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Trollhunter

(NOR 2010, Regie: André Øvredal)

Verschwörung auf dem Lande
von Sven Jachmann

Das found footage-Prinzip, welches „The Blair Witch Project“ 1999 als vollwertiges dramaturgisches Gerüst endgültig im Horrorfilm etablieren sollte, erlebt in jüngster Zeit eine kleine Renaissance. „[Rec]“ (2007), dem ein Sequel …

Das found footage-Prinzip, welches „The Blair Witch Project“ 1999 als vollwertiges dramaturgisches Gerüst endgültig im Horrorfilm etablieren sollte, erlebt in jüngster Zeit eine kleine Renaissance. „[Rec]“ (2007), dem ein Sequel und ein amerikanisches Remake folgen sollte, „Cloverfield“ (2008), „Paranormal Activity“ (2007) samt Fortsetzung im Jahre 2010 oder „Der letzte Exorzismus“ (2010) funktionieren als – zumindest was die Originale betrifft –teilweise exquisite Genrebeiträge allesamt mittels der Übereinkunft, dass es sich beim Filmmaterial um unbearbeitete oder jedenfalls unverfälschte dokumentarische Aufnahmen handelt, die durch Zufall an die Öffentlichkeit gelangt sind. Dieses Pantheon wird zukünftig mit „Trollhunter“ um einen besonders schönen Beitrag bereichert, dessen norwegische Herkunft auch zugleich für einige seiner Qualitäten verantwortlich zeichnet.

Bereits die Grundidee ist ein Spiel mit nationaler Folklore. Denn die Trolle, die als Märchen- und Sagengestalten oder als Touristenschreck Norwegen mythologisch und popkulturell überbevölkern, gibt es wirklich. Von einem Zeitgenossen mag man hier verniedlichend allerdings wirklich nicht mehr sprechen. Der Troll ist ein ziemlich primitives, gigantisches Tier, das unter Ausschluss der Öffentlichkeit in abgegrenzten Reservaten lebt (die riesigen Strommasten fungieren in Wirklichkeit als elektrische Zäune) und mit Hilfe von regierungseigenen Organisationen geheim gehalten wird. Eine veritable Verschwörungstheorie also, aber eine von ziemlich unglamouröser Herkunft, wie ein Studententrio schon bald herausfinden muss. Um nämlich den Schwindel aufzudecken und nicht zuletzt um den eigenen Mutmaßungen Evidenz zu verschaffen, heftet man sich mit einer Kamera bewaffnet an die Fersen von Hans (Otto Jespersen), einen vermeintlichen, äußerst bärbeißigen Trolljäger. Der gibt nach eifriger Penetranz auch schließlich nach, schon weil er des Versteckspiels und des undankbaren Jobs überdrüssig ist, und so erfasst die Kamera relativ frühzeitig die ersten Bilder eines gleich dreiköpfigen Troll-Ungetüms.

An dessen Präsentation zeigt sich bereits, dass sich der Schrecken dramaturgisch aus anderen Mitteln speist. Steuern die restlichen found footage-Filme auf die finale Enthüllung des Unvorstellbaren oder eine endgültige (Nicht-)Erklärung zu und gehorchen beim Arrangement des Materials entsprechend einem Steigerungsgesetz, bietet sich „Trollhunter“ vergleichsweise schaulustig dar. Statt also rein auf die Erschütterung der Rationalität zu setzen, streift der Plot lakonisch das Satirische, ohne dazu jedoch den Schauer zu kastrieren. Immerhin wird aus einem kitschigen Nationalmythos ein monströser Störfaktor, für dessen Geheimhaltung die Regierung in Gestalt getöteter, aus Osteuropa importierter Bären sorgt, deren Leichname recht plump von den Spuren der Trolle ablenken sollen. Auch das triste Leben von Hans in seinem vor Trollmist berstenden Wohnwagen auf einem Campingplatz könnte nicht weiter von der landläufigen Vorstellung eines offiziösen Regierungsagenten entfernt sein. Von den vielgestaltigen Trollen, die zwar Christen wittern können, ansonsten jedoch tumb aufs Fressen und Überleben gepolt sind, mal ganz abgesehen. Zur omnipräsenten Ironie, die dem Monsterfilm bloß den Boden unter den Füßen wegreißen will, gerinnt der Plot trotzdem niemals. Zu sehr schwelgt die Kamera in Impressionen der pittoresken Wald- und Berglandschaften und zu erhaben entwickelt sich indes auch die Reise der Filmcrew zusammen mit Hans, der quer durchs Land einem ausgenommen riesigen und, wie sich herausstellen wird, tollwütigen Exemplar hinterher jagen muss. Dann gerät die Natur tatsächlich zum fantastischen Ort, der auf fast romantische und dann natürlich wieder ironische Weise das Schöne und das Unheimliche beherbergt, weil die Haptik der Zerstörung die Spurensucher (und natürlich auch die Zuschauer) zwangsläufig zu anderen Schlüssen als jenen der unaufgeklärten Bürger führt. Aus Felsengeröll wird das Indiz eines Trollkampfes und eine gleichmäßig umgestürzte Baumreihe zeugt keinesfalls von der peniblen Brachialität eines nächtlichen Tornados. Zwischen Apotheose und Ironisierung, Faszinosum und nivellierter Unschuld schafft „Trollhunter“ ein kurioses Zwischenstadium, das erst über seine Disparitäten glückt. Wem an der Entdeckung roher Genreperlen gelegen ist: Hier wird man fündig!

Joschka und Herr Fischer

(D / CH 2010, Regie: Pepe Danquart)

Performance
von Dietrich Kuhlbrodt

Zwei Tage lang stand Fischer vor der Kamera seines Freundes Pepe Danquart („Am Limit“, 2007) und erzählte die Geschichte seines Lebens, ein Stück weit. „Ein Stück weit“ ist seine Lieblingswendung. …

Zwei Tage lang stand Fischer vor der Kamera seines Freundes Pepe Danquart („Am Limit“, 2007) und erzählte die Geschichte seines Lebens, ein Stück weit. „Ein Stück weit“ ist seine Lieblingswendung. Sie signalisiert den Abstand von den Dingen, seine Souveränität. So sieht sich einer, der sich nie habe vereinnahmen lassen. Und wir sollen das bewundern. 140 Minuten lang. Uns und ihm wird diese Haltung durch Setting und Drehort nahegelegt. Fischer steht die zwei Drehtage im angesagten Club Tresor, dem Ex-Heizkraftwerk in Berlin, in einer für ihn aufgebauten aufwändigen Videoinstallation. Auf Glasstellagen spiegeln sich Dokuloops, die mehr als das bekannte Material zeigen. Wir werden Zeuge, wie Performer Fischer sich überraschen lässt, den Priester seiner Kindheit wiederzusehen, dem er als Ministrant diente. Und wir entdecken eine Regung auf Fischers Zügen, die der Film als authentisch qualifiziert. Die Medien-Galerie-Ästhetik ist eine feine Sache. Im tollen Club-Design wird Fischer ein Galeriebesucher ganz wie wir, bloß das wir uns die Nase an der Schaufensterscheibe reiben oder am Monitor.

Die Dramaturgie des langen Films enthält keine Überraschungen. Eine Chronologie deutscher Zeitgeschichte, bezeugt von Joschka und Herrn Fischer. Keiner redet dazwischen, kein Kommentar, keine Nachfragen, keine Kritik. Fischer hat den Film autorisiert. Was der Film hinzutut, ist anspruchsvolle ästhetische Gestaltung. Eingemischt ist die Musik der jeweiligen Jugendkultur, die Fehlfarben etwa, und die kommen als alte Herren auch zu Wort. Hierfür hat der Film diverse Einschübe vorgesehen. Und immer wieder hat Cohn-Bendit was zu sagen.

Fischer also hat sich in die diversen Szenen stets ein Stück weit hineinbewegt, aber eigentlich überall rausgehalten. Antiatomdemos habe er nicht mitgemacht. Na ja, bei Brokdorf irgendwie, war ja eher die Stimmung für eine Latschdemo. Und mit Turnschuhen zur Vereidigung im Plenarsaal? War schon peinlich, aber Beschluss der Grünen. Und die Wiedervereinigung? Nur ein superkleines Stück rein, Europa ist das Ding. Und die Einsätze im Kosovo und in Afghanistan? Ein superlanges Stück, schon, aber Einsatz im Iran? Nein, Mr. President!! – Fischers Selbstdarstellung entspricht ganz dem Bild eines seriösen Seniorchefs, zum Beispiel der Beraterfirma Joschka Fischer & Company GmbH.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 05/2011

Gnomeo und Julia

(USA 2011, Regie: Kelly Asbury)

Shakespeare-Zwerge
von Harald Mühlbeyer

Dies ist einer dieser Animationsfilme, die man getrost auch zweidimensional sehen kann. Die 3D-Version wurde ganz offensichtlich nur deshalb in Verkehr gebracht, weil sie bei Computeranimationen leicht herzustellen ist. Den …

Dies ist einer dieser Animationsfilme, die man getrost auch zweidimensional sehen kann. Die 3D-Version wurde ganz offensichtlich nur deshalb in Verkehr gebracht, weil sie bei Computeranimationen leicht herzustellen ist. Den Filmbildern kann die dritte Dimension nichts hinzufügen. Allerdings kann man sich nach Sichtung des englischen Originals kaum eine adäquate deutsche Synchronisation vorstellen: das originale Shakespeare-Englisch wird mit einer Menge Wortspiele durchmischt.

Was im Kleinen die ganze Konzeption des Films widerspiegelt: Die große Tragödie um Romeo und Julia wird nämlich als Gartenzwerg-Fehde wiedergegeben. Wo Baz Luhrman das Stück als Teenie-Pop-Version inszenierte, dreht Kelly Asbury hier nun alles auf Witz. Asbury hatte zuvor „Shrek 2“ inszeniert, und dieselbe Strategie wendet er auch hier an: Gags in größtmöglicher Dichte. Wo Pixar in den „Toy Story“-Filmen Wert auf Charaktere und Geschichte legt, da sucht Asbury den Gag. Obwohl der Hintergrund nicht unähnlich ist: Wo im einen Film Spielzeuge ein geheimes Leben führen, da bekriegen sich im anderen die Zwerge im blauen und im roten Garten, wenn die Menschen grad nicht gucken.

Aus der Liebe zwischen dem roten Gnomeo und der blauen Julia ergibt sich der Shakespeare-Plot: Und das ist dann doch ein schöner Kniff, die allgemein bekannte Geschichte auf anderer Ebene auf andere Weise zu erzählen. Zumal es die Gartenzwerge faustdick hinter den Ohren haben: von wegen kleinbürgerliche Knuffeligkeit und liebenswerte Gartengemütlichkeit! Da geht es zur Sache, wenn die Rivalitäten in Rasenmäherwettfahrten ausgelebt werden. Am Ende wird gar der riesige Terrafirminator, „weapon of grass destruction“, eingesetzt – aber das ist dann doch etwas zu forciert, wenn diese Großkampfmaschine mit lasergestützter und computergesteuerter Zielerfassung auftritt, mit Gadgets also, die bei keinem noch so teuren Rasenmäher, sondern nur im Repertoire der Gagschreiber vorkommen. Zu viel sind auch die gleich vier Sidekicks des Films, ein dämlicher Wasserspeierfrosch, ein schnüffelndes Pilzchen, ein Flamingo und ein Kampfreh.

Aber witzig ist es doch, was die sieben Drehbuchautoren nach dem Originaldrehbuch zweier weiterer Autoren konstruiert haben – zumal William Shakespeare vom hohen Denkmalsockel persönlich seinen Segen für ein Happy End gibt. Im Übrigen dürfen sich alle freuen, die Elton John lieben – seine größten Hits sind die Begleitmusik der zwergischen Turbulenzen. Und denen, die Elton John hassen, macht es der Film nicht allzu schwer, denn seine Songs werden in verzwerglichten Versionen dargebracht, und in ein paar Kurzauftritten tritt John sogar selbst auf, als selbstironisch animierte Karikatur.

Irreversibel

(F 2002, Regie: Gaspar Noé)

Das Leben stinkt
von Sven Jachmann

Gaspar Noés zweiter Spielfilm hat seinerzeit die Kritik enorm gespalten, was bereits seinen Anfang bei der Uraufführung in Cannes 2002 nahm, als zahlreiche entrüstete Besucher vorzeitig den Kinosaal verließen. Eine …

Gaspar Noés zweiter Spielfilm hat seinerzeit die Kritik enorm gespalten, was bereits seinen Anfang bei der Uraufführung in Cannes 2002 nahm, als zahlreiche entrüstete Besucher vorzeitig den Kinosaal verließen. Eine flächendeckende Berichterstattung beim hiesigen Kinostart war aufgrund dieses Furors vorprogrammiert, und seither geht es ums Ganze: Meisterwerk oder Niedertracht? Bei aller formalen Finesse, die der Bildapparat zweifellos auffährt, besteht der entscheidende Clou in der rückwärtschronologischen Narration, die durch die daraus entstehende Verkehrung der Kausalitätsketten Diskurse um Zeit, Gewalt, Rache, Schuld, Unterdrückung, Glück, Schicksal, Freiheit, Liebe, Sexualität, Unschuld usw. usf. erzeugt. Mittelpunkt des Films, der Erzählung und teilweise auch der Aufregung bildet die berüchtigte fast zehnminütige Vergewaltigung einer Frau, die zudem auch noch ohne Schnitte in einer einzigen Einstellung zu sehen ist. Sie ist die Zäsur, die allem, was sich im Plot vollzog und vollziehen wird, eine neue Bedeutung verleiht.

Schon der Abspann wird zum Vorspann mit spiegelverkehrter Schrift. Danach raunt in der ersten Sequenz der misanthropische Metzger aus Noés Debütfilm „Menschenfeind“ (1998), nachdem er vom Missbrauch seiner Tochter erzählte, mit stoischer Miene in einem versifften Hotelzimmer zu seinem Gast: „Die Zeit zerstört alles.“ Um den Beweis anzutreten, bewegt, nein, überschlägt sich die nie stillstehende Kamera nach draußen und dringt in den angrenzenden Schwulenclub Rectum, aus dem gerade zwei Männer, Marcus (Vincent Cassel) und Pierre (Albert Dupontel), von der Polizei abgeführt werden. Die Kamera taumelt direkt in den Unterwelt zur nächsten Sequenz. Pierre und Marcus suchen in der Dunkelheit des Clubs in einem regelrechten Inferno aus kopulierenden Ledermännern und hysterischen Klagen der Geilheit nach einem Unbekannten mit dem Spitznamen La Tenia, der „Bandwurm“. Als sie ihn finden, greift Marcus an, wird jedoch überwältigt und sofort von ihm vergewaltigt. Der während der Suche noch beschwichtigende, wenn nicht gar ängstliche Pierre greift zum Feuerlöscher und schlägt so lange auf den Schädel von „Bandwurm“ ein, bis dessen Gesicht vollends zertrümmert ist, dabei umringt von einem Pulk schwuler Männer, die das Spektakel sichtlich ergötzt. So arbeitet sich der Plot rückwärts vom scheinbar motivlosen Mord zum Anfang allen Lebens zurück. Es ging um Rache. Die Mörder waren der Freund und der Ex-Freund von Alex (Monica Bellucci), die wenige Stunden zuvor in einer Unterführung von (was sich zudem als Fehler herausstellen soll) eben jenen Ermordeten anal vergewaltigt und ins Koma geprügelt wurde – die einzige Szene, in der die Kamera in Permanenz erstarrt.

Von hier an geht es aus dem Milieu anomischer Perversion heim in die Idylle der Zweisamkeit: von der Party, die Alex im Streit mit Marcus verlässt, um anschließend in die Hände des Vergewaltigers zu geraten (Wie schuldig ist also Marcus?), über die S-Bahn-Fahrt zu dritt, während der man ausgiebig über Sex plaudert, bis ins Bett der Liebenden, wo Marcus Alex irgendwann in verspielter Ausgelassenheit zuflüstert: „Weißt du was? Ich glaube, ich hab Lust dich gleich in den Arsch zu ficken.“ In der letzten Szene erfahren wir, dass Alex schwanger ist, bevor sich die Kamera von ihrem Antlitz inmitten einer sonnendurchfluteten Parkwiese, auf der Kinder mit einem Wasserstrahl herumtoben, in spiralförmigen Bewegungen entfernt – dann ist das anfängliche repetitive Synthiedröhnen des Rectum-Szenarios Beethovens 7. Sinfonie gewichen.

Formal wird hier das fortschrittliche Zeitverständnis der Aufklärung außer Kraft gesetzt. Das Gute wird zum Schlechten und Utopien zerbrechen am Trieb des Menschen, sobald er die Kontrolle über sich verlieren will. Solcherlei Negativ-Anthropologien kennt man als nihilistischen Schmand von Michel Houellebecq, der stets das Menschsein selbst als den blinden Fleck aller emanzipatorischen Bemühungen konstatiert. „Irreversibel“ will in diesem Sinne fatalistisch herumwühlen, indem er in beide Richtungen kontrastiert: aus dem Club der Kaputten wird die zärtliche Liebe, aus einem trunkenen Gespräch über sexuelle Dominanz die Vorahnung einer Vergewaltigung, aus Verzweiflung unschuldiges Glück, aus einem blutrünstigen Mord eine grauenvolle Katharsis, aus einem Experimentalfilm über die Allgegenwart der Triebe und der Gewalt der Tagesverlauf einer Romanze, der grenzenlose Tragik bevorsteht. So etwas passiert, und darin besteht der dumpf-pessimistische Tonfall des Films, zufällig (die zunächst eruptiv wirkende Gewalt), ist aber zugleich unausweichlich (die Zeitachse, die allem letztlich eine Bestimmung angedeiht). Irritierend hieran ist neben der negativ gewendeten Kalenderweisheit, dass kein Glück der Welt vor dem bösen Schicksal gefeit ist, vor allem die Abgebrühtheit, mit der sich der Film als klügeres Rape and Revenge-Kino geriert. Letztlich ist die Auflösung der Geschichte in zwölf Szenen recht kokette Trickserei: Ohne die Liebe und weibliche Unschuld, die als Utopien am Anfang bzw. Ende stehen, kann auch er weder reaktionäre Racheimpulse noch Furcht vor der plötzlichen Endlichkeit des Glücks mobilisieren. Er kann allenfalls durch den Bruch mit – quasi im linear erzählten Fall – sonst geltenden Genrekonventionen und Motiven aus rassistischen und homophoben Tätern verzweifelte Liebende und dann zärtliche Partner konstruieren, um darüber die banale Diagnose der Omnipräsenz der Gewalt, zu der jeder unter außergewöhnlichen Bedingungen fähig ist, zu behaupten (noch dazu, wenn nicht der hitzköpfige Marcus, sondern der intellektuelle Pierre zum Mörder wird). Um von der reinen Universalität der Verkommenheit der menschlichen Natur zu erzählen, hätte „Irreversibel“ gleichwohl noch rückblickend die Perspektiven des Getöteten und des Vergewaltigers berücksichtigen können, wäre ihm grundsätzlich an der Genese von Gewalt und nicht an weltüberdrüssiger Provokation gelegen, die das so oft besungene Filmcredo „Alles wird gut“ in ein nicht minder blöd nivellierendes „Alles wird schlecht“ übersetzt. Aber vor diesem Schlechten gibt es dennoch einen hermetischen Zustand der Reinheit, der unwiederholbar sein soll, weil er irgendwann zwangsläufig auf das Schlechte stößt. Dass für die Demonstration solcherlei vulgären Daseins-Pessimismus‘ ausgerechnet eine Vergewaltigung in Echtzeit herhalten muss, entspricht zumindest der eigens etablierten zynischen Logik.

Das Schmuckstück

(F 2010, Regie: François Ozon)

Rückkehr zum Matriarchat
von Wolfgang Nierlin

Einer lange versunkenen Zeit entstammen die ersten Bilder von François Ozons neuem Film „Das Schmuckstück“ (Potiche). Sie beschreiben eine ebenso märchenhafte wie kitschige Naturidylle, ein künstliches Paradies, durch das die …

Einer lange versunkenen Zeit entstammen die ersten Bilder von François Ozons neuem Film „Das Schmuckstück“ (Potiche). Sie beschreiben eine ebenso märchenhafte wie kitschige Naturidylle, ein künstliches Paradies, durch das die Unternehmergattin Suzanne Pujol (Catherine Deneuve) frühmorgens im poppig roten Trainingsanzug joggt. Ruhe und Friede, Entspannung und Einklang liegen über der Szene, wenn Suzanne verträumt mit den Tieren des Waldes spricht und als Hobby-Dichterin sentimentale Verse über das „vergängliche Schicksal“ schmiedet. Aber natürlich ist dieser überzuckerte Fluchtraum in Ozons ironischer Perspektive nicht ernst gemeint; allenfalls bildet er den imaginären Ort, wo sich die noch schlummernden Gegenkräfte zum verordneten Status quo sammeln. Damit korrespondiert, dass der überaus produktive französische Regisseur die in milchige Farben getauchte Eingangssequenz als Hommage an Filmkomödien der siebziger Jahre in einer Splitscreen auflöst.

Die diskriminierende Verlängerung dieser scheinbar heilen Welt erfährt Suzanne später im schmucken Eigenheim, und zwar in der Konfrontation mit ihrem cholerischen Ehemann Robert Pujol (Fabrice Luchini), einem herrischen Unternehmer alter Schule. Die traditionsreiche Regenschirmfabrik mit ihren 300 Mitarbeitern führt er mit unnachgiebig harter Hand; und als geiler Schürzenjäger überträgt er sein standesbewusstes Besitzdenken mit größter Selbstverständlichkeit auf sein Verhältnis zum anderen Geschlecht. Mit provozierender Direktheit und satirischer Überzeichnung seziert Ozon das machistische Verständnis der Geschlechterrollen Mitte der 1970er Jahre. Demnach fällt Suzanne die „dekorative“ Aufgabe zu, fraulich, häuslich und vor allem repräsentativ zu sein. Ob hinter dem schönen Schein duldsamer Genügsamkeit unterdrückte Bedürfnisse schlummern, lässt Ozon allerdings zunächst offen.

Das ändert sich, als der despotische Chef im Verlauf eines unerbittlich geführten Streiks einen Schwächeanfall erleidet und die Unternehmensleitung an seine Frau abgeben muss. Diese hat – für manche überraschend – nicht nur eine eigene Meinung, sondern pflegt auch einen weniger hierarchischen Führungsstil, der auf Kommunikation und Mitbestimmung setzt. Unterstützt wird sie dabei zunächst vom kommunistischen Bürgermeister Maurice Babin (Gérard Depardieu), der als Suzannes ehemaliger Liebhaber eine alte Sehnsucht wiederbeleben möchte, und ihren beiden erwachsenen Kindern Laurent (Jérémie Renier) und Joëlle (Judith Godrèche). Doch die Untiefen eines instabilen Familiengefüges, basierend auf Lügen und Verrat, bleiben bei Ozon auch im Genre der heiteren Komödie präsent, wenngleich er sich diesmal mehr auf die Phänotypen konzentriert. Erfrischend undogmatisch jedenfalls erzählt Ozon von Geschlechterkampf, Rollentausch und der Macht der Frauen. So wird Suzanne zur bewunderten Vorkämpferin einer Emanzipation, die im fulminanten, politsatirischen Finale als neues Matriarchat gefeiert wird.

Monga – Gangs of Taipeh

(TW 2010, Regie: Doze Niu Chen-Zer)

Die Jungs von der Bruderschaft des Brathähnchenschenkels
von Michael Schleeh

In der Altstadt des Wanhua Bezirks in Taipeh, im Gewirr der Gassen von Manka/Banka (oder eben wie hier: „Monga“) finden fünf Freunde zusammen und schließen Blutsbrüderschaft. Seit Generationen gehört man …

In der Altstadt des Wanhua Bezirks in Taipeh, im Gewirr der Gassen von Manka/Banka (oder eben wie hier: „Monga“) finden fünf Freunde zusammen und schließen Blutsbrüderschaft. Seit Generationen gehört man zum Clan des Tempelplatzes, der die kriminellen Geschäfte auf den Hauptstraßen des Viertels regelt. Der junge Chou Yi-Mong (Mark Chao), den sie „Mosquito“ taufen, ist einer von außen, ein Dazugezogener, der sich aber in der Schule im Streit um einen Hähnchenschenkel, um den ihn ein Fiesling (zufällig einer von der Konkurrenzgang, des Clans der Hintergassen) beim Mittagessen erleichtern wollte, schlagkräftig bewährt – und dem sie nun einen Platz in ihrer Gang anbieten. Kurze Zeit später klettern sie (symbolträchtig) über die Mauer des Schulgeländes, um der bürgerlichen Welt für immer den Rücken zu kehren und ein Leben in der Kriminalität zu führen.

„Monga“ ist ein Gangster- und ein Coming-of-age-Drama zugleich. Der Film erzählt von den Irrungen und Wirrungen des Gangsterlebens zwischen Schutzgelderpressung, Revierverteidigung, Loyalitätsbeweisen, Saufgelagen und der ersten richtigen Liebe. Selbstverständlich verkuckt sich der Außenseiter Mosquito in eine ebensolche Außenseiterin, in eine (Achtung Zynismus!) besonders hübsche und besonders schüchterne Prostituierte edlen Gemüts. Als der Bösewicht von der Konkurrenz (der obige Hähnchenschenkeldieb) die Freundin eines Bruderschaftlers in die Hintergasse lockt und dort missbraucht, kann es nur eine Konsequenz geben: Rache.

„Monga“ ist einer jener Filme, die sich ihres exotistischen Gehalts bewusst sind, dieses hemmungslos ausbeuten – und dabei auf ganzer Linie scheitern. Permanent wird versucht, die Altstadt des Gangsterviertels besonders beeindruckend darzustellen, mit all den Neonschildern, dem Menschengewusel, der Unübersichtlichkeit, den Garküchen und dem ganzen Schmutz: dem Leben also, das so nah am Tode weilt.
Jedoch gewinnt nichts einen eigenständigen Charakter, alles scheint austauschbar und bereits hundertmal gesehen. Hier werden keine Räume eingefangen, sondern Abziehbilder eines modernen Molochmetropolenlebens simuliert. Dieser Film ist ausschließlich antiseptische Oberfläche. Hier findet sich nur Hochglanz-Dreck (da sehen selbst die Bilder des Verfall in Iñárritus „Biutiful“ noch authentischer aus). Ganz besonders deutlich wird das in den offenkundig in Kulissen gedrehten Szenen im „Hauptquartier“ der Nachwuchsgangster, das voller Gerümpel steht und ein Bild des Chaos einer großen Abstellkammer vermitteln soll. Jedoch: der Boden ist blitzblank, kein Müll nirgends. Optisch ist man hier in einer polierten koreanischen Soap-Opera gelandet. Der ideale Platz für Hausstauballergiker.

Dieser Trash-Chic korrespondiert mit der Wahl der Protagonisten, die vor allem ein einziges Kriterium zu einen scheint: sie sehen aus wie Coverboys von Mädchenzeitschriften. Schön sein, auch noch mit Blut im Gesicht, oder, wie in Mosquitos Fall, mit den Tränen des Sensiblen. Die Schauspieler sind denn auch aus bekannten taiwanesischen Fernsehsoaps oder Boygroups gecastet worden. Hier sehen alle immer sehr gut aus in ihren ultra angesagten Stylings der internationalen Modewelt. Keiner trägt die Röhrenjeans so eng wie Mosquito. Was nicht bedeuten muss, dass hier schlecht gespielt wird oder dass das ein relevantes Kriterium wäre für einen gelungenen Blockbusterabend. Nah am Overacting ist man zwar die ganze Zeit – und tritt dabei auch manchmal klar über die Schwelle des Erträglichen – doch der Zuschauer ist bereits gewohnt dies hinzunehmen, da er sich durch die vielen Filmsichtungen klischierter hongkongchinesischer Komödien und Gangsterkomödchen seit den Achtzigern entsprechend abgehärtet hat.

Es ist den immergleichen Regeln des Genres geschuldet, dass es am Ende zu einer Neuordnung der Machtverhältnisse im Viertel kommen muss. Der auf Oppositionen aufbauende Film parallelisiert den Kampf der Clanführer, deren langjährige Freundschaft sich in Feindschaft und Konkurrenz auflöst, mit der Konkurrenz der Jugend um die Vorherrschaft auf den Straßen.

Und ein abtrünniger Überläufer, der die verpönte Schusswaffe gebraucht, schießt sich symbolisch ins eigene Herz, indem er den ahnungslosen Freund, alle Anstandsgebote der Unterwelt missachtend, ermordet. Das System der Straßengangs ahndet diesen Regelverstoß mit dem Tod.
Dass der Film also mit deutlich konservativen Werten einer stark in Ritualen strukturierten Unterwelt schließt, lässt ihn noch einmal hinter die Errungenschaften eines nihilistischen Gangsterkinos zurückfallen. Und das satte Finale, das strömende Blut, kann nicht übertünchen, dass man es hier mit einem reaktionären Schinken zu tun hat. Dass das Ende kein gutes sein kann, das hätte man sich schon am Anfang denken können, als der Fiesling ganz gemein den Brathähnchenschenkel raubte.

Link zu einer weiteren Filmkritik

True Grit

(USA 2010, Regie: Joel Coen, Ethan Coen)

Lebensabschnittspartner Western
von Andreas Thomas

Welchen Film auch immer die Coen-Brüder drehen, er ist Kino, aufgesogenes, durchlebtes und durchlittenes Kino. Kaum ein Coen-Film ohne nerdige Referenzen an die Genres der amerikanischen Filmgeschichte. Bisweilen fragt man …

Welchen Film auch immer die Coen-Brüder drehen, er ist Kino, aufgesogenes, durchlebtes und durchlittenes Kino. Kaum ein Coen-Film ohne nerdige Referenzen an die Genres der amerikanischen Filmgeschichte. Bisweilen fragt man sich: Sitze ich jetzt in einem Original von vor 40, 60, 80 Jahren oder in der Liebeserklärung an eines? Die Form, der Stil und die Ästhetik der Vorbilder sind es, die von Joel und Ethan Coen geradezu fetischisiert werden. Um wahrhaft kreativ sein zu können, so scheint es, müssen sie stets die großen Mythen Hollywoods neu erfinden, indem sie sie nicht nur nachbilden, sondern sie von der Gegenwart her vollenden, abrunden oder zuspitzen – nicht ohne dabei natürlich den Kenntnisvorsprung der Nachgeborenen, und das heißt bei ihnen: die Paradigmen der Postmoderne, ins Spiel zu bringen. Dieser Spleen der Coens hat sie einerseits zu einer Art avantgardistischen Kino-Nostalgikern gemacht, falls es so etwas gibt, andererseits aber wirken ihre Filme mitunter dann etwas zu wenig geerdet, sobald sie eben diesen Boden der Vorbilder verlassen möchten und stilistische Hybride herstellen wie etwa „A Serious Man“, einen Film, bei dem nicht nur sein Protagonist in der Welt nicht so recht aufgehoben ist.

Mit „No Country For Old Men“ aus dem Jahr 2007 holten sich die Coens nicht nur vier Oscars, sie begannen mit diesem Film auch einen Flirt mit dem Western, der nun mit „True Grit“, zumindest vorübergehend, zu einer handfesten Liaison geworden ist. Kaum zuvor war ein Coen-Film so vollständig und unironisch in einem Genre verwurzelt, und selten hat ein Genre wiederum einem Coen-Film und seinen Figuren so viel Leben eingehaucht. Andererseits hat es wohl kaum einen Western nach den Siebzigern gegeben, der dem klassischen (Spät-)Western so nahe kommt, wie „True Grit“.

Dieses mag vielleicht an der gerühmten Romanvorlage „True Grit“ (gleichbedeutend etwa mit „Wahrer Schneid“) des Autors Charles Portis aus dem Jahr 1968 liegen (das Buch zählte zu den Lieblingsromanen Truman Capotes), die schon ein Jahr darauf von Henry Hathaway mit John Wayne verfilmt (Deutscher Titel: „Der Marshal“) wurde, ein Film, der, nach eigenem Bekunden der Coens, bei weitem nicht so entscheidend für die zweite Umsetzung war, wie das Buch.

Der Plot ist schnell zusammengefasst. Ford Smith, Arkansas, spätes 19. Jahrhundert: Mattie Ross, 14 Jahre alt (im neuen Film die bemerkenswerte Hailee Steinfeld), will den Mörder ihres Vaters zur Verantwortung ziehen. Weil jedoch Recht und Gesetz auf tönernen Füßen stehen, muss sie einen Kopfgeldjäger verdingen – Jeff Bridges‘ zweiter Auftritt in einem Coen-Film nach „The Big Lebowski“ als alter, alkoholabhängiger Marshal Rooster Cogburn. Aber auch der Texas Ranger LaBoeuf (gesprochen: 'La beef'), gespielt von Matt Damon, wittert eine Einkommensquelle und schließt sich der Suche an. Der weitere Verlauf wird hier höflich verschwiegen, aber erwähnt sei, dass „True Grit“ über einen klassischen Spannungsbogen verfügt, überraschende Wendungen eingeschlossen, und dass die Coens auch hier wieder ihr Händchen zeigen für die Kunst, Gewalt als etwas Komisch-Absurdes zu inszenieren. (Wozu angemerkt sei, dass sie diese spezielle Art derben Humors [gleichauf mit David Lynch] schon etwa 10 Jahre vor Quentin Tarantino [mit „Blood Simple“] ins Kino eingeführt haben. Trotzdem gilt „Pulp Fiction“ bis heute als der erste seiner Art.)

„True Grit“ ist eine Fusion, eine gelungene und spannende, aus einem seriösen Spätwestern und dem Humor, von dem die Coens sagen, er sei hier so trocken geraten, dass niemand mehr lachen könne. Streckenweise wird man sich erinnern an Clint Eastwoods „Erbarmungslos“, dessen Handlung (zur Sühne eines ungesühnten Verbrechens engagieren Prostituierte einen Kopfgeldjäger, der einen trunksüchtigen, alten Kollegen zur Hilfe nimmt), bis in so manches Detail (ein betrunkener alter Revolverheld fällt vom Pferd) der von „True Grit“ gleicht. Aber stärker noch als Eastwood, dessen Film mit der ironischen Abgeklärtheit des Post-Westerners aus den Neunzigern daher kommt, nehmen die Coens den Westen und seine kalte Unwirtlichkeit in „True Grit“ beinahe so beim sehr authentischen Milieu des Romans, als hätten sie selbst vor 120 Jahren dort gelebt. Willkür und menschliche Härte definieren in Ford Smith eine Welt des Unrechts, in der Ordnungsinstanzen (auf die in zwei Dritteln aller Western wenigstens noch Verlass gewesen war) komplett ausfallen. Wenn sich auf Grund von Bestechlichkeit keine ordentlichen Marshalls und Sheriffs in der Verantwortung sehen, sind es die Schwachen, die sich selbst helfen müssen – und können! Kinder und abgehalfterte „Shootists“ müssen sich gegen die Barbarei zusammenschließen.

„True Grit“ ist der in den Staaten kommerziell bisher erfolgreichste Film der Coens gewesen; manche sahen angesichts dieser Story in diesem Erfolg die Ratlosigkeit eines Landes gespiegelt. Man kann aber seine hohen Besucherzahlen auch darauf zurückführen, dass „True Grit“ ganz einfach einen hohen Unterhaltungswert hat. „True Grit“ ist ein Western, der so spät ist, dass er einem schon wieder früh vorkommt, er ist partiell ein Hardcore-Indiana-Jones und er macht überhaupt keine Gefangenen. Sowas reicht nicht für ein Meisterwerk wie „No Country For Old Men“, aber für einen ganz schön spannenden Filmabend durchaus.

Open Hearts

(DK 2002, Regie: Susanne Bier)

Von der Unumkehrbarkeit des Lebens
von Wolfgang Nierlin

In den stärksten Filmen, die nach den Regeln der dänischen Dogma-Bewegung gedreht wurden, gibt es jene irritierenden Momente, in denen die Fiktion aufgehoben scheint und die geballte Kraft des Realen …

In den stärksten Filmen, die nach den Regeln der dänischen Dogma-Bewegung gedreht wurden, gibt es jene irritierenden Momente, in denen die Fiktion aufgehoben scheint und die geballte Kraft des Realen ungefiltert den Zuschauer erreicht. Eine Verunsicherung stellt sich ein, die den Illusionscharakter des Kinos für Augenblicke in Zweifel zieht und an der unsichtbaren Demarkationslinie zur Wirklichkeit kratzt. Lars von Trier, der Mitinitiator und Unterzeichner des Manifests, hat in seinem Film „Idioten“ auf verstörende Weise diese Konventionen attackiert. Susanne Biers „Open Hearts“ besitzt kaum noch etwas von diesem ästhetischen Affront. Zwar hat sie in einem Interview mit der Zeitschrift „Filmbulletin“ erklärt, Dogma sei für sie „die Kunst, Wirklichkeit im Spielfilm direkt und ungekünstelt darzustellen.“ Jedoch geht es ihr jenseits fundamentalistischer Reinheitsgebote primär darum, eine praktikable, dem Stoff angemessene Methode in ihren eigenen filmischen Stil zu integrieren. Fast unmerklich wird im Film der dänischen Regisseurin die Inszenierung zum Mittel, die auch in Dogmafilmen stets vorhandene Differenz zwischen Wirklichkeit und Abbildung zu reinstallieren.

Ein in der Bewegung kurz anhaltender Schwenk, ein beiläufiges Verharren des Kamerablicks in einem Spiegel oder auf Details, erzählerische Ellipsen und ironische Dialoge liefern entsprechende Anhaltspunkte für die Anwesenheit des inszenierten Spiels. Jump Cuts und grobkörnige, lichtarme Bilder sind deshalb nur noch äußere Merkmale eines bereits ausgehöhlten Rigorismus. Dies zeigt auch die Verwendung zusätzlicher Musik und die besonders Dogmafilme ästhetisch verfälschende Praxis des Synchronisierens.

Da „Open Hearts“ aber vor allem ein Kino der Gefühle exponiert, ist die Wahl der Handkamera ein durchaus adäquates Mittel, um die Sprunghaftigkeit von Emotionen, die das Leben der Figuren heftig erschüttert und durcheinander wirbelt, in Szene zu setzen. Biers Film ist gerade dort am intensivsten, wo es ihm gelingt, die quasi „asozialen“ Leidenschaften in ihren eruptiven, vernunftwidrigen Ausschließungstendenzen unmittelbar erfahrbar zu machen. Auch wenn diese Gefühle verrant und egozentrisch sind, verleiht ihnen Susanne Biers Inszenierung doch eine starke Intimität und Körperlichkeit.

Nicht der äußere Alltag, sondern die inneren Dramen stehen im Mittelpunkt des Films. Als nach einem ebenso plötzlichen wie schicksalhaften Unfall mit schwerwiegenden Folgen das junge Liebesglück zwischen der Köchin Cecilie (Sonja Richter) und dem Architekturstudenten Joachim (Nikolaj Lie Kaas) zerstört ist, muß das Leben weitergehen, obwohl es sich unumkehrbar verändert hat. Der junge Mann ist querschnittsgelähmt und erträgt die Liebe seiner hübschen Freundin nur noch schwer. Diese sucht Trost und findet ihn in den Armen des Arztes Niels (Mads Mikkelsen), der im selben Krankenhaus arbeitet. Weil dessen Frau Marie (Paprika Steen) den Unfallwagen steuerte, mischen sich anfangs Schuldgefühle in die aufkeimende Liebe, denen auf der anderen Seite der Schock einer unheilbaren Verwundung gegenübersteht.

Biers Film handelt von der Gefährdung des Glücks und von den irreversiblen Veränderungen des Lebens, die hier neben Paarbeziehungen das Gefüge einer Familie erschüttern. Trotz handlungstechnischer Konstruktionen und allzu gesuchter Koinzidenzen bewahrt „Open Hearts“ eine unaufdringliche, manchmal schmerzliche Nähe zum Leben. Und auch wenn der blinde Zufall Auslöser der tragischen Ereignisse ist, sucht die Regisseurin – man mag das bedauern – eher nach realistischen denn nach metaphysischen Lösungen, damit sich die Protagonisten für das Neue in ihrem Leben öffnen.

Carlos – Der Schakal

(F / D 2010, Regie: Olivier Assayas)

Terror ist Pop
von Marcus Stiglegger

„Terrorismus ist ein Faktum der modernen Weltpolitik, schon lange – aber Carlos ist ein Mythos. In dem Sinne, dass das Individuum Ilich Ramírez Sánchez eine Art Monster erschaffen hat, aus …

„Terrorismus ist ein Faktum der modernen Weltpolitik, schon lange – aber Carlos ist ein Mythos. In dem Sinne, dass das Individuum Ilich Ramírez Sánchez eine Art Monster erschaffen hat, aus dem mit Hilfe der Medien Carlos wurde. Carlos ist ein Archetyp, ein Phantom, das Superhirn des Bösen. Dass Ilich Ramírez nicht diese Person ist, ist doch klar. Ich wollte natürlich schon die Maske herunterreißen, etwas darüber herausfinden, wer die Person dahinter ist. Die Geschichte von Carlos ist die Geschichte, das Schicksal dieser Person.“ Olivier Assayas

Carlos, das Phantom – eine Legende der 'wilden siebziger Jahre'. Mit Barett und Bart stilisierte sich der meistgesuchte Terrorist seiner Zeit, der letztlich eine Art Söldner war, als Nachfahre von Che Guevara – um selbst durch Gewalt zum Popstar zu avancieren. 1979 hatte René Cardona jr. in Mexiko bereits eine exploitative Actionvariante des Themas gedreht: „Carlos el Terrorista“, doch dort ist noch nichts zu spüren von jenem verwegenen Popappeal, den der Terrorismus jener Jahre heute ausstrahlt. Olivier Assayas, einer der spannendsten Autoren des jüngeren französischen Films, hätte einen ähnlichen Weg gehen können, denn eigentlich war seine Fernsehproduktion „Carlos“ (2009) eher als 90-minütige Etüde geplant, die sich auf seine Festnahme im Sudan 1994 konzentrieren sollte, doch in der Recherche wurde sich Assayas des Potentials bewusst und weitete den Film zum epischen Biopic aus, das sowohl in der dreistündigen Kinoversion als auch als dreiteilige Miniserie Verbreitung fand. Der Film begleitet in chronologisch fragmentierter Narration den venezolanischen Terroristen bei mehreren Aufträgen, während seines Überfalls auf das OPEC-Hauptquartier in Wien 1975 und endet in dem Verfall von Carlos’ Wert auf dem internationalen Markt: Am Ende gilt er als lästiges Relikt des abklingenden Kalten Krieges und wird von seinen Verbündeten (u.a. der Stasi) verraten.

Édgar Ramírez spielt Carlos in unterschiedlichen Altersstufen (und physischen Konstitutionen) als charismatischen Krieger-Charakter, der sich Menschen (vor allem Frauen) hörig macht, um ein vielschichtiges Netzwerk zu etablieren, in dem er sich geschützt bewegen kann. Wie dünn diese Membran jedoch wirklich ist, zeigen zahlreiche Standardszenen des Films: die notwendigen Grenzübertritte, die immer wieder zu Risiken werden. In solchen Szenen wird deutlich: Es geht um Adrenalin, um ein unstetes Leben in Gefahr, um die Welt als ewigen Krieg. Ramírez zeigt, dass Carlos eher Abenteurer als Intellektueller war: „Ich habe alle belastbaren Quellen genommen zu Dingen, die er gesagt hat“, betont Assayas. „Die drei Szenen, in denen er richtig redet, sind vollständig belegt. Ich habe das verkürzt, aber es ist alles aus erster Hand. Die Sprache der Linken war damals so eigenartig, aber Carlos klang besonders seltsam. Was diese Szenen über ihn sagen: Er hatte Überzeugungen – aber ein Denker war er nicht gerade.“

Bemerkenswert ist die Besetzung der weiblichen Hauptrollen mit jungen deutschen Schauspielerinnen: Nora von Waldstätten als seine langjährige Geliebte und Julia Hummer als ultra-radikale Waffenschwester, die in überzeugend exzessiven Sequenzen ihrem Hass auf die Autoritäten freien Lauf lässt.

Wie in früheren Werken baut Assayas auf die Synergie von Popmusik und Film: Er nutzt Songs von Wire und New Order, um das Lebensgefühl einer Zeit zu vermitteln, die diese Bands noch nicht einmal erahnte. Solche Anachronismen sind Assayas’ Strategie, um die Kontinuität jener ideologischen Leere zu betonen, die auch heute immer wieder nach Neobesetzung zu verlangen scheint. Mehr als alle anderen zeitgenössischen Terrorismusfilme betont „Carlos“, dass es eher ein Lebensgefühl als eine politische Disposition ist, die den Terrorismus der 1970er Jahre leitete. Und ähnlich wie Andreas Baader wurde Carlos zu einer Art Popstar in seiner Zeit, der jugendlichem Aufbegehren einen aggressiven Ausdruck zu verliehen schien. Um welchen Preis das geschah – auch das zeigt Assayas.

Das deutsche Label NFP – im Vertrieb von Warner – bringt „Carlos“ in drei Versionen: Als Kinofassung (180 Min.) auf DVD, als Vierer-DVD-Set inklusive Director’s Cut (330 Min.) und Bonusmaterial (lange Interviews mit den Schauspielern und Assayas), Trailer, sowie als ultimative Blu-ray, die auf drei Scheiben das gesamte Material bietet. „Carlos“ wurde zum Teil bewusst körnig und 'flach' im Stil des Kinos der 1970er Jahre inszeniert, daher sind vor allem die Nachtszenen nicht für Blu-ray prädestiniert, doch insgesamt ist diese Version die überzeugendste. Vom Tempo her funktionieren sowohl Kino- als auch Extended-Fassung, es lohnt sich also, mit der kurzen Version zu beginnen und dann die lange als Vertiefung noch einmal zu sehen.

Link zu einer weiteren Filmkritik
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Klaus Kinski im Interview – Kinski Talks 1 und 2. Zusammengestellt von Peter Geyer

(D 2011, Regie: )

Wutbürger Nr.1
von Harald Mühlbeyer

Ist Klaus Kinski wahnsinnig? Ist er ein Philosoph? Ein Egozentriker? Ein Exzentriker? Einfach nur ein Selbstdarsteller? Alles zusammen? Nichts davon? Das sind Fragen, die sich beim Betrachten von Kinski-Interviews stellen; …

Ist Klaus Kinski wahnsinnig? Ist er ein Philosoph? Ein Egozentriker? Ein Exzentriker? Einfach nur ein Selbstdarsteller? Alles zusammen? Nichts davon? Das sind Fragen, die sich beim Betrachten von Kinski-Interviews stellen; und Fragen, die völlig wurscht sind. Weil in einem Kinski-Interview nur der Augenblick zählt, nur die absolute Gegenwärtigkeit, und Fragen nach dem Warum und Wieso, nach dem Woher und Wohin nur der Freude an perfekter Unterhaltung im Weg stehen.

Wahrscheinlich muss man Kinski bei allem, was er sagt, als Performer betrachten. Es ist nur konsequent, dass der „Jesus Christus Erlöser“-Abend, den Kinskis Nachlassverwalter Peter Geyer so verdienstvoll auf DVD veröffentlicht hat, sich in (Miss)Kommunikation mit dem Publikum auflöst; und dass – andersrum – Kinski in journalistischen Gesprächen nur seiner eigenen Agenda folgt. Einige der eindrucksvollsten Auftritte von Kinski bei Interviews und in Talkshows hat Geyer in zwei hervorragenden DVDs zusammengestellt: „Kinski Talks 1“ und „Kinski Talks 2“ zeigen ihn sanft und unverstanden, rabiat und wütend, die Welt erklärend und verdammend: ein Kinski-pur-Kompendium, dem vielleicht – wenn sich die ersten beiden Editionen gut genug verkaufen – noch eine drittes folgen könnte.

Bekannt ist Kinski für seine cholerischen Ausbrüche, für seine wütenden Beschimpfungen – die könnten tatsächlich seinem überschäumendem Temperament geschuldet sein, oder sie sind kalkulierte Brüche mit den Gepflogenheiten, eine Selbststilisierung als enfant terrible. Auf jeden Fall sind sie herausragende Stücke Fernsehgeschichte – Geschichte im Sinn von abgeschlossen, niemals wieder kehrend: Denn wo wäre in der Überflutung mit ununterscheidbaren öffentlich-rechtlichen Talkshows ein heutiger Kinski möglich?

In der WDR-Talkshow „Je später der Abend“ von 1977 ignorierte Kinski jede Frage und verwickelte sich mit einem der Studiogäste in einen Streit. Moderator Reinhard Münchenhagen – von Kinski in permanenter Scherzhaftigkeit als „Münchhausen“ betitelt – erinnert sich, nach der Sendung weitere verbale Ausfälligkeiten Kinskis befürchtet zu haben; der habe ihn aber nur angestupst: „Wars gut so?“ In einem ebenfalls auf „Kinski Talks 1“ befindlichen 75-Minuten-Interview für RTL plus von 1985 machte Kinski keinen Hehl aus seiner Verachtung für die Interviewerin Helga Guitton, an der er kein gutes Haar ließ. Ansonsten glänzt er durch Lustlosigkeit, die ihn zugleich zu einigen rhetorischen Höhenflügen inspiriert. Bezeichnenderweise wurde das Interview, offenbar auf Kinskis Wunsch hin, beim Mittagessen aufgezeichnet. Dass sich Kinski, so Geyer in seinem Essay im Booklet der DVD, demonstrativ weigerte, für seinen damals aktuellen Film „Kommando Leopard“ in irgendeiner Form Werbung zu machen, war von Produzent Erwin C. Dietrich genau kalkuliert worden: Bei der vertraglich festgelegten Werbetour Kinskis (die ihm 7.000 $ Gage täglich brachte) sollte er sich möglichst schlecht benehmen, das würde die größtmögliche Aufmerksamkeit generieren. Auch Alida Gundlach durfte das spüren in ihrer NDR-Talkshow, in der Kinski sie unverschämt anmachte und fast ausschließlich übers Geld sprach: wie hoch die Bezahlung sein muss, wenn er in einem Film mitspielt, dass auf jeden Fall im Voraus bezahlt werden muss, dass das Ergebnis ihn nicht interessiert. Schauspieler? Künstler? Pustekuchen.

Als Überraschungsgast in der NDR-Talkshow – es war Kinskis 59. Geburtstag – tauchte Hans Leutenegger auf, Schweizer Ex-Bob-Olympiasieger von 1972, Unternehmer, Co-Darsteller in „Kommando Leopard“ und seit dem Dreh auf den Philippinen Kinskis bester Freund. Mit lustigem Schweizer Dialekt und vielleicht echter Naivität hängt der sich an Kinski, schon beim RTL-Interview mit Helga Guitton saß er am Esstisch dabei und versuchte, ab und an ein wenig über den Film zu reden … Seine Unbeholfenheit vor der Kamera ist ein reizvoller Kontrast zu Kinskis einnehmender, alles verdrängender Präsenz. Vielleicht bestand tatsächlich zwischen Leutenegger und Kinski eine – vor allem von ersterem behauptete – enge Bindung; vielleicht deshalb, weil Leutenegger Kinski unverhohlen bewunderte, ihn als Mentor ansah und ihm nie im Weg stand. Leutenegger und Kinski: als Traumpaarung. Höhepunkte auf beiden „Kinski Talks“-DVDs.

Apropos Paarung: Im Gespräch mit Desiree Nosbusch, aufgenommen 1982, gesendet 1985, erregt sich Kinski zunächst über Anspruchsdenken, über Klempner und über die ignorante Jugend, um sich dann zärtlich in Desirees Schoß zu kuscheln und auf romantischer Blumenwiese süßholzraspelnd Zärtlichkeiten ins Ohr der 17jährigen zu säuseln. An der Kamera: Nosbuschs damaliger Ehemann Georg Bossert; und wenn man bedenkt, wie sie sich – unter dessen Management – Anfang der 80er lolitahaft gerierte (man denke auch an Eckhard Schmidts Film „Der Fan“ (1983), worin sie minutenlang nackt herumläuft (und eine Leiche zerteilt)), dann ist vor allem zu bewundern, wie sich hier zwei Menschen begegnen und glänzend verstehen, die sich innerhalb ihres selbstgewählten Images ganz frei bewegen können.

Wahnsinniger? Philosoph? Selbstdarsteller? Kinski war alles zusammen, der Wahn wird zur Philosophie, bei der Widersprüche innerhalb weniger Sätze nicht stören, und Kinski lässt das zu, spielt seine Rolle des Ungebändigten, weil er weiß, dass genau das von ihm erwartet wird. Oder: Vielleicht lässt er nur offen seinem Gedankenfluss freien Lauf. Wut, Eitelkeit und Verachtung stehen neben Liebe, Zärtlichkeit und Leidenschaft, und ganz ungefiltert verausgabt er sich, gibt sich hin, entblößt sich. Wahrscheinlich kotzen ihn die naheliegenden, immergleichen Fragen unvorbereiteter Journalisten an. Deren Unprofessionalität ist ihm ein Gräuel, und zugleich bieten sie ihm eine Spielwiese für die eigene Eitelkeit und Egomanie. Vergnüglich ist es allemal.

Stuttgart 21 – Denk mal!

(D 2011, Regie: Lisa Sperling, Florian Kläger )

Im Protest vereint
von Wolfgang Nierlin

Als die angehenden Filmstudenten Lisa Sperling und Florian Kläger im Januar 2010 begannen, mit ausgeliehenen Filmkameras die wachsenden Proteste gegen das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ zu filmen, wollten sie zunächst einmal …

Als die angehenden Filmstudenten Lisa Sperling und Florian Kläger im Januar 2010 begannen, mit ausgeliehenen Filmkameras die wachsenden Proteste gegen das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ zu filmen, wollten sie zunächst einmal die Stimmungslage der Demonstranten einfangen. Heterogen zusammengesetzt und zugleich in der Mitte der Gesellschaft geerdet, überraschten die Protagonisten dieser bunten Bewegung nicht nur durch ihren Zusammenhalt und zunehmende Stärke, sondern auch durch ihre Toleranz und Offenheit gegenüber ideologisch Unverdächtigen. Mit dem Wahlspruch „Oben bleiben!“ demonstrierten hier empörte Bürger unterschiedlicher Couleur gegen den Bau eines unterirdischen Durchgangsbahnhofes und damit für den Erhalt des alten Kopfbahnhofs, vor allem aber sicht- und hörbar für mehr Demokratie. Der Film „Stuttgart 21 – Denk mal!“ ist insofern vor allem ein Dokument über kritische Bürgerbeteiligung und ihr aufklärerische Funktion.

Dieser Perspektive ist die politische Einseitigkeit und unverhohlene Parteinahme der beiden jungen Filmemacher geschuldet, denen es eben nicht um Analyse geht, sondern um einfühlendes Verstehen. Die kurzen, aber prägnanten Statements der verantwortlichen Politiker und Funktionäre sind deshalb vor allem Ausdruck einer Arroganz der Macht, die das demokratische Engagement und Durchhaltevermögen der immer größer werdenden Protest-Bewegung kontrastiert. In relativ ausführlichen Interviews rekonstruieren einzelne Beteiligte die Geschichte des Protests, der für viele offensichtlich auch ein politisches Erweckungserlebnis darstellt. Natürlich geht es dabei auch um Überlegungen zur städtischen Topographie, geologischen Unwägbarkeiten, architektur- und naturgeschichtlichen „Denkmälern“, um geldverschwenderische „Kapitalinteressen“ und um die Verfilzung von Politik und Wirtschaft. Doch durch diese Sachthemen hindurch ist es immer wieder die Ignoranz der Politiker gegenüber dem Prozess der demokratischen Willensbildung, die viele Bürger im Widerstand vereint.

Neben dem kulturschändlichen Abriss des Bahnhof-Nordflügels im August 2010, den der Film im Zeitraffer vergegenwärtigt, sind es vor allem die gewalttätigen Auseinandersetzungen im Stuttgarter Schlossgarten am 30. September des gleichen Jahres, die zu einer Eskalation des Protests führen. Mit Wut, Sprachlosigkeit und Ohnmacht beschreiben beteiligte Demonstranten ihre Gefühle angesichts eines unverhältnismäßigen Polizeieinsatzes, der sich mit massiver Gewalt gegen unbescholtene, friedfertige Protestierer richtet und der später von Innenminister Heribert Rech auf empörende Weise bagatellisiert und gerechtfertigt wird. In langen, ungeschnittenen Einstellungen dokumentieren Sperling und Kläger diese Übergriffe im Vorfeld der Baumfällarbeiten und liefern damit ein ebenso intensives wie anschauliches Lehrstück über Demokratie und über das schwierige Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern.

Auszeit

(F 2001, Regie: Laurent Cantet)

Aus der Welt gefallen
von Wolfgang Nierlin

Ein ungutes, seltsam klaustrophobisches Gefühl staut sich beim Zuschauer. Etwas sollte ausgesprochen werden und bleibt doch unausgesprochen. Je länger man dem sinnlos erscheinenden Zeitvertreib der Hauptfigur in Laurent Cantets zweitem, …

Ein ungutes, seltsam klaustrophobisches Gefühl staut sich beim Zuschauer. Etwas sollte ausgesprochen werden und bleibt doch unausgesprochen. Je länger man dem sinnlos erscheinenden Zeitvertreib der Hauptfigur in Laurent Cantets zweitem, bemerkenswert starkem Langfilm „Auszeit“ (L’emploi du temps) folgt, ihrem ziellosen, selbstvergessenen Unterwegssein, desto gespenstischer wird die Frage, wie dieser Mann sein Doppelleben aushält. Erst allmählich enthüllen sich dem Zuschauer die Abgründe einer tiefen Verlorenheit, werden die Umrisse einer von Lügen aufgezehrten Existenz sichtbar, die ins Mark der Gesellschaft treffen.

Vor dreieinhalb Monaten hat Vincent (Aurélien Recoing) seine Stelle als Consultant in einer Firma verloren, für die er elf Jahre lang gearbeitet hat. Seither spielt er seiner ahnungslosen Familie und den alten Freunden eine Ordnung vor, die es nicht mehr gibt. Daß diese Täuschung überhaupt gelingt, sagt auch etwas über die Qualität seiner Beziehungen, in denen der Mangel an Kommunikation mit einem Blendwerk aus Äußerlichkeiten korrespondiert. Ablesbar ist das nicht nur an den leeren Konventionen eines wohlsituierten, vom Konsum verdorbenen Bürgertums, sondern auch am trügerischen Schein einer Arbeitswelt, deren konkrete Arbeit immer mehr in der diffusen Rhetorik eines vorgeblich undurchdringlichen Spezialwissens verschwindet.

Cantet, der bereits in seinem Debüt „Ressources humaines“ die Bruchlinien zwischen traditionellem Arbeitsethos und modernem Strukturwandel unter den Bedingungen des Kapitalismus differenziert gezeichnet hat, geht in „Auszeit“ noch einen Schritt weiter in der Analyse der modernen Arbeitswelt: Diese ist in einem undurchdringlichen Äußeren erstarrt. Ihre spiegelnden Oberflächen, eingefangen im seelenlosen Rhythmus der Angestellten, ihrem austauschbaren Erscheinungsbild und der flirrenden Architektur von Glasfassaden, täuscht die selbstverordnete Transparenz nur noch vor. In Wirklichkeit schottet sie sich ab, schließt sie aus. In ihrem Innern kreiert sie Formen einer neuen Entfremdung: eine fast undurchdringliche Lust- und Teilnahmslosigkeit.

Diese Hermetik macht die integrative Funktion der Arbeit in einer Gesellschaft, die ihre sozialen Beziehungen vorwiegend über Gehaltsklassen definiert, noch evidenter. So wie der Arbeitsplatz einerseits „kein öffentlicher Ort“ ist, gibt es andererseits kein „Außerhalb“ mehr. Deshalb spielt Vincent Rollen, imitiert er eine Geschäftigkeit, die ihn bis an den Rand der Selbsttäuschung führt, weil die „Angst, zu enttäuschen“, übermächtig geworden ist. Stundenlang unterwegs, im Auto, fühlt er sich von der Last der Gedanken befreit, wähnt er sich aufgehoben im wohligen Gefühl einer inneren Leere.

Weiß und leer, kalt und grau sind auch die winterlichen Landschaften, durch die sich Vincent, der unerreichbar bleibt, bewegt. Wie ein Ausgestoßener schläft er im Auto auf Park- und Rastplätzen, sucht er Entspannung in Hotelhallen und heimatlichen Unterschlupf in den Foyers anonymer Bürogebäude. Aber äußere Bewegung bedeutet in Cantets soghaftem Film nicht Aufbruch und Freiheit. Nicht einmal Entlastung oder Kompensation bietet dieses Sich-treiben-Lassen. Vincent driftet nurmehr durch eine Welt, aus der er gefallen ist.

Alles, was wir geben mussten

(GB 2010, Regie: Mark Romanek)

Hauptsache gesund
von Harald Mühlbeyer

Im Jahr 1952 erlebte die Welt einen medizinischen Durchbruch. Seit 1967 hat die durchschnittliche Lebenserwartung 100 Jahre überschritten. Zwei Einblendungen zu Anfang des Films versetzen den Zuschauer in die Parallelwelt …

Im Jahr 1952 erlebte die Welt einen medizinischen Durchbruch. Seit 1967 hat die durchschnittliche Lebenserwartung 100 Jahre überschritten. Zwei Einblendungen zu Anfang des Films versetzen den Zuschauer in die Parallelwelt einer leicht verschobenen Realität – dann springt der Film in eine Internatsgeschichte.

Im Eliteinternat Hailsham im Jahr 1978 wachsen die Freunde Kathy, Tommy und Ruth auf, eine glückliche, behütete Kindheit, so normal, wie sie sein kann. Wären da nicht kleine Irritationsmomente: die intensive schulmedizinische Untersuchung könnte noch als vorschriftsmäßig hingenommen werden, doch dann sind da im Unterricht Rollenspiele um das korrekte Bestellen in einem Café, ein Flohmarkt mit gebrauchtem Kinderspielzeug, auf dem die Schülerinnen und Schüler mit Plastikmärkchen offenbar das Handeln und Einkaufen üben, die Gedichte und Gemälde, die von den Internatsinsassen kreiert werden, werden sorgfältig für eine geheimnisvolle Galerie aufbewahrt und es gibt diese Gerüchte von Kindern, die über den Zaun des Schulgeländes geklettert waren und niemals wiederkehrten…

Und dann kommt es raus: Die Kinder in diesem von der Welt abgeschlossenen Eliteinternat sind etwas Besonderes. Auf ihnen ruht die Hoffnung der Menschheit, sie sollen später nämlich die Krankheiten der Welt bekämpfen helfen. Indem sie hier herangezüchtet werden als künftige Organspender, als lebende Vorratskammern für lebenswichtige Organe: sie sollen ausgebeutet werden, ausgeschlachtet für die Volksgesundheit. Dafür wurden sie geschaffen – offenbar geklont –, das ist ihre einzige Aufgabe in ihrem kurzen Leben. Ende des ersten Aktes.

Wir steigen ein im Jahr 1985 auf einem idyllischen Bauernhof, wo die künftigen Organspender eine schöne, behütete Jugendzeit verbringen dürfen. Kathy, Tommy und Ruth – sie werden jetzt von den britischen (Jung)Stars Carey Mulligan, Andrew Garfield (der nächste Spiderman) und Keira Knightley gespielt – leben hier mit einigen anderen Jugendlichen aus anderen Internaten. Und sie wissen um ihr Schicksal: sie werden in ein paar Jahren ihre erste Operation hinter sich haben; und nach spätestens vier Organentnahmen werden sie sterben; oder, wie es euphemistisch heißt: vollendet sein.

Regisseur Mark Romanek tut etwas Unerhörtes: er lässt nicht hollywoodtypisch irgendjemanden gegen dieses grausame System aufbegehren, es gibt keinen Rebellen. Nein, er erzählt vor diesem unmenschlichen Hintergrund eine kleine Dreiecksgeschichte mit Kathy im Mittelpunkt, die sich schon im Internat in Tommy verliebt hatte, den ihr aber Ruth weggeschnappt hat. Was allerdings der Freundschaft des Trios nichts anhaben konnte – das ist ein weiterer subtiler Schritt Romaneks, in denen er die Zuschauererwartungen untergräbt: dass die Freundschaftsgeschichte nicht zum Eifersuchts- und Rivalitätsdrama wird. Die drei kennen nichts anderes als sich selbst, als die kleine Welt, in der sie aufgewachsen sind: es gibt keine Alternative, keine Option auf andere Freunde, auf eine andere Liebe, und keine Option auf ein anderes Leben.

Mit großer Einfühlsamkeit doppelt Romanek in seiner Freundschaftsgeschichte das große Ganze des Films: Wie Ruth Kathy das Glück ihres Lebens, die Liebe zu Tommy, weggenommen hat, so nimmt das System allen dreien ein erfülltes Leben, indem ihre Zukunft gekappt werden wird. Und wie gegen dieses System niemand aufbegehrt, weil es völlig normal ist, weil für die Protagonisten kein anderes denkbar ist, so akzeptiert auch Kathy, dass Ruth mit Tommy zusammen ist und sie nur daneben steht und zusehen darf.

Der dritte Akt des Filmes, der 1994 spielt, zeigt die Zukunft der drei, die keine ist. Ruth und Tommy haben ihre ersten Operationen hinter sich, sie sind geschwächt und der „Vollendung“ nahe. Kathy wurde Pflegerin, das heißt: sie hat noch ein paar Jahre Aufschub bekommen, darf sich solange um die operierten Organspender kümmern. Alleingelassen wird in diesem System der absoluten Volksgesundheit, das über Leichen geht, niemand; das ist das Perfide daran. Die glückliche Kindheit und Jugend in Internat und auf dem Bauernhof sind sicher das Beste, was einem passieren kann – und sie sind doch nur dafür organisiert, um die wertvollen Organe der künftigen Spender zu schützen und zu bewahren. Die Opferlämmer der Medizin sollen gesund bleiben, um durch ihren Tod die Krankheiten anderer, „echter“ Menschen zu heilen.

Und gerade, indem Romanek dieses System als ganz selbstverständlich hinnimmt und einfach den Umgang junger Menschen damit zeigt, wie sie darin leben und sterben, indem er nicht mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Inhumanität hinweist, macht er alles noch unheilvoller, noch abgründiger; noch emotionaler und noch bewegender. Und es geht nicht mehr nur um das Diktat eines durchmedizinisierten Systems über Leben und Sterben junger Menschen, nicht mehr nur um die Frage, wie inhuman die Menschheit werden kann (und darf), um Krankheiten zu besiegen und die Lebenserwartung der Mehrheit zu steigern, es geht um die Liebe in Zeiten der Ausweglosigkeit, darum, wie ein System der Unterdrückung durch anerzogene Gewöhnung nicht als Last, sondern als normale Gegebenheit empfunden wird. Wie Romanek das inszeniert, ist weit spannender, viel intensiver als alles andere, was auch vorstellbar wäre. Das Fehlen des Aufbegehrens, das Akzeptieren des Unmenschlichen, das reine Erzählen eines kleinen Liebesmelodrams vor dem Hintergrund ethischer Erosion: das macht den Film höchst wahrhaftig. Ergreifend, melancholisch, dramatisch, verstörend, berührend. Und unvergesslich.

Wer wenn nicht wir

(D 2011, Regie: Andres Veiel)

Langer Marsch durchs Ursachendickicht
von Ulrich Kriest

Da denkt man, alles sei gesagt – und dann erscheint ein neues Dokument oder gar eine neue Studie, die eine neue Perspektive auf das Geschehen eröffnet. Und wieder geht’s von …

Da denkt man, alles sei gesagt – und dann erscheint ein neues Dokument oder gar eine neue Studie, die eine neue Perspektive auf das Geschehen eröffnet. Und wieder geht’s von vorne los: Die Geschichte der RAF scheint eine never ending story. Der Dokumentarist Andres Veiel erzählt jetzt eine Vor-Geschichte der RAF, bei der der biografische Zufall zu seinem Recht kommt. Was muss passieren, damit etwas passiert?, fragt Veiel. Er tut dies mit den Mitteln des Spielfilms, des Kostümfilms. Man kann auch sagen: Veiel versucht eine Bilderkritik mittels inhaltlich alternativer, aber strukturell identischer Bilder. Hat jemand mal gedacht, es sei alles gesagt? Unfug!

Action speaks louder than words. Wer Action will, erzählt von Schüssen, Brandsätzen und Bomben: 2. Juni 1967, 2. April 1968, 11. April 1968, Osterunruhen, Schlacht am Tegeler Weg. Kontext: Bilder vom Vietnamkrieg, Martin Luther King, Robert Kennedy, auf der Straße demonstrierende junge Menschen, Jubelperser, die mit Dachlatten auf Demonstranten einschlagen, Rudi Dutschke, wild gestikulierend. The fury and the sound: Je nach Gemütslage eignet sich als Soundtrack entweder „Street Fighting Men“ der Rolling Stones, „Revolution“ von den Beatles oder, etwas melancholischer, „For what it’s worth“ von Buffalo Springfield. Alles bei Stefan Austs „Der Baader Meinhof Komplex“ nachzulesen und der gleichnamigen Eichinger/Edel-Verfilmung zu bestaunen. Überhaupt hat sich Austs Buch als Fundus bewährt, aus dem sich zahlreiche RAF-Filme von „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ bis „Die dritte Generation“ bedient haben. Das Sub-Genre des RAF-Films ist längst ein ganz erstaunlicher Echoraum aus Bildern, Anekdoten, Gerüchten und auch Schauspielern.

Bei Aust kann man auch auf sehr wenigen Seiten nachlesen, wovon Andres Veiel in seinem ersten Spielfilm handelt. Für den Dokumentaristen Veiel, der sich bereits wiederholt mit der Materie auseinandergesetzt hat, war allerdings ein anderes Buch wichtiger: Gerd Koenens „Vesper Ensslin Baader“ (2003), das in einer Reihe von Tiefenbohrungen die Pathogenese des linken Terrorismus offen zu legen versuchte. Diese Perspektiv-Weiterung auf die Figur des Schriftstellers und Verlegers Bernward Vesper – erster Lebensgefährte Gudrun Ensslins und Sohn eines Blut-und Boden-Dichters – bot reichlich neues Material für eine Milieustudie, wie sie Veiel seit jeher faszinieren. Zudem bot sich dem aus dem Stuttgarter Umland stammenden Filmemacher die Möglichkeit, einmal mehr vor der eigener Haustür – zwischen Tübingen und Bad Cannstatt – zu kehren. Insofern erweitert „Wer wenn nicht wir“ seine eigenen Vor-Arbeiten „Die Überlebenden“ und „Black Box BRD“ um einige Nuancen, die allerdings wohl nur diejenigen Zuschauer überraschen werden, die nicht hinreichend mit der Materie vertraut sind. Wer hingegen bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte der RAF, der Neuen Linken, der Studentenbewegung über die Eckpfeiler Eichinger/Edel, Breloer und Knopp hinausgelangt ist, wer das Buch von Koenen, den jüngst edierten Briefwechsel von Ensslin und Vesper, Henner Voss‘ Buch „Vor der Reise. Erinnerungen an Bernward Vesper“ und vielleicht sogar Vespers „Die Reise“, die ja sogar schon 1986 von Marcus Imhoof verfilmt worden ist, gelesen bzw. gesehen hat, wird von Veiels Film enttäuscht werden. Und zwar inhaltlich wie formal. Inhaltlich: Letztlich ist die Perspektivöffnung, die Veiel anbietet, doch nur ein kleiner Schritt zur Seite. Von Baader Meinhof Ensslin zu Vesper Ensslin Baader. Wenn es darum gehen soll zu zeigen, dass die Akteure sich nicht an faschistoiden Eltern rieben, dann hätte Veiel ebenso gut auch noch Ulrike Meinhof ins Boot holen können. Andererseits kann man etwa bei Bommi Baumann nachlesen, dass sehr wohl auch nicht-gutbürgerliche Verhältnisse den Weg in die Gewalt weisen konnten. Warum nicht mal ein Film über Petra Schelm oder Werner Sauber oder Dr. Wolfgang Huber?

In erster Linie, bis hin zu den Achselhaaren der Hauptdarstellerin Lena Lauzemis, ist „Wer wenn nicht wir“ nämlich eine Ausstattungsorgie, die bis hin zur bunten Tapete, bis hin zum Kofferradio, bis hin zum Telefon, bis hin zur rissigen Hauswand den Mief der frühen 60er Jahre in der schwäbischen Provinz, im schwäbischen Pfarrhaus fühlbar macht. So intensiv der Film in Dekors schwelgt, so merkwürdig ungreifbar bleiben dagegen die Figuren und die Dinge, die sie umtreiben. Tatsächlich passiert hier etwas, was man von dem sonst so sorgfältig arbeitenden Filmemacher gerade nicht erwartet hätte: Der Film besteht aus einer Abfolge von lauter Einzelszenen, die einzelne Thesen, Pointen, Recherche-Ergebnisse illustrieren, auf den Punkt bringen. Im Presseheft zum Film findet sich ein Gespräch mit Andres Veiel, das klar macht, dass buchstäblich jede Nuance der Handlung die dramaturgische Verdichtung einer These, Beobachtung oder Schlüsselsatzes ist. Im Grunde ist Veiels filmischer Diskurs also durchaus demjenigen von „Der Baader Meinhof Komplex“ vergleichbar, nur dass Veiels Stoff weniger auf spektakuläre Action aus ist. Veiel rekonstruiert die 60er Jahre gewissermaßen aus der Perspektive des alternativen Literaturbetriebs, allerdings auch hier mit erstaunlichen Unschärfen. Vespers mehr als schillernde Auseinandersetzung mit der modernen Literatur wird auf zwei, drei Sprüche reduziert. Herausgestrichen wird die politische Kontingenz der Aktivitäten des eigenen Verlages, wo man sich einerseits für den verfemten Nazi-Schriftsteller Will Vesper stark macht, andererseits jedoch die hochkarätig links-liberal besetzte Anthologie „Gegen den Tod“ publiziert. Dass Vesper in Tübingen mit Walter Jens über neuere und neueste Literatur disputiert, ist aus heutiger Perspektive besonders lustig, wenn sich Jens, mittlerweile als NSDAP-Parteimitglied identifiziert, hier noch ungebrochen zum moralischen Richter über Nazi-Dichter aufspielt. Veiel jedoch nutzt hier nur das Bild des liberalen Hochschuldozenten, das Jens in jenen Jahre so brillant verkörperte. Während er andererseits manche Szene bereits aus dem Wissen um den weiteren Verlauf der Geschichte gestaltet, wenn etwa gleich zweimal der schöne Vorschlag des Black Panther Stokely Carmichael im Film erscheint. Der rät Vesper stellvertretend für alle Weißen, die sich mit dem Kampf der Black Panther solidarisieren und die Welt zu einem schöneren Ort machen wollen: „I tell you what you can do: Go home, kill your wife, father and mother, then hang up yourself!“ Was Vesper und Ensslin ja in den folgenden Jahren irgendwie beherzigt haben, zumindest teilweise und symbolisch. Oder wenn Vesper vitalistisch ausholen darf: „Ich schreibe so, wie wenn man mit der Faust der Gesellschaft in die Fresse haut!“ Oder Gudrun Ensslin von Hanns Henny Jahnn schwärmen lässt: „Bei ihm verwirklicht sich die Liebe erst durch den Tod. Durch Gewalt, durch Mord wird es erst möglich, dass Sexualität gelebt wird.“ Ganz schön brisant, wenn einem die Begegnung mit Andreas Baader erst noch bevorsteht!

Während der Film also einerseits sehr an der Oberfläche bleibt, setzt er an anderer Stelle geradezu Kennerschaft voraus: etwa, wenn er die Rolle der USA in der Biografie Ensslins nur andeutet, wenn der elitäre Anti-Amerikanismus, den Vesper vom Elternhaus mitbekommen hat, fast bruchlos in die Antikriegsbewegung gegen den Vietnamkrieg mündet, wenn er zeigt, wie Vesper in Berlin in den literarischen Zirkel des Wahlkontor der SPD aufgenommen wird, aber leider unklar bleibt, mit wem er es hier zu tun hat, wenn plötzlich mit der „Gruppe Spur“ und Dieter Kunzelmann ein ganz neuer, situationistischer Ton in die schwerblütigen Debatten gelangt. Es ist also eine hoch interessante intellektuelle Gemengelage, die viel genauer auszubreiten man Veiel gewünscht hätte. Der entlastet seinen Film von der Aufgabe, all zu viel Zeitkolorit aufhäufen und in Dialog überführen zu müssen, durch den »raunenden« Einsatz von Dokumentarmaterial in Verbindung mit Popmusik – nur, dass bei Veiel dann zu den Bildern von 2. Juni 1967 nicht mehr die Stones, sondern bloß noch ironisch kommentierend Lovin Spoonful zu hören sind: „Summer in the City“. „Heißer Sommer“ heißt ein Roman von Uwe Timm über die Zeit der Studentenbewegung, den man vielleicht mit Gewinn gegen die RAF-Filme halten könnte.

Zur privaten Liebesgeschichte zweier junger Menschen, von denen unklar bleibt, ob ihr Mix aus Existentialismus und Politik nicht vielleicht doch bloß eine Pose ist, gesellt sich die große Politik als Hintergrundrauschen: Kuba-Krise, Kennedy, Vietnam etc. Auf dieser Ebene ist Andres Veiel nicht mehr als eben nur ein weiterer und leider erstaunlich unorigineller Beitrag zu einem viel beackerten Feld gelungen. Je näher der Film dem 2. Juni 1967 kommt, desto weniger originell werden die Bilder von „Wer wenn nicht wir“. Schwerer wiegt jedoch, wofür er gar keine Bilder gefunden hat: für den Eros der Revolte nämlich. Für alles, was mit der Modernisierung der Lebenswelten, mit Pop, Musik, Kino, Drogen zu tun hat. Obwohl Vespers Schizophrenie durch Drogenexperimente befeuert wird, spielt dieses Thema gar keine Rolle, wird nicht gezeigt, obwohl sein unveröffentlichtes Romanprojekt „The Trip“ heißen sollte. Wenn Aufbruch in der Luft liegt, wird ein wenig zu dritt herumgeknutscht und mit Rotwein gekleckert. Andreas Baader bleibt als Andreas Baader von einem merkwürdigen Desinteresse des Films an dieser Figur stigmatisiert: ein Sprücheklopfer, der in einer Schwulenbar zum Mikrophon greift und sich schminkt. Jazz oder Popmusik spielen keine Rolle; die Originalmusik ist denkbar lustlos ausgewählt. Eine Szene spielt im Kino (obwohl sich Baader dort doch allabendlich seine Posen abgeholt haben soll); sie erstaunt alleine dadurch, dass man damals offenbar im Saal rauchen durfte. All das, was wohl auch „geil“ war bei jenem Aufbruch, all die Projekte, die Teach-ins und der Lektürewahnsinn jener Zeit, der ja 1968/69 in den rein physischen Zusammenbruch der Akteure der Revolte mündete, für den ja auch Vespers Trip in den Wahnsinn stehen kann, dafür findet Andres Veiel filmisch überhaupt keinen Ausdruck. Kurzum, es fehlt alles, was Christopher Roths „Baader“ zu einem großen Wurf machte. Insofern ist auch etwas irritierend, dass Veiels Film, der doch eher ein Fernsehspiel geworden ist, wie „Baader“ mit dem Alfred Bauer Preis für neue Perspektiven der Filmkunst ausgezeichnet wurde. Wo Roth durch die Injizierung einer ordentlichen Ladung die Mythenbildung um die RAF aufsprengte, schafft sich Veiel erstaunlich offen ein alter ego im Film: in Gestalt jener Gefängnisleiterin, die versucht Gudrun Ensslin den Marsch durch die Institutionen schmackhaft zu machen. Als Linke, die fest auf dem Boden der FDGO steht, wenngleich es manches gibt, was man durchaus kritisieren kann, nein, muss. Daraus wird aber nur dann ein Schuh, wenn man – wie Veiel es anscheinend ernsthaft vorschlägt – seinen Ausflug in die Geschichte mit den aktuellen Bürgerprotesten in Verbindung bringt – und darin Vorboten einer Re-Politisierung der Gesellschaft (Stichwort: „Wutbürger“) erkennen will. Was man kann, aber sicher nicht muss.

Link zum Interview mit Regisseur Andres Veiel

Road to Perdition

(USA 2002, Regie: Sam Mendes)

Eine Frage der Witterung
von Dietrich Kuhlbrodt

Einer dieser amerikanischen Filme zum Sortieren von Gut und Böse, allerdings mit einer Variante, die eine bange Frage ist: kann ein Böser ein Guter werden? Bis das klar ist – …

Einer dieser amerikanischen Filme zum Sortieren von Gut und Böse, allerdings mit einer Variante, die eine bange Frage ist: kann ein Böser ein Guter werden? Bis das klar ist – Antwort: er kann -, ist Dramaturgie vonnöten. Solange ist der Zuschauer mit dem Wie-würden-Sie-entscheiden? beschäftigt.

Es ist 1931, das Jahr Al Capones und das der Großen Depression. Der Vater ist Hitman der kriminellen Vereinigung, aber er hat einen braven kleinen Sohn, wie ihn jeder anständige Bürger sich nur wünschen kann. Und siehe, die reine Kinderseele ist es, die den in Gewalt verstrickten Erwachsenen erlöset. Das wiegt umso schwerer, als der Bandenboss (Newman) einen bösen großen Sohn hat, der ihn nicht erlösen wird. Paul Newman wird auf dem Weg in die Hölle bleiben, die ja das Wort ‚Perdition‘ umschreibt. Amerikas Weite und Größe von 1931 ist die der Mythen. On the road again, Vater und Sohn. In Chicago wachsen die Wolkenkratzer. Die schwarze Zeit der Wirtschaftskrise ist in „Road to Perdition' licht und blank. Alles voll frisch gewaschener Museumsautos und neu eingekleiderter Komparsen. Die Autos sind das gleiche Modell, die Passanten haben den gleichen Hut auf. Bauten, Kostüm und Maske regieren den Film. Die Produktion ist es, die den Film gemacht hat. Nun gibt es zwar einen Regisseur, einen berühmten: Sam Mendes („American Beauty'). Dieser aber war auch einer der Produzenten, und er scheint in dieser Eigenschaft seine Kräfte erschöpft zu haben. Die Schauspieler tragen den einfältigen Dialog bieder vor, und das war’s.

Wir müssen uns damit abfinden, dass wir siebzig Jahre zurück in die Vergangenheit zurückgehen müssen, in die Zeit, in der, den Filmbildern zu trauen, die USA noch groß und stark waren, um die Kraft zu bekommen, die Kurve vom Bösen zum Guten zu kriegen. Dann spielt auch das Wetter mit. Der Film gibt sich große Mühe, diese wiewohl schlichte wie moralische Botschaft nostalgisch zu verbrämen. Wolken, Eis und Schnee zu Beginn, da unser Held im Reich des Bösen lebt. Aufhellungen, da er schwankt und mit dem Glauben ringt. Und dann zieht das Tief ab, die Sonne strahlt und das Hoch regiert, und die Große Depression ist vergessen. Was für ein Land!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 09/2002

Der Manchurian Kandidat

(USA 2004, Regie: Jonathan Demme)

Erfolgreiche Beratung
von Dietrich Kuhlbrodt

Der deutsche Filmtitel ist holprig, das Adjektiv Implantat, und eben um ein solches geht es in diesem Remake. Das Original von 1963, „The Manchurian Candidate', war von John Frankenheimer und …

Der deutsche Filmtitel ist holprig, das Adjektiv Implantat, und eben um ein solches geht es in diesem Remake. Das Original von 1963, „The Manchurian Candidate', war von John Frankenheimer und hieß auf deutsch „Botschafter der Angst' – mit Frank Sinatra in der Hauptrolle. Gehirnwäsche in der Mandschurei also. Dort drehen die „Leute vom Moskauer Pawlow-Institut' gefangene US-Koreakämpfer um. Wieder daheim in Washington tarnen sie sich mit antikommunistischen Tiraden, um als fünfte Kolonne Moskaus ins Pentagon und gar ins Weiße Haus einzuziehen. Und damit diese Infiltration totalitär kommt, wird der sowjetische Institutspsychiater mit Hitlerbärtchen ausgestattet. – „Durch und durch verlogene Propagandahetze' befand die Zeitschrift Filmkritik im Kalten-Kriegs-Jahr 1963.

Das Remake von 2004 landet einen Coup. Als Hort der großen Verschwörung wird nicht das ferne Moskau-Asien ausgemacht, sondern das heimische Zentrum, die amerikanische Wirtschaft, vertreten durch den Großkonzern 'Manchurian Global'. Die Big Bosse sichern sich die politische Macht am besten dadurch, dass sie sich vom propagandistisch indoktrinierten Volk eine Marionette als Vizepräsidenten wählen lassen. Und der Präsident? Wird gekillt. – Damit der Plan funktioniert, wird dem Vizekandidaten (Liev Schreiber) ein Chip unter die Haut (Rücken, links) implantiert, gar eine Sonde durch den Schädel gebohrt. Das Gehirn ist frisch gewaschen, der Intelligenzquotient entsprechend niedrig, aber die Marionette kann sagen, was ihr gesagt wird. Die Wörter kommen leicht verspätet, an der Mimik hapert es. Doch das, was als blaß und unbeholfen gedeutet werden kann, erweist sich für die Öffentlichkeit als sympathisch. In das leere Gesicht kann jeder hineinprojizieren, was er will. Da stört weder Ecke noch Kante. Und besser noch als in der Realität ist das Chipkästchen nicht auf dem Jackett (Rücken, links), sondern nur auf der bloßen Haut zu sehen. Es lässt sich herausbeißen. Ben, der alte Kumpel (Denzel Washington), tut es, aber nur um Beweise zu sichern.

Denzel hat voll die Paranoia. So müssen es alle sehen, und so sollen es alle sehen. Einer gegen alle: Psychiatrie, CIA, FBI, Manchurian Global, Politik. Wird Denzel es schaffen? Er braucht Hilfe, will er das große Komplott aufklären. Und die findet er. Der deutsche Freund ist es, der unabhängige und von der Industrie noch nicht gekaufte Wissenschaftler Bruno Ganz. Sein Behandlungsraum ähnelt einer Alchimistenküche, weist aber ein Elektroschockgerät auf. Sehr gothic. Old Europe, wird es denn konsultiert, weiß Rat. Ganz, dessen Antlitz schon wieder vor Güte schimmert, legt dem amerikanischen Patienten die Kathoden an die Schläfen, und dann wird die Leinwand weiß. „Es ist wie beim Computerabsturz', erläutert unser Faust. Alles, was die Implantate ins Gehirn hineingefüllt hatten, ist wieder draußen. Die Traumata sind dahin! Gehirnwäsche hilft gegen Gehirnwäsche.

„Der Manchurian Kandidat' ist spannend, aber nicht nur wegen der Frage Wird-er-es-schaffen. Interessanter ist der Wettlauf der Filmfiktion mit der Realität. Wird sie vom Film eingeholt, gar überholt? Ergebnis: Der Film wird leider nur zweiter. Die Wirklichkeit ist weiter. – Das Meiste erkennen wir wieder, das ist schnell abgehakt. Der Vorstandsvorsitzende von Manchurian Global wird in Washington Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Politik. Unser Vizekandidat begrüßt ihn mit den Worten: „Was machen die Geschäfte?'. – Und? Okay. Weiter. – Manchurian hat in Indonesien für Blutplasma weit überhöhte Preise genommen und das ohne Ausschreibung. – Wirtschaftlich gesehen: okay. – Manchurian oder wars Enron oder Halliburton unterschreibt Rüstungsverträge mit Schurkenstaaten. – Und? Saudiarabien ist noch keiner. – Manchurian baut private Kampfgruppen auf. Die Söldner sollen das Militär entlasten. – Wissen wir schon. Der Thatcher-Sohn war’s.

Manchurian entwickelt Hautimplantate: Mikrochips, die Informationen über und an den Träger erlauben. – Das ist human, sagt die Fa.: „Das kann Leben retten.' Dumm nur, dass jetzt 25 Wissenschaftler wegen Menschenexperimenten angeklagt sind. – Der Film, um der dominierenden Realität was draufzusetzen, wird plakativ. Der Chefexperimentator trägt statt des Hitlerbärtchens von vor vierzig Jahren das Haar seitlich gescheitelt. Damit die rechte Assoziation kommt, ist einem der humanen Opfer ein Hakenkreuz auf die Stirn gemalt. Sollen wir die Innovationen der Großtechnologie für faschistisch halten und uns lieber im Ganzschen Studierstübchen verkriechen? – Die Frage passt nicht ins Remake hinein. Für den Multi Manchurian spielen politische, gar parteipolitische Ideologien keine Rolle. „Wir haben eh den halben Senat in der Hand, sowohl Republikaner wie Demokraten.' Paritätische Parteispenden bringen Großkonzernen Segen. – Ist das neu?

Es greift zu kurz, sich dabei aufzuhalten, ob der infiltrierte Vizekandidat die Marionette Bush jr. ist oder die Marionette Kerry hätte sein können. Ob die dominierende Kandidatenmutter, die Senatorin Meryl Streep (sie imponiert in jeder Hinsicht), die künftige Präsidentin Hillary Clinton vorwegnimmt. All das zählt nicht. Wohl wahr, Regisseur Jonathan Demme („Das Schweigen der Lämmer') hat sich vor der Wahl für Kerry und gegen Bush erklärt („eine Gefahr für die Welt, die USA und für mich'). Der Film hält sich aber insoweit bedeckt. Und das wieder entspricht einer Realität, in der als Herrscher der elitären US-Oligarchie gesellschaftliche Netzwerke wie die Bonesmen ausgemacht werden. Das sind, wie die soziologische Forschung weiß, Absolventen der Yale University, zu denen nicht nur die komplette Bush-Sippe, sondern auch der Kandidat John Kerry zählt. (Großvater Bush soll die Knochen des Apachenhäuptlings Geronimo und die des Pancho Villa, mexikanischer Freiheitskämpfer, gestohlen haben.)

Dass das Old Boy Network der privilegierten Oberschicht-Clubs Verschwörungstheorien nicht nur provoziert, sondern bewahrheitet, wird heute gern diskutiert (Le Monde Diplomatique November 04). Nicht Film, sondern Geschichte: Das Massachusetts Institute of Technology in Boston pflegt traditionell eine enge Partnerschaft mit dem Pentagon und den Geheimdiensten. Henry A. Murray leitete eine Versuchsreihe des CIA, bei der mit Drogen experimentiert wurde. Führungsverhalten wird untersucht: ein Beitrag der neuen Sozialwissenschaften für den „Weltfrieden in einer neuen Weltgesellschaft mit Weltgesetzen, einer Weltpolizei und einer Weltregierung'. Hierauf können, so Murray, die Vereinigten Staaten Anspruch erheben. Es ist weiter nichts zu tun, als Unbewusstes neu zu programmieren und das Verhalten der Probanden zu steuern.

Das war in den sechziger Jahren. „Der Manchurian Kandidat' belehrt uns nicht über diese alten Forschungen. Er wendet die Forschungsergebnisse an. Was wir sehen, hinkt jedoch der Wirklichkeit hinterher. Mindestens die Weltpolizei ist längst in die Praxis umgesetzt. Wer mag da noch von Verschwörung reden, wenn es passiert ist? Von der führenden Rolle des Pentagons erfahren wir im Film jedoch so gut wie nichts. Das mag ein Erfolg der militärischen Beratung und Hilfe gewesen sein, die Regisseur Demme, wie uns die Produktion mitteilt, in Anspruch genommen hatte. Um so ratsamer und hilfreich wird es daher sein, sich vom Essay-Film „Das Netz – Unabomber/LSD/Internet' wissenschaftlich beraten zu lassen. In der Wirklichkeit ist es viel schlimmer, als Denzel Washington glaubt.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/2004

Nixon

(USA 1995, Regie: Oliver Stone)

Jedermann-Nixon im Medienhimmel
von Dietrich Kuhlbrodt

Dem konservativen Großregisseur Stone ist es gelungen, durch seinen Film Akzeptanz für Nixon herzustellen, und zwar zunächst medienmäßig für das Produkt „Nixon' und sodann rehabilitationsmäßig für den Staatsmann. Nun mag …

Dem konservativen Großregisseur Stone ist es gelungen, durch seinen Film Akzeptanz für Nixon herzustellen, und zwar zunächst medienmäßig für das Produkt „Nixon' und sodann rehabilitationsmäßig für den Staatsmann. Nun mag man zwar bemäkeln, dass die Ware stilistisch unausgewogen, d.h. allzu bunt verpackt sei. Das stört jedoch nur denjenigen, der es nicht gelernt hat, Plastikfolien aufzureißen und sofort wegzuschmeißen. Was bleibt, ist der schmeichelhafte Eindruck, dass Stone alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt hat, uns von der Güte seines Produkts zu überzeugen.

Wir erblicken: ein Königsdrama shakespearischen Ausmaßes. Richard »IV.« Nixon, der Watergatepräsident, geht schließlich buchstäblich in die Knie, Freund Kissinger tut es ihm nach, und dann schicken sie ein inbrünstiges Abschiedsgebet gen Himmel, dass kein Auge trocken bleibt. Aber das ist noch nicht das Ende, denn Stone erhebt Underdog Tricki Dickie in den Olymp, dort thront er jetzt neben Lincoln, vor dessen Statue er sich noch kurz zuvor unters murrende Studentenvolk gemischt hatte. Aber hatte er sich, bittschön, denn nicht verdient gemacht? Sich mit Maos China verständigt? Den Krieg in Vietnam beendigt? Den Ostblock gespalten? Aber die Studenten argumentieren nicht. Blanker Hass schlägt ihm entgegen. Wo kommt er nur her, all dieser Hass? fragen sich Nixon und sein Regisseur.

Eine intakte, professionell ausgeleuchtete Bilderbuchwelt, dieses Weiße Haus, in welchem Nixon lebt, wütet, arbeitet, sinniert, herrscht und intrigiert, wie weiland J.R. auf der Dallas-Farm. Larry Hagman hat es dort auch fies getrieben, aber geben Sie ruhig zu, dass Sie an ihm ihre klammheimliche Freude hatten, weil es der wahre amerikanische Way of Life war. Yessir. Es erscheint daher ziemlich logisch, dass in „Nixon' neben Nixon Filmbösewicht Larry Hagman himself auftritt, mit weißem Texashut, und wer zugab, dass er den einen liebt, muss nun auch den anderen lieben. Genauer gesagt, kommt Schwerenöter Nixon, der Whiskytrinker und Tablettenschlucker, also einer wie du & ich, in den Serien- und Medienhimmel. Auch hüpft der Film, wie wir es von den Serien gewohnt sind, von der einen in die andere Handlung und wieder zurück, und die vielen redenden Köpfe geben die zu erwartenden Auskünfte übers Ehe- und Familienleben. Eher störend brechen in diese heile Medienwelt dokumentarische Aufnahmen vom Schlagstockeinsatz daheim und dem Kampfinferno da draußen herein, aber das ist so kurz und unwahrscheinlich wie die Illustration zu den News der kommerziellen Sender vor dem nachfolgenden Spielfilm.

Sir Anthony Hopkins spielt mitnichten den Nixon, sondern sich selbst, wie er Nixon spielt – so beifallheischend und -würdig wie in der xten Vorstellung von Richard IV. – Die Computereinblendung des Hopkins-Gesichts in dokumentarische Staatsbesuchaufnahmen ist ebenso theaterhaft-dekorativ wie die zuverlässig unwitzige Requisite, nichts stört den Ablauf des Weihespiels, das Jedermann-Nixon in den Himmel befördert.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/1996

Eine Familie

(DK 2010, Regie: Pernille Fischer Christensen)

Ein Atemzug Unterschied
von Wolfgang Nierlin

Eine dokumentarische Bilderfolge aus historischen Fotografien und Filmen fingiert als kurzer Einspieler die Chronik einer Familie über mehrere Generationen hinweg: Die dänische Regisseurin Pernille Fischer Christensen beginnt ihren bewegenden Film …

Eine dokumentarische Bilderfolge aus historischen Fotografien und Filmen fingiert als kurzer Einspieler die Chronik einer Familie über mehrere Generationen hinweg: Die dänische Regisseurin Pernille Fischer Christensen beginnt ihren bewegenden Film „Eine Familie“ mit einer mythischen Erzählung über den Pioniergeist und Fleiß der Familie Rheinwald, einer Bäckerfamilie, die mit ihren qualitativ hochwertigen Backwaren zum „königlichen Hoflieferanten“ aufsteigt. Das Gewicht der Tradition und das Wissen über die hohe Backkunst sind in dieser schwarzweißen Bildergeschichte aufgespeichert und vermitteln ein Gefühl für familiäre Pflichten, aber auch für Qualitätsmaßstäbe wider den Zeitgeist. Im Gespräch verweist die sensible Filmemacherin noch auf eine weitere Funktion dieses „Familienalbums“: Es zeige als kollektives Gedächtnis, was Menschen teilen und miteinander verbindet.

Insofern entwickelt sie zunächst die Rollen, die ihre Figuren in der Familie zwischen Pflichtgefühl und individuellem Freiheitsdrang spielen. Schnell, direkt und mit intimer Nähe erzählt Christensen wie die Galeristin Ditte (Lene Maria Christensen), die älteste Tochter der Rheinwalds, in eine tragisch verknüpfte Abfolge von Entscheidungsdilemmata gerät: Aus New York erreicht sie ein verlockendes Job-Angebot, das mit einer regen Reisetätigkeit verbunden ist, während sie gleichzeitig erfährt, dass sie von ihrem Künstler-Freund Peter (Pilou Asbæk) schwanger ist. Kurz darauf erleidet ihr Vater Rikard (Jesper Christensen), ein kämpferischer Patriarch, der seine Krebserkrankung überwunden zu haben glaubt, einen schweren Rückfall und stemmt sich mit nachlassenden Kräften gegen sein Schicksal. Dabei erwartet er von seiner Lieblingstochter, dass diese den Familienbetrieb weiterführt.

Lebensnah und echt entwickelt Pernille Fischer Christensen ein komplexes Geflecht aus Entscheidungskonflikten. In Abhängigkeit von wechselnden Umständen und Zufällen, von unumkehrbaren Entscheidungen und einem unabänderlichen Schicksal versucht die Protagonistin zwischen Selbstverwirklichungsträumen und familiärem Zusammenhalt zu vermitteln, deren Wert sie in der Begleitung ihres qualvoll sterbenden Vaters neu erfährt. Gerade im Angesicht des Leidens erneuert und intensiviert sich für sie auch das Leben. „Das Thema Tod“, sagt Christensen, ist deshalb auch „nicht das Wichtigste in dem Film“, sondern „die Angst davor, etwas zu verlieren.“ Nur „ein Atemzug Unterschied“ trennten das „Da-Sein“ vom „Nicht-mehr-Sein“, das als „magischer Ort“ dieses Übertritts sich dem Verstehen entziehe. Die Antworten auf die Frage nach dem Umgang mit der Angst gebe deshalb, so die Regisseurin, das Leben selbst.

(Die Zitate stammen aus einem Publikumsgespräch, das Pernille Fischer Christensen anlässlich einer Preview ihres Films am 27.2.11 im Heidelberger Gloria-Kino führte.)

Der Adler der Neunten Legion

(USA 2010, Regie: Kevin MacDonald)

Mancher gibt sich viele Müh’ / mit dem lieben Federvieh
von Louis Vazquez

Am Anfang des Films steht ein von Legenden umrankter Fetisch: der goldene Adler, das Wappen der Neunten Legion. Er ging einst im Feindesland Nordbritannien verloren und mit ihm eine ganze …

Am Anfang des Films steht ein von Legenden umrankter Fetisch: der goldene Adler, das Wappen der Neunten Legion. Er ging einst im Feindesland Nordbritannien verloren und mit ihm eine ganze römische Armee von fünftausend Mann. Kaiser Hadrian ließ daraufhin den nach ihm benannten Schutzwall errichten, der die Grenze des Reichs zur unzivilisierten Welt markierte. Für den Römer Marcus Aquila – Lateinkenner ahnen bereits eine Verbindung zum verschwundenen Vogel – fangen die Probleme erst an, denn er ist der Sohn des damals unterlegenen Feldherren. Er verlor nicht nur seinen Vater, sondern leidet zudem stark unter der Schmach dieser Niederlage. Und weil ein nobler Mann sich und der Welt etwas zu beweisen hat, wird das Wiedererlangen des Symbols (und der Familienehre) zu seines Lebens größtem Traum. So weit, so schlicht.

Doch das erste Kommando des aufstrebenden Kriegers steht unter einem schlechten Stern, und diese frühe Kehrtwende des Films überrascht positiv: Aquila wird schwer verletzt und muss den Militärdienst quittieren – in Ehren zwar, aber einen richtigen Soldaten kann das nicht zufrieden stellen. Die entsprechende Kampfszene bemüht sich um Realismus und ist demzufolge verwackelt, aber frei von übertriebenen Spezialeffekten und trotz des gering dosierten Blutgehalts angemessen unangenehm. Sie erinnert ein wenig an die HBO-Serie „Rome“, der es in einigen Momenten bereits gelang, eine Ahnung vom jämmerlichen Dasein des gemeinen Legionärs zu vermitteln. Etwas befremdlich ist dagegen die Inszenierung der Feinde als blutrünstige, wilde Horde, die einmal mehr von Peter Jacksons Orks beeinflusst zu sein scheint – aber gut, es sind nun mal Barbaren, und wir sind ja auf der Seite der Römer und der Zivilisation und so …

Nachdem Aquila gezwungenermaßen zum Privatmann geworden ist, benötigt er für das Erreichen seines Ziels die Hilfe eines jungen Sklaven namens Esca, dem er das Leben rettet und der ihm seines folglich schuldet. Esca kommt just aus den feindlichen Gebieten jenseits des Walls. Er soll Aquila mit seiner Sprach- und Ortskundigkeit zur Seite stehen. Doch kann der Römer ihm trauen? Es geht viel um Ehre, Treue und die Beschwörung solcher Empfindungen, denn so funktioniert dieses Genre. Aber man nimmt auch quälende Momente in Kauf, weil man dem Film nach seiner überraschenden Kehrtwende eine durchdachte moralische Fabel zutraut, zumal Action kaum eine Rolle spielt und „Der Adler der Neunten Legion“ sich eher auf das dramatische Potential seiner Geschichte stützt. Marcus Aquila ist kein makelloser Sympathieträger: Wenn er nicht entdeckt werden will, tötet er auch mal einen flüchtenden Feind, der noch ein halbes Kind ist. Esca kann nur entsetzt zusehen, da er ja durch seinen Schwur gebunden ist – wodurch sich genregemäß wohl Charakterstärke zeigen soll. Doch bald ergibt es sich, dass das Machtverhältnis zwischen Herr und Sklave sich umkehrt.

Beziehungen können eine trügerische Angelegenheit mit gruseligem Ausgang sein, und dies trifft leider auch auf Beziehungen zwischen Rezipient und Film zu, denn obwohl sich zunächst etwas Außergewöhnliches und Besonderes anzukündigen scheint, enttäuscht „Der Adler der Neunten Legion“ letztlich auf ganzer Linie. Die unsichere Beziehung zwischen Aquila und Esca gipfelt in einer Szene, in der ein großer Vertrauensbeweis erforderlich ist. Anstatt den Film nun dramatisch aufzulösen, wird plötzlich ein unfassbar hanebüchen motivierter Abschlusskampf übers Knie gebrochen, dessen Teilnehmer quasi aus dem Nichts auftauchen: Es sind die Deserteure und versprengten Reste der Neunten Legion, die der Sklave während der Reise heimlich und ohne das Wissen seines Herrn (oder des Zuschauers) gefunden und wiedervereint haben will. Die Läuterungsbeteuerungen der einst fahnenflüchtigen Männer gegenüber dem Sohn ihres früheren Anführers sind so schlecht geschrieben, dass sie wirklich große Schmerzen verursachen: „Als ich vor deinem Vater wegrannte, bin ich vor mir selbst weggerannt.“ Aber nun wird alles wieder gut, man stirbt schließlich aufrecht und stolz.

Diesem so kruden wie frustrierenden Finale folgt noch ein Dialog wie aus einem schlechten Buddy-Movie, der nahe legt, dass die beiden Helden, Römer und befreiter Sklave, nun die Tür zu neuen Abenteuern aufstoßen. Man fragt sich, an welcher Stelle die Produktion so schief gehen konnte, dass dieser abrupte Tonwechsel niemandem aufgefallen ist und ob die eklatanten Schwächen des Drehbuchs vielleicht mit der Jugendbuchvorlage zu tun haben. Aber wie auch immer: Ganz zum Schluss, und wirklich erst dann, entpuppt sich „Der Adler der Neunten Legion“ als Gummihuhn.

The Tree

(F / AUS / D 2010, Regie: Julie Bertucelli)

Verwurzeltes Leben
von Wolfgang Nierlin

Wenn in der Morgendämmerung die Nebel über der weiten Landschaft liegen und die Blicke sich am fernen Horizont verlieren, vermitteln die Bilder eine Ahnung von Unendlichkeit. Die überwältigende Schönheit der …

Wenn in der Morgendämmerung die Nebel über der weiten Landschaft liegen und die Blicke sich am fernen Horizont verlieren, vermitteln die Bilder eine Ahnung von Unendlichkeit. Die überwältigende Schönheit der Natur, die Nähe zu ihr und ihre Durchdringung des Lebens grundieren und erfüllen Julie Bertucellis in Australien entstandenen Film „The Tree“. Die sensible, durchlässige Membran zwischen Mensch und Natur markiert neben dem möglichen Einklang aber auch eine Distanz, deren zerstörerische Seite immer präsent bleibt und deren Gewalt eine latente Unsicherheit erzeugt. Eine langanhaltende Trockenheit, ein gefährlich wucherndes Wurzelwerk und ein wüster Zyklon erzwingen von den Protagonisten in Bertucellis Film die Bereitschaft zu Veränderung und Mobilität. Verwoben und synchronisiert werden diese äußeren Bedingungen mit dem schwierigen Prozess eines inneren Abschiednehmens.

So beginnt „The Tree“ mit einem Verlust, der die Grenze zwischen Bewegung und Stillstand, Ende und Aufbruch genau beschreibt. Als der Familienvater Peter O’Neil (Aden Young), der bezeichnenderweise Fertighäuser transportiert, plötzlich während der Heimfahrt einem Herzinfarkt erliegt, rollt er mit seinem Wagen gerade auf das Familiengrundstück und kommt fast sanft an jenem symbolträchtigen Baum zu stehen, der dem Film seinen Titel gibt. Fortan glaubt die 8-jährige Simone (Morgana Davies), dass die Seele des verstorbenen Vaters in dem gewaltigen Feigenbaum weiterlebe. Immer wieder klettert sie in sein imposant verzweigtes Geäst, um Schutz zu suchen, auf seine geräuschvolle „Stimme“ zu horchen und mit ihm zu sprechen. Tatsächlich inszeniert Julie Bertucelli diesen Baum als ebenso mystisches wie anthropomorphes Wesen, dessen Zeitlosigkeit in die Ewigkeit hineinragt.

Während Simone im Austausch mit dem Baum einen gewissen Trost und innere Stärke erfährt, versinkt ihre Mutter Dawn (Charlotte Gainsbourg) unter dem Schock des plötzlichen Verlusts in Trauer, Schmerz und Passivität. Die Abwesenheit des geliebten Ehemanns und Familienvaters durchdringt mit einer unheimlichen Leere förmlich die Zimmer des Hauses. Dawn wirkt hilflos, ausgesetzt und mit den vier Kindern überfordert. Charlie, ihr jüngster Sohn, hört auf zu sprechen, während ihr Ältester Tim erste Schritte in die Selbständigkeit unternimmt. Als sich Dawn schließlich zaghaft in den Klempner George Elrick (Marton Csokas) verliebt, reagiert vor allem Simone mit offenem Widerstand. Noch ist die Zeit nicht reif für einen Aufbruch; noch treibt der Baum seine Wurzeln, als wären es verzweigte Erinnerungen, die das Leben und die Gegenwart der Familie umklammern.

Im langwierigen Prozess der Trauerarbeit, den Bertucelli in ihrem nachdenklichen Familiendrama einfühlsam schildert, wird erst die übermächtige Natur die Wurzeln lösen können. Deren stoische Stärke bannt die Figuren und befreit sie zugleich. In sinnlichen Bildern wird die Natur so zum Spiegel von Gefühlszuständen und eröffnet in überwältigenden Landschaftspanoramen einen mystischen Resonanzraum, der die Zeit dehnt und verdichtet.

Julie Bertucelli, die sich schon in ihrem Debütfilm „Seit Otar fort ist“ mit Tod und Verlust beschäftigt hat, beschreibt sehr behutsam die Trauer als einen andauernden Zustand, der alle Einflüsse und Lebensäußerungen absorbiert; mit deutlicher, aber unaufdringlicher Symbolik erscheint sie als ein Verharren, das mögliche Ziele unterdrückt und die Hoffnung nur sehr langsam aus der depressiven Überwältigung entlässt.

Lärm & Wut

(F 1988, Regie: Jean-Claude Brisseau)

Letzte Ausfahrt Bidonville
von Michael Schleeh

„Lärm & Wut' beginnt mit einem Westernzitat: Es kommt ein Neuer in die Stadt. Aber in diesem Fall ist es kein Revolverheld, sondern der gerade mal dreizehnjährige Bruno (Vincent Gasperitsch) …

„Lärm & Wut' beginnt mit einem Westernzitat: Es kommt ein Neuer in die Stadt. Aber in diesem Fall ist es kein Revolverheld, sondern der gerade mal dreizehnjährige Bruno (Vincent Gasperitsch) – mit einem Vogelkäfig in der Hand. Gerade aus dem Jugendheim entlassen, zieht er zu seiner Mutter in eine der Pariser Vorstädte, in der sich die Wohnblocks auf einem vorgelagerten Hügel ghettoisierend zusammendrängen. An der Haltestelle wird er nicht abgeholt, er muss alleine zurechtkommen. Im Treppenhaus macht er die Bekanntschaft von Jean-Roger (Francois Négret), des jüngsten Sprosses der Familie Roffi, der die Fußmatten vor den Eingangstüren der Sozialwohnungen abfackelt. Ein Tunichtgut, ein im wahrsten Sinne asozialer Mofarocker, der auch vor Keilerei, Diebstahl und Vergewaltigung nicht zurückschreckt. Und der dann Bruno seine Freundschaft aufdrängt. Die Zustände also sind chaotisch: Jean-Rogers Vater (Bruno Cremer, ganz groß!) zum Beispiel nutzt die heimische Wohnung als Schießübungsplatz und feuert mit dem Repetiergewehr den Flur entlang auf selbstgemalte Indianersilhouetten. Schwarzhumorig und grotesk ist das; unnötig jedoch, dass in Jean-Rogers Zimmer ein Rambo-Plakat an der Wand hängen muss und die Jungs manchmal einen Porno zusammen schauen. Da geht Brisseau leider unwürdige Abkürzungen.
Als Bruno schließlich in der Wohnung ankommt, ist die Mutter abwesend. Im weiteren Film, man ahnt es schon, werden der einzige Kontakt zum Sohn die handgeschriebenen Zettel sein, die sie ihm ans Korkbrett pinnt. Sie wird den ganzen Film über nicht auftauchen. Der Junge ist auf sich allein gestellt.
In der Schule hat der sensible Bruno Schwierigkeiten; doch seine attraktive Französischlehrerin erkennt sein Potential und fördert ihn. Hier findet er einen der wenigen Orte der Geborgenheit und vor allem auch: der Selbstbestätigung. Von ihr erfährt er zum ersten Mal, dass er kein Nichtsnutz ist, sondern ein liebenswerter Mensch. Man muss selbstverständlich nicht lange darauf warten, dass solche Bevorzugung die Eifersucht Jean-Rogers herausfordert, welcher ebenfalls in dieser Klasse sitzt. Er kann es nicht ertragen, Brunos Zuneigung mit einem anderen Menschen, und dann noch einem Lehrer, zu teilen – zumal er selbst als permanenter Störenfried und sexuell übergriffiger Rabauke von der Schule zu fliegen droht.
Als schließlich auch noch Jean-Rogers großer Bruder aus dem Strudel von Gewalt und Kriminalität auszubrechen versucht und einen Job in der Druckerei einer Zeitung findet, spitzt sich die Situation zu: die Familie Roffi kämpft um den ältesten Sohn, auf dass aus diesem alles nur kein ehrenwerter Bürger, kein „Sklave der Gesellschaft“, werde. Im stetig eskalierenden Geschehen, in das alle Figuren hineingezogen werden, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es zu einem schlimmen Finale kommen muss.

Dass das Thema „Gewalt in den Vorstädten“ auch heute, 22 Jahre nach Brisseaus filmischem Kommentar und Mathieu Kassovitz‘ sehr erfolgreichem „La Haine' (1995), noch virulent ist, kann man nicht zuletzt an den jüngeren Ausschreitungen in Paris (2005, 2007, 2009) wieder einmal sehen. Auch ein aktueller Film wie „Harry Brown' bemüht dieses Setting als Schauplatz für seine Rachephantasie und stellt den gesetzlosen (Klein-)Kriminellen das gesellschaftliche Unverständnis in Form seines Protagonisten (Michael Caine) gegenüber. Dieser Film allerdings geht einen anderen Weg: Harry nimmt das Heft selbst in die Hand und verkörpert derart den fleischgewordenen, aber stets unterdrückten Rachegedanken des konservativen Bürgertums, und aktualisiert damit den nicht gerade neuen moralischen Zwiespalt, der sich im Vigilantentopos des Selbstjustizfilms manifestiert – und der bekanntlich bereits in Don Siegels „Dirty Harry' (1971) mitsamt seinen Sequels ausgiebig formuliert wurde.

Die Figur des Rächers fehlt in Brisseaus Film. Hier geht es um die alltägliche Gewalt in den Wohnblocks der Banlieue, der Lebensrealität der sozial Benachteiligten und an den (Stadt-)Rand Gedrängten; um die Gewalt der Jugendbanden und um die Auswirkungen von verwahrlosten Familienstrukturen, exemplarisch festgemacht am Schicksal Brunos und Jean-Rogers. Brisseau hat, laut Selbstaussage, in diesem Film seine eigenen Erfahrungen als Lehrer an einer Realschule eines sozialen Brennpunkts verarbeitet. Dass aus „Lärm & Wut' kein didaktisch-moralinsaures Pädagogenlehrstück, sondern ein ästhetisch bisweilen herausfordernder und formal interessanter Spielfilm geworden ist, darf man dem Regisseur hoch anrechnen.

Moral ist aber auch nicht nötig. Denn die Personen desavouieren und demontieren sich selbst. Der Film ist souverän: er zeigt, er erklärt nicht. Jenseits des realistischen Ansatzes, der sich auch dem Humor nicht verschließt (welcher freilich ab und an im Halse stecken bleibt), sind besonders Brunos Visionen bemerkenswert. Tableauartig stilisierte Szenen veranschaulichen die jugendlichen Sehnsüchte Brunos, stark symbolhaft, enigmatisch. Da liegt beispielsweise eine erotisch inszenierte, gütig blickende und halbnackte Frau auf dem Bett und erwartet ihn mit offenen Armen (und Beinen). Diese durchaus problematisch kitschigen und emblematisch bedeutungsschwangeren Phantasiewelten fügen sich aber kontextuell gut in den Film ein, visualisieren sie doch die kurzen Momente eines Bedürfnisses der Weltflucht auf der Suche nach Zuneigung. Sie werden ästhetisch lediglich durch eine Veränderung in der Beleuchtung als irreal markiert. Somit besitzen sie dank ihres unmittelbaren Erscheinens sowohl eine Nähe zur Fiktion wie auch zur Realität: für Bruno sind diese Wahrnehmungen eindeutig reale Ereignisse.

Dass der Junge zusehends die Bodenhaftung verliert und sich immer stärker auf einen Abgrund hin bewegt, wird im Film mehrfach auch allegorisch thematisiert: in der Schule stellt Bruno der Lehrerin die Frage, warum die Menschen auf der Südhalbkugel nicht von der Erde herunterfallen. Daraufhin erklärt sie ihm die Phänomene der Erdanziehung und der Schwerelosigkeit. Später im Film wird dann klar, dass das „Herunterfallen von der Welt“ für ihn nichts Bedrohliches symbolisiert, sondern eine Befreiung von der irdischen Misere seines Lebens – ein Fortkommen hin zu den Sternen. Aber da ist der Vogel schon längst tot und alle Hoffnung fern. Für Bruno bedeutet das: Last Exit Bidonville.

Faster

(USA 2010, Regie: George Tillman Jr.)

Old School
von Harald Steinwender

Im Werk von John Ford gab es einen heimlichen Star, den das große Publikum nie richtig wahrnahm. Der 1914 geborene Woody Strode war Profi-Football-Spieler und Wrestler, bevor er Ende der …

Im Werk von John Ford gab es einen heimlichen Star, den das große Publikum nie richtig wahrnahm. Der 1914 geborene Woody Strode war Profi-Football-Spieler und Wrestler, bevor er Ende der 30er, Anfang der 40er Jahre zum Film kam und zunächst in Nebenrollen auftrat. Für Ford, mit dem er eng befreundet war, spielte er in den 60er Jahren den aufrechten 'Sergeant Rutledge' („Mit einem Fuß in der Hölle'; 1960), den muskulösen Komantschen Stone Calf in „Two Rode Together' („Zwei ritten zusammen'; 1961) und John Waynes loyalen Assistenten Pompey in „The Man Who Shot Liberty Valance' („Der Mann, der Liberty Valance erschoss'; 1962). Eine eindrucksvolle Nebenrolle hatte Strode in „Spartacus' (1960), in dem er den äthiopischen Gladiator Draba spielte. Danach verschlug es den 1,93 Meter großen Athleten für einige Filme nach Europa, wo er in der Exposition von Sergio Leones „C’era una volta il West' („Spiel mir das Lied vom Tod'; 1968) seinen ersten wirklich großen Auftritt erhielt. In den folgenden Jahren wurde Strode zur Ikone vordergründig harter Männlichkeit, hinter deren Fassade doch immer die Sensibilität des Außenseiters zwischen den Kulturen durchschien. Der Sohn afroindianischer Eltern mit dem markanten, kahlgeschorenen Schädel und der herkulischen Physis trat in B-Pictures von Fernando di Leo auf, etwa in „La Mala Ordina' („Der Mafia-Boss – Sie töten wie Schakale'; 1972), er spielte einen an Lumumba angelehnten Politiker in Valerio Zurlinis „Seduto alla sua destra' („Töten war ihr Job'; 1968), der in den USA als „Black Jesus' verliehen wurde. Eine seiner letzten Rollen hatte er als 80jähriger in Mario Van Peebles‘ postmodernem Western „Posse' (1993), in dem er der MTV-Generation eine Geschichtslektion über die vergessenen afroamerikanischen Cowboys erteilen durfte.

Dwayne 'The Rock' Johnson ähnelt Woody Strode in vieler Weise: in Herkunft, Physiognomie, und Werdegang. Johnson ist afrokanadisch-samoanischer Abstammung, wie Strode ein 1,93-Meter-Hüne, ehemaliger Footballer und Profiwrestler und seit etwas mehr als zehn Jahren auch im Filmgeschäft aktiv, vornehmlich mit Rollen in Actionstoffen wie „Walking Tall' (2004; Kevin Bray) und „Doom' (2005; Andrzej Bartkowiak). Sein jüngster Film, „Faster' von George Tillman Jr., ist ein düsterer Thriller, der im gleißenden Sonnenschein spielt und wie ein Western daherkommt. Für den ehemaligen Wrestler Johnson leistet er in etwa das, was die Italiener mit Strode in den 1960er und 70er Jahren taten: Er inszeniert 'The Rock' nicht einfach als Naturgewalt, sondern als Mythos; als eine Ikone; als jemanden, der nicht von dieser Welt ist und der nicht nur 'faster', sondern auch 'pure' ist, wie es einmal über ihn heißt. Dwayne Johnson wirkt in diesem Film mitunter so, als ob Woody Strode direkt aus der Exposition von „Spiel mir das Lied vom Tod' in einen gegenwärtigen Thriller transponiert worden wäre.

Tillman reduziert den Plot auf das Minimum einer mythischen Erzählung: Ein Mann kehrt aus dem Gefängnis, dem prädestinierten Nicht-Ort, zurück in die normale Welt. Er verfolgt stur ein einziges Ziel: Die Mörder seines Bruders zu töten, einem nach dem anderen eine Kugel in den Kopf zu jagen. Dabei streut der Regisseur, der bislang vor allem mit Mainstreamfilmen wie „Notorious' („Notorious B.I.G.'; 2009) und „Men of Honor' (2000) aufgefallen ist, einige Andeutungen ein, dass sein Protagonist womöglich nicht von dieser Welt ist; ein Wiedergänger sein könnte, wie der von Lee Marvin gespielte Walker in John Boormans „Point Blank' (1967). Diesen rächenden Geist hält kein Gegner, keine Prügel, nicht einmal Kugeln auf. Als er sein düsteres Werk vollbracht hat, zieht er weiter, vermutlich zurück in den Hades. Der Film gönnt Johnsons Figur dazu – ganz ironiefrei – eine letzte Fahrt in seinem schwarzen Chevrolet Chevelle in den Sonnenuntergang.

„Faster' ist ein fast paradigmatisch postmoderner Film (oder 'postklassisch', je nachdem, welchen Begriff man bevorzugt). Sein Held ist eine Art leeres Zentrum; ein lebender Toter, der einzig von seinem Trauma angetrieben wird und der mit schlafwandlerischer Präzision und einer gehörigen Portion Wut durch eine Welt stapft, die aus Versatzstücken anderer Filme und losgelöster Zeichen der Popkultur besteht. Die Protagonisten tragen wie in Walter Hills „Driver' (1978) nicht einmal mehr Namen, sondern werden meist nach ihrer Funktion benannt: 'Driver' (Johnson), 'Cop' (Billy Bob Thornton), 'Killer' (Oliver Jackson-Cohen), 'Warden' (Tom Berenger) usw. Die wichtigsten von ihnen werden in freeze frames vorgestellt, die mit Textinserts versehen sind. Sie benennen ihre Funktion für den Plot, so wie schon Leone in „Il Buono, Il Brutto, Il Cattivo' („Zwei glorreiche Halunken'; 1966) seinen 'Guten', 'Bösen' und 'Hässlichen' vorstellte. Der Handyklingelton des 'Killers' klingt entsprechend vertraut: Es ist die Titelmelodie von Leones Western. Die Nebenfiguren von 'Faster' sind jedoch sorgfältig ausgearbeitet, geradezu überorchestriert und durch die Bank mit fähigen Darstellern besetzt. Dadurch streicht der Film die Leere der von Johnson verkörperten Hauptfigur nur umso deutlicher heraus. Er evoziert so zugleich die besten der italienisch-europäischen Western, die ihre Nebenhandlungsstränge und ihr hyperbolisch-groteskes Personal mit einer unbändigen Lust am Barock-Überladenen und am ornamentalen Exzess behandeln, während sie zugleich ihren Hauptprotagonisten auf den reinen Mythos reduzieren.

„Faster' hat als Film gewiss seine Fehler. Die Plottwists am Ende mögen überflüssig wirken, einige der Nebenhandlungsstränge erscheinen arg forciert. Aber andererseits ist es gerade diese Unkalkulierbarkeit, die immer wieder überrascht und die neben dem Score von Clint Mansell, den Popsongs von Kenny Rogers bis Iggy Pop, den mitunter abseitigen filmhistorischen Anspielungen und der gelungenen Scope-Fotografie von Michael Grady begeistert. „Faster' ist ein lupenreines B-Picture, ein Film der Sorte, die heute selten geworden ist, seit die großen Hollywood-Produktionen wie teure B-Pictures daherkommen und klassische Grindhouse-Stoffe in Filmen wie „Drive Angry 3D' aus stumpfem Kalkül auf den Massengeschmack hin recycelt werden. „Faster' hingegen ist so zeitlos wie ein Noir aus den 40er/50er Jahren und zugleich so erfrischend wie die wilden europäischen Western und Thriller der 60er/70er Jahre. Dieses Erbe weist der Film ganz selbstbewusst aus, wenn er seine Exposition mit Guido und Maurizio DeAngelis’ Titelstück aus Enzo G. Castellaris Action-Klassiker „Il cittadino si ribella' („Ein Mann schlägt zurück' / „Street Law'; 1975) unterlegt. Castellari hatte Woody Strode übrigens 1976 eine seiner schönsten Spätrollen ermöglicht: als ehemaliger Sklave, der zusammen mit einem von Franco Nero gespielten Halbblut mit Pfeil und Bogen gegen ein Trio rassistischer Brüder antritt.

Sucker Punch

(USA 2011, Regie: Zack Snyder)

Enter the posthistoire …
von Harald Steinwender

Im Fernsehen gibt es keine Videoclips mehr. Bevor MTV zum Bezahlsender umfunktioniert wurde, liefen selbst hier nur noch „Jackass“ und „South Park“, debile Datingshows und „Pimp-my“-Was-auch-immer-Formate in Dauerschleife. Angesichts dieser …

Im Fernsehen gibt es keine Videoclips mehr. Bevor MTV zum Bezahlsender umfunktioniert wurde, liefen selbst hier nur noch „Jackass“ und „South Park“, debile Datingshows und „Pimp-my“-Was-auch-immer-Formate in Dauerschleife. Angesichts dieser offensichtlichen Lücke erbarmt sich manchmal das Kino mit Filmen wie „Sucker Punch“. In vieler Weise wirkt Zack Snyders Film wie eine Zeitreise zurück in die 1980er Jahre, als Regisseure wie Adrian Lyne mit Filmen wie „Flashdance“ (1983) Musikvideos im Spielfilmformat produzierten – oder wahlweise Videoclips auf Spielfilmlänge aneinander reihten. Snyder ist nur konsequent, wenn er „Sucker Punch“ neben einem Nichts an Alibirahmenhandlung als reine Nummernrevue strukturiert, deren an Videospiele angelehnte Einzelclips als Tagtraum der Heldin „Baby Doll“ (Emily Browning) ausgegeben werden. Baby Doll sitzt in einer vermodernden Irrenanstalt und wartet auf einen korrupten Arzt (John Hamm aus „Mad Men“!), der sie in ein paar Tagen mit einem Eispickel lobotomisieren wird. Um sich ein wenig von dieser düsteren Zukunft abzulenken, träumt sich Baby Doll die Irrenanstalt um zu einer Art Cabaret-Bordell voller Kindfrauen mit ulkigen Namen wie „Sweet Pea“ (Emily Browning), „Rocket“ (Abbie Cornish) oder „Blondie“ (Vanessa Hudgens). Dann tanzt sie sich zu 80er-Jahre-Rock und Punksongs frei. Soweit, so blöde.

Leider nimmt Snyder die Trash-Fantasie seines Films keinen Deut ernst. Vielmehr begeht er den Kardinalfehler, das Ganze als leidenschaftsloses, weitgehend blut- und schmerzfrei auf den Teenagermarkt ausgerichtetes Kommerzprodukt zu inszenieren. Was schade ist, da der Regisseur mit seinem ausgezeichneten „Dawn of the Dead“-Remake von 2004 und der ambitionierten „Watchmen“-Adaption von 2009 – gewissermaßen der „Moby Dick“ der Comic-Verfilmungen – durchaus Talent zeigte. Andererseits ist Snyder auch der Regisseur, der Frank Millers „300“ (2006) als humor- und ironiefreien Fascho-Pop auf die Leinwand brachte. Irgendwie hätte man trotzdem mehr erwartet.

„Sucker Punch“ ist lediglich eine Ansammlung abgegriffener Stilismen, die heute im postklassischen Kino en vogue sind: hohe Schnittfrequenz, extreme Auf- und Untersichten, mal Zeitlupe, dann wieder Beschleunigung der Filmbilder, eine Tonspur, auf der ständig das Sounddesign rumpelt und die von Popsongs dominiert wird – und viele, viele Großaufnahmen der Hauptdarstellerinnen, die uns aus riesigen Augen anstarren, die von Eyeliner, Mascara und schneeschaufelgroßen künstlichen Wimpern verunstaltet sind. Die Bilder sind fast gänzlich von Farbe entsättigt oder monochrom eingefärbt – mal rostrot, dann blaugrau oder grünstichig –, die Protagonistinnen, bestenfalls Typen, keinesfalls Charaktere, tragen Lack und Leder, Fetisch-Kleidung à la Gothic-Lolita, Manga-Chic und Punk-Göre. Zu starken Zeichen kommt großes leeres Pathos, künstliche Fantasiewelten und bombastische Digitaleffekte, alles so gefällig wie gehaltlos. Überhaupt die Bilder: tausendmal woanders gesehen, etwa in David Finchers „Fight Club“ (1999), bei Terry Gilliam, dessen monströse Ritterfiguren aus „Brazil“ (1985) und „The Fisher King“ (1991) uns hier wieder begegnen, natürlich auch der Surrealismus light der „A Nightmare on Elm Street“-Serie (1984ff.). Die einzelnen Episoden funktionieren wie setpieces, die Perlen gleich auf eine Schnur gereiht werden. Zusammengeleimt wird das Ganze durch die pseudophilosophischen Kommentare eines von Scott Glenn gespielten „Wise Man“, die selbst für die Teenager in Publikum ob ihrer Dummheit kaum zu ertragen sein dürften. Und wenn Songs von Annie Lennox, den Pixies, Queen und Iggy Pop erklingen, dann nur als Remixes, Medleys und in Cover-Versionen. Bezeichnenderweise sieht nicht einmal die Heldin wie ein Original, sondern verdächtig nach Paris Hilton aus.

Die einzige Konstante von Snyders Film ist der Widerspruch: Die Bilder von „Sucker Punch“ sind zugleich dreckstarrend und glamourös, vulgär und spießig, geschichtsvergessen und historisierend, die Handlung wird sexualisiert und gleichzeitig puritanisiert. Der Mann mit dem Eispickel ist zugleich in der Tagtraumhandlung der „High Roller“, ein Freier, der die Jungfräulichkeit der Heldin rauben will. Alles also ein Krieg, um die Jungfräulichkeit der Heldin zu verteidigen, der wir paradoxerweise in aus Anime und Manga vertrauten „panty shots“ immer wieder unter den Rock starren dürfen. Der Handlungsort aber bleibt eine posthistoire frei flottierender Zeichen und hemmungslosen Bildermülls. Wenn die Kindfrauen in ihren Fetischklamotten in eine Kriegsarena stürmen und ein plüschiges Stahlbad genießen, dann stürzen alle Bilder und Zeiten ineinander: die Grabenkämpfe und Gasmasken aus dem Ersten Weltkrieg und die Stahlhelme und Nazi-Uniformen aus dem Zweiten, gepaart mit der Hello-Kitty-Niedlichkeit der Heldinnen. Gekämpft wird mit Bajonett, Katana, Martial Arts und High-Tech-Kampfbots gegen Nazi-Cyborg-Zombies, die aus „Return to Castle Wolfenstein“ entsprungen sein könnten. Und über allem schweben Zeppeline, mit denen gleich der Untergang der Hindenburg nachgestellt wird. „Sucker Punch“ ist eine Synthese-Maschine ohne Sinn, die in ihrem zerstückelten Raum distinktiver Zeichen leer läuft. Mitunter fragt man sich, ob Snyder Baudrillards „Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen“ (1978) gelesen hat. Wer weiß, vielleicht hat er das sogar – und gleich als Bastelanleitung missverstanden. Was fehlt, ist nur noch der Marktschreier, der vor dem Kino steht und brüllt: Hereinspaziert, hereinspaziert! Es gibt keine Geschichte mehr, es gibt keine Geschichten mehr zu erzählen.

Die Taube auf dem Dach

(DDR 1973, Regie: Iris Gusner)

Das richtige Leben im falschen
von Oliver Nöding

Kosmonauten beim Training für den Einsatz in der Schwerelosigkeit. Der Start eines Raumschiffes. Die Titeleinblendung „Die Taube auf dem Dach“. Dann ein Junge, der auf der Schaukel im Garten seiner …

Kosmonauten beim Training für den Einsatz in der Schwerelosigkeit. Der Start eines Raumschiffes. Die Titeleinblendung „Die Taube auf dem Dach“. Dann ein Junge, der auf der Schaukel im Garten seiner Eltern den Überschlag übt. Der Vater: „Ein außergewöhnlicher Junge. Er wird sich irgendwann einmal den Hals brechen.“ Iris Gusners Film ist noch keine Minute alt, da hat sie das beherrschende Thema bereits in griffige Bilder übersetzt, die keine Fragen offenlassen.

Die junge, engagierte Bauleiterin Linda Hinrichs (Heidemarie Wenzel) überwacht mit viel Übersicht und Geschick in der Menschenführung den Bau einer Plattensiedlung irgendwo im Süden der DDR. Zwei ihrer Arbeiter verlieben sich in sie: der Student Daniel (Andreas Gripp), der in den Semesterferien auf der Baustelle jobbt und sowohl vom Jahr 2000 als auch davon träumt, den Weltraum zu erforschen, und der erfahrene Brigadier Hans Böwe (Günter Naumann), der schon überall in der DDR gebaut hat, über diesen Einsatz sein Zuhause verloren und seine Familie zersplittert hat und nun endlich zur Ruhe kommen will. Doch was will Linda?

„Die Taube auf dem Dach“ – man übersieht leicht die Finesse dieses Titels im Bezug auf den Film, weil man seine fehlende Hälfte im Geiste sofort zu ergänzen weiß. „Besser der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“, weiß der Volksmund und will damit sagen, dass es besser ist, sich mit dem zufrieden zu geben, was man hat, auf Nummer sicher zu gehen, anstatt sich auf ein zwar verheißungsvolles, aber letztlich auch ungewisses Ziel zu versteifen. Für die Protagonisten von Iris Gusners Film ist diese Maxime aber kaum noch lebbar: Ständig mit dem tristen Alltag konfrontiert, wird der Wunsch, die eigenen Träume zu verwirklichen, immer stärker. Doch je stärker dieses Verlangen wird, umso härter werden sie in die Realität zurückgeworfen, dämmert ihnen die Erkenntnis, dass ihre Träume vielleicht Träume bleiben müssen. Als Film, der mit der Lebenswirklichkeit in der DDR befasst ist, hätte Gusners Film also eigentlich „Der Spatz in der Hand“ heißen müssen. Doch wie seine Protagonisten eben angetrieben werden von dem, was nicht ist, aber noch werden soll – das Setting der Baustelle ist hier durchaus metaphorisch zu betrachten –, so wird auch der Film geprägt durch eine träumerische Vagheit, die einen Kontrapunkt zu den sehr echten Sorgen seiner Charaktere, der Direktheit, mit der sie ihre Probleme besprechen, und der Klarheit der Bildkomposition bildet. So wird das Leben im Sozialismus gar nicht so sehr durch das als bedrückend empfundene Sein geprägt, sondern durch die Abwesenheit einer Alternative zu diesem Sein. Die Utopie sitzt wie eine fette gurrende Taube auf dem Dach und verhöhnt die Menschen, die versuchen, sich mit dem Gedanken abzufinden, dass sie nur den Spatz haben können.

Man kann über „Die Taube auf dem Dach“ nicht sprechen, ohne auf seine komplizierte Geburt hinzuweisen. 1973 fertiggestellt, wurde der Film für seine Zeichnung einer in der Sinnkrise befindlichen Arbeiterklasse verboten und noch im Studio vernichtet. Eine farbige Arbeitskopie blieb jedoch erhalten und wurde von Kameramann Roland Gräfe 20 Jahre später wiederentdeckt. Eine aufgrund der Materialschäden notwendige Schwarzweißkopie wurde 1990 in Berlin uraufgeführt, ging danach aber erneut verloren. Erst 2009 konnte die DEFA-Stiftung diese Kopie wieder finden und den Film rekonstruieren. Eine Farbversion wird man wohl nicht mehr zu Gesicht bekommen und in einer kurzen Szene muss der Zuschauer mit Untertiteln vorlieb nehmen. Aber in diesem Fall gilt tatsächlich: „Besser der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.“

IP Man Zero

(HK 2010, Regie: Herman Yau)

Der Habermas des Prügelns
von Oliver Nöding

„Bei einer Schlägerei lernt man sich kennen“, behauptet der Protagonist von Herman Yaus „Ip Man Zero“, der Wing-Tsun-Kämpfer Ip Man (Dennis To), dessen reale Inkarnation die Kampfkunst revolutionierte und schließlich …

„Bei einer Schlägerei lernt man sich kennen“, behauptet der Protagonist von Herman Yaus „Ip Man Zero“, der Wing-Tsun-Kämpfer Ip Man (Dennis To), dessen reale Inkarnation die Kampfkunst revolutionierte und schließlich zum Lehrer Bruce Lees wurde, der seinerseits den Eastern in den Siebzigerjahren international etablieren sollte. Es ist dies einer der interessantesten Ansätze von „Ip Man Zero“ und was hätte man daraus machen können? Einen Kung-Fu-Film, der den schlagkräftigen Austausch konsequent als einen Modus zwischenmenschlicher Kommunikation interpretiert. Leider bleibt es bei dem Ansatz und Yaus Film letztlich ein – wenn auch sauber inszenierter – generischer Martial-Arts-Film.

Zu Beginn der 20. Jahrhunderts werden der junge Ip Man und sein Adoptivbruder Tin chi (Siu Wong-fan) von ihrem Vater in der Kung-Fu-Schule von Meister Chan Wah-shun (Sammo Hung) abgegeben, um die Kampfkunst Wing-Tsun zu erlernen. Beide werden erst von diesem und nach dessen Tod von Ng Chun-suk (Yuen Biao) ausgebildet, bis es Ip Man zur Universität nach Hongkong zieht, während sein Bruder an der Schule bleibt, auf die zunehmend Einfluss von japanischen Geschäftsleuten genommen wird. Als es nach Ip Mans Rückkehr zu einem Mordfall kommt, droht die Situation zu eskalieren …

„Bei einer Schlägerei lernt man sich kennen.“ Dieser Gedanke mag vielleicht auch die Köpfe hinter „Ip Man“ vor drei Jahren dazu bewogen haben, sich der Lebensgeschichte eines der größten Kung-Fu-Kämpfer und -Erneuerer des vergangenen Jahrhunderts zu widmen. Und wie sollte man sich einem solchen Kämpfer annähern, wenn nicht mit den Mitteln des Kung-Fu-Films? Dass Ip Mans Biografie durch seine Assoziation mit Bruce Lee zudem untrennbar mit der Filmgeschichte allgemein und dem Eastern in Besonderen verbunden ist, prädestinierte ihn geradezu für eine Adaption, die im dritten Teil der Reihe, einem Prequel, das sich mit der Jugend des Helden befasst, allerdings nur wenig ambitioniert geraten ist. Nur einmal wird auf die filmischen Ambitionen Ip Mans verwiesen, ansonsten eine Geschichte erzählt, die der Eastern-Freund so oder ähnlich schon etliche Male gesehen hat. Inszenatorisch betrachtet ist „Ip Man Zero“ einwandfrei: Er sieht ungemein edel aus mit seinem ausgeblichenen Sepia-Look, verfügt über erstklassige Production Values und die Kampfchoreografien – das Kernstück eines jeden Martial-Arts-Films – sind rasant und originell, ohne sich dabei in der Realität gänzlich enthobene Sphären zu begeben. Vor allem Dennis To bekommt ausreichend Gelegenheit, seinen Ruf als kommender Superstar zu untermauern, doch das Highlight ist meines Erachtens ein Trainingskampf zwischen den Altmeistern Sammo Hung und Yuen Biao, die trotz verbundener Augen immer die passende Antwort auf den Angriff des Gegners parat haben und so dem Bild des Kampfes als einer Form der Kommunikation sehr nahe kommen. Leider sind solche Momente jedoch rar gesät und stattdessen müht sich der Zuschauer durch eine melodramatische Liebesgeschichte, undurchschaubare Ränkespiele und die alte Mär vom friedlichen Chinesen und dem hinterhältigen Japaner.

Das ist schade, denn man sollte doch meinen, dass ein Film, der sich um einen der kreativsten Martial-Artists aller Zeiten dreht, selbst etwas mehr Kreativität aufbrächte, um dessen Geschichte zu erzählen. Dass „Ip Man Zero“ jedoch zu keinem Zeitpunkt über gutklassiges Formelkino hinauskommt, legt nahe, dass es sich eher umgekehrt verhält: Die Person Ip Man und seine Hinterlassenschaft sind so gewaltig, dass es nahezu unmöglich ist, sich aus ihrem Schatten zu lösen. Aber vielleicht ist das ja auch die Lehre, die man aus dem Film ziehen kann: Wir kennen diesen Ip Man bereits, wenn auch nicht aus seinen eigenen Schlägereien.

Brothers

(USA 2009, Regie: Jim Sheridan)

Die Wiederholung des Traumas
von Wolfgang Nierlin

Eine durchschnittliche amerikanische Mittelschichtfamilie bildet das Kraftzentrum in Jim Sheridans starbesetztem Drama „Brothers“, einem Remake von Susanne Biers gleichnamigem Film. Als gesellschaftliches Abbild spiegelt sich in ihr jener von Patriotismus …

Eine durchschnittliche amerikanische Mittelschichtfamilie bildet das Kraftzentrum in Jim Sheridans starbesetztem Drama „Brothers“, einem Remake von Susanne Biers gleichnamigem Film. Als gesellschaftliches Abbild spiegelt sich in ihr jener von Patriotismus und aufrechtem Bürgerstolz erfüllte Wertkonservativismus, der die Rollen traditionell verteilt und Harmonie als Anpassung definiert. Mit der möglichen Abweichung davon ist damit zugleich eine Konfliktlinie vorgezeichnet, die in Sheridans Film auf geradezu archetypische Weise zwei ungleiche Brüder in ein antagonistisches Verhältnis setzt. Während der verantwortungsbewusste Familienvater und treue Staatsdiener Sam Cahill (Tobey Maguire) kurz vor seinem nächsten Afghanistan-Einsatz steht, wird sein unsteter, straffällig gewordener Bruder Tommy (Jake Gyllenhaal) aus dem Gefängnis entlassen.

Zementiert wird ihr gegensätzliches Verhältnis noch durch die einseitig gewährte Liebesgunst des Vaters (Sam Shepard), einem zwischen Vaterlandsstolz und verdrängtem Trauma heillos lavierenden Vietnam-Veteran. Als Sam bei einem Hubschrauber-Einsatz abgeschossen wird und danach als tot gilt, verschiebt sich unter Schock und Trauer das labile Familiengefüge: Der Vater-Sohn-Konflikt erreicht allmählich seinen Wendepunkt, die Rollen der Brüder kehren sich um. So beginnt Tommy, sich um die Familie seines Bruders zu kümmern und nähert sich dabei auch emotional seiner hübschen Schwägerin Grace (Natalie Portman) und ihren beiden aufgeweckten Töchtern. Unter veränderten Vorzeichen werden hier das Glück und der Halt in der Familie beschworen.

Doch Trauma und Schmerz kehren zurück, als der tot geglaubte Sam unverhofft gerettet wird. In einer langen Parallelmontage, alternierend zwischen den Ereignissen zu Hause und im Kriegsgebiet, erzählt Jim Sheridan von Sams schrecklicher Verstrickung in Schuld im Angesicht eines drohenden Todes. Wenn er, psychisch versehrt und dem Familienleben entfremdet, seinen Angehörigen begegnet, bleibt diesen sein immer bedrohlicher erscheinendes Verhalten unverständlich. Der diesbezügliche Wissensvorsprung des Zuschauers gegenüber den Figuren steigert noch die konfliktreichen Spannungen, die sich vor allem bei den Familienessen entladen. Sam wiederholt gewissermaßen das Trauma seines Vaters, setzt es unfreiwillig fort und trägt es damit in die Mitte der Gesellschaft. „Ich habe das Ende des Krieges gesehen. Werde ich je wieder leben können?“, fragt der gebrochene, desillusionierte Held am Schluss des Films. Nur in der (mit-)geteilten Erfahrung und dem Eingeständnis der Schuld, so legt uns Sheridan nahe, liegt die Hoffnung auf einen Neubeginn.

Jack in Love

(USA 2010, Regie: Philip Seymour Hoffman)

Positive Vibes
von Wolfgang Nierlin

“Diese Jahreszeit ist wie ein beschissener Auslöser”, heißt es einmal in Philip Seymour Hoffmans Regie-Debüt “Jack in Love” über den New Yorker Winter. Vor der imposanten Wolkenkratzer-Silhouette Manhattans erscheint die …

“Diese Jahreszeit ist wie ein beschissener Auslöser”, heißt es einmal in Philip Seymour Hoffmans Regie-Debüt “Jack in Love” über den New Yorker Winter. Vor der imposanten Wolkenkratzer-Silhouette Manhattans erscheint die Suche nach dem kleinen Glück als gewaltige Aufgabe. Besonders dann, wenn man wie der von Hoffman selbst gespielte Titelheld, ein Junggeselle in mittleren Jahren, irgendwie Angst davor hat. Die „positiven Vibes“ bezieht der Privatchauffeur, der für einen Limousinen-Service arbeitet, aus der Reggae-Musik: „By the Rivers of Babylon“ von den Melodians ist sein ständiger Begleiter. Tatsächlich fehlt dem etwas schwerfällig wirkenden, aber herzensguten Jack eine Frau. Das jedenfalls meinen seine Freunde Clyde (John Ortiz) und Lucy (Daphne Rubin-Vega), die seit langem ein Paar sind und die in wechselnder Hinsicht eine Kontrastfolie bilden. Als mögliche Kandidatin für Jack haben die beiden deshalb Connie (Amy Ryan) ausgesucht, die als Telefonakquisiteurin in einem Bestattungsinstitut arbeitet.

Es sind zwei schrullige Außenseiterfiguren, die in Hoffmans Adaption des Off-Broadway-Theaterstücks „Jack Goes Boating“ von Bob Glaudini langsam, aber sicher zueinander finden. Die Behutsamkeit ihrer Annäherung sowie die vorsichtige Zärtlichkeit ihrer Begegnung korrespondieren dabei mit der entspannten Dramatik und dem lakonischen Tonfall von Hoffmans Inszenierungsstil. Immer wieder dehnt der schauspielernde Regisseur die relativ statische Grundkonstellation seiner Liebesgeschichte durch die beredte Stille zwischen den Sätzen einer ziemlich stockenden Kommunikation. Diese wird von teils skurrilen Geschichten und Dialogen in Schwingung versetzt, deren melancholischer Nachhall im noch Unbestimmten verklingt. „Ich bin noch nicht bereit für eine Penis-Penetrierung“, sagt Connie einmal in ihrem eigentümlich verschrobenen Ernst. Bevor es Frühling wird, muss Jack also noch Schwimmen und Kochen lernen, zwei fast schon ritterliche Aufgaben, die er bravourös absolviert. Aber das ist nur der erzählerische Vorwand für eine längst entschiedene, sympathische Beziehungskomödie, die allerdings nicht nur vom Gelingen, sondern auch vom Scheitern der Liebe handelt.

In einer besseren Welt

(DK / SW 2010, Regie: Susanne Bier)

Moralische Seifenoper
von Harald Mühlbeyer

Anton ist idealistischer Arzt im Flüchtlingslager in Afrika, selbstlos hilft er, ist Freund der Kinder, denen er gleich am Filmanfang einen Fußball schenkt, und er schiebt auch kurz vor Feierabend …

Anton ist idealistischer Arzt im Flüchtlingslager in Afrika, selbstlos hilft er, ist Freund der Kinder, denen er gleich am Filmanfang einen Fußball schenkt, und er schiebt auch kurz vor Feierabend gerne noch eine Notoperation rein. Zuhause in Dänemark läuft’s nicht so gut: seine Frau will sich von ihm trennen, und Sohn Elias ist das Opfer der Rabauken in der Schule.

Christian, 12 Jahre, ist Elias’ einziger Freund, verstört, verschlossen, traumatisiert vom Krebstod der Mutter, entfremdet vom Vater, dem er Schuld gibt; entwurzelt, niemandem zugehörig, in London aufgewachsen und nun in Dänemark, bei der Großmutter, fremd. Und er brütet in sich einen Hass aus, basierend auf Gerechtigkeitsgefühl und Rache.

An diesen beiden Figuren als gegenüberliegenden Polen führt Susanne Bier ihren Diskurs um Gewalt, um den Umgang mit Brutalos, um Friedfertigkeit und gerechtfertigte Vergeltung. Hat Anton Recht, der den Armen selbstlos hilft, auch wenn zuhause, im persönlichen Umfeld, vieles im Argen liegt? Der rechte, linke und nochmals die rechte Backe hinhält, um das Böse an sich selbst scheitern zu lassen? Oder Christian, der sich auflehnt gegen das, was ihm nicht passt, der sich damit aber mit seinen Feinden gemein macht? Wenn Anton vor den Augen der Kinder von einem idiotischen Schläger geohrfeigt wird, ihm aber angstlos gegenübersteht: ist er dann tatsächlich der Sieger, wenn der andere in seiner körperlichen Überlegenheit seine moralische Niederlage gar nicht bemerkt? Oder ist es OK, wenn Christian den Schulsadisten brutal vermöbelt und dafür künftig aus Respekt in Ruhe gelassen wird; wenn er aber dabei cholerisch überreagiert, seinen eigenen inneren Frust rausprügelt und auch noch ein Messer benutzt? Wenn jeder gleich zurückprügeln würde: in was für einer Welt würden wir dann leben? In einer kriegerischen und brutalen, oder in einer, in der sich keiner mehr mucken würde?

Bier hat eine Versuchsanordnung erstellt, künstlich kontrastiv komponiert: verschiedene Weltanschauungen werden gegenübergestellt, scharf und fast schablonenhaft gezeichnet; dazwischen Grauschattierungen wie Christians Vater, der nicht mit dem Sohn klarkommt, oder Elias’ Mutter, die mitunter ihre Contenance verliert. Als Antagonisten, an denen sich die Konzepte zwischen Ertragen und Zurückschlagen brechen, dienen die Brutalos: fiese Mitschüler, oder der aggressive Arsch, der auf dem Spielplatz Anton attackiert, oder in Afrika der sadistische Milizführer, ein Psychopath, der Schwangeren die Leiber aufschlitzt und die Föten herausreißt, aus Spaß. Der dann verwundet bei Anton um Behandlung ersucht, im Bewusstsein seiner Macht über Leben und Tod.

Aus einer moralischen Diskussion um ethische Positionen und den daraus resultierenden Verhaltensweisen kann man einen guten Film machen. Bier ist das nicht gelungen. Denn sie verlässt sich nicht auf die Bebilderung eines Diskurses, darauf, ihn in eine parabelhafte Geschichte zu gießen. Zu sehr stützt sie sich auf Klischees, und vor allem gegen Ende – also in der letzten halben Stunde des Films – gerät sie in sentimental-melodramatische Fahrwasser, was besonders fatal ist, weil sie ihre funktionellen Figuren als volle, emotionale Charaktere begreift und daraus kaum mehr als eine soap opera formt. Sie treibt sie in dramatische Verstrickungen um Missverständnisse und Schuldzuweisungen – etwa als der verstockte, innerlich angespannte und wütende Christian Feuerwerkskörper findet, aus denen sich prima Bomben basteln lassen. Figurengewordene Diskussionsbeiträge, Thesen und Antithesen gerinnen zu stereotypen Handlungsträgern, die Erörterung moralischer Fragen wird zum sentimentalen Spiel auf der Klaviatur der Gefühle. Und die Klischees feiern fröhliche Urständ, wenn Bier ihre antithetische Konstruktion als dramatisch-emotionalen Konflikt missversteht.

Das Lied in mir

(D / AR 2009, Regie: Florian Cossen)

Spuren in eine dunkle Vergangenheit
von Wolfgang Nierlin

„The day I wasn’t born“, lautet der englischsprachige Titel von Florian Cossens Debütfilm „Das Lied in mir“. Nimmt man zu diesen beiden Titeln noch den Slogan „Buenos Aires is waiting …

„The day I wasn’t born“, lautet der englischsprachige Titel von Florian Cossens Debütfilm „Das Lied in mir“. Nimmt man zu diesen beiden Titeln noch den Slogan „Buenos Aires is waiting for you“ hinzu, der überdeutlich auf einer Reklametafel im Flughafengebäude der argentinischen Metropole prangt, so sind die wesentlichsten Motive dieser leicht melancholischen Selbstfindungsgeschichte bereits genannt. Denn als die Schwimmerin Maria Falkenmeyer (Jessica Schwarz) an besagtem Ort auf ihren Anschlussflug nach Chile wartet, hört sie ein spanischsprachiges Kinderlied, das unbewusste Erinnerungen bei ihr auslöst und sie in der Folge auf schmerzliche Weise mit ihrer unbekannten Kindheit in Kontakt bringt. Am Beginn der Suche nach ihrer wahren Identität verliert Maria symbolträchtig ihren Pass. Wenn sie dann später ihren Kinderausweis in Händen hält, findet sie sich mit einem abweichenden Geburtsdatum konfrontiert.

Marias beunruhigter, herbeigeeilter Vater Anton (Michael Gwisdek) klärt sie zögerlich und schuldbewusst auf: Er habe sie adoptiert, ihre leiblichen Eltern stammten aus Argentinien und seien während der Militärdiktatur verschleppt und vermutlich getötet worden. Doch mit diesem unfreiwilligen Geständnis ist ihr Adoptivvater noch nicht entlastet; vielmehr unternimmt Maria eine Spurensuche in eine dunkle Vergangenheit, auf der sie von dem liebenswerten Polizisten Alejandro (Rafael Ferro) begleitet wird. Dabei lernt sie ihre wahre – sehr authentisch dargestellte – Familie kennen und entdeckt allmählich das Geheimnis ihrer Herkunft, das wiederum ihr Verhältnis zu Anton nachdrücklich verändern wird.

Florian Cossen erzählt diese Identitätsgeschichte, an deren Ende die Vergebung stärker ist als die Anklage, im Kontrast zu jener gesellschaftlichen Verdrängung der Geschichte, die den Opfern die Bearbeitung ihres Traumas verwehrt. Dabei versetzt er seine Heldin auch räumlich in einen Großstadtdschungel, dessen Bilder bereits im Vorspann wie eine bewegte Wasseroberfläche immer wieder ins Undeutliche verschwimmen. Wahrheit und Lüge, Gegenwart und Vergangenheit wechseln permanent, was Coosen durch kleine Verschiebungen in der zeitlichen Chronologie noch akzentuiert. Leider verzichtet er andererseits an einigen prägnanten Stellen auf erzählerische Konzentration, um stattdessen gefühlige Stimmungsbilder zu inszenieren.

127 Hours

(USA / GB 2010, Regie: Danny Bolye)

Vom wahren Wert des Lebens
von Wolfgang Nierlin

Die Kontraste wirken hart in Danny Boyles neuem Film „127 Hours“, der nach wahren Begebenheiten entstand. Im Vorspann parallelisiert eine dreigeteilte Leinwand den Einzelnen und die Gemeinschaft, die Hektik des …

Die Kontraste wirken hart in Danny Boyles neuem Film „127 Hours“, der nach wahren Begebenheiten entstand. Im Vorspann parallelisiert eine dreigeteilte Leinwand den Einzelnen und die Gemeinschaft, die Hektik des Großstadtlebens und das langsame Verrinnen der Zeit. Mit dem abenteuerlustigen Outdoor-Freak Aron Ralston (James Franco), der an einem Aprilwochenende des Jahres 2003 zu einer Klettertour in den Canyonlands National Park von Utah loszieht, wird die Dynamik eines euphorischen Aufbruchs in eine weite, überwältigend schöne Landschaft jenseits der Stadt versetzt. Der 28-jährige Aron, ein geübter Mountainbiker und Kletterer, ist ein übermütiger Draufgänger mit Eroberer-Mentalität, ein witziger Kerl, der einen harten Sturz mit einem lächelnden „Ups!“ wegsteckt. Waghalsig und siegessicher ist der Einzelgänger auf Rekorde aus. Bis er plötzlich in einem schicksalhaften Moment schwerwiegend verunglückt.

Dieser Unfall im Blue John Canyon, wo ein großer schwerer Felsbrocken Arons rechten Unterarm gnadenlos fixiert, ist nicht als Strafe für eine allzu unbekümmerte Spaßhaltung zu verstehen. Vielmehr nutzt Danny Boyle die ebenso fatale wie hilflose Situation seines Helden, um von „der plötzlichen Einsicht in den wahren Wert des Lebens“, so der Regisseur, zu erzählen. Denn im Zustand der Bewegungslosigkeit, die einen abrupten Bruch zur schwungvollen, von schnellen Beats begleiteten Action des Unterwegsseins markiert, gehen Arons Erinnerungen auf Reisen. Und sie imaginieren jene geliebten Menschen, zu denen er plötzlich eine neue, verändernde Verbundenheit fühlt und an die er einen vielleicht letzten Videogruß adressiert.

Denn Arons Lage erscheint aussichtslos: Sein Wasservorrat ist knapp bemessen, sein Handy hat er nicht eingesteckt und keiner weiß, wo er ist; was Boyle an mehreren Stellen als tragische Ironie oder auch als blinden Zufall inszeniert. Tatsächlich ist der junge Mann mit dem großen Freiheitsdrang auf fast absurde Weise inmitten der Weite gefangen und verloren. Die Natur ist gleichgültig und das Leben geht anderswo einfach weiter, was die Kondensstreifen der Flugzeuge am Himmel, die Sonnenstrahlen der aufgehenden Sonne oder auch der täglich über die Canyon-Spalte fliegende Rabe signalisieren. Schließlich, nach den titelgebenden 127 Stunden, fasst Aron mit dem Mut absoluter Verzweiflung einen folgenschweren Entschluss und amputiert sich die Hand. Doch Boyles spannender, virtuos gestalteter Film zielt nicht auf die Glorifizierung dieses heldenhaften, schier übermenschlichen Überlebenskampfes, sondern – als eine Art zweite Geburt – auf einen neuen Zugang zum Leben.

Good Food Bad Food – Anleitung für eine bessere Landwirtschaft

(F 2010, Regie: Coline Serreau)

Gegen die tote Erde
von Wolfgang Nierlin

Ganz nahe kommen uns die Tiere, vornehmlich Schweine mit ihren Schnauzen und Borsten, in den ersten Bildern von Coline Serreaus Dokumentarfilm „Good Food Bad Food”. Das aus diesem Titel sprechende, …

Ganz nahe kommen uns die Tiere, vornehmlich Schweine mit ihren Schnauzen und Borsten, in den ersten Bildern von Coline Serreaus Dokumentarfilm „Good Food Bad Food”. Das aus diesem Titel sprechende, enorm vielschichtige Thema, seine existentielle Bedeutung und universelle Wirkung, geht uns alle an. Entsprechend engagiert und parteiisch montiert die streitbare französische Filmemacherin ihr reichhaltiges Material zu einer wachrüttelnden Tour de force durch das verzweigte Feld der Nahrungsmittelherstellung. Dazu liefern alternative Bauern, Pioniere der ökologischen Landwirtschaft, Agrarwissenschaftler und Mikrobiologen aufklärende Hintergrundinformationen, deren Gleichklang zwar einerseits eine gewisse Redundanz erzeugt, andererseits aber auch ein sich stabilisierendes Gefühl der Dringlichkeit. Diese Überdosierung bewirkt, dass die politische Botschaft ankommt, auch wenn die ausgesuchten Bildbelege mitunter etwas plakativ geraten sind.

Während Referenzfilme wie Erwin Wagenhofers „We feed the world“ und Nikolaus Geyrhalters „Unser täglich Brot“ auf teils kritische, teils ästhetisierende Weise die perverse Praxis industrieller, profitmaximierter Lebensmittelproduktion zeigen, nimmt Serreau diesen zerstörerischen Tatbestand zum Anlass, um Alternativen vorzustellen. Die „Akteure des Wandels“ findet sie in Frankreich und Marokko, in Indien, Brasilien und der Ukraine. Einig sind sich die Fachleute und Aktivisten in ihrer kritischen Analyse der so genannten „grünen Revolution“, die zu toten Böden, einem Verlust der Artenvielfalt, zu finanzieller Abhängigkeit, zunehmendem Hunger und einem Verschwinden des Bauerntums geführt habe. Wo statt Nahrungsmittel Waren hergestellt werden, sind die Lebensgrundlagen bedroht. Die hohe Selbstmordrate unter indischen Bauern und die alarmierenden Abtreibungszahlen weiblicher Embryos auf dem Subkontinent veranlassen die Experten gar dazu, von „Suizidwirtschaft“ und „Völkermord“ zu sprechen.

Für Coline Serreau sind kapitalistische Wachstumsideologie, männliche Naturzerstörung und globalisierter Warenverkehr „die Folge eines Gesellschaftsmodells, das die Ausbeutung, die Plünderung und den Profit höher bewertet als die wahren Kräfte des Lebens.“ Dagegen setzt sie das Wissen und die Lösungsvorschläge von Menschen, die die Techniken der Landwirtschaft als natürlich und zeitlos begreifen und die deshalb die Bodenbiologie sowie die Bewahrung respektive Rückgewinnung der Saatenvielfalt ins Zentrum ihrer Aktivitäten stellen. Dieser Ansatz wiederum ist verknüpft mit der Entwicklung lokaler Strukturen und einer autonomen Nahrungsversorgung, wie Projekte in Indien und Brasilien zeigen. Trotz einer beklemmenden, Wut erzeugenden Realität, die in den vielen Statements als Kontrastfolie fungiert, hofft Coline Serrau am Ende ihres anregenden Films auf einen Paradigmenwechsel für die Zukunft.

Howl – Das Geheul

(USA 2010, Regie: Robert Epstein, Jeffrey Friedman)

„Im tierischen Sumpf der Zeit“
von Wolfgang Nierlin

„Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn, ausgemergelt hysterisch nackt, wie sie sich im Morgengrauen durch die Negerviertel schleppten auf der Suche nach einer wütenden Spritze…“ Mit …

„Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn, ausgemergelt hysterisch nackt, wie sie sich im Morgengrauen durch die Negerviertel schleppten auf der Suche nach einer wütenden Spritze…“

Mit diesen Anfangszeilen aus Allen Ginsbergs berühmtem Langgedicht „Howl“ (Das Geheul) beginnen die beiden Filmemacher Rob Epstein und Jeffrey Friedman ihren gleichnamigen dokumentarischen Spielfilm über den hymnischen Schlüsseltext der Beat Generation und über den Prozess, der auf seine Veröffentlichung folgte. Ginsbergs Lesung in der Six Gallery in San Francisco vom 7. Oktober 1955, in Schwarzweiß nachgestellt mit dem Schauspieler James Franco, bildet dabei den roten Faden in dem mehrgliedrigen Film und zugleich die Grundlage für eine überwiegend illustrierende Animation des Gedichts. In grellen Farben, phantasievoll und verspielt, taucht diese ein in den „tierischen Sumpf der Zeit“ und den Wahnsinn der amerikanischen Gesellschaft, flankiert von Jazz und Drogen, Rausch und Ekstase.

Als der Verleger Lawrence Ferlinghetti zwei Jahre später Ginsbergs Werk in seinem Verlag City Lights Books veröffentlicht, kommt es zum Prozess. Die teils drastische Sprache empfinden die Ankläger als obszön, die beziehungsreichen Anspielungen sind ihnen unverständlich und die wüsten Szenen aus den Randbezirken der Gesellschaft kollidieren mit ihrem strengen Moral- und Sittenkodex. So gerät die Literatur in ein Kreuzverhör, das die beiden Filmemacher aus den Gerichtsprotokollen rekonstruiert haben und geschickt mit der Lesung verschränken. Das mitunter paradoxe und haarspalterische Ringen um einzelne Worte und Formulierungen und damit um den literarischen Wert des Textes oder auch um den Wert der Literatur gerät dabei besonders eindrücklich. Das damals überraschende, von der Zeit längst bestätigte Urteil des Richters wiederum stellt schließlich die Subjektivität des Künstlers und die Freiheit der Rede über die Zensur.

Ginsbergs künstlerische Biographie, die eng verknüpft ist mit der Erfahrung des Andersseins als Homosexueller, thematisieren Epstein und Friedman schließlich in einem vierten Handlungsstrang, einer ausführlichen Selbstauskunft des Dichters, die aus verschiedenen Interviews kompiliert ist. Darin berichtet Ginsberg zum einen von seiner schwierigen Loslösung vom bürgerlichen Leben, an der seine Freunde Jack Kerouac, Neal Cassady und Peter Orlovsky, aber auch eine Psychotherapie maßgeblichen Anteil hatten; zum anderen von seiner Homosexualität und einem mehrmonatigen Aufenthalt in der Psychiatrie, wo er jenen Carl Salomon kennen lernt, dem „Howl“ gewidmet ist. So reflektiert der Film durch die Perspektive von Ginsbergs Erinnerungen immer wieder die persönlichen, teils unbewussten Anlässe des Gedichts sowie die wesentlichen Überzeugungen eines Schreibens, das Ginsberg im Idealfall als „meditative Übung“ versteht und das radikal dem eigenen Lebensstoff verpflichtet ist.

Eine weitere Kritik finden Sie unter diesem Link.

Unser täglich Brot

(A 2005, Regie: Nikolaus Geyrhalter)

Faszination und Schrecken
von Wolfgang Nierlin

„Produktion und Essen sind wie zwei getrennte Universen“, sagt der Wiener Dokumentarfilmregisseur Nikolaus Geyrhalter. Sein vielfach ausgezeichneter Film „Unser täglich Brot“ zeigt deshalb die Lebensmittelindustrie als eine fast unwirklich erscheinende …

„Produktion und Essen sind wie zwei getrennte Universen“, sagt der Wiener Dokumentarfilmregisseur Nikolaus Geyrhalter. Sein vielfach ausgezeichneter Film „Unser täglich Brot“ zeigt deshalb die Lebensmittelindustrie als eine fast unwirklich erscheinende Parallelwelt: ein geschlossenes System, wo das Alltägliche und Naheliegende ins Verborgene abgerückt ist. Dieser Abstand markiert einen beunruhigenden Grad der Entfremdung des Menschen von seiner Nahrung und macht zugleich seine Verdrängungsleistung sichtbar. Geyrhalters filmische Bestandsaufnahme ist insofern der nüchterne Versuch, ein möglichst sachliches Bild dieser weitgehend unbekannten Produktionszone für die Nachwelt zu speichern. Daneben geht es ihm aber auch darum, beim Zuschauer das Bewusstsein für die Herkunft von Nahrungsmitteln zu wecken.

Minutenlang blickt die Kamera in unbewegten Einstellungen und dabei oft in der Totalen auf riesige Obst- und Gemüseplantagen, in Gewächshäuser und Aufzuchthallen, auf Getreidefelder und in automatisierte Schlachtbetriebe. Sie begibt sich in das Innere eines Schweinetransporters, in Labors und Steuerungszentralen. Sie blickt in kalte, technifizierte Fabrikhallen, auf Fließbänder und überdimensionale Arbeitsgeräte. Kein Kommentar begleitet den Wechsel der Bilder, die sich gefühllos aneinander reihen und in denen der Bildinhalt, verloren im Raum, zu einer manchmal fast abstrakten Größe wird. Hinter den gewaltigen Ausmaßen lauert eine anonyme Macht, die sich längst verselbständigt hat. So liegen auch in Geyrhalters Film Schrecken und Faszination nahe, mitunter vielleicht zu nahe beieinander. Der Blick des Filmemachers, seine mitleidlose Totalität, ist selbst machtvoll; und die erlesene, distanzierte Fotografie im Verbund mit einem getragenen Rhythmus, verlängert die abgerückte, kalte Rationalität ins quasi Objektive.

Dass „Unser täglich Brot“ trotzdem nicht einfach konsumierbar ist, liegt am Sujet. Wie schon „We feed the world“ von Erwin Wagenhofer zeigt auch Nikolaus Geyrhalters Film Pflanzen und Tiere als entindividualisiertes Material in einem standardisierten, wirtschaftlich optimierten Herstellungs- und Verwertungsprozess, der sich bezeichnenderweise in der Arbeit selbst widerspiegelt. Ständiger Überwachung und Kontrolle unterworfen, zählen bei der maschinellen Verarbeitung des Lebendigen, gemessen am Profit, allein die Kriterien der Effizienz. Und es sieht nicht danach aus, als gäbe es einen Weg zurück.

We feed the World – Essen global

(A 2005, Regie: Erwin Wagenhofer )

Zurichtung der Natur
von Wolfgang Nierlin

Den einleitenden Bildern wogender Getreidefelder sieht man den Verlust der Unschuld nicht an. Ein österreichischer Bauer, vor seinem Mähdrescher positioniert, sagt: Seit dem EU-Beitritt seines Landes gebe es ein Viertel …

Den einleitenden Bildern wogender Getreidefelder sieht man den Verlust der Unschuld nicht an. Ein österreichischer Bauer, vor seinem Mähdrescher positioniert, sagt: Seit dem EU-Beitritt seines Landes gebe es ein Viertel weniger Landwirte; er habe den 12 Hektar-Betrieb seines Vaters versechsfachen müssen, um den gleichen Lebensstandard zu halten; Weizen sei heutzutage so billig wie Streusplitt; und jeder Bauer müsse 10 Prozent seines Ackerlandes brach liegen lassen, was finanziell gefördert werde. Der Werteverlust, den Erwin Wagenhofer in der Exposition seines Dokumentarfilms „We feed the world“ andeutet, hat mehrere Gesichter: Immer weniger Landwirte mit immer größeren, von Monokulturen dominierten Anbauflächen produzieren Überschüsse und verdienen daran immer weniger. Dann sieht man Brotberge so genannter „Retourware“, die in einer Großstadt wie Wien dem Tagesverbrauch in Graz entspricht und sich im Jahr auf 2 Millionen Kilo summiert.

Wenn Jean Ziegler, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, darauf hinweist, dass im Bankenland Schweiz das Getreide aus Indien importiert werde, wo viele Menschen an Hunger leiden, werden die Widersprüche der Globalisierung anschaulich. Wagenhofers beeindruckender Film betreibt aber keine Ursachenforschung dazu und ist auch keine Hintergrundrecherche über weltwirtschaftliche Verflechtungen, obwohl der Zusammenhang zwischen kapitalistischer Profitmaximierung und Armut eine Grundthese bildet. Vielmehr ähnelt seine Dokumentation einer phänomenologischen Studie, die in genau komponierten Bildern Veränderungen sichtbar macht, letztlich diese als Entfremdung und Verlust beschreibt. Wagenhofer verzichtet auf einen Kommentar und lässt stattdessen Beteiligte und Betroffene zu Wort kommen. Die Zusammenhänge liegen deshalb zum einen im Nebeneinander der Stimmen, zum anderen resultieren sie aus dem Verlauf einer behutsamen Annäherung.

Diese vollzieht sich, sieben Kapiteln entsprechend, an sieben Orten der Welt. Sie beginnt mit einem bretonischen Fischer, der von der „Genauigkeit der Natur“ spricht und dessen Wissen über nachhaltigen Fischfang, geht es nach der EU, bald nur noch eine Berechnungsgröße für die wirtschaftlich effizientere, ökologisch aber zerstörerische Industriefischerei sein soll. In Südspanien, der nächsten Station, blickt die Kamera aus der Vogelperspektive auf das „Wunder von Almeria“: In der Hochburg der europäischen Gemüseproduktion erstrecken sich auf einer Fläche von 95.000 Hektar Gewächshäuser, in denen künstlich bewässerte Pflanzen in einem Steinwollsubstrat stecken und, von 3000 Sonnenstunden im Jahr begünstigt, eine wirtschaftlich optimierte, geschmacklich aber standardisierte Nahrung erzeugen, deren Export andernorts das Bauerntum ruiniert.

Der Saatgutkonzern „Pioneer“ wiederum, der im Billiglohnland Rumänien Hybridsamen für Soja entwickelt, kollidiert dabei mit einer fast noch archaischen bäuerlichen Gegenwelt, deren allmähliches Verschwinden einer Zurichtung der Natur Platz machen muss. Dieser destruktiven Logik folgt auch die Urwaldrodung im brasilianischen Mato Grosso, wo Soja für die Masttierzüchtung in Europa angebaut wird. Eine solche Zuchtfabrik für Geflügel befindet sich in der Steiermark: „Lebende Ware“ sagt der Fachmann zu diesen traurigen Geschöpfen, deren trostloses Dasein der Film von der Befruchtung bis zur Schlachtung in einer bewegenden Montage verdichtet. Leben und Sterben auf einem Fließband: „Stückzahl“ 50.000 pro Tag.

The Green Wave

(D 2010, Regie: Ali Samadi Ahadi)

Einladung zur Empörung
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Festivalfilm über die Stimmung in Teheran vor und nach den Präsidentschaftswahlen 2009. Massen auf den Plätzen, grün dominiert, Hoffnung auf die Wende, auf Reformen. Euphorie! Dann der Abfall. Depression, …

Der Festivalfilm über die Stimmung in Teheran vor und nach den Präsidentschaftswahlen 2009. Massen auf den Plätzen, grün dominiert, Hoffnung auf die Wende, auf Reformen. Euphorie! Dann der Abfall. Depression, Frust, Terror. Ahmadineschad wird zum Sieger erklärt, 69 Prozent, angeblich. Es ist schlimmer als zuvor.

Der Film fügt den bekannten News nichts Neues hinzu. Er hat einen anderen Fokus. Im Blick sind die Betroffenen mit ihren Handys. Iran, blogger nation. So gibt es Hunderttausende von Zeitzeugen, die die große Euphorie und dann die große Frustration dokumentiert haben. „The Green Wave' ist ein Film der Emotionalisierung, des jähen Stimmungsumschwungs, des verhängnisvollen Rückschlags.

Regisseur Ali Samadi Ahadi, eigentlich ein Meister der Stimmungsmache, Tschuldigung, die Stimmung im Lande zu spüren, zu gestalten und filmische Formen dafür zu finden („Salami Aleikum“ = Bollywood im VEB Textile Freuden, Niederoberwalde), hat in „The Green Wave“ des Guten zu viel getan. Von 1.500 Seiten blogs habe er 15 ausgewählt, sagt er, und die zu sehen, weckt Beteiligung und Gefühl genug. Soweit sind wir in einem Dokumentarfilm. Ahadi wollte jedoch einen Spielfilm machen, und das ist ihm ja auch gelungen. Aber, so ist meine Meinung, auf Kosten des authentischen Materials. Denn versetzt sind die originalen, eher unscharfen Handyaufnahmen mit reenactments: mit Szenen, vorzüglich fotografiert, die von Schauspielern nachgestellt sind. Und das ist nicht alles. Um die Spielfilmdramaturgie zu wahren, werden die reenactments und die originalen Zeugnisse auf zwei Personen projiziert, fiktive Studenten, die den Film hindurch die Hauptdarsteller abgeben. Dieses Studipaar sagt zwar sehr wahre Worte, die aber als Worthülsen funktionieren wie Sprechblasen im Comic. Die Studenten sind Animationen. Den Film hindurch werden sie zu einer Zeichen-Struktur, übrigens einer sehr guten im Stil von „Waltz with Bashir“.

Kommen wir ihnen näher? Eher nicht. Dass man sich nicht recht auf sie einlassen kann, mag auch daran liegen, dass die verschiedenen Strukturen des Films hippelig und überschnell geschnitten sind. Man könnte sagen, das schafft Distanz und schont die Wahrnehmung, womit allerdings das Doku-Entertainment umschrieben ist.

Ich bitte nochmals um Entschuldigung. Es bleibt der Sache nach genug, sich über die Repression in Teheran zu empören, über Gewalt, Folter und Mord im Namen der Religion. Einige eingestreute Professorenstatements weisen die Richtung. Das ist eine Empörung, die uns angeht, den Westen, der die aufbegehrenden Massen, die Studenten und Hauptstadtbewohner, 2009 allein gelassen hat, im Blick nur die Ölversorgung, nicht aber die Menschenrechte im Iran. Korrekt. Aber. Wird die Botschaft nicht durch die Häppchenkollage entschärft? Ich konnte sie nicht mehr hören, die Begleitmusik, Geige und Klavier, die die großen Gefühle des Films verniedlicht. Die Musik verantwortet Ali N. Askin. In „Salami Aleikum“ hatte ich seine Musik geliebt… – Genug genörgelt. „The Green Wave“ wird schließlich im Gewand, das er hat, als Festivalfilm wahrgenommen (Hamburg, Sundance, Amsterdam). Ich wünsche ihm auf Leinwand und Monitor alles Gute.

Drive Angry 3D

(USA 2011, Regie: Patrick Lussier)

Film Stupid
von Harald Steinwender

Nicolas Cage braucht Geld. Viel Geld. Anders lässt es sich kaum erklären, dass der mittlerweile 47-jährige Schauspieler in den letzten Jahren nicht nur omnipräsent im Kino ist, sondern, abgesehen von …

Nicolas Cage braucht Geld. Viel Geld. Anders lässt es sich kaum erklären, dass der mittlerweile 47-jährige Schauspieler in den letzten Jahren nicht nur omnipräsent im Kino ist, sondern, abgesehen von Ausnahmen wie „Bad Lieutenant – Port of Call New Orleans“ (2009; Werner Herzog) und dem poppig-verspielten „Kick-Ass“ (2010; Matthew Vaughn), fast durchgehend in Filmen auftritt, die stupend blöde sind. Filme wie „Season of the Witch“ („Der letzte Tempelritter“; Dominic Sena, 2011), „The Sorcerer’s Apprentice“ („Duell der Magier“; 2010; Jon Turteltaub) und das überflüssige „The Wicker Man“-Remake von Neil LaBute (2006) sind bestenfalls überflüssig, in der Regel aber eine Beleidigung des Publikums. Dabei hatte alles so gut angefangen: mit Filmen wie „Rumble Fish“ (1983) und „Cotton Club“ (1984) von seinem Onkel Francis Ford Coppola, „Birdy“ (1984) von Alan Parker, „Raising Arizona“ („Arizona Junior“; 1987) von den Coen-Brüdern und „Wild at Heart“ (1990) von David Lynch. Irgendwann kamen dann die beiden Über-Hollywood-Produzenten Don Simpson and Jerry Bruckheimer und Filme wie „The Rock“ (1996; Michael Bay) und „Con Air“ (1997; Simon West). Und Cage wurde vom Actor zum Overactor zur Comicfigur. Dabei war sein zappeliges Überagieren zumindest in den Filmen von John Woo („Face/Off“ / „Im Körper des Feindes“; 1997) und Brian De Palma („Snake Eyes“ / „Spiel auf Zeit“; 1998), die gewissermaßen die „barocke“ Phase von Cages Karriere markieren, durchaus unterhaltsam. In „Drive Angry“ von Patrick Lussier ist nicht einmal mehr das überkandidelte Spiel geblieben. Mit stumpfen Augen, schleppendem Gang und exakt einem Gesichtsausdruck scheint Cage völlig erstarrt zu sein. Desinteressiert stapft er durch den lustlos hingeklatschten Film.

Dabei verspricht der irrwitzige Plot zunächst einmal ganz großes Kino: Cage spielt Milton, einen Autonarren, der aus der Hölle geflohen und auf Rache aus ist, denn die Sekte des durchgeknallten Satanisten Jonah King (Billy Burke) hat seine Tochter ermordet (der Verweis auf Miltons Paradise Lost ist der einzige gelungene Witz des Films). Aber nicht nur das: Nun hat King auch noch Miltons Enkelin entführt, um diese beim nächsten Vollmond zu opfern, um den Satan höchstpersönlich auf die Erde zu holen. Bei dem Versuch, das Kleinkind aus den Klauen der Sekte zu retten, stehen unserem verbitterten Helden eine umtriebige Kellnerin (Amber Heard) zur Seite, die sich die Drehbuchautoren ausgedacht haben, um ein wenig nackte Haut in den Film zu bringen, und ein getunter 71er Challenger. Damit fährt Milton seine Gegner über den Haufen, wenn nicht gerade eine Schusswaffe zur Hand ist. Einen gewissen „Buchhalter“ (William Fichtner) gibt es auch noch, der sich parallel zu Milton durch den Film metzelt. Wer jetzt den Eindruck bekommen hat, dass der Plot reichlich konfus ist, hat völlig Recht.

Für einen solchen Stoff bräuchte es einen Robert Rodriguez, der Trash nicht nur verehrt und willens ist, sein Publikum rücksichtslos damit zu traktieren, sondern sich mit aufrichtiger Liebe die alten Versatzstücke aneignet, aus deren Material etwas Neues formt und sichtlich Spaß dabei hat. Patrick Lussier dagegen ist nur ein schlechter Handwerker, der sein Publikum verachtet. Nichts stimmt an „Drive Angry“: nicht das 3D, das kein Gefühl von Raumtiefe erzeugt, zum Schielen zwingt und Gegenlicht in irritierende Bildschlieren verwandelt, nicht die billigen Effekte aus dem Rechner, die einen sprichwörtlichen Blick in die Hölle zum schlechten Witz werden lassen, nicht die viele Gewalt, die weder weh tut noch schockiert noch unterhält, auch nicht die bemühten Verweise auf Klassiker wie „The Road Warrior“ („Mad Max 2 – Der Vollstrecker“; 1981) und „Terminator“ (1984), und ganz gewiss nicht das Drehbuch, das so sprunghaft ist, dass man sich wiederholt fragt, ob man nicht trotz all dem Geschepper für einen kurzen Moment eingenickt ist. Von den lustlosen Dialogen, dem Schauspiel, dem Musikeinsatz, dem stumpf-aggressiven Sexismus und der deutschen Synchronisation, die an den berühmt-berüchtigten Rainer Brandt erinnert, sollten wir sowieso schweigen. Das Schlimmste aber ist, dass das Ganze so schlecht ist, das es nicht einmal wieder gut ist. Wenn Cages Milton etwa eine schlampige Kellnerin mit Silikonbrüsten vögelt und dabei nebenher (!) ein Dutzend Gegner in Fetzen schießt, dann ist das für den Regisseur einfach nur die unmittelbarste Möglichkeit, Sex und Gewalt in einer Szene, möglichst in einer Einstellung zusammenzubringen. Und wenn Milton beim Vögeln und Töten von seinen Gegnern schließlich mit einem Elektro-Schocker traktiert wird, sodass die Frau, die unter ihm liegt, nur so zuckt, dann gelingt es Lussier nicht einmal, die Szene mit dem naheliegenden Herrenwitz zu beenden, dass die Frau zum Orgasmus kommt. Womit die Sequenz freilich kein bisschen besser, aber zumindest konsequent zu Ende geführt worden wäre. Aber was will man schon von einem Film erwarten, der in seinen letzten Bildern den Protagonisten buchstäblich auf dem „Highway to Hell“ abfahren lässt und dazu nicht einmal den entsprechenden AC/DC-Song einsetzt?

Mein Kampf

(D / A / CH 2009, Regie: Urs Odermatt)

Jüngelchen Adolf
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Starfilm. Götz George als der Jude Schlomo. Im Obdachlosenasyl Wien 1909/10 nimmt er sich voller Liebe eines verwirrten jungen Mannes an: „Ich liebe ihn, er ist so jung“. Trotz …

Ein Starfilm. Götz George als der Jude Schlomo. Im Obdachlosenasyl Wien 1909/10 nimmt er sich voller Liebe eines verwirrten jungen Mannes an: „Ich liebe ihn, er ist so jung“. Trotz der Tipps des älteren Freundes misslingt die Aufnahme in die Kunstakademie. Was nun? Schlomo: „Du bist ein mieser Schauspieler. Du musst in die Politik gehen.“ Adolf Hitler (Tom Schilling): “Ich will die ganze Welt und England mit seinen Tunten.“ Schlomo schenkt ihm den Titel des Buchs, an dem er schreibt: „Mein Kampf“. Dann geht’s auf Judenjagd. Mit ein paar Fieslingen schießt Adolf auf Judenratten, aber 1910 fertigt er schon eine schöne Skizze vom Arbeit-macht-frei-Tor in Auschwitz an.

Hatte ihn noch grad zuvor sein Wohltäter vorm dramatischen Selbstmord gerettet (Sprung von einer malerischen Hochbrücke), bringt er nun den liebenden Schlomo in den Knast und andere Respektspersonen gleich mit („Ich zeig dich an, du mit deinen Knaben“). Selbst Schlomos Gretchen (Anna Unterberger), die freigiebig zu zeigen der Film nicht müde gewesen war, hat der undankbare Adolf umgedreht. Rassenschande? Mit ihr nicht.

Plot wiedererkannt? Nein? George Tabori ists! Sein Bühnenstück “Mein Kampf“ (immer wieder inszeniert, Anfang 2011 in Frankfurt am Main). Filmproduzent Martin Lehwald gönnerhaft: „Fünfzig Prozent des Originaltextes haben es ins Drehbuch geschafft. Dabei hat die in ihrer Zeit zu bewertende Anarchie der Vorlage gelitten, aber dafür rückten wir der Suggestion näher: Hitlers junge Jahre in Wien hätten so gewesen sein können.“ – Korrekt! Taboris „Anarchie“ wäre allerdings besser mit Groteske und jüdischem Witz zu benennen gewesen. Und genau das hat der Film plattgemacht, denn für diese schillernde jüdische Unart haben Deutschsprechende kein Verständnis. Hitler, der bei Tabori eine Entwicklung durchmacht, ist im Film genmäßig von vornherein böse. Darunter leidet die Plausibilität des Filmstars Götz George. Hallo, was ist denn das jetzt für ein Ding mit dem Jüngelchen Adolf?? Psychologie hatte bei Tabori kaum eine Rolle gespielt. Es ging um Wortwitz und Groteske im Schlafraum des Asylheims. Der Film aber scheut keinen Aufwand, eine witzlose und einfältige Geschichte im realistischen Outdoorlook zu erzählen. Museumseisenbahn. Museumsautos. Mode der zehner Jahre des vorigen Jahrhunderts. Hüte. Hüte. Hüte. Landschaft, Städte (Zittau), Fassaden, die eine oder andere touristisch interessierende Sehenswürdigkeit. Dazu mal aufbrausende, mal entspannende Musik. Klarer Fall von Quotentauglichkeit. Das deutsche, österreichische und schweizer Fernsehen hatten die redaktionelle Oberhoheit.

„Mein Kampf“, der Film, ist die entjudete Fassung von Taboris Theaterstück. Junghitler-Darsteller Tom Schilling fand das vor zwei Jahren auf der Premiere des Films in Graz nicht so prickelnd: „Ich habe eine andere Tonalität gesehen. Was bei Tabori die Groteske ist und die Überhöhung und die Skurrilität und auch teilweise Albernheit, die hat der Film nicht. Ich finde es teilweise schade, dass genau diese Elemente fehlen.“ – Und damit hat Hitler doch recht gehabt.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/2011

Almanya – Willkommen in Deutschland

(DE 2010, Regie: Yasemin Samdereli)

Sarrazinfrei!
von Dietrich Kuhlbrodt

Eine unterhaltsame, humorvolle, skurrile und berührende Gastarbeitersaga. Das Spielfilm-Debüt der Samdereli-Schwestern und, um es gleich zu sagen, das Debüt einer durchgehenden emotionalen Tonalität, deren Fehlen in anderen Versuchen, mit der …

Eine unterhaltsame, humorvolle, skurrile und berührende Gastarbeitersaga. Das Spielfilm-Debüt der Samdereli-Schwestern und, um es gleich zu sagen, das Debüt einer durchgehenden emotionalen Tonalität, deren Fehlen in anderen Versuchen, mit der jüngsten deutschen Geschichte zu spielen, mit diesem Film bewusst wird. Also kein Kostümfilm, keine Studiodialoge, sondern so etwas wie Bodenhaftung und das-Herz-auf-dem-rechten Fleck seit den frühen sechziger Jahren in Anatolien, in denen die ersten Gastarbeiter vom Wirtschaftswunderland angeworben werden (Es sollten bis zum Stopp 1973 vier Millionen werden, aber solche Zahlen sagt der Film nicht. Sowohl Pädagogik als auch Kunstwillen ist ihm fremd. Zu wünschen wäre ihm das große Publikum, das sonst gern auf Kostümfilmdiät gesetzt wird).

Zurück zur Saga. Erste Erfahrungen in der BRD (es spielen deutsche türkischstämmige, TV-Serien-erprobte Darsteller). Ein Blick auf die ausgesprochen befremdenden Verhältnisse (diese ebenso witzige wie entlarvende Perspektive auf dieses unsere Land lohnt allein schon den Gang ins Kino). Stars wie Axel Milberg haben Gast(!)-Auftritte wie diesen zur Einbürgerung: „Verpflichten Sie sich, die deutsche Kultur als Leitkultur zu übernehmen?“ – „Ja“. – „Sehr schön. Das bedeutet, Sie werden Mitglied in einem Schützenverein, essen zweimal die Woche Schweinefleisch, schauen jede Woche Tatort und verbringen jeden zweiten Sommer auf Mallorca.“

Ach ja, die Saga. Die Sippe folgt ins exotisch anmutende, abenteuerlich effektive Wirtschaftswunderland. Eingewöhnung. Einbürgerung (damals sarrazinfrei). Vollintegration der Jüngsten. Integrationsskrupel des Ältesten. Die Sippe rauft sich noch einmal zusammen, um mit dem Großvater in die anatolische Heimat zu fahren. Die Kulturen verhaken sich auch heute auf sehr unterschiedliche Weise, lächerlich, komisch und gemütvoll (endlich passt das altmodisch gewordene Wort wieder, im neuen türkischen Glanz). Danke Türkei! Damit möchte ich schließen. Im Film heißt es: Danke Deutschland! Am Rednerpult der achtjährige Cenk (Rafael Koussouris), und Anschela Merkel applaudiert. – Jaja, die Merkel hat sich integriert in diesen Film. Ist das nicht ein märchenhafter Beitrag zu den laufenden Debatten? Jei!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/2011

Mein Glück

(D / UA / NL 2010, Regie: Sergei Loznitsa)

Was ist Glück?
von Ira Kormannshaus

„Mein Glück“ ist der erste Spielfilm des aktuell wohl bekanntesten russischen Dokumentarfilmregisseurs Sergei Loznitsa. Es geht los mit der Rückkehr der – seit Ende der Sowjetunion im Film fast abwesenden …

„Mein Glück“ ist der erste Spielfilm des aktuell wohl bekanntesten russischen Dokumentarfilmregisseurs Sergei Loznitsa.
Es geht los mit der Rückkehr der – seit Ende der Sowjetunion im Film fast abwesenden – Arbeit (gleichzeitig greift er einen Faden auf, den er mit 'Segodnya my postroim dom' ('Heute bauen wir ein Haus') bewusst verlassen hat). Es beginnt dynamisch mit dem Rühren von Zement. Ein schlafender Arbeiter wird gepackt und in Zement geworfen. Es folgen Zementmischer und per Bagger auf „uns“ zugeschobene Erde. Die Wiederholung ist nicht zufällig.

Nach diesem Prolog geht in einem postindustriellen Setting – nicht unähnlich dem in Tomás Toths 'Dyeti chugunnykh bogov' ('Kinder der gusseisernen Götter') (nach dem Drehbuch des viel zu früh verstorbenen Ausnahmeregisseurs Piotr Lutsik, von dem noch die Rede sein wird) – der Lastwagenfahrer Georgii zu seinem Wagen. Bei seinem kurzen Halt zuhause erfahren wir, dass seine Beziehung auch schon bessere Tage gesehen hat – die Frau wendet sich bei seinem Anblick vom Fenster ab und geht schlafen. Er nimmt sich Proviant und geht auf Fahrt.

Er stößt auf Polizei-Willkür und hat noch Glück, dass die Uniformierten mehr an einer gleichzeitig kontrollierten Person interessiert sind. Unerwartet wird er mit der Vergangenheit in Form eines namenlosen Weltkriegs-Veteranen konfrontiert, der ihn auf Einiges vorbereitet. Seine Fahrt endet im Nirgendwo und ihm ergeht es auch nicht gut.

Ein harter Schnitt und wir sind im Hinterland des Weltkrieges. Eingeführt wird nun das Haus, um das der Film im Weiteren kreist. Nun will uns diese Episode zwar sagen, dass die Gesellschaft sich im fortgesetzten Krieg befindet und nach wie vor der Nationalstolz der Russischen Föderation allein auf dem Sieg über Nazi-Deutschland beruht. Doch bedeutet sie dramaturgisch einen herben Bruch und widerspricht damit fast schon der Grundauffassung des Films.

„Mit den Toten stehen wir im Kampf um den Frieden, Genosse General“, sagt der ziellos umherstreifende Weltkriegsveteran. Er sagt dies in einem Land, in dem der Zweite Weltkrieg nie aufgehört hat, immer weitergeht, weil es keine Zukunft gibt. Im Alten wiederholt sich die Vergangenheit, weil aus ihr nichts gelernt wurde. Er hat sich durchgeschlagen, aber was wird die jetzige Generation machen?

Zurück in der Jetztzeit ist Georgii auf ungeklärte Weise dorthin gelangt, irgendwie ist er der Mann der aktuellen Hausbesitzerin Maria – sie befriedigt sich an ihm, widerspricht aber weder dem ungenierten Gerede über seinen vermutlich bevorstehenden Tod noch freut sie sich, als er nach Hause kommt. Jeder ist eine Insel und alle sind zur Überlebenssicherung mit irgendwelchen mehr oder weniger legalen Geschäften befasst. Die – letztlich ohnmächtige – Polizei begnügt sich damit, willkürlich Lebewesen herauszugreifen und zu schikanieren – das kann dann auch mal der Hund sein. Die Tochter des Polizisten sitzt im Auto und wächst in genau diese kranke Nummer hinein. Es wird darüber gesprochen, dass mal anständige Menschen in diesem Haus gelebt hätten. Maria verkauft es und will an die Autobahn – vermutlich ihr Glück in Moskau suchen.

Zuletzt landet Georgii wieder auf der Station der Verkehrspolizei, nur ist er diesmal nicht Fahrer, sondern Beifahrer. Er hat seine Erfahrungen gemacht und es reicht ihm. Total. Er geht alleine in die Nacht.

Die Erzählhaltung ist gewöhnungsbedürftig – der Film besteht aus nur lose durch LKW-Fahrer zusammengehaltene Episoden, die nicht immer auserzählt sind. Auch übertreiben es einige Darsteller heftig. Die Übersetzung ist mitunter komisch: So wird die im Film zu sehende Landstraße mit ‚Autobahn‘ übersetzt. Das ist verzeihlich, denn im Wesentlichen ist die Übersetzung in Ordnung – und es ist zu sehen, dass es sich nicht um eine Autobahn handelt. Allerdings bestätigen die Synchronsprecher alle Vorurteile gegen Synchronversionen – so hölzern gesprochen wie auf einer schlechten Theaterbühne. Das sollte im Film keinen Platz haben!

Das Porträt einer Gesellschaft, die den Menschen nicht wahrnimmt; in der jeder gegen jeden kämpft und sobald er ein Quäntchen Macht mehr hat, das gnadenlos willkürlich ausnutzt; einer Gesellschaft, die keine Traditionen mehr hat; die normale Menschen ausraubt und vernichtet; einer Gesellschaft auf der Reise ins Ungewisse. Das Personal des Filmes sind gescheiterte Figuren, die mit Liebe und Ruhe gezeigt werden, die nicht als Witzfiguren missbraucht werden. Figuren, zu denen Konstantin Weckers Lied „Willy“ in den Kopf kommt: „Echter sind die schon, Willy, aber ich hab dich gewarnt, aufpassen musst du bei denen, weil das sind Geschlagene und Getretene, und wer dauernd getreten wird, der tritt halt irgendwann einmal zurück.“

Kein optimistisches Bild der postsowjetischen Gesellschaft. Im Gegensatz zu etwa „Okraina“ von Piotr Lutsik, in dem der Feind gesucht werden musste, aber die antisoziale Tat klar auszumachen war, gibt es hier nicht einmal einen Ansatzpunkt. Sergei Loznitsa seziert die russische Gesellschaft mit dokumentarischem Blick und deckt auf, was diese Gesellschaft im Innersten zusammenhält – nichts außer dem Stolz auf den Sieg über den Nazi-Faschismus und den Kampf aller gegen alle.

Poll

(D / A / EE 2010, Regie: Chris Kraus)

Im Zeichen der Vergänglichkeit
von Wolfgang Nierlin

Oda Schaefer, die von 1900 bis 1988 lebte, ist heute eine weitgehend vergessene deutsche Dichterin, eine Naturlyrikerin, die die Nazizeit in der inneren Emigration überstand und mit dem Schriftsteller Horst …

Oda Schaefer, die von 1900 bis 1988 lebte, ist heute eine weitgehend vergessene deutsche Dichterin, eine Naturlyrikerin, die die Nazizeit in der inneren Emigration überstand und mit dem Schriftsteller Horst Lange verheiratet war. Als der Filmregisseur Chris Kraus („Vier Minuten“) in den achtziger Jahren während seines Literaturstudiums in Mannheim auf ihr Werk stößt, weiß er noch nicht, dass die Literatin mit dem Mädchennamen Kraus seine Großtante ist, die wegen ihrer abweichenden politischen Gesinnung im konservativen Klima ihrer deutsch-baltischen Familie als Persona non grata galt. Diese Entdeckung sowie eine Reise zum verfallenen Landgut in Estland ließen in ihm über die Jahre hinweg die Ideen zu dem Film „Poll“ reifen.

Allerdings strebt Kraus mit seinem historischen Drama keine biographische Genauigkeit an. Vielmehr vermischt er in „Poll“ die Tatsachen mit einer fiktionalen Erzählung, die sich auf den Sommer des Jahres 1914 und damit kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges konzentriert und die aus dem Off von seiner Protagonistin erinnert wird. Diese heißt deshalb auch Oda von Siering (Paula Beer), ist so jung wie das Jahrhundert und überführt am Anfang des Films den Leichnam ihrer verstorbenen Mutter auf den titelgebenden Familiensitz an der baltischen Ostseeküste. Dort herrscht ihr tyrannischer, aber auch musisch begabter Vater Ebbo (Edgar Selge), ein Arzt und verrückter Hirnforscher mit zweifelhaftem Ruf, nach alteingesessener aristokratischer Manier über seine Familie und das estnische Personal und genießt dabei noch, aber nicht mehr lange, die Protektion der Russen.

„Alles ändert sich“, heißt es dazu einmal im Film. Aber nicht nur die Zeiten und mit ihnen die politischen Verhältnisse sind damit gemeint, sondern auch die Menschen. Als Determinist und Hirn-Anthropologe, der mit gruseligem Wissensdrang nach dem Sitz des Bösen forscht, verschließt sich Ebbo dieser Erkenntnis. Vertreten und gelebt wird dieser fortschrittliche Gedanke hingegen von seiner hochbegabten, ebenso nachdenklichen wie empfindsamen Tochter Oda (Paula Beer), die sich innerhalb der Familie fremd und allein fühlt und die heimlich den verwundeten Anarchisten „Schnaps“ (Tambet Tuisk) versteckt und pflegt. Chris Kraus entwickelt aus dieser ungleichen Beziehung eine zärtliche Liebesromanze und einen Bildungsroman. Denn Oda entdeckt in dieser Begegnung ihre künstlerische Berufung und erlebt den Durchbruch zu sich selbst.

Chris Kraus verbindet in seinem ambitionierten, manchmal etwas ungelenk und stockend geratenen Ideen-Film diese individuelle Selbstfindungsgeschichte auf melodramatische Weise mit einem Epochen-Wechsel und geizt dabei nicht mit Schauwerten. Dahinter steht wiederum eine aufwendige, um Authentizität und historische Genauigkeit bemühte Produktion, die jedoch das stoffliche Erzählen mitunter hemmt. Neben den politischen Umbrüchen und den Vorboten der Moderne, in denen auf vielfältige Weise die Ahnungen des Kommenden mitschwingen („Die Linien der Geschichte führen direkt in unsere Psyche“, so der Regisseur im Presseheft), inszeniert Chris Kraus in „Poll“ vor allem und fast schon obsessiv ein Leben, das von Leiden und Tod umfangen ist. So rahmt er seinen Film mit Odas Reflexionen über die Vergänglichkeit, in denen sie, angelehnt an ein väterliches Wort, die Erde als einen Ort beschreibt, der keine dauerhafte Bleibe bietet: „Nichts wird von mir bleiben, keines meiner Gefühle wird mich überdauern; es wird sein, als hätte es mich nie gegeben.“

Poll

(D / A / EE 2010, Regie: Chris Kraus)

Historie mit minimaler Story
von Harald Mühlbeyer

130 Minuten: Das ist eindeutig zu viel für diesen Film. Chris Kraus möchte großes Erzählkino schaffen, und großes Kino ist ihm gelungen, was die Bilder, die Ausstattung, die Kostüme, die …

130 Minuten: Das ist eindeutig zu viel für diesen Film. Chris Kraus möchte großes Erzählkino schaffen, und großes Kino ist ihm gelungen, was die Bilder, die Ausstattung, die Kostüme, die Kameraarbeit betrifft. Allein: das Erzählen funktioniert nicht so recht.

Chris Kraus, der zuvor mit fast demselben Team und mit überwältigendem Erfolg „Vier Minuten“ inszeniert hat, geht in „Poll“ recht frei der wahren Geschichte einer seiner Verwandten, der Lyrikerin Oda Schaefer, nach. Oda kommt 1914 als 14jährige auf den titelgebenden Gutshof ihres Vaters, eines deutschen Barons in Estland. Als geschasster Professor betreibt der in seinem Privatlaboratorium anatomische Studien an den Leichen estischer Anarchisten, die von den Russen erschossen und an ihn verkauft wurden. Einen solchen Aufständischen, der ein Massaker überlebt hat, findet Oda, er ist verletzt, allein, sie versteckt ihn, pflegt ihn, versorgt ihn, kümmert sich; und ein bisschen verliebt sie sich in ihn. Und er bringt ihr die Grundlagen literarischen Erzählens bei.

Viel mehr geschieht nicht, die ganze Zeit über. Es gibt eheliche Querelen des Vaters, Odas Bruder soll in russischen Militärdiensten zum Offizier ausgebildet werden; aber diese Nebengeschichten reichen nicht, den Film zu füllen. Immer bleibt das Gefühl, dass irgendwann doch eine Handlung losgehen müsste, ein wirklicher Konflikt, der Spannung erzeugt; doch der versteckte Este bleibt versteckt, Odas Geheimnis ist nie in Gefahr, entdeckt zu werden – eine minimale Story ist das, und das reibt sich irgendwie mit dem großartigen historischen Entwurf, den Kraus auf der visuellen Ebene bietet.

Man hätte aus dem Material viel mehr machen können; hätte mehr Suspense – der über emotionale Entfremdungen hinausgeht – einbauen können, hätte aus den einquartierten russischen Soldaten mehr machen können als reine Staffage, hätte vielleicht gar ein scharfes, pointiertes Zeitbild des Estland in den Tagen vor dem Ersten Weltkrieg zeichnen können, in denen Russen und Deutsche gemeinsam die Esten unterdrückten. Das war eine höchst spannende, höchst angespannte Konstellation verschiedener Völker, verschiedener Interessen damals, doch die vielfältigen politischen, gegnerischen, revolutionären Konflikte aus dieser Situation entfalten sich nie, Politik und Historie laufen dem Familiendrama hinterher.

Einmal wirft der Gutsverwalter dem Baron vor, nicht die Anarchisten, sondern Leute wie er seien der Grund für die kommende Revolution. Ein Gedanke, der wie so viele andere im Film leider nicht weiter verfolgt wird.

The Limits of Control

(USA 2009, Regie: Jim Jarmusch)

Die Filmwirklichkeit expandiert
von Dietrich Kuhlbrodt

Balsam auf die vom Genrekino malträtierte Seele! Und mein allerneuester Lieblingsfilm. Jim Jarmusch („Broken Flowers“) beginnt gleichwohl wie in einem Actionfilm. Die Kamera verfolgt den Helden (Isaach de Bankolé) in …

Balsam auf die vom Genrekino malträtierte Seele! Und mein allerneuester Lieblingsfilm. Jim Jarmusch („Broken Flowers“) beginnt gleichwohl wie in einem Actionfilm. Die Kamera verfolgt den Helden (Isaach de Bankolé) in einem dieser supermodernen Flughafengebäude. Großaufnahmen auf die Stufen der Rolltreppe, glitzernden Scheiben, Blicke auf Leute in der Wartehalle, Anzugträger im Gangsterlook mit weißem Hemd und Schlips, dunkle Sonnenbrillen. Gleich muss es knallen, denke ich. Und genau das ist mein Problem. Die vielen Kameraeinstellungen bauen eben nicht eine Action auf. Sie enden in einem rätselhaften Gespräch mit zwei Wartenden, die unseren Helden, der nichts sagt und im weiteren Verlauf des Films auch nichts sagen wird (ein „no“ vielleicht, nicht mehr), – die ihn also mit philosophischen Weisheiten über Universum, Wirklichkeit und Tod versorgen und das doppelt. Wir hören jeden Satz vom einen auf spanisch, vom anderen auf englisch und verstehen alles, weil der Untertitel ihn zum Dritten auf deutsch bringt. Was will der Autor uns damit sagen? Die beknackte Lehrerfrage ist für den Arsch, weil Jarmusch es hinkriegt, dass ich mir selbst was sage. Spätestens dann, wenn später im Film diese Sätze schön plausibel werden, gewaltig gesungen, die Seele aus dem Leib herausgeschrieen von einem Flamencosänger.

Gut. Sind die vom Mainstreamkino verschuldeten Wahrnehmungszwänge erst mal abgebaut, lebt’s sich in Jarmuschs Film völlig ungeniert. Auch haben wir die Zweckmäßigkeitsarchitektur der Abfertigungshallen längst verlassen und atmen in den Stadt- und Landschaftstotalen Südspaniens auf. Unser schweigsamer Held-mit-dem-unklaren-Auftrag fährt von einem Treffpunkt zum anderen. Von Madrid nach Sevilla und diversen Orten dazwischen. Wer jetzt meint, das könnte ein Roadmovie sein: falsch! Benutzt wird nicht das Auto (den Blick auf das nächste davor gerichtet), sondern der Zug. Entspannt, den Blick auf unendliche Horizonte gerichtet, wenn nicht auf das Universum. Was will der Ort mir sagen? Und nicht: was will ich dem Ort sagen? – Was geschieht, wenn man hinsieht, hinhört, beobachtet? Wahrnehmungserweiterung natürlich. „The Limits of Control“ wirkt wie eine Droge. Nebenwirkung: der Filmkritiker kann die Handlung nicht wiedergeben. Der Filmheld belässt es beim Beobachten. Sex ist nicht drin. Allenfalls mit der schönen nackten Frau was Schönes von Schubert hören. Nebeneinander auf dem Sofa. Die verblüffende Tilda Swinton tritt als verführerische vollblonde Zwanzigjährige auf. Weiter nix.

Was also haben wir davon? Dank expandierter Wahrnehmung kann der gewaltbereite (Staatsstreich-?, Mafia-?)Boss stranguliert werden. Bill Murray röchelt: „Eure Wirklichkeit ist von der Bohéme vergiftet“, dann wird er unwirklich. Und wir finden uns in einer radikal vergrößerten Filmwirklichkeit wieder.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2009

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Hannibal Rising – Wie alles begann

(F / GB / USA 2007, Regie: Peter Webber)

Traumatisiert
von Dietrich Kuhlbrodt

Wollten Sie schon immer wissen, wie Hannibal Lecter („Das Schweigen der Lämmer“, 1990) zu dem wurde, was er geworden ist? Nein? Dann geht’s Ihnen wie mir, und das ist okay, …

Wollten Sie schon immer wissen, wie Hannibal Lecter („Das Schweigen der Lämmer“, 1990) zu dem wurde, was er geworden ist? Nein? Dann geht’s Ihnen wie mir, und das ist okay, denn „Hannibal Rising“, der neue Film, ist zwar vom selben Autor (Thomas Harris), aber im Übrigen bindet ihn nichts an den alten. Aus den Genres des Psychothrillers und des Horrorfilms sind wir raus, auch raus aus den USA. Stattdessen sind wir ganz bei uns, nämlich bei den Deutschen; bei der Waffen-SS 1944 in Litauen; bei uniformierten Kannibalen, die ein kleines Mädchen fressen; und zehn Jahre später bei der Opferjustiz im Allgemeinen und im Besonderen.

Neinnein, das gibt ein schiefes Bild, denn „Hannibal Rising“ ist gepflegtes Drama der europäischen Art, gut durchkomponiert in Bild und Ton, eine zivilisierte Partitur. Regisseur Peter Webber hatte zuvor „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ gedreht, dem holländischen Maler Frans Hals nachempfunden, Europa sank vor diesem Film in die Knie. „Hannibal Rising“ ist komplexer, reicher und gleichzeitig dichter, dicht am Dekorativen meine ich, aber auch dicht an der deutschen Filmgeschichte. Ich sah die Originalfassung, gesprochen wird niveauvolles Oxfordenglisch. Um so signifikanter wird es, wenn die SS-Verbrecher es auf deutsch singen: ein Männlein steht im Walde …, hat ein purpurrotes Mäntlein an … – Am deutschem Reim wird es gelingen, die Täter ausfindig zu machen, – genauso wie 1930 den Kindermörder Peter Lorre in „M“ mit einem ähnlichen Lied. Übrigens schneidet unser Held ein blutiges M in den frisch rasierten Oberkörper des Naziverbrechers. Wir sind in der frühen Nachkriegszeit und bereits dem Charme des jungen Hannibal Lecter erlegen, sym- und psychopathisch wie er ist, gespielt von dem attraktiven Franzosen Gaspard Ulliel (zuletzt in der Gus-van-Sant Episode in „Paris, je t’aime“), seine Selbstjustiz von 1952 entspricht ganz dem Schönheitsideal von 2007.

Wir müssen aber zurück in die Vergangenheit, denn „Hannibal Rising“ beginnt in den letzten Kriegsjahren und erzählt chronologisch, dankenswerterweise ohne Rückblenden oder gar Vorgriffe auf das, was Lämmer verschwiegen. Als, sagen wir, Achtjähriger streift Hannibal, unversehrtes Kind, noch einmal, ein letztes Mal, durch den heilen Wald, der die Burg der jüdischen Aristokratenfamilie umschließt. Seine kleine Schwester, deren Vornamen mit M beginnt, Mischa, hält er an der Hand. Ein Spinnennetz, groß, will uns etwas sagen, wir wissen noch nicht was; ein Steg in den Weiher scheint nicht nur malerisch, sondern Warnung zu sein. Die Bildmotive werden uns durch den Film begleiten. – Die Deutschen lernen litauische SS an. Mit durchschlagendem Erfolg. Schon ist der Kopf des Rabbi abgehackt. Die Eltern sind tot. Die Russen kommen und kümmern sich um die Kinder. Ein Feuer wird gemacht, die Kleinen müssen es warm haben, damit aber sind sie Beute der marodierenden litauischen SS-Leute, die sich auch wärmen wollen, aber außerdem die kleine süße Mischa auffressen.

Acht Jahre später, Paris. Hannibal hat sich zu Gong Li durchgeschlagen, der schönen Single mit Migrationshintergrund (Japan). Sie lehrt ihn aristokratisches Benehmen, wie es nirgends besser als im zivilisierten Frankreich kultiviert wird, plus in diesem Sonderfall die Kunst des Samurai, mit Säbeln zu hantieren. Das Messermotiv führt dann sogleich zu einem ausländerfeindlichen Metzger auf dem Markt, der Gong Li an den Hintern fasst, grinst und fragt, ob ihre Muschi quer ist. Das wiederum führt dazu, dass der Musterstudent Hannibal seine neuen pathologischen Kenntnisse auf dickbäuchige, schmierige Subjekte anwendet, was wir gut verstehen, wenn auch nicht vorbehaltlos billigen können, angesichts der Schneide, die, unten an der Kehle angesetzt, oben aus der Schädeldecke rauskommt. Und es geht auch nicht an, dass Hannibal sich aus seinen Opfern das Leckerste (die Backen) herausbeißt, ganz wie es der kleinen Mischa angetan worden war.

Wir begleiten ihn jetzt auf einem Rachefeldzug. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Wangenfleisch um Wangenfleisch. Und er findet alle, die an den Gräueln in Litauen beteiligt waren. Opferjustiz. Ich sagte es schon. Ist noch was dazu zu sagen? Der Film sagt viel dazu. Es ist sein Thema, und es ist sein Verdienst. Frage: ist diese Selbstjustiz exemplarisch? Gong Li hat ihrerseits ihre Familie verloren. In Hiroshima. Sinnt sie auf Rache? Aber nein; doch die Opfer verstehen einander, sympathisieren, selbst der mitfühlende Zuschauer des Films geht ein ziemliches Stück weit mit. Das lässt sich auch vom französischen Kommissar sagen, der seinerseits Kriegsverbrecher jagt und auf seine Kompetenzen achtet. Wir sind in den frühen fünfziger Jahren, wohlgemerkt. Wie Hannibals Rache in Litauen aussieht oder in Kanada, – egal. Aber in Frankreich: nicht.

„Rising Hannibal“ bringt zur Sprache, warum man die Verfolgung der Justiz nicht überlassen kann. Wo blieben die Verfahren gegen die französischen Gendarmen, die die Juden erfasst und in die Züge nach Auschwitz getrieben haben? Wer steckte Barbie die Namen der Juden, die er vergasen ließ? Wer fand sich damit ab, dass Kriegsverbrecher in Frankreich sogleich wieder in Amt und Würden waren (Bürgermeister)? Oder in Litauen Politfunktionär? – Konsequenz: einer wie Hannibal Lecter muss ran. Der tut was. Wenn auch evtl. zu viel.

Man wird es dem Autor, dem Regisseur, der Produktion (De Laurentiis) hoch anrechnen müssen, mit diesem Film unvermutet und deshalb umso wirkungsvoller ein beschämendes und trauriges Kapitel der Nachkriegsgeschichte aufgeschlagen zu haben, wobei dieses Kapitel keineswegs zu Ende gebracht (bewältigt) wird. – Das Ich-finde-sie-alle des jungen Mannes wird plausibel auf die Schiene des Ich-finde-mich-selbst gesetzt: auf die Erinnerungsarbeit, die ihn vom SS-Trauma befreien und zur Tat ertüchtigen soll.

Sehr zu loben, dass der tiefenanalytische Ansatz sogleich vom Hiroshima-Opfer Gong Li in Frage gestellt wird – ganz auf das Messermotiv bezogen: Erinnerung ist, kann schneidend sein. Und dieser Zweifel, der freilich nicht handlungsfähig macht, wird dann durch den opulenten Look des Films konterkariert. Das dekorative Format, das vollendete Spiel von Licht und Schatten (Kamera: Ben Davis), die exzellente, gar avantgardistische Verarbeitung der Motive (Schnitt: Pietro Scalia), die makellose Eleganz und die sehr gegenwärtige Präsenz von Gong Li und Gaspard Ulliel, schöne Menschen von heute, – all das macht Einwände gegen die zusehends lustvollere Zelebrierung der Gewaltexzesse zunichte – jedenfalls während der Dauer der Projektion. Hannibal, der Motivierteste aller Pathologiestudenten, – Hannibal, der eloquente junge Mann mit den besonders guten Manieren, – Hannibal, der Frauen- und Ausländerbeschützer mit der korrekten Moral, – Hannibal also, der klug und souverän die innovativsten Foltertechniken anwendet, um SS-Schweine zum Reden zu bringen, und sie dann auf immer originelle Weise hinzurichten, nicht ohne vom Wangenfleisch genascht zu haben, – Hannibal der einen Täter, der seinerseits zum Opfer wird, in einem Wasserkessel ertränkt und ihm dabei zynisch ein Goodbye nachwinkt, — ja, was meinen Sie? Wer so was macht und mag, ist immer noch nicht sein Trauma los und nach wie vor Opfer der SS-Kannibalen von 1944, nicht vergessen und nicht vergeben. Wie der Film das herausbringt, ist ambivalent und schön.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/2007

The Man Who Wasn’t There

(USA 2001, Regie: Joel Coen)

Neuer Markt, alte Zellen
von Dietrich Kuhlbrodt

Gehören Sie zu denen, die in Galerien und Museen gehen, um tolle Photographien zu betrachten? Dann sind Sie in diesem Film richtig. Jede Einstellung verdient, gerahmt und ausgestellt zu werden. …

Gehören Sie zu denen, die in Galerien und Museen gehen, um tolle Photographien zu betrachten? Dann sind Sie in diesem Film richtig. Jede Einstellung verdient, gerahmt und ausgestellt zu werden. Die Coen-Brüder haben liebevoll und akkurat die Zeit nachgestellt, in der soeben der Tetrachlorkohlenwasserstoff für die Trockenwäsche entdeckt wird. Wir müssen bewundern, wie die Zeit des film noir gewaschen, getrocknet, aufgehellt und gefönt wird. Die Düsternis von damals erfreut jetzt als besonnte Vergangenheit, wir tauchen ein in eine dezente blonde Tönung. Außerdem sind wir in einem Frisörsalon, in welchem unser Held seinerseits Dauerwellen legt. Normalität.

Auf den zweiten Blick aber herrscht Resignation und Verzweiflung. Unser Held ist wortkarg. Er bescheidet sich damit, auf das zu reagieren, was ihm widerfährt. Was das im einzelnen ist, kündigt sich schon deswegen nicht an, weil der Film ausgesprochen dialogarm ist. Wir werden daher überrascht. Optisch. Gespenstisch, lautlos, schwebt ein Oldtimer zwischen den Wipfeln, im Schmetterlingstempo. Gleich darauf wird das feenhafte Gefährt vom hochstilisierten Nostalgielevel auf den finsteren Boden der Tatsachen stürzen. Die Coen-Brüder scherzen. Sie können das.

Eine sanfte Ironie durchzieht die Welt der schönen Exponate. Den lieben langen Film hindurch werden Einstellungen zitiert, die wir aus den Alben der schönen Künste kennen oder zu kennen meinen, bloß lustig gemacht haben wir uns darüber noch nicht. Denn auf dem finsteren Level wird eine böse Geschichte erzählt. Die Frau geht fremd – mit dem Chef. Was ist zu tun, wenn man kleiner Angestellter ist?

Der Film endet mit der Gerichtsverhandlung des klassischen schwarzen Films. Eine bitterböse Satire. Der Angeklagte ist das Opfer von Richtern und Verteidigern. Er wird in mehrfachem Sinn vorgeführt. Der Prozess, der ihm widerfährt, ist aus seiner Sicht unbegreiflich. Das Lachen bleibt jetzt im Hals stecken. Da die Kameraeinstellungen uns keine andere Wahl lassen, als uns mit dem zu identifizieren, der die Gesetze des neuen Markts nicht beherrscht und sowieso nicht das, was in der vorgeblich guten alten Zeit abläuft – weil das so ist, gehen wir mit ihm in die Todeszelle, die Gurte werden festgezurrt, der Hebel wird umgelegt, und es ist logisch, dass der Film dann abbricht. Es ist im Kino – ich sag’s aus gegebenem Anlass – nicht der Vorführer schuld, wenn’s hell wird, einfach so.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2001

Der Vulkan

(D / F 1998, Regie: Ottokar Runze)

Alle in einem Boot
von Dietrich Kuhlbrodt

Den gleichnamigen Roman über deutsche Emigranten der dreißiger Jahre hatte Klaus Mann 1939 in den USA geschrieben. Wie verfilmt man ein antifaschistisches Buch, in dem Krieg und Holocaust nicht vorkommen? …

Den gleichnamigen Roman über deutsche Emigranten der dreißiger Jahre hatte Klaus Mann 1939 in den USA geschrieben. Wie verfilmt man ein antifaschistisches Buch, in dem Krieg und Holocaust nicht vorkommen? Der verdiente Regisseur Ottokar Runze, 74, hatte ein Jahrzehnt zuvor in der Vorabendserie »Tagliatelle/Frikandelle« die Faschisierung des Alltags als beängstigenden Prozess beschrieben; die Serie griff in den TV-Alltag des Zuschauers ein; sie wurde abgebrochen. Das Fernsehspiel »Der Vulkan« verstößt nicht mehr gegen TV-Akzeptanz. Keine Angst! Der Kostümfilm ist üppig ausgestattet; es ist eine Freude, die Mode der dreißiger Jahre in angenehm nostalgischer Atmosphäre zu sehen. Zürich, Paris, Wien, Prag: eine elegante Welt, der Mann trug zum Schillerkragen einen Hut. Einen Stetson? Ich muss dem nachgehen. Von Metropole zu Metropole nahm man die Museumsdampfbahn, blitzsauber, zum Anfassen; wenn die Lok seitwärts dampft, verschwindet die Heldin aus der Szene, Schnitt! Die schönen bunten Bilder versetzen uns in die gute alte Zeit; die Senioren werden feuchte Augen bekommen.

Für das »Widerstand leisten« ist der Dialog zuständig. Wir hören: »Ich bin jetzt in Wien.« Oder: »Wie wunderbar, in Paris zu sein.« Oder: »Ja, ich bin es, Mutter Schwalbe.« Schnell noch ein Beispiel für Rede/Gegenrede: »Sie übersetzt Schopenhauer.« – »Alle Achtung.«

Wir sind nun vorbereitet auf große Worte. Was ist Faschismus? »Faschismus ist Aggression, Diebstahl und Gewalt.« Ist das die Krise unseres Jahrhunderts? Nein: »Die Krise dieses Jahrhunderts ist die Krise der großen Worte.« Und was sind die Faschisten? Das sagt das Couplet: »Kleine Leute, kleine Leute, kleine Leute, kleine Leute«. Darauf brauchen wir uns keinen Vers zu machen, weil wir aufpassen müssen, die Handlungsfäden in der Hand zu behalten. Der Film springt wie in einer Fernsehserie von einem Minidrama zum nächsten und zurück. Aber bevor wir uns weiter mokieren: Finden wir das Serielle nicht schon in Klaus Manns Roman? Wohlan, wir kommen zum zentralen Einwand gegen Runzes Film: Ihm fehlt das Zentrum. Zwischen Bilderseligkeit und merkwürdigen Merksätzen ist schlechterdings nichts, noch nicht einmal das nichtende Nichts von Alleachtungschopenhauer. Dem Film fehlt die persönliche Handschrift eines Autors, dem man auch die Unzulänglichkeiten glaubt und grade die, das Klägliche, Schmerzhafte, das Versagen, die Hoffnung, den Widerstand in der Emigration. Und das Zeitgebundene des Jahres 1939.

Auf den letzten Filmmetern hat Runze eine Botschaft untergebracht, die sich eher an die Ehemaligen unter unseren Senioren richtet. Da lesen wir, dass der Film all jenen gewidmet ist, die aus ihrer Heimat vertrieben worden seien. Aufgemerkt, ihr Vertriebenenverbände, Sudetendeutsche, Albaner und Serben: Der Koproduzent des Fernsehspiels möchte euch alle haben. ZDF und Canal+ freuen sich auf eure Akzeptanz!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/1999

Ein Lied für Argyris

(CH 2006, Regie: Stefan Haupt)

Leben mit dem Trauma
von Dietrich Kuhlbrodt

Gewiss, dieser Dokumentarfilm konzentriert sich auf einen Zeitzeugen, und doch wäre es eine Unverschämtheit, den Griechen Argyris auf diese Funktion zu reduzieren. Er ist nicht dazu da, Fakten von sechzig …

Gewiss, dieser Dokumentarfilm konzentriert sich auf einen Zeitzeugen, und doch wäre es eine Unverschämtheit, den Griechen Argyris auf diese Funktion zu reduzieren. Er ist nicht dazu da, Fakten von sechzig Jahren Zeitgeschichte zu vermitteln. Argyris ist Argyris, eine Persönlichkeit, für die man empfindet und die man besingen kann, egal, ob der Dreijährige dem SS-Massaker von Distomo entkommt oder ob der Sechsundsechzigjährige heute noch dafür kämpft, dass die BRD für die Opfer einsteht.

Der Film setzt auf Pausen, in denen Landschaftstotalen regieren und in denen sich Gefühle regen können – von wütend, verletzt und traurig bis zu stolz und glücklich. Wie schafft es jemand, ein Massaker nicht zu bewältigen, was nur eine andere Form von Verdrängung wäre, sondern mit dem Trauma zu leben. Argyris lebt. Der Film ist großartig.

1944, wenige Tage nach der Invasion in der Normandie, massakriert die SS in Distomo 218 Dorfbewohner, um sich für einen Partisanenangriff zu rächen. Argyris wird Waise. Die Eltern und dreißig Verwandte sind tot. Er entkommt, weil, wie er sich erinnert, einer der SS-Männer ihm bedeutet wegzulaufen. Das ist einer der Fakten, die dem Film Kontur geben. Wie, jemand von der mordenden Einheit verhilft einem Kind zur Flucht? Das passt nicht in das Bild, das wir uns machen. Genauso wie das Vorgehen der Geheimen Feldpolizei gegen den SS-Hauptsturmführer Fritz Lautenbach, der den Einsatzbericht gefälscht und das Massaker als Kampfhandlung deklariert hatte. Wie? Was? Wir werden auf mehr Störfaktoren treffen, die uns wach und hellhörig machen. Wer zuschaut, wird aufmerksam werden.

Um so größeres Gewicht bekommt später im Film das kaltschnäuzige Verhalten der deutschen Botschaft in Athen. 1994 wird der Botschafter eingeladen, an der Gedenkfeier zum 50. Jahrestag des Massakers teilzunehmen. Er reagiert nicht. Viele Nachfragen bleiben ohne Antwort. Aber zur Feier erscheinen inkognito zwei Sekretärinnen, die wörtlich protokollieren, was gesagt wird. Grund genug, wütend und beschämt zu sein. Aber wieder baut der Film ein Gegenbild ein. Eine Geste, die guttut: wenn Willy Brandt in Warschau auf die Knie geht. »Ich schäme mich.« Willy Brandt ist Deutscher und empathisch. Der Botschafter Dr. Albert Spiegel ist auch Deutscher und erbarmungslos – auch wenn er viel zu spät eine diplomatische Floskel absondern wird.

Argyris spricht deutsch, schwyzerdütsch, weswegen im Film Untertitel weiterhelfen. 1948 war er in ein griechisches Waisenhaus gekommen. Als Achtjähriger, schwer unterernährt, hatte er das Glück, ins Schweizer Pestalozzidorf Trogen zu kommen. Deutsch wird seine Muttersprache. Als Schüler korrespondiert er mit Albert Einstein. Abitur, Studium, Gymnasiallehrer – und die überlebenden Verwandten in Griechenland sind schwer gestört: Argyris spricht die Tätersprache! Darüber kommen sie nicht hinweg. Auch wir notieren Widersprüche. Der Film glättet sie nicht. Dafür gebührt ihm Lob. Denn nun müssen wir einsehen, dass die hehren Ziele der Pestalozzipädagogik (»im Geiste der Versöhnung«) sich mit dem, was im Pestalozzifilm »Unser Dorf« passiert, nicht vereinbaren lassen. Argyris, Schüler, hatte in diesem Spielfilm eine Rolle. Wir sehen einen Ausschnitt. Die Waisen, Opfer der Deutschen, haben jetzt Tätergesichter. Erbarmungslos verfolgen sie deutsche Kinder, die auch im Dorf leben wollen. »Eine Hetzjagd« (Argyris). Wir haben 1953, Opfer sind die Deutschen, der Film lief auf der Berlinale und bekam den Goldenen Bären. Unter den Titeln »Sie fanden eine Heimat« resp. »Kinder in Gottes Hand« startete er gleich nach dem Filmfest in westdeutschen Kinos, 1960 lief er in der ARD.

Unser Held findet nicht in Ordnung, was in diesem Film gespielt wurde. Wieder eine heilsame Störung. Die wundersame Opferverkehrung verdankt sich der Westmächtepolitik im Kalten Krieg. Westdeutschland wurde 1953 durch das Londoner Abkommen von der griechischen Reparationsforderung (7 Milliarden US-Dollar) freigestellt. Das Wirtschaftswunder gelang auf Kosten Griechenlands und auf Kosten der Opfer von Distomo. Dies Fazit kann, wer will, aus dem Lebenslauf des Titelhelden Argyris ziehen und aus dem, was er an Zeitgeschehen transportiert.

Der Film bleibt bei seiner Biographie und bei dem überraschend reichen Material an zeitgenössischen Filmaufnahmen und Fotografien. Wir sehen Argyris älter werden, Astrophysik studieren und in der Kuppel der Sternwarte der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich das Himmelsbild studieren: »strahlend, glänzend, schützend«. Ist das eine Antwort auf das, was er als kleines Kind erlebte? Auf das, was er noch erleben wird? Dem Sog dieses Films ist nicht zu widerstehen. Aber Fragen muss sich der Zuschauer selbst beantworten. Aktiv zu werden – das ist die beste Wirkung des Films.

Ende der sechziger Jahre beteiligt sich Argyris am Widerstand gegen die brutale Militärdiktatur der (von den Westmächten unterstützten) Obristen. Mit Erfolg. Was in den folgenden Jahrzehnten nicht zu gelingen schien, war, den Opfern von Distomo Gerechtigkeit zu verschaffen. Argyris hat nach Mauerfall und 2+4-Vertrag endlich etwas in der Hand. Der Film wendet sich im Schlussteil der Entschädigung zu, die jetzt möglich wird. Die BRD weigert sich. Die Prozesse bewirken Öffentlichkeit. In Athen steht im Jahr 2000 das Goethe-Institut vor der Zwangsversteigerung. Jetzt kommt es zur diplomatischen Großaktion. Der Bundesgerichtshof bestätigt »eins der abscheulichsten Kriegsverbrechen«. Endlich ist dieses Wort gesagt. Aber gezahlt wird nicht. Begründung: Das Massaker in Distomo sei »eine Maßnahme im Rahmen der Kriegsführung« gewesen (Originalton deutsche Botschaft Athen). Damit schlägt sich der deutsche Staat auf die Seite des SS-Führers mit seinem gefälschten Bericht. Und wieder triumphiert die SS über die Geheime Feldpolizei.

Zurzeit ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte damit befasst, und der Arbeitskreis Distomo in Hamburg ist aktiv geworden. Wieder horcht man auf. Die Hamburger Rechtsanwältin Gabriele Heinecke, Spezialistin für die Aufklärung von Naziverbrechen, erzählt im Film von ihrem Vater. Wir sehen ihn in Uniform. Er war Hitler und Goebbels nah. »Was hast du gemacht?« – »Ich war ein kleiner Nazi.« Eine Antwort war das nicht. Aber es entsteht die Motivation aufzuklären.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2007

Tucker & Dale vs. Evil

(CAN 2010, Regie: Eli Craig)

Ein Herz für Maniacs
von Sven Jachmann

Eigentlich sind Tucker (Alan Tudyk) und Dale (Tyler Labine) zwei liebenswerte Burschen. Ihr Problem wird nur, dass sie wie typische Rednecks aussehen. Das führt zu fatalen Verwechslungen. Bedrohlich wirkt der …

Eigentlich sind Tucker (Alan Tudyk) und Dale (Tyler Labine) zwei liebenswerte Burschen. Ihr Problem wird nur, dass sie wie typische Rednecks aussehen. Das führt zu fatalen Verwechslungen. Bedrohlich wirkt der erste Auftritt Dales auf eine Handvoll Jugendlicher, die, wie die beiden Holzfäller, ein paar Tage Urlaub in den Wäldern West Virginias verbringen und an einer Tankstelle lediglich die Bierreserven aufstocken wollen. Dass Dales lautes Stottern beim Flirtversuch mit der unnahbaren Allison (Katrina Bowden) nur seiner Nervosität geschuldet ist, bemerken die Teenager beim ängstlichen Ringen um Distanz jedoch nicht und ziehen in aggressiver Abwehrhaltung weiter. Zufällig campen sie in der Nähe der Blockhütte, die Tucker und Dale als Urlaubsdomizil dienen soll. Als sich Allison beim nächtlichen Schwimmen von der Gruppe entfernt und aus Schreck vor den zwei angelnden Hillbillies wider Willen verletzt, wird sie von ihnen ins Boot gerettet. Der Rest der Gruppe glaubt allerdings, gerade ihre Entführung zu beobachten. Und während Allison dank der fürsorglichen Obhut der zwei ganz und gar nicht grobschlächtigen Kumpels schnell bemerkt, dass im Redneck nicht per se der Psychopath wütet, blasen ihre Freunde übereifrig am Tag darauf zum vermeintlichen Gegenangriff – und bringen sich dabei unbeabsichtigt gleich reihenweise um.

Vielleicht beweist ein Film wie „Tucker & Dale vs. Evil“, dass das zeitgenössische Backwood-Terrorkino langsam in den Prozess seiner Historisierung gerät. Die menschliche Marter des menschlichen Körpers und der schmale Grat, auf dem sich die urbane Kultur samt ihrer zivilisatorischen Hybris bewegt, sobald sie sich im Hinterland dem sozialen Ausnahmezustand ausgesetzt sieht, wurden motivgeschichtlich in solch, auch qualitativ, unterschiedlichen jüngeren Produktionen wie den „Hostel“-Filmen (2005/2006), „House of 1000 Corpses“ (2003), „Wolf Creek“ (2005), „Eden Lake“ (2008), „Storm Warning“ (2007), dem „Texas Chainsaw Massacre“-Remake (2003) und –Prequel (2006), dem „The Last House on the Left“-Remake (2009) oder „Frontière(s)' (2007) sehr variationsreich aktualisiert. Mit „Severance“ präsentierte Christopher Smith 2006 bereits einen ironischen und schwarzhumorigen Meta-Film dieses Strangs, zu dem sich Eli Craigs Debütwerk wie ein Geschwisterkind verhält. Beide haben mit herkömmlichen Fun-Splatter, dessen einstiges Gesetz der Steigerung in Peter Jacksons „Braindead“ (1992) zur unüberwindbaren Körper-Groteske führte, nichts am Hut. Beide greifen ein spezifisches Motiv des Subgenres heraus, das sie narrativ mit der Persiflage versöhnen, ohne in die seichte Parodie abzudriften, und beide organisieren dies über eine Politik der Bilder, in der die stereotypen Figuren erfahren müssen, dass sie eben Stereotypen sind – was ihnen aber letztlich zur Rettung hilft. Der Unterschied: „Severance“ integriert das Wissen des Zuschauers über erzählerische Konventionen in den bildsprachlichen Aufbau. Rennt eine Figur auf der Flucht versehentlich gegen einen Baum und stürzt zu Boden, fährt die Kamera weiter, hält inne und muss sie erst mal suchen. „Tucker & Dale vs. Evil“ hingegen zitiert so ikonisch, dass die Figuren stets direkt, die Zuschauer aber bloß indirekt angesprochen sind. Vor allem die Archetypen des Terrorkinos „Texas Chainsaw Massacre“ und „Deliverance“ sind allgegenwärtig.

Ob wir dieses Sammelsurium klassischer Szenarien erkennen, ist allerdings zweitrangig, die filmgeschulten Jugendlichen jedenfalls tun es ganz sicher – zumindest glauben sie es. Das Humorprinzip verkehrt Ursache und Wirkung, und beide Varianten kommen auch inszenatorisch zu ihrem Recht. Wenn Tucker mit der Kettensäge arglos einen Baumstamm zerkleinert, in dem sich ein Bienenstock befindet, bedeutet sein hektisches Sägeschwingen reine Furcht. Die panischen Jugendlichen hingegen erkennen in ihm – unterstützt von Montage, Kadrierung und Musikeinsatz – den Wiedergänger des tobsüchtig tänzelnden Leatherface aus der berühmten letzten Einstellung von „Texas Chainsaw Massacre“. Aber das permanente Missverständnis beruht auf Gegenseitigkeit. Tucker und Dale vermuten voller Sorge hinter den Attacken der irrtümlichen Retter, die für die Angreifer in der Regel versehentlich tödlich enden, den rituellen kollektiven Selbstmord einer nihilistischen Teenager-Sekte und glauben, dass man ihnen nun aufgrund dieses Befunds ebenfalls ans Leder will.

Dass der Film weitaus mehr als pointensicherer Klamauk ist, liegt daran, wie er die zwei Gruppen zueinander ins Verhältnis setzt und dadurch die Bildgesetze seines Genres kommentiert. Das gelassene Handeln von Tucker und Dale führt zu einem konstanten Suspense-Effekt, weil jederzeit ersichtlich ist, zu welchen Fehldeutungen es die Teenager animieren wird. Dadurch verschiebt sich das Feind/Opfer-Schema (von dem die beiden in der ersten Hälfte ohnehin herzlich wenig bemerken) nicht erst in der sonst üblichen Selbstermächtigung gegenüber den Peinigern, sondern ist von Anfang an unter umgekehrten Vorzeichen manifest. Auch die Funktion der Bilder bleibt stets doppelt codiert. Jede noch so friedfertige Handlung von Tucker und Dale wird gegenteilig ausgelegt, woraufhin die Teenager so reagieren, wie es das Genre von ihnen verlangt. Und angesichts ihrer lückenhaften Beobachtungen kann man es ihnen nicht mal verdenken. Weil die Jugendlichen in ihrer angestammten Rolle bleiben und deswegen von ihnen die einzige Gefahr ausgeht, sind auch nur sie das Klischee. So legt der Film hochgradig komisch die Mechanismen der Angsterzeugung seines Genres, den fließenden Wechsel aus nötiger Dämonisierung und mitunter eben auch xenophobistischer Konstruktion des Fremden bloß und bricht auf herzlichste Weise eine Lanze für den verkannten Maniac. Wer sich das nicht vorstellen kann, schaue bitte selbst, wie beide Parteien unter der Leitung der frisch gebackenen Kommunikationswissenschaftlerin am runden Tisch dazu genötigt werden, im Gespräch eine Lösung für ihre Differenzen zu finden.

Moritz, lieber Moritz

(BRD 1977, Regie: Hark Bohm)

Obligatorische Stürze
von Andreas Thomas

Moritz, die zärtlich apostrophierte Hauptfigur im Film von Hark Bohm, hat, um die Kritik zweideutig zu beginnen, Probleme mit dem Verkehr. Kein schweres Kunststück, wenn man erst 15 ist und …

Moritz, die zärtlich apostrophierte Hauptfigur im Film von Hark Bohm, hat, um die Kritik zweideutig zu beginnen, Probleme mit dem Verkehr. Kein schweres Kunststück, wenn man erst 15 ist und in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts spielt/gedreht wird. Zuerst wird ihm das Mofa weggenommen, weil die Firma des Vaters bankrott gegangen ist, so muss er aufs Fahrrad umsatteln, aber wie das mit diesen Pubertierenden so ist, sie haben ihren Kopf immer da, wo er nicht sein sollte, so zum Beispiel am Schlüsselloch zum Bad, in dem sich die attraktive Tante allein oder zu zweit lustigen und ebenso ausgiebigen Schaumspielen hingibt, jedenfalls nicht im Straßenverkehr, welches hinwiederum leider nicht nur zu lapidaren Stürzen führt.

Was nun in dieser Einleitung wie eine Inhaltsangabe von so etwas wie „Eis am Stiel, Teil 56“, klingt, besitzt weitaus mehr Ebenen, denn der Film zählt zu den Exponaten des Neuen Deutschen Films, also jenes deutschen Autorenfilms, dessen Protagonisten in der Regel einen links-emanzipatorischen, aufklärerischen Anspruch mitbrachten, der im Idealfall aufgrund ihrer Ambiguität oder verwirrenden Melodramatik (Fassbinder) zu meisterlichen Kunstwerken, zu politischen Lehrstücken über Ausbeutung und Kapitalismus führte oder zu bedrückten Meditationen über den bundesrepublikanisch weitverbreiteten Zustand einer umfassenden Entfremdung, die der Kapitalismus und seine Entourage moderner Möglichkeiten/Technologien (bis heute übrigens) dem Menschen zumutet, deren Dogmatik schließlich das, was man damals als „Authentizität“ bejubelte, nur noch in einem ideologisch „verifizierbaren“ Maß zuließ.

Regisseur Hark Bohm nun lässt sich, und das hat sein Gutes, so richtig eigentlich keiner dieser Gruppierungen unterordnen, und noch vor ein durchaus vorhandenes politisch gefärbtes Engagement tritt bei seinen Filmen das Interesse an dem Mikrokosmos Adoleszenz bzw. seine Empathie mit Heranwachsenden und ihren Problemen. Man könnte Bohm, was diese Nähe zur Jugend betrifft, in eine Reihe stellen mit Regisseuren wie Michael Verhoeven oder später in den USA John Hughes, Richard Linklater oder Gus Van Sant, so unterschiedlich ihre Vorgehensweise auch sei.

Nach seinem großen Erfolg „Nordsee ist Mordsee“ von 1976, einem Film, der von zwei hamburger Jugendlichen aus einem „sozial schwachen“ Milieu handelte, erzählt Bohm mit „Moritz, lieber Moritz“ die Geschichte eines Jungen aus der hamburger Oberschicht, Spross einer alteingesessenen hanseatischen Kaufmannsfamilie – Hans Castorp und Hanno Buddenbrook lassen grüßen –, deren Firma gerade Konkurs angemeldet hat und deren Villa an der Elbchaussee Stück für Stück von Gerichtsvollziehern ausgeräumt wird.

Moritz (Michael Kebschull, typgerecht als hanseatisch wirkender Schauspieler wurde er auch in der TV-Serie „Buddenbrooks“ von 1979 als junger Thomas Buddenbrook besetzt) steht im Zentrum einiger, fast schon zu vieler, Spannungsfelder: Die Konkurs des Vaters macht auch vor ihm nicht halt, auch sein eigener Besitz wird gepfändet, seine Stereoanlage muss er vor den Vollzugsbeamten verstecken, von seinen Mitschülern auf dem Gymnasium wird er gemobbt, weil sein „Vater genauso wenig rechnen kann wie der Sohn“, dem Mathematiklehrer ist es völlig egal, ob die Schüler seinem Unterricht folgen können; überhaupt ist allen Erwachsenen (und der Institution Schule) gemeinsam, dass sie sich entweder nicht für Moritz und seine Probleme interessieren oder, wenn doch, dann ihn ganz einfach nicht verstehen.

Moritz wäre fast auf sich allein gestellt, gäbe es nicht seine Vorliebe für eklige Haustiere, wie eine Kröte und eine zahme Ratte und eine Verbundenheit mit der Großmutter, die, ins Altersheim verschoben, keinen Lebenswillen mehr aber leider ein zu gesundes Herz besitzt, um abtreten zu können. Auch das Thema Sterbehilfe gesellt sich so zu Moritz‘ Herausforderungen. Da würde es einer Teenagerseele normalerweise reichen, sich zu verlieben, aber das macht er so ungefähr noch nebenher.

„Moritz, lieber Moritz“ ist eine „Coming of Age“-Geschichte, der es an Drastik nicht mangelt: Was Moritz in dem relativ überschaubaren Zeitraum von wenigen Wochen erlebt, das möchte man einem normalen Menschen fürs ganze Leben nicht wünschen. Und hier folgt ein Spoiler für die, die nicht zu viel vorher wissen wollen: <<TEXTFARBE:FFFFFF>Moritz wird zum Mörder an einer Katze und zum Sterbehelfer seiner Großmutter, zwischendurch wird er Zeuge eines Autounfalls, bei welchem die Fahrerin eines PKW geköpft wird, Blutfontänen wie im Splatterfilm spritzen aus ihrem Rumpf. Spoilerende

Moritz also stellen sich die Hauptfragen des Lebens so spürbar konkret und nachdrücklich, dass man es ihm nicht verübelt, wenn er ein Ventil in der Kunst benötigt: ein etwas hochnäsiger Oberschüler, der er ist, ist Moritz natürlich ein Jazzfan und er spielt Saxofon. Was für ein Glücksfall, dass die Rock- und Popszene in den auslaufenden Siebzigern das Saxofon für sich entdeckt hat – und Moritz bei einem seiner obligatorischen Stürze mitsamt Saxofon vor einem Beatschuppen landet, dessen (proletarische) Band ihn sofort als Solisten adoptiert. Überhaupt lernt Moritz schnell, und hier kommt der Zeitgeist ins Spiel, dass Solidarität und Ehrlichkeit nicht in der Upper Class und nicht bei seinen intriganten Schulkameraden zuhause sind, sondern bei den Jungs von der Straße, hier wird auch er Freunde finden und überhaupt müssen Jungs irgendwann in ihrem Leben in einer Band gespielt haben, um an die kleine Blonde ranzukommen, nicht wahr? Was sich hier ein wenig nach Klischee anhört, kommt im Film auch ein wenig so rüber, aber wirklich absurd werden die Auftritte der Band deshalb, weil ihr steriler Sound (und der Sound von Moritz‘ Saxofon) offenbar in einem Tonstudio des Saxofonisten Klaus Doldinger (Tatort-Titelmusik) produziert wurde. Ein krasser Gegensatz zum Milieu wilder Jungs, welches uns zugleich geschildert wird und ein großes Manko in der Zeit, in der sich Punk oder Punk-ähnliches hätte anbieten können. Die Band spielt in einer Malocherkneipe Saubermann-Rock’n’Roll und Klaus Doldingers Saxofon fällt wirklich nichts Interessantes dazu ein …

Auch wegen Doldingers weichgespülter Filmmusik changiert „Moritz, lieber Moritz“ in seiner Tonart hin und her. Wenn am Anfang sich die Kamera von oben dem elterlichen Anwesen nähert, dann stimmt uns die Musik mental auf so etwas ein wie die Fernsehserie „Praxis Bülowbogen“. Faszinierend eklig und durchaus wieder in der Nähe des Horrorfilms aber dagegen sind Moritz‘ Rachefantasien, wenn er sich etwa vorstellt, seinem Mathelehrer bei lebendigem Leib Bienen in den Bauch zu einzunähen.

Unter dem Strich ist Moritz durchaus nicht lieb, aber er zeigt nachvollziehbare Reaktionen und Gefühle. Und er – und das zeigt eben auch der Film – ist ein Kind seiner Zeit und ein Kind des Hamburgs der siebziger Jahre. Es gibt Lokal- und Zeitkolorit, es gibt graue Betonschulen mit rücksichtslosen Lehrern, und es gibt eine Menge egoistischer Erwachsene (zur Hälfte gespielt von recht eindimensionalen Schauspielern), die sich nicht für andere interessieren, es gibt den Hamburger Hafen und es gibt, wer hätte das gedacht, den Kirchenchor von St. Michael. Auch den musste Hark Bohm noch in seinem Film unterbringen. „Moritz, lieber Moritz“ ist ein stilistisch schwer einzuordnender Film, zugleich ein veritabler Jugendfilm, der dennoch erst ab 16 freigegeben ist, ein Unikat in der deutschen Filmgeschichte, ein Film, der sich in der Erinnerung festsetzt, und darin beweist sich, trotz seiner Schwächen, seine Qualität.

Meat

(NL 2010, Regie: Maartje Seyferth, Victor Nieuwenhuijs)

... und ein viertel Pfund Surrealismus bitte, gut abgehangen.
von Louis Vazquez

Drei nackte Torsi hängen kopfüber und wecken Assoziationen an den Kühlraum eines Schlachthauses. Fleisch ist eben Fleisch, ob lustvoll betrachtet oder eiskalt abstrahiert und in Stücke zerlegt. Zum Anbeißen ist, …

Drei nackte Torsi hängen kopfüber und wecken Assoziationen an den Kühlraum eines Schlachthauses. Fleisch ist eben Fleisch, ob lustvoll betrachtet oder eiskalt abstrahiert und in Stücke zerlegt. Zum Anbeißen ist, zumindest für Fleischfresser, offenbar beides. Eros und Thanatos werden somit bereits zu Beginn des Films in einen nahe liegenden Zusammenhang gebracht. Was durch seine Statik und scharfe Konturen auf den ersten Blick wie eine Fotografie aussieht, entpuppt sich bei genauem Hinsehen als bewegtes Bild: Brustkörbe heben und senken sich. Es wird also, da sind die Schweine im Nachteil, noch geatmet und empfunden.

Der Surrealismus ist einst angetreten, um mit einem Schnitt durch einen Augapfel das Sehen zu revolutionieren und durch die Entfesselung der Triebe dem Bürgertum seine Borniertheit auszutreiben. Dass „Meat“ auf dem Pornfilmfestival Berlin 2010 zu sehen war, scheint deshalb zu passen, führt aber zu einer falschen Erwartungshaltung, weil die einzige Parallele zum pornografischen Film ist, dass nirgendwo Liebe im Spiel zu sein scheint. Die Darstellungsweisen und Praktiken des Films können dagegen kaum provozieren – von einer Szene mit ein bisschen Pipimachen vielleicht abgesehen. Überhaupt erweist sich „Meat“ mit seiner größtenteils klaren Narration allen experimentellen Eruptionen zum Trotz als relativ publikumsfreundlich und humorvoll. Diese Entwicklung war nach der angestrengt kunstvollen Sacher-Masoch-Verfilmung „Venus im Pelz“ (1995), dem Spielfilmdebüt von Maartje Seyferth und Victor Nieuwenhuijs, nicht unbedingt zu erwarten.

Zwei Handlungsstränge kristallisieren sich langsam, aber verhältnismäßig deutlich heraus: Während ein Kommissar mit freudlosem Alltag seine Beziehung beenden will und sie durch seine Gleichgültigkeit zu einem erschreckenden Abschluss treibt, strebt ein Metzger fortgeschrittenen Alters eine Affäre mit der jungen Aushilfe an, weil seine Frau offen mit seinem Chef fremdgeht – im Schlachthaus, vor aller Augen. Metzger und Mädchen eint die Faszination fürs Fleisch. Er denkt dabei an ihren Körper, sie filmt permanent tote Tiere in der gammelig wirkenden Auslage der Metzgerei. Dass sie der aggressiven, eigentlich abstoßenden Balz des Mannes irgendwann nachgibt, gehört zu den Mysterien des Films, die einen spröden Witz entwickeln, wenn man sich auf Widerwärtigkeiten einlassen mag. Dabei wirkt „Meat“ fast ein wenig skandinavisch und erinnert an einen radikalisierten Kaurismäki-Film oder „Dänische Delikatessen“ von Anders Thomas Jensen.

Der Plot überrascht immer wieder. Bald ist eine Leiche zu beklagen, und der Kommissar rückt in den Mittelpunkt. Einige vorher gezeigte, irritierend unabhängige Bilder werden neu bewertet, und der Film offenbart schließlich doch noch seine surreale Traumstruktur. Dass der Metzger und der Kommissar beide von Titus Muizelaar verkörpert werden, fällt zunächst aufgrund ihres unterschiedlichen Erscheinungsbildes und des nuancierten Spiels kaum auf. Doch nach und nach ergibt sich eine irritierende Kongruenz der Figuren, die letztlich zur Schwäche des Films gerät. Denn die Idee, die Verknüpfungen und Verschachtelungen der Handlungsstränge in eine Art Identitätswechsel münden zu lassen, erscheint ein wenig zu wohlfeil und bemüht; sie ist längst zum surrealen Klischee erstarrt.

Trotz dieser etwas enttäuschenden, nun ja, „Auflösung“, die kein kriminalistisches Ergebnis, sondern einen Zerfall bezeichnet, hat der Film seine Stärken. Nicht zuletzt die kunstvollen Bildkompositionen von Co-Regisseur Victor Nieuwenhuijs, der auch die Kamera führte, seine komplexe, klassische Lichtsetzung und die klare, kraftvolle Farbdramaturgie. Obwohl die Bilder von totem Tier vielleicht nicht im eigentlichen Sinn als schön zu bezeichnen sind, sondern eher darin bestärken können, das neue Jahr fleischfrei zu begehen, isst das Auge eben doch mit.

Snowman’s Land

(D 2010, Regie: Tomasz Thomson )

American Coolness
von Harald Mühlbeyer

Schwarzer Humor im weißen Schnee: Walter, Profikiller, verschlägt es nach einem missglückten Auftrag irgendwohin in den Osten, in 2340 Kilometern Entfernung ist er in ein gewaltiges Herrenhaus geladen inmitten des …

Schwarzer Humor im weißen Schnee: Walter, Profikiller, verschlägt es nach einem missglückten Auftrag irgendwohin in den Osten, in 2340 Kilometern Entfernung ist er in ein gewaltiges Herrenhaus geladen inmitten des Nichts, umgeben von Wald und Schnee. Hier residiert Berger, der mythische Gangsterboss, der seit Jahren als tot gilt, der hier, am Arsch der Welt, sein Refugium gefunden hat. Unterwegs trifft Walter auf Micky, einen Kollegen mit demselben Ziel, reichlich durchgeknallt und nicht gerade mit Glück gesegnet bei seinen oftmals sehr spontan durchgeführten Aktionen. Berger ist nicht da, dafür Sibylle, dessen junge Freundin, Drogenköchin, Discoqueen, gelangweilte Schnepfe. Irgendwann ist sie tot, Berger taucht auf, Walter und Micky müssen überzeugend darlegen, dass sie mit Sybilles Tod nichts zu tun haben; vielleicht, so suggerieren sie, waren es ja die Hinterwäldler, die ganzen kleinkriminellen Kanaken, die in den Wäldern hausen, Schemen und Phantome, denen der Großgangster Berger gar nichts abgewinnen kann…

Tomasz Thomson, in Kattowitz geboren, in Deutschland aufgewachsen, hat in Lodz Film gelernt, und mit seinem zweiten Spielfilm ein Stück Genre in die deutsche Kinematographie gebracht. Allein das ist schon ehrenwert: dass einer einen Gangsterfilm macht, einfach so, dass er jahrelang für die Finanzierung kämpft, dass er sein Projekt durchzieht; und dass er den Gangsterfilm auf makabre, lakonische, schwarzhumorige Weise erzählt, in Tönen also, die das deutsche Kino, auch das deutsche Fernsehen normalerweise nicht kennt und nicht kennen will. Für seinen Film hat er keine Stars besetzt – das hätte vielleicht Einiges leichter gemacht, hier ein Jürgen Vogel, dort ein Sky DuMont, und Udo Kier ist auch für alles zu haben. Doch Thomson nimmt unbekannte Gesichter, die sich mit aufreizendem Dead Pan durch den Plot treiben lassen. Jürgen Rißmann als Walter ist ein abgerissener Altprofi mit zu langen Haaren, der nicht so richtig was mit sich selbst anzufangen weiß. Thomas Wodianka als Micky ist gerade genug dem Borderline-Wahnsinn verfallen, um allerhand Durcheinander anzurichten, und lange genug im Geschäft, um zu versuchen, alles wieder ins Reine zu bringen. Reiner Schöne als Berger spielt im Bewusstsein seines internationalen Status als deutscher Hollywoodianer, der mit Lee van Cleef und Clint Eastwood in den 70ern vor der Kamera stand, in allerhand trashigen Serien – von „MacGyver“ bis „Matlock“ – spielte und inzwischen auch auf dem Traumschiff und im Rosamunde-Pilcher-Land auftauchte: Berger ist der mythische Gangster, der sich im selbstgeschaffenen Eispalast eingeschlossen hat und neue Träume von alter, unangefochtener Macht verfolgt.

Thomson kopiert für seine Inszenierung amerikanische Vorbilder; wie ja auch seine Figuren in ihrer lakonischen Geworfenheit, in ihrer eindimensionalen Funktionalität sich an der american coolness orientieren. Sprich: am frühen Tarantino, an den Coen-Brüdern. Von Tarantino übernimmt Thomson die nivellierende Redeweise, in der sich Großes und Alltägliches mischen, in der das Töten und der Tod gleichwertig sind mit der Faszination von Schusswaffen, mit Drogen, mit Urlaub, Tanzvergnügen und Sex. Von den Coens kommt die Fatalität des Schicksals, wie das eigene Los vom richtigen oder falschen Verhalten anderer abhängt, wenn die Hauptfigur, die nur in Anführungszeichen ein „Held“ ist, den Deppen und ihren undurchdachten Aktionen ausgeliefert ist. Und natürlich spielt der „Shining“-Hotelkomplex mit rein, aus „Leichen pflastern seinen Weg“ grüßen die Banditen des Schneewalds.

„Snowman’s Land“ ist eine Kopie, ein Versuch, amerikanische Coolness in den deutschen Film zu bringen; und ist als Kopie zwangsläufig schlechter als die Vorbilder. Mitunter gibt es Stolperer in der filmischen Montage, manches wirkt etwas forciert, anderes etwas zu eindimensional; aber dann gibt es eben doch immer wieder originelle Gags, unerwartete Plottwists, überraschende Bilder: Thompson versteht sein Filmgeschäft, und vielleicht wird er in seinem nächsten Projekt tatsächlich zu einem eigenen Sprache finden. Aber immerhin: Dass einer sich überhaupt an einen solchen Stoff wagt, mit minimalem Budget: das zeugt von einem Eigensinn des Filmemachers, den man im deutschen Kino gern öfter sehen würde.

Biutiful

(E / MEX 2010, Regie: Alejandro González Iñárritu )

In der Unterwelt
von Harald Mühlbeyer

Biutiful: wo das Schöne falsch geschrieben wird, ist irgendetwas Richtiges in einem falschen Leben ganz und gar unmöglich. Uxbal ist liebevoller und aufbrausender Vater, er liebt und hasst die Mutter …

Biutiful: wo das Schöne falsch geschrieben wird, ist irgendetwas Richtiges in einem falschen Leben ganz und gar unmöglich.

Uxbal ist liebevoller und aufbrausender Vater, er liebt und hasst die Mutter seiner Kinder, er ist der Kümmerer in der Unterwelt von Barcelona und der Ausbeuter illegaler Senegalesen und Chinesen, er besticht die Polizei, aber nicht genug, um damit eine Razzia zu verhindern; er kann die Geister Verstorbener sehen und ist selbst unheilbar an Krebs erkrankt. Und er bemüht sich, will sein Leben, seine Geschäfte in Ordnung halten und verfängt sich doch nur in Schuld und persönlichen Niederlagen.

„Biutiful“ ist für Alejandro González Iñárritu Neuland: nicht mehr ein chronologieverschobenes, episodenhaftes filmisches Karussell, sondern eine geradlinige Geschichte, weitgehend in chronologischer Reihenfolge gedreht, das Psychoporträt eines faszinierenden Mannes, eines wandelnden Widerspruchs, der den Zuschauer zugleich anzieht und abstößt. Der Film – nominiert für den Auslandsoscar, während Javier Bardem in der Hauptrolle Aspirant als bester Darsteller ist – macht es dem Zuschauer nicht leicht, er wirft einem diese Figur vor und überlässt es dem Publikum, damit umzugehen.

„’Biutiful’ begann an einem kalten Herbstmorgen im Jahr 2006, als meine Kinder und ich das Frühstück zubereiteten und ich zufällig eine CD von Ravels Klavierkonzert in D-Dur einlegte“, sagt Iñárritu, „Als die Musik zu Ende war, begannen meine beiden Kinder gleichzeitig zu weinen. Die melancholisch Qualität, der Sinn für Traurigkeit und Schönheit, den diese Musik beinhaltet, überwältigte sie. An diesem Morgen klopfte eine Figur an der Tür zu meinem Kopf und sagt: ‚Hola, mein Name ist Uxbal.’ Die nächsten drei Jahre sollte ich mein Leben mit ihm verbringen. Ich wusste nicht, was er wollte, wer er war oder wo er hinging. Er ließ sich nicht in die Karten blicken und war voller Widersprüche. Aber ganz ehrlich, ich wusste, wie ich ihn einführen und wie ich in zu Ende bringen wollte.“

Die Handlung folgt dem Gang Uxbals durch die Unterwelt, in immer tiefere Kreise der Hölle, und noch vor ihm merkt der Zuschauer, wie er sich immer weiter von Erlösung irgendwelcher Art entfernt. Glück oder Erleichterung des Schicksals bleiben, wo sie sich zeigen, Illusion; wo andere Filmemacher mitfühlende Emotion oder kathartischen Genuss des Unglücks inszenieren würden, setzt Iñárritu auf deprimierende Traurigkeit und Verzweiflung, für die er immer wieder die passenden Bilder findet. Dazu gehört der Stripclub, in denen die Köpfe und Ärsche der Tänzerinnen als gigantische Titten gestaltet sind, die verzweifelte Flucht der Senegalesen vor der Polizei durch die Ramblas oder die 25 Seelen derer, die Uxbal auf dem Gewissen hat, die an der Kellerdecke schweben. Und immer wieder Uxbals Sitzungen bei verzweifelten Hinterbliebenen, deren betrauerten Toten er sehen kann, gegen großzügige Entlohnung natürlich. Dieses Element des Spiritismus, des wahrgewordenen Volks- und Aberglaubens, ist das irritierendste Moment des Films, es reibt sich heftig und allzu unangemessen mit dem (scheinbaren) Sozialrealismus in der Milieuzeichnung.

Doch eigentlich ist der ganze Film über den langsamen Niedergang des Uxbal eine mythische, parabolische Erzählung. Die sich noch dazu in sich selbst enthält, in der Anekdote eines korrupten Polizisten, der mit Uxbal freundschaftlich ein Bier trinkt: der erzählt, wie einer Tigerdompteur geworden ist, wie er die Tiere stets sicher führte, wie sie seine Liebe erwiderten. Und ihn dann, eines Tages, zerfleischten.

Winter’s Bone

(USA 2010, Regie: Debra Granik)

Truest Grit
von Louis Vazquez

Wie vom Blues durchdrungen wirkt dieser leise Film, der von Entbehrung und Kriminalität erzählt und die Zuschauer mit nur einem winzigen Hoffnungsschimmer entlässt. Die in den hintersten Winkeln der Gesellschaft …

Wie vom Blues durchdrungen wirkt dieser leise Film, der von Entbehrung und Kriminalität erzählt und die Zuschauer mit nur einem winzigen Hoffnungsschimmer entlässt. Die in den hintersten Winkeln der Gesellschaft Vergessenen mühen sich mit ihrem Leben ab, und doch sieht man keine hängenden Schultern, sondern stolze Menschen, die gleichwohl kurz davor stehen, auch das Wenige, das ihnen geblieben ist, zu verlieren.

Die siebzehnjährige Ree lebt mit ihren beiden kleinen Geschwistern und ihrer kranken, geistig abwesenden Mutter in einem Holzhaus auf einem kleinen Waldgrundstück im Süden Missouris. Der Vater, Jessup, ist seit zwei Wochen verschwunden, vermutlich um einem Gerichtstermin zu entgehen. Ihm drohen zehn Jahre Haft, weil er in Drogengeschäfte verwickelt war, wie viele Leute in der Gegend, die sich mit der Produktion und dem Vertrieb von Crystal Meth Geld dazu verdienen. Leider hat Jessup Haus und Grundstück der Familie als Sicherheit für sein Erscheinen vor Gericht verpfändet. Ree steht deshalb vor dem Nichts: Schon in wenigen Tagen soll sie mit der Familie einfach auf die Straße gesetzt werden, und kein Gesetzbuch steht ihr bei. Ein unbeschwertes, jugendliches Leben gibt es für sie ohnehin nicht: Sie hat die Mutterrolle übernommen, muss irgendwie ihre Geschwister durchbringen und ist oft genug auf die Hilfe der Nachbarn angewiesen, die ihr Essen vorbeibringen und ihr schließlich sogar anbieten, eines der Kinder bei sich aufzunehmen. Doch diesen Zerfall der Familie will Ree nicht zulassen. Ihre einzige Chance ist es, den Vater schnellstmöglich wieder zu finden und dazu zu bewegen, sich zu stellen.

Die Suche nach ihm stößt jedoch auf Widerstand und wird durch Mauern des Schweigens, durch Lügen und Ausflüchte blockiert. Obwohl Ree mit vielen ihrer Ansprechpartner über mehrere Ecken verwandt ist, begibt sie sich in große Gefahr, erhebt sie doch ihre Stimme in einem autoritären und von brutalen Männern dominierten System. Frauen, die Fragen stellen, sind da eigentlich nicht vorgesehen. „Hast du keinen Mann, der das für dich machen kann?“ heißt es einmal. So hangelt sich Ree mit nur wenig Erfolg von einer vagen Hoffnung zur nächsten, doch der Verdacht liegt schnell nah, dass sie ihren Vater nicht mehr lebend sehen wird. Verweise auf das Backwood-Horror-Subgenre, die in manchen Besprechungen von „Winter’s Bone“ zu finden sind, führen trotz des Redneck-Milieus und einiger motivischer Überschneidungen auf eine falsche Fährte, denn die Bedrohungen, denen Ree sich ausgesetzt sieht, folgen einer kriminellen Logik. Das irrationale Element des Horrors fehlt hier völlig.

Regisseurin Debra Granik legt großen Wert auf „Naturalismus“ bei der Darstellung der Lebensumstände ihrer Figuren und öffnet damit Debatten über die vermeintliche „Ausstellung von Elend“ weit die Tür. Doch auch wenn sie an Originalschauplätzen, in authentischen Häusern dreht und ihren Protagonisten sogar die Kleidung von Einheimischen anzieht, täuscht dies nicht darüber hinweg, dass sie ein Genrestück erzählt: Daniel Woodrell, der Autor der (von Granik und Produzentin Anne Rosellini adaptierten) Romanvorlage, bezeichnet seinen Stoff als „Country Noir“, und diese Zuschreibung trifft den Nagel auf den Kopf. Trotz des ungewöhnlichen Settings nämlich ist die mäandernde, ganz und gar nicht geradlinig verlaufende Suche nach einem womöglich Toten durch und durch noir. Naturalismus bleibt dabei auf der Strecke, ob intendiert oder nicht, weil ein noch so „authentisch“ präsentiertes Setting bei aller akribischen Detailtreue letztlich der Zeichenhaftigkeit dieser dramatischen Struktur weichen muss. Der klare Genrebezug gerät dem Film aber zum Vorteil. Noch Debra Graniks viel gelobtes Debüt, das Junkie-Drama „Down to the Bone“ aus dem Jahr 2004, wirkte trotz seines vorgeblichen Realismus konstruiert und klischeebeladen, weil die zurückgenommene Inszenierung einige schwach motivierte Willkürlichkeiten des Drehbuchs nicht verbergen konnte. „Winter’s Bone“ dagegen überzeugt bei seiner Gratwanderung zwischen Konvention und Innovation.

Wie oft im Film Noir ist der kriminalistische Aspekt von Rees Suche nach ihrem Vater letztlich von untergeordneter Bedeutung. Es ist nicht etwa eine detektivische Entdeckung, die Ree näher ans Ziel bringt, sondern die Hartnäckigkeit, mit der sie trotz aller Widerstände weitermacht. Gerade durch ihre Beharrlichkeit beeindruckt Ree ihre Gegner und weckt zum Schluss doch noch so etwas wie Hilfsbereitschaft bzw. Solidarität. Als Neo-Noir mit einer starken Frauenfigur wirkt „Winter’s Bone“ manchmal wie ein verschollenes Frühwerk der Coens. Eine Stärke Graniks aber – und das unterscheidet sie natürlich von den frühen Coens – ist ihre zurückhaltende, unaufdringlich wirkende Inszenierweise, die den (zu Recht oft gelobten) Schauspielern Raum lässt, sich zu entfalten. Filmische Mittel werden punktgenau einsetzt, etwa lehrbuchmäßige, nicht explizite Großaufnahmen während eines überraschenden Gewaltausbruchs. Nachhaltig beeindruckend ist das gebrochene Ende des Films, wenn eine Figur aus dem Bildrahmen verschwindet und plötzlich klar wird, dass sie nun wohl in den Tod geht und dies der letzte Blick auf sie war. In diesen stillen, unscheinbar wirkenden Momenten entfaltet „Winter’s Bone“ seine große Kraft.

Roger & Me

(USA 1989, Regie: Michael Moore)

Vom Segen der Freiheit
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Dokumentarfilm als Kinohit: Michael Moores »Roger and Me« ist auch eine US-amerikanische Antwort auf Alfred (Herrhausen) und wir« Roger Smith, Big Boss von General Motors, dem größten Konzern unserer …

Ein Dokumentarfilm als Kinohit: Michael Moores »Roger and Me« ist auch eine US-amerikanische Antwort auf Alfred (Herrhausen) und wir«

Roger Smith, Big Boss von General Motors, dem größten Konzern unserer Erde. And Me: Das ist der Herausforderer Michael Moore, Chef von niemandem und nichts, auch ist »Roger and Me« sein erster Film überhaupt. Frech, unverschämt, listenreich und beharrlich versucht er den lieben langen Dokumentarfilm hindurch, den universellen Repräsentanten der freien Marktwirtschaft mit den Verbrechen eben dieser Wirtschaft, also seiner Wirtschaft, zu konfrontieren, zum Beispiel mit der Wegrationalisierung von 30.000 Arbeitsplätzen in Flint, Michigan, der Urstadt von GM. Doch der Tycoon ist nicht zu sprechen, besonders nicht für einen, »der niemanden repräsentiert«.

Inzwischen repräsentiert »Roger and Me« ein Publikum von zig Millionen, das sich daran weidet, wie Roger Smith, der Goliath, vorgeführt und von der Film-Schleuder zu Boden gestreckt wird. Sicherlich nicht für immer, aber eine Freude war es doch, und die kalte Wut hat ihr Ventil gefunden. Außerdem hat die freie Marktwirtschaft jetzt ein Gesicht, d.h. viele Fratzen, und die sind umso vielsagender, wenn da noch Tünche und Schminke draufliegt, nämlich PR-Manager von General Motors einem erklären, dass der firmeneigene Kapitalismus gut und schön sei. Kurzum, in »Roger and Me« demontiert sich die freie Marktwirtschaft zum allgemeinen Vergnügen von selbst. Regisseur Michael Moore, ein David des Filmmediums, verschafft sich mit seinem dokumentarischen Pamphlet einen Platz im Mainstreamkino – »Roger and Me« wird von dem Großverleih Warner vermarktet – ; auch ist er nun Hoffnungsträger der politischen Dokumentarfilmer, wiewohl er bar jeder Ausbildung »Roger and Me« einfach so gedreht hatte, weil er tun musste, was er getan hat; immerhin hatte er eine Masse Tipps von Kevin Raffertv bekommen, und dessen satirischer politischer Dokumentarfilm »The Atomic Café« war in der Tat das richtige Vorbild.

Wenn »Roger and Me«, der die amerikanische Erfindung der freien Marktwirtschaft so richtig von Herzen madig macht, gleichwohl im freien Westen kommerziell überaus prächtig reüssiert, so liegt das daran, dass Michael Moore, 35, Zweizentnerkind der Arbeiterklasse aus Flint, Michigan, die amerikanischen Mythen, die inzwischen auch die unseren geworden sind, aufs beste (und perfideste) bedient. Erstens fordert einer, der die gute Sache vertritt, den Repräsentanten des Bösen heraus und obsiegt im Showdown. Zweitens sind die Mächte personifiziert und bedürfen daher keiner begrifflichen Vor- und Nachbereitung, sicherlich sehr zum Verdruss aller akademischen und insbesondere europäischen Sinnproduzenten. Drittens ist Michael Moore, der Produzent und Regisseur, mit »Roger and Me« vom Tellerwäscher zu jemandem aufgestiegen, der den größten Manager der gesamten Welt vorführen und zum Gespött der Welt machen kann – mit Erfolg. Und viertens ist die freie Marktwirtschaft mit diesem Film mitnichten abgeschafft, weil eben sie es ist, die diesen Film (vertriebstechnisch) vereinnahmt hat. Ohne Mogul Warner wäre der Film nicht im Kino, und ob Chairman Roger Smith und damit GM die Hände in diesem Medium hat, wäre noch zu prüfen. So fragt sich noch, wer eigentlich zuletzt lacht und für wen Michael Moore seinen nächsten Film machen wird.

Mit »Roger and Me«, dem erfrischend einseitigen, herzlich parteiischen und boshaft unausgewogenen Film, bereitet er jedenfalls all denen große Freude, die von der pluralistischen Heuchelei, der verkommenen Objektivität und der ausgewogenen Impotenz des hiesigen Kultur- und Fernsehbetriebs die Schnauze voll haben. »Roger and Me« ist keine dieser Fernsehdokumentationen, die auf unseren Kanälen immer nur die gleichen Bilder von den ach so traurigen Fassaden Dresdens zeigen, wo der böse Sozialismus die Bürgerhäuser abgebröckelt hat. – Von Sentimentalität, Weinerlichkeit und Betroffenheit aber keine Spur, wenn in Michael Moores Film Fassaden bröckeln. Jetzt sind es Arbeiterhäuser aus Flint, Michigan, die leerstehen und verfallen: Straßenzüge, Stadtviertel. 30.000 Arbeiter waren – 1986 – auf einen Schlag wegrationalisiert worden. Gleich danach räumte der Gerichtsvollzieher die Wohnungen: sie waren von der Sozialhilfe nicht zu bezahlen.

Die Kamera folgt dem Gerichtsvollzieher bei seiner Arbeit, der Exmittierung. Ein verständnisvoller Mensch. Bei der Räumung am Heiligabend ordnet er die schonende Behandlung eines geschmückten Weihnachtsbaumes an, damit die Kinder ihre Freude haben. Ein kleiner Junge guckt in die Kamera. Das wars. Und die Wüste, die dieses kapitalistische Rationalisierungsverbrechen hinterlässt, ist wieder etwas größer geworden. Seht Euch diese Bilder an! Wer hat wann, wo, in dieser Intensität die Spuren einer durchgeplanten, wohlbedachten Umweltkatastrophe gezeigt? Spuren von Hausrat, Müll, von aufgebrochenen Türen und eingeschlagenen Fenstern in den menschenleeren Vierteln von Flint, – eine Endzeit als Resultat marktwirtschaftlicher Kalkulation. »Roger and Me« zitiert Roger Smith’s »genialen Plan«, entwickelt aus einer betrieblichen Kosten-/Nutzen-Analyse. Auf einen Tag wurden 11 General-Motors-Fabriken geschlossen und 30.000 Arbeiter auf die Straße gesetzt (seien wir gerecht: der Film zeigt, dass jeder zur Abfindung eine Blume in die Hand gedrückt bekam), weil dem Management die Produktion im Ausland (Mexiko) kostengünstiger erschien und weil außerdem das zusätzlich erwirtschaftete Geld in Zukunftstechnologien wie SDI investiert werden sollte.

Der Segen der freien Marktwirtschaft ist der Unsegen von 30.000 Familien, die unfrei geworden sind. Michael Moore sammelt Bilder, Dokumente einer Katastrophe, die das Fernsehen nur zeigen würde, wenn die Verursacher anonym blieben wie beispielsweise das Erdbeben, die Überschwemmung und der Waldbrand bei Ajaccio. Moore, und das macht ihn sympathisch, zeigt seine Gefühle, seine Empörung und die kalte Wut. Flint ist seine Heimatstadt, seine Familie arbeitete schon in der dritten Generation für GM. Die Marktwirtschaftskatastrophe kommt ihm so nah, dass für den Blick von außen, fürs Durchreflektieren und dergleichen beschauliche Arbeit weder Platz noch Zeit ist. Er will nichts weiter, als Big Boss Roger nach Flint bringen, damit der sieht, was er angerichtet hat. Zu fassen bekommt er einen PR-Mann von General Motors. Mit vielen schönen Worten bekundet dieser ihm Unverständnis: »Wir sind ein profitorientiertes Unternehmen«, und Roger Smith in Flint: was für Profit würde das bedeuten? Keinen, eben. (Im Übrigen meldet der Film zum Schluss, dass nach dem Interview auch die Stelle des PR-Mannes wegrationalisiert wurde).

»Roger and Me« kommt zur rechten Zeit. In einer Zeit, in der das vormals sozialistische Lager den schönen Traum von der Freiheit der freien Marktwirtschaft zu träumen beginnt, liefert Moores Film das Gegenbild: Dokumente eines bösen Erwachens. Denn unseren Brüdern & Schwestern steht profitorientierte Ruinierung ins Haus. Warte, warte nur ein Weilchen, dann wird aber heftig gekappt, gehackt und rationalisiert werden. Wie die vielen Flints in der Ex-DDR aussehen werden, davon kann sich jeder unschwer ein Bild machen, der sich die marktwirtschaftlichen Ruinen von »Roger and Me« ansieht.

Wer in diesem Film General Motors (moralisch) in die Knie zwingt, ist ein Einzelkämpfer, ein Held, der sich der Sache Wehrloser und Entrechteter angenommen hat. Ein sehr realer Batman, dem keiner die Verantwortung abnimmt. Weder gibt es Massen, die sich gegen GM erheben, noch gibt es eine irgendwie geartete Organisation, gar Bewegung, der man sich anschließen könnte. »Roger and Me« braucht weitere Helden, die vor Thronen aufmucken möchten. Die Gewerkschaft zum Beispiel, und das ist alarmierend genug, ließ die 30.000 Arbeiter schlichtweg im Stich. Die Filmmontage bringt das sehr schön auf den Punkt. Auf einer Art Karnevalsumzug (»The Big Parade«) wird des großen Sitzstreiks von 1937, an dem ein Onkel des Filmemachers beteiligt war, zwar gedacht, aber er ist zur Folklore verkommen. Der Streik-Wagen folgt dem des Gouverneurs und dem der städtischen Schönheitskönigin. 1937 war die erste Industriegewerkschaft der USA erstreikt worden, heute fährt der erste Gewerkschaftsfunktionär in einem überlangen GM-Wagen vor und erklärt dem Interviewer Michael Moore: »Nein, heute doch kein Sitzstreik! Die Zeiten haben sich geändert«. Der Kommentar wird einem Passanten überlassen: »Der Gewerkschaftsbonze, ein Freund des Managements von GM«.

Irgend ein Verhalten oder irgendeine Regung, die man als solidarisch begreifen könnte, wird in diesem Film nicht registriert. Wenn dies die gesellschaftliche Wahrheit sein sollte, dann wird das Vakuum von Unbedarftheit und Verkommenheit gefüllt. Im alltäglichen Nahbereich, in dem sich der Film bewegt, herrschen Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Klassendünkel, Brutalität, Erbarmungslosigkeit und der allerschleimigste Nationalismus (»I am proud to be an American«, schnulzt Pat Boone live). In Moores Dokumentation werden die, die ihre Sprüche ablassen, lächerlich. Die Montage macht den belehrenden Kommentar überflüssig. Es darf gelacht werden. Und selbstredend könnte man auch bei uns einen ähnlichen Katalog von Bösartigkeiten aufstellen, dann auf ans Werk, aber bitte so parteilich wie Regisseur Moore. Denn auf die zynischen Worte, die das Establishment für die 30.000 Arbeitslosen übrig hat, folgen zynische Taten. Wenn Reagan, zu Besuch in Flint, zum Pizzaessen einlädt (galt für 15 von 30.000), ist es logisch, dass die Restaurantkasse geklaut wird. Wenn Anita Bryant, die singende Reaktionärin, empfiehlt: »Be positive«, provoziert sie einen negativen Straßenraub. Wenn auf der Gardenparty des Gouverneurs den Arbeitslosen auf den Weg gegeben wird: »Früh aufstehen ! Arbeit suchen! «, dann antwortet Rhoda Britton mit der normalen Brutalität der Sozialhilfeempfängerin, indem sie zur Verbesserung der Stütze in ihrem Heim eine Kaninchen- und Hasenschlachterei einrichtet. »Ich hab nur zehn Käfige«, sagt sie angesichts der zusammengepferchten Tiere in die Kamera, »jetzt fressen sie sich gegenseitig die Eier ab«, dann streichelt sie dem Tier, das sie liebevoll im Arm hält, über den Pelz und zieht ihn ihm über den Kopf, während sie das Interview fortsetzt.

In der amerikanischen Filmpresse sind in diesem Wust grade eben 2 (zwei) Ungenauigkeiten ausgemacht worden – Marginalien, und man kann sich denken, dass GM Argusaugen gehabt hat. Die mit viel Publizität kolportierten Einwände (»Reagan war noch nicht Präsident, nur Kandidat« u. dergl.) sind Korinthenkackerei. »Roger and Me« braucht nicht Beckmesser, sondern Nachahmer; das Phänomen »Roger« ist universell und damit auch deutsch. Da die hiesige Lösung, einen deutschen Roger nötigenfalls hinzurichten, nicht zum Publikumshit geworden ist, verspräche eventuell ein Versuch mit der Moore-Methode des and Me Erfolg – jedenfalls im Kino.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/1990

Starbuck Holger Meins

(D 2001, Regie: Gerd Conradt)

Nachteile der Politisierung
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Gefangene Holger Meins stirbt am 9. November 1974 den Hungertod. »Eine Hinrichtung auf Raten«, hatte damals Rechtsanwalt Schily gesagt. Heute lädt »Starbuck Holger Meins« noch einmal zur Leichenschau. Kunstdozent …

Der Gefangene Holger Meins stirbt am 9. November 1974 den Hungertod. »Eine Hinrichtung auf Raten«, hatte damals Rechtsanwalt Schily gesagt. Heute lädt »Starbuck Holger Meins« noch einmal zur Leichenschau. Kunstdozent Manfred Blessmann kommentiert die Autopsiefotos, die damals der »Stern« in der Anatomie aus entstellender Perspektive geschossen hatte. »Ein Alien«, findet Blessmann. Die Leichenteile scheinen falsch zusammengefügt. Aber, so empfiehlt er, man kann es auch positiv sehen. Außerirdisch sieht der Körper aus, wenn die Seele ihn verlassen hat und der »Übertritt« geglückt ist. – Halleluja.

Jugendfreund Blessmann dominiert in den inszenierten Teilen des Films. Regisseur Gerd Conradt zeigt ihn, wie er eine Wäscheleine abschreitet, an die Bilder des Kunststudenten Meins geklammert sind. Dünkelhaft und borniert kommentiert der Dozent die Arbeiten den lieben langen Film hindurch. »Man sieht nicht, wer Mann, wer Frau ist«, nörgelt er. Immerhin sehen wir im Film selbst den Holzschnitt, und es ist scheißegal, was die Figur für ein Geschlecht hat. Wozu also diese Andeutung? Na klar, damit Exfreund Conradt der Szene ein Pseudostatement ankleben kann, in welchem die Schauspielerin, die Meins’ Exfreundin spielt, sagt: »Der Typ kam auf Stöckelschuhen ins Zimmer.« Mag ja sein, dass Meins’ Exe sich von den besten Absichten leiten lassen. Die unterschwellig hämische Attitüde macht jedoch aggressiv. Gut, dass ich das nur auf der Leinwand gesehen habe. So bleiben die Pseudofreunde Filmbösewichter, und denen haut man bekanntlich nicht in die Fresse.

Ich möchte nun, nachdem der emotionale Überdruck entwichen ist, das affektive Ventil wieder schließen und meinerseits darauf kommen, dass man Conradts Film auch positiv sehen kann. Vor allem wenn Meins’ Vater ins Bild kommt, der einzige aufrechte und imponierende Mensch dieser Statementcollage. Er erzählt schnörkellos, wie er Holger, verhaftet, auf den Medienfotos gesehen hat, fast nackt, »kein Haar gekrümmt«. 36 Stunden später, auf der Krankenstation, neben sich den Vollzugsbeamten, riss er seinem Sohn die Bettdecke runter und sah den Körper »voller Blutergüsse, Quetsch- und Schlagwunden«. In diesen wenigen Vaterauftritten wird Holger Meins zum Helden des Films. Die RAF-Zeit wird in den Bruchstücken präsent, und mir lief es kalt den Rücken runter. Vater Wilhelm Meins hatte schon vor zwanzig Jahren in Conradts erstem Meins-Film eine Hauptrolle gespielt (»Holger Meins – Ein Versuch«). Es wäre eine Freundlichkeit gewesen, wenn der Zuschauer erfahren hätte, ob das, was er hört und sieht, von Conradt heute oder 1982 oder 1975 aufgenommen wurde. Wir dürfen uns das aussuchen, doch der angereicherte Meins-Remix hat sowieso den Zeitbezug verloren. Der Film interessiert sich nicht wirklich für das, worum es dem RAF-Kämpfer ging. Wir verbleiben auf dem Niveau von Personalien und Anekdoten.

Wie also kam Holger Meins zum Decknamen Starbuck? Da der Verhungerte nicht mehr plaudern kann, muss jemand anders ran, und das ist der seinerzeit zuständige BKA-Mann Alfred Klaus. Dieser gibt vor der Kamera launig und gütig lächelnd zum besten, wie ihm bei einer Zellenrevision die Meinhof in den Bauch trat, obwohl er ihr doch nur einen Kassiber weggenommen habe. Gudrun Ensslin hatte sich für Meins den neuen Namen ausgedacht: Starbuck, der Steuermann der Pequod in Melvilles »Moby Dick«. Schon kriegen wir im Film jemanden zu sehen, der in Steuermannspose auf Deck steht. Aber das ist nicht Holger Meins, sondern Kommissar Klaus. Er hat die Titelrolle usurpiert. Hoch aufgereckt durchpflügt er das Wasser, um ihn die unendliche Weite des Meeres – eine ausgeklügelte Einstellung, denn Klaus lebt in Hamburg, wir müssten eher auf der Elbe oder Alster sein, jedenfalls im Sendegebiet des Filmförderers NDR.

Was also lehrt uns die Apotheose des BKA-Beamten? Dass »Starbuck Holger Meins« ein Film für die Beamten der Begnadigungsabteilung im Bundespräsidialamt ist – wenn wir dem vertrauen dürfen, was der Regisseur in einem Interview gesagt hat. Also, pscht, nicht so laut, es geht doch darum, die RAF-Genossen, die noch einsitzen, freizubekommen: Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt, Rolf-Clemens Wagner, Rolf Heissler, Eva Haule, Birgit Hogefeld, Andrea Klump. Doch der Bundespräsident hat den Filmstart nicht abgewartet, um in diesem Jahr Adelheid Schulz zu begnadigen. Und bezweifeln darf man, ob der ewig gütig lächelnde, wiewohl etwas schmallippige Klaus der rechte Befürworter ist. Er spricht noch heute von der »Mörderbande RAF«, öffentlich, und das nimmt nicht wunder, jedoch eher schon, dass Conradt ihn als Begleiter für die Lesetour auserkor (Starbuck – Holger Meins, das Buch). Irmgard Möller hatte sich daraufhin in der »Taz« gefragt, wie es möglich sei, dass jemand seine Erinnerungen an Holger grade Conradt anvertrauen kann.

Conradt klagt in der Tat über eine Vielzahl von Absagen. Vielleicht liegt es daran, dass einer wie Rainer Langhans jetzt ungehemmt ins Bild kommt und von den Zeiten der Kommune 1 schwärmt, »das Matratzenlager, Holger in der Mitte, morgens die ›Bildzeitung‹ geholt, er ein Sorgenkind mit wechselnden Zuständen, weich, liebebedürftig, umschlagend in gefährliche Aggressivität … Er führte Krieg gegen sich selbst und nicht gegen andere.« Meins’ Weg in die RAF: ein Psychoproblem? Für die Mitstudenten an der Berliner Filmakademie war Meins im Jahr 1968 »weich, lieb und unschuldig« (Michael Ballhaus), »the wild time was fantastic to me, the revolution time was wonderful« (Wolfgang Petersen), »ich ging mit ihm ins Rolling-Stones-Konzert, wir hangelten uns mit Bettlaken von der Empore runter direkt auf die Bühne«, weiß die Exfreundin zu berichten. – Und dann? Der Mao war’s! »Danach lag Holger nur im Bett und las die Worte des Vorsitzenden. Es war deprimierend.« Der Film malt die Nachteile der Politisierung aus. Erstens ist die künstlerische Kreativität weg. Zweitens kleidet sich Meins schlecht. Und drittens achtet er nicht auf seine Gesundheit: »Du musst frühstücken. Das ist die Pflicht eines Revolutionärs«, will Peter Lilienthal ihn belehrt haben.

Im Printmedium wären wir in der Rubrik »Leute«. Meins ein verhinderter Popstar? Die »aktionsgruppe starbuck – fraktion berliner filmstudenten 2001« hat seinen legendären Film »Herstellung eines Molotowcocktails« rekonstruiert. Doch die Filminserts zwischen den Psychostatements sind es, die den »Starbuck«-Film zur Zeit hin öffnen, in der Meins politisch gekämpft hat. Meins als Darsteller und an der Kamera in Bitomskis Film »Johnson & Co. – Feldzug gegen die Armut« (1968). Eine Frau erschießt den Bankdirektor. Das ist ein Lehrfilm, eine Parabel. Die Charaktermasken sind weiß geschminkt, der Text kommt als Traktat. Wir haben die Zeit der Botschaften. Die Inserts wirken zwischen Conradts talking heads erfreulich deplaziert, und sie sind kräftig genug, zu transportieren, was Conradt/Klaus blockieren.
Wer will, kann sich aus dem »Starbuck«-Material seinen eigenen Film machen. Ich versichere hiermit, dass es geht. Conradts Film ist, um zum Schluss noch einen versöhnlichen Satz zu sagen, unabgeschlossen genug.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 05/2002

Die Grauzone

(USA 2002, Regie: Tim Blake Nelson)

Stars im KZ
von Dietrich Kuhlbrodt

Waren die Arbeiter des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz auch Täter? Diese Frage stellt Tim Blake Nelson in seinem Film „Die Grauzone', der zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ nun …

Waren die Arbeiter des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz auch Täter? Diese Frage stellt Tim Blake Nelson in seinem Film „Die Grauzone', der zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ nun auch in die deutschen Kinos kommt.

Der drei Jahre alte Film kommt hier am 27. Januar 2005 heraus, dem 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz. Zum ersten Mal richtet sich der Blick auf jene jüdischen Opfer, die in einem SS-geführten Kommando Mithäftlinge in die Gaskammern trieben, die Leichen entsorgten, Haare abschnitten, Goldzähne ausbrachen, den Körper verbrannten, die Knochen zermahlten und die Asche verstreuten. Waren diese Arbeiter im Industriebetrieb Auschwitz nicht auch Täter? Und ist, diese Frage zu stellen, tabu? Nicht für Regisseur Tim Blake Nelson. Für ihn war das Problem „unlösbar'. „Die Menschen dieses Films sind keine Helden.' Wer im Sonderkommando war, hatte Aussicht zu überleben, wenn auch nur für vier Monate. Aber darum ging es. Das waren viele Tage, sehr viele Stunden. „Bis heute bin ich nicht in der Lage zu sagen, was ich in dieser moralischen Grauzone getan hätte' (Nelson). Gedreht hat er den Film hart an den historischen Fakten entlang. Und in der Erwartung, in Amerika „Kontroversen hervorzurufen, besonders in der jüdischen Gemeinde'. Die jüdischen Männer des Sonderkommandos seien „weit entfernt von den in vielen Holocaust-Berichten meist weinerlich zusammengekauert dargestellten Juden. Sie waren oft grob und gottlos, und sicherlich schlichen sie sich nicht davon, um heimlich zu beten oder über Gott zu philosophieren. Sie machten einfach alles, um zu überleben.'

Keine Frage, dass die 2200 jüdischen Arbeiter der Sonderkommandos Monate vor ihrer physischen bereits der psychischen Vernichtung ausgesetzt waren, und wir werden in das moralische Dispositiv hineingezogen – in Kollaboration und Korruption. Mit Uhren und Schmuck der in der Gaskammer Getöteten erhandeln sich Angehörige der Todeskommandos beim SS-Personal manche Annehmlichkeit. Der Film beschönigt nicht. Der Zuschauer ist ziemlich gefordert. Soll er sich empören über jüdische Leichenfledderer, die ihrerseits Todeskandidaten sind?

Held oder eben Nicht-Held der „Grauzone' ist der Gerichtsmediziner Dr. Miklos Nyiszli, der 1944 zusammen mit den ungarischen Juden nach Auschwitz deportiert worden war. Er überlebte. 1946 veröffentlichte er seine Erinnerungen unter dem Titel „Ich war der Pathologe von Dr. Mengele im Auschwitzer Krematorium'. So, wie es im Buch steht, zeigt es der Film gleich zu Anfang: „Ein Angehöriger des Sonderkommandos schläft in einem geheizten, gelüfteten, sauberen Raum, auf weichem Kissen, im sauberen Bett, unter einer warmen Decke. Seine Verpflegung ist gut, seine Kleidung nicht minder. Er hat etwas zum Rauchen und zum Trinken.' Austern für alle. Einen Zweireiher, weißes Hemd und Schlips für den jüdischen Pathologen, Mengeles Zwillingsforscher.

Dramaturgisches Gegengewicht ist im Film der einzige bewaffnete Häftlingsaufstand im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Beteiligt waren neben polnischen Partisanen und jüdischen Zwangsarbeiterinnen auch Juden der Sonderkommandos. Die Krematoriumsöfen wurden am 7. Oktober 1944 gesprengt, ein Vierteljahr vor der Befreiung. 451 Angehörige der Kommandos wurden erschossen. Mengeles jüdischer Pathologe war Zuschauer, unter den SS-Leuten, lässig eine Zigarette in der Hand. Er hatte den Plan verraten, wenn auch nur im Groben. Auch das ist historisch gesichert. Aber kommt es darauf an, wenn man dem Film auch ohne legitimatorische Beteuerungen glaubt? Ergreifend ist die Off-Stimme eines Mädchens, das die Gaskammer überlebt hatte, aber gleichwohl getötet wurde: „Ich fange schnell Feuer. Der erste Teil von mir steigt hoch in die Luft und verschmilzt sich mit dem Rauch der anderen, ein anderer Teil kommt zermahlen in den Fluss. Der Rest wird zusammengefegt. Grauer Staub legt sich auf Schuhe, auf Gesichter, auf alles, und die Arbeit geht weiter.' Wir sehen im Kino Flammen aus den Schornsteinen schlagen, schwarzer Rauch quillt, die Farben verblassen, das Bild wird weiß.

Es ist richtig, dass der Film illustriert, was das Wort vermittelt. Schwierig wird es dann, wenn sich etwas nur als Fiktion wahrnehmen lässt. Über die Merkwürdigkeit, dass in der „Grauzone' Mengeles Pathologe nicht mit Dr. Mengele, sondern mit SS-Oberscharführer Muhsfeldt zu tun hat, kommt man jedoch hinweg, weil diese Rolle der Co-Produzent des Films Harvey Keitel („Pulp Fiction') spielt – eine Hauptrolle. Auch versteht man, dass jemand wie David Arquette einen KZ-Insassen spielt, obwohl sein Gesicht nicht hinpasst: Da er für die Kassenschlager »Scream 1, 2 und 3« 1998 den Blockbuster Favorite Actor Award als Bester Schauspieler bekommen hat, verhilft er der „Grauzone' zu erhöhter Aufmerksamkeit. Die Stars lenken ab, aber man kuckt hin, besonders wenn es sich um Steve Buscemi („Pulp Fiction') in der Rolle des Juden Abramovics handelt.

Aus dem Gleis kommt man eher bei Einsprengseln im Film, die den großen moralischen Entwurf ohne Not fragwürdig machen. Denn kann ein Häftling, auch wenn er privilegiert ist, den SS-Führer des Todeskommandos, der Alkohol im Dienst getrunken hat, wirklich erfolgreich mit dem Satz erpressen: „Ich werde Ihren Vorgesetzten mitteilen, dass Sie nicht diensttauglich sind'? Und können in der Gaskammer tatsächlich junge Leute überleben, die sich niederwerfen, den Mund auf den Boden pressen und damit nicht die volle Dosis einatmen?
Sicherlich spricht es nicht generell gegen einen Film, wenn man mehr wissen will. „Die Grauzone' macht aufmerksam auf die Erinnerungen, die Miklos Nyiszli 1946 geschrieben hatte. Das Buch ist unter dem Titel „Im Jenseits der Menschlichkeit' neu erschienen. Überarbeitet liegt auch wieder das nüchterne und detaillierte Standardwerk zur Geschichte der jüdischen Sonderkommandos vor: „Zeugen aus der Todeszone'. Einbezogen sind der Aufstand 1944 und der Versuch der überlebenden Kommandoangehörigen, das moralische Dilemma aufzuarbeiten.
Der Film beruft sich auf die Zeugnisse und historischen Forschungen zu diesem Thema – und auf die erste Gestaltung in einem Bühnenstück, das Regisseur Tim Blake Nelson 1996 an einem Off-Broadway-Theater inszeniert hatte. Wenn „Die Grauzone' jetzt wieder auf diese Grundlagen zurückführt, dann hat der Film viel geleistet – bei uns, die an der moralischen und traumatischen Implikation vorbeigesehen haben. Betrifft das große Grauzonen-Dilemma niemanden hier? Nelson „hatte eigentlich einen Aufschrei aus der amerikanischen jüdischen Gemeinde erwartet'. Der Aufschrei blieb dort aus.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 02/2005

Leaving Las Vegas

(USA / F 1995, Regie: Mike Figgis)

Symphatischer Nuttenlook
von Dietrich Kuhlbrodt

Ganz Hollywood freut sich über diesen Off-Hollywoodfilm, denn erstens geschieht es einem glücklosen Drehbuchautor (Nicolas Cage) ganz recht, wenn er sich zu Tode säuft, und zweitens sorgt der Filmautor Mike …

Ganz Hollywood freut sich über diesen Off-Hollywoodfilm, denn erstens geschieht es einem glücklosen Drehbuchautor (Nicolas Cage) ganz recht, wenn er sich zu Tode säuft, und zweitens sorgt der Filmautor Mike Figgis ('One Night Stand'), der so erfolgreich die Aussteigergeschichte verfilmte, für neues Blut, gern aus Europa, sehr gern auch von anderen Medien, Hauptsache Hollywood selbst ist es, das lutscht.

Das, was bei uns das Publikum in Scharen aus dem Kino treibt, gibt in den USA den definitiven Kick: der Autorenfilm nämlich. Geschwind in einen Mainstreamfilm umdefiniert und mit Oscars garniert, dann konsumiert auch das Europublikum den US-Autorenfilm, it sucks, Leute. Der Plot – ach ja, der Alkoholiker deliriert in den Armen der Prostituierten Elisabeth Shue dem Tod entgegen, das war’s – bringt es offensichtlich nicht, wohl aber die Autorität, mit der der Brite Figgis den Film zu seiner persönlichen Angelegenheit gemacht hat. Er blies auf der Trompete, bediente die Keyboards, komponierte die Musik, schrieb das Drehbuch und inszenierte den Film, in dieser Reihenfolge. Auch lässt der Musiker, Performance-Künstler und Off-Schauspieler Figgis im Off seinen Freund Sting ('Angel Eyes') singen, und zwar zu Bildern, die eindeutig nicht im Studio aufgenommen sind. Die Szenerie ist nicht 'richtig' ausgeleuchtet, die Schärfentiefe mangelhaft, auch wackelt das Bild 'unprofessionell', dafür aber stürzt sich die Handkamera begierig ins Gewiesel und Gewimmel von Straßen und Spielsälen. Statisten und Komparsen hatten sich unters angestammte Volk gemischt, die Wahrheit wird outdoors gefunden, und der Todesfilm ist voll prallen Lebens.

Die große Liebesgeschichte wird nicht vom Plot erzählt, seht Euch das an, Ihr Anhänger des narrativen Films! Was ist da alles eingeflossen: das Dokumentarische ins Fiktionale, der Realismus in die Phantasie und das Lettische in den Sprachschatz des Julian Sands. Ja, dieser hat extra für seine Winzrolle (Proletensohn aus Riga steigt zum Zuhälter in L.A. auf) russische Filme studiert und 15 Sätze Russisch (?!) gelernt.

Andererseits sind es Kampagnen für VW, Volvo und British Airways gewesen, die dem englischen Cutter John Smith Preise eingebracht haben. Kameramann Declan Quinn ist für seine Werbefilme (British Petroleum), Musikvideos (U2) sowie für seine Aidskampagne (MTV) berühmt, während der österreichische Ausstatter Waldemar Kalinowski auf Forschungsarbeiten in Warschau zurückgreifen kann. Modisch ist Großbritannien in 'Leaving Las Vegas' Kult, denn der sympathische Nuttenlook – Korsetts, hochhackige Schuhe, Schlangenleder – stammt aus dem Fundus unserer großen europäischen Designerin Vivienne Westwood. Und produziert ist der ganze Film von der Eurofirma Lumiere, die erfolgreich nach Hollywood expandiert hat. – Ja, alles ab nach drüben. Leaving Europe. Und wo bleiben wir hier, mit unseren eigenen Kreationen? Bluten wir jetzt aus? Muss die Redaktion ein Sorgentelefon einrichten? Greift wer zur Flasche?

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 05/1996

Alien – Die Wiedergeburt

(USA 1997, Regie: Jean-Pierre Jeunet)

Alien-Abtreibung
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein auffällig platzierter Kaiserschnitt – und Sigourney Weaver ist Mutter geworden. Was da im wissenschaftlichen Brutkasten heranreift, ist jedoch fremdartig, schwer behindert, bissig: eine Missgeburt (Alien). 18 Jahre nach dem …

Ein auffällig platzierter Kaiserschnitt – und Sigourney Weaver ist Mutter geworden. Was da im wissenschaftlichen Brutkasten heranreift, ist jedoch fremdartig, schwer behindert, bissig: eine Missgeburt (Alien). 18 Jahre nach dem ersten Alien-Film pflegt Sigourney Weaver Kontakt mit dem heimlichen Wesen in ihrer eigenen Welt und lässt sich von dem behinderten Kind ausgiebig das Gesicht ablecken. Kuscheleinheiten in der Mutter/Tochter-Beziehung, Kommunikation und Lernprozesse darüber hinaus: Das ist neu im vierten »Alien«. Sogar die Kreuzung von Mensch und Fremdling ist möglich, wie die Experimente im gentechnischen Labor beweisen. Doch der Wissenschaftler ist böse, weil er einen Zopf trägt sowie Stiefelfetischist ist und sich die Wichse, bevor er sie aufträgt, so aufkocht, wie man es vom Fixen kennt.

Zurück zu den Missgeburten. Wie befreit man sich von »lebensunwerten« Behinderten? Wir wissen das alle. Für die Alien-Euthanasie nimmt man heute einen modernen Flammenwerfer. Der erledigt beides in einem: vergasen und verbrennen. Die Reinheit des Menschengeschlechts zu wahren, ist ein harter Job, wenn die Biester, die doch auch irgendwo Mensch sind, einen zwar zähnefletschend, aber immer wieder mit großen Augen und flehendem Blick ankucken – hat unser Alien nicht eine Träne im Auge?! Mutter Weaver, ganz in schwarzem Leder, kommt in einen Mordszwiespalt. Schließlich muss sie sich entscheiden: Soll sie ihr fremdartiges Kind durchbringen? Soll sie sich ihre Freundin Winona Ryder erhalten? Der hatte sie unerschrocken in die Brust gefasst und dabei ein humanoides Geheimnis entdeckt, was hier nicht enthüllt werden soll, weil es dem Kuscheln und Schmusen keineswegs entgegensteht. Auf den Weaverschen Zügen malt sich lang, sehr lang der Kampf ab, der in ihrem Busen tobt. Ihr Blick geht hin und her: das Kind?? Die Freundin?? Wie würden Sie entscheiden?

Eine Frau zwischen zwei liebebedürftigen Wesen. Damit wären wir aus dem Universum der »Alien«-Filme raus. Um das zu vermeiden, klotzt der Film mit einer Überfülle tricktechnischer Innovationen. Man kann nur noch staunen, was da so alles auf dem Markt ist. Im Angebot etwa: Raumschiffbasketball, und der Weaver gelingt ein unglaublicher Korb aus der Drei-Punkt-Zone. Weil wir in einem Frauenfilm sind, werden die Frauen in der Raumschiffkantine von einem Schwarm Dinosaurier verfolgt, welche deswegen Amphibien sind, weil das Raumschiff mit zwei Millionen Liter Wasser gefüllt ist, was nötig ist, damit die Dinos wie Spermien hinter Frau Weaver herjagen können. In dieser in jeder Hinsicht gewalttätigen Dekoration hilft nur die Gegengewalt. Und so sind die vielen derben Splatterszenen des Films einerseits dazu da, den auf die Dauer ermüdenden Kulissenwechsel ein wenig zu beleben, andererseits aber auch dazu, die Aktionen gegen Alien-Gewalt zu legitimieren. 18 Jahre Weaver und kein Ende. Wir dürfen weiter hoffen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/1997

21 Gramm

(USA 2003, Regie: Alejandro González Iñárritu)

Das Herz! Das Sperma!
von Dietrich Kuhlbrodt

Es gibt ja diese Menschen, die über alles Bescheid wissen und denen man nach einer Weile nicht mehr zuhören mag. Und es gibt Filme, denen man nicht mehr zusehen will. …

Es gibt ja diese Menschen, die über alles Bescheid wissen und denen man nach einer Weile nicht mehr zuhören mag. Und es gibt Filme, denen man nicht mehr zusehen will. Den ewig gleichen Beziehungsdramen beispielsweise. »21 Gramm« ist dagegen ein Film zum Zusehen. Endlich mal wieder neugierig sein, auf Menschen, auf Orte. Wer zuschaut, wird gepackt und aktiviert; er gerät da in etwas hinein, was geschieht, was merkwürdig ist und immer vertrauter erscheint. An Plätzen, wo er noch nie war. In Memphis Tennessee etwa, im Winter. Was ist da los? – Da will man noch etwas von der Welt erfahren, die unbegreiflich erscheint, aber begriffen werden will.

Der mexikanische Regisseur Alejandro González Iñarritu (»Amores Perros«) hat diesen Blick des Malers, der erst mal aufnimmt, was ihm der Ort sagen will, bevor er sich dran macht und gestaltet. Und der, der nicht nur über sich schreiben und die Welt belehren will, notiert sich erst mal, was er in Gesprächsfetzen und zufälligen Eindrücken mitbekommt, bevor er das in eine Form bringt. – Ich sag das mal so penetrant, weil das Industrieprodukt Film uns, die im Kino etwas aufnehmen wollen, aus der Übung kommen lässt. Wir könnten da genausogut Rezipienten des Films sein, wie der Künstler Orte, Menschen und Geschehen rezipiert. Statt dessen werden wir wie Konsumenten behandelt: kauen, schlucken, verdauen oder aber das Fastfood auskotzen und fertig. Davon haben wir nichts. Vielleicht von meinen belehrenden und für die Beteiligung an »21 Gramm« kontraproduktiven Vorbemerkungen (nein, eigentlich Hauptbemerkungen) auch nichts.

Aber es muss raus: Augen öffnen und Ohren spitzen bitteschön! Wir sind hier weder im Diskurs noch in der narrativen Handlung. Der Film hat Handlung. Aber keine, die sich angemessen erzählen ließe. Wer’s dennoch tut, lügt. Oder bedient das Produkt »Filmkritik« und schreibt, wie schwer es einem der Film macht, Handlung wiederzugeben. In Konkret ist es möglich, statt dessen den Film zu beschreiben. Wie man ein Bild beschreibt. Und es dem Zuschauer zu überlassen, sich das Narrative selbst zusammenzupuzzeln. Und seinen Spaß, seine Aufregung zu haben.

Tschuldigung, schon wieder diese, meine Bemerkungen. Aber ich bin hoffentlich wieder beim Beschreiben. Beim Beschreiben, wie diese ungewöhnliche Installation namens »21 Gramm« funktioniert und wie sie bedient werden kann. Was genau das Rezeptionsendergebnis ist, ist nicht vorauszusagen. Möglicherweise gibt es genausoviel Rezeptionsversionen wie Köpfe im Kino. Im Konkret-Umfeld war die Meinung geteilt: ja, nein. Mau lau gibt’s nicht. Das machen die »21 Gramm«-Emotionen.

Das Herz! Das Sperma! Der Herzkranke wartet auf ein Spenderherz. Er vertreibt sich die Zeit mit Kettenrauchen und Husten. Die frustrierte Ehefrau wartet auf einen eigenen Kliniktermin. Auf die Transplantation des Samens, den der todkranke Gatte gespendet hat. Halten wir fest, dass der, dem gespendet wird (Herz), vorher gespendet hat (Samen) – nein, das ist es nicht. Gut, dann: der Todkranke weiß auch nicht weiter. Er raucht. Therapeutisch kontraproduktiv. Und die Ehefrau weiß es nicht besser. Die Beziehung war schon am Ende gewesen. Jetzt flüchtet sie sich in eine Position, in der sie sich einmauert. Liefe es mit dem Gatten schief, soll es nach dessen Tod mit der künstlichen Befruchtung klappen. Der Mann in mir, das Kind dann neben mir. Familie. Jetzt klappt’s.

Wie finden Sie diese Mordsinterpretation? Scheiße. Aber wie wär’s mit dem hyperrealistisch Dokumentarischen: Die Kamera hält fest, was ihr vors Auge kommt. Auf der Werbetafel eines verlassenen Kinos steht: God bless the USA. Der Patriotismus auch eine Haltung, in die sich flüchtet, wem’s zu kalt wird? Aber das dokumentarische Auge sucht keine Metaphern. Die Handkamera läuft hinterher. Wir sehen die Darsteller oft von hinten. Werden sie eingeholt, sucht die Kamera einen Blick zu erhaschen. Gern unter einem Ellenbogen hindurch. Vorn ist’s unscharf. Die Kamera will nicht eingreifen. Was sie aufnimmt, ist benutzt. In der Gefängniszelle ist der Putz abgeblättert. Sowas kriegt kein Studio hin. Was unaufgeräumt, trostlos, schmutzig ist, das lässt sich nicht herstellen, aber wiedergeben. »21 Gramm« ist ein Dokumentarfilm. An Originalorten gedreht. Und die Statisten sind nicht Laiendarsteller, sondern das, was sie in ihrem Leben darstellen: Kardiologen, Krankenschwestern, Stammkneipengäste. Und beim Samenspenden läuft zur Ermunterung ein Pornofilm, der da immer läuft. Der echte Arzt stellt ihn echt an und gibt dem Spender (ausnahmsweise Sean Penn) ein echtes, abgegriffenes und wahrscheinlich nicht ganz trockenes Exemplar von »Penthouse«. Und wenn man dazu wahrnimmt, dass selbst die Stars sehr viel mehr tun, als das Gesicht hinzuhalten und ihre Rolle zu spielen, wird’s nahegehend und persönlich. Besonders die Frauen gehen über die Spielfilmgrenze hinaus. Als Zuschauer kann man wählen, sich auszuklinken und seinerseits eine feste Position einzunehmen oder sich hineinzerren zu lassen in das, was nahe geht und näher kommt – und das Feld der offenen Position besetzt.

»21 Gramm« ist also, was die Kamera, die Selbstdarsteller und die sich entäußernden Schauspieler betrifft, authentisch. Jawohl. Gleichwohl ist der Film kunstvoll gepuzzelt. Der Schnitt holt gern eine Großaufnahme heraus. Dann gibt’s ein stehendes Bild. Zum Abtauchen in mögliche Verknüpfungen und Assoziationen. – Wir hatten die Position des Rauchens-trotz-allem. Auch die der Heilen-Familie-wider-alle-Vernunft. In einem anderen Erzählstrang gibt es auch die tatsächlich heile Familie. Bloß, was heil ist, geht auch kaputt. Die echt glückliche Frau verliert Mann und Kinder durch einen Unfall. Aber wir kennen das aus »Amores Perros«: Was ihr bleibt, ist die Flucht in die Position Drogensucht.

Der Todesfahrer ist ein gewöhnlicher Krimineller, mit Erfolg resozialisiert. Er hatte gemeint, eine feste Burg im Glauben an den Herrn gefunden zu haben. Es wird schwer katholisch. Wir nehmen an endlosen Gebeten, Gesängen und Alles-besser-wissen-Ritualen teil. Er zwingt das weinende Töchterchen, dem bösen Bruder auch den anderen Arm hinzuhalten, damit dieser auf jenen schlagen kann. Dann schlägt er den Jungen. Aus religiöser Überzeugung. Sind wir jetzt wütend auf den Film oder auf den Mann, der eine feste Position eingenommen hat? Keine Angst, der Film geht weiter. Der Herzkranke-mit-dem-neuen-Herz schläft mit der Witwe, derem Gatten ebendieses Herz entnommen worden war. An Links ist kein Mangel. Wer, wie eben bei den Großaufnahmen, nicht draufdrückt und damit herumspielt, hat noch nie einen Rechner bedient.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/2004

Nightmare 3 – Freddy Krueger lebt

(USA 1987, Regie: Chuck Russell)

Die Freddy Kruegers kommen
von Dietrich Kuhlbrodt

Mit »Nightmare 3 – Freddy Krueger lebt!« kommt der Filmheld endgültig in die Kinocharts. Ihm ist das zu gönnen, denn er ist schon ein toller Typ; ein Gruftiefreak; umso stärker …

Mit »Nightmare 3 – Freddy Krueger lebt!« kommt der Filmheld endgültig in die Kinocharts. Ihm ist das zu gönnen, denn er ist schon ein toller Typ; ein Gruftiefreak; umso stärker als er ekliger ist. Wenn er grinst, überlappen sich die 18 Schaumlatexteile der Gesichtsmaske. Seine Haut ist total verbrannt. Das hat ihm die Bürgerwehr der Elm Street angetan. Freddy Krueger war Opfer einer mittelständischen Lynchaktion. Jetzt schlägt er wieder zurück, fast allmächtig. Freddy Krueger lebt in einem Tagtraum allererster Güte; das macht allen Hoffnung, die aktiv werden möchten, maskiert oder vermummt, gewalttätig.

Ein Film ist es, der dazu etwas zu sagen hat – und keineswegs ein dafür zuständiges Gremium. »Nightmare 3« ist ein Horrorfilm und ein herausragendes Exempel seiner Gattung. Nichts weiter. Aber grade deswegen gucken wir uns denjenigen etwas genauer an, von dem mit drohendem Unterton gesagt wird, dass er lebe. Der Film lebt seinerseits. Man spürt es, dass einer frisch und unbefangen im Horror-Eilmgenre herumfuhrwerkt und sich seine eigenen Spielregeln macht (»Nightmare 3« ist Chuck Russels Regiedebüt). Also gibt es in »Nightmare 3« trotz des Titels – nicht nur die branchenüblichen Regressionen des Alptraums. Denn Freddy Krueger ist clever. Hinter seiner Bürgerschreckvisage arbeiten die grauen Zellen, und die haben es rausgekriegt, wie man problemlos im Innersten der Mittelklassenschicht herumwüten kann, nämlich in den Nachtträumen der Kinder und Jugendlichen, die in ihren sauberen Bettchen schlafen. Wieder muss ein Krueger-Opfer zwecks stationärer Versorgung in die jugendpsychiatrische Abteilung der städtischen Klinik gebracht werden. Die Kinder der Lynch-Eltern sind samt und sonders des Wahnsinns, d. h. Kruegers fette Beute. Suizidgefährdet nennt man das.

Freddy Krueger schiebt sich mit seiner Kunstkralle (Klingenlänge ca. 10 cm) den breitkrempigen Hut aus der Stirn und grinst sich eins. Meist sehen wir ihn in dem alten Pullover mit den dicken Querstreifen, an den Rändern ausgefranst. Wenns sein muss, arbeitet er aber auch im Schrittbandslip. Die sexy Krankenschwester holt sich den jugendlichen Patienten, der bislang im Elternhaus sexuell behütet war, in den Behandlungsraum; schon turnt sie im besagten Slip auf dem ratlosen bis geschockten, jedenfalls ziemlich passiven Jungen herum; schließlich hat sie seine Zunge im Mund. Das ist selbstredend eine Großaufnahme. Man sieht nur noch Zunge, und die wird von Freddy Krueger – denn er ist es, wer denn sonst – aus dem Mund gerissen, Stück für Stück; meterlang scheint das Ding, und es sieht sehr organisch aus. Die Kamera, die aus ein paar Zentimetern Entfernung draufguckt, nimmt die Perspektive unseres Helden Freddy Krueger ein. Das ist eine eindeutig lustbesetzte Blickrichtung. Man kann gar nicht anders, als sich mit ihr zu identifizieren. Andererseits ist der Junge Opfer einer bösen Vergewaltigung. Die Schockmontage, mit der die Zungen-Großaufnahme eingeführt wird, ist aus der Opfer-Perspektive gemacht. Beides soll zur selben Zeit genossen werden: Lust und Leid, und Freddy Krueger ist der perfekt ambivalente Held. Er macht aus den gemischten Gefühlen, mit dem das jugendliche Publikum, bang und erwartungsvoll zugleich, dem ersten organischen Sexualakt entgegensieht/sah, ein böses Spiel. Wehrlos auf dem Bett, Hände und Füße von sich sehr fleischlich windenden Riesenregenwürmern an die Pfosten gefesselt, von einer Spirale in den roten Schlund gezogen zu werden – , der Film lässt dieses regressive Bild nicht stehen. Wie also wehrt man Kruegers lähmende Traumwaffen?

Der Film entwickelt dazu, und das ist sein Thema, eine Strategie. Krueger muss in den Träumen selbst bekämpft werden (»Dream Warriors« ist der originale Zweittitel). Und das geht nur solidarisch und unter Auflehnung gegen die Erwachsenenautorität. In der Psychiatrie muss zunächst die unerträglich fiese Oberärztin bekämpft werden, die die jungen Patienten am liebsten in den diversen Beruhigungszellen isolieren möchte: hilflose Beute für Kruegers Alptraumorgien. Also werden im Gruppenraum konspirative Sitzungen abgehalten und Verhaltensmaßregeln erarbeitet, um sich dem autoritären Zugriff zu entziehen, nämlich dem von Krueger einerseits, dem der Ärzte, Pfleger und so weiter andererseits. Die Jugendlichen gelangen, dramatisch gestört durch eben diese Autoritäten, zu folgenden Erkenntnissen: Nämlich erstens, dass sie sich von Eltern- und Krankenhaus keine Hilfe versprechen dürfen, sondern sich als Betroffene selbst organisieren müssen und selbst aktiv werden müssen. Zweitens, dass sie nicht eigene Schuld, sondern Schuld ihrer Väter abzuarbeiten haben, die einen Lynchmord auf dem Gewissen haben. Drittens, dass sie die Koalitionsfrage und die Gewaltfrage lösen müssen.

Um jetzt langsam zu dem Punkt vorzudringen, warum ich das hier alles so ausführlich ausbreite, sei an dieser Stelle laut gesagt, dass es sich bei der Gruppensitzung im Gesprächstherapieraum mitnichten um eine Podiumsdiskussion handelt, sondern um eine Veranstaltung, in der alles, was sonst nur mit dürren Worten gesagt werden kann, prall erlebt wird, da Freddy Krueger, wie es der Titel sagt, lebt, und das Kinopublikum so wenig pädagogisch wird, wie die Altersgenossen im Film therapiert werden wollen. Aber zu erfahren ist, dass die Eltern nichts taugen. Zwar lässt sich das Mittelstandsmädchen von Mutti brav zudecken, doch schon muss diese schnell runter in den Livingroom, »Where do you keep the Bourbon?«, fragt eine total unbekannte männliche Stimme, das Töchterchen bleibt allein im Bett, kläglich, da hilft nur noch Freddy Krueger, gegen Ende des Films reißt er der lieben Mutter endlich den Kopf ab und hält ihn an den Haaren vors Objektiv der Kamera, Mama redet unaufhörlich weiter. Oh Freddy, was hast Du gemacht? Jedenfalls hat Freddy sich viel zu spät die Mutter vorgenommen, denn vorher schlitzte er mit seinen Rasiermesserkrallen die Arme des Mädchens auf, was die Erwachsenen nur als Selbstmordversuch zu deuten vermochten.

Ein Bild für die Aussage, dass die Kinder (jedenfalls in »Nightmare 3«) nicht mit der späten Geburt begnadet sind: Auf dem Schrottplatz hat Papa eine Leiche im Auto liegen, ziemlich verwest im Kofferraum. Zu erfahren ist, dass die Kinder davon nicht loskommen. Vater muss ran, ob er will oder nicht (er will nicht), und den Deckel lüften.

Was die Fragen der Koalition und der Gewalt betrifft, so sagen die Bilder des Films eindeutig: ja! Mit der Psychologin können die Kinder ein Bündnis eingehen, weil auch die es raushat, sich mit Schwung in einen Sessel zu setzen und mit Rolle rückwärts im Alptraumhaus aufzustehen, obzwar das für andere Erwachsene nur ein niedliches Puppenhaus ist. Das ist auch inhaltlich logisch, weil Nancy Thompson (Heather Langenkamp) in »Nightmare I« selbst Freddy-Opfer war und daher weiß, dass er kein wegtherapierbares Hirngespinst ist; der Film begnügt sich jedoch noch damit, sie nur als Betroffene vorzustellen, welche in ebensolcher Funktion koalitionsfähig sein dürfe. Er zeigt sie uns als ganzen Menschen, und der ist schwer in Ordnung.

Ja, die Gewalt. Die lässt man, mehr oder minder klammheimlich freudig erregt, von Freddy machen, denn immerhin ist ja auch er, ohne dass auch dies noch gesagt werden müßte, Opfer der Lynchjustiz, das heißt Betroffener, das heißt potentieller Bündnispartner. Das funktioniert immer nur einerseits. Wenn in einer TV-Life-Show Dick Cavett die originale Tsa Tsa Gabor interviewt und dann Kruegers Schlabber- und Grinsefratze aufs Grauenvollste dazwischenfährt, dann, oh Mann, ist das irre.

Doch wenn Krueger damit nur bezweckt, das junge Mädchen vor die Glotze zu holen, es zu packen und in die Szene zu ziehen, dass sie mit dem Kopf in der Röhre steckt, entsetzlich zugerichtet, – ja dann hört der Spaß auf. Und jetzt wird Freddy Gewalt angetan. Jeder kennt die Regeln: Weihwasser ins Gesicht, ein Kreuz vor die Fresse und ein Pflock ins Herz. Die Gewalt dieses Films ist gleichzeitig Aggressionsgebärde und rituelles Spiel. Freddys Ende hat den dekorativen Wert der gängigen Punk & Pop-Accessoires. Ketten, Kreuze, Totenköpfe vom Punkshop bis zur Jugendabteilung bei Hertie: kleine und immer winzigere Verweise aufs Aggressionspotential. Einem wie Freddy Krueger wird gestattet, die Energien zu aktivieren. Zu einem Zweikampf mit ihm tritt im Film ein mit den nötigen Utensilien ausgestattete Punk an. – Die Szene ist im Film nicht eben stark. Es geht nicht ernsthaft um Leben und Tod. Die Accessoires wollen gezeigt und vorgeführt werden. Mit der Gewalt wird gespielt. Wer »Nightmare 3« im Kino sieht, erfährt, wie dumm der ist, der nicht geübt hat, mit Gewalt umzugehen. Dann nämlich kommt der Freddy Krueger, schlitzt dir Füße und Arme auf und lässt dich an deinen eigenen Sehnen als Marionette rumhampeln. Die andern lachen sich kaputt und geben Dir anschließend die Schuld: Mein Lieber, das war Selbstmordversuch! – Eine zynische, deftige Lektion. Nach dem Erfolg zu urteilen, den der Film hat, müssen wir mit vielen neuen Freddy Kruegers rechnen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 02/1988

Im Alter von Ellen

(D 2010, Regie: Pia Marais)

Einmal aussteigen, bitte!
von Ulrich Kriest

Gerade hatten wir noch gedacht, dass die Filme von Ulrike Ottinger, Filme wie „Bildnis einer Trinkerin“ oder „Freak Orlando“ auch ruhig mal wiederentdeckt werden könnten, da kommen zwei Filme ins …

Gerade hatten wir noch gedacht, dass die Filme von Ulrike Ottinger, Filme wie „Bildnis einer Trinkerin“ oder „Freak Orlando“ auch ruhig mal wiederentdeckt werden könnten, da kommen zwei Filme ins Kino, die auf je spezifische Weise und vielleicht auch nur in bestimmten Momenten gleichfalls dafür plädieren. Gerade erst startete der famose „Eine flexible Frau“ von Tatjana Turanskyj; jetzt folgt die Geschichte von »Lonely Drifter Ellen«. Wo Turanskyj auf Brecht, satirische Überzeichnung und die Essayform setzt, spielt Pia Marais‘ neuer Film „Im Alter von Ellen“ (was für ein grandioser, nichts versprechender, nichts vorweg nehmender Filmtitel!) mit der Überraschung, mit der Unvorhersehbarkeit und auch Unwahrscheinlichkeit des Handlungsverlaufes. Hinter der nächsten Ecke lauert das nächste Abenteuer, die nächste unerwartete Erfahrung – verspricht dieser Film. Das ist nicht wenig.

Die Uniform sitzt, ihr Schritt ist sicher und forsch. Wenn wir Ellen Colmar (Jeanne Balibar), französische Flugbegleiterin in deutschen Diensten, zum ersten Mal begegnen, ist alles Routine. Am Flughafen wartet bereits der Freund Florian (Georg Friedrich); am Abend könnte man zusammen etwas Schönes kochen. Doch Florian hat eine Überraschung in petto: er hat Ellen betrogen, die neue Freundin ist schwanger und will das Kind auch behalten. Kein guter Auftakt! Auf ihrem Anrufbeantworter hört Ellen zudem eine besorgte, dringliche Stimme aus ihrer Arztpraxis: sie solle sich bitte umgehend in der Praxis einfinden. Schlechte Nachrichten, die sich schlecht mit dem Berufsalltag in Transiträumen – Flughäfen, Hotels – verbinden lassen. Eines Tages, die Startvorbereitungen im Flugzeug laufen bereits, auf die Startbahn hat sich ein Gepard verirrt (Achtung! Zeichen!), steht Ellen einfach auf und verlässt ihr bisheriges Leben. Man könnte sagen, sie wird aus der Bahn getragen und schaut sich jetzt nach einer anderen, alternativen Bahn um. Aber das wäre bereits zu selbstbewusst, zu aktiv formuliert. Ellen sucht nicht, Ellen lässt sich treiben – und der Zufall schlägt ein paar Kapriolen.

Auf „Im Alter von Ellen“, den zweiten Spielfilm von Pia Marais, durfte man gespannt sein. In ihrem von der Kritik gepriesenen Debüt „Die Unerzogenen“ erzählte die Filmemacherin mit der eigenwilligen Biografie (geboren in Südafrika, Kunststudium) originell von den Folgeschäden der antiautoritären Erziehung: aus der Perspektive des betroffenen Kindes, das von seinen Eltern schlicht allein gelassen wird, weil diese mit sich selbst beschäftigt sind. „Die Unerzogenen“ war ein provokantes sommerliches Kammerspiel in braun-grünen Seventies-Look. Haltung und Look hat sich Marais auch in ihrem zweiten Film bewahrt: Jenseits der aseptischen Flughafenräume sieht „Im Alter von Ellen“ recht unaufgeräumt aus. Bei ihrer Odyssee durch fremde Lebensentwürfe erlebt Ellen skurril-surreale Szenen wie Unterwäsche-Partys in Flughafen-Hotels oder Nackt-Happenings militanter Tierschützer. Die Kamera sammelt Impressionen von Hotelzimmern nach der Party oder Wohn-Kommunen, die bereits wie Durchgangslager aussehen. Es ist Ellens Ex-Freund Florian, der überhaupt noch daran denkt, sich einzurichten in der Welt: er kauft Eigentum mit zwei Wohnungen, zwei Eingängen, zwei Bädern, um Ex-Freundin und neue Geliebte unter ein Dach zu bekommen. „Alle alten Männer träumen von einem Harem!“, heißt es dazu in Rudolf Thomes meisterlichem „Das rote Zimmer“. Junge offenbar auch.

Doch zu diesem Zeitpunkt ist Ellen längst anderswo unterwegs, ihr Blick auf die Welt hat sich geweitet. Begegnungen mit anderen Menschen begreift sie explizit nur noch als „Brücken“ auf einem Weg, der sich der Zukunft geöffnet hat. Als ausgesprochen produktiv erweist sich Marais‘ Entscheidung, die Hauptrolle mit dem französischen Star Jeanne Balibar zu besetzen, die bereits mit Jacques Rivette und Olivier Assayas arbeitete. Durch ihr gebrochenes, ungeschmeidiges Deutsch gerät sie automatisch in Distanz zu ihrer Umwelt. Die Tatsache, dass sie über weite Strecken auch noch ihre Flugbegleiter-Uniform aufträgt, wirkt zudem wie ein erzählerisches Augenzwinkern in Richtung des Zuschauers. Formal überzeugend und intellektuell reflektiert erzählt Pia Marais in „Im Alter von Ellen“ von sich auflösenden traditionellen Strukturen, die in mehrfacher Hinsicht durch »Bewegungen« ersetzt werden müssen, die Sinn nur noch temporär produzieren. Die Filmemacherin spart bei ihrer Passage durch diverse Lebenswelten nicht an sarkastischen Beobachtungen, lässt aber erfrischend offen, ob es genügt, immer in Bewegung zu bleiben. Am Ende verliert sich Ellens Spur dort, wo sie einst aufbrach: sie verschwindet im Dunst des afrikanischen Regenwaldes. Müssen wir uns deshalb Sorgen machen?

The King’s Speech

(GB / AU 2010, Regie: Tom Hooper)

Mein Gott, jetzt hat er's!
von Janis El-Bira

Der Sprachfehler, beziehungsweise jede Form des nicht angemessenen Sprechens, fasziniert seit jeher als Einschränkung, gar Lähmung der essentiellsten menschlichen Kommunikationsform. Besondere Tragik kommt ihm zu, wenn er ein Gefälle markiert: …

Der Sprachfehler, beziehungsweise jede Form des nicht angemessenen Sprechens, fasziniert seit jeher als Einschränkung, gar Lähmung der essentiellsten menschlichen Kommunikationsform. Besondere Tragik kommt ihm zu, wenn er ein Gefälle markiert: Etwa jenes zwischen Talent, Ansehen, „Stand“ oder Mitteilungsbedürfnis einer Person und der „Unangemessenheit“, der Behinderung des Mediums. Wer nicht vernünftig sprechen kann, kann nicht vernünftig sein, so scheint der bizarre Schluss zu lauten. Und so musste schon Othello sein Anderssein eingestehen in der berühmten Zeile „Rude am I in my speech“ und Eliza Doolittle muss der Schlag der besseren Gesellschaft so lange eingedrillt werden, bis Higgins entzückt ausrufen darf: „I think she’s got it!“ – „Mein Gott, jetzt hat sie’s!“

Manchen Berufsständen bekommt ein Sprachfehler besonders schlecht: Wer eine öffentliche Person ist, öffentlich sprechen muss, der macht sich schnell zum Gespött, wenn sich die Sprache einfach nicht fügen will. Wer zudem auch noch so sprechen muss, dass eine ganze Nation ihm oder ihr Vertrauen schenken soll, der kann sich einen Sprachfehler erst recht nicht leisten. Auf kaum einen Sprachgehemmten mochte eine derartige Verkettung unglücklicher Umstände je mehr zutreffen als auf den britischen König Georg VI. Als Monarch während des Zweiten Weltkrieges hing das britische Volk zwangsläufig an seinen Lippen und diese Lippen stotterten, brachten unschöne Schnalzlaute hervor und rangen um jede Silbe. Tom Hoopers Film „The King’s Speech“, geliebt und mit allen üblichen Preisen überschüttet, erzählt von diesem Mann, der gleich in der allerersten Szene in einem Stadion sprechen soll und dem das Mikrophon, vor das er tritt, wie ein schwarzer Abgrund vorkommen muss, der ihn zu verschlingen droht. In der Not nimmt seine Frau Kontakt mit dem schrulligen Rhetoriklehrer und gescheiterten Shakespeare-Darsteller (Lieblingsrolle, wen wundert es: Othello) Lionel Logue auf, der den Prinzen und späteren König von Anfang an vertraulich „Bertie“ nennt und der fortan dafür sorgen soll, dass des Monarchen „speech“ (als Sprechen) seine „speech“ (als Vortrag) nicht länger beeinträchtigen soll.

Hoopers Film ist glänzend in vielfacher Hinsicht. Technisch und inszenatorisch makellos rollt er gleichsam einen roten Teppich aus für seine Schauspieler, die alles zeigen, was gefällt und Oscars bringt. Colin Firths „Bertie“ stehen die Hemmung und der Ärger über die eigene Unzulänglichkeit ins Gesicht geschrieben und Geoffrey Rushs Sprachlehrer ist so schön schlaksig, warmherzig und zugleich angriffslustig, dass man beinahe auch einmal eine Stunde in Kieferlockerung und Vokalformung bei ihm nehmen wollen würde. Auch mag es beeindrucken, wie Hooper die geradezu bis zur physischen Erstarrung reichende Verknöcherung der Hofschranzen und ihrer alten Zeremonien zeigt. Jedoch lässt dieser Film in keinem Moment einen Zweifel daran, was er eigentlich ist: ein Bildungsroman. Bertie, alias König Georg VI., lernt, dass er nicht nur privat ein netter Kerl ist, der seinen Kindern stotterfrei großartige Gute-Nacht-Geschichten erzählen kann, sondern dass er durch harte Arbeit und Vertrauen in sich und die Freundschaft zu Menschen, die ihm helfen wollen, zur wohlfunktionierenden öffentlichen Figur werden kann. Auf diesem Weg, der durchaus lustvoll und mit viel „sophistication“ ausgemalt wird, passieren alle Fortschritte und Einbrüche wie auf der Idealkurve jedes guten „creative writing“-Lehrbuchs. Am Ende gibt es eine schöne, warme Szene mit viel Pathos. Man geht mit einem angenehmen Gefühl aus diesem Film. Und vergisst fast, wie sehr man sich zwischendurch gelangweilt hat.

We want Sex

(GB 2010, Regie: Nigel Cole)

Das Wort ergreifen und handeln
von Wolfgang Nierlin

“Rechte sind keine Privilegien”, sagt die streikende Fabrikarbeiterin Rita O’Grady (Sally Hawkins) und bringt damit das Selbstverständliche auf den Punkt: die Forderung nach gleicher Bezahlung von Männern und Frauen, die …

“Rechte sind keine Privilegien”, sagt die streikende Fabrikarbeiterin Rita O’Grady (Sally Hawkins) und bringt damit das Selbstverständliche auf den Punkt: die Forderung nach gleicher Bezahlung von Männern und Frauen, die beim Autobauer Ford im englischen Dagenham der sechziger Jahre keinesfalls verwirklicht ist. Im gesellschaftlichen und geschlechtsspezifischen Klima des Jahres 1968 rührt dieser Satz aber noch an tiefere Emanzipationsschichten. In seiner Selbstverständlichkeit spiegelt er das Selbstverständnis von Frauen, die sich gegen die Unterdrückung und Ausbeutung durch Männer wehren und dabei eine überraschende Stärke gewinnen. In Nigel Coles humorvollem Film „Made in Dagenham“, der in Deutschland unter dem missverständlichen Titel „We want Sex“ ins Kino kommt und der den ersten Frauenstreik in der britischen Geschichte dokumentiert, findet der Geschlechterkampf deshalb gleich an mehreren Fronten statt.

Am nachdrücklichsten vermittelt das der Film auf der sprachlichen Ebene, also den verräterisch diskriminierenden männlichen Bevormundungen, für die vor allem die Näherin Rita ein feines Gespür besitzt. Schlampige oder gar sexistische Formulierungen sind für sie dabei ebenso empörend wie die unterschwellige Zementierung von Machtverhältnissen in schönen, aber nichtssagenden Reden, in denen konkrete Ziele letztlich verweigert werden. Die stärksten und bewegendsten Szenen handeln von dieser Opposition und damit von der Macht der Sprache. Einmal stellt Rita den überheblichen Lehrer ihres kleinen Sohnes zur Rede, der die Kinder immer wieder körperlich misshandelt und wird dabei von diesem herablassend und mit sozialer Verachtung zum Schweigen gebracht. Aus dem Schock gewinnt Rita Stärke, als sie bei einer Unterredung zwischen Gewerkschaftsvertretern und Firmenleitung nach langem Schweigen das Wort ergreift und statt hohler Phrasen konkrete Taten fordert.

Mit Protesten schreiten die Frauen schließlich selbst zur Tat, um ihren gerechten Forderungen in einem sich zuspitzenden Arbeitskampf Nachdruck zu verleihen. Nigel Cole verschränkt dabei eine Ermutigungs- mit einer Erfolgsgeschichte, denn Ritas Weg zur Aktivistin mobilisiert jede Menge Frauenpower und Solidarität. Deren Unterminierung wird von schwachen Gewerkschaftsfunktionären und einer zunächst wenig kompromissbereiten Firmenführung wiederholt, aber letztlich erfolglos betrieben. Das wiederum setzt jene retardierende Dramaturgie in Gang, die den sozialen Konflikt mal witzig, mal ernst in die privaten Verhältnisse und Beziehungen der Heldinnen ausdehnt, um Spannung zu erzeugen und schließlich den politischen Triumph dieser engagierten Frauen umso schöner erstrahlen zu lassen. „You can get it if you really want“, singt Desmond Dekker im Abspann. “But you must try.”

Das rote Zimmer

(D 2010, Regie: Rudolf Thome)

Sommerspiele
von Janis El-Bira

Ein Esstisch wird einigermaßen liebevoll eingedeckt, der Mann im Anzug, Fred Hintermeier, zündet Kerzen an, rückt die Gläser zurecht. Einen Hunderteuroschein legt er an den Rand eines der Teller – …

Ein Esstisch wird einigermaßen liebevoll eingedeckt, der Mann im Anzug, Fred Hintermeier, zündet Kerzen an, rückt die Gläser zurecht. Einen Hunderteuroschein legt er an den Rand eines der Teller – eine erste kleine Irritation. Die zweite klingelt an der Tür und heißt Manuela. Sie ist zwar nicht die Prostituierte, die Fred erwartet hatte, um seinen Geburtstag in erkaufter Romantik zu feiern, aber als Manuela noch auf dem Hausflur sogleich ihren Mantel öffnet und ihren gänzlich nackten Körper zur Begutachtung entblößt, ist Fred das egal. Ob sie ihren Mantel beim Essen ausziehen soll, fragt sie. Fred findet das nicht schlecht. Auch, dass das einen Hunderter mehr kosten soll, stört ihn nicht weiter. Das Leben ist teuer geworden – auch die Liebe.

Fred Hintermeier ist Philematologe an der Berliner Technischen Universität – er erforscht das Hormonverhalten im menschlichen Körper beim Küssen. Fünfzehn Minuten lang lässt er freiwillige Probanden Dauerknutschen, dann können die Ergebnisse verwertet werden. Am Abend dann wird er seiner Noch-Ehefrau am Telefon mit großer Ernsthaftigkeit und Klarheit sagen, dass er sie bis zum Tage seines Todes lieben wird und kümmert sich überhaupt nicht darum, dass sie ihn nur angerufen hat, um ihn noch einmal daran zu erinnern, dass morgen der Scheidungstermin vor Gericht ansteht. Rudolf Thomes neuer Film, so möchte man meinen, ist ein bisschen so wie seine Hauptfigur: Zwischen Experimentalfilm und Groschenroman, Gestelltem und Improvisation, zwischen Kitsch und schönsten Einsichten.

Wie vom Himmel fallen gleich zwei Frauen in Freds Leben ein: Luzie gräbt ihn in einem Antiquariat an und lädt ihn ein, sie in ihrem kleinen Häuschen in Vorpommern zu besuchen. Dort lebt sie mit der jüngeren Sibel in einem weltflüchtig-idyllischen Reich der Frauenliebe, in das ab und an Männer gelockt werden, weil sie – ist das jetzt peinlich oder einfach authentisch? – „das Salz in der Suppe“ seien und die besten unter ihnen werden in das ominöse „rote Zimmer“ geführt. Ansonsten versucht Luzie, einen großen Roman zu schreiben (ihr erster trug den verheißungsvollen Titel „Warum? Der Sinn des Lebens“), während Sibel herumhängt, Fische fängt und Beeren isst, die „viel besser schmecken als aus dem Supermarkt“.

Dass all das nie unerträglich und selten mal eine Minute langweilig wird, ist der großen, reifen Inszenierungskunst Thomes zu verdanken, die nichts mehr beweisen muss, tut und lässt, wonach ihr ist und keinerlei Auftragen kennt. Einen Sommerfilm hat er gedreht, von dem man meinen möchte, er könne nur im August spielen, jenem Monat, von dem Alexander Kluge einmal sagte, er fühle sich an wie eine Fläche: Drückende Hitze, langsam verdunstende Zeit, endlose Abende, die Platz schaffen für Wein, Wagnisse, Liebe und Verlust. Und wie Thome das filmt, diese Annäherung Freds an die beiden Frauen, das gemeinsame Schwimmen im See, das lange Vorspiel, das bisschen Sex mit beiden, die kleinen Eifersüchteleien, die mit einem Kuss weggewischt werden können, das ist nichts weniger als eine virtuose und dabei ganz bescheidene Verkettung der „Fragmente einer Sprache der Liebe“.

Einmal liegt Sibel mit Fred auf einem Bootssteg, dessen eigentlich schon viel zu heißes Holz man zu spüren und zu riechen glaubt. Sie spannt ihren Körper zur Sonne hin auf, Fred küsst sie, sie sagt: Ich glaube, du hast mich ein bisschen verhext. Durchaus kitschig, irgendwie rührend. Und ziemlich echt.

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Ein Geheimnis

(F 2007, Regie: Claude Miller)

Monoman
von Andreas Thomas

1955, 1986 und die dreißiger Jahre. Auf drei Zeitebenen erzählt Claude Miller eine französische Familiengeschichte, die dazu angetan ist, auch französische Zeitgeschichte zu spiegeln. Der Film „Ein Geheimnis“ ist die …

1955, 1986 und die dreißiger Jahre. Auf drei Zeitebenen erzählt Claude Miller eine französische Familiengeschichte, die dazu angetan ist, auch französische Zeitgeschichte zu spiegeln. Der Film „Ein Geheimnis“ ist die Adaption eines autobiografischen Romans des Psychoanalytikers Philippe Grimbert. Er behandelt eines jüdischen Mannes Frage nach seiner biografischen Identität, die so lange unvollständig beantwortet bleibt, bis sie über sich hinaus gehen und ihre Verknüpfung mit einer verschwiegenen Familienvergangenheit realisieren muss.

Dem Einzelkind François setzen seine Eltern zu: Er soll stark sein, schön sein und sportiv wie Vater und Mutter, wenn er doch ein zarter, nachdenklicher Knabe ist. Zum Trost erschafft der Siebenjährige sich einen imaginierten Ersatzbruder, der all das kann, was er nicht schafft. Doch seine Phantasie ist näher an der Realität, als er es sich träumen lässt.

„Ein Geheimnis“ beginnt mit einigermaßen unmotivierten Sprüngen zwischen dem reflektierenden Erwachsenen (in Schwarzweiß) und dem verzagten Kind der Fünfziger (in Farbe), bis er diese Ebenen und die Verankerung in der Hauptfigur beinahe völlig zu Gunsten jener elterlichen Vorgeschichte während der Kriegsjahre und der Judenverfolgung preisgibt, die wiederum hier preiszugeben jenen den Spaß verderben würde, die Geheimnisse und deren Lüftung lieben.

Deshalb seien vor allem des Films Ästhetik und Stil umrissen. Wir haben es mit einer Mischung aus alter französischer Schule (des inzwischen 66-jährigen Millers Lehrjahre bei u.a. Bresson, Godard und Truffaut sind seinem Film klar, aber leider nicht immer im Positiven, anzumerken) und einer Verwechslung von aussagefähigen Figuren mit Stereotypen (eine blonde Mutter, die an „Kraft durch Freude“ erinnert, ein monomaner Sport-Vater, der verschämt seinen jüdischen Namen umändern lässt) und überhaupt von emotionaler Tiefe mit pastellener Oberfläche zu tun, die in Bezug aufs „Dritte Reich“ und dessen Verarbeitung nicht nur in Deutschland immer mehr in Mode zu kommen scheint.

Kurz: Der Film opfert sein in Frankreich immer noch prekäres und selten behandeltes Thema der Okkupationszeit und der Kollaboration (ein besseres Beispiel: Malles „Auf Wiedersehen, Kinder“) einer viel zu ausgedehnten Geschichte von einer „verbotenen Liebe“. Die aus ihr folgende Tragödie wird zwar durch die deutsche Vorherrschaft zum Schlimmsten gewendet, und doch scheint der Film es mit François’ Eltern halten zu wollen und lieber in der Verdrängung verharren. Der Holocaust im „Geheimnis“ bleibt, bei Lichte betrachtet, kaum mehr als ein dramaturgischer Zuarbeiter von Herz, Schmerz und küchenpsychologischer Hirnerweichung.

Die Jahreszeit des Glücks

(D / CZ 2005, Regie: Bohdan Sláma)

Sozial existierender Realismus
von Andreas Thomas

Wieviel menschliches Elend erträgt der Durchschnittskinogeher? Diese Frage stellt der tschechische Regisseur Bohdan Sláma („Wilde Bienen“), wenn er uns irgendwo im verregneten Niemandsland zwischen Plattenbau, finster dampfender Fabrik und verrotteter …

Wieviel menschliches Elend erträgt der Durchschnittskinogeher? Diese Frage stellt der tschechische Regisseur Bohdan Sláma („Wilde Bienen“), wenn er uns irgendwo im verregneten Niemandsland zwischen Plattenbau, finster dampfender Fabrik und verrotteter Datscha mit einem tendenziell frustrierten Personal postsozialistischer Perspektivenlosigkeit bekannt macht, welches gänzlich verraten und verkauft wäre, besäße es nicht seine schwermütig-romantische Ader. Denn Toník liebt Monika, Monika liebt Jára und Jára liebt – ganz unromantisch – „Amerika“, weshalb er auch gleich am Anfang den Flieger in die Staaten nimmt. Zurück bleiben, die sich einrichten im heruntergewirtschafteten Tschechien – und im Warten auf das Ticket raus aus alledem. Muss noch erwähnt werden, dass Toníks Vater fies und streng ist, dass seine Tante Krebs hat und dass Monikas Vater schwerer Alkoholiker ist? Bei soviel Widrigkeit zieht der flaumbärtige Toník eine weinerliche Dauerflunsch und hilft Monikas Vater lieber gleich beim Alkoholvernichten. Nur Monika, die Gute, sie ist nett, freundlich und übt sich in Geduld.

Solch filmische Nullperspektive gehört schnellstens durchbrochen, bevor der Kinosaal kollektiven Selbstmord verübt. Nur gut, dass es die psychisch überforderte Dáša gibt, denn weil sie weder ihren Alltag noch ihre zwei kleinen Jungs im Griff hat, entsteht durch ihre Zwangseinweisung in die Psychiatrie solidarischer Handlungsbedarf, der Monika und Toník zusammenführt und dem ungleichen Paar neue Sinngebung offeriert.

Quälte sich und uns der Film während der kompletten ersten Dreiviertelstunde von einer menschlichen Desolation in die nächste, geleitet er uns nun ähnlich betreten hinein in seine „Jahreszeit des Glücks“, die filmzeittechnisch gerade mal kaum mehr als etwa zehn Minuten überdauert: Schüchterne Sonnenstrahlen fallen nun zart ein in den tschechischen Permanentwinter und auf den Kirschkuchen, der neben gutem tschechischen Pils zum Kindergeburtstag draußen vor dem halbrenovierten Häuschen zu verhaltenem Frohsinn einlädt. Doch noch bevor das endlich lebensfreudige Kindchen die letzte Geburtstagskerze ausgepustet hat, kommt schon ein fetter Kapitalistenschlitten mit der schon vergessenen verrückten Kindsmutter Dáša und ihrem skrupellosen Freund über den Schotter gefegt: Ihr habt euch lange genug in unser Leben eingemischt! Sprichts und klaubt die plärrenden Kleinen in den Fond, braust davon und Ruhe ist und die Sonne verzieht sich hurtig hinter Wolken und das Jahrzehnt des Pechs kann weiter gehen.

Besitzt noch Zukunft, wem die Kinder geraubt werden? Kann man Mensch bleiben bald zwanzig Jahre nach der Wende vom systemisch verordneten Sozialismus hin zum systemisch verordneten Egoismus? Ist es sinnvoll, durchzuhalten oder soll man emigrieren? „Die Jahreszeit des Glücks“ stellt diese Fragen mit gutem Grund, denn – und das macht ihn schließlich auch sehenswert – er entwickelt seine Geschichte, wie wohl kaum ein tschechischer Film zuvor, auf der Basis real existierender Verhältnisse.

Vielleicht ist das schwerwiegendste Problem des Films eines der Semantik: Das Problem, das entsteht, wenn im Zeigen einer Problematik schon ihre Klassifizierung enthalten ist. Man kann das „Problemkino“ oder „Sozialdrama“ nennen, oder einfach „Klischee“. Soziale Probleme sind soziale Probleme sind soziale Probleme. Der Problemfilm ist so anstrengend wie er uninspirierend ist, weil er mehr versucht zu dozieren als zu zeigen, und weil er in seinem Bemühen um Veranschaulichung dem Zuschauer selten Eigen-Empathie zugesteht. Darin jedenfalls ist „Die Jahreszeit des Glücks“ ein klassischer Problemfilm: Unsicher, so als würde er dem Dilemma seiner Figuren nicht genügend glauben, türmt er Kalamität auf Kalamität. Das Ergebnis ist Elend hoch drei, da macht das auch wohlmeinendste Mitleiden keinen rechten Spaß mehr.

Ein anderes Problem ist, dass der Löwenanteil der Schwierigkeiten hausgemacht, also selbstverschuldet, ist. Dáša ist nicht nur verrückt, sie ist auch schlicht undankbar und hassenswert, wenn sie ihre Kinder einpackt, wie die böse Stiefmutter im Märchen. Toník ist nicht nur zu sensibel, er ist auch einfach zu bequem. Warum er nicht in der (zugegeben: finster nach übler Maloche ausehenden) Fabrik arbeiten will, kann sich eigentlich nur daraus erklären, dass er einen Tick zu luschig ist. Seine Leidensmiene ist so aber nur schwer zu ertragen. Monika wiederum leidet einen Tick zu selbstlos, um plausibel und menschlich zu sein, schlimmer als das arme, gute Kind im Märchen. Die Identifikationsangebote machen sich rar. „Die Jahreszeit des Glücks“ liefert viele gestanzte, wenig entwickelte, Figuren; der Plot rastet bei ihnen ein; auch deshalb findet er selten über sie hinaus hin zu einem allgemeingültigeren gesellschaftlichen Background – obwohl er gerade den so angestrengt zu demonstrieren versucht. „Suche nicht nach dem Glück, das Glück wird dich schon finden“ ist dann einer der finalen Sinnsprüche, die das geplagte Gegenwartsstück mit märchenhaftem Mirakel verzieren wollen, damit ob all der latenten menschlichen Unvollkommenheit doch eine Chance auf Zukunft sein möge. Doch die Pointe bleibt ähnlich vage wie die Schilderung des Problems.

Wieviel menschliches Elend erträgt eigentlich der Durchschnittstscheche? Dass der Film trotz seiner Mängel auf sozialen und wirtschaftlichen Realitäten beruht (und es ihm zusätzlich gelingt, Mut und Hoffnung zu verbreiten?),- sein großer heimischer Erfolg lässt darauf schließen. Die Methode, das Heil in der Simplizität des Märchenhaften zu finden, hat ja nun auch tschechische Filmtradition. Vielleicht ist sie dort zur Zeit der erträglichste Weg einer Bestandsaufnahme schwer zu ertragender Befunde.

Lücke im System

(CH 2004, Regie: Romed Wyder)

Total Recall
von Andreas Thomas

Alex scheint eine Schwäche für Autos zu haben, denn mehrfach lässt er sich beinahe von einem solchen anfahren. Einmal nicht nur fast, so dass er das Gedächtnis für die letzten …

Alex scheint eine Schwäche für Autos zu haben, denn mehrfach lässt er sich beinahe von einem solchen anfahren. Einmal nicht nur fast, so dass er das Gedächtnis für die letzten 24 Stunden seines Lebens verliert. Das wäre nicht so schlimm, hätte er nicht den Plan gehabt, innerhalb dieses Zeitraums ein Computervirus in das Datensystem einer Weltbank einzuschleusen, um einen bevorstehenden Weltwirtschaftsgipfel zu verhindern. Das Ziel: Absage gegen Antivirus. Doch leidet nun, wie angestrebt, die Bank oder nur er selbst an einem Blackout, und hat er das Virus aktiviert oder nicht? Um das herauszufinden unterzieht sich er einer neuartigen neurologischen Therapie, die jedoch, statt seine Paranoia einzudämmen, sie nur vergrößert, denn auf einmal vermischt sich Traum mit Realität, Erinnerung mit Phantasie. Schwer zu sagen, was was ist. Außerdem scheint er nicht der einzige zu sein, dem etwas an seiner Erinnerung liegt: Fremde scheinen ihn zu beobachten und die behandelnden Ärzte wirken irgendwie übermotiviert. Das Verschwinden seines Komplizen und einzigen Mitwissers Fred und die Razzia in dessen Computershop kann nur ein Hinweis darauf sein, dass die Virusapplikation erfolgreich war. Doch wie Fred finden, wem trauen? Wenig hilfreich ist obendrein, wenn man nicht mehr weiß, dass einen die Freundin gestern verlassen hat.

Auch der Prolog, dass „Lücke im System“ auf wahren Begebenheiten beruhe, ist schnell vergessen, denn eine Ballung so außerordentlicher Ereignisse, einen so ausgeklügelten Plot wie diesen schreibt gemeinhin ein alerter Drehbuchautor und nicht das Leben. Über weite Strecken nimmt „Lücke im System“ vor allem wegen seines Psycho-Thrills gefangen. Da wir nie mehr wissen als der Protagonist – und das ist zunächst nicht viel –, stolpern wir mit ihm gemeinsam von einer Unsicherheit in die nächste, um langsam, aber sicher, zu begreifen, dass das, was als freches David-gegen-Goliath-Späßchen begonnen hat, nun unwägbar bedrohliche Ausmaße annimmt, denn Goliath versteht keinen Spaß.

Wäre „Lücke im System“ (mit seinen durchweg überzeugenden Schauspielern) nun nur ein Thriller, dann wäre das Verraten seines Endes Spielverderberei. Aber der Low-Budget-Film des Schweizer Regisseurs Romed Wyder ist ein Polit-Thriller, genauer ein ziemlich glaubwürdiger Globalisierungs-Thriller, eine Bezeichnung, die impliziert, dass Politik a) immer stärker indirekt von der Wirtschaft bestimmt wird und dass b) daher bald jede politisch motivierte Protest-Aktion im Prinzip eine Antwort auf globalwirtschaftliche Interessen darstellt, dass umgekehrt aber auch die Global Player in Einzelfällen schon mal gerne darauf verzichten, kleine ordnungserhaltende Jobs altmodischen und umständlichen Staatsorganen anzuvertrauen und die Sache lieber selbst in die Hand nehmen: auch das eine trendige, effiziente Maßnahme des modernen Kapitals.

Im Epilog muss sich die echte Ex-Freundin des authentischen Helden von „Lücke im System“, die sich seit jenen Ereignissen mit verändertem Namen und an unbekanntem Ort verbirgt, hinter einem Dunkel-Filter verstecken. Mit ihr kommt die Total Recall: Sie erinnert uns daran, dass dieser bis heute unaufgeklärte Kriminalfall, wenn nicht genauso, dann seinem Charakter nach sich so ereignet haben muss, wie im Film. „Um einen Zeugen zu schützen und aus rechtlichen Gründen wurde die Erzählung so abgeändert, dass Personen und Institutionen nicht mehr identifizierbar sind“, heißt es auf der Film-Homepage, die nebenbei über einen sehr ähnlich anmutenden, authentischen Fall aus dem Jahr 2000 informiert.

Weil „Lücke im System“ auf Tatsachen beruht, ist sein lapidares, mehrfach tödliches Ende von öffentlichem Interesse. Deshalb wäre es geradezu unfair, nicht über seinen Ausgang zu reden und deshalb sollte sich den Film ruhig ansehen, wer sich für die entfesselten Kräfte des freien Marktes interessiert. Wer aber einfach einen gut gemachten Psycho-Thriller sehen will, wird Spaß haben und seinen Horizont erweitert finden. Gut inszeniert, notwendig, und vor allem: mutig!

Mädchen am Sonntag

(D 2005, Regie: Rolf Peter Kahl)

Interessant arbeitslos
von Andreas Thomas

Man trägt wieder Seitenscheitel. Als Mädchen in Deutschland. Als Mädchen am Sonntag. Man liegt in der Badewanne, im Bett, vor dem Kamin, im Wald und auf der Heide, man sitzt …

Man trägt wieder Seitenscheitel. Als Mädchen in Deutschland. Als Mädchen am Sonntag. Man liegt in der Badewanne, im Bett, vor dem Kamin, im Wald und auf der Heide, man sitzt in der Schneekutsche und im Auto, man hüpft den gefrorenen Meeresstrand auf und ab, und all das apart und allein. Allein und ein wenig posierend, denn man ist Schauspielerin zwischen zwei Engagements und darf nicht aus der Übung kommen.

Man ist zu viert und doch für sich und nacheinander im: Sommer, Winter, Frühling, Herbst und an Orten, wo sonst höchstens Urlaub macht, wer keine Schauspielerin zwischen zwei Engagements ist. Man ist allein in diesem Urlaub, in schöner Landschaft, allein mit Rolf Peter Kahl, dem Regisseur und Dokumentaristen dessen, was doch ein bisschen inszeniert wirkt.

Der nur die eine Frage hat, ohne dass wir ihn sie stellen hören: Wie geht’s dem 'Mädchen am Sonntag“? Er stellt sie wahrscheinlich in Varianten und die Mädchen variieren ihre Antwort, sind natürlich und ganz sie selbst, was heißt: natürlich interessant und ganz begabt darin, vor laufender Kamera unverstellt zu wirken. Ja, es sei schon schwer, die Zeit zu überbrücken zwischen den Engagements und dabei immer älter zu werden. Denn mit Dreißig noch als Zwanzigjährige besetzt zu werden, sei schon möglich, aber schwierig. Mit den Männern sei das ähnlich, die könnten ja – wie die Theaterbühne, wie das Kino? – so alt werden, wie sie wollen und holen sich immer nur die Jüngsten. „Das macht schon Angst“ sagt mit dem Ansatz eines Seufzers Katharina Schüttler, die Skandalnudel aus dem Film „Sophiiiie!“ Dem Film, der doch so 'mutig' war und ihrer Karriere vielleicht gerade deshalb 'am meisten geschadet' hat. Dabei sei doch „der Regisseur von ‚Lolita’“ bei der Probevorführung von „Sophiiiie!“ so unheimlich nervös auf seinem Sessel rumgerutscht. Vielleicht, weil der den Film genial fand. Man weiß das ja nicht. Und vielleicht kennt sich so einer doch wirklich aus?

Schauspieler müssen von Filmgeschichte keine große Ahnung haben, sie müssen nur schauspielern können. Aber wenn eine Frau aus dem Metier „Kino“ in einem Dokumentarfilm eines Mannes aus dem Metier „Kino“ unweggeschnitten behaupten darf, Stanley Kubrick habe drei Jahre nach seinem Tod bei einer irdischen Stippvisite nichts Besseres vorgehabt, als einer Probeaufführung von Michael Hofmans „Sophiiiie!“ beizuwohnen, dann kratzt das an den Nerven. Und wenn dann allen Ernstes Adrian Lyne als der Regisseur von „Lolita“ nicht nur gehandelt, sondern auch vergöttert wird, dann laufen bestimmte Kredite aus. Weil dann klar ist, worum es Diva Schüttler geht: Den holden Fuß in die goldene Tür Hollywood kriegen und kokettieren mit Oscar, egal, ob er eigentlich Adrian, HP oder Stanley heißen möge.

Mutiger Outings solcher Art wegen fällt es schwerer, den anderen, sich z.T. weniger selbstinszenierenden Darstellerinnen volle Aufmerksamkeit zu schenken: der ein wenig geknickten, aber wackeren Laura Tonke („Ostkreuz“, „Baader“), der ungeduldigen, unverstellten und weitgehend unbekannten Inga Birkenfeld, der arrivierteren (Co-Regisseurin: „Jeans“) Nicolette Krebitz mit der Frisur und im Outfit der Jean Seberg von „Außer Atem“ (also Schwarzweißringelpulli und ganz kurze Haare).

So erschütternd die Schüttler auch mitunter ist: Allen vier Damen seien ihre Talente, Fähigkeiten und dramaturgischen Momente herzlich zugestanden und wärmstens eingeräumt. Ebenso diese „Doku“, die nichts anderes ist als eine Langzeitcastingveranstaltung (oder eben doch ein neuer Job! Das kommt ja in die Kinos!), sie sei ihnen gegönnt, auch wenn der Eindruck sich aufdrängt, ohne manche ihrer „authentischen“ Einblicke wären einem ein paar mehr Illusionen über deutsche Aktricen erhalten geblieben.

Womit schließlich aber beantwortet der 79-minütige, mit nachdenklicher Klaviermusik untermalte, junge und gleichzeitig frauliche Quattrolog die Frage des Regisseurs („Wie fühlt sich das Mädchen am Sonntag?“)? Damit: „Es ist sooo langweilig für Mädchen am Sonntag!“ Mag sein. Aber leider ist sonntägliche Langeweile nicht abendfüllend, auch nicht, wenn sie in erholsamen Urlaubsdekors spielt. War es deshalb künstlerische Absicht, dass die Mädchen am Ende verschwinden und aufhören, uns zu langweilen?

Doch warum bleibt der Sonntag? Oder was sollen am Filmende die meditativen Bilder eines leis rauschenden, mädchenlosen, schummrig-grünen Parks bedeuten, einem, zum Verwechseln ähnlich dem aus „Blow Up“? Dass hier irgendwo Leichen versteckt sind? Oder dass hier etwas viel zu aufgeblasen daher kommt?

Arbeitslosigkeit macht nicht besonders viel Spaß. Das hat sich hierzulande herumgesprochen. Aber: „Hey“, möchte man den rosigen jungen Dingern hinterher rufen, „ist doch alles nicht so schlimm, hast du schon vergessen, dass du Deutschland bist?“

Stadt als Beute

(D 2005, Regie: Irene von Alberti, Miriam Dehne, Esther Gronenborn)

Beuteschema
von Andreas Thomas

Am Anfang war die soziologische Untersuchung, dann kam das Bühnenstück – und jetzt läuft mancherorts der Film an. „Stadt als Beute“, eine Kompilationsarbeit der Drehbuchautorinnen und Regisseurinnen Irene von Alberti …

Am Anfang war die soziologische Untersuchung, dann kam das Bühnenstück – und jetzt läuft mancherorts der Film an. „Stadt als Beute“, eine Kompilationsarbeit der Drehbuchautorinnen und Regisseurinnen Irene von Alberti ('Paul Bowles – Halbmond'), Miriam Dehne ('I Love My Pony') und Esther Gronenborn ('alaska.de'), ist ein Film über Menschen in private city.

„Da ist diese Stadt und die ist Beute. Und Standortmarketing wird plötzlich auf menschliche Organismen übertragen … und ich höre immer diese Durchsagen in mir, Beute!“. Marlon hat Probleme seinen Text zu sprechen. „Und irgendein Gas souffliert mir was Unternehmerisches … und du hörst Kommandos!“ Regisseur Pollesch unterbricht ihn: „Das ist zu viel und zu wenig, zu viel Gefühl und zu wenig davon, was das mit dir zu tun hat.“ Marlon ist ratlos.

1999 erschien ein Buch mit Namen „Stadt als Beute“, das sich erstmals mit grundlegenden Umstrukturierungen beschäftigt, die das Bild unserer Städte immer stärker bestimmen. Die Autoren Klaus Ronneberger, Stephan Lanz und Walther Jahn untersuchen darin eine von vielen Ausprägungen jener entfesselten globalen Ökonomie, die in die Mitte der Stadt einen Dom namens Sony Centrum stellt, die sich ganze Straßenzüge aneignet, neu errichtet, Innenstädte in Konsum- und Bürohaus-Zonen umwandelt. Damit einher geht die Vertreibung sozial schwacher und alteingesessener Bewohner aus ganzen Stadtvierteln. Die Städte gehören immer mehr dem Kapital – und den wenigen, die noch irgendwie daran partizipieren können.

Teilnahmslos liest Lizzy: „Nichts an dir liebe ich so sehr, wie die für das Unternehmen, das du bist, mobilisierte Kommunikation und Kreativität über dein verlogenes Leben, das du gar nicht hast, weil du nicht lebst, sondern nur deinen Körper verkaufst.“ Der Regisseur: „Ich dachte eigentlich, du hättest gerade ausgerechnet zu diesem Text einen Bezug.“ Lizzy, naiv: „Pollesch? Warum lebe ich in dem Stück jemand ohne Leben?“

Nicht nur den Titel „Stadt als Beute“ hat der mehrfach ausgezeichnete Autor und Theaterregisseur René Pollesch für sein 2001 uraufgeführtes Theaterstück der Soziologie entliehen, auch inhaltlich kreist es um die Insignien eines Neoliberalismus, der, besonders augenfällig in Berlin, zu einer Oberfläche aus Marmor, Glas und Stahl geronnen ist. Das Stück stellt Bezüge her zwischen Außen und Innen, zwischen Marketing City und Ich-AG. Es hat keine erkennbare Handlung. Text als Bewusstseinszustand der Stadt und ihrer Bewohner. Furios herausgeschleuderte Sätze reflektieren das Verhältnis zwischen einer wirtschaftlich-technologischen Allmachtsreligion und ihrem ökonomischen Faktor „Mensch“.

Ohboy erscheint mal wieder nicht zu den Proben. Pollesch: „Vielleicht ist das von Bedeutung, dass er nicht kommt. Vielleicht hat er eine andere Form von Verweigerung gefunden, die wir gar nicht kennen. Ich finde interessant, dass er nicht da ist.“ Die anderen sind genervt: „Der kann seinen Text sowieso nicht lesen, der soll doch lieber wegbleiben.“ Erst am Ende der Proben taucht Ohboy auf, halbnackt: „Hey, Leute!“.

Vom Stück zum Film, vom Bewusstsein zum Sein: Der Film „Stadt als Beute“ versucht, den Diskurs in Handlung zu übersetzen. Er geht der Frage nach, wie gehen Schauspieler, die den Text spielen sollen, während der Proben damit um, und inwieweit ist der Text anwendbar auf ihr privates Leben? Ausgangspunkt ist die Arbeit am Stück, das auch im Film von dem sich selbst spielenden Pollesch inszeniert wird. Von den Proben aus folgt der Film drei Schauspielern in ihre Welt. Drei Parallel-Episoden, von je einer Regisseurin gedreht. Die Inszenierung ist das Ziel, der Weg dahin führt durch die Stadt.

Marlon (Richard Kropf), der schüchterne Held von Teil Eins, ist gerade frisch in Berlin angekommen. So fremd ihm die Stadt ist, so fremd ist ihm auch sein Rollentext. Erst eine nahezu halsbrecherische Odyssee durch eine Nacht und einen Tag verhilft ihm zu der nötigen Portion Wahnsinn, die er braucht, um seinen Part im Stück mit Leben zu füllen. Übernächtigt und blutend erscheint er im Theater. Spätestens nun weiß er seinen Text zu sprechen.

Auch Lizzy (Inga Busch), die Protagonistin in Episode Zwei, muss sich ihre Inspiration von der Straße holen: Sie, die sich direkt nach den Proben einen ultrateuren Designer-Mantel geklaut hat, verschlägt es in einen Table-Dance-Club, wo sie mit dem Geschäftsführer Julian (Stipe Erceg, „Die fetten Jahre sind vorbei“) und der kleinen Porno-Queen Babe (Julia Hummer, „Die innere Sicherheit“) ins Gespräch kommt, gemeinsam mit ihnen die ganze Nacht durch Champagner säuft, kokst und knutscht, bis ihr urplötzlich eine Rechnung von 1200 Euro vorgelegt wird. Learning by Living: Vermarktung von Persönlichkeit. Auch Lizzy hat ihre Lektion gelernt.

Warum Ohboy (David Scheller), ein klarer Fall von Berliner White Trash mit OliBa und Jogginghose, die Proben verpasst, erfahren wir im dritten Teil. Auch er hat Widerwillen gegen seinen Text und drückt sich in der Stadt herum. Ihn treibt es durch aufgemotzte Straßen mit halbverrückten Gestalten bis hin zum Potsdamer Platz. Mitten im Brunnen des Sony-Centers kommt ihm die Erleuchtung. Theater wird Realität, als er brüllt: „Das Sony-Center ist unrettbar, das Gebäude da gibt’s gar nicht, das ist nichts wert, das steht da eigentlich gar nicht, das ist nichts wert, Scheiße, alles Scheiße. Das Gebäude ist große Scheiße.“ „Sie dürfen hier nicht sein“, erwidert der Wachmann vom privaten Sicherheitsdienst und bringt auf den Punkt, worum sich hier alles dreht.

Einmal sagt Lizzy im Film, sie wolle keine Filme sehen, die nichts mit ihrem Leben zu tun haben. Natürlich hat „Stadt als Beute“ mit unserem Leben tun und mit unserer Welt. Schön, dass es einen Film gibt, der das Sony-Center ankackt. Allein für den Versuch, Bilder zu finden für die rasenden Talfahrten, die immer mehr versprengte Individuen zurzeit in der Stadt – aber auch in der Provinz – erleben, muss man einem Film danken – auch wenn er dabei ein wenig bemüht wirkt. Ein Problem ist die Verlagerung des Sujets „Stadt“ ins Theatermilieu. Sind Schauspieler, die Schauspieler spielen, das probateste Mittel, um Aufschlüsse über unser aller Gegenwart zu bekommen? Vor das interessante Thema „Stadt als Beute“ schiebt sich so die Profanität „Schauspielermacke“. Problem zwei ist die Message: „Gehet hin und sehet.“ Es ist schon ein schwieriger Kunstgriff, dass alle Beteiligten erst in die Schule namens „ein Tag in Berlin“ gehen müssen, bevor sie die Welt begreifen können, die das Stück meint, in der sie doch auch vorher schon ver- oder entwurzelt waren. Funktioniert ein Text in sich, wenn man für sein Verständnis zuvor eine Tour de Force ableisten muss?

Am stärksten ist der Film immer dann, wenn er in die Stadt, in die Straßen geht. Berlin in seiner Zerrissenheit zwischen altem Kiez und neuem Latte-Machiatto-Chic spielt besonders in Ohboys Episode eine Hauptrolle. Hier beginnen die Sätze zu wirken – und die Stadt wirkt zurück. Eine Szene wie etwa die, in der Ohboy auf einem Grünstreifen von einem Besoffenen als Faschist beschimpft wird, macht in ihrer Direktheit manch bemühten Einfall überflüssig, auch wenn sie sicherlich nicht im Drehbuch stand. Zum anderen zeigt aber z.B. Lizzys Geschichte im Nachtclub auch, wie schön eine gute Drehbuchpassage umgesetzt werden kann. Vor allem der großartigen Julia Hummer sei Dank!

Dresden

(D 2006, Regie: Roland Suso Richter)

Make love not war
von Marit Hofmann

Wir befinden uns am Anfang des Jahres 1945. »Die britische Luftwaffe beherrscht den deutschen Luftraum …« Den ganzen deutschen Luftraum? Nein! Es »gibt immer noch Städte, die vom Bombenkrieg nahezu …

Wir befinden uns am Anfang des Jahres 1945. »Die britische Luftwaffe beherrscht den deutschen Luftraum …« Den ganzen deutschen Luftraum? Nein! Es »gibt immer noch Städte, die vom Bombenkrieg nahezu unberührt sind«. Man könnte die Einleitungsfloskel zum Primetime-Ereignis »Dresden« wie folgt ergänzen: Das von unbeugsamen Nazis bevölkerte Dresden hält unbeirrt am Willen zum Endsieg fest. Und das Leben ist nicht leicht für britische Bomberpiloten, die versehentlich vom Himmel stürzen.

Was wie »Asterix« unter anderen Vorzeichen beginnt, ist eine »Fernsehfilmproduktion der Superlative«, ein »Film gegen den Krieg, für eine größere Mitmenschlichkeit – verbunden mit dem großen Wunsch nach Frieden« (Nico Hofmann, Produzent), ein »zu Herzensverstand gehender Film«, ein Film darüber, dass »in einem Bombardement doch auch die Liebe zwischen die Menschen findet« (Hans Janke, ZDF-Fernsehspielchef), andererseits aber auch »nicht nur ein Film der großen Emotionen, des Kampfes um Leben und Tod und der Suche nach der großen Liebe, sondern auch ein hochpolitischer Film; ein Film, der die Frage stellt nach Verantwortung, Schuld und Sühne – auf deutscher und alliierter Seite« (Jan Mojto, Koproduzent) resp. »emotional einer der schwersten Wege, die ich als Regisseur gegangen bin« (Roland Suso Richter, Regisseur). Es ist ein Film über die Bombardierung Dresdens im Februar 1945, die »bis heute als eines der furchtbarsten Symbole für den Schrecken des Zweiten Weltkriegs gilt«, über »eine der großen Wunden Europas« bzw. »den ›Beinahe-Tod‹ einer Stadt, die ein Gesamtkunstwerk war« (Sascha Schwingel, Produzent).

Die Handlung im Schnelldurchlauf: Britischer Bomberpilot fällt vom Himmel und versteckt sich in Dresdner Krankenhaus. Propere Krankenschwester entflammt in Liebe zu dem geheimnisvollen Fremden, obwohl sie doch dem Oberarzt versprochen ist! Auf der Flucht vor Nazischergen findet das Paar Unterschlupf beim Pastor in der Frauenkirche. Britischer Bomberpilot: »Ick muss dir was gestehen, ick bin ein Bomberpilot.« – Deutsche Krankenschwester: weinend ab. Verlobungsfeier mit Oberarzt platzt dennoch, weil der Bomberpilot die Krankenschwester über die miesen Geschäfte aufklärt, die ihr (eigentlich grundguter) Vater und der (eigentlich grundgute) Oberarzt mit Obernazis abwickeln. Die gemeinsame Flucht von Bomberpilot und Krankenschwester scheitert. Doch auch Bomber Harris kennt keine Gnade. Krankenschwester, Bomberpilot und Oberarzt kämpfen im Feuersturm um ihr Leben. Heulen, Rennen, Zähneklappern, Krankenschwester im roten Kleid vor Trümmerwüste. Harter Schnitt. Originalaufnahmen von der Weihe der wiedererrichteten Frauenkirche 2005. Glockengeläut, Gesichter alter Menschen in Nahaufnahme. Versöhnung. Ende.

Den hochpolitischen Gehalt habe man durch Fiktionalisierung »verstehenszugänglich« (Janke) machen müssen, denn das »große Fernsehpublikum … hat ein Recht darauf, Geschichte so zu erfahren, dass sie nicht nur seinen Intellekt anspricht« (Günther van Endert, Redakteur). Schöner ist der öffentlich-rechtliche Bildungsauftrag selten in Worte gekleidet worden. Dennoch will sich das Fernsehteam streng »an die historischen Fakten« gehalten haben: »Der Film zeigt Nazischergen und die tödliche Isolierung der wenigen jüdischen Deutschen, die noch in Dresden leben. Aber er zeigt eben auch Menschen, die nicht verfolgt werden, nichts mit dem Regime gemein haben und einfach nur den Krieg überleben wollen.« Menschen wie unsere ebenso unschuldige wie couragierte Krankenschwester, die pikiert wegschaut, wenn ein Jude exekutiert wird. Es treten auch nicht nur von Hass auf die Krauts zerfressene britische Berserker auf, sondern unter den Militärs sind auch einige Besonnene, die das »Inferno« verhindern wollen: »Dresden is the most beautiful town I’ve ever seen«, gibt ein tapferer Soldat vor der Bombardierung zu bedenken. Allein, Bomber Harris hat weder Sinn für Barockfassaden noch für Meißner Porzellan.

Der Zweiteiler ist so sehr den historischen Fakten verpflichtet, dass Sven Felix Kellerhoff (»Welt«) seine ganz persönliche Version der Geschichte in der Verfilmung (»schlicht großes Fernsehen«) wiederfindet: »Die Vernichtung Dresdens aus der Luft war militärisch nicht notwendig und zudem bewusst grausam – also ein Kriegsverbrechen im engeren Sinne des Wortes.« Und während die Frauenkirche, die exemplarisch für die Verschmelzung von Christentum und Nazismus stehen kann, im Film zu einer Oase des Widerstands umgemodelt wird, darf der 13. Februar 1945 wieder mal als zeitlose Mahnung herhalten, zum Beispiel gegen den Irakkrieg, »einer der verlogensten Kriege der Gegenwart … Dresden ist nicht nur das Ende eines Krieges, es ist der Anfang eines anderen … Die Bombe kennt keinen Unterschied, sie demokratisiert das Sterben« (Stefan Kolditz, Drehbuchautor).

So hat das Filmteam sein selbstgestecktes Ziel, den Intellekt auszuschalten, bereits vor der Ausstrahlung der Schmonzette überplanmäßig beherzigt. Der Krankenschwesterdarstellerin Felicitas Woll wurde bei den Dreharbeiten »klar, dass der Krieg so männlich ist. Die Frauenkirche hat etwas Weibliches. Sie ist hell und nicht erdrückend. Dresden ist weiblich. Es haut einen um.« Aber das ist noch gar nichts gegen den Hau, den Wolfgang Stumph, Darsteller des barmherzigen Frauenkirchenpfarrers, weg hat: Während »Hamburg viel, viel eher zerbombt worden is und in ‘nem fürchterlich aktiven Krieg«, führte er bei Johannes B. Kerner aus, sei Dresden »eben sinnlos zerbombt worden 1945 … und hatte mehr Symbol und Kräftemessen. Und hatte och no die Sinnlosigkeit, dass diese Stadt gar nicht so strategisch wichtig war, sondern nur ‘n Kräftemessen äh der, der Alliierten miteinander war. Und dann war das eine Kunststadt … das war wie Hiroshima, nä … Und das, das warn Kunstwerte. Und das war die Sinnlosigkeit, dass die die Flüchtlinge, Kriegsgefangenen, also flüchtende Soldaten und och Flüchtende aus den schlesischen Gebieten, in eben dieser Stadt warn. Und das war einfach menschlich inhuman, dass das in der Zeit damals passiert worden ist … Und das bewegt heute och Engländer und Amerikaner. Deswegen ist nich bloß, dass die Deutschen ihre Frauenkürsche aufgebaut haben, sondern da haben och viele Engländer und Amerikaner … Das hat eine große Symbolik, dass das eigentlich wieder geschaffen is … Und äh, das is schon schön. Wie wir uns insgesamt darüber freuen, wie diese Stadt blüht. Und, und och manchma mit dem Auge gekuckt wird: Kuck ma an, die kleinen Sachsen machen Sempernopernball und nich son Opernball wie äh, wie äh in Wien, sondern ‘n ganz andern. N deutscheren odern sächsischeren … Und man spürt das auch in ganz Deutschland, dass das der Stadt zum Vorteil gereicht.« Die spinnen, die Dresdner. Die Römer waren nichts dagegen. O tempora! O mores!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/2006

Speer und er

(D 2005, Regie: Heinrich Breloer)

Der einzige Zeuge
von Marit Hofmann

»Ich habe immer die These vertreten, dass Hitler ein Mensch war.« Joachim Fest, Historiker Das ging nun selbst dem nachsichtigen Joachim Fest entschieden zu weit. Albert Speer, dessen Erinnerungen Fest …

»Ich habe immer die These vertreten, dass Hitler ein Mensch war.«
Joachim Fest, Historiker

Das ging nun selbst dem nachsichtigen Joachim Fest entschieden zu weit. Albert Speer, dessen Erinnerungen Fest lektoriert hatte, hatte sich eines Vergehens schuldig gemacht, das schwerer wog als die Taten, deretwegen er bei den Nürnberger Prozessen angeklagt worden war. Der NS-Rüstungsminister und Chefarchitekt des »Dritten Reiches« hatte seinen Lektor und späteren Biographen angelogen. Ein Historiker, der, anders als Fest, recherchiert hatte, deckte 1981 auf, dass Hitlers Baumeister bereits 1941, also lange vor seiner Ernennung zum Rüstungsminister, für die »Entjudung« ganzer Stadtviertel Berlins gesorgt hatte und also keineswegs die unpolitische Künstlernatur, der »Engel, der aus der Hölle kam« (Speer-Verleger Wolf Jobst Siedler), war, an dessen Mythos Fest so eifrig mitgemeißelt hatte: »Das Buch von M. Schmidt (Matthias Schmidt: Albert Speer. Das Ende eines Mythos; M. H.) gelesen«, notierte Fest damals. »Sehr voreingenommen, aber die Beweise eben nicht unerheblich. Im ganzen enthält es exakt, was ich mitunter befürchtet hatte. Es gab also doch, entgegen den Beteuerungen Speers, ›Geheimnisse‹. Enttäuscht und verärgert. Zu Siedler sagte ich heute, Speer habe uns allen mit der treuherzigsten Miene von der Welt eine Nase gedreht. Ich sei nicht bereit, ihm das nachzusehen.«

Fests »Wendung« kommt freilich etwas spät. Kurz vor Schmidts Enthüllung ist Speer auf einer Interviewreise in England gestorben, als reicher angesehener Mann, der nach der Haft in Spandau mit Fests und Siedlers Hilfe noch eine zweite Karriere als Bestsellerautor hatte erleben dürfen. Von einem Neuanfang als Architekt hatten ihn seine beiden PR-Berater mit der Begründung abgehalten, man »könne nicht ›Germania‹ entwerfen und dann eine Bierfabrik irgendwo in Schleswig-Holstein«.

Siedler, damals Chef des Propyläen Verlags, nimmt die Verfehlung seines Schützlings um einiges leichter. »Er empfindet«, schreibt Fest, »meine ›Verdammung‹, wie er das nennt, als zu hart und einigermaßen pietätlos. Ein späteres Urteil werde alle Seiten zu berücksichtigen haben. Dem kann man kaum widersprechen.«

Ein Urteil, das es allen Seiten recht machen will, liefert jetzt, mehr als 20 Jahre später, Heinrich Breloer mit seinem dreiteiligen Fernsehfilm »Speer und er«, der im Mai, begleitet von reichlich Mediengetöse, in der ARD läuft. An dessen absehbarem Erfolg will Fest, Autor der Buchvorlage zum Kinohit »Der Untergang«, ebenfalls ein bisschen mitverdienen, indem er die Protokolle seiner Gespräche mit dem Naziminister veröffentlicht, die vor allem den Fragesteller entlarven.
Fest und Siedler tauchen in dem »Dokudrama« wiederum als Breloers Gesprächspartner auf, als Experten, die zu Speer, einem »ersten Zeugen, wie er einem Historiker selten zur Verfügung steht« (Fest), ein »Vertrauensverhältnis« aufgebaut hatten, d. h. mit ihm privat verkehrten, feierten und auf Sylt in den Dünen lagen.

Auch Breloer, der sich nun als Zerstörer des Mythos Speer geriert, hatte den Stararchitekten einmal kennenlernen dürfen: »… wie einnehmend sein Wesen war … Ich war begeistert: Der große Speer gibt mir ein Interview.« Sein Bild von Hitlers Kumpan habe sich während der Recherchen aber »deutlich verfinstert«. Vor allem in der Dokumentation »Nachspiel – Die Täuschung« und dem Gesprächsband Unterwegs zur Familie Speer konfrontiert er die Aussagen des Rüstungsministers, der »nichts gewußt« haben will, und auch jene Fests und Siedlers, die Speer dies abgenommen haben, mit neueren oder (wie im Fall Schmidts) vergessenen Forschungsergebnissen: Speer hatte nicht nur Deportationen veranlaßt. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Häftlinge in seinen Steinbrüchen und im KZ Mittelbau-Dora muß der Mann, der den Zweiten Weltkrieg und damit den Holocaust um zwei Jahre verlängerte, ebenso gekannt haben wie die Baupläne von Auschwitz, in denen Gaskammern, Krematorien und Leichenhallen akribisch aufgeführt waren.

Dennoch fällt Breloer immer wieder hinter diese Erkenntnisse zurück. So wenn er sinniert: »Aber was, wenn ihm (Speer; M. H.) wirklich klargeworden wäre, daß er der Freund des Mannes war, der die Juden umgebracht hat?« Wie Fest kreist auch Breloer immer wieder um die Frage der »Verbrechenskenntnis« Speers. Daß der »Reichsminister für Rüstung und Munition«, einer der mächtigsten Nazis während des Krieges, selbst ein Verbrecher gewesen ist – diese Idee, die dem Historiker Fest bis heute nicht gekommen ist, verliert auch der Regisseur Breloer immer wieder aus den Augen.

In »Speer und er« klittert er Geschichte auf seine bewährte Art, wie man es schon aus dem RAF-Melodram »Todesspiel« kennt: Die Koryphäe des so genannten Qualitätsfernsehens montiert an sich bereits fragwürdiges dokumentarisches Material, vor allem Propaganda aus der NS-Zeit, Gespräche mit »Zeitzeugen« resp. »Experten« und Spielszenen, die die Lücken in der Geschichtsschreibung füllen sollen und die eigene Version zur Wahrheit erheben. Die von Speer in die Welt gesetzte und von Fest verbreitete Legende von der unpolitischen Künstlernatur, die in schlechte Gesellschaft gerät, dem »Charme Hitlers« erliegt und sich heillos »verstrickt«, spinnt Heinrich Breloer trotz aller Vorbehalte fort. In den nachgestellten Vier-Augen-Gesprächen zwischen Hitler und Speer übernimmt er die Version des ersten und einzigen Zeugen weitgehend unkritisch und gibt noch einen guten Schuss Melodramatik dazu. Während der Minister seinem Führer gegen Ende des Krieges einen Brief schreibt, in dem er an ihn appelliert, das »tapfere und anständige Volk« nicht durch Zerstörung der eigenen Infrastruktur zu schädigen, bröckeln Trümmer von der Decke auf ihn herab. Beim Besuch im Bunker verkörpert er gegenüber dem wahnhaften Hitler, der das deutsche Volk opfern will, obwohl der Krieg unwiderruflich verloren ist, die Ratio – und riskiert seinen Kopf dabei. Bei den deutschen Fernsehzuschauern wird Speer posthum mit seiner vor den Nürnberger Anklägern erprobten Verteidigungsstrategie durchkommen: Obwohl er seinem Führer bis zuletzt die Treue schwor, war er, weil er sich weigerte, den »Nero-Befehl« auszuführen, doch eigentlich ein Widerstandskämpfer.

Bei Fest liest sich das so: Trotz seiner »kritischen Distanz während der Endphase des Regimes … fühlte Speer sich verpflichtet, einem als Verbrecher erkannten Zerstörer des eigenen Landes bis zuletzt eine zumindest persönliche Loyalität zu schulden«. Hitlers Vergehen bestand also im Grunde genommen in einem Mangel an Patriotismus. Der Holocaust interessiert Fest nicht – spätestens hier zeigt sich, dass der Lektor seinem Autor ideologisch sehr viel näher war, als er glauben machen möchte. In einem Interview, das er der »Berliner Zeitung« zum 60. Jahrestag des Kriegsendes gab, bemängelt der ehemalige »FAZ«-Herausgeber, dass »Auschwitz als eine jüdische Ikone präsentiert« werde. Schließlich seien nicht zuletzt auch Deutsche umgebracht worden. Auch in Fests Verwandtschaft habe es Widerstandskämpfer gegeben. »Es war eine verschwiegene Art, gegen die Nazis zu sein. Und diese Leute sind nachher als Nazideutsche totgeschlagen worden.«

Breloer hält sich auch an das von Fest in die Welt gesetzte Bild von Speer, wenn er den Spandauer Häftling als reuigen Sünder mit Zivilcourage zeigt, der sich von den unbelehrbaren Mitgefangenen beschimpfen lassen muss. Ein Opfer, aber irgendwie auch ein Held.

Neben der Lächerlichkeit des erneuten Versuchs, die Rolle Hitlers mit einem deutschen Schauspieler zu besetzen (Tobias Moretti, bekannt aus »Kommissar Rex«, müht sich im Gegensatz zu Bruno Ganz an einem volkstümlichen Hitler mit Wiener Schmäh ab, um des Führers Charmeoffensive zu illustrieren), fällt bei der Besetzung vor allem auf, dass Sebastian Kochs Speer noch einnehmender und rhetorisch gewandter ist als der reale. »Sie können ein Gespräch über eine Figur oder einen Menschen dann leichter in Gang setzen«, erläutert Breloer, »wenn Sie eine Figur so gestalten, dass sie den Zuschauern nahekommt, dass sie mit Empathie den Weg eines Menschen begleiten.« Und Sebastian Koch, der Andreas Baader aus dem »Todesspiel«, erklärt auch gern, warum er seine Rolle so und nicht anders spielte: »Ich glaube nun mal nicht daran, dass Speer ständig mit Bedacht gelogen hat. Speer hat geglaubt, was er sagte.«

In den Mittelpunkt seines Dreiteilers stellt Breloer jedoch Speers eigentliche Opfer: seine Kinder. Frank Schirrmacher, der das Werk in der »FAZ« als Meilenstein feiert, erkennt in den »siebzigjährigen Kindern« die »Helden dieses Films. Sie haben über Jahrzehnte hinweg die Last zweier Leben tragen müssen. Es rächt sich, von Hitler getätschelt worden zu sein.« Drei von den Nachkommen – die Tochter Margret Nissen, die ihren eigenen Beitrag zum Speer-Gedenkjahr in Buchform geliefert hat, ist nicht darunter – sind mit Breloer auf Reisen zu den Orten ihrer Jugend gegangen und haben sich bereitwillig seinen betont einfühlsamen Fragen (»Träumen Sie manchmal von Ihrem Vater?«) gestellt, denen der Produzent Thilo Kleine eine »fast psychoanalytische, therapeutische Dimension« bescheinigt. TV-Therapie für Täterkinder – warum nicht? Das Fernsehen ist schließlich »im Grunde ein sehr intimes Medium«, wie Breloers Drehbuchautor Horst Königstein versichert. Für den Zuschauer ist es jedoch nur bedingt erhellend, die Gesichter der Speer-Sippschaft, die sich teils ratlos gibt und teils um die Ehrenrettung des Vaters bemüht, minutenlang in Großaufnahme zu betrachten.

Im Vorwort seines Gesprächsbands wirbt der nachgeborene Täterversteher Breloer um ein wenig Mitgefühl: »Meiner Generation sind die Entscheidungen erspart geblieben, vor die unsere Eltern gestellt wurden. Wir hatten Glück – wir sind nicht in so düstere Zeiten hineingeboren worden. Deshalb darf es hier keine moralische Überheblichkeit geben, denn wir wissen nicht, wie wir gehandelt hätten … Und auf der Suche nach Antworten begegnen wir immer wieder einem Rätsel: der Verführbarkeit des Menschen.«

Und spätestens hier, im Raunen vom großen Rätsel der menschlichen Natur, trifft sich der vermeintliche Speer-Kritiker Breloer wieder mit dem »vernehmenden Lektor« (Siedler über Fest). So »enttäuscht und verärgert« Fest nach Schmidts Enthüllungen über seinen Autor auch gewesen sein mag, sein Fazit von 2005 klingt schon wieder versöhnlich, denn auch Speer wusste nicht, was er tat: »Die Gespräche mit Speer handeln vom Rätsel seines Lebens. In den Widersprüchen, die es begleiten und schließlich ganz und gar beherrschten, hat Speer selber sich so ausweglos verfangen, dass er … immer weniger irgendeine halbwegs überzeugende Antwort darauf hatte. Am Ende wurde er sich selber zum größten Rätsel.«

Hören wir abschließend, wie Breloer die von ihm verehrte Kollegin Leni Riefenstahl mit ihrer Rolle im »Dritten Reich« konfrontiert: »Aber es muss auch persönlich mit Ihnen etwas geschehen sein. Albert Speer und vielen anderen ist es ja genauso gegangen, dass sie in seinen (Hitlers; M. H.) Bann gezogen wurden – es muss etwas im Herzen vorgegangen sein.« Da will man sich eines lieber gar nicht vorstellen: wie Breloers Film ausgefallen wäre, wenn sein Untersuchungsobjekt noch am Leben wäre und dem »vernehmenden Regisseur« Rede und Antwort gestanden hätte.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 05/2005

Russland – Im Reich der Tiger, Bären und Vulkane

(D / RU 2010, Regie: Uwe Anders, Christian Baumeister, Oliver Goetzl u.a.)

Orientierungslos in freier Wildbahn
von Ira Kormannshaus

Aus einem Sechsteiler des NDR wurde ein Film gestrickt. Kann das gut gehen? Zunächst fällt auf, dass jede Art von Konzeption außer der Kinolänge abwesend ist – weder Jahreszeiten noch …

Aus einem Sechsteiler des NDR wurde ein Film gestrickt. Kann das gut gehen?
Zunächst fällt auf, dass jede Art von Konzeption außer der Kinolänge abwesend ist – weder Jahreszeiten noch Geografie bilden ein Gerüst. Geografisch geht es vom Fernen Osten (äußerster Osten der Russischen Föderation) in den Kaukasus (äußerster Südwesten) weiter nach Sibirien (das weite Gebiet von östlich des Urals bis zum Pazifischen Ozean). Nach welchen Kriterien Gegenden des größten Landes der Erde besucht oder auch nicht besucht wurden – an der Wolga oder in Karelien z.B. hätten sich auch interessante Motive gefunden – Schweigen im Walde. Es beginnt mit einem Potpourri. Schneefuchs und Pinguine im eisigen Winterwind auf Kamchatka, eine einsame Pflanze, eine Ente – der Wind heult weiter. Gut befellte Moschusochsen kämpfen und laufen zu Musik.

Flug über verschneiten Nadelwald. „Fliegen wir über Sibirien zum äußersten Ort des Riesenreichs, dem fernen Osten am Pazifischen Ozean.“ Noch einmal zur Geografie: die Halbinsel Kamchatka gehört zum Fernen Osten, liegt nur nördlicher als die Amur-Mündung, dieser ‚äußerste Ort‘. Von diesem wiederum geht es in den äußersten Norden, zur Wrangel-Insel im Nördlichen Eismeer. Oder ist es die Halbinsel Chukotka? Das erfahren wir nicht.

Die Amur-Tiger – deren drohendes Aussterben dem Film gerade mal eine Randbemerkung wert ist -, außer ihnen gibt es dort auch Wölfe. Die heulen, die gehen durch den Schnee. „Jagen“ Zobel – sollte hier gejagt worden sein, haben holpriger Schnitt und Off-Text ihr Möglichstes getan, dies unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Off-Text. Von dem gibt es viel, und er erzählt uns gerne, was wir entweder gerade sehen oder gleich sehen werden. Ansonsten scheinen die Tierlaute mitunter der Geräuschbibliothek entnommen – an sich kein Verbrechen. Wenn es entsprechend umgesetzt wäre, was technisch kein Problem sein sollte. Eigentlich. Auch der Schnitt ist häufig, freundlich gesagt, unbeholfen und trägt nicht zur Glaubwürdigkeit oder gar Atmosphärebildung dieser recht lieblos aneinander gereihten Bilder bei. „Die Reise geht weiter. Wir fliegen über die Vulkane und Gletscher Kamchatkas, 8000 km durch Sibirien Richtung Westen.“

Aufnahmen, von denen unklar ist – ist es noch Kamchatka, eine Zwischenstation in Sibirien oder schon im Kaukasus? Die ausgiebig behauptete Einzigartigkeit der Bilder gibt es nicht. „Der Elbrus, 5640 m, höher als der Montblanc“ – mit entsprechenden Bildern wäre es zu sehen… „Die letzten kaukasischen Steinböcke“ – deren Auftritt: „Einige Tausend.“ Wie viele Tausend denn bitte? Und was unterscheidet sie von anderen Steinböcken? „Ein vergessener Garten Eden.“ Bild: Bäume im Gegenlicht. Einzigartig? „Der Kaukasus ist eine der regenreichsten Regionen Europas.“ Bild: Wolken im Zeitraffer. Überhaupt ein beliebtes Motiv in diesem Film – wer jemals etwas dafür übrig gehabt hat, wird nach diesem Film auf lange Zeit bedient sein.

Wirklich interessant – die windabgewandte Seite des Kaukasus ist eine Wüste. Die 260 m hohe Wanderdüne in Dagestan wirkt in Nahaufnahme und Halbtotale bestenfalls 30 m hoch. Die sich putzende Heuschrecke ist eine der wenigen Beobachtungen, die die nötige Zeit bekommen. Dann wird wieder eine Jagd behauptet, der Igel wird die Heuschrecke am Ende fressen. Geschnitten, dass man meinen könnte, die Macher selbst seien dabei gejagt worden, wie eines der vielen von ihnen gefilmten Tiere.
Im Internet ein Video aus dem gleichem Material, anders geschnitten mit deutlich informativerem Kommentar: http://www.geo.de/GEO/natur/tierwelt/64399.html

Sandsturm. Klar sind es schöne Bilder – aber dürfen wir bitte was über die Auswirkungen auf den Lebensraum erfahren? Man gefällt sich auch in Sexismen. Die Schildkröte – woran erkennen wir eigentlich weibliche oder männliche Tiere? „Sie lässt ihn noch etwas zappeln. Dann kann sie seinem zarten Liebesspiel nicht mehr widerstehen.“ Zart? Er donnert gegen ihren Panzer. „Ihre Dankbarkeit hält sich in Grenzen.“ Wofür auch?

Die Beispiele ließen sich endlos fortsetzen. Wo Information mit der Lupe gesucht werden muss, kann nicht der Atem entstehen, den ein Kinofilm braucht. Dem Vorbild Jacques Perrin können die TV-Filmer nicht ansatzweise das Wasser reichen und die holprigen Versuche, Godfrey Reggios Meisterwerk 'Koyaanisqatsi' zu zitieren, wirken einfach nur grotesk. Dass der gelernte Tierarzt und Kameramann Henry Mix Leiter der Projektgruppe für Natur- und Artenschutz ist, hatte auf den Film kaum Einfluss. Was aus 3,5 Jahren Produktionszeit, 1.200 Drehtagen, 100.000 Reisekilometern und 600 Stunden Rohmaterial gemacht wurde, ist ein Trauerspiel. Teils grandiose Bilder – leider auch mit grandios pathetischer Musiksoße vom Hauskomponisten der DVD-Edition des Spiegel reichlich überschüttet.

Hätte das Team mal eine der vermutlich vielen Wartezeiten auf Moskauer Flughäfen genutzt, ins Krasnogorsker Archiv zu gehen und sich den Dokumentarfilm 'Pamir' ('Sockel des Todes', 1928) von V. Shneiderov über eine Expedition in das gleichnamige Gebirge anzusehen …

Die Flucht

(D 2007, Regie: Kai Wessel)

Zum Wohle der Allgemeinheit
von Marit Hofmann

Dass ARD-Programmdirektor Günter Struve das noch erleben darf! Der Zweiteiler »Die Flucht«, der am 4. und 5. März 2007 zur besten Sendezeit ausgestrahlt wird, sei der erste deutsche Fernsehfilm, der …

Dass ARD-Programmdirektor Günter Struve das noch erleben darf! Der Zweiteiler »Die Flucht«, der am 4. und 5. März 2007 zur besten Sendezeit ausgestrahlt wird, sei der erste deutsche Fernsehfilm, der sich rein fiktional (aber dennoch höchst authentisch!) mit Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten befasse. Wollte früher manch einer den Vertriebenen jegliche Entschädigungsansprüche »mit Verweis auf eine angeblich historische Kollektivschuld der Deutschen« verweigern, sei die Aufarbeitung des Geschehenen heute »nicht mehr so ideologisch belastet«. Auch Regisseur Kai Wessel hätte vor 15 Jahren nicht im Traum daran gedacht, sich mit diesem »damals als revanchistisch angesehenen Thema« auseinanderzusetzen. Über das nicht mehr als revanchistisch angesehene Thema hat Wessel nun einen nicht unrevanchistischen Film gedreht, der »konsequent« aus der Perspektive der leidenden Zivilbevölkerung erzählt sei. Beratend zur Seite standen die Historiker Manfred Messerschmidt (»Der Exodus verwandelte Einheimische, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene gleichermaßen in Flüchtlinge.«) und Peter Steinbach (»emotional besonders schmerzhaft erinnerte Ereignisse«). Auf der Pressekonferenz zum Film präsentierte man auch einen damals dreijährigen »Zeitzeugen«. Der erinnere sich »aufgrund der Tagebuchaufzeichnungen seiner Mutter sehr genau«.

Mit Immenhofschen Pferdeidyllen und Guldenburgschen Adelskapriolen beginnt das Drama um die beherzte Gräfin von Mahlenberg (Maria Furtwängler), die den Flüchtlingstreck von ihrem ostpreußischen Gut über das gefrorene Haff führt. Sie stellt sich nicht nur schützend vor Deserteure und Nazigegner, am Ende verguckt sie sich ganz unstandesgemäß in einen französischen Zwangsarbeiter. Nur dem Russen ist eben doch nicht zu trauen. Die naiven Dienstmägde, die mit der Losung »Wenn der Kriech aus ist, sind die Russen auch nur Menschen« auf den Lippen kehrt machen, werden von einer Horde Un(ter)menschen aus der Roten Armee eines Besseren belehrt, während die flüchtende Christengemeinschaft unter blaublütiger Führung als Hort der Humanität erscheint.

»Hitlers letzte Opfer« (so der Titel einer Dokumentation, die die ARD im Begleitprogramm zeigt) sind offenbar nicht nur die Vertriebenen im Allgemeinen, sondern die Aristokraten ostpreußischer Provenienz im Besonderen. Da gab es noch »Werte wie Verantwortung, Fürsorgepflichten und jahrhundertealte gewachsene Familienstrukturen und -bande«, erklärt Gabriele Sperl, die zusammen mit der bewährten Firma Teamworx (»Dresden«) produzierte.

»Ein bisschen etwas von dieser untergegangenen Welt« hat während der Dreharbeiten auf La Furtwängler abgefärbt. Als ihr in den Reitstiefeln und Lederhandschuhen alles eingefroren sei, wäre sie am liebsten aus dem Treck geschert, um sich aufzuwärmen. Doch dann sei ihr die historische Verantwortung bewusst geworden. Und wie die Gräfin hat sie ihre eigenen Interessen dem Wohle der Allgemeinheit untergeordnet.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/2007

Satte Farben vor Schwarz

(D / CH 2010, Regie: Sophie Heldman)

Sprachlose Negation des Leidens
von Wolfgang Nierlin

Man hat irgendwie kein gutes Gefühl, wenn man den selbstverständlichen, gepflegten Wohlstand der Ruheständler Anita (Senta Berger) und Fred (Bruno Ganz) sieht. Das Eigenheim mit großem Garten und Swimmingpool steht …

Man hat irgendwie kein gutes Gefühl, wenn man den selbstverständlichen, gepflegten Wohlstand der Ruheständler Anita (Senta Berger) und Fred (Bruno Ganz) sieht. Das Eigenheim mit großem Garten und Swimmingpool steht in privilegierter Wohnlage und ist mit teuren Möbeln und Bildern geschmackvoll eingerichtet; vor dem Haus sind zwei Autos geparkt. In der eingespielten Zweisamkeit des seit Jahrzehnten verheirateten Paares hat der Alltag eine Ordnung, sind die Aufgaben verteilt: Wenn sich Fred, ein distinguierter Ex-Firmenchef mit nicht näher genannter Profession, ins Büro verabschiedet, fängt die kulturinteressierte Anita an, zu gärtnern und erledigt Einkäufe. Dabei entdeckt sie zufällig, dass sich ihr Mann eine neue Wohnung gekauft hat. „Ich brauche einen Ort, wo ich nachdenken kann“, sagt Fred. Anita reagiert empört und fühlt sich verraten.

Die beiden Protagonisten in Sophie Heldmans Debütfilm „Satte Farben vor Schwarz“ sind Gefangene ihres geordneten Wohlstands. Das erzählen zumindest die vielen genau komponierten Bilder der dffb-Absolventin und ihrer Kamerafrau Christine A. Maier, deren Bildgestaltung die Figuren immer wieder rahmt und isoliert, sie durch Wände trennt, an den Bildrand drängt oder durch Fensterscheiben distanziert. Zugleich sind diese Bilder Ausdruck einer Sprachlosigkeit und eines Schweigens, das sich zwischen das miteinander vertraute Paar geschoben hat, seit Fred von seiner schweren Erkrankung an Prostatakrebs weiß. Plötzlich erscheint ihre Beziehung gestört („Wir haben uns verloren.“); und indem die Vergänglichkeit in den Blick rückt, erweisen sich die erhofften Möglichkeiten einer gemeinsamen Gestaltung des Alters als zeitlich begrenzt. Man habe zwar an das Ende gedacht, sagt Anita, aber nicht an das, was vor dem Ende komme.

Ein heftiges Sommergewitter, das den Garten aufwühlt und zerzaust, setzt diesbezüglich und vorläufig eine symbolische Zäsur. Konzentriert, ruhig und in Teilen elliptisch verdichtet, erzählt Sophie Heldman von einer gestörten, vielleicht unmöglichen Kommunikation. Vor allem in der Beziehung zu ihren erwachsenen Kindern Patrick (Barnaby Metschurat) und Karoline (Carina Wiese) sowie zu ihrer Enkelin Yvonne (Leonie Benesch) erweist sich die Sprachlosigkeit aber auch als ein durch unterschiedliche Lebensperspektiven bedingter Abstand zwischen den Generationen. Dabei erscheinen die Rücksichtnahmen der Eltern ebenso falsch wie die Kommunikationsangebote der Kinder hilflos. Von Todesgedanken umfangen und absorbiert, den Blick auf das Spiegelbild welkender Körper gerichtet, wächst die Einsamkeit um Fred und Anita, greifen Lethargie und Stillstand immer mehr um sich, von eher verkrampften Ausbrüchen unterbrochen.

Leiden und Angst sind in Sophie Heldmans Film jedoch keine mitteilsamen Größen, vielmehr dominiert vornehmes Schweigen, das durchaus als Verweigerung und Negation gemeint ist. Jenseits der konkreten, materiellen Existenz gibt es keinen Gegenpol, sondern allenfalls Behauptungen einer „Freiheit“ und einer „unendlichen Liebe“, die vom Drehbuch jedoch nicht vertieft werden. Als Höhepunkt von Sprachlosigkeit und Leere erscheint der Doppelselbstmord am Ende des Films durchaus konsequent; weniger hingegen als Idealisierung einer Selbstbestimmung, was die Regisseurin wohl intendiert hat, wenn sie im Presseheft über ihre Protagonisten schreibt: „Der Freitod ist für sie ein Mittel, um das Leben selbstbestimmt und ohne Leid zu beschließen.“ Leider fehlt diese Reflexion im Film. Und so passt dieses Statement entgegen seiner Absicht eher zu den Verdrängungen der eingangs beschriebenen Wohlstandswelt, die das Leiden gerne ausblenden würde.

Link zum Interview mit Regisseurin Sophie Heldman

The Green Hornet

(USA 2011, Regie: Michel Gondry)

Flügellahm
von Harald Mühlbeyer

„The Green Hornet“ hat als vergessenes Relikt der Popkultur ein gewisses Kultpotential; ursprünglich eine Radioserie in den 30ern, wurden bald Comics produziert, 1966 gab es eine Fernsehserie, die für Bruce …

„The Green Hornet“ hat als vergessenes Relikt der Popkultur ein gewisses Kultpotential; ursprünglich eine Radioserie in den 30ern, wurden bald Comics produziert, 1966 gab es eine Fernsehserie, die für Bruce Lee den Durchbruch in der westlichen Welt bedeutete. Im Rahmen der zeitgenössischen Wiederverwertung alter Formate und der digitalen Blockbusterisierung von Superhelden öffnet nun Produzent Neal H. Moritz die Mottenkiste – und hat ein gewisses Problem: der europäische Markt ist nicht wirklich vertraut mit „Green Hornet“, also muss der französischstämmige Michel Gondry ran, und Christoph Waltz wird als Bösewicht engagiert. Und die Synchronisation versucht etwas holprig, den deutschsprachigen Markt zu öffnen: im Film gestaltet sich die Suche nach einem Namen für das neu in der Stadt aufgetauchte Phantom als schwierig, man kommt auf den catchy Namen Grüne Hornisse. „Ja, nicht schlecht. Aber so richtig Power hat es erst auf englisch: The Green Hornet“, heißt es dann, und das bringt eine Grundschwierigkeit auf den Punkt: nicht nur genießt The Green Hornet als Held nicht wirklich große Bekanntheit, auch gehört „hornet“ nicht zum Standard-Vokabular im hiesigen Schulenglisch. Muss also alles erstmal geklärt werden.

Das grundsätzlich Positive daran ist, dass man unter diesen Voraussetzungen bei Null anfangen kann. Dass also Seth Rogen das Drehbuch mitverfasst hat und die Titelrolle spielt, dass der träumerisch-schräg-versponnene Michel Gondry inszenieren darf: Das hat durchaus Potential für Großes, nämlich für eine unkonventionelle Herangehensweise ans Superhelden-Action-Genre. Rogens Humor, Gondrys visuelle Originalität und die Action-Blockbusteraffinität von Produzent Moritz („The Fast and the Furious“ und so) könnten sich gegenseitig befruchten. Wenn man sich einigen könnte, wer Blüte und wer Biene resp. Hornisse sein würde.

Und, nun ja: Sie passen eben doch nicht zusammen, auch, wenn sie sich in den ersten Szenen recht fröhlich und durchaus paarungsbereit umflattern: Seth Rogen als Britt Reid wird scharf charakterisiert, als hohlköpfiger Sohn eines großen Zeitungsmachers; Kato ist ein untergebutterter Diener, Automechaniker und Kaffeekocher mit unendlichen technischen Fähigkeiten und total coolem Potential. Und Gegenspieler Christoph Waltz hat als Chudnofsky – allzu schwierig auszusprechen – einen genialen ersten Auftritt: ein schnöseliger Junggangster (erkennt jemand den Gaststar?) hält ihm einen langen Vortrag über das richtige, coole Image des Schurken, über Chudnofskys doofen Anzug, über den korrekten Style des Bösewicht-Daseins und wie wenig gruslig der biedere Chudnofsky doch ist. Der pariert nicht nur mit seltsamem österreichisch-russischem Dialekt-Akzent, sondern auch mit einer zweiläufigen Pistole. Und bringt damit echtes Tarantino-Feeling in den Film.

Zu Anfang ist das wirklich cool. Und auch die Form der 3D-Präsentation passt dazu: das zweidimensional gefilmte Material wurde digital auf 3D hochgepusht, und zwar dermaßen schlecht … Nennen wir ruhig die Übeltäter: Grant Anderson und Rob Engle schaffen es, dass Personen durchsichtig erscheinen, dass sich an Bäumen Äste in 3D-Luft auflösen, sich eine Stretchlimousine bei der Fahrt um eine Kurve willkürlich streckt und zusammenzieht; als Seth Rogen, hingefläzt auf sein Bett, aufsteht, verkürzt sich die Perspektive, dass er wie ein Liliputaner aussieht!

Und das passt so gut in die ersten Minuten des Films, als er noch im Unentschieden schwebt, ob hier wirkliche Heldenaction oder deren subtile, subversive Zersetzung stattfindet. Gondry, der in seinen bisherigen Filmen seine handgemachten Trickeffekte wie perfekte CGIs hat aussehen lassen, scheint nun die digital errechneten Bilder in die handwerkliche Unvollkommenheit zu führen … Bis sich zeigt: Nein, es sind keine künstlerisch eingesetzten Makel, sondern echte Fehler. Und es stimmt, was im Presseheft steht: dass Gondrys hauptsächlicher Beitrag zu diesem Film das ist, womit er sich in einem kleinen Pitching-Video für den Job beworben hat: dass in einem Bild Zeitraffer und Zeitlupe zugleich stattfinden, dass in Kampfszenen der eine verlangsamt, der andere aber superschnell agiert. Nicht neu, aber immerhin mit einem eigenen Namen versehen: Kato-Vision, weil für den Sidekick/Partner von Britt Reid aka Green Hornet sich bei schnellem Herzschlag die Zeit verlangsamt, so dass er seine Gegner mit Muße im Kampf beobachten und blitzschnell attackieren kann. Mit dem filmischen Ergebnis, dass sich Zeit und Bewegung strecken und zusammenziehen wie falsch berechnete 3D-Gegenstände; schnell geschnitten im Übrigen, so dass die behauptete Coolness des Effekts schon wieder in der Montage begraben wird.

Kann sich Gondry nicht recht in die Blockbusterwelt einfinden, so fügen Rogen und Co-Autor Evan Goldberg mit ihrem Drehbuch ein höchst wackliges Fundament hinzu. Der Grundplot ist einfach und effektiv: Britt Reid, der gelangweilte, egomanische Playboy, wird mit dem Tod des Vaters zur Übernahme von dessen Zeitung und von Verantwortung gezwungen; agiert zudem, als Hobby, zusammen mit Kato als Green Hornet, als Bekämpfer des Bösen mit dem Clou, selbst als Bösewicht zu gelten; verhilft diesem Treiben per Schlagzeilen zu angemessener publizistischer Aufmerksamkeit; legt sich dabei mit Christoph Waltz an, buhlt um die hochgebildete Sekretärin Cameron Diaz, fühlt sich groß und stark und lässt alles von Kato erledigen: dolle Kampfautos bauen, Prügeln, Verfolgungsjagden.

Einerseits hebt sich Rogen, hebt sich die Handlung von üblichen Superhelden-Stories ab: Britt Reid ist ein aufgeblasener Egoist, unfähig, feige, nutzlos; durchaus also ein Gegenpol zu heldischen Weltenrettern. Doch andererseits fehlt in den Charakterisierungen, in den Figurenkonstellationen die richtige Balance, das Gespür für das richtige Timing und die pointierte Dramaturgie. Lange bevor der Film Reids Arschloch-Charakter zum Thema – zum dramatischen Konfliktstoff zwischen ihm und Kato – macht, fragt sich der Zuschauer, warum die Hauptfigur in diesem Plot eigentlich mitgeschleppt wird. Doch nicht etwa wegen der Personalunion von Darsteller und Autor?

Kato ist ein schlechterer Sidekick als der Cato aus den Clouseau-Filmen, vor allem, weil zwar Fäuste fliegen, aber keine Funken sprühen. Cameron Diaz als hochkompetente Untergebene und Lust- und Loveobjekt von Reid ist wunderbar, immerhin bietet sie ihm die verdiente Missachtung. Christoph Waltz-Szenen sind immer Höhepunkte, Eitelkeit, Unsicherheit, Willkür und Brutalität gehen bei ihm Hand in Hand. Die Actionsequenzen sind nicht schlecht; vor allem aber, wenn Chudnofsky dabei die Hand im Spiel hat und mit Baumaschinen eingreift. Das Finale kann mit ein paar schönen Szenen aufwarten, Schießereien in der Druckerei und in Redaktionsräumen; dafür fahren bei der großen Verfolgungsjagd die unbeteiligten Autos auf der Straßenseite allzu sichtlich lediglich im Schneckentempo. Was irgendwie bezeichnend ist für diesen Film, bei dem vieles einfach nicht zusammenpassen will.

Wer die Hornisse reizt, den sticht sie, heißt das ständige Bonmot im Film. Aber wo die Hornisse nicht reizt, da macht sie keinen Stich.

Another Year

(GB 2010, Regie: Mike Leigh)

Und draußen rast die Zeit
von Janis El-Bira

Wer einen Garten bestellt, bekommt unweigerlich einen Sinn für die Kreisläufe des Lebens: für das Kommen und Gehen der Jahreszeiten, die Früchte, die sie mit sich bringen, ihr Werden, Vergehen …

Wer einen Garten bestellt, bekommt unweigerlich einen Sinn für die Kreisläufe des Lebens: für das Kommen und Gehen der Jahreszeiten, die Früchte, die sie mit sich bringen, ihr Werden, Vergehen und erneutes Werden. In „Another Year“ verfolgt Mike Leigh, der zwar schonungslose, letztlich aber stets liebende Menschenfreund des Kinos, ein Paar, das sehr viel Zeit in seinem Garten verbringt: Tom und Gerri, er ein Geologe, sie eine Sozialarbeiterin und beide kurz vor dem Ruhestand, sind zwei Menschen, die ihr Glück und ihre Ruhe gefunden zu haben scheinen: Für sich selbst, miteinander, im Leben. In ihrem Reihenhaus in einem Londoner Vorort bereiten sie die Erzeugnisse ihres Schrebergartens zu und so, wie mit den Jahreszeiten Tomaten, Basilikum und Kürbisse in der Küche landen, so kommen auch die Gäste zur Tür herein, nehmen am Tisch Platz und wenn der Wein ihnen endlich zu Kopf gestiegen ist, berichten sie vor allem von Kummer, Ängsten, Erinnerungen und Verlust. Drinnen umfasst Gerri sanft von hinten Toms Bauch während er kocht und hofft, dass die Chilis nicht zu scharf geworden sind. Und draußen rast die Zeit.

Dabei ist „Another Year“ ein kleines Wunder an „Laufruhe“ – über zwei Stunden lang passiert im eigentlichen Sinne fast nichts und doch wünscht man sich, noch länger zuschauen zu dürfen. Zusammenhängen mag das mit der Tatsache, dass Leigh für die abstrusen Lebensläufe des Kinos noch nie einen Sinn hatte: Seine Figuren müssen sich nicht schematisch „wandeln“, sich nicht neu erfinden, um interessant zu bleiben. Leigh weiß, dass viele (die meisten?) Menschen im Getriebe des Lebens zwischenzeitlich hängenbleiben und dass sich die Größe ihrer Sehnsüchte und Wünsche (anders als im Kino) nicht immer proportional verhält zur Bereitschaft, diese auch zu verwirklichen. „Onwards and upwards!“, formuliert es im Film Gerris Arbeitskollegin Mary einmal, die gleichermaßen trunksüchtig wie dauerunzufrieden mit ihrem verkorksten Leben ist. Schnell wird sich herausstellen, dass auch diese „Aufbruchstimmung“ nur der kurzen Euphorie des Vollsuffs entsprungen war.

Diese Mary wird folgerichtig auch zum beharrlichsten Stammgast am Tisch der Glücklichen: Überdreht bis an die Grenze des Hyperaktiven simuliert sie, ein zwar verrücktes, wechselvolles, aber doch irgendwo zufriedenes Leben zu führen, bis genug Wein stets aufs Neue ihren Zusammenbruch bewirkt. Tom, vom wunderbaren Jim Broadbent glänzend als flapsiger Exponent der britischen „Middle Class“-Zivilisiertheit dargestellt, gibt sich dann schon einmal ein wenig genervt, während Gerri mit Engelsgeduld die immer wiederkehrenden Klagen über die Pannen an Marys „kleinem, roten Auto“ anhört. Dass das sukzessive Auseinanderfallen des Autos als Symbol der angestrebten Selbstverwirklichung Mary beinahe zerbrechen lässt, merken die beiden gleichwohl erst, als es fast zu spät ist. Leigh zeigt eben auch, dass die Sprache der Verzweiflung nicht immer gehört wird, solange sie die erweiterten Spielregeln des Bürgerlichen nicht verletzt: Ein bisschen durch den Wind sein nach zu vielen Gläsern Wein, etwas weinerlich über ein kaputtes Auto? Alles erlaubt. Erst, als Mary in desolatem Zustand und vor allem ohne vorherigen Anruf vor der Tür steht, wird der Tonfall kurzzeitig angespannter.

Am Ende wird der Winter eingekehrt sein in Toms und Gerris Garten. Eine Geburt hat es gegeben, einen Todesfall, eine neue Liebe, ein Vater-Sohn-Zerwürfnis. Kaum etwas davon haben wir explizit zu sehen bekommen, häufig nur die „übrig gebliebenen“ Menschen und die Spuren, die die Ereignisse und die Zeit in ihnen und ihren Gesichtern hinterlassen haben. Leigh versammelt seine Figuren am einzigen Ort, der Stabilität zu verheißen scheint: Toms und Gerris Esstisch. An Marys Gesicht, in dem nur noch das Eingeständnis eines kapitalen Scheiterns an sich selbst zu liegen scheint, bleibt die Kamera schließlich lange haften. Vielleicht kann man es als kleinen Trost empfinden, dass sie sie in diesem Moment des Essens und Feierns nicht alleine lässt. Ein weiteres Jahr wird kommen.

America’s Sweethearts

(USA 2001, Regie: Joe Roth)

Satire als Flaschenkorken
von Marit Hofmann

Wenn Studioboss Joe Roth, ehemals Chef von 20th Century Fox und Disney, selbst Regie bei einer Satire auf das Filmbusiness führt, kann man sich, einerseits, einen Insider-Blick hinter die Kulissen …

Wenn Studioboss Joe Roth, ehemals Chef von 20th Century Fox und Disney, selbst Regie bei einer Satire auf das Filmbusiness führt, kann man sich, einerseits, einen Insider-Blick hinter die Kulissen erhoffen. Andererseits ist klar, dass auch die Hollywoodsatire ein Hollywoodprodukt bleibt und nicht allzu böse ausfallen kann.

Der Studioboss im Film (Stanley Tucci) ist hypernervös wie ein Louis de Funès in Hochform. Mit allen Mitteln versucht er, seinen Job zu retten. Roth hat Tucci »ständig angespornt, noch sprunghafter und emotionaler zu sein. Denn so sind wir in Wirklichkeit.« Der neue Film mit dem Hollywood-Traumpaar – man darf hier an Tom Cruise und Nicole Kidman denken, nur: John Cusack und Catherine Zeta-Jones sind witziger – droht zu floppen, wenn an die Öffentlichkeit dringt, dass die kriselnde Ehe endgültig am Ende ist. Hinzu kommt, dass sich der exzentrische Regisseur weigert, sein Werk vor dem großen Presse-Meeting von den Studioleitern abnehmen zu lassen. Um ein Desaster zu verhindern, soll Billy Crystal als PR-Profi die Aufmerksamkeit der Weltpresse auf die vermeintliche Versöhnung lenken.

Nachdem das PR-Team diverse Eifersuchtsszenen, Schlägereien und Romantikeinlagen inszeniert hat (»Soll ich auch noch einen Selbstmord einbauen?« fragt der Eventmanager seinen Boss), kommt es bei der Filmvorführung zum Showdown. Der eigenbrötlerische Regisseur, der propagiert, die Kunst müsse »das echte Leben« zeigen, hat die verpatzten Drehs und die Zänkereien des Paars hinter den Kulissen zusammengeschnitten und die Drehbuchhandlung konsequent ignoriert.

Im Gegensatz zum Regisseur des Films im Film ist Roth weit entfernt davon, der Dogma-Philosophie zu huldigen. Sein Film endet als moderne Aschenputtelversion: Die unscheinbare Schwester des launischen Stars Zeta-Jones (zum allgemeinen Vergnügen gespielt von Julia Roberts) landet – nach einer erfolgreichen Diät – in den Armen John Cusacks.
Während Cusack den Film als »Best of der schlimmsten Hollywood-Erfahrungen« versteht, sprechen die Produzenten die Sprache der Traumfabrik: »Die Menschen haben genügend Sorgen in ihrem Leben. Da gibt es nichts, als sich eine kleine Zeitlang hinzusetzen und zu lachen.« Gegen »The Player«, Robert Altmans böse Polemik gegen das Filmgeschäft, ist »America’s Sweethearts« nur ein zuckersüßes Märchen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/2001

The Day after Tomorrow

(USA 2004, Regie: Roland Emmerich)

Pausen der Natur
von Marit Hofmann

Unsere Jungs in Hollywood waren bisher fürs dumpf Patriotische zuständig: Wolfgang Petersens »Air Force One« ließ sich der damalige US-Präsident Clinton gleich mehrmals vorführen, Roland Emmerich beglückte die Nation mit …

Unsere Jungs in Hollywood waren bisher fürs dumpf Patriotische zuständig: Wolfgang Petersens »Air Force One« ließ sich der damalige US-Präsident Clinton gleich mehrmals vorführen, Roland Emmerich beglückte die Nation mit »Independence Day« und »The Patriot«. Jetzt liest Roland der Rächer den Amis die Leviten. Die Medien handelten seinen Science-Fiction-Blockbuster über die Folgen der globalen Erwärmung bereits als Wahlkampfmunition für den Präsidentschaftskandidaten John Kerry – da machten die Folter-Fotos aus dem Irak Emmerich einen Strich durch die PR-Rechnung. Deutsche Antiamerikaner und Bush-Basher dürfen sich trotzdem freuen. Wie Bush, der das Kyoto-Protokoll bereits zu Beginn seiner Amtszeit als unwichtig abtat, schlägt die Regierung im Film die Warnungen eines Klimaforschers in den Wind – und muss dafür büßen: L.A. wird von Tornados plattgemacht, New York vereist, Tausende US-Bürger flüchten illegal über die mexikanische Grenze, und der Bush nicht unähnliche Mr. President krepiert im Schneesturm. Ätsch! Der deutsche Mann fürs Grobe hat einen Film fabriziert, dem man die Schadenfreude anmerkt. Emmerichs neuer Präsident hat die Lektion gelernt: »Heute sind viele von uns zu Gast in Nationen, die wir einst als Dritte Welt bezeichneten … Ihre Großzügigkeit hat mich erkennen lassen, wie dumm unsere frühere Arroganz war und wie notwendig eine künftige Zusammenarbeit ist.«

Nachdem Al Gore bereits frohlockt hatte, Millionen von Menschen würden aus dem Kino kommen und sich fragen, ob so eine Klimakatastrophe möglich sei, erwiderte ein Sprecher von Bush: »Die Leute wissen, dass sie Unterhaltung gucken, die nicht auf wissenschaftlichen Fakten basiert.« Wenn es denn wenigstens Unterhaltung wäre. Es ist schon eine besondere Leistung, mit 120 Millionen Euro und allen erdenklichen Special Effects eine Eiszeit zu kreieren, die einen dermaßen kalt lässt. Dass die zerrüttete Kleinfamilie des Klimaforschers nach diversen Rettungsaktionen tränentriefend zusammenfindet, ist so vorhersehbar wie die debilen Dialoge der offenbar schockgefrorenen Darsteller – woraus ein Whitley Strieber auch noch ein »Buch zum Film« (Blanvalet Verlag) bastelte.

Die Mainzer »Stiftung Lesen« nimmt das Werk des Dreiviertelalphabeten Emmerich zum Anlass für eine Schulkampagne: Der Film biete »neben der Auseinandersetzung mit Fragen rund um das Klima und das Wetter eine Grundlage zur literarischen, politischen und philosophischen Thematisierung des Komplexes Mensch-Natur«. Die »philosophische Thematisierung dieses Komplexes« in »The Day after Tomorrow« ist in der Tat schwer zu toppen: »Menschen sind die erstaunlichsten und erfindungsreichsten Geschöpfe der Erde«, weiß der Klimaforscher im Film. Roland Emmerich muss eine Ausnahme sein.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2004

Der Baader Meinhof Komplex

(D 2007, Regie: Uli Edel)

Der Untergang der RAF
von Marit Hofmann

Bei der Verfilmung des Baader-Meinhof-Komplexes haben alle Beteiligten Qualen auf sich genommen, die allenfalls von denen der Zuschauer überboten werden. Ein erschütternder Bericht, versetzt mit Originaltönen der Betroffenen. Das Tolle« …

Bei der Verfilmung des Baader-Meinhof-Komplexes haben alle Beteiligten Qualen auf sich genommen, die allenfalls von denen der Zuschauer überboten werden. Ein erschütternder Bericht, versetzt mit Originaltönen der Betroffenen.

Das Tolle« war für Moritz Bleibtreu, dass Regisseur Uli Edel »uns so viel von der damaligen Zeit erzählen konnte, denn er war ja dabeigewesen«. Wie bitte? Der Produzent und Drehbuchautor Eichinger lässt Stefan Austs Baader-Meinhof-Komplex von einem ehemaligen RAF-Mitglied verfilmen – eine Resozialisierungsmaßnahme für einen veritablen Undergroundregisseur?

Aber nein. Zwar war Edels erste bescheidene Reaktion, als sein alter Kumpel Bernd ihm das Projekt anbot: »Wer zum Teufel sonst soll das erzählen? Diese Geschichte hat mich beschäftigt wie keine andere.« Aber im Untergrund war der Veteran dann doch nicht so richtig. Er habe lediglich Marx-Lektürekurse besucht (und kein Wort verstanden) und sei als »unheilbarer Revolutionsromantiker« jeden zweiten Tag auf eine Kundgebung gerannt. »Es war eine emotional extrem aufgeladene Zeit.« Aber »der Schock und die große Verunsicherung«, als 1972 ganz unromantisch »die ersten Bomben explodierten«, haben den Unheilbaren offenbar doch von der extremen emotionalen Aufladung kuriert: »Da hat die RAF das Verständnis von Uli Edel verloren« (»Spiegel«).

Sein zwei Jahre jüngerer Filmhochschulkamerad Bernd Eichinger gibt ebenfalls vor, »die Dinge« als »junger Mann hautnah miterlebt« zu haben. Militanz habe er jedoch nie »nachvollziehen« können. Von dem Terrorthema sei er einerseits »abgestoßen«, andererseits könne er »nicht davon lassen, denn ich will es verstehen. Insofern war die Motivation, »Der Baader-Meinhof-Komplex« zu verfilmen, die gleiche wie bei »Der Untergang«.«
Ist ja ohnehin irgendwie das gleiche. Sagt auch Edel, der sogar mal mit echten Exterroristen gesprochen hat. »Allerdings erinnerten sich diese in einer Weise, die die eigene Schuld und Verstrickung abschwächte. Das war wie bei der Generation meiner Eltern. Die haben sich schon 15 Jahre nach dem Krieg an nichts mehr erinnert, was ihre Rolle im Dritten Reich betraf.«

Wie sich Eichinger den »Untergang der RAF« (Starring Andreas Baader als Adolf Hitler) ausgemalt hat, sollte möglichst lang geheim bleiben. Die Inhalte des Baader-Meinhof-Filmkomplexes seien von der Presse bis kurz vor Kinostart nicht an Dritte weiterzugeben, verfügte der Verleih, andernfalls seien 50.000 Euro an Eichingers Firma Constantin-Film zu entrichten. Was also, fragte ich mich vor dem Sichttermin, hat Eichinger sich denn da für einen Knaller ausgedacht? Ulrike Meinhof lebt und agiert heute als innenpolitische Sprecherin der Linkspartei? Andreas Baader bricht aus Stammheim aus und wird Popstar? Gudrun Ensslin brennt mit Horst Herold durch?

Nichts davon. Vermutlich wollte der Verleih, der sich so sehr bemühte, die Spannung anzuheizen, nur dem »Spiegel« sein (allem Anschein nach noch zu Austs Zeiten als Chefredakteur ausgedealtes) exklusives Recht sichern, den Film zweieinhalb Wochen vor dem Start abzufeiern. Denn herausgekommen ist eben doch nur ein Aufguss der alten Austschen Kolportage, die zur offiziösen Geschichtsschreibung erhoben werden soll. Nur noch eine Frage der Zeit, bis die Filmversion – wie zuvor die nationalen Geschichtsklittereien »Der Untergang« oder »Dresden« – als Anschauungsmaterial in den Schulunterricht Eingang findet. Inklusive der melodramatischen Story vom Kinderretter Aust, der die Zwillinge von Ulrike Meinhof vor den Kinderfressern der RAF und dem Elend eines palästinensischen Waisenlagers bewahrte. (Gar rührend ist’s, mitanzusehen, wie die kleinen Mädchen Onkel Stefan in die offenen Arme laufen.) Inklusive der Entmündigung Ulrike Meinhofs, die nurmehr als ein Opfer des Paares Baader/Ensslin erscheint: Das durchtriebene Duo zieht sie in den Untergrund hinab, indem es permanent gegen ihr »Theoriegewichse« und ihre »scheißbourgeoisen Fragestellungen« stichelt, und treibt sie am Ende eiskalt in den Tod.

Aber eigentlich begann Ulrikes persönlicher Untergang schon mit der Untreue ihres Ehemanns, jedenfalls fängt im Film alles damit an. 1967 am FKK-Strand von Sylt, wo die damalige Konkret-Kolumnistin mit ihrem Mann Klaus Rainer Röhl und den Kindern sonnenbadete, haben die einzig und allein der Authentizität verpflichteten Macher (Edel: »›Cinéma vérité‹ würden die Franzosen sagen«) offenbar folgenden intimen Dialog belauscht. Namenlose splitternackte Blondine zu Röhl: »Und was macht die Revolution?« Der ebenfalls splitternackte Womanizer: »Im Moment Ferien.« Wen wundert es da noch, dass seine Angetraute (gespielt von Martina Gedeck in der Rolle von Martina Gedeck, die Ulrike Meinhof spielt) kurz darauf ihren Gatten mit ebenjener Blondine in flagranti erwischen muss und wutentbrannt das Familienanwesen in Hamburg-Blankenese verlässt? Sonst wäre das alles ja gar nicht passiert, und Tochter Bettina Röhl müsste heute nicht versuchen, Bücher zu schreiben.

Was hat Eichinger noch zu bieten? Neben der Mär vom Good Cop Horst »The Hero« Herold (gespielt vom altersweisen Führer aus dem »Untergang«: Bruno Ganz), der sogar Verständnis für die erzürnten Palästinenser aufbringt, darf auch Gudrun Ensslin als fanatische Femme fatale nicht fehlen. Und natürlich Andreas Baader als Vollproll. Moritz Bleibtreu dürfte diese Deutung der Rolle (»Es gibt wenige Hinweise darauf, dass er anfangs irgendeinen intellektuellen Anspruch hatte«) nicht schwergefallen sein – allein am Charisma, Witz und »Sympathiepotential«, das Bleibtreu der »Legende« Baader zuschreibt, hapert es gewaltig. Weshalb die Heiligenverehrung, die dem draufgängerischen Outlaw insbesondere von der Damenwelt entgegengebracht wird (»Andreas hat mehr revolutionäre Kraft als wir alle zusammen«), nicht gerade glaubwürdig rüberkommt. Auch der Hamburger Slang, den Bleibtreu seiner schmollippigen Ausgabe des in München aufgewachsenen RAF-Anführers verpasst – Zeitzeuge Aust findet die Ähnlichkeit der Darsteller »verblüffend« – , ist nicht so recht am Platz. »Jetzt benimm dich nicht wie ’ne halbschwule Tussi«, scheißt Bleibtreu-Baader einen Brandstifterkollegen zusammen, der einzuwenden wagte: »Und wenn im Kaufhaus noch Leute drin sind?« Wenn Andi »aufn Putz haun« will, mutieren die Staatsfeinde in spe zu blindwütig herumballernden Crashkids. Nicht genug Autos da? »Dann klauen wir eben noch zwei oder drei.« Lustig ist das Terroristenleben – da versteht man Austs späteren Kronzeugen Peter-Jürgen Boock gleich viel besser, der, aus dem Erziehungsheim entflohen, von dem verkappten Spaßguerillero Baader zum Bösen verführt wird.

Im Film dürfen wir, das nennt sich dann Entmythologisierung, durchaus mal über den Bürgerschreck lachen. Im palästinensischen Kampftrainingslager hat Baader bald keinen Bock mehr, sich rumkommandieren zu lassen, und ruft zum Streik auf. Und als ihm in Italien sein geklauter Mercedes geklaut wird, verflucht der zur Witzfigur geschrumpfte Terrorist die »verdammten Spaghettifresser« – und natürlich immer wieder »die blöden Fotzen«. Das ist auch schon so ziemlich das Diffizilste, was der Haudraufterrorist, als Gegenpart zum gefallenen Intellektuellenengel Meinhof, im Film sagen darf.

Zur Sicherheit hat Eichinger bereits im Drehbuch »den Politjargon, der in den Siebzigern in der linken Szene üblich war, reduziert, einfach, um die Dialoge für den heutigen Zuschauer verständlich zu halten«. Und für die heutigen Schauspieler. Die aber trotzdem nicht den Eindruck erwecken, als würden sie beim Herunterrattern von Originalsatzbrocken der »hysterischen Bewegung« (Martina Gedeck) etwas raffen. Moritz Bleibtreu beispielsweise steht das »Bahnhof« förmlich auf die Stirn geschrieben, wenn es in den wenigen hitzigen Wortwechseln schon wieder um irgendwas mit Politik oder so geht. Bleibtreu habe seine Distanz zur Rolle überwunden, »indem er in Andreas Baader auch einen Liebenden sah«, hat der »Spiegel« ermittelt. Die »romantische Liebe« (zwischen Arsch und Fotze?) sei seine »Tür zu Baader« gewesen.

Die schnöde Theorie hat Eichinger ohnehin aus dem Drehbuch verbannt, denn es war ja »die RAF, die sich für den Kampf und gegen die politische Debatte entschieden hat, so ist es denn nur konsequent, dass wir im Film ähnlich vorgehen. Außerdem bin ich der Meinung, dass sich Menschen letztendlich nicht über das definieren, was sie sagen, sondern über das, was sie tun. Hinzu kommt, die Sprache der RAF ist wie Beton.«
Und die (Bild-)Sprache Edel-Eichingers so extralight und belanglos, dass man sie gleich wieder vergisst. Keine Einstellung, die nicht vorhersehbar wäre oder einem aus all den Fernsehtodesspielen bekannt vorkäme, statt dessen hausbackene Action mit gewaltgeilen RAF-Rambos.

Als trüge die Wahl der Schauspieler nicht schon genug zum Untergang der RAF bei, hechelt Edel im 140minütigen Gewaltmarsch durch die Austsche Geschichte – vom Schaft-Besuch 1967 bis zu Schleyers Ermordung 1977. Da bleibt naturgemäß jede Spielfilmdramaturgie auf der Strecke. Der willkommene Nebeneffekt: Worte und Taten der RAF sind ihres Zusammenhangs beraubt, fürs Zitieren auch nur eines der Gedanken, die sich die Gründer der RAF vielleicht doch gemacht haben, blieb in bald zweieinhalb Stunden keine Zeit.

Attestierte Dietrich Kuhlbrodt in Konkret 3/1986 noch Reinhard Hauffs »Märchenfilm« »Stammheim« (Drehbuch: Stefan Aust), er sei zwar teils »gutgemeint«, erledige Baader und Meinhof aber vollends durch seine bürgerliche Ästhetik, so sucht man bei Edel/Eichinger nicht nur vergeblich nach etwas, was überhaupt den Namen Ästhetik verdiente – gutgemeint ist hier schon gar nichts. Um den Film als Zerstörung des »Mythos RAF« zu verkaufen, instrumentalisiert man einfach ihre Mitglieder. Eichinger hat Brigitte Mohnhaupt dazu auserkoren, die RAF-Nachkommen, die vom »Mord« an den Stammheimer Gefangenen sprechen, mit den Worten zurechtzuweisen: »Hört auf, sie so zu sehen, wie sie nicht waren!« Die Gefangenen wollten’s ja nicht anders.

Außerdem war das bisschen Isohaft nichts gegen die Qualen, die »die erste Garde der deutschen Schauspieler« erlitten hat. Der »Spiegel« war live dabei, als Vinzenz Kiefer »vor dem großen Töten« in einem Wohnwagen saß und »um Verzeihung« bat. »Gleich wird er Peter-Jürgen Boock sein, Mitglied der RAF. Er wird eine Heckler & Koch nehmen und sich an die Kreuzung stellen … Ihm ist nicht wohl, es ist alles so seltsam. Schleyer wurde in der Vincenz-Statz-Straße entführt, und Kiefers Vorname ist Vinzenz.« Das soll einer erst mal verkraften.

Und wer bitte zahlt die Therapie für die posttraumatische Belastungsstörung der Ensslin-Darstellerin Johanna Wokalek, die schon bei der Lektüre des Drehbuchs aus allen Wolken fiel (»Wahnsinn, was war denn da los?«) und dann vom Waffentraining »total gestresst« war: »Die Gewalt einer Waffe so körperlich zu spüren war ein ganz eigenes, schreckliches Erlebnis.« Wer trocknete Uli Edels Tränen, der mehrfach das Set verlassen musste, weil er dem ungeheuren Realismus seiner Kreationen nicht standhielt? Wer reanimierte Martina Gedeck, der der Dreh in Stammheim »fast den Atem genommen« hat?

Immerhin haben sich die Torturen gelohnt: Gedeck hat das Lernziel erreicht und kommt, wie wiederum der »Spiegel« lobt, »anders aus dem Film heraus, als sie hineingegangen ist … es ist nicht Nähe zur Meinhof geblieben, sondern mehr Nähe entstanden zum Staat, den Ulrike Meinhof wegbomben wollte«. Es seien schließlich »paradiesische Zustände«, in denen man hierzulande lebe, hat die brave Bürgerin eruiert.

Eine Perspektive, im schlanken Staat wieder etwas revolutionäres Bewusstsein aufkommen zu lassen, eröffnet der Film übrigens doch noch: »Wie viele andere Darsteller mussten auch sie (!) während der Dreharbeiten abnehmen. Wie war das?« wird Wokalek im Presseheft gefragt. »Dass viele von uns sozusagen auf ›Hungerstreik-Diät‹ waren, hat mir sehr geholfen … es ist mir leichter gefallen, mich in diesen Zustand der totalen Konsequenz hineinzuversetzen.« Eine Kostümbildnerin, die Mitglied der Kommune 1 gewesen war, habe ihr anvertraut, dass sie »immer alle extrem dünn waren und eigentlich fast nur geraucht und wenig gegessen haben«. Terror macht schlank! Wär‘ ein schönes Thema für des »Spiegels« Schwesterblatt »Brigitte«?

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/2008

Eichmanns Ende

(D 2010, Regie: Raymond Levy)

Gleich nach dem Tatort
von Marit Hofmann

Es gibt noch Stalinisten beim NDR. Zumindest bezeichnete sich Redakteur Alexander von Sallwitz so, um zu betonen, dass ihm traditionelle Dokumentationen eigentlich lieber seien als fiktional Aufbereitetes. Er habe »Purist« …

Es gibt noch Stalinisten beim NDR. Zumindest bezeichnete sich Redakteur Alexander von Sallwitz so, um zu betonen, dass ihm traditionelle Dokumentationen eigentlich lieber seien als fiktional Aufbereitetes. Er habe »Purist« gemeint, verbesserten ihn die Kollegen eilig, als man gemeinsam das bisher »authentischste, dokumentarischste Dokudrama« promotete. Der Film über die letzten Jahre Adolf Eichmanns basiert auf den Tonbändern, die der niederländische SS-Mann und Holocaustleugner Willem Sassen im Gespräch mit dem in Buenos Aires untergetauchten reulosen Chefkoordinator der Deportationen aufgenommen hat.

Nun kann man darüber streiten, ob »das Vorstellungsvermögen des Publikums« tatsächlich dadurch »befördert« wird, dass man O-Töne dieser Kameradentreffen nachsprechen lässt (und sei es durch einen Könner wie Herbert Knaup in der Rolle des Prototäters). Problematischer wird die »fernsehgerechte Darstellung« bei der drumherummontierten wahren Geschichte, die, findet auch die »Süddeutsche«, »zu schön« sei, »um sie nicht zu erzählen«. Ist es die vielbeschworene »Ironie der Geschichte«, dass die Tochter des nach Argentinien geflüchteten Holocaust-Überlebenden Lothar Hermann 1956 arglos mit einem Sohn Eichmanns anbandelt? Ihr Vater ahnt, an wessen Spross sie da geraten ist, und gibt dem Nazijäger Fritz Bauer den entscheidenden Tipp.

Auch wenn der unterirdische Untertitel »Liebe, Verrat, Tod« weitaus Schlimmeres erwarten ließ, krankt die vergleichsweise zurückhaltende Inszenierung an TV-Platitüden: etwa wenn der blinde Hermann als Böses witternder Seher erscheint oder der virile Massenmörder mit seiner Vermieterin im Bett liegt. Die richtigen Akzente setzt Regisseur Raymond Ley vor allem dort, wo er rein dokumentarisch vorgeht, Eichmann-Ankläger und andere hochkarätige Zeitzeugen zu Wort kommen lässt und den anhaltenden Antisemitismus der Deutschen und ihr Desinteresse an der Aufklärung der Verbrechen hervorhebt.

Man habe, verkündete ARD-Chefredakteur Thomas Baumann, diesem »Höhepunkt im Fernsehjahr 2010« den »besten Sendeplatz« eingeräumt: gleich nach dem »Tatort«. Vielleicht bleibt ja sogar der eine oder andere Zuschauerhängen, wenn er in der Figur des einsamen Generalstaatsanwalts Bauer den »Tatort«-Kommissar Axel Milberg wiedererkennt, der beim konspirativen Treffen mit einem Mossad-Kontaktmann schon mal mit krimiüblichen Frotzeleien aufwartet. Nicht auszudenken, was erst aus diesem »schönen« Stoff geworden wäre, hätte Bernd Eichinger ihn in die Finger bekommen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 07/2010

Tron: Legacy

(USA 2010, Regie: Joseph Kosinski)

Der Angriff der achtziger Jahre auf die übrige Zeit
von Lukas Foerster

Ein Film, in dem ein alternder Jeff Bridges gegen sein jüngeres, digitalisiertes Selbst kämpft. Ein Film, dessen allgegenwärtiger, ziemlich brachialer Soundtrack (komponiert vom Elektroduo Daft Punk) die Instrumentierungen von Atari-Videospielen …

Ein Film, in dem ein alternder Jeff Bridges gegen sein jüngeres, digitalisiertes Selbst kämpft. Ein Film, dessen allgegenwärtiger, ziemlich brachialer Soundtrack (komponiert vom Elektroduo Daft Punk) die Instrumentierungen von Atari-Videospielen aufgreift auf und in dem Michael Sheen einen blondierten, exaltiert kostümierten Spacerock-Freak namens Zuse gibt. Ein Film, in dessen psychedelische Bildwelten man sich nie wirklich fallen lassen kann, weil hinter jeder Ecke eine neue Abstrusität auftaucht, deren Explikation ziemlich konsequent verweigert wird. 'Tron: Legacy' gehört fraglos zu den sonderbarsten Blockbustern der letzten Jahre. Ein Film, von dem man erst einmal nicht glauben kann, dass er unter marktwirtschaftlichen Kriterien eine solide Investition darstellt. Dass die Rechnung für Disney, wie das erfolgreiche Startwochenende in den USA andeutet, trotzdem mehr oder weniger aufgehen wird, dass eine düster glitzernde Monstrosität wie 'Tron: Legacy' also problemlos kulturindustriell anschlussfähig ist, zeigt ein weiteres Mal, dass Hollywood auch (vielleicht: gerade) in seinem kapitalintensivsten Segment nicht so einfach auf eine Formel zu bringen ist.

Nicht, dass der erste 'Tron'-Film, der allerdings immerhin mit dem fiesen “Master Control Program” und dem kongenial benannten egoistischen Programmierer Ed Dillinger zwei der besten Bösewichter der achtziger Jahre aufbieten konnte, rein narrativ betrachtet, besonders viel Sinn ergeben hätte. Aber er hatte immerhin einen genau definierbaren Bezugspunkt: Die erste, große Begeisterung für Computer und Digitalisierung in den frühen Achtzigern. Nicht nur fanden die stilisierten Neonwelten der Spielautomaten erstmals ihren Weg auf die Kinoleinwand, auch die “reale Welt” des Films, die größtenteils auf die Schachtelbüros der Programmierer reduziert wurde, emulierte binäre Prinzipien.

Was nun aber für 'Tron: Legacy' der referentielle Diskurs sein soll, bleibt weitgehend unklar. An die Allgegenwart digitaler Parallel- und Bilderwelten haben sich Welt und Kino längst gewöhnt. Und von der im Original noch wichtigen Forderung, dass Daten frei verfügbar zu sein haben, ist in der Neuauflage aus guten Gründen wenig übrig geblieben, genauso wenig wie von der strukturierenden Opposition Programm – User. Es wäre schließlich auch etwas allzu dreist, wenn ausgerechnet der Disneykonzern, dessen Lobbyarbeit immer wieder mit dafür sorgt, dass Urheberrechte weiter zementiert und ins schier Unendliche verlängert werden, sich noch einmal zum Sprachrohr der Informationsguerilla erklären würde.

'Tron: Legacy' spricht, 3D hin oder her (überhaupt zeigt der Film eindrücklich, dass Miriam Hansen gute Argumente hat, wenn sie die aktuelle 3D-Begeisterung Hollywoods als ein grundsätzlich nostalgisches Phänomen begreift), in keiner Weise mehr für oder über eine technologische Avantgarde. Eher geht es um einen sonderbaren Retro-Futurismus, der sich inzwischen nicht mehr an den kolonialistischen Fantasien Jules Vernes – der allerdings nicht ganz zufällig auch einmal kurz auftaucht – sondern an den achtziger Jahren festmacht. Um Zugang zum Paralleluniversum zu erhalten, muss die Hauptfigur Sam Flynn zunächst eine Halle voller alter Videospielautomaten passieren. Anschließend dockt er mittels klassischer MS-DOS-Eingabeaufforderung an die in dunkle, metallisch anmutende Farben getauchte Neonwelt an. Die schert sich nicht um Fotorealismus, sondern stellt ihre Künstlichkeit, darin unter den jüngeren Blockbustern eigentlich nur dem Wachowski-Film 'Speed Racer' vergleichbar, offensiv aus.

In dieser Zeitkapsel also spielt der größte Teil des Films. Sam Flynn, ein leider ziemlich uninteressanter Protagonist, der alles um ihn herum so “awesome” findet, wie es idealerweise auch der Zuschauer tun soll, begibt sich dort auf die Suche nach seinem vor Jahren verschwundenen Vater Kevin Flynn. Der, ein mittelgut, nämlich zum hippiesken Sprücheklopfer gealterter Jeff Bridges, hat sich mit einer digitalen Nymphe namens Quorra nach den Ereignissen des ersten Films in seine eigene digitale Enklave, eine Kunstwelt in der Kunstwelt zurückgezogen. Er lebt zwischen Artefakten des klassischen Kulturbürgertums – kunstfertig gebundene Bücher, Kronleuchter etc -, denen freilich die Patina des Historischen gründlich abhanden gekommen ist: In der Silberschale auf dem Wohnzimmertisch liegen golden glänzende Apfelimitate.

Aus recht komplizierten Gründen, die das Drehbuch erstaunlich ausführlich, aber dennoch in gebotener Wirrniss aufbereitet, hat sich in der Parallelwelt außerdem ein alternativer Jeff Bridges materialisiert und eingenistet. Einer, der seit dem ersten Film nicht gealtert ist und seine rein digitalen Gesichtszüge meist zu einem sardonischen Grinsen formt. Der falsche Bridges hat sich zum Herrscher der Neonwelt aufgeschwungen und plant aus dieser Position den Angriff der achtziger Jahre auf die übrige Zeit.

Zwar schwadroniert der “reale” Jeff Bridges einmal von der “digital frontier” als neuem Handlungshorizont menschlicher Existenz, im Grunde aber geht es in 'Tron: Legacy' gerade nicht mehr um eine Erweiterung der physikalischen Welt ins Immateriell-Digitale. Die künstlichen Welten funktionieren längst exklusorisch, eigengesetzlich. In 'Tron: Legacy' entspricht der antirealistischen Alptraumästhetik eine tendenziell faschistoide Privatmystik, die sich sozial über absurde sportliche Wettkämpfe und grafisch über den Terror der totalen Zentralperspektive organisiert.

Petits Frères

(F 1999, Regie: Jacques Doillon)

Verbund der Subalternen
von Marit Hofmann

»Die ›Kleinen‹ sind wie Laufburschen. Sie unterstützen die Kämpfer mit Waffen.« Die Rede ist nicht vom Kriegseinsatz afrikanischer Kindersoldaten, sondern vom Alltag in einer typischen Pariser Vorstadtsiedlung, in der sich …

»Die ›Kleinen‹ sind wie Laufburschen. Sie unterstützen die Kämpfer mit Waffen.« Die Rede ist nicht vom Kriegseinsatz afrikanischer Kindersoldaten, sondern vom Alltag in einer typischen Pariser Vorstadtsiedlung, in der sich die Polizei nicht gern blicken lässt. Wie bereits in früheren Filmen schlägt sich Jacques Doillon auf die Seite der Kinder am Rand der Gesellschaft. Seine Gang der Unerwünschten besteht aus Arabern, Afrikanern und Juden, die sich einerseits gegenseitig mit den entsprechenden rassistischen Beschimpfungen beharken und andererseits gegen die feindliche Außenwelt verbünden – z. B. mithilfe einer gemeinsamen Silbenverdrehsprache, dem so genannten Verlan (von langue und à l’envers).

Sie müssen »noch ein bisschen wachsen«, ehe sie mit etwa sechzehn zu den »richtigen Gangstern«, »den Kings des Viertels« aufsteigen, schwärmt der arabische Teenager Iliès. Bis dahin bekämpft der Nachwuchs auf der Straße – denn in den Sozialhilfebehausungen ist es zu eng – den schlimmsten Feind: die Langeweile. Doillons Resümee: »Sie machen Ärger und geraten in Schwierigkeiten wegen nichts und für nichts« – und wir sehen dabei zu. Der Handkamerastil sorgt dafür, dass man sich eher in einem Dokumentar- als in einem Spielfilm glaubt – , wäre da nicht der HipHop-Soundtrack von Oxmo Puccino und die leicht utopische Handlung: Die 13jährige Protagonistin (Touly), die von zu Hause abhaut und unter den harten Sitten der Banlieues zu leiden hat, erkämpft sich den Respekt der »Kleinen«.
Hoffnung macht Doillon letztlich wenig: »Ja, Kinder sind fordernd. Ja, sie wollen ein Bett und eine Playstation, aber sie wollen auch … Interesse, Zeit, Vertrauen … Was wollen sie als nächstes, etwa einen Job? Ich sage Ihnen, sie sind verrückt!« Oder im Verlan gesprochen: »Ils sont ouf.«

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 07/2000

Bread and Roses

(GB / E / D 2000, Regie: Ken Loach)

Betriebsblind
von Marit Hofmann

Für wen macht Ken Loach eigentlich seine Filme? Die schlecht bezahlten Reinigungskräfte und illegal in die USA geschleusten Flüchtlinge, von denen 'Bread and Roses' erzählt, werden ebenso wenig zu seinem …

Für wen macht Ken Loach eigentlich seine Filme? Die schlecht bezahlten Reinigungskräfte und illegal in die USA geschleusten Flüchtlinge, von denen 'Bread and Roses' erzählt, werden ebenso wenig zu seinem Stammpublikum zählen wie sein übriges Filmpersonal: Alkoholiker, Bauarbeiter, alleinerziehende Sozialhilfeempfängerinnen. Und dass er die höhergestellten Feinde seiner Schützlinge, die Bauherren, Sozialamtsvorsteher, Ausländerbehördenleiter und Bürobesitzer bekehrt, ist eher unwahrscheinlich. Denn wer außer denen, die Loachs Haltung ohnehin schon Sympathie entgegenbringen, guckt sich einen Film über den Arbeitskampf von Reinigungskräften in den USA an?

Ich habe den Film durchaus gern gesehen, aber auch für mich ist er nicht gemacht: Zu sehr identifiziert sich der Regisseur mit seinem Protagonisten Sam, dem Gewerkschaftsführer. Wie Sam versucht, mit eindringlichen Parolen und Schaubildern die Reinigungskräfte zum Streik zu mobilisieren, so vereinfacht auch Ken die Zusammenhänge seiner auf einem authentischen Fall beruhenden Geschichte, als wolle oder könne er das Massenpublikum eines Hollywoodfilms erreichen: Der Leiter der Reinigungsfirma, die ihre Arbeiter zu Hungerlöhnen und ohne Krankenversicherung schuften lässt, ist auch menschlich ein Schwein, die Putzfrauen und -männer sind – auch wenn die Laiendarsteller alles andere als schemenhaft agieren – sämtlich das Gute in Person.

Und während Sam eine VIP-Party zweckentfremdet, um ein Plädoyer für die Gerechtigkeit zu halten, nutzt Loach die Pressekonferenz in Cannes dafür, Solidarität mit Immigranten einzufordern. Sams wie Kens naiver Wille zum Enthusiasmus, ihre Sympathie für die Entrechteten geraten manchmal so penetrant wie eine mit Marschrhythmen unterlegte Gewerkschaftsdemo.

Schade eigentlich, denn natürlich gibt es Loachs Feinde wirklich. Während der Dreharbeiten versuchten benachbarte Firmen, das Filmteam zu vertreiben. Und wenn Loach berichtet, dem Geschäftsführer, der sein Büro als Drehort zur Verfügung stellte, sei gedroht worden, 'dass er nur sehr schwer einen neuen Job finden würde', dann klingt das wie eine Selbstbestätigung.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/2001

Devil

(USA 2010, Regie: John Erick Dowdle)

Auf Teufel komm raus …
von Harald Steinwender

Der Anfang ist wunderschön: Da fliegt Tak Fujimotos entfesselte Kamera über den Delaware River auf Philadelphia zu, setzt über die Benjamin Franklin Bridge hinweg, überfliegt Kirchen, glitzernde Glasfassaden und protzige …

Der Anfang ist wunderschön: Da fliegt Tak Fujimotos entfesselte Kamera über den Delaware River auf Philadelphia zu, setzt über die Benjamin Franklin Bridge hinweg, überfliegt Kirchen, glitzernde Glasfassaden und protzige Hochhäuser – und dabei steht die ganze Zeit die Welt buchstäblich Kopf. Denn Fujimoto, der höchst begabte Kameramann von u.a. „The Silence of the Lambs“ („Das Schweigen der Lämmer“; 1991) hat seine Kamera um 180 Grad gekippt. Auch inhaltlich passt das, handelt „Devil“ doch von der Anwesenheit des Teufels in unserer heutigen modernen Welt. Und bekanntlich verkehrt der Herr der Fliegen ja alles in sein Gegenteil. Warum also nicht zumindest den Vorspann über die Welt verkehren, das Unterste nach oben stürzen, Himmel und Erde, Nord und Süd, Ost und West vertauschen, bis einem im dunklen Kinosaal vor der großen Scope-Leinwand ganz schwindelig wird? Und danach beginnt dann die eigentliche Handlung von „Devil“ – und alles wird auf einmal ganz konventionell, brav, fast schon bieder.

Die Handlung, die im Anschluss an den Vorspann und ein Bibelzitat folgt, ist schnell erzählt: Aus dem 35. Stockwerk eines Hochhauses stürzt sich ein Mann in den Freitod. Kurz darauf bleiben fünf Menschen in einem Aufzug desselben Gebäudes stecken: der Afghanistanveteran Tony (Logan Marshall-Green), der Aushilfs-Sicherheitsmann Ben (Bokeem Woodbine), der Matratzenvertreter Vince (Geoffrey Arend), die junge Sarah (Bojana Novakovic) und eine ältere Frau (Jenny O’Hara). Alle Versuche der Techniker, den Aufzug wieder in Gang zu setzen, scheitern. Derweil werden die Eingeschlossenen, einer nach dem anderen, unter mysteriösen Umständen attackiert. Bald stirbt der erste. Während außen ein Polizist (Chris Messina) versucht, den Gefangenen zu helfen, realisieren die Eingeschlossenen, dass sich unter ihnen der Leibhaftige befindet …

„Devil“ ist interessant, weil er ähnlich wie Rodrigo Cortés’ „Buried“ („Buried – Lebend begraben“; 2010) und Danny Boyles demnächst anlaufender „127 Hours“ eine extrem klaustrophobische Situation mit den Mitteln des Kinos und im Breitwandformat darzustellen sucht. Dabei ist John Erick Dowdle freilich weit von der Konsequenz seiner zeitgenössischen Kollegen entfernt. Cortés etwa besaß die Chuzpe, seinen Film gänzlich in einem Sarg spielen zu lassen (und obendrein gelang es ihm, die vermutlich erste Actionsequenz zu inszenieren, die einzig in einer Holzkiste spielt). Solche selbst auferlegte Beschränkung muss einfach Gimmick und Exzess bleiben und ist in einem Mainstreamfilm wie „Devil“ kaum zu erwarten. Dowdle wählt ganz konventionell das Erzählen in parallelen Handlungssträngen: die einen da drinnen, die anderen da draußen, und wir, der allwissenden Kamera sei Dank, überall. Aber immerhin gelingt es ihm, aus der unangenehmen Situation im Fahrstuhl maximales Kapital zu schlagen, auch wenn er die vielleicht größte Tortur der Gefangenen – ein tiefreligiöser mexikanischer Techniker (Jacob Vargas) traktiert die seit Stunden Eingeschlossenen mit Gebeten auf Spanisch – nicht als das inszeniert, was sie ist: eine Zumutung.

„Devil“ hat viel von den US-amerikanischen EC-Comics der 1950er Jahre und ebensoviel von den Filmen M. Night Shyamalans, der hier als Produzent fungiert. Dazu zählt das christliche Moralisieren, das Wörtlichnehmen des Aberglaubens an den personifizierten Teufel, die Simplizität der Geschichte – die tatsächlich eine Stärke des Films ist – und die vielen Klischees. Natürlich hat der Polizist draußen eine traumatische Vergangenheit, ohne die diese Sorte Film nie auskommt; natürlich sind alle fünf Opfer irgendwie auch schuld an ihrer Situation; und natürlich erkennt der mexikanischstämmige Techniker als erster das wahre Wesen der Situation – ein strukturell rassistisches Hollywoodstereotyp, das ethnischen Minderheiten prinzipiell eine Nähe zum Mystischen, Ursprünglichen unterstellt. Einzig das Happyend überrascht, erwartet man doch eher eine boshafte Schlusspointe. Mit echten „Teufelsfilmen“ wie Roman Polanskis „Rosemary’s Baby“ („Rosemaries Baby“; 1968), William Friedkins „The Exorcist“ („Der Exorzist“; 1973) oder Ti Wests „The House of the Devil“ (2009) kann und will „Devil“ es nicht aufnehmen. Eher schon mit höherem Blödsinn wie Taylor Hackfords „The Devil’s Advocate“ („Im Auftrag des Teufels“; 1997). Aber irgendwie macht der altmodische, glatte Hollywoodstil des Films dann schon wieder Spaß. Auch wenn „Devil“ eher etwas für einen vergammelten Sonntagnachmittag vor dem Fernseher ist als für einen Kinobesuch.

Black Swan

(USA 2010, Regie: Darren Aronofsky)

Kunst der Erlösung
von Wolfgang Nierlin

Der Film beginnt mit einem bösen Traum, der in Anlehnung an den Prolog aus Tschaikowskis Ballett “Schwanensee” Rotbarts dämonische Verzauberung der Prinzessin Odette in einen weißen Schwan erzählt. Geträumt wird …

Der Film beginnt mit einem bösen Traum, der in Anlehnung an den Prolog aus Tschaikowskis Ballett “Schwanensee” Rotbarts dämonische Verzauberung der Prinzessin Odette in einen weißen Schwan erzählt. Geträumt wird er von der jungen, ehrgeizigen Ballerina Nina Sayers (Natalie Portman), die gerade danach strebt, diese Rolle in einer Neuinszenierung des Stücks zu gewinnen. Angst und Sehnsucht, Traum und Realität fließen in diesem Wunsch und in Darren Aronofskys vielschichtigem Film „Black Swan“ ineinander. Denn Nina ist bereits dieser weiße Schwan, der sich gegen jene dunklen Kräfte wehrt, deren es bedarf, um vollständig zu sein. Ihr ebenso gebieterischer wie charismatischer Tanzlehrer Thomas Leroy (Vincent Cassel) fordert für seine Interpretation der berühmten Liebesgeschichte jedoch eine Doppelrolle und damit die Verwandlung vom weißen in den schwarzen Schwan.

Als Nina unter enormem Konkurrenz- und Erfolgsdruck diese Rolle erhält, verstärken sich die selbstzerstörerischen Seiten ihres Perfektionsstrebens. Sie tanzt bis zur Erschöpfung, quält sich und ihren Körper und verletzt sich schließlich selbst, um jenen physischen Schmerz zu spüren, der sie jenseits aller Zurichtungen mit dem Leben verbindet. Doch immer deutlicher und vehementer mischen sich in ihre Kontrollsucht verstörende Wahnvorstellungen, die Aronofsky als fulminanten Horrortrip inszeniert. Immer wieder auch macht sich der Film in diesen Passagen die subjektive Perspektive seiner Protagonistin zu eigen und entwickelt dadurch einen suggestiven Sog.

Als psychologische Erklärung für Ninas Psychose fungiert eine krankhafte Mutter-Tochter-Beziehung. In der Tochterrolle gefangen, gelingt es der Tänzerin nicht, ein normales Verhältnis zu ihrem Körper und ihrer Sexualität zu entwickeln. Wiederholt fordert Thomas von ihr, sie solle sich gehen lassen, sich verlieren. Indem Nina sich schließlich den dunklen, ekstatischen Erfahrungen öffnet, erreicht sie jene Vollendung, in der Verlangen und Erlösung, Liebe und Tod in eins fallen. Im dramatisch zugespitzten Austausch von Leben und Kunst, von kreisenden Kamerabewegungen umschlungen, wirkt diese Apotheose wie eine bittere Befreiung.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Hereafter – Das Leben danach

(USA 2010, Regie: Clint Eastwood)

Counting Down the Genres ...
von Harald Steinwender

Clint Eastwood hat sich in seiner mittlerweile 40-jährigen Karriere als Regisseur an fast allen Genres versucht, die das Kino zu bieten hat: Er hat Western gedreht wie „High Plains Drifter“ …

Clint Eastwood hat sich in seiner mittlerweile 40-jährigen Karriere als Regisseur an fast allen Genres versucht, die das Kino zu bieten hat: Er hat Western gedreht wie „High Plains Drifter“ („Ein Fremder ohne Namen“; 1973) und „Unforgiven“ („Erbarmungslos“; 1992). Er hat Thriller inszeniert, etwa „Play Misty For Me“ („Sadistico“; 1971) oder „The Changeling“ („Der fremde Sohn; 2008), Polizei- und Gangsterfilme wie „Sudden Impact“ („Dirty Harry kommt zurück“; 1983) und „Perfect World“ (1993), einige Kriegsfilme, darunter den ruppigen „Heartbreak Ridge“ (1986) und das düstere Diptychon „Flags of Our Fathers“ / „Letters From Iwo Jima“ (2006), auch Melodramen („Breezy“; 1973), Biopics („Bird“; 1988) und eine Musikdokumentation („The Blues – Piano Blues“; 2003). Selbst eine Sci-Fi-Komödie („Space Cowboys“; 2000), ein Boxer(innen)film („Million Dollar Baby“, 2004) und eine bizarre Mischung aus Berg-, Abenteuer- und Spionagefilm („The Eiger Sanction“ / „Im Auftrag des Drachen“; 1975) finden sich in seiner Filmografie. Mittlerweile sind das 32 Werke, viele gute und sehr gute Filme, manche davon Meisterwerke, wieder andere eher Konfektionsware.

Der Mann ist vielseitig, kein Zweifel. Und er hat in seiner Karriere einen beeindruckenden Wandel vollzogen, vom B-Film-Nebendarsteller und ewig zweitem Fernsehcowboy in den 50er Jahren zur Ikone des Stoizismus und Inbegriff des kool killer in den 60er und 70er Jahren. Spätestens ab den 80ern wurde Eastwood dann zum American Icon, zur nationalen Institution und zum Inbegriff des amerikanischen Autorenfilmers. In den 70er Jahren war er noch Hassobjekt vieler Kritiker gewesen, ein Status, den Rolling Stone-Interviewer Tim Cahill ironisch auf den Punkt brachte, als er schrieb, dass „in den frühen 70ern ein Interesse für Clint-Eastwood-Filme unter film buffs eine verschämte und heimliche Leidenschaft war, vergleichbar in etwa mit Selbstbefriedigung“. Heute kündigt die Pressestelle der Warner Bros. jede seiner Regiearbeiten als „das neue Meisterwerk von Clint Eastwood“ an.

Eastwoods Aufstieg zum Regiestar gründet fraglos in seinem Talent, in seinem Mut zu Experimenten und Fehltritten und der Ausnahmeposition, die er sich als Actor/Director/Producer erarbeitet hat. Und darin, dass der Mann mit seinen mittlerweile 81 Jahren immer noch jedes Jahr einen neuen Film in die Kinos bringt und dabei immer für eine Überraschung gut ist. Fast scheint es in den letzten Jahren, als habe der große alte Mann des amerikanischen Kinos sich vorgenommen, auch die letzten Genres durchzuarbeiten, die ihm in seinem Oeuvre noch fehlen: mit „Invictus“ ein Sportfilm, nun mit „Hereafter“ ein Film über das Jenseits; ein Mysterythriller, der das Übersinnliche nicht im geringsten leugnet, sondern einfach als Tatsache akzeptiert und damit die Lücke füllt, die in Eastwoods Werk offensichtlich ist: die des phantastischen Films. Als übernächsten Film hat Eastwood übrigens kürzlich angekündigt, die Regie bei dem Musical-Remake „The Sound of Music“ zu übernehmen – noch so ein Genre, das bislang in seinem Regisseursportfolio fehlt.

Natürlich ist „Hereafter“ kein übernatürlicher Mummenschanz geworden, sondern wie viele Filme Eastwoods in den letzten Jahren klares Erzählkino, character-driven, mit viel Raum für die Schauspieler. Dramaturgisch gesehen ist er in Eastwoods Werk der vielleicht disparateste Film bislang: „Hereafter“ erzählt die Geschichten von drei Menschen, die unabhängig voneinander mit dem Tod konfrontiert werden und deren Geschichten sich bis kurz vor dem Ende des Film nicht kreuzen, sondern parallel laufen. Da ist die Fernsehreporterin Marie (Cécile De France), die in Indonesien nur knapp einen Tsunami überlebt und in Paris beschließt, ein Buch über ihre Nahtod-Erfahrung zu verfassen. In London verliert währenddessen der kleine Marcus bei einem Unfall seinen Zwillingsbruder Jason (gespielt von den Zwillingen Frankie und George McLaren). Der Amerikaner George (Matt Damon) wiederum war einst als Medium eine lokale Berühmtheit. Doch seine Gabe, mit den Toten Kontakt aufzunehmen, hat sein Leben ruiniert. Am Ende führt der Zufall diese drei unterschiedlichen Menschen, die auf ihre Weise jeweils mit dem Tod leben müssen, in London zusammen.

Es liegt nahe, als Grund für Eastwoods neues Interesse am Spirituellen persönliche Motive zu vermuten, hat der 81-jährige Filmemacher doch mittlerweile ein Alter erreicht, das deutlich über der Lebenserwartung eines durchschnittlichen Amerikaners liegt. Auch rücken seit einigen Jahren Themen wie Alter und Tod, Erinnerung und Verlust unübersehbar in das Zentrum von Eastwoods Oeuvre, am offensichtlichsten zuletzt in 'Gran Torino'. In dieser Hinsicht ist 'Hereafter – Das Leben nach dem Tod' wohl auch ein sehr persönlicher Film; eine Auseinandersetzung mit der Frage, was nach dem Sterben kommt. Und er liefert eine für den sonst so nüchternen und skeptischen Regisseur überraschende Antwort: Irgendwie geht es nach dem Tod doch weiter. Aber Eastwood wäre nicht Eastwood, wenn er die durchaus vorhandenen esoterischen Anklänge nicht weitgehend umschiffen würde und selbst in einem solchen Film einige boshaften Spitzen gegen organisierte Religion unterbringen würde. In einer schönen Sequenz klickt sich etwa der kleine Marcus vor dem Computer durch die Jenseitsvorstellungen der großen Weltreligionen, die er auf YouTube findet, und kann angesichts der durchgeknallten islamistischen Prediger und christlichen Fundamentalisten nur den Kopf schütteln. Hier findet er jedenfalls keine brauchbaren Antworten.

Stilistisch ist das Mystery-Drama ein typischer Eastwood-Film, gewohnt nüchtern inszeniert und trotz der Parallelisierung dreier Handlungsstränge schnörkellos, geradezu 'klassisch' gestaltet. Wie in seinen vorangegangenen Regiearbeiten spielen Eastwood und Kameramann Tom Stern mit starken Schlagschatten und bevorzugen ausgeblichene Farben. Die zurückhaltend eingesetzte, aber prägnante Filmmusik hat Eastwood wieder selbst komponiert; die Schauspieler liefern gewohnt naturalistische Performances ab. Auch in Bezug auf die Jenseitsvisionen vermeidet der Minimalist Eastwood allzu aufdringliche Effekte. Einzig die wuchtige Eröffnungssequenz fällt aus dem Rahmen und belegt anschaulich, dass Eastwood problemlos auf der Klaviatur des Katastrophen- und Effektkinos spielen kann – und dabei mühelos kraftmeiernde Handwerker wie Roland Emmerich und Michael Bay übertrifft. Die Sequenz mit dem Tsunami gehört fraglos zu den intensivsten Momenten des noch jungen Kinojahres und lohnt alleine den Kinobesuch.

'Hereafter – Das Leben danach' zählt gewiss nicht zu den großen Würfen Eastwoods – etwas zu ausufernd, mitunter auch unkonzentriert und mäandernd wirkt der Film. Als Alterswerk ist das Drama aber allemal sehenswert.

I Killed My Mother

(CAN 2009, Regie: Xavier Dolan)

Die Leiden des jungen Xavier
von Harald Steinwender

Hubert Minel (Xavier Dolan) ist 17, schwul und pubertiert heftig. Da er seinen Vater seit Urzeiten nicht mehr gesehen hat, bekommt seine alleinerziehende Mutter seine ganzen Stimmungsschwankungen ab: Wut und …

Hubert Minel (Xavier Dolan) ist 17, schwul und pubertiert heftig. Da er seinen Vater seit Urzeiten nicht mehr gesehen hat, bekommt seine alleinerziehende Mutter seine ganzen Stimmungsschwankungen ab: Wut und Verachtung, blanken Hass und zärtliche Zuneigung, kurz: alles was in ihm rumort. Hubert hasst seine Mutter Chantale (Anne Dorval), Hubert liebt seine Mutter. Er braucht sie, und er will von ihr loskommen. Am besten in die eigene Bude. Und seine Mutter treibt ihn – wie alle Eltern ihre pubertierenden Kinder – zur Weißglut: Sie ist inkonsequent in ihren Entscheidungen – mal sagt sie, er dürfe ruhig ausziehen, dann verbietet sie es ihm. In einem Moment will sie Familie spielen – Sie: „Frag mich doch mal wieder, wie es auf der Arbeit war?“ – Er: „Wenn irgendwas gewesen wäre, hättest du es doch sowieso erzählt.“ – im anderen schickt sie ihn auf ein Internat, weg von sich und seinem neuen Freund Antonin (François Arnaud). Nun soll er raus aus der Stadt, die er so liebt, aufs Land zu den Hinterwäldlern. Da dreschen sie gutaussehende kleine Schwule, die es wagen, in der Dorfdisko mit anderen Schülern rumzuknutschen, mal einfach so zusammen. Was für eine Misere.

„I Killed My Mother“ ist ein beeindruckendes Debüt. Nicht unbedingt, weil der junge Kanadier Xavier Dolan bereits mit 17 das Drehbuch geschrieben und es dann mit 19 als Hauptdarsteller, Produzent und Regisseur in Personalunion umgesetzt hat. Vieles ist sogar furchtbar ungelenk, wird hier sichtlich zum ersten Mal ausprobiert. Die Digitalkamerabilder wirken wächsern, geradezu unfilmisch. Der Einsatz der bedeutungsschweren Klaviermusik ist oft prätentiös, das Drehbuch und die Inszenierung scheinen in die ganze Welt hinausschreien zu wollen: Seht her, hier bin ich, das junge Genie, ich kenne alles, weiß alles und kann alles! Ein Zitat aus der Kunst- und Kulturgeschichte jagt das nächste: Hier ein Cocteau-Zitat, da ein Verweis auf de Sades La philosophie dans le boudoir, Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses und die Gemälde Jackson Pollocks, ein Druck von Klimts Mutter und Kind an der Wand. Alle Figuren posieren ständig vor Gemälden, Gedichte werden rezitiert, Text erscheint auf der Leinwand, so als ob wir in einem Godard-Film wären. Zusätzlich: Jump-cuts und Montagesequenzen; Zeitlupe und Zeitraffer; eine Cadrage, die gerne auch mal Gesichter an- oder abschneidet; eine Super-8-Sequenz; eine selbstreflexive Erzählebene in Schwarzweiß, in der Dolan direkt in die Kamera spricht, die eigentliche Handlung aber in Farbe. Und natürlich – der Fetisch der Auteuristen überhaupt: eine autobiografische Geschichte. Das wirkt in etwa so, als ob Dolan versucht, Truffauts „Les quatre cents coups“ („Sie küssten und sie schlugen ihn“; 1959) mit Godards hochmodernen Essayfilmen und einer Seifenoper zu kreuzen.

Ich muss zugeben, dass ich die erste Stunde von „I Killed My Mother“ gehasst habe. Die selbstverliebten Auftritte Xavier Dolans, der tatsächlich unverschämt gut aussieht – irgendwo zwischen dem jungen Johnny Depp, James Dean und Elvis – und dessen Hubert wegen Nichtigkeiten dauernd jammert, meckert, brüllt und zankt. Auch die Darstellung seiner Mutter: bourgeois, aber ohne Geschmack und Stil, unsicher, dem Jugendwahn so sehr verfallen, dass sie sich mit Selbstbräuner einen lächerlichen bronzenen Teint färben lässt. Nicht einmal ein Croissant kann diese Frau essen, ohne dass Dolan hinterhältigerweise ihren Mund in Detailaufnahme einfängt, die Essensreste in den Mundwinkeln ausstellt und sie obendrein schmatzen lässt. Und die ganze Zeit erträgt sie die Beleidigungen ihres verzogenen Balgs, dem die ganze Welt offensteht und der doch nur mit sich selbst beschäftigt ist. Vielleicht bin ich schon zu weit von der ganzen adoleszenten Malaise weg, um einen Zugang zu Huberts Problemen zu finden.

Doch nach der zermürbenden ersten Stunde geschieht etwas sehr Ungewöhnliches: Von dem Moment an, als Hubert die Stadt verlässt und in das verhasste Internat geht, öffnet sich der Film förmlich, bricht aus aus seinem geschlossenen Kreisen um sich selbst, zeigt sich unerwartet so viel reflektierter und erwachsener, als die erste Hälfte uns glauben macht. Selbst Chantale bekommt nun ihre große Szene und darf die ganze Wut auf die egoistische Machogesellschaft herausbrüllen. Und dabei weicht das, was zuvor vor allem selbstverliebte Nabelschau eines 19-Jährigen war, einer Zärtlichkeit für die Figuren, die gerade durch den Kontrast umso unmittelbarer berührt. So kommt Dolan am Ende vielleicht doch ganz nahe an das heran, was Truffaut mit seinem Debüt gelang.

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Pornografie & Holocaust

(Israel 2008, Regie: Ari Libsker)

Männerfantasien
von Harald Steinwender

„Pornografie & Holocaust“ – was für ein Titel. So subtil wie einige der Exploitationklassiker des italienischen Trashkinos, sagen wir einmal, Joe D’Amatos aka Aristide Massaccesis „Porno holocaust“ („Insel der Zombies“; …

„Pornografie & Holocaust“ – was für ein Titel. So subtil wie einige der Exploitationklassiker des italienischen Trashkinos, sagen wir einmal, Joe D’Amatos aka Aristide Massaccesis „Porno holocaust“ („Insel der Zombies“; 1981) oder Cesare Canevaris abseitig-bösartige Geschmacksverirrung „L’ultima orgia del III Reich“ („Gestapo’s Last Orgy“; 1977). Im Original hieß Ari Libskers mit israelischer Filmförderung entstandener Dokumentarfilm seinem Thema gemäß schlicht „Stalags“.

Die „Stalags“ waren Anfang der 60er Jahre in Israel populäre Sexromane, die zu Beginn fast ausnahmslos Variationen desselben Themas erzählten: Ein US-amerikanischer Soldat oder ein Brite gerät während des Zweiten Weltkriegs in deutsche Kriegsgefangenschaft und wird in einem „Stalag“ interniert, einem „Stammlager“ bzw. „Mannschaftsstamm- und Straflager“. Dort stellt er überrascht fest, dass die Aufseher weibliche (!) SS-Angehörige sind. Von diesen wird er dann vergewaltigt und gefoltert. Nach einem langen Martyrium gelingt es ihm, seine Aufseherinnen zu überwältigen und „sexuelle Rache“ zu vollziehen, indem er seine Peinigerinnen vergewaltigt und schließlich tötet. Die Hefte wurden in Israel als Übersetzungen amerikanischer pulp novels vermarktet, stammten jedoch überwiegend von israelischen Autoren, die geschickt den Stil der US-Groschenhefte imitierten. Auch die bunten, handgemalten Cover der „Stalags“ erinnern an die US-amerikanischen Men’s Adventure Magazines der 50er Jahre.

Der deutsche Verleihtitel ist treffend und zugleich nicht. Treffend, da er Libskers Dokumentation über den kurzen Boom der reißerischen „Stalag“-Romane zumindest potentiell um den Blick auf die europäischen Nazi-Sexploitation-Filme der 70er Jahre erweitert, die der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger in seiner gleichnamigen Dissertation als „Sadiconazista“ beschrieben hat. Die „Stalags“, die von 1961, der Zeit des Eichmann-Prozesses, bis etwa 1964 ungemein populär in Israel waren, handelten wie die italienisch-europäischen Sadiconazista von sadomasochistischen Angstlustfantasien, die in Nazi-Gefangenenlagern oder KZs angesiedelt waren. Gemein sind ihnen der pseudohistorische Bezug und die softpornografische Umsetzung.

Wenig hilfreich ist der reißerische und zugleich sehr allgemein gehaltene Titel jedoch, da er gerade durch diese Assoziation verwischt, dass die italienischen Trashfilme dieser Ära aus einem ehemals faschistischen Land kamen und folglich in einen grundsätzlich anderen Rezeptionsrahmen entstanden und konsumiert wurden. Der Schock etwa für einen israelischen Jungen der 60er Jahre, unerwartet bei seinem Vater einen der „Stalag“-Sexromane zu finden, ist nur schwer zu fassen, zumal zu eben dieser Zeit der Eichmann-Prozess im Fernsehen übertragen wurde, der erstmals das ganze Ausmaß des Leidens der Überlebenden der Shoah in den öffentlichen Diskurs der noch jungen Demokratie rückte. Einer von Libskers Interviewpartnern, ein Sammler dieser merkwürdigen Fetisch-Heftchen, erzählt eben diese Geschichte. Sein Gesicht sehen wir dabei nicht, er möchte nicht erkannt werden. Dass dies für ihn jedoch eine bleibende Erfahrung war, steht außer Frage. Für einen anderen Interviewpartner, einen ehemaligen Armeeangehörigen, sind sie schlicht Sexphantasien, wie er sie gerne mit seiner deutschen Freundin auslebt, an der er sich, konsensuell versteht sich, ebenfalls sexuell „rächt“ für das Leid der europäischen Juden. Wieder ein anderer erzählt achselzuckend, dass dies in den frühen 60er Jahren eben die einzige erhältliche (Soft-)Pornografie war, die sie als Jugendliche lesen konnten – eine Tatsache, die in der auch in Deutschland populären 'Eskimo Limon'- oder „Lemon Popsicle“-Reihe („Eis am Stiel“; 1978ff.) am Rand thematisiert wird, wenn einer der Protagonisten in der Badewanne heimlich ein „Stalag“-Heftchen liest.

Der Regisseur hat also ein kontroverses, interessantes Thema für seinen Dokumentarfilm ausgegraben. Doch völlig überzeugt sein Ansatz nicht. Gelungen ist an dem Dokumentarfilm, dass Libsker es sich verkneift, allzu einfache Antworten und Psychologisierungen zu liefern – Projektion, sekundäre Traumatisierung etc. –, die im Rahmen eines solchen Films zwangsläufig nur an der Oberfläche kratzen würden. Trotz zahlreicher Interviews mit Sammlern dieser Hefte, ehemaligen Autoren und Historikerinnen und Historikern, bleibt das merkwürdige Phänomen der „Stalags“ jedoch kaum greifbar. Auch macht es sich Libsker etwas zu einfach, wenn er ähnliche Varianten in den USA oder Europa nicht einmal erwähnt. Zudem sind die Exkurse zu der israelischen Prä-„Stalag“-Holocaustliteratur, etwa des Autors „Ka-Tzetnik“ oder „K. Zetnik“ (ein Pseudonym des Auschwitz-Überlebenden Yehiel Feiner bzw. Yehiel De-Nur) recht unstrukturiert ausgefallen. Nach knapp einer Stunde endet der Dokumentarfilm dann unvermittelt, wobei der Eindruck entsteht, hier hätte noch mehr erzählt werden können. Dennoch ist „Pornografie und Holocaust“ eine über lange Passagen faszinierende und sehenswerte Reise in ein äußerst obskures Kapitel der israelischen Populärkultur, das allerdings nicht als repräsentativ verstanden werden sollte. „Stalags“ waren ein zeitlich äußerst begrenztes Phänomen und nur eine verschwindend kleine Minderheit dürfte sich tatsächlich in die Rolle eines G.I.s fantasiert haben, der einem zur S/M-Fantasie umgedeuteten NS-Terror unterworfen wird.

Eine flexible Frau

(D 2010, Regie: Tatjana Turanskyj)

Alles auf Anfang!
von Ulrich Kriest

Scherz, Satire und tiefere Bedeutung. Oder auch: Rip it up … and start again! Die aus Polen stammende Visagistin, die zwischenzeitlich auch einmal in London-Heathrow als Bodenpersonal und in Wien …

Scherz, Satire und tiefere Bedeutung. Oder auch: Rip it up … and start again! Die aus Polen stammende Visagistin, die zwischenzeitlich auch einmal in London-Heathrow als Bodenpersonal und in Wien als Stripperin arbeitete, erklärt, dass marxistische Theorien »nach der Wende« lange Jahre obsolet waren. Jetzt aber könnte die ausgebildete Polit-Ökonomin vielleicht wieder auf ihr altes Wissen zurückkommen, aber … Hallo? Noch jemand interessiert? Mögen alte Antworten auch kaum noch gefragt, die Probleme merkwürdig bekannt sein – auf diese Diskrepanz antwortet die Filmemacherin Tatjana Turanskyj mit einer anderen, ästhetischen Diskrepanz: sie erinnert sich an freie, essayistische Formen, wie sie zur Hochzeit des feministischen Films hierzulande erprobt wurden.

Worum geht es? Die Architektin Greta, eine Frau um die Vierzig, hat ihren Arbeitsplatz verloren, als ihr Büro in Konkurs ging. Noch ein paar ältere Honorare stehen aus, doch über Geld und Existenzängste wird im sozialen Umfeld, in dem sich Greta bewegt, nicht gerne geredet. Zudem ist Greta geschieden, ihrem pubertierenden Sohn Lukas gefällt der strategische Einsatz des Wortes „Loser“ (wo auch immer er es aufgeschnappt hat). Aus ihrer Welt und den dort herrschenden Redeverboten gefallen, pendelt Greta in der Folge zwischen Job-Center, Call-Center und gerne auch mal der Flasche Wodka. In mehrfacher Hinsicht sind die Ansprüche Gretas nicht mehr »vermittelbar«: der Film bietet hierzu das Stichwort der „konservativen Emanzipation“ an – und zeigt polemisch Bilder von »erfolgreichen« Ehefrauen, die sich auf Reproduktion spezialisiert haben, „ökologisch korrekt“ handeln und sich schon mal in Town-Houses und Privatstraßen zurückziehen.

Für Greta, trotz ihrer wachsenden Verzweiflung ein kritischer Geist, stehen derlei Sicherheitspsychosen deutlich in Widerspruch zu ihrem Verständnis von Autonomie und Würde. Aber ihr Sarkasmus steht der gesellschaftlich gewünschten »Geschmeidigkeit« im Wege: Nicht nur, dass keiner der alten Freunde und Kollegen von ihrer Arbeit im Call-Center etwas hören will! Auch die dortige Leiterin staunt nicht schlecht, als sie erfährt, dass ihr künftiges Team-Mitglied Greta irgendwie doch etwas überqualifiziert scheint und verspricht am Schluss des Beschäftigungsverhältnisses mit großer Geste, dass sie Greta trotz ihres Versagens im „Agent-Pool“ führen werde: als potentielle Arbeitskraft. Und auch im Job-Center ist man not amused, als Greta auf die Frage, was sie denn wirklich gut könne, antwortet: „Trinken!“

Inspiriert von Richard Sennetts Studie „Der flexible Mensch“ (1998) sammelt Turanskyj Impressionen zur Lage der Frau im spätesten Kapitalismus: mal witzig, mal satirisch, mal polemisch, mal böse, mal ratlos, selten einmal theatralisch kalauernd. Schnell zeigt sich: Flexibilität ist eine individuelle Tugend; nur gefeiert wird noch gemeinsam. Gretas Restbestände an architektonischen Visionen und Utopien sind nicht nur schnell aufgezehrt, sondern werden am Markt auch nicht mehr nachgefragt: es sind Konterbande aus einer anderen Zeit. Die großen Visionen taugen nur noch fürs Call-Center, wo es heißt: „Jedes Telefonat ist ein rhetorisches Meisterwerk!“ Meisterwerke allerdings, für die nur 7 € pro Stunde bezahlt werden, Provision nicht inklusive! „Prekariat“, „Gentrifizierung“, „konservative Emanzipation“ – hellsichtig verweigert Turjanskyj bei ihrer zeitdiagnostischen Passage durch aktuelle Diskurse die konventionelle Erzählung, sondern sie wählt die Offenheit des Essays, die heutzutage mit ihren Distanzierungsstrategien (die Figur Greta lädt kaum einmal zur Identifikation ein, bleibt über die gesamte Filmlänge unbequem und anstrengend) gar nicht altmodisch, sondern eher innovativ erscheint, weil sich die Fernsehspieldramaturgie längst als Marktführer etabliert hat. Insofern funktionieren auch die weniger überzeugenden, weil zugespitzt artifiziellen Szenen wie die Party oder die Landpartie im Rahmen der „flexiblen Frau“ durchaus (nur eben nicht so gut wie die Szene im Job-Center, als die Mitarbeiterin »gesteht«, dass sie sich auch einen sinnvolleren Job wünsche und zudem ihre esoterische Ader eingesteht).

Passend zur alten Form des brechtschen Filmemachens zitiert Turanskyj in ihrem Film allerlei Filme, die vielleicht als Vor-Bilder gedient haben mögen: „Die flexible Frau“, das ist (auch) Anita G. aus Kluges „Abschied von gestern“, ihre Probleme erinnern deutlich an die Probleme der Protagonistin Edda aus Helke Sanders‘ „REDUPERS – Die allseitig reduzierte Persönlichkeit“, die auch darum kämpfte, Mutterrolle und Karriere produktiv zu kombinieren. Und die rauschhafte Erfahrung des Aus-der-Rolle-und-aus-der-Gesellschaft-Fallens, die hat man seit Ulrike Ottingers „Bildnis einer Trinkerin“ nicht mehr so schmerzhaft (schmerzhaft beglückend) gesehen. Man muss die „flexible Frau“ nicht gleich für ein Meisterwerk halten, man muss den Film auch nicht (wie andernorts geschehen) gegen die Filme der „Berliner Schule“ ausspielen, aber man kann festhalten, dass der Film zu den interessantesten Versuchen der letzten Jahre gehört, sich den sozialen Entwicklungen der Gegenwart (auch) mit Gedanken zu nähern, die sich aus dem Arsenal bereits geleisteter Reflexionen speisen. Halten wir es doch mit der aus Polen stammenden Visagistin und träumen von Stripperinnen, die einmal Politökonomie studiert haben und sich an Marx‘ Analysen noch erinnern können. Das ist doch schon mal was!

Picco

(D 2010, Regie: Philip Koch)

Geladen
von Dietrich Kuhlbrodt

Ich habs nicht geglaubt, dass ich mich von einem deutschen Film so packen lasse wie von „Picco“, und ich bin da nicht allein. Letztes Jahr lief er auf dem Festival …

Ich habs nicht geglaubt, dass ich mich von einem deutschen Film so packen lasse wie von „Picco“, und ich bin da nicht allein. Letztes Jahr lief er auf dem Festival in Cannes (La Quinzaine) und bekam nichts als Lob, unisono. Dabei ist sein Thema genau das, was sonst aus dem Kino treibt. Bloß, man bleibt hier bis zur letzten Minute, gebannt. Sozusagen selbst im Knast, in welchem der Film spielt. Da kommst du nicht so leicht raus. Den Film hindurch im Jugendknast, den Zellen, dem Viereck des Hofs. Der Neue, der Picco, in der Gemeinschaftszelle. Die Rituale. Krass gemobbt. Opfer, das Täter werden kann (wie wir im Lauf des Films erfahren). Oder Opfer, das Opfer bleibt. Gedemütigt. Vergewaltigt. Die Schlinge um den Hals.

Ein Betroffenheitsfilm? Genau das nicht. Regisseur Philip Koch, 28, hütet sich vor Zuschreibungen. Es gibt keinen Off-Kommentar. Es wird nicht bewertet. Die Jungs haben ihre eigene Sprache („Poesie, sagst du? Bist du schwul?“). Der Knast ist nicht in gut und böse eingeteilt. Da Musik außen vor bleibt (nur einmal wird Rammsteinmäßiges eingesetzt), fehlt es an emotionalen Schutzräumen. Hintergrundgeräusche drängen in den Vordergrund. Möwen, die man nicht sieht, schreien über dem Knasthof. Der Zuschauer ist dem, was er sieht und hört, ausgesetzt.

Alle Beteiligten sind in den Zwanzigern. Vielleicht ist es das, was den Film so glaubhaft macht. Unversehens nimmt man „Picco“ als Dokumentarfilm wahr. Ein Rezeptionserlebnis! Aber ein schlimmes. Wem es so geht wie mir, der sich beteiligt fühlt und verantwortlich gemacht für das, was im Landshuter Knast passiert, sieht sich in der Täterriege. Warum? Als einer, der wegkuckt. Kurz vor Göttingen, rechts neben der Autobahn, steht so ein Knast in der Pampa. Hohe Mauer rum, Wachtürme, gleißendes Licht, – und ich weiß genau oder müsste es wissen, dass dahinter die Hölle ist, die Perfektionierung der Jugendlichen zu Verbrechern. Oder zu Selbstmördern. Während unsere Justiz scheinheilig versichert, dass der Knast nur zum Besten der Einsitzenden ist. – Der Film kommentiert ja nicht. Grad deswegen nimmt man ihn so intensiv wahr. Und deswegen empören mich die wirklichkeitskonträren, folgenlosen und vernebelnden Worte des Bundesverfassungsgerichts, die Vollzugsgestaltung sei verfassungsgemäß „vor allem auf soziales Lernen sowie die Ausbildung von Fähigkeiten und Kenntnissen, die einer künftigen beruflichen Integration dienen gerichtet“. Das Urteil ist von 2006. Der Film, wie gesagt, überlässt es mir, mich an so was oder Ähnlichem zu erinnern. Ich bin geladen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 02/2011

Von Menschen und Göttern

(F 2010, Regie: Xavier Beauvois)

Ergebenheit und Neugeburt
von Wolfgang Nierlin

Friedliche Koexistenz und ein reger Austausch bestimmen die Beziehungen zwischen den Mönchen des Klosters Notre-Dame de l’Atlas und der Bevölkerung des algerischen Dorfes Tibhirine. Gegenseitige Hilfe, Respekt und die Achtung …

Friedliche Koexistenz und ein reger Austausch bestimmen die Beziehungen zwischen den Mönchen des Klosters Notre-Dame de l’Atlas und der Bevölkerung des algerischen Dorfes Tibhirine. Gegenseitige Hilfe, Respekt und die Achtung vor dem Andersgläubigen sind im Zusammenleben zu einer schönen Selbstverständlichkeit geworden. Während die Menschen aus dem nahen Ort bei Feld- und Handwerksarbeiten helfen, praktizieren die Mönche tätige Nächstenliebe: Sie verteilen Kleider und Medikamente, leisten eine medizinische Grundversorgung, helfen bei behördlichen Korrespondenzen und beraten in Lebens- und Liebesfragen. Die Integration ist zu einer freiwilligen Verpflichtung geworden, zu einer Abhängigkeit, die auf Gegenseitigkeit beruht. Die Verantwortung für den Anderen wahrt bei aller Nähe aber auch den Abstand; das Eigene und das Fremde bleiben bestehen und ermöglichen gerade dadurch kulturelles Lernen.

Was Xavier Beauvois in langen Passagen am Beginn seines nach Tatsachen gedrehten, preisgekrönten Films „Von Menschen und Göttern“ („Des hommes et des dieux“) zeigt, lässt sich durchaus als gesellschaftliches Modell für ein interkulturelles Zusammenleben verstehen. Daneben und damit verbunden beschreibt er das Klosterleben mit seinen gegliederten Tagesabläufen als eine Ordnung, die durch Sammlung und Gesang, Gebet und Arbeit jene konzentrierte Kraft erzeugt, deren ein solches Miteinander bedarf. Die Ruhe und Stille der umgebenden weiten Berglandschaft bilden dazu einen natürlichen Resonanzraum. Die Verbundenheit mit Gott und der Natur, übersetzt in den Rhythmus des Lebens, wird hier körperlich sicht- und fühlbar.

Trotzdem erfährt das Gleichgewicht der Gemeinschaft eine empfindliche Störung, als sich Mitte der 1990er Jahre die Gewalt radikalislamistischer Terroristen auf dem Land ausbreitet und immer näher rückt. Beauvois deutet die politischen und militärischen Verflechtungen im bürgerkriegsähnlichen Konflikt nur an, um sich stattdessen auf den inneren Entscheidungsprozess der Klosterbrüder zu konzentrieren. Deren bewegendes Ringen um das richtige Verständnis ihres christlichen Auftrages und dabei vor allem um die Frage, ob es angemessener ist, das Kloster zu verlassen oder zu bleiben, entfaltet einen tiefen Gewissenskonflikt zwischen allen inneren und äußeren Fronten. Angst und politischer Druck, aber auch die Verantwortung gegenüber der Dorfgemeinschaft und der je eigenen Berufung führen schließlich zu einer Entscheidung, die sich – auch ikonographisch – zum Martyrium verdichtet und ihren Höhepunkt in einem bewegenden letzten Abendmahl erreicht. Im christlichen Heilsverständnis der Mönche vollzieht sich in dieser Ergebenheit zugleich ihre Neugeburt.

Rammbock

(D / A 2010, Regie: Marvin Kren)

Krisen der Hauptstadt
von Sven Jachmann

Geistreich, ansehnlich, unheimlich oder gar subversiv sind deutsche Zombiefilme ganz sicher nicht. Das Zepter liegt in den Händen von Andreas Schnaas, Andreas Bethmann oder Olaf Ittenbach, die dem Exzess das …

Geistreich, ansehnlich, unheimlich oder gar subversiv sind deutsche Zombiefilme ganz sicher nicht. Das Zepter liegt in den Händen von Andreas Schnaas, Andreas Bethmann oder Olaf Ittenbach, die dem Exzess das Primat einräumen und mit fetischistischer Inbrunst völlig ideenbefreit den italienischen Vorbildern der 80er Jahre zu huldigen versuchen, Laienschauspieler und mit Edding auf Notizzetteln vermerkte Dramaturgiesimulationen, weil schließlich irgendwas zwischen den seriell montierten Splatterausbrüchen passieren muss, inklusive.

„Rammbock“ ist in diesem Umfeld wie auch im Lichte des deutschen Gegenwartskinos ein echtes Kuriosum. Gefördert mit 200 000 Euro der Redaktion „Das kleine Fernsehspiel“ des ZDFs adaptieren Regisseur Marvin Kren und Drehbuchautor Benjamin Hessler ganz einfach die besten Ideen des zeitgenössischen Zombiefilms, versehen sie mit ein paar höchst effektiven Modifikationen, situieren das Ganze in einen Berliner Innenhof, und schon ist ein echtes Kleinod geboren.

Der etwas einfältige Michael (Michael Fuith) kommt aus Österreich nach Berlin, um seine Ex-Freundin Gabi (Anka Graczyk) zu besuchen. In ihrer Wohnung trifft er allerdings nicht sie, sondern zwei Handwerker, von denen ihn einer nach wenigen Sekunden aggressiv anfällt und zu beißen versucht. Zusammen mit dem 15jährigen Lehrling Harper (Theo Trebs) kann Michael den Rasenden überwältigen. Man verbarrikadiert sich in der Wohnung und verfolgt über die medialen Kanäle den Ausbruch des Infernos. Durch ein unbekanntes Virus werden Menschen zu tobenden Bestien. Die Krankheitsmerkmale werden jedoch erst durch einen erhöhten Adrenalinspiegel virulent. Die einzige Chance besteht für die Gebissenen also darin, während des weltweiten Zusammenbruchs der Ordnungen Ruhe zu bewahren.

Das ist nur eine der schwarzhumorigen Finten. „Rammbock“ wagt gar nicht erst den Versuch, dem momentan allgegenwärtigen Subgenre krampfhaft neue Elemente anzudichten, sondern setzt auf die Interpretation zeitgenössischer Genreproduktionen und verlässt sich ansonsten ganz und gar auf das bedrohliche Setting. Die Infizierten sind flink, die Links zur Außenwelt – Radio und Fernsehen – brechen peu à peu zusammen, das Verhältnis der eingesperrten Nachbarn, die durch die Fenster zum Innenhof kommunizieren müssen, oszilliert zwischen Solidarität und Pragmatismus, und irgendwann drängt die äußere Bedrohung zur Hetzjagd durch die Stockwerke. Der titelgebende Rammbock zerstört endgültig die getrennten Sphären der Besitzenden, nachdem Gabis Wohnung von Zombies überrannt wird. Michael und Harper fliehen durch die eingerissene Wand in die Nachbarswohnung und werden getrennt. Im letztlich doch noch gesicherten Innenhof finden sich die überlebenden Bewohner zusammen und schmieden vergeblich Ausbruchspläne.

Die in „28 Days Later“ etablierte neue Geschwindigkeit der Zombies, die klaustrophobische Situation der Eingeschlossenen, wie man sie bereits seit Romeros Initialklassiker „Night of the Living Dead“ und auch ganz ähnlich aus dem spanischen Film „[Rec]“ kennt, der Witz der begriffsstutzigen Michael-Figur, der dann und wann etwas an Aki Kaurismäki erinnert, aber nicht solch großen Raum wie in „Shaun of the Dead“ beansprucht und die intensive und glaubwürdige apokalyptische Stimmung des minimalistischen Settings machen aus diesem Zombieextrakt einen höchst ambitionierten Beitrag, an dessen Ende sogar, Pathos hin oder her, die versöhnliche Geste eines recht unorthodoxen Neuanfangs steht. Romero betrachtete bereits in „Day of the Dead“ die Zombiegestalt als identitätsfähiges Individuum; in der amerikanischen Comicbook-Serie „The Walking Dead“ wird immer wieder die Frage nach der Neuformierung von Gesellschaft verhandelt: Sind die Lebenden nicht bloß eine lächerliche, anachronistische Minderheit? In „Rammbock“ hält nun die Zuneigung unter den Zombiefizierten Einzug. Während Michael nach einem Biss allein, resigniert und angespannt mit Tabletten den Ausbruch der Krankheit verhindern will, erblickt er die nunmehr infizierte Gabi, lässt die Medikamente fallen, umarmt sie fest und lässt dem Adrenalinausstoß freien Lauf. Unbeholfen stolpern beide dem Abspann entgegen – ein kitschiges, ironisches, aber eben auch ziemlich schauriges Schlussbild, und Ambivalenz stand dem Genre schließlich schon immer ganz gut zu Gesicht.

Link zum Interview mit Regisseur Marvin Kren

Corroboree

(AU 2007, Regie: Ben Hackworth)

Das Leben, ein Spiel
von Louis Vazquez

Kompliziert genug, dass in Filmen immer gespielt wird. Wenn dann aber auch noch damit gespielt wird, dass gespielt wird, wird es gänzlich unübersichtlich. Doch gerade darin kann ein gewisser Reiz …

Kompliziert genug, dass in Filmen immer gespielt wird. Wenn dann aber auch noch damit gespielt wird, dass gespielt wird, wird es gänzlich unübersichtlich. Doch gerade darin kann ein gewisser Reiz liegen, wie beispielsweise Charlie Kaufmans Drehbücher zeigen. So nah am Unterhaltungskino aber will „Corroboree“, das Spielfilmdebüt des Australiers Ben Hackworth, gar nicht sein. Stattdessen bemüht sich der Filmemacher um reinste Kunst, fernab selbst vom Programmkino-Mainstream, was zunächst einmal ein interessantes Unterfangen ist.

Der unerfahrene junge Schauspieler Conor, gespielt vom unerfahrenen jungen Schauspieler Conor O’Hanlon, steigt in einen Bus und begibt sich zu einem seltsamen Engagement: Der an Aids erkrankte, homosexuelle Regisseur Joe liegt im Sterben und will unbedingt noch Schlüsselszenen seines Lebens inszenieren, um Freunden einen Abschied zu ermöglichen. Conor, der den Regisseur nicht persönlich kennt und ihn zunächst auch nicht kennen lernen soll, wird ihn verkörpern und muss sich unvorbereitet ins Geschehen stürzen. Auf dem Weg zur Spielstätte hört sich Conor per Kopfhörer erste Erklärungen seines Regisseurs an. Er solle sich dem Spiel völlig hingeben, sich darin verlieren und gerade dadurch Verständnis und wahres Mitgefühl für Joe entwickeln. Am Treffpunkt, einem verwinkelten Haus mit einem wilden, verwunschen wirkenden Garten, warten in verschiedenen Zimmern Regieanweisungen und fünf Schauspielerinnen, die Conor anleiten und ihm bei der Umsetzung der Szenen zur Seite stehen sollen. Sie verkörpern in diesem „Spiel des Lebens“ Frauen aus Joes Vergangenheit – und sind es gleichzeitig auch. Dass bei dieser Versuchsanordnung die Grenzen zwischen Spiel und Realität nicht wirklich deutlich verlaufen, liegt in der Natur der Sache.

Mit „Corroboree“ bezeichnen die Aborigines ein Fest, oft zum Zweck einer Initiation, das streng ritualisiert ist und somit festen Regeln und Abläufen folgt. Ben Hackworth feiert in seinem gleichnamigen Film ein Fest der Metareflexion. Ununterscheidbar montiert er unperfekte Probeaufnahmen und Szenen mit inszenierten Fehlern, die in beiden Fällen der Unerfahrenheit des jungen Schauspielers und dem experimentellen Charakter der Umsetzung geschuldet sind. Conor folgt bemüht allen Anweisungen und wird zu einer Art spielenden Spielfigur – eher wird mit ihm gespielt, als dass er selbst die Szene unter Kontrolle hätte. Joe ist derweil als Zeremonienmeister ständig anwesend, allerdings für Conor nicht zu erreichen. Heimlich beobachtet er das Geschehen, bleibt im Hintergrund und begutachtet die Aufnahmen. Das Spiel fordert viel von Conor, und er kommt seinen Kolleginnen näher, als er erwartet hätte. Die Atmosphäre entspannt sich langsam, und nach anfänglichen Schwierigkeiten wird auch mal ein Schlückchen getrunken, gefeiert und ausgelassen (und mit bitterer Note) gemeinsam „I Don’t Wanna Grow Up“ von Tom Waits gesungen.

Die rein inhaltliche Zusammenfassung wirkt recht beschwingt, ist aber trügerisch, denn Erzählkino findet hier nicht statt und soll es auch nicht. Der Zuschauer muss sich stattdessen mühsam erarbeiten, was genau gerade passiert, denn die Szenen bleiben kursorisch und vieldeutig. Selbst die experimentelle Ausgangssituation wird im Film nur umrissen und lässt sich ohne Begleittext nicht unbedingt nachvollziehen. „Corroboree“ hat einen starken Entwurfcharakter, der Film wirkt bewusst skizzenhaft und unfertig, weil er einen Schaffensprozess im freien Spiel und durch die vielen Ebenen und Selbstbespiegelungen letztlich das Spiel selbst ausstellt. Geschlossenheit ist deshalb seine Sache nicht, und wer eine Art Spannungsdramaturgie erwartet, eine Auflösung offener Fragen, klare Motivationen des Geschehens, wird unbefriedigt bleiben. Joes fiktive Lebensgeschichte und Hackworths künstlicher Inszenierstil sind als Tribut an den verstorbenen australischen Theaterregisseur Richard Wherrett gedacht, dessen Herangehensweise Hackworth „zwischen Camp und Künstlichkeit“ verortet. Dadurch, dass in „Corroboree“ auch Mitglieder von Wherretts Ensemble mitspielen, erlangt der Film eine weitere Bedeutungsebene.

Am Ende steht eine quasi klimaktische Szene, die motivisch arg abgegriffen ist und eine Theatralik entwickelt, die „Corroboree“ sonst nicht nötig hat. Immerhin lässt Hackworth die Möglichkeit offen, dass das, was man Conor da antut, doch nur ein makabrer Scherz der Schauspielerinnen ist. Sicher ist das – natürlich – nicht.

Hackworth will viel in seinem Debüt und macht seine Anliegen in der Form eigentlich auch recht deutlich. Seine Spielzüge sind aber nicht unbedingt neu und werden bei aller Bedeutungsschwere mit fortschreitender Dauer sogar langweilig. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, auch dem Visuellen statt strenger Statik ein bisschen mehr Verspieltheit und Ausgelassenheit zu gönnen, um sich einem wohlmeinenden Publikum ein wenig mehr zu öffnen. So bleibt das Fest letztlich eine doch sehr private Veranstaltung.

Black Swan

(USA 2010, Regie: Darren Aronofsky)

Mens swana in corpore swano
von Harald Mühlbeyer

Eine unschuldige Prinzessin ist in einem schwanenschönen Körper gefangen, Freiheit kann sie nur durch die reine Liebe erlangen. Diese Liebe verspricht ihr ein Prinz, doch es gibt eine Konkurrentin um …

Eine unschuldige Prinzessin ist in einem schwanenschönen Körper gefangen, Freiheit kann sie nur durch die reine Liebe erlangen. Diese Liebe verspricht ihr ein Prinz, doch es gibt eine Konkurrentin um seine Gunst: der böse Zwilling der Schwanenprinzessin narrt den Prinzen, entlockt ihm ebenfalls ein Liebesgeständnis, und die Rivalität der Ebenbürtigen führt zur Katastrophe.

Etwas anderes als eine doppel- und dreifachbödige Geschichte hat man von Darren Aronofsky nicht erwartet: Er hat Tschaikowskis 'Schwanensee'-Ballett verfilmt, verlegt in das Milieu der 'Schwanensee'-Produktion einer Ballettcompagnie. Natalie Portman als Ballerina Nina ist erwählt, die Doppel-Hauptrolle des Weißen und Schwarzen Schwanes in einer Neuinszenierung von 'Schwanensee' zu spielen, sie ist Konkurrenzdruck ausgesetzt und dem Druck ihrer Mutter, des Ballettdirektors, ihrer selbst. Den Weißen Schwan tanzt sie perfekt; für den Schwarzen Schwan muss sie lernen, die Kontrolle zu verlieren, sich gehen zu lassen, zu verführen, sich selbst und alle anderen zu überraschen, technische Perfektion muss zu Genialität werden. Sie muss den Ansprüchen des ambivalent-verführerischen Ballettchefs – Vincent Cassel in grandioser Verfassung – genügen, und sie muss die Konkurrenz von Tanzkollegin Lily aushalten, die um dieselbe Rolle und ebenfalls um Cassels Gunst buhlt.

Das ist also zum einen ein Sportlerfilm, so wie auch Aronofskys Vorgänger „The Wrestler“, der beobachtet, wie Sport, wie körperliche Anstrengung entsteht, wie daraus ein Spiel wird, das zugleich Ernst ist: Kampf beim „Wrestler“, Tanz in „Black Swan“. Die immense Anstrengung, aus einem menschlichen Körper Übermenschliches herauszuholen, wird schonungslos gezeigt, da Knacksen die Gelenke, da brechen die Zehnägel, und dann schweben die Tänzerinnen und Tänzer schwerelos, entkörperlicht dahin…

Zum Zweiten ist dies ein Psychoporträt, ein Psychothriller. Bis in die Anfänge von Aronofskys Filmtätigkeit geht das zurück, die Auseinandersetzung mit der Balance von Körper und Psyche. Immer geht dabei jede Bewegung zugunsten der einen Seite zulasten der anderen. Körper und Geist sind Gegenpole, wo der eine gestärkt wird, schwindet der andere. In „Pi“ setzte sich der Protagonist den Bohrer für die Selbstlobotomie an den Kopf, um durch körperliche Versehrung den überschnappende, überschwappenden Geist zu kanalisieren. „Requiem for a Dream“ folgt der Zersetzung, dem Verschwinden des Körpers zugunsten drogeninduzierter, mentaler Höhenflüge. In „The Fountain“ sucht einer das Leben der Geliebten zu retten, indem er sich in Ebenen des Wahnsinns (oder der Literatur? Oder doch der Realität unterschiedlicher Zeiten?) versetzt. Der „Wrestler“ muss erkennen, dass in seinem hochgezüchteten Körper ein dumpfer Geist wohnt. Und Nina muss eine ganz neue Körperlichkeit erlernen, sie muss über die äußere Perfektion von Tanz hinaus auch das Innere sprechen lassen; sie muss den Schwarzen Schwan in sich entdecken, um die größte, beste Tanz- und Kunstperformance leisten zu können. Und ihr entgleitet dabei die Realität.

Aronofsky ist, das beweist sich hier wieder einmal, einer der besten zeitgenössischen Regisseure. Seine emotionalisierende, spannende, verstörende und packende Handlung erzählt er in mehreren Ebenen, kleine Irritationsmomente wachsen sich zu phantastisch anmutendem Psychohorror aus, die Darsteller bringen Höchstleistungen, jedes Detail ist stimmig, alltäglich und zugleich hochsymbolisch, die handwerkliche Arbeit im Ballett wird fast dokumentarisch eingefangen und zugleich metaphysisch transzendiert, Wahrhaftigkeit und Glaubhaftigkeit gehen einher mit dem Auflösen von Körperlichkeit, Realität, psychischer und mentaler Leistung. Schritt für Schritt begleitet Aronofsky Nina auf dem Weg zur Vervollkommnung ihres künstlerischen Ichs; und er geleitet den Zuschauer Schritt für Schritt hinein in ihre Psyche.

Der Zuschauer antwortet dabei unmittelbar emotional auf das Geschehen auf der Leinwand: mit ungeheuer intensiver Wirkung weiß Aronofsky zu inszenieren, von kleinen Momenten bis zu großen, deutlichen Irrationalitätsanfällen von Nina. Da, in der U-Bahn: ist sie das nicht selbst? Haben sich da die Augen bewegt auf dem Gemälde? Wie kann die Mutter stets anwesend sein, liegt das nur an dieser kleinen Wohnung, in der Nina mit ihr lebt? Jagt da ein Gänse-, nein: Schwanenhautschauer über ihren Körper? Woher kommt das Blut an ihren Fingern? Das Schneiden von Fingernägeln wird zu Tortur, und dann zieht sie sich unterhalb des Fingernagels die Haut ab, in langen Streifen – da wird klar: Die Grenze zur Realität ist überschritten. Und der Film lässt sie weit hinter sich.

Doch was ist Realität, wenn es darum geht, große Kunst zu schaffen? Das wahre, eigene Ich herauszuschälen aus einem in Schönheit, Reinheit, Unschuld gefangenen Körper? Realität ist hinderlich, wenn Nina die vollendete menschliche Inkarnation des getanzten Schwanes erschafft; und der Körper, der dies vollbringt, muss seinen Geist hinter sich lassen.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Burlesque

(USA 2010, Regie: Steve Antin)

Ali im Burlesqueland
von Harald Mühlbeyer

Der Weg von der Kellnerin in Dwight’s Bar irgendwo in Iowa zum Star in der Burlesque Lounge von Tess in L.A. ist als Filmhandlung natürlich völlig unoriginell. Ähnliches gibt es, …

Der Weg von der Kellnerin in Dwight’s Bar irgendwo in Iowa zum Star in der Burlesque Lounge von Tess in L.A. ist als Filmhandlung natürlich völlig unoriginell. Ähnliches gibt es, seit der Tonfilm die Revue, das Musical, die Musik für sich entdeckt hat. In „Burlesque“ geht Christina Aguilera in ihrer Rolle als Ali diesen ausgetretenen Pfad – Ali ist die Kurzform von Alice, und viel zu wenig wird die Burlesque-Welt als Wunderland dargestellt.

Es hapert an der Präsentation dieser Handlung, die Dramaturgie holpert und stolpert sich so durch, mit viel Hin und Her zwischen Ali und Tess, gespielt von Cher als gütig-streng-mütterliche Mentorin; zwischen Ali und ihrer zickig-intriganten Tanzkollegin Nikki; zwischen Ali und ihrem Mitbewohner, die nicht so recht als Liebespaar zueinander finden; zwischen Ali und dem elegant-schleimigen Immobilienhai, der sie umgarnt; zwischen dem elegant-schleimigen Immobilienhai und Tess, der er den Club abkaufen will… Zwischendurch heiratet noch eine Tänzerin einen Typen, der wohl in der clubeigenen Band spielt, aber das geht unter; wie auch Alan Cumming als geschlechtsambivalenter Portier nur zwei Sätze sagen und dreimal in die Kamera grinsen darf, damit völlig verschenkt ist: offenbar wurden einige Nebenhandlungen im Endschnitt weggehackt. Dafür hat Peter Gallagher als Miteigentümer von Tess’ Club überlebt, obwohl er im Film überhaupt keine Funktion hat und nur pessimistisch in die finanziell düstere Zukunft gucken darf. So sind die meisten der Plotschlenker schlicht überflüssig, und alles, was an Handlung da ist, ist eigentlich zu lang.

Schauspielerisch wird das alles solide, aber ohne Raffinesse dargebracht. Christina Aguilera spielt erstmals eine Hauptrolle außerhalb von Musikvideos, und sie spielt mehr oder weniger sich selbst, oder eine Version von sich, spielt eine Möglichkeit durch, die sie selbst, wie sie sich sieht und fühlt, wie sie gesehen werden möchte, sein könnte. Was ihr nicht gerade einen Darsteller-Oscar einbringen dürfte. Cher spielt unbewegt, wie sie immer spielt; wie sie auch nicht anders kann, weil sonst ihre gestraffte Gesichtshaut zersplittern würde. Die anderen tun das, was man von ihnen erwartet – mit Ausnahme von Stanley Tucci als Inspizient und verständnisvoller Tröster, der mit voller Spielfreude überall herumwuselt.

Aber auf all das kommt es ja nicht an in „Burlesque“.

Es geht um die Musiknummern, und um deren Präsentation durch Aguilera als Hauptact und Cher in ein paar Intermezzi: das ist das Rückgrat des Films, und hier kommt auch tatsächliches Feeling rüber. Denn hier lebt der Film, und er ernährt sich von der filmischen Montage. Gleich am Anfang, noch als Kellnerin bei Dwight, fängt Ali an zu singen, auf einem Kneipentisch drängt das Lied aus ihr heraus, all die Hoffnungen und Träume quellen aus ihr hervor. Und da zeigt sich, was der Film kann, wenn er sich auf seinen Musicalcharakter besinnt: nämlich in der Montage Welten verbinden, Alis Realität und ihre Wunschgedanken, ihre Gegenwart und ihre Zukunft als Burlesque-Star, das Leben und die Bühne. Das geht so weiter in den Tanz- und Gesangsnummern in der Burlesque Lounge, wenn die Musik allumfassend über die Bühne hinaus in den Zuschauerraum, von der Filmszene auf den Film selbst übergreift, um den bloßen Auftritt zur überhöhten Bühnen-Musical-Burlesque-Show werden zu lassen.

Aguilera und Cher stellen ihre Tanz- und Sangeskünste in die Tradition, huldigen ihren Vorbildern – Etta James wird namentlich genannt – und zeigen sich als Nachfolgerinnen der Burlesque-Shows, eine Art frivole Variante des Vaudeville, in der die Künstlerinnen sich mit all ihrer Körperlichkeit in ihre Nummern werfen, Tanz, Akrobatik, Gesang und, nun ja: auch ein bisschen neckisch-kokettes Strippen. Wobei nein, das darf man nicht sagen, das lehrt einen der Film: keine Stangen auf der Bühne, keine komplette Nacktheit: kein Strip, nur Tease.

Wer nun aber mehr haben will als Aguilera-Gesang außerhalb von Musikvideos, wer tatsächlich eintauchen will in die Burlesque-Welt: Der sollte sich nach Mathieu Amalrics „Tournée“ umsehen. Der ist zwar etwas durchwachsen und allzu unzusammenhängend, wenn er Amalric als Tourmanager einer New-Burlesque-Truppe auf Tournee durch Frankreich zeigt; aber immerhin präsentiert er tatsächliche Showkünstlerinnen – Mimi Le Meaux, Kitten on the Keys, Dirty Martini heißen die zum Beispiel, und dokumentarisch werden ihre Nummern in voller Länge gezeigt, Tanz, Gesang und ja: auch Nacktheit, üppige, weiblich-leibliche Nacktheit, bizarr verzerrt. Eine bläst mal um sich einen Luftballon auf; der einzige männliche Künstler strippt als Louis XIV.; eine zieht sich mit (scheinbar) abgehackter Hand aus.

Elly …

(IN / F 2009, Regie: Asghar Farhadi)

Eine Dame verschwindet
von Louis Vazquez

Ausgerechnet jetzt, nach den Urteilen gegen Jafar Panahi und Mohammad Rassulof, kommt „Elly …“ in die Kinos. Der Film des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi, der 2009 auf der Berlinale mit …

Ausgerechnet jetzt, nach den Urteilen gegen Jafar Panahi und Mohammad Rassulof, kommt „Elly …“ in die Kinos. Der Film des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi, der 2009 auf der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, thematisiert den gesellschaftlichen Zwang zum falschen Spiel. Er zeigt, wie Menschen sich immer weiter in Lügen verstricken müssen, um ihren Hals zu retten. Dabei deutet er vieles nur subtil an und enthält sich klarer Wertungen – auf den ersten Blick eine große Leistung, die aber eine Kehrseite hat. Kritisch formuliert: Es bleibt alles im Ungefähren. Ausdrückliche Regimekritik gibt es nicht. Doch gerade deshalb ist der Film höchst spannend, denn an ihm lässt sich studieren, unter welchen Bedingungen im Iran Geschichten erzählt werden können und ein Film entsteht, der es sogar zum offiziellen Oscar-Kandidaten des Landes bringt.

Drei Paare wollen mit ihren Kindern für ein paar Tage Urlaub am Meer machen. Die Organisatorin des Ausflugs, Sepideh, hat auch Elly eingeladen, eine Kindergärtnerin ihrer Tochter. Sie kennt sie nicht wirklich gut, will sie aber mit ihrem Freund Ahmad verkuppeln, der in den Iran zurückgekehrt ist, nach der Scheidung von seiner deutschen Frau. Um kurzfristig ein Ferienhaus zu bekommen – es ist Hochsaison –, gibt Sepideh die beiden spontan als frisch getrautes Ehepaar aus. Schon am zweiten Tag aber, nach einem ziemlich ausgelassenen Abend, möchte Elly abreisen. Sepideh gibt sich alle Mühe, sie davon abzuhalten. Sie bittet Elly, auf die am Wasser spielenden Kinder aufzupassen, während sie noch ein paar Besorgungen erledigt. Doch wenig später muss eines der Kinder aus dem Meer geborgen werden und Elly ist verschwunden. Ist sie beim Versuch umgekommen, das Kind zu retten, oder hat sie sich heimlich davongemacht? Es entwickelt sich eine kammerspielartige Mystery-Geschichte, in deren Verlauf der so harmonisch scheinende Freundeskreis zerfällt.

Regisseur Farhadi nimmt sich sehr viel Zeit, sein Ensemble einzuführen, legt ein paar falsche Fährten und spielt mit der Erwartungshaltung, und das ist gut so, denn auf diese Weise wird der Zuschauer fast eingelullt vom erstaunlich alltäglichen Geschehen, das rein gar nichts mit den klischeehaften Iranbildern zu tun hat, die man als unbedarfter deutscher Kinogänger im Kopf haben mag. Doch es bleibt nicht idyllisch, schon früh werden Irritationen erkennbar, und die Szene im Wasser schließlich, ein realistisch-hektischer, fast in quälender Echtzeit inszenierter Schock, markiert einen Bruch im Film. Sepideh muss sich ihren Freunden gegenüber rechtfertigen, und ihre Rolle erweist sich als hochproblematisch: Sie wusste, dass Elly verlobt ist. Durch ihren Verkupplungsversuch hat Sepideh sich strafbar gemacht und auch ihre Freunde in große Gefahr gebracht. Die lockere Atmosphäre weicht der Angst, die Solidarität bröckelt. Und plötzlich wird klar, dass die scheinbar liberale Haltung der Protagonisten ihre Grenzen hat.

Sepidehs Situation scheint ausweglos, und ihre Angst wird größer. In ihr manifestiert sich Unausgesprochenes, denn tatsächlich wird im Film niemals formuliert, mit welcher Strafe sie zu rechnen hätte, dass es höchstwahrscheinlich um Leben und Tod geht. Sepidehs Verantwortung für die Katastrophe wird trotzdem nie relativiert. Dies ließe sich, eine ordentliche Portion bösen Willens bei der Rezeption vorausgesetzt, auch als moralisches Urteil über die Figur, als Denunziation missverstehen. Doch damit täte man dem Film und seinem Regisseur Unrecht. Die Uneindeutigkeit – mag sie auch einer gewissen Konformität geschuldet sein –, das Fehlen von klaren Haltungen, das Abschieben von Verantwortung thematisiert der Film ja gerade. Und er zeigt zum Schluss, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, die Situation unbeschadet aufzulösen.

Asghar Farhadi widerstrebt es, seinem Film politische Bedeutung beizumessen. Im Gegensatz zu seiner Hauptdarstellerin Golshifteh Farahani hat er dem Iran nicht den Rücken gekehrt. Er setzt auf den reifen Zuschauer, denn „Film, anstatt ein Gedankensystem einzuprägen, soll einen Raum anbahnen, in dem der Zuschauer sich in einen eigenen Überlegungsgang engagiert und vom Konsumenten zum Gedankenschöpfer entwickelt. Dieser Weg ist der einzige, den der heutige Film einschlagen kann.“ Zumindest für den Iran scheint das zuzutreffen.

Drei

(D 2010, Regie: Tom Tykwer)

Aller guten Dinge sind ...
von Harald Mühlbeyer

Tom Tykwer baut in seinem Film eine Versuchsanordnung auf, eingespannt zwischen den Polen von Ausdruckstanz und Petrischale – dem ersten und dem letzten Bild des Films. Zwischen künstlerischer Performance und …

Tom Tykwer baut in seinem Film eine Versuchsanordnung auf, eingespannt zwischen den Polen von Ausdruckstanz und Petrischale – dem ersten und dem letzten Bild des Films. Zwischen künstlerischer Performance und wissenschaftlicher Analyse porträtiert er drei moderne Menschen der Großstadt: Hanna – Sophie Rois mit gewohnt fahrig-atemlosem Sprachduktus – ist eine Art Hansdampf in allen Gassen, Kulturwissenschaftlerin mit eigener Fernsehsendung, liberal-intellektuell interessiert an Diskursen mit besonders hohem Fremdwortanteil, zudem Mitglied im Ethikrat. Ihr Lebenspartner Simon – Sebastian Schipper, versteckt hinter schwarzumrandeter Brille und Mehrtagesbart – besitzt eine Kunstproduktionswerkstatt am Rande des finanziellen Abgrunds und muss gerade Existentielles durchmachen: die Neuigkeit von der Krebserkrankung der Mutter kommt seiner eigenen Hodenkrebs-Operation zuvor, um mit Hanna darüber reden zu können, sehen sie sich zuwenig. Der fehlende Hoden führt ihn dann in die zärtlichen Hände von Adam, der zuvor schon als Tröster der sexuellen Bedürfnisse von Hanna aufgetreten ist – Devid Striesow mit unergründlichem Lächeln und unverbindlich-bindendem Charme: ein geheimnisvoller Verführer, Stammzellenforscher, Fußballer, Chorsänger, geschiedener Vater, Judoka, Segler: ein facettenreicher Charakter, oberflächlich mit verborgenen Tiefen, auf den sich alle Wünsche und Bedürfnisse projizieren lassen. Hanna und Simon, Hanna und Adam, Simon und Adam – das sind die molekularen Beziehungen, deren verschiedene Gefüge Tykwer untersucht.

Diesem Trio, das der alltäglichen Lebenswirklichkeit des intellektuell-kulturbeflissenen Milieus von Berlin entnommen ist, verleiht Tykwer mit seinem typischen übergroßen, überhöhenden Stilwillen eine zusätzliche, quasi-metaphysische Dimension und umgeht damit elegant die Gefahr des Lächerlichen, das in dieser Dreieckbeziehungskiste steckt. Der manieristischen, beinahe exaltierten Inszenierung, in der Kamera und Musik, Darsteller und Szenenaufbau sich zu übergroßer Stilisierung verstärken, stellt Tykwer die kleine Triade seiner Protagonisten gegenüber. Teils Beziehungskomödie, teils Liebesdrama, teils eleganter Tanz um Themen wie Tod, Krankheit, Liebe und Alltagstrott untersucht Tykwer die Möglichkeiten von Beziehungen jenseits von Kategorisierungen und Konventionalität.

„Abschied vom deterministischen Biologieverständnis“ fordert Adam bei der Verführung Simons – er, der an polypotenten Stammzellen forscht, die sich zu allem weiterentwickeln können, was den Körper ausmacht. Tykwer sieht mit durchaus amüsiertem Blick durchs filmische Mikroskop auf seine Dreierkonstellation, ob und wie sich jeder mit jedem verbinden kann; und gibt einen gehörigen Schuss märchenhafte Utopie dazu, um aus den Reaktionen seiner Elemente zu einer neuen, tripolaren Spezies zu gelangen. Das Ende ist eine Art Rückkehr in ein Paradies der Liebe: das bedeutet zwar den Abschied vom Gewohnten, von der Konventionalität, vielleicht auch von der gesellschaftlich als richtig verstandenen Moral und Sittlichkeit. Doch es ist auch ein Neuanfang voll Liebe und Zusammengehörigkeit. Auf eine etwas verdrehte und unübliche Art fast schon eine Weihnachtsgeschichte.

Link zum Interview mit Regisseur Tom Tykwer
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Von Menschen und Göttern

(F 2010, Regie: Xavier Beauvois)

Tout est grâce
von Janis El-Bira

Zweimal hatte Caravaggio sich in seinen letzten Lebensjahren eines ikonographisch reich tradierten Moments der Passionsgeschichte angenommen: „Die Geißelung Christi“ (1607) bestürzt und irritiert noch heute in seiner unmittelbaren Gegenüberstellung eines …

Zweimal hatte Caravaggio sich in seinen letzten Lebensjahren eines ikonographisch reich tradierten Moments der Passionsgeschichte angenommen: „Die Geißelung Christi“ (1607) bestürzt und irritiert noch heute in seiner unmittelbaren Gegenüberstellung eines idealistisch-verklärten, die Marter still duldenden Christus mit der fast rauschartig bewegten Brutalität seiner Peiniger an den Bildrändern. Ein Folterknecht links im Bild, dessen Gesichtszüge in der Ekstase der Gewalt zu entgleisen scheinen, ist dabei ein markantes Bindeglied zum praktisch zeitgleich entstandenen Werk „Christus an der Geißelsäule“. Derselbe gedrungene, aber muskulöse Mann mit dem einfältigen Ausdruck taucht hier, ganz ähnlich gewandet, ebenfalls auf. Diesmal jedoch ist er nicht der unmittelbar die Geißelung Vollziehende, sondern er hält die Stricke, mit denen ein offenbar zum linken Bildrand hin strebender Christus an die Säule gebunden ist. Wundersam ist dabei die gänzlich andere Wirkung, mit der dem Betrachter dieser Knecht nun begegnet: Die Lust scheint einer gewissen Neugierde gewichen zu sein an dem Mann, auf den die Peitsche in diesem Moment niedergeht. Man möchte fast meinen, es läge ein Zaudern in seinen Zügen, ein Moment des Haderns damit, ob dieses Tun richtig sein kann. Es ist ein Zaudern, das sich auf das Werk im Ganzen zu übertragen scheint: Die Geißelung scheint hier eingefroren in dem letzten Augenblick vor ihrem eigentlichen Beginn. Der Körper Christi ist unversehrt, der Folterer konzentriert und unsicher zugleich. Ausgerechnet von dieser Szene, die in den Evangelien die eigentliche Kreuzigung an Drastik deutlich übertrifft, geht hier bei Caravaggio ein seltsamer Friede aus; eine Milde und Ruhe, die staunen lassen.

Eine praktisch originalgroße Kopie dieser so eigentümlichen Darstellung ist in Xavier Beauvois‘ neuem, in Frankreich ebenso heftig beworbenen wie bejubelten, an realen Ereignissen orientiertem Film, „Von Menschen und Göttern“, zu sehen. Sie hängt in der Zelle des alten Zisterziensermönches Luc, der mit einer Handvoll französischer Mitbrüder das Kloster Notre-Dame de l’Atlas im Norden Algeriens bewohnt und der, wie sie, im Verlauf des Films zwischen die Fronten der Auseinandersetzungen zwischen der algerischen Regierung und der radikal-islamischen GIA Mitte der 1990er-Jahre geraten wird: Nach einem ersten nächtlichen Eindringen von GIA-Kämpfern in die Klostermauern erwarten die Mönche mit Angst deren Rückkehr und wollen sich dennoch nicht von der korrupten und brutalen Armee vereinnahmen lassen.

In einer stillen, äußerst verlangsamten Szene des Films wendet Luc sich nun diesem Bild Caravaggios zu. Um sein Leben fürchtend und ringend mit der im Kloster diskutierten Entscheidung, ob man das extrem gefährdete Land nicht besser verlassen solle, betrachtet er eingehend die Gruppe um den leidenden Christus. Dann tritt er ganz nah heran und berührt schließlich die Brust Jesu, seine Seite, durch die später, am Kreuz, die Lanze gebohrt werden wird, lehnt sich daran und scheint zu lauschen, als spräche Gott – wie man im Mittelalter glaubte – durch die Werke, die ihn darstellen. In einer atemberaubenden Doppelung wird sich aber dieser Luc, der Arzt unter den Brüdern und zuständig für die medizinische Versorgung der ansässigen Bevölkerung, noch in einem weiteren Moment intensiv einem Leib zuwenden: In einer ebenso geronnen wirkenden Szene liegt ein angeschossenes Mitglied der GIA auf seinem Behandlungstisch. Anders als bei Caravaggio ist dieser „Gegeißelte“ jedoch bereits geschunden, der Oberkörper ist frei, die blutigen Wunden klaffen. Luc berührt und untersucht sie eingehend. Zwei Begleiter halten still den Körper des jungen Mannes fest, während dieser – wie Christus am Ölberg – mit seinen Schmerzen und seinem Gott ringt: „Insha’Allah“, oder, wenn man so will: „Dein Wille geschehe“. Ist die Unversehrtheit von Caravaggios Christus auch dahin: Ein tiefer Friede und eine ungeheure Sanftheit gehen von dieser Sequenz aus.

In Szenen wie dieser, vielleicht einer der anrührendsten dieses Filmjahres, hat Beauvois‘ Film seine stärksten Momente: Nicht, weil er vermeintlich oberflächlich-kühn einen radikalen Islamisten an ein Sujet der christlichen Ikonographie koppelt und ihn gar zur Christusfigur stilisiert, sondern weil er den späten Caravaggio gleichsam wörtlich nimmt und dessen Milde und Gnade, die auch auf die unbeantwortete, fast ängstliche Frage im Gesicht des Folterknechts scheint, in der Gestalt der Mönche ausbuchstabiert. An die Brust seines Erlösers gedrückt, wartet Luc schließlich auch auf ein Wort solcher Gnade und spendet sie den wunden Körpern, die ihm bei seiner Tätigkeit begegnen, egal, welchen Glaubens ihr Träger sein mag oder welcher Vergehen er sich schuldig gemacht hat. Für ihn und seine Mitbrüder ist der Mensch vom Leiden und der Bedürftigkeit her definiert – und Beauvois radikalisiert dies, indem er den leidenden Christus, seinerzeit ein Aufrührer und verbrecherischer Gotteslästerer, quasi durch das Zwiegespräch mit Caravaggio gnadenvoll einem leidenden, zu Gott flehenden islamistischen Terroristen begegnen lässt.

Obwohl bei alledem auch der Katechismus sozusagen seine Rolle spielt und „Von Menschen und Göttern“ in ausführlichen, ästhetisch jedoch wohltuenderweise nie überhöhten Bebilderungen die klösterlichen Messfeiern und das Alltagsleben der Brüder zeigt, sind die Mönche dieses Films somit doch in erster Linie schlicht von ihrem Auftrag überzeugte Menschen in einem fremden Land – die muslimischen Traditionen und Feste feiern sie ihrer eigenen Fremdheit entsprechend selbstverständlich mit und es erstaunt sie offenkundig keineswegs, dass bei einer Beschneidung ganz ähnliche Worte gesprochen werden wie bei einer Taufe. Christ zu sein wird von ihnen demnach als fortwährende Arbeit, nicht als Status verstanden. Dass aus diesem Glauben an eine alles auffangende Gnade natürlich letztlich auch eine unerschütterliche Standfestigkeit der Mönche gegenüber der allgegenwärtigen Gefahr erwächst – dass niemand das Kloster verlassen wird, dass niemandes Ängste so unerträglich werden, dass er die Flucht sucht und dass am Ende alle ruhigen Herzens in den Tod gehen – das mag man dem Film, nicht ohne Recht, als naiv und dann doch ein wenig zu „heilig“ anlasten. Wenn am Ende aber aus dem (nach den historischen Ereignissen tatsächlich veröffentlichten) Testament des Abtes Christian vorgelesen wird und man hört, wie dieser den Tod lediglich die Erlösung von der quälendsten Neugierde seines Lebens nennt, dann geht von diesem Film doch eine so konsequent und ernsthafte Zuversicht aus, dass man beinahe nur meinen möchte: Selig der, dem solcher Friede gegeben ist.

A real life – Au voleur

(F 2009, Regie: Sarah Leonor)

Ins Blaue
von Ulrich Kriest

Zu Beginn, recht aufdringlich, aber nicht ohne Charme: Rilkes „Der Panther“, vorgetragen und interpretiert in einer französischen Schulklasse. Kurz darauf: Der aus der Haft entlassene Strafgefangene erzählt seinem Freund etwas …

Zu Beginn, recht aufdringlich, aber nicht ohne Charme: Rilkes „Der Panther“, vorgetragen und interpretiert in einer französischen Schulklasse. Kurz darauf: Der aus der Haft entlassene Strafgefangene erzählt seinem Freund etwas später, wie wichtig es nach einer längeren Isolationshaft war, dass andere Menschen einem versicherten, noch am Leben zu sein. Wenig später, in der Schule, geht es darum, dass Literatur vor Augen führt, dass ein anderes Leben möglich ist. Ein anderes, kein notwendig besseres.

Vielleicht trägt die französische Filmemacherin Sarah Leonor in ihrem Spielfilmdebüt „Au voleur“ etwas zu nachdrücklich zu unmissverständlich auf, worum es ihr zu tun ist, aber dafür ist sie selbst auch konsequent. Was als Milieustudie beginnt, entwickelt sich nach einer zufälligen Begegnung zu einer eher flüchtigen Liebesgeschichte: der Dieb Bruno hatte der nach einem Unfall bewusstlosen Aushilfslehrerin Isabelle zwar geholfen, aber die Gelegenheit auch genutzt, um sie zu bestehlen. Als man sich später in einer Kneipe erneut begegnet, kommen die beiden eher mühsam ins Gespräch und gehen dann gemeinsam in ihre Wohnung. Erst später, als die Polizei Bruno auf den Fersen ist, beginnt die »Liebe auf der Flucht« – und wie die Flüchtigen biegt auch der Film einfach von der Hauptstraße auf einen Feldweg ab. Doch während der Fluchtwagen bald im Morast stecken bleibt, geht die Reise von Bruno und Isabelle weiter, erst zu Fuß, später dann zu Wasser. Plötzlich befindet sich das Paar in einer urwaldartigen Flusslandschaft; die Milieustudie wird zur Robinsonade mit unerhörten Begegnungen und einem umwerfenden Gefühl von Freiheit, untermalt von geschmackssicher ausgewählter Folk-Musik. Doch das Abstreifen der zivilisatorischen Zwänge, daran lässt Leonor keinen Zweifel, ist nicht von Dauer. Der rousseauschen Idylle ist in sentimentalischen Zeiten keine Zukunft beschieden: wenn das Boot nach langer Zeit wieder in die Stadt hineintreibt, ist die kurze Liebesgeschichte zwischen Isabelle und Bruno beendet. Aber immerhin hat das Paar zuvor noch ein ausgesprochen schönes Abenteuer erlebt.

Der Mut und die Konsequenz der Filmemacherin, ihre Genre-Geschichte unvermittelt ins Poetische umzuleiten oder sich der Magie des Poetischen anzuvertrauen, zeugt von einem Talent, das künstlerische Risiken souverän meistert, indem es sich auf die Intensität der Atmosphäre der Flusslandschaft und das packende Spiel ihrer Hauptdarsteller verlässt. Am Ende hat der Zuschauer fast vergessen, dass er es lange Zeit erwartete, es hier mit einem ganz anderen Film zu tun zu bekommen. Gesprochen werden muss noch vom männlichen Hauptdarsteller! Bruno wird gespielt von Guillaume Depardieu, der im Oktober 2008 im Alter von 37 Jahren nach einer langen Krankengeschichte gestorben ist. Wenn Bruno in „Au voleur“ »beschädigt« seine Kreise zieht, dann verleiht Depardieu, der hier wie der provokative Gegenentwurf zum barocken Vater erscheint, dieser Figur schon rein körperlich eine berückende Intensität. „Au voleur“ ist einer der letzten Filme Depardieus gewesen und man kann sich nicht sicher sein, ob der Film ästhetisch Kapital aus den körperlichen Handicaps des Schauspielers zu schlagen wusste oder ob der Schauspieler mit Hilfe des Zufalls die Gelegenheit zu einem »großen Abgang« bekam – und diese Chance nutzte. Der passende Song dazu ist jedenfalls zu hören: „Poor Wayfaring Stranger“. Da hat es den Anschein, der Film sei im Mississippi-Delta gelandet. Toll!

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Yellow Cake – Die Lüge von der sauberen Energie

(D 2010, Regie: Joachim Tschirner)

Uranerz? Nein Danke!
von Andreas Thomas

„Yellow Cake“ ist ein Film über die Geschichte und Gegenwart des Uranerzbergbaus, der hoffentlich keine absehbare Halbwertszeit besitzt und so unter die Haut zu gehen vermag, um es defätistisch zu …

„Yellow Cake“ ist ein Film über die Geschichte und Gegenwart des Uranerzbergbaus, der hoffentlich keine absehbare Halbwertszeit besitzt und so unter die Haut zu gehen vermag, um es defätistisch zu sagen, wie sein Sujet, der namensgebende gelbe Kuchen, das reine Uran, denn, wie es Regisseur Joachim Tschirner seinen im Film viel beschäftigten Erzähler Hans-Eckardt Wenzel sinngemäß schon selbst sagen lässt: Filme über die verheerenden Folgen des Uranerzbergbaus werden deshalb kaum gedreht, weil sie vom unsichtbaren Skandal handeln. „Yellow Cake“ nun versucht möglichst viel von diesem Unsichtbaren sichtbar zu machen, und darin besteht seine Leistung, der Unspektakularität seines Gegenstandes zum Trotz.

Schon in früheren Filmen hatte sich der ehemalige DEFA-Regisseur mit einem der gern unterschlagenen Topoi der DDR beschäftigt, dem Großuranprojekt WISMUT. Auch „Yellow Cake“ zeigt die Geschichte des gigantischen thüringisch-sächsischen Uranerzbergbaus, der bis zum Jahr 1990 220.000 Tonnen Uran für die Sowjetunion förderte, rein rechnerisch reichte das aus für den Bau von 32.000 Hiroshimabomben. Für jede einzelne Tonne musste das 10.000fache an Gestein aus der Erde geholt, verarbeitet und irgendwo gelagert werden. Die „Entsorgung“ dieser radioaktiv verseuchten Halden zurück in den Erdboden – ein derzeit angelaufenes Langzeitprojekt ist damit beschäftigt – kostet allein zurzeit 600 Millionen an deutschen Steuergeldern.

Weil hier Zahlen offenbar besser erschlagen als Bilder, wimmelt es im Film davon, bedeutsam vom Erzähler geraunt, sodass es günstig ist, ein Presseheft zu haben, um sich bei ihren Aufzählungen nicht zu vertun. Unter den neueren umweltkritischen und menschenfreundlichen Dokumentarfilmen (z.B. „Unser täglich Brot“, „Working Man’s Death“) ist „Yellow Cake“ einer der wortreichsten. Sicherlich kann man schlecht DDR-Fernsehaufnahmen von glücklichen und dabei unsichtbar verseuchten Helden der Arbeit in der DDR der achtziger Jahre unkommentiert stehen lassen, aber wenn Tschirner dann später zur Belegung der These der Langzeitgefährdung einen(!) ehemaligen Kumpel zum Arzt begleitet, der ihm auf dem Röntgenbild seinen schon entfernten Lungenkrebs zeigt, und nebenbei geäußert wird, dass wohl vom Rest der Kollegen nicht mehr viele am Leben sind, dann erscheint die Beweisführung der Anklage ausgerechnet an diesem zentralen Punkt doch wieder etwas lax.

Ein offenbar ähnliches Problem der Unzeigbarkeit im Namibia der Gegenwart: der boomende Wirtschaftszweig Uranindustrie führt Menschen in Arbeit und zu Brot und Anerkennung, denen sonst nicht viele Möglichkeiten geblieben wären. Selbstbewusste, gesund wirkende hübsche Namibierinnen manövrieren nahezu haushohe Kipplader mit Urangestein durch die Halden. Auf die Frage, ob sie denn weiß, wie gefährlich es ist, sich permanent einer derartigen Strahlenbelastung auszusetzen, antwortet eine Frau, dass sie sich damit nicht sehr viel auseinandergesetzt hat. Anscheinend ist sie auch ganz dankbar dafür, dass die Firmenleitung gezielt die Gefahren für die Gesundheit der Arbeiter verharmlost, denn was sollte sie mit einem kritischen Bewusstsein aber ohne diesen Job tun? Eine Lehre dieses Films: Erfolgreiche Uranerzgewinnung benötigt außer dem richtigen Standort mindestens zwei Voraussetzungen: erstens Armut und Arbeitslosigkeit in der ansässigen Bevölkerung, und zweitens eine gezielte Desinformation der Arbeiter. Eine Eingangsthese im Film, wonach eine solche Firmenpolitik der Verschleierung nur in totalitären Systemen möglich sei, die Transparenz in einer Demokratie, wie im Fall WISMUT nach der deutschen Wiedervereinigung, ein sofortiges Ende dieser verantwortungslosen Bewirtschaftung erzwingen würde, widerlegt der Film sehr bald, wenn er zeigt, dass auch in Australien oder schon seit den fünfziger Jahren in Kanada das Geschäft mit dem Uran blüht, ohne bis heute größeren Widerspruch erfahren zu haben. Uranium City heißt gar die schöne Stadt in Kanada, die, wie einst die Goldgräberstädte um die Goldminen, an den Uran-Minen entstand, als die saubere Energie der Zukunft und die Energie der Abschreckung den gleichen verheißungsvollen Namen trugen.

Um zu bemerken, dass Demokratie, Lüge, rücksichtslose Gefährdung von Menschengesundheit und eine zeitlich unabsehbare Verseuchung der Welt durchaus zusammen gehen können, solange es den Interessen der Atomkonzerne dient, dazu brauchen wir nur die täglichen Nachrichten zu sehen. Die Fortsetzung der Laufzeiten von Atomkraftwerken, das hilflose Hin- und Herschieben von Atommüll sind zwei im Bewusstsein der Öffentlichkeit angekommene Ausprägungen einer verantwortungslosen Energiewirtschaft und der mit ihr kungelnden Regierungspolitik. Dass auch der Uranerzbergbau ein Faktor der unseligen Kette namens Kernenergie ist, dass auch er weltweite Proteste verdient, dafür will der Film „Yellow Cake“ ein Bewusstsein schaffen. Wünschen wir ihm trotz seiner etwas bedächtigen und altmodischen Wortlastigkeit eine hohe Halbwertzeit.