Waren die Arbeiter des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz auch Täter? Diese Frage stellt Tim Blake Nelson in seinem Film „Die Grauzone', der zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ nun auch in die deutschen Kinos kommt.
Der drei Jahre alte Film kommt hier am 27. Januar 2005 heraus, dem 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz. Zum ersten Mal richtet sich der Blick auf jene jüdischen Opfer, die in einem SS-geführten Kommando Mithäftlinge in die Gaskammern trieben, die Leichen entsorgten, Haare abschnitten, Goldzähne ausbrachen, den Körper verbrannten, die Knochen zermahlten und die Asche verstreuten. Waren diese Arbeiter im Industriebetrieb Auschwitz nicht auch Täter? Und ist, diese Frage zu stellen, tabu? Nicht für Regisseur Tim Blake Nelson. Für ihn war das Problem „unlösbar'. „Die Menschen dieses Films sind keine Helden.' Wer im Sonderkommando war, hatte Aussicht zu überleben, wenn auch nur für vier Monate. Aber darum ging es. Das waren viele Tage, sehr viele Stunden. „Bis heute bin ich nicht in der Lage zu sagen, was ich in dieser moralischen Grauzone getan hätte' (Nelson). Gedreht hat er den Film hart an den historischen Fakten entlang. Und in der Erwartung, in Amerika „Kontroversen hervorzurufen, besonders in der jüdischen Gemeinde'. Die jüdischen Männer des Sonderkommandos seien „weit entfernt von den in vielen Holocaust-Berichten meist weinerlich zusammengekauert dargestellten Juden. Sie waren oft grob und gottlos, und sicherlich schlichen sie sich nicht davon, um heimlich zu beten oder über Gott zu philosophieren. Sie machten einfach alles, um zu überleben.'
Keine Frage, dass die 2200 jüdischen Arbeiter der Sonderkommandos Monate vor ihrer physischen bereits der psychischen Vernichtung ausgesetzt waren, und wir werden in das moralische Dispositiv hineingezogen – in Kollaboration und Korruption. Mit Uhren und Schmuck der in der Gaskammer Getöteten erhandeln sich Angehörige der Todeskommandos beim SS-Personal manche Annehmlichkeit. Der Film beschönigt nicht. Der Zuschauer ist ziemlich gefordert. Soll er sich empören über jüdische Leichenfledderer, die ihrerseits Todeskandidaten sind?
Held oder eben Nicht-Held der „Grauzone' ist der Gerichtsmediziner Dr. Miklos Nyiszli, der 1944 zusammen mit den ungarischen Juden nach Auschwitz deportiert worden war. Er überlebte. 1946 veröffentlichte er seine Erinnerungen unter dem Titel „Ich war der Pathologe von Dr. Mengele im Auschwitzer Krematorium'. So, wie es im Buch steht, zeigt es der Film gleich zu Anfang: „Ein Angehöriger des Sonderkommandos schläft in einem geheizten, gelüfteten, sauberen Raum, auf weichem Kissen, im sauberen Bett, unter einer warmen Decke. Seine Verpflegung ist gut, seine Kleidung nicht minder. Er hat etwas zum Rauchen und zum Trinken.' Austern für alle. Einen Zweireiher, weißes Hemd und Schlips für den jüdischen Pathologen, Mengeles Zwillingsforscher.
Dramaturgisches Gegengewicht ist im Film der einzige bewaffnete Häftlingsaufstand im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Beteiligt waren neben polnischen Partisanen und jüdischen Zwangsarbeiterinnen auch Juden der Sonderkommandos. Die Krematoriumsöfen wurden am 7. Oktober 1944 gesprengt, ein Vierteljahr vor der Befreiung. 451 Angehörige der Kommandos wurden erschossen. Mengeles jüdischer Pathologe war Zuschauer, unter den SS-Leuten, lässig eine Zigarette in der Hand. Er hatte den Plan verraten, wenn auch nur im Groben. Auch das ist historisch gesichert. Aber kommt es darauf an, wenn man dem Film auch ohne legitimatorische Beteuerungen glaubt? Ergreifend ist die Off-Stimme eines Mädchens, das die Gaskammer überlebt hatte, aber gleichwohl getötet wurde: „Ich fange schnell Feuer. Der erste Teil von mir steigt hoch in die Luft und verschmilzt sich mit dem Rauch der anderen, ein anderer Teil kommt zermahlen in den Fluss. Der Rest wird zusammengefegt. Grauer Staub legt sich auf Schuhe, auf Gesichter, auf alles, und die Arbeit geht weiter.' Wir sehen im Kino Flammen aus den Schornsteinen schlagen, schwarzer Rauch quillt, die Farben verblassen, das Bild wird weiß.
Es ist richtig, dass der Film illustriert, was das Wort vermittelt. Schwierig wird es dann, wenn sich etwas nur als Fiktion wahrnehmen lässt. Über die Merkwürdigkeit, dass in der „Grauzone' Mengeles Pathologe nicht mit Dr. Mengele, sondern mit SS-Oberscharführer Muhsfeldt zu tun hat, kommt man jedoch hinweg, weil diese Rolle der Co-Produzent des Films Harvey Keitel („Pulp Fiction') spielt – eine Hauptrolle. Auch versteht man, dass jemand wie David Arquette einen KZ-Insassen spielt, obwohl sein Gesicht nicht hinpasst: Da er für die Kassenschlager »Scream 1, 2 und 3« 1998 den Blockbuster Favorite Actor Award als Bester Schauspieler bekommen hat, verhilft er der „Grauzone' zu erhöhter Aufmerksamkeit. Die Stars lenken ab, aber man kuckt hin, besonders wenn es sich um Steve Buscemi („Pulp Fiction') in der Rolle des Juden Abramovics handelt.
Aus dem Gleis kommt man eher bei Einsprengseln im Film, die den großen moralischen Entwurf ohne Not fragwürdig machen. Denn kann ein Häftling, auch wenn er privilegiert ist, den SS-Führer des Todeskommandos, der Alkohol im Dienst getrunken hat, wirklich erfolgreich mit dem Satz erpressen: „Ich werde Ihren Vorgesetzten mitteilen, dass Sie nicht diensttauglich sind'? Und können in der Gaskammer tatsächlich junge Leute überleben, die sich niederwerfen, den Mund auf den Boden pressen und damit nicht die volle Dosis einatmen?
Sicherlich spricht es nicht generell gegen einen Film, wenn man mehr wissen will. „Die Grauzone' macht aufmerksam auf die Erinnerungen, die Miklos Nyiszli 1946 geschrieben hatte. Das Buch ist unter dem Titel „Im Jenseits der Menschlichkeit' neu erschienen. Überarbeitet liegt auch wieder das nüchterne und detaillierte Standardwerk zur Geschichte der jüdischen Sonderkommandos vor: „Zeugen aus der Todeszone'. Einbezogen sind der Aufstand 1944 und der Versuch der überlebenden Kommandoangehörigen, das moralische Dilemma aufzuarbeiten.
Der Film beruft sich auf die Zeugnisse und historischen Forschungen zu diesem Thema – und auf die erste Gestaltung in einem Bühnenstück, das Regisseur Tim Blake Nelson 1996 an einem Off-Broadway-Theater inszeniert hatte. Wenn „Die Grauzone' jetzt wieder auf diese Grundlagen zurückführt, dann hat der Film viel geleistet – bei uns, die an der moralischen und traumatischen Implikation vorbeigesehen haben. Betrifft das große Grauzonen-Dilemma niemanden hier? Nelson „hatte eigentlich einen Aufschrei aus der amerikanischen jüdischen Gemeinde erwartet'. Der Aufschrei blieb dort aus.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 02/2005