Blog Archives: 2017

Lifelong – Hayatboyu

(D /NL / TR 2013, Regie: Asli Özge)

Eheliches Versteckspiel
von Wolfgang Nierlin

Die Künstlerin Ela (Defne Halman) und der Architekt Can (Hakan Çimenser), ein Ehepaar um die fünfzig, leben zusammen im vornehmen Istanbuler Stadtteil Nişantaşı. Ihr modernes mehrstöckiges Wohnhaus, geschmackvoll eingerichtet mit …

Die Künstlerin Ela (Defne Halman) und der Architekt Can (Hakan Çimenser), ein Ehepaar um die fünfzig, leben zusammen im vornehmen Istanbuler Stadtteil Nişantaşı. Ihr modernes mehrstöckiges Wohnhaus, geschmackvoll eingerichtet mit Designermöbeln, gleicht einem transparenten Versteck. Große Fenster und offene Räume schaffen Durchlässigkeit und gewähren Einblicke. Indem sie die Intimität aufheben, stellen sie das Eheleben förmlich aus. Dieses ist andererseits verborgen, reduziert und in relativer Gleichgültigkeit erstarrt. Dafür steht die Unterteilung des „gestapelten“ Raums in mehr oder weniger isolierte Wohn- und Funktionseinheiten, die lediglich oder bezeichnenderweise durch eine Wendeltreppe miteinander verbunden sind. Schritte und Geräusche, Bewegungen von Schatten, oben und unten werden durch sie vermittelt. Trennung bei gleichzeitiger Nähe, Isolation trotz Transparenz sowie gewohnheitsmäßiges wechselseitiges Belauern bilden die Koordinaten dieses erstarrten Ehelebens.

In präzisen Bildkompositionen, entsättigten Farben und einem unterkühlten Tonfall inszeniert die türkische, zeitweise in Berlin lebende Filmemacherin Aslı Özge („Men on the bridge“) in ihrem Film „Lifelong“ die zunehmende Entfremdung von Ehepartner, die in ihrer Beziehung und in ihrem Leben feststecken. Der Status quo ihres Wohlstands, gesichert durch ihren beruflichen Erfolg, verengt ihren Blick auf mögliche Veränderungen, ja lässt diese sogar als Bedrohung erscheinen. Als sehr reales und gegenwärtiges Spiegelbild dieser Unsicherheit und Angst thematisiert Özge die Folgen eines Erdbebens, deren psychische Wirkungen vor allem Can nachhaltig erschüttern und angesichts der Vergänglichkeit sein Gefühlsleben verändern. Als er Elas neue Ausstellung besucht, verliert er sich deshalb förmlich im Farbnebel eines von der Lichtkünstlerin Ann Veronica Janssens inspierten Werkes („Blue, Red, and Yellow“). Orientierungslosigkeit und Kontrollverlust sind die unmittelbaren Folgen.

Den größten Teil ihres ebenso schnörkellosen wie vielschichtigen Beziehungsdramas, das um Einsamkeit und Leere kreist, widmet Aslı Özge allerdings ihrer Protagonistin, die als Künstlerin zwar anerkannt, aber finanziell dennoch von ihrem Mann abhängig ist. Ein riesiger Stein – Reminiszenz an Ayşe Erkmens „Stoned“ -, den Ela für eine Installation über einem Glasdach anbringen lässt, symbolisiert diese Ambivalenz und Zerbrechlichkeit. Während das Paar in Schweigen nebeneinanderher lebt, bemerkt Ela mit zunehmender Gewissheit, dass Can offensichtlich fremdgeht. Doch wird auch dieser Konflikt nicht verbalisiert; vielmehr verlagert er sich nach innen und verursacht bei Ela eine psychosomatische Störung. Diese wird noch verschärft durch ihren Blick auf den eigenen alternden Körper und ihr gleichzeitiges Bedürfnis nach körperlicher Nähe. Einmal sieht man Ela auf einer Aussichtsplattform barfuß im Schnee. Die Ambivalenz der Sehnsucht geht weiter. Der Widerspruch bleibt.

Ruined Heart: Another Lovestory Between a Criminal & a Whore

(D / PH 2014, Regie: Khavn de la Cruz)

Noch einmal ins Gewühl
von Carsten Moll

Das hier ist also noch so eine Geschichte. Und dieses Bewusstsein über das bereits Dagewesene und die eigene Verwicklung darin hat sich von den filmischen Eingeweiden, dem vorbewussten Viszeralen, längst …

Das hier ist also noch so eine Geschichte. Und dieses Bewusstsein über das bereits Dagewesene und die eigene Verwicklung darin hat sich von den filmischen Eingeweiden, dem vorbewussten Viszeralen, längst bis zum ausformulierten Titel vorgefressen. Deshalb versteht es sich quasi von selbst, dass sich Khavn de la Cruz in seinem neuen Spielfilm „Ruined Heart: Another Lovestory Between a Criminal & a Whore“ auch gar nicht mehr ordentlich-narrativ durch eine eh schon bekannte Story erzählen muss.

Zu Beginn werden aber erst einmal ganz manierlich die Hauptakteure dieser Boy-meets-Girl-Variation im kriminellen Milieu von Manila vorgestellt; fein säuberlich aufgereiht stehen sie da und treten einer nach dem anderen vor, um einen Blick in die Kamera zu werfen und sich dem Publikum vorzustellen. Mehr als einen wiedererkennbaren Look und ein eingeblendetes Schlagwort brauchen diese Typen dabei gar nicht, um ausreichend charakterisiert zu werden: Die Liebhaberin, der Kriminelle, der Freund, die Hure und der Pianist, sie alle werden ihre Rolle in „Ruined Heart“ zu spielen haben und machen im Gegensatz zum ungehorsamen Breakfast Club keinerlei Anstalten, mit dem Stereotyp zu brechen oder ihm auch bloß eine unbekannte Facette hinzuzufügen.

Mit seinen durch und durch berechenbaren Figuren als Konstante erlaubt sich der meist nur als Khavn bekannte philippinische Regisseur und Drehbuchautor das ganze Drumherum einfach aufzulösen und lässt seinen Film munter ins Experimentelle treiben. Entgegen der Konvention gibt es da etwa keine Dialoge zu hören, die Schauspieler_innen haben nur zu gucken und zu gestikulieren. Und wenn dann doch mal gesprochen wird, passiert es vernuschelt im auditiven Hintergrund, überlagert von Sounds und Songs. Stille kennt „Ruined Heart“ seiner schweigsamen Protagonisten zum Trotz nämlich keine und daher mag vielleicht auch der sich spontan anbietende Vergleich mit einem Stummfilm nicht ganz greifen, so präsent wie der Ton hier ist: Von einem Stück Musik zum nächsten springt der Film und arrangiert dabei aus den Videoclips zu Chansons von Stereo Total, zu Pachebels Kanon und Gigue in D-Dur, psychedelischem Rock sowie den NDW-Klängen der Schweizer Band Grauzone eine opernhafte Pop-Collage.

Wer schon Kurz- oder Langfilme des äußerst umtriebigen Khavn gesehen hat (von denen der ebenfalls vom Kölner Filmlabel Rapid Eye Movies koproduzierte „Mondomanila“(2012) wohl der bekannteste, aber sicherlich nicht der interessanteste ist), dürfte sich auch in „Ruined Heart“ schnell zurecht finden. Wobei Zurechtfinden vielleicht das Schlimmste ist, was einem hier überhaupt passieren kann, denn eigentlich lag der Reiz von Khavns Filmen doch immer im Krassen, Chaotischen, Unberechenbaren. Es ging hinein ins Gewühl der Slums von Manila, durch verschlungene Gassen voller Müll und Trash, wo sich beiläufig Aufgeschnapptes und mit viel Stilwillen Inszeniertes ebenso in die Quere kamen wie der Spaß und das Unbehagen des Publikums.

'Manila is a ghastly and weird city. It just fucking smelled of cockroaches. Rats were everywhere. There’s no sewage system, and people have nothing there. People with no arms, no legs, no eyes, no teeth', wusste Claire Danes der Vogue im Interview zu berichten, nachdem sie von Dreharbeiten aus der philippinischen Hauptstadt zurückgekehrt war. Das berüchtigte Zitat machte selbstverständlich auch auf den empörten Philippinen die Runde und tauchte schließlich sogar in „Mondomanila“ wieder auf. Mit seinen grellen Filmen hat Khavn zwischen den fasziniert-angeekelten Blick des Westens und seine Heimat immer wieder eine Lupe gehalten, die uns beim vergnügten Blick auf Sex, Gewalt und moralische Orientierungslosigkeit doch zugleich heimtückisch die Netzhäute verbrannt hat.

In „Ruined Heart“ ist davon nicht viel geblieben. Kameramann Christopher Doyle hetzt routiniert durch halbherzig zugerümpelte Filmsets und erbeutet dabei Bilder, die ganz schön, aber auch ein bisschen belanglos sind. Na klar, Blut und Sperma fließen auch wieder, aber so seltsam antiseptisch, da kann selbst Claire Danes nicht meckern. Kaum Spaß, kein Unbehagen. Das hier ist also noch so ein Khavn-Film.

Inherent Vice – Natürliche Mängel

(USA 2014, Regie: Paul Thomas Anderson)

California Über Alles!
von Ulrich Kriest

„Manche meinten vielleicht, ihn zu erkennen, aber alles blieb im Ungefähren, wie vom Dopenebel getrübt.“ Macht man Lesetempo und Lesevergnügen zum Maßstab, dann legte Thomas Pynchon mit „Natürliche Mängel“ nicht …

„Manche meinten vielleicht, ihn zu erkennen, aber alles blieb im Ungefähren, wie vom Dopenebel getrübt.“ Macht man Lesetempo und Lesevergnügen zum Maßstab, dann legte Thomas Pynchon mit „Natürliche Mängel“ nicht nur sein flottestes und zugänglichstes Buch seit „Vineland“ vor, sondern zudem einen Roman, von dem man sich ernsthaft vorstellen konnte, er wäre, abgesehen von einigen sicher notwendigen Kürzungen, tatsächlich verfilmbar. Besser natürlich als vielstündige Fernsehserie! Das mit der Verfilmbarkeit hat Gründe, aber dazu später. Überdies korrespondierte „Natürliche Mängel“ auf vielfältige Weise motivisch mit „Vineland“, insofern es Pynchon ein weiteres Mal erfolgreich gelang, einen historischen Kosmos zu generieren, der eine implizite Beziehung zur Gegenwart augenzwinkernd herstellt – und sei es eben nur über eine blasse Erinnerung an eine bestimmte TV-Serie wie „Dr. med. Marcus Welby“. Überdies könnten Alter und Erinnerungsvermögen des Lesers eine zentrale Rolle dabei spielen, welches Vergnügen Roman wie Verfilmung bereiten. Denn Pynchon, mittlerweile auch schon weit über 70, entwarf in „Natürliche Mängel“ ein Bild von Los Angeles an der Schwelle zu den 1970er Jahren, allerdings hindurch erzählt über die populären Bilderwelten der hard boiled novels von Hammett, Chandler & Co. und der Films noir der 1940er und 1950er Jahre, die ihrerseits ja ihre Retro-Phase zweimal hinter sich haben.

Damit wiederholte der Roman eine Geste, die bereits einigen der schönsten Produktionen des New Hollywood wie „The Long Goodbye“, „Chinatown“ oder „Night Moves“ innewohnte – und die bereits von Filmen wie „L.A. Confidential“ oder „Black Dahlia“ gecovert worden ist. Ein ganzer Haufen von Bildern, Spiegelungen und Verweisen liegt zum kreativen Gebrauch herum. Ganz schön kompliziert? Es wird noch besser, denn Paul Thomas Anderson (geboren 1970), der sich schon mit „Boogie Nights“ ziemlich erfolgreich an den 70er Jahren abgearbeitet hat, nutzt seinerseits Pynchons Roman, um sich wiederum vor dem Spirit von „New Hollywood“ zu verbeugen. Es fehlt eigentlich nur ein Cameo von Elliot Gould, um das seltsam vermittelte Pastiche einer verblassten Erinnerung an „The Long Goodbye“ perfekt zu machen.

Anderson ergreift die Chance, die seit Jahren grassierende Mode der perfekt durchchoreografierten Thriller, die am Ende keine Frage offenlassen, zu dekonstruieren, indem er sich im besten Sinne für Komplett-Vernebelung entscheidet. Richtig: man sollte schon etwas an Pop-Wissen und etwas an Pynchon-Lektüre mitbringen, um den ständig bekifften Privatdetektiv Larry »Doc« Sportello auf seinen Wegen durch Los Angeles angemessen begleiten zu können. Vielleicht reicht auch ein „Contact High“ hin, denn der Film steckt an den Rändern der Cadrage voller seltsamer Halluzinationen.

Wie bei Chandler bringt eine Frau die ganze Geschichte in Gang: Sashta Fay Hepworth, die gerne einmal ein altes, zerschlissenes Country Joe & The Fish-T-Shirt trägt, macht ihren Ex-Lover Sportello auf den Fall des verschwundenen Baulöwen Mickey Wolfman aufmerksam. Der ist Jude, will aber gerne Nazi sein, hat sich ein paar Rocker von der Arischen Bruderschaft als Leibwache gemietet und schätzt es sehr, wenn man seinen Nachnamen mit Doppel-“n“ schreibt. Schnell wird der Fall unübersichtlich: korrupte, gewaltbereite und zugleich manisch depressive Hippie-Hasser-Polizisten wie »Bigfoot« Björnsen (Josh Brolin legt die Rolle als quadratschädelige Comicfigur an, die nebenher ihr Einkommen durch Werbung und Statistenrollen aufbessert) machen dem Detektiv, den man allzu leicht unterschätzt, das Leben schwer. Ein ermordeter Bodyguard, ein verschwundener, vielleicht toter, vielleicht aber auch nur unter neuer Identität lebender Saxophonist der wenig erfolgreichen Surf-Band Boards verkomplizieren die Ermittlungen.

Anderson gelingt es meisterhaft und souverän die mit dem Jahr 1970 verbundene kulturelle Umbruchphase abstrakt zu skizzieren – aber eben nicht mehr als eine vage Skizze: es ist eine Zeit der Ungleichzeitigkeiten. Woodstock liegt gerade mal ein knappes Jahr zurück, doch aktuell halten die Manson-Morde die Polizei in Atem. Das Establishment setzt auf Restauration und im Hintergrund laufen Immobilien- und Drogengeschäfte. Straight is hip. Der Hippietraum ist ausgeträumt; der von Radiohead Johnny Greenwood besorgte Soundtrack stammt nicht von Jefferson Airplane, Jimi Hendrix oder Sly & The Family Stone, sondern von Can oder Neil Young. Journey through the Past. Der Kater ist mit Händen zu greifen.

Der Film erzählt davon, wie der Underground durch FBI-Spitzel infiltriert wird und von einer geheimnisvollen Organisation von Zahnärzten, die Drogenhandel und Entzugskliniken in einer Hand betreibt. Und vor der Küste liegt der Schoner „Golden Fang“ mit seinen roten Segeln, von dem nie ganz klar wird, in welcher Beziehung er zur Handlung steht. So kippt die Hippie-Detektiv-Geschichte um in ein Requiem für die nur noch schwach erinnerten Träume des gegenkulturellen Aufbruchs der 60er Jahre. In den Garten, von dem Joni Mitchell in „Woodstock“ (durch Fernsehbilder inspiriert!) sang, führte schon 1973 kein Weg zurück; der Traum der großen Gemeinschaft scheint ausgeträumt – nur ein paar Versprengte träumen noch „angetrieben von Dope und Frechheit, allgemeiner Menschenliebe und guter Stimmung“ (Pynchon) von einer besseren oder zumindest lässigeren Welt.

Detektiv Sportello, der als sympathischer, allerdings etwas exzentrischer Loser eingeführt wird, wird im Laufe der Handlung immer mehr zu einer Chandler-Figur, die fast instinktiv die richtigen Verbindungen herstellt und letztlich durchaus professionell seinen Job erledigt. Während die Welt um Sportello herum einen falschen Weg wählt, bleibt der Ermittler letztlich immer ein Idealist, der seine kleinen Beiträge leistet, die Welt in Ordnung zu bringen. All dies und noch viel mehr erzählt „Inherent Vice“ mit mal sanfter Ironie, mal bitterem Humor oder auch mit einer Portion Slapstick. Einmal versucht es Sportello doch tatsächlich mit Action, will der Polizei entkommen, indem er den Fluchtweg über ein Auto wählt. Doch er bleibt bereits an der Stoßstange hängen, rollt von der Motorhaube herunter und wird dann fürchterlich verdroschen. Die Szene erinnert ein wenig an ein Kind, das der väterlichen Züchtigung zu entkommen versucht und dabei scheitert.

Wie einst bei Chandler in „Der lange Abschied“ verschwinden Menschen in Kliniken und Psychiatrien, werden komplexe Intrigen ausgeheckt – und am Ende wird all dies immer nur durch Machtgeilheit und Habgier befeuert. „Inherent Vice“, der Film, weitet im Gegensatz zu Pynchons Roman nicht den Blick aufs große Ganze, redet nicht von Vietnam und technologischem Fortschritt. Er verharrt in seiner kleinen kalifornischen Welt, die schon unüberschaubar ist – und mehr als einmal den Eindruck erweckt, hier spielten ein paar kindlich gebliebene Erwachsene noch einmal „Detektivfilm“, wie sie es aus ihrer Jugend erinnern. Abstrakt und tongue-in-cheek zugleich.

Land der Wunder

(I / CH / D 2014, Regie: Alice Rohrwacher)

Zentrifugalkräfte
von Wolfgang Nierlin

Wie Lichtpunkte im Dunkeln, die allmählich größer werden und zu einer kleinen Autokolonne von Jägern gehören, schälen sich die Mitglieder einer Familie im kurzen Aufscheinen der vorbeigleitenden Lichtkegel aus ihren …

Wie Lichtpunkte im Dunkeln, die allmählich größer werden und zu einer kleinen Autokolonne von Jägern gehören, schälen sich die Mitglieder einer Familie im kurzen Aufscheinen der vorbeigleitenden Lichtkegel aus ihren Betten. Das Schwebende, Schweifende, Raumgreifende und Offene gehört zugleich zu den Stilmerkmalen von Alice Rohrwachers preisgekröntem Film „Land der Wunder“ (Le meraviglie), der von der renommierten französischen Kamerafrau Hélène Louvart kongenial ins Bild gesetzt wurde; und der sich leicht, fast schwerelos um mehrere Zentren, Figuren und Themen bewegt. Die Freiheit der Bewegung im Raum kontrastiert gewissermaßen die Enge in den Verhältnissen der portraitierten Familie. Entsprechend werden die idealistischen Träume einer anarchistischen Lebensweise mit den Notwendigkeiten der Alltagsrealität konfrontiert.

Alles Erzählte ist gegenwärtiges Ereignis. Was sonst noch an Vorgeschichte, Figurenkonstellationen und Handlungsmotiven im Film steckt, ist entweder implizit immer schon da oder zeigt Wirkungen in den vereinzelten Lichtpunkten und Erhebungen des flächigen Diskurses. Manchmal verliert es sich auch oder bleibt vollständig im Dunkel. Jedenfalls sind die parallelen Bewegungen der Figuren nie ganz voneinander abgekoppelt. Vielmehr wird in ihnen das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft gleich auf mehreren Ebenen verhandelt.

Die Aussteiger-Ideale des chaotischen Familienvaters Wolfgang (Sam Louwyck) haben sich unter den täglichen Arbeits- und Versorgungserfordernissen längst in ein autoritäres Patriarchat verwandelt. Dessen geliebte Imkerei auf einem verfallenen Gehöft in Mittelitalien beansprucht nicht nur die ganze Arbeitskraft der Familie, zu der neben seiner duldsamen Frau Angelica (Alba Rohrwacher) und vier Töchtern auch noch die Kommunardin Cocò (Sabine Timoteo) gehört, sondern wird – neben diesen, metaphorisch gesprochen, inneren Zentrifugalkräften – auch noch von außen bedroht: durch die eingangs erwähnten Jäger, durch Pestizide und Tourismus.

In diesen weiblich dominierten Verhältnissen ersetzt die älteste Tochter Gelsomina (Maria Alexandra Lungu), die gerade ihre Unabhängigkeit entdeckt, den vom Vater vermissten Sohn. Doch Gelsomina, Mitten in den Wirren einer widerständigen Pubertät, entfernt sich bereits vom labilen Familiengefüge und einem Vater, der das nicht recht wahrhaben will. Die scheue Beziehung zu einem straffällig gewordenen Jungen, den die Familie zur Resozialisierung aufnimmt, sowie die titelgebend TV-Show „Land der Wunder“ dienen dem Mädchen dabei als Fluchtpunkte. In dieser feiern ländliche Traditionen, von Geldpreisen geködert, und von der märchenhaften Showmasterin Milly Catena (Monica Bellucci) einfühlsam moderiert, fröhlich verkitschte Urständ. Zwar sind in „Land der Wunder“ am Ende die utopischen Träume von einem besseren Leben ernüchtert, aber – so legt die zärtliche Schlusssequenz nahe – doch noch lange nicht ausgeträumt.

Citizenfour

(USA / D 2014, Regie: Laura Poitras)

The Matrix is everywhere
von Ricardo Brunn

Die Fakten sind hinlänglich bekannt: Am 20. Mai 2013 checkt Edward Snowden, ein der Öffentlichkeit bis dahin unbekannter Mitarbeiter der Technologieberatungsfirma Booz Allen Hamilton, in das Mira Hongkong ein. Von …

Die Fakten sind hinlänglich bekannt: Am 20. Mai 2013 checkt Edward Snowden, ein der Öffentlichkeit bis dahin unbekannter Mitarbeiter der Technologieberatungsfirma Booz Allen Hamilton, in das Mira Hongkong ein. Von hier aus verschickt er in den folgenden Tagen mehrere als streng geheim klassifizierte Dokumente des US-Geheimdienstes NSA an Journalisten der Washington Post sowie des Guardian. Am 6. Juni 2013 werden Teile dieser Dokumente veröffentlicht, die ein zuvor ungeahntes Ausmaß an staatlicher Überwachung offenbaren. Den Aussagen Snowdens zufolge, kontrolliert und speichert die NSA in Zusammenarbeit mit anderen Geheimdiensten (GCHQ, DSD) die weltweite Internet-Kommunikation.

Die Dokumentarfilmerin Laura Poitras hat jene Tage im Hotel filmisch begleitet und mehr als ein Jahr nach den Ereignissen zu einem aufregenden Gänsehautkrimi verdichtet. Der Titel „Cititzenfour“ bezieht sich dabei auf das Pseudonym, mit dem der Whistleblower Poitras erstmals im Februar 2013 in verschlüsselten E-Mails kontaktiert hatte.

In ihrem sehr persönlichen Film gibt die Regisseurin einen klaren Einblick in die Spionagestrategien des amerikanischen Geheimdienstes, die benutzten Spähprogramme sowie die Beteiligung großer Provider und sozialer Netzwerke wie Facebook, Google und AOL. Durch die kontrastierende Gliederung der Räume (enges Hotelzimmer, Stadtansichten und Landschaftstotalen, E-Mail-Konversationen in Großaufnahme, dem gezielten Einsatz von On und Off) erzeugt der Film trotz wenigen tatsächlich neuen Informationen eine ungeheure Sogwirkung. Das Schicksal der Regisseurin als unverhofft Involvierte dient dabei als roter Faden auf dem Weg in die langsam einsetzende Paranoia. Vor allem aber der Blick auf Snowden, der in den klaustrophobischen vier Wänden seines Hotelzimmers fast lachhafte Agentenfilmszenen evoziert, wenn er sich unter einem Handtuch versteckt, um ein Passwort einzutippen oder bei Anrufen von der Rezeption plötzlich aufgeregt verstummt und sich bereits in Handschellen sieht, potenziert die unangenehmen Gefühle des Zuschauers. In der Fokussierung auf Snowden wird allerdings ein auf den ersten Blick zentraler Anspruch des Whistleblowers missachtet. Denn es gehe, so betont er selbst, bei all seinen Taten und Äußerungen nicht um ihn, sondern allein um die Informationen. Dem Film hingegen geht es um die Erschaffung eines Mythos‘ und damit einhergehenden klaren Fronten.

Bereits auf dem Plakat zum Film ist Snowden in Großaufnahme und damit als Star des Filmes auszumachen. Entscheidend bei diesem Paratext des Filmes ist, dass Snowden mit einem grün-blauen Farbfilter überzogen und von, über die gesamte Fläche laufendem, Code abgedeckt wird. Das Plakat gibt damit bereits eine eindeutige Rezeption von Film und Person vor. Und die Verweise auf „Matrix“ (R: Andy und Lana Wachowski) sind noch vielfältiger. So inszeniert die Regisseurin die ersten Kontaktaufnahmen mit Snowden ganz im Stile dieses Sciene-Fictions-Streifens von 1999. Dabei begibt sie sich stellvertretend für den Zuschauer in die Position von Neo, der eines Nachts plötzlich eine Nachricht auf seinem Monitor entdeckt. Und wie Morpheus bleibt auch Snowden bis er für Neo „Gestalt“ annimmt, lange Zeit ein Phantom, was ihn umso interessanter macht.

Doch Edward Snowden ist nicht nur das Produkt dieser Inszenierungsstrategien. Er ist selbst ein Regisseur und sich, trotz bubihaften Aussehens, seiner Rolle durchaus bewusst. Wie einst in „Matrix“ lässt er die Auserwählten zu sich in ein Hotel kommen (man erinnere sich an das erste Zusammentreffen von Neo und Morpheus), um ihnen von der „Wüste des Realen“ zu erzählen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Hotel als Ort der Täuschung, als Simulacra eines Zuhauses in „Citizenfour“ auf ähnliche Weise wie in „Matrix“ eingesetzt wird. Bezeichnenderweise hat sich Snowden mit dem Mira-Hotel zudem einen Ort herausgesucht, der die Erkenntnis gewissermaßen im Namen trägt.

Gerade in diesen Hotelszenen versucht der Film, sich als historisches Dokument, als authentischer Beleg, wie alles angefangen hat, zu zeigen. Es ist jedoch nur die Simulation dieses historischen Dokumentes, dem jede Distanz zum Objekt fehlt. Geschichte, das wird in diesen Szenen deutlich, ist nicht nur etwas Gelebtes, sondern etwas Konstruiertes, etwas Dramatisiertes. Es handelt sich eben um eine Story und Snowden weiß sehr genau, wie Geschichten erzählt werden. Im Quasi-Begleitbuch zum Film „Die globale Überwachung – Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen“ von Glenn Greenwald ist nachzulesen, dass „Der Heros in tausend Gestalten“ von Joseph Campbell Snowdens Lieblingsbuch ist. Ein Buch also, das sich mit dem Konzept der Reise des Helden befasst. Und damit der Heldenmythos funktionieren und das Gleichgewicht in der Welt wieder hergestellt werden kann, braucht es einen Gegner. An diesem Punkt driftet der Film vollkommen in eine Erzählung über Gut und Böse ab und löst sich zunehmend vom offenen Blick des Dokumentarischen.

Die im Film beschriebene Kontrollgesellschaft des 21. Jahrhunderts kann jedoch nur aus der Entstehung der Disziplinargesellschaft (Foucault) als Teil eines historischen Transformationsprozesses im Angesicht tiefgreifender politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Veränderungen begriffen werden. Genau dieser Multiperspektivität verweigert sich „Citizenfour“ gänzlich und ist damit allem voran Wasser auf die Mühlen der Verschwörungstheoretiker. Diese können sich unter den Klängen der Nine Inch Nails, mit deren Musik (bezeichnenderweise aus dem Album „Ghosts“) der Film düster schattiert wird, tief in die Geheimnisse der Matrix begeben und ein wenig gegen die Agenten aufbegehren.

Nur in einem Nebensatz darf der Internetaktivist Jacob Appelbaum diagnostizieren, dass sich Freiheit heute in Privatheit transformiert habe und wir diesen Raum des Privaten nach und nach verlieren würden. Dass wir uns mit allergrößter Freiwilligkeit digital entblößen, den steten Aufforderungen, immer mehr zu teilen, zu liken und zu posten bereitwillig nachkommen, oder uns permanent einen Vorteil in Form eines Paybacks vorgaukeln lassen, ist nur eine wesentliche Größe in diesem Zusammenhang. Dave Eggers hat in seinem Roman „Der Circle“ dazu eine brillante Analyse abgeliefert. An keiner Stelle kommt es hier zu einer überzeugenden Argumentation, warum der auf absolute Transparenz ausgerichtete Circle aufgehalten werden sollte. Und der Staat als Zentrum der Macht spielt längst keine Rolle mehr.

„Citizenfour“ ist ein cleveres Marketing-Puzzleteil im Kampf gegen Big Brother 2.0. Seinem aufklärerischen Anspruch und dem ungeheuren Mut Edward Snowdens stehen jedoch die Täuschungsmanöver einer hochgradig manipulativen und kurzsichtigen Inszenierung unvereinbar gegenüber.

Blue Ruin

(USA / F 2013, Regie: Jeremy Saulnier)

Gewaltspirale
von Wolfgang Nierlin

Der fremde Mann ist allein, schweigsam und in sich gekehrt. Er trägt lange, zerzauste Haare und einen struppigen Bart. Und er lebt an einem verlassenen Strand in einem verrosteten, von …

Der fremde Mann ist allein, schweigsam und in sich gekehrt. Er trägt lange, zerzauste Haare und einen struppigen Bart. Und er lebt an einem verlassenen Strand in einem verrosteten, von Einschusslöchern überzogenen alten Pontiac, der in Virginia zugelassen ist. In fremden Häusern genehmigt er sich ein Bad, im Wohlstandsmüll findet er seine Nahrung und durch das Sammeln von Plastikflaschen verdient er sich ein bisschen Kleingeld. Mit seiner eingeübten Praxis und routinierten Geschicklichkeit besitzt dieser bestens adaptierte Aussteiger und Überlebenskünstler eine faszinierende Aura. Doch man spürt und bald wird klar, dass ihn eine dunkle Geschichte verfolgt, dass ihn ein lastendes Trauma aus der Bahn geworfen hat.

Wir erfahren, dass die Eltern von Dwight Evans (Macon Blair) vor Jahren ermordet wurden. Jetzt wird der mutmaßliche Täter vorzeitig aus der Haft entlassen und Dwight sinnt auf Rache. Wie in Trance und dabei lautlos wie ein Indianer nimmt er die Verfolgung von Wade Cleland auf, gleitet verloren und abwesend durch Räume, um schon bald dem Verfolgten auf einer Toilette aufzulauern und ihn zu richten. Mit dieser Selbstjustiz beginnt eine nervenaufreibende Rachegeschichte, deren blutige Spur ins Zentrum einer alten Familienfehde führt; und damit in eine geradezu archaische Abfolge von Gewalt und Gegengewalt.

Jeremy Saulniers routiniert und atmosphärisch dicht erzählter Thriller taucht dafür tief ein in die ebenso finstere wie mörderische Selbstverteidigungslogik der US-amerikanischen Gesellschaft. Mit einem genauen Blick für Details, ironische Übertreibungen und einem unterschwellig absurden Humor huldigt der Regisseur und Kameramann (u. a. für die Filme Matthew Porterfields) dabei Genre-Vorbildern, um nicht nur einen übersteigerten Waffenkult, sondern auch den Irrsinn einer blinden, schier unausweichlichen Gewaltspirale zu entlarven. Mag sein, dass am schonungslos blutigen Ende seines spannungsgeladenen Independentfilms ein Funken Hoffnung aufscheint, aber nur ein sehr kleiner.

Café Olympique – Ein Geburtstag in Marseille

(F 2014, Regie: Robert Guédiguian)

Engel im Wunderland
von Wolfgang Nierlin

Im Gleitflug bewegt sich die Kamera auf eine moderne Wohnanlage zu, fliegt über ihre Rasenflächen und schweift schließlich durch Innenräume, die nur dem Anschein nach behaglich sind. Die schöne neue …

Im Gleitflug bewegt sich die Kamera auf eine moderne Wohnanlage zu, fliegt über ihre Rasenflächen und schweift schließlich durch Innenräume, die nur dem Anschein nach behaglich sind. Die schöne neue Wohnwelt, wie als Imagefilm oder Werbeclip inszeniert, gibt sich aufgeräumt und funktional, genormt und steril. Ein farbloser Ort für – ganz bildlich – „graue Menschen“, deren Leben eingesperrt und überschaubar abgezirkelt ist. Oder entstehen gerade in einem solchen Ambiente Träume und Fluchtphantasien? Die komische Heldin Ariane (Ariane Ascaride) aus Robert Guédiguians neuem Film „Café Olympique, der im französischen Original „Au fil d’Ariane“ heißt, flieht jedenfalls entlang ihres ganz persönlichen Ariadnefadens dieser tristen Realität, in der sie eben noch Kuchen gebacken hat. Weil an ihrem 50. Geburtstag die erwarteten Gäste ausbleiben, setzt sie sich kurzentschlossen in ihren Mini Cooper und nimmt Kurs auf Marseille.

Mit ihrem wunderlichen Blick aus ihren großen Augen wirkt sie ein wenig wie Gelsomina aus Fellinis „La Strada“. Und tatsächlich betritt Ariane kurz darauf eine wunderliche Welt, in der die Menschen, angestachelt von einem mediterranen Lebensgefühl, auf öffentlichen Plätzen unbeschwert tanzen oder in die romantisch-wehmütigen Chansons von Jean Ferrat einstimmen. Als zunächst trauriger Clown, der von einer Pechsträhne verfolgt wird, landet sie im titelgebenden Café l’Olympique“, wo ganze Reisegruppen älterer Touristen verköstigt werde. Hier lernt sie eine ganz besondere Gemeinschaft von Menschen kennen, zu der unter anderen Denis (Gérard Meylan), der ebenso kämpferische wie stoische Besitzer des Restaurants, sein englisch sprechender „Hausdichter“ Jack (Jacques Boudet), der afrikanische Andenkenverkäufer Martial (Youssouf Djaoro) sowie ein Taxifahrer (Jean-Pierre Darroussin) gehören, der Katzen liebt und seinen heulenden weiblichen Fahrgast mit Schuberts „Forellenquintett“ tröstet. Und hier, an diesem besonderen Ort zwischen Meer und den dampfenden Schloten des nahen Industriegebiets, verwandelt sich Ariane in einen helfenden, ja heilenden Engel.

Der französische Regisseur Robert Guédiguian, der für seine klassenbewusst kämpferischen Geschichten aus dem Milieu sogenannter „kleiner Leute“ bekannt ist, entwirft mit leichter Hand und spürbarer Lust am Spiel eine „filmische Phantasie“ über den Möglichkeitssinn der Freiheit. Gerade weil seine durchweg sympathischen Helden „bis zum Hals in der Welt stecken“ und einer „verheerenden Wirtschaft“ ausgesetzt sind, huldigt er auf ebenso bezaubernde wie poetische Weise dem Traum als „Einladung“, so Guédiguian, „eine Art Brüderlichkeit neu zu erfinden, die universell ist.“ Geradezu schwerelos und mit sichtbarem Vergnügen an der Übertreibung plädiert „Café Olympique“ zugleich für das persönliche, selbstverantwortliche Wagnis, das darin besteht, „nicht zu wissen, wo man hingeht“, oder auch darin, die „eine Chance“ zu ergreifen. Nicht zuletzt ist Guédiguians mit zahlreichen musikalischen, literarischen und filmischen Referenzen versehene Werk auch eine „Phantasie“ über das Theater respektive die Kunst, die das Leben rettet und schöner macht – imaginiert als Paradies auf Erden.

American Sniper

(USA 2014, Regie: Clint Eastwood)

Bring The War Home!
von Ulrich Kriest

Am Ende hat es ihn, der einmal Amerikas tödlichste Waffe war, dann doch erwischt. Aber nicht im Irak, sondern irgendwo in Texas auf einem Schießplatz, als er zusammen mit einem …

Am Ende hat es ihn, der einmal Amerikas tödlichste Waffe war, dann doch erwischt. Aber nicht im Irak, sondern irgendwo in Texas auf einem Schießplatz, als er zusammen mit einem Freund einem traumatisierten Veteranen mit Schießübungen neues Selbstbewusstsein einimpfen wollte. In solcherart Sozialarbeit hatte der Scharfschütze Chris Kyle nach vier mehrmonatigen Kriegseinsätzen im Irak mit seinen legendären 160 bestätigten „Kills“ gerade eine neue Mission gefunden, nachdem er selbst einige Zeit recht autistisch seine Rückkehr ins Zivilleben gepflegt hatte. Gefährlich für Hunde in der Nachbarschaft und von der Familie nicht ansprechbar.

„American Sniper“, die Verfilmung der Bestseller-Memoiren von Chris Kyle unter der Regie von Clint Eastwood und mit dem Produzenten Bradley Cooper in der Hauptrolle, hat in den USA eine schöne, polarisierende Kontroverse auslösen können, weil der Film so tut, als behaupte er eine ambivalente Haltung zwischen Heldentum im Krieg (Super!) und dessen Konsequenzen für die Familie daheim (Nicht so super!). Michael Moore meldete sich früh zu Wort und gab zu bedenken, dass Scharfschützen keine Helden, sondern Feiglinge seien, weil sie aus dem Hinterhalt agierten, während Sarah Palin konterte, die Kyle-Kritiker seien nicht einmal würdig, dessen Schuhe zu putzen.

Teilweise wirkt der Film so, als habe er bestimmte Reaktionen darauf bereits antizipiert und daraufhin die Konzeption leicht abgewandelt. Doch der Reihe nach: zu Beginn des Films liegt Kyle auf einem Dach und gibt einigen Kameraden Deckung, die unten auf der Straße Haus für Haus eine Stadt erobern. Plötzlich treten eine verschleierte Frau und ein Junge auf die Straße, bewegen sich auf die US-Soldaten zu und hantieren dabei derart ostentativ mit einer Granate, dass Kyle zum Eingreifen geradezu gezwungen ist.

Klar, Notwehr, um die unmittelbar bedrohten Kameraden zu schützen. Kyle ringt mit dem Finger am Auslöser, aber der Film springt jetzt erst einmal zurück in die Kindheit des Scharfschützen, als er mit dem Vater in Sachen Jagd initiiert wurde. „Merke, Sohn! Es gibt Wölfe, und es gibt Schafe. Und es gibt Hirtenhunde, die die Schafe vor den Wölfen schützen.“ Cooles Bild für einfach Gestrickte! Kyle wird trotzdem erst einmal Rodeoreiter, dann, als er im Fernsehen Bilder vom Al-Kaida-Terror sieht, zum Patrioten – und nach einer Ausbildung an den Waffen zum Hirtenhund in Uniform. Und dann liegt er wieder auf dem Dach und hadert mit seinem Gewissen. Was für Bestien sind das da im Irak, dass er Kinder und Frauen ausknipsen muss!

Der Film bezieht unmissverständlich Stellung, indem er diese Szene durch zwei Nebenhandlungen ergänzt. Zunächst einmal ist da ein zweiter, irakischer Sniper, der nicht etwa Aktionen der Gegen-Seite flankiert, sondern gleich als terroristisch Agierender eingeführt wird, der blutige »Erfolge« seines Wirkens gleich ins Internet stellt. Während Kyle sich nach einem gelungenen Abschuss nicht einmal gratulieren lässt! Und dann ist da ein Al-Kaida-Kader, den man nur „The Butcher“ nennt, weil er gerne und viel foltert und bei Kindern von Kollaborateuren gerne mal die Bohrmaschine zückt.

Mit solchen Gegnern, von Kyle gerne „Wilde“ genannt, hat man es im Irak zu tun. Da ist ein Gewissen Luxus und wenn Kyle von seinen 160 „Kills“ etwas bedauert, dann, dass es nicht wesentlich mehr gewesen sind. Recht schnell wird dem Film auch klar, dass die Beschreibung der Arbeit eines Scharfschützen nicht sehr filmisch ist. Zu Beginn wird Kyle in ein paar Szenen als Scharfschütze eingeführt, was schnell an ein fades Computerspiel erinnert.

Wunderbar, hätte der Film diesen Stumpfsinn ausgehalten! Hat er aber nicht. Deshalb muss Kyle später vom Dach runter auf die Straße und mit in die Häuser reingehen. Schnell mutiert der Scharfschütze zum Terroristenjäger, der sich auf einen vermittelten Zweikampf mit dem irakischen Sniper einlässt, wie er uns schon einmal aus Stalingrad erzählt worden ist. Als er diese Mission schließlich erfolgreich abgeschlossen hat, ruft er noch während des Gefechts zuhause an und sagt, dass er jetzt bereit ist, nach Hause zu kommen.

„Im Felde unbesiegt“ wird er dann das Opfer eines etwas zwielichtig aussehenden Veteranen, aber das zeigt „American Sniper“ nicht, sondern endet stattdessen mit dokumentarischen Bildern vom Begräbnis des Chris Kyle. Weil er zeige, was die Kriegserfahrung auch mit dem Zivilisten Chris Kyle anrichte, so Clint Eastwood, sei sein Film ein echter Antikriegsfilm. Weil er aber weder von Massenvernichtungswaffen, von den Folterungen Abu Ghraib oder von anderen Kriegsverbrechen spricht, weil er den Krieg zu keiner Sekunde in Frage stellt, sondern lieber vom Adrenalin schwärmt, dass das „being in action“ freisetzt, ist „American Sniper“ ein Film geworden, der das große Ganze nicht beschreiben kann, weil er nur den Tunnelblick ins Zielfernrohr verdoppelt. Das Heldengemälde sagt entschieden und echt stur „Ja“ zum Irak-Krieg – und ist als konventioneller Kriegs- und Propagandafilm handwerklich makellos, also mangelhaft.

Altman

(KAN 2014, Regie: Ron Mann)

Meister der Ambivalenz
von Ulrich Kriest

„Ich denke, es ist angemessen, seine Filme in einer Linie zu sehen, wenn auch nicht in einer geraden.“ – Norbert Grob Am 20. Februar 2015 wäre Robert Altman, gestorben im …


„Ich denke, es ist angemessen, seine Filme in einer Linie zu sehen, wenn auch nicht in einer geraden.“
– Norbert Grob

Am 20. Februar 2015 wäre Robert Altman, gestorben im November 2006, 90 Jahre alt geworden. Ein guter Grund für den Filmemacher Ron Mann, die höchst eigenwillige und eindrucksvolle, sechs Jahrzehnte überdauernde Karriere Altmans noch einmal in Erinnerung zu rufen. Obwohl Altmans Œuvre gerne dem „New Hollywood“ der 1970er Jahre zugerechnet wird, war der Filmemacher bereits 44 Jahre alt, als er mit „M.A.S.H.“ erstmals einen waschechten „Autorenfilm“ realisieren konnte. Zuvor hatte er das Handwerk zunächst bei Industriefilmen erlernt und sich anschließend als einer der Top-Fernseh-Regisseure („Bonanza“) etabliert, obwohl er bei den Produzenten immer wieder durch Themenwahl oder technische Details aneckte. Der industriellen Arbeit am Konventionellen versuchte sich Altman subversiv zu entziehen: er setzte auf Naturalismus, Sozialkritik, Transgression, Widerstand gegenüber Normen und eine gewisse Beharrlichkeit, die schließlich in eine »konsequente« Karriere voller „Ups“ und „Downs“ mündete. Doch immer mal wieder begegnete der „Zeitgeist“ dem Schaffen des Querkopfs Altman und versöhnte mit den zwischenzeitlichen Durststrecken.

Mann konstruiert seinen Film um unterschiedliche Begriffsbestimmungen des „Altmanesken“, mal eher objektiv, mal eher subjektiv und in Hinsicht auf Altmans Biografie formuliert von Weggefährten wie Sally Kellerman, Lily Tomlin, James Caan, Elliot Gould, Keith Carradine oder Bruce Willis. Ihm geht es dabei (leider) nicht um eine filmhistorisch-kritische Werkanalyse, sondern eher um eine lückenhafte autobiografische Erzählung, die möglich wird, weil Mann auf allerlei Interviews, Home Movies und Fotos aus Altmans Archiven zurückgreifen kann.

Altmans internationale Karriere beginnt 1969 mit der Anti-Kriegs-Farce „M.A.S.H.“, die gegen den Widerstand des Studios durchgesetzt wird und in Cannes triumphiert. Es ist ein durchgängiges Motiv des Films, dass es darum geht, den durch Zufall entstehenden Freiraum als Chance zu nutzen, um künstlerische Visionen zu realisieren. Der gewisse Kniff: Bekannte Stoffe, an denen ein wenig geschraubt wird, bis unangenehme Wahrheiten über Amerika erkennbar werden. „Immer muss transparent werden, wie überholt die alten, gängigen Formen inzwischen sind. Das Übliche (die konventionellen Regeln fürs Erzählen) nimmt Altman als Ausgangspunkt, von dem aus er seine Stoffe zu überprüfen und zu verändern sucht – und dann nimmt er Reißaus: in eine andere, oft die entgegengesetzte Richtung. Das Historische: kritisch; das Mythische: aufklärerisch; das Gesellschaftliche: karnevalesk. Das garantiert weder klarere Positionen noch bessere Antworten, nur andere Perspektiven und irritierende Fragen“, hat Norbert Grob in diesem Zusammenhang etwa formuliert.

Der Erfolg von „M.A.S.H.“ trägt Altman gut durch die siebziger Jahre. Er realisiert in steter Folge Klassiker wie „McCabe & Mrs. Miller“, „Der Tod kennt keine Wiederkehr“, „Nashville“ oder „Eine Hochzeit“, vergessene Filme wie „California Split“ oder „Diebe wie wir“ und produziert nebenher noch die ersten Filme von Alan Rudolph und „Die Katze kennt den Mörder“ von Robert Benton. Doch unvermittelt – Manns Film gibt nur hierfür wenig überzeugende Antworten – endeten die Jahre des Erfolgs mit einer Folge von Flops: „Quintett“, „Ein perfektes Paar“, „Der Gesundheits-Kongreß“ und „Popeye“. Das nimmt sich aus wie eine Variante zu Peter Biskinds „Raging Bulls, Easy Riders“ über Aufstieg und Fall von „New Hollywood“. Altman geriet in die Krise, konnte und wollte keine Blockbuster drehen, wich ins Theater aus und landete erst 1988 mit der politisch-karnevalesken Mockumentary „Tanner“ ein Comeback.

Anfang der 1990er Jahre folgten mit „The Player“ und „Short Cuts“ noch einmal zwei Maßstäbe setzende Ensemblefilme. Altmans Spätwerk – durchaus respektabel – entsteht dann allerdings schon unter erheblichen gesundheitlichen Problemen: Herztransplantation, Schlaganfall. 2006, bei der Verleihung des „Oscars“ für das Lebenswerk – fünf Nominierungen waren zuvor erfolglos geblieben – resümiert der Filmemacher, er habe das Glück gehabt, nie einen Film drehen zu müssen, den er nicht habe drehen wollen.

Dass er trotzdem enorm produktiv war, verleiht Manns gerade einmal 95minütiger Dokumentation eine gewisse Kurzatmigkeit und Oberflächlichkeit. Von vielen späten Filmen erscheinen gerade mal die Titel oder die Filmplakate; die wiederholten Krisen und Altmans flexibler Pragmatismus, der eben nicht nur ein Kämpfer gegen das System war, sondern auch jede Gelegenheit zur Arbeit entschlossen zu nutzen verstand, werden etwas forciert und affirmativ überspielt. Am Ende wünscht man sich trotzdem sofort die umfassende Altman-Retrospektive, wissend, dass dies dieser Tage wohl ein Wunschtraum bleiben wird.

Anlässlich seines 90. Geburtstags dankt die filmgazette Robert Altman mit einem ausführlichen Dossier.

Wiedersehen mit Brundibar

(D 2014, Regie: Douglas Wolfsperger)

Für eine lebendige Erinnerungskultur
von Wolfgang Nierlin

Sie heißen Annika, Ikra und David, kommen aus schwierigen Familienverhältnissen und haben vor allem deshalb schon einiges durchgemacht in ihren jungen Leben. Es gibt für sie biographische Brüche, die ihren …

Sie heißen Annika, Ikra und David, kommen aus schwierigen Familienverhältnissen und haben vor allem deshalb schon einiges durchgemacht in ihren jungen Leben. Es gibt für sie biographische Brüche, die ihren Lebensweg in ein Davor und ein Danach teilen: In eine Vergangenheit mit Drogenerfahrungen, Angstzuständen und familiären Konflikten einerseits; sowie in deren Bearbeitung andererseits. Die Jugendtheatergruppe der Berliner Schaubühne, die dabei hilft und diesen Prozess begleitet, heißt deshalb „die Zwiefachen“. Unter Anleitung der engagierten Theaterpädagogin Uta Plate proben und erarbeiten sich die Jugendlichen Hans Krásas Kinderoper „Brundibár“, die zwischen 1942 und 1944 über fünfzig Mal im KZ Theresienstadt von jüdischen Kindern aufgeführt wurde. Um ihrer kranken Mutter durch den Verkauf von Milch zu helfen, schließen sich in dem Stück Kinder zusammen, um gegen den mächtigen, titelgebenden Leierkastenmann zu kämpfen.

Was hat die Vergangenheit mit der Gegenwart und dem eigenen Leben zu tun?, fragt Douglas Wolfsperger in seinem neuen Dokumentarfilm „Wiedersehen mit Brundibar“. Denn die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen, ist für ihn längst nicht abgeschlossen oder gar „auserzählt“. Vielmehr gilt für ihn: „Wie gestaltet man eine lebendige Erinnerungskultur ohne ritualisierte Gesten?“ Gerade das ist der Punkt, an dem die anfangs wenig begeisterten, von ihrem diesbezüglichen Geschichtsunterricht angeödeten Jugendlichen Möglichkeiten entdecken, ihren persönlichen Erfahrungshintergrund, gewissermaßen ihre „Brüche“, in die Auseinandersetzung mit der Oper einzubringen. Neben den Gesangs- und Spielproben sind es deshalb vor allem diverse Gesprächsrunden, in denen die jungen Theatermacher ihre persönliche Beziehung zur Kinderoper und der dahinter stehenden Geschichte entwickeln.

„Nach Brundibar“ lautet infolgedessen der Titel ihres aktualisierten, eigene Betrachtungen und Spielszenen integrierenden Projektes. Einen entscheidenden Anschub beziehungsweise Durchbruch in ihrer Beschäftigung erfahren die Jugendlichen aber vor allem durch ihre Begegnung mit der herzensguten, sehr offenen und einfühlsamen Zeitzeugin Greta Klingsberg, die, 1929 in Wien geboren, damals in fast allen Aufführungen die Rolle der Aninka sang und zu den wenigen Überlebenden gehört. Ihre lebendigen Erinnerungen, wachgerufen durch eine gemeinsame, vom Filmteam begleitete Fahrt ins Ghetto Theresienstadt, erlauben den jugendlichen Darstellern persönliche Zugänge und Identifikationsmöglichkeiten. So gelingt über die Arbeit an der Oper hinaus auch eine intime Annäherung an den Holocaust. Greta Klingsbergs Erzählung von der Ermordung ihrer jüngeren Schwester Trude zählt diesbezüglich zu den traurigsten und bewegendsten Momenten des Films, der bei einem Gegenbesuch in Jerusalem endet und dem es nicht zuletzt um Versöhnung geht.

Wir sind jung. Wir sind stark.

(D 2014, Regie: Burhan Qurbani)

Brennende Langeweile
von Ulrich Kriest

„Honky-Tonky-Show Und abends läuft die Honky-Tonky-Show Die Mutter guckt alleine Krimi oder Quiz Und die Tochter ist da, wo die Action ist.“ – Udo Lindenberg, 1974 – Das Foto von …

„Honky-Tonky-Show
Und abends läuft die Honky-Tonky-Show
Die Mutter guckt alleine Krimi oder Quiz
Und die Tochter ist da, wo die Action ist.“

– Udo Lindenberg, 1974 –

Das Foto von dem Mann im Fussballtrikot mit dem glasigen Blick und dem viel sagenden Fleck auf der Jogginghose, der den Arm zum Hitlergruß erhoben hat, dieses Foto habe ich vermisst bei den Feiern zum 25. Jahrestag des Mauerfalls. Das Foto steht für „Rostock-Lichtenhagen“, für die eigenartige Mischung aus Volksfest und Pogrom im Sommer 1992, als klar wurde, dass der Anschluss der DDR nicht als immerwährende Party zu haben sein würde. „Rostock-Lichtenhagen“ steht wiederum für Mölln, Solingen, Hoyerswerda – und die Verschärfung des Asylrechts. Aktuell scheint man sich in der Kritik darauf geeinigt zu haben, dass „Wir sing jung. Wir sind stark.“ von Burhan Qurbani („Shadada“) gerade zum „richtigen Zeitpunkt“ ins Kino kommt, weil Fremdenhass und Islamophobie gerade wieder en vogue zu sein scheinen.

Tatsächlich reiht sich der Film zunächst einmal ein in die Tradition des deutschen Films, sich seine Themen – gerne bestens recherchiert – in der Geschichte zu suchen. Dann sitzt man im Kino und lernt etwas über die Vor-Geschichte der RAF, über die Vor-Geschichte des Auschwitz-Prozesses oder über die politisch motivierten Fehler der Ermittlungsarbeit nach dem Anschlag auf das Oktoberfest. Und bezieht das Gelernte dann irgendwie auf die aktuelle Gegenwart. Geschichtsunterricht, beflissen. Ist Qurbanis Film anders? Etwa Gegenwartskunde? Weil er doch zur „richtigen Zeit“ kommt?

Natürlich hat „Wir sind jung. Wir sind stark.“ konkret wenig bis nichts mit der Pegida zu tun, schon aus Gründen der Produktionsumstände eines Films. Und es gibt auch bereits eine hoch interessante Film-Dokumentation über die damaligen Ereignisse: „The Truth Lies In Rostock“. Qurbani hat das Mittel des semi-dokumentarischen Spielfilms gewählt, weil er nach eigenen Worten, nicht die Ereignisse der Nacht vom 24. auf den 25. August 1992 rekonstruieren wollte, sondern weil mit den Mitteln der Fiktion etwas über das Gefühl des „Nichtwillkommenseins“ erzählen wollte, über die „Infragestellung von Heimat“. Dazu weitet er den Blick auf eine jugendliche Clique, ein paar vietnamesische Vertragsarbeiter und ein paar überforderte, lavierende Politiker. Dass das Ziel der Ausschreitungen zunächst die Anwesenheit von Roma-Flüchtlingen war, zeigt der Film zwar, gibt dieser Opfergruppe aber im Film selbst keine Stimme. Im Presseheft erklärt Qurbani: „Mein Film möchte erinnern. Nicht anklagen, nicht denunzieren, sondern dieses Ereignis, welches eine der größten zivilen Katastrophen der deutschen Nachkriegszeit war, vor dem Vergessen schützen. (…) Hier gibt es keine Helden. Es geht um das sittliche und ideelle Vakuum einer Post-Wende-Gesellschaft, die sich langsam mit Wut gefüllt hat und dann in einer lauen Sommernacht gegen die Wand gefahren ist.“

Qurbani wählt dazu das Gesellschaftspanorama in naturalistischer Manier, wo jede Figur für eine bestimmte Haltung steht und sämtliche Haltungen zusammen eine These ergeben. So versucht der Film, einen anderen, ergänzenden, vielleicht sogar differenzierenden Blick auf die Ereignisse zu werfen, indem er ein paar jugendliche Täter in den Blick nimmt, die mit rechter Gesinnung kokettieren, aber eben (noch) keine Nazis sind. Deren Radikalisierung erfolgt gewissermaßen aus Orientierungslosigkeit, die mit Langeweile gepaart ist. Dabei bedient man sich je nach Situation bei frei flottierenden Ideologemen: hinter dem Rechtsrock ist immer noch die „Internationale“ abrufbar. Oder auch „Live Is Life“!

Die jungen Schauspieler bekommen dabei die Gelegenheit, die Indifferenz ihrer Figuren durch Bockigkeit, Sprücheklopferei und sehr körperliches Spiel zu zeigen, was im Falle von Robbie dazu führt, dass die Figur permanent unter Strom zu stehen und sich fast schon choreografiert durch den Film zu bewegen scheint. Durch Pubertät zum Verbrechen? Vor dem Werfen des ersten Mollies steht noch schnell der erste Sex – wie soll man da die Übersicht behalten? Wie im Falle von „Kriegerin“ zeigt sich ein Versuch, die Dynamik der Täter durch die Wahl der ästhetischen Mittel irgendwie „authentisch jugendlich“ zu gestalten. „Richtige“, ideologisch gefestigte Rechtsradikale bleiben allerdings Nebenfiguren.

Diese Tendenz der Entschärfung ins Allgemeinmenschliche wird dadurch verstärkt, dass der Film noch eine Genealogie von sehr deutschen Generationskonflikten aufmacht: Urgroßvater Faschist, Großvater Kommunist, Vater Demokrat, Sohn? Martin, der Vater des jugendlichen Protagonisten Stefan, ist ein von der Situation völlig überforderter und mit privaten Problemen beschäftigter Lokalpolitiker, der im Zweifelsfall lieber wegschaut als couragiert zu handeln. Die politische Klasse wird als so opportunistisch und kleinkariert dargestellt, dass es nicht wundert, dass sie den Jugendlichen keine Vorbilder sind.

So sammelt der Film lauter kleine Geschichten (die Vietnamesin, die sich für etwas Besseres hält als die Roma-Flüchtlinge vor der Aufnahmestelle), die fast schon zufällig und gewiss nicht politisch motiviert in den Progrom münden. Wenn die Brandschatzung schließlich beginnt, wird der bis dato schwarz-weiße Film farbig und setzt auf Scope-Format. „Plötzlich ist hier endlich mal „was“ los“, scheint dieser Kniff sagen zu wollen. Fragt sich, wer diesen Satz spricht? Immer mal wieder hat der Film bis dahin seine Bilder mit den bekannten historischen Bildern konfrontiert. Zum Finale zeigt der Film noch einmal erstaunliches handwerkliches Geschick in der Inszenierung von „Action“, hat aber gleichzeitig nichts Substantielles zu erzählen, was die damaligen Fernsehbilder übersteigt.

So bleibt letztlich fraglich, ob „Wir sind jung. Wir sind stark.“ die Ereignisse von 1992 überhaupt gebraucht hätte. Plattenbautristesse, gesellschaftliche Verunsicherung, schwache Väter, Probleme beim Erwachsenwerden, Langeweile und hilflose, von der Exekutive im Stich gelassene Opfer, die in letzter Sekunde gerettet werden – eigentlich alles Zutaten eines ganz und gar konventionellen Genrefilms übers Erwachsenwerden.

Hier gibt’s eine weitere Kritik zu ‚Wir sind jung. Wir sind stark.‘.

National Gallery

(F / USA / GB 2014, Regie: Frederick Wiseman)

Lebendige Bilder
von Wolfgang Nierlin

Zunächst geht die Bewegung von außen nach innen: Vom repräsentativen Vorplatz der Londoner National Gallery, wo stattlich ein steinerner Löwe thront, in die geweihten, noch menschenleeren Säle des weltberühmten Museums, …

Zunächst geht die Bewegung von außen nach innen: Vom repräsentativen Vorplatz der Londoner National Gallery, wo stattlich ein steinerner Löwe thront, in die geweihten, noch menschenleeren Säle des weltberühmten Museums, durch die das Summen von Staubsaugern hallt. Doch dem mittlerweile 85-jährigen Dokumentarfilmregisseur Frederick Wiseman geht es in seinem neuen Film „National Gallery“ nicht um Zeichen der Macht oder soziale Gegensätze; sein großartiges dreistündiges Werk beschwört vielmehr die Gemälde selbst und mit ihnen die vielgestaltigen Repräsentationen menschlichen Lebens. In einer schnellen Montage unternimmt Wiseman eingangs eine Zeitreise in die Motiv-Welt der Alten Meister: Biblische Geschichten und weltliche Herrscher, rätselhafte Blicke und grässliche Fratzen, nackte Körper und gemarterte Leiber, idyllische Szenen und geheimnisvolle Landschaften folgen aufeinander in einem permanenten Wechselspiel von Schönheit und Schrecken.

Es gibt Momente in dieser fulminanten Montage, in denen die Ahnung des Ganzen emotional erlebbar wird, weil die Bilder förmlich in Bewegung geraten und weil sich der Blick zurück mit der Gegenwart verbindet. „Kunst umfasst alles“, sagt einmal einer der Museumspädagogen über ihren faszinierenden Reichtum und erklärt kurz darauf, warum Gemälde „keine Zeit haben“, also ihre Geschichten im zweidimensionalen Raum des Bildes entfalten. Um diese Geschichten zum Leben zu erwecken, habe er versucht, so Frederick Wiseman, „in das Gemälde zu treten“ und dessen Rahmen vom Wechsel zwischen Totale und Naheinstellung zu überwinden. „Ich wollte vorführen, dass die Bilder leben und eine Geschichte erzählen – und es gibt nichts, keine einzige menschliche Erfahrung, die darin nicht vorkommt.“ Unterstützt wird er dabei von einer Reihe äußerst kompetenter Kunstvermittler und Spezialisten, die das interessierte Publikum mit detaillierten Erläuterungen an ausgewählte Werke heranführen.

Viel Zeit nimmt sich der Altmeister des sich der „reinen“ Beobachtung verschriebenen Direct Cinema, der sich in seinem umfangreichen Œuvre immer wieder mit Institutionen beschäftigt hat, um „das zeitgenössische Leben einzufangen“, aber auch für einen Blick hinter die Kulissen der renommierten Gemäldesammlung. Kommentarlos dokumentiert er Arbeitsgespräche und Meetings, in denen es um Öffentlichkeitsarbeit, Marketingstrategien und Budgetfragen geht; er nimmt an Zeichenkursen teil, beobachtet Ausstellungsvorbereitungen, besucht Werkstätten und hört aufmerksam zu, wenn Restauratoren von ihrer komplizierten, kleinteiligen Arbeit sprechen. Dadurch weitet sich Schritt für Schritt das Bild der Institution und gewinnt dabei eine ähnliche Komplexität wie die Gemälde, die von ihr beherbergt werden. So wie Kunst als kulturelles Gedächtnis fungiert, speichert das Museum durch seine vielfältigen Gewerke das Wissen darüber.

Kaptn Oskar

(D 2012, Regie: Tom Lass)

Wie freie Vögelchen
von Wolfgang Nierlin

Fast schon genremäßig dramatisch geht’s los: Oskar (Tom Lass) hat sich von seiner toughen Freundin Alex (Martina Schöne-Radunski) getrennt; weshalb diese ihm, als wütendes Girl mit Benzinkanister, die Bude abfackelt. …

Fast schon genremäßig dramatisch geht’s los: Oskar (Tom Lass) hat sich von seiner toughen Freundin Alex (Martina Schöne-Radunski) getrennt; weshalb diese ihm, als wütendes Girl mit Benzinkanister, die Bude abfackelt. Ganz abstrakt züngeln Flammen, ein wuchtiger Beat hämmert dazu und der Schriftzug „Kaptn Oskar“ erscheint auf der Leinwand. Dieser grell überzeichnete Ausgangspunkt ist natürlich eine Parodie in einem auch sonst eher spielerischen Film, den der Schauspieler und German Mumblecore-Regisseur Tom Lass mit wenig Geld und viel Improvisation, kreativer Lust und überbordendem Freiheitsdrang gedreht hat. Darin driftet Slacker Oskar, gedopt oder gedämpft oder im labilen Gleichgewicht gehalten von Bier, Jägermeister, Wodka und Zigaretten durch den ziellosen Alltag einer gezielten Nichthandlung. Auch wenn Oskar nichts zu tun hat und in einem vergammelten Kellerloch haust, wo die Tapeten aus Zeitungspapier bestehen und Ravioli aus der Dose das Klischeebild eines Lebensgefühls sind, geht es in „Kaptn Oskar“ weder um soziale noch gesellschaftliche Probleme.

Eher um zwischenmenschliche: Denn auf die krasse Alex mit Berliner Schnauze und Hang zum wüsten Sex folgt die eher sanfte, schutzbedürftige Masha (Amelie Kiefer), die Oskar in der U-Bahn aufgabelt und die sich ebenso einsam fühlt wie der Titelheld. Zwar hat diese Sex mit älteren Männern, aber damit scheint Masha vor allem den Verlust väterlicher Nähe zu kompensieren. In ihrer freundschaftlich-geschwisterlichen Liebesbeziehung mit Oskar verabreden die beiden, sich „nicht zu küssen“ und auch „nicht miteinander zu schlafen“. Weshalb ihr mal zärtliches, mal kindlich-verspieltes Zusammensein die Unschuld und Offenheit des ersten Mals atmet, auch wenn sich Oskar, neben Masha liegend, manchmal einen runter holen muss. Ansonsten aber spinnen die beiden ausgelassen rum, betrinken sich, putzen zusammen ihre Zähne – überhaupt erscheint alles Orale, Flüssige und Fließende fast schon obsessiv -, gehen baden an einem See oder kurven mit Inlineskatern um irgendwelche Container.

Schließlich geht es im Kombi und mit Zelt auch noch für ein paar Tage raus aus Berlin, um Abstand zu gewinnen und den Kopf zu durchlüften. Tatsächlich sprechen Oskar und Masha plötzlich kurzzeitig bayrisch und fühlen sich „komplett frei“ „wie zwei Vögelchen“. Man spürt darin die Lust an der Improvisation, am unkonventionellen Spiel und an irgendwie „natürlichen“ Dialogen, die weder das Alberne noch das Peinliche scheuen, um festgelegte Phrasen ironisch zu brechen. Daraus entstehen zwar viele heitere Momente zwischen dem femininen Kindskopf Oskar und der merkwürdig verloren und anhänglich wirkenden Masha; trotzdem ist „Kaptn Oskar“, verstärkt durch die Musik von Justine Electra und Sol Seppy, ebenso melancholisch getönt. Zusammen fühlen sich die beiden manchmal allein oder wissen nichts mit sich und dem anderen anzufangen. Szenisch gebaut und auf eine herkömmliche Dramaturgie verzichtend, lässt Tom Lass in seinem zweiten Langfilm nach „Papa Gold“ auch inhaltlich manches offen. Eine mehrmals wiederkehrende (Traum-)Sequenz zeigt jedenfalls eine nächtliche Straße im Scheinwerferlicht, die ins unbestimmte Dunkel führt und Mysteriöses evoziert.

Fräulein Julie

(N/IR/GB/F 2014, Regie: Liv Ullmann)

Wie Schaum auf dem Wasser
von Wolfgang Nierlin

Der Fluss verbindet Anfang und Ende dieses Films: die Unschuld des Kindes mit dem tiefen Fall der späteren Frau, das luftige Grün der Natur mit den kalten Räumen eines herrschaftlichen …

Der Fluss verbindet Anfang und Ende dieses Films: die Unschuld des Kindes mit dem tiefen Fall der späteren Frau, das luftige Grün der Natur mit den kalten Räumen eines herrschaftlichen Anwesens, die Blumen der Erinnerung mit den Blüten des Vergessens. Doch bevor sich seine klaren Wasser nach einer langen Mittsommernacht blutrot färben und sich ein aufreibender Geschlechterkampf seinem vorgezeichneten Schicksal ergibt, heißt es in Liv Ullmanns bemerkenswert theatralischer Adaption von August Strindbergs naturalistischer Tragödie „Fräulein Julie“ zuallererst: „Sie schien für die Leiden dieser Welt nicht geschaffen zu sein.“ Auf einen irischen Landsitz und ins Jahr 1890 verlegt, ansonsten aber mit großer Treue zur literarischen Vorlage, richtet die renommierte schwedische Schauspielerin und Regisseurin ihren Blick auf eine Frau, deren seelische Verletzungen von der Kindheit und dem frühen Verlust der Mutter herrühren und deren Scheitern letztlich in ihr selbst, ihrer starken inneren Zerrissenheit und einer tiefsitzenden Schwermut begründet ist.

Demnach wird Julie sich selbst und ihrem mangelnden Lebenswillen zum Verhängnis; und entsprechend wird sie, gespielt von der wunderbaren Jessica Chastain, als „seltsame Herrin“ eingeführt, die ihren Hund vergiften will und einen melancholisch getönten Nihilismus pflegt: „Wir treiben wie Schaum auf dem Wasser, bis wir untergehen.“ Die ebenso bezaubernde wie betörende Julie, die sich danach sehnt, ihren gesellschaftlichen Stand hinter sich zu lassen, ja „hinunter zu steigen“, kennt sich selbst nicht. Sie will „fallen“ und dabei tief in der Erde versinken wie in einem „schwarzen Loch“. Ganz im Gegensatz zu ihrem Diener, dem ebenso weltgewandten wie verführerischen John (Colin Farrell), der seine bäuerliche Herkunft hinter sich lassen möchte und vom gesellschaftlichen Aufstieg träumt. In einem erotischen Machtkampf zwischen den beiden wird dieser Konflikt im beiderseitigen Wechsel von Dominanz und Unterwerfung verhandelt.

Einzig Johns Verlobte Kathleen (Samantha Morton), die prinzipientreue Köchin des Barons, beharrt auf den für sie naturgegebenen sozialen Unterschieden, während ihre labile Herrin sich in widerstrebendem Wollen den Verführungskünsten ihres Dieners ergibt. Doch nach dem vollzogenen Beischlaf, von den Wirkungen eines übermäßigen Alkoholgenusses benebelt und überdies zerrissen zwischen Gefühl und Verstand, sind die gesellschaftlichen Schranken zwar vordergründig durchbrochen, aber noch lange nicht aufgehoben. Von Fluchtphantasien angestachelt und von Perspektivlosigkeit immer wieder gebremst, erfahren die Protagonisten ihre jeweilige Begrenzung, die schließlich für Julie zum vorgezeichneten Verhängnis wird.

Liv Ullmann zeigt die unausweichliche Verlorenheit ihrer Heldin als hysterisches Abgleiten in den Wahnsinn, während bei ihrem Gegenspieler ein durchaus schwankender, aber letztlich berechnender Charakter obsiegt, der sich in die alte Ordnung fügt. Ihre trockene, fast schon spröde Inszenierung wahrt die klassische Einheit von Zeit, Ort und Handlung und konzentriert sich dabei ganz auf das Gefühlsschauspiel der drei Hauptfiguren, deren leicht unzeitgemäß anmutenden Leidenschaften von den Symmetrien der weitläufigen, kalten Räume förmlich verschluckt werden. Die Lichtregie des Bildgestalters Mikhail Krichman begleitet Julies Absturz entsprechend mit einem Wechsel vom warmen Kerzenlicht ins Fahle, dezent unterlegt mit Musik von unter anderem Schubert, Schuman und Chopin. Mag sein, dass trotz aller Gefangenschaft, in zahlreichen bildlichen Rahmungen vergegenwärtigt, sich Anflüge von Freiheit in die steife Ordnung mischen. Wirklich modern ist dieses geradezu sachliche „Fräulein Julie“ wohl ganz bewusst aber nicht.

Missverstanden

(I / F 2014, Regie: Asia Argento)

Ein dysfunktionaler Familienroman
von Nicolai Bühnemann

Es ist das Jahr 1984 und Aria ist neun. Sie driftet durch die nächtlichen Straßen Roms, schwer bepackt mit ihrem riesigen Rucksack und einem Käfig mit ihrer engsten Verbündeten: der …

Es ist das Jahr 1984 und Aria ist neun. Sie driftet durch die nächtlichen Straßen Roms, schwer bepackt mit ihrem riesigen Rucksack und einem Käfig mit ihrer engsten Verbündeten: der schwarzen Katze Dac. Ein Kind ohne einen Platz in der Welt. Nach der ruppig gewaltsamen Trennung ihrer egozentrischen Eltern, deren Zusammenleben bestimmt wurde von Geschrei, Gewalt und gegenseitigen Anschuldigungen, bleibt ihre älteste Halbschwester beim Vater (Gabriel Garko), die mittlere bei der Mutter (Charlotte Gainsbourg). Aria aber, die jüngste und einzige Tochter aus der wahrlich unheiligen Allianz, fällt durchs Raster. Sie wird mal von der Mutter, einer neurotischen Pianistin, (Guilia Salerno), deren beständige Sinnsuche sie zu Kommunismus, Buddhismus und ständig wechselnden Partnern treibt, aufgenommen und wieder verstoßen, dann wieder vom Vater, einem so eitlen wie hysterisch abergläubischen Filmstar.

Asia Argento, die als Darstellerin unter anderem mit Gus Van Sant, George A. Romero und Abel Ferrara zusammenarbeitete, legt mit „Incompresa“ ihre dritte Regie-Arbeit vor. Ihr Debüt, „Scarlet Diva“, entstand im Jahr 2000 und drehte sich um eine junge, attraktive Schauspielerin (gespielt von Argento selbst), hin und her gerissen zwischen Drogenexzessen und ihrer – vermeintlich großen, vor allem aber übermäßig naiven – Liebe zu einem Rock-Musiker. Zwischen ihren Ambitionen, ins Regie-Fach zu wechseln – und zwar mit einem Filmprojekt namens „Scarlet Diva“ – und der sexuellen Ausbeutung zu entgehen. Zwischen allerlei europäischen Metropolen und Los Angeles. In seiner rohen digitalen Ästhetik wirkte das bisweilen wie ein Urlaubsvideo aus der Hölle. Wesentlich professioneller, aber nicht weniger infernalisch geht es auch in ihrem Nachfolger, dem vor zehn Jahren entstandenen „The Heart Is Deceitful Above All Things“, zu, der auch das Thema um ein Kind in einem, gelinde gesagt, dysfunktionalen Familiengefüge aus „Missverstanden“ vorweg nimmt. Dort war es ein Junge, der aus einer Pflegefamilie zurück zu seiner Mutter kam und in Folge die Hölle auf Erden in Form des White Trash-Amerika zu durchleben hatte. Sex, Drogen, Vergewaltigung, prügelnde evangelikale Großeltern u.s.w. Dieser Vorgänger zeigte sich inhaltlich reichlich bemüht, die geballte Schlechtigkeit dieser Erde auf ein paar zarte Kinderschultern zu laden und ließ das Ganze formal – nicht minder bemüht – wie einen besonders bösen Drogentrip aussehen.

Alle Schwächen des vorherigen Schaffens der Regisseurin kehren auch in „Missverstanden“ wieder. Anstelle einer halbwegs funktionierenden Dramaturgie findet sich nur ein – auf Dauer ermüdender – Rausch der Bilder, Farben und Stimmungen. Was auf narrativer Ebene geschieht, die Stationen des Leidenswegs der Protagonistin, wird wie auf einer Strichliste abgehakt. Für den Schauplatz und den Zeitraum der Handlung interessiert sich Argento nur so weit, wie sie einen möglichst grellen Background für die Geschichte liefern. Das Rom, in dem der Film spielt, ist so austauschbar wie irgendwas – ohne dass man hinter dieser Austauschbarkeit eine Funktion erkennen könnte. Die Achtziger sind nichts weiter als ein bizarres Sammelsurium denkbar schriller Klamotten und Interieurs. Ein komplett in pink gehaltenes Zimmer. T-Shirts mit Bowie und Smiley. Möglichst viel Neon und viel zu enge Leggings. Wir verstehen: In dieser Zeit aufzuwachsen, kann nicht sonderlich schön sein.

Dennoch findet sich in der Art, wie sich der Film auf seine kleine Protagonistin fokussiert, der Giulia Salerno eine wirklich eindrückliche Gestalt verleiht, eine Menschlichkeit, die den Vorgängern vollkommen abgeht. Mit viel Empathie wird ein Leben gezeigt, in dem Aria ständig vor verschlossenen Türen steht – mal symbolischen, mal ganz buchstäblichen. Was Aria unentwegt sucht, ist der Halt, den ihre Familie ihr nicht geben kann, nicht so sehr aus schierer Bosheit, sondern aufgrund katastrophaler emotionaler Überforderung. Diese Suche nach Zugehörigkeit führt zu einigen wirklich netten Szenen, die ganz ohne erhobenen Zeigefinger auskommen: Aria, die mit ihrer besten Freundin auf der Schultoilette Zigaretten raucht, was über der vollgekotzten Kloschüssel endet; Aria, die im Park auf einige ältere Herumtreiber trifft; Aria, die mit einem der vielen Freunde ihrer Mutter, einem Punk-Bassisten, im Wohnzimmer randaliert.

Asia Argento betont, dass „Missverstanden“ kein autobiographischer Film sei, trotz der augenfälligen Parallelen zwischen Asia und Aria, deren Vornamen sich nur in einem Buchstaben unterscheiden, die das selbe Geburtsjahr haben und aus einer Familie stammen, die im Show Business tätig ist (Argento ist Tochter des Genre-Maestros Dario Argento und der Schauspielerin Daria Nicolodi). Wie dem auch sei, es scheint, dass Argento mit ihrem Regie-Werk an ihrem ganz eigenen Familienroman arbeitet. Vielleicht hat sie sich in diesen nun, da sie nicht mehr vor der Kamera präsent war, durch die Bezüge zu ihrer Hauptfigur eingeschrieben. Dieses Werk hat mit „Missverstanden“ sein interessantestes, einfühlsamstes Kapitel erhalten. Ob Argento eine wirklich große Erzählerin wird, bleibt aber weiter abzuwarten.

Hier gibt’s eine weitere Kritik zu 'Missverstanden'.

Von Menschen und Pferden

(IS / D 2013, Regie: Benedikt Erlingsson)

Zaumzeug und Liebesdinge
von Carsten Moll

Verkrachte Existenzen retten, Rennen und Preisgelder gewinnen oder menschliche Stars im Galopp durch die Landschaft tragen, so sieht ein Pferdealltag im Kino meist aus. Dass es auch anders geht, zeigte …

Verkrachte Existenzen retten, Rennen und Preisgelder gewinnen oder menschliche Stars im Galopp durch die Landschaft tragen, so sieht ein Pferdealltag im Kino meist aus. Dass es auch anders geht, zeigte erst im Dezember Monika Treut mit ihrer Coming-of-Age-Story „Von Mädchen und Pferden“ (2014), in der die vierbeinigen Darsteller erstaunlich viel Eigensinn beweisen durften und damit weit mehr waren als bloß eine Metapher menschlicher Bedürfnisse. Ganz ähnlich verhält es sich nun auch mit (Achtung, Verwechslungsgefahr!) „Von Menschen und Pferden“, einer isländisch-deutschen Koproduktion, die auf diversen Filmfestivals bereits für Aufmerksamkeit gesorgt hat und die zudem vergeblich als isländischer Kandidat für die anstehenden Academy Awards vorgeschlagen wurde.

Von typischer Oscar-Kost ist das Spielfilmdebüt des Regisseurs und Drehbuchautors Benedikt Erlingsson dann zugegebenermaßen auch ziemlich weit entfernt, tapfere Pferdehelden wie das Rennpferd Seabiscuit aus dem gleichnamigen Gary-Ross-Streifen von 2003 oder das Halbblut Joey aus Spielbergs „Gefährten“ (2011) sucht man hier vergeblich. Stattdessen widmet sich Erlingssons Film in lose verknüpften Episoden dem Schicksal einer Reihe von meist namenlosen sowie recht stoischen Islandponys, die in einem abgelegenen Idyll aus verschneiten Berghängen, klaren Seen und endlosen Mooslandschaften leben.

Gleich die ersten Einstellungen tasten behutsam aus der Nähe einen Pferdekörper ab, Muskeln, Fell und ein großes schwarzes Pferdeauge beherrschen die Leinwand. Erst danach tritt ein menschlicher Protagonist auf, bezeichnenderweise als Reflexion in der dunklen Pferdepupille: Kolbeinn (Ingvar Eggert Sigurðsson) heißt der Mann, der sich auf geradezu anachronistische Weise herausgeputzt hat, und nun seine weiße Stute sattelt, um der alleinstehenden Solveig (Charlotte Bøving) seine Aufwartung zu machen. Und obwohl die Häuser in dem beschaulichen Tal weit auseinander liegen, ist sich Kolbeinn doch bewusst, dass ihn die Dorfgemeinschaft genau beobachtet, als er über Feldwege zu seiner Solveig töltet – in der Ferne spiegeln die Ferngläser der Zuschauenden das verräterische Sonnenlicht.

Nach einem Kaffeekränzchen mit der Angebeteten, das in seiner adretten Spießigkeit die Dressur des albern trippelnden Pferdegangs fortzusetzen scheint, kommt es dann zur Katastrophe – der obszön baumelnde Pferdepimmel von Solveigs schwarzem Hengst kündigt das Unheil an: Vor lauter Geilheit bricht das Tier aus seinem Gehege aus und besteigt Kolbeinns Stute, als diese ihren Reiter nach Hause tragen soll. Kolbeinn bleibt nichts außer auf dem Rücken seines Pferds auszuharren, bis das demütigende Spektakel vorüber ist, das sich unter den aufmerksamen Augen des gesamten Dorfes abspielt.

Während dieser skurrile Einstieg noch nahelegt, dass die Tiere in Erlinssons Film in erster Linie als symbolischer Spiegel unterdrückter menschlicher Triebe dienen, so wird diese Lesart von den folgenden Episoden unterwandert. Die Beziehungen zwischen Pferden und Menschen erweisen sich als uneindeutiger und komplexer, die einen sind immer mehr als bloß eine zeichenhafte Wiederkehr der anderen. Ebenso ambivalent gibt sich der brillant bebilderte Film in Hinsicht auf Genre und Tonart: Ein wenig zaghafter Gruselfilm, der ebenso von sozialen wie körperlichen Schrecken berichtet, scheint sich hier mit einer lakonisch distanzierten Komödie zu einem Möbiusband zu verflechten, bei dem Horror und Humor nicht mehr zu unterscheiden sind.

Als Kontext für die zwischen anderen Episoden immer wieder auftauchende Geschichte um Kolbeinn und Solveig erweisen sich diese einander durchdringenden Ansätze, das schonungslose Hineingraben bis tief in die Eingeweide sowie das belustigte Zurückweichen im Angesicht des absurden Treibens, letztlich als überaus passend: Zwischen Zaumzeug und Stacheldraht erzählt der bisweilen abschweifende „Von Menschen und Pferden“ nämlich vor allem und auch ganz treffend von Liebesdingen.

Missverstanden

(I / F 2014, Regie: Asia Argento)

Kunterbunte Katastrophen
von Tim Lindemann

Man kann Asia Argentos mittlerweile dritte Langfilm-Regiearbeit leicht als rein persönliches Projekt begreifen: In 'Missverstanden' folgt die Regisseurin der neunjährigen Aria, Kind eines soziopathischen Schauspielers und einer nymphomanischen Star-Musikerin, durch …

Man kann Asia Argentos mittlerweile dritte Langfilm-Regiearbeit leicht als rein persönliches Projekt begreifen: In 'Missverstanden' folgt die Regisseurin der neunjährigen Aria, Kind eines soziopathischen Schauspielers und einer nymphomanischen Star-Musikerin, durch einige Episoden ihrer unglücklichen Kindheit. Die vom Ruhm verblendeten Eltern lassen Aria und ihren Schwestern nur wenig Liebe angedeihen, so ist die kleine Rebellin weitgehend auf sich allein gestellt. Argento, die Tochter des italienischen Kult-Regisseurs Dario Argento und dessen Stammschauspielerin Daria Niccolodi, hat sich in Interviews schon oft über ihr problematisches Aufwachsen im Schatten des nur selten anwesenden, berühmten Vaters geäußert. Mit 14 Jahren rannte sie zum ersten Mal von zu Hause fort. 'Missverstanden' aber ist weit mehr als eine verfilmte Therapie-Sitzung der Regisseurin, sondern ein zugleich einfühlsames wie drastisches Coming-Of-Age-Drama.

Argento siedelt ihr Jugendportrait im Rom der 80er Jahre an und entwirft das zugehörige Zeitkolorit mit großem Spaß an der Verkleidung und Ausstattung: Von den stylischen Kostümen und Frisuren der jungen Hauptdarsteller bis zur Einrichtung der elterlichen Wohnung erkennt man die Liebe zum Detail, die in die Konstruktion des filmischen Universums geflossen ist. Mehr als in ihren anderen Filmen orientiert sich die Regisseurin dabei auch rein visuell an den prominenten Werken ihres Vaters: Die düstere, zugleich aber quietschbunte Wohnung, die oft einem verwunschenen Labyrinth gleicht, erinnert in ihrer märchenhaften Optik durchaus an die berühmte Ballettschule aus Dario Argentos 'Suspiria'. Vor allem dient dieser Vergleich auch zum besseren Verständnis der Erzählstrategie, die Argento in 'Missverstanden' praktiziert: Ihr Film will von Beginn an als hochgradig subjektive Annahme von Arias kindlicher Perspektive verstanden werden und distanziert sich somit deutlich von stilistischem Realismus.

Die Besetzung von Giulia Salerno als Aria ist in dieser Hinsicht ein Genie-Streich: Nicht selten sind Kinderschauspieler den Visionen der Regisseure noch nicht gewachsen, die kleine Guilia aber geht in ihrer Rolle komplett auf, obzwar ihr Argento einige emotional extreme Szenen zumutet. Da ist einerseits die von Charlotte Gainsbourg verkörperte Mutter Yvonne, die ihren Töchtern zwar alle Freiheiten der Welt lässt, aber auch immer wieder schmierige, drogensüchtige oder cholerische Liebhaber in die Familienwohnung schleppt; da ist andererseits der krankhaft abergläubische Schönling von einem Vater (Gabriel Garko), der Arias Halbschwester Lucrezia (Carolina Poccioni) wie eine Prinzessin verwöhnt, während er in Aria immer nur die mittlerweile verhasste Yvonne sehen kann. Die wüsten Beschimpfungsorgien der beiden verbitterten Elternteile muss Aria ebenso ertragen wie Alkohol- und Drogenexzesse auf den zahlreichen in der Wohnung stattfindenden Parties.

Dennoch wird 'Missverstanden' nie zur tränenziehenden Tragödie, sondern feiert ganz im Gegenteil Arias Lebensmut, Erfindungsreichtum und Furchtlosigkeit mit viel inszenatorischer Energie und Humor. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin stiftet sie in Rom allerlei Schabernack, organisiert eine Fete für die ganze Klasse und selbst als sie von beiden Eltern vor die Tür gesetzt wird, hängt sie einfach gelassen mit den Punks am Tiberufer ab. Und auch die schönen Momente mit den verschrobenen Eltern, wie etwa einen Ausflug zum Konzert der Lieblingsband, verschweigt Argento nicht. Die gelinde gesagt unorthodoxe Erziehung sorgt bei Aria ganz deutlich für einen aufgeschlossenen, lebensfrohen Charakter, der sich in der frischen Mise-en-Scène des Films widerspiegelt.

Erst im letzten Drittel nimmt der Film dann deutlich tragischere Züge an, als auch die letzten Bastionen von Arias Glück langsam wegzubrechen drohen. Mit dem ambivalenten Ende wird es die Regisseurin sicherlich nicht allen recht machen. Letztlich aber ist auch diese Entscheidung konsequent, wenn man den Film weiterhin als reine Spiegelung von Arias Perspektive versteht. 'Missverstanden' ist ein ungewöhnliches, intensives Jugenddrama mit großartigem 80er-Jahre-Flair (und Soundtrack) und stellt bisher den Höhepunkt von Asia Argentos Regie-Karriere dar.

Hier gibt’s eine weitere Kritik zu 'Missverstanden'.

Birdman oder (Die unverhoffte Art der Ahnungslosigkeit)

(USA 2014, Regie: Alejandro González Iñárritu)

Highbrow meets Lowbrow
von Tim Lindemann

Ein tröstlicher Gedanke: Irgendwann ist der Superheldenboom des aktuellen amerikanischen Kinos wieder vorbei, die an und für sich talentierten Schauspieler müssen ihre quietschbunten Rüstungen ablegen und sich wieder auf sich …

Ein tröstlicher Gedanke: Irgendwann ist der Superheldenboom des aktuellen amerikanischen Kinos wieder vorbei, die an und für sich talentierten Schauspieler müssen ihre quietschbunten Rüstungen ablegen und sich wieder auf sich selbst besinnen. Die weniger talentierten verschwinden in der Versenkung. Es ist zunächst nicht ganz klar, zu welcher der beiden Kategorien der von Michael Keaton gespielte Riggan in 'Birdman' gehört; deutlich wird allerdings schnell, dass er noch einer anderen Generation der Superheldenmimen angehört: Heutzutage plant die Comicfilmschmiede Marvel ihre 'Franchises' bereits mehrere Jahrzehnte in die Zukunft voraus, für Riggan war nach Teil 3 seiner erfolgreichen 'Birdman'-Serie einfach Schluss. Nun will er ein ernsthaftes Stück am Broadway inszenieren und selbst die Hauptrolle übernehmen, also mit einem Knall von der Pop- in die Hochkultur wechseln. Doch die Dämonen seiner Trash-Vergangenheit wollen nicht ruhen …

Keaton – das gehört zum verschrobenen, postmodernen Charme von Alejandro González Iñárritus Film – ist selbst Superheldenveteran, er war zwei Filme lang Tim Burtons Batman. Im Gegensatz zu seiner Figur Riggan aber ist Keaton ein hervorragender Schauspieler: Er verleiht 'Birdman' mit seiner verbissenen, verzweifelten Performance die nötige Bodenhaftung. Formal schlägt der mexikanische Regisseur hier nämlich über alle Stränge, verbindet virtuos und thematisch passend Populärkino mit wüsten Verfremdungsstrategien à la Godard. Dazu gehört unter anderem ein jazziger Percussion-Soundtrack – hin und wieder sieht man den Schlagzeuger sogar im Hintergrund der Szene sitzen – sowie die Illusion, dass der gesamte Film in einem einzigen Take, also ohne Schnitte, entstanden sei.

So generiert Iñárritu eine atemlose Atmosphäre: Die Kamera, geführt von Terrence Malicks Stammkameramann Emmanuel Lubezki, folgt den herumhetzenden Schauspielern durch die engen Gänge hinter der Bühne, gleitet bei Außenszenen plötzlich wie von Zauberhand in die Luft. Technisch ist 'Birdman' ein wahres Wunderwerk, wenn auch die avantgardistische Inszenierung und die rasend schnellen Dialoge dem Zuschauer den Einstieg in das psychotische Backstage-Universum nicht ganz einfach machen. Zudem übernimmt der Film teilweise den paranoiden Blickwinkel seiner Hauptfigur. In seiner eigenen Welt verfügt der von den Medien und ehemaligen Geschäfts- und Liebespartnern getriebene Riggan nämlich tatsächlich über die wundersamen Fähigkeiten seines alter egos Birdman: Er wirbelt Gegenstände telekinetisch durch die Luft, ist übermenschlich stark und vermag schließlich sogar zu fliegen. Doch von irgendwo außerhalb seines Blickfelds verhöhnt ihn dabei immer eine tiefe Stimme, die psychologische Inkarnation seiner fiktiven Filmfigur: 'Du Versager! Was ist nur aus dir geworden?' Persönlichkeitsspaltung made in Hollywood.

Seit Harmony Korines Spring Breakers' hat kein Film mehr so tief in den ewig klaffenden Abgrund zwischen Kunst und Kommerz geblickt und Kitsch so virtuos mit Anspruch verbunden. Wo Korine sich aber mit dem diabolischen Scherz begnügte, popkulturelle Leere auf Arthouse-Look treffen zu lassen, geht Iñárritu weiter: Er will wissen, was auf dem Spiel steht, wen, wie man auf Englisch sagt, highbrow und lowbrow kollidieren. Seine Antwort ist paradoxerweise ebenso ernüchternd wie humorvoll: Einerseits führt uns 'Birdman' vor Augen, wie die willkürlichen, hierarchischen Geschmacksgrenzen solche Wandler zwischen den Welten wie Riggan in die Knie zwingen können – dafür steht hier vor allem die Instanz der versnobbten Theaterkritikerin. Zum anderen kommentiert und verspottet der Regisseur dieses rigide Kulturklassensystem aber auch mit seiner Inszenierung: Der Sprung von Riggans Auseinandersetzung mit dem Dichter Raymond Carver zum Kampf mit einem überdimensionalen Vogelmonster wird mühelos in wenigen Bildern vollzogen.

Ebenso mühelos wechselt Iñárritu, Regisseur und Autor von so schwerblütigen, grüblerischen Epen wie 'Babel' und Biutiful', hier ins Komödienfach. Wobei die messerscharfen Dialoge in 'Birdman' vor allem wegen des hervorragenden Casts so gut funktionieren: Da sind Edward Norton als Theaterveteran mit extremen Methoden, Emma Stone als Riggans vernachlässigte, drogenaffine Tochter, Zach Galifianakis als Riggans überforderter Manager und Anwalt und viele mehr.

Außerdem gönnt Iñárritu seinem Publikum einige köstliche Momente physischer Slapstickkomik. Absolutes Highlight ist eine Szene, die wie der archaische Alptraum eines jeden Bühnenkünstlers wirkt: Riggan sperrt sich versehentlich während der Vorführung am Bühneneingang aus dem Theater aus und muss es, spärlich bekleidet und per Umweg über den dicht bevölkerten Broadway, durch den Vordereingang wieder betreten.

Auch in diesen kleinen albernen Momenten schwingen stets kluge Überlegungen zum Verhältnis von Mensch und Medium mit: Riggans Einmarsch durch den Zuschauerraum, also sein Bruch mit der 'vierten Wand', wird zu einer Art zweiter Geburt für den vormaligen Leinwandhelden: Er hat die Bühne und die psychotischen Geheimgänge dahinter endlich verlassen und erkennt das Theater als fundamental anderen Raum im Gegensatz zum Kino an – nicht besser oder anspruchsvoller, nur anders, direkter. Auf den Theaterbrettern, das lernt Riggan von Edward Nortons Mike, muss man erst vollkommen Ich sein, um zur jeweiligen Figur werden zu können. Dass auch diese hehre Erkenntnis am Ende zum dramatischen Extrem getrieben werden muss, das hat Iñárritu verstanden, gehört zum Handwerk eines guten Komödianten. Ob das aber schließlich Riggans Triumph, seinen Abstieg in den Wahnsinn oder beides zugleich bedeutet, bleibt offen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 02/2015

Hier gibt’s eine weitere kritik zu 'Birdman'.

The Interview

(USA 2014, Regie: Evan Goldberg, Seth Rogen)

Analität des Bösen
von Marit Hofmann

Am 9. Dezember 2014 begab ich mich in Lebensgefahr. Ich besuchte das Hamburger Pressescreening von 'The Interview', dessen Vorführer wie Zuschauer, wie ich erst später erfuhr, 'einem tragischen Schicksal geweiht' …

Am 9. Dezember 2014 begab ich mich in Lebensgefahr. Ich besuchte das Hamburger Pressescreening von 'The Interview', dessen Vorführer wie Zuschauer, wie ich erst später erfuhr, 'einem tragischen Schicksal geweiht' seien. So hieß es in einer der widersprüchlichen Botschaften der mutmaßlichen Sony-Hacker oder ihrer Trittbrettfahrer, gefolgt von den raunenden Worten: 'Erinnert euch an den 11. September 2001.' Dabei erscheint es mir im Nachhinein ziemlich schwierig, ein entführtes Verkehrsflugzeug in das Kino im Erdgeschoss eines vierstöckigen Gebäudes zu steuern. Einen Attentatsversuch gab es dann auch nur im Film selbst: Die CIA will den nordkoreanischen Staatschef mit Hilfe zweier durchgeknallter Radaufernsehjournalisten, die ein Interview mit Kim Jong-un ergattert haben, umlegen lassen und darf am Ende auch dessen Ausschaltung feiern – aus Nordkorea wird Knall auf Fall eine sog. Demokratie nach westlichem Vorbild.

Die dafür aufgefahrenen explodierenden Hubschrauber, Fäkalien und anderen Analitäten gehören nicht gerade zu den letzten Bildern, die ich vor meinem Tod an mir vorüberziehen lassen will. Wie üblich ist bei Pressevorführungen, bei denen Alkoholika (in diesem Fall Glühwein) gereicht werden, damit sich die kritischen Medienvertreter das Prüfobjekt schöntrinken können, Vorsicht geboten. Vereinzelte Lacher entlockten mir anfangs noch die Szenen, in denen die Filmemacher Seth Rogen und Evan Goldberg die US-eigenen Perversionen des TV-Geschäfts vorführen. Unter anderem mit Hilfe des echten Eminem, der durch ein überraschendes Statement Talkmaster James Francos Mimik Achterbahn fahren lässt. Auf ihrem Nordkorea-Trip mutieren der Startalker und sein Produzent aber immer mehr zu langweiligen Moralaposteln, die in Wendungen aus dem Actionkomödienbaukasten die feindliche Propaganda entlarven. Zum patriotischen Helden macht den Talkmaster schließlich, dass er Kim Jong-un als Weichei dastehen lässt, das live on air in Tränen ausbricht und sich in die Hose macht.

Ebenso dürfen sich nun auch die Zuschauer des mittlerweile für die Goldene Himbeere nominierten Klamauks als patriotische Kämpfer für die Meinungsfreiheit fühlen. Verschwörungstheoretiker könnten in dem Wirbel um die Hollywood-Klamotte über einen als Pressecoup getarnten Mordkomplott einen als Mordkomplott getarnten Pressecoup wittern. Denn der Film, der nun doch wie ursprünglich geplant am 5. Februar auch in deutschen Kinos startet, ist dank der transatlantischen Aufregung viel erfolgreicher, als zu erwarten war. Dabei hatte Dokumentarfilmschreck Michael Moore nach der Nachricht von der vorübergehenden Absetzung von 'The Interview' bereits frohlockt und die Sony-Hacker per Twitter gebeten, auch noch für weniger romantische Komödien, Michael-Bay-Produkte und 'Transformer'-Fortsetzungen zu sorgen.

Immerhin bietet der Hype um den Film ungeahnte Möglichkeiten für kreative Kriminelle: Wer 'The Interview' downloaden will, könnte auf einen Trojaner hereinfallen und seine Onlinebankingdaten loswerden. Lebensgefahr besteht aber offenbar nicht. Höchstens die Gefahr tödlicher Langeweile.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 02/2015

Lone Wolf and Cub

(J 1972, Regie: Kenji Misumi, Buichi Saito, Yoshiyuki Kuroda)

Ogami, der Auftragsmörder
von Lukas Schmutzer

Eine Rezension zu einer Serie von Kultfilmen zu verfassen, stellt den Rezensenten vor die Frage, welche Worte denn überhaupt dem (deutschsprachigen) Diskurs über die Filme noch irgendetwas hinzufügen könnten. Eingefleischte …

Eine Rezension zu einer Serie von Kultfilmen zu verfassen, stellt den Rezensenten vor die Frage, welche Worte denn überhaupt dem (deutschsprachigen) Diskurs über die Filme noch irgendetwas hinzufügen könnten. Eingefleischte Fans wissen längst, wie über den einsamen Wolf und sein Kind gesprochen wird, und da könnte der Rezensent entweder einstimmen und sich als einer der ihrigen erweisen; oder er widerspricht und erweist sich als Spielverderber bzw. schlicht und einfach als Ahnungsloser.

Diejenigen, die andererseits weniger mit dem Bild des kinderwagenschiebenden Ronins vertraut sind, können sich im Netz relativ schnell die zentralen Schlagworte zusammenkratzen. Der erste Teil der Serie, der nicht weniger intensiv von Sex und Gewalt erzählt als die folgenden, wird z.B. vom katholischen Filmlexikon als zwar „verstörender Film“ geführt, aber „auf ästhetisch hohem Niveau“. ARTE strahlte die sechs Filme, die nun auf Blu-ray erschienen sind, 2010 interessanterweise in der Kategorie „Trash“ aus. Vielleicht ist damit das Spannungsfeld abgesteckt, welches es so schwer macht, sich hier von Schlagworten zu distanzieren: In „Lone Wolf and Cub“ verliert die ästhetisierte Gewalt ihre Verhältnismäßigkeit und wird zum trashigen Selbstzweck, was einem gefallen kann, oder eben nicht; beginnt man hingegen über diesen Umstand nachzudenken, muss man bald feststellen, dass man nicht mehr über den Film, sondern über ganze Genres spricht. Nicht zuletzt dies verleiht den nicht minder gewalttätigen Zitaten in den Filmen von Tarantino ihre Pointe – die Exzesse von „Kill Bill“ sind selbstreferentiell und verweisen als Zitate dennoch auf ganze Genre-Traditionen. „Kill Bill“ war stark von „Lady Snowblood“ inspiriert, ein Rachefilm, der auf einem Manga von Kazuo Koike basierte. Von diesem Autor stammt auch die Mangaserie „Lone Wolf and Cub“, die von 1972 bis 1974 zum Teil verfilmt wurde.

„Lone Wolf and Cub“ konfrontiert mit einem unbarmherzigen Herrschaftssystem im Japan des 17. Jahrhunderts. Der Shogun wählt brutale Mittel, um seine Macht zu sichern. Die Abfertigung unliebsamer Untergebener ist dabei an drei Klans delegiert: Der Kurokama-Klan soll die Fürsten ausspionieren; der Yagyu-Klan soll Verdächtige liquidieren; und Itto Ogami ist der sog. „Kaishaku-Nin“ des Shoguns – er assistiert beim Seppuku, dem rituellen Selbstmord, indem er den in Ungnade gefallenen Adligen den Kopf abschlägt. Wie um das System zu definieren, mit dem es der Zuschauer nunmehr zu tun bekommt, beginnt der erste Teil, „Das Schwert der Rache“, mit der Enthauptung eines Kindes. Aufgrund einer Intrige des Yagyu-Klans fällt Itto Ogami selbst in Ungnade; seine Familie wird bis auf seinen Sohn Daigoro ermordet; anstatt selbst Seppuku zu begehen, sinnt er auf Rache. Fortan schiebt Itto Ogami als Ronin auf den Spuren Toshiro Mifunes einen schwer bewaffneten und gepanzerten Kinderwagen mit seinem Sohn vor sich her und verdingt sich als Auftragsmörder für den Pauschalpreis von 500 Ryo (der japanische Untertitel, wenn man ihn übersetzt, lautet: „Kind und Fähigkeiten anzubieten“).

Während es der Antagonismus zwischen Itto Ogami und den Yagyus ist, der alle sechs Teile verbindet, sind die jeweiligen Spannungsbögen der Filme mitunter so schwach ausgeprägt, dass die Erzählung in einzelne Episoden zerfällt, was ihnen mehr den Charakter einer TV-Serie verleiht. Der Zuschauer scheint sich dabei zunächst ein wenig in der Rolle Daigoros zu befinden, der aus seinem Kinderwagen relativ unbeteiligt ein Geschehen verfolgt, das aus Intrigen, Blutfontänen und nackter Haut besteht. Spätestens als sich der leicht herangereifte Daigoro dann im fünften Teil („Der weiße Pfad der Hölle“) so diszipliniert wie sein Vater (welcher im 3. Teil eine Folter über sich ergehen ließ) öffentlich auspeitschen lässt, um seine Ehre zu bewahren, fühlt man sich in eine distanziertere Position genötigt. Was zeigen die Filme denn immer wieder aufs Neue? Die Hierarchie einer feudalen Gesellschaft, an der auch der herrenloseste Samurai noch immer zu partizipieren hat; diese ausweglose Hierarchie wird als brutal und ungerecht entlarvt, während die Gewalt, die sie notwendig hervorbringt, ästhetisiert wird. Ähnliche Ambivalenzen wirken in vielen Filmen, „Lone Wolf and Cub“ macht sie aufgrund seiner Bildsprache allerdings besonders eindringlich spürbar. Dass Mise en scène und Montage mitunter exzellent sind, sagt im Grunde bereits das zitierte Urteil des Lexikons.

Zur Blu-ray: Die Filme wurden neu vom Master abgetastet. Das Bild ist gut, nur zuweilen wirkt es leicht körnig. Jeweils zwei Filme wurden auf eine Blu-ray gespielt, die drei Datenträger werden in einer entsprechenden Hülle im Blu-ray-Format verwahrt, die ein Wendecover enthält. Die Plastikhülle steckt in einem Pappkarton-Schuber. FSK 18-Logos prangen zwar auf den einzelnen Datenträgern, weder aber auf der blauen Hülle noch auf dem Karton. In Zeiten, wo sonst vor allem Werbebroschüren beiliegen, sollte das 16-seitige Booklet positiv hervorgehoben werden, für das ein informativer Text verfasst wurde. Als „Bonus“ wurden die jeweiligen Filmtrailer auf die Datenträger gebannt. Die Filme sind nicht synchronisiert, sondern nur mit der Originaltonspur zu sehen. Der meiner Ansicht nach größte Kritikpunkt ist, dass nur deutsche Untertitel zugeschalten werden können.

Top Girl oder la déformation professionnelle

(D 2014, Regie: Tatjana Turanskyj)

Zur Ökonomisierung des Intimen
von Ulrich Kriest

Mysteriöse Exposition: vier nackte Frauen stolpern unsicher und ungelenk durchs Unterholz. Schnitt. Innen. Eine junge Frau mit Katzenmaske scheint nach getaner Arbeit erschöpft, nebenan schläft ein nackter Mann in kindlicher …

Mysteriöse Exposition: vier nackte Frauen stolpern unsicher und ungelenk durchs Unterholz. Schnitt. Innen. Eine junge Frau mit Katzenmaske scheint nach getaner Arbeit erschöpft, nebenan schläft ein nackter Mann in kindlicher Stellung. In „Top Girl oder la déformation professionnelle“, dem zweiten Teil ihrer geplanten Trilogie über Frauen und Arbeit, nimmt Tatjana Turanskyj („Eine flexible Frau“) das große Ganze aktueller Geschlechterverhältnisse zwischen Abgründigem und Groteskem in den Blick.

Da ist die etwa 30jährige Schauspielerin Helena (die mit der Katzenmaske), die vor der Jahrtausendwende einmal ein TV-Serienstar gewesen ist („Die Mädchenpolizei“), jetzt aber eher erfolglos ist. Was auch damit zu tun haben kann, wie sich die Dinge allgemein entwickeln, denn wir werden Zeuge, wie Helena sich unmissverständlich verweigert, als sie bei einem Casting von zwei aufgekratzten Castingagentinnen aufgefordert wird, ein „notgeiles“ Prosecco-Luder zu spielen. Als alleinerziehende Mutter kann man sich solch eine Verweigerung nicht allzuoft leisten, deshalb verdient Helena seit Jahren unter dem nome de plume »Jacky« ihr Geld als Sexarbeiterin bei einem Escort-Service und einem Bordell. Als selbstständige Dienstleisterin – ohne Zuhälter. Wenn sie auf die Wünsche ihrer männlichen Kunden eingeht, ist der Job gar nicht so viel anders als die Schauspielerei: Man verbringt viel Zeit mit Warten und wenn es heißt: „Du machst, was ich sage!“, dann schlägt die Stunde der Kreativität.

Zum Glück sind die Männer in ihren Wünschen nicht sonderlich einfallsreich: »Jacky« hat zwar das komplette Repertoire von „A/O“ über Wasserspiele bis „BDSM“ im Angebot, aber zumindest im Film bleibt es bei recht harmlosen Rollenspielen und dem Wunsch: „ganz normal GV und danach noch still daneben liegen“. Turanskyj zeigt Helenas nur scheinbar selbstbestimmten Alltag in jeder Beziehung ziemlich unglamourös zwischen Hausarbeit und Sexarbeit. Anschließend werden in recht engem Zeittakt die Tochter betreut, Betten neu bezogen oder Sextoys gereinigt.

Die Ich-AG-Dienstleisterin »Jacky« scheint mindestens so erschöpft wie die Männer, die ihre Dienste nachfragen. Was darauf hinweisen könnte, dass es hier um mehr geht als um eine Kritik paternalistischer Strukturen, denen es ideologisch gelungen ist, sexuelle Dienstleistungen als „normalen Markt“ zu entwerfen und Sexualität zu ökonomisieren. Aber da ist auch noch Helenas Mutter, eine freiberufliche Musiklehrerin, die aus einer Position der klassischen Frauenbewegung der selbstgewählten Abhängigkeit ihrer Tochter skeptisch gegenübersteht. Zwischen Mutter und Tochter wird ein weiterer Konfliktraum etabliert zwischen Old-School-Feminismus und einem post-feministischen Individualismus, der aus freien Stücken zu den Bedingungen des Neoliberalismus agiert, der – wie die Filmemacherin angemerkt hat – Konsum als gesellschaftliche Teilhabe und Emanzipation verkauft. Dieser Konflikt wird vertieft durch den Vortrag einer souverän auftretenden Schönheitschirurgin, die körperliche Selbstoptimierung durch operative Eingriffe als konsequentes Zuende-Denken feministischer Emanzipationsutopien postuliert: „Ich bestimme mein Alter selbst!“

So fügt sich eins zum anderen und zu einem Bild, das seine Stimmigkeit nur ideologisch behauptet, weil der clever-diskursive Post-Feminismus das Spiel des (erschöpften) Patriarchats spielt. Kein Wunder, dass sich der Film als Kammerton A die Haltung bei der Musiklehrerin-Mutter abholt, die ihrem Schüler rät, sich mit einem „Ich habe genug“ locker zu machen. Lange arbeitet der Film an einem Gleichgewicht zwischen der kühlen und immer etwas müden Professionalität Helenas, zurückhaltend gespielt von Julia Hummer, und der raumgreifenden Exaltiertheit ihrer Mutter, gespielt von Susanne Bredehöft. Kurz vor Schluss scheint der Film dann selbst die Geduld verloren zu haben – er schlägt um in eine böse Satire, deren Deutlichkeit ärgerlich machen kann.

Als ein Freier, seines Zeichens Versicherungsvertreter (RP Kahl bewegt sich gewohnt „cool“ in diesem Setting), Helenas Kreativität für ein ganz besonderes Event abruft, ist sie schnell dabei und liefert gewissermaßen vier Kolleginnen ans Messer. Als Regisseurin einer drastischen Performance, die jetzt die Bilder der Exposition »einfängt«. Es ist schon fast ein surreales Szenario, wenn die Männer nach erfolgreicher Jagd ein einschlägiges Lied anstimmen: „Jäger aus Kurpfalz“ – eine etwas überkandidelte Comedy-Pointe. Da tröstet es dann auch nicht mehr richtig, wenn sich der Film die dialektische Pointe gönnt, Hummer/Helena zum Schluss als mondäne Wiedergängerin von Magdalena Montezuma in Ulrike Ottingers „Madame X – Die absolute Herrscherin“ zu inszenieren.

Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe

(D 2013, Regie: Philipp Hartmann, Jan Eichberg)

Hälfte des Lebens
von Wolfgang Nierlin

In der (statistischen) Mitte des Lebens leidet der Filmemacher Philipp Hartmann unter dem Vergehen einer von ihm zugleich als stillstehend und rasend empfundenen Zeit. „Die lähmende Machtlosigkeit gegenüber der eigenen …

In der (statistischen) Mitte des Lebens leidet der Filmemacher Philipp Hartmann unter dem Vergehen einer von ihm zugleich als stillstehend und rasend empfundenen Zeit. „Die lähmende Machtlosigkeit gegenüber der eigenen Vergänglichkeit“ bezeichnet er deshalb als „Ausgangspunkt“ für seinen kreativ-verspielten Essayfilm „Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe“, den der 1972 in Karlsruhe geborene Regisseur im Alter von „38¼“ Jahren beginnt. Komponiert und zusammengesetzt aus disparaten Materialien sowie verschiedenen Filmformaten, erhebt Hartmann dieses Datum zum äußeren wie inneren Strukturprinzip seines Films, dem er die Dauer von „76½“ Minuten gibt, was, in Jahre übersetzt, der durchschnittlichen Lebensdauer eines deutschen Mannes desselben Jahrgangs entspricht. Dieser persönliche Ansatz, angereichert mit biographischen Details, zahlreichen Erinnerungen sowie Begegnungen mit Freunden und Verwandten, ist für den Film wesentlich. Schließlich geht es in ihm nicht zuletzt um eine Auseinandersetzung mit dem Tod.

Erinnerungsfotos an Philipp Hartmanns Kindheit und Jugend, die sein früh verstorbener Vater aufgenommen hat, eröffnen demgemäß auch den Film. Aus dem Off von Kommentaren und Reflexionen des Regisseurs begleitet, zeigen diese sogenannten „halben Fotos“ jedoch nur die Hälfte der in verschiedenen Lebenskontexten aufgenommenen Szenen. Weil es sich jeweils um die ersten, noch nicht „zählenden“ Bilder eines Films handelt, sind sie auf ihrer linken Hälfte entsprechend weiß: eine Tabula rasa für die Erinnerung. Diese „Fotos von den Momenten vor dem eigentlichen Beginn“ erscheinen dem Filmemacher „wie eine Befreiung“. In ihnen ist die Zeit gewissermaßen noch nicht fixiert, kann die Imagination die Leerstellen der Erinnerung ausfüllen. Das Verhältnis zwischen subjektiver Zeitwahrnehmung, differierend in den wechselnden Lebensphasen, und objektiver Zeitmessung motiviert insofern den Film zu einem beträchtlichen Teil.

Doch auch dem quasi Objektiven ist die Abweichung inhärent wie die Atomuhr in Braunschweig mit ihrer – wegen den Schwankungen der Erdrotation – eingefügten Schaltsekunde ebenso zeigt wie eine der vielen Sanduhren eines verstorbenen Uhrenmachers in Buenos Aires. Hartmann sammelt diese Phänomene an wechselnden Orten und in unterschiedlichen Kulturen weniger, um sie wissenschaftlich zu analysieren, sondern um sie vielmehr poetisch zu durchdringen. „Das einzige, was hier passiert, ist Zeit“, steht auf einer der ausrangierten Lokomotiven, die auf einem Eisenbahnfriedhof in den bolivianischen Anden vom Rost zersetzt werden. Dieser „Cementerio de los Trenes' liegt in der Nähe des Salzsees von Uyuni auf fast 4000 Metern Höhe, der im ausgetrockneten Zustand wie eine gleißende Wüste der Zeitlosigkeit wirkt.

Neben diese zu Projektionsflächen werdenden Orte stellt Hartmann einerseits kleine fiktive, von Ko-Regisseur Jan Eichberg inszenierte Spielszenen, in denen die Zeit zur (schwierigen) Praxis und (Lebens-)Anschauung wird; andererseits unternimmt er, ausgelöst von persönlichen Erinnerungsgegenständen, immer wieder eigene biographische „Zeitreisen“ in die Vergangenheit, zu denen im weitesten Sinne auch Gespräche mit Familienmitgliedern gehören: intime Momente, deren dokumentarische Inszenierung der Filmemacher bewusst sichtbar macht. Dabei geht es nicht zuletzt auch um eine Art Selbsttherapie, die angesichts der Vergänglichkeit durch verschiedene gedankliche Anstöße und Einsichten zu einer leichten Besänftigung führt. In dieser (auch bildlich erhöhten) Perspektive erscheint der Tod als Verwandlung und das Leben als Zyklus wiederkehrender „Glücksschübe“. Schließlich gehe es darum, so eine Kalender-Schreiberin, hinter der man Hartmanns Mutter vermuten darf, der „Banalität des Alltäglichen“ eine Struktur zu geben und damit gewissermaßen auch eine Erinnerung zu bewahren: „Es ist zwar nicht groß was passiert, aber es war etwas da.“ Philipp Hartmanns filmische Strategie folgt vermutlich dieser tröstlichen Einsicht.

Ich will mich nicht künstlich aufregen

(D 2014, Regie: Max Linz)

Finanzierungsprobleme und theoretischer Überhang
von Nicolai Bühnemann

„Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße…“ Nur in der ersten Szene regt sich Asta Andersen so richtig auf. Sie liegt da, wälzt sich, rauft ihre roten Haare und wiederholt in einem enervierten …

„Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße…“ Nur in der ersten Szene regt sich Asta Andersen so richtig auf. Sie liegt da, wälzt sich, rauft ihre roten Haare und wiederholt in einem enervierten und enervierenden Singsang das Wort „Scheiße“. Asta (Sarah Ralfs) arbeitet als Kuratorin an einer Ausstellung, die „Das Kino! Das Kunst!“ heißen soll. Als sie in einem Radiointerview kritische Thesen vertritt, gehen ihr die Geldgeber flöten. Sich nicht künstlich aufzuregen, eine geradezu stoische Ruhe zu bewahren, scheint Astas Stärke zu sein in ihrer Odyssee durch die Gremien und das Berlin der Gegenwart. Ob bei dem Zusammensein mit einigen Kreuzberger Türken, die sich in der Initiative „I Love Kotti“ gegen steigende Mieten engagieren oder beim Warten auf einen indischen Geldgeber.

Asta ist äußerst hip und extrem kultiviert. Diedrich Diederichsen schreibt zu ihrem Namen: „Die Hauptfigur Asta heißt wie eine Stummfilmdiva und ein Allgemeiner Studierendenausschuss – wenn das nicht genau die Synthese ist, aus der die hier Handelnden und Portraitierten gebacken sind: Diva und Drittmittelantrag.“ Asta und der Film arbeiten sich zunächst an einem Berg von Theorie ab. Sehr buchstäblich. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Bücher von Kracauer und Luhmann, Ausgaben der Zeitschrift „Frauen und Film“ und das Feuilleton der „Zeit“. Rezitiert, vorgelesen werden Horkheimer und Adorno und Brecht und der Immobilienteil einer Berliner Zeitung, der besagt: die Mieten explodieren. Und zwar unter anderem, unter Astas Regie, von Frauen und Männern mit Down-Syndrom, die offensichtlich das Gelesene selbst nicht verstehen. Dazu gibt es Fassbinder. Asta sitzt so mittig in einer starren Einstellung, umgeben von anderen Menschen wie es, so erklärt sie, Hanna Schygulla in „Acht Stunden sind kein Tag“ tat, um den Mehrwert zu erklären. Und auch bei RWF wurde ja oft gelesen und rezitiert. In „Die dritte Generation“ etwa Rimbaud und Sprüche von den Wänden öffentlicher Toiletten.

Dass es einen Fassbinder im heutigen Medienbetrieb nicht mehr gibt, liegt, so die Kritik von Max Linz‘ erstem Film, unter anderem daran, dass durch die Vergabe von Fördergeldern ein Konsens produziert wird, in dem Dissidenz systematisch der Geldhahn zugedreht wird. Widerspenstigkeit wird, wie es Asta erleben muss, mit einer prekären Situation in der Finanzierung der Projekte bestraft. Dabei verschweigt der Film nicht, dass die Position der Kulturschaffenden dennoch eine privilegierte bleibt. Hat Asta doch zumindest immer noch eine reiche Mutter, auf die sie zurückgreifen kann, und die ihr – man hat ja Beziehungen – zur Seite steht.

„Als die Mauer noch stand,“ sagt Asta an einer Stelle, „konnte der Reaktionär zur Kritikerin sagen: Dann geh doch rüber! Heute heißt es: Vielleicht bist du bei der bildenden Kunst besser aufgehoben.“ Den Dichotomien von hier/drüben, Kino/Kunst setzt Linz eine größtmögliche Integration entgegen. „Ich will mich nicht künstlich aufregen“ ist nicht nur ein Film, der aus vielen kleinen Filmen, aus einer Vielzahl von Miniaturen zusammengesetzt scheint, die eher durch die Präsenz der Hauptfigur zusammengehalten werden als durch einen Plot im eigentlichen Sinne, es geht ihm auch um intermediale Verknüpfungen, darum, Galerie und Online-Archiv, Sitcom und Nachrichtensendung und Videoinstallation in sich aufzusaugen.

Linz‘ Film wurde bei der Berlinale 2014 uraufgeführt und sorgte für einigen Diskussionsstoff. Ob, wie mancherorts behauptet, die Darstellungen des Kulturprekariats in Klischees münden oder die künstliche Aufregung in Linz‘ Auseinandersetzung mit der dunklen Seite des Kulturbetriebs überwiegt, sei dahingestellt. Immerhin erhält das Finanzierungsleid der vielen Berliner Kulturschaffenden in Asta eine reizende Konkretion. Und einige der Miniaturen, die die Bausteine dieses Films ausmachen, sind verdammt hübsch anzusehen. Die Körper, die beim „Brecht-Yoga“ im Top Shot kreuz und quer auf Matten im Raum angesiedelt sind. Das in Arbeiterpathos schwelgende Wandgemälde Astas türkischer Freunde. Asta im vollen, überbordenden Grün eines Brandenburger Waldes, ein Esel gesellt sich zu ihr, in einer Einstellung wie gemalt.

Norte – The End of History

(PH 2013, Regie: Lav Diaz)

Konsequente Abwärtsspiralen
von Wolfgang Nierlin

Der junge, überdurchschnittlich begabte Jura-Student Fabian Viduya (Sid Lucero) ist ein postmoderner Skeptiker, der alles in Frage stellt. Die Eröffnungssequenz von Lav Diaz‘ epischem Film „Norte – The End of …

Der junge, überdurchschnittlich begabte Jura-Student Fabian Viduya (Sid Lucero) ist ein postmoderner Skeptiker, der alles in Frage stellt. Die Eröffnungssequenz von Lav Diaz‘ epischem Film „Norte – The End of History“ zeigt den zunächst sympathischen Intellektuellen im politisch-philosophischen Gespräch mit Kommilitonen in einem Café. Fabian spricht vom Ende aller Gewissheiten, von einem allgemeinen Werteverlust und von der geschichtsvergessenen philippinischen Gesellschaft, in der er lebt. Woraus er für sich die Konsequenz zieht, dem universitären Leben den Rücken zu kehren und auszusteigen, was seine Freunde trotz unverhohlener Ironie aufrichtig bedauern. Doch während er in seiner privaten Lebensführung nach Vereinfachung und Genauigkeit strebt, gewinnt sein starkes Gerechtigkeitsempfinden immer radikalere Züge. Bis er sich schließlich zu einem brutalen Tyrannenmord an einer reichen Geldleiherin und deren Tochter hinreißen lässt.

Der philippinische Filmkünstler Lav Diaz, der seinen widersprüchlichen Protagonisten an Dostojewskis Romanheld Raskolnikov aus „Schuld und Sühne“ anlehnt und mit der Figur zugleich Assoziationen zur Biographie des Diktators Marcos weckt, erzählt im Folgenden von den verzweigten Wirkungen dieser Tat. Sehr nuanciert und detailreich, langsam und präzise entfaltet er in mehreren parallelen Handlungssträngen sowohl die individuellen Dramen der Betroffenen als auch ein höchst differenziertes Gesellschaftsbild. Sein starker Realismus, der nur an wenigen Stellen ins Symbolische durchbrochen wird, zeigt aber nicht nur Fabians schuldbeladene Flucht vor sich selbst, seine Suche nach Vergebung und seine verzweifelten Versuche, seine nicht abstreifbare Herkunft gewaltsam zu zerstören; sondern er thematisiert vor allem auch, wie eine arme, unschuldige Familie an diesem gemeinen Verbrechen zu Grunde geht.

Weil ein ungerechtes, korruptes System den jungen Familienvater Joaquin Atilano (Archie Alemania) unrechtmäßig zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, muss seine Frau Eliza (Angeli Bayani) alle Kräfte aufbieten, um sich, ihre zwei Kinder sowie die mithelfende Schwester durchzubringen. Lav Diaz zeigt ihr Schicksal mit all seinen Implikationen, durchbrochen von wenigen Hoffnungszeichen, in einer konsequenten Abwärtsspirale. Während dort Fabian mit der radikalen Auflösung seiner Familie beschäftigt ist, wird hier der tiefe Zusammenhalt der Familie von widrigen Umständen und schrecklichen Schicksalsschlägen torpediert. Die Armut gebiert immer größere Ungeheuer. Dem gegenüber sucht Fabian jenseits seiner Privilegien einen Weg ins Offene und Unbestimmte. Doch in Lav Diaz‘ Film bestimmt das Sein das Bewusstsein. Es gibt kein Zurück, allenfalls ein Darüber Hinaus, eine Transzendenz oder auch der Glaube an eine „göttliche Gerechtigkeit“, von dem die philippinische Gesellschaft, so legen es die verschiedenen Perspektiven des Films nahe, offensichtlich durchdrungen ist.

Wild Tales

(AR / ES 2014, Regie: Damián Szifrón)

Von Mücken und Elefanten
von Wolfgang Nierlin

Nicht von ungefähr sind die Vorspann-Titel dieses Films mit Tierportraits unterlegt. Der Mensch ist eine Bestie, will uns das bedeuten. Folglich ist „Wild Tales“ „ein Film über Menschen, die explodieren“, …

Nicht von ungefähr sind die Vorspann-Titel dieses Films mit Tierportraits unterlegt. Der Mensch ist eine Bestie, will uns das bedeuten. Folglich ist „Wild Tales“ „ein Film über Menschen, die explodieren“, so die Werbung zu diesem „erfolgreichsten argentinischen Film aller Zeiten“. Und deshalb geht es in dem aus sechs eigenständigen Geschichten zusammengesetzten Episodenfilm hauptsächlich um Rache, die aus scheinbar nichtigen oder nebensächlichen Anlässen entsteht, einen offenen Schlagabtausch auslöst und nach zahlreichen findigen Wendungen in einem oft blutigen, manchmal unappetitlichen, immer aber recht drastischen Finale kulminiert. Das ist relativ schematisch und ohne inhaltliche Vertiefung auf eine Pointe hin erzählt, produziert dort, wo Regisseur Damián Szifrón maßlos übertreibt, absurde Komik und formuliert zugleich den Anspruch, nicht nur die menschliche Natur, sondern auch die gegenwärtige argentinische Gesellschaft zu beleuchten.

Das gelingt noch am besten in der „Bombita“ betitelten Episode, in der ein von Schauspielstar Ricardo Darín gespielter Sprengmeister namens Simon Fisher in die Mühlen korrupter Behörden gerät und darin förmlich zerrieben wird. Was mit einem nicht ganz rechtmäßig abgeschleppten Auto, Strafgebühren und einem verpassten Kindergeburtstag beginnt, mündet schließlich in einer Ehescheidung, einem hasserfüllten Bombenattentat und einem märchenhaften Ende im Gefängnis. Die Ironie soll natürlich das letztlich Unwahrscheinliche dieser Heldendgeschichte abmildern. Die Stärken dieser Fabel über bürokratische Ungerechtigkeit liegen aber in ihrer kleinteiligen Binnenstruktur, wo ein negatives Erlebnis gleich eine ganze Reihe fataler Zwischenfälle miteinander verknüpft. Damián Szifrón verarbeitet hier seine „Probleme mit Autorität“ und sein „Abscheu“ vor „enormen Zwängen“.

Zu diesen „beengenden Angelegenheiten“ gehören für den argentinischen Regisseur auch Hochzeiten, weshalb er die zunächst harmlos und konventionell beginnende Hochzeitsfeier in der Schlussepisode „Bis dass der Tod uns scheidet“ in einen regelrechten Hochzeitskrieg ausarten lässt, der handgreiflich und höchst emotional ausgetragen wird. Das schockt die Gäste und amüsiert die Zuschauer und ist darauf aus, Einsichten in menschliche Verhaltensweisen mit einem kathartischen Effekt zu verbinden. Szifróns durchgehende Thriller-Dramaturgie folgt auch hier dem bewährten Erzählmuster einer permanenten Eskalation: Aus der Mücke wird ein Elefant, aus der gemeinen Provokation ein großer Krieg und aus dem leisen Verdacht ein lautes Spektakel, das im günstigsten Fall Triebe abführt respektive reguliert und durch das schrille Getöse hindurch ein paar Körnchen Wahrheit sickern lässt.

Der Fan

(BRD 1982, Regie: Eckhart Schmidt)

Starkult und Kannibalismus
von Nicolai Bühnemann

Die erste Einstellung zeigt Désirée Nosbuschs Augenpartie. Dazu hören wir einen Herzschlag, der sich beschleunigt. 'Italienische' wird diese Art der Einstellung im Fachjargon genannt, nach ihrem beliebten Gebrauch in den …

Die erste Einstellung zeigt Désirée Nosbuschs Augenpartie. Dazu hören wir einen Herzschlag, der sich beschleunigt. 'Italienische' wird diese Art der Einstellung im Fachjargon genannt, nach ihrem beliebten Gebrauch in den Spaghetti-Western von Leone und Co. Es ist bezeichnend für Eckhart Schmidts Film „Der Fan“, dass er, einerseits tief in der popkulturellen Gegenwart der Bundesrepublik im Jahr 1982 verwurzelt, doch andererseits gleich mit dem ersten Bild über die Enge seines filmhistorischen Entstehungskontextes hinausweist.

Das einzige Ziel, das die siebzehnjährige Simone (Nosbusch) vor Augen hat, das, was ihr Herz höher schlagen lässt und ihre Gedankenwelt, in die wir durch ein von ihr gesprochenes Voice-Over Einblick erhalten, bestimmt, ist der Sänger R. Verloren, beinahe schlafwandlerisch, wie in Trance bewegt sie sich durch die Stadt, schwänzt die Schule, wandelt die Treppen des Münsters empor, in Gedanken immer bei R. Wenn sie sich hinabstürzen würde in die Tiefe, einen Abschiedsbrief an ihn in der Tasche, so phantasiert sie, dann müsste er endlich von ihr und ihrer Leidenschaft erfahren. Gleichzeitig suggeriert dieser Anfang auch eine Nähe zur jugendlichen Protagonistin, die für die Erzählung bestimmend ist. Die eintönige Melancholie im ewigen Warten auf eine Antwort auf ihre Briefe an R macht sich der Film selbst zu Eigen, transportiert sie durch ihre Stimme aus dem Off und die immer gleichen Synthesizer-Klänge des Soundtracks der NDW-Gruppe Rheingold. Um auf Antwort zu warten, setzt sich Simone eine Frist von einer Woche. Siebenmal begleitet sie der Film zum Postschalter, um mit steigender Verzweiflung zu erfahren, dass kein Brief für sie gekommen ist.

Ihr Umfeld reagiert hilflos auf ihre Passion. Der Vater droht brüllend mit dem Erziehungsheim. Die Lehrer scheinen in ihrer Aufgabe, durch die Musik aus ihrem Walkman zu der Jugendlichen durchzudringen vollkommen resigniert zu haben. Um die kleinbürgerliche Enge der Verhältnisse geht es auch. Schmidt hat seine Geschichte um die grenzenlose Anbetung eines Stars gespickt mit Anspielungen auf den Nationalsozialismus. Zu Beginn wird ein Bild der Massen, die die Hände zum Hitlergruß erheben, übergeblendet mit der Sammlung von Zeitungsausschnitten von R an Simones Zimmerwand. Das Logo Rs ist ein doppelter Pfeil, der ein zackiges „SS“ ergibt. Schmidt sagt im Interview, dass er sich die Frage gestellt hatte, ob es der Star ist, der das Mädchen gerufen hat oder andersherum, und dass diese Frage sich auch im Bezug auf die deutsche Geschichte stellen lässt. War es Hitler, der die Deutschen gerufen, verführt hat, oder aber waren es die Deutschen, die sich ihren Führer herbeigesehnt haben? Bei den moralischen Ambivalenzen, auf die der Film deutlich hinauswill, ließe sich auch fragen, ob Simones Verehrung, ihre Sehnsucht nach R, zu groß ist oder ob es die Verhältnisse sind, die zu klein sind für eine solche Sehnsucht, in denen diese Form der Leidenschaft keinen Platz hat.

Jedenfalls nimmt das Teenage-Entfremdungsdrama der ersten Hälfte zunächst eine märchenhaft anmutende Wendung. Simone lernt R tatsächlich kennen. Auf der einen Seite gibt es dabei immer wieder die Affektbilder von Nosbuschs noch sehr kindlichem Gesicht. Einmal drückt sie es quietschend gegen einen Spiegel. Dann fährt die Kamera im Close-Up auf ihr Gesicht zu, um schließlich in ihren Mund einzudringen. An anderer Stelle tritt sie aus dem Schatten ins Licht einer Lampe, ihre Züge verfestigen sich, um sich sogleich aufzulösen in Trauer und Wut, in zwei Tränen, die ihr über die Wangen rinnen und zwei Schreien, mit denen sie gegen das Schicksal des verlassenen Groupies rebelliert. Schließlich die Großaufnahmen, in denen sie Blut von einem Messer leckt. Dem gegenüber steht der Star als reine Projektionsfläche für schmachtende Teenager-Sehnsüchte. Bodo Steiger, Sänger von Rheingold, spielt ihn betont steif und leblos. Auch wenn er das Mädchen benutzt und verlässt – oder eher: verlassen will –, scheint er doch nie zu einem eigenständigen Subjekt zu werden, immer Abziehbild für eine zeitspezifische, sehr androgyne Idee von Männlichkeit zu bleiben. Folgerichtig wird er einmal in einer Fernsehsendung umzingelt von Schaufensterpuppen gezeigt.

Schließlich entwickelt sich der Film im letzten Drittel zu dem, was Schmidt im gleichnamigen Blu-ray-Featurette „eine kannibalistische Lovestory“ nennt. Anstatt verlassen zu werden, zum Opfer nicht so sehr des Stars, sondern der eigenen Phantasie zu werden, die keine Entsprechung in der Realität hat, findet Simone einen Weg, ihren Star auf ewig für sich zu behalten. Die Art, wie Schmidt das bebildert, sucht im bundesrepublikanischen Kino ihresgleichen. Nicht nur, weil die logische Fortsetzung des – auch an sich schon verdammt unheimlichen, verstörenden – Hochglanzsex hier Nekrophilie und Kannibalismus sind, sondern auch aufgrund der geradezu atemberaubenden stilistischen Geschlossenheit der Inszenierung. Aufs Äußerste stilisiert, deutlich ästhetisiert werden in unterkühltem Blau Close-Up elektrisches Küchenmesser zu Mitteln der Fragmentierung von Körpern, wobei eher auf die Kraft der Suggestion gesetzt wird als auf blutige Details.

„Der Fan“ widersetzt sich nicht nur der sozialpädagogischen Auseinandersetzung mit seinem Thema und erzählt stattdessen eine wahrlich abgründige Liebesgeschichte, er sprengt auch die Grenzen der Kategorien und Genres und wird so zu einem einzigartigen und – bei allem Achtziger Jahre-Kolorit – zeitlosen Kleinod.

Nachdem „Der Fan“ schon seit Jahren auf einer – ebenfalls sehr ordentlichen – DVD vorlag, gibt es seit November 2014 vom Berliner Label CMV eine mustergültige Blu-Ray-Edition. Außer dem Film in exzellenter Bildqualität und auf Deutsch und Englisch finden sich auf der Disc verschiedene Trailer und Bildergalerien sowie das oben bereits zitierte Interview-Featurette „Eine kannibalistische Lovestory“. Eckhart Schmidt erzählt hier unter anderem auch von dem Skandal, der dem Film vorauseilte, weil Désirée Nosbusch die Nacktszenen beanstandete. Schmidt zufolge soll es ihr dabei lediglich um zwei Einstellungen gegangen sein, die er sich weigerte, aus dem Film zu kürzen, weswegen sie vor Gericht zog.

Exodus: Götter und Könige

(GB / USA 2014, Regie: Ridley Scott)

Bale mit Bart und ein Bub als Gott im Plagenpanorama
von Drehli Robnik

Wir müssen viel warten, bis viele waten müssen. Zwar vertreibt uns ein streitwagenintensives Gemetzel an Hethitern, das gleich nach Beginn erfolgt, ein wenig von der Zeit; doch dann dauert es …

Wir müssen viel warten, bis viele waten müssen. Zwar vertreibt uns ein streitwagenintensives Gemetzel an Hethitern, das gleich nach Beginn erfolgt, ein wenig von der Zeit; doch dann dauert es manch langen Dialog, bis der Film 'Exodus: Götter und Könige' zeigt, was er hat (und das ist dann weitgehend auch schon alles): Menschenmassen beim Waten durch Watsch, Blutwasser, sowie kniehohen Frosch-, Fliegen und Heuschreckenbefall in Panoramen der Plagen, die Ägypten heimsuchen, und später noch mal bei Durchquerung des Roten Meeres durch die im Auszug begriffene hebräische Sklavenkarawane samt Ertränkung der sie verfolgenden Kavallerie. Pompös ist das, zumal in 3D, und voll Gusto am Detail: Das Spektakel weidet uns am Anblick der eitrigen Hautausschläge, die Pharaos Höflinge vom Nilwasser kriegen, oder von Haien, die verspeisen, was der Tsunami übriggelassen hat.

Hier ist alles Materie in Aufruhr, Fleisch in Passion (ohne das sich viel davon auf uns übertrüge), und alles hat seine möglicherweise natürlichen Gründe: Wetterkapriolen etwa oder Wahnvisionen des charismatischen Sklavenaufstandsanführers Moische, bei Hof bekannt als Moses. Er hadert mit einem altklugen Buben, den er – und nur er – immer wieder mal sieht (das erste Mal übrigens, als er nach einem Hangrutsch bis zum Hals unter Geröll verschüttet aus der Ohnmacht erwacht, geradewegs vor einem brennenden Dornbusch). Auf Geheiß des Buben verbreitet Moses Terror unter den Sklavenhaltern; der rachsüchtige Bub will mehr davon.

Die Story darf als unbekannt vorausgesetzt werden.

Zu Beginn der Kinogeschichte zählten Filme – Streifen von fünf, zehn Minuten Länge – nach biblischen Stoffen zu jener Lichtspielware, bei der angenommen werden konnte, dass die Leute die jeweiligen szenischen Handlungen erkennen, zumal aus Büchern und Grafiken wiedererkennen, verstehen und mental zu so etwas wie einer Spielfilmhandlung zusammensetzen würden. 2014 ist das anders, da bleibt bei der ganzen Moses-Chose wohl einiges rätselhaft: so etwa wenn der Held zwei Minuten vor Ende, während seine Landsleute sich eine Einstellung lang mit einer goldglänzenden Rindviehstatue befassen, wieder einmal einen psychotischen Schub hat und irgendwas in Steintafeln griffelt. Diese Tätigkeit scheint einen Kompromiss zwischen ihm und seinem inneren Buben zu bedeuten. Jedenfalls packt Moses die Tafeln dann in eine Bundeslade und fährt im Planwagen weiter nach Kalifornien. Später wird Indiana Jones die Lade finden und vor Nazis retten.

Steht denn da was Wichtiges drin? Ein göttlich großes Wort, ein Testament? Das ist zu vermuten. Wie sonst könnte Regisseur Ridley Scott sonst seinen Film mit einer groß prangenden Inschrift beenden? 'For my brother, Tony Scott' heißt es da leinwandfüllend. Tony war Ridleys jüngerer Bruder, hatte Schreckliches wie 'Top Gun' und Gutes wie 'Déjà vu' oder 'Unstoppable' inszeniert und 2012 Suizid begangen.

Das Gesetz der Brüder ist offenbar Gebot der Stunde. Von wegen Zeitpunktbestimmung: Gegenüber von der Inschrift zum Gedächtnis des Bruders, am anderen Ende des Films, also an dessen Anfang, da steht (nicht ganz so leinwandfüllend) ein Titel, der uns frühgeschichtlich verortet: '1300 Jahre vor unserer Zeit'. Diese Ansage, die das bis vor kurzem gängige 'v.Chr.' durch eine gott(essohn)lose Datierung ersetzt und doch nicht gleich an DDR-Tonfall erinnert, ist programmatisch: 'Exodus' kommt – indem er sich naturwissenschaftliche Begründungshintertüren offenlässt, als wär’s eine 'Universum'-Fernsehdoku – ohne Gott aus. Nicht aber ohne Godfather, denn: Wenn Gottvater und sein Gebot (also, eigentlich seine Gebote, es ist deren circa ein knappes Dutzend) wegfallen, weil der Film mit beidem nichts anzufangen weiß, dann treten an deren Stelle die Brüder und ihr Regime. (Das dann wiederum auf Gott rückwirkt, der hier folgerichtig der bübischste Bub unter all den Buben ist.)

Ungleiche Brüder zumal: Moses als der bevorzugte, adoptierte Sohn des Pharaoh einerseits und anderseits dessen leiblicher Sprössling, der aber eitel und unfähig ist. Pharaoh junior kriegt ein paar Szenen, in denen er im Beraterkreis genervt fläzen, dekadent mümmeln und obszön rumbosseln darf, als wäre er Marlon Brando in 'The Godfather'. Der dekadenten Bande am ägyptischen Hof setzt Moses ein forciert rationales Programm entgegen, das allerdings keines ist: Zu schematisch und lippenbekenntnishaft wirken sein Eingangsvotum für 'Vernunft' und später seine Forderung nach gerechten Löhnen für die Sklaven.

Dort, wo Moses nicht gleich das Ethos der Gesetzesfurcht pauschal durch die Segnungen eines unbeirrbaren Fanatismus ersetzt, tritt er also als Vernunftvordenker und Gewerkschafter an. Ein Anachronismus, sicher. Doch der passt gut zu der Unstimmigkeit, wonach dasjenige, wovon der Filmtitel kündet, also der 'Exodus' (der des hebräischen Volkes aus ägyptischer Knechtschaft) im Film kaum vorkommt; kaum zumal im Vergleich mit den gut fünf Minuten, die der jubilierende Aufbruch der Sklavenmassen, samt Vieh und Hausrat, aus ihrem unfreien Domizil in der bis heute kanonischen Verfilmung des Moses-Stoffes dauert, in Cecil B. DeMilles (zweiter Version von) 'Die zehn Gebote', 1956 ein großer Kassenerfolg (aber nur in wenigen Momenten ein großer Film). Ridley Scotts Film heißt 'Exodus', aber er zeigt ihn nicht (sondern springt fast übergangslos von den Auswirkungen der letzten der großen Plagen zu der Verfolgungsjagd zwischen Hebräern und Ägyptern im Gebirge und am Roten Meer).

Der Titel hängt also ein wenig in der Luft. Umso mehr ruft er in Erinnerung, dass es schon einmal einen Hollywood-Film gab, der 'Exodus' hieß und eine historische Staatsmachts- und Befreiungsgeschichte im Nahen Osten erzählte: Otto Premingers 'Exodus' von 1960, u.a. mit Paul Newman, eine monumentale Kinoerzählung von der Gründung des Staates Israel in den Jahren 1945-1948 im Kampf erst gegen die britische Kolonialmacht, dann gegen arabische Nachbarn. Im Zusammenhang mit solchen Nach- oder Beiklängen sind wohl die eigentümlichen Aktualisierungen zu lesen, die Scotts 'Exodus' vornimmt: Das reicht von Anspielungen auf den Nazi-Massenmord am jüdischen Volk – die sich aufdrängen, wenn am Rand des Zwangsarbeitslagers Stapel von ausgezehrten Sklavenleichen verbrannt werden, oder wenn Ben Kingsley hier dem echten Moses, nicht nur einem als solchen angesprochenen metaphorischen namens Schindler, ins Gewissen redet – bis zur Frage des Rückkehrrechts für die Hebräer in ihre alte Heimat Kanaan (und ob das überhaupt dafür steht und nicht ein Leben im Exil-Lager zu bevorzugen wäre), sowie zur Terrorstrategie mit Anschlägen auf die Wohlstandsinfrastruktur und das Sicherheitsgefühl der ägyptischen Bevölkerung, die Moses seiner Guerillatruppe zwecks Angriff auf den haushoch überlegenen gegnerischen Staats- und Militärapparat befiehlt. Mit letzterem vollzieht sich zum Teil eine Art Platztausch im Verhältnis zu den Rollen von Palästinensern und Israelis – sowohl was Vertreibungsgeschichte betrifft als auch in Hinblick auf den jüngsten Gazakrieg und dessen asymmetrische Kriegsführung. Von den antizionistischen Begleitäußerungen dieses Krieges weht der Schmähruf 'Kindermörder!' in den 'Exodus' herüber; das Wort rufen aufgebrachte Ägypter, deren Erstgeborene nachts zu Tode gekommen sind, den davon verschont geblieben Hebräern zu.

In 'Exodus' ist also einiges verschoben, versetzt, verworren, auch verschnitten (sprich: unrhythmisch montiert). Dabei könnte alles so klar und eindeutig sein. Ridley Scott könnte einfach, so wie Cecil B. DeMille mit seinen vorausgeschickten Erklärungen westlicher Freiheiten bei seiner 1956er Version von 'Die zehn Gebote', zu Filmbeginn vor uns hintreten und verkünden: 'Das ist ein besonderer Film. Ich habe nun, nach ‚Robin Hood‘, den ‚Gladiator‘-Stoff zum dritten Mal verfilmt, wieder mit reichlich Digitaltotalen, Jaulchören, schwülstigem Orientalismus und Homophobie gegen effeminierte Männer. Die betreffende Joaquin Phoenix- bzw. Oscar Isaac-Rolle des unwürdigen Thronanwärters spielt diesmal Joel Edgerton – ungut, weil mit viel Kajal. Russell Crowe hatte von ‚Noah‘ noch genug, darum macht diesmal Christian Bale den bodenverbundenen Bartbär. (Mit Gewalthandeln ohne Gesetz und Gebot hat er ja schon aus den Batman-Filmen Erfahrung.) Die einzigen dunkelhäutigen DarstellerInnen, die vorkommen, spielen unsympathische Kleinstrollen. Die meisten Szenen mit Sigourney Weaver – einst Godmother aller Actionheldinnen in meinem besten Film (‚Alien‘) – hab ich rausgekürzt. Lang wird das jetzt trotzdem.'

Remedy

(USA 2013, Regie: Cheyenne Picardo)

Top, ziemlich weit unten
von Carsten Moll

Beim Stichwort „BDSM“ nicht gleich an den „größten globalen Bestseller der letzten Jahre“ zu denken, dürfte angesichts des bevorstehenden sowie aggressiv vermarkteten Kinostarts der Verfilmung „Fifty Shades of Grey“ noch …

Beim Stichwort „BDSM“ nicht gleich an den „größten globalen Bestseller der letzten Jahre“ zu denken, dürfte angesichts des bevorstehenden sowie aggressiv vermarkteten Kinostarts der Verfilmung „Fifty Shades of Grey“ noch ein wenig schwerer fallen. Als ein rechtzeitig verabreichtes Gegenmittel zur geleckten Hochglanzfantasie erweist sich da schon dem Titel nach Cheyenne Picardos schmal budgetierter Debütfilm „Remedy“. Auch Picardo erzählt von einer jungen Frau, die sich in eine schillernde Grauzone begibt und zwischen Lederfesseln und gepeitschtem Fleisch Dominanz und Unterwerfung am eigenen Leib erfährt – sonst trennen ihr autobiografisch geprägtes Drama allerdings Welten vom konservativen Kitsch einer E. L. James.

Gemeinsam mit seiner namenlosen Protagonistin (Kira Davies) stolpert der Film recht unbedarft in das Leben einer Sexarbeiterin und scheint zu Beginn selbst nicht so recht zu wissen, wo es hingehen soll. Die Heldin, die sich aus einer Laune heraus entschließt, eine Stelle als Domina in einem New Yorker SM-Club anzunehmen und sich von da an „Mistress Remedy“ nennt, stöckelt etwas unsicher und rehäugig durch die einführenden Szenen und gewinnt dabei zusammen mit dem Publikum nicht bloß Einblicke in die Welt des BDSM, sondern legt zugleich auch die Struktur des Films offen: Anhand einzelner Episoden, die oft nicht mehr als die Präsenz der Hauptfigur teilen, entfaltet die Regisseurin und Drehbuchautorin Picardo nach und nach das vielschichtige Portrait eines nur auf den ersten Blick ungewöhnlichen Arbeitsplatzes.

Dabei wirkt „Remedy“ mit seiner billigen Digitaloptik sowie den krassen Stimmungswechseln anfangs beinahe naiv und trashig. Der unfreundliche Empfang durch die Domina-Kolleginnen bietet pures Klischee und bereits Mistress Remedys erster, wegen seiner Vorliebe für Zahnbehandlungen als „Marathon Man“ bekannter Kunde scheint auf eine voyeuristische Freakshow einzustimmen. Doch Picardo unterwandert das sensationalistische Potenzial ihrer Geschichte geschickt, indem sie lieber Gesichter als Genitalien zeigt und gemeinsam mit ihrer talentierten Hauptdarstellerin vor allem den psychologischen Auswirkungen der Sexarbeit auf Mistress Remedy nachspürt.

Die BDSM-Story dient in „Remedy“ nicht als Schablone für seichte erotische Unterhaltung und ist dennoch alles andere als lustfeindlich oder verurteilend. Selbst wenn Mistress Remedy mit voranschreitender Laufzeit erkennen muss, dass ihr neuer Job einige Unannehmlichkeiten und ungewollte Demütigungen mit sich bringt (von denen die Reinigung des Arbeitsplatzes nur die geringste ist), liegt Picardo wohl nichts ferner als aus den Tiefpunkten und Traumata ihrer Figur eine Moralpredigt über gefallene Mädchen herauszudestillieren. Das viszerale Unbehagen, das sich bei der jungen Domina (und wohl auch dem Publikum) immer mehr einstellt, rührt nicht etwa von einer rigiden Sexualmoral her, sondern lässt sich als eine Kapitalismuskritik lesen, die auch Arbeitswelten fernab der Sexindustrie betrifft.

Die dem Anschein nach emanzipatorische Top-Rolle der Mistress Remedy über männliche Bottoms verliert eingebunden in einen kommerziellen Kontext rasch alles Empowernde, die starke Frau dient letztlich doch vor allem der männlichen Befriedigung. Aber nicht nur Mistress Remedys authentisches Begehren stellt sich als verhandelbar, verfügbar und verwertbar heraus, sogar aus ihrer Verweigerung lässt sich noch Kapital schlagen: Als die Heldin selbstbewusst und wortgewandt einen jüdischen Kunden ablehnt, den antisemitische Beschimpfungen erregen, legt dieser als Lohn ein Bündel Bargeld auf den Tisch und pervertiert somit das störrische Unverkäuflichsein zur begehrten Ware.

Als ebenso trügerisch und vielsagend erweist sich eine mehrmals auftauchende Szene, die vortäuscht, einen privaten Augenblick darzustellen. Mistress Remedy und eine Kollegin plaudern ungezwungen bei einer Zigarette, doch was wie eine Raucherpause aussieht, entlarvt die sich zurückziehende Kamera als Arbeitsroutine: Vor den Frauen kniet ein vermummter Mann, auf dessen nacktem Rücken die kettenrauchenden Dominas einen Zigarettenstummel nach dem anderen ausdrücken. Die Geste der Ermächtigung, der Genuss und das Privatsein sind in der Fließbandproduktion aufgegangen.

Die süße Gier

(I / F 2013, Regie: Paolo Virzì)

Das Leben ist hochspekulativ
von Jürgen Kiontke

Dino Ossola (Fabrizio Bentivoglio) hat einen Traum. Er möchte zu den oberen Zehntausend gehören. Dino ist die leicht verschrobene Kernfigur in „Die süße Gier – Il Capitale Umano“, dem neuen …

Dino Ossola (Fabrizio Bentivoglio) hat einen Traum. Er möchte zu den oberen Zehntausend gehören. Dino ist die leicht verschrobene Kernfigur in „Die süße Gier – Il Capitale Umano“, dem neuen Spielfilm von Paolo Virzì.

Seit der Finanzkrise laufen für Dino, dem kleinen Immobilienmakler, die Geschäfte nicht so richtig. Die Märkte machen nicht nur in Italien was sie wollen. Irgendwie müsste er mal den Sprung nach vorne schaffen. Die eine Ehe ist geschieden und in der nächsten kommt nun das Kind.

Seine Tochter Serena (Matilde Gioli), im besten Teenie-Alter, hat schon die richtige Wahl getroffen. Sie ist mit Massimiliano (Guglielmo Pinelli) zusammen. Beide sind jetzt für Dino das Ticket in die Oberschicht, denn der Junge ist ein Spross der Bernaschis, der reichsten und mächtigsten Familie in der Stadt. Gut, dass das Mädchen seinerzeit aufs Elitegymnasium geschickt wurde, wo sie ihren lockigen Superstar kennenlernte.

Giovanni Bernaschi, der smarte Vater des Freundes, ist der Fürst der Börsenspekulation (Fabrizio Gifuni). Er hat seine „Finger“ in der Hälfte der italienischen Wirtschaft. Beim beiläufigen Tennis-Match auf dem Bernaschi-Anwesen kauft sich Dino in den vom Hausherrn geführten Spitzenfonds ein. Ganz ehrlich ist er dabei nicht. Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen verbieten eigentlich eine Kreditaufnahme zum Erwerb der Anteile. Daran hält sich Dino aber nicht.

Aber selbst der Tycoon Bernaschi muss rigide Regeln einhalten. Denn der Finanzmarkt ist nicht nur etwas Schillerndes; er ist gefährlich, chaotisch und nicht kontrollierbar. Der Kleinanleger Dino wird somit zur finanzpolitischen Handgranate. Sein Fondsmanager Giovanni weiß, dass er selbst am Rande der Großpleite steht. Dino muss es später lernen.

Ganz ehrlich geht es in diesem Film sowieso nicht zu. Während Giovanni Bernaschi das Geld ranschafft, indem er Betriebe fusioniert und Leute auf die Straße setzt, haut seine Ehefrau Carla (Valeria Bruni Tedeschi) alles Geld auf den Kopf, was sie in die Finger kriegt. Einmal bringt sie den Chauffeur auf einer ihrer Shoppingtouren fast um den Verstand, weil sie alle 20 Sekunden die Fahrtrichtung ändern lässt: Handtasche, Friseur oder erst die Schuhe? Sie agiert aber nicht nur komplett sinnlos. Ihr Hobby ist ein altes Theater, in das sie viel Geld reinsteckt. Mit dem Intendanten kommt es schließlich auch zur belanglosen Affäre.

Diese große kapitalistische Erzählung braucht ihren Widerpart. Es ist die Tochter Serena Bernaschi, die ihre eigenen Pläne verfolgt. Sie durchschaut zwar Dinos Interesse an ihrer Beziehung zu seinem Sohn. Aber mit der Gier der Erwachsenen kann sie wenig anfangen. Sie ist gleichgültig, Reichtum ist ihr egal. Weil sie die Berechenbarkeit ihrer Familie anödet, hat sie sich in den größten Loser der Stadt, Luca (Giovanni Anzaldo), verliebt. Der saß schon im Knast, weil ihn sein krimineller Onkel einen Drogendeal in die Schuhe schob. Der Onkel wäre sonst nie mehr aus dem Gefängnis herausgekommen. Klar, der jugendliche „Knacki“ ist der einzig ehrliche im Film.

Dieses recht fragile, klassenübergreifende Filmgebäude muss zwangsläufig ins Wanken geraten. Es folgt das Verbrechen mit Personenschaden. Irgendjemand hat einen Menschen auf dem Gewissen, und nur Serena weiß, wer es ist. Sie schweigt aber darüber, wer nachts mit dem Geländewagen ihres Freundes Massimiliano den Fahrradfahrer überfahren hat. Unterdessen gehen Giovanni die Milliarden flöten und damit auch Dinos Investition. Wird nun der verschuldete Vater seine Tochter ausspionieren und ihren Freund in den Knast bringen, um sich finanziell zu retten?

Während die Polizei ermittelt weichen alle Gewissheiten. Alle Protagonisten kämpfen nun dagegen, lediglich ökonomisches Treibgut zu sein. Was ist der Gesellschaft ein Menschenleben wert? Um Schadenersatzansprüche auszurechnen, hat die Versicherung schon mal kalkuliert: Lebenserwartung, voraussichtliches Einkommen, Qualität und Quantität der menschlichen Bindungen. Im Fall des Fahrradfahrers geht es um 218.976 Euro. Damit kommt eine weitere Facette des Films zum Tragen, der in vielen Schichten arrangiert ist und vor allem flott und spannend ist.

Der Regisseur Paolo Virzì weiß, wie man Geschichten aus der Arbeits- und Finanzwelt kraftvoll erzählt. Schon mit der Komödie „Das ganze Leben liegt vor dir“, in der er über die Arbeit im Callcenter erzählt, hat Maßstäbe gesetzt.

Bei seinem neuen Werk will man keine Sekunde verpassen. Die interessanten Wendungen, intelligenten Lösungen und Dialoge fesseln an die Handlung. Die dargestellte recht reduzierte Welt der Wirtschaft setzt der Regisseur mit perfekter Fotografie, Dramaturgie und immer wieder tollen Schauspielern in Szene. Er macht es, indem er die Ökonomie als Beziehungsgeflecht von Abhängigen darlegt. Geld, das sind wir schließlich alle.

Einerseits gibt es die Spielwiese für die Älteren – die Börse. Dafür stehen Dino und Giovanni. Die prekäre Ökonomie der Kulturszene und ihre haarspalterischen Diskurse repräsentiert Carla mit ihren Mitstreitern. Das Thema Berufseinstieg und Zukunftsplanung im gegenwärtig gebeutelten Italien diskutieren Serena und ihre Klassenkameraden. Für Erotik, Aggression und rasante Action sorgen wiederum alle zusammen.

Virzì lässt seine Schauspieler – von denen viele selbst schon als Regisseure gearbeitet haben – ihre Stärken ausleben. Sie wirken echt und authentisch in ihren Rollen. Auch die Arbeit des Regisseurs tut es. Besondere Fragen solle man besser in der Geschichte, in den Figuren und ihrem Verhalten verbergen, um sie nicht von vornherein wie etikettenhafte Stellungnahmen klingen zu lassen, betont Virzì: „Man kann also sagen, dass es gut ist, bestimmte Dinge ohne zu viel Nachdruck zum Vorschein zu bringen.“ Der Rest laufe unterschwellig mit: „Habgier, Konkurrenz, Wetteifer, Spekulation, Kultur, Generationenkonflikte.“

Konkurrenz, Spekulation, böses Ende? Das klingt wie Schülertheater. Kein Wunder, denn in der Wirtschaft, im Leben wollen alle mitspielen.

Dieser Text erschien zuerst in: Gegenblende. Das gewerkschaftliche Debattenmagazin

The Imitation Game

(GB / USA 2014, Regie: Morten Tyldum)

Wettlauf gegen die Zeit
von Wolfgang Nierlin

“Ich löse gerne knifflige Aufgaben”, sagt der 27-jährige Alan Turing (Benedict Cumberbatch) bei einem Einstellungsgespräch der besonderen Art, das 1939 in London stattfindet. England ist gerade in den 2. Weltkrieg …

“Ich löse gerne knifflige Aufgaben”, sagt der 27-jährige Alan Turing (Benedict Cumberbatch) bei einem Einstellungsgespräch der besonderen Art, das 1939 in London stattfindet. England ist gerade in den 2. Weltkrieg eingetreten, und der geniale Mathematiker soll im Auftrag der Regierung zusammen mit einem Team von Tüftlern den sogenannten Enigma-Code der Nazis entschlüsseln. Dieser codiert den geheimen Funkverkehr des deutschen Militärs über bevorstehende Kampfhandlungen und gilt wegen seiner Abermillionen täglich wechselnder Kombinationsmöglichkeiten als nicht dechiffrierbar. An geheimem Ort in Blechtley Park arbeitet der unverstandene Eigenbrötler und obsessive „Rätsellöser“, flankiert von Machtkämpfen innerhalb der illustren Gruppe, zu der neben anderen der gewiefte Schachmeister Hugh Alexander (Matthew Goode) und die begabte Mathematikstudentin Joan Clarke (Keira Knightley) gehören, am Unmöglichen; und entwickelt dafür eine riesige Universalrechenmaschine.

Regisseur Morten Tyldum inszeniert seinen nach einer wahren Geschichte entstandenen Film „The Imitation Game“ als spannenden Wettlauf gegen die Zeit, angereichert mit den typischen Versatzstücken des Thriller-Genres und überdeutlich versinnbildlicht durch den wiederholt joggenden Protagonisten. Neben der retardierenden Dramatik, die zielstrebig auf eine Lösung des Problems zusteuert, sind es vor allem interne Konflikte, nicht zuletzt durch die streitbare Arroganz des singulären Wissenschaftlers provoziert, die immer wieder für Rückschläge sorgen. Während der Krieg tobt und unzählige Opfer fordert, was nur am Rande ins Bild gesetzt wird, findet die Gruppe immer stärker einen inneren Zusammenhalt.

Daneben und eher am Rande installieren Morten Tyldum und sein Drehbuchautor Graham Moore eine biographische Erzählung, um Turings „Andersartigkeit“ als Mathe-Genie und Homosexueller zu beleuchten. Die Haupthandlung ist deshalb – nicht immer elegant – verschachtelt mit Rückblenden in dessen traumatische Internatszeit als Schüler sowie mit einem als Rahmen fungierenden Polizeiverhör, in dessen Verlauf der im Nachkriegsengland verfolgte Homosexuelle und Computerpionier lange gehütete Geheimnisse preisgibt. Aus dieser rücksichtslos alle Lebensbereiche und Beziehungen durchdringenden Geheimhaltung gewinnt der Film zugleich sein tragisches Potential.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'The Imitation Game'.

Manolo und das Buch des Lebens

(USA 2014, Regie: Jorge Gutierrez)

Der schwere Fehler der komischen Entlastung
von Carsten Moll

„Firlefanz, Gummigans, grüner Elch, Früchtekelch, Schlangenblick, Tortenstück, Frittenfett, Schokomatsch!“ – aus dem Titelsong zu „Cosmo & Wanda – Wenn Elfen helfen“ Will man sich dem Wesen zeitgenössischer TV-Cartoons wie „SpongeBob …

„Firlefanz, Gummigans, grüner Elch, Früchtekelch, Schlangenblick, Tortenstück, Frittenfett, Schokomatsch!“
– aus dem Titelsong zu „Cosmo & Wanda – Wenn Elfen helfen“

Will man sich dem Wesen zeitgenössischer TV-Cartoons wie „SpongeBob Schwammkopf“, „Adventure Time“, „Die fantastische Welt von Gumball“ oder eben „Cosmo & Wanda“ annähern, mag das einleitende, an eine magische Beschwörungsformel erinnernde Zitat vielleicht ein erster Schritt sein, um dieses Phänomen zu begreifen. Das halsbrecherische Tempo, die sprunghafte Ausgelassenheit und der absurde Humor der im Kinderprogramm ausgestrahlten Zeichentrickserien kommen in dem kurzen Dada-Vers schließlich bereits ganz gut zum Ausdruck. Auch Jorge R. Gutierrez, dem Regisseur und Drehbuchautor von „Manolo und das Buch des Lebens“ dürften diese Eigenarten nicht fremd sein, feierte der Animator seinen ersten großen Erfolg doch 2007 mit der Nickelodeon-Produktion „El Tigre: Die Abenteuer des Manny Rivera“.

In der gemeinsam mit seiner Ehefrau Sandra Equihua erdachten Serie erzählt Gutierrez von einem 13-jährigen Jungen mit Superkräften, der in einer fiktiven mexikanischen Metropole aufwächst und erst noch herausfinden muss, ob er nun lieber ein Held oder doch ein Schurke sein will. Dabei verbinden sich in erprobter Manier infantile Freude und abgeklärte Ironie zu einer wahnwitzigen Mischung, die jedoch stets klaren Regeln folgt: Denn so clean und kontinuierlich sich die Konturen um die knallbunten, durchgeknallten Figuren legen, so konsequent werden die kindlichen Allmachtsfantasien von moralischen Lektionen begleitet und in eine letztlich harmlose Überdrehtheit überführt.

In Zusammenarbeit mit dem Animationsstudio Reel FX (das bisher vor allem mit dem fürchterlichen „Free Birds – Esst uns an einem anderen Tag“ (2013) auf sich aufmerksam gemacht hat) hat Gutierrez nun einen Kinofilm erschaffen, der (nicht ganz nahtlos) an die von mexikanischer Volkskunst inspirierte Ästhetik seiner Cartoonserie anknüpft. Die zweidimensionalen Flash-Animationen von „El Tigre“ sind in der Zwei-Männer-buhlen-um-eine-Frau-Story „Manolo und das Buch des Lebens“ größtenteils computergenerierten 3D-Bildern gewichen. Der Dimensionssprung erweist sich dabei bei der Darstellung von üppig ausgestatteten Schauplätzen wie einem mexikanischen Dorf oder einer farbenfrohen Unterwelt zwar als Vorteil, jedoch nicht unbedingt beim Figurendesign. Besonders die angebetete Protagonistin María wirkt mit ihren Augäpfeln von der Größe eines Basketballs sowie einer Taille, für die sogar Disney-Prinzessinnen lange hungern müssten, in all ihrer Räumlichkeit äußerst befremdlich.

Die Idee, die Figuren der Kernerzählung (welche in eine überflüssige Rahmenerzählung gebettet ist, die dem US-amerikanischen Publikum wohl den Zugang zu mexikanischer Folklore erleichtern soll) als Holzpuppen auftreten zu lassen, ist zudem nicht nachvollziehbar und ihre Ausführung wenig gelungen. Bis auf charakteristische Holzmaserungen, die bei Großaufnahmen von Gesichtern zu sehen sind, können die Computeranimationen nie glaubwürdig vortäuschen, dass die Helden des Films aus Holz gefertigt sind. Hölzern im Sinne von ausdruckslos agieren die eindimensionalen Figuren zwar allemal, an die sinnlichen Qualitäten von Hölzern erinnert das hektische digitale Treiben allerdings nie. So bleibt dieser Einfall nicht mehr als ein unnötiges Gimmick, in einem an unnötigen Gimmicks nicht gerade armen Film.
Egal, ob ein Seifenblasen rülpsendes Huhn, ein argwöhnisches Schwein oder aus dem Nichts geschossene Pointen, im Sekundentakt pufft in Gutierrez‘ Kinofilm recht unmotiviert irgendein Firlefanz auf, um die magische Kreativität der Filmemacher zu bezeugen. Was in Zeichentrickserien mit 11-minütigen Episoden gut funktioniert, erweist sich bei „Manolo und das Buch des Lebens“ als schwerwiegende und nervtötende Fehlentscheidung: Das comic relief scheint hier zum Modus Operandi aufgestiegen zu sein und nimmt dem Film, der hilflos versucht, von Liebe und Tod zu erzählen, jedes Gewicht, das Eindruck hinterlassen könnte.

Während TV-Cartoons aufgrund ihrer Kürze emotionalen Tiefgang oder gesellschaftliche Themen oft nur anklingen lassen können und auch bei der Darstellung der Schauplätze gewissen Einschränkungen unterliegen, bietet das Format des Kinofilms eigentlich Potenzial, um auch einmal innezuhalten, zu schwelgen und so Räume, Ideen und Figuren in ihrer Tiefe erfahrbar zu machen. Gutierrez aber hetzt durch seine eigentlich reizvollen Welten, als wären es Achterbahnfahrten, und opfert die Figurenentwicklung einer Flut von zusammenhangslosem Schnickschnack.

Achso, und wer sich vom Namen des Produzenten Guillermo del Toro verführen lassen sollte, ins Kino zu gehen, der sei vorgewarnt, dass hier lediglich mit einem Horror der anderen Art zu rechnen ist. Zumindest in der deutschen Synchronfassung darf nämlich Ex-Bro’Sis-Mitglied und Fernsehnase Giovanni Zarrella den Helden sprechen und auch ein paar schwülstige Balladen singen.

The Gambler

(USA 2014, Regie: Rupert Wyatt)

Das Glück als Glückssache
von Nicolai Bühnemann

Zielstrebig bewegt er sich durch die zwielichtigen Räume. Vorbei an den Tischen voller Menschen, überwiegend Männer, von denen einige, während sie auf das ganz große Glück warten, nervös an ihren …

Zielstrebig bewegt er sich durch die zwielichtigen Räume. Vorbei an den Tischen voller Menschen, überwiegend Männer, von denen einige, während sie auf das ganz große Glück warten, nervös an ihren E-Zigaretten ziehen. Am Ziel seines Ganges durch diese Unterwelt setzt er alles auf eine Karte, gewinnt zunächst Unsummen, setzt weiter alles auf eine Karte. Unruhig blickt die Dealerin zu ihren Vorgesetzten, der Erlaubnis harrend, das Spiel fortzusetzen. Es sei zu seinem eigenen Schutz, erklärt sie ihm. Doch gerade diesen Schutz will er nicht. Er will weiter spielen, immer alles auf eine Karte, bis er alles verloren hat. Und wenn er das noble Gambling Establishment verlässt, hat Jim Bennett (Mark Wahlberg) 60.000 Dollar Schulden – selbstverständlich bei Leuten, denen man besser kein Geld schuldig bleibt.

Wenn Bennett nicht spielt, arbeitet er als Literaturprofessor und vermittelt den Studierenden seine zynischen Ideen über Camus‘ „Der Fremde“ und das Wesen von Talent. Dass Amy Phillips (Brie Larsson), die einzige seiner Schülerinnen, der er talentiert genug hält für eine Zukunft in der schreibenden Zunft, zu seinem love interest wird, scheint für ihn nur ein weiterer Baustein zu sein zu einem Leben unter beständiger Hochspannung, das diktiert wird von der unermüdlichen Jagd nach Kicks – und seien es auch ganz buchstäbliche, wie die, mit denen er von seinen koreanischen Schuldnern einmal böse zusammengestaucht wird.

Mark Wahlberg soll gesagt haben, er habe sein ganzes Leben auf eine solche Rolle gewartet. Beinahe dreißig Kilo nahm er ab, um dem Mann, der mit seinem Leben spielt, dem ewig Getriebenen eine angemessen schmächtige Statur zu verleihen. Wahlberg macht seine Sache durchaus überzeugend, wirkt aber dennoch etwas angestrengt in der Abgeklärtheit, mit der er sich fürs Charakterfach vorstellt. Gleich in der ersten Einstellung rinnt eine Träne über sein Gesicht, das die folgenden 110 Minuten kaum jemals zur Ruhe kommen wird. Ganz großartig besetzt ist der Film allerdings in den Nebenrollen. Jessica Lange gibt Bennetts Mutter so fies und neurotisch, dass man es durchaus verstehen kann, dass er sich von ihr „freikauft“, indem er sich Geld von ihr leiht, um seine Schulden zu begleichen, welches er anschließend, in einer rauschhaft inszenierten Nacht in der Spielhalle verzockt. Einer der Schuldner wird gegeben von Michael Kenneth Williams, der schon als schwuler Gangster Omar in der Serie „The Wire“ eine geradezu diabolische Coolness an den Tag legte. Ein anderer, der bei dem sich Bennett Geld leiht, um alle anderen auszubezahlen, wird gespielt von John Goodman, der in einer Sauna-Szene seinen nackten, wahrlich Buddha-haften Oberkörper zeigt. Goodman erklärt in einem der grandiosen Dialoge, dass ein entspanntes Leben allein darin bestehen kann, sich in einer Position zu befinden, in der man der Welt mit nur zwei Worten begegnen kann: „Fuck you!“. Schließlich Brie Larsson, der als Amy die Aufgabe zufällt – die vielleicht insgeheim alle Nebenfiguren inne haben – einen Kontrapunkt zu bilden zu Wahlbergs getriebener, rastloser, selbstzerstörerischer Männlichkeit. Ob er sich selbst wirklich so sehr hasst, darf sie ihn einmal fragen.

„The Gambler“ ist ein Remake des gleichnamigen Films von 1974, in dem Drehbuchautor James Toback autobiographische Elemente verarbeitet haben soll, der aber auch lose auf Dostojewskis „Der Spieler“ basiert. Die Vielzahl der Verfilmungen von Dostojewskis kleinem Roman mag Aufschluss darüber geben, welch ein dezidiert filmisches Sujet das Glücksspiel und die sich aus ihm ergebende Abhängigkeit sind. „The Gambler“ führt einmal mehr vor, dass Menschen sich nirgendwo so glamourös und so unterhaltsam in den Ruin stürzen, wie im Casino. Unter den Dostojewski-Adaptionen findet sich eine, die den Titel „The Great Sinner“ trägt und 1949 unter der Regie von Robert Siodmak entstand. Im Hollywood des Production Codes musste der Zynismus einer Gesellschaft, in der es zum guten Ton gehört, Familienangehörige an die Spieltische zu setzen in seine Schranken gewiesen werden, der große und durch und durch verlorene Sünder schließlich zu christlicher Heilsbotschaft, Läuterung und Liebe finden.

Und 2014? Hat, ohne zu viel zu verraten, Gott als Erlöser ausgesorgt und an seiner Stelle steht nur noch das Roulette, über das in Großaufnahme und Zeitlupe die Kugel saust, dass es klingt wie eine Sturmbö. Eine große, schreckliche Schicksalsmacht. Zwar wird Bennett letztlich ein Happy End spendiert, zwar kann ein Mann, der einen Masterplan verfolgt, über dessen Ausgang er nicht die geringste Kontrolle hat, letztlich nur als komödiantischer Held erscheinen. All das täuscht jedoch nicht darüber hinweg, wie grausam eine Welt sein muss, in der das Glück reine Glückssache ist.

Wild Tales

(AR / ES 2014, Regie: Damián Szifrón)

Zivilisation und Barbarei
von Sven Pötting

In Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires kann man seit einigen Jahren seine Rechnungen für Strom, Gas, Telefon oder etwa Strafzettel an Bezahlstellen namens Rapipago oder Pagofácil begleichen. Meistens funktioniert dies auch …

In Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires kann man seit einigen Jahren seine Rechnungen für Strom, Gas, Telefon oder etwa Strafzettel an Bezahlstellen namens Rapipago oder Pagofácil begleichen. Meistens funktioniert dies auch recht schnell und unkompliziert und für argentinische Verhältnisse auch recht unbürokratisch. Dennoch können manche Kunden nur schwer ihre Wut zurückhalten. Man braucht derzeit gute Nerven in Argentinien und eine feines Gespür für Zahlen: Die Geldentwertung liegt bei mehr als 30 Prozent. Im Vergleich zur argentinischen Hyperinflation der 1980er Jahre ist dies zwar eine Kleinigkeit; auch in puncto Staatsbankrott mussten die Bewohner des Landes bereits eine gewisse Routine sammeln – doch vielen reicht es jetzt.

Die linkspopulistische Landesregierung hat genauso wie neoliberale Provinzregierungen sehr angenehme aber unhaltbare Subventionen zurückgefahren oder eingestellt. Die Folge: Strom- und Gasrechnungen stiegen 2014 auch für Normalhaushalte gleich um mehrere hundert Prozent, auch die Preise für die öffentlichen Verkehrsmittel wurden abrupt drastisch erhöht. Die Maßnahmen wurden von den Verantwortlichen nicht kommuniziert, die hohe Inflation wird im Regierungsdiskurs immer noch verleugnet. Stattdessen schmähen sich Regierung und Opposition, die teilweise aus derselben Partei stammen, ¬gegenseitig und sind auf Konfrontationskurs. Kompromisse werden nicht geschlossen.

In ihrer klugen Doktorarbeit hat die Soziologin Maristella Svampa die Geschichte des Landes vom 19. Jahrhundert bis heute analysiert und ständig auftretende und scheinbar unüberbrückbare Spannungen in der argentinischen Gesellschaft erkannt, die sie als das zentrale Dilemma des Landes bezeichnet. Sie greift auf eine griffige Formel zurück, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts von dem Schriftsteller, Journalisten und späteren Präsidenten Domingo Faustino Sarmiento geprägt wurde und fasst die leitmotivisch auftauchenden Spannungen, die Argentinien prägen, unter der Dichotomie „Zivilisation vs. Barbarei“ zusammen.
Doch wer sind die ‚Zivilisierten’? Wer sind die ‚Barbaren’?

Man bekommt den Eindruck, dass jeder Porteño – so werden die Bewohner von Buenos Aires genannt – jederzeit zum ‚Barbaren’ werden kann. „Ich mache es wie Bombita“, hört man seit einigen Monaten häufiger in den Straßen von Buenos Aires. In den sozialen Netzwerken taucht immer wieder der Eintrag „#TodosSomosBombita“ – „Wir sind alle Bombita“ auf.

„Bombita“ ist eine Figur aus Damián Szifróns „Wild Tales – Relatos Salvajes“. Es handelt sich um den Sprengstoffexperten Simón, der einen ausgesprochen schlechten Tag hat. Weil sein Auto scheinbar ohne Grund abgeschleppt wird, verpasst er den Geburtstag seiner Tochter. Sein Kind ist beleidigt, seine Frau hält die Entschuldigungen ihres Mannes für so fadenscheinig und erlogen, wie so viele andere Ausreden, die sie in den gemeinsamen Ehejahren schon schlucken musste, und zieht die Konsequenz. Sie reicht die Scheidung ein. Simón geht am nächsten Tag zu einem besagten Rapipago und macht einen städtischen Mitarbeiter für sein persönliches Unglück verantwortlich. Als er kein Verständnis erfährt und auch noch ein hohes Bußgeld für sein abgeschlepptes Auto zahlen muss, brennen bei ihm die Sicherungen durch. Mit Gewalt setzt er sich gegen vermeintliche bürokratische Willkür zur Wehr. Dies löst eine Kettenreaktion aus, an deren Ende Simón seinen Job verloren hat und finanziell ruiniert ist. Daraufhin schmiedet er einen Racheplan und setzt seine Gewaltphantasien, die derzeit sehr viele Argentinier latent haben, in die Tat um. Damit wird er wieder zum Gewinner.
Er wird als „Bombita“, der „kleine Bomber“ berühmt. Auch seine Frau und seine Tochter versöhnen sich wieder mit ihm. Selbst Vertreter staatlicher Institutionen zeigen ihm Respekt.
Er war ein Opfer, das keineswegs unschuldig an seiner Situation war – und wird durch Gewalttaten zum Helden.

Die Handlung um „Bombita“ ist nur eine Geschichte des Films. Insgesamt sechs „Wild Tales“, die weder inhaltlich noch personell miteinander verknüpft sind, bilden den Episodenfilm: Sechs Miniaturen, jede in einem leicht anderen Tonfall, in denen es um Gewalt, Mord und Totschlag durch Normalbürger als Folge einer Kettenreaktion und/oder ausgelebte Rache geht.
Alle wichtigen Themenkomplexe, die im zeitgenössischen argentinischen Kino verarbeitet werden, sind in Damián Szifróns Film zu finden: der Stadt-Land-Gegensatz; Korruption; die besonders in Buenos Aires gefühlt hohe Kriminalitätsrate, wie auch die Folgen einer wilden neoliberalen Politik in den 1990er Jahren, die in den Staatsbankrott 2001/2002 mündete. In dessen Folge wurden gleich mehrere Präsidenten innerhalb nur weniger Tage von hunderttausenden Demonstranten aus dem Amt gejagt. „Que se vayan todos!“ – „Sie sollen alle verschwinden“ – war der Schlachtruf der wütenden Menge. Gemeint war eine Politikerkaste, die nur in die eigene Tasche gewirtschaftet und sich vom Volk entfernt hatte.

„Que se vayan todos!“ bildet auch das Grundthema der „Bombita“-Geschichte, die als bissiger Kommentar zu der amtierenden Regierung um die Präsidentin Cristina Kirchner zu deuten ist. Cristina Kirchner und ihr Amtsvorgänger, ihr mittlerweile verstorbener Ehemann Néstor Kirchner, gehören einer Generation an, die sich seit dem Ende der 1960er Jahre politisch engagierte, um das Land umzugestalten. Das Ergebnis sollte ein sozialistisches, gerechteres Argentinien sein. Viele Aktivisten wollten aber nicht den Weg durch die Institutionen gehen, sondern schlossen sich einer Guerilla an, die das Land an den Rande des Bürgerkriegs brachte und sich letztlich mitverantwortlich für den Militärputsch 1976 zeichnete, in dessen Folge, tausende Menschen – egal ob sie zuvor politisch aktiv waren oder nicht – inhaftiert, gefoltert und getötet wurden. Viele der Opfer sind „desaparecidos“, „Verschwundene“, deren Überreste niemals gefunden werden, weil sie von den Militärs im Atlantik versenkt wurden.
Die Kirchners, die seit 2003 regieren, hatten sich das Ziel gesetzt, das „politische Projekt“ ihrer Generation zu Ende zu führen und mit einer paternalistischen und populistischen linken Politik das Land gerechter zu machen.
Die Regierung verschweigt nicht die Mitschuld dieser Generation an den Entwicklungen des Landes in den 1970er Jahren. Opfer, darunter viele Guerillamitglieder, die sich für Bombenanschläge und Entführungen verantwortlich zeichneten, Angehörige von „Verschwundenen“ und Aktivisten, die diese Zeit überlebt haben, wurden von ihr statt dessen zu Helden erklärt.

Die Politik der Regierung Kirchner polarisiert das Land. Zu groß sind die Parallelen, um nicht eine zwar wenig subtile, aber dennoch unaufdringliche Anspielung daran in „Wild Tales' zu erkennen.

Die Kritik an der Regierung ist ein Grund für den grandiosen Erfolg von Damián Szifróns Film, sonst wäre nicht eine Figur wie „Bombita“ schon sprichwörtlich geworden.
Seit August läuft er in den argentinischen Kinos. Bis heute sahen 3,5 Millionen Menschen in dem 40 Millionen-Einwohnerland „Wild Tales'. Mehr Zuschauer hatten nur zwei Produktionen in der nationalen Filmgeschichte. Produktionen mit ähnlich hohen Zuschauerzahlen waren ebenso politische Filme und bildeten ebenso bissige Kommentare zu den politisch, sozial und kulturellen Kontexten ihrer Entstehungszeit – zu nennen sei etwa „La Patagonia Reblede' von Héctor Olivera, („Das rebellische Patagonien', 1974) oder als jüngstes Beispiel der Oscar-Gewinner „El secreto de sus ojos' („Das Geheimnis ihrer Augen', 2009) von Juan José Campanella. „Wild Tales – Relatos Salvajes' reiht sich also in eine Tradition ein.

Die Kritik am Politikbetrieb ist aber nicht das einzige Geheimnis des Erfolges von „Wild Tales': Zunächst einmal öffnete der Name des Co-Produzenten Pedro Almodóvar einige Türen. Zwar garantiert der Name Almodóvar (ebensowenig wie in Deutschland) in Lateinamerika kaum noch ein großes Publikum. Der spanische Regisseur hat scheinbar seinen kreativen Höhepunkt schon überschritten, es dürfte aber sein Name oder sein Einfluss gewesen sein, der „Wild Tales' den Weg zu einigen bedeutenden Festivals sicherte. Denn der Name Damián Szifrón war zuvor nur wenigen Eingehweihten ein Begriff. Der 1975 geborene Regisseur hatte zwar mit „El fondo del mar' (2003) und „Tiempo de valientes' (2005) zwei Kinofilme vorgelegt, die national für Aufsehen gesorgt hatten, in den letzten zehn Jahren war er aber eher als Regisseur und Produzent von Fernseherien tätig.
Grade die positiven Publikums- und Kritikerreaktionen beim Filmfestival von Cannes sorgten für eine Kettenreaktion, die beim argentinischen Kinopublikum ein immer größeres Interesse an dem Film generierte.

Der zweite Grund für den Erfolg ist das hervorragende Schauspielerensemble. Ricardo Darín als „Bombita“ Simón ist der einzige Superstar des argentinischen Kinos. Die Präsenz des ehemaligen Soap-Stars in einem Film ist in Argentinien schon ein Garant für hohe Zuschauerzahlen. Darín steht aber auch für Qualität. Er war Hauptdarsteller in einigen der herausragenden Produktionen der jüngeren Geschichte des argentinischen Kinos. Man könnte etwa die Filme „Nueve Reinas' (2001) und „El Aura' (2006) von dem mittlerweile verstorbenen Fabián Bielinsky nennen oder etwa auch den bereits erwähnten Oscar-Gewinner „El secreto de sus ojos'.

Julieta Zylberberg, die Kellnerin eines Restaurants in der Episode „Die Ratten“, die an einem verregnetem Abend in ihrem einzigen Kunden ausgerechnet den Kredithai erkennt, der ihren Vater in den Selbstmord trieb und vor der resoluten Köchin der Gaststätte laut überlegt, ob sie ihre lange Jahre gehegten Rachepläne tatsächlich in die Tat umsetzen solle, ist mittlerweile in ebenso vielen wie hochklassigen Produktionen zu sehen, wie Ricardo Darín – etwa in „La niña santa' („Das heilige Kind', 2004) von Lucrecia Martel, der ebenfalls von den Brüdern Almodóvar produziert wurde, in „La mirada invisible' („Der unsichtbare Blick', 2010) von Diego Lerman oder in dem Fußballerfilm „El 5 de Talleres' von Adrián Biniéz („Die Nr. 5 von ‚Talleres’', 2014), der in Kürze auch in Deutschland in den Kinos laufen wird.
Andere herausragende Schauspieler, die mehr oder weniger lange Auftritte in „Wild Tales' haben, sind Osmar Nuñez oder Erica Rivas.

Erica Rivas, die auch zu den bekanntesten Theaterschauspielern des Landes zählt (und derzeit mit Ricardo Darín mit der Bergman-Adaption „Szenen einer Ehe' auf Tour geht), spielt in dem Segment „Bis dass der Tod euch scheidet“ eine Braut, die noch während der Hochzeitsfeier, die Untreue ihres Mannes entdeckt. Wieder löst eine Racheaktion eine Kettenreaktion aus, und die Hochzeitsfeier gerät aus dem Ruder. Man fühlt sich zeitweise an Danny de Vitos „Der Rosenkrieg' (1989) erinnert. Wie bei der schwarzen Komödie um ein Ehepaar (gespielt von Michael Douglas und Kathleen Turner), das einen makabren Ehekrieg führt, gibt es witzige Momente, doch ist „Bis dass der Tod euch scheidet“ zeitweise so grausam, dass man kaum lachen kann. Das vermeintliche Happy End hinterlässt dann auch eher gemischte Gefühle.

Immer wieder gibt es in „Wild Tales' Momente, die den cinephilen Zuschauer an andere Regisseure und an andere Filme erinnern. Referenzpunkte sind Italowestern, natürlich verschiedene Werke von Pedro Almodóvar (aus den aus den 1980er und frühen 1990er Jahren), von Quentin Tarantino (speziell dessen Beitrag zum Episodenfilm „Four Rooms' (1995)), Martin Scorseses „Taxi Driver' (1976), Filme von den Coen-Brüdern, von dem Italiener Dino Risi oder von dem Spanier Alex de la Iglesia.
Auch im argentinischen Kino findet Damián Szifrón seine Vorbilder. Zu nennen sei hier etwa Adolfo Aristarains „Tiempo de revancha' („Zeit der Rache') aus dem Jahr 1981.

Dies ist Teil der Erfolgsformel von „Wild Tales'. Elemente aus der Tradition des nationalen Kinos werden mit Elementen des internationalen Independent- und Genrekinos verbunden. Scheinbar ist eine richtige Mischung aus diesen Elementen eine Art Erfolgsformel. In Mexiko und über die Landesgrenzen hinaus ließ ein solcher Mix etwa Alejandro González Iñárritus „Amores perros' (2000) zu einem Blockbuster werden. In Brasilien war dies bei Fernando Meirelles und Kátia Lunds „City of God' (2002) der Fall. In Argentinien fand Fabián Bielinsky (1959-2006) in seinem schmalen Oeuvre (darunter „Nueve Reinas') das richtige Rezept, ebenso wie Juan José Campanella in „El hijo de la novia' („Der Sohn der Braut', 2001) oder in „El secreto de sus ojos'.
Es wird spannend sein zu beobachten, ob Szifrón auch in Zukunft so ein glückliches Händchen haben wird. Es ist zu vernehmen, dass er an einer Reihe von Projekten arbeitet – darunter an einer Science-Fiction- Geschichte, sowie an einem Western; einem Genre, das in Argentinien derzeit so etwas wie eine Renaissance erlebt.

Das Fachblatt Variety erklärte jetzt schon Szifróns Film zu einem der Highlights des Jahres.

Tatsächlich ist „Wild Tales' ist ein unterhaltsamer, aber kein großer Film. Bei einem Episodenfilm gibt es immer stärkere und schwächere Segmente. Letztlich wirkt das Gesamtwerk wie eine Ansammlung von Sketchen, in denen Slapstick mit Gesellschaftskritik gepaart ist. Die Anarchie der Situationskomik erschöpft sich allerdings spätestens nach der vierten Episode und es ist voraussehbar, was passieren wird. Die Handlung muss in diesen Miniaturen schnell vorangetrieben werden, deswegen wirken die Dialoge mitunter künstlich und aufgesetzt.

Am Ende steht die Frage, ob „Wild Tales' auch außerhalb Argentiniens erfolgreich sein wird. Auch wenn nicht alle politischen Anspielungen beim internationalen Publikum ankommen, der schwarze Humor des Films ist universell verständlich. Dies zeigten die Zuschauerreaktionen etwa auf den Festivals in Cannes und in San Sebastián. Zudem gibt es, salopp gesagt, in jedem Land Wutbürger, die mit den Protagonisten mitfühlen können.

Aber dennoch wird der Zuschauer mit dem Gefühl aus dem Kino gehen, dass etwas faul im Staate Argentinien sei. Der Film erweckt den Eindruck eines Panoramablicks auf eine Gesellschaft, die aus den Fugen geraten ist.

Wir sind jung. Wir sind stark.

(D 2014, Regie: Burhan Qurbani)

Einwandfrei verkuckt
von Dietrich Kuhlbrodt

Rostock-Lichtenhagen 1992. Das Asylantenheim brennt. Vor dem Haus Junge und Alte. Sie applaudieren. Wir kennen die TV-Bilder. Der Film hat dagegen die Situation der Jugendlichen im Blick, desozialisiert nach der …

Rostock-Lichtenhagen 1992. Das Asylantenheim brennt. Vor dem Haus Junge und Alte. Sie applaudieren. Wir kennen die TV-Bilder. Der Film hat dagegen die Situation der Jugendlichen im Blick, desozialisiert nach der Wende. Er beschreibt, wie sie abhängen, Stunden vorm Feuerlegen in der Ostsee baden, gern auch nackt, Sex haben, rumalbern, sich hauen und keinen Plan haben, während der Pappa, Lokalpolitiker (Striesow), der auf seine Weise auch keinen Plan hat, lieber allein zuhaus Kopfhörer aufsetzt und klassische Musik hört.

Ja hallo!? Soll ich jetzt für das, was die Menschen vorm Asylantenheim bewegt, Verständnis aufbringen? Ich werde im Kino erstens hellwach. Zweitens reg ich mich auf, und drittens bin ich drin verwickelt. Denn damals, ein Jahr nach 1992, war ich nach Lichtenhagen gefahren, um als Vater die Eltern der Braut kennenzulernen. Ich kuckte aus dem Fenster des Plattenbaus und hatte die Fassade des Asylantenheims vor mir. „Das muss ja furchtbar gewesen sein“. „Ja“, sagte die gütige, voll sympathische Mutter, „die Ausländer haben auf der dem Rasen kampiert, überall lag Müll, und die Büsche haben sie als Toilette benutzt.“ – „Äh, ich meine das irgendwie anders“. Sie guckte mich ratlos an.

Im Kino kuckte ich ratlos auf die vollgemüllte, vollgeschissene Wiese. Sie sah genauso aus, wie die anständige Bürgerin sie mir damals beschrieben hatte. – Also gibt’s jetzt Fragen. Der Film gibt Hilfestellung. Die Vietnamesin im Haus nebenan, kurz vorm Brand: „Uns passiert nichts; die Wut der Leute richtet sich gegen die Zigeuner auf dem Platz“. – „Es muss Sinti und Roma heißen“, korrigiert der Film. Ist das die Lösung? Oder der Sängerkrieg? „Früher war es wunderbar, da war noch der Führer da, oi oi oi“ gegen „Völker hört die Signale, auf zum letzten Gefecht“. Nein? Oder Leipzig in Lichtenhagen: „Keine Gewalt! Wir sind das Volk!“ gegen das Jungvolk: „Wir sind jung. Wir sind stark“?

Mit seinem Rede-/Gegenredeprogramm hat der Film eine Strategie: die Neutralisierung von sich anbahnenden Positionen. Klar, wohin die Sympathie des Regisseurs, Burhan Qurbani („Shahada“), geht. Sein zweiter Spielfilm jetzt hat starke Bilder. Qurbani hat sich ästhetisch einwandfrei ins Jungvolk verkuckt. Man kanns dabei belassen. Du musst nur Deinen Verstand ausschalten. Zwei Stunden sind genug. Zieh die Notbremse! Da, der Abspann! Aber leider hat sich der Film schon bei mir verhakt. Ich war ja auch involviert gewesen. Ich muss da raus!

Dieser Text erschien zuerst in Konkret 2/2015

Hier gibt’s eine weitere Kritik zu 'Wir sind jung. Wir sind stark'.

2 Herbste 3 Winter

(F 2013, Regie: Sébastien Betbeder)

Ziemlich locker
von Wolfgang Nierlin

Zwei Teile und ein Epilog, jeweils in zahlreiche Kapitel gegliedert, bilden die Erzählstruktur von Sébastien Betbeders tragikomischem Film „2 automnes trois hivers“ („2 Herbste 3 Winter“). Die Nebenordnung und das …

Zwei Teile und ein Epilog, jeweils in zahlreiche Kapitel gegliedert, bilden die Erzählstruktur von Sébastien Betbeders tragikomischem Film „2 automnes trois hivers“ („2 Herbste 3 Winter“). Die Nebenordnung und das Episodische fungieren zugleich als Erzählprinzip der locker verknüpften Handlung, in deren Mittelpunkt hauptsächlich die Protagonisten Arman, Amélie und Benjamin stehen. Diese wiederum erzählen und reflektieren in Monologen, Anekdoten und Erinnerungen die Geschichten und dazugehörenden Hintergründe ihrer Begegnung. Manchmal richten sich die sympathischen Helden dabei direkt an den Zuschauer und durchbrechen so die Illusion. Verspielt und originell wechselt Betbeder dabei zwischen On und Off, Raum und Zeit und erzeugt dadurch über alle chronologischen Sprünge hinweg eine Dichte, die sich vor allem seinem starken Text verdankt. Dessen literarische Qualität basiert auf einem melancholischen, in lockerem Tonfall vorgetragenen Humor.

„Es muss etwas passieren“, lautet eine der ersten, manchmal prosaischen, manchmal poetischen Kapitelüberschriften. Und kurz darauf – es ist der Herbst des Jahres 2009 – stoßen der 33-jährige Arman (Vincent Macaigne) und die 27-jährige Amélie (Maud Wyler) beim Joggen im Park regelrecht zusammen. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch „2 Samstage, 2 Sonntage“ vergeblichen Wartens deuten an, dass sich die beiden vorerst nicht wiederbegegnen werden. Dafür kommt Benjamin (Bastien Boullion), Armans Freund von der Kunstakademie, ins Spiel. Und kurz darauf widerfährt den beiden, fast zeitgleich, ein großes Unglück, das sie jeweils mit der Grenze des Lebens („Weiß. Austritt aus dem Körper No. 1) in Berührung bringt, dann aber glücklicherweise für jeden von ihnen in einer Liebesbeziehung mündet. Arman und Amélie werden also doch noch ein Paar; und Benjamin verliebt sich in seine Logopädin Katja (Audrey Bastien). Später fahren die befreundeten Paare gemeinsam in die Schneeferien.

Bevor sich Amélie und Arman zum ersten Mal umarmen und küssen, sitzen die beiden wie einst Vincent Lindon und Sandrine Kiberlain in Stéphane Brizés Film „Mademoiselle Chambon“ auf einem Sofa und lauschen einer Musik, bis sie von der Spannung verlegener Blicke und körperlicher Zuneigung überwältigt werden. Immer wieder spielt Sébastien Betbeder ebenso lustvoll wie ironisch mit Zitaten und lässt seine Helden dabei über Eugène Green („Le monde vivant“) und Robert Bresson („Vier Nächte eines Träumers“), Judd Apatow („Wie das Leben so spielt“) und Alain Tanner („Der Salamander“) oder auch eine Edvard Munch-Ausstellung kommunizieren. Das verleiht seinem schönen Film über die unsicher vorantastende Suche nach Liebe und einen Platz im Leben eine ganz selbstverständliche Leichtigkeit. Zugleich vermittelt Betbeder mit seiner stilistischen Reminiszenz an die Nouvelle Vague sein filmästhetisches Selbstverständnis, das sich für seinen formalistischen Ansatz gleichermaßen auf Wes Anderson, Marguerite Duras und Alain Resnais beruft.

Serena

(USA 2013, Regie: Susanne Bier)

Der letzte Puma
von Wolfgang Nierlin

„Ort des blauen Nebels“ nennen die nordamerikanischen Cherokee-Indianer die Smoky Mountains in North Carolina. Und wenn man die ersten, in Cinemascope gedrehten Bilder von Susanne Biers neuem Film „Serena“ sieht, …

„Ort des blauen Nebels“ nennen die nordamerikanischen Cherokee-Indianer die Smoky Mountains in North Carolina. Und wenn man die ersten, in Cinemascope gedrehten Bilder von Susanne Biers neuem Film „Serena“ sieht, versteht man auch ein bisschen warum: Durch die sanft geschwungenen Täler dieser majestätischen Waldlandschaft wallen dicke Nebel in einem dämmrigen Licht und verbinden Himmel und Erde. Eine große Stille liegt über der Natur, die jedoch längst nicht mehr unberührt ist. Wir schreiben das Jahr 1929 und die Holzfäller des ehrgeizigen, aber verschuldeten Unternehmers George Pemperton (Bradley Cooper) sind dabei, ihr ebenso intensives wie gefährliches Werk zu verrichten. Der sogenannte Fortschritt schlägt wüste Schneisen in die Naturidylle. Profitgier, sagen die Kritiker, zerstöre die göttliche Schöpfung, die durch einen Park bewahrt werden soll. Und der Puma ist fast schon ausgerottet.

Doch die dänische Regisseurin und Oscar-Preisträgerin Susanne Bier, die mit „Serena“ erneut eine amerikanische Produktion gestemmt hat, lässt diesen Konflikt relativ unentwickelt und benutzt ihn eher als symbolischen Aufhänger. Auch die wirtschaftlichen Zusammenhänge und betrügerischen Machenschaften, in die der männliche, nicht ohne Gewissensbisse agierende Held, der als Jäger eingeführt wird, verstrickt ist, bleiben unscharf. Stattdessen widmet sich die einstige Dogma-Filmerin mit leidenschaftlicher Wucht einem sehr konventionell inszenierten, mit bekannten Motiv-Versatzstücken vollgepackten Liebesdrama, das seine Spannungsmomente mitunter allzu übereilt ausspielt und die Glaubwürdigkeit dabei großzügig vernachlässigt. Das ist altmodisches Hollywood-Kino, mit tragödienhaftem Furor thematisch aufgespannt zwischen Trauma und Liebeswahnsinn, Schuld und Strafe.

Wenn sich die ebenso schöne wie seelisch verwundete Serena (Jennifer Lawrence), eine Inkarnation der blonden Verführerin und gefährlichen Frau, und der hinter ihr her jagende George zum ersten Mal begegnen, reitet sie in roter Bluse auf einem Schimmel. „Ich glaube, wir sollten heiraten“, lauten die ersten Worte, die er an sie richtet. Und eine Szene später ist das schon ins Werk gesetzt. Bald leitet Serena, die selbst aus einer Holzfällerdynastie stammt und deshalb eine Menge Fachwissen mitbringt, zusammen mit George die Firma, wirkt in der rauen Männerwelt aber auffallend deplatziert. Das weckt Neid und Eifersucht, gefolgt von mörderischer Rache, Schuldgefühlen und Entzweiung. Ein unheilvolles Schicksal determiniert die Figuren und muss die Geschichte erfüllen. Weshalb Susanne Bier das tragische (Liebes-)Geschick ihrer beiden Helden außerdem mit den übersinnlichen Fähigkeiten eines unheimlichen Fährtenlesers (Rhys Ifans) verbindet.

Die Wolken von Sils Maria

(F / CH / D 2014, Regie: Olivier Assayas)

Die Zeit macht nur vor dem Teufel halt
von Ulrich Kriest

Eigentlich ist alles ganz einfach! Da ist die Flüchtigkeit des Theaters, auf dem die junge Schauspielerin Maria Enders die anspruchsvolle Rolle der jungen Sigrid in dem berühmten (fiktiven) Drama „Maloja …

Eigentlich ist alles ganz einfach! Da ist die Flüchtigkeit des Theaters, auf dem die junge Schauspielerin Maria Enders die anspruchsvolle Rolle der jungen Sigrid in dem berühmten (fiktiven) Drama „Maloja Snake“ und in der darauf folgenden (bleibenden?) (fiktiven) Verfilmung so überzeugend interpretierte, dass sich darauf eine internationale Karriere gründen ließ, die souverän zwischen Theater und Arthaus-Kino zu pendeln verstand.

Hochkultur! Jetzt soll eben diese Schauspielerin für den (fiktiven) Autor des Stückes die Laudatio im Rahmen einer Preisverleihung halten, was sie auf nicht immer angenehme, vielleicht sogar heikle Weise mit ihrer Künstler-Biografie konfrontiert. Hat sie den Zenit ihrer Karriere bereits überschritten? Werden noch interessante Projekte angeboten werden? Doch auf dem Weg zur Preisverleihung kommt die Nachricht, dass der Autor Selbstmord begangen hat; das Treffen mit alten Freunden und Kollegen sollte im Zeichen der Trauer stattfinden, kreist jedoch eher um kaum verdeckte Eitelkeiten und buhlende Ambitionen.

Ein forscher deutscher Jung-Star-Regisseur namens Klaus Diesterweg, großartig verkörpert von Lars Eidinger, versucht Maria zu überreden, an seiner Londoner Neu-Inszenierung von „Maloja Snake“ mitzuwirken. Allerdings würde sie jetzt – 30 Jahre später – nicht mehr die Rolle der jungen Verführerin Sigrid spielen, sondern diejenige der älteren Verführten Helena, die in den Selbstmord getrieben wird. Wäre das nicht ein künstlerischer Triumph, beide Rollen in einer Karriere? Maria zögert, erbittet Bedenkzeit, sagt dann doch zu und zieht sich mit ihrer halb so alten Assistentin Valentine in die einsame, erhabene Bergwelt des Engadin zurück, um den Text zu proben.

Dabei fällt Valentine natürlich die Rolle der Sigrid zu – und mehr als einmal scheinen Konflikte der literarischen Vorlage direkt in die Realität der beiden Frauen zu münden: Die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt im Dialogfluss mehr als einmal, zumal sich Valentine ihre Arbeit durch Maria nicht hinreichend gewürdigt sieht. Unklar: Legt die Arbeit am Text verdeckte Konflikte offen oder produziert der Text die Konflikte zu allererst? Als ultimativen Coup seiner Inszenierung hat sich Regisseur Diesterweg mittlerweile die Besetzung der Sigrid mit dem Nachwuchsstar des aktuellen Blockbuster-Kinos Jo-Ann Ellis gedacht, die bislang weniger im Kino als durch ihre YouTube-Präsenz reüssiert hat. Um zu erfahren, mit was hier wohl zu rechnen ist, sehen sich Maria und Valentine ihr aktuelles 3D-Fantasy-Spektakel im Kino an. Maria reagiert mittlerweile absehbar bildungsbürgerlich bis kulturkritisch auf den Quatsch, während Valentine darin doch eine unerhörte Tiefe und Komplexität erkennt.

Mit unerhörter Leichtigkeit und Souveränität gelingt es dem französischen Star-Regisseur Olivier Assayas („Ende August, Anfang September“, „Carlos – Der Schakal“, „Die wilde Zeit“) seine Generationen-Trias als vielfach vernetzten und gespiegelten Kampf um kulturelle Deutungshoheit zwischen Hochkultur, Popkultur und Celebrity-Kultur zu entwerfen. Selbst in der Abgeschiedenheit des Engadin, wohin sich Nietzsche gerne mit seinem philosophischen Hämmerchen zurückzog, sind die Neuen Medien stets präsent. Dauernd klingeln die Mobiltelefone, ständig wird gegoogelt, auch Maria, die einmal von ihrer Verachtung für das Internet spricht, hat stets ein i-Pad zur Hand, wenn neue Namen ins Spiel kommen.

Assayas, seines Zeichens erklärter Autorenfilmer, registriert solche Widersprüche, wertet sie aber nicht. Im Pressematerial zum Film schreibt er dazu: „Maria Enders blickt ins Leere und betrachtet die Frau, die sie mit 20 Jahren war: Im Grunde war sie die gleiche. Geändert hat sich die Welt um sie herum, und die Jugend hat sich verflüchtigt. Die Jugend im Sinne von Unberührtheit und dem Entdecken der Welt. (…) Auf der anderen Seite vergessen wir nie, was die Jugend uns gelehrt hat: dieses permanente Neu-Erfinden der Welt, das Entziffern der Gegenwart und den Preis, den man zu zahlen hat, wenn man dazugehören will.“ Davon erzählt der Film in mehrfach verschränkter Weise vor dem Hintergrund einer Landschaft, „an dem die Zeit keine Spuren hinterlässt“ (Assayas).

Zum Beispiel, indem er eine weitere Meta-Ebene in seinen Film einzieht: In einem Film, der auch davon handelt, wie für eine spektakuläre Theater-Inszenierung die Rollen trefflich besetzt werden, spielt der Film selbst mit den Biografien seiner Stars. Assayas selbst schrieb einst (1985) sein erstes Drehbuch für André Techinés „Rendez-vous“, der der Durchbruch für die junge Juliette Binoche werden sollte. „Twilight“-Star Kristen Stewart darf selbstironisch, oder vielleicht eben auch nicht, vom Reichtum des Kommerzkinos schwärmen und Chloë Grace Moretz, die den skandalumwitterten Hollywood-Nachwuchs spielt, ist tatsächlich Nachwuchs („Kick-Ass“), während der ehemalige Nachwuchs Kristen Stewart mittlerweile schon Richtung Arthaus tendiert. Der Schauspieler und Theaterregisseur Lars Eidinger spielt einen Theaterregisseur und Hanns Zischler, nun ja, einen eitlen Fatzke, der die besten Jahre als Schauspieler hinter sich hat.

Und als sei das alles noch nicht genug, verbeugt sich Assayas auch noch ganz nebenher vor der Filmgeschichte, indem er nicht nur an einen (nicht fiktiven) Bergfilm von Arnold Fanck über das Titel gebende „Wolkenphänomen von Majola“ aus dem Jahre 1924 erinnert, sondern auch noch die „YouTube“-Videos von Jo-Ann Ellis und die Szene aus ihrem Fantasy-Blockbuster selbst inszeniert hat. Da ist sehr viel post-moderne, auf das Mehr-Wissen des Zuschauers setzende Spielerei um Intertexte dabei, aber letztlich geht es sehr ernsthaft und reflektiert um den Wandel der Medienlandschaft, über das neu zu verhandelnde Verhältnis von Kunst und Kommerz und nicht zuletzt darum, großartigen Schauspielerinnen eine hoch intelligent gestaltete (Dreh-)Bühne für ihre (ausgesprochen unterhaltsame) Kunst zu bieten.

Der Film endet schließlich mit der Premiere des Neu-Inszenierung, aber auf dem Weg dorthin ist noch die eine oder andere Überraschung möglich, die aber an dieser Stelle nicht verraten werden soll. Als Filmmusik kommen einerseits Kompositionen von Händel und Pachelbel zum Einsatz, andererseits sind auch Primal Scream mit „Kowalski“ zu hören, was ja seinerzeit auch als eine Hommage an einen fast vergessenen (nicht fiktiven) Film gedacht war. Hauptsache, man bleibt in Bewegung!

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Die Wolken von Sils Maria'.

Timbuktu

(F 2014, Regie: Abderrahmane Sissako)

Absurde Miniaturen
von Andreas Busche

Es ist wahrscheinlich reiner Zufall, und doch steckt eine zwingende Logik dahinter, dass Göran Hugo Olssons filmischer Essay „Concerning Violence. Nine Scenes from the Anti-Imperialistic Self-Defense“ und Abderrahmane Sissakos neuer …

Es ist wahrscheinlich reiner Zufall, und doch steckt eine zwingende Logik dahinter, dass Göran Hugo Olssons filmischer Essay „Concerning Violence. Nine Scenes from the Anti-Imperialistic Self-Defense“ und Abderrahmane Sissakos neuer Film „Timbuktu“ mit nahezu identischen Einstellungen beginnen. Aus erhöhter Sicht (in Olssons Archivmaterial aus einem Helikopter, bei Sissako von der Ladefläche eines Geländewagens) verfolgt die Kamera eine Antilope, bei voller Fahrt eröffnen die Männer das Feuer auf das panische Tier. „Töte es nicht, mach es müde“, feuern die Jihadisten in „Timbuktu“ den Schützen an, dann folgt ein Schnitt. Über 40 Jahre liegen zwischen den Bildern, aber sie zeigen eine Kontinuität auf, die in Sissakos Film stets als Subtext mitläuft.

Die koloniale Kontinuität weist weit über „Timbuktu“ hinaus, denn das französische Militär, das seit fast zwei Jahren in Mali für „Sicherheit“ sorgt, kommt als Akteur in Sissakos Film nicht einmal vor. Im Sommer startete Frankreich mit der „Operation Barkhane“ die zweite Phase seines Antiterror-Krieges gegen die ausländischen Jihadisten, ein Ende der Intervention ist vorerst nicht abzusehen. Von der Anfangseuphorie über die Befreiung von den religiösen Fundamentalisten um die Ansar-Dine-Gruppe und anderen salafistischen Splittergruppen ist in Mali wenig geblieben. Kritiker zeigen sich angesichts der neuen hegemonialen Bestrebungen der einstigen Kolonialmacht eher besorgt. Die Frage wird laut, ob Mali mit den Gotteskriegern nicht sogar besser bedient wäre als mit einer längerfristigen Präsenz des militärisch-humanitären Komplexes.

Die Besonderheit von Sissakos Film besteht darin, dass er alle diese Themen nur implizit verhandelt, der aktuelle politische Kontext aber unmöglich ignoriert werden kann. Politisches Kino im klassischen Sinn ist „Timbuktu“ also nicht, in diese Kategorie fällt am ehesten Sissakos letzter Film „Bamako“ von 2008. In „Bamako“ sitzen die westlichen Institutionen, die Weltbank und der Internationale Währungsfonds, als verlängerter Arm der alten Kolonialmächte auf der Anklagebank. Abgehalten wird der Prozess in einem staubigen Hinterhof in der malischen Hauptstadt, Kläger ist das afrikanische Volk. (So geht das Leben im Hof während der Verhandlung auch ungerührt weiter, die Männer und Frauen rauchen und hören den Aussagen mehr oder weniger interessiert zu.) Die Plädoyers der Afrikaner sind rechtschaffen wütend, argumentativ schlüssig und bewegend – einem Lehrer fehlen, als er endlich vor dem Richter steht, die Worte.

Auf solche grandiosen Verfremdungseffekte, um der „Sache des Volkes“ Gehör zu verschaffen, verzichtet Sissako in „Timbuktu“. Im gegenwärtigen Weltkino gilt Abderrahmane Sissako trotz gerade mal vier Regiearbeiten als einer der maßgeblichen Filmemacher, weil er die eigene diasporische Erfahrung (Sissako wurde in Mauretanien geboren, wuchs in Mali auf, studierte in der ehemaligen Sowjetunion und lebt seit den neunziger Jahren in Frankreich) und das Gefühl der Entfremdung mit einer unbestechlich klaren Analyse verbindet.

Vor allem aber kommt in seinen Filmen eine Sprecherposition zu ihrem Recht, die seit dem Tod Ousmane Sembènes aus dem postkolonialen Kino der Subsahara nahezu verschwunden ist: eine selbstbestimmte afrikanische Subjektivität als Gegengewicht zum dominanten Afrika-Narrativ in den westlichen Medien, zu dem eben auch die Deutungshoheit über die Ursachen und Folgen des Tuareg-Aufstands in Mali 2012 gehört. Sissako liefert mit „Timbuktu“ keine Gegenerzählung zur offiziellen (westlichen) Version ab, es geht ihm vielmehr um eine alternative Darstellung: in der die Malier nicht untätig auf die Unterstützung der früheren Kolonialherren warteten, sondern aus dem Alltag heraus eigene Formen des zivilen Widerstands entwickelten.

So muss Sissako auch nicht erst umständlich erklären, dass der Aufmarsch der Islamisten lediglich eine Fortsetzung der kolonialen Vergangenheit Malis bedeutete. Stattdessen beschreibt er in knappen, manchmal absurden Miniaturen, wie das Regime der religiösen Fanatiker langsam, aber bestimmt das soziale Gewebe und das öffentliche Leben durchdringt. Musik und Gesang werden verboten, Fußbälle auch (die Jungen spielen trotzdem weiter, ohne Ball, eine Reminiszenz an das pantomimische Tennismatch in Antonionis „Blow Up“), Frauen müssen ihre Körper verschleiern (was zur furiosen Moralpredigt einer aufgebrachten Fischerin gegenüber den bewaffneten Männern führt), und junge Frauen werden entgegen den Gesetzen des Korans mit stolzen Gotteskriegern zwangsverheiratet. Dazu erzeugen die permanenten Lautsprecherdurchsagen in den Straßen eine akustische Dissonanz, die den Alltag der Menschen durchzieht.

Einer von Sissakos Protagonisten ist der Nomade Kidane, der mit seiner Frau Satima und seiner Tochter Toya außerhalb von Timbuktu lebt. Durch einen tragischen Unfall, der den Gewaltverhältnissen im Land geschuldet ist, bekommt er die ganze Härte der neuen Gesetzgebung, die die Fundamentalisten installiert haben, zu spüren.

In Cannes, wo „Timbuktu“ dieses Jahr im Wettbewerb lief (und skandalöserweise leer ausging), erzählte Sissako, dass ihn eine Zeitungsmeldung zu seinem Film inspiriert habe: Zwei Jahre zuvor hatte eine Gruppe Gotteskrieger in Mali ein Paar gesteinigt. Für einen Film über ein religiöses Regime ist das ein starkes Motiv, das in jeder westlichen Produktion als dramatischer Höhepunkt fungieren würde. Bei Sissako stehen die Bilder der Steinigung gleichwertig neben der abstrakten Tanzeinlage eines Jihadisten, dem Plädoyer des lokalen Imam gegen die rücksichtslose Auslegung der Scharia und der verzweifelten Suche Satimas nach ihrem verhafteten Ehemann.

„Timbuktu“ entwirft das gesellschaftliche Mosaik eines Landes unter Besatzung, im ständigen Widerspruch zwischen politischer Fremdbestimmung und kultureller Identität. Hierfür findet Sissako eine filmische Form, die so klar und plausibel ist, dass er auf emotionale Überzeugungsarbeit verzichten kann. „Timbuktu“ liefert anhand religiöser Frontlinien eine realistische Bestandsaufnahme Malis am Übergang in eine neue koloniale Weltordnung. Außerdem ist es der überzeugendste antikoloniale Film des Subsahara-Kinos seit Sembènes „Ceddo“.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/14

Winterschlaf

(TR / F / D 2014, Regie: Nuri Bilge Ceylan)

Im Käfig der Sprache
von Ilija Matusko

In 'Winterschlaf' arbeitet Nuri Bilge Ceylan in einem dreistündigen Kraftakt die tatenlose Selbstbezogenheit der türkischen Intellektuellen auf. Diese haben sich auf hochgelegene Plateaus zurückgezogen, im Welterklären eingerichtet wie in einer …

In 'Winterschlaf' arbeitet Nuri Bilge Ceylan in einem dreistündigen Kraftakt die tatenlose Selbstbezogenheit der türkischen Intellektuellen auf. Diese haben sich auf hochgelegene Plateaus zurückgezogen, im Welterklären eingerichtet wie in einer warmen Stube, und scheuen die Konfrontation mit den Belangen des Volkes. So wie das Leben in der türkischen Gegend in Zentralanatolien, in dem der Film spielt, im jahreszeitlichen Winterschlaf versunken ist, so haben scheinbar auch die Kräfte zur Veränderung in der türkischen Gesellschaft ihren Herzschlag aufgrund einer Kältestarre verlangsamt.

Der vermögende Hotel- und Wohnhausbesitzer Aydin lebt mit seiner jüngeren Frau Nicla und seiner alleinstehenden Schwester Necla in Kappadokien, in einer seltsam mit Erdtürmen und Bergen verwachsenen Landschaft, deren Natur- und Hügelformationen die Touristen anlockt. Im höflichen Umgang mit seinen Gästen zeigen sich die Weltoffenheit und Freundlichkeit eines Intellektuellen, der mit dem Schreiben von Kolumnen seine schöngeistige Ader auslebt und handgreiflichen Konflikten lieber aus dem Weg geht. Das Schuldeneintreiben bei der verarmten Mieterschaft im Dorf überlässt er lieber seinen Angestellten und sieht vom Auto aus zu. Von einer erhöhten Stelle. Als sei er nicht der Machtausübende, sondern ein Unbeteiligter. Dass der Protagonist seine eigene patriarchale Einwirkung in die sozialen Landschaften seiner Umgebung völlig falsch einschätzt, macht gleich zu Beginn das Grundnarrativ des Filmes deutlich: Machtgefüge, die für die einen unhintergehbar wirksam sind, können von anderen ausgeblendet werden.

Der Steinwurf eines Jungen, dessen Familie die Miete nicht mehr bezahlen kann und in die Verzweiflung gezwungen wird, reißt Aydin aus seiner Teilnahmslosigkeit. Eine Autoscheibe geht zu Bruch, die verarmte Familie soll für den Schaden aufkommen. Hinter der Kultiviertheit des Hotelbesitzers wird die Ignoranz und Gerechtigkeitslogik eines Menschen sichtbar, der sich und seine ethische Weltsicht zum Maß der Dinge erklärt. Auch in den Beziehungen zu seiner Frau und zu seiner Schwester wird nach und nach die manipulative Besetzer-Mentalität von Aydin sichtbar. Er maßregelt, mischt sich ein, verunglimpft. Nicht brutal oder aggressiv, sondern immer im Gestus der Wohlerzogenheit, der abwägenden Sprache und der Anständigkeit. Gerade in dieser Immunisierung wirkt die moralische Überlegenheit so bevormundend und herablassend. 'Du bist ein kultivierter, anständiger und gerechter Mann', sagt seine Frau Nihal zu ihm, 'doch manchmal benutzt du diese Eigenschaften, um die anderen zu ersticken.' Seine Umgebung scheint von seinem Charakter kolonialisiert, jeder Wille scheint gebrochen, sogar ein Wildpferd soll sich seiner Zähmung beugen. Damit verschiebt sich der Blick auf das Grundnarrativ: Das Ausblenden der Wirklichkeit ist kein passives Wegschauen mehr, sondern ein aktives Umdeuten der eigenen Position in diesem Gefüge. Mit den Mitteln der Sprache.

In der Sprache ist der Kultivierte zu Hause. Hier werden Missstände verhandelt, hier konstituiert sich für ihn die Wirklichkeit. Dass die moralisierende Position gerade von den ökonomischen Vorteilen lebt, die eine Loslösung vom Existenziellen ermöglichen, bleibt der blinde Fleck des Protagonisten. Aber auch die anderen Figuren stehen mit ihrem moralischen Rüstzeug, die Welt zu erklären, auf verlorenem Posten. Denn dieses Rüstzeug scheint zu tief mit persönlichen Befindlichkeiten und Wertvorstellungen verwachsen. Mit jedem Dialog wird dann ein komplexes Beziehungs- und Machtgeflecht freigelegt – so als sei das Soziale eine ähnlich erstarrte und verwachsende Landschaft wie die Naturfelsen Kappadokiens.

„Winterschlaf“ spielt dann auch in zwei Welten. In der Welt der verschneiten Hügel eines kappadokischen Dorfes, in dem die Bewohner gegen Armut kämpfen, ein Kaminfeuer gegen die Kälte hilft und Steine Autoscheiben kaputt schlagen. (Dass Steinwürfe von Kindern auf Polizeifahrzeuge seit einigen Jahren zu Festnahmen und Gefängnisstrafen in der Türkei geführt haben, scheint hier keine zufällige Anspielung zu sein.) Und er spielt in der Welt der Sprache, die nicht weniger Gefälle, Verräumlichung und Kampfarenen zu bieten hat. Beide Welten sind ineinander verzahnt, aber beide folgen eigenen Gesetzen. Dass diese Parallelität nicht durchbrochen wird, scheint dem Regisseur erklärungsbedürftig. Die intellektuelle Durchdringung von Welt jedenfalls scheint nicht zu genügen – damit meint der Regisseur womöglich auch sich selbst.

Liegt in den moralischen Umkreisungen eine ungeheure Sogkraft, derer man sich als Zuschauer kaum entziehen kann, so hat der wild auswuchernde Film möglicherweise ein Problem: Der Regisseur verfängt sich im intellektuellen Spiel und gefällt sich im Aufwerfen von Fragen. Auch wenn diese Konzeption gerade dem schwierigen Verhältnis des Künstlers zu seiner Umgebung entspricht, das in seiner Hauptfigur seine Spiegelung findet, so hinterlässt der ungeheure Aufwand für diese Einsicht einen ermüdenden Beigeschmack.

Bevor der Winter kommt

(F / LU 2013, Regie: Philippe Claudel)

Im Herbst des Lebens
von Wolfgang Nierlin

Die Einrichtungen des langjährigen Ehelebens scheinen perfekt geordnet: Seit über dreißig Jahren sind der erfolgreiche Neurochirurg Paul Natkinson (Daniel Auteuil) und seine Frau Lucie (Kristin Scott Thomas) miteinander verheiratet. Während …

Die Einrichtungen des langjährigen Ehelebens scheinen perfekt geordnet: Seit über dreißig Jahren sind der erfolgreiche Neurochirurg Paul Natkinson (Daniel Auteuil) und seine Frau Lucie (Kristin Scott Thomas) miteinander verheiratet. Während er operiert, widmet sie sich dem Garten. Dort findet eingangs von Philippe Claudels Film „Bevor der Winter kommt“ (Avant l’hiver) auch ein sommerliches Fest mit der Familie, Freunden und den letzten eigenen Erdbeeren der Saison statt. Das dazu gehörende Haus auf dem weitläufigen Anwesen ist geräumig, transparent und hell. Doch die solide Wohlstandsoberfläche, angereichert mit Opernbesuchen und dem Ausgleichssport Tennis, zeigt feine Risse: Der Chefarzt ist chronisch überarbeitet und hat kaum Zeit für seine Frau, diese fühlt sich vernachlässigt und gelangweilt. Lucies psychisch kranke Schwester Mathilde (Laure Killing), die dieses Wohlstandsglück irritiert und stört, bezeichnet das Haus der Natkinsons einmal als einen „gläsernen Sarg“.

Der Riss im brüchigen Arrangement wird größer, als plötzlich unvermittelt und immer vehementer die Farbe Rot in Pauls Leben tritt. Erst sind es Rosensträuße eines unbekannten Absenders; dann das Kleid einer jungen zwielichtigen Frau namens Lou Vallée (Leïla Bekhti), die in Pauls Leben eindringt; und viel später im Film verwandelt sich die Farbe der Liebe und der Sehnsucht nach der verlorenen Unschuld in die Farbe des Blutes. Die vielfältigen Schattierungen von Leben und Tod liegen in Claudels melancholisch gestimmtem Film über den Herbst des Lebens eng beieinander. In der Konfrontation mit der mysteriösen Fremden, die zugleich gegenwärtig und entfernt bleibt wie ein undurchdringlicher Nebel, wird Paul unkonzentrierter, gerät er auf Abwege und in (eine noch sprachlosere) Distanz zu seiner Frau und muss schließlich eine Auszeit nehmen. Paul droht sich zu verlieren und scheint doch etwas zu gewinnen.

Der französische Schriftsteller und Filmemacher Philippe Claudel nimmt sich viel Zeit, um die komplexen Zusammenhänge eines ehelichen Stillstands möglichst differenziert zu beschreiben. Dabei wird er von einem hervorragenden Darsteller-Ensemble unterstützt. Motivisch und atmosphärisch von den Filmen Sautets und Hitchcocks inspiriert, stehen der scheinbaren Offenheit ausgeleuchteter Eheverhältnisse die dunklen Geheimnisse und verschwiegenen Träume eines fast schon vergessenen Lebens gegenüber. In Lous Gegenwart erlebt Paul noch einmal eine durch den soghaften Lebensprozess verloren gegangene Unbeschwertheit. Der Zwang, denken zu müssen, ist für ihn in diesen Momenten aufgehoben. Zugleich thematisiert Claudel auf berührende Weise noch einen tieferen Grund, der den vaterlos aufgewachsenen Mediziner sowohl mit der entwurzelten jungen Marokkanerin als auch mit einer alten jüdischen Patientin verbindet, deren Familie von den Nazis und ihren Helfern ausgelöscht wurde: Und zwar den Versuch, gegen alles Vergessen Namen zu erinnern und zu bewahren, um damit lebendige Spuren einer vergangenen Existenz zu bezeugen und weiterzugeben.

Foxcatcher

(USA 2014, Regie: Bennett Miller)

Erfolgreiche Verlierer
von Nicolai Bühnemann

„Sieger im Sport, Gewinner im Leben und aufrichtige Bürger der USA“, lautet die Trainer-Philosophie von John du Pont. Zu Beginn machen weder seine sportlichen Erfolge noch seine Aufrichtigkeit aus Mark …

„Sieger im Sport, Gewinner im Leben und aufrichtige Bürger der USA“, lautet die Trainer-Philosophie von John du Pont. Zu Beginn machen weder seine sportlichen Erfolge noch seine Aufrichtigkeit aus Mark Schultz einen Gewinner. Die Goldmedaille, die er im Ringkampf bei den olympischen Spielen 1984 holte, kommt in einen Schrein voll anderer Trophäen in seiner kargen, eher ärmlichen Wohnung. Der Himmel ist grau, die Straßen schimmern regennass und die Breitbild-Fotografie scheint vor allem dazu bestimmt, weite Räume zu schaffen, in denen sich die Einsamkeit, die Isolation zeigt, in der Mark (Channing Tatum) lebt. Das Einlösen eines Schecks über 20 Dollar steht auf der Tagesordnung und Instant-Nudeln stehen auf dem Speiseplan. Außerdem trainiert er weiter unermüdlich den Sport, der ihm offenbar kein großes, sonders bislang eher ein ziemlich tristes Leben beschert hat.

Sein Glück scheint sich zu wenden, als der exzentrische Milliardär John du Pont (Steve Carell) zu ihm Kontakt aufnimmt. Du Pont, der mit seiner eiskalten und herrschsüchtigen Mutter (Vanessa Redgrave), die Zuneigung einzig für ihre Pferde zu kennen scheint, in einem riesigen Anwesen residiert, hat es sich in den Kopf gesetzt, den amerikanischen Ringsport zu retten und setzt dabei ganz auf Mark, der sich so zugleich aus dem Schatten seines älteren Bruders, Dave (Mark Ruffalo), zu befreien sucht . Dave hat ihn quasi aufgezogen und war, selber Ringer, auch bei seinen sportlichen Erfolgen sein Mentor. Anfangs will Du Pont auch Dave für sein Vorhaben gewinnen, der ihm aber wegen seiner Familie zunächst eine Absage erteilt.

Aus der wahren Geschichte um die Ringer-Brüder Mark und Dave Schultz und ihren aus einer milliardenschweren Industriellen-Dynastie stammenden Trainer John du Pont machen Regisseur Bennett Miller und seine Autoren 134 Minuten episches Männerkino. Old School, gut abgehangen in seiner Konzentration auf Plot und Schauspieler. So überraschend der finale Plot Point einen auch treffen mag, es scheint doch zwangsläufig zu sein, dass die immer tiefere Verstrickung in Schuld und Abhängigkeit schließlich eine mörderische Dynamik entwickelt. Den Kern der Erzählung bildet die Beziehung von Mark zu Du Pont. Das unbedarfte, furchtbar naive Muskelpaket, dem Channing Tatum eine zugleich einschüchternde und mitleiderregende Präsenz verleiht, auf der einen Seite, der Milliardär, der sich nicht von seiner Mutter, die gut der Fantasie Alfred Hitchcocks entstammen könnte, lösen kann, auf der anderen. Du Pont gewinnt Mark nicht mit den Versprechungen des großen Geldes, von dem Mark so überhaupt keine Vorstellung hat – gefragt, wie viel er für sein Engagement haben möchte, antwortet Mark 25.000 Dollar pro Jahr; die größte Summe, die ihm in den Kopf kam –, sondern mit seinem patriotischen Gerede von Aufopferung und Freiheit. Wenn Du Pont Mark zu sich aufblicken lässt, wie zu einem Vater, und dabei zum Beispiel seine ausgeprägt selbstzerstörerische Seite mit Kokain füttert, reproduziert er das Dysfunktionale, die Fixierung an eine so übermächtige wie gnadenlose Elternfigur, die ihn selbst gefangen hält.

Es liegt quasi in der Natur der Sache, dass Dave zur Nebenfigur wird – trotz eines gut aufgelegten, bärtigen Mark Ruffalos. Das Glück in der bürgerlichen Kleinfamilie – was hier vor allem zu heißen scheint: das Glück mit einer Frau – wird beiläufig und kurz gezeigt, um ein „normales“ Außen zu den überlebensgroßen Neurosen und Ambitionen der Männer im Zentrum des Films zu konstruieren. Es erscheint keineswegs als Zufall, dass den Mittelpunkt dieser Ambitionen das Ringen bildet, ein Sport, in dem sich schweißnasse Männerkörper engumschlungen im Kampf begegnen. Dass Du Ponts Mutter, in der einzigen Szene, in der einer Frau überhaupt etwas mehr als ein paar Sekunden screen time vergönnt sind, deutlich macht, dass sie für die neue Leidenschaft ihres Sohns nichts als Verachtung übrig hat, lässt das Ringen im Film – mehr als sowieso schon – als Flucht vor der Frau erscheinen.

Die Dramaturgie des Sportfilms wird schon dadurch ausgehebelt, dass die eindrücklichste und physischste der Kampfszenen schon relativ zu Beginn des Films vorkommt: ein Trainingskampf zwischen Mark und Dave. Doch die Kritik an der Erzählung vom Außenseiter, der against all odds und mit gutem Karma zum Sieger wird, geht wesentlich tiefer. Es ist die Ideologie, gewinnen zu müssen, die hier angegriffen wird. Über Siege geht der Film auch deshalb so lakonisch hinweg, weil es in ihm niemanden gibt, der in der Lage wäre, sie zu feiern. So bleibt auch am erschütternden Ende vielleicht insgeheim Mark, der weiter kämpfen, weiter gewinnen muss, die tragischste der tragischen Figuren des Films. In einer Welt, in der der Sieg zum Imperativ wird, das Gewinnen zum Muss, gibt es in diesem Film letztlich nur Verlierer.

Streif – One Hell of a Ride

(AT 2014, Regie: Gerald Salmina)

Kulissen hinter Kulissen
von Lukas Schmutzer

Das Hahnenkammrennen in Kitzbühel ist ein alljährliches Großereignis, bei dem sich in den Disziplinen Abfahrt und Super G Skifahrer die sog. Streif hinunterwerfen, die nur für das Rennen präpariert wird …

Das Hahnenkammrennen in Kitzbühel ist ein alljährliches Großereignis, bei dem sich in den Disziplinen Abfahrt und Super G Skifahrer die sog. Streif hinunterwerfen, die nur für das Rennen präpariert wird und sonst nicht als reguläre Piste gekennzeichnet ist. Es handelt sich um eine der anspruchvollsten wie auch gefährlichsten Abfahrten der Welt. Das stellt ein spannendes und ergiebiges Feld für einen Dokumentarfilm dar, lädt doch nicht nur die Komplexität des Sports, sondern auch dessen mediale Verarbeitung zu einem Blick ein, den sonst nur Eingeweihte besitzen. Der demnächst anlaufende „Streif – One Hell of a Ride“ erlaubt sich allerdings so viele Schnitzer, dass er auf halbem Weg selbst auf der Strecke bleibt. Zum Verhängnis wird ihm, dass das Rennen in Kitzbühel bereits jedes Jahr von den österreichischen Medien dokumentiert wird (Rundfunk, Tageszeitungen etc., und dies mit nicht wenig Aufwand), während der Film „Streif“ es in keinem Moment schafft, eine Bildsprache oder irgendeine Form von Diskurs zu entwickeln, die oder der sich qualitativ von dieser Berichterstattung absetzen würde – der Film reproduziert in erster Linie das, mit dem der sportinteressierte Österreicher ohnehin in jedem Januar betäubt wird. Das Problem ist also nicht die Intention als solche, der Strecke, den Athleten und nicht zuletzt auch den Organisatoren des Rennens ein filmisches Denkmal setzen zu wollen, sondern die Rhetorik des Spektakels, mit der dies geschieht und die das, was der Film an Information enthielte, erstickt. Anstatt eines versprochenen Blicks hinter die Kulissen werden nur neue aufgestellt.

Das mit viel Aufwand gedrehte Material wird in eine Dramaturgie gedrückt, mit der das Rennen gepriesen werden soll, indem eine Bewegung von Einzelheiten (Organisation, Training und Eindrücke der Athleten, Rekapitulation der Geschichte des Rennens) hin zum großen Ganzen (dem Rennen, wie es 2014 abgehalten wurde) vollführt wird. Wenn dann als Höhe- und Schlusspunkt die Abfahrt erstmals am Stück gezeigt wird, ist der Spannungsbogen längst überspannt und der Zuschauer von der vorangegangenen Bilderflut gesättigt. Zwar wird versucht, die Abfahrt in einem unbedarften ästhetischen Kontext zu zeigen, doch auch ungewohnte Kameraeinstellungen und pathetische Musikuntermalung (anstatt Zeitmessung und Kommentar wie in der Live-Übertragung) reichen nicht hin, um hier ausreichend neue Facetten zu eröffnen, geschweige denn zu vermitteln, worin die Herausforderung besteht, diese Strecke abzufahren (um dies zu verdeutlichen, hätte es z.B. gereicht, einfach einmal einen durchschnittlichen Skifahrer auf der Strecke zu filmen). Der Weg, der mit der Dramaturgie bestritten wird, ist insofern ein schwieriger, weil er genau das zum Höhepunkt setzt, was ohnehin bekannt ist; man hätte es sich einfacher gemacht, wenn bei den bekannten Fernseh-Bildern angesetzt worden wäre, um das Material zu sezieren. Stattdessen wird mit weihrauchschwenkenden Mönchen begonnen, und auch wenn die zunächst nur den Ritualcharakter des Ski-Präparierens verdeutlichen sollen, enthalten diese Bilder eigentlich bereits das Programm des Films bis hin zur abschließenden Abfahrt, die nur die Fortsetzung des Weihrauchschwenkens mit aufwändigeren Mitteln darstellt.

Es kommen zahlreiche Athleten zu Wort, die mit dem Hahnenkammrennen zentrale Erfahrungen ihrer Karriere wie auch ihres Lebens verbinden, darunter Didier Cuche, Daron Rahlves, Daniel Albrecht oder Hans Grugger. Hieraus ergeben sich die wertvollsten Momente des Films. Einige medienwirksame „Stars“ werden fast beiseite gelassen (z.B. Bode Miller), dafür wird mit dem Russen Yuri Danilochkin ein Außenseiter eingeführt, was man dem Film nicht zuletzt deshalb zu Gute halten muss, weil mit dessen Mutter und Trainerin eine Frau im Umfeld des männerdominierten Hahnenkammrennens gezeigt wird; neben Hans Gruggers Ehefrau als zweite tragende Frau inszeniert „Streif“ sonst vor allem Dirndln beim Après-Ski.

Doch wird den Worten der Skifahrer entweder misstraut oder zu viel zugemutet. Misstraut wird ihnen, wenn gemeint wird, sie mit eingeschobenen Bildern unterstreichen zu müssen, wo die Mimik des Sprechers mehr als gereicht hätte. Besonders problematisch ist dies in der Aufarbeitung von Daniel Albrechts folgenreichem Sturz, welcher gefühlte vier- bis fünfmal eingeblendet wird, als misstraue man neben nicht nur den Reflexionen des Fahrers, sondern auch der Gedächtnisleistung des Zuschauers. Da wird sogar von einem Mitglied der Streckenaufsicht beklagt, dass unsere heutige Sensationsgier vor allem Stürze zu Gesicht bekommen will – der Film baut keinen Dialog mit dessen Worten auf, stellt sich taub für sie und macht sich selbst zum Teil dieser Maschinerie.

Zu viel zugemutet wird Worten, die für Außenstehende nur mit viel mehr Kontext Sinn ergäben. Während „Du kannst Abfahrt nicht trainieren“ noch aussagekräftig ist (weil es logistisch nicht umsetzbar wäre), mag sich die Bedeutung von Felix Neureuthers Kommentar zum Kitzbüheler Slalom (welcher zwar an einem anderen Hang ausgetragen wird, aber auch angeschnitten wird), nämlich, dass man da „Vollgas pushen pushen pushen“ muss, nur den Rennfahrern im Publikum erschließen. Überhaupt scheitert „Streif“ völlig darin, seinem Publikum das Training der Athleten – welches eigentlich ausführlich begutachtet wird – greifbar zu machen, was in der Inszenierung von Yuri Danilochkin als einem russischen „Rocky“ seinen negativen Höhepunkt erreicht.

Fazit: Wie ein Skifahrer, der falsch trainiert, die Kontrolle über seine Bretter verliert, wird der Film trotz seines Aufwands zum Opfer der Bilder, die er beschwören möchte.

Im Keller

(AT 2014, Regie: Ulrich Seidl)

Freak Scenes
von Andreas Thomas

Der neue Film von Ulrich Seidl beginnt beinahe mit einem Foto: ein Raum in einem Keller. Die Kamera steht fest, ein breites Terrarium steht fest im Bildkader, ein Mensch liegt …

Der neue Film von Ulrich Seidl beginnt beinahe mit einem Foto: ein Raum in einem Keller. Die Kamera steht fest, ein breites Terrarium steht fest im Bildkader, ein Mensch liegt fast unbeweglich davor, darin liegt eine riesige Würgeschlange, wie eingefroren, das einzige, was sich im großen Bild bewegt, ist eine kleine Maus, die, gerade ins Terrarium gesetzt, sich umschaut, wo sie gelandet sein mag.
Der Film endet mit einem zweiten Käfig, nur dass darin keine Maus, keine Schlange, sondern ein Mensch eingepfercht ist, eine nackte Frau, die sich, wie einst Houdini, aus ihrem engen Gefängnis zu befreien versucht.

Die filmische Klammer, die Rahmung, ist deutlich: es soll um das Gefangensein gehen, und so wie die Maus das Opfer der Schlange, so ist der Mensch das Opfer seiner selbst, allzu oft offenbar freiwillig, wie uns die dazwischen liegenden 85 Minuten von „Im Keller“ veranschaulichen.

Der Keller, genauer der österreichische Keller, ist das Untersuchungsobjekt Ulrich Seidls nach vier Spielfilmen ersten reinen Dokumentarfilms. Wobei man besonders bei Seidls Dokumentarfilmen nie genau weiß, wo denn vor der Kamera das Echte aufhört und das Inszenierte beginnt. Die Inszenierung und damit das Arrangement der Szene hat bei Seidls Filmen immer eine ganz zentrale Funktion. Seine Filmbilder sehen oft anfänglich aus wie starre Fotografien; in absurden Kulissen (hier sind es groteske Kellerräume) werden Menschen, oder vielleicht besser Menschenkörper (was eine Distanzierung verstärkt) platziert oder (wenn nötig, bis zur Verrenkung) arrangiert, sodass (in Seidl-Filmen immens wichtig) eine schöne und ästhetische Bildaufteilung entsteht, dazu kommt eine ästhetische Farbkomposition, sodass diese auch im Film starre feste Bilder, zunächst Fotografien sind, durchaus vorstellbar in Fotoausstellungen, weil allein sie schon sprechen, und gerade in ihrer schönen Form, ihrer Ästhetik und Ausgewogenheit verstärken sie das Abgründige, was sie zeigen.

Irgendwann muss es dem anfänglichen Fotografen Seidl nicht mehr genügt haben, dass die in ihre Interieurs verdammten Menschen stumm und unbewegt blieben; und indem er sie hat tun und reden lassen, was sie sonst auch tun und reden (oder, und das wäre dann eher sein eigener kreativer Anteil und der inszenierte Teil des Dokumentarfilms, er hat sie bestimmte Sachen reden oder tun lassen, von denen er meint, dass sie das noch mehr auf den Punkt bringen, was diese Menschen im Innersten charakterisiert; und das ist so wie bei der Platzanordnung auf dem Foto), indem er begann, Filme zu machen, ging er diesen Bildern hinterher, in ihre Tiefen, in ihre Gesetztheiten, von der Ahnung zur Vergewisserung, zur furchtlosen Konfrontation mit dem, was als Andeutung schon für den Durchschnitt strapaziös genug ist.

Damit aber nicht genug: Seidl postuliert ja gerade, dass es der gesellschaftliche Durchschnitt ist, den er hier und in allen seinen Filmen porträtiert. Nach Seidl ist ja gerade das Durchschnittsleben das Leben, das Ungeheuer gebiert, und der Durchschnittsmensch sich selbst das Ungeheuer.
Schon die Anfangsbilder von „Im Keller“ setzen eben das voraus: Garageneinfahrten, Eigenheime mit schmalen Rasenstücken, umgeben von meterhohen dicken Hecken, die sowohl den Einblick als auch den Ausblick verhindern, leblose Sauberkeit und Ordnung als Normalität, in der schon das Abgründige wartet. Und wo, wenn nicht im buchstäblichen „Hinab“ des Kellers lauern die Geheimnisse und die Sehnsüchte und die Leidenschaften, wobei der Österreicher daran die Leiden bevorzugt, will man Ulrich Seidls Expedition in die Niederungen folgen.

Ein Drittel seines Films nämlich widmet sich ausschließlich einem Ehepaar, das in seiner sadomasochistischen Beziehung offenbar sein Glück gefunden hat. Sie Herrin, er Hund, der auch schon mal die Toilette sauber lecken muss. Ein für die beiden alltäglicher Lebensstil, der im Keller seine Vollendung und libidinöse Zuspitzung erfährt: eine Streckbank, auf der er buchstäblich an die Eier genommen wird.

Eindrucksvolle Bilder aus der Seelenwüste, jahrelang gesammelt (wie Seidl in einem Interview sagt), neben denen schon fast banal und heimelig anmutet: die Schießhalle als Hobbykeller, sogar der Partykeller mit den originalen Nazidevotionalien und dem Führergemälde, unter welchem sich u.a. zwei aktive ÖVP-Politiker zuprosten – um sich hinterher zu wundern, wie ihnen das nach Aufführung des Films jemand zum Vorwurf machen konnte. Parteiausschlussverfahren, wieso? Ach, Führerland Österreich! Vielleicht ist die Pflege „alter Tugenden“ ja in Österreich so verbreitet, dass es eher unnormal ist, wenn man sie hinterfragt, aber normal, sich dabei fürs Kino filmen zu lassen. Allemal eigenartig ist es, wie man bei diesen Bildern zwar den Kopf schüttelt und gleichzeitig unberührt bleiben kann. Aber auch das bewirkt Seidls Collagensucht.
Keller, so lernen wir, ist Kitsch und Dreck und Schmerz und Folter und alles kultiviert, okay, kapiert. Und Keller ist auch natürlich Versteck. Die etwas ältere Frau, die aus einem Pappkarton vielleicht einmal am Tag ihr Baby, nämlich eine so genannte „Reborn-Puppe“, auspackt und es zärtlich in den Arm nimmt und mit ihm spricht, tut das offenbar ohne das Wissen ihres Mannes; Überhaupt scheinen österreichische Männer und Frauen sich kellermäßig und überhaupt zu meiden, es sei denn, sie fügen sich dort unten Schmerz und Erniedrigung zu.

So entpuppt sich eine Pathologie nach der anderen, ein Bilderreigen der Unglücklichen und der Freaks ist das, eine veritable Ausstellung des Perversen oder Fetischierten als Querschnittspanorama des Bodensatzes eines Landes. Und so lange und so penetrant hält uns Seidl diese seine (denn es ist seine Auswahl) Bilder vor, bis wir betreten und erdrückt nichts mehr sagen können, außer: Du hast ja Recht.

Ist das der Weisheit letzter Schluss? Man muss tatsächlich befürchten, dass mit dieser Beweisführung der Patient tot und das Denken, das historische, politische Verorten, ein ethischer Kontext, ein analytischer Umgang mit dem Material zu einem Ende gebracht sind, weil das Ergebnis immer nur heißt: Österreich (und wer weiß, vielleicht auch Europa, die Welt?) ist eine Anhäufung von Krankheit, ist unrettbar, ist Hölle.

Solch Beweisführung kann nur funktionieren, wenn die Beweismittel nur zum Beweis einer These gesammelt werden, die von Vornherein fest steht, und die deshalb simpler ist, als man denken möchte, weil eindeutig simpler als das Leben – um das es hier doch angeblich immer geht.
Bei allem Respekt: Interessiert sich Seidl in Wahrheit für die Geschichte, die Schicksale der Menschen, die er in seinen Filmen auftreten lässt? Oder sind die nur so lange für ihn interessant, wie sie geeignet scheinen, als Exempel seiner irdisch-austrischen Höllenvision eine Evidenz herzustellen?

Diese fatalistische und apokalyptische Perspektive auf die Dinge (die Dinge, die Verhältnisse, die es ja natürlich auch alle ähnlich gibt, aber eben nicht nur und nicht nur so endgültig!), diese zurichtende Perspektive kann ja in ihrer Eindeutigkeit und Totalität nur funktionieren, wenn sie ihren Objekten, Dingen, Menschen das Leben austreibt. Deshalb sind Seidls Protagonisten ahistorisch, deshalb sind sie eingefroren in ihrer jeweiligen privaten Hölle, in ihren jeweiligen Standbildern, deshalb sind sie keine komplexen Charaktere mehr, sondern nur die auf ihre jeweiligen Zustandsbeschreibungen reduzierte Figuren, denen jeder Spielraum, Hoffnung und jede Veränderung verwehrt ist. Eine Frage: Hat so eine deutlich determinierte Definition menschlichen Seins nicht eine lange fundamentalistisch-theologische Tradition? Zumindest ist sie antipolitisch, sie ist lähmend für alle Beteiligten incl. der Rezipienten, weil sie die Möglichkeit von Autonomie negiert. Was nun das Kino betrifft, ist sie antidramatisch, denn eine Entwicklung, also einen Plot, kann es in ihr nicht geben, weil die Menschen darin keine Wahl haben. Seidls Kino ist ein deskriptives, fixierendes Gemälde, und was es immer und immer wieder zeigt, ist: „We all are lost!“. Aber das ist nicht wahr.

Timbuktu

(F / ML / MR 2014, Regie: Abderrahmane Sissako )

Filmische Agenda des Widerstands
von Nicolai Bühnemann

Eine Gazelle rast durch die Wüste. Sie flüchtet vor vermummten Männern, die sie von einem Jeep aus mit ihren Kalaschnikows jagen. Danach machen die Männer Schießübungen auf traditionelle afrikanische Masken …

Eine Gazelle rast durch die Wüste. Sie flüchtet vor vermummten Männern, die sie von einem Jeep aus mit ihren Kalaschnikows jagen. Danach machen die Männer Schießübungen auf traditionelle afrikanische Masken und Statuen. Die Kamera streicht über das zersplitterte Holz. Für die Unterwerfung, die Zerstörung einer Kultur durch eine andere findet der Filmemacher Abderrahmane Sissako schon in den ersten Szenen seines vierten abendfüllenden Spielfilms sehr eindrückliche Bilder. „Timbuktu“ spielt in der gleichnamigen Stadt, die von islamischen Fundamentalisten besetzt wurde. Auch wenn die Gewalt erst in der zweiten Hälfte des Films direktere, physischere Formen annehmen wird, ist sie doch von Anfang an allgegenwärtig – wie die Schnellfeuergewehre der Besatzer und ihre Verbote. Musik ist verboten. Zigaretten sind verboten. Fußball spielen auch. Die Frauen müssen sich auf der Straße nicht nur verschleiern, sondern auch, entgegen ihren Traditionen und bei der Arbeit oft sehr hinderlich, Handschuhe und Strümpfe tragen. Gegen erzwungene Hochzeiten mit den Besatzern sind sie relativ machtlos.

In ihrem Zelt in den Dünen außerhalb der Stadt leben Kidane und Satima mit ihrer Tochter Toya und dem Hirtenjungen Issan. Auch wenn sich die nahe Anwesenheit des Regimes der Dschihadisten wie ein dunkler Schatten über ihr Leben legt – alle ihrer einstigen Nachbarn sind weitergezogen, die Männer in ihrem Jeep statten Satima und Toya einen Besuch ab, während ihr Mann nicht zuhause ist –, bleiben sie hier relativ unbehelligt. Zunächst. Der Film zeichnet ihr Dasein als Idyll in warmen, kräftigen Farben und sonnendurchfluteten Bildern. Ein Paradies, das auf seine Zerstörung zu warten scheint.

Die Tragödie nimmt ihren Lauf, als Issans Lieblingskuh, die auf den eigenwilligen Namen GPS hört, von dem Fischer Amadou getötet wird, weil sie seine Netze im Fluss zerstört hat. Sissako löst diese Szene in einer Reihe von herzerweichenden Close-Ups des sterbenden Tiers auf. Eine Fliege, die durch das Fell wandert. Ein Blutstropfen, der aus der Schnauze rinnt. Die Dringlichkeit der Inszenierung verdeutlicht, dass hier nicht nur ein geliebtes Wesen den Tod findet, sondern auch das tragische Schicksal einer Familie besiegelt wird. Der gewaltsame Tod einer Kuh läutet eine Serie von Gewalttaten ein, die sich durch die zweite Filmhälfte ziehen.

Als Kidane von dem Vorfall am Fluss erfährt, entschließt er, wutentbrannt und mit einer Pistole bewaffnet, den Fischer zur Rede zu stellen. Seine Frau sieht ihn durch ein Leinentuch, in einen Schatten verwandelt, davon gehen. Beim Handgemenge mit Amadou löst sich ein Schuss. Es folgt die vielleicht denkwürdigste der Breitbild-Kompositionen des Films. Eine Panorama-Totale des Flusses und der angrenzenden Wälder vor dem Abendhimmel. In die eine Richtung schleppt sich Kidane davon, in die andere kriecht Amadou in Richtung Land, um zu sterben. Die Distanz der Kamera zum Geschehen ersetzt die Dramatik der Ereignisse durch eine tiefe Traurigkeit. Zu Punkten in der Landschaft verwandelt, sehen wir zwei Verdammte. Kidane ist zwar unverwundet, wird sich aber vor dem Gericht der Dschihadisten wegen Mordes verantworten müssen.

Sissako sagt, er sei zu dem Film inspiriert worden durch die Geschichte eines Paares mit zwei Kindern, das im nördlichen Mali gesteinigt worden war, weil sie nicht verheiratet waren. Einerseits ist es natürlich das Terrorregime des IS in Syrien und im Irak, das „Timbuktu“ eine Aktualität gibt, die dem durch seine langwierigen Produktionsprozesse immer eher „langsamen“ Medium Film sonst fremd ist. Andererseits aber beleuchtet Sissako mit seinem Film nicht nur das fundamentalistische Treiben in einer Gegend, die außerhalb des Fokus‘ westlicher Medien-Interessen liegt, man kann seinen Film auch als einen Eingriff in die Bildproduktion des realen Terrors begreifen.

Zunächst geht es um das Bild des Terroristen. Geradezu behutsam bemüht sich der Film, die selbsternannten Gotteskrieger als Menschen zu zeigen. Da ist Abdelkrim, der sich unter dubiosen Vorwänden aus dem Jeep in die Dünen zurückzieht, um Zigaretten zu rauchen. Da ist die Szene, in der ein junger Soldat eine Videobotschaft sprechen soll. Die Aufnahme muss mehrmals wiederholt werden, weil es ihm an Elan, an Überzeugung mangelt. Der Fanatismus erscheint in dieser Szene als etwas, das gelehrt und einstudiert werden muss. (Übrigens erfahren wir, dass der junge Mann früher Rap-Musik machte – wer möchte, kann eine Parallele sehen zum aus Berlin stammenden Gangsta-Rapper „Deso Dogg“, der sich dem „Islamischen Staat“ anschloss.) Schließlich zeigt sich etwa in einem Verhör Kidanes durch seinen Richter deutlich, dass dieser durchaus Mitgefühl mit dem Schicksal des Angeklagten und seiner Familie hat. Eine solche Darstellung scheint dem Selbstbild der Terroristen diametral entgegenzulaufen. Denn die Enthauptungsvideos des IS etwa entmenschlichen ja nicht nur die Opfer, sondern gleichermaßen die Täter, die als bloße Werkzeuge des Willens Gottes erscheinen sollen. In „Timbuktu“ hat es etwas Gespenstisches, dass es gar nicht zwangsläufig unsympathische Männer sind, die für ein Regime des Schreckens verantwortlich zeichnen, in dem alle, die ihrer steinzeitlichen Auslegung des Korans nicht folgen, mit Peitschenhieben oder gar Steinigungen bestraft werden.

Zeigen die IS-Videos deutlich, dass die Terror-Bilder zu einer Waffe werden, die, indem sie Angst und Schrecken verbreiten, militärische Schwäche wett machen sollen, dann entwickelt Sissakos Film auch zu solchen Bildern ein spezifisches Verhältnis. Er nimmt den Bildern nicht ihren Schrecken, aber fügt ihnen Empathie für die leidenden Menschen hinzu. Zeigt der Film eine Auspeitschung und eine Steinigung, dann hält die Kamera eine Distanz zum Geschehen, die dem Zuschauer die Möglichkeit der Reflexion gibt. Gerade diese Haltung macht die Szenen schwer erträglich, weil sie ohne emotionalen Überschuss hilft, zu erkennen, welch unmenschliche Formen der „Bestrafung“ das sind. Das Bild des Mannes und der Frau, die bis zum Hals im Sand eingegraben sind, um gesteinigt zu werden bekommt gleichzeitig symbolischen Charakter. Die Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein gegenüber den Besatzern erfährt in ihm eine extrem beklemmende Verdichtung.

Weder ist der Film bereit, den Terror zu beschönigen, noch macht er große Hoffnungen, was den Ausgang des Geschehens anbelangt. Die letzte Einstellung schließt mit einem radikalen, buchstäblich atemlosen Bild der Bedrängnis und Verfolgung den Bogen zur Gazelle in der ersten. Was das Kino in „Timbuktu“ dem lebensfeindlichen Fundamentalismus entgegenzusetzen hat, sind Humor, Poesie, Schönheit und Lebensfreude. Wenn ein Mann wegen Fußballspielens dazu verurteilt wird, ausgepeitscht zu werden, lässt der Film darauf eine seiner schönsten, poetischsten, humorvollsten und surrealsten Szenen folgen. Eine Gruppe von Jugendlichen und jungen Männern, die auf einem Sandplatz Fußball spielen – ohne Ball. Ein Esel läuft übers Feld, unmittelbar vorm Tor entlang und doch ganz ohne die Gefahr „abgeschossen“ zu werden. Und auch das traute Beisammensein einiger junger Menschen mit Gesang und Gitarre wird umso lustvoller zelebriert, als es im Angesicht eines Regimes geschieht, das darin einen subversiven Akt sieht. So wird der Widerstand in diesem betörenden Film zu einer formalen und inhaltlichen filmischen Agenda.

Magic in the Moonlight

(USA 2014, Regie: Woody Allen)

Mentale Schwingungen
von Wolfgang Nierlin

„Nichts ist echt, alles ist vorgetäuscht“, sagt Stanley Crawford (Colin Firth) alias Wei Ling Soo. In seinen handwerklich ausgefeilten Zaubershows lässt der als chinesischer Magier verkleidete Perfektionist Elefanten verschwinden, zerteilt …

„Nichts ist echt, alles ist vorgetäuscht“, sagt Stanley Crawford (Colin Firth) alias Wei Ling Soo. In seinen handwerklich ausgefeilten Zaubershows lässt der als chinesischer Magier verkleidete Perfektionist Elefanten verschwinden, zerteilt er in klassischer Manier Frauen oder aber er „beamt“ sich selbst von einem Ort an einen anderen. Jenseits dieser künstlich erzeugten Illusionen existiert für den zynischen Rationalisten allerdings nur die graue Wirklichkeit, bevölkert von fiesen Menschen mit schlechten Eigenschaften. Alle Metaphysik ist für den aufgeklärten Skeptiker, der mit spöttischer Überheblichkeit seiner Umwelt begegnet, reinster Hokuspokus. Alles, was es gibt, so sein „wissenschaftliches“ Credo, lasse sich erklären oder aber folge einem blinden Zufall. Ziemlich unverfroren und direkt entlarvt der eingebildete Misanthrop die Schwächen und den falschen Schein seiner Mitmenschen und bezeichnet sich gerade deshalb als „unglücklichen Mann“.

Es liegt nahe, in dieser äußerst schlagfertigen, nihilistischen Künstler-Figur auch persönliche Züge ihres Erfinders Woody Allen zu erblicken, der sich mit einem leicht philosophisch gefärbten Unterton und einem Hauch von Weltschmerz im magischen Beziehungsdreieck von Existenz, Kunst und Liebe bewegt. Weil wir uns aber als Zuschauer trotz dieser schweren Thematik in einer sehr leicht und beschwingt vorgetragenen romantischen Komödie befinden, die im Jahre 1928 auf einem in mildes, freundliches Licht getauchten Anwesen an der Côte d’Azur spielt, wird das Ernste luftig und das Vergnügliche groß. Geschmackvoll, elegant und zauberhaft lauten die Eigenschaften, in denen dieser Ort erstrahlt. Doch Altmeister Allen, der vor allem in seinen jüngsten Filmen stets ein hohes Erzähltempo anschlägt und dieses ebenso routiniert wie ökonomisch verwaltet, inszeniert diesen nur als Ausstattungshintergrund, vor dem sich in langen, organischen Plansequenzen die Kamera von Darius Khondji bewegt; oder als Kulisse für altmodische Rückprojektionen.

Das eigentliche Movens dieses geistreich unterhaltenden, hervorragend besetzten Films sind hingegen die brillanten, pointiert geschriebenen Rededuelle, die Woody Allen abfeuert, sobald sein rationalistischer Zauberer im südfranzösischen Domizil eintrifft, wo er eine „falsche Spiritistin“ enttarnen soll. Die junge Amerikanerin, von ihrer Mutter begleitet, heißt Sophie Baker (Emma Stone), ist schön, charmant und gewitzt; vor allem aber besitzt sie übersinnliche Fähigkeiten, empfängt „mentale Schwingungen“ und nimmt in spiritistischen Séancen Kontakt zu Verstorbenen auf. Bald befinden sich der arrogante Engländer und das reizende Medium in einem welt- und lebensanschaulichen Clinch, dessen permanentes Hin und Her sich bald zu einem betrügerischen, von Neid und Rache getriebenen Spiel um Sein und Schein ausweitet. Die kalte Logik des Zynikers und das Glück verheißende Lächeln der Fee prallen also heftig und in retardierendem dramatischen Anstieg aufeinander, um die Liebe, um die es zwischen den beiden eigentlich geht, als „irrational“ zu „enttarnen“; und um uns zu sagen, dass die Magie des Lebens von (künstlerischen) Illusionen zehrt.

Pride

(GB 2014, Regie: Matthew Warchus)

Eine besondere Form der Solidarität
von Jürgen Kiontke

Die Hauptfigur Marc (Ben Schnetzer) in der englischen Komödie „Pride“ weiß wovon er redet, wenn er seinen Mitstreitern die Frage stellt: „Wer hasst die Arbeiter? Die Presse, die Öffentlichkeit, die …

Die Hauptfigur Marc (Ben Schnetzer) in der englischen Komödie „Pride“ weiß wovon er redet, wenn er seinen Mitstreitern die Frage stellt: „Wer hasst die Arbeiter? Die Presse, die Öffentlichkeit, die Regierung. Kommt dir das bekannt vor?“: Der Londoner Polit-Aktivist ist nicht nur links, sondern auch schwul. Kein Tag vergeht, ohne dass er, seine Freunde und lesbischen Freundinnen von Rechtsradikalen verprügelt werden. Jetzt aber sieht die Lage so aus: Großbritanniens Bergarbeiter sind in den Streik getreten. Wir schreiben das Jahr 1984. Margaret Thatcher will die Gewerkschaften aus dem Politikbetrieb werfen und legt dafür ganze Wirtschaftsbranchen lahm. Damit es keine widerspenstige Arbeitnehmervertretung mehr gibt, wird eben die ganze Mine geschlossen. Eine kühne Idee, aber die Regierungschefin wird damit durchaus erfolgreich sein. Das Land wird mit diesem Ereignis die nächsten Jahrzehnte beschäftigt sein, auch weil der soziale Abstieg vieler Menschen voranschreitet. Nebenbei bemerkt: Parallel werden die Energieträger Atomkraft und Öl gefördert.

Marc, der in London ansässige junge Streiter für die Homorechte, erkennt die Parallelen zwischen der Welt der Arbeit und seiner eigenen: Der Wind weht allen hart ins Gesicht. In den achtziger Jahren ist die rechte Jugendkultur im Schatten von Punk-Rock und Skinhead-Kult stark geworden. Rechte Schläger machen regelrecht Jagd auf Homosexuelle.

Das Mitgefühl für die Arbeiterklasse hält sich aber bei Marcs Freunden stark in Grenzen. Schließlich kommen die homofeindlichen Angriffe oft genug aus den in traditionellen Denkmustern verharrenden Working-Class-Milieus. Marc aber will genau hier ansetzen: „Seitdem die Arbeiter streiken, gab‘s fast keine Benzinbomben und Hakenkreuzschmierereien“. So sieht England Mitte der achtziger Jahre aus: Wenn es andere gibt als Schwule, die derzeit die Jacke voll kriegen, dann sind es die Arbeiter, die in der Gewerkschaft des legendär streitbaren Bergarbeiterführers Arthur Scargill organisiert sind!

Und so entsteht die Initiative „Lesbians and Gays Support the Miners“ (LGSM). Es werden Spenden gesammelt, denn die Auswirkungen des Streiks auf die Familien sind drastisch. Es gibt kaum noch was zu essen, da ist jedes Pfund willkommen. Die Hilfe und die Besuche der bunten Truppe werden aber vorerst abgewiesen – durch Arbeiter wie Gewerkschaft gleichermaßen („Deine Schwulen sind da“). Man will mit den schmuddeligen Londoner Außenseitern nichts zu tun haben. Nicht nur – aber auch weil man die homosexuellen Aktivisten verdächtigt, stets nur ihre eigenen Interessen im Blick zu haben. Die vorgebliche Solidarität mit dem Streik diene ihnen im Kampf um mehr Anerkennung.

Viele versuchen, die LGSM-Unterstützung für ihre Zwecke zu nutzen, zuallererst die konservativen Kräfte: Als Streikposten möchte man sich von der Polizei nicht als „Schwuchtelfreund“ bezeichnen lassen. Dies wird nicht das einzige sexistisch konnotierte Kampfmittel bleiben. Auf Sympathie stößt die Gruppe aber bei den Frauen der Bergarbeiter. Sie kritisieren, dass es viele heroische Worte rund um den Arbeitskampf gibt, aber wenig konkrete Hilfsmaßnahmen. Und so ist das Geld aus London zunächst bei ihnen willkommen.

Die Geschichte von „Pride“ beruht auf einer wahren Begebenheit. Die LGSM sammelte für drei Bergarbeiter-Ortschaften Spenden – gegen alle Widerstände, auch in den eigenen Reihen. Später setzten sich Bergarbeiter-Gruppen für die Rechte der Homosexuellen ein. Die Spenden-Aktion gipfelte in einem großen Festival mit Bands wie Bronski Beat. Es brachte mehrere tausend Pfund ein. Die Geschichte erzählt viel über die achtziger Jahre: „Homosexuelle Künstler haben wir nicht unter Vertrag“, behauptet die Musikmanagerin einer Plattenfirma, an deren Wand das Konzertplakat von Elton John hängt.

„Pride“ ist hervorragend besetzt und spart nicht mit Witz und rührenden Szenen zwischen Alt und Jung, homo und hetero. Es ist ein Historienschinken, fast ein Kostümfilm. Was aber entscheidend ist: Mit Gewissheiten geht der Film äußerst kreativ um, selten ist etwas, wie es scheint. So outen sich auch in den Reihen der Bergarbeiter Homosexuelle, die nie offen darüber gesprochen haben. Zum Beispiel der alternde Arbeiter Cliff (Bill Nighy), der eine entscheidende Rolle in der Bergarbeitergemeinschaft spielt, outet sich während der Proteste. Aber auch der örtliche Streikführer Dai heißt nicht nur deshalb die Gruppe willkommen.

Schließlich klappt die Verbrüderung auf kultureller Ebene, denn auf der ersten gemeinsamen Party stellt sich ziemlich deutlich heraus, dass die Londoner sehr gute Tänzer sind. Das interessiert wiederum die ortsansässige heterosexuelle Bevölkerung, denn wer gut tanzt, kommt auch gut beim anderen Geschlecht an. An Männern, so die steile These des Films, lieben Frauen ihre vermeintliche Weiblichkeit. Außerdem sind sich die Arbeiter durchaus bewusst, dass das Leben im Dorf nicht immer die große Party ist.

Die Komödie „Pride“ präsentiert sich an dieser Stelle recht ernst. Aber eine glückliche Synthese der verschiedenen sozialen Interessen kommt selten vor. Die Prozesse der Annäherung („Kohle – das ist das Zeug, aus dem man den Strom macht, damit Schwule nachts um drei zu Bananarama tanzen können“) laufen stets nur parallel zum Status quo. Weiter werden Schwule auf den nächtlichen Straßen verdroschen, bis sie im Krankenhaus landen. Nur streikende Arbeiter trifft es nun noch härter. Als Gegenmittel empfiehlt der Film den Zuschauern die Solidarität über soziale Grenzen hinweg. „Pride“ wirkt wie ein filmischer Gegenentwurf zu Uli Edels „Last Exit Brooklyn“ (D/USA 1989), der von einem schwulen Gewerkschaftsfunktionär handelt und wie beinahe pflichtgemäß als Tragödie endet.

Was der Film mithin mehr hätte beleuchten können, ist die politisch-administrative Ebene. Warum und wieso ganz Großbritannien von den Konservativen ökonomisch und politisch umgestrickt wird, das bleibt zumeist im Dunkeln. Thatcher hört man dann und wann aus dem Fernsehen quaken, hin und wieder gibt’s Zeitungsschlagzeilen.

Welche Kräfte sind weltweit am Werk? Da wäre durchaus noch Potenzial vorhanden. Der Streik in den britischen Kohlegruben hat eine internationale Dimension. Die Öffentlichkeit vieler Länder verfolgt ihn. Den Paradigmenwechsel zum Neoliberalismus hat die Welt verstanden, nicht zuletzt an den Worten der eisernen Lady:„There is no such thing as society“, – eine Gesellschaft gibt es nicht -, für Margaret Thatcher gibt es nur Individuen.

„Pride“ möchte stattdessen die gesellschaftlichen Wendepunkte in seinen Figuren aufzeigen, in der Entwicklung der einzelnen Charaktere. Die Gewerkschaften mussten sich unter Druck gesellschaftlichen Strömungen öffnen, Minderheiten lernten den sozialen Kampf im Kollektiv. Wie sich hier relevante Berührungspunkte zu erkennen geben, davon erzählt der Film. Aber er erzählt auch davon, wie schwierig es ist, in einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft Gemeinschaften herzustellen.

„Pride“ erzählt viel in den zwei Stunden und als Komödie hat er gut zu enden. Er lässt aber ahnen, dass es solche solidarischen Aktionen nicht allzu oft gibt und wohl auch nicht geben wird, denn Gegenwind weht immer, oft aus nicht vorhersehbarer Richtung: Die Schwulen der LGSM-Initiative werden bei der Gay-Parade im Jahr darauf ans Ende des Zuges verbannt. Erst als die Arbeiter aus Wales zur Unterstützung kommen und die Zugspitze übernehmen, werden sie von ihren unpolitischen Parade-Organisatoren ernst genommen. Ein kleines Happy-End einer leider sehr seltenen Geschichte.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Gegenblende

Araf – Somewhere in Between

(TR / D 2012, Regie: Yesim Ustaoglu)

In der Vorhölle
von Wolfgang Nierlin

„‘Araf’ bedeutet Fegefeuer oder Limbus auf Türkisch, der Zustand des Wartens zwischen Himmel und Hölle“, erklärt Yesim Ustaoglu den Titel ihres neuen Films. Irgendwo dazwischen, gleichermaßen von Ungewissheit und Hoffnungslosigkeit …

„‘Araf’ bedeutet Fegefeuer oder Limbus auf Türkisch, der Zustand des Wartens zwischen Himmel und Hölle“, erklärt Yesim Ustaoglu den Titel ihres neuen Films. Irgendwo dazwischen, gleichermaßen von Ungewissheit und Hoffnungslosigkeit umlagert, befinden sich dessen Helden. Ihre Perspektivlosigkeit an der Schwelle zum Erwachsensein spiegelt die renommierte türkische Regisseurin auf vielfache Weise: Die etwa 18-jährige Zehra (Neslihan Atagül) und ihr gleichaltriger Freund und Kollege Olgun (Barış Hacıhan) arbeiten an einer frequentierten Autobahnraststätte zwischen der Hauptstadt Ankara und der Metropole Istanbul. An diesem anonymen Transitort im provinziellen Nirgendwo verflüchtigen sich die Begegnungen und Blicke zwischen Ruhe und Bewegung und wecken zugleich die Sehnsucht nach der Ferne.

Wenn zu Beginn von „Araf – Somewhere in between“ sich heiße, noch glühende Schlacke aus den Stahlwerken der nah gelegenen Stadt Karabük in den Schnee der winterlichen Landschaft ergießt, sind diese unvereinbaren Gegensätze mit ihren Assoziationen zur Vorhölle bereits ins Bild gefasst. Auch Zehras Erschöpfungszustände, unter denen sie als Bedienung in den langen Nachtschichten leidet, markieren einen physischen Schwebezustand. Intim, fast zärtlich gleitet die Kamera über den schlafenden Körper der jungen Frau, verweilt behutsam auf Details, betrachtet andächtig ihr Gesicht und bringt gerade durch diese schwesterliche Nähe ihre Seele zum Leuchten. Umso härter ist der Kontrast, wenn die Kamera auf qualmende Fabrikschlote in der entfärbten Landschaft schwenkt und damit ein melancholisches Verlorenheitsgefühl evoziert. Immer wieder entwickelt Yeşim Ustaoğlu das vielschichtige Drama ihres Films aus stillen Beobachtungen einer schweifenden, agilen Kamera, aus Schärfenverlagerungen und einer elliptischen Erzählweise, um die soziale Tristesse und die trostlosen Aussichten ihrer jungen Helden zu visualisieren.

Das ist kunstvoll, sinnlich und sensibel inszeniert. Dabei verteilt Ustaoğlu die Gewichte ihres vielstimmigen Gesellschaftsporträts, das eine festgefügte, unverrückbare soziale Ordnung zeigt, auf ihre beiden jugendlichen Helden. Das Schweigen zwischen den Generationen setzt sich gewissermaßen fort in der Distanz und wortlosen Begegnung zwischen den Geschlechtern. Das Tabu einer unehelichen Schwangerschaft wirkt hier so stark und zerstörerisch, dass Zehra, als sie von dem Fernfahrer Mahur (Özcan Deniz) schwanger wird, Ausgrenzung und Hilflosigkeit erfährt. Yeşim Ustaoğlu inszeniert dieses traumatische Erleben mit aller Drastik. Der Verlust der Unschuld mündet in die Zerstörung der Träume. Auch Olgun, in einer kaputten Familie gefangen, erlebt eine Desillusionierung. Er sei ein „vernebeltes Kind der verrauchten Stadt“, sagt er einmal über seine Herkunft. Im Hinblick darauf erscheint das märchenhafte, die allgegenwärtigen TV-Träume parodierende Ende des Films als bittere Ironie.

The Imitation Game

(GB / USA 2014, Regie: Morten Tyldum)

Kein Knopp
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein wahrnehmungsaktiver Film wie selten. Er bringt es fertig, dass ich nach zwei Stunden zu mir komme und nicht fassen kann, dass das Spiel schon zu Ende ist. In erster …

Ein wahrnehmungsaktiver Film wie selten. Er bringt es fertig, dass ich nach zwei Stunden zu mir komme und nicht fassen kann, dass das Spiel schon zu Ende ist. In erster Linie geht’s um einen Erfinder, der im Zweiten Weltkrieg für den britischen Geheimdienst das deutsche Verschlüsselungssystem Enigma knackt. Die Turing Machine entscheidet den Krieg. In zweiter Linie geht’s um Turings Sexualität. Er ist schwul und spielt Versteck; Homosexualität ist strafbar. Nun die dritte Linie: Beides gehört zusammen. Ohne das Versteckspiel keine Lösung des Enigma-Codes. Mathematik allein bringt’s nicht. Die Linguisten sind ratlos. Aber dass zwei gemobbte Schüler in der Klasse sich per Geheimschrift verständigen, das ist der Anfang. Mit der Schulszene, in der die Outsider Alan Turing und Christopher glücklich sind, beginnt der Film.

Zum Schluss ist Nerd Turing mit seiner Enigma-Knack-Maschine glücklich. Er liebt sie geradezu körperlich. Sie hat einen Namen: Christopher. Aber die britische Justiz hat jetzt ihrerseits die Homosexualität des Entdeckers Turing entdeckt. Um das Gefängnis kommt er nur herum, wenn er seine Veranlagung chemisch wegtherapieren lässt. „Christopher“ wird kastriert. Dass unser Erfinderheld Selbstmord begeht, erfahren wir per Nachspanninfo.

Der Film erzählt dieses, tja, Biopic mainstreamaffin, aber eben nicht mainstreammäßig. Wenn eine Fülle von Doku-Fetzen eingeblendet werden (jeweils gefühlte vier bis sechs Sekunden), dann ist das nicht Knopp, sondern ein Puzzle-Teil, und aus so was wie Heil-Hitler-Teilen lässt sich wie ein banales Kreuzworträtsel das Enigma-Geheimnis lösen. Vielleicht. Eh ich mich versah, war ich jedenfalls beim Puzzeln dabei, und selbst die längeren Szenen, in denen mir die Schauspieler allzu nah gebracht wurden, nahm ich als willkommene Pausen hin. Ich rauch ja nicht wie alle im Film, die ihre Künste vorführen. Allen voran Turing-Darsteller Benedict Cumberbatch. Lange zucken die Lippen, bis sie ein Wort rauslassen. Die Augen meiden den Kontakt mit dem, der was fragt. Die Finger fummeln in Zetteln und an Apparaten. Ja, ich kapier. Der geniale Autist. Solch einen Nerd brauchen wir. Also ist Turings Mimikkunst sachbezogen. Und ich sag ja nix.

Eine allzu lange Nichtraucherpause war für mich allerdings das Versteckspielintermezzo mit der Heterokollegin Joan Clarke, aber sei’s drum. Ich bin und bleibe fasziniert, wie 'The Imitation Game' sein Thema durchhält. Kopf und Bauch gehören zusammen, wenn man die Maschine erfinden will, die heute als Computer bekannt ist. Sexuelle Erfüllung durch die Maschine namens Christopher oder wie auch immer. Es lebe die Vielfalt der Identität, sagte schon Foucault oder Deleuze oder wer’s war. Und schon wieder wird’s ein Manifest statt eine Filmbesprechung. Sorry.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 1/2015

Titos Brille

(D 2014, Regie: Regina Schilling)

Geister auf Super 8
von Wolfgang Nierlin

Die Dibbuks lassen sie einfach nicht in Ruhe. Adriana Altaras wähnt sich verfolgt von den Geistern ihrer jüdischen Vorfahren. Erinnerungsstücke, alte Fotos und Super-8-Filme, sorgsam verwahrt in alten Koffern, fordern …

Die Dibbuks lassen sie einfach nicht in Ruhe. Adriana Altaras wähnt sich verfolgt von den Geistern ihrer jüdischen Vorfahren. Erinnerungsstücke, alte Fotos und Super-8-Filme, sorgsam verwahrt in alten Koffern, fordern die in Deutschland aufgewachsene Schauspielerin und Autorin immer wieder auf, sich mit ihrem familiären Erbe und infolgedessen mit der schweren Geschichte ihrer Eltern und Großeltern auseinanderzusetzen. 1960 als „Partisanentochter“ in Zagreb geboren, als Kind von einer Tante am Gardasee betreut, bevor sie schließlich mit sieben Jahren von ihren nach Gießen exilierten Eltern in ein Internat an einer hessischen Waldorfschule gegeben wird, ist ihr diese noch unerforschte, von Gerüchten und Legenden umlagerte Vergangenheit stets gegenwärtig. Da rät ihr eine befreundete Astrologin zu einer Reise in die Vergangenheit, um sich von den quälenden Geistern zu befreien.

Nach dem Motto „Die Vergangenheit ist jetzt“ fährt Adriana Altaras also zunächst nach Gießen, wo ihr Vater als international renommierter Radiologe arbeitete, während ihre Mutter als Architektin beim Bauamt beschäftigt war und das hessische Landjudentum erforschte, das hessische Landjudentum erforschte und den Wiederaufbau der Synagoge initiierte. Dabei erfährt sie, dass die Eltern trotz ihrer exponierten Stellung als Juden möglichst unauffällig bleiben wollten. Was den charmanten Vater allerdings nicht hinderte, in Gießen eine jüdische Gemeinde zu gründen und diverse Liebesbeziehungen mit jüngeren Frauen einzugehen. Auf Altaras‘ weiteren Reisestationen in Italien, Slowenien und Kroatien geht es zwar auch um die Enthüllung von Familiengeheimnissen und die Entzauberung von sagenumwobenen Heldengeschichten; immer deutlicher rückt jedoch das schwere jüdische Erbe ins Zentrum, das geprägt ist von Verfolgung und Vertreibung, von damit verbundenen kulturellen Brüchen und noch immer schmerzenden Wunden.

In ihrem dokumentarischen Roadmovie „Titos Brille“, das auf dem gleichnamigen tragikomischen Romanbestseller von Adriana Altaras basiert, begleitet die Regisseurin Regina Schilling die verzweigte Spurensuche ihrer Protagonistin. Deren resolutes Temperament, eine Mischung aus unverstellter Direktheit und tabulosem Witz, dominieren den Film, der neben die Begegnung mit Zeitzeugen an Originalschauplätzen immer wieder historische Filmaufnahmen aus dem Familienfundus stellt. Damit werden – gewissermaßen durch die Härten der individuellen Lebensgeschichte hindurch – auch historische Hintergründe anschaulich. Schließlich entscheidet sich Adriana Altaras ihr Erbe zu bewahren, indem sie es (mit)teilt. Denn, so zitiert sie eine Verwandte: „Wer zu viel wegwirft, ist ein Faschist.“

The Zero Theorem

(GB / RO 2013, Regie: Terry Gilliam)

Zukunftsforschung ohne Auftrag
von Jürgen Kiontke

Science-Fiction-Filme gibt’s zurzeit wie Sand am Meer, übermäßig gut sind sie aber nicht. Die filmischen Zukunftsentwürfe haben oft nicht das Zeug, die Zukunft zu entwerfen. Terry Gilliam hat mit 'Brazil' …

Science-Fiction-Filme gibt’s zurzeit wie Sand am Meer, übermäßig gut sind sie aber nicht. Die filmischen Zukunftsentwürfe haben oft nicht das Zeug, die Zukunft zu entwerfen. Terry Gilliam hat mit 'Brazil' 1985 schon mal vorgemacht, wie ein guter Film aussehen kann. Mit 'Twelve Monkeys', dem zweiten Teil seiner an George Orwell orientierten Reihe, wurde es schon etwas artifiziell; mit dem Abschluss 'The Zero Theorem' lässt er einen kopfschüttelnd zurück.

Die Geschichte um den verschrobenen Qohen Leth, der die Null ausrechnen soll, die für die letzte Frage der Menschheit steht, packt einen nicht. Der Film verharrt beinahe ausschließlich in einer ausrangierten Kirche. Dort kämpft Computerarbeiter mit 'Management', einer diffusen, aber gut angezogenen Überwachungsinstanz. Seit Jahren wartet Qohen auf einen wichtigen Anruf; und sollten seine Forschungen erfolgreich sein, stellt ihm sein Auftraggeber die Erfüllung seiner Wünsche in Aussicht. Störend wirkt sich da der Besuch der Internetstricherin Bainsley aus – eine Cindy Lauper auf Speed, die ihn recht freizügig ablenkt.

Um seine Geschichte in Szene zu setzen, benutzt Gilliam recht ausrangierte Bilder. Qohen trägt einen Virtual-Reality Ganzkörperanzug, den die Hobbits genäht haben könnten. Die Storyline sagen die Figuren mit dem Vokabular alter Rechner im Gestus eines antiimperialistischen Agendasettings ('die da oben') auf. Oh mein Gott, sie haben einen Riesenzentralcomputer, der alles kontrolliert! Aussehen tut er wie die Dampfturbinen in der Titanic, laufen tut er, glaub’ ich, mit Kohle. Und die Gedankengebäude, die Qohen im Terminal zusammenbaut, gemahnen an Atari-Tetris.

Ergo: Internetkritik für Leute ohne Internet. Am härtesten aber ist die Schauspielertruppe. Mit Christoph Waltz und Tilda Swinton sind die Spitzenkräfte des verkleideten Overactings am Start. Was sie an Handlung nachstellen, ist so wenig, das hätte man auch malen können. Welche Filmkritik brauchen wir, fragt sich dieser Tage die Zunft der Filmkritiker, weil sie angeblich immer weniger gebraucht werden; ihr Verband veranstaltet eine Diskussionsrunde nach der anderen. Auch die Regisseure stellen langsam mal ihre Arbeit infrage – holprig zwar noch wie David Fincher unlängst im 'Spiegel'. Ja, fragt mal. Vielleicht braucht es ganz andere Schauspieler, Erzählungen, Bilder – andere Kunst. Überhaupt Filmkunst. Es gibt kein richtiges Kino im falschen Film.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 12/2014

Eine weitere Kritik zu 'The Zero Theorem' gibt es hier.

Al doilea joc – The Second Game

(RO 2014, Regie: Corneliu Porumboiu)

Der Ball ist rund, eine Diktatur dauert Jahrzehnte
von Ilija Matusko

Ein rumänisches Fußballspiel aus dem Jahr 1988, ohne Ton und in miserabler Bildqualität. Man kann sich vermutlich gehaltvollere Filmaufnahmen aus der Spätzeit des Ceausescu-Regimes vorstellen, über die es sich zu …

Ein rumänisches Fußballspiel aus dem Jahr 1988, ohne Ton und in miserabler Bildqualität. Man kann sich vermutlich gehaltvollere Filmaufnahmen aus der Spätzeit des Ceausescu-Regimes vorstellen, über die es sich zu diskutieren lohnt. Regisseur Corneliu Porumboiu hat sich für „The Second Game“ dennoch dazu entschieden, ein vergessenes Fußballspiel mit seinem Vater anzusehen und daraus einen Film zu machen. Zum einen, weil sein Vater bei dem Spiel vor 25 Jahren Schiedsrichter war. Zum anderen scheint der Regisseur zu ahnen, dass dieses Material etwas anderes zu erzählen hat, als es den Anschein hat.

Man sieht die Zuschauer im prall gefüllten Stadion in Bukarest. Sie warten auf die Mannschaften Steaua und Dinamo, die beiden stärksten Fußballmannschaften des Landes. In ihren Mänteln und Regenschirmen verschwimmen sie zu einer grauen Masse, die Spieler in den Farben Rot und Weiß sind durch das heftige Schneegestöber nicht besser zu erkennen. Das Spielfeld versinkt im Schnee, der weiß verpuppte Rasen ist praktisch unbespielbar. Trotz des heftigen Wetters entscheidet der Schiedsrichter, das Spiel regulär anzupfeifen. Schließlich steht Nicolae Ceaucescus Lieblingsmannschaft auf dem Platz. Kurz zuvor, so erzählt der Regisseur am Anfang, war der Familie Porumboiu gedroht worden. Falls sein Vater noch einmal so schlecht pfeife, hatte ihm eine fremde Stimme am Telefon gesagt, so sehe er seinen Vater nie wieder. Der Fußball rollt also direkt aus dem Blickfeld.

Wir erfahren, dass gerade – etwa ein Jahr vor dem Ende der autokratischen Herrschaft – die Mannschaft der rumänischen Armee und die des Geheimdienstes gegeneinander spielen. Und mit dieser Info schiebt sich sofort eine allegorische Ebene über das Geschehen. Man sieht im Folgenden nicht nur 22 Männer, die mit weißen Flecken in den Haaren durch den Schneematsch rutschen. Man sieht Stellvertreter der zwei wichtigsten Machtblöcke eines Regimes im Kampf um die Vorherrschaft, eingerahmt von extremen Randbedingungen der Geschichte. Die frierende Bevölkerung längst zum Statisten degradiert. Und während sich die saubere Schneedecke durch das Schießen, Hacken und Treten langsam in einen braunen Acker verwandelt, gerinnen die kämpferischen Bewegungen der Spieler zum emblematischen Abbild der ideologischen Verknüpfung von Sport und Kommunismus. Bei der rumänischen Revolution, gut ein Jahr später, werden Soldaten und Geheimpolizei, wieder im Schnee, aufeinander schießen.

„Ich mag den Schnee, er hat etwas Poetisches“, sagt der Regisseur. „Das ist keine Poesie“, antwortet der Vater. „Was ist poetisch an einem Fußballfeld, das wie ein Acker aussieht?“ fügt er hinzu. Mit dem nüchternen, gegenwärtigen Blick von Adrian Porumboiu, der sich so wie auf dem Feld auch in seinen Kommentaren fest an die Regeln des Fußballs hält, schmelzen die allegorischen und historisierenden Bemühungen so schnell dahin wie der Schnee unter dem Geholze der Spieler. Das Spiel sei nicht wichtig gewesen, sagt der Vater, es habe überhaupt keine Relevanz gehabt. Zwar habe er das Spiel aufgrund der Drohung nicht gerne geleitet, doch habe er sich nie bestechen lassen und sich an die Regeln gehalten. Und das Spiel habe stattgefunden, weil die Wetterbedingungen es eben zugelassen hätten.

Lassen die ersten Fragen noch an eine politische Analyse der damaligen Verhältnisse denken, so werden weitere Vermutungen in diese Richtung noch vor dem Halbzeitpfiff gegenstandslos. Aus der Schlacht am Ende der Tage eines Diktators und seiner rivalisierenden Truppen wird durch die lakonischen Bemerkungen des Vaters wieder das, was es ist: ein Fußballspiel bei schlechtem Wetter. Das Spiel sei langweilig, sagt der Sohn an einer Stelle schließlich. Es passiere nichts, es sei wie in seinen Filmen.

Dass „The Second Game“ historisch-politische Bezüge andeutet und diese zwar nicht verwirft, aber die Möglichkeit einer filmischen Aufarbeitung unterläuft, ist eine clevere Stoßrichtung. Auch wenn das Dokumentarische immer wieder Hinweise auf politische Umstände gibt – zum Beispiel schwenken die Kameras bei einem Streit auf dem Platz schnell auf das Publikum, weil laut des Vaters Streit im Kommunismus keinen Platz haben darf – , bemüht sich der Film selbst nicht um eine Wurzelschau der rumänischen Geschichte. Die beiden Männer konzentrieren sich auf den Fußball, plaudern über gute und weniger gute Aktionen, diskutieren die Funktionen eines Schiedsrichters, verhandeln die korrekte Regelauslegung. Eine analytische Dimension erstreckt sich am ehesten noch entlang der Unterschiede zum heutigen Fußball.

Vielleicht ist es der Hinweis auf die verderbliche Ware Fußball, die man nur in der Gegenwart konsumieren kann. Vielleicht sind es die VHS-Bilder, deren schlechte Qualität sich mit dem Schneefall zu einem Körnerchaos vermengen. Vielleicht ist es auch das minutenlange Schweigen der Männer, das sich ganz besonders im letzten Drittel des Filmes ausbreitet. In jedem Fall erteilt „The Second Game“ eine radikale Absage an Spannung, thematische Fülle und Dramatisierung. Der Film ist eine bildgewordene Verneinung von Effizienz. Noch mehr als in seinen anderen Filmen, in denen die Handlung schon mal in selbstreflexive Diskussionen abdriftet, verweigert sich der Regisseur hier der Ökonomie des Erzählens und zelebriert die Langeweile. „Keiner würde sich das heute ansehen“, sagt der Vater.

Diese Ineffizienz passt auch zur Verweigerungshaltung des Experiments. Auch wenn sich die Fragen des Sohnes, warum sein Vater nicht öfter bei klaren Fouls gepfiffen oder eingegriffen habe, als klug verpackte Frage nach dem richtigen Verhalten im falschen System deuten lassen, so bleibt unterm Strich ein anderer Eindruck: Die Vergangenheit bleibt verschwommen. Die politischen Themen verlieren sich in der Unschärfe, so wie der Fußball in der verwaschenen Aufzeichnung. Geschichtsbewältigung ist eben kein leichtes Unterfangen, prallt an einsilbigen Antworten ab und mündet manchmal im Schweigen. Am Ende bleibt die hypnotische Fahrigkeit eines Fußballspiels und die Erkenntnis, dass sich Vergangenheit nicht per Fernbedienung anschalten und begutachten lässt.

The Zero Theorem

(GB / RO 2013, Regie: Terry Gilliam)

Wer braucht die Null?
von Lukas Schmutzer

Wer sich eine alte Shatner-Folge von „Star Trek' ansieht, bekommt schnell zu spüren, dass ein Blick in die Zukunft – ob beabsichtigt oder nicht – eigentlich mehr über die Zeit …

Wer sich eine alte Shatner-Folge von „Star Trek' ansieht, bekommt schnell zu spüren, dass ein Blick in die Zukunft – ob beabsichtigt oder nicht – eigentlich mehr über die Zeit erzählt, in der er getätigt wurde. Terry Gilliam hat dies in „Brazil” als Potential verstanden sowie genutzt und hat mit bis ins Groteske übersteigerten Elementen eine ausweglose Bürokratie gezeichnet, die nur im Wahnsinn hinter sich gelassen werden konnte. Die Bildsprache und grobe Konfiguration (ein hoffender Einzelner in einem übermächtigen System) von Gilliams neuestem Werk „The Zero Theorem” erinnert nun an die frühere Dystopie aus den 80ern, was schon zum Anlass genommen wurde, die beiden Filme übereinanderzulegen und festzustellen, dass der neuere bei weitem nicht an den älteren heranreicht. Ja, es mag stimmen, dass „The Zero Theorem“ nicht jenen Sog des Absurden entwickelt, der die besten Filme Gilliams auszeichnet; aber vielleicht ist es noch zu früh, den Film deshalb vorschnell abzuschreiben. Dass „The Zero Theorem” seinen Irrwitz nicht konsequent entfaltet, mag auch an den Zeichen der Zeit liegen, die er zu porträtieren versucht.

Blendet man das, was überzeichnet anmutet, aus, so ließe sich feststellen: Das ist ein Film über einen Büroangestellten, der in einem Altbau wohnt. Weil er nur dort einen Telefonanruf entgegennehmen kann, der sinnstiftend auf sein Leben wirken soll, welcher aber im unbestimmten Ausmaß auf sich warten lässt, erlaubt ihm das Management, sich ein Home Office einzurichten, damit er seinem Beruf nachgehen kann, ohne Angst haben zu müssen, den Anruf zu verpassen. Voraussetzung ist, dass er sich des titelgebenden Null-Satzes annimmt und an dessen Erschließung arbeitet. Solcherhand beleuchtet der Film den Alltag des zurückgezogenen Computerspezialisten zwischen Mikrowellengerichten und Internetpornographie. Was den Reiz des Films ausmacht, ist einerseits, wie er dieses Gerüst mit Elementen ausstattet, die es verfremden, verzerren und übersteigern, und andererseits, wie der Hauptdarsteller Christoph Waltz in ihm agiert.

Da gibt es zum Beispiel das Unternehmen, das „esoterische” Daten erwirtschaftet und Seelen verknüpft, mit einem chamäleonartigen Management, das getarnt vor Vorhängen oder hinter Kameras seine Allgegenwart vermittelt. Oder es gibt personifizierte Werbung, die die Menschen entlang von Häuserzeilen verfolgt. Es gibt traditionsreiche Innenräume wie die Kirche, in der ein Großteil der Handlung spielt (wie in „Blade Runner' ist diese Zukunft in vielerlei Hinsicht „alt”), und die ihrer ehemaligen Funktion entkleidet wurde. Es gibt die Arbeit des Informatikers, die einem Computerspiel gleicht, in welchem eine heranwachsende Jugend, die nicht mehr Jugend sein darf, erfolgsversprechender zu sein scheint. Es kommt ein Fünfzehnjähriger zu Wort, der meint, schon längst vom Leben gelangweilt zu sein, während der öffentliche Raum, in dem er diese Worte äußert, durch Verbotstafeln bestimmt wird. Das sind kraftvolle Bilder und Worte, die der Film um ein schwarzes Loch kreisen lässt, das mit den ersten Filmsekunden eingeführt wird. (Ganz zu schweigen von dem Cybersex-Overall, der an das Böse aus „Time Bandits' erinnert.)

Der eigentlich schmale Plot hängt an der Hoffnung des von Waltz gespielten Qohen Leth, sein inneres schwarzes Loch mit Bedeutung füllen zu können. Ihr fallen selbst potentielle Fluchtmöglichkeiten (anders als in „Brazil' gibt es sie) aus dem ausbeuterischen System zum Opfer. Auf diese Weise wird ein Chiasmus etabliert: Wo Qohen Leth in seinem Beruf gegen allen Widerstand die Null beweisen soll, will er selbst aus sich, quasi als einer Null, eine Eins machen, sich mit Bedeutung füllen. Dieses Bemühen konstituiert sich im Angesicht einer Kommunikation, deren glücksverheißende Formen sich ein ökonomisches Kalkül zunutze macht, während dieselben im Dialog zwischen einzelnen Menschen verunglücken. Dort wurde zum Beispiel bereits verlernt, sich mit dem richtigen Namen anzusprechen. In diesem Sinne zeigt die wahrscheinlich großartigste Szene des Films die steinerne Mimik von Waltz, die unter den Fluchtaufforderungen einer von ihm begehrten Frau zu zittern beginnt.

Eine weitere Kritik zu 'The Zero Theorem' gibt es hier.

Geron

(CA / F 2013, Regie: Bruce LaBruce)

Kein Sex, keine Erwartungen
von Jürgen Kiontke

Lange Jahre war Bruce LaBruce die führende Kinotrashgestalt weit und breit. Christoph Schlingensief war erst am Theater und dann tot, John Waters aus Kostengründen Standup-Comedian. LaBruce drehte politische Filme mit …

Lange Jahre war Bruce LaBruce die führende Kinotrashgestalt weit und breit. Christoph Schlingensief war erst am Theater und dann tot, John Waters aus Kostengründen Standup-Comedian.

LaBruce drehte politische Filme mit den Mitteln der Pornografie. Das ist ihm zum Teil gelungen, allerdings nahm die Politik niemand so richtig wahr. Kein Wunder: Den Schauwert liefert nun mal der Porno: Wer einen Nackten, der sich eine Kanone in den Hals steckt, zum Wichsen vor das Che-Guevara-Plakat stellt ('Raspberry Reich'), kann lange warten, bis sich jemand der inhaltlichen Reflexionen über die Rote-Armee-Fraktion annimmt.

Andererseits: Da hinterlässt er doch eine ziemliche Lücke. Der kanadische Künstler ist mit der Zeit altersmilde geworden und sein Werk romantisch. Gefühl, Dialog und tolle Bildideen rückten in den Mittelpunkt. Wie gestalten sich Liebe und Tod, was fängt man mit seiner Neigung zur Zuneigung an, wie sieht Leiden (gut) aus – das waren die Gestaltungsstrukturen, die das Drastische ablösten.

Konsequent auf diesem Kurs bleibend, bringt LaBruce nun 'Geron' ins Kino. Wie der Originaltitel 'Gerontophilia' andeutet, geht es darum, was die Erotik zum Alter zu sagen hat. Lake, der jugendliche Held, landet als Ferienjobber im Seniorenheim und entdeckt dort sein Faible für alte Männer. Mr. Peabody, 82, hat es ihm angetan. Als Arbeitnehmer in der Pflegebranche kommt Lake nicht am Medikamentenregime vorbei; ganz schnell wird die Sache mit der Liebe zu einer Reflexion über Menschenverwahranstalten.

Auf der anderen Seite: Lake hat in seinem Leben keinen älteren männlichen Ansprechpartner. Mutter ist solo und hängt an der Flasche. Die Freundin ist cool, jedoch mit ihrer Suche nach feministischen role models beschäftigt. Da ist es nur ein kleiner Schritt, bis die Liebenden entscheiden: Wir hauen ab vor der Gesellschaft – und wenn es das Leben kostet. Dieser Schritt in die Freiheit macht den Alten ganz schön attraktiv, man wird sich um ihn prügeln.

'Geron' ist ein ernster, sehr schöner Film, seine Helden sind einsame Individuen inmitten verdichteter Diskurse. Pornoszenen gibt es keine in diesem exorbitanten Werk. Das mag die Fans stören – aber ohnehin werden sie sich jemand Neues suchen müssen. LaBruce scheint entschieden zu haben: Das brauche ich nicht mehr – expliziten Sex wie Erwartungen. Sie könnten den Blick aufs Menschsein verstellen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 11/14

Die Wolken von Sils Maria

(F / CH / D 2014, Regie: Olivier Assayas)

Vielfältige Maskierungen
von Nicolai Bühnemann

Olivier Assayas macht ein „internationalistisches“ Kino. Nicht nur, weil er, wie so viele ambitioniertere Filmemacher der Gegenwart, auf internationale Geldgeber angewiesen ist, sondern auch weil seine Figuren immer wieder im …

Olivier Assayas macht ein „internationalistisches“ Kino. Nicht nur, weil er, wie so viele ambitioniertere Filmemacher der Gegenwart, auf internationale Geldgeber angewiesen ist, sondern auch weil seine Figuren immer wieder im höchsten Maße polyglott und mobil sind. „Carlos“, in dem alleine die Titelfigur fünf Sprachen spricht und sich zwischen gefühlten hundert Schauplätzen hin und her bewegt, bildet nur einen Höhepunkt dieser Tendenz. So sprach schon die Protagonistin in „Clean“ (2004), eine abstinente Süchtige, in Kanada, Paris und London Kantonesisch, Französisch und Englisch. Es scheint, dass es in der Welt des Olivier Assayas, in der die Herkunft eine immer geringere Rolle spielt, eine – gar nicht zwangsläufig negativ gedachte – „Entwurzelung“ um sich greift, umso bedeutender ist es, zu einer klaren Position in der eigenen Biographie zu gelangen. Pathetisch könnte man sagen, dass Assayas‘ ProtagonistInnen angesichts des Verlustes der „Heimat“ keine andere Wahl haben, als sich selbst zu finden.

Nach seinen Ausflügen durch die Zeit- und Popgeschichte mit der Playboy- und Terroristen-Saga 'Carlos' und dem Post-68-Coming-of-Age-Film Die wilde Zeit' kehrt Assayas mit 'Die Wolken von Sils Maria' in die Gegenwart zurück. Die Vergangenheit aber bleibt weiter sein Thema oder, so sagt er es selbst, „unsere Beziehung zur Vergangenheit und zu dem, was sie aus uns macht.“ Damit knüpft Assayas zugleich an „Summer Hours“ an, sein Meisterwerk von 2008, in dem ebenfalls Juliette Binoche mitspielte. Dort gab es entlang einer Erbschaft eine Bestandsaufnahme des Lebens dreier Geschwister, die Konflikte zu bewältigen hatten, die sich aus variierenden Lebensentwürfen im Allgemeinen und aus einer unterschiedlichen Verbundenheit zu Herkunft und Vergangenheit im Besonderen ergaben.

Wie in „Summer Hours“ ist es auch in „Sils Maria“ ein Todesfall, der der Handlung eine erste entscheidende Wendung gibt. Die erfolgreiche Schauspielerin Maria Enders (Binoche) ist mit ihrer Assistentin Valentine (Kristen Stewart) im Zug unterwegs zu einer Preisverleihung zu Ehren ihres Entdeckers und Mentors Wilhelm Melchior in den Schweizer Alpen, als sie von dessen Tod erfährt. Auf der Verleihung trifft Maria nicht nur ihren verhassten Kollegen Hendryk (Hanns Zischler), sondern bekommt auch ein ebenso vielversprechendes wie problematisches Angebot für eine Rolle. Es geht um Melchiors Stück 'Maloja Snake', in dem eine ältere Frau, Helena, eine Obsession für eine jüngere, Sigrid, entwickelt, die sie schließlich in den Suizid treibt. In der Rolle der Sigrid hatte Maria einst ihren Durchbruch. Nun, etliche Jahre später, bietet ein junger Regisseur ihr an, in einer neuen Inszenierung Helena zu spielen. Ihren Widerpart soll Jo-Ann Ellis (Chloe Grace Moretz) geben, ein Hollywood-Starlet, der ein Ruf aus Skandalen, Affären, Gewalttätigkeit und Alkohol am Steuer vorauseilt.

Das Setting in der Kulturindustrie gibt Raum für einige scharfzüngige Seitenhiebe auf den Filmbetrieb der Gegenwart. So geht es einmal um eine Tolstoi-Verfilmung mit deutschen Produzenten – von Binoche mit einem augenrollenden „Who cares?!“ kommentiert – und auch die Schwemme an Superheldenfilmen aus Hollywood bekommt ihr ironisches Fett weg. Außerdem unternimmt Assayas eine kleine Reise durch die Filmgeschichte. Von Arnold Fancks historischem Bergfilm 'Das Wolkenphänomen von Maloja' (1924), über die sich durch einen Berg-Pass schlängelnden Wolken, die dem Stück „Maloja Snake“ den Titel geben, bis hin zu einem fiktiven Science Fiction-Blockbuster mit Jo-Ann Ellis, den sich Maria und Valentine gemeinsam im Kino ansehen – selbstverständlich mit 3D-Brille auf der Nase.

Das Spiel um „reale“ Personen und ihre Medien-Persona will in „Sils Maria“ auf wesentlich mehr hinaus als auf eine einfache Dichotomie von Schein und Sein. Vielmehr sind die medialen Abbilder der Menschen Teil eines Spiels vielfältiger Maskierungen. So macht Maria in ihrer Begegnung mit Hendryk vordergründig gute Miene zum bösen Spiel, während ihr Verhältnis zu ihm in Wirklichkeit doch wesentlich ambivalenter ist, als sie selbst zugeben möchte. Auch das Bad Girl-Image, das die Google-Suche zu Jo-Ann Ellis liefert, passt so gar nicht zu der charmanten, gebildeten und ehrerbietigen jungen Frau, die Maria und Valentine später kennen lernen werden, die dann wiederum gegen Ende, bei den Proben für das Stück, ein ganz anderes Gesicht offenbart.

In seinen Medien-Diskursen scheint „Sils Maria“ auch Anschluss zu finden an zwei andere Filme der laufenden Saison: David Finchers „Gone Girl“ und David Cronenbergs Maps to the Stars'. Besonders augenscheinlich sind die Parallelen zu Cronenbergs satirischer Abrechnung mit dem Zynismus und dem Menschenverschleiß der Traumfabrik. Auch dort gibt es eine alternde Schauspielerin (gespielt von Julianne Moore), die ein Rollenangebot bekommt, das tief in ihrer Biografie verwurzelte Konsequenzen hat. Sie sieht ihre letzte Rettung – nicht nur, was ihre Karriere anbelangt – darin, die Rolle zu spielen, die ihrer Mutter einst jungen Ruhm bescherte. Wo das aber bei Cronenberg nur Teil des Wiederholungszwangs ist, der das Handeln sämtlicher Personen des Films bestimmt, geht es für Maria darum, sich einzugestehen, dass sie nicht mehr die junge Frau von einst ist. Die Chance einer neuen Perspektive auf die Dinge, statt der ewigen Reproduktion des Dysfunktionalen.

Durch Zwischentitel wird der Film in zwei Teile und einen Epilog unterteilt. Im Mittelpunkt des ersten Teils steht die Preisverleihung mit ihren öffentlichen Auftritten im Blitzlichtgewitter. Im zweiten Teil zieht sich der Film zurück zu seinen beiden Protagonistinnen, die im gemeinsamen Sprechen und Lachen eine sehr spezifische Form der Intimität entwickeln. Die unentwirrbare Durchdringung von Beruflichem und Privaten findet ihre Entsprechung in den verzweigten Pfaden der Alpenlandschaft, ebenso wie in den Gesprächen, in denen der eigentliche Text des Stückes, das sie gemeinsam proben, nahtlos in dessen Exegese und persönliche Gespräche übergeht.

„Cruelty is cool, suffering sucks,“ sagt Valentine einmal im Bezug auf die Identifikationsangebote, die das Stück dem Zuschauer mit seinen beiden Frauenfiguren anbietet. Doch Assayas‘ Film lässt sich auf derart zynische Eindeutigkeiten nicht ein. Er bewertet nicht und ergreift keine Partei. In der Beziehung zwischen den beiden Frauen wird es, wie in der von Helena zu Sigrid, um Abhängigkeit, Verlustangst und Trennung gegangen sein. Aber in die vorgefertigten Formen passt sie sich dennoch nie ganz ein. Vielmehr verfestigt sie sich, nimmt Gestalt an, um sich wieder zu verflüchtigen, auseinander zu stieben. Wie die Wolkenschlange im Maloja-Pass – oder einfach wie es zwischenmenschliche Beziehungen nun mal oft zu tun pflegen.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Die Wolken von Sils Maria'.

Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach

(SE 2014, Regie: Roy Andersson)

Existentialismus, gut abgehangen
von Janis El-Bira

Ein beengter Raum im Museum, unwohnlich blasses Blau-Grau-Braun bestimmt die Farbpalette. Hohe Schaukästen mit präparierten Vogelarten unterteilen das Bild, während aus dem Nebenzimmer der Kopf eines Saurierskeletts in den Türrahmen …

Ein beengter Raum im Museum, unwohnlich blasses Blau-Grau-Braun bestimmt die Farbpalette. Hohe Schaukästen mit präparierten Vogelarten unterteilen das Bild, während aus dem Nebenzimmer der Kopf eines Saurierskeletts in den Türrahmen ragt. Zwei Besucher, Mann und Frau, betrachten die verglasten Naturinszenierungen und erscheinen dabei mit ihren aschfahlen Gesichtern kaum lebendiger als die ausgestopften Knopfaugenträger. Fast biegt sich die Decke unter der Tonnenlast der Existenz und wie meistens ist das auch hier ziemlich komisch.

Roy Andersson ist ein langsamer Filmemacher. „Eine Taube sitzt auf einem Zweig…“ ist lediglich der dritte Spielfilm des 71-jährigen Schweden in den vergangenen vierzehn Jahren und hat ihm nun diesen Sommer in Venedig den Goldenen Löwen beschert. Der ausgesprochen sparsame Output geht auch bei Andersson mit einer bedächtigen Schärfung, man könnte fast sagen: Verhärtung der filmischen Handschrift einher. Insofern war kaum zu erwarten gewesen, dass er von seinem sehr markanten, mit „Songs from the Second Floor“ (2000) und „Das jüngste Gewitter“ (2007) etablierten Stil noch einmal abweichen würde. Es kam auch nicht so. Der neue Film entfaltete sich wieder als ein Kaleidoskop der mit fixierter Kamera streng kadrierten Vignetten. Wie unerwartet ins Leben gerufene Museumspräparate schleppen sich Anderssons zahlreiche Figuren durch diese bitterkomischen Dioramen über die Vergeblichkeit des Seins. Ihr plötzliches Auftauchen in anderen, oft ganz entlegenen Szenerien verknüpft zart, was kein übergeordneter Plot zusammenhält. Vor allem zwei weitgehend erfolglos umherreisende Scherzartikelhändler, die unermüdlich die falschen Vampirzähne in die hängenden Mundwinkel schieben, markieren eine Art fahrendes Zentrum des Films. Einmal werden sie in einer Kneipe unvermittelt vom schwedischen König Karl XII. überrascht, der vor dem Zusammentreffen mit den russischen Truppen noch ein Glas Wasser trinken möchte, während seine Armee vor den Fenstern der Wirtschaft minutenlang vorbeizieht.

Es sind vor allem die Rückwände von Anderssons Schaukästen, die derlei raumzeitliche Offenheit behaupten wollen. Ähnlich der bemalten Hintergründe der Dioramen lassen sie die Bildausschnitte tief erscheinen und stellen das skurrile Geschehen im Vordergrund in Zusammenhänge, die über das Hier und Jetzt hinausweisen. Staunenswert schön ist das, wenn sich dort Landschaften brueghelscher Dimensionen auftun oder ein Straßenzug dem Anschein nach in die Bildwelt der Neuen Sachlichkeit einsteigen lässt. Der von Andersson eingeräumte Einfluss Otto Dix’ setzt sich indes auf den vorderen Bildebenen fort, wo die langgezogenen Kreidegesichter auf Körpern sitzen, die sich unter lähmend festgezurrter Kleidung wölben. Immer wieder sprechen sie denselben Satz in meist altmodische Telefone: „Es freut mich zu hören, dass es dir gut geht.“ Dabei fallen sie in Wirklichkeit doch – wie in einer Szene zu Beginn – schon beim teuflisch anstrengenden Öffnen einer Weinflasche tot um.

Oft genug geht diese Verstrickung finsterer Beckett’scher Absurdität und liebenswert-skandinavischer Skurrilität auf. Man lacht und ist ein bisschen traurig. Häufig aber steht dem Film der Morast der eigenen alteuropäischen Kunstbeflissenheit auch bis zu den Knien. Die Einsicht in die generelle Aussichtslosigkeit allen Tuns führt auch hier zur Zuflucht im Schönen, Sortierten und Kunstfertigen. Anderssons Filmen ist eines, das keine Sorgen mehr kennt – außer dem Weltuntergang. Das bringt unweigerlich einen gewissen Verwesungsgeruch mit sich, weil alles hier schon einmal gestorben, schon so tot und gut abgehangen erscheint. Gegen Ende gibt es ein paar Szenen von großer, aber sublimierter Grausamkeit: Einem festgeschnallten Affen werden in einem Versuchslabor Stromstöße durchs offenliegende Hirn gejagt. Er schreit dabei sehr effektvoll. Kolonialherren treiben Sklaven in eine gigantische Stahltrommel, die sich unter deren panischen Fluchtversuchen zu drehen beginnt, als man ein Feuer an ihrem Boden entzündet. Sie spielt jetzt Musik. Der Horror wird dort erträglich (weil lächerlich), wo man ihn – ins künstlerisch Groteske verzerrt – noch überbietet. Die gleichmütige Ruhe, die sich nach diesen Szenen wieder einstellt, ist eigentlich eine gleichgültige Grabesstille. Das mag man vielleicht bewundern; es zu mögen fällt aber schwer.

Dragan Wende – West Berlin

(D 2013, Regie: Dragan von Petrovic, Lena Müller )

The former king of West-Berlin
von Ricardo Brunn

Früher war alles eindeutiger. Den Amis gehörte die linke Arschbacke, den Russen die rechte. West-Berlin – das Arschloch dazwischen – war das Reich des Kleinkriminellen und Möchtegern-Playboys Dragan Wende. Als …

Früher war alles eindeutiger. Den Amis gehörte die linke Arschbacke, den Russen die rechte. West-Berlin – das Arschloch dazwischen – war das Reich des Kleinkriminellen und Möchtegern-Playboys Dragan Wende. Als Sohn eines jugoslawischen Gastarbeiters verdiente er hier in den 1970er und 80er Jahre als Barmann und Türsteher in so angesagten Discos wie dem „New Eden“ sein Geld. Nebenbei räumte der kurzgewachsene Ganove im übergroßen Schulterpolsterjacket mit seinen Kollegen Dule und Zlatko entspannt das ein oder andere Geschäft leer, denn der jugoslawische Pass ermöglichte ihnen die problemlose Ein- und Ausreise mit dem Diebesgut in den sozialistischen Teil der Stadt und damit zugleich die Flucht vor den Verfolgern. Außerdem war man mit der starken D-Mark im Osten ein König und konnte feiern wie sonst nirgendwo. Dann kam die Wende. Und mit dem gleichzeitig einsetzenden Ende der Discotheken-Ära am Ku’damm begann auch Dragans zwielichtiger Stern zu sinken. Heute wünscht sich der bankrotte Bordell-Türsteher nichts sehnlicher als den Wiederaufbau der Berliner Mauer – am besten zehn Meter höher.

Dragans Familie in Jugoslawien weiß kaum etwas über dessen Werdegang nach dem Fall der Mauer, weshalb sich Neffe Vuk mit der Kamera auf Spurensuche begibt, bei Dragan einzieht, ihn durch sein undurchsichtiges Leben begleitet und bald selbst als Türsteher eingespannt wird, denn so etwas bleibt am besten in der Familie. Daneben gibt es unzählige, teils vollkommen absurde Anekdoten aus Dragans Leben zu sehen und zu hören, dass manchmal Zweifel aufkommen, ob das alles tatsächlich immer der Wahrheit entspricht. So hat Dragans Freund Dule (der schon mehrfach Millionär gewesen sein will, mit seiner Tochter aber in einer heruntergekommenen Wohnung lebt) angeblich mehr als 259 Millionen Britische Pfund auf einem Konto gepachtet, an das er nicht heran kommt, weil er sich nicht an die Kontonummer erinnern kann. Auf diese Weise führen die schrägen Figuren den Zuschauer ein ums andere Mal hinters Licht und lächeln dabei spitzbübisch, als wenn nichts gewesen wäre. So verstärkt sich im Laufe des Filmes immer mehr die Frage nach der Echtheit des Gezeigten und das macht ohne Zweifel den großen Reiz dieses Filmes aus.

Unter dem Gewicht der Anekdoten, der Fülle an Figuren und der endlosen Aneinanderreihung historischen Aufnahmen zur Teilung Deutschlands zerfällt der Film allerdings schnell in seine Einzelteile. Denn aus der gewählten Aneinanderreihung des Materials will sich keine stringente Geschichte entwickeln. Mit seiner behelfsmäßigen Aufteilung in Kapitel (die vom Versuch zeugt, Herr der Bewegtbildmassen zu werden) stapelt der Film Thema über Thema und Figur über Figur, sodass am Ende ein knallbuntes Mosaik entsteht, aus dem sich beim Zurücktreten kein größeres Bild ergeben will. Knapp zehn dramaturgische Berater im Abspann dieses Dokumentarfilmes lassen erahnen, warum Vieles im Chaos des Schnitts, dem jedes Gespür für die Protagonisten fehlt und der trotz einer konstanten Bilderflut eine gewisse Trägheit entwickelt, unterzugehen droht.

Zugunsten kurioser Situationen (von denen sich die Macher offensichtlich ungern trennen wollten) verweigert der Film ein ums andere Mal einen unverstellten Blick auf Dragans augenscheinliches Alkoholproblem und damit auf ein zentrales Thema seines Helden. Auch Vuks Schicksal bleibt inkonsequent erzählt. Er verkommt als Erzähler zum Stichwortgeber für eine grob gehäkelte Geschichte oder stachelt als eine Art Enforcer Dragan zu immer neuen Wutausbrüchen an, die den Zuschauer vor allem zum Lachen bringen sollen. Andere Nebenfiguren wie Dragans Nachbarin Alexandra wollen sich erst überhaupt nicht in das Kaleidoskop einfügen lassen.

Das ist sehr schade, denn in vielen Szenen (Dragan singend auf dem Balkon) offenbart das Material die anrührende Tragik eines gescheiterten Lebens im Angesicht großer politischer Veränderungen. Und hinter Dragans misanthropischem Gebaren verbirgt sich ein unglaublich charismatischer und verletzlicher Protagonist; ein etwas anderer Wendeverlierer, dessen Geschichte es wert gewesen wäre, manchmal mit etwas mehr Sensibilität erzählt zu werden.

Einer nach dem anderen

(NOR 2014, Regie: Hans Petter Moland)

Schneepflug Driver, eine Wiedervorlage
von Ulrich Kriest

Norwegen kann sehr kalt sein. Wenn man zum Beispiel Selbstmord machen will und sich das Jagdgewehr bereits in den Mund geschoben hat – und dann von etwas überrascht wird, was …

Norwegen kann sehr kalt sein. Wenn man zum Beispiel Selbstmord machen will und sich das Jagdgewehr bereits in den Mund geschoben hat – und dann von etwas überrascht wird, was den Dingen ein anderes Ansehen gibt, dann heißt es vorsichtig sein beim Entfernen des Gewehrlaufes aus dem Mund. Es könnte nämlich sein, dass die Lippe am Metall hängen bleibt. Wegen der Kälte! Hahaha.

Eine Tautologie? Es ist nicht die letzte dieses etwas ranzig schmeckenden Zweit- und Drittaufgußes von Coen- und Tarantino-Mischungen. Doch wir wollen nicht vorgreifen! Gerade ist der stille Nils, Schneepflugbeauftragter seines norwegischen Provinzdorfes, für seine Zuverlässigkeit zum „Bürger des Jahres“ gewählt worden: der Schwede, so wird gesagt, sei geradezu ein Muster an Integration. Da erreicht ihn aus Oslo die Nachricht, dass sein Sohn an einer Überdosis Drogen gestorben ist. Gefunden wurde der Leichnam auf einem eiskalten Bahnsteig. Norwegen kann sehr kalt sein.

Nils mag das mit den Drogen nicht glauben – und der Zuschauer, der Zeuge des brutalen Mordes durch die Drogenmafia geworden ist, schätzt Nils, dessen Welt ab sofort aus den Fugen ist, für seinen untrüglichen Vaterinstinkt. Selbstmord scheint nur kurz eine Option, dann bekommt er unverhofft einen Namen, der seinem Rachefeldzug ein Ziel gibt. Aus dem Integrierten wird in der Welt der Outcasts ein Außenseiter, der sich nicht an die ungeschriebenen Gesetze und Rituale der Subkultur hält, weil er sie nicht kennt. Nils‘ Wunsch nach Rache für seinen Sohn bringt Unordnung in die wohl geordnete Welt des kriminellen Milieus, das um eine intakte Betriebskultur bemüht ist. „Wenn norwegische Kinder verschwinden, gibt es immer lästige Eltern, die nach ihnen suchen“, weiß das Milieu. Aber wie lästig ist erst ein Vater, der sich in »Dirty Harry« verwandelt und stoisch seinen Rachefeldzug exekutiert, obwohl er keine Ahnung davon hat, mit wem er sich anlegt? Es darf gelacht werden!

Hans Petter Moland („Ein Mann von Welt“) setzt auf die bewährte Mischung aus lakonischer Gewaltdarstellung und kauzigen Charakteren, die das skandinavische Kino seit der Jahrtausendwende, seit Filmen wie „Flickering Lights“ oder „In China essen sie Hunde“ pflegt und sich dabei mehr oder weniger offen auf das Kino der Coen-Brüder und Tarantinos bezieht. Frage: Braucht das noch irgendjemand?

Während Nils sich also die Hierarchie der Drogenmafia entlang mordet, werden uns Gangster vorgestellt, denen bereits die Arbeit, Gangster darzustellen, Mühe bereitet und die deshalb allerlei Macken ausgebildet haben. Wie zum Beispiel der bezopfte Gangsterboss „Der Graf“, der vegan lebt und täglich vergeblich versucht, seine Gang von diesem Ernährungsstil zu überzeugen. Der Graf versorgt seine Jungs mit frisch gepresstem Karottensaft und verabscheut künstlich gezuckerte Frühstücksflocken. Das heißt aber nicht, dass er seine Ehefrau, die sich von ihm getrennt hat, nicht verprügelt oder die konkurrierenden Serben stets als „Albaner“ bezeichnet. Hahaha. Die Serben, mit denen sich die Bande des Grafen den Drogenmarkt ordentlich aufgeteilt hat, kommen ins Spiel, weil niemand damit rechnet, dass hier ein Nicht-Gangster seine Blutspur zieht. Man geht von einer Kriegserklärung unter Gangstern aus und statuiert schnell ein Exempel, das allerdings so unglücklich gewählt ist, dass der Streit nicht mehr durch eine freundliche Geste geschlichtet werden, sondern mit alttestamentlicher Strenge exekutiert werden wird.

Der Film leistet sich das Vergnügen, seinen alternativen Titel „In Order Of Disappearence“ durch eine Folge von Inserts, die jedem Toten eine ordentliche Todesanzeige mit bürgerlichem Namen und Gangsternamen („Der Chinese“, „Wingman“) verpasst, zu exekutieren. In der Reihenfolge ihres Abtretens. Kurz vor Schluss wendet sich die Gewalt kurz gegen Nils, aber beim Grande Finale ist er nur eine Nebenfigur. Aber da hat der Zuschauer längst das Interesse an der öden Routine verloren und grübelt stattdessen über eine ungleich interessantere, weil wirklich rätselhafte Frage nach: Welches dunkle Geheimnis trägt eigentlich Bruno Ganz mit sich herum, dass er in den letzten Jahren durch die Auswahl seiner Rollen zu einer Karikatur seiner Selbst geworden ist? Als serbischer Gangsterpatriarch ist er jedenfalls fast so schlecht wie in „Der Untergang“ oder „Der Vorleser“ oder „Nachtzug nach Lissabon“. Spielschulden? Immobiliengeschäfte? Oder gar Schlimmeres? Können wir helfen?

Kill the Boss 2

(USA 2014, Regie: Sean Anders)

Verfickt prüde
von Carsten Moll

Dem Arbeitgeber das Leben nehmen, diese Fantasie schleppt der deutsche Verleihtitel in Anlehnung an den ersten „Kill the Boss“ (im Original: „Horrible Bosses“, 2011) zwar noch mit sich herum, aber …

Dem Arbeitgeber das Leben nehmen, diese Fantasie schleppt der deutsche Verleihtitel in Anlehnung an den ersten „Kill the Boss“ (im Original: „Horrible Bosses“, 2011) zwar noch mit sich herum, aber die Prämisse dieses Sequels ist eine andere: Nachdem das Heldentrio, bestehend aus den weißen, heterosexuellen Mittelstandsmännern Kurt, Nick und Dale, sich seiner schrecklichen Chefs im vorhergehenden Teil auf turbulente Weise entledigt hat, wollen die Mittvierziger nun ihre eigene Firma gründen. Und selbstverständlich will den harmlos vertrottelten Protagonisten trotz anfänglicher Erfolge wieder einmal nichts so recht gelingen. Als besonders folgenreich und fahrlässig erweist sich dabei ein Deal mit dem Geschäftsmann Burt Hanson (Christoph Waltz), der sich das aufstrebende Unternehmen der naiven Helden mit einer hinterhältigen List unter den Nagel reißen will. Den drohenden Bankrott vor Augen sehen die drei Freunde keinen anderen Ausweg, als sich erneut an einem Kapitalverbrechen zu versuchen: Sie planen, Rex Hanson (Chris Pine), den aalglatten Sohn ihres Widersachers, zu entführen, um den Vater zu erpressen.

Entgegen der Steigerungslogik, die eine Fortsetzung üblicherweise mit sich bringt, scheint „Kill the Boss 2“ die Grundidee des Vorgängerfilms geradezu entschärfen zu wollen. Nicht bloß die Verschiebung vom Mord zum Kidnapping nimmt der Komödie einiges an Drastik, auch das blinde Vertrauen der Macher auf die bekannte und erstaunlich erfolgreiche Formel des ersten Teils dürfte selbst bei Fans der Reihe für nicht mehr als ein gelassenes Achselzucken sorgen. Neben den drei Hauptdarstellern Jason Bateman, Charlie Day und Jason Sudeikis sind außerdem Kevin Spacey, Jennifer Aniston und Jamie Foxx wieder mit von der Partie und dürfen sich in eintönigen Schimpfwort-Tiraden ergehen, die längst auch in Hollywood-Produktionen dieser Größe zum guten Ton gehören.

So böse, abgründig und subversiv, wie „Kill the Boss 2“ verkauft wird, ist der Film also bei weitem nicht. Es erinnert eher an einen großmäuligen Teenager, der mit sexuellen Eskapaden protzt, um seine Jungfräulichkeit zu vertuschen, wenn Regisseur Sean Anders („Der Chaos-Dad“, 2012) sich daran ergötzt, im Dialog eine Anzüglichkeit nach der anderen (oder vielmehr ein und dieselbe Anzüglichkeit in einer Endlosschleife) zu präsentieren, um seine schematische, zahme Komödie interessanter zu machen. Die lustlose, einer holprigen Sketchshow-Dramaturgie folgende Inszenierung generiert dabei bloß sterile, cleane Bilder, die allen verbalen Unanständigkeiten zum Trotz die tiefsitzende Prüderie dieses Films bezeugen: Geduscht wird hier mit Klamotten und nackte Haut ist anscheinend nur vermittelt über einem kleinen, unscharfen Überwachungsmonitor zu ertragen.

Mit endlosem Geschwätz geizt der Film hingegen nicht, und er lässt seine Protagonisten andauernd wild und hysterisch durcheinander quasseln. Um die wenigen Pointen, die dann doch in den Dialogen stecken, muss man sich in diesem Schwall nicht groß kümmern, und zu sagen hat „Kill the Boss 2“ trotz seiner Redseligkeit überhaupt nichts. Die Lesart als antikapitalistischer Rachefilm wird noch mehr als beim Vorgänger von der Konventionalität sowie der kommerziellen Anschlussfähigkeit des Dargestellten durchkreuzt und auch als Satire auf die Befindlichkeiten einer privilegierten Mittelschicht mag das Ganze nicht funktionieren. Dazu fehlt es an einer Haltung, die dem Spott eine Richtung geben und somit eine Kritik fundieren würde. In Anders‘ Komödie soll aber einfach über alles gleichermaßen gelacht werden, über die verplanten Hauptdarsteller genau so wie über gedemütigte asiatische Hausmädchen, vergewaltigte Koma-Patienten und natürlich alles, was schwul wirkt.

So zapft „Kill the Boss 2“ seinen politisch inkorrekten Humor lediglich aus den Stammtischecken dieser Welt, um Rassismus, Homophobie und Misogynie auch für ein vermeintlich liberales und aufgeklärtes Publikum verwertbar zu machen – mit einem dicken Augenzwinkern versteht sich. In der Figur der von Aniston verkörperten Sexsüchtigen wird das Problem dieses Ansatzes vielleicht am deutlichsten: Die Männerfantasie von der dauergeilen Nymphomanin wird zwar auf absurde (man könnte auch sagen: kinotaugliche) Maße aufgeblasen, dabei allerdings nie zum Platzen gebracht. Es bleibt bei einer Männerfantasie, deren düstere Implikationen sich der Film mit seinem unbeschwerten Humor und einer zur Strategie verkommenen Ironie mühelos vom konfektionierten Leib halten kann.

Wir waren Könige

(D 2014, Regie: Philipp Leinemann)

„Na, wegen dir sitzen wir doch in dieser Scheiße!“
von Ulrich Kriest

Das haben wir nun davon! War ja klar, dass das früher oder später passieren würde. Da lobpreist man seit 20 Jahren (oder noch länger) Filme von Dominik Graf wie „Die …

Das haben wir nun davon! War ja klar, dass das früher oder später passieren würde. Da lobpreist man seit 20 Jahren (oder noch länger) Filme von Dominik Graf wie „Die Sieger“, „Der Skorpion“, „Im Angesicht des Verbrechens“ oder auch „Das unsichtbare Mädchen“ ob ihrer Genre-Qualitäten, ihrer handwerklichen Qualität, ihres Formbewusstseins und des Gespürs für leicht sentimental unterfütterte Männer-Gruppen-Studien und wird nicht müde zu beschreiben, was Graf im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen scheinbar instinktiv richtig macht. Ach, würden doch zwei, drei, hunderte Grafs blühen!

Vielleicht hätte auch mal jemand schreiben sollen: „Wer einen Dominik Graf-Film nachmacht oder fälscht oder einen gefälschten Graf-Film in Umlauf bringt, wird mit Achselzucken und Spott bedacht, dass es nur so kracht!“ Philipp Leinemann heißt der Zauberlehrling und ihm gelang es immerhin erfolgreich, so zu tun, als ob. Dafür – für das als-ob – gibt es Gründe: Weil Leinemann seinen Film mit einschlägigen und durchaus profilierten Darstellern wie Misel Maticevic, Ronald Zehrfeld, Bernhard Schütz, Thomas Thieme oder Frederick Lau besetzt hat, mutet „Wir sind Könige“ wie ein Verschnitt aus drei Dominik Graf-Filmen an. Nur, dass sich die Schauspieler hier im allgemeinen Gebrüll, Gefluche, Gesaufe und Geflenne ungebremst um Kopf und Kragen spielen dürfen.

Wer sagt denn, dass Männer ihre Gefühle nicht zeigen können? In Philipp Leinemanns Polizeifilm wird von Männern unterschiedlichen Alters derart abendfüllend gebrüllt, geflucht, geweint, gehadert, gestritten, geschossen, geprügelt, geblutet, gejagt und gefeiert, dass sich die Balken biegen – und der Zuschauer mitunter die Übersicht zu verlieren droht, zumal die Wurzeln der hier verhandelten Konflikte sämtlich außerhalb der Filmhandlung liegen.

Gleich zu Beginn geht ein SEK-Einsatz in einem Problemviertel furchtbar schief, bei dem die beteiligten Beamten nicht so recht wissen, warum er überhaupt stattfindet und wem er gilt. Weil er aber schiefgeht, gibt es sogleich Ärger, denn die SEK-Einheit steht als selbstermächtigte Elite ohnehin unter Beobachtung. Weil sich »die da oben« nicht für die kleinen Polizisten interessieren, muss man sich eben selbst beizeiten um die Alters- und Hinterbliebenenversorgung kümmern.

Während die juvenil auftretenden Mitglieder des SEK ohne Hobbies und Privatleben noch lautstark gemeinsam ihre Wunden lecken, nimmt der Film zwei konkurrierende Jugend-Gangs in den Blick und dazu noch den 13jährigen Nasim, der mit allen Mitteln versucht, »dabei« zu sein. Egal wo, egal warum. Mal will er sich vom prolligen Jacek ein Messer besorgen lassen, um sich verteidigen zu können. Mal klaut er im Supermarkt seines Vaters Geld, um dem freundlich-nachdenklichen Thorsten ein viel zu teures Geburtstagsgeschenk machen zu können, mit dem er dann gleich dessen Kumpels düpiert, die für ein billigeres Gerät zusammengelegt haben. Thorsten, der auf Bewährung ist und als einziger Jugendlicher grammatisch fehlerfreies Hochdeutsch redet, hat zudem eine Freundin und will die Szene hinter sich lassen. Doch in dieser Stadt ohne Namen sitzen die Fäuste locker.

Mal prügeln sich die Jugendlichen, mal prügeln die SEK-Beamten mit, mal werden normale Streifenpolizisten auf der Straße in Massenschlägereien verwickelt und müssen von den „SEKies“ rausgehauen werden, manchmal geraten auch SEKies und Streifenpolizisten aneinander. Ohnehin stehen die SEKies ständig unter Strom: wenn sie nach einem flüchtigen Täter suchen, rücken sie mit Scharfschützen an und brechen Türen auf, um mit möglichen Zeugen ein wenig zu plaudern. Wobei dann wenig mehr als ein paar coole Sprüche rausgepresst werden. Als dann eines Nachts zwei Kollegen erschossen werden und eine Dienstpistole verschwindet, steht Selbstjustiz auf der Tagesordnung. Hier kommt nun wieder Nasim ins Spiel, der scheinbar naiv, aber mit außerordentlichem Geschick alle Seiten gegeneinander ausspielt, Spuren legt, Hinweise gibt, sich als Köder andient.

Da „Wir sind Könige“ als Genrefilm konzipiert ist, sollte man ihm seine Klischees, holzschnittartigen Verdichtungen und psychologischen Leerstellen gar nicht erst vorhalten. Dumm ist dabei nur, dass der Filmemacher glaubt, dass sein Film vom Testosteron des plakativ Männerbündischen derart profitiert, dass allein schon Laustärke und ungebrochenes Imponiergehabe aus einem konventionellen und eher schwachen Fernsehfilm ein kinotaugliches Produkt macht.

Doch ein äußerst schwaches Drehbuch behauptet viele Wendungen der sehr konstruierten und trotzdem absehbaren Geschichte nur: erst wird ein Jugendlicher für tot gehalten, dann macht sich ein Kollege mal schlau und ist sofort auf der richtigen Spur. Erst fordern die SEKies unbedingten Korpsgeist ein, dann liest einer von ihnen mal kurz die Akten zum Fall (Büroarbeit!) und entdeckt sofort eine Verschwörung, die leider niemanden außer ihn selbst zu interessieren scheint. Weshalb er sich dann binnen weniger Minuten zum Softie wandelt, dem »das alles« gegen den Strich geht und der Konsequenzen zieht.
Zehrfeld, wie er leibt und lebt.

Die Schwäche des Films ist nämlich nicht sein Imponiergehabe, sondern sein fehlendes Gespür für Zwischentöne. Am Ende gönnt sich der Film die Pointe eines denkwürdigen Erinnerungsbildes (remember: „The Shining“), in dem sich Täter und Opfer nach dem Saufgelage in den Armen liegen. Feiern oder morden – dem Adrenalin ist‘s letztlich einerlei.

Dumm und Dümmehr

(USA 2014, Regie: Bobby Farrelly, Peter Farrelly)

Do it again! (and again)
von Ulrich Kriest

Die Regie-Brüder Peter und Bob Farrelly, Könige der mittlerweile etwas in die Jahre gekommenen „Gross-out-Comedy', haben sich im Laufe ihrer Karriere immer mal wieder vor Vorbildern aus der Filmgeschichte verbeugt, …

Die Regie-Brüder Peter und Bob Farrelly, Könige der mittlerweile etwas in die Jahre gekommenen „Gross-out-Comedy', haben sich im Laufe ihrer Karriere immer mal wieder vor Vorbildern aus der Filmgeschichte verbeugt, indem sie diese auf effektive Weise etwas tiefer legten („The Heartbreak Kid“, „The Three Stooges“). Mit „Dumm und Dümmehr“ verbeugen sie sich zur Abwechslung einmal vor sich selbst, denn vor 20 Jahren gelang ihnen mit ihrem Spielfilmdebüt „Dumm und Dümmer“ überraschend ein Kassenschlager der Geschmacklosigkeiten mit zwei mental schwerst herausgeforderten Helden, enthemmt verkörpert von Jim Carrey und Jeff Daniels.

Vielleicht fungierte der destruktive „Dummer und Dümmer“ ja sogar als Gegengift zu „Forrest Gump“, dem freundlichen Dummkopf. Wir erinnern uns: Am Schluss von „Dumm und Dümmer“ hatten Lloyd und Harry alles verloren, als irgendwo im Nirgendwo ein Bus voller Bikini-Schönheiten neben ihnen anhielt, die für eine mehrmonatige Tournee noch zwei Männer suchten, die ihre Körper Abend für Abend einölen sollten. Harry machte die Mädels auf ein nahes Dorf aufmerksam, wo sie bestimmt fündig würden, worauf sich Lloyd für die Langsamkeit seines besten Freundes entschuldigte: das Dorf liege in entgegengesetzter Richtung. Hahaha.

Wobei der größte Witz natürlich die Tatsache war, dass die Mädels überhaupt angehalten haben! Jetzt also ein „Sequel“? Dass zwischen „Dumm und Dümmer“ und „Dumm und Dümmehr“ 20 Jahre liegen, thematisiert der neue Film in der Eingangssequenz gleich selbst, indem er darüber reflektiert, dass man manche Pointe durchaus etwas liegen lassen kann, bis sie schließlich zündet. Der Witz in dieser Szene hat buchstäblich einen Bart wie ein moderner Indie-Folkie. Man merkt dann aber schnell, dass die Farrelly-Brüder das Wort „Sequel“ nicht so ernst genommen haben und den zeitlichen Abstand produktiv machen, indem sie sich die Freiheit nehmen, den alten Film schlicht zu wiederholen. Was durchaus auch als boshafter Kommentar zur grassierenden Sequel- und Prequel-Mode in Hollywood gelesen werden kann (aber nicht muss).

Nichts Neues, dafür Nachschlag vom Immergleichen. Das Resultat dieser künstlerischen Entscheidung ist jedenfalls eine erstaunliche Mischung aus Feedback-Interferenzen und Konzeptkunst, denn natürlich sind die beiden Hauptdarsteller 20 Jahre älter und natürlich wird es Zuschauer geben, die sich an den alten Film erinnern und die minimalen Verschiebungen innerhalb eines Deja-vu-Erlebnisses zu goutieren wissen. Will sagen: Der blinde Junge mit dem Sittich ohne Kopf ist wieder dabei und hat jetzt eine ganze Sammlung exotischer Vögel. Dafür hat Harry eine fette Katze namens Rosette, was einleuchtet, wenn man dem Tier nicht in die Schnauze guckt, sondern …

Es ist also Zeit vergangen, aber in der Welt von Lloyd und Harry spielt Zeit keine Rolle. Obwohl die Zeit drängt, denn Harry braucht jetzt dringend eine Spenderniere. Durch einen Besuch bei seinen Eltern, die sich für alle überraschend als asiatische Adoptiveltern erweisen, erfährt Harry, dass eine frühere Freundin vor mehr als 20 Jahren schwanger wurde. Ist Harry der Vater, dann wartet irgendwo eine Spenderniere. Und auf Lloyd vielleicht die Frau seines Lebens. Weil das Kind aber unmittelbar nach der Geburt zur Adoption frei gegeben und ausgerechnet (und zudem völlig unpassend, weil sie mindestens so beschränkt ist wie Harry und Lloyd) in der Familie eines Genies landete, gestaltet sich die Suche nach der verlorenen Tochter etwas kompliziert.

Die beiden Freunde begeben sich erneut mit abenteuerlichen Fortbewegungsmitteln auf eine Reise durch die USA, diesmal nach El Paso, wo ein Forschungskongress darauf wartet, aufgemischt zu werden – und die Farrellys ein weiteres Mal den Nutzen von Innovation ins Lächerliche ziehen. Auch die üblichen Kriminellen machen Probleme, geht es doch hier immer (auch) um die wilde Jagd nach einem Paket, in dem sich die Rettung der Menschheit befinden soll. Letztlich – auch nicht übel – erweist sich der Inhalt des Pakets als vier Muffins: ein echter „McMuffin“ also – in der Manier der Farrellys, die man nicht unterschätzen sollte.

Am Schluss dieser seltsamen und nicht selten rabiaten Familienaufstellung – insbesondere Carrey scheint noch in einem ganz anderen, aggressiveren Film mitzuspielen, von dem leider sonst niemand weiß – sind einige Fragen beantwortet, andere noch nicht einmal gestellt, aber bevor unsere beiden Helden die drohende Einsicht in die eigene Beschränktheit an sich heranlassen, fliehen sie zurück in ihre kleine Welt und gönnen sich einen letzten Streich, der dem Finale des ersten Films in nichts nachsteht. Selten ging Männerfreundschaft derart schmerzhaft an die Nieren!

Höhere Gewalt

(S / DK / F / NOR 2014, Regie: Ruben Östlund)

Kein Retter in der Not
von Ilija Matusko

Eine junge schwedische Familie verbringt ihren Skiurlaub in den französischen Alpen und gastiert in einem Luxushotel. Vorzeigekinder, Vorzeigepaar. Zunächst deutet auch alles in Richtung Vorzeigeurlaub: Sonne, verschneite Hänge, makellose Pisten …

Eine junge schwedische Familie verbringt ihren Skiurlaub in den französischen Alpen und gastiert in einem Luxushotel. Vorzeigekinder, Vorzeigepaar. Zunächst deutet auch alles in Richtung Vorzeigeurlaub: Sonne, verschneite Hänge, makellose Pisten – perfekte Bedingungen. Allerdings werden diese durch eine drohende Lawine auf die Probe gestellt. Nicht äußerlich, denn die Natur ist bereits gezähmt und kontrolliert. In „Höhere Gewalt“ werden innere Landschaften von den Schneemassen erfasst.

Bei der vierköpfigen Familie fühlt man sich an die Vorzeigefamilien erinnert, die ihr Zahnpastalächeln aus Quelle-Katalogen und Reiseprospekten hervorlächeln. Makellose Gesichter, gepflegte Körper, gleichfarbige Pyjamas. Immer das neueste Equipment dabei, für jede Situation (sei es eine Abfahrt, sei es ein Dinner im Hotel) bestens ausgerüstet. Damit die Figuren nicht zu leblosen Pappkameraden werden, wird die Perfektion auch ins Zwischenmenschliche verlängert. Das Zusammensein ist voller Verständnis, Vertrauen, Aufmerksamkeit. Die perfekte Familie.

Als alle vier beim Essen auf der Terrasse sitzen, gerät eine gesteuert ausgelöste Lawine scheinbar außer Kontrolle. Panik entsteht und lässt die Menschen von der Terrasse flüchten. Nach einigen Sekunden ist der Schreck vorbei, nur eine Nebelwand hat die Essensgesellschaft überrollt, aber keinerlei Schaden hinterlassen. Nur die Ehefrau Ebba wirkt ein wenig neben der Spur. Am Abend erzählt das Paar einer Urlaubsbekanntschaft die aufwühlenden Ereignisse und bei Ebba zeigt sich der Grund für ihre Verstörung. Nach ihrer Schilderung hat ihr Mann Tomas im Schockmoment sein I-Phone geschnappt und ist davon gelaufen – ohne sich um Frau und Kinder zu kümmern. War das reiner Instinkt oder hat Tomas die Situation nur falsch eingeschätzt?

Was Ebba eben noch mehr stört als diese Reaktion, ist Tomas‘ Versuch, diese umzudeuten und seine ängstliche Flucht mit Ausreden zu verbergen. Erst im Gespräch mit einem befreundeten Pärchen wird klar: Der Überlebenstrieb war stärker als das Bedürfnis, die Familie zu beschützen. Während der Freund Mats dies mit dem Charakter einer solchen Extremsituation zu erklären versucht, bricht Tomas bei der Frage nach dem Grund für sein Verhalten langsam zusammen. Seine Rollen als Familienvater und Mann geraten ins Wanken, die Sicherheiten im Umgang mit seiner Frau, seinen Kindern und schließlich mit sich selbst sind dahin. In der Hollywood-Dramaturgie eines Katastrophenfilmes wäre Tomas in puncto Männlichkeit auf jeden Fall durchgefallen.

Auf den ersten Blick scheint die Schrecksekunde wenig dazu geeignet, Geschlechterrollen zu hinterfragen, weil alles an persönlicher und affektiver Masse im Körper diese Fluchtbewegung besser erklären kann. Aber genau darum geht es. Denn besonders in der Diskrepanz von Ist und Soll – die Tomas in eine Sinnkrise stürzt – zeigt sich die ganze Kraft einer Geschlechtsnorm. Das Bild vom männlichen Helden ist deshalb so wirksam, weil seiner Ideologisierung und Überhöhung nichts Praktisches im Wege steht, die Zuschreibung entzieht sich quasi seiner sozialen Auseinandersetzung. Kaum jemand kommt tatsächlich in eine solche Lage und muss sich die Fragen stellen, an denen Tomas scheitert. Und diese Überforderung setzt der Film wunderbar und unterhaltsam in Szene.

Ruben Östlund setzt in „Höhere Gewalt“ (der schlichte, schönere Originaltitel „Turist“ wurde leider nicht beibehalten) mit klaren, präzisen Bildern ein einfaches Erzählprinzip um: Zeige die Menschen in ihrem Versuch, sich gegen das Scheitern zu wehren und sie sezieren sich selbst. Dass der tragische Kampf um die eigene Identität eine besonders lächerliche Note bekommt, liegt vor allem am männlichen Protagonisten, dessen Versuche, mit Geschlechtszuschreibungen und Widersprüchen fertig zu werden, auf herrliche Weise bizarr und komisch enden. Zum anderen weiß Ruben Östlund das Absonderliche durch Montage und Bildästhetik noch zu verdichten. Das Reale wirkt an vielen Stellen bis ins Skurrile überzeichnet, spätestens in den Musiksequenzen, in denen Klassik, Pistenraupen und Elektrozahnbürsten aufeinandertreffen, wird der böse Witz des Filmes deutlich. Der Mensch, seine Hilfsmittel und sein ritualisiertes Verhalten strahlen trotz aller Normalität und Kontrolle nur noch eines aus: Lächerlichkeit.

Bei der Havarie der Costa-Concordia im Jahr 2012 wurde dem Kapitän vorgeworfen, sich aus der Verantwortung gestohlen und das Schiff vorzeitig verlassen zu haben. Vollständig der Lächerlichkeit preisgegeben hat sich der Mann, als er öffentlich aussagte, er sei aus Versehen in ein Rettungsboot gefallen. Die Bildzeitung nannte ihn „Kapitän Feigling“. So viel ich mitbekommen habe, hat niemand dieser Darstellung widersprochen.

Mr. Turner – Meister des Lichts

(GB 2014, Regie: Mike Leigh)

Ineinander fließend
von Wolfgang Nierlin

Die erste Einstellung des Films zeigt ein Bild, das wie ein Gemälde des englischen Landschaftsmalers William Turner aussieht: Im weiten Hintergrund jenseits einer Windmühle dämmert der Abend in einem Farbengemisch …

Die erste Einstellung des Films zeigt ein Bild, das wie ein Gemälde des englischen Landschaftsmalers William Turner aussieht: Im weiten Hintergrund jenseits einer Windmühle dämmert der Abend in einem Farbengemisch aus Rot und Gelb und Blau, während im Vordergrund zwei Mägde tuschelnd ihres Weges ziehen, von vereinzeltem Vogelgesang begleitet. Eine starke, fast andächtige Stimmung inmitten einer zeitlosen Natur. Dann schwenkt die Kamera langsam und eine dunkel gekleidete Gestalt kommt ins Bild, die ruhig und geheimnisvoll und etwas abgerückt in der flämischen Landschaft steht, als wäre sie ein natürlicher Teil dieser genreartigen Szenerie. Tatsächlich ist der Fremde gerade dabei, konzentriert und in sich gekehrt eine Skizze von dieser Abendstimmung anzufertigen. Die Perspektive des Films verschmilzt gewissermaßen mit der Perspektive des Malers und ist im Folgenden konstitutiv für Mike Leighs ungewöhnliches Künstlerportrait „Mr. Turner – Meister des Lichts“.

Der renommierte britische Filmemacher meidet alle typischen Biopic-Elemente: Es gibt in seinem Film keine lebensgeschichtlichen Zeitangaben und keinen dramatischen Plot; weder erklärt er mit dem Lebend des Portraitierten dessen Malerei, noch muss sich ein verkannter Künstler gegen ein ungerechtes Leben stemmen. Stattdessen kappt Mike Leigh die üblichen linearen Erzählstrukturen, um in lauter einzelnen, ineinander fließenden Szenen, alltäglichen Begebenheiten und Begegnungen ein Bild des Menschen und Künstlers Turner zu entwerfen beziehungsweise zu malen. Dabei richtet sich Leighs mitunter ironischer Blick auch auf die Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts mit ihren Umbrüchen und Veränderungen; besonders aber auf die schrulligen Mitglieder der Royal Academy und ihre teils hitzigen Kunstdebatten.

Im Mittelpunkt steht jedoch ein ebenso sympathischer wie unsympathischer Maler, der sich immer wieder entzieht und für sich bleibt. Schroff und abweisend, introvertiert und undurchschaubar lebt der stets mürrische, von vielen bewunderte Turner ganz für seine Arbeit. Timothy Spall, für sein Spiel in Cannes mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet, verkörpert diesen grimmigen Egomanen als vierschrötigen, vitalen Außenseiter, der im Privaten seine unehelichen Kinder verleugnet und bei der Arbeit von einem verschworenen Team, bestehend aus der Haushälterin Hannah Danby (Dorothy Atkinson) und seinem geliebten Vater (Paul Jesson), unterstützt und abgeschirmt wird. Daneben erscheint Leighs Turner, der in seinen späteren Jahren für seine ins rein Malerische vorstoßende Modernität verspottet wird, als vielseitig interessiert und prinzipientreu, feinfühlig und verletzlich.

Nicht zuletzt folgt Mike Leigh zusammen mit seinem Bildgestalter Dick Pope auf kongeniale Weise den Spuren und Motiven in Turners Werken, lässt den Blick des Malers und mit ihm den des Zuschauers im Anblick einer Landschaft oder Seestimmung verharren und evoziert dabei jene Lichtstimmungen, für die William Turner weltberühmt geworden ist.

Amour fou

(AT 2014, Regie: Jessica Hausner)

Wie Puppen in einem Marionettentheater
von Wolfgang Nierlin

„In dieser Geschichte geht es um ein Anti-Bild der Liebe”, hat die österreichische Filmemacherin Jessica Hausner über ihren neuen, als “romantische Komödie” annoncierten, Film “Amour fou” in einem Interview mit …

„In dieser Geschichte geht es um ein Anti-Bild der Liebe”, hat die österreichische Filmemacherin Jessica Hausner über ihren neuen, als “romantische Komödie” annoncierten, Film “Amour fou” in einem Interview mit Kurier.at gesagt. Dass es in der historisch verbürgten Beziehung zwischen dem Schriftsteller Heinrich von Kleist und der verheirateten Henriette Vogel tatsächlich um Liebe gegangen sein könnte, sei zwar möglich, so die Regisseurin; Hausners Blick auf das ungleiche Verhältnis und ihre Interpretation der daraus resultierenden doppelten Selbsttötung demontieren jedoch gründlich den Mythos des romantischen, sich im gemeinsamen Tod verwirklichenden Liebesideals. Vielmehr geht es in ihrem mit höchster Sorgfalt und Präzision komponierten Film um die austauschbaren Projektionen von Liebessehnsüchten, den Zufall der Wahl und die grundlegende Einsamkeit des Menschen im Angesicht des Todes.

Bezogen auf den Titel, ist in „Amour fou“ folgerichtig nicht das Begehren der Liebenden „rasend“ oder „verrückt“, sondern das Wesen der Liebe selbst hat einen „Knacks“. Gleich zu Beginn, nach Mozarts Lied über Goethes masochistisches Liebesgedicht „Das Veilchen“, identifiziert sich Henriette (Birte Schnöink) einfühlend mit Kleists „Marquis von O….“, wenn sie über deren Verhältnis zu ihrem Vergewaltiger bemerkt: „Man sagt, man fühlt das eine und möchte doch das andere.“ Dieses paradoxe Wechselspiel zwischen Sehnsucht und Gefühl setzt sich fort im Dualismus von Körper und Seele, der sich in Henriettes (seelischer) Krankheit manifestiert, von der es einmal heißt, sie sei eine „Einbildung, die so wirklich ist wie die Wirklichkeit“. Diese Wirklichkeit ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts zwar schon infiziert vom freiheitlichen Geist der französischen Revolution, doch die starren Konventionen und standardisierten Rituale bestimmen noch sehr deutlich die preußische Gesellschaft. Entsprechend statisch ist Hausners ausgefeilte Inszenierung, in die das förmlich- steife Spielen und Sprechen der durchweg hervorragenden Schauspieler eingepasst ist, die sich wie „Puppen in einem Marionettentheater“ bewegen.

Gerade gegen dieses engstirnige, allzu abgezirkelte Dasein rebelliert der an sich und am Leben leidende Dichter Heinrich von Kleist (Christian Friedel). Als überempfindlicher Außenseiter und pathetischer „Zaungast im Leben“ trägt er seinen Weltschmerz und seine Todessehnsucht offen, ja geradezu offensiv vor sich her. Seine freimütig und mit aufrichtigem Ernst vorgetragene Suche nach einer seelenverwandten Partnerin fürs Sterben beinhaltet deshalb nicht nur Züge männlicher Hybris und egoistischer Überspanntheit, sondern wirkt mitunter unfreiwillig komisch, wenn nicht gar lächerlich. Sein absurdes, sehr wankelmütiges Projekt, das in einem merkwürdig künstlichen, irgendwie willkürlichen Arrangement gipfelt, zeigt sehr deutlich, dass auch der unglückliche Dichter mit der „wunden Seele“ nicht immer ganz genau weiß, was er will und deshalb seine Sehnsuchtsprojektionen zwischen Wunsch und Wirklichkeit immer wieder neue justieren muss. Denn in Jessica Hausners Film ist Henriette Vogel gegenüber Kleists Kusine Marie (Sandra Hüller) gewissermaßen nur „zweite Wahl“. Seine Eifersucht, künstlerische Erfolglosigkeit und ein männlich-dominanter Zerstörungswille lassen diesen nach Unsterblichkeit lechzenden Todessüchtigen nicht gerade sympathisch erscheinen.

Man könnte sagen, Jessica Hausner ironisiert mit ihrem formvollendeten, erlesen schönen Film die Momente deutlich herausgestellter tragischer Ironie, um die sinnlose „Romantik“ des Geschehens darzustellen und zugleich die Tragik des Geschehens zu dekonstruieren. Im spannungsvoll wechselwirkenden Kontrast dazu stehen ihr distanzierter, teils unterkühlter Blick, die elaborierte Sprache der Dialoge und die historisch genaue Ausstattung. Die Distanz wird dadurch ebenso genährt wie aufgehoben: Die Figuren agieren wie vor einem in freundliche Farben getauchten Gemälde, das sie einerseits modelliert, andererseits verschluckt.

David Bowie Is

(GB 2013, Regie: Hamish Hamilton, Katy Mullan)

Ein Gruß aus der Küche
von Ulrich Kriest

Man sollte David Bowie nicht vorschnell abschreiben! Selbst einer seiner schwächeren Songs aus den achtziger Jahren wie „Modern Love“ entfaltet noch hinreißende Wirkung, wenn er – wie in „Frances Ha“ …

Man sollte David Bowie nicht vorschnell abschreiben! Selbst einer seiner schwächeren Songs aus den achtziger Jahren wie „Modern Love“ entfaltet noch hinreißende Wirkung, wenn er – wie in „Frances Ha“ – zum richtigen Zeitpunkt im richtigen Film eingesetzt wird. Während die sehr erfolgreiche Multi-Media-Show „David Bowie Is“ nach den Stationen London und Berlin mittlerweile in Chicago gastiert, kann man jetzt im Kino noch einmal die Einladung zu einer kommentierten Führung durch die reich ausgestatteten Ausstellungsräume des Londoner Victoria and Albert Museums annehmen. Es lohnt sich, denn bekanntlich hatten die Kuratoren Zugriff auf Bowies private Archive und deren Reichtum macht auch deutlich, dass Bowie bei seiner vielschichtigen Inszenierung als Pop-Star und Identitäten-Sammler nichts dem Zufall überließ, weshalb die Erzählung hier mit schwarz-weißen Filmdokumenten des Babys David Robert Jones beginnt.

„David Bowie Is“ – schon der Titel der Ausstellung offenbart, das es hier weniger darum geht, sich einen analytischen Reim auf das künstlerische Chamäleon David Bowie zu machen, sondern vielmehr die wechselnden Identitäten dieser sehr speziellen Karriere staunend zu begleiten und zu würdigen. Im Film ist das nicht anders: Geht es um frühe musikalische Einflüsse, bekommt man einen Kurzauftritt von Little Richard gezeigt. Die musikalischen Gehversuche vor „Space Oddity“, die auch schon von einigem Eigensinn zwischen Popsong und Vaudeville geprägt sind, tauchen nur am Rande auf, verkürzt auf ein paar Fotos und Plattencover. Anschließend schöpfen Ausstellung wie Film dann aus dem Vollen, denn von jetzt an sind die Inszenierungen von David Bowie als „Major Tom“, „Starman“, Ziggy Stardust, Aladdin Sane oder „The Thin White Duke“ bestens dokumentiert. Die Ausstellungsmacher erzählen von ihrer Konzeption bestimmter Räume und eingeladene Gäste wie der Mode-Designer Kansai Yamamoto oder der Ex-Pulp-Frontmann Jarvis Cocker halten kurze Referate und kolportieren Anekdoten, die aber dem, was man längst über David Bowie wissen kann, wenig hinzufügen.

Punkt für Punkt werden die Karriereschritte illustriert und abgehakt: die wichtigen frühen Jahre, als Bowies androgynes Erscheinungsbild bei einer ganzen Generation von Fans existentielle Fragen mit ganz neuen Antworten konfrontierte und wahrscheinlich sehr viele Biografien nachhaltig beeinflusste, die „Berliner Jahre“ mit ihren musikalischen Experimenten, deren Resultat – die Album-Trilogie „Low“, „Heroes“ und – verspätet -„Lodger“ – mancher für den popmusikalischen Höhepunkt der 1970er Jahre hält. Was Bowie zwischen 1969 und 1978 anstellte, revolutionierte die Pop-Musik nachhaltig und machte sie tendenziell zu einer Form von Konzeptkunst. Bowie bewies ein Jahrzehnt lang untrügliches Gespür für den nächsten Karriereschritt, entwarf und kontrollierte mit großem Aufwand die gewählte Persona und dürfte tatsächlich der einflussreichste Künstler der 70er Jahre gewesen sein, zumal er als multimedial arbeitender Künstler auch in Kinofilmen wie „Der Mann, der vom Himmel fiel“, „Begierde“ oder „Labyrinth“ in Erscheinung trat.

Als Leitmotiv jener Jahre zitieren Ausstellung wie Film den Künstler selbst: „All art is unstable. It’s meaning is not necessarily that implied by the author. There is no authoritative voice. There are only multiple readings.“ Für Literaturwissenschaftler eine Binse, in der Popmusik wohl die Revolution. Der Film schreitet die Räume der Ausstellung ab, fängt das Staunen der Besucher über Bowies kindliche Handschrift ein, staunt über die von Bowie mitkonzipierten Bühnenoutfits, präsentiert den kreativen Texter, der die Sprache selbst zum Arbeiten bringt, dokumentiert Foto-Sessions, zeigt Bühnenmodelle, Musikinstrumente, Platten-Cover und erinnert an die Quellen, aus denen Bowie schöpfte: die Expressionisten, die Pantomime, Warhol, Kubricks „2001“ und „A Clockwork Orange“.

Ab Mitte der 80er Jahre verlor Bowie den Faden, veröffentlichte Halbgares und zog sich nach einem Herzinfarkt für Jahre aus der Öffentlichkeit zurück. 2013 überraschte er dann mit einem medienwirksam inszenierten Comeback-Album und dem selbstironischen und leicht nostalgischen Videoclip „The Stars Are Out Tonight“ – und denkt man die internationale „Blockbuster Exhibition“ „David Bowie Is“ und diesen Kino-Führer hinzu, dann ist Bowie, ein älterer Herr mittlerweile, gerade wieder sehr „da“. Multimedial und auf der Höhe der Zeit. Wiewohl er dafür nicht einmal persönlich in Erscheinung treten muss. Wer die Ausstellung in London oder Berlin gesehen hat, kann sie jetzt noch einmal im Kinosaal vergegenwärtigen. Wer erst jetzt auf den Geschmack kommt, sollte demnächst Reisen nach Paris oder Groningen ins Auge fassen.

Im Labyrinth des Schweigens

(D 2014, Regie: Giulio Ricciarelli)

Enkel von heute
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Spielfilm widmet sich einem fiktiven, politisch unbedarften jungen Staatsanwalt, der in den sechziger Jahren von einem engagierten Journalisten der Frankfurter Rundschau bewogen wird, die Massenmörder von Auschwitz zu verfolgen …

Der Spielfilm widmet sich einem fiktiven, politisch unbedarften jungen Staatsanwalt, der in den sechziger Jahren von einem engagierten Journalisten der Frankfurter Rundschau bewogen wird, die Massenmörder von Auschwitz zu verfolgen und schließlich anzuklagen. Das gelingt dem Noch-Verkehrsdezernenten nur mit Hilfe seines Mentors, Generalstaatsanwalt Bauer. Gegen die öffentliche Meinung, die sich lieber dem Wirtschaftswunder widmet und das Vergangene ruhen lassen will.

Hintergrund ist der legendäre Auschwitzprozess, initiiert und durchgeboxt vom realen Fritz Bauer. Im Spielfilmdebut von Giulio Ricciarelli spielt Bauer eine Nebenrolle. Denn es geht darum, wie es dem Staatsanwaltdebütanten geht, der eine schier übermächtige Aufgabe bewältigen will. Das gibt Emotionen ohne Ende, persönliche Krisen der Reihe nach. Wir sollen mitleiden und hoffen – und lernen, denn das Labyrinth soll – im Hintergrund, bittschön – auch ein pädagogisches Ziel haben. Für Enkel von heute.

Um die Enkel von heute zu erreichen, versteht sich das Labyrinth als Unterhaltungsfilm. Also gibt es reichlich Zeitkolorit. Immer wieder Vespas, Mofas, VW und Opel. Viele Gänge von hier nach dort, Schritte gern in Großaufnahme. Achja, die Adenauerzeit. Und die erste große Liebe! Auf einer FR-Party findet unser Held die Frau seines Lebens. Aber ach, Ziel seines Lebens ist der Auschwitzprozess. Problem! Lösung: Alkohol. Betrunken macht der Staatsanwalt Passanten an: „Du bist auch n Nazi!“ usw.

Wir sollen bei diesem pädagogischen Unternehmen auf der Emotionsschiene fahren und Empathie entwickeln. Alle Achtung, ein tollkühnes Unternehmen. Aber leider funktioniert es nicht. Die klumpigen Einfälle des Drehbuchs stehen entgegen. Man glaubt den Helden nicht.
In der Sitzung beantragt der Verkehrsdezernent eine Buße und gibt der zickigen Angeklagten 20 Mark, damit sie die bezahlen kann? Die FR wird auf der Straße von Kindern im Grundschulalter verkauft? Wenn der VW in der Pampa kaputt geht, rennt der Held ins Nirgendwo? Wenn er Ärger mit den Vorgesetzten hat, lässt er das Auschwitz-Ziel sausen, kündigt und nimmt einen lukrativen Job an – Service für Wirtschaftswunderunternehmen?
Und ich soll mitbibbern und mir die Nägel abkauen??

Also Leute, die Drehbucheinfälle führen in die Irre. Ins Nirgendwo. Und dann wird’s schlussendlich selbst mit dem Fazit des Generalstaatsanwalts schwierig: „Heute wird Geschichte geschrieben!“ Mag ja so sein, allein mir fehlt der Glaube. Die Türen zum Gerichtssaal schließen sich, der Prozess beginnt, und rieselt mir was den Rücken runter? – Nö.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2014

Im Labyrinth des Schweigens

(D 2014, Regie: Giulio Ricciarelli)

Lernprozesse mit glücklichem Ausgang
von Ulrich Kriest

Opa erzählte nicht mehr vom Krieg, sondern lieber von der Nachkriegszeit, vom Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Wenn er clever war, ahnte er zumindest, dass das eine nicht ohne das andere zu …

Opa erzählte nicht mehr vom Krieg, sondern lieber von der Nachkriegszeit, vom Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Wenn er clever war, ahnte er zumindest, dass das eine nicht ohne das andere zu haben ist. Wenn er nicht so clever war, ging er ins Kino und schaute dort tröstliche Heimatfilme. Aktuell entdeckt der deutsche Film gerade die Leerstellen, die der Heimat- und Schlagerfilm nur notdürftig kaschierte. Machte Oskar Roehler den Anfang mit „Lulu und Jimi“ und „Quellen des Lebens“?

Mehr als 30 Jahre nach Fassbinders Frauen-Trilogie „Die Ehe der Maria Braun“, „Lola“ und „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ scheint der deutsche Film sich für die Zeit nach dem Ende im Führerbunker und vor der antiautoritären Revolte von „1968“ zu interessieren. Erst „Wolfskinder“, dann „Phoenix“ und nun „Im Labyrinth des Schweigens“ – drei unterschiedliche Filme, drei unterschiedliche Erzähl-Strategien und drei unterschiedliche Haltungen zur Geschichte. Wie rekonstruiert man Geschichte aus der Ex-Post-Perspektive und hält dabei die eigene, gewählte Perspektive als »vorläufig« hermeneutisch in der Schwebe?

Giulio Ricciarelli hat sich in seinem Spielfilmdebüt dafür entschieden, im Rahmen von bekannten Genre-Konventionen des Polit-Thrillers vom Neubeginn, alten Seilschaften und wechselnden Bewusstseinsständen und Lernprozessen zu erzählen. Im Mittelpunkt steht dabei die Figur des jungen, ehrgeizigen und politisch etwas naiven Staatsanwalts Johann Radmann, der 1958 eher zufällig mit der deutschen Geschichte konfrontiert wird. Ein Auschwitz-Überlebender hat in einem Gymnasiallehrer einen SS-Mann wiedererkannt, aber niemand scheint sich für diesen Skandal zu interessieren, sieht man einmal von dem linksliberalen Journalisten Gnielka ab, der die Sache publik machen will.

Radmann beginnt sich für den Fall zu interessieren, eckt bei seinen Vorgesetzten und Kollegen schnell an und merkt, dass man sich offenbar bis auf eine Minderheit in der westdeutschen Bevölkerung wortlos darauf verständigt hat, die Verbrechen, die während der NS-Zeit begangen wurden, kollektiv zu beschweigen. Unterstützung finden Radmann und Gnielka bei ihren Recherchen lediglich bei dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der klarstellt, dass die meisten Verbrechen längst verjährt sind. Nur die Mordfälle noch nicht.
Radmann wird von Bauer mit der Leitung der Ermittlungen betraut und beginnt damit, Zeugenvernehmungen durchzuführen, die auch deshalb schwierig sind, weil Radmann selbst nicht so recht weiß, was in Auschwitz geschehen ist.

Es ist eine heikle Gratwanderung, die Ricciarelli unternimmt, um mit den Mitteln des Spannungskinos die Vorgeschichte der Frankfurter Auschwitzprozesse zu erzählen. Wo Petzold bewusst mit Lücken und Unschärfen arbeitet, setzt Ricciarelli Wert auf ein extrem dichtes Drehbuch, das möglichst keine Frage offen lassen soll und trotzdem der Fiktion nicht spekulativ die Zügel schießen lässt. Man spürt beim Sehen des Films regelrecht die Recherchen des Filmteams und ahnt, dass jedes Detail von Zeitzeugen »bezeugt« werden kann. Dadurch wirkt „Im Labyrinth des Schweigens“ etwas übersichtlich und aufgeräumt.

Die Nebenfiguren stehen dabei für unterschiedliche und widersprüchliche Haltungen zwischen Verdrängen und forcierter Zukunftsorientierung innerhalb der Nachkriegsgesellschaft und dem sich abzeichnenden Wirtschaftswunder, während der Protagonist Radmann eine Entwicklung vom korrekten, aber naiven Staatsanwalt zum moralisch an der Grenze zur Hybris sich bewegenden Ermittler durchläuft, der sich schließlich schämt, Deutscher zu sein und glaubt, zwischen „gut“ und „böse“, zwischen „richtig“ und „falsch“ unterscheiden zu können, bis er ahnt, dass er seine Moral der „Gnade der späten Geburt“ verdankt.

Vieles in „Das Labyrinth des Schweigens“ folgt bis zu einem gewissen Punkt Genre-Konventionen, die man aus italienischen Mafiafilmen und US-Polit-Thrillern der 70er Jahre wie „Die Unbestechlichen“ kennt – bloß, dass vom Verbrechen hier keine Lebensgefahr mehr auszugehen scheint, weil die Täter – Mao lässt grüßen – wie Fische im Täter-Volk schwimmen. Andere Szenen verweisen auf die westdeutsche Filmgeschichte der 50er Jahre, auf Filme wie „Rosen für den Staatsanwalt“ oder „Der Mann, der sich verkaufte“ (Alexander Fehling erinnert stark an den jungen Hans-Jörg Felmy). Wie in kritischen Filmen der 60er und 70er Jahre hocken die Täter und ihre Familien noch immer in den Hinterzimmern von Gasthäusern in der Provinz und spielen „geschlossene Gesellschaft“. Unscharf bleibt die Figur des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, der als graue Eminenz die Fäden in der Hand hält, den nichts zu überraschen vermag und der hinter den Kulissen auch noch nach den dicken Fischen Eichmann und Mengele angelt. Positiv zu vermerken ist, dass der Film sich betont darum bemüht, sich kein Bild von den Verbrechen, um die es hier geht, zu machen und lieber die Reaktion auf diese Zumutungen dokumentiert als die Zumutungen selbst.

Bedenkt man, dass auch Petzolds „Phoenix“ Fritz Bauer gewidmet ist, könnte man in „Phoenix“ und „Im Labyrinth des Schweigens“ auf reizvolle Art und Weise zwei höchst unterschiedliche, aber gleichermaßen reflektierte Formen des Erzählens konfrontieren und beide auf das visuell ambitioniertere und untergründig komplexere Spätwerk Fassbinders beziehen. Am Ende reicht die Aktenlage aus, um gegen zwei Dutzend Täter das Verfahren zu eröffnen und damit eine Lunte zu legen, die gleichermaßen zur Fernsehserie „Holocaust“ und nach Stammheim führt. Oberstaatsanwalt Friedberg hatte es geahnt, als er Radmann warnte: „Wollen sie, dass sich jeder junge Mensch in diesem Land fragt, ob sein Vater ein Mörder war?“ Heute, ein halbes Jahrhundert später, wird sich zeigen, ob diese durchaus ehrenwerte filmische Rekonstruktion der Vorgeschichte des Auschwitzprozesses mit ihrer eigentümlichen Mischung aus Verdichten, Andeuten und Antizipieren aus der Ex-Post-Perspektive noch Zuschauer ins Kino locken und dort aufklärerische Wirkung zeigen kann. Oder ob er im Fernsehen besser aufgehoben wäre.

Interstellar

(USA / GB 2014, Regie: Christopher Nolan)

Fuck Gravity
von Lukas Schmutzer

So manche und so mancher wird früher oder später mit einem Science-Fiction-Film eine Erfahrung gemacht haben, die vielleicht „auratisch“ genannt werden kann. Veranlasst wird sie durch die gelungene Projektion der …

So manche und so mancher wird früher oder später mit einem Science-Fiction-Film eine Erfahrung gemacht haben, die vielleicht „auratisch“ genannt werden kann. Veranlasst wird sie durch die gelungene Projektion der kantischen Frage „Was ist der Mensch?“ auf die Leinwand und zugleich in die Weiten des Weltalls. „Odyssee im Weltraum“ mag das formal am vollkommensten getan haben, doch es gibt eine Reihe weiterer Filme, die dies auch ziemlich genial angehen. „Interstellar“ ist einer dieser Filme.

Einen Science-Fiction-Film zu drehen, heißt immer auch, an die Geschichte des Erzählfilms zu rühren, zu deren Anfang Méliès eine Reise zum Mond inszenierte. All die Irrfahrten, die seither die Leinwand bereichert haben, stehen in einem entsprechenden Verhältnis zu ihren Vorgängern bis zurück zu diesem ersten Weltraumabenteuer, welches – zum Beispiel – eine Gliederung in Vorbereitung, Aufbruch, Ankunft, Austragung eines Konflikts und Heimkehr besitzt. Legen wir einen Film vor ein derartig erschlossenes Paradigma, wird ersichtlich, wie er mit den Gemeinplätzen einer Tradition spielt, wie er etwas wiederholt, was er hinzufügt oder was er weglässt, und auch zum Teil, wie er uns dergestalt affiziert. Sich einem Film anzunähern kann also paradoxerweise auch bedeuten, sich auf der Zeitachse wieder von ihm zu entfernen. „Interstellar“ bedient sich in dieser Hinsicht traditioneller Bilder und Symbole, was den Film zuweilen auch ein wenig vorhersehbar macht; allerdings hebt er sie in eine Luft, in der sie auf ungekannte Weise leben und atmen können. Das macht diesen Film nicht nur spannend, sondern hat das Potential, selbst einem von zu vielen Dimensionssprüngen abgestumpften Sci-Fi-Fan wieder einige auratische Momente zu verschaffen. Da ich eher in ein schwarzes Loch springen würde, als von einem „emotionalen Film“ zu berichten und die Handlung zu spoilern, möchte ich stattdessen zu klären versuchen, wie das gelingt.

Zunächst wird eine unbequeme Zukunft entworfen, die von Umweltproblemen belastet ist und über die Mittel für Raumfahrt, welche als Propaganda einer vergangenen Epoche aufgefasst wird, nicht mehr verfügen möchte. Ressourcen gehen zur Neige und Umweltkatastrophen bedrohen die Menschheit. Die letzten, die verhungern, werden die ersten sein, die ersticken, heißt es da.

In dieser Situation wolle die Gesellschaft nicht mehr „pioneers“, sondern „caretakers“, wie der verwitwete Cooper (Matthew McConaughey) bedauert. Er trauert seiner Vergangenheit als Pilot nach, während er sich als Landwirt verdingt. Seine nach Murphys Gesetz benannte Tochter findet nach einem der nicht mehr ungewöhnlichen Sandstürme am Parkettboden des Wohnhauses binäre Codes, die offenbar von Interferenzen in der Schwerkraft mit Sand gezeichnet wurden. Für Cooper ist dies der Anfang einer Odyssee. Wie sich herausstellt, arbeiten Theoretiker an Formeln, mithilfe derer die Gravitation manipuliert werden kann und was der Menschheit ein extraterrestrisches Überleben sichern soll. Cooper wird mit einer kleinen Besatzung auf eine interstellare Expedition geschickt, die kein geringeres Ziel hat, als neue Welten für die Menschheit zu erkunden. So viel zur Ausgangslage.

Ich gebe zu: Was mich an diesem Film im Vorhinein am meisten reizte, war weder Regisseur, noch Topos allein, sondern Verse, die schon im Trailer von der Stimme Michael Caines rezitiert werden, just da, als die Expedition in den Weltraum startet. Ihre Rolle in dem Film ist zunächst nicht so einfach auszumachen. Sie stammen von Dylan Thomas, aus einer Villanella namens „Do not go gentle into that good night“. Die Villanella ist eine verspielte und komplizierte Liederform, die eigentlich für heitere Rundtänze verwendet wird. Thomas formulierte mit ihr eine Aufforderung an den Vater, dem Sterben Widerstand zu leisten.

Wer immer für die deutsche Übersetzung verantwortlich zeichnet, wird erleichtert gewesen sein, dass der Film nicht alle der sechs Strophen wiedergibt, denn spürbarer als viele andere lyrische Werke stellt dieses Gedicht den Übersetzer vor ein Dilemma, oder sogar vor ein Trilemma: Es kann nicht Bedeutung, Reimschema und Melodie zugleich in eine andere Sprache übertragen werden. Die Einigkeit dieser drei Momente macht sich aber „Interstellar“ in den einprägsamen Refrainzeilen zunutze, welche mit gereimten Worten über gute Nacht und sterbendes Licht etwas rätselhaft ins Weltall führen. Thomas’ Villanella berichtet darüber hinaus von einer Reihe von Typen, die gegen den Tod kämpfen: Wise men, wild men, good men, grave men. Das wird so in „Interstellar“ nicht zitiert. Weshalb? Weil dieser Film den Anspruch besitzt, diese Strophen schlicht und einfach in das Medium Film zu übertragen, insofern er uns von wise men, wild men oder grave men erzählt, die ums Überleben kämpfen. „Interstellar“ eignet sich das Gedicht an und macht aus ihm Science-Fiction, über deren Inhalt ich hier keine Worte verlieren möchte, weil sie gesehen werden sollte. – Dass das gedruckte und gebundene Wort in „Interstellar“ nur noch in seiner Materialität durch fallende Bücher repräsentiert wird, scheint analog zu diesem Übertragungsprozess zu funktionieren, der aus Schrift Film macht.

Die Science-Fiction ist nur das neueste Feld, dem sich Christopher Nolan nach Krimi, Magie, Traum und Batman widmet, um an seinen narrativen Architekturen zu werken. Dabei hat er Fingerspitzengefühl im Verkreuzen und Aufrechterhalten zahlreicher Spannungsbögen bewiesen. Auch sein neuestes Werk hebt schon in den ersten Momenten mit mehreren Erzählungen an, von denen manche im leeren Raum hängen gelassen werden: Ein sandiges Bücherregal, ein Zeitzeuge, ein Flugzeug in Turbulenzen, ein Erwachen. Was davon weitererzählt wird, verzweigt sich abermals. Bis alle erzählten Linien zusammenfinden, sozusagen doch noch als verschiedene Seiten und Stockwerke desselben Bauwerks ausgewiesen werden, vergehen beinahe drei Stunden. Dies erinnert an die Struktur der Villanella, in der zwei Refrainzeilen zunächst gemeinsam genannt werden, um danach abwechselnd und isoliert unterschiedlichen Versen nachgestellt zu sein, bevor sie zum Schluss wieder zusammenfinden.

In „Do not go gentle into that good night“ spricht ein Sohn zum sterbenden Vater. Das steht in einem direkten Verhältnis zum Konflikt, der dem Film zugrundeliegt: Denn so „groß“ sich die Problemstellung gibt (es geht um die Menschheit), so „klein“ ist eigentlich das, worauf sie aufbaut: Ein sich im Aufbruch befindender Vater verspricht seiner Tochter, zu ihr zurückzukehren. Dieses Versprechen wird durch die Schwerkraft belastet, die den Raumfahrern begegnet.

Es gibt einen schönen kleinen Film von Michael Radford, „Addicted to the stars“ heißt er, der uns die im strengen Sinne tragischen Möglichkeiten der Relativitätstheorie in ihrer ganzen Unheimlichkeit skizziert: Wenn zurückgelassene Menschen schneller zu altern drohen als der Raumfahrer, geraten die Banden der Generationen ins Wanken. Radfords Film braucht gerade einmal zehn Minuten unserer Lebenszeit, um das zu veranschaulichen. „Interstellar“ dagegen nutzt dieses Element weniger zur Veranschaulichung, sondern tatsächlich als Drohung. Ein väterliches Versprechen kreuzt sich solcherhand mit einer Aufforderung an einen Vater (jener des Gedichts), wodurch ein Gewölbe entsteht, das die Spannung gegen die drohende Schwerkraft über 169 Minuten trägt. Das ist eine beachtliche Leistung.

Selbst zu stolpern, droht der Film nur an einem Punkt. Vor allem die Ausgangslage kann und muss als Reflexion auf das Selbstverständnis unserer aktuellen Gesellschaft betrachtet werden; damit ist nicht nur die Umweltthematik gemeint, sondern z.B. auch die Gegenüberstellung von „pioneers“ und „caretakers“, die wiederum analog gelesen werden kann zu Dylan Thomas’ kraftvoller Aufforderung, dem Sterben Widerstand zu leisten, welche dem derzeit prominenteren Diskurs des „Sterben lernens“ entgegensteht. Die dergestalt geöffnete Problematik stellt der Film allerdings allzuschnell in den Dienst eines amerikanischen Fortschrittspathos. Das wirft dann die Frage auf, ob sich der Raumfahrt heute überhaupt (noch?) angenommen werden kann, ohne dass ein solches Filmprojekt nicht ebenso zu einem Werbefilm für die NASA gerate. Ein differenzierteres Vorgehen wäre hier schwieriger gewesen, hätte aber das Genre weitaus mehr bereichert.

Dennoch: Ein exzellenter Film, der empfohlen werden kann.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Interstellar'.

Plötzlich Gigolo

(USA 2013, Regie: John Turturro)

Sexual Healing
von Nicolai Bühnemann

John Turturro spielt einen Gigolo. Woody Allen seinen Zuhälter. Zur ebenfalls rapide gealterten Kundschaft gehört unter anderem Sharon Stone. Dass diese Grundkonstellation in ihrer Durchgeknalltheit allzu berechnend auf die Zielgruppe …

John Turturro spielt einen Gigolo. Woody Allen seinen Zuhälter. Zur ebenfalls rapide gealterten Kundschaft gehört unter anderem Sharon Stone. Dass diese Grundkonstellation in ihrer Durchgeknalltheit allzu berechnend auf die Zielgruppe zugeschnitten daher kommt, ist noch eines der kleineren Probleme von „Fading Gigolo“, der fünften Regiearbeit Turturros, der als Darsteller unter anderem aus verschiedenen Filmen der Coens und Spike Lees bekannt ist. Wesentlich heikler ist da schon die Tatsache, dass man nach den 98 Minuten des Films relativ ratlos ist, was genau er mit dieser Prämisse eigentlich vorhatte. Was Sie schon immer über männliche Prostitution wissen wollten … erfahren Sie hier jedenfalls nicht.

Murray (Allen) muss die Buchhandlung schließen, die er von seinen Vorvätern übernommen hat. Auf der Suche nach neuen Einnahmequellen erfährt er, dass seine Hautärztin Dr. Parker (Stone) von einer Ménage à trois träumt. In seinem guten Freund Fioravante (Turturro) meint er den richtigen für den Job gefunden zu haben. Dass dieser gut mit seinen Händen ist, beweist er beim Binden von raffinierten Blumengestecken. Schönheit im eigentlichen Sinne wird wettgemacht durch einen gewissen animalischen Charme („Ist Mick Jagger etwa schön?“) Der exotische Name, ebenfalls der Welt der Flora entstammend, und das Rezitieren von Weisheiten über die Liebe auf Spanisch machen ihn distinguiert genug für Frauen, die sich ein paar leidenschaftliche Stunden 1000 Dollar kosten lassen können. Nach einigem Zögern lässt sich Fioravante überreden, Murrays „Hoe“, also „Nutte“, zu werden.

„Plötzlich Gigolo“, wie „Fading Gigolo“ mal wieder recht dämlich auf Deutsch heißt, ist ein Herbstfilm, ein Film, der Originaltitel verrät es, über das Verblassen, das Verblühen und Verwelken. Goldbraun liegt das Laub auf den Straßen und im Park, leuchtet das Licht, in das Figuren und Schauplätze getaucht werden. Dass das recht schick aussieht, täuscht nur ungenügend darüber hinweg, dass sich dahinter eine recht simple Symbolik auf das fortgeschrittene Lebensalter aller Figuren versteckt.

Es fügt sich da ins Bild, dass man von allen Beteiligten wahrlich schon Besseres, Frischeres Gesehen hat. Die Allen-Figur mit ihrem Geschäftssinn, den Witzeleien über Ärzte und Medikamente, der ordentlich zupackenden afroamerikanischen Gemahlin und dazugehörigen Kinderschaar ist reine Manier. Es wundert kaum, dass Allen in den interessanteren Filmen seines Spätwerks („Midnight in Paris“, „Blue Valentine“) nicht selbst mitspielte. Und auch John Turturro hatte sicherlich schon wesentlich mehr zu bieten als den ergrauten Latin Lover hier.

Aber es sind gerade die Frauenfiguren, in denen sich das Grundfalsche an diesem Film offenbart. Da ist Sharon Stone, die einst, 22 Jahre ist das her, mit einem Beinüberschlag, der tiefe Einblicke bot, Filmgeschichte schrieb und die Femme fatale für die Neunziger neu erfand. Die verheerende Frau als Ausdruck eines männlichen Todestriebs. Paul Verhoevens „Basic Instinct“ entlarvte die Misogynie dieser männlichen Projektion, indem er sie überdeutlich ausstellte. In „Fading Gigolo“ ist dieses Angstbild der ultra-reichen, -intelligenten und –bösen Frau so weit gezähmt, unschädlich gemacht, dass von ihm nur noch eine von Selbstzweifeln zerfressene Neurotikerin in ihrem Luxus-Appartement übrig ist, die aus ihrer für sie offenbar ziemlich unbefriedigenden Ehe mit wildem Gigolo-Sex ausschert.

Ihre Freundin Selima, die die Dritte in der geplanten Ménage sein soll, wird gespielt von Sofía Vergara. Mit ihrem starken Latino-Akzent bietet sie Turturro an, einen Strap-On anzulegen. Auch die dominante, penetrierende Frau ist hier klar als Männerphantasie zu erkennen. Die Art, wie die Kamera sie in Dessous, mit ausladendem Dekolleté und meterhohen High Heels zeigt, verdeutlicht, dass es dem Film, anders als etwa „Magic Mike“ oder, viel früher, Peter Kerns „Crazy Boys“, nicht daran gelegen ist, die gängige Ordnung von männlichem Blick und weiblichem Bild zu unterlaufen.

Schließlich Vanessa Paradis als Avigail. Die Witwe eines chassidischen Rabbiners, die ihren Mann jung geheiratet hat und nun nach dessen Ableben mit den sechs Kindern allein dasteht, in weltlichen Dingen denkbar unbewandert. Sie lässt sich von Murray überreden, Fioravantes Dienste in Anspruch zu nehmen. Mit ihr kommt auch das in den Film, was in Geschichten über Prostitution von jeher die Ökonomie des Begehrens durcheinander bringt: die Liebe. Und das gleich doppelt. Nicht nur, dass sich Fioravante und sie auf eine Art näher kommen, die nicht im Sinne der Geschäfte ist, in einem weiteren Handlungsstrang geht es um Dovi (Liev Schreiber), einen Chassid und Mitglied der Nachbarschaftswache, der Avigail seit der Kindheit anhimmelt und über ihre Beziehung zu Fioravante zunehmend argwöhnisch und eifersüchtig beäugt. Die (Über-)Zeichnung des jüdischen Milieus von Williamsburg, Brooklyn ist noch eine der stärkeren Seiten des Films. Nicht dass es an einem Humor, der sich zu großen Teilen aus Schläfenlocken nährt, nichts auszusetzen gäbe, nicht dass man das nicht auch schon überzeugender gesehen hätte (in „A Serious Man“ von den Coens zum Beispiel), aber hier ist der Film für Momente zumindest auf vorteilhafte Weise durchgeknallt, traut sich etwas, wo er doch sonst allzu sehr auf Nummer Sicher geht.

Auf eine eigentliche Liebesgeschichte will „Fading Gigolo“ dann allerdings nicht hinaus. Vielmehr geht es darum, wie eine zurückgezogene, zutiefst verunsicherte Frau über den Tod ihres Mannes hinwegkommt. Um „Sexual Healing“ also, wie es einst in einem Song von Marvin Gaye hieß. Hier fügt es sich zu einer sozialpädagogischen Altherrenphantasie.

Zwei Tage, eine Nacht

(B / F / I 2014, Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne)

Das schöne Märchen von der (Rest-)Solidarität
von Ulrich Kriest

Gerade scheint die psychisch angeschlagene Mittdreißigerin Sandra soweit wieder stabilisiert, dass sie am Montagmorgen ins Arbeitsleben zurückkehren könnte, da erfährt sie von ihrer Freundin Juliette, dass ihr Chef gerade die …

Gerade scheint die psychisch angeschlagene Mittdreißigerin Sandra soweit wieder stabilisiert, dass sie am Montagmorgen ins Arbeitsleben zurückkehren könnte, da erfährt sie von ihrer Freundin Juliette, dass ihr Chef gerade die Kollegen vor eine Wahl gestellt hat: da Sandras Ausfall durch extra prämierte Überstunden gemeinsam kompensiert werden konnte, könne man doch ihre Stelle gleich ganz streichen und dafür die Prämie von 1000 Euro weiterhin zahlen. Innerbetriebliche Demokratie in Zeiten des Neoliberalismus: die Arbeiter werden gegeneinander ausgespielt, der Arbeitergeber gibt nur noch den Schiedsrichter.14 der 16 Kollegen konnten diesem Angebot nicht widerstehen, allerdings, so Juliette, habe Vorarbeiter Jean-Marc auf die Mitarbeiter Druck ausgeübt, weshalb Sandra sofort handeln und Einspruch erheben müsse. Tatsächlich gelingt es den beiden Frauen mit einiger Mühe, dem Chef eine Wiederholung der Abstimmung am Montagmorgen abzutrotzen, denn dem Chef ist hauptsächlich am Betriebsfrieden gelegen.

Sandra hat jetzt ein ganzes Wochenende – zwei Tage und eine Nacht – Zeit, um für ihren Arbeitsplatz zu kämpfen. Allerdings: Sandra ist keine Kämpfernatur, sondern bedarf der nachdrücklichen Unterstützung durch ihre Freundin Juliette und insbesondere ihres Mannes Manu, die sie immer wieder mit Engelszungen beschwören, die Flinte nicht ohne Gegenwehr ins Korn zu werfen. So geschieht etwas Unerhörtes: Sandra, wiewohl zwischen Resignation und Selbstmord schwankend, nimmt den Kampf auf – und sucht das persönliche Gespräch zu den Kollegen, die sich eigentlich schon längst gegen ihr Verbleiben ausgesprochen haben. Nein, besser, für die Prämie.

Genau das aber ist Sandras Chance auf ihrem unfreiwilligen Feldzug gegen die Entsolidarisierung der Gesellschaft: sie konfrontiert – ungewöhnlich genug -ihre Kollege mit sich, verleiht ihrem „Fall“ ein Gesicht, in das hinein man seine Entscheidung begründen muss. Damit ist die Struktur von „Zwei Tage, eine Nacht“, dem neuen Film des belgischen Brüderpaares Jean-Pierre und Luc Dardenne („Rosetta“, „Der Junge mit dem Fahrrad“), vorgegeben. Sandra mischt sich in das Wochenende ihrer Kollegen, trifft sie beim Sport, beim Autowaschen, beim Zweit-Job oder auf der Straße nach dem Frühschoppen. Manche lassen sich auf ein Gespräch ein, manche verweigern sich, manche lassen sich verleugnen, manche werden aus Scham aggressiv, manche machen auch keinen Hehl aus ihrem Egoismus. Die Zeit ist zwar knapp, aber die Zahl der Kollegen auch überschaubar.

In der Folge gelingt es den Dardennes meisterlich, ein soziales Panorama vor dem Zuschauer auszubreiten, in dem manchem das kleine Glück im Winkel wichtiger ist als eine Geste der Solidarität. Denn eine solche Geste ist kostspielig – und natürlich haben alle Kollegen gute Gründe für ihr Verhalten, die Sandra zudem durchaus verstehen kann. Ihr geht es ja selbst nicht anders: Hausbau, Schulden, die Ausbildung der Kinder, die kleinen Extras, die man sich dank der Prämie nun leisten kann. Wie in einem klassischen Stationendrama wandert Sandra von Gespräch zu Gespräch und sammelt Erfahrungen, erfährt Ablehnung, aber auch spontane Zustimmung.

Dass sich Solidarität auch als Ausdruck christlicher Nächstenliebe verstehen lässt, erfährt Sandra vom farbigen Leiharbeiter Alphonse, der aber gleichzeitig auch Repressionen fürchtet, wenn er Sandra unterstützt. So sind auch Sandras Kollegen in unterschiedliche Macht-Positionen differenziert, was, wie die gewählte Betriebsgröße, die zu klein für gewerkschaftliche Organisationsformen ist, für die präzise Recherche der Dardennes spricht. Alles scheint zunächst eine Spur zu mustergültig und modellhaft auf eine Art von Lehrstück getrimmt, aber beim genaueren Hinsehen zeigt sich die Qualität dieser Form des filmischen Realismus, der eben kein Thema filmisch repräsentiert, sondern Beobachtungen filmisch verdichtet und daraus eine enorme Spannung bezieht. Im Grunde hat „Zwei Tage, eine Nacht“ die Struktur eines Genrefilms mit dem Unterschied, dass hier gewöhnliche Menschen mit vielerlei Schwächen gewöhnliche Probleme zu lösen haben.

Genau in dieser Raffinesse besteht noch immer ein entscheidender Unterschied zur trivialen Dutzendware des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, die bereits vorgefertigte Thesen bloß noch bebildert. Trotzdem setzen die Filmemacher einen etwas forcierten moralischen und pädagogischen Schlusspunkt, der sich zwar gut anfühlt, aber letztlich politisch folgenlos bleiben wird. Sandra hat es dem System noch einmal gezeigt, aber diese Geste zielt eher extradiegetisch direkt in den Zuschauerraum als in den Aufenthaltsraum, in dem die geheime Abstimmung am Montagmorgen erfolgt. Doch auch intradiegetisch hat Sandras Initiative Wirkung gezeigt, allerdings nur auf dem Niveau eines Hoffnungsfunken. In einer Schlüsselszene des Films singt Petula Clark ihre französische Version des alten Searchers-Hits „Needles and Pins“. Der Titel lautet: „La nuit n’en finit plus“. Die Nacht endet nie? Die Dardennes halten es eher traditionell mit Ton Steine Scherben: „Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.“ Klingt leider in der Version der Dardennes auch ein bisschen wie das Pfeifen im Wald.

Yaloms Anleitung zum Glücklichsein

(CH 2014, Regie: Sabine Gisiger)

Reiseleiter der Selbsterforschung
von Wolfgang Nierlin

Der Blick geht aufs Meer, an dessen Horizont sich eine Stadt im Dunst abzeichnet. Während ein Frachtschiff am linken Bildrand auftaucht, die Einstellung durchquert und auf der rechten Seite wieder …

Der Blick geht aufs Meer, an dessen Horizont sich eine Stadt im Dunst abzeichnet. Während ein Frachtschiff am linken Bildrand auftaucht, die Einstellung durchquert und auf der rechten Seite wieder verschwindet, erklingt ein Ausschnitt aus Edvard Griegs „Peer Gynt-Suite“ und eine Stimme aus dem Off hebt an, zu sprechen: Er lasse zu Beginn einer Therapie seine Patienten oft eine Linie zwischen Geburt und Tod zeichnen, auf der sie sich verorten sollen, um ihnen die begrenzte Zeit des Lebens bewusst zu machen. „Wie fühlt sich der Blick aufs eigene Leben an?“ Dabei entstehe bei seinen Klienten oft ein Gefühl der Reue und des Bedauerns über verpasste Möglichkeiten oder nicht wieder gut zu machende Fehler. Der da spricht, ist der 83-jährige amerikanische Psychiater und Schriftsteller Irvin D. Yalom, der in Sabine Gisigers Dokumentarfilm „Yaloms Anleitung zu Glücklichsein“ auf das eigene Leben zurückblickt.

Die enge Verzahnung von Leben und Arbeit, die durch Yaloms dominante, zwischen biographischer Auskunft und beruflichem Erfahrungsbericht changierende Erzählung realisiert wird, ist ebenso naheliegend wie aufschlussreich. Handelt es sich bei dem renommierten Therapeuten doch um einen der wichtigsten Vertreter der existentiellen Psychotherapie, der neben wissenschaftlichen Grundlagenwerken auch lehrhafte Romane verfasst hat (zum Beispiel „Und Nietzsche weinte“), mit denen er einem größeren Publikum bekannt geworden ist. Die Suche nach dem Sinn und die Frage nach dem richtigen Leben verbinden sich in Yaloms Denken mit der Notwendigkeit, sich selbst besser kennen zu lernen und das Unterbewusste bewusst zu machen. Der Therapeut wiederum sieht sich dabei als „Reiseleiter der Selbsterforschung“.

„Wir sind alle Patienten und werden von unseren Ängsten eingeholt“, sagt der Portraitierte einmal. Existentielle Einsamkeit, die Angst vor dem Tod, aber auch die Sehnsucht, diese Zustände gesteigerter Selbstwahrnehmung in der Verschmelzung mit einem liebenden Anderen aufzuheben, bilden insofern die zentralen Themen seiner Beschäftigung. Als Kind polnischer Juden, das sich vernachlässigt und als wissbegieriger Außenseiter selten unbeschwert gefühlt hat, vermisst Yalom zeitlebens ein „stabiles Fundament“. So unterzieht er sich während seiner akademischen Ausbildung und noch als Therapeut selbst immer wieder Therapien und gewinnt daraus nicht zuletzt Anregungen und Erkenntnisse für die eigene Arbeit.

Die Stationen dieses Werdegangs illustriert Gisiger zum einen mit historischen Aufnahmen; zum anderen begleitet sie Irvin D. Yalom zu seinen früheren und gegenwärtigen Wohnorten und Wirkungsstätten, zu denen vor allem die Stanford University im kalifornischen Palo Alto zählt. Hier lebt der Therapeut in einem abgelegenen kleinen Haus zusammen mit seiner großen Liebe und langjährigen Ehefrau, der Literaturwissenschaftlerin Marilyn Yalom. Im Alter fühle er sich zunehmend leichter und freier, weil frühere Konflikte an Bedeutung verlören und die Aufmerksamkeit sich auf das Wesentliche richte. Immer wieder verharrt die Kamera in langen Einstellungen, blickt aufs Meer und das Spiel der Wellen und gibt so den Gedanken Zeit und Raum. Neben dem leicht irreführenden Titel stört in der deutschen Fassung des Films allerdings das etwas gewöhnungsbedürftige Voice-over-Verfahren, das sich allzu prägnant über die originalen Stimmen legt und dabei mehr an eine Fernseh- als an eine Kinoproduktion denken lässt.

Butter on the Latch

(USA 2014, Regie: Josephine Decker)

Das Im-Wald-Verloren-sein
von Nicolai Bühnemann

Einmal verlaufen sich Sarah und Isolde nachts im Wald. Zu bloßen Schatten werden die beiden Frauen, Schemen, die sich abheben von den Lichtpegeln ihrer Taschenlampen im Geäst. Es kommt zu …

Einmal verlaufen sich Sarah und Isolde nachts im Wald. Zu bloßen Schatten werden die beiden Frauen, Schemen, die sich abheben von den Lichtpegeln ihrer Taschenlampen im Geäst. Es kommt zu einem Streit, bei dem die ziemlich angetrunkene Isolde ihrer Freundin Vorwürfe macht. Nachdem Isolde in der Dunkelheit verschwindet und Sarah alleine zurück lässt, folgt ein Schnitt. Es ist Tag. Die Kamera, die zuvor mit den beiden Frauen durch den Wald wankte, blickt nun ganz ruhig mit Sarah über eine Lichtung.

Zwei Frauen, deren Namen die realen Vornamen der Darstellerinnen sind: Sarah Small und Isolde Chae-Lawrence, die Handkamera, der nächtliche Wald. Wie diese Szene aus dem Realismus des Settings und der Reduktion der Mittel mehr macht, ist in vielfacher Hinsicht bezeichnend für Josephine Deckers Debütfilm 'Butter on the Latch', der wie der Nachfolger „Thou Wast Mild and Lovely“ im Forum der diesjährigen Berlinale zu sehen war. Die Situation wird mystisch überhöht und bekommt zugleich etwas Existenzielles: das Im-Wald-Verloren-sein. Typisch ist auch der abrupte Schnitt, der das Geschehen aufbricht, eine Ellipse setzt. So wie die meist handgehaltene Kamera oft, wie auch hier, verschiedene Abstufungen der Unschärfe auslotet, werden auch inhaltlich die Konflikte nicht zu Ende erzählt, nicht ausgedeutet. Zusammenhänge entstehen eher assoziativ, als dass sie sich aus der Erzählung ergeben würden.

Sarah stattet ihrer Freundin Isolde einen Überraschungsbesuch auf einem Balkan-Folk-Festival in den Wäldern von Mendocino, Kalifornien ab (gedreht wurde im Summer Camp des European Folklife Center und mit dessen realen Besuchern). Die erste Hälfte des Films gehört ganz den beiden Frauen und ihren Gesprächen, die von den Darstellerinnen improvisiert wurden. In einer Szene unterhalten sie sich im Bad über Beziehungen, erzählen sich von ihren sexuellen Abenteuern. Die Kamera ist ganz dicht an ihren Gesichtern, während sich ihr Gespräch um Analverkehr und den Besuch in einem dubiosen Beauty-Studio dreht. Um Vertrauen geht es auch und Ausdruck einer großen Vertrautheit zwischen den beiden Frauen ist auch diese Szene.

Gleichzeitig gibt dieses Gespräch das Thema des weiblichen Begehrens vor, das den Film, wenn auch auf eine schwer greifbare Art, bestimmen wird. Sarah lernt einen Mann, Steph (Charlie Hewson), kennen und macht sich sehr behutsam daran, ihn zu verführen. Diese zaghafte Annäherung korrespondiert mit einer zunehmend kühleren und distanzierteren Haltung zwischen den beiden Freundinnen. Fast wie Fremde werden sie sich an einer Stelle begegnen.

Doch geht es Decker wiederum um mehr, als zu erzählen, wie ein Mann einen Keil zwischen zwei Freundinnen treibt. Vielmehr scheint etwas schwer Fassbares, Mystisches von Sarah Besitz zu ergreifen. Ein Pressetext spricht sehr passend von „unirdischen, erschreckenden Gefühlen.“ Da ist etwas in den Wäldern von Mendocino, das nicht von dieser Welt zu sein scheint. Etwas, das der Film nicht erklärt und das doch in der Natur, in den Wäldern greifbar ist. In den Zeitlupenbildern von Frauen in weißen Gewändern, die im Kreis tanzen, an denen sich Deckers Background in der Performance Art deutlich ablesen lässt. Den wiederholten Bildern von einer Schnecke, den verstörenden, dissoziativen Schnittfolgen.

Mit den Rhythmen und Gesängen des Festivals, die den Fluss der Bilder immer wieder eher unterbrechen als ihn voranzutreiben, steuert „Butter on the Latch“ in einem beständigen Crescendo zu auf Momente purer Ekstase. Auf die Sexszene am See. Körper, Münder, Hände, die einander suchen und finden, einander ertasten. Erst ganz vorsichtig und zärtlich, dann immer wilder. Und wieder schleicht sich mit Zwischenschnitten etwas ein in diese Bilder. Etwas Tödliches vielleicht.

Josephine Decker ist mit „Butter on the Latch“ ein rätselhafter, intensiver, fiebriger Debütfilm gelungen. Ein Film, der bei aller inhaltlichen Offenheit und Uneindeutigkeit zu einer hohen formalen Geschlossenheit findet.

5 Zimmer Küche Sarg

(USA 2014, Regie: Jemaine Clement, Taika Waititi)

Reality-Soap mit Biss
von Nicolai Bühnemann

Der Wecker klingelt um sechs. Eine Hand schiebt sich aus dem Sarg, um ihn enerviert auszuschalten. So stinknormal beginnt der Tag von Viago. Oder besser gesagt: die Nacht. Denn wir …

Der Wecker klingelt um sechs. Eine Hand schiebt sich aus dem Sarg, um ihn enerviert auszuschalten. So stinknormal beginnt der Tag von Viago. Oder besser gesagt: die Nacht. Denn wir befinden uns, so informiert das Presseheft, in einem „faszinierenden Dokumentarfilm“, der „erstmals und mit schonungsloser Offenheit den unspektakulären Alltag einer bislang unerforschten Spezies“ zeigt. Viago ist also, genau wie seine anfangs drei Mitbewohner in einer alten Villa in Wellington, Vladislav, Deacon und Petyr: ein Vampir (was auch den Sarg erklärt, über den aufmerksame Leser im zweiten Satz dieses Textes sicherlich gestolpert sind). Und „What We Do in the Shadows“ – wie „5 Zimmer Küche Sarg“ im Original wesentlich eleganter heißt – ist eine Mockumentary, die, angelehnt an gängige Reality-TV-Formate, den Alltag einer Vampir-WG schildert.

Viago, 379 Jahre alt, war in einem früheren Leben ein Dandy, weshalb er etwas pedantisch seine Mitbewohner dazu anhält, bei ihren Mahlen keine allzu große Sauerei zu veranstalten und sich darum kümmert, dass irgendjemand die sich stapelnden Geschirr-Berge abwäscht. Vladislav, im Mittelalter groß geworden, ist in seinen Ansichten eher konservativ. Eitel besteht er darauf, schon mit sechzehn Jahren zum Vampir geworden zu sein, was sich mit seiner doch nicht mehr ganz jugendlichen Erscheinung, sorry, beißt. Jedenfalls unterhält er eine – wenn auch in letzter Zeit seltener genutzte – Folterkammer und vergnügt sich vornehmlich mit gleich mehreren Jungfrauen. Deacon ist mit seinen schlappen 183 Jahren ein jugendlicher Haudrauf, der um keine Albernheit verlegen ist. Schließlich Petyr, mit 8000 Jahren mit Abstand ältester der WG, der sich in seinem Look denn auch an der Steinzeit des Vampirfilms orientiert, nämlich an Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu“.

Um Schwung in die Bude – und den Plot – zu bekommen, muss Zuwachs her. Der kommt in Form des jungen Hipsters Nick, der von Petyr zum Vampir gemacht wird. Auch sein bester Freund, der Computer-Experte Stu, ist im Haus bald gerne gesehener Gast. Verklickert er den Vampiren doch den Umgang mit sozialen Netzwerken – und zeigt ihnen YouTube-Videos von Sonnenaufgängen. Leider hat Nick nicht nur seine Schwierigkeiten, sich mit den Gegebenheiten des ewigen Lebens abzufinden, sondern auch die unkluge Eigenschaft, überall mit seinen vampirischen Fähigkeiten zu prahlen („Kennt ihr diesen Typen aus ‚Twilight‘? Das bin ich.“) Wodurch die Villa bald nächtlichen Besuch von einem Vampirjäger bekommt. Gegen Ende gibt es dann auch noch die große „Unholy Masquerade“, einen Maskenball für die verschiedenen untoten Communitys (also Vampire, Zombies et al), wo es Vladislav mit einer ehemaligen Geliebten zu tun bekommt, die nur unter dem vielsagenden Namen „Das Biest“ bekannt ist.

Die Idee zu „5 Zimmer Küche Sarg“ geht auf einen Kurzfilm zurück, den die Regisseure, Drehbuchautoren und Darsteller Taika Waitti (Viago) und Jemanine Clement (Vladislav) 2005 realisierten. Die Szenen wurden von einem Script vorgegeben und dann improvisiert. Dem Reality-Soap-Format entsprechend, folgt die Handkamera den Figuren oft dicht durch die eher karg eingerichtete Villa und das Nachtleben von Wellington. Manchmal gibt es, wenn man bei den Streifzügen durch die Nacht auf eine Werwolf-Clique trifft, Stunk – dies sind die wenigen Momente, in denen der Film das Komödienfeld zumindest ein Stück weit verlässt, um mehr in Richtung Horrorkino auszuschwenken.

Neben gängigen Versatzstücken der Blutsauger-Mythologie, etwa fehlenden Spiegelbildern en masse, zitiert sich der Film exzessiv durch die Vampir-Filmgeschichte: von Murnau über „The Lost Boys“ und „Blade“ bis zu „Twilight“. Neben der Darstellung des allzu Menschlichen des Vampir-Daseins bezieht der Film seinen Humor also aus nerdigen Wiedererkennungswerten. Beides regt in seinem beständigen Over Drive eher zum Schmunzeln an. Die großen Lacher sind selten.

Seine besten – und witzigsten – Momente hat „5 Zimmer Küche Sarg“ dort, wo er sich gehen lässt und es eher grob wird. Etwa in der Szene, wenn Viago, der seinen Opfern gerne einen schönen (Lebens-)Abend beschert, beim Biss die Halsschlagader trifft und das Blut nur so spritzt und sprudelt. Oder wenn es um zwei Vampirmädchen geht, deren Hauptnahrungsmittel Pädophile sind. In diesen Momenten wird deutlich, welcher Film „5 Zimmer Küche Sarg“ hätte werden können, wenn er es sich öfters erlaubt hätte, das Konzept-Korsett zu verlassen, um sich allerlei Ausschweifungen hinzugeben.

Thou Wast Mild and Lovely

(USA 2012, Regie: Josephine Decker)

Spielwiese des Begehrens
von Nicolai Bühnemann

Vater und Tochter tollen über die Wiese. Sie hält ein enthauptetes Huhn. Er schreit, dass sie ihn damit erstechen würde. Die Kamera blickt ins Unscharfe, über das Gras und zu …

Vater und Tochter tollen über die Wiese. Sie hält ein enthauptetes Huhn. Er schreit, dass sie ihn damit erstechen würde. Die Kamera blickt ins Unscharfe, über das Gras und zu den Bäumen. Das Huhn bleibt kopflos auf der Wiese liegen. Dann ist da ein Hund, der knurrt und kläfft. Und eine Frau beginnt aus dem Off von ihrem Liebhaber zu sprechen, so als würde sie ein Gedicht vortragen, poetisch, überhöhend.

Menschen, Tiere, Landschaften. Der Mensch in der Natur. Aber auch die „Natur im Menschen“. Begehren, Gewalt auch, die hier, in der ersten Szene von Josephine Deckers zweitem Film, noch die Form des Spiels annimmt. (Das wird sich später ändern.) Der Mensch in der Landschaft. Aber auch die Landschaft als Abbildung menschlicher Befindlichkeit. Eine Seelenlandschaft.

Die Parallelen zwischen Deckers Debüt „Butter on the Latch“ und dem ein Jahr später entstandenen „Thou Wast Mild and Lovely“, der auf der diesjährigen Berlinale uraufgeführt wurde, liegen auf der Hand. Wieder ist die Handlung in einer abgelegenen, ländlichen Gegend der USA angesiedelt – und die Abgelegenheit und die Landschaft scheinen Voraussetzung des Plots zu sein. Wieder entwickelt die Kamera Ashley Connors mit ihrer kurzen Schärfentiefe, wie sie über die Gesichter und Körper der Figuren, die Natur und die Tiere streicht, eine sehr spezifische Form der Sinnlichkeit. Wieder scheint das Begehren, um das es geht, durchdrungen von einem Horror, der sich in schnellen, suggestiven Schnittfolgen in den Film einschleicht.

Jedoch wirkt „Thou Wast Mild and Lovely“ wesentlich ruhiger, ausgeglichener, auch professioneller, „filmischer“ als sein Vorgänger. Das liegt zu einem guten Teil daran, dass die Dialoge nicht improvisiert sind, das reale Setting, die Interaktion der Darstellerinnen mit den echten Festivalbesuchern aus „Butter“ fehlt. Aber auch daran, dass die Folie, die Decker ihrem Film unterlegt, deutlicher das Genre ist, der Backwoods-Horrorfilm.

Akin (Joe Swanberg) kommt für den Sommer auf die Farm in Kentucky, auf der Sarah (Sophie Traub) mit ihrem Vater Jeremiah (Robert Longstreet) lebt. In dem Figuren-Dreieck entfaltet sich ein Netz der Blicke. Jeremiah beobachtet Akin mit großem Argwohn. Schnell hat er an der „Tanline“ am Finger erkannt, was der junge Mann den beiden verschweigt, worüber er sie direkt belügt. Akin ist verheiratet und hat ein Kind. Einmal spekuliert Jeremiah am Essenstisch darüber, ob der Hausgast schwul sei, er habe etwas Schwules in seinem Gang. „Shoulders“ nennt er ihn aufgrund seiner Körperhaltung.

Akin hat unterdessen nur Augen für Sarah. Förmlich greifbar werden seine begehrenden Blicke auf ihrem Körper, der sich manchmal wie durch diese Blicke angetrieben zu bewegen scheint. Einmal öffnet sie beim Salatschneiden weit die Schenkel, um ihm, in einiger Entfernung, Einblicke unter ihren Rock zu gewähren. Die Attraktion zwischen den beiden wird als Spiel gestaltet, das keinen anderen Ort haben kann als die Felder und Wiesen mit ihrem satten Grün. Der Wind in den Blättern, das Gras und die Sonne auf der Haut, ihr Schatten auf einem Teich und ein Frosch gehören genauso zu diesem Spiel, wie seine grenzenlose Neugier auf ihren Körper. Und wenn die beiden in einer Szene auf einer Wiese miteinander kabbeln, ersetzt Akin recht deutlich den Vater, indem er an seine Stelle aus der ersten Szene tritt.

Die Situation eskaliert als Akins Frau zu Besuch kommt. Wie in „Butter on the Latch“ erhält gegen Ende ein Terror endgültig Einzug in den Film, der schon zuvor latent da war. In Visionen und (Alb-)Träumen, die nur schwer von der innerfilmischen Realität abzugrenzen sind. Deckers Stil lässt am Ende, wenn aus dem Spiel endgültig blutiger Ernst wird, (sexuelle) Phantasie und Realität, Sexualität und Gewalt ineinander übergehen. War es aber in ihrem Erstling noch ein weibliches Begehren – oder etwas, das von der Frau und ihrem Begehren Besitz ergriffen hatte – ist es hier die väterliche Gewalt, der frau schließlich Einhalt gebieten muss.

Mit ihren ersten beiden Filmen hat sich Josephine Decker als neue interessante Stimme im amerikanischen Independent-Kino etabliert. Auf ihr weiteres Schaffen darf man gespannt sein.

The Cut

(D 2014, Regie: Fatih Akin)

On the Road
von Ulrich Kriest

Am Anfang war der Traum vom Western, gebaut um den griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch von 1922 herum, wobei es einen griechischen Auswanderer in den Wilden Westen verschlagen sollte, um eine Squaw zu …

Am Anfang war der Traum vom Western, gebaut um den griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch von 1922 herum, wobei es einen griechischen Auswanderer in den Wilden Westen verschlagen sollte, um eine Squaw zu retten. Leider war diese Geschichte bereits vor Jahrzehnten erzählt worden. Dann wurde der türkische Journalist Hrant Dink ermordet und Fatih Akin, der große Naive des deutschen Kinos, las dessen Texte über den Völkermord an den Armeniern, war bewegt – und holte die alte Filmidee wieder aus der Schublade.
So hat es Akin der „Welt“ erzählt – und so erklärt sich vielleicht, warum ein Film über den Genozid von 1915, dem schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen, 1923 am Rande eines Dorfes in North Dakota endet.

„The Cut“ beginnt mit einer pastoralen Szene, die die Fallhöhe des Folgenden charakterisieren soll: in der dörflichen Idylle in Ost-Anatolien lebt der armenische Schmied Nazaret glücklich und zufrieden mit seiner wunderschönen Frau Rakel und seinen beiden hübschen und wohlgeratenen Töchtern Arsineé und Lucineé. In der Ferne tobt der 1. Weltkrieg und das Osmanische Reich, der „kranke Mann am Bosporus“, ist im Untergang begriffen. Plötzlich und unvermittelt richtet sich die Gewalt innenpolitisch gegen die Armenier, die verhaftet, verschleppt, vergewaltigt, ermordet oder einem grausamen Hungertod in der Wüste überlassen werden.

Nazaret überlebt nur knapp, weil ein nicht ganz so grausamer Türke ihm nicht die Kehle, sondern nur die Stimmbänder durchschneidet. Ab jetzt blickt Nazaret stumm, aber mit großen dunklen Augen auf die Grausamkeit der Welt – und hadert mit Gott, der solches Leid zulässt. Zwar begegnet der Protagonist in wohl dosierten Abständen neben menschlichen Bestien immer auch wieder Wohltätern, die ihm spontan und selbstlos helfen, doch am Ende braucht es das Kino selbst in Gestalt einer Freiluft-Projektion des Chaplin-Klassikers „The Kid“, um Nazaret ins Leben zurückzuholen. Als er sieht, wie der Tramp um das Kind kämpft, als er sieht, wie das Kind leidet, kommen Nazaret die Tränen. Durch (dramaturgischen) Zufall trifft er ausgerechnet jetzt seinen ehemaligen Lehrling, der ihm vom Schicksal seiner Familie erzählt. Die Zwillinge könnten noch leben. Nazaret macht sich auf die Suche: es wird eine Odyssee werden: Libanon, Kuba, Florida, Minneapolis – und schließlich North Dakota.

Der Film verliert sich in Set Designs und einem ermüdenden, zweieinhalbstündigen „und dann … und dann“ der Nebensächlichkeiten, inszeniert in der Retromanier klassischen Erzählkinos, die angesichts der gewählten Thematik (zur Erinnerung: der Genozid an den Armeniern, der in der Türkei noch immer ein Tabu berührt, kollektiv beschwiegen wird) verfehlt erscheint. Weil es mal ratlos, mal ärgerlich macht, wie naiv „The Cut“ erzählt, wie die armenische Diaspora verkürzt wird auf die triviale Geschichte vom Vater, der bei der Suche nach seinen Töchtern um die halbe Welt reist und dabei die conditio humana von allen Seiten erfährt.

Akin packt ein heißes Eisen an und verpackt es gleich wieder sorgfältig in altbackene Kino-Leidenschaft. In Interviews hat der Filmemacher erzählt, wie einzelne Szenen seines Films unangenehme Wahrheiten transportieren (Deserteure, Todeslager, deutsche Offiziere) und wie sich seine Haltung im Laufe der Produktion verändert hat: „Ich habe noch bei keinem Film so viel an die Zielgruppen gedacht, nämlich Armenier und Türken, die man fast nicht zusammenbringen kann. Wir wollten mit unserer Darstellung keinen neuen Hass schüren.“ Am Ende hat er dadurch seinem Film das Politische ausgetrieben und versucht, es allen Seiten Recht zu machen und aufs Melodram gesetzt. So ist „The Cut“ leider vor allem eins: Wischiwaschi. In Überlänge.

Hin und weg

(D 2014, Regie: Christian Zübert)

Hoffnungslos, aber nicht ernst
von Lukas Schmutzer

“Hin und weg” ist ein Film über ein Sterben, welches keine Ice Bucket Challenge mehr verhindern kann: Er erzählt von dem an ALS erkrankten Hannes (Florian David Fitz), der gemeinsam …

“Hin und weg” ist ein Film über ein Sterben, welches keine Ice Bucket Challenge mehr verhindern kann: Er erzählt von dem an ALS erkrankten Hannes (Florian David Fitz), der gemeinsam mit Frau und Freunden eine Fahrradtour ins belgische Ostende unternimmt, wo mit einem Arzttermin zugleich seinem Leben ein selbstbestimmtes Ende gesetzt ist. Solch schweren Stoff will der Film sowohl komisch als auch ernst entfalten, wobei diese Entfaltungsweisen in vielen Momenten weit mehr einander bedingen, als es jene Phrasen-Maschinerie, durch die der “emotionsgeladene” Film in journalistischem Eifer schon längst gedreht wurde, zu erfassen gestattet: “emotionale Balance”; “emotionale Trickkiste”; “Achterbahnfahrt der Emotionen” – die Kritik scheint noch weit mehr von “Emotion” beseelt zu sein als der Film selbst. Wenn sich die Schreiber dann noch zur Schlussfolgerung hinreißen lassen, dieser Film zeige “Freundschaft, die alle Grenzen des Lebens überwinden kann”, so ist zu befürchten, dem von “Emotion” betäubten Leser komme gar nicht mehr in den Sinn, dass der Film seine Eigenschaften als Herz-Zerreißer vielleicht gerade aus dem Umstand bezieht, dass selbst die engste Freundschaft nicht alle Grenzen gemeinsam überwindet.

Eigentlich gibt der Titel den Zusehern eine zynische Perspektive in den Film mit, die solch rhetorischer Überhöhung entgegensteht: “Hin und weg” ist eben nicht nur das vom Film “emotional” mitgerissene Publikum, “Hin und weg”, das ist auch Hannes, wenn er hin-fährt nach Belgien, um dann für immer weg zu sein. Fassen wir das als Aufforderung auf, erlauben wir uns einmal eine zynische Distanz. Dann dürfen wir feststellen: Über das Sterben gibt es schon Filme zur Genüge. Was sollte gerade diesen so besonders machen?

Aus einer langen Tradition erkennen wir viele Versatzstücke wieder, die da in “Hin und weg” radfahrend re-cycled werden: Das Meer, der Strand und der Dreier z.B. aus “Knockin’ on Heavens’ Door”; der verständnisvolle Freundeskreis, wie er etwa in “Les invasions barbares” den Sterbenden begleitet (eine, wie ich finde, exzellente filmische Bearbeitung dieses Topos); oder das Spiel mit und um die versäumten, aber nachzuholenden Erlebnisse, das sowohl Schweiger und Liefers, als auch Nicholson und Freeman spielten. An dieser Stelle darf der von der deutschen Film- und Medienbewertung gestellte hochqualifizierte, behördliche Verdacht entkräftet werden, dass “heitere Elemente” dieser Art bloß aufgrund ihres Auflockerungscharakters, d.h. zur “emotionalen Entlastung” in den Film gefunden haben – nein, diese kommen aus dem Herzen der Tradition und funktionieren auch erst vor dem Hintergrund einer drohenden Vergänglichkeit, die sinnstiftend über allem thront.

Was “Hin und weg” aber anders macht: Das Verhältnis seiner Figuren zum Sterben selbst scheint mir in einer eigentümlichen Ambivalenz zu stehen. Denn hier gibt es keine gestohlenen Unsummen, die es erlauben, im Angesicht des Todes einmal so richtig die Sau rauszulassen. Das Spiel des Einmal-wirklich-lebens wird dementsprechend weitgehend von der Hauptfigur ausgelagert auf die restliche Reisegesellschaft, die da ihre Aufgaben zu erfüllen hat. Natürlich, die Vergänglichkeit thront auch hier, aber sie ist räumlich nicht anwesend: Kein Krankenhausaufenthalt zum Beispiel gemahnt an den nahenden Tod. Auch wird kein Riss im Alltag geschildert, in dem Sinne, dass die Krankheit zum bestimmenden Faktor der Lebensgestaltung wird. Das Reisen an sich mag demgegenüber einen solchen Bruch mit alltäglichen Routinen darstellen; aber “Hin und weg” zeigt uns ein Reisen, dem im Beisammensein mit Freunden die Funktion einer Wiederholung liebgewordener Erfahrungen aufgenötigt wird: Noch einmal die Dinge erleben, für die es sich zu leben gelohnt hat. Damit fällt auch die Möglichkeit weg, dass sich der Protagonist in einer letzten Anstrengung einer höheren Aufgabe widmet – wie etwa, der nächsten Generation einen Spielplatz zu hinterlassen, was im klassischsten aller filmischen Sterbe-Werke von Kurosawa geschieht. Im Rahmen einer solchen Konstellation wird das Fahrradfahren sowohl zum Beweis einer körperlichen Tauglichkeit, die gegen die Vergänglichkeit aufgebracht wird, als auch zum Medium, mit dem buchstäblich auf das Lebensende zugesteuert wird. Das wäre viel Potential, welches der Film nur in Ansätzen entfaltet.

Somit: Ein mit viel Geschick inszenierter, unterhaltsamer, auch anrührender, aber nicht rührseliger Film, mit einem wundervoll agierenden Ensemble.

Zwei Tage, eine Nacht

(B / F / I 2014, Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne)

Nochmal das bereits Angerissene ...
von Andreas Thomas

Jaja, die Dardennes, man weiß nicht, wofür man sie mehr lieben soll, für ihre humanistische Einstellung oder für ihre Fähigkeit, gute Filme zu drehen. Manchmal trifft beides bei ihnen trefflich …

Jaja, die Dardennes, man weiß nicht, wofür man sie mehr lieben soll, für ihre humanistische Einstellung oder für ihre Fähigkeit, gute Filme zu drehen. Manchmal trifft beides bei ihnen trefflich zusammen, und dann haben wir großes Kino: 'Rosetta', 'Das Versprechen', 'Der Junge mit dem Fahrrad'. Manchmal überwiegt das Sendungsbewusstsein, das Bedürfnis, eine Botschaft zu übermitteln: 'Lornas Schweigen' ist da ein Beispiel, bei dem mir zu penetrant unter die Nase gerieben wurde, wie verdammt wenig so ein Mensch im freien Spiel der ökonomischen Triebkräfte wert ist. Am besten hat sich ihr Kino immer dann bewährt, wenn das komplette kapitalistische Weltganze sich aus einer ganz kleinen und individuellen Problemgemengelage wie von selbst entwickelt und erklärt hat, wie es etwa bei 'Rosetta' musterhaft vorgeführt wurde.

'Rosetta' ist auch das Stichwort und der wichtigste Bezug zum neuen Film von den Brüdern Jean-Pierre und Luc Dardenne, denn 'Zwei Tage, eine Nacht' liegt die gleiche Ausgangssituation wie 1999 dem Film 'Rosetta' zu Grunde. Das Thema: der Kampf aller um zu wenige Arbeitsplätze für alle, also die künstliche Erzeugung von Konkurrenzverhalten, das Provozieren der egoistischen Kräfte, das gleichzeitige Aufspalten von Gemeinschaft zum Zweck der Dienstbarmachung, sprich: Ausbeutung der werktätigen Bevölkerung. Was für ein Spaß. Welche Filme ermöglichen heute noch ein dermaßen leichtgängiges Fluidieren ins marxistische Vokabular? Und wie wenige Filme nur sprechen heute noch von dem, was ja Grundlage und Spirit des kapitalistischen, also unseres alle und alles prägenden Wirtschaftssystems ist? So als wären das System und seine inhumanen Grundzüge und Auswirkungen allein schon dadurch human bzw. darüber nachzudenken dadurch tabu geworden, dass es kaum mehr ein nominelles, sprich ernstnehmbares, Gegenmodell, wie etwa einen Sozialis- oder Kommunismus dazu mehr gibt, denn wie auch immer -mus, Freunde: Diktatur ist Diktatur.

Umso schöner, wenn es noch Leute gibt, die trotzdem weiter über diesen anderen -mus nachdenken, der weiter (und hemmungsloser) existiert und weiter und mehr Probleme bereitet, und schön auch, dass dieses Nachdenken eben nicht ein dogmatisches Nachdenken ist, sondern eines, das deshalb Erkenntnis ermöglicht, weil es, günstigstenfalls, Argumente fallen lässt, die vielleicht rhetorisch passen würden, aber manchmal nur partiell einer Wirklichkeit entsprechen können. Das Nachdenken endet eben so nicht.

Womit wir zunächst wieder bei 'Rosetta' wären, der physischen Abbildung von Prekariat durch ein bis dato (1999) neues physisches Kino, Rosetta, eine in Armut lebende junge Frau, die um jeden Preis ihre Würde erhalten / erlangen möchte, in Form eines Arbeitsplatzes, die aber immer nur lernt, dass in unserer Art von Gemeinschaft niemandem irgend etwas zusteht, und dass sie mit allen Mitteln für ihr Ziel zu kämpfen hat, wenn es sein muss, auch gegen ihren besten Freund, wenn es sein muss, auch mit dem Mittel des Tötens.

'Rosetta', der Film, hatte schon damals spürbar klar gemacht, wie hart der Kampf ums Überleben geführt werden muss, wenn er den Gesetzen des Arbeitsmarktes entsprechen will, und diese These eindringlich bis zum Ersticken – oder bis zur Atemlosigkeit illustriert.

Man könnte sagen, mit der Heldin Sandra aus 'Zwei Tage, eine Nacht' lebt 'Rosetta' weiter, aber transformiert ins Ideelle, man könnte sagen, es geht nicht mehr um die Körper, die sich gegeneinander Geltung verschaffen, es geht um Ideen, die inkompatibel zu sein scheinen, und es geht um das Prinzip Hoffnung.

Sandra (die mit dunklen Augenringen versehene Marion Cotillard ('La vie en rose' [2007]), eine junge Mutter von zwei Kindern, war gerade länger in ihrer Probezeit krankgeschrieben, aber just im Moment, als sie von ihren Depressionen geheilt ist und anfangen will, wieder zu arbeiten, erklärt ihr Arbeitgeber (auch eine dieser, wie bei 'Rosetta' zu Beginn, virtuell erscheinenden Produktionsstätten, in denen die Arbeiter Schutzanzüge tragen, um ihre Produkte – in diesem Fall womöglich Solarzellen – nicht mit Menschenviren zu infizieren) ihre noch vorläufige Anstellung für entbehrlich, und er wälzt netterweise (und idealiter dardennesches Sozial-Exempel) die Entscheidung, ob sie gehen oder bleiben soll, auf Sandras 18 Kollegen ab: Im Falle, dass man ihren Arbeitsplatz einspare, ergebe sich eine einmalige Bonuszahlung von 1000 Euro pro verbleibendem/r Mitarbeiter/in. Und so sollen die Kollegen selbst entscheiden, was sie wollen, das Geld oder einer noch relativ unbekannten Kollegin ihren Arbeitsplatz erhalten.

Wie immer bei den Dardennes, setzt die Handlung ohne große Vorrede oder Einführung in dem Moment ein, als eine erste Abstimmung ohne ihr Wissen schon stattgefunden und sich gegen sie gewendet hat, und nur einer treuen Kollegin und der Unbeirrbarkeit ihre Mannes (gespielt vom auch in 'Rosetta' schutzengelgleichen Fabrizio Mongione) hat die fragile Sandra zu verdanken, dass sie erstens die moralische Unterstützung erfährt, die sie braucht, um zunächst einen Aufschub von einem Wochenende für eine zweite Abstimmung zu erwirken, und dann aber erst recht, um den Mut und die Kraft zu besitzen, jeden einzelnen dieser Kollegen persönlich mit der Tragweite ihrer Wahl zu konfrontieren, indem sie sie darum bittet, für sie, Sandra, also für die Erhaltung ihrer Lebensgrundlage und gegen die Lösung mancher eigener finanzieller Engpässe, zu stimmen.

Standen in 'Rosetta' die Unmenschlichkeit des Lebens ohne Arbeitsplatz und die Härte des freien Arbeitsmarktes im Mittelpunkt der Untersuchung, so setzt 'Zwei Tage, eine Nacht' diese Untersuchung eher als gegeben und als erfahren voraus und ergänzt sie nun, gewissermaßen als Fortsetzung der Phänomenologie einer allgemeinen Arbeitsethik, um die Frage nach einer möglichen Utopie. Der Film fragt konkret: Ist eine gerechtere und menschlichere Arbeitswelt heute oder überhaupt denkbar und möglich, und wenn ja, welche Voraussetzungen sind dafür bei jedem Einzelnen notwendig? Mit anderen Worten: Wie groß ist der Zusammenhalt zwischen den Kollegen / Menschen oder wie groß könnte er sein? Lässt sich eine andere, gerechtere Ökonomie überhaupt vorstellen ohne ein Opfer jedes einzelnen für den anderen?

Indem der Film der Frage nach diesem Opfer in exakt 18 Fällen nachgeht, spielt er sie so variantenreich durch, dass praktisch für jeden Zuschauer seine Option dabei sein müsste, wobei wir natürlich spätestens merken, dass Sandra nicht diese Kollegen, sondern die Dardennes unablässig uns fragen: Würdet ihr einen Menschen in die Arbeitslosigkeit gehen lassen, nur für diesen euren, vorübergehenden, persönlichen Vorteil? Natürlich würden wir nicht, gell?

Ein kleines Problem dabei ist, dass der Film anscheinend selbst der strategieimmanenten Konkurrenzideologie des Neoliberalismus ('Entweder der / die oder ich!') zum Teil folgt bzw. genauso auf sie hereinfällt, wie die, deren Entscheidungsprozess sie zugedacht ist, nämlich Sandras Kollegen (bzw. ein Großteil der freien Arbeitskräfte auf dem freien Arbeitsmarkt). Denn soziale Gerechtigkeit muss ja gar nicht zwangsläufig eine Frage des Opfers, des Verzichts oder gar der freiwilligen Armut der sich solidarisierenden Rest-Menschheit bedeuten, so wie es die Chefs von Sandras Firma suggerieren wollen, denn wenn man mal berücksichtigt, wie ungleich die Reichtümer heutzutage verteilt sind, ist sicherlich ganz schön viel für jeden (in der Welt) übrig.

Und so kommt es, dass bei der Frage des hier idealisierten freiwilligen Verzichts, des selbstlosen Opfers, unterschwellig eine christliche Kopfnote mitschwingt, die sich, man spürt es sukzessive und peu a peu, zu anderen gesellt, die der Film bereits vorher etabliert hatte: Sind nicht seine Grundfragen die nach den drei Theologischen Tugenden? Basiert nicht die Idee des Films auf der Idee des Glaubens (an das Gute im Menschen, das Göttliche)? Wird Sandra nicht durch die übermenschliche Liebe ihres Mannes durch die wohl schwierigsten Stunden ihres Lebens begleitet? Ist es nicht die Hoffnung allein, die ihr dazu verhilft, ihren Kampf darum, als Mensch wahrgenommen (angenommen) zu werden, nicht aufzugeben?

Hier tritt das oben bereits Angerissene ein: Die Entwicklung der Dardenne-Filme von einem (übrigens auch immer schon ethischen) Kino über existenziell und physisch determinierte Situationen des Menschseins hin zu einem Kino von Realität, konfrontiert und bewältigt (?) mit (christlichem) Ideal. Wenn es so sein sollte, dass die christliche Theologie die grundlegenden menschlichen Fragen treffend zu illustrieren im Stande sei, und sie nicht, umgekehrt, eher an den grundlegenden menschlichen Fragen zu Gunsten ihrer Ideologie geschraubt habe, dann ruhe mein Segen auf den neueren Dardenne-Tendenzen.

Aber muss es sein, dass mir die Auflösung eines weitgehend spannenden und wieder mal wahrlich engagierten Dardenne-Films das Gefühl gibt, ich müsse von ihm zusätzlich ob seiner inhärenten Moral belehrt werden? Ich weiß nicht und gebe 7 bis 8 Punkte, was sich in unseren filmgazetten-Standardbewertungen nicht widerspiegelt.

Der Anständige

(D / ISR / AT 2014, Regie: Vanessa Lapa)

Garstiger Mann mit schwarzer Seele
von Wolfgang Nierlin

Die Dokumente sprechen in Vanessa Lapas beeindruckendem Film „Der Anständige“ über den hochrangigen Nationalsozialisten und Reichsführer-SS Heinrich Himmler. Dafür konnte die in Israel arbeitende Journalistin und Filmemacherin aus einem umfangreichen …

Die Dokumente sprechen in Vanessa Lapas beeindruckendem Film „Der Anständige“ über den hochrangigen Nationalsozialisten und Reichsführer-SS Heinrich Himmler. Dafür konnte die in Israel arbeitende Journalistin und Filmemacherin aus einem umfangreichen Konvolut aus privaten Briefen, Fotos und Tagebüchern der Familie Himmler schöpfen, die nach Kriegsende zunächst vernichtet schienen, sechzig Jahre später aber überraschend wieder auftauchten. In ihnen wird das Private politisch, auch wenn die große Weltpolitik, der schreckliche Krieg und die grausamen Verbrechen Himmlers zunächst weit entfernt scheinen. Gerade der Kontrast zwischen systematischem Massenmord und der ungetrübten Alltagsnormalität des Familienlebens erreicht im Verlauf des Films eine geradezu obszöne Dimension.

Nachgezeichnet wird aber vor allem Himmlers Biographie zwischen seiner Geburt im Jahre 1900 und seinem Selbstmord im Mai 1945. Durch eine ebenso geschickte wie genaue Montage des sorgfältig recherchierten Materials verschränkt Lapa familiäre Selbstzeugnisse mit selten gezeigten historischen Filmaufnahmen, um die Gleichzeitigkeit von Normalität und Verbrechen zu dokumentieren und „die innerste psycho-kulturelle Wahrheit des Bösen“ zu erforschen. So entstehen gleich mehrere kritische Geschichten, aus denen diejenige Himmlers aber herausragt.

In einem Liebesbrief an seine Frau Margarete bezeichnet sich Himmler einmal als einen „garstigen Mann mit schwarzer Seele“. Diese frivol gemeinte Selbstcharakterisierung verweist nicht nur auf eine schreckliche Wahrheit, sondern auch auf das eklatante Missverhältnis eines perspektivischen Wissens, das den Familienvater vom Mörder und die Frau von ihrem Mann scheidet. Dabei sind sich die Eheleute in ihrem reaktionären Welt- und Menschenbild durchaus einig. Der Film zeigt, wie unter den Wirkungen des Zeitgeistes und den Versprechungen des aufkommenden Nationalsozialismus aus einem leicht ausgegrenzten, konservativen Durchschnittsbürger mit Geltungsdrang ein brutaler Rassenideologe wird.

Die frühe Verachtung des Fremden und Anderen, der Ruf nach Disziplin und Ordnung sowie Elitedenken und ein mangelndes Unrechtsbewusstsein sind einige der furchtbaren Konstanten, die Himmlers Charakter bestimmen. Seine Vorahnung einer „grausigen Zukunft“ bewahrheitet sich im millionenfachen Massenmord schließlich auf unmenschliche Art und verweist zugleich auf eine überindividuelle geschichtliche Dynamik. Vanessa Lapa geht es aber nicht um eine Entlastung der Täter; ihre mitunter kommentierende Montage stellt vielmehr Fragen und zeigt in erschütternden Bildern die historischen Verbrechen und die noch immer schwelenden Wunden.

[Zu diesem Film gibt es hier noch eine weitere Kritik.]

Hin und weg

(D 2014, Regie: Christian Zübert)

Abschied in Ostende
von Wolfgang Nierlin

Ein noch junger Mann auf einem Hometrainer fährt angestrengt gegen sich selbst und gegen die Zeit. Sein tägliches Leistungspensum wird schwächer, seine Kräfte lassen kontinuierlich nach. Denn der 36-jährige Hannes …

Ein noch junger Mann auf einem Hometrainer fährt angestrengt gegen sich selbst und gegen die Zeit. Sein tägliches Leistungspensum wird schwächer, seine Kräfte lassen kontinuierlich nach. Denn der 36-jährige Hannes (Florian David Fitz) leidet an der unheilbaren Nervenkrankheit ALS, an der schon sein Vater gestorben ist. Im Kontrast und in der Verbindung zu ihm zeigt Christian Zübert in der Exposition zu seinem neuen Film „Hin und weg“ in einer mit Splitscreens arbeitenden Montagesequenz das Ensemble seiner Freunde: Eine mehr oder weniger lustige Runde von Thirtysomethings, die zu diesem Zeitpunkt – ebenso wenig wie der Zuschauer – noch nichts von Hannes tödlicher Krankheit wissen und deren generationstypischen Probleme im Vergleich dazu marginal erscheinen. Während Frauenheld Michael (Jürgen Vogel) als liebenswerter Macho und lockerer Hallodri die sexuellen Freuden seines Single-Daseins kultiviert, stecken Mareike (Victoria Mayer) und Dominik (Johannes Allmayer) im Ehe-Frust ihrer langjährigen Beziehung fest.

Kurz darauf wechselt Züberts in Cinemascope gedrehter Ensemblefilm, der die Balance sucht zwischen Heiterkeit und Ernst, in den Modus des Roadmovies. Gemeinsam unternimmt die Clique, zu der auch Hannes Freundin Kiki (Julia Koschnitz) gehört, eine Fahrradtour nach Belgien. Für Hannes soll es ein Abschied sein, denn sein noch geheimer Zielort ist eine Sterbeklinik in Ostende. Als er sich bei einem Zwischenstopp im Hause seiner Mutter Irene (Hannelore Elsner) den Freunden eröffnet, sitzt deren Schock tief und der eben noch lockere Tonfall verstummt schlagartig. Ihrem Gesprächsbedürfnis begegnet der mal kämpferische, meistens jedoch nachdenkliche Hannes mit den Worten: „Ich will nicht quatschen, sondern einfach nochmal mit den Freunden abhängen.“ Und Michael verspricht: „Wir hauen nochmal richtig auf die Kacke!“

Genau darin liegt ein Problem des Films. Zwar entdecken in der Folge, vermittelt durch ein Gruppenspiel, vor allem die Freunde ihr eigenes Leben neu; doch zu oft hat man den Eindruck, als erschöpfe sich dieses primär in einem lustvoll-spaßigen Hedonismus. Immer wieder beschwört der Film, unterstützt durch stimmungsvolle Musik, den Wert von Beziehungen und rührt dabei an die Gefühle; eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Thema Sterbehilfe oder auch den inneren Konflikten, die zu Hannes‘ Entscheidung für einen selbstbestimmten Tod führen, bleibt aus. Überhaupt ist die Zeichnung der Charaktere relativ flach und der realistische Grundton nur an manchen – vor allem gewichtigen Stellen – nicht plakativ. So hinterlässt der Film einen zwiespältigen Eindruck: Die zweifellos vorhandenen Diskussionsanlässe müssen seinem routiniert vorgetragenen Unterhaltungswert gewissermaßen abgetrotzt werden.

Der Anständige

(D / ISR / AT 2014, Regie: Vanessa Lapa)

Porträt des Reichsführers als darmkranker Gatte und Papa
von Drehli Robnik

Vanessa Lapas deutsch-österreichisch-israelisch koproduzierter Dokumentarfilm über den Reichsführer SS Heinrich Himmler heißt 'Der Anständige'. Dieser Titel bezieht sich auf eine Passage in Himmlers notorischer 'Posener Rede' vom Herbst 1943 (die …

Vanessa Lapas deutsch-österreichisch-israelisch koproduzierter Dokumentarfilm über den Reichsführer SS Heinrich Himmler heißt 'Der Anständige'. Dieser Titel bezieht sich auf eine Passage in Himmlers notorischer 'Posener Rede' vom Herbst 1943 (die am Filmende auch in verrauschtem O-Ton erklingt): Darin bescheinigte er zahreichen versammelten SS-Granden, sie und er seien bei all dem nervenzehrenden und kräfteraubenden Judentöten doch stets anständig geblieben (und dieser Anstand bei einer quasi heiklen Aufgabe sei, so Himmler weiter, 'ein niemals zu nennendes Ruhmesblatt').

Hier verkehrt sich Anstand in ein Gegenteil, in Mordgier; dieser wiederum verleiht der Anstand die Ordentlichkeit, die Routine auch, die die vernichtungsrassistische Mordgier braucht, um zu einem Projekt im Maßstab der von den Nazis dimensionierten Größe und Dauer zu werden. Die Eigenschaft, anständig zu sein, ist, mehr als andere Wertungen von Haltung und Verhalten im menschlich-sozialen Zusammenleben, ziemlich ruiniert, was ihre Brauchbarkeit zu eindeutigen Bestimmungen betrifft; sie fängt sofort – wie mensch heute so sagt – zu 'schillern' an. Das liegt zum einen an den Wortkorrumpierungen, die der Nazismus und sein Nachwirken uns hinterlässt (um nur drei Merkwürdigkeiten zu nennen: von den angeblichen Worten Hermann Görings bei seiner Festnahme durch US-Truppen 1945 'Wenigstens zwölf Jahre anständig gelebt' bis zum terminologisch nicht zimperlichen Reden von der Einteilbarkeit der 'damals' handelnden Menschen in die 'Rasse der Anständigen' und die 'Rasse der Unanständigen', wie es im österreichischen Hinweg-Moralpsychologisieren der landesspezifischen Nazi-Vergangenheit in den späten 1980er Jahren gängig war – zu genau der Zeit, als jener Bundespräsidentschaftskandidat Kurt Waldheim, später als Staatsoberhaupt in Wien zurecht isoliert, sich auf seine 'Pflichterfüllung' bei der Wehrmacht (und der Reiter-SA) berief, den später Helmut Kohl in seinen jüngst erschienenen Erinnerungen als einen 'anständigen Mann' bezeichnete, 'der viel zu feige war, um unanständig zu sein'. Zum anderen liegt das semantisch Unbeständige des Anständigen am kontinuierlichen Absinken der Rhetorik von Anständigkeitsmoral in Bereiche des Nicht-ganz-erlaubt-Sexuellen oder Alltagsobszönen, so wie wir einen schlüpfrigen Witz oder manche der von o.g. Kohl memorial verwendeten Kraftausdrücke als 'unanständig' bezeichnen (bzw. tun wir das, sofern wir schon ein bissi älter und halt immer noch manchmal bissi 'unanständig' sind).

In dieses Mehrdeutigkeitsfeld der Anständigkeit begibt sich der Film 'Der Anständige' beherzt, und in mindestens zweierlei Sinn nimmt er die Anständigkeit beim Wort, also in ihrer stets zum Umkippen von Bedeutung bereiten Buchstäblichkeit. Zum einen wird hier ein Mordsspießer anhand und durch Selbstzeugnisse aus jüngst gefundenen Tagebüchern und Familienbriefwechseln, zumal dem Briefwechsel mit seiner Frau, porträtiert. Das liebessehnsüchtige Geturtel des jungen, aber bereits mit dem Aufbau der NSDAP-Schutzstaffel-Elite sehr gestressten, Himmler mit seiner Gemahlin versetzt uns sofort in den schwülstigen Kernbestand des 'Unanständigen': 'Du Schlingel!' und 'Du böser, böser Mann' schreibt Frau Himmler ihrem Heini und was der gurrenden Schlüpfrigkeiten mehr sind, von denen wir vielleicht gar nicht so genau wissen wollten. Etwas später sorgen die Himmlers sich dann etwa über Unanständigkeiten ihres ins schulpflichtige Alter kommenden Ziehsohnes, der halt immer so viel lügt. Herr Mörder und Frau Gemahlin – auch ihre Briefe und Tagebuch schreibende Tochter, dazwischen zweimal Himmlers Vater, der seinen befehlsgewaltigen Sohn mit Bittgesuchen für von seiner Polizei verfolgte Bekannte behelligt – werden beim Wort genommen. Im Bild dazu sehen wir, chronologisch nach Kapiteln geordnet von der Kaiserzeit bis zum Suizid des Reichsführers 1945, Filmaufnahmen und Fotos von Himmler und den Seinen. Vieles ist aus den Highlights des Geschichtsfernsehens bekannt, manche Privatfotos muten noch ungesehen an.

In der Inszenierung seines Materials verfährt 'Der Anständige' allzu anständig – allzu folgsam und brav im quasi Auf-Punkt-und-Beistrich-Einhalten und Ausführen von Konventionen, die sich ebenfalls im Geschichtsfernsehen der letzten Jahrzehnte aufgehäuft haben: Das reicht vom 'Archivtrick' – der suggeriert, das hier nun endlich Enthüllte sei irre geschichtswichtig und mache uns als Zusehende zu mehr-wissenden Eingeweihten – über das Vertonen und Midiklavierverkleistern von Filmmaterial (damit der Erste Weltkrieg knallt und auch sonst die Stimmung stimmt) und das dramatisierende Abzoomen von Fotos ('Ken Burns'-Effekt heißt das, nach einem US-Geschichtsfernsehzampano) bis zum Luftdichtverschluss von Bild-Ton-Beziehungen. Letzterer, der auch ja keinen Gedanken durchlässt, wird mal illustrativ hergestellt: Der junge Student Himmler vertraut seinem Tagebuch seinen Tanz mit einem 'Judenmädel' an, dazu sehen wir passende Bilder von irgendeiner Bierlokaltanzerei so circa 1920 (oder 1922, was soll‘s); der gleich junge Himmler, etwas geknickt darüber, 'noch nie poussiert' zu haben, ergeht sich in Schwärmereien über nordische Maiden, dazu Bilder von BdM-Formationen bei der Gymnastik, circa zehn Jahre später; Berlin 1930 – wir hören Marlene Dietrich singen. Aber auch Ironie im Verhältnis des Bildes zum Ton, vielmehr: zum Wort, ist hier eine Form, Lückenlosigkeit zu erzielen, so etwa wenn nackte SS-Männer zu sehen und dazu homophobe Tiraden ihres Chefs zu hören sind.

Die Quasi-Anständigkeit im Durchexerzieren des Konventionellen, das heißt ja heutzutage, dass eine Geschichtsfernsehminiserie oder Doku – bzw. dass diese Doku – eben so kess und pfiffig daherkommt, wie es im Jahr drei nach Knopp vorschriftsmäßig gefordert ist: Der hier erhobene Anständigkeitsvorwurf geht nicht dahin, der Film sei zu altbacken oder fad, sondern gilt seiner Bravheit gerade auch beim Gewitzt-Sein.

'Besuch im KZ Dachau: ein sehr großer Betrieb', schreibt die Tochter um 1942. Sehr großer Betrieb herrscht auch beim Herrn Papa; all der Todeslagerinspektionsstress schlägt ihm auf den Bauch: ,,Diese Darmgeschichten sind doch sehr eklig,' schreibt Heini himself. Ein Schelm, wer da – als ein Echo des Hannah Arendt-Worts über den (unterstellten) Bürokratismus Adolf Eichmanns – an die schiere Analität des Bösen denkt.

Tägliche Sorge ums Leibliche in sich und in der Familie, tödliche Sorge ums Blut im Volk: Diesen Konnex als ideologischen Kern einer spezifisch nationalsozialistischen Biopolitik herauszuarbeiten, hätte Sinn gemacht, hätte dem Film gutgetan, hätte der Inszenierung von 'Der Anständige' eigentlich auch kaum Schwierigkeiten gemacht; dies deshalb, weil sie die Engführung der Durchsetzungen von Anstand im Alltag, Wohlstand im Reich und Massenmord an jüdischen und slawischen Bevölkerungen ohnehin stets einprägsam forciert. Jedoch: zu welchem Ende? Also, zu welchem Zweck, und wo geht das hin? Anstelle der Bild-Werdung von Politik (ihrer Analytik wie auch Sinnfällig-, Sinnlich-, Einsichtig-Machung) wird hier – wie auch sonst in Geschichtsmedialisierungen von 'Der Untergang' über 'Die Enkelinnen der Männer des 20. Juli' bis zur Frage, wie es denn Leuten heute so geht, die sich ihren Nachnamen mit Nazi-Größen teilen, oder wie gelungen Erfolgsarchitekt Albert Speer Junior einige der Reichskanzlei-Innenhöfe aus der Planungsfeder von Erfolgsarchitekt Albert Speer Senior heute findet – wird also in 'Der Anständige' Familie zur Universalkategorie von Geschichtserfahrung. Familie nicht als eine Konstruktion, die Feudalstaaten so, bürgerliche Kapitaldemokratien so und Nazis nochmal anders einrichten, sondern als eine anthropologisch schlichtweg gegebene Kontrastfolie zu all dem Irrsinn, den Schlingel Heinrich anrichtet.

Dass am Ende von 'Der Anständige' wenig mehr als Gänsehaut, Fremdschämen, Kopfschütteln und manch herzliches Lachen übrigbleibt – und zwar gut fünfzehn Jahre nachdem Romuald Karmakar für sein 'Himmler-Projekt' den Schauspieler Manfred Zapatka im Rollkragenpulli die komplette 'Posener Rede' nüchtern, weder brechtisch noch faustisch noch ganzlich, vom Blatt lesen ließ und ihn dabei filmte: ein deutscher Text zu österreichisch anständig mitgemachtem Morden in seiner Entfaltung als Fläche, Zeit, Scape, Bild, Erfahrung – dass also das so ist, das liegt nicht zuletzt daran, wie hier das Zugleich von Töten, Turteln und Tochterhätscheln im unbeschwerten Intonieren/Ironisieren der Haupt-Himmlerstimmen (Er: Tobias Moretti, Sie: Sophie Rois) als psychologisches Kuriosum zerblödelt wird.

Am Sonntag bist du tot

(IRL / GB 2014, Regie: John Michael McDonagh)

Bildfüllend rechtschaffen
von Wolfgang Nierlin

Die Stimme eines an Körper und Seele Missbrauchten kommt aus dem Off – der Dunkelheit ungezählter Opfer sexueller Gewalt. Er sei ab seinem siebten Lebensjahr fünf Jahre lang von einem …

Die Stimme eines an Körper und Seele Missbrauchten kommt aus dem Off – der Dunkelheit ungezählter Opfer sexueller Gewalt. Er sei ab seinem siebten Lebensjahr fünf Jahre lang von einem mittlerweile verstorbenen katholischen Priester vergewaltigt worden, sagt der Unbekannte in einem harten, anklagenden Tonfall. Der ihm mit zunehmender Erschütterung und Anteilnahme zuhört, ist ebenfalls Geistlicher und sitzt bildfüllend und mit aufmerksamer Miene im schwachen Licht eines Beichtstuhls. James Lavelle (Brendan Gleeson), der Priester einer kleinen Gemeinde an der rauen Nordwestküste Irlands, ist ein lebenskluger, erfahrener Mann, der die dunklen Seiten des Lebens kennt und allem Weltlichen gegenüber keine Berührungsängste hat. Doch als das Missbrauchsopfer plötzlich ankündigt, ihn, den Rechtschaffenen, stellvertretend für die bösen Taten eines Anderen und damit auch der katholischen Kirche töten zu wollen, schleicht sich zunehmend Unruhe in seinen Geist. Als Hinrichtungsdatum nennt der Ankläger den kommenden Sonntag. Er solle „sein Haus in Ordnung bringen“ und „Frieden mit Gott schließen“. Sieben Tage bleiben dem Priester James Lavelle.

„Calvary“, also Kalvarienberg, heißt John Michael McDonaghs neuer, in Deutschland mit einem leicht irreführenden Titel und missverständlicher Werbung startenden Film „Am Sonntag bist du tot“ im Original. In Verbindung mit dem vorangestellten Augustinus-Zitat über das ungleiche Schicksal der beiden Diebe an der Seite des gekreuzigten Christus folgt der Film, gegliedert nach den einzelnen Wochentagen, vor allem den Stationen eines Kreuzweges. Eingangs versammelt bei der Kommunion, begegnet der ebenso umgängliche wie schlagfertige Lavelle nach und nach den „sündigen“ Mitgliedern seiner Gemeinde. Dabei wird er unter anderem mit ehelicher Gewalt, Ehebruch, sexueller Freizügigkeit, Habgier, provozierender Gottlosigkeit und nicht zuletzt einem jungen Mörder konfrontiert. Schroff, ablehnend und sarkastisch tritt ihm diese Welt aus Schuld und Gemeinheit entgegen. Doch Lavelle, der sich in bezug auf den Glauben der Menschen keinen Illusionen hingibt, reagiert nicht als weltfremder, prinzipientreuer Kirchenvertreter, sondern als verständiger Mensch.

„Gott ist groß. Die Grenzen seiner Gnade wurden noch nicht festgelegt“, antwortet er auf die Verzweiflung des besagten Mörders. Und doch ist sein Plädoyer für die Kraft der Vergebung im Verlauf der Woche immer wieder heftigen, hasserfüllten Anfeindungen und persönlichen Rückschlägen ausgesetzt, die schließlich auch Lavelles menschliche Schwäche und Zerbrechlichkeit zeigen. Dicht und konzentriert erzählt John Michael McDonagh ein düsteres Drama vor rauer Naturkulisse, dem alle Hoffnung auf Versöhnung ausgetrieben scheint. Inmitten einer desillusionierten, zynischen Gesellschaft gerät der Opfergang des Priesters zur vielschichtigen, von schwarzhumorigen Anspielungen und (falschen) Fährten durchwirkten Parabel über Gut und Böse. Noch im Abspann, in den Bildern der Abwesenheit, ist diese Ambivalenz auf poetische Weise zu spüren.

Dreckskerle

(F 2013, Regie: Claire Denis)

Durchgehend dunkel
von Wolfgang Nierlin

Es ist Nacht und es gießt in Strömen. Eine Regenwand aus prasselnden Wassertropfen, gebrochen von schwachen Lichtreflexen, füllt die Leinwand. In der Naheinstellung wirkt dieses Bild fast abstrakt und erzeugt …

Es ist Nacht und es gießt in Strömen. Eine Regenwand aus prasselnden Wassertropfen, gebrochen von schwachen Lichtreflexen, füllt die Leinwand. In der Naheinstellung wirkt dieses Bild fast abstrakt und erzeugt graphische Muster. Doch das Konkrete verflüssigt sich nicht ganz, sondern fließt in Wassermassen von den Hauswänden, als handelte es sich um Sturzbäche, die alles mit sich fortreißen oder wegspülen. Allerdings folgt auf die Vision der Reinigung in Claire Denis‘ aktuellem Film „Les salauds – Dreckskerle“ ein Abstieg in die Hölle aus Schuld und Rache, sexueller Gier und Ausbeutung. Die fast durchgehende Dunkelheit der Bilder hat auch die Seelen der Protagonisten verfinstert. „Alles ist außer Kontrolle“, wird an späterer Stelle einmal eine der Leidtragenden sagen, um das Geflecht aus finanziellem Ruin, einem allgemeinen Werteverlust und moralischem Verfall zu beschreiben.

Ein verzweifelter und hoch verschuldeter Schuhfabrikant hat sich in den Tod gestürzt. Mit verlorenem Blick verlässt seine Witwe Sandra (Julie Bataille) den Schauplatz des Schreckens. Sie weiß nicht, wie es weitergehen soll; zumal ihre Tochter Justine (Lola Créton) als stummes Opfer sexueller Gewalt an Körper und Seele zerstört ist. In dieser schmerzlichen Situation kommt Sandras Bruder Marco Silvestri (Vincent Lindon) zur Hilfe, der sich früh von den Familiengeschäften losgesagt hat, um ein „anderes Leben“ als Frachtschiffkapitän zu führen. Der geschiedene Familienvater ist ein unabhängiger Geist, ein Mensch mit Prinzipien und ein sehr männlicher Melancholiker. Jetzt wird er in die alten, einst verlassenen Strukturen zurück gezwungen, begleicht mit seinen spärlichen Mitteln die Schulden der Schwester und bewohnt eine leere Pariser Wohnung, um dem mutmaßlichen Hauptschuldigen des Desasters aufzulauern. Édouarte Laporte (Michel Subor) ist ein von Machtgier und sexueller Geilheit getriebener Geschäftemacher, dessen Frau Raphaëlle (Chiara Mastroianni) wie eine Gefangene lebt. Mit eben dieser beginnt Marco Silvestri ein Verhältnis.

Doch Claire Denis‘ moderne Erzählkunst ist einmal mehr weniger linear, als das hier erscheint. Die bedeutende französische Regisseurin fragmentiert die Handlung, lässt vieles offen oder nur angedeutet und schafft gerade dadurch einen verzweigten Raum für Ergänzungen und Interpretationen. Oft werden nicht die Ereignisse selbst gezeigt, sondern ihre Wirkungen, aus denen sich dann nach und nach vielschichtige Zusammenhänge entwickeln. Immer wieder auch lenkt Claire Denis den Blick auf Details, auf Gegenstände und Gesten und entfaltet durch diese Intimität eine Art symbolische Spannung, die mit der düsteren Atmosphäre des Films verschmilzt und die zugleich in Kontrast tritt zu einem Realismus, der weder den Traum noch das Spekulative scheut. Unterstütz von einem beeindruckend starken Schauspielerensemble, den kongenialen Körperbildern der Kamerafrau Agnès Godard und dem atmosphärischen Soundtrack der Tindersticks ist Claire Denis ein kompromisslos desillusionierender Film über das Scheitern gelungen, dem fast alle Hoffnung ausgetrieben ist.

Bilderwelten vom Großen Krieg 1914-1918

(D 2014, Regie: Alexander Kluge, Heinz Bütler)

Papiertiger des Kriegs
von Lukas Schmutzer

Die nun erschienene DVD „Bilderwelten vom Großen Krieg 1914-1918“ kommt in einer Kartonverpackung gemeinsam mit einem 83-seitigen, edel gedruckten, reich bebilderten sowie reich beschriebenen Begleitheft und mit 5 Postkarten, die …

Die nun erschienene DVD „Bilderwelten vom Großen Krieg 1914-1918“ kommt in einer Kartonverpackung gemeinsam mit einem 83-seitigen, edel gedruckten, reich bebilderten sowie reich beschriebenen Begleitheft und mit 5 Postkarten, die Nachdrucke zeitgenössischer, dazumal per Post geteilter Schnappschüsse darstellen. Der Datenträger selbst versammelt 18 Filme zweier Autoren zu insgesamt 3 Stunden, wobei ein genauerer Blick in die ausführliche Inhaltsangabe (Teil des Begleitheftes) verrät, dass es sich um 6 Werke des einen und um 12 Werke des anderen handelt. Nach Sichtung des Materials beschleicht einen das Gefühl, dass es sich womöglich schlicht um zwei Werke handelt, die da ineinandergeschichtet wurden: eines Alexander Kluges, und eines Heinz Bütlers.

Im Titel fehlt eine zur Konvention gewordene Nummerierung, stattdessen suggeriert die Zitation eines großgeschriebenen Krieges ein unzeitgemäßeres Eintauchen in damalige Welten. Bilder „lügen anders und sagen anders die Wahrheit als das Gedruckte“, belehrt der Klappentext. Das will schon mit dem Titelbild demonstriert werden, wo das Schutzzeichen der Genfer Konvention neben die Gasmaske gesetzt ist, welche zum Schutz vor jenem dient, welches keine Unterschiede mehr macht – die wörtliche Größe des Kriegs scheint hier ihre Referenz zu finden.

Die Filme Heinz Bütlers machen es sich zur Aufgabe, Kontexte für Fotografien aus der Zeit des Krieges zu finden, was im Gespräch mit Historikern und einer Literaturwissenschaftlerin geschieht (aber auch Karl Kraus darf einmal zu Wort kommen). Bütlers Fokus liegt dabei auf der Schweiz, welche im Rahmen der „Schweizer Grenzbesetzung“ unter großem Aufwand und vielen Entbehrungen ihre Neutralität sicherte. Ein erschwinglich gewordener Preis ermöglichte es damals selbst Amateuren (also einfachen Soldaten), rasch und leicht Fotos zu schießen, welche dann als Postkarten massenhaft von der Front in die Heimat geschickt wurden. Vier mit „Schöner wär’s daheim“ betitelte Episoden zeigen, kommentieren und interpretieren diese zahlreich erhaltenen Zeugnisse: Die oft komischen Inszenierungen des Soldatenalltags verbergen neben ihrer zentralsten Funktion, der Verwandtschaft einfach ein Lebenszeichen zukommen zu lassen, auch ein außergewöhnliches Maß an Kritik, und verraten durch das, was sie ausklammern, einiges über die Verhältnisse im Dienst.

Ein zweiter Blick widmet sich den Sendungen von Beteiligten aller Kriegsparteien an die „Schwarze Madonna“ im Schweizer Benediktinerkloster Einsiedeln: Man schickte ihr Portraitfotos der eingerückten Soldaten mitsamt genauen Informationen zur Person (um Verwechslungen ausschließen zu können), damit die Heilige diese am Foto identifizieren könne und in der Gefahrensituation über sie wache. Der Historiker Valentin Groebner weist dies als charakteristisch für die Moderne aus. Derartige systematische Bildlektüren stellen die vielleicht spannendsten Momente der vorliegenden Ausgabe dar.

So zurückhaltend Bütler Menschen und Bilder sprechen lässt, so vehement dringt die Perspektive Alexander Kluges in ihren Stoff ein. Kluge, der Realität einmal als „geschichtliche Fiktion“ von „Papiertiger-Natur“ bezeichnete, bedient sich verschiedener Formen, um die Realität des Ersten Weltkrieges zu zerschneiden. Zwar führt auch Kluge in erster Linie Interviews; anders als Bütler bringt er sich in diesen aber mit suggestiven Wendungen immer wieder ein. Mit Christopher Clark, Gerd Krumeich oder Herfried Münkler sind dabei Autoren aktueller einschlägiger Publikationen zum Ersten Weltkrieg vertreten. Neben diesen oft leider nur sehr knapp bemessenen, aber konzisen Gesprächen werden auch Befragungen von Zeitzeugen inszeniert, die auf etwas verfremdende Weise u.a. von Helge Schneider dargestellt werden. Zuletzt sind es Montagen, die Filme und Fotos aus dem Krieg mit Textfragmenten kombinieren, die an die Zwischentitel von Stummfilmen erinnern. Auf diese Weise wird von Wegen nach Verdun, Gasangriffen oder aus der Familiengeschichte des Autors erzählt. Die Textfragmente jener Episoden finden sich interessanterweise als übersichtlicher Fließtext im Begleitheft – was wiederum die Frage aufwirft, was hier eigentlich auf was verweisen soll. Wird der Fließtext erst durch die Bilder vollständig? Oder bleiben die Filme ohne den vollen Text unverständlich, weshalb er in Papierform beigelegt werden muss?

Fazit: Vor allem die kaum bekannten Details, die in den zahlreichen Filmen von „Bilderwelten vom Großen Krieg 1914-1918“ gezeigt werden, machen die DVD sehenswert.

Shirley – Visionen der Realität

(A 2013, Regie: Gustav Deutsch)

Die Schatten benennen
von Wolfgang Nierlin

In seiner Malerei war der amerikanische Künstler Edward Hopper (1882 – 1967) vom Film beeinflusst, insbesondere vom Film noir mit seinem Spiel aus Licht und Schatten. Seine vermeintlich realistischen Gemälde …

In seiner Malerei war der amerikanische Künstler Edward Hopper (1882 – 1967) vom Film beeinflusst, insbesondere vom Film noir mit seinem Spiel aus Licht und Schatten. Seine vermeintlich realistischen Gemälde inspirierten wiederum so unterschiedliche Filmregisseure wie Alfred Hitchcock und Wim Wenders. Hoppers Kunst der inszenierten Wirklichkeit faszinierte auch den österreichischen Filmkünstler Gustav Deutsch und veranlasste ihn zu einem ebenso ungewöhnlichen wie im Ergebnis vielschichtigen Experiment: In seinem Film „Shirley – Visionen der Realität“ inszeniert er insgesamt dreizehn Bilder Edward Hoppers, die zwischen 1931 und 1963 entstanden sind, um sie in der fiktiven Nachstellung zum Leben zu erwecken. Dabei nutzt er die relative Offenheit seiner Vorlagen für einen Exkurs in die jüngst amerikanische Geschichte, die sich wiederum im Portrait seiner Titelheldin widerspiegelt.

Gustav Deutschs filmkünstlerische Transformationen, die dem Dialog zwischen Malerei und Film verpflichtet sind, beruhen maßgeblich auf präzise nachgebauten Räumen, ihrer farblichen Gestaltung sowie ihrer berückenden Ausleuchtung. Dieses bühnenartige, statische Konzept mit seinen vielfältigen Rahmen, die die jeweiligen Tableaux vivants einschließen, wird zum einen aufgebrochen durch einen gewichtigen Ton-Raum im Off; zum anderen durch die eleganten, fein austarierten Bewegungen der Tänzerin Stephanie Cumming, die in der Figur der Shirley eine emanzipierte Frau und selbstbewusste Schauspielerin verkörpert. Ihre anspielungsreichen Monologe aus dem Off reflektieren dabei nicht nur ihr schillerndes Metier sowie ihre langjährige Beziehung zu dem Fotojournalisten Stephen (Christoph Bach), sondern auch die politische Geschichte des Landes.

Deutschs Film, der in einem Zugabteil beginnt, unternimmt eine Zeitreise und öffnet sich zugleich der Imagination, indem er seine Arrangements offen hält für die subjektiven Projektionen der Zuschauer. Dabei kreist Gustav Deutschs Nachdenken um das Verhältnis von Realität und Kunst. Wie wirklich ist die mutmaßliche Wirklichkeit angesichts der wandernden Schatten in Platons Höhlengleichnis, dessen „Politeia“ zur Lektüre der Protagonisten gehört? Oder: Verliert ein Körper unter dem quasi neutralen Blick des Kameraauges seine individuelle Geschichte? Deutsch pflegt aber nicht nur einen poetischen Kunstdiskurs, der in seinen stärksten Momenten auch existentielle Fragen berührt, sondern er zitiert auch konkret Zeitgeschichte, etwa mit der berühmten Rede „I have a dream“ des schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King. Politisch positioniert er sich damit bewusst gegenüber dem als konservativ geltenden Edward Hopper und huldig damit zugleich der Freiheit seiner eigenen künstlerischen Interpretation beziehungsweise Schöpfung.

Under The Skin

(GB 2013, Regie: Jonathan Glazer)

Dunkles Fleisch, leere Hüllen
von Wolfgang Nierlin

Ein Lichtpunkt löst sich aus der Dunkelheit, wird größer, wandelt sich zur Sonne, die sich verdunkelt, wird zum Objektiv, zum Auge. Auf die kosmische Metamorphose folgt eine irdische, von Störgeräuschen …

Ein Lichtpunkt löst sich aus der Dunkelheit, wird größer, wandelt sich zur Sonne, die sich verdunkelt, wird zum Objektiv, zum Auge. Auf die kosmische Metamorphose folgt eine irdische, von Störgeräuschen und irrlichternden Sounds unterlegt: In einer in der Dämmerung liegenden Berglandschaft birgt ein unheimlicher Motorradfahrer eine Frauenleiche. Daraufhin blicken wir in einen gleißend hellen Raum, in dem eine andere Frau der Toten die Kleider auszieht, um sie sich wie eine zweite Haut überzustreifen, als nähme sie eine andere Identität an. Im Bild auf bloße, dunkle Silhouetten reduziert und im Ton hyperrealistisch verfremdet, scheint es, als vollziehe sich eine Geburt oder Schöpfung.

Jonathan Glazer spielt in seinem experimentierfreudigen und deshalb umstrittenen neuen Film „Under The Skin“ mit der Idee und den Möglichkeiten der Verwandlung, indem er extreme Kontraste zwischen Licht und Dunkelheit, dokumentarischer Wirklichkeit und künstlichen Settings gestaltet. Er verbindet dabei Elemente des Mystery-Thrillers mit Anleihen beim Science-Fiction-Film, um die rätselhafte, für vielerlei Interpretationen offene Parabel zu erzählen.

Die mysteriöse Fremde (Scarlett Johansson) aus einer anderen Welt, die weder Nahrung noch Wärme zu brauchen scheint, ist eine Femme fatale. Mit starrem Blick, rot angemalten Lippen und schlafwandlerisch mechanischen Bewegungen spricht sie, verfolgt von einer subjektiven Handkamera, männliche Passanten an, um sie zu locken, zu verführen. Gebannt vom sexuellen Begehren, werden diese Männer zu Opfern ihrer Lust: Während sie der gefährlichen Schönen in die Dunkelheit eines verwitterten, alten Hauses folgen, versinken sie nacheinander in einer schweren, öligen Flüssigkeit, gehen dabei unter und bleiben wie in einer engen Haut gefangen, bis schließlich ihr Inneres zerplatzt und eine leere Hülle zurücklässt.

Ist die unheilvolle Fremde eine Abgesandte mit tödlichem Auftrag? Oder befindet sie sich gar auf einem Rachefeldzug gegen die Männerwelt? Weder scheint sie Schuld noch Mitleid zu kennen. Doch als ein Mann mit entstelltem Gesicht und unterdrückter Sexualität in ihren Lieferwagen steigt, erwachen plötzlich ihre Gefühle; und sie entdeckt kurz darauf in ihrem Spiegelbild sich selbst. Ihre „Mission“ beginnt zu scheitern, ein Bruch entsteht, der aus dem weiblichen Alien einen gefühlsbegabten Menschen in einer künstlichen Körperhülle werden lässt. Mit großen Augen blickt die doppelt Fremde jetzt in eine wirklich neue Welt, mit der sie – auch visuell – zunehmend verschmilzt, erlebt eine Art zweiter Geburt und wird zugleich zum Opfer.

Vor allem im zweiten Teil seines mysteriösen Films gewinnt die Handlung an Dynamik und Spannung, verwandelt sich die etwas starre Versuchsanordnung der ersten Hälfte zunehmend in einen psychedelischen Trip. Flucht, Verfolgung, Metamorphose: Der fremde weibliche Eindringling wird bekämpft (wie eine Hexe), löst sich auf, verflüchtigt sich; doch in der zirkulären Struktur des Films führt das Ende zurück zum Anfang.

Song from the Forest

(D / USA 2013, Regie: Michael Obert)

Falsche Wirtschaft
von Wolfgang Nierlin

Gleißendes Sonnenlicht, in leuchtende Streifen zerlegt, fällt in einen Wald. Dazu erklingt Renaissance-Musik von William Byrd. Sie verwandelt das unwegsame Dickicht in einen sakralen Raum und das Licht in göttliche …

Gleißendes Sonnenlicht, in leuchtende Streifen zerlegt, fällt in einen Wald. Dazu erklingt Renaissance-Musik von William Byrd. Sie verwandelt das unwegsame Dickicht in einen sakralen Raum und das Licht in göttliche Strahlen. Nach einem Schnitt sitzt ein Mann in einem Raum vor einer Wand, die wie ein Triptychon dreigeteilt ist: Während die beiden Außenflügel von Fenstern gebildet werden, die den Blick auf eine großstädtische Hochhausarchitektur lenken, dominiert im zentralen Mittelteil der Wand ein sattes Dunkelgrün. Nach einem weiteren Schnitt folgt die Kamera dem Mann – es ist der Musikethnologe Louis Sarno – durch das dichte Grün des zentralafrikanischen Regenwaldes mit seiner intensiven Geräuschkulisse aus unterschiedlichsten Tierlauten. In der abgeschiedenen Wald-Einsamkeit verschmilzt die Fülle des Lebens mit einem Gefühl der Zeitlosigkeit.

In wenigen Einstellungen versammelt der renommierte Reisejournalist Michael Obert die Themen seines Debütfilms „Song from the Forest“: den Kontrast zwischen Natur und Zivilisation, die „Suche nach spiritueller Gelassenheit“ und dem „großen Ganzen“ (Sarno), die Bedrohung von Lebensräumen einer uralten Kultur sowie die heilsame Kraft der Musik. Denn es waren die polyphonen Gesänge der Bayaka-Pygmäen, die den amerikanischen Musikologen berührten und wie magisch anzogen. Seit mittlerweile 25 Jahren lebt er nun bei den afrikanischen Wald-Nomaden inmitten einer fremden Kultur, die ihn aufgenommen, ja förmlich aufgesogen hat. Dabei findet er in der Zivilisationsferne nicht nur eine ihm gemäße Lebensform, sondern er dokumentiert auch die im Verschwinden begriffene Musik der Baka.

Als sein Sohn Samedi, das gemeinsame Kind mit einer Einheimischen, 13 Jahre alt ist, unternimmt er mit ihm eine Reise nach New York. Immer wieder liefert die Metropole mit ihren Wolkenkratzern und dem permanenten Verkehrslärm extreme Kontraste, die noch verstärkt werden durch Einspielungen der Pygmäen-Musik. So treffen beispielsweise die ekstatischen, von Trommeln und Gesängen befeuerten Tänze der Bayaka auf das hektische Konsumleben einer westlichen Großstadt. Sarno besucht Freunde und Verwandte, zum Beispiel seinen ehemaligen Studienkollegen, den Filmemacher Jim Jarmusch; oder auch seinen wohlhabenden Bruder, der ein ganz anderes Leben führt, sich aber aufgeschlossen und tolerant gegenüber anderen Lebensentwürfen zeigt. Louis Sarno ist in seiner alten Heimat zu einem Fremden geworden, der die „falsche Wirtschaft“ und den „Mangel an Leben“ beklagt. Fast scheint es, als treffe ihn der Kulturschock härter als seinen Sohn Samedie, der sich offensichtlich relativ schnell in der bunten Warenwelt mit ihren Oberflächenreizen und falschen Versprechungen zurechtfindet.

Feuerwerk am hellichten Tage

(CH / HK 2014, Regie: Diao Yinan)

Zurück zur Traumlogik
von Tim Lindemann

Kaum ein Begriff ist im populären Film-Diskurs der letzten Jahrzehnte so verwässert worden wie der des Film Noir – scheinbar wird jedem Krimi, Thriller oder anderem Genre-Film, der nicht gerade …

Kaum ein Begriff ist im populären Film-Diskurs der letzten Jahrzehnte so verwässert worden wie der des Film Noir – scheinbar wird jedem Krimi, Thriller oder anderem Genre-Film, der nicht gerade im kalifornischen Sonnenlicht badet, eine Noir-Verbindung unterstellt, oftmals mehr als diffus. Diese Tendenz schließt an einen klassischen filmwissenschaftlichen Disput an: Dieser dreht sich um die Frage danach, ob es sich bei Noir lediglich um eine 'Schwarze Serie' handelt, also um eine Reihe von Krimis mit bestimmten inhaltlichen und formellen Merkmalen, die zwischen 1941 ('Der Malteser Falke') und 1958 ('Im Zeichen des Bösen') in Hollywood produziert wurde; oder um ein eigenständiges Genre, mit spezieller Ikonographie und Entwicklung, das bis heute neue Vertreter hervorbringt. Die Antwort liegt wie so oft vermutlich im Mittelweg: Kitschige Ausstattungsfilme wie etwa vor Kurzem Ruben Fleischers Gangster Squad' haben trotz ihrer visuellen Annäherung im Grunde nichts mit Film Noir zu tun; Diao Yinans Berlinale-Gewinner 'Feuerwerk am hellichten Tage' hingegen übersetzt bestimmte Elemente des ursprünglichen Genre-Zyklus so subtil und überzeugend in sein gänzlich anderes Setting, dass man durchaus von einem 'echten' neuen Film Noir sprechen kann.

Was aber ist an diesem doch sehr mit seinem chinesischem Schauplatz verwurzelten Film eigentlich 'Noir'? Düstere, schwarz-weiße Tableaus mit messerscharfen Kontrasten und 'Low Key'-Beleuchtung darf man hier jedenfalls nicht erwarten. Ganz im Gegenteil: 'Feuerwerk am hellichten Tage' changiert von heller, grobkörniger Nüchternheit zu Nachtaufnahmen, die von knalligen Neon-Leuchten in traumartiges Licht gehüllt werden. 'Traumartig' ist in diesem Fall der entscheidende Terminus. Denn wo heute oft fälschlicherweise angenommen wird, dass Film Noir, entsprechend seines Ursprungs im Hard Boiled-Detektivroman, durch zynische Gewalttätigkeit charakterisiert sei, gehörte das schöne englische Wort oneiric, zu deutsch in etwa 'traumähnlich', von Anfang an zur Definition des Genres. Die eben nicht realistische, sondern ganz und gar expressionistisch geprägte Konstruktion der Großstadt-Settings war es, die den Look der alten Schwarzen Serie definierte. Straßen, die ins Nichts zu führen scheinen, zackige Fassaden, spitze Winkel – der Einfluss des Weimarer Kinos machte sich deutlich.

So muss auch Diao Yinans Film verstanden werden: Die nie konkret benannte chinesische Stadt des Films basiert auf einer emotionalen Architektur, der mit dem schwammigen Begriff des Realismus nicht beizukommen ist. So entladen sich hier etwa in der Zwischenwelt des Jahrmarkts erotische Spannungen, wird ein gigantischer Neon-Nachtclub zum Ort der Erkenntnis.

Dabei folgt 'Feuerwerk am hellichten Tage' zunächst einer durchaus handfesten Story, die mit verführerischer Eindeutigkeit einen politisch aufgeladenen Thriller zu versprechen scheint. Der Film beginnt mit dem kraftvollen Bild einer abgetrennten Hand in einem Meer aus schwarzer Kohle und dann der Entdeckung der Gliedmaßen durch die verstörten Bergleute beziehungsweise die Polizei. Schnell steht fest, dass ein Mord geschehen ist. Sollte sich der Film tatsächlich in dem eher unsubtilen Kommentar genügen, dass der gemeine chinesische Arbeiter buchstäblich vom monströsen Räderwerk zerkleinert wird?

Schnell wird aber deutlich, dass Yinan einen anderen Weg einschlagen wird als etwa sein Landsmann Jia Zhangke mit dem brutalen Polit-Opus A Touch Of Sin', wohin dieser Weg allerdings führen wird, bleibt bis zum bombastischen Finale des Films schwer einzuschätzen. Schon früh aber streut der Regisseur kleine, verunsichernde Momente ein, die, ohne in surreale Abgründe einzutauchen, die Story nach und nach aus den Angeln heben. In einer frühen, grandiosen Szene etwa lässt die Hauptfigur des Films, der Polizist Zhang, geräuschvoll eine Glasflasche eine lange Treppe hinunter- und somit in die Tiefe der Leinwand hinein rollen. Etwas später steht tatsächlich ein Pferd auf dem Flur. Dann zeigt 'Feuerwerk am hellichten Tage' plötzlich seine Zähne, überrascht mit einer abrupten Schießerei in bester Hongkong-Thriller-Manier und einem fließenden Zeitsprung. Von diesem Punkt an kann man den Film beinahe als eine moderne, chinesische Variante von Howard Hawks‘ Noir-Klassiker 'The Big Sleep' betrachten: Der Plot entfaltet sich zwar einerseits stetig, andererseits aber auch so ruckartig, dass sich zunächst verwirrende Bilder erst einige Minuten später aufklären, andere vielleicht auch gar nicht. Schließlich ist man aber so von der Chemie zwischen Zhang und der mysteriösen Wu Zhizhen, der Frau eines Verdächtigen, gefangen, dass man sich dem sorgfältig konstruierten Fluss des Films bedingungslos hingibt.

Mit einer kühnen Neuinterpretation des zentralen Film-Noir-Motivs der Femme fatale landet Regisseur Yinan dann seinen größten Coup: Wu Zhizhen, von der ein Polizist einmal sagt, jeder der sich ihr nähere, würde ermordet, steht als ambivalente Figur im Zentrum des Plots. In einer der schönsten Szenen dieses visuell berauschenden Films gleitet sie grazil mit erhobenem Kopf und unendlich traurigen Augen über eine Eislaufbahn – eine beinahe überirdische Erscheinung, unmöglich zu durchdringen. So gelingt es dem Film, das zu tun, was seit David Lynchs kreativem Aus niemand mehr versucht hat – Film Noir eben nicht bloß als ikonographische Verkleidung zu verstehen, sondern als düstere, aber eben auch tief romantische Traumlogik, die im krassen Gegensatz zum streberhaften Whodunnit handelsüblicher Krimis steht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 8/2014

The Amazing Spider-Man 2: Rise of Electro

(USA 2014, Regie: Marc Webb)

Uhrwerke und alte Freunde
von Nicolai Bühnemann

Der Film beginnt zwischen den Zahnrädern eines Uhrwerks. Und die Zeit wird in mehrfacher Hinsicht sein Thema bleiben. Gleich mit den ersten Szenen werden zwei Zeitebenen etabliert. Die erste handelt …

Der Film beginnt zwischen den Zahnrädern eines Uhrwerks. Und die Zeit wird in mehrfacher Hinsicht sein Thema bleiben. Gleich mit den ersten Szenen werden zwei Zeitebenen etabliert. Die erste handelt von Peter Parkers Eltern, die ihn einst, warum erfahren wir zunächst nicht, bei seiner Tante und seinem Onkel abgaben, um aus dem Land zu fliehen. In der zweiten, der Gegenwart der Handlung, muss Spider-Man wieder mal die Welt retten, was in diesem Fall heißt, dass er einen Gangster zu stellen hat, der versucht, sich mit einem Truck mit gestohlenem Plutonium aus dem Staub zu machen. Der Peter Parker/Spider-Man (Andrew Garfield) des 2012 eingeleiteten Reboots der Serie ist auch darum bemüht, die beiden Zeitebenen zur Synthese zu bringen. Er ist auf der Suche nach der verlorenen Zeit seiner Kindheit, möchte die dunklen Flecken seines Familienromans beleuchten und das Rätsel ergründen, warum ihn seine Eltern einst im Stich ließen.

In der (vielleicht etwas zu) furiosen Auftaktsequenz wird unter anderem ein ganzer Fuhrpark der New Yorker Polizei zu Schrott gefahren, was, so eindeutig „The Amazing Spider-Man 2“ in der aktuellen Schwemme an Superhelden-Filmen verwurzelt ist, an die frühen Zeiten des Blockbusters und namentlich an die „Blues Brothers“ erinnert. Und weil es zu dieser Tradition gehört, seine liebgewonnenen – inzwischen volldigitalen – Spielzeuge zu Bruch gehen zu lassen, wird im Showdown auch ein Uhrwerk in seine Bestandteile zerbersten.

Über der Beziehung von Peter Parker zu seiner Freundin Gwen Stacy (Emma Stone) liegt als Schatten der Vergangenheit das Versprechen, das Peter ihrem sterbenden Vater am Ende des ersten Teils gab, sie aus seinem Verbrechensbekämpfer-Trouble rauszuhalten. Die gute Gwen wird ihre liebe Mühe haben, zwischen der Übereinkunft zwischen Männern und so viel geballtem Beschützerinstinkt ihren eigenen Weg zu finden.

Das Reboot der Serie hatte es bei Fans vielleicht auch deshalb schwer, weil es nur fünf Jahre nach dem letzten Teil der Raimi-Trilogie startete. Man hatte sich gewöhnt an das Film-Paar Tobey MacGuire und Kirsten Dunst und vielleicht nicht zuletzt an den Look der Filme von Sam Raimi, der sich von je her darauf verstand, Filmen verschiedenster Produktionsgrößen und Genres seinen eigenen stilistischen Stempel aufzudrücken. Eine der Innovationen der Neuauflage gegenüber den Raimi-Filmen ist, dass Garfields Spider-Man mit einem losen Mundwerk ausgestattet ist. Ehe er die bösen Jungs (übrigens nie: bösen Mädels) fertig eingesponnen der Polizei überlässt, hat er immer noch Zeit für ein paar One-Liner.

In den Action-Szenen arbeitet Regisseur Marc Webb wie schon im Vorgänger immer wieder mit extremen Zeitlupen, mit der Illusion, die Zeit anhalten zu können. Die Kamera gleitet bisweilen zwischen für Augenblicke beinahe starr in der Luft hängenden Gegenständen und Menschen über die Schauplätze. Wo aber im ersten Teil das perfekte Timing noch für den einen oder anderen denkwürdigen Moment sorgte, stellt sich hier eher Übersättigung ein. (Die Szene, in der Emma Stone am Ende zwischen Uhrwerkteilen durch die Luft gleitet, bildet eine erwähnenswerte Ausnahme.)

Natürlich braucht ein Superhelden-Blockbuster auch noch Antagonisten. Diese sind in „The Amazing Spider-Man 2“ ein ehemaliger Bewunderer Spider-Mans und ein ehemaliger Freund Peter Parkers. Ersterer ist der OSCORP-Hausmeister Max Dillon (Jamie Foxx), der für seine Umwelt so unsichtbar ist, dass ihn eine kleine Aufmerksamkeit Spider-Mans zu dessen glühendem Verehrer machen kann. Als ihn jedoch ein Unfall in Electro verwandelt, den Starkstrom-Schurken, der seinen großen Auftritt hat, als er den nächtlichen Times Square verwüstet, stiehlt ihm der Spinnenmann sofort wieder die Show, was reicht, um Bewunderung in Hass umschlagen zu lassen. Letzterer ist Peters alter Schulfreund Harry Osbourne, dem sein verhasster Vater nicht nur die Führung des OSCORP-Imperiums vermachte, das übrigens neuerdings für die Stromversorgung New Yorks zuständig ist, sondern auch eine unheilbare Krankheit. Seine letzte Hoffnung sieht er in Spider-Man bzw. einer Transfusion von dessen Blut. Als ihm dieser den Gefallen verwehrt, weil er keine Ahnung hat, welche Wirkung eine solche Blutspende haben könnte, zieht er sich ebenfalls seinen Zorn zu, von dem der chronisch vernachlässigte Sohn aus ultrareichem Hause mehr als genug hat. Wie unvermittelt hier aus alten Freunden erbitterte Feinde werden, macht hinsichtlich der 140 Minuten Laufzeit schon etwas ratlos. In die Figurenentwicklung wurde die Zeit jedenfalls nicht investiert.

Im Showdown gibt es, die Tradition des Vorgängers aufgreifend, einen Todesfall und die letzte Szene bietet keinen Abschluss, sondern einen Cliffhanger zu Teil Drei. Der Gegenspieler Rhino sieht verlockend aus und außerdem wird man dort nochmal zweieinhalb Stunden Zeit haben, um zu richten, was hier doch eher im Argen blieb.

A Most Wanted Man

(USA / GB / D 2013, Regie: Anton Corbijn)

Vorbildlich antiklimaktisch
von Andreas Busche

„Intelligence“ ist der Begriff, mit dem die Geheimdienstarbeit bezeichnet wird. Es geht um Beobachtung, Überwachung, Kontrolle – alles, was der Informationsbeschaffung dient. Die Idee dahinter ist, dass derjenige, der über …

„Intelligence“ ist der Begriff, mit dem die Geheimdienstarbeit bezeichnet wird. Es geht um Beobachtung, Überwachung, Kontrolle – alles, was der Informationsbeschaffung dient. Die Idee dahinter ist, dass derjenige, der über die meisten Informationen verfügt, auch die Deutungshoheit über den Zustand der Welt hat. Der klassische Spionagethriller, für den der Name John le Carré wie kein anderer steht, hat diese Vorstellung schon zur Zeit des Kalten Krieges mit schöner Regelmäßigkeit konterkariert. Die Weltöffentlichkeit wurde dann am 11. September 2001 eines Besseren belehrt, als zwei Flugzeuge in das World Trade Center flogen und die gut informierten Geheimdienste genauso hilflos zusehen mussten wie die Menschen vor ihren Fernsehgeräten.

Anton Corbijns Spionagethriller „A Most Wanted Man“, der auf le Carrés Roman „Marionetten“ basiert, ist der erste Film einer neuen Zeitrechnung. Die Anschläge vom 11. September 2001 stürzten nicht nur die Welt der Geheimdienste in eine Legitimationskrise, sie haben auch das Genre des Spionagethrillers um ein klares Feindbild gebracht. Anders als noch zur Zeit des Kalten Krieges hatten es die westlichen Geheimdienste nun mit einem Gegner zu tun, der zwar nicht mehr über das technische Know-how verfügte, sich stattdessen aber den gängigen Verhaltensregeln bei politischen Konflikten widersetzte. Der asymmetrische Krieg erforderte einen neuen Typus von Agenten, einen Jack Bauer, der außerhalb eines unausgesprochenen Konsens operierte.

Eine Weile schienen diese Praktiken ganz erfolgversprechend, Geheimdienste verfallen in Krisenzeiten gelegentlich einem blinden Aktionismus. Bis die öffentliche Meinung kippt. Diese Verunsicherung ist auch dem Narrativ des neueren Agententhrillers eingeschrieben, im Kino herrscht inzwischen eine Jason Bourne-mäßige Geschäftigkeit. (Selbst Robert Ludlums Superagent des Kalten Krieges wurde für die Ära des Drohnenkrieges reaktiviert) Altmeister John le Carré gehört zu den wenigen Autoren, die auch mal einen Blick hinter die Kulissen des Kriegs gegen den Terror geworfen haben und dabei mit einigen Gewissheiten brachen. Zum Beispiel, dass die Geheimdienste wissen, was sie tun.

Philip Seymour Hoffman sind diese Zweifel regelrecht ins Gesicht geschrieben: In jeder Geste, jedem Blick kommt eine hyperphysische Erschöpfung an der Welt zum Ausdruck. Hoffman spielt den Agenten Günther Bachmann, der einer geheimen Unterabteilung des deutschen Geheimdienstes vorsteht, welche selbst den eigenen Vorgesetzten ein Dorn im Auge ist. 'Ich leite eine Anti-Terror-Einheit, von der nur wenige Menschen wissen und die von noch weniger Menschen geschätzt wird“, sagt Bachmann einmal zu einer amerikanischen Kollegin. Die Ziele dieser Einheit sind langfristig ausgelegt. Ihm geht es um „Intelligence“, seine Vorgesetzten wollen „Action“. Aus diesem Gegensatz bezieht der Film seine innere Spannung.

„A Most Wanted Man“ spielt dort, wo alles begann, am Ground Zero der neuen Zeitrechnung. In Hamburg planten Mohammed Atta und seine Gruppe vor dreizehn Jahren die Anschläge auf das World Trade Center, vor den Augen des deutschen Geheimdienstes. Hier ist man besonders nervös. Dass Corbijn die Stadt in und auswendig kennt, ist dem Film anzusehen. Hamburg ist nicht bloß Kulisse für ein internationales Agentenscharmützel, sie hat sich auch tief in die Geschichte eingeschrieben. Gedreht wurde im Herbst, die Farbpalette changiert entsprechend zwischen gelblichem Grau und schmuddeligem Blau. Hoffmans müde Gesichtszüge heben sich farblich kaum vom Hintergrund ab.

Bachmann und seine Einheit, zu der auch Nina Hoss und Daniel Brühl gehören, haben einen Verdächtigen im Visier, der wie aus dem Nichts im Hamburger Hafen auftaucht. Issa Karpov ist der Sohn eines russischen Generals, er hat aber auch eine tschetschenische Geschichte. Er fungiert gewissermaßen als Bindeglied zwischen der neuen und der alten Zeit, dem Kalten Krieg und dem neuen Terror. Karpovs politischer Status ist der eines Staatenlosen. In Hamburg nimmt er über eine junge Menschenrechtsanwältin (Rachel McAdams) Kontakt mit dem Banker Thomas Brue (Willem Dafoe), einem Geschäftspartner seines Vaters, auf. Bachmann und sein Team beobachten jeden Schritt des illegalen Neuankömmlings, dessen Erscheinen dem Verfassungsschutz Rätsel aufgibt. Die Deutschen und die Amerikaner würden den jungen Moslem am liebsten gleich verschwinden lassen, aber Bachmann gelingt es durch geschicktes Taktieren und mit Hilfe eines mächtigen Verbündeten (gespielt von Herbert Grönemeyer, der für die angenehm unaufdringliche Filmmusik verantwortlich ist) Karpov so lange aus der Schusslinie der Geheimdienste zu halten, bis die Motive seines Aufenthalts geklärt sind.

Corbijn interessiert sich eher am Rande für eine äußere Handlung, was in einem Agententhriller zunächst ein gewagter Move ist. Thomas Alfredson hat ihn in der anderen maßgeblichen le Carré-Verfilmung der letzten Zeit, „Dame, König, As, Spion“, schon bravourös vollzogen. Corbijn geht es im Gegensatz zu Alfredson aber um die Beziehungen, die die Figuren im Zentrum der Geschichte zusammenhalten. Sein Ansatz hat fast etwas Strukturalistisches. „A Most Wanted Man“ deckt diese Verbindungen sukzessive auf. Oberflächliche betrachtet, besteht Corbijns Films aus nicht mehr als minutiösen Beobachtungen von Prozessen, nicht unähnlich der Polizeiarbeit in „The Wire“. Die Komplexität der politischen Verhältnisse wird erst in den Beziehungen der Figuren untereinander deutlich – etwa zwischen Karpov und seiner Anwältin, die beide die Konsequenzen ihres Handels nicht einmal ahnen. Im Grunde sind sie Marionetten, naive Kinder in einer zynischen Welt des Terrors: der Geheimdienste und der heiligen Krieger. Bezeichnend die Dialoge zwischen Bachmann und der von Robin Wright gespielten Leiterin des lokalen CIA-Büros: Da sprechen zwei nüchterne Pragmatiker, deren gegenseitiger Respekt von professionellem Misstrauen getrübt wird.

“To make the world a safer place”, entgegnet die Amerikanerin auf Bachmanns Frage, wofür sie ihren Job mache. Diese Aussage führt Corbijn in nahezu jeder Einstellung auf die mit Blindheit geschlagenen Ermittler ad absurdum. Dass der ehemalige Rockfotograf seine glamouröse Manierismen diesmal unter Kontrolle hat (manieristisch ist „A Most Wanted Man“ allenfalls in seiner sozialrealistischen Prozac-Ästhetik), verleiht den Agenten-Routinen eine plausible Tristesse. Günther Bachmann ist das Gegenteil eines George Smiley: ein zynischer Idealist. Vor diesem Hintergrund hat Corbijns Schlusseinstellung etwas Programmatisches. Am Ende eines vorbildlich antiklimaktischen Showdowns setzt sich Bachmann wortlos in sein Auto und fährt los. Und steigt irgendwann aus. Entfernt sich. Der Zuschauer auf dem Rücksitz bleibt allein mit einem Gefühl von Leere.

Dieser Text erschien zuerst (ähnlich) in Konkret 9/14

Grace of Monaco

(F / B / USA / IT 2013, Regie: Olivier Dahan)

Der schöne Schein
von Carsten Happe

Die Schizophrenie von „Grace of Monaco“ beginnt, wenn auch unbeabsichtigt, bereits mit dem Titel, der seine Hauptfigur ins Spannungsfeld zwischen zwei Welten platziert, der Hollywoodstar Grace Kelly hier, ihr neues …

Die Schizophrenie von „Grace of Monaco“ beginnt, wenn auch unbeabsichtigt, bereits mit dem Titel, der seine Hauptfigur ins Spannungsfeld zwischen zwei Welten platziert, der Hollywoodstar Grace Kelly hier, ihr neues Leben als Fürstin von Monaco dort, und auch fünf Jahre nach der Vermählung mit Fürst Rainier, wenn die Filmhandlung einsetzt, ist Grace noch immer zerrissen zwischen der Schauspielerei und ihrer – wohl größten – Rolle als Landesmutter zwischen Repräsentanz, Engagement und öffentlichem Privatleben. Hitchcock bietet ihr noch einmal eine Hauptrolle an, die Kleptomanin in „Marnie“ an der Seite eines schottischen Emporkömmlings, doch die Staatsraison verbietet solche Ausflüge, erst recht in Zeiten existenzieller Krisen, da Frankreich den Status des Fürstentums als Steueroase nicht länger hinnehmen möchte und mit Einverleibung droht.

Regisseur Olivier Dahan, seit „La vie en rose“ in der filmischen Aufarbeitung nationaler Heiligtümer geschult, konzentriert sich in seiner Kelly-Biographie auf diesen kleinen Ausschnitt zu Beginn der 60er-Jahre, als Glamour-VIPs wie Onassis und Maria Callas zum inneren Kreis zählten, und versucht die Bewältigung dieser persönlichen wie politischen Krisen zum entscheidenden Selbstfindungsmoment hochzujazzen. Immer wieder bedrängt er die Schauspieler, allen voran Nicole Kidman, die dem erstaunlich angemessen standhält, mit extremen Close-Ups, versucht er eine tiefere Wahrheit in den Augen zu ergründen, oder wenigstens ein paar Tränen, die der Katharsis und ultimativen Rollenfindung als Grazia Patrizia vorausgehen. Auch eine gewisse Todesahnung wird mit diversen waghalsigen Autofahrten entlang der Serpentinen der Alpes maritimes mitbespielt, die Legendenbildung stets fest im Blick.

Beinahe reflexartig kam die Empörung der Fürstenfamilie anlässlich der Premiere von „Grace of Monaco“ als Eröffnungsfilm des Festivals in Cannes, denn natürlich werden hier Intima ausgeplaudert und Verknüpfungen erstellt, die den Beteiligten und Angehörigen zu weit gehen dürften, nicht zuletzt dank eines geschwisterlich-fürstlichen Intrigantenspiels, das höchstens an „Shakespeare in the Park“-Aufführungen gemahnt, aber der wahre Impuls der Auflehnung sollte doch eher die Trivialität sein, mit der hier ein historisches Bild verzerrt wird und das inszenatorische Unvermögen, den Stoff über Soap-Opera-Niveau zu hieven. Dabei macht Nicole Kidman noch das Beste aus der Herkulesaufgabe, eine – um einiges jüngere – Ikone nachzustellen und sich selbst dabei zurückzunehmen. Tim Roth als Rainier und Frank Langella als ihr geistlicher Berater Francis Tucker werden dagegen zumeist zum Anspielpartner degradiert und halten beim Dialog-Ping-Pong den Ball im Spiel, mehr nicht.

Grace‘ Knoten der Akzeptanz beim Volk und, noch wichtiger, in Society-Kreisen, platzt mit einer sehr persönlichen Rede beim legendären Rotkreuz-Ball, die selbst de Gaulle von seinen Plänen abrücken lässt, in erster Linie aber dem Film noch einmal die Gelegenheit gibt, aus dem Vollen zu schöpfen: Ballsaal, Abendgarderobe, Tränen im Augenwinkel, güldenes Licht – „Grace of Monaco“ schaut bisweilen formvollendet schön aus, die Blu-ray-Bildqualität ist spektakulär, aber innerlich leider auch ziemlich hohl.

Drive

(USA 2011, Regie: Nicolas Winding Refn)

Ikone Gewalt
von Tim Lindemann

Wenn talentierte Regisseure sich an Versatzstücken des Trash- und Exploitationkinos bedienen und diese in ein modernes, realistisches Setting transferieren, entstehen oftmals unkonventionelle, faszinierende Genrefilme, die ein denkbar breites Publikum anziehen. …

Wenn talentierte Regisseure sich an Versatzstücken des Trash- und Exploitationkinos bedienen und diese in ein modernes, realistisches Setting transferieren, entstehen oftmals unkonventionelle, faszinierende Genrefilme, die ein denkbar breites Publikum anziehen. Prominente Beispiele der letzten Jahre beinhalten so unterschiedliche Filmemacher wie Martin McDonagh, Lars von Trier sowie die beiden unangefochtenen Experten dieses Stils, David Lynch und Quentin Tarantino. Den beiden letzteren zollt der dänisch-amerikanische Regisseur Nicolas Winding Refn in seinem neuesten Werk liebevoll Tribut, ohne sich jedoch des fatalen Versuches schuldig zu machen, den jeweiligen Stil der beiden Kult-Regisseure zu kopieren. „Kult“ ist ohnehin ein gutes Stichwort für „Drive“ – kann man sich doch sicher sein, dass dieser Film in kürzester Zeit in den diffusen Kanon der sogenannten „Kultfilme“ aufgenommen werden wird, wobei er gleichzeitig interessante Fragen nach dem eigentlich Gegenstand dieser Kategorie aufwirft.

„Drive“ erzählt im Grunde eine Gangster-Geschichte, die an Simplizität ihresgleichen sucht, von einigen kleineren Wendungen einmal abgesehen: Ein ebenso namenloser wie schweigsamer Automechaniker (Ryan Gosling) verdient sich des Nachts als Fluchtwagenfahrer bei Überfällen etwas Geld hinzu – dass er dabei vermutlich der beste Autofahrer aller Zeiten ist, wird dem Zuschauer schon früh durch seine routinierte, ja beinahe maschinelle Ruhe verdeutlicht, die er in der ersten Hälfte des Films zu keinem Zeitpunkt ablegt. Dadurch strahlt er einerseits eine an die schweigsamen Revolverhelden des Westerns erinnernde Coolness, sowie eine beunruhigende, schwelende Aggression aus – eine Stimmung, die der Film geradezu perfekt einzufangen weiß. Der „Driver“ freundet sich durch einen Zufall mit der jungen Mutter Irene (Carey Mulligan) an, deren Ehemann seine letzten Tage im Gefängnis absitzt. Als dieser, wieder auf freiem Fuß, von ehemaligen Mitinsassen zu einem erneuten Diebstahl gezwungen wird, bietet der „Driver“ ihm seine Dienste an und gerät damit in eine kriminelle Verschwörung hinein, die immer weitere Kreise zieht …

Refn konstruiert seinen Film handwerklich brillant um eine kontrastreiche, dualistische Struktur herum. Der erste Teil des Films erscheint wie ein typisch amerikanisches Independent-Drama mit langen, ruhigen Einstellungen, wenigen Dialogen und wunderschönen, teilweise gar an Terrence Malick erinnernden Bildern. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Besetzung der beiden grandios aufgelegten Schauspieler Mulligan und Gosling, die, nicht nur auf Grund ihrer bisherigen Filmografie, so weit von den typischen Protagonisten des Gangster- und Action-Kinos entfernt zu sein scheinen, wie nur möglich. Nichtsdestotrotz spüren wir auch schon in dieser ersten Hälfte die unterschwellige Gewalt, die sowohl unter der Oberfläche des Plots als auch hinter dem unbewegten Gesicht des „Drivers“ schlummert – dafür sorgen ein düster pochender, elektronischer Soundtrack und kurze verstörende Momente, wie eine Szene, in der der „Driver“ einen ehemaligen „Kunden“ seines Fluchtservices plötzlich anfaucht: „How about this – shut your mouth or I’ll kick your teeth down your throat and I’ll shut it for you.“

Die zweite Hälfte des Films, in der sich Goslings Charakter plötzlich mit einer Vielzahl skrupelloser Gegner konfrontiert sieht, ändert den Ton schlagartig und drastisch. Wir befinden uns plötzlich in einem knallharten Gangster-Thriller, der sich, wie oben erwähnt, großzügig bei den Versatzstücken des ruppigen Action-Kinos der 70er und 80er Jahre bedient. Den lässigen Gangster-Sprech borgt sich der Film von Tarantino, die zwischen Idyll und Alptraum schwankende Großstadtatmosphäre erinnert eindeutig an Lynchs spätere Werke. Spannend an diesem Übergang ist vor allem die Transformation der Hauptfigur: Mit der gleichen stoischen, zielgerichteten Ruhe, mit der er zuvor seinen Alltag und seine kleinkriminellen Aktivitäten abgewickelt hat, zieht der „Driver“ nun eine bluttriefende Spur durch die Reihen seiner Gegner. Das darf man hier auch tatsächlich wörtlich verstehen: „Driver“ übertrifft an grafischen Gewaltdarstellungen einige der Grenzen des kontemporären Mainstreamkinos. Die vor Kunstblut nur so spritzenden Gewaltszenen wirken dabei aus zweierlei Gründen weder lächerlich noch überzogen: Zum einen verblüfft und verstört der extrem starke Kontrast zum ruhigen Anfang, zum anderen inszeniert Refn diese Szenen mit einer unangenehm realistischen, detaillierten Körperlichkeit – das Aufsetzen eines spitzen Nagels auf eine Stirn; das beinahe genüssliche Überstreifen von schwarzen Lederhandschuhen, als Einleitung für die darauffolgenden Schläge. Man kann dem Film durchaus vorwerfen, diese Form von Gewalt in viel zu umfassendem Maße um ihrer selbst Willen zu zelebrieren – nicht abstreiten kann man jedoch den beinahe physischen Effekt, den dieser plötzliche Stimmungswandel des Films im Zuschauer erzeugt.

Genau in diesem beiläufigen Verhältnis zu extremer Gewalt liegt zynischerweise sicherlich auch ein großer Teil des Kultpotentials von „Drive“ begründet. Seine von der wirklichen Welt seltsam losgelöste Hauptfigur erinnert an Finchers „Fight Club“, die schwelende, schließlich eskalierende Stimmung an den auch in Titel und Thema verwandten „Taxi Driver“ – beides Filme, die sich, vereinfacht gesprochen, durch die Verbindung einer mysteriös-ikonenhaften Hauptfigur mit Darstellungen extremer Gewalt zu festen Größen der Populärkultur etabliert haben. Refn scheint sich dessen durchaus bewusst zu sein, spielt mit der Idee des untypischen Actionhelden, der durch seine emotionslose Schweigsamkeit nie zur eindeutigen Identifikationsfigur wird – „How can I tell who the bad guys are?“, fragt ihn einmal Irenes kleiner Sohn. Gleichzeitig stattet ihn der Regisseur mit einigen Accessoires aus, die ihn rein optisch zu einer klar definierten Filmfigur und somit popkulturell reproduzierbar machen: So kann man sich mit Sicherheit darauf einstellen, die weiße Lederjacke mit Skorpionmotiv des „Drivers“ bald neben T-Shirts mit den Konterfeis von Vincent Vega, Tony Montana und Tyler Durden im örtlichen Kaufhaus vorzufinden.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 1/2012

Die Prinzessin von Montpensier

(F 2010, Regie: Bertrand Tavernier)

Pilger in der Finsternis
von Wolfgang Nierlin

Bertrand Taverniers Film „Mitten hinein ins furchtbare Gemetzel der konfessionellen Glaubenskriege, die im 16. Jahrhundert in Frankreich toben, taucht Bertrand Tavernier mit seinem Film „Die Prinzessin von Montpensier“, einer Adaption …

Bertrand Taverniers Film „Mitten hinein ins furchtbare Gemetzel der konfessionellen Glaubenskriege, die im 16. Jahrhundert in Frankreich toben, taucht Bertrand Tavernier mit seinem Film „Die Prinzessin von Montpensier“, einer Adaption der gleichnamigen Novelle von Madame de la Fayette. Unmittelbar und in großen Bewegungsschleifen begibt sich die Kamera ins martialische Geschehen, um jene blindwütige Gewalt aufzuzeichnen, die im Namen der Religion alles Menschliche vergisst und sich dabei in einen tödlichen Rausch hineinsteigert. Nach dessen blutgetränkter Ernüchterung empfindet der gebildete Graf de Chabannes (Lambert Wilson), der in Diensten des Hugenottenführers Condé kämpft, eine tiefe Schuld. Soeben hat er eine schwangere Frau erstochen, weshalb er beschließt, zu desertieren. Tavernier erfindet diese Exposition zum einen, um die Gewissensnöte des Grafen zu konkretisieren; zum anderen verbindet er dadurch die Kriegswirren mit jenen emotionalen Verstrickungen, die in der Novelle als „Irrungen und Wirrungen der Herzen“ bezeichnet werden.

Kurz darauf findet Chabannes Schutz bei seinem ehemaligen Schüler und Freund, dem katholischen Prinz von Montpensier (Grégoire Leprince-Ringuet). Weil Heiraten in seinem Stand und zu jener Zeit vor allem von politischem Machtkalkül bestimmt werden, soll der Prinz mit der ebenso schönen wie tugendhaften Marie de Mézières (Mélanie Thierry) verheiratet werden. Das geht nicht ohne Zwang und Schläge, denn Marie liebt den furchtlosen, seinem König treu ergebenen Glaubenskämpfer Henri de Guise (Gaspar Ulliel). Die Neigung des Gefühls steht also mit der Pflicht gegenüber dem Vater im Konflikt. „Liebe ist die lästigste Sache der Welt“, heißt es dementsprechend auf der einen Seite, während auf der anderen festgestellt wird: „Es ist unser Beruf, zu gehorchen.“ Die Distanz zwischen der mit ihren Leidenschaften allein gelassenen, dienenden Frau zu ihrem abwesenden, vom Erlebnis des Krieges bestimmten Mann findet sich in diesen tristen Rollenzuschreibungen gespiegelt. Zugespitzt wird es schließlich in der aufschlussreichen Darstellung der Hochzeitsnacht, in der zwei einander Fremde unter öffentlicher Beobachtung gezwungen sind, den ehelichen Geschlechtsakt zu vollziehen.

Die Hierarchie der Himmelskörper und die durch sie verbürgten Gesetze des Gleichgewichts liefern gewissermaßen das Modell für diese irdischen Determinationen. Chabannes, der als Hauslehrer auf dem Landgut des Prinzen seine Schülerin Marie aber nicht nur mit astronomischen Gesetzmäßigkeiten vertraut macht, sondern sie auch in Latein und Schreiben unterrichtet, gibt der wissbegierigen jungen Frau damit zugleich die Mittel ihrer Befreiung an die Hand. Doch Tavernier erzählt nicht primär eine Emanzipationsgeschichte, sondern eine Geschichte des Herzens und der Treue. Dabei wird Marie als Objekt des Begehrens gleich von vier Männern umworben. Neben die beiden Rivalen Montpensier und Henri de Guise, deren Eifersucht immer gewalttätigere Züge annimmt, treten schließlich noch der Herzog von Anjou (Raphaël Personnaz) und der Comte de Chabanne selbst. Auch wenn seine Hoffnungen enttäuscht werden, bleibt er als einzelgängerischer „Pilger in der Finsternis“, der sich für den anderen opfert, in Entsagung und Treu mit Marie verbunden. Er vertritt dabei zugleich jene Werte, die dem mörderischen Zeitgeist entgegenstehen und den Grafen zum Außenseiter machen.

A Touch of Sin

(CN 2013, Regie: Jia Zhangke)

Fantasien der Verzweifelten
von Tim Lindemann

Trotz Globalisierung und Informationsflut bleibt den meisten Europäern die östliche Weltmacht China eher fremd, ja vielleicht sogar ein bisschen unheimlich. Die gigantische Fläche, die Menschenmassen, die Schlagzeilen über Luftverschmutzung und …

Trotz Globalisierung und Informationsflut bleibt den meisten Europäern die östliche Weltmacht China eher fremd, ja vielleicht sogar ein bisschen unheimlich. Die gigantische Fläche, die Menschenmassen, die Schlagzeilen über Luftverschmutzung und Todesstrafen – das alles addiert sich zu einem eher düsteren Außenbild. Der neue Film des chinesischen Regisseurs Jia Zhangke liefert nun eine noch viel düstere Ansicht, allerdings von 'innen': Die Protagonisten seines episodenhaft strukturierten Films 'A Touch Of Sin' versuchen sich in einer entmenschlichten, ultra-materialistischen Welt über Wasser zu halten und werden dabei zum blutigen Äußersten getrieben. Virtuos mischt Zhangke nüchternen Realismus mit stilisierter Splatter-Gewalt und schafft so einen poetischen Exploitationfilm.

Schon das erste Bild des Films leitet dies gekonnt ein: Eine perfekt arrangierte Einstellung zeigt einen auf einer einsamen Bergstraße umgekippten Laster, aus dem blutrote Äpfel auf den Asphalt rollen. Diese idyllische Optik wird jedoch jäh gebrochen: Eine mit Beilen bewaffnete Gruppe Jugendlicher versucht einen Motorradfahrer zu überfallen, dieser erschießt alle drei kaltblütig. Er ist nur eine von vier Hauptfiguren, die brutale Gewalt als letzten Ausweg aus einer von Ausbeutung und Korruption geprägten Gesellschaft wählen. In der ersten Episode etwa zieht ein entlassener Minenarbeiter gegen die skrupellosen Konzernchefs, deren Familien und andere Störenfriede mit der Schrotflinte zu Felde. Im nächsten Abschnitt wehrt sich eine junge Frau mit drastischen Methoden gegen ihre Vergewaltigung durch widerwärtige Geschäftsmänner.

Zhangke inszeniert diese Ausbrüche mit maximaler Brutalität und konterkariert so den ansonsten trockenen Stil mit einem grimmigem Zynismus, der an Tarantino, Park Chan-Wook und alte Martial-Arts-Filme erinnert. Durch diesen methodischen Stilwechsel lassen sich die bizarren Gewaltexplosionen sowohl als bittere Realität als auch als eskapistische Fantasien der Verzweifelten verstehen. Allerdings lösen sich selbst diese Fluchten in die Kino-Gewalt gegen Ende ins Nichts auf: Die letzte Episode, die von der tragischen Liebe eines Nachtclub-Angestellten erzählt, lässt schließlich nicht einmal mehr diese Hoffnung zu. So wirkt 'A Touch Of Sin' als eine ebenso polemische wie kunstvolle Abrechnung mit einer ums Goldene Kalb tanzenden Gesellschaft noch lange und bitter nach.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 1/2014

Eine weitere Kritik zu 'A Touch of Sin' gibt es hier: Link

The Texas Chainsaw Massacre (WA)

(USA 1974, Regie: Tobe Hooper)

Meat the Family
von Nicolai Bühnemann

Die Vivisektion eines menschlichen Auges mit den Mitteln des Kinos. Mit jedem Schnitt, ausgeführt wie mit dem Rasiermesser, ist die Kamera noch näher dran am Gesicht der übrigens kürzlich verstorbene …

Die Vivisektion eines menschlichen Auges mit den Mitteln des Kinos. Mit jedem Schnitt, ausgeführt wie mit dem Rasiermesser, ist die Kamera noch näher dran am Gesicht der übrigens kürzlich verstorbene Marylin Burns. Bis im extremen Close-Up nur noch Details ihres Auges zu sehen sind. Rote Äderchen, die Iris, ein Lid, an dem sich eine Träne sammelt. So nah wie die Kamera in dieser Szene von Tobe Hoopers „The Texas Chainsaw Massacre“ an der Figur ist, will der Film auch an uns ran. Seine Zuschauer. Seine Opfer. Er benutzt dazu alle Mittel, die dem Medium zur Verfügung stehen. Verwackelte, grobkörnige Bilder. Grelle Farben. Schrille Schreie und Sounds. Hektische Jump-Cuts. Ein Terror-Film. Film als Terror für die Sinne.

In der Szene mit dem Auge ist Sally (Burns) die einzige Überlebende von den fünf jungen Menschen, die es in den texanischen Backwoods mit der liebenswürdigen Familie zu tun bekamen, die nach der Schließung des örtlichen Schlachthofs sich darauf verlegte, aus Menschen Wurst zu machen („My family always been in meat“). Sie wird von der Familie um Leatherface, den Mann mit der Menschenledermaske und der Kettensäge, zu einem Dinner geladen, bei dem sie selbst der Hauptgang ist. Dass sie schließlich davonkommt, macht sie zum ersten final girl der Filmgeschichte.

Was die blutigen Schauwerte anbelangt, ist Hoopers Meisterwerk für heutige Genre-Maßstäbe beinahe zahm. Die Radikalität des Films liegt aber in dem Versuch, ein ganz und gar physisches Kino zu schaffen, das direkt auf das körperliche (Schmerz-)Erleben des Zuschauers abzielt. Die Gnadenlosigkeit, mit der er alle Mittel, die dem Kino zur Verfügung stehen, nutzt, um dieses Ziel zu erreichen, ist in den vergangenen vier Jahrzehnten kaum jemals erreicht worden. TCM ist weniger ein Film über Menschen in einer ausweglosen Situation, als über Körper, die mit Rasierklingen, Fleischerhaken, Kettensägen und Hämmern geschunden und zerstört werden.

Für weniger als 300.000 Dollar auf 16mm gedreht, ist TCM ein Film voller gelungener Stimmungsbilder und Kamerafahrten, der sich unter Genre-Aficionados zu einem Kultfilm entwickelte und über 30 Millionen eingespielt haben soll. Leatherface wurde zu einer Ikone des Horrorfilms. Die erste Fortsetzung drehte Hooper 1986 selbst mit Dennis Hopper in der Hauptrolle und allerlei texanischer Lokalprominenz in Nebenrollen. Der Regisseur erklärte, dass er die komischen Elemente, die schon im ersten Teil vorhanden gewesen seien, mehr herausarbeiten wollte. Herausgekommen ist ein beispiellos hysterischer Film, der die Saga um die kannibalische Wurstfabrikanten-Familie ins Komödiantisch-Groteske überspitzt. Zwei weitere Sequels, ein Prequel und zwei Remakes folgten, wobei der letztes Jahr auf DVD veröffentlichte „Texas Chainsaw 3D“ gut daran tat, sich ganz auf die Weitererzählung der Ereignisse des Originals zu konzentrieren.

In Deutschland war der Film übrigens in seiner ungeschnittenen Form mehrere Jahrzehnte verboten. Das Label Turbine ist erfolgreich gegen Indizierung und Beschlagnahme vorgegangen und hat den Film 2012 in einer absolut formidablen DVD und Blu-ray-Edition neu und allgemeinzugänglich veröffentlicht. Das sechzigseitige Booklet widmet sich ganz der deutschen Zensurgeschichte des Films. Darin beschrieben ist auch die jahrelange, regelrecht kafkaeske Reise des Labels durch den deutschen Institutionen- und Paragraphen-Dschungel, um etwas zu erreichen, was in fast jedem anderen westlichen Land selbstverständlich ist, nämlich dass sich erwachsene Menschen legal einen Horrorfilm ansehen dürfen.

Da diese Schlacht im Sinne der Fans und all derer, die es werden wollen, ausgegangen ist, kann „The Texas Chainsaw Massacre“ nun zu seinem vierzigsten Geburtstag in einer neuen 4K-Abtastung sein Comeback auf der großen Leinwand feiern.

Maps to the Stars

(CAN / USA / F / D 2014, Regie: David Cronenberg)

Big Trouble in der Lindenstraße
von Ulrich Kriest

„Still it’s just one big happy family ’neath the sun / it’s all full of you and me and he and she and it and everyone / gosh it’s a …

„Still it’s just one big happy family ’neath the sun / it’s all full of you and me and he and she and it and everyone / gosh it’s a goofy loony place that we come from / me i ain’t laughin‘ in fact i’m leavin‘ / you keep the car dear i still don’t need it / don’t tell the children / don’t tell the germans / don’t tell the rockefellers / don’t tell no one…“ – Tonio K. –

„I‘m from Jupiter!“, erklärt Agathe Weiss ihrem Chauffeur, dem arbeitslosen Schauspieler und Möchtegern-Drehbuchautor Jerome, als sie in Los Angeles ankommt. Sie wirkt glamourös und etwas verstört – und sie ist gekommen, um ihre Familie zu besuchen und zu konfrontieren. Doch die Familie will sie nicht, hat sie verstoßen, seit sie, der Schizo, das Haus anzündete und fast den Bruder tötete. Agathe trägt lange Handschuhe, um die Brandwunden zu verdecken und kommt direkt aus der Psychiatrie in Jupiter, Florida. Ihr Bruder Benji ist mittlerweile ein drogenabhängiger Kinderstar, dem bereits Jüngere die Show zu stehlen drohen und dessen weitere Karriere davon abhängt, dass er nachweisen kann, dass er aktuell clean ist. Vater Stafford ist eine Mischung aus New Age-Guru, Masseur und Gesprächstherapeut, der mit Selbsthilfe-Ratgebern gutes Geld macht. Über ihre Twitter-Freundin Carrie Fisher bekommt Agathe zunächst einen Job als persönliche Assistentin der Schauspielerin Havana Segrand, deren Karriere gerade dem Ende entgegen geht. Havana würde gerne die Hauptrolle im Remake des Films übernehmen, der einst ihre Mutter berühmt machte – es handelt sich dabei um eine Art von ödipalem Exorzismus.

Abgesehen von Agathe agieren im neuen Film von David Cronenberg sämtliche Figuren am Rande des Nervenzusammenbruchs und changieren bestenfalls zwischen unsympathisch und zynisch. Fürs Drehbuch zeichnet Bruce Wagner, einer der scharfzüngigsten Chronisten Hollywoods, der hier dem Affen Zucker gibt. „Maps to the Stars“ ist die beste Bret Easton Ellis-Verfilmung, an der Ellis gar nicht beteiligt ist und löst ein, was „The Canyons“ nur versprach. Hier verkleidet sich die Soap Opera als griechische Tragödie oder umgekehrt, bis die (inzestuöse) Kleinfamilie sich gleich in mehrfacher Hinsicht als Terrorzusammenhang gezeigt hat, der sich nach innen und nach außen richten kann.

Cronenberg hat für „Maps to the Stars“ erstmals überhaupt in Hollywood gedreht und kann sich bei seinem derben Abgesang auf die Traumfabrik auf Schauspieler wie Julianne Moore und John Cusack verlassen, die hier weit über die Grenzen dessen hinausgehen, was Stars zu Stars macht. Das liegt auch daran, dass Cronenberg nach seinen beiden diskursiven Vorgänger-Filmen „Eine dunkle Begierde“ und „Cosmopolis“ hier wieder den menschlichen Körper mit seinen Schwächen, Wunden, Narben und Alterungen als Schlachtfeld nutzt. Weshalb man diese forcierte Hollywood-Groteske auch ohne größere Umschweife als Gesellschaftssatire begreifen darf, die den brutal komischen Zeitgeist genau dort in den Blick nimmt, wo er sich seine verführerischen Züge aufschminkt.

Hirngespinster

(D 2014, Regie: Christian Bach)

All work and no play make Hans a dull boy
von Carsten Moll

Einst ein gefeierter Architekt, ist Hans Dallinger im Jetzt nur noch eine arme Wurst, der statt auf dem Titelblatt der „Monopol“ bloß noch auf den bunten Zeichnungen der kleinen Tochter …

Einst ein gefeierter Architekt, ist Hans Dallinger im Jetzt nur noch eine arme Wurst, der statt auf dem Titelblatt der „Monopol“ bloß noch auf den bunten Zeichnungen der kleinen Tochter gewürdigt wird. Und selbst auf den Kunstwerken der Grundschülerin wird der Vater vielsagenderweise um einen ganzen Kopf von Mutti überragt. Der Grund für Hans‘ Versagen als Familienoberhaupt und sein berufliches Scheitern ist aber nicht etwa eine karrieregeile Ehefrau, sondern eine Krankheit: Bereits seit seiner Jugend leidet Hans an paranoider Schizophrenie, die schubweise immer wieder auftritt und dann vor allem die Menschen um ihn herum auf eine harte Probe stellt. Während der Kranke selbst von seiner Psychose nichts wissen will und sich zunehmend in Wahnvorstellungen verliert, sind seine Frau Elli und die beiden Kinder Simon und Maja bemüht, der Außenwelt eine heile Familie vorzuspielen und den Schaden, den Hans anrichtet, auf ein Minimum zu beschränken. Doch als der Architekt sich wie besessen in seine Arbeit stürzt, um sein berufliches Comeback voranzubringen, lösen Stress und Druck einen weiteren paranoiden Schub aus, unter dem nicht nur die Satellitenschüssel der Nachbarn zu leiden hat. Die Situation droht zu eskalieren und besonders für den 22-jährigen Simon wird klar, dass es so nicht weitergehen kann.

Eigentlich war es ja eine Schrotflinte, mit der der Vater eines Jugendfreunds die Nachbarschaft unsicher machte, verrät der Regisseur und Drehbuchautor Christian Bach in einem Interview. Doch so ein Rumgeballer auf der Leinwand war dem Filmemacher für sein Spielfilmdebüt, das auf wahren Begebenheiten beruht und sich eher an den leisen Tönen versucht, dann doch zu übertrieben und unglaubwürdig. Also geht der paranoide Familienvater nun mit einer vergleichsweise alltagstauglichen Axt zu Werke und bespielt damit auch gleich – „Here’s Johnny!“ – ein reizvolles filmisches Referenzsystem. Und zumindest Tobias Moretti in der Rolle des Axt schwingenden Hans scheinen diese Assoziationen an Stanley Kubricks „Shining“ nicht ganz fern zu sein, denn der Österreicher spielt auf, als müsse er neben Jack Nicholson höchstpersönlich bestehen.

Doch „Hirngespinster“ (müsste es nicht „Hirngespinste“ heißen?) schlägt schließlich einen anderen Weg ein und zeigt sich weder an Horror noch an der Filmwerdung von Halluzinationen interessiert. Statt also auf den Spuren Kubricks oder meinetwegen auch Darren Aronofskys zu wandeln und Wahn und Wirklichkeit miteinander zu verweben, erzählt Bach recht nüchtern eine exemplarische Krankengeschichte, der man den Willen zur Aufklärung deutlich anmerkt: Nachdem die Polizei die Axt erst einmal konfisziert hat und Hans in eine psychiatrische Anstalt zwangseingewiesen wurde, hört der Spaß nämlich auf und Bach nutzt seinen Film als Vehikel, um eine Menge Informationen rund um das Thema Schizophrenie unters Volk zu bringen. In bisweilen ganz schön umständlich konstruierten Szenen werden so von der verständnislosen Reaktion der Nachbarn bis zum faktenreichen Arztgespräch eine Vielzahl von Situationen abgeklappert, die eine psychische Erkrankung mit sich bringen kann. Populären Vorurteilen und gefährlichem Halbwissen entgegenzutreten mag ein löblicher Vorsatz sein, doch vieles in „Hirngespinster“ gerät der guten Absicht wegen allzu schematisch und dramaturgisch unmotiviert.

So erscheinen die Welt, in der „Hirngespinster“ spielt, und die Figuren in ihr seltsam flach. Moretti, der auch in seinen klaren Momenten einen unberechenbaren und ein wenig unheimlichen Charakter gibt, wirkt völlig deplatziert in diesem Umfeld, das an die harmlos-biederen Vorabendserien im öffentlich-rechtlichen Programm erinnert: Hier opfert sich die Mutter noch selbstlos auf, der Sohn ist trotz seiner rockigen Lederjacke ein richtiger Ehrenmann und der Familienhund Oskar macht gut gelaunt die Haustüre auf. Nicht minder befremdlich muten die Dialoge an, die zwar in einer lockeren Umgangssprache gehalten sind, aber von den Darstellern aufgesagt werden, als wären es komplizierte Theatertexte, die nur verstanden werden können, wenn auch alles schön sauber artikuliert wird und jeder mit dem Sprechen wartet, bis er an der Reihe ist.

Einmal lässt Bach seinen Protagonisten Simon der kleinen Schwester allerdings ganz anschaulich erklären, was denn mit dem Vater überhaupt los ist. Die Schizophrenie sei wie ein Traum nur ohne Schlaf, sagt der junge Mann da. Vielleicht bringt das die Sache ja ganz gut auf den Punkt. Aber was das alles denn mit dem Kino zu tun hat – die Schizophrenie, der Traum –, diese Antwort bleibt der Film schuldig.

The Salvation

(DK / GB / RSA 2014, Regie: Kristian Levring)

Danish Dynamite
von Carsten Happe

Die Farben sind so satt, dass die Augen beinahe schmerzen. So azurblau der Himmel, so weizenblond die Haare der anmutigen Siedlersgattin Marie. Seinen bestechend schönen Look trägt „The Salvation“ vor …

Die Farben sind so satt, dass die Augen beinahe schmerzen. So azurblau der Himmel, so weizenblond die Haare der anmutigen Siedlersgattin Marie. Seinen bestechend schönen Look trägt „The Salvation“ vor sich her wie ein gigantisches Ausrufezeichen: ich bin kein ausgewaschener Spätwestern voller Ambivalenzen, Grenzverwischungen und moralischen Uneindeutigkeiten, nein, stattdessen eine Reise ins Herz des Technicolor-Westerns, aufgehübscht durch eine Art Hyperrealität, ein Hyper-Western, versetzt mit all den bekannten, geschätzten wie verteufelten, Codes des Genres, aus der Zeit, als er seine Daseinsberechtigung nicht als einen weiteren Comebackversuch verstand, sondern die aufrechtesten Mythen und Helden gebar: John Wayne, Gary Cooper, James Stewart, Gregory Peck.

Es mag auf den ersten Blick wie eine gehörige Portion Ironie erscheinen, dass nun ein dänischer Film, vornehmlich in Südafrika gedreht, mit dänischen, britischen, französischen Darstellern besetzt – allein der Bösewicht ein Amerikaner – dieses uramerikanischste aller Genres auf eine derart traditionalistische Art und Weise interpretiert, aber einerseits folgt „The Salvation“ damit lediglich mit einigem Abstand deutschen Regisseuren wie Roland Emmerich oder Wolfgang Petersen, die dem amerikanischen Patriotismus viel hemmungsloser frönten als ihre heimischen Kollegen, und andererseits ahmt der Film nun letztlich die Westwärts-Bewegung seiner Protagonisten nach: dänischen Siedlern, die sich in den Vereinigten Staaten, an der Frontier, ein neues Leben aufzubauen hoffen.

Ob diese Blickrichtung auch für Regisseur Kristian Levring zutrifft, kann nur gemutmaßt werden, aber für den Filmemacher, der seinerzeit mit „The King Is Alive“ den vierten Dogma-Film drehte, ist „The Salvation“ eine 180-Grad-Abkehr von den einstigen Idealen. Ein Film, der in jeder Einstellung den Dogma-Regeln widersprechen würde, und genau damit so unerwartet gut fährt: mit der genüsslichen Übererfüllung der Genre-Konventionen, der grellen Überzeichnung und Archetypisierung bis hin zum Kintopp – große Jungs spielen Western, mit allem, was dazu gehört, und es ist die größte Auszeichnung des Films, dass dieses tausendfach Gesehene nicht zu einem einzigen schalen Klischeegebilde gerinnt, sondern geradezu frisch und bis zum unausweichlichen Showdown einnehmend mitreißend daherkommt.

Entscheidenden Anteil daran hat Hauptdarsteller Mads Mikkelsen, in dessen Filmographie die Rollen des einsamen, getriebenen Outlaws schleichend Überhand nehmen, sei es in „Michael Kohlhaas“, seinerseits bereits in gewisser Weise eine Art Pferdeoper, in Nicolas Winding Refns „Walhalla Rising“, der den klassischen wortkargen Western-Loner ins Nordische übertrug, oder gar in Thomas Vinterbergs „Die Jagd“, der das Motiv des Einzelnen gegen die Dorfgemeinschaft zwar in die Jetztzeit verlagerte, aber eben auch die ewig gültigen Topoi des Western wie Ehre, Recht und Gerechtigkeit verhandelte.

Der Gleichmut hat sich allerdings in „The Salvation“ in einen Stoizismus verwandelt und schließlich vorherrschend sind allein die Rachegelüste, die ein gerechtes, jedoch auch verlustreiches Gleichgewicht herstellen sollen, nachdem die Familie des dänischen Siedlers kurz nach ihrer Ankunft in der neuen Welt niedergemetzelt wird. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die biblische Allegorie, die bis in den Titel hineinsickert, findet hier nur noch in ihrer Negierung statt: Erlösung bietet einzig der aufopfernde Kampf für die gute Sache, egal mit welch fragwürdigen Mitteln. Das Ziel ist das Ziel, nicht der Weg. Und die moralischen Ambivalenzen ein Dickicht, in das sich der Held guten Gewissens nicht verstrickt. So geradlinig sich der Bodycount dem finalen Duell entgegenaddiert, so kompromisslos gelingt „The Salvation“ die Aneignung der klassischen Western-Materie. Mission accomplished.

Zärtlichkeit

(F / B 2013, Regie: Marion Hänsel)

Im Einklang
von Wolfgang Nierlin

Fast unmerklich verwandelt sich die weiße Leinwand in eine sanfte Schneelandschaft, in der zwei kleine, schwarze Punkte sichtbar werden. Diese bewegen sich, werden größer. Lautlos und mit gleichmäßigen Bewegungen gleiten …

Fast unmerklich verwandelt sich die weiße Leinwand in eine sanfte Schneelandschaft, in der zwei kleine, schwarze Punkte sichtbar werden. Diese bewegen sich, werden größer. Lautlos und mit gleichmäßigen Bewegungen gleiten die beiden Snowboardfahrer durch Raum und Zeit, bis sie schließlich aus der Totale des Bildes entschwinden. Marion Hänsel eröffnet ihren neuen, sehr sensiblen Film „Zärtlichkeit“ („La tendresse“) mit einem Bild der Ruhe und der Harmonie. In ihm verbinden sich die synchronen Bewegungen des Paars mit der Freiheit der Natur. Auch im Folgenden inszeniert die renommierte belgische Regisseurin immer wieder Momente der Stille und des Innehaltens, gespiegelt im Blick auf Landschaften und in vertraulichen Begegnungen, um ihre Vision von Fürsorge und Liebe auszudrücken.

Kurz darauf, ins Off der Exposition verlagert, ereignet sich ein Unfall. Der junge Skilehrer Jack Vander (Adrien Jolivet), der zum Abschluss der Saison zusammen mit seiner Freundin Alison (Margaux Châtelier) in den Savoyer Alpen unterwegs ist, stürzt und verletzt sich dabei schwer. Die alarmierten Eltern Lise (Marilyne Canto) und Frans (Olivier Gourmet), die seit fünfzehn Jahren geschieden sind, beschließen daraufhin, von Brüssel aus gemeinsam in den ostfranzösischen Wintersportort Flaine zu fahren, um ihren Sohn nach Hause zu holen. Gleich bei ihrer ersten Wiederbegegnung sind eine große Vertrautheit, wahrnehmbar in kleinen Gesten, und eine freundschaftliche Verbundenheit spürbar. Diese hat die alten Differenzen hinter sich gelassen und betrachtet frühere Konflikte mit einem entspannten, milden Lächeln.

Dann beginnt eine 9-stündige Autofahrt und mit ihr ein Roadmovie, in dem die vorbeiziehende Landschaft zum Resonanzraum für gemeinsame Erinnerungen wird. Diese wiederum werden teils grundiert von einem leisen Bedauern. Zwar sind die etwas zerstreute, leicht linkische Lise und der konservative, mit dezenten Machoallüren ausgestattete Frans denkbar verschieden; trotzdem hat ihre vormalige Nähe zu einem neuen Arrangement geführt. In diesem ist auf versöhnliche Weise die elterliche Sorge um das gemeinsame Kind zentral; aus ihr spricht noch immer ein Grundton familiärer Geborgenheit. Auf einer parallelen Handlungsebene verschränkt Marion Hänsel geschickt diese alte Vertrautheit mit dem jungen Liebesglück von Jack und Alison. Hänsels eigentliches Interesse gilt aber der Wiedergewinnung weiblicher Stärke, verkörpert in den Blicken, Gefühlen und Begegnungen ihrer Protagonistin Lise, die leicht selbstironisch von sich einmal sagt: „Jetzt genieße ich meine Einsamkeit.“

Wie in alten Zeiten

(F / GB / USA 2013, Regie: Joel Hopkins)

Vom Kino betrogen
von Carsten Moll

Das Kino, speziell in seiner Daseinsform als Genrefilm, hat auch immer etwas von einer Erfüllungsmaschine. Dabei sind es entgegen der verbreiteten Vorstellung von einer Traumfabrik vielleicht gar nicht so sehr …

Das Kino, speziell in seiner Daseinsform als Genrefilm, hat auch immer etwas von einer Erfüllungsmaschine. Dabei sind es entgegen der verbreiteten Vorstellung von einer Traumfabrik vielleicht gar nicht so sehr die eigenen oder kollektiven Wünsche und Träume, die auf der Leinwand wahr werden, als dass vielmehr die am Kino selbst geschulten Erwartungen des Publikums ihre Bestätigung finden sollen. Die Kunst des Genrefilms – ganz gleich ob es sich nun um eine Liebeskomödie oder einen Katastrophenfilm handelt – besteht darin, das Generische in einer spezifischen Form anzubieten, die das Vertraute mit dem Eindruck des Nie-zuvor-Gesehenen (oder zumindest des Nicht-schon-einmal-genauso-Gesehenen) verbindet. Auf den ersten Blick mag das vor allem unoriginell und berechenbar erscheinen, aber die unausgesprochene Konvention der Erfüllung von Erwartungshaltungen verspricht zugleich auch Sicherheit und Trost: Sicherheit, weil das Publikum weiß, wofür es bezahlt, und Trost, weil beim nächsten Film dieser Art vielleicht wieder alles besser wird, was beim aktuellen für Enttäuschung gesorgt hat.

Bereits mit seinem letzten Spielfilm „Liebe auf den zweiten Blick“ („Last Chance Harvey“, 2008) demonstrierte der Regisseur und Drehbuchautor Joel Hopkins, dass er vor filmischen Klischees und Konventionen nicht zurückschreckt. Auf den Spuren von Richard Linklaters „Before Sunrise“ (1995) erzählte Hopkins nicht gerade subtil die sentimentale Geschichte eines Kennenlernens und -liebens, deren verkaufsträchtiges Distinktionsmerkmal zu ähnlich gelagerten Produktionen allein das Zusammenspiel von Emma Thompson und Dustin Hoffman war. Thompson übernimmt nun auch in diesem neuen Film von Joel Hopkins die Hauptrolle und ebenso sind wieder jede Menge abgedroschene Ideen und müde Klischees mit dabei.

Gemeinsam mit ihrem Kollegen Pierce Brosnan gibt Thompson hier das geschiedene Ehepaar Jones, dessen Trennung anscheinend schon so lange her ist, dass der Film sich für die Hintergründe gar nicht mehr interessieren muss. Und da die beiden Protagonisten selber nicht ganz genau zu wissen scheinen, was sie einmal auseinandergebracht hat, steht einer comedy of remarriage samt Happy End eigentlich nicht viel im Weg. Als Laufzeit füllender Umweg, auf dem die Ex-Eheleute sich wieder näher kommen, muss daher ein Intermezzo in Form einer bewusst altmodischen Gaunerkomödie herhalten, die dennoch einen brisanten Zeitbezug behauptet: Denn ausgerechnet einige Tage vor seinem wohlverdienten Ruhestand muss die Firma von Richard Jones Konkurs anmelden, weil Richard auf den Pariser Anlagebetrüger Vincent Kruger hereingefallen ist. Um das Geld seiner Mitarbeiter und die eigenen Ersparnisse zu retten, macht er sich daher mit der Ex-Frau auf den Weg nach Frankreich. Dort machen sie den skrupellosen Finanzhai ausfindig und planen schließlich, einen wertvollen Diamanten zu klauen, der sich in Krugers Besitz befindet.

Für die Filmemacher wird die romantische Komödie laut eigener Aussage so ganz nebenbei zu einem Kommentar zur Finanzkrise und zu einer Selbstermächtigungsfantasie der kleinen Leute, die sich endlich mal an den großen Geschäftemachern rächen dürfen. Das ist so naiv wie verlogen, wenn man bedenkt, wie realitätsfern Hopkins seine beiden Weltstars hier ohne große Nöte und Konflikte durch ein pittoreskes Frankreich gaunern lässt. Selbst wenn man einmal von solchen Realitätsbezügen absieht, bleibt fraglich, inwiefern die Inszenierung des Stoffes im Stil einer klassischen Screwball-Komödie der 1940er gerechtfertigt ist. Die Frage, warum die Komödien damals so und nicht anders erzählt wurden, scheint sich Hopkins nämlich nicht gestellt zu haben und so wirkt „Wie in alten Zeiten“ so bieder, als wäre der Hays Code nie abgeschafft worden.

Ein bisschen fühlt man sich nach dem Anschauen des Films und dem Investieren von Zeit sowie eventuell Geld selber, als wäre man auf einen schmierigen Betrüger hereingefallen. Außer den großen Namen Thompson und Brosnan wird hier nämlich nicht viel geboten, was den Kinobesuch rechtfertigen könnte. Selbst das Abklappern genretypischer Oberflächenreize und Grundmotive gerät bei Hopkins so lustlos, schlaff und eiskalt kalkuliert, dass die Erfüllungsmaschine nach anfänglichem Stottern rasch ganz den Geist aufgibt.

Beim nächsten Film wird alles besser.

Erlöse uns von dem Bösen

(USA 2014, Regie: Scott Derrickson)

Padre Masters Satanas as Bana Goes Bananas
von Drehli Robnik

Vom Partner zum Pater, von Dubstep zu den Doors, so läuft das beim Hollywood-Gruseldrama 'Erlöse uns von dem Bösen'. Der Titel wirkt irgendwie vertraut, ebenso das Ausgangssetting: Zwei New Yorker …

Vom Partner zum Pater, von Dubstep zu den Doors, so läuft das beim Hollywood-Gruseldrama 'Erlöse uns von dem Bösen'. Der Titel wirkt irgendwie vertraut, ebenso das Ausgangssetting: Zwei New Yorker Cops, ethnisch und psychologisch wohldifferenziert, fahren auf Zivilstreife, greifen zumeist in Fällen häuslicher Gewalt beherzt ein und durch.

Der eine ist der ostentativ unbeschwerte irischstämmige Partner des anderen; der andere, Italo-Amerikaner, ist ganz bedrückt und halb entrückt und vernachlässigt Frau & Kind im pausenlosen Kampf gegen die tieferen Gründe von all dem Sozialelend um ihn herum, das hier in Ninetiesretrodüsterregen (Hallo, 'Se7en'!) ausgemalt wird. Er bekämpft, so heißt es im Dialog später programmatisch, das 'primäre Böse'. Was ist damit wohl gemeint? Die fortschreitende Kapitalisierung von öffentlichem urbanem Raum? Nein, eher Spirituelles und so. Deshalb feixt der Partner so oft und so unbeschwert: 'Spürst du schon wieder was mit deinem Radar?' Was wohl damit nun gemeint ist? Etwa die ostentativ abstehenden Ohren von Hauptdarsteller Eric Bana? Egal. Jedenfalls hat der Partner mit all seiner Unbeschwertheit sein Leben verwirkt und macht – wenn auch spät – einem Pater an Banas Seite Platz. Der ist Latino und gut in Latein; das führt er beim – wohlgemerkt: sechsstufigen – Exorzismus ('Vade retro, Satanas!') und am Ende beim häuslichen Taufen vor.

Dass der Leibhaftige hier in dem mit eingeritzten Schriftzeichen malträtierten Leib eines Irakkriegsveteranen umgeht, der als Anstreicher in Haushalte, Kellergewölbe und den Brooklyn Zoo eindringt, um Glühbirnen zum Ausbrennen, Löwen zum Auszucken und Branchenkollegen zum Austrinken von Nitroverdünner zu bringen, sei vielleicht noch angemerkt.

Und das gleich zur Warnung: 'Unfreiwillig komisch', das sagt sich allzu leicht. Zumal bei Filmen, wo es uns (wie bei diesem) ja doch immer wieder schaudert und schreckt. Denen, die das alles nicht glauben wollen, lässt auch der Plot dieses Films ein Höflichkeitshintertürchen offen. Den Eingeweihten und Gläubigen aber bietet er mit all seinem Aberwitz einfach noch ein Mehr an Gründen, sich zu beuteln oder die Haare zu raufen. Im Grunde ist das eine tolle filmische Demutsgeste: doppelter Service – plus das schmeichelhafte Gefühl, über den Dingen zu stehen, nämlich einen Horrorschocker als lachhaft durchschaut zu haben, der uns aber doch in Wirklichkeit genau dort haben und genau diese Wellness bereiten will.

Regie bei diesem CopMovie-Satanismushorror-Hybrid in Latex führt Scott Derrickson. Dass er sich spät auf die dahinplätschernde kleine Welle an Exorzismus-Filmen in breiter Genrevariation draufsetzen würde, kann man ihm echt nicht vorwerfen, denn: Noch bevor es Exorzismusfilme mit Autoren-Flair ('Requiem', klasse übrigens), Mockumentary-Look (Der letzte Exorzismus') oder Monsignore Hopkins als Pater Lecter ('The Rite – Das Ritual') gab, da hatte er schon den 'Exorzismus der Emily Rose' absolviert. 2005 war das. 2012 versetzte Derrickson dann in dem Found-Footage-Haunting-Schocker Sinister' häusliche Sounds mit einem synkopisch pulsierenden Score, den Leute wie ich wohl unter Dubstep einordnen würden. Leichter fällt das Musiklabelling nun bei 'Erlöse uns von dem Bösen', ist hier doch das Spukpumpern und Traumaplaudern mit Evergreens von der notorischen Satanistencombo The Doors zusammengemixt. Sehr sinnig erklingen nicht ganz unbekannte Refrains mit zutiefst ominösen Botschaften – Reiter auf dem Sturm. Brich weiter durch. Leute sind seltsam. Sind sie ja wirklich. Aber manche ihrer Filme auch.