Gewiss, dieser Dokumentarfilm konzentriert sich auf einen Zeitzeugen, und doch wäre es eine Unverschämtheit, den Griechen Argyris auf diese Funktion zu reduzieren. Er ist nicht dazu da, Fakten von sechzig Jahren Zeitgeschichte zu vermitteln. Argyris ist Argyris, eine Persönlichkeit, für die man empfindet und die man besingen kann, egal, ob der Dreijährige dem SS-Massaker von Distomo entkommt oder ob der Sechsundsechzigjährige heute noch dafür kämpft, dass die BRD für die Opfer einsteht.
Der Film setzt auf Pausen, in denen Landschaftstotalen regieren und in denen sich Gefühle regen können – von wütend, verletzt und traurig bis zu stolz und glücklich. Wie schafft es jemand, ein Massaker nicht zu bewältigen, was nur eine andere Form von Verdrängung wäre, sondern mit dem Trauma zu leben. Argyris lebt. Der Film ist großartig.
1944, wenige Tage nach der Invasion in der Normandie, massakriert die SS in Distomo 218 Dorfbewohner, um sich für einen Partisanenangriff zu rächen. Argyris wird Waise. Die Eltern und dreißig Verwandte sind tot. Er entkommt, weil, wie er sich erinnert, einer der SS-Männer ihm bedeutet wegzulaufen. Das ist einer der Fakten, die dem Film Kontur geben. Wie, jemand von der mordenden Einheit verhilft einem Kind zur Flucht? Das passt nicht in das Bild, das wir uns machen. Genauso wie das Vorgehen der Geheimen Feldpolizei gegen den SS-Hauptsturmführer Fritz Lautenbach, der den Einsatzbericht gefälscht und das Massaker als Kampfhandlung deklariert hatte. Wie? Was? Wir werden auf mehr Störfaktoren treffen, die uns wach und hellhörig machen. Wer zuschaut, wird aufmerksam werden.
Um so größeres Gewicht bekommt später im Film das kaltschnäuzige Verhalten der deutschen Botschaft in Athen. 1994 wird der Botschafter eingeladen, an der Gedenkfeier zum 50. Jahrestag des Massakers teilzunehmen. Er reagiert nicht. Viele Nachfragen bleiben ohne Antwort. Aber zur Feier erscheinen inkognito zwei Sekretärinnen, die wörtlich protokollieren, was gesagt wird. Grund genug, wütend und beschämt zu sein. Aber wieder baut der Film ein Gegenbild ein. Eine Geste, die guttut: wenn Willy Brandt in Warschau auf die Knie geht. »Ich schäme mich.« Willy Brandt ist Deutscher und empathisch. Der Botschafter Dr. Albert Spiegel ist auch Deutscher und erbarmungslos – auch wenn er viel zu spät eine diplomatische Floskel absondern wird.
Argyris spricht deutsch, schwyzerdütsch, weswegen im Film Untertitel weiterhelfen. 1948 war er in ein griechisches Waisenhaus gekommen. Als Achtjähriger, schwer unterernährt, hatte er das Glück, ins Schweizer Pestalozzidorf Trogen zu kommen. Deutsch wird seine Muttersprache. Als Schüler korrespondiert er mit Albert Einstein. Abitur, Studium, Gymnasiallehrer – und die überlebenden Verwandten in Griechenland sind schwer gestört: Argyris spricht die Tätersprache! Darüber kommen sie nicht hinweg. Auch wir notieren Widersprüche. Der Film glättet sie nicht. Dafür gebührt ihm Lob. Denn nun müssen wir einsehen, dass die hehren Ziele der Pestalozzipädagogik (»im Geiste der Versöhnung«) sich mit dem, was im Pestalozzifilm »Unser Dorf« passiert, nicht vereinbaren lassen. Argyris, Schüler, hatte in diesem Spielfilm eine Rolle. Wir sehen einen Ausschnitt. Die Waisen, Opfer der Deutschen, haben jetzt Tätergesichter. Erbarmungslos verfolgen sie deutsche Kinder, die auch im Dorf leben wollen. »Eine Hetzjagd« (Argyris). Wir haben 1953, Opfer sind die Deutschen, der Film lief auf der Berlinale und bekam den Goldenen Bären. Unter den Titeln »Sie fanden eine Heimat« resp. »Kinder in Gottes Hand« startete er gleich nach dem Filmfest in westdeutschen Kinos, 1960 lief er in der ARD.
Unser Held findet nicht in Ordnung, was in diesem Film gespielt wurde. Wieder eine heilsame Störung. Die wundersame Opferverkehrung verdankt sich der Westmächtepolitik im Kalten Krieg. Westdeutschland wurde 1953 durch das Londoner Abkommen von der griechischen Reparationsforderung (7 Milliarden US-Dollar) freigestellt. Das Wirtschaftswunder gelang auf Kosten Griechenlands und auf Kosten der Opfer von Distomo. Dies Fazit kann, wer will, aus dem Lebenslauf des Titelhelden Argyris ziehen und aus dem, was er an Zeitgeschehen transportiert.
Der Film bleibt bei seiner Biographie und bei dem überraschend reichen Material an zeitgenössischen Filmaufnahmen und Fotografien. Wir sehen Argyris älter werden, Astrophysik studieren und in der Kuppel der Sternwarte der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich das Himmelsbild studieren: »strahlend, glänzend, schützend«. Ist das eine Antwort auf das, was er als kleines Kind erlebte? Auf das, was er noch erleben wird? Dem Sog dieses Films ist nicht zu widerstehen. Aber Fragen muss sich der Zuschauer selbst beantworten. Aktiv zu werden – das ist die beste Wirkung des Films.
Ende der sechziger Jahre beteiligt sich Argyris am Widerstand gegen die brutale Militärdiktatur der (von den Westmächten unterstützten) Obristen. Mit Erfolg. Was in den folgenden Jahrzehnten nicht zu gelingen schien, war, den Opfern von Distomo Gerechtigkeit zu verschaffen. Argyris hat nach Mauerfall und 2+4-Vertrag endlich etwas in der Hand. Der Film wendet sich im Schlussteil der Entschädigung zu, die jetzt möglich wird. Die BRD weigert sich. Die Prozesse bewirken Öffentlichkeit. In Athen steht im Jahr 2000 das Goethe-Institut vor der Zwangsversteigerung. Jetzt kommt es zur diplomatischen Großaktion. Der Bundesgerichtshof bestätigt »eins der abscheulichsten Kriegsverbrechen«. Endlich ist dieses Wort gesagt. Aber gezahlt wird nicht. Begründung: Das Massaker in Distomo sei »eine Maßnahme im Rahmen der Kriegsführung« gewesen (Originalton deutsche Botschaft Athen). Damit schlägt sich der deutsche Staat auf die Seite des SS-Führers mit seinem gefälschten Bericht. Und wieder triumphiert die SS über die Geheime Feldpolizei.
Zurzeit ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte damit befasst, und der Arbeitskreis Distomo in Hamburg ist aktiv geworden. Wieder horcht man auf. Die Hamburger Rechtsanwältin Gabriele Heinecke, Spezialistin für die Aufklärung von Naziverbrechen, erzählt im Film von ihrem Vater. Wir sehen ihn in Uniform. Er war Hitler und Goebbels nah. »Was hast du gemacht?« – »Ich war ein kleiner Nazi.« Eine Antwort war das nicht. Aber es entsteht die Motivation aufzuklären.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2007