Es gibt ja diese Menschen, die über alles Bescheid wissen und denen man nach einer Weile nicht mehr zuhören mag. Und es gibt Filme, denen man nicht mehr zusehen will. Den ewig gleichen Beziehungsdramen beispielsweise. »21 Gramm« ist dagegen ein Film zum Zusehen. Endlich mal wieder neugierig sein, auf Menschen, auf Orte. Wer zuschaut, wird gepackt und aktiviert; er gerät da in etwas hinein, was geschieht, was merkwürdig ist und immer vertrauter erscheint. An Plätzen, wo er noch nie war. In Memphis Tennessee etwa, im Winter. Was ist da los? – Da will man noch etwas von der Welt erfahren, die unbegreiflich erscheint, aber begriffen werden will.
Der mexikanische Regisseur Alejandro González Iñarritu (»Amores Perros«) hat diesen Blick des Malers, der erst mal aufnimmt, was ihm der Ort sagen will, bevor er sich dran macht und gestaltet. Und der, der nicht nur über sich schreiben und die Welt belehren will, notiert sich erst mal, was er in Gesprächsfetzen und zufälligen Eindrücken mitbekommt, bevor er das in eine Form bringt. – Ich sag das mal so penetrant, weil das Industrieprodukt Film uns, die im Kino etwas aufnehmen wollen, aus der Übung kommen lässt. Wir könnten da genausogut Rezipienten des Films sein, wie der Künstler Orte, Menschen und Geschehen rezipiert. Statt dessen werden wir wie Konsumenten behandelt: kauen, schlucken, verdauen oder aber das Fastfood auskotzen und fertig. Davon haben wir nichts. Vielleicht von meinen belehrenden und für die Beteiligung an »21 Gramm« kontraproduktiven Vorbemerkungen (nein, eigentlich Hauptbemerkungen) auch nichts.
Aber es muss raus: Augen öffnen und Ohren spitzen bitteschön! Wir sind hier weder im Diskurs noch in der narrativen Handlung. Der Film hat Handlung. Aber keine, die sich angemessen erzählen ließe. Wer’s dennoch tut, lügt. Oder bedient das Produkt »Filmkritik« und schreibt, wie schwer es einem der Film macht, Handlung wiederzugeben. In Konkret ist es möglich, statt dessen den Film zu beschreiben. Wie man ein Bild beschreibt. Und es dem Zuschauer zu überlassen, sich das Narrative selbst zusammenzupuzzeln. Und seinen Spaß, seine Aufregung zu haben.
Tschuldigung, schon wieder diese, meine Bemerkungen. Aber ich bin hoffentlich wieder beim Beschreiben. Beim Beschreiben, wie diese ungewöhnliche Installation namens »21 Gramm« funktioniert und wie sie bedient werden kann. Was genau das Rezeptionsendergebnis ist, ist nicht vorauszusagen. Möglicherweise gibt es genausoviel Rezeptionsversionen wie Köpfe im Kino. Im Konkret-Umfeld war die Meinung geteilt: ja, nein. Mau lau gibt’s nicht. Das machen die »21 Gramm«-Emotionen.
Das Herz! Das Sperma! Der Herzkranke wartet auf ein Spenderherz. Er vertreibt sich die Zeit mit Kettenrauchen und Husten. Die frustrierte Ehefrau wartet auf einen eigenen Kliniktermin. Auf die Transplantation des Samens, den der todkranke Gatte gespendet hat. Halten wir fest, dass der, dem gespendet wird (Herz), vorher gespendet hat (Samen) – nein, das ist es nicht. Gut, dann: der Todkranke weiß auch nicht weiter. Er raucht. Therapeutisch kontraproduktiv. Und die Ehefrau weiß es nicht besser. Die Beziehung war schon am Ende gewesen. Jetzt flüchtet sie sich in eine Position, in der sie sich einmauert. Liefe es mit dem Gatten schief, soll es nach dessen Tod mit der künstlichen Befruchtung klappen. Der Mann in mir, das Kind dann neben mir. Familie. Jetzt klappt’s.
Wie finden Sie diese Mordsinterpretation? Scheiße. Aber wie wär’s mit dem hyperrealistisch Dokumentarischen: Die Kamera hält fest, was ihr vors Auge kommt. Auf der Werbetafel eines verlassenen Kinos steht: God bless the USA. Der Patriotismus auch eine Haltung, in die sich flüchtet, wem’s zu kalt wird? Aber das dokumentarische Auge sucht keine Metaphern. Die Handkamera läuft hinterher. Wir sehen die Darsteller oft von hinten. Werden sie eingeholt, sucht die Kamera einen Blick zu erhaschen. Gern unter einem Ellenbogen hindurch. Vorn ist’s unscharf. Die Kamera will nicht eingreifen. Was sie aufnimmt, ist benutzt. In der Gefängniszelle ist der Putz abgeblättert. Sowas kriegt kein Studio hin. Was unaufgeräumt, trostlos, schmutzig ist, das lässt sich nicht herstellen, aber wiedergeben. »21 Gramm« ist ein Dokumentarfilm. An Originalorten gedreht. Und die Statisten sind nicht Laiendarsteller, sondern das, was sie in ihrem Leben darstellen: Kardiologen, Krankenschwestern, Stammkneipengäste. Und beim Samenspenden läuft zur Ermunterung ein Pornofilm, der da immer läuft. Der echte Arzt stellt ihn echt an und gibt dem Spender (ausnahmsweise Sean Penn) ein echtes, abgegriffenes und wahrscheinlich nicht ganz trockenes Exemplar von »Penthouse«. Und wenn man dazu wahrnimmt, dass selbst die Stars sehr viel mehr tun, als das Gesicht hinzuhalten und ihre Rolle zu spielen, wird’s nahegehend und persönlich. Besonders die Frauen gehen über die Spielfilmgrenze hinaus. Als Zuschauer kann man wählen, sich auszuklinken und seinerseits eine feste Position einzunehmen oder sich hineinzerren zu lassen in das, was nahe geht und näher kommt – und das Feld der offenen Position besetzt.
»21 Gramm« ist also, was die Kamera, die Selbstdarsteller und die sich entäußernden Schauspieler betrifft, authentisch. Jawohl. Gleichwohl ist der Film kunstvoll gepuzzelt. Der Schnitt holt gern eine Großaufnahme heraus. Dann gibt’s ein stehendes Bild. Zum Abtauchen in mögliche Verknüpfungen und Assoziationen. – Wir hatten die Position des Rauchens-trotz-allem. Auch die der Heilen-Familie-wider-alle-Vernunft. In einem anderen Erzählstrang gibt es auch die tatsächlich heile Familie. Bloß, was heil ist, geht auch kaputt. Die echt glückliche Frau verliert Mann und Kinder durch einen Unfall. Aber wir kennen das aus »Amores Perros«: Was ihr bleibt, ist die Flucht in die Position Drogensucht.
Der Todesfahrer ist ein gewöhnlicher Krimineller, mit Erfolg resozialisiert. Er hatte gemeint, eine feste Burg im Glauben an den Herrn gefunden zu haben. Es wird schwer katholisch. Wir nehmen an endlosen Gebeten, Gesängen und Alles-besser-wissen-Ritualen teil. Er zwingt das weinende Töchterchen, dem bösen Bruder auch den anderen Arm hinzuhalten, damit dieser auf jenen schlagen kann. Dann schlägt er den Jungen. Aus religiöser Überzeugung. Sind wir jetzt wütend auf den Film oder auf den Mann, der eine feste Position eingenommen hat? Keine Angst, der Film geht weiter. Der Herzkranke-mit-dem-neuen-Herz schläft mit der Witwe, derem Gatten ebendieses Herz entnommen worden war. An Links ist kein Mangel. Wer, wie eben bei den Großaufnahmen, nicht draufdrückt und damit herumspielt, hat noch nie einen Rechner bedient.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/2004