner“, mit dem ihn auch das Thema künstliche (Killer-)Menschen verbindet. Dass sich um Scotts Film ein regelrechter Kult gebildet hat, während Wallaces Film, der sich so nonchalant und mutig zwischen alle Stühle setzte, nicht mal unter Genre-Aficionados wirklich als Geheimtipp gehandelt wird, ist eine der großen Ungerechtigkeiten der Filmgeschichte.

Selbst das Franchise um Michael Myers kam durch „Halloween III“ ins Stocken. Erst sechs Jahre später konnte mit „Halloween 4: The Return of Michael Myers“ verkündet werden. Dabei wurde aus Budget-Gründen zum ersten Mal nicht in Cinemascope gedreht, was auch in den folgenden drei Filmen beibehalten wurde. Es scheint, dass sich mit diesem Film die Serie auch ein Stück weit vom Kino verabschiedet hat, um erst mal den boomenden DTV-Markt zu bedienen. Der folgende „Halloween 5“ wurde nur noch in fünf Ländern ins Kino gebracht und ist im Rest der Welt (darunter auch in den USA) auf Video veröffentlicht worden. Erst „Halloween H20: 20 Years Later“, 1998, also 20 Jahre nach Teil 1, drei Jahre nach dem unmittelbaren Vorgänger, „Halloween: The Curse of Michael Myers“, bot wieder das breitere Bildformat, da mit der inzwischen zum Star gewordenen Jamie Lee Curtis, die einst mit „Halloween“ ihr Kinodebüt vorgelegt hatte, auch das Geld ins Franchise zurückkehrte, leider in einem Film, an dem der sperrige Titel noch das Interessanteste ist.

Richtig Fahrt aufnehmen sollte das Franchise erst wieder durch das Reboot des Musikers/Filmemachers Rob Zombie 2007. Es ist kein Zufall, dass die Vorgeschichte Michael Myers, bevor er aus der Klinik ausbricht, die bei Carpenter nur eine lange Einstellung dauerte, hier die komplette erste Filmhälfte einnimmt, geht es Zombie doch darum, seine Hauptfigur zunächst nach allen Regeln der Kunst psychologisch zu fundieren mit Strippermama, Alkipapa und sehr „fuck“-lastigen Zombie-Trademark-Dialogen. Wer das, wie ich, nur bedingt für eine gute Idee hält, der wird im Sequel von 2009 über Gebühr entschädigt, mit dem vielleicht originärsten Film der Reihe, der die psychologischen Implikationen des Vorgängers in schier unfassbaren Wahnsinn überführt. Laurie (Scout Taylor-Compton) wird zur Psychiaterin geschickt, Dr. Loomis (Malcolm McDowell), der sich mit seinem Buch über Myers und seine Morde eine goldene Nase verdient hat, und dabei, wie viele Erfolgsmenschen ein ziemliches Arschloch geworden ist, darf Freud vulgarisieren, und der große Michael hat Visionen von dem kleinen Michael mit seiner Mutter, die sich im ersten Teil suizidiert hatte, und nun im weißen Kleid ein weißes Pferd führen und dabei so bezaubernd aussehen darf wie nur Robs Frau Sheri Moon Zombie bezaubernd aussehen kann.

Nacktbaden – Manche bräunen, andere brennen

(GR/DE 2016, Regie: Argyris Papadimitropoulos)

Tragödie eines lächerlichen Mannes
von Wolfgang Nierlin

Wenn der reisende Fremde auf seiner Überfahrt zu einer Insel durch die Frontscheibe des Fährschiffs blickt, spiegelt sich das unbekannte Eiland als eine Welt im Kleinen in seinem Gesicht. Das …

Wenn der reisende Fremde auf seiner Überfahrt zu einer Insel durch die Frontscheibe des Fährschiffs blickt, spiegelt sich das unbekannte Eiland als eine Welt im Kleinen in seinem Gesicht. Das Wetter ist grau und nebelverhangen und eine sanfte Tristesse liegt in den Wintermonaten über der griechischen Ferieninsel mit ihren weißen Häuschen, die unbewohnt scheinen. Der Ankömmling ist neu auf Antiparos. Und als 42-jähriger Junggeselle ist seine Einsamkeit bald eine doppelte. Denn Kostis (Makis Papadimitriou), der hier eine Stelle als Arzt antritt, ist nach dem Empfang durch den Bürgermeister zwar bald integriert in die Dorfgemeinschaft, seine emotionalen Defizite sind aber unübersehbar. Schweigsam und etwas hemdsärmelig führt er seine Praxis, während er im zwischenmenschlichen Umgang leicht unsicher und unbeholfen wirkt. Argyris Papdimitropoulos verbindet in der ausführlich und genau inszenierten Exposition seines Films „Nacktbaden – Manche bräunen, manche brennen“ (Suntan) den Topos des einsamen Inseldaseins mit der Isolation eines Mannes in mittleren Jahren.

Alles ändert sich, als es Sommer wird und mit der Ankunft von Licht und Wärme zahlreiche Urlauber die Insel bevölkern. Unter ihnen ist auch die ebenso schöne wie aufreizende Anna (Elli Tringou), die mit ihrer provozierend distanzlosen, sich ungezwungen und übermütig gebenden Clique das Leben im Hier und Jetzt genießt. Als die 21-Jährige mit einer Beinverletzung den Arzt aufsucht, blüht der verschämte Kostis innerlich förmlich auf. Von der freizügigen Anna ermuntert, besucht er die vergnügungssüchtige Gruppe auf ihrem Zeltplatz am Nacktbadestrand. Doch der Kontrast zwischen dem untersetzten, leicht pummeligen Mann, der sich mit Sonnencreme und Hut vor der Sonne schützt, und dem unbekümmerten Hedonismus höchst vitaler, gutaussehender Jugendlicher könnte kaum größer sein. Kostis lässt sich treiben und verführen. Er ergibt sich dem Rausch langer Disco-Nächte und vernachlässigt darüber seine Praxis. Doch während der Arzt langsam im besitzergreifenden Wahnsinn der Liebe versinkt, bleibt für die sich unabhängig gebende Anna alles nur ein leichtes, sommerliches Spiel.

Beeinflusst von den Büchern Michel Houellebecqs und seinen eigenen langjährigen Erfahrungen auf Antiparos hat Papadimitropoulos einen, so der griechische Regisseur, „Coming-of-middle-Age-Film“ gedreht. Die Melancholie über das Älterwerden und über den Verfall des Körpers kontrastiert darin hart mit der körperlichen Lebendigkeit und schier grenzenlosen Freiheit einer Jugend im hormonellen Dauerrausch. Erzählt aus der Perspektive des tragikomischen Helden, für den sich die Farben des Sommers zunehmend gefährlicher verdunkeln, thematisieren Papadimitropoulos und sein Freund und Koautor, der Filmregisseur Syllas Tzoumerkas („A Blast“), aber auch das Verhältnis des leidgeprüften Einzelgängers zu den rigiden Ausschlussverfahren der Gruppe. Immer wieder und teils überdeutlich setzt Papadimitropoulos dieses schmerzliche Getrenntsein mit all seinen vergeblichen Hoffnungen und traurig stimmenden Peinlichkeiten ins Bild. So ist „Nacktbaden“ mit seinen motivischen „Lolita“-Anleihen nicht nur die Tragödie eines lächerlichen Mannes, sondern auch ein Film über den Wahn der Einsamkeit. Denn damit der liebeskranke Arzt – so der psychoanalytische Subtext – das ferne Objekt seiner Begierde heilen kann, muss er dieses erst verletzen.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Nacktbaden‘.

Die versunkene Stadt Z

(US 2016, Regie: James Gray)

Obsessive Suche nach dem Unbekannten
von Wolfgang Nierlin

Major Percy Fawcett (Charlie Hunnam) ist ein Mann ohne Orden. Im Jahre 1905 dient der weitgereiste Unteroffizier in einer britischen Kaserne im irischen Cork und leidet insgeheim unter seinen mangelnden …

Major Percy Fawcett (Charlie Hunnam) ist ein Mann ohne Orden. Im Jahre 1905 dient der weitgereiste Unteroffizier in einer britischen Kaserne im irischen Cork und leidet insgeheim unter seinen mangelnden Aufstiegschancen, die ihm durch den schlechten Ruf seines trunksüchtigen Vaters verbaut sind. Zu Beginn von James Grays epischem Abenteuerfilm „Die versunkene Stadt Z“ sieht man Fawcett als unerschrockenen Teilnehmer einer gefährlichen Hirschjagd, wie er das flüchtende Tier in einem mutigen Ritt verfolgt, um es schließlich mit einem gezielten Schuss zu erlegen. Der Tod sei die beste Liebe des Lebens, sagt der stolze Schütze, während er das getötete Wild streichelt und die Bewunderung seiner Kameraden entgegennimmt.

Damit ist bereits ein zentrales Motiv des späteren Forschungsreisenden und Entdeckers gesetzt, der das Abenteuer und die Gefahr förmlich sucht, um seine obsessive Suche nach dem Unbekannten voranzutreiben und in der Konfrontation mit dem Tod das Leben intensiver wahrzunehmen. Das Licht des Feuers, das die Dunkelheit erhellt, fungiert dafür als Metapher und rahmt den Film. James Gray nimmt sich aber auch Zeit, um seinen ebenso nachdenklichen wie virilen Helden in seinen sozialen Bezügen zu charakterisieren. Neben seinen Aufstiegswünschen innerhalb einer rigiden Gesellschaftshierarchie gehört dazu vor allem sein von inniger Liebe und einem großen Vertrauen geprägte Verhältnis zu seiner Ehefrau Nina (Sienna Miller). Die Mutter eines kleinen Jungen namens Jack, der im weiteren Verlauf der einen Zeitraum von zwanzig Jahren umspannenden Geschichte noch eine wichtige Rolle spielen wird, ist nämlich nicht nur schön und unabhängig, sondern auch feinsinnig und loyal.

Das ist auch nötig angesichts der Anfeindungen, denen ihr Mann in den folgenden Jahren immer wieder ausgesetzt ist. Im Frühjahr 1906 ist Fawcett nämlich im Auftrag der Royal Geographical Society im bolivianischen Urwald unterwegs, um den unklaren Grenzverlauf zum Nachbarland Bolivien zu kartographieren. Zusammen mit seinem Adjutanten Henry Costin (Robert Pattinson) soll seine Mission aufkeimende Konflikte um das „schwarze Gold“ des Kautschuks befrieden. Doch je tiefer er mit seinen Gefährten in das Dickicht der „grünen Wüste“ des Urwalds vordringt, desto gefährlicher und geheimnisvoller wird der strapaziöse Weg. Bald zehren Hunger und Krankheit an den Kräften der Männer, die, von Indios, Piranhas und Wahnsinn bedroht, auf dem Rio Verde wie auf einem ewigen Strom der Zeitlosigkeit treiben. Als sie schließlich dessen Quelle erreichen, findet die Expedition nicht nur ein glückliches Ende, sondern auch Nahrung für einen Neuanfang. Denn der ehrgeizige Fawcett entdeckt Tonscherben und vermutet in ihnen Reste einer alten, untergegangenen Zivilisation.

„Du entkommst dem Dschungel nicht“, sagt einmal ein indigener Scout zu dem besessenen Entdecker, für den das Suchen immer mehr zum eigentlichen Ziel und damit zu einer spirituellen Daseinsform wird. Denn Percy Fawcett, der nach seiner Rückkehr zunächst als Held gefeiert wird, bricht 1912 und 1925 erneut nach Amazonien auf, um nach der sagenumwobenen Stadt „Z“ zu suchen und um in der gefahrvollen, geradezu existentiellen Erforschung des Unbekannten das Geheimnis und die Schönheit des Lebens zu entdecken. Dazwischen liegen die Schrecken des 1. Weltkrieges, wo Fawcett in der berüchtigten Schlacht an der Somme von Chlorgas schwer verletzt wird sowie ein Vaterglück, das den Abenteurer immer nur in der Ferne erreicht. Diese Abwesenheit inszeniert James Gray in kurzen, assoziativen Flashbacks, in denen die Zeit zur Erinnerung gerinnt. Vom renommierten Bildgestalter Darius Khondji unter erschwerten Bedingungen auf 35mm aufgenommen, akzentuiert Gray in seinem nach wahren Begebenheiten und dem Buch von David Grann entstandenen Film das stoffliche Fließen zwischen den Zeiten und Welten. Schließlich, so bemerkt einmal Fawcett, seien alle Menschen aus dem gleichen Stoff gemacht.

Dieses Sommergefühl

(FR, DE 2016, Regie: Mikhaël Hers)

Die Leere nach dem Tod
von Wolfgang Nierlin

Es ist ein Tag wie jeder andere, als die 30-jährige Französin Sasha (Stéphanie Déhel) ihren Freund Lawrence und die gemeinsame Berliner Wohnung verlässt, um zu ihrer Arbeit ins Kunstquartier Bethanien …

Es ist ein Tag wie jeder andere, als die 30-jährige Französin Sasha (Stéphanie Déhel) ihren Freund Lawrence und die gemeinsame Berliner Wohnung verlässt, um zu ihrer Arbeit ins Kunstquartier Bethanien zu gehen. Die sommerliche Stadt zeigt sich hell und grün und freundlich, die Morgenluft ist frisch und unverbraucht, ein leichter Wind bewegt die Welt. Noch ist der Alltag unbeschwert und unschuldig, der Blick frei und offen. Umso beunruhigender wirkt der Kontrast, wenn Sasha, die tagsüber mit einer gewissen Routine an einem Siebdruck gearbeitet hat, auf ihrem Heimweg durch einen öffentlichen Park plötzlich zusammenbricht und kurz darauf stirbt. Dieser Schicksalsschlag grundiert als Schock über einen abrupten Verlust in sanften Schüben und Wellen einer permanenten Trauer Mikhaël Hers‘ Film „Dieses Sommergefühl“. Doch nicht die vielleicht sinnlose Willkür des Lebens ist sein Thema, sondern das sich fortsetzende Gefühl der Leere, das diesen schrecklichen Verlust begleitet.

Der ungewöhnliche Zusammenklang des Schweren mit dem Leichten hält Mikhaël Hers mit seinem sehr feinfühligen Film in einer schwebenden Balance. Seine episodische, nahezu undramatische Struktur, die über einen Zeitraum von zwei Jahren Figuren und Städte verbindet, ordnet die Handlung nicht unter einen zentralen Blick, sondern eher unter ein abwesendes Zentrum. Das erzeugt Fliehkräfte und Flächigkeit, macht Details und Nuancen bedeutsam, vor allem aber gewinnt das Unbestimmte und Unscharfe einen Raum. Dieser ist erfüllt von Atmosphäre und Stimmungen, von Melancholie und Zärtlichkeit. „Dieses Sommergefühl“ ist ein Film, in dem man sich wohlfühlt, weil sein freier Blick und seine offene Dramaturgie eine gespannte Neugier erzeugen. Der Naturalismus der Bilder und die Natürlichkeit der Darstellung fügen sich in dieses Konzept kongenial ein.

„Ich wollte der Zeit bei der Arbeit zuschauen“, sagt Mikhaël Hers über seinen elliptisch gebauten Film, der sich der Flüchtigkeit entgegenstellt, indem er die konkrete Realität durch ihre sinnliche Präsenz intensiviert. Um von ungreifbaren Gefühlen, einem langen Schmerz und dem Trost der Zeit zu erzählen, verteilt er seine dezentrale Strategie auf zwei Figuren und Perspektiven sowie auf die wechselnden Schauplätze Berlin, Paris, New York und den See von Annecy, wo die Eltern der Verstorbenen leben. Verbunden durch die jeweilige Jahreszeit des Sommers, beobachten und begleiten wir zum einen Sashas amerikanischen Freund Lawrence (Andersen Danielsen Lie), einen sensiblen, nachdenklichen jungen Mann, der als mäßig erfolgreicher Schriftsteller und Übersetzer arbeitet und dessen schmerzliche Einsamkeit zudem von seiner Familiengeschichte genährt wird. Zum anderen lernen wir Sashas Schwester Zoé (Judith Chemla) kennen, die einen kleinen Sohn hat und gerade dabei ist, sich von ihrem Mann zu trennen.

Gleich in mehrfacher Hinsicht sind diese Figuren unterwegs in einem (noch) instabilen Leben unter prekären Verhältnissen. Allein in ihrer Trauer, sind sie trotzdem durch ihren Schmerz vereint. Die räumlichen Distanzen legen sich dabei wie ein unsichtbares Band um den gemeinsamen Verlust, der in Hers‘ Film weniger durch Worte bearbeitet wird. Vielmehr scheint das Unausgesprochene der geteilten Trauer in den unmerklichen Verschiebungen der vergehenden Zeit wirksam. Diese heilt Wunden, ohne darüber Auskunft zu geben. Ihr gleichmäßiges Fließen legt sich auf die Orte und Dinge, sie durchdringt die Szenerien, denen die Suche nach Schutz und Anteilnahme eher implizit ist. Im öffentlichen Raum zwischen Hier und Dort, auf Partys zwischen Ich und (potentiell entgrenzendem) Du oder auch auf Dachterrassen an der Grenz zur Dämmerung weitet sich der Blick und ermöglicht der Morgen ein Weitergehen.

Hier und hier finden sich weitere Kritiken zu ‚Dieses Sommergefühl‘.

The Bye Bye Man

(USA 2016, Regie: Stacy Title)

Tabunamensspuk und weißer Wahn in weitem Raum
von Drehli Robnik

Don´t say it! Don´t think it! Sprich den Namen nicht aus! Die Warnung ergeht auch an Faye Dunaway, eine Überlebende aus den Sixties. Zu spät: Der Mann an ihrer Seite …

Don´t say it! Don´t think it! Sprich den Namen nicht aus! Die Warnung ergeht auch an Faye Dunaway, eine Überlebende aus den Sixties. Zu spät: Der Mann an ihrer Seite gab das Verhängnis an sie weiter, es nimmt seinen Lauf, der Name will heraus, nämlich – ‚La La Land‘? Nein, ‚Bye Bye Man‘, und der Film dieses Titels ist zeitgleich zur Academy Awards-Titelpanne der Altspatzen Dunaway und Warren Beatty nicht ganz auf Oscarniveau im Kino unterwegs. In dem Spukfilm von Stacy Title (die Regisseurin heißt echt so!) geht es darum, dass ein seit dem Amoklauf eines braven Familienvaters anno 1969 rumgeisternder Kapuzendämon nicht beim Namen genannt werden darf. Ergo wird ‚Don´t say it‘ recht oft gesagt oder im Kreis auf Wände und Zettel geschrieben. Niemand sagt ‚Beetlejuice!‘, ich auch nicht. Ein weiteres ominöses Motiv des mit Mühe stringenten Films ist das Klimpern von zwei Münzen – was immer wir daraus ableiten wollen.

In fein gemachter Optik, zumal unheimlich geweiteten Zimmern mit darin hängenden Jacken (Don´t think it!), bietet ‚Bye Bye Man‘ besagte (und betagte) Faye Dunaway und Carrie-Anne Moss in vielsagenden Kurzauftritten, sowie allerlei konventionelle Jump Scares und mitunter schön pervers gedoppelte Paranoiavisionen – kurioserweise rund um ein Eifersuchtsleitmotiv, auf das die Sache mit der selbstverräterisch missgönnten Preisauszeichnung dann doch passt wie ein Titel zur Title: Weißer Collegeboy glaubt, sein schwarzer Buddy raube ihm seine weiße Freundin und sein Glück. Also macht er einen auf ‚Stand Your Ground‘ und zieht ihm eins mit dem Baseballschläger über. Na, voll verständlich, ganz normale Figurenmotivation, wie in der Drehbuchschule gelernt. Irgendwann überfährt er mit dem Auto eine African American Bibliothekarin, weil er glaubt, es gibt sie gar nicht. Merke: Nicht alles, was als dubios wahrgenommen wird, ist gleich ein immaterielles Gespenst, oder: Some lives are material, and some are black and immaterial – they don´t seem to matter. And it all happens in the moonlight.

Hitlers Hollywood

(DE 2016, Regie: Rüdiger Suchsland)

Ästhetik der Verführung
von Wolfgang Nierlin

„Was weiß das Kino, was wir nicht wissen?“, fragt der Filmkritiker und Filmemacher Rüdiger Suchsland in seinem neuen Film „Hitlers Hollywood“. Mit dem Filmsoziologen und Ideologiekritiker Siegfried Kracauer als Gewährsmann …

„Was weiß das Kino, was wir nicht wissen?“, fragt der Filmkritiker und Filmemacher Rüdiger Suchsland in seinem neuen Film „Hitlers Hollywood“. Mit dem Filmsoziologen und Ideologiekritiker Siegfried Kracauer als Gewährsmann ist er sich darin einig, dass Filme als Seismographen ihrer Entstehungszeit fungieren und mithin mehr zeigen als sie zu zeigen vorgeben. In diesem Sinn sind sie Indikatoren für das kulturell Unterbewusste einer Epoche und Transportmittel für gesellschaftliche und politische Ideologien. Und das umso mehr, so Suchslands zentrale These, als sich das „Dritte Reich“ „als einziger großer Film“ des kollektiven Unbewussten verstehen lässt, dessen Träume auch heute noch lebendig sind. Tatsächlich produzierte die Traumfabrik des NS-Kinos zwischen 1933 und 1945 über tausend Spielfilme. „Es wollte um jeden Preis groß sein“, sagt Rüdiger Suchsland in seinem inspirierenden Essayfilm über dieses „zweite Hollywood“, das „theatralisch, illusionistisch und monumental“ war und sich zwischen Weltflucht und Indoktrination bewegte.

Im „Gesamtkunstwerk des ‚Dritten Reiches‘“ kam dem Film als Propaganda und als Kommunikationsmittel zur Eroberung der Massen insofern eine entscheidende Bedeutung zu. Dass die Propaganda selbst Kunst war und die Filme aus dieser Zeit „besser sind als ihr Ruf“, zeigt Suchsland anhand vieler Filmausschnitte und ihrer jeweiligen Analyse. Chronologisch und im permanenten Austausch mit den geschichtlichen Zeitläuften, auf die das Unterbewusste des Kinos mit seiner Ambivalenz zwischen Zeigen und Verbergen reagiert, lässt Suchsland das filmische Material sprechen, ohne die einzelnen Dokumente in der Montage scharf voneinander abzugrenzen. Sein Film ist damit selbst eine Inszenierung, die weniger auf die Durchdringung des Einzelnen als Teil des Ganzen zielt, sondern allgemeine Begriffe in den Blick nimmt. Mit Hannah Arendt folgt „Hitlers Hollywood“ der „Konsistenz der Illusion“ und mit Susan Sontag der „Geschichte als Theater“.

Wie die Politik ästhetisiert wird, sich das Individuelle in der ornamentalen Choreographie der Masse auflöst und die Rituale von Aufmärschen als Ersatz-Gottesdienste fungieren, vermitteln diverse Szenen aus Leni Riefenstahls berühmt-berüchtigtem Film „Triumph des Willens“ (1934). Doch die „Ästhetik der Verführung“ und die „Gleichschaltung durch Verzauberung“ sind – gewissermaßen subkutan – vor allem im populären Mainstreamkino der Zeit wirksam. Rüdiger Suchsland untersucht die „totalitäre Propaganda“ (Kracauer) von der Mobilmachung in Hans Steinhoffs Film „Hitlerjunge Quex“ (1933) bis zur mythischen Todessehnsucht und dem heroischen Opferkult in Filmen des „Auteurs und Nationalsozialisten“ Veit Harlan. Dazwischen findet er sogenannte „Legitimationsfilme“, die das Kriegsgeschehen begleiten und rechtfertigen, antisemitische Hetzfilme (wie „Der ewige Jude“ von Fritz Hippler), die sich als „filmischer Mordaufruf“ und als propagandistische Vorbereitung des Holocaust verstehen lassen, sowie „Durchhalteschmonzetten“ und „Urlaubsfilme“.

Im Zentrum von „Hitlers Hollywood“ steht insofern vor allem der Illusionismus der nationalsozialistischen Traumfabrik. Getragen von zahlreichen Stars (zu denen u. a. Hans Albers, Brigitte Helm, Heinrich George, Zarah Leander und Ilse Werner gehören), beschwört dieser Naturidyllen und eine heile Welt, sucht Ablenkung in Abenteuern an exotischen Schauplätzen, huldigt dem Vergessen durch einen forcierten Eskapismus sowie durch irreale Gegenwelten und zelebriert schließlich die Lust am Untergang. Dass es jenseits dieser offensichtlichen oder versteckten Propaganda auch Filme gab, die den Zuschauer nicht sedieren wollten, sondern etwas von jener Wirklichkeit und Intimität zeigten, die bald darauf verloren waren, thematisiert Rüdiger Suchsland anhand einiger Filme von Helmut Käutner. Die schillernde Arbeit des charismatischen Schauspielers Gustav Gründgens steht schließlich exemplarisch für die schwierige Gratwanderung zwischen Kollaboration und Widerstand. In den Nischen der Macht, so könnte man sagen, findet die Wahrheit der Kunst doch noch zu ihrem zwar verleugneten, aber beständigen Recht.

I am not your negro

(US/FR/BE/CH 2016, Regie: Raoul Peck)

Moralische Monstrosität
von Wolfgang Nierlin

“Die Geschichte der Schwarzen in Amerika ist die Geschichte Amerikas – es ist keine schöne”, schreibt der fast 55-jährige, afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin im Juni 1979 in einem unvollendet gebliebenen …

“Die Geschichte der Schwarzen in Amerika ist die Geschichte Amerikas – es ist keine schöne”, schreibt der fast 55-jährige, afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin im Juni 1979 in einem unvollendet gebliebenen Manuskript mit dem Titel “Remember this house”. Er verknüpft darin seine Erinnerungen an die ermordeten schwarzen Bürgerrechtler Medgar Evers, Malcolm X und Martin Luther King mit seinen eigenen schmerzhaften Erfahrungen von Unterdrückung und Diskriminierung. „Was geschieht mit diesem Land?“, fragt Baldwin, während auf der Leinwand Bilder brutaler Polizeigewalt zu sehen sind, die sich gegen demonstrierende Schwarze richtet.

Diese bewusste, auf eine gemeinsame „amerikanische Identität“ zielende Aneignung von Geschichte dient dem Filmemacher und Kosmopoliten Raoul Peck, 1953 in Haiti geboren, wiederum dazu, seine eigenen Erfahrungen darin widerzuspiegeln. In der sehr subjektiven Montage seines preisgekrönten Essayfilms „I am not your negro“ verbindet er Archivbilder, Filmausschnitte, TV-Clips und Musik ausschließlich mit Texten von James Baldwin. Wo der ebenso nachdenkliche wie leidenschaftliche Autor nicht selbst spricht, werden diese in der Originalversion von dem Schauspieler Samuel L. Jackson aus dem Off vorgetragen.

Der von Chris Marker, Alexander Kluge und Jean-Luc Godard beeinflusste Raoul Peck dekonstruiert dabei dezidiert die überlieferte Ikonographie des medialen Archivs, um jene andere, unterdrückte, tatsächlich aber parallel verlaufende Geschichte sichtbar zu machen. In mehreren Kapiteln, die zugleich den Lebensweg Baldwins nachzeichnen, verknüpft er die Bewusstwerdung der Identität als Schwarzer mit der Erfahrung von Differenz und Ausgrenzung; was auch den individuellen Zwiespalt zwischen Innen- und Außensicht einschließt. Jene andere, gewissermaßen „inoffizielle“ Geschichte resultiert aus einer Lebensrealität, die vom weißen Amerika übersehen oder aber ignoriert wird. Diese Indifferenz und „moralische Monstrosität“, die vor allem das Machtstreben der weißen Bevölkerung ausdrückt, wird schließlich mit der beunruhigenden, bislang nicht beantworteten Frage konfrontiert, welcher Platz und welche Aufgaben für die Black Community im „Land der Freien“ vorgesehen sind.

Denn Pecks historischer Exkurs zeigt in teils harten Kontrasten nicht nur eine Geschichte gewaltsamer Unterdrückung und ihr schockierendes Fortdauern bis auf den heutigen Tag, sondern auch, wie der Wohlstand eines ganzen Landes davon abhängt. Während die Schwarzen als Amerikaner zweiter Klasse ausgebeutet werden, leben die Weißen – wie diverse Filmausschnitte ironisch zeigen – in einer pastellfarbenen Kitschblase des Konsums. Doch die sich darin ausdrückende übertrieben Sorge um das „private Selbst“, so ist James Baldwin überzeugt, wirke auf die Dauer zerstörerisch.

The Iron Ministry

(USA 2014, Regie: J.P. Sniadecki)

Lumière in China
von Ricardo Brunn

Die Geschichte des Kinos nahm ihren Anfang bekanntermaßen mit der Einfahrt eines Zuges in den kleinen Bahnhof der südfranzösischen Stadt La Ciotat. Seither sind Film und Eisenbahn eng miteinander verbunden. …

Die Geschichte des Kinos nahm ihren Anfang bekanntermaßen mit der Einfahrt eines Zuges in den kleinen Bahnhof der südfranzösischen Stadt La Ciotat. Seither sind Film und Eisenbahn eng miteinander verbunden. Man denke nur an „The great train robbery“ (USA 1902; R: Edwin S. Porter) und die Erfindung der Montage, an die waghalsigen Aufnahmen eines Dziga Vertov in „Der Mann mit der Kamera“ (D 1929) und die Lust an der Geschwindigkeit oder an das Westerngenre, an die großartige Eröffnungssequenz von „C’era una volta il West“ (IT, USA 1968; R: Sergio Leone) beispielsweise, die noch einmal ganz konkret mit dem cinematografischen Ursprungsmotiv des ankommenden Zuges spielt.

Eisenbahn und Film sind Traummaschinen und ihre Verbundenheit äußert sich zunächst einmal durch ein ähnliches Dispositiv. Der Zugreisende schaut durch den Rahmen des Fensters in eine in Bewegung versetzte Landschaft, beginnt nachzudenken und zu träumen und nimmt damit den Kinozuschauer vorweg. Von außen wiederum ähneln die vorüberziehenden Fensterreihen den Bildkadern eines Filmstreifens. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden Kino und Zug aber vor allem als Teil eines radikalen Erfahrungswandels zu Sinnbildern der Moderne und der Widerhall des knapp eine Minute dauernden „L’arrivee d’un train à la gare de la Ciotat“ (FRK 1896) der Gebrüder Lumière reicht bis in unsere Zeit. Aus der Tiefe des Bildes näherte sich damals die Eisenbahn in diagonaler Bewegung der Zuschauerin und begründete den Mythos der panikartigen Flucht des Publikums. Was als nie verifizierte Legende in die Filmgeschichte einging, kann in einem allgemeineren Sinne als Reaktion der Menschen auf die umfassenden ökonomischen, sozialen und kulturellen Umwälzungen durch den industriellen Fortschritt und die gleichzeitig entstehende visuelle Massenkultur begriffen werden. Zwar gestattete der rasante Fortschritt eine Erweiterung der Welterfahrungsmöglichkeiten. Doch in gleichem Maße, in dem die Welt näher an den Einzelnen heranrückte, Zwischenräume aufgehoben und die Wahrnehmung von Raum und Zeit vollkommen neu strukturiert wurden, wuchsen in zunehmendem Maße auch Verunsicherung und Desorientierung.

Etwas mehr als 100 Jahre nach „L’arrivee d’un train à la gare de la Ciotat“ greift J.P. Sniadecki in seinem Dokumentarfilm „The Iron Ministry“ das Bild der in die Zukunft rasenden Eisenbahn noch einmal auf. Über einen Zeitraum von drei Jahren (zwischen 2011 und 2013) hat er sich in unterschiedlichsten Zügen der China Railway Corporation durch das „Reich der Mitte“ bewegt. Mehr als 100.000 Kilometer hat er im noch immer wachsenden Streckennetz zurückgelegt und auf diese Weise eine Momentaufnahme der Entwicklung Chinas geschaffen.

Aus der Dunkelheit dringen zu Beginn Geräusche wie aus einem Stahlwerk zum Publikum. Im Faltenbalg zwischen zwei Waggons erwacht der Film schließlich und tastet sich von da an schlaftrunken durch unterschiedlichste Waggons. „The Iron Ministry“ ist ein somnambuler Film. Er verharrt im Limbo des Lebens, erfasst das Land außerhalb des Zuges nur schemenhaft, zerlegt es in experimentelle Bildfolgen, Lichtblitze und Farbflächen, zeigt unendliche Marslandschaften oder Wohnsilos, die sich im Smog der chinesischen Großstädte vor den neugierigen Blicken der Reisenden verstecken. Im Inneren entfalten sich indessen ganz andere eigenwillige Traumlandschaften, wenn ein Junge im überfüllten Abteil eventuell anwesende Terroristen darauf hinweist, dass nun die beste Gelegenheit sei, die Bombe zu zünden, oder wenn im Gang Schweinehälften wie in einer Schlachterei aufgehängt werden. Zentrales Motiv bilden die schlafenden Reisenden an Fenstern, auf Toiletten, an Türen gelehnt und über ihren Koffern hängend. Im Transit des Zuges schlummert das Versprechen anzukommen und ein anderes Leben führen zu können. Ein Versprechen, das heute in immer weitere Ferne rückt, je schneller man sich darauf zu bewegt, aber auch in China der Motor für gigantische Bewegungen ist. Und so sind es die Schlafenden, die Ordnung in die befremdenden Bilder des Reisen bringen.

Wovon die Reisenden in „The Iron Ministry“ träumen, erzählen sie in einigen Dialogen mit anderen Fahrgästen, zu denen sich die unaufdringliche Kamera hinzugesellt, als ob sie ebenfalls nur eine Zigarette im Gang rauchen will, um dem Verharren im Zwischenraum oder dem Schlaf zu entkommen. Der Regisseur selbst bleibt angenehm zurückhaltend, stellt keinen Off-Kommentar bereit, streut nur ab und an eine Frage in die Dialoge. Er mäandert mit der Kamera durch die Waggons und gibt der Zuschauerin so die Möglichkeit ganz und gar selbst Passagier zu sein. Er lässt sie das Gefühl der Erwartung, das der Ankunft des ersten Zuges der Filmgeschichte schon zu Grunde lag, nachfühlen.

Über den Schnitt verbinden sich Sniadeckis Aufnahmen zu einem einzigen Zug, dessen Waggons die sozialen Klassen Chinas aneinander reihen bis es irgendwann nicht mehr weitergeht und eine Glastür oder eine Uniform die Bewegungsfreiheit stoppt. Spätestens hier werden Erinnerungen an die Hierarchien in Bong Joon-hos „Snowpiercer“ (KOR, USA, FRK 2013) wach, wird das Zukunftsversprechen, das bisher in der Bewegungsfreiheit lag, ausgebremst.

Häufig bringen die einfachsten Fragestellungen die schönsten Filme hervor. „The Iron Ministry“ gibt keine Antworten, der Film begibt sich einfach auf die Suche in den Transitraum. Darin liegt seine ganze Stärke. Film, Traum und das Zugfahren gehen hier noch einmal die gleichen Wege: Hinein ins schwarze Unbekannte.

Elle

(FR, D, BE 2016, Regie: Paul Verhoeven)

Katzen, Menschen, Vergewaltigungen
von Nicolai Bühnemann

Nur die Katze war Zeuge. Exponiert in der ersten Einstellung nimmt sie die Perspektive der Zuschauenden ein. Und wie sie wissen auch wir zunächst nicht, wovon genau wir da Zeugen …

Nur die Katze war Zeuge. Exponiert in der ersten Einstellung nimmt sie die Perspektive der Zuschauenden ein. Und wie sie wissen auch wir zunächst nicht, wovon genau wir da Zeugen werden. Das Stöhnen, das schon vor dem ersten Bild zu hören ist, könnte auf sexuelle Ekstase, aber auch auf eine Vergewaltigung hindeuten. Somit geht es in „Elle“ von Anfang an um die Vermengung von Bereichen, die die meisten Menschen klar und sicher voneinander getrennt wissen wollen: einvernehmlicher Sex auf der einen, sexuelle Gewalt auf der anderen Seite. Das ist eine große Provokation und der Regisseur des Films, Paul Verhoeven, ist einer der begnadetsten Provokateure der Filmgeschichte, für den seit Anfang der Siebziger die Regeln dessen, was auf der Leinwand gezeigt und erzählt werden darf, vor allem da sind, um gebrochen zu werden, der immer noch einen entscheidenden Schritt weitergeht und mit der konsequenten Zuspitzung seiner Szenarien ins Obszöne der Obszönität der Realität ein ums andere mal näher kommt, als es Tausend „regeltreue“ (Arthaus-)Filmemacher könnten.

So ist denn auch das Gediegene an „Elle“ – die Art etwa, wie der Film die Vergewaltigung (denn um eine solche handelt es sich) zu Beginn ausblendet, sie zunächst nur durch Blut im anschließenden Schaumbad erahnen lässt, aber auch die in geschmackvollen Cinemascope-Einstellungen eingefangenen stilbewussten Interieurs – eine riesengroße Falle. Das beinahe Geleckte der Oberflächen kann immer weniger verbergen, wie sehr es darunter brodelt, sich immer größere menschliche Abgründe auftun. Michèle Leblanc (Isabelle Huppert), die aus allzu nachvollziehbaren Gründen nach ihrem Erlebnis nicht zur Polizei geht, macht sich nun selbst daran ihren maskierten Peiniger zu suchen, der sie weiterhin beobachtet, ihr obszöne Kurznachrichten schickt, in einer Szene in ihre Wohnung eindringt und seinen Samen als Gruß auf ihrer Seidenbettwäsche hinterlässt. In seinem sadistischen Spiel nimmt sie unterdessen keine rein passive Rolle ein. Mehr und mehr trachtet auch sie danach, ihm wieder zu begegnen, ihr Trauma zu wiederholen, wobei eben die Grenze zwischen Lust und Gewalt immer durchlässiger, immer schwerer nachvollziehbar werden.

Mit „Elle“ legte Verhoeven letztes Jahr auf dem Filmfestival in Cannes seinen ersten Kinofilm nach genau zehn Jahren vor, in denen er nur als Regisseur des Fernsehprojekts „Tricked“ (2012) aufgetreten war. Schon der Vorgänger „Black Book“ war durch eine Frau perspektiviert, die sich als Jüdin im von den Nazis besetzten Holland des ausgehenden Zweiten Weltkriegs versteckte und dabei in Kreise des Widerstands geriet. Schon in diesem mutigen Film verstand der Regisseur es, das Bedürfnis des Publikums nach einfachen Antworten und Schwarzweißmalerei ebenso zu unterminieren wie zumindest teilweise das nach Rache und Gerechtigkeit, indem er von Allianzen und Verrat über alle Grenzen nationaler oder ethnischer Zugehörigkeit oder politischer Ideologie hinweg erzählte. Statt darum, die Welt ordentlich in Täter und Opfer zu unterteilen, ging es, mit den denkwürdigen Worten Jacques Rivettes, um das „Überleben in einer Welt, die von Arschlöchern bevölkert ist.“

Letzteres trifft gewiss auch auf „Elle“ zu. Dabei sind die Nebenfiguren aber durchweg ziemlich ätzende Karikaturen, Arschlochkarikaturen. Michèles Mutter Irène (Judith Marge) hat ein geradezu grotesk mit Botox aufgespritztes Gesicht und ist bei ihrem ersten Besuch der Tochter mit einem Mann zusammen, der wohl nicht nur ihr Sohn, sondern gleich ihr Enkel sein könnte, und den sie später zu heiraten gedenkt. Sie versucht die Tochter dazu zu animieren, sich den Monstern ihrer Vergangenheit zu stellen und ihren Vater zu besuchen, der im Knast sitzt, weil er einst, da war Michèle noch ein Kind, der Familie zu trauriger Berühmtheit verhalf, indem er 27 Menschen ermordete (dass das Familiendrama derart ins Groteske, ja Absurde überspitzt wird, ist bezeichnend für diesen Film). Ihr Sohn Vincent (Jonas Bloquet) ist vielleicht die einzige einigermaßen sympathische Figur, nicht obwohl, sondern gerade weil er ein ziemlicher Loser ist, der unter der gnadenlosen Fuchtel seiner, wie Michèle gleich mehrmals betont, „komplett verrückten“ Freundin steht. Als diese später ein Kind bekommt, dessen dunkle Hautfarbe partout nicht zu der des Vaters passen will, wandelt Verhoeven gar auf den Spuren der Farrelly Brothers, in deren Meisterwerk „Me, Myself & Irene“ Jim Carrey einen Mann spielt, den seine Unfähigkeit, sich selbst zu behaupten schließlich bis in eine Persönlichkeitsspaltung treibt. Michèles Ex-Mann Richard (Charles Berling) ist ein Schriftsteller mit Geldsorgen und Writers Block, der gerne ein Videospiel entwerfen würde und mit einer seiner Schülerinnen ein Verhältnis anfängt (Michèles Kommentar dazu: „Frauen, die „Das andere Geschlecht“ gelesen haben, fressen dich auf und spucken dich wieder aus.“). Abgerundet wird das Figurenpersonal, das in seiner Diversität eint, dass man im wirklichen Leben mit keinem dieser Menschen gerne mal einen Kaffee trinken würde, durch Anna (Anne Consigny), mit der Michèle ihre Firma für Videospiele leitet und mit deren Mann sie eine Affäre hat. Und dann ist da natürlich noch der nette Nachbar Patrick (Laurent Lafitte), dem seine Frau offensichtlich nicht zu der sexuellen Befriedigung verhelfen kann, nach der er sich sehnt.

Mich „Elle“, deren Perspektive, darauf verweist schon der Titel, der Film schonungslos einnimmt, fügt sich als extrem unterkühlte Geschäftsfrau erst einmal ziemlich gut ins sinistre Gesamtbild. Ähnlich gefasst und gefühllos wie sie zu Beginn über ihre Vergewaltigung hinweg geht, nimmt sie später auch den zeitnahen Tod ihrer beiden Eltern in Kauf. Ganz zu Beginn sehen wir sie auf einem Meeting in ihrer Firma, bei dem sie von der Vorabversion eines Computerspiels feststellt, dass es nicht brutal genug sei. Wenn ein Monster in einem buchstäblichen Kopffick mit einer seiner Tentakeln in den Kopf seines weiblichen Opfers eindringt, will sie ihre „orgiastischen Zuckungen“ sehen, will das die Spielenden später das Gefühl haben, dass ihnen das Blut aus dem Control Pad durch die Finger rinnt.

Wie eigentlich alle Filme Verhoevens, aber vielleicht ganz besonders seine dystopischen Zukunftsvisionen „Robocop“, „Total Recall“ und „Starship Troopers“, spielt auch dieser Film in einer Welt, in der Gewalt allgegenwärtig ist, die gezeigte Gesellschaft geradezu von ihr zersetzt, aber dann auch irgendwie von ihr zusammengehalten wird. Sie findet sich im Boxkampf im Fernsehen. Im YouTube-Video von Menschen, die Insekten zertrampeln („crushing“ nennt sich dieses eigenwillige Hobby). In den Nachrichtensendungen, die die Verbrechen von Michèles Vater rekapitulieren und in der Schändung seines Grabs auf dem Friedhof, auf dem der Film mit einer beinahe versöhnlichen letzten Einstellung endet. Ganz besonders aber in der innerfamiliären Kommunikation. Die messerscharfen Dialoge des bislang überwiegend auf niedrig budgetierte Serienkillerfilme spezialisierten Drehbuchautors David Birke machen die Sprache zu einer bedingungslosen Waffe, jede Zwiesprache zu einem erbarmungslosen Gefecht.

Wenn die am Anfang noch dezent zurückgehaltenen Bilder der Vergewaltigung, dann immer wieder ziemlich unvermittelt in den Film einbrechen, in Flashbacks der Protagonistin, die das Geschehen an einer Stelle auch zu einer Rachefantasie ummünzen, die einfache Katharsis eines Rape and Revenge-Narrativs als Möglichkeit formulieren, die der Film dann aber doch nicht zulässt, erscheint die sexualisierte Gewalt nur als konsequente Zuspitzung der Gewalt, die eh schon überall ist, alles durchdringt, die Menschen von innen her auffrisst. In einer solchen Gesellschaft wird das Rape Game mit echtem Vergewaltiger, dem man in einer Szene anmerkt, dass er erst einen hoch kriegt, wenn sein Opfer sich erbittert wehrt, zu einer letzten Form Sexualität zu leben. „Elle“ ist das großartige Spätwerk eines großen Meisters des (exploitativen) Kinos. Vielleicht Verhoevens grimmigster Film. Und das will nun wirklich etwas heißen.

Dieser Text ist zuerst gekürzt erschienen auf: Perlentaucher.de

Hier findet sich eine weitere Kritik zu ‚Elle‘.

Bedeviled: Das Böse geht online

(USA 2016, Regie: Abel Vang, Burlee Vang)

The only thing to fear
von Nicolai Bühnemann

Eine Unterrichtsstunde ist im Motivrepertoire des High School-Slashers fester Bestandteil. Das war in Wes Cravens Klassiker des Subgenres „A Nightmare on Elm Street“ von 1984 so, den Lukas Foerster einmal …

Eine Unterrichtsstunde ist im Motivrepertoire des High School-Slashers fester Bestandteil. Das war in Wes Cravens Klassiker des Subgenres „A Nightmare on Elm Street“ von 1984 so, den Lukas Foerster einmal als ersten Meta-Slasherfilm bezeichnete, und das ist in „Bedeviled“ von den Vang Brothers von 2016 nicht anders. Wo jedoch dort düster Literarisches im Englischunterricht besprochen wurde, befinden wir uns hier im Biologieunterricht, wo es um ein Thema geht, das für den Horrorfilm, das ist banal, von zentraler Bedeutung ist: die Angst. Diese ist, so lernen wir, die natürliche Art des Körpers auf Gefahrensituationen zu reagieren, auf „flight or fight“, Flucht oder Kampf, vorzubereiten. So weit, so Lehrbuch. Doch dann nimmt sich der Film einige Freiheit im Auslegen der wissenschaftlichen Fakten, indem er den Lehrer fortfahren lässt zu erklären, dass Angst sich derart intensivieren könne, dass es zu einem tödlichen Adrenalinstoß kommt, es also möglich sei, sich buchstäblich zu Tode zu erschrecken. Wissenschaftlich also gibt das Szenario des Films, dass eine Gruppe gesunder Teenager von einer App, die sich ihrer geheimsten individuellen Ängste zu Nutzen macht, um sie eine/n nach dem/der anderen dahin zu raffen, nicht viel her. Allerdings gilt natürlich auch hier, was ich kürzlich in meinem Text zu „Sleepless“, einem wesentlich problematischeren Genrefilm (dort: nicht Horror, sondern Action) als dem, so viel vorab, sehr gelungenen „Bedeviled“ über filmisches Erzählen schrieb, „das sich schließlich zu realen Begebenheiten autonom verhalten darf und soll, eher eigenen Regeln zu folgen hat als dem Diktat der sogenannten Realität (und was ist ein Genre, wenn nicht eine Art Regelkatalog, den gute Genrefilme nicht nur erfüllen oder abarbeiten, sondern mit dem sie spielen und den sie im besten Fall auch transzendieren können?)“

Zu Beginn stirbt der Teenager Nikki (Alexis G. Zall) und die Hinterlassenschaft an ihre Clique von fünf High School-SchülerInnen, die unmittelbar vor dem Abschluss stehen, ist eine mysteriöse App, für die sie die Einladung nach dem Tod der Freundin erhalten. Technik-Geek Cody (Mitchell Edwards) erklärt dazu, dass es durchaus sein könne, dass eine App-Einladung automatisch auch noch von dem Telefon einer Toten verschickt wird. Diese App mit dem Display-Bild des Mannes mit der charakteristischen, beim Sprechen blinkenden roten Fliege scheint erst einmal verdammt cool zu sein. Sie kennt sich mit eher ungewöhnlichen Pornographie-Vorlieben („midget porn“) ebenso aus wie mit den Mathehausaufgaben und wird für die Adoleszenten schnell zum ständigen Begleiter. Doch schon bald zeigt sich auch die Kehrseite dieses vermeintlichen Glücks, weil sich die Jugendlichen schon bald verfolgt fühlen – und zwar jede/r von dem, was ihm oder ihr die größte Angst macht.

Diese individuellen Ängste schürfen tief in der Vergangenheit, der Familiengeschichte der jeweiligen Figuren, ohne dabei jedoch die politische Gegenwart der USA aus den Augen zu verlieren. Der asiatischstämmige Dan (Brandon Soo Hoo) fürchtet sich etwa vor einer Tante aus dem Dorf, aus dem seine Eltern stammen, über die keiner spricht und die er nur von einem Foto kennt. Seine Freundin Haley (Victory Van Tuyl), mit der er sich über diese Geschichte direkt nach dem Shakespeare-Sex austauscht, den er heimlich und zunächst zu ihrem Missfallen mit dem Handy aufgenommen hat, fürchtet sich vor einem Teddybär, den sie als kleines Mädchen hatte. Der Afroamerikaner Cody hingegen hat, vergegenwärtigt man sich die vielen Fälle, in denen schwarze Menschen in den USA in den letzten Jahren Opfer von Polizeikugeln wurden, allzu verständlicherweise, Angst vor Cops und weißen Menschen (zumindest vor denen, die er nicht näher kennt). Doch auch da werden Konflikte nicht auf Hautfarben reduziert, sondern es ist entscheidend, dass es gerade ein schwarzer Polizist ist, bei dem Dan versucht Hilfe gegen die Killer-App zu bekommen, und dessen Erscheinung sich dann als weitere Inkarnation des Bösen herausstellt. Und auch die Angst vor Clowns, die einen anderen Jungen quält, lässt sich durch Schlagzeilen der jüngeren Vergangenheit ebenso erklären wie durch eine lange Tradition im filmischen und literarischen Genre des Phantastischen (Stephen Kings „It“ in Schrift und Bild sei nur als prominentes Beispiel genannt).

Dass der Film seine Hauptidee, die der deutsche Untertitel mit den Worten „Das Böse geht online“ umschreibt, den Tod aus dem Smartphone, beinahe verschenkt, dass etwa Olivier Assayas es kürzlich in „Personal Shopper“ mit einem langen SMS-Dialog, über dem die Möglichkeit schwebte, dass es sich um einen Kontakt zum Jenseits handelte, wesentlich eleganter schaffte, die für uns heute so alltäglichen Technologien unheimlich aufzuladen, tut dem positiven Gesamteindruck von „Bedeviled“ keinen Abbruch. Neben seinem sehr intelligent geführten Diskurs über die Angst und das, was sie bei jeder/jedem einzelnen verursacht, überzeugt er auch stilistisch. Ein routinierter Grusler, der auf Splattereinlagen ganz verzichtet, und schon wegen des Bildformats von 2,40:1, also sogar noch ein bisschen breiter als das übliche Scope, unbedingt auf eine große Leinwand gehört hätte, aber leider in Deutschland nur von Ascot Elite am 24.03.2017 als DVD, Blu-Ray und Video on Demand veröffentlicht wird.

Power Rangers

(USA 2017, Regie: Dean Israelite)

Brands as Friends – Widerspruchslose Warensubjekte machen mobil
von David Auer

Im Gegensatz zum neuesten „Godzilla“ (2014) ist in diesem Film leider nichts gewagt und nur wenig gewaltig, und wie die schon mehr als 60 Jahre zurückreichende durchwachsene Kinoserie rund um …

Im Gegensatz zum neuesten „Godzilla“ (2014) ist in diesem Film leider nichts gewagt und nur wenig gewaltig, und wie die schon mehr als 60 Jahre zurückreichende durchwachsene Kinoserie rund um das atomare Urvieh stammt die Idee für die „Power Rangers“ ebenfalls aus dem Land der kaum kawaii Kaijus. Anfang der 90er von Saban in die USA importiert, starten sie von da an ihren Siegeszug mit bis dato 23 Fernsehstaffeln und zwei Filmen (sowie jeder Menge Merchandise, selbstverständlich). Die Konstellation ist darin stets dieselbe: Fünf bis sechs Teens werden von den Power Coins zum Superhelden-Sein auserkoren, um die Welt vor wütenden Monstern zu retten. Dabei scheint in Film und Fernsehen abzüglich Neuverfilmung noch der Billigcharme der alten Godzilla-Filme durch: quirlige Bösewichter in ostentativ schlechten Latexkostümen fetzen sich mit kampfsportelnden Schablonen-Heroes. In der aktuellsten Reinkarnation haben die Morpher ihre Spandexanzüge und Motorradhelme gegen schnittige tactical suits getauscht, die wie die Monster nun auch aus dem Rechner kommen. Bevor es aber ans rangen geht und es zum großen Showdown in der kleinen Stadt kommt, gibt’s massig kurzweilige Vorgeschichte.

Die zeigt die titelgebenden Outcasts beim Schwerhaben in der ruralen Highschool, was ihnen das Leben an urbanen Colleges, für deren Broschüren sie einmal Modell stehen werden, bestimmt leicht machen wird. Vom schwarzen Nerd und dem weißen gefallenen Footballstar bis zum queeren native girl gibt es für jede und jeden aus der angepeilten Zielgruppe genug Identifikationsflächen. Das lässt freilich die Herzen der Marketingabteilung ebenso höher schlagen wie jene der tumblr-Generation, die nach dem Kinobesuch im Krispy Kreme, einer im Film prominent vertretenen Kaffeehauskette, bei Donut und Schwarzgetränk gemeinsam davon träumen darf, auch mal und nicht nur im Netz die Welt vor den Mächten des Bösen zu retten.

Die reichen dem Film nach bis in die Urgeschichte zurück, in der es anfänglich kurz vom Verrat einer Kollegin am Kollektiv, an dem es zugrunde geht, handelt. Ein paar Millionen Jahre später wird sie wiedererweckt mit Durst nach Vernichtung und Gold. Später stellt sich heraus, dass sie ein riesiges Ungetüm aus dem flüssigen Edelmetall schmieden will, dem nur die geballte Kraft des Teen-Teams gewachsen ist. Vorm Zusammenwachsen müssen die Jugendlichen jedoch gruppentherapeutisch am Lagerfeuer ihr Innerstes nach außen kehren und zu sich selbst finden. Erst als jede/r in der Clique mit sich selbst identisch geworden ist und die Mission aus der Urzeit vollends angenommen hat, morphen sie zu den Power Rangers, die je einen eigenen Robosaurier zugeteilt bekommen. Im Ausnahmezustand verschmelzen sie als mobilgemachte Einzelteile zum „Megazord“ und fordern das glitzernde Ungetüm heraus; ein letztes Aufbäumen des Goldstandards gegen die zermalmende Kraft der schwankenden Flexibots. Am Ende siegen sowieso die Brands und nicht Bretton (Woods).

Die aalglatte und effiziente Inszenierung verbietet den Vergleich, der sich aufdrängt, nämlich mit Michael Bay. Je weiter die Reihe voranschreitet, desto barocker und manieristischer werden seine „Transformers“-Filme, die einen erschlagen mit ihren endlosen, perfekt animierten Maschinenmaterialschlachten, in denen man sich zumindest noch verlieren kann. Der mittlerweile schon vierte, „Age of Extinction“ (2014), ist an manchen Stellen sowieso nur noch ultraabstraktes PoMo-Kino und reine Oberflächenkunst, die in einem Moment entzückt, im anderen einschläfert ob ihres Potentials, durch Robosaurier-Action die Sinne lahmzulegen. Bayham, wie der Name schon sagt, kann eben nur einer, und schon recht kein Dean Israelite, der in seiner zweiten Regiearbeit zwar brav nach Anleitung dreht, aber den Exzess zwanghaft verweigert, es sei denn den, der weiß, wo seine Grenzen liegen, nämlich im Warenkosmos. Ja eh, zwar ist beides Spielwarenadaptionskino, der gelernte Werbefilmer Bay weiß dieses aber aus Erfahrung so weit ins eigene Extrem zu treiben, dass es sich selbst transzendiert und der Leinwand jegliches identifikatorische Moment, ein wesentliches der Reklame, austreibt.

Ganz anders, nämlich viel gemächlicher, malerischer, kultiviert auch der 2014er „Godzilla“ den Blackout, indem er bis zum packenden Endfight nur Streifblicke auf den monströsen Krach aus Sicht der den Naturgewalten Ausgelieferten zeigt. Das Licht und die Transparenz, die vom besten Monstermash seit „King Kong“ (2005) abgezogen sind, macht sich Israelite nun zu eigen: jede Szene, erst recht die Schlacht am Schluss, ist mit den Scheinwerfern beleuchtet, die Gareth Edwards nicht verwendet hat. Die ultimative Positivität von „Power Rangers“ strahlt noch bis in die Handlungsfähigkeit der Helden aus, von denen es in „Godzilla“ eigentlich keine gibt, außer dem gezackten Urreptil. So ist auch der Showdown im Saban-Film nur eine kurze Affäre, die von den Teenagern, die erst kurz zuvor ihre Kräfte entdeckt haben, souverän gemeistert wird.

Der Klimax liegt sowieso woanders, in der Message nämlich, die da lautet: Eigentlich kann jede/r ein/e Superheld/in sein, man muss es nur wollen; und sollte es damit nicht so recht klappen, lässt sich die Omnipotenz zumindest mit den dazugehörigen Plastikfiguren vorspielen. Neben massig Product Placement gibt’s nämlich genug Eigenwerbung, expliziter als im Rest des Films am Ende: Kids im Film zeigen Spaß am Spiel mit Power Rangers-Merchandise. Markt und Macht sind hier so eng verknüpft wie mittlerweile Identität und Politik, und noch die feinsten Unterschiede werden essentialisiert und als Wesensmerkmale zur schlagkräftigen Währung im Kampf gegen den Universalismus, gegen den in seiner falschen Ausprägung sowieso keine/r eine Chance hat, weil eh jeder von ihm gebrandmarkt ist. Die Brands sind King, und wo kein Ausweg aus der Totalität in Sicht, ist die Wahl, die keine ist, sich ihr vollends zu unterwerfen. So wie die diversen Jugendlichen, die sich den Power Coins, von denen sie auserwählt wurden (nicht andersrum), nicht erwehren können; ganz im Gegenteil: Nichts ist ihnen lieber, als sich durch sie aus dem ruralen Moloch, in dem sie leben, zu befreien. In den 23 Staffeln und zwei Filmen hat der Cast regelmäßig gewechselt und auch in der neuesten Adaption sind die Outcasts bloße Diskurseffekte. Anstatt ihre Auswechselbarkeit zu bejahen und auf ihre Überflüssigkeit zu pochen, damit ihnen und allen anderen einmal das Glück zuteilwird, wirklich nicht gebraucht zu werden, stellen sie sich als tapfere Krieger in den Dienst des Weltsouveräns, der als bis tief in die Vergangenheit wurzelnd und nur seiner Verwirklichung harrend imaginiert wird.

Die Power Rangers sind die idealen Warensubjekte, in denen Anforderung und Bedürfnis zum Mitmachen im Betrieb restlos identisch sind. Der fehlende Mut zur Lücke, der „Godzilla“ ebenso auszeichnet wie die „Transformers“-Reihe, wird in „Power Rangers“ noch den Jüngsten, auf die er mit seiner Brand-Attacke zielt, als Tugend verkauft. Schon sie will er mit nostalgischem Reklame-Trash abspeisen, der upcycled zwar leicht verdaulich, aber ungenießbar ist. Zur Not können sie danach immer noch ins Krispy Kreme einkehren, wo die Donuts – Hefeteigkrapfen mit Lücke! – zwar im Magen liegen, aber wenigstens gut schmecken.

PS: Hätte sich Saban doch an Joseph Kahn gehalten, der mit seinem fantastischen Fanprojekt „Power/Rangers“ den Lollipop-Konzernkosmos in dunkle Gefilde übertragen hat. Anstatt allerdings den erfahrenen Regisseur von zahlreichen Werbespots, Musikvideos und mehreren größtenteils eigenfinanzierten Spielfilmen für die Neuverfilmung zu engagieren, hagelte es Abmahnungen. Unter dem Label „Unauthorized“ und mit der Auflage, daraus kein Kapital zu schlagen, durfte Kahns Kurzfilm dennoch weiterhin online bleiben. Ungekürzt ist er u.a. auf YouTube abrufbar und Dean Israelites Version allemal vorzuziehen.

A United Kingdom

(USA, GB 2016, Regie: Amma Asante)

Gerührt und verführt zur Gleichheit
von Drehli Robnik

Warum zeigen Mainstreamfilme biracial couples fast nur dann, wenn Liebe zwischen Schwarz und Weiß ihr Poblemthema ist? Eine größere Agenda allerdings hat die Historienromanze ‚A United Kingdom‘: Der König von …

Warum zeigen Mainstreamfilme biracial couples fast nur dann, wenn Liebe zwischen Schwarz und Weiß ihr Poblemthema ist? Eine größere Agenda allerdings hat die Historienromanze ‚A United Kingdom‘: Der König von Botswana, 1947 britisch verwaltet, heiratet eine Londonerin (Rosamund Pike). Die Britin Amma Asante zieht Rührungsregister: Liebe vs. Staatsräson, Score wogt, Masse jubelt, Savannensonne sinkt. Geht es um schwarzen Rassismus? Nein, der Stress kommt aus Südafrika: Apartheid will auch diese Liebe trennen. Also ist ein System schuld, das nicht mehr besteht? Nein, denn die Fäden zieht Londons Machtpolitik. United Kingdom indeed: Das große ist in der Brexitkrise, das kleine wich der Republik Botswana; der König (eloquent wie Dr. King und wie jener toll gespielt von David Oyelowo) ist Antimonarchist und fordert Gleichheit. Sehr gut!

Life

(USA 2016, Regie: Daniel Espinosa)

Schwerelos schwebender Socken-Schocker
von Drehli Robnik

Kurz vor dem neuen ‚Alien‘-Film kommt mit ‚Life‘ ein SciFi-Schocker, der den 1979er-Originalfilm Motiv für Motiv kunstvoll ausweidet – plus eine Dosis Laborhorror à la ‚Andromeda‘: alles auf engstem ISS-Raumstationsraum, …

Kurz vor dem neuen ‚Alien‘-Film kommt mit ‚Life‘ ein SciFi-Schocker, der den 1979er-Originalfilm Motiv für Motiv kunstvoll ausweidet – plus eine Dosis Laborhorror à la ‚Andromeda‘: alles auf engstem ISS-Raumstationsraum, mit vielen Großaufnahmen eines guten Cast (u.a. Jake Gyllenhaal, Rebecca Ferguson), der rasch schrumpft, und eines bösen Mars-Organismus, der rasch wächst. Alles ist Bio-Ambiente: fragile Körper hinter Glaswänden und Schotten auf der Leinwand, blanke Nerven und Augen hinter vorgehaltener Hand im Kinosaal.

Aber ‚Life‘ prägt sich auch zum Mikro-Sozialraum aus: Bestand die ‚Alien‘-Schiffscrew aus grindigen Technikhacklern, die einander auf den Senkel gingen, so schwebt die ‚Life‘-Crew schwerelos in Socken, ist kultiviert und solidarisch bis zum Selbstopfer. Mittelschichtsofties. Der Organismus ist weiß, aggressiv, hat kleine Pfötchen und wird bei seiner Entdeckung als wissenschaftliche Sensation just nach einem republikanischen US-Präsidenten benannt. Nämlich Calvin, wie Coolidge. Nein, nicht Donald. So heißt eine Ente. Ein gutes Ende hat ‚Life‘ übrigens auch, also alles gut.

Chuckys Baby

(USA, RO, GB 2004, Regie: Don Mancini)

Glenda / Glen und der Rest der Bande
von Nicolai Bühnemann

Schon der Vorspann ist toll. In der ersten Einstellung fließt etwas über das Bild, das man für Milch halten könnte, doch es offenbart sich schnell, dass es sich um Sperma …

Schon der Vorspann ist toll. In der ersten Einstellung fließt etwas über das Bild, das man für Milch halten könnte, doch es offenbart sich schnell, dass es sich um Sperma handelt. Dass die CGI-Animationen von Spermien auf ihrem Weg zur Eizelle in den, mein Gott!, dreizehn Jahren, die dieser Film nun auch schon wieder auf dem Buckel hat, nicht wirklich vorteilhaft gealtert sind, tut der guten Idee dahinter keinen Abbruch. Auf dem Weg durch einen weiblichen Unterleib verbinden Match Cuts die Eizelle mit einem Auge, Chuckys Auge. Film als Befruchtung eines (männlichen) Auges. Schon hier reproduziert der Film nicht einfach das alte Machtverhältnis aus männlichem Blick und weiblichem Bild, sondern macht klar, dass das alles ein bisschen komplizierter ist.

Der erste „Child’s Play“ von 1988, zu dem Don Mancini die Story erdachte und auch am Drehbuch mitschrieb, war ein sehr effektiv, aber leider auch sehr perfide mit Kinder- und Mittelschichtsängsten spielendes Stück Genrekino. Je prekärer die weiße Mittelschicht, deren Perspektive der Film einnimmt, selbst ist, umso mehr soll sie Angst haben vor einem wie ein Krebsgeschwür in den Städten wuchernden Subproletariat, dessen absolute Verrohung in der Figur des Serienkillers Charles Lee Rays (Brad Dourif), dem es zu Beginn gelingt, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, indem seine Seele sich per schwarzer Magie aus seinem sterbenden Körper in den einer Puppe flüchten kann, nur eine konsequente Zuspitzung findet. Dieses Konzept ging damals so gut auf, dass bislang fünf Fortsetzungen folgten. Die Drehbücher zur Reihe stammen durchgehend von Mancini, was bedeutet, dass er auch das Revival der Serie durch „Bride of Chucky“, 1998 und somit sieben Jahre nach dem vorangehenden dritten Teil, verantwortete, das das Franchise für queere Lesarten öffnete. Daran knüpft „Seed of Chucky“ an, mit dem Mancini sein Regiedebüt vorlegte.

Gleich zu Beginn gibt er sich dabei als großer Stilist auf den Spuren von Hitchcock, De Palma und Carpenter (oder vielleicht genauer: auf den Spuren von De Palma und Carpenter, die ihrerseits auf den Spuren Hitchcocks wandelten). Jedenfalls beginnt der Film – wie „Halloween“, wie „Blow Out“ – mit einer langen Plansequenz in der subjektiven Perspektive der Titelfigur, in der das elegante Gleiten der Kamera immer wieder recht ruppig unterbrochen wird, gar nicht so elegante Umwege gegangen werden müssen. Die Ermordung eines Ehepaares, die diese Szene zeigt, endet unvermittelt damit, dass sich der kleine Killer in die Hose pisst – nur um sich dann als Albtraum des Protagonisten herauszustellen, aus dem er in den Albtraum hinein erwacht, der sein wahres Leben ist. Als vermeintliches Waisenkind fristet er ein tristes Dasein als Bauchrednerpuppe eines ziemlich fiesen Rocker-Rowdys in England.

Dann eröffnet der Film noch einen zweiten Schauplatz auf einem zweiten Kontinent. Auf einem Friedhof meucheln Chucky und Tiffany, das aus „Bride“ bekannte und schon dort ziemlich zerrüttete Mörderpuppenpärchen, auf gewohnt kreative Weise den Weihnachtsmann höchst persönlich bzw. eine seiner diversen – wie sich in einem Handygespräch mit seiner Freundin offenbart, mit allzu weltlichen Problemen belasteten – Inkarnationen. Doch wieder stellt sich das Geschehen als Illusion heraus, diesmal als Horrorfilmdreh, also als einer unserer synthetischen kollektiven Albträume. Mit diesem Twist gesellt sich zu den vielen filmischen Bezügen der ersten Einführungsszene noch der zu Wes Craven und namentlich zu seinem Meta-Slasher-Sequel „New Nightmare“, dem siebten Teil der „Nightmare on Elm Street“-Reihe von 1994.

Also befinden wir uns fortan in einer Meta-(Film-)Realität in Hollywood, wo gerade die killing spree von Chucky und Tiffany verfilmt wird und, nun ja, Hollywood-Stars wie Jennifer Tilly und der Rapper Redman sich selbst spielen. Die beiden Erzählstränge vom Beginn finden per Fernseher und Flugzeug zusammen und bald darf der Sohn (oder: die Tochter, dazu später mehr) seine Eltern wiederum zu blutrünstigem Leben erwecken, woraufhin Special Makeup Designer Tony Gardner (als er selbst) sehr spektakulär und sehr buchstäblich den Kopf verliert. Und wie immer trachten die Puppen danach, endlich wieder in einen menschlichen Körper zu gelangen, wofür sie sich das Pärchen Tilly und Redman auserkoren haben. Sie steckt in einem – wohl ziemlich chronischen – Karierretief und will es sich zunutze machen, dass er gerade seine Ambitionen als Regisseur entdeckt hat. Und wie könnte sich die durch lesbischen Filmsex bekannt gewordene Darstellerin besser neu erfinden als in der Rolle der Jungfrau Maria in dem Bibelfilm, den er drehen will. Beim Vorsprechen ist der Rapper zumindest von ihren äußeren Attributen überzeugt, was sie durch karrierefördernden Sex ausnutzen will. Dabei jedoch hegen Chucky und Tiffany ihren eigenen Plan, für den sie einen dritten Körper für ihr Kind benötigen, das, da das für Puppen charakteristische fehlende Genital eindeutige Schlüsse nicht zulässt, er für einen Jungen hält und Glen nennt, während sie davon überzeugt ist, dass es sich um ein Mädchen, Glenda, handelt.

Mancinis ziemlich durchgeknalltes Drehbuch tut gut daran, sich mit dem metafiktionalen Quatsch nicht allzu lange aufzuhalten und stattdessen auf Affektkino zu setzen, das gerade dadurch funktioniert, dass es immer wieder in reinen Camp kippt (einen Auftritt der queeren Kino-Ikone John Waters als schmieriger Paparazzo, dem ein besonders schmieriger Abgang beschert ist, inklusive). Das regelrechte Plot Twist-Gewitter der zweiten Hälfte soll hier nicht weiter verraten werden, es tut auch, obwohl es sicherlich seinen Anteil daran hat, dass der Film ist wie er ist, nicht viel zur Sache. Wohl aber bemerkenswert ist der Diskurs des Films um Geschlechteridentitäten und Fortpflanzung bzw. Mutterschaft. Was der Vorgänger bereits vorbereitete, kommt hier in einer Titelfigur, die weder männlich noch weiblich ist, sich mal eher für das eine, dann wieder für das andere Geschlecht entscheidet, zu voller Ausprägung. Die „Geschlechtslosigkeit“ Glen/Glendas kann indessen nur als eine „Vorgeschlechtlichkeit“ gedacht werden. Ein Subjekt, das sich den normativen binären Geschlechterzuschreibungen entzieht, ist für das Über-Ich der Eltern, insbesondere des Vaters, nicht hinnehmbar, es muss sich entscheiden, „richtig“ gegendert werden.

Indessen hat der Versuch der Eltern, ihr Kind dem Gesetz der Geschlechterbinarität entsprechend zu gendern, auch Einfluss auf ihr eigenes (Geschlechterrollen-)Verhalten. Wo Tiffany sich, um ihrer Verantwortung als Mutter gerecht zu werden, in Abstinenz von der Sucht des Mordens versucht, dabei sogar die Hilfe des Zwölf-Schritte-Programms in Anspruch nimmt, da die Meetings, die Selbsthilfegruppensitzungen, für sie wohl eher nicht infrage kommen, in Buchform, da generiert sich Chucky als der Macho, der sich hemmungslos gehen lassen, seinen mörderischen Impulsen freien Lauf lassen kann und sich schließlich auch als verdammt besitzergreifendes Alpha-Männchen herausstellt: „Nobody leaves me!“

Schon durch die Konstruktion des Plots spiegelt sich in dem Puppenpaar das menschliche von Tilly und Redman. Sie findet nach einer Nacht mit ihm, an deren genauen Verlauf sich beide nicht erinnern können, heraus, dass sie schwanger ist. Er weist jede Schuld von sich mit dem Hinweis, dass er schon lange eine Vasektomie bei sich habe vornehmen lassen. Zu dem Gender Trouble gesellt sich auch der Ärger mit dem Sex, wobei das Wort eben eine bestimmte Tätigkeit beschreibt, aber auch bei Judith Butler für das „biologische“, das „körperliche“ Geschlecht steht, in Abgrenzung eben zu dem sozial konstruierten Geschlecht „Gender“. Jedenfalls thematisiert der Film, in dem es auch noch um künstliche Befruchtung per Handpumpe geht, also auch männliche Verhütung, die durchaus ambivalent behandelt wird. Wo es auf der einen Seite löblich ist, dass die Empfängnisverhütung nicht alleine Frauensache ist, gibt sie dem Mann hier auch die Möglichkeit sich richtig auszutoben und hinterher die Sicherheit zu haben: „Ich bin nicht der Vater“. Die Empfangende hingegen hat größere Probleme, schon weil Männer (zumindest im Horrorfilm) manchmal richtige Arschlöcher sind: In seinem Film will Redman die Schwangere nicht mehr haben, weil sie nicht zu der Rolle passe, die heilige Jungfrau müsse nämlich „heiß“ sein. Es bewahrheitet sich für „Seed of Chucky“, gerade im Hinblick auf die eigentlich denkbar friedfertige Titelfigur, die sich dem ständigen Normierungsdruck durch sein Umfeld ziemlich hilflos ausgeliefert sieht, bis es ihr am Ende reicht und sie beweist, dass auf ihrem Arm nicht umsonst „Made in Japan“ steht, was Ivo Ritzer im Hinblick auf die Gialli Dario Argentos schrieb: „Der Schrecken liegt damit im Horror der Heteronormativität selbst.“

Übrigens ist „Seed of Chucky“ auch ein ziemlich fieser Familienfilm, genauer: ein Film über family values, was sich von dem Schnappschuss mit Papa, Kind und verätzter Waters-Leiche bis zum ziemlich deliranten Ende durchzieht. Das jedoch genauer aufzuschlüsseln und zu analysieren wäre wohl der Gegenstand einer anderen eigenen Kritik.

Certain Women

(US 2016, Regie: Kelly Reichardt)

Äußere Ferne, innere Verlassenheit
von Wolfgang Nierlin

Aus der Tiefe der weiten, von hohen Bergen begrenzten Landschaft kommt ein langer Güterzug und schlängelt sich durchs Bild, das in seiner bleichen Farbigkeit wie gemalt aussieht. Ruhig und konzentriert …

Aus der Tiefe der weiten, von hohen Bergen begrenzten Landschaft kommt ein langer Güterzug und schlängelt sich durchs Bild, das in seiner bleichen Farbigkeit wie gemalt aussieht. Ruhig und konzentriert in einer statischen Einstellung auf 16-mm-Film aufgenommen, erinnert das an James Bennings experimentellen Eisenbahnfilm „RR“. Durch die dichte Wolkendecke fällt milchiges Licht, während eine gedämpfte Radiostimme von der Sonne als einem „vernebelten Fleck am Himmel“ spricht. Es ist Winter und ziemlich kalt in Livingston, einer Kleinstadt im dünn besiedelten US-Bundesstaat Montana, wo Kelly Reichardts neuer Film „Certain Women“ spielt. Wie in ihren vorherigen Arbeiten gibt es auch diesmal eine starke Wechselwirkung zwischen dem Lebensraum und seinen Bewohnern, zwischen äußerer Ferne und innerer Verlassenheit. Und erneut erzählt Reichardt in den drei Episoden ihres nach Kurzgeschichten von Maile Meloy entstandenen Films mit einem realistischen, nahezu undramatischen Gestus.

Durch Orte und Berufe nur lose in einer Art flüchtigen Berührung verbunden, folgen die Geschichten und ihre jeweiligen Epiloge nahtlos aufeinander. Dabei hat das Übergangslose, vor allem aber das Sukzessive von Kelly Reichardts Erzählkunst Methode. Denn ihr gedrosselter, umso spannendere Informationsfluss produziert keinen dramatischen Überschuss für aufgesetzte oder vorgeformte Konflikte, sondern setzt auf die geduldige Mitarbeit des involvierten Zuschauers. Dieser kann weder eine übergeordnete zentrale Perspektive übernehmen noch sich einer zielgerichteten erzählerischen Bewegung überlassen. Reichardts Interesse für Nebensächliches und genau beobachtete Details favorisieren vielmehr das Fragmentarische und die raum-zeitliche Ausdehnung zwischen dem scheinbar Unverbundenen, das seine Gestalt durch teilnehmende Beobachtung findet.

Dabei sind Kelly Reichardts Geschichten aus der Ferne unspektakulär und alltäglich. In ihnen ist eine gewisse Desillusionierung immer schon konstitutiv: Menschen mit vagen Träumen, die sich nicht verwirklichen lassen, sehnen sich nach etwas, was vermutlich nicht erreichbar ist. Die einsame Pferdepflegerin Jamie (Lily Gladstone) etwa, die in den Wintermonaten allein eine abgelegene Farm betreut, verliebt sich unglücklich in die junge Anwältin Beth (Kristen Stewart), die in dem kleinen Ort Belfry einen Kurs über Schulrecht gibt. Weil ihre Anfahrt von Livingston aber vier Stunden dauert und sie noch einen anderen Job hat, ist sie gestresst, übermüdet und frustriert, was wiederum im Kontrast steht zu Jamies gleichmäßiger, ausgeglichener Arbeitsroutine mit den Tieren. Als Beth ihren Dienst quittiert, spiegelt die räumliche Distanz Jamies emotionale Enttäuschung.

Einmal berührt sich ihre Geschichte mit derjenigen von Laura (Laura Dern), die als Anwältin in Livingston einen schwierigen Klienten betreut. Nach einem schweren Arbeitsunfall hat sich dieser durch einen Vergleich um die Möglichkeit einer Schadensersatzklage gebracht und leidet nun unter einem Gefühl der Ungerechtigkeit. Doch eigentlich ist er einsam und verloren und beansprucht deshalb über Gebühr seine Anwältin, die schließlich vermittelt, als er zum Geiselnehmer wird. Die Ohnmacht des Scheiterns führt hier geradewegs in eine Sprachlosigkeit, die auf andere Weise auch das Zusammenleben von Ginas (Michelle Williams) Kleinfamilie mit Mann und pubertierender Tochter grundiert. Diese plant einen Hausbau auf einem entlegenen Grundstück im Wald. Doch die Symbole des Zusammenhalts wirken provisorisch und äußerst fragil. Und vor allem aus der gegenüber ihrer Familie misstrauischen Gina spricht eine tiefe, von Unzufriedenheit und Entfremdung genährte Einsamkeit, die schließlich in der winterlichen Landschaft ihren Resonanzraum findet.