Ein Dokumentarfilm als Kinohit: Michael Moores »Roger and Me« ist auch eine US-amerikanische Antwort auf Alfred (Herrhausen) und wir«
Roger Smith, Big Boss von General Motors, dem größten Konzern unserer Erde. And Me: Das ist der Herausforderer Michael Moore, Chef von niemandem und nichts, auch ist »Roger and Me« sein erster Film überhaupt. Frech, unverschämt, listenreich und beharrlich versucht er den lieben langen Dokumentarfilm hindurch, den universellen Repräsentanten der freien Marktwirtschaft mit den Verbrechen eben dieser Wirtschaft, also seiner Wirtschaft, zu konfrontieren, zum Beispiel mit der Wegrationalisierung von 30.000 Arbeitsplätzen in Flint, Michigan, der Urstadt von GM. Doch der Tycoon ist nicht zu sprechen, besonders nicht für einen, »der niemanden repräsentiert«.
Inzwischen repräsentiert »Roger and Me« ein Publikum von zig Millionen, das sich daran weidet, wie Roger Smith, der Goliath, vorgeführt und von der Film-Schleuder zu Boden gestreckt wird. Sicherlich nicht für immer, aber eine Freude war es doch, und die kalte Wut hat ihr Ventil gefunden. Außerdem hat die freie Marktwirtschaft jetzt ein Gesicht, d.h. viele Fratzen, und die sind umso vielsagender, wenn da noch Tünche und Schminke draufliegt, nämlich PR-Manager von General Motors einem erklären, dass der firmeneigene Kapitalismus gut und schön sei. Kurzum, in »Roger and Me« demontiert sich die freie Marktwirtschaft zum allgemeinen Vergnügen von selbst. Regisseur Michael Moore, ein David des Filmmediums, verschafft sich mit seinem dokumentarischen Pamphlet einen Platz im Mainstreamkino – »Roger and Me« wird von dem Großverleih Warner vermarktet – ; auch ist er nun Hoffnungsträger der politischen Dokumentarfilmer, wiewohl er bar jeder Ausbildung »Roger and Me« einfach so gedreht hatte, weil er tun musste, was er getan hat; immerhin hatte er eine Masse Tipps von Kevin Raffertv bekommen, und dessen satirischer politischer Dokumentarfilm »The Atomic Café« war in der Tat das richtige Vorbild.
Wenn »Roger and Me«, der die amerikanische Erfindung der freien Marktwirtschaft so richtig von Herzen madig macht, gleichwohl im freien Westen kommerziell überaus prächtig reüssiert, so liegt das daran, dass Michael Moore, 35, Zweizentnerkind der Arbeiterklasse aus Flint, Michigan, die amerikanischen Mythen, die inzwischen auch die unseren geworden sind, aufs beste (und perfideste) bedient. Erstens fordert einer, der die gute Sache vertritt, den Repräsentanten des Bösen heraus und obsiegt im Showdown. Zweitens sind die Mächte personifiziert und bedürfen daher keiner begrifflichen Vor- und Nachbereitung, sicherlich sehr zum Verdruss aller akademischen und insbesondere europäischen Sinnproduzenten. Drittens ist Michael Moore, der Produzent und Regisseur, mit »Roger and Me« vom Tellerwäscher zu jemandem aufgestiegen, der den größten Manager der gesamten Welt vorführen und zum Gespött der Welt machen kann – mit Erfolg. Und viertens ist die freie Marktwirtschaft mit diesem Film mitnichten abgeschafft, weil eben sie es ist, die diesen Film (vertriebstechnisch) vereinnahmt hat. Ohne Mogul Warner wäre der Film nicht im Kino, und ob Chairman Roger Smith und damit GM die Hände in diesem Medium hat, wäre noch zu prüfen. So fragt sich noch, wer eigentlich zuletzt lacht und für wen Michael Moore seinen nächsten Film machen wird.
Mit »Roger and Me«, dem erfrischend einseitigen, herzlich parteiischen und boshaft unausgewogenen Film, bereitet er jedenfalls all denen große Freude, die von der pluralistischen Heuchelei, der verkommenen Objektivität und der ausgewogenen Impotenz des hiesigen Kultur- und Fernsehbetriebs die Schnauze voll haben. »Roger and Me« ist keine dieser Fernsehdokumentationen, die auf unseren Kanälen immer nur die gleichen Bilder von den ach so traurigen Fassaden Dresdens zeigen, wo der böse Sozialismus die Bürgerhäuser abgebröckelt hat. – Von Sentimentalität, Weinerlichkeit und Betroffenheit aber keine Spur, wenn in Michael Moores Film Fassaden bröckeln. Jetzt sind es Arbeiterhäuser aus Flint, Michigan, die leerstehen und verfallen: Straßenzüge, Stadtviertel. 30.000 Arbeiter waren – 1986 – auf einen Schlag wegrationalisiert worden. Gleich danach räumte der Gerichtsvollzieher die Wohnungen: sie waren von der Sozialhilfe nicht zu bezahlen.
Die Kamera folgt dem Gerichtsvollzieher bei seiner Arbeit, der Exmittierung. Ein verständnisvoller Mensch. Bei der Räumung am Heiligabend ordnet er die schonende Behandlung eines geschmückten Weihnachtsbaumes an, damit die Kinder ihre Freude haben. Ein kleiner Junge guckt in die Kamera. Das wars. Und die Wüste, die dieses kapitalistische Rationalisierungsverbrechen hinterlässt, ist wieder etwas größer geworden. Seht Euch diese Bilder an! Wer hat wann, wo, in dieser Intensität die Spuren einer durchgeplanten, wohlbedachten Umweltkatastrophe gezeigt? Spuren von Hausrat, Müll, von aufgebrochenen Türen und eingeschlagenen Fenstern in den menschenleeren Vierteln von Flint, – eine Endzeit als Resultat marktwirtschaftlicher Kalkulation. »Roger and Me« zitiert Roger Smith’s »genialen Plan«, entwickelt aus einer betrieblichen Kosten-/Nutzen-Analyse. Auf einen Tag wurden 11 General-Motors-Fabriken geschlossen und 30.000 Arbeiter auf die Straße gesetzt (seien wir gerecht: der Film zeigt, dass jeder zur Abfindung eine Blume in die Hand gedrückt bekam), weil dem Management die Produktion im Ausland (Mexiko) kostengünstiger erschien und weil außerdem das zusätzlich erwirtschaftete Geld in Zukunftstechnologien wie SDI investiert werden sollte.
Der Segen der freien Marktwirtschaft ist der Unsegen von 30.000 Familien, die unfrei geworden sind. Michael Moore sammelt Bilder, Dokumente einer Katastrophe, die das Fernsehen nur zeigen würde, wenn die Verursacher anonym blieben wie beispielsweise das Erdbeben, die Überschwemmung und der Waldbrand bei Ajaccio. Moore, und das macht ihn sympathisch, zeigt seine Gefühle, seine Empörung und die kalte Wut. Flint ist seine Heimatstadt, seine Familie arbeitete schon in der dritten Generation für GM. Die Marktwirtschaftskatastrophe kommt ihm so nah, dass für den Blick von außen, fürs Durchreflektieren und dergleichen beschauliche Arbeit weder Platz noch Zeit ist. Er will nichts weiter, als Big Boss Roger nach Flint bringen, damit der sieht, was er angerichtet hat. Zu fassen bekommt er einen PR-Mann von General Motors. Mit vielen schönen Worten bekundet dieser ihm Unverständnis: »Wir sind ein profitorientiertes Unternehmen«, und Roger Smith in Flint: was für Profit würde das bedeuten? Keinen, eben. (Im Übrigen meldet der Film zum Schluss, dass nach dem Interview auch die Stelle des PR-Mannes wegrationalisiert wurde).
»Roger and Me« kommt zur rechten Zeit. In einer Zeit, in der das vormals sozialistische Lager den schönen Traum von der Freiheit der freien Marktwirtschaft zu träumen beginnt, liefert Moores Film das Gegenbild: Dokumente eines bösen Erwachens. Denn unseren Brüdern & Schwestern steht profitorientierte Ruinierung ins Haus. Warte, warte nur ein Weilchen, dann wird aber heftig gekappt, gehackt und rationalisiert werden. Wie die vielen Flints in der Ex-DDR aussehen werden, davon kann sich jeder unschwer ein Bild machen, der sich die marktwirtschaftlichen Ruinen von »Roger and Me« ansieht.
Wer in diesem Film General Motors (moralisch) in die Knie zwingt, ist ein Einzelkämpfer, ein Held, der sich der Sache Wehrloser und Entrechteter angenommen hat. Ein sehr realer Batman, dem keiner die Verantwortung abnimmt. Weder gibt es Massen, die sich gegen GM erheben, noch gibt es eine irgendwie geartete Organisation, gar Bewegung, der man sich anschließen könnte. »Roger and Me« braucht weitere Helden, die vor Thronen aufmucken möchten. Die Gewerkschaft zum Beispiel, und das ist alarmierend genug, ließ die 30.000 Arbeiter schlichtweg im Stich. Die Filmmontage bringt das sehr schön auf den Punkt. Auf einer Art Karnevalsumzug (»The Big Parade«) wird des großen Sitzstreiks von 1937, an dem ein Onkel des Filmemachers beteiligt war, zwar gedacht, aber er ist zur Folklore verkommen. Der Streik-Wagen folgt dem des Gouverneurs und dem der städtischen Schönheitskönigin. 1937 war die erste Industriegewerkschaft der USA erstreikt worden, heute fährt der erste Gewerkschaftsfunktionär in einem überlangen GM-Wagen vor und erklärt dem Interviewer Michael Moore: »Nein, heute doch kein Sitzstreik! Die Zeiten haben sich geändert«. Der Kommentar wird einem Passanten überlassen: »Der Gewerkschaftsbonze, ein Freund des Managements von GM«.
Irgend ein Verhalten oder irgendeine Regung, die man als solidarisch begreifen könnte, wird in diesem Film nicht registriert. Wenn dies die gesellschaftliche Wahrheit sein sollte, dann wird das Vakuum von Unbedarftheit und Verkommenheit gefüllt. Im alltäglichen Nahbereich, in dem sich der Film bewegt, herrschen Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Klassendünkel, Brutalität, Erbarmungslosigkeit und der allerschleimigste Nationalismus (»I am proud to be an American«, schnulzt Pat Boone live). In Moores Dokumentation werden die, die ihre Sprüche ablassen, lächerlich. Die Montage macht den belehrenden Kommentar überflüssig. Es darf gelacht werden. Und selbstredend könnte man auch bei uns einen ähnlichen Katalog von Bösartigkeiten aufstellen, dann auf ans Werk, aber bitte so parteilich wie Regisseur Moore. Denn auf die zynischen Worte, die das Establishment für die 30.000 Arbeitslosen übrig hat, folgen zynische Taten. Wenn Reagan, zu Besuch in Flint, zum Pizzaessen einlädt (galt für 15 von 30.000), ist es logisch, dass die Restaurantkasse geklaut wird. Wenn Anita Bryant, die singende Reaktionärin, empfiehlt: »Be positive«, provoziert sie einen negativen Straßenraub. Wenn auf der Gardenparty des Gouverneurs den Arbeitslosen auf den Weg gegeben wird: »Früh aufstehen ! Arbeit suchen! «, dann antwortet Rhoda Britton mit der normalen Brutalität der Sozialhilfeempfängerin, indem sie zur Verbesserung der Stütze in ihrem Heim eine Kaninchen- und Hasenschlachterei einrichtet. »Ich hab nur zehn Käfige«, sagt sie angesichts der zusammengepferchten Tiere in die Kamera, »jetzt fressen sie sich gegenseitig die Eier ab«, dann streichelt sie dem Tier, das sie liebevoll im Arm hält, über den Pelz und zieht ihn ihm über den Kopf, während sie das Interview fortsetzt.
In der amerikanischen Filmpresse sind in diesem Wust grade eben 2 (zwei) Ungenauigkeiten ausgemacht worden – Marginalien, und man kann sich denken, dass GM Argusaugen gehabt hat. Die mit viel Publizität kolportierten Einwände (»Reagan war noch nicht Präsident, nur Kandidat« u. dergl.) sind Korinthenkackerei. »Roger and Me« braucht nicht Beckmesser, sondern Nachahmer; das Phänomen »Roger« ist universell und damit auch deutsch. Da die hiesige Lösung, einen deutschen Roger nötigenfalls hinzurichten, nicht zum Publikumshit geworden ist, verspräche eventuell ein Versuch mit der Moore-Methode des and Me Erfolg – jedenfalls im Kino.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/1990