Archiv der Kategorie: Filmkritik

Liegen lernen

(D 2003, Regie: Hendrik Handloegten)

Just like youth never happened
von Andreas Thomas

Rückwärts wendet sich „Liegen Lernen“, um was zu tun? Uns Mittvierzigern Erinnerungen an Erinnerungen zu schenken? Uns mit unserer belanglosen Achtziger-Jahre-Adoleszenz zu versöhnen? Interessant ist, dass Filme über Jugend in …

Rückwärts wendet sich „Liegen Lernen“, um was zu tun? Uns Mittvierzigern Erinnerungen an Erinnerungen zu schenken? Uns mit unserer belanglosen Achtziger-Jahre-Adoleszenz zu versöhnen?

Interessant ist, dass Filme über Jugend in den Achtzigern – die immer häufiger gemacht werden, weil die, die in den Achtzigern jung waren, langsam arriviert genug sind, Filme machen zu dürfen – völlig anders aussehen als die Filme, die in den Achtzigern über das Jungsein in den Achtzigern gedreht wurden. Hauptmerkmal dieser, auch in „Liegen Lernen“ versuchten, Vergangenheitsbewältigung: Das war alles nicht so grell und vor allem nicht so witzig, sondern ziemlich öde, normal und dumpf. Und wenn die Theorie stimmt, dass in repressiven Zeiten besonders viele Komödien gemacht werden, dann sind all die hysterisch-lustigen Filme der Dörries und wie wie sie alle heissen, in denen Katja Riemann und die ganz verrückte Zweier-, Dreier-, Viererkiste die Hauptrolle spielte, bester Beleg dafür, dass der deutsche Film umso unterhaltender und apolitischer war, je dröger und apolitischer seine Zeit wurde, sprich: die Achtziger waren ganz schön schlimm!

Irgendwas hat sich seitdem im deutschen Film geändert. Die spießig-skurrilen Komödien, deren Protagonisten dadurch nervten, dass sie psychomäßig null gemeinsame Schnittmenge mit uns hatten, sterben langsam aus, und spätestens seit Hans-Christian Schmids „23- Nichts ist wie es scheint“ versuchen Regisseure die deutschen achtziger Jahre aus der Erinnerung zu rekonstruieren, was mal besser, mal weniger gelingt, aber stets zu interessanteren Ergebnissen führt, als die zeitgenössischen Exponate (sieht man mal von Ausnahmen ab, wie Detlev Bucks Frühwerk).

Helmut (Fabian Busch) soll erwachsen werden – fordert seine Freundin. Entweder ein Kind machen oder Schluss. Eigentlich liebt er sie ja wirklich, aber um mit seiner eingeschliffenen passiv-verantwortungsfreien Lebenshaltung endlich ein Ende machen zu können, meint er, sich und uns erklären zu müssen, wie und wodurch er zu dem geworden ist, der sich vor finalen Bindungsentscheidungen scheut. Also erzählt er – oder besser: zählt er auf -, welches Mädchen er wann (nämlich in den Achtzigern), warum und wie geliebt hat: Außer einer, der ersten, hat er nämlich nie eine geliebt – bis offenbar jetzt.

Und jetzt tritt der Film in seine Hauptleistungsphase, er erweckt das Jahr 1982 recht schön zum Leben: Die Schulklasse, die Klassenfahrt nach Berlin, die modisch politisch überengagierte Klassenschöne Britta, mit ihren liberalen Eltern, die sie mit Vornamen anspricht, während Helmuts Eltern Vater und Mutter bleiben, in seinem beengten kleinbürgerlichen Zuhause. In diesem Teil stimmt so manches, und selten wurde eine erste Verliebtheit engagierter ausgemalt als in diesem Film. „Liegen Lernen“ beharrt dabei ausschliesslich auf der subjektiven Perspektive des Helden, aber das schadet nicht, denn mit ihm gemeinsam bekommen wir (später) auch seine Irrtümer und Fehleinschätzungen zu sehen. Schöne Einsichten bekommen wir, über die damalige Jugend, die insgesamt noch nicht so cool oder abgebrüht war, sondern – und das mag ich bestätigen – verglichen mit heute naiv und nett (oder ist heute Jugend naiv und cool?).

Schwach ist der Film in Punkto Musik. In einem coming of age-Film über die Achtziger, eine musikalisch ziemlich wichtige Zeit, drängt sich eine akustische Illustration der inneren Befindlichkeiten geradezu auf, doch über Kansas’ „Dust in The Wind“ und Fischer Z’s „Berlin“ geht der Film nicht nachhaltig hinaus, „like punk, wave, hiphop never happened“. Vielleicht – und da nähern wir uns auch schon meinem Haupteinwand – liegt dieser Mangel aber in der Langweiligkeit des Protagonisten, der an keiner Stelle so vital ist, dass er die Erregung vitaler Popmusik, von der es in Achtzigern jede Menge gab, vernimmt. Wenn Popmusik den Gefühlen Jugendlicher Ausdruck verleiht, dann ist unser Helmut – misst man ihn an der ihm zugeordneten Musik – überhaupt kein Jugendlicher. Tanzt er z.B. jemals?

Weniger einfühlsam und eher oberflächlich begleitet der Film Helmut – nach Brittas plötzlichem Abgang – durch seine Twen-Zeit. Studenten-WG, Studium, Beziehungen, Fremdgehen. Die westdeutschen Achtziger bestehen für Helmut fast nur aus Liebesbeziehungen und Helmut Kohl – vermittelt uns der Film. Und letzterer muss irgendwie unangenehm gewesen sein. Hier wird der Film zu unaufmerksam, zu mager, zu privatim, zu weit weg vom Achtzigerzeitgeist, zu sehr liebes Unterhaltungskino, als dass er treffend oder gar kritisch sein könnte.

Je länger „Liegen Lernen“ dauert, desto ungenauer werden auch seine Figuren. Die Mauer fällt. Britta taucht wieder auf – im ekstatischen, großdeutschen Berlin, völlig verändert, wie nach einer Gehirnwäsche; möglich wäre dergleichen, aber erklärt wird ihre persönliche Wandlung gar nicht. Die Personage gerät oft zu oberflächlich. Schließlich ordnen sich Handlung und Figuren zu sehr einem zu konstruierten Script unter, in dem Helmuts Egoperspektive und sein programmatisches Erwachsenwerden Prämisse sind.

Vorweg genommen sei: Er wird es …
Und dass der Film tatsächlich damit endet, dass Helmut erwachsen wird, am Ende nicht nur „liegen“ (schließlich fällt er noch einmal voll auf die Fresse) sondern auch „lieben“ gelernt haben will, was der Titel ja unheimlich raffiniert impliziert, ist zu schlicht und einfach, als dass man es nun noch glauben möchte. Dieses Erwachsenwerden nach Plan offenbart wohl am ehesten, wie unerwachsen es in den Köpfen von Romanvorlagenautor/Regisseur zugehen mag, und so bleibt „Liegen Lernen“ ein teilweise netter, da partiell stimmige Atmosphäre produzierender Film, der leider insgesamt eher etwas für reichlich angepasste, von klein auf Vierzigjährige ist, zu denen ich mich dann doch nicht zählen möchte….

„Lügen lernen“ wäre vielleicht der treffendere Titel. Sich selbst belügen lernen – darüber, dass man nichts verpasst hat. Und dann ganz schnell erwachsen sein? Weitere Vierzigjährige zeugen? Und gut is?
Oder wie?

Nee, danke! Punk rules! Oder irgendwas in der Art …

Love Life – Liebe trifft Leben

(NL 2010, Regie: Reinout Oerlemans)

Defekte Welt
von Wolfgang Nierlin

Die Sätze aus dem Off, in der Vergangenheitsform gesprochen, verheißen nichts Gutes: „In meiner Welt lief einmal alles perfekt. Ich hatte alles unter Kontrolle.“ Der erfolgreiche Werbefachmann Stijn (Barry Atsma) …

Die Sätze aus dem Off, in der Vergangenheitsform gesprochen, verheißen nichts Gutes: „In meiner Welt lief einmal alles perfekt. Ich hatte alles unter Kontrolle.“ Der erfolgreiche Werbefachmann Stijn (Barry Atsma) sagt sie, mit Blick aufs Meer, das im Gegenlicht flirrt. Der Anfang von etwas Neuem, von schweren Erinnerungen an das Vergangene überlagert, markiert den Beginn von Reinout Oerlemans in den Niederlanden äußerst erfolgreichem Film „Love Life“, der auf Raymond van de Klunderts autobiographischem Bestseller-Roman „Mitten ins Gesicht“ basiert. Die retrospektiven Worte aus einer Phase des Übergangs deuten also auf einen Riss, von dem Oerleman mit seinem Film im Folgenden erzählt.

Dieser geht durch die „perfekte“, aus extrem viel Wohlstand und noch mehr Spaß bestehende Welt von Stijn und Carmen (Carice van Houten), einem verheirateten Paar mit Kind, das nach dem Motto „carpe diem!“ lebt (was im Verlauf des Films eine Bedeutungsverschiebung erfährt). Ihr materialistischer Lebensstil spiegelt sich in der oberflächlichen Hochglanzästhetik des Films, der das echte Leben nur streift und in Klischees reproduziert. Zu diesen gehört auch Stijns notorisches Fremdgehen. Beruflicher und sexueller Erfolg gehen auf der Überholspur des Lebens offensichtlich Hand in Hand. Dass das nicht so bleiben kann, ist fast auch schon wieder ein Klischee (und gewissermaßen eine lebensanschauliche Problemstellung des Films), bezieht sich im vorliegenden Fall aber auf die bittere Wahrheit einer authentischen Geschichte.

Denn bei Carmen wird Brustkrebs diagnostiziert, was sie, die sich gar nicht krank fühlt, zunächst nicht glauben kann. Mit spielerischem Unernst und einer Portion Trotz klebt sie sich das Wort „perfekt“ auf die eine und das Wort „defekt“ auf die andere Brust. Doch die strapaziösen Therapien, die auf die schreckliche Diagnose folgen, stellen die Beziehung der beiden auf eine harte Belastungsprobe, die sich bis zur Ehekrise steigert. Die Einschränkung der alltäglichen Funktionstüchtigkeit, schmerzliche körperliche Veränderungen und die Entbehrung der gewohnten Lebensfreude machen aus der Erkrankten eine andere Frau und führen das Paar immer deutlicher in die Sprachlosigkeit. Stijn reagiert auf diese psychische Überforderung – in einem materialistischen Sinn – mit der Flucht in die Arme der Künstlerin Roos (Anna Drijver), was der Regisseur in starken, aber auch überzeichneten Kontrasten zuspitzt.

„Love Life“ behandelt ernste und wichtige Themen, zum Beispiel die Frage nach der Tragfähigkeit einer Liebesbeziehung im Angesicht des Todes, mit den falschen filmischen Mitteln. So fehlt den Bildern jene Distanz und Konzentration, die sie vom bloß Illustrativen zu einer Vertiefung führen könnten. Der zur Disposition stehende Materialismus des Sujets setzt sich gewissermaßen in dessen Bebilderung fort. Dabei ist Oerlemans Vertrauen in seine Bilder nicht besonders groß, denn fast jede Szene und vor allem auch die Übergänge zwischen ihnen sind zur „gefühlsmäßigen Einstimmung“ mit der thematisch passenden Musik zugekleistert. Erst im letzten Teil, wenn das Paar wieder zueinander findet und sich auf einen langen, qualvollen Abschied vorbereitet, gewinnt der Film an Intensität, gelingen ihm berührende Momente.

Mind Game

(J 2004, Regie: Masaaki Yuasa)

Geburt als Selbstzweck
von Carsten Moll

Am Ende ist alles gut. Zumindest bei den großen Animationsfilmen, die oft einen Hang zum Essentialistischen haben und immer noch am liebsten von richtigen Prinzessinnen, richtigen Jungen und der einzig …

Am Ende ist alles gut. Zumindest bei den großen Animationsfilmen, die oft einen Hang zum Essentialistischen haben und immer noch am liebsten von richtigen Prinzessinnen, richtigen Jungen und der einzig wahren Liebe erzählen. Das Ganze wird natürlich immer wieder geupdatet, deshalb kann die Prinzessin jetzt auch mal schwarz sein und der Junge ein Roboter, sogar ogersexuelle Paare dürfen ja mittlerweile heiraten. Die Botschaft ist: Egal wer ihr seid, findet es raus und dann ab auf euren Platz. Familie gründen, den Planeten retten. Baby, you were born this way.

Anders beispielsweise „Mind Game“: Der Film erzählt sich nicht von A nach B, Anfang und Ende bleiben offen, dazwischen gibt es Ellipsen, Loops und Flashbacks. Und immer wieder Konjunktive, wie man sie in dieser Fülle vielleicht noch aus Joachim Triers „Auf Anfang“ kennt. „Mind Game“ ist ein einziges Abklopfen und Zelebrieren von Möglichkeiten, Gott (oder besser: „Gott“) ist hier passenderweise auch kein unbewegter Beweger, sprich Animator, sondern selbst ein Cartoonwesen, das im Sekundentakt die Gestalt wechselt. Noch wildere Animationen hat da bloß die fantastische Sexszene zu bieten, die mehr Animationsstile verbindet als so manche Trickfilmanthologie.

„Mind Game“ zeigt immer wieder Geburten (auch Wiedergeburten) und Schöpfungen in allerlei Varianten. Kinobilder, Träume, Kochkunst und Popowackeln als Ausdruckstanz verweisen ebenso wie die stilistische Vielfalt aus 2D, 3D, Rotoskopie und Zeichentrick immer auf ein Mehr an Möglichkeiten, auf Ungezeigtes und Vergessenes. Wo die Produktionen von Pixar, Ghibli und Co. sich damit begnügen sentimentale Welten heraufzubeschwören und in Nostalgie schwelgen, da stagniert der Animationsfilm zumindest in künstlerischer Hinsicht und verkommt zu perfekt inszenierter Familienunterhaltung mit pädagogischer Moral. Und wo einst Dumbo im Alkoholrausch zumindest noch die Parade der rosa Elefanten erleben durfte, da hat die kochende Ratte in „Ratatouille“ beim Verzehr von Gemüse bloß noch ein paar lahme Farbkleckse vor ihrem inneren Auge. Was Animation sein kann, zeigt „Mind Game“. Ein möglicher Anfang.

Zur DVD:
Bild und Ton sind einwandfrei, neben der deutschen Tonspur findet sich auch der japanische Originalton samt optionalem deutschem Untertitel auf der DVD. Als Extras gibt es Trailer, Interviews, Einblicke in den Animationsprozess und Musikvideos.

Grenzfälle – Es geschah übermorgen

(F / D 1971, Regie: Claude Boissol, Victor Vicas)

Pflaumen zu Diamanten
von Michael Schleeh

Als an der Börse urplötzlich die Kurse durchzudrehen beginnen, da weiß nur ein Mann, warum: ein Forscher im Anzug mit Brille und Halbglatze hält das Geheimnis zur Diamantenherstellung in Händen. …

Als an der Börse urplötzlich die Kurse durchzudrehen beginnen, da weiß nur ein Mann, warum: ein Forscher im Anzug mit Brille und Halbglatze hält das Geheimnis zur Diamantenherstellung in Händen. Doch keiner will auf ihn hören. Später, als er dann tot vor dem Gebäude liegt, da findet sich ein Pflaumenzweig im Aktenkoffer und verwirrende, wissenschaftliche Dokumente. Ein äußerst mysteriöser Fall! Das ruft die Agenten Barbara Andersen (Elga Andersen) und Yan Thomas (Pierre Vaneck) auf den Plan: sie arbeiten für das „Internationale Institut zum Schutz der Wissenschaften“. Ihre Aufgabe ist es, zu verhindern, dass neue umwälzende Erfindungen in krimineller Weise missbraucht werden und so die internationale Lage destabilisiert wird. Und hier haben wir einen solchen Fall: denn unter dem Mikroskop zeigt sich, was sonst verborgen bleibt. Die Zwetschge kann Dank ihres hohen Kohlenstoffanteils mit einigen trickreichen chemisch-physikalischen Verfahren zu einem Diamanten transformiert werden. Kein Wunder also, drehen da die Weltmärkte durch, wenn sie mit diesen Edelsteinen geflutet werden …

„Grenzfälle – Es geschah übermorgen“ ist eine kultige Science-Fiction-TV-Serie aus den 70ern, die weniger an 'Akte X' – wie uns der Vertrieb glauben machen will – sondern eher an die 'Avengers' ('Mit Schirm, Charme und Melone') erinnert. Im Zentrum stehen zwei Ermittler, die als stets gutgelauntes, dabei scharfsinniges Doppelgespann den kriminellen und „paranormalen“ Machenschaften „mit modernster Computertechnik“ auf den Grund gehen. Da gibt es mit Hilfe eines Wellenmodulators paralysierte Dorfgemeinschaften in der Provence, mysteriöse UFO-Sichtungen, Marsmenschen, ein Stadtviertel voll fröhlicher Bewohner in Paris, usw.. Dies ist, wenn auch häufig thematisch etwas redundant und zugleich schwerfällig inszeniert, unterhaltsam anzusehen. Und für Fans sowieso Pflicht.

Die Veröffentlichung beinhaltet alle 13 Teile der beiden Staffeln, deren erste sechs Folgen zunächst im Jahr 1971 entstanden sind, während die folgenden sieben der zweiten Staffel im Jahr 1974 nachgeschoben wurden. Auf den vier DVDs finden sich ausschließlich die deutschen Synchronfassungen, die von der „Berliner Synchron“ erstellt wurden, die als durchweg hochwertig anzusehen sind. Wobei sich immer wieder einige Klöpse dazwischen geschlichen haben: „Die Leute, die wir suchen, sind nicht im Höhlenforscherverein!“, oder: „Sie sind dickköpfiger als ’ne Einbahnstraße!“. Auch zum Thema Geschlechterverhältnis lassen sich einige historisch interessante Beobachtungen machen. Die immer wieder thematisierten Aspekte aus dem Bereich Mystery und Fantasy sind jedoch kaum haltbar, da generell wissenschaftlich-rationale Erklärungen für die Vorgänge gefunden werden – auch wenn diese manches Mal an den Haaren herbeigezogen scheinen. Dennoch weiß die Serie durch ihre immer wieder kreativen und abwechslungsreichen Fälle zu überzeugen, woran das sympathische Auftreten des Agentenduos nicht geringen Anteil hat. Die Bildqualität ist allerdings eher im unteren Mittelfeld anzusiedeln (Bild- und Tonstörungen, teils unruhiger Bildstand, Farben), was sicherlich am schlechten Zustand des Ausgangsmaterials liegen dürfte. Aber allzu viel darf man bei einer heute eher weniger bekannten Serie, die nun beinahe 40 Jahre alt ist, nicht erwarten. Auch auf Bonusmaterial muss verzichtet werden.

John Carpenter’s The Ward

(USA 2010, Regie: John Carpenter)

Retro als Prinzip
von Sven Jachmann

Ein wenig kann man bei diesem Comeback schon denken, dass ein alter Meister dem Zeitgeist die lange Nase zeigen will: John Carpenter hat nach fast 10 Jahren einen neuen Film …

Ein wenig kann man bei diesem Comeback schon denken, dass ein alter Meister dem Zeitgeist die lange Nase zeigen will: John Carpenter hat nach fast 10 Jahren einen neuen Film gedreht. In der Zwischenzeit wurden bereits drei seiner wichtigsten Werke als Remakes der Gegenwart angepasst. Es wird an Rob Zombies genreaffinem, demütigem Umgang mit dem Film und dessen Rezeptionsgeschichte liegen, dass seine Lesart von „Halloween“ (2007) die konfektionierten Updates von „Das Ende“ (2005) und „The Fog“ (ebenfalls 2005) vergleichsweise monumental überstrahlt. Carpenter selbst hingegen produzierte seit seinem Horror-Sci Fi-Kiesgruben-Desaster „Ghosts of Mars“ (2001) nur noch zwei Episoden der amerikanischen TV-Serie „Masters of Horror“ (2005/2006). Seine Reputation verdankte sich da schon längst nicht mehr seinem gegenwärtigen Schaffen, sondern schien mindestens so anachronistisch wie die Art seines Filmemachens selbst.

John Carpenter ist, man liest es oft, ein verbissener Handwerker, ein stoischer Genre-Auteur, der nach wie vor unbeirrt mit jener Hacke auf seinen Materialsteinbruch drischt, die ihm schon in frühen Jahren zu Ruhm verhalf, und auch wenn diese Eigenschaft bei vielen seiner Kollegen als hochgeschätzte Tugend angerechnet wird, ob sie nun Samuel Fuller oder Don Siegel heißen, befindet er sich in der ständigen Bringschuld, seine meist eben auch künstlerischen Flops durch ein formidables Alterswerk mit einem selbstbewussten Ausrufezeichen zu versehen. Man betrachte die Entwicklung einiger Generationsweggefährten, beispielsweise Tobe Hooper oder Dario Argento, und erkennt sehr schnell den Unterschied zwischen schlechter Regie und schlechter Drehbuchwahl. Ausgefeilte Plots oder differenzierte Psychologisierungen zeichneten Carpenters Filme nie aus, sondern stets die Beschränkung von Raum und Zeit; seinen typisierten Figuren blieb nicht mehr, als auf die Situation zu reagieren, in die sie meist schon nach wenigen Minuten geworfen wurden.

Dieses Prinzip strukturiert auch „The Ward“, einen Klinikhorrorfilm, der, wäre die Welt ein gerechter Ort, Carpenter zumindest ansatzweise rehabilitieren sollte, gärte in der Kritik nicht diese lausige Symbiose aus Häme und Geschichtsblindheit. Peinliche Anbiederungsversuche an Erzählkonventionen, an Muster der Torture Porns und des unzuverlässigen Erzählens, sowie stereotype Charakterentwürfe zählt man diesmal auf der Minusseite. Belegt letzteres ganz banal lediglich die Unfähigkeit, den Plot überhaupt erst einmal für sich zu dechiffrieren, vergisst ersteres wahlweise Carpenters Ouevre oder die Bildgesetze des Horrorfilms selbst, die hier, wenn überhaupt, ikonografisch im Gewand des weitaus betagteren Slasherfilms in Erscheinung treten.

Der Film setzt mit einer straighten Ausgangssituation in den 60er Jahren ein: Kristen (Amber Heard) hetzt im Nachthemd durch einen abgestorbenen Wald, verharrt vor einem Landhaus und brennt es triumphierend nieder. Von der Polizei wird sie daraufhin in eine psychiatrische Klinik verfrachtet, wo man mindestens ebenso ratlos über Kirstens Herkunft und Handeln räsoniert wie sie selbst. Sehr dialogarm geht das in ersten 20 Minuten von statten, Carpenter etabliert die Anstalt einzig über die Mise-en-scène als bedrohlichen, fremden Ort, in dem sich Zuschauer wie Protagonistin schlagartig orientieren müssen. Vier weitere Frauen befinden sich auf Kristens Station, die vom ansonsten überschaubaren und undurchsichtigen Personal – Typus: ruppiger Pfleger, ignorante Stationsschwester, diabolischer Arzt – überwacht werden. Schnell stellt sich heraus, dass auf den Gängen etwas umhergeht, was nicht von irdischer Herkunft sein kann und scheinbar mit den Biographien von Kristens Mitinsassinnen zusammenhängt …

Nichts an diesem Szenario ist neu, und weil dies bei Carpenter nie anders war, konzentriert sich der gesamte Bildapparat darauf, das Geschehen auf seine narrative Effektivität abzuklopfen. Das erzeugt heute, wo jüngere Produktionen wie „The House of the Devil“ oder „Super 8' sich sogar im Inszenierungsverfahren auf vergangene Dekaden berufen, umso anschaulicher einen unfreiwilligen Retroeffekt, der Carpenters Stärke hervorhebt: Keine Nebenerzählungen, kein Bilderstakkato, kein Meta und keine Ironie entfernen von dem Zentrum der Angsterzeugung (selbst der geringfügige Einsatz von Ellipsen zu Beginn erhöht allenfalls den Eindruck, als wolle die Erzählung so schnell wie möglich im Sanatorium ankommen), das sich – wie schon in „Das Ende“ (1976), „The Fog“ (1980), „Das Ding aus einer anderen Welt“ (1982) oder „Die Fürsten der Dunkelheit“ (1987) – als angsteinflößender Ort, von dem jede Flucht unmöglich ist, vollkommen selbst genügt. Das Rad bleibt also nach altbekannter Manier in Bewegung; was höchstens ausbleibt, sind Überraschungen (zu denen u.a. zählt, dass der einst so charakteristische Synthiescore Carpenters recht sphärischen Tönen gewichen ist).

Trotzdem ist es ein wahrer Genuss, dabei zuzusehen, wie eine dezent und bedacht platzierte Kamera, die sich nie grundlos in Bewegung setzt und eine Montage, die schlicht und ergreifend dem Anschluss und keiner weiteren Manierismen verpflichtet ist, mit einer gewissen Leck mich-Attitüde in den besten Momenten für ambitionierten old school-Schauder sorgen, der weniger seinem Plot als seinem Setting vertraut. Wenn dann der finale Plot Point nach heutigen Maßstäben konventionell daher kommt, sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihn kein vorausgegangenes Element im Sinne eines bloß schockorientierten Budenzaubers, der überwältigen, aber keine Zusammenhänge herstellen will, ankündigte.

Vorname Carmen

(F 1983, Regie: Jean-Luc Godard)

Portrait des Filmkünstlers als alternder Mann
von Wolfgang Nierlin

Zur Selbstreferentialität der Filme Jean-Luc Godards, den offenen und versteckten Beziehungen zwischen ihnen, gehört auch die Anwesenheit des Künstlers als Filmemacher in seinem Werk. In „Prénom Carmen“ (Vorname Carmen) aus …

Zur Selbstreferentialität der Filme Jean-Luc Godards, den offenen und versteckten Beziehungen zwischen ihnen, gehört auch die Anwesenheit des Künstlers als Filmemacher in seinem Werk. In „Prénom Carmen“ (Vorname Carmen) aus dem Jahre 1983 inszeniert sich Godard in der Rolle des schrulligen „Onkel Jean“ zunächst als eingebildeter Kranker, der in einer Nervenklinik förmlich auf die Symptome seiner Krankheit wartet. Genie und Wahnsinn liegen in dieser wunderlichen Figur an der Schwelle zum Alter dicht beieinander. Isolation und Distanz zur Gesellschaft verleihen ihr darüber hinaus den Status des Außenseiters und Einzelgängers, der sich einerseits in Selbstmitleid und Fatalismus ergeht, andererseits mit starrem Blick und obligatorischer Zigarre zivilisations- und gesellschaftskritische Sätze zu Protokoll gibt.

„Die Einsamkeit hat mich gezwungen, mich selbst zu meinem eigenen Freund zu machen“, lautet Onkel Jeans ebenso persönliche wie radikale Standortbestimmung, die das zwischenmenschliche Scheitern mit einem schonungslosen Blick auf die eigene Künstlerexistenz verbindet. So macht ihn die unvermeidliche Menschenferne zum Rufer in der Wüste, der noch einmal oder immer wieder die Konsumkritik aus früheren Filmen Godards erneuert: „Die moderne Welt produziert Abfall. Die Macht der Maschinen stellt Güter her, für die es keinen Bedarf gibt. Wir brauchen weder die Atombombe noch Plastikbecher.“ Godard alias Onkel Jean fragt aber auch nach der „Ursache der heutigen Krise“ und verliert sich darüber im Nihilismus: „Die Scheiße ist die Welt, nicht wir.“

Als Filmemacher, der sich in der Rolle des Filmregisseurs selbst inszeniert, verknüpft Godard die lebens- und weltanschauliche Krise seines Alter ego zugleich mit dem Außenseiterstatus einer prekären Künstlerexistenz, deren vermeintliches Scheitern nur ein weiteres Symptom der allgemeinen Krise darstellt. Man habe ihn „rausgeworfen aus der Kinematographie“, sagt Onkel Jean und kündigt in der Folge schon mal seine Rache an. Vielleicht ist Godards eigener ästhetischer Widerstand – die Diskursivität seiner Montagen, die grammatischen Regelverstöße seiner Filmsprache und die Dekonstruktion illusionstischer Bilder und Töne – in diesem Sinne zu verstehen. In „Prénom Carmen“ inszeniert er sich in der Rolle des alternden Filmregisseurs folgerichtig als selbstkritischer („Schlecht gesehen, schlecht gesagt.“), stets neugieriger Sucher, der das Prozesshafte des Filmemachens und die zwangsläufige Auflösung der Grenzen zwischen Dokument und Fiktion betont.

Godards unaufhörliche poetologische Suche, die einerseits ein Ausweis seiner jugendlichen Neugier ist, trägt andererseits altersweise Züge. In „Prénom Carmen“ lässt er Onkel Jean gegen die Inflation der äußeren Bilderwelt die innere Schau beschwören: „Man muss die Augen schließen, anstatt sie aufzumachen.“ Damit einher geht der Rekurs auf den inneren, autobiographischen Schatz von Erinnerungsbildern, wenn er in Anspielung auf Marcel Prousts „Recherche“ erklärt, Filme zu drehen, sei „wie eine Madeleine“. Diese kritische Abkehr von den Moden und Methoden der Gegenwart erzeugt in „Prénom Carmen“ verschiedene ästhetische Resonanzen, die dem Immateriellen jenseits der Bilder und Körper auf der Spur sind, gewissermaßen ihren mystischen Gehalt mittels Film zu evozieren suchen. Die Musik, vornehmlich und ausdrücklich Beethovens späte Streichquartette, wird dabei zum wichtigsten Katalysator. Oder um mit den Worten Onkel Jeans zu sprechen, der anfangs ständig einen Ghettoblaster mit sich herumträgt: „Die neue Kamera macht Musik.“

Als Mittelteil von Godards sogenannter „Trilogie des Sublimen“ (nach „Passion“, 1982, und vor „Je vous salue, Marie“, 1984) bildet „Prénom Carmen“ diese Musikalität in seiner poetischen Struktur ab. Immer wieder unterbrechen die Proben des Streichquartetts die „Carmen-Handlung“, kommentieren, akzentuieren und kontrapunktieren einzelne, präzise geschnittene Musik-Sequenzen das Geschehen; oder aber sie begleiten die Bilder vom Meer, seine wechselnde Bewegtheit zu unterschiedlichen Zeiten; dann wieder orchestriert die Musik nächtlichen Auto- und Zugverkehr und wechselt mit dem Quartett selbst Spielorte und Tageszeiten. Die Entkopplung und Neuorganisation von Bild und Ton evoziert auf diese Weise transzendente Stimmungen und ein Gefühl für das Un(be)greifbare jenseits der Bilder. „Möge das Unendliche eintreten“, heißt es einmal. Und an andere Stelle sagt Claire (Myriem Roussel), die Violoncellistin des Quartetts: „Zeige deine Gewalt, Schicksal! Wir sind nicht Herr über uns selbst. Was beschlossen ist, muss sein.“

Godards Carmen, verkörpert von Maruschka Detmers, ähnelt insofern einer Femme fatale, die ihrem leidenschaftlich verliebten, eifersüchtigen Joseph (Jacques Bonnaffé) zeigt, „was eine Frau mit einem Mann macht“. Im Wechsel von permanenter Anziehung und Abstoßung entfaltet sich zwischen dem Polizisten auf der Flucht und der freibeuterischen Kunstterroristin, die mit geraubtem Geld die vorgetäuschten Dreharbeiten für eine geplante Entführung finanziert, die zerstörerische Kraft der Liebe. „Wenn ich dich liebe, bist du erledigt“, sagt Carmen unmissverständlich zu Joseph. Wenn am Schluss des Films der unheilbar Liebeskranke das Objekt seines Begehrens tötet, zieht Godard damit auch einen Schlussstrich unter seine romantische Phase der 1960er Jahre, als seine liebenden Helden aus „À bout de souffle“ (1959) und „Pierrot le fou“ (1965) in den Tod gingen und – in Anlehnung an ein Faulkner-Zitat – das Nichts dem Leid vorzogen.

„Sein oder Nichtsein ist nicht wirklich die Frage“, sagt Onkel Jean einmal in Anspielung auf Shakespeares „Hamlet“. Wie schon in früheren Arbeiten (etwa in „Vivre sa vie“, 1962) reflektiert Godard auch in „Prénom Carmen“ das Verhältnis von Sein und Sprache. So ist Carmen diejenige, „deren Name man nicht sagen dürfte“ (als würde auf ihm ein Fluch lasten), während Joseph immer wieder die Abkürzung seines Namens in „Joe“ korrigiert und damit die Kontingenz sprachlicher Benennung problematisiert. „Was ist vor den Namen?“ lautet insofern jene Frage nach dem ontologischen Grund, deren Beantwortung erst mit einiger Verzögerung erfolgt: „Der Name Gottes.“ Als gäbe es keine begründbare Verbindung zwischen den Namen und dem, was sie bezeichnen, hält Godard die Frage nach dem Seinsgrund jenseits seiner sprachlichen Benennung also im Offenen. Doch trotz dieser Abschiede, Unwägbarkeiten und vielleicht unbeantwortbaren Fragen, mit denen Godard die Krisen des Alters im Verhältnis zu den (verlorenen) Utopien der Jugend gestaltet, ist „Prénom Carmen“ kein resignatives Werk, sondern das filmische Plädoyer für eine permanente ästhetische Erneuerung der Kunst als Reflex und Ausdruck persönlicher und gesellschaftlicher Krisen.

35 Rum

(D / F 2008, Regie: Claire Denis)

Ein einziges Kommen und Gehen
von Wolfgang Nierlin

Minutenlang sieht man, zwischen subjektiver und objektiver Perspektive wechselnd, auf Schienen und Gleisanlagen, auf Züge, die in Bahnhöfe einfahren oder sich entfernen: ein einziges Kommen und Gehen. Manchmal scheint es, …

Minutenlang sieht man, zwischen subjektiver und objektiver Perspektive wechselnd, auf Schienen und Gleisanlagen, auf Züge, die in Bahnhöfe einfahren oder sich entfernen: ein einziges Kommen und Gehen. Manchmal scheint es, als ob die Züge in dem Gewirr von Gleisen, graphisch sichtbar gemacht in den Blinklichtern einer Schaltzentrale, nach dem richtigen Weg suchten. Als handle es sich um Lebenslinien, zeigt die französische Regisseurin Claire Denis zu Beginn ihres Films „35 Rhums“ (35 Rum) ein Geflecht von Schienensträngen, die nebeneinanderher laufen, sich berühren oder überschneiden. Auch ihre Figuren befinden sich auf Wegen, die sie einander näher bringen oder voneinander entfernen. In diesem Sinn geht es in „35 Rhums“ um notwendige und tragische Abschiede und um ein Loslassen, das sich dem Ungewissen öffnet. Die Jahreszeit des Films ist der Herbst.

Claire Denis verbindet die Melancholie des Alters und die unumgänglichen Aufbrüche der Jugend in der zärtlichen Geschichte einer liebevollen Vater-Tochter-Beziehung. Das stille Einverständnis zwischen dem schweigsamen Zugführer Lionel (Alex Descas) und seiner erwachsenen Tochter Joséphine (Mati Diop) ist von umsichtiger, wechselseitiger Fürsorge und einem ruhigen, entspannten Miteinander gekennzeichnet. Denis beobachtet dieses häusliche Glück und die alltäglichen Verrichtungen, die es begleiten, mit gespannter Aufmerksamkeit und mit dem ihr eigenen Interesse für die nuancenreiche Sprache der Körper.

Joséphine, die nachts in einem CD-Laden jobbt, studiert mit Eifer Anthropologie und interessiert sich dabei besonders für die Schuldenfalle, in der die armen Länder Afrikas gefangen sind. Einer ihrer Kommilitonen plädiert mit Frantz Fanon für die Revolte. Doch Claire Denis, die ihren Film unter schwarzen, aus der Karibik stammenden Einwanderern in Paris spielen lässt, benutzt diesen Hintergrund nicht für die Darstellung sozialer Konflikte und die Probleme der Integration. Ihre Protagonisten, wohnhaft in der Rue de la Guadeloupe, sind vielmehr ganz selbstverständlich in der bürgerlichen Mitte der fremden Kultur verortet. Sie haben ihr Auskommen, ihre Wohnung und nehmen am gesellschaftlichen Leben teil. Daneben pflegen sie aber auch den Austausch und den Zusammenhalt innerhalb ihrer Community.

Die inoffizielle Familie, in der Liebe und Arbeit Hand in Hand gehen, wird komplettiert von der Taxifahrerin Gabrielle (Nicole Dogué), einer früheren Freundin Lionels, und von dem unausgeglichen wirkenden Noé (Grégoire Colin), der in Joséphine verliebt ist. Doch das Band zwischen Vater und Tochter ist zunächst so stark, dass sich die verschworene Teilfamilie gegen die Einsamkeit der anderen abschottet. Das ändert sich allerdings nach einer Reise in die Vergangenheit, die Lionel und „Jo“ nach Lübeck und an die Ostsee führt und die zugleich ein Abschied ist.

Claire Denis entwickelt diese Geschichte einer Loslösung mit der ihr eigenen elliptischen Erzählweise. Dabei lenken die Lücken das Interesse auf den sinnlichen Reichtum der Details, auf das Unausgesprochene, Atmosphärische. Der „Wert eines Moments“, so die französische Regisseurin über ihre Kunst, bewahre „das Leben und die Zeit in den Dingen“. Ihr Erzählen meidet das Zentrum, um es stattdessen in einer nebenordnenden Struktur auszubreiten. Geduldig beobachtet sie Blicke und Gesten und verdichtet in deren undramatischer Abfolge eine filmische Spannung, die fast absichtslos starke Emotionen und berührende Momente erzeugt.

Das jüngste Gewitter

(SW / D / F / DK 2007, Regie: Roy Andersson)

Melancholische Miniaturen
von Andreas Thomas

Nicht die Film-Bilder sind ausgelaugt und ausgebleicht, die Menschen selbst sind es. In „You, the Living“, dem fünften Spielfilm des Schweden Roy Andersson in vier Jahrzehnten, fristet eine saft- und …

Nicht die Film-Bilder sind ausgelaugt und ausgebleicht, die Menschen selbst sind es. In „You, the Living“, dem fünften Spielfilm des Schweden Roy Andersson in vier Jahrzehnten, fristet eine saft- und farblose Menschheit in zahnsteinfarbenen Küchen, Sälen, Treppenhäusern ein Dasein, dessen Charakter vielleicht am ehesten jene Miniatur wiedergibt, in der ein Mann eine freudlose Familienfeier aufzuheitern versucht: Das Leben ist so aussichtslos wie sein Tischtuchtrick an einer viel zu langen, viel zu vollen Tafel: Beim Versuch es zu meistern, geht alles zu Bruch. Und für dieses unausweichliche Versagen verurteilt einen ein absurdes Gericht aus biertrinkenden Richtern auch noch zum Tode.

Es gibt nicht einen einzigen glücklichen Ausgang in Anderssons Mosaik der Vergeblichkeiten, auf Resignation folgt Enttäuschung, auf Unglück Traurigkeit, auf Einsamkeit Solitüde. Der Regisseur setzt ein grotesk-deprimierendes Bild hinter das andere, und immer sind es die Gefängnisse kalter und moderner Gebäude, worin der Mensch sich mit falschen Mitteln und Prämissen an sich selbst vorbei zu Grunde experimentiert.

Optisch überaus erlesen und geradezu lustvoll ist die Ästhetik dieses bleichen langen Lebewohls. Diese Bild für Bild wie strenge Malerei komponierte, unwirkliche, hermetische Ästhetik von Anderssons Film muss sich nicht hinter der etwa eines „Playtime“ von Jacques Tati verstecken. Der Humor, aufflackernd im Moment der absurdesten Verzweiflung, korrespondiert mit dem des Co-Skandinaviers Aki Kaurismäki, aber auch Beckett liebt der Regisseur, der sich zwischen seinen Filmen mit Werbung finanziert. Vielleicht rührt daher die Routine inszenatorischer Einzelideen: Showeinlagen als Würze der reichlich apodiktischen Grundthese des Films: Der Mensch: Keiner versteht ihn und keinen versteht er. Das Leben: Der Mensch ist es nicht wert.

Diese komisch-traurige Oper ohne Anfang oder Mitte aber mit einem konsequenten Ende ist ein optischer und auch akustischer (wer nicht glaubt, dass ausgerechnet Dixieland-Jazz das pure Antidot gegen die Welt ist, sollte sich hier überzeugen) Sinnenschmaus für Liebhaber des Suizids – und andere, denen es zu viele Lebens-Lügen in Welt und Kino gibt. Dass „You, The Living“ keinen inneren Widerstand gegen seinen eigenen Fatalismus entwickelt, macht ihn vielleicht streckenweise überraschungsarm. Doch seine moralische Dreingabe praktiziert dieser mental so widerstandslose Film mit einem unglaublich akribischen Kunstwillen, der ihn nicht nur für den humorbegabten Misanthropen sehenswert macht.

Klassenleben

(D 2005, Regie: Hubertus Siegert)

Reißverschluss klemmt
von Andreas Thomas

„Ich glaube, Erziehung hat mit allem was zu tun: mit Bestechung, mit Erpressung, mit Schreien und mit Freundlichsein, das letztere ist notwendig, damit die Kinder die Lehrer nicht hassen.“ (Schüler …

„Ich glaube, Erziehung hat mit allem was zu tun: mit Bestechung, mit Erpressung, mit Schreien und mit Freundlichsein, das letztere ist notwendig, damit die Kinder die Lehrer nicht hassen.“ (Schüler Dennis in „Klassenleben“)

Bei manchen Filmen kratzt man sich am Kopf und fragt sich, wer sie warum für wen gedreht hat und warum man bitteschön teuer Geld bezahlen muss, um sie auf der Kinoleinwand zu sehen. Der Dokumentarfilm „Klassenleben“ ist dafür ein schönes Beispiel.

Ein Mensch namens Hubertus Siegert hat ein halbes Jahr lang eine Berliner Schulklasse in ihrem Unterricht gefilmt – sechs der Kinder in den Mittelpunkt gestellt -, hat das Ganze dann episodisch gegliedert, mit ein Paar Off-Schülerkommentaren und Musik unterlegt und findet das Resultat so spannend, dass er es dem Kinogänger auf keinen Fall vorenthalten will. Der Film zeigt einen ganz normalen Schulalltag mit Gruppenarbeit, Referaten und den Proben zu einem Theaterstück, also Unterrichtsstandards, die jedem geläufig – und hier und da in unschöner Erinnerung – sind, der eine deutsche Schule seit den pädagogisch bemühten siebziger Jahren besuchen musste. Und er zeigt Schulkinder, die in einem dieser hässlichen Betonschulgebäude lernen, sich aufeinander einzustellen, sich berühren, begreifen, wie das sein muss, wenn man sich ausgeschlossen fühlt (Bert Hellingers Methode der „Aufstellung“ sei Dank), um zum Halbjahresende aber doch getrommelt und gepfiffen zu bekommen, dass gesellschaftstauglich nur sein wird, wer wirtschaftstauglich ist: Spätestens bei der Benotung ist klar, dass die Goldene Regel heißt: Jeder gegen Jeden. Nicht Solidarität, sondern individuelle Leistung entscheidet, und so sehr sie auch gelernt haben, einander freundlich anzuschauen, die Kinder dieser fünften Klasse haben sichtbar kapiert, was hier gespielt wird und welche Rollen sich für einen guten Schnitt am besten eignen.

Das Gute an Dokumentarfilmen ist, dass sie immer Authentizitäten zeigen, dass Wirklichkeit ihr Grundstoff ist. Das Schlechte an „Klassenleben“ ist, dass Siegert seiner Doku das hehre Sendungsbewusstsein der Fläming-Schule, Berlin, aneignet und sich von Frau Haases, der Klassenlehrerin, begeistertem pädagogischem Selbstbild anstecken lässt – sprich: Siegert betreibt Werbung für eine moderne, „schülerfreundliche“ Pädagogik, die kaum eine ist. Ganz traditionell vergrämt sieht Frau Haase aus, und genauso wie es die Lehrer immer schon gemacht haben, redet sie von „Vereinbarungen“, wenn sie Anordnungen trifft. Wie alle normalen Schülergenerationen vor ihnen sind die Schüler und Schülerinnen nervös, ängstlich und verkrampft, wenn sie ein Referat halten sollen. Von einem freudigen Lernen, von einem lebendigen „Klassenleben“ ist nicht mehr zu sehen als an jeder x-beliebigen Schule – also nicht allzu viel.

Schule ist die Vorbereitung zur Rücksichtslosigkeit im Konkurrenzkampf um Jobs – oder zur Arbeitslosigkeit. Noch nie hat das Arbeitsleben mehr Einzelkämpfermentalität vorausgesetzt als heute. Das „Lernziel Solidarität“ ist ein totaler Anachronismus, weil es kapitalismusfern ist – und der Kapitalismus ist so nahe wie nie. Aber der Gefahr, zuviel antikapitalistische Solidarität zu entwickeln oder sich im Unterricht zu wohl zu fühlen sind die Kinder der Klasse 5d nicht wirklich ausgesetzt, dafür funktioniert die Leistungsideologie zu gut.

„Klassenleben“ zeigt den ganz banalen deutschen Schulstandard, auch sozial-pädagogische Ringelpiezmitanfassen-Spiele sind heutzutage länderübergreifend verbreitet. Nur eine Kleinigkeit an dieser Schule ist untypisch, die „Integration“ behinderter Kinder in die Klasse. Damit ist gemeint, dass ein Mädchen mit Down-Syndrom (das nie seinen Anorakreißverschluss zubekommt, wobei ihm immer wieder die anderen helfen müssen, um irgendwann festzustellen, dass er klemmt), ein schwerstbehindertes und zwei weitere gehandicapte Kinder dem Klassengeist soziales Flair verleihen. Zum Dank, dass sie sich dergestalt zur Verfügung stellen, bekommen sie keine Noten, und sie brauchen auch nichts zu leisten – außer behindert zu sein und den Nichtbehinderten als Toleranzübungsobjekte zu dienen. Dass Kinder auf diese Art eine neue, freundliche Form der Ausgrenzung verinnerlichen, ist programmiert. Diskriminierung wird so nicht aufgehoben, sondern unter pädagogisch wertvollen Zeichen erneut eingeführt.

Der Rest – von der eben beschriebenen „Integration“ einmal abgesehen – handelt vom typisch deutschen Schulalltag, was interessant genug wäre, wenn der Film es schaffen würde, über seine tendenziell positive Perspektive hinaus zu gelangen und zur Stärke etwa seines offensichtlichen Vorbilds „Sein und Haben“ zu finden, die darin bestand, genauer in die Psyche von Lehrer und Schüler zu schauen. Weil aber „Klassenleben“ leider nur Werbung machen möchte für eine oberflächliche Sozialkosmetik im drögen Schulsystem, bleibt dem Zuschauer nur, die Momente abzupassen, wenn hinter dem angestrebten Idealbild die kleinen Wahrheiten durchgucken, doch die sind zu selten für echte Kinoqualität, bestenfalls geeignet für das Fernsehen, ab 0.00 Uhr, dann, wenn alles sowieso schon schläft.

Immerhin schön, dass dem Pressematerial auch Statements der mitwirkenden Kindern beigefügt sind. Eines davon finde ich als Schlusswort besonders geeignet: „Im Film kommt es so rüber, als ob sich alle freuen und supergerne in die Schule gehen. Aber das stimmt so nicht“ (Schüler Christian im Interview nach dem Film).

Das Leben ist ein Wunder

(F / RS 2004, Regie: Emir Kusturica)

Die Viecher des Krieges
von Andreas Thomas

Was tut die Leitung eines großen Filmfestivals, um einem seiner ehemaligen Starregisseure eine kreative Pause nahe zu legen? Sie ehrt ihn, indem sie ihn zum Präsidenten der Internationalen Jury ernennt. …

Was tut die Leitung eines großen Filmfestivals, um einem seiner ehemaligen Starregisseure eine kreative Pause nahe zu legen? Sie ehrt ihn, indem sie ihn zum Präsidenten der Internationalen Jury ernennt. So erging es in diesem Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes dem ehemals glorreichen Gewinner zweier „Goldener Palmen“ (1985 für “Papa ist auf Dienstreise“ und 1995 für „Underground“), dem notorisch ungeduschten Emir Kusturica. Denn der in Sarajewo geborene Regisseur durfte leider im Vorjahr, obwohl „Das Leben ist ein Wunder“ auch für die Goldene Palme nominiert war, nur mit dem „Kinopreis des französisch-nationalen Erziehungssystems“ nach Hause gehen. Dass der ehemalige „Fellini des Balkan“, der „Punk der internationalen Filmszene“ nun plötzlich schultaugliche Filme produzieren soll, stimmt nachdenklich – das Schlimme daran: Die französische Pädagogik hat Recht. Kusturicas bosnische „Romeo-und-Julia“-Variation ist trotz ihrer für den Regisseur typischen Wildheit am Ende tatsächlich nur ein simples, allzu simples Lehrstück geworden. Vom pädagogischen Wert der Kriegsoper darf sich ab morgen nun auch das deutsche Kino-Publikum überzeugen.

„Theater, Fußball, ist doch alles das Gleiche – das Leben ist eine Bühne“, sagt einer der durchgeknallten Helden in Emir Kusturicas Film „Das Leben ist ein Wunder“, und ab sofort weiß man, der Co-Autor und Regisseur neigt zum Fabulieren, weniger zur Philosophie. Über der Ergründung, was Bühne und Wunder eigentlich gemeinsam haben könnten, hält sich Kusturica denn auch nicht unnötig auf; lieber springt er gleich mitten hinein in das, was für ihn auf der „wunderbaren“ Bühne des Lebens passiert. Und das ist vor allem Wirbel, Krach, Hiebe – und Liebe.

Gleich eine ganze Arche voller Tiere schüttet Kusturica zwischen die Bewohner eines ländlichen präkriegerischen Jugoslawien, um zu zeigen, wie menschlich das Tier ist – und wie tierisch der Mensch. Da gibt es eine Katze, die eine Taube hypnotisiert, sodass sie starr zu Boden fällt und gefrühstückt werden kann, einen Esel, der sich auf die Bahngleise stellt, weil er aus Liebeskummer sterben will, einen Braunbären, der einen Mann in dessen Haus verputzt, um selbst Hausbesitzer zu werden, und es gibt eine Kleinfamilie von Menschen, die durcheinander schnattern wie die Enten, sich traurig lieben wie die Hunde, sich zanken wie die Hühner.

So weit, so gut, so naturverbunden. Aber wie das mit den natürlichen Gleichgewichten so ist, die müssen natürlich immer wieder mal kippen. Deshalb steuert der Trieb die Mutter Jadranka (Vesna Trivalic), eine ziemlich derangierte Opernsängerin, in Richtung Genitalien eines ungarischen Musikers, hinfort von Heim, Herd und Serbien. Deshalb muss Sohn Milos (Vuk Kostic) auf eine Fussballer-Karriere bei Partizan Belgrad verzichten und stattdessen zum Heer – und deshalb bricht der Bürgerkrieg los. Ja, und selbst dieser Krieg scheint auf einem biologistischen Mist gewachsen zu sein.

Der insgesamt schlichte Familienvater, Eisenbahningenieur Luka (Slavko Stimac, der wie eine Mischung aus dem jungen Steve Martin und Billy Bob Thornton rüberkommt), bleibt allein zuhause zurück, während sich nun rings umher im großen Stil entwickelt, was die multi-nationale, multi-animalische Anthropologie von „Das Leben ist ein Wunder“ für den Balkan voraussetzt: So besinnungslos wie man sich dort liebt, so fetzt man sich dort auch. Was vorher gescheppert hat, das rummst nun und wer zuvor mit einer Ohrfeige davon gekommen ist, der ist nun mausetot. Ex-Jugoslawien als eine einzige Menagerie aus großen und kleinen Tieren, die sich durchwursteln, durchvögeln, durchballern. Langeweile und niederer Instinkt, Überdruss und Aggression, Korruption und Machtgier münden in einen Krieg der Idioten; einen Krieg ohne Kriegshandwerker. Denn die Panzerfäuste gehen regelmäßig nach hinten los, nicht Kollateral-, sondern Totalschäden zieren die schöne bosnische Landschaft, noch „freundlicher“ ist ein friendly fire schwerlich vorstellbar (und da dachte man doch immer, die USA würden auch hier die traurigen Statistiken anführen) .

Ein Krieg als derbe Burleske, als dröhnende Blechblaspolka, als entfesselte Folklore, als enervierender Dauer-Slapstick, als besoffenes Militaristen-Musical, – aber auch als CNN-Report in Lukas TV. Eine der, leider seltenen, gelungenen Szenen: Wenn Luka die sensationslüsternen Fernsehbilder nicht mehr erträgt, das Gerät aus dem Fenster wirft und es draußen im Schmutz nicht aufhört zu senden. Luka nimmt das Gewehr und erschießt den Krieg im Fernsehapparat, der ihn stärker ängstigt als die Einschläge der Artilleriegeschosse rings um sein Haus. Eine andere Szene: Ein General begibt sich in den Eingang eines Bahntunnels, um mit seinem Handy ein „wichtiges“ Telefonat zu führen. Als er seine Kreditkartennummer angegeben hat, stöhnt eine (reichlich unprofessionell wirkende) Frauenstimme auf deutsch: „Ja, mach mich heiß!“ Das Militär befindet sich auf der Hotline eines deutschen Telefonsexanbieters und holt sich einen runter. Fast nur aus solchen Szenen, aus einem inflationär unverbundenen Nebeneinander von Miniaturen mit Figuren, die wir, kaum haben wir sie kennengelernt, auch schon wieder aus den Augen verlieren, besteht der halbe Film. Inflationär auch die Tunnels, die die Schluchten des Balkan verbinden und die Einzelepisoden regelmäßig von einander scheiden. Rein in den Tunnel, raus aus dem Tunnel, so lange, bis wir vor lauter Geburts- und Sterbe-Metaphorik am Tunnelblick leiden.

Dann tritt mitten in diese von wilden Symbolismen und Fantasien wuchernde Jugoslawien-Farce eine junge Frau. Eine blonde Muslimin, die Geisel Sabaha (Natasa Solak), vom General vorgesehen zum Austausch mit Lukas Sohn Milos, der schon kurz nach Kriegsausbruch in kroatische Gefangenschaft geraten ist. Ausgerechnet Luka soll sie beherbergen und bewachen, ausgerechnet in sie verliebt er sich. Die bosnische Ausgabe eines Marx-Brothers-Films zappt um in eine bosnische Romeo-und-Julia-Geschichte. In seiner zweiten Hälfte versucht der Film nun eine realistische Liebesbeziehung zu stiften, mit plausibleren Figuren, noch pittoresk zwar, aber mit Tiefgang. Doch da, wo er realitätsnäher werden will, wo er den sicheren Pfad der grotesken Überzeichnung zu verlassen versucht, kommt Kusturica kaum über altmodische Standards hinaus. Die Frau ist „süß“, reizvoll und devot, der Mann ist verstockt, verwirrt und verliebt. Dass dann diese Liebe die ganz große, überwältigende sein soll, vemag Kusturica wiederum nur mit Mitteln des totalcineastischen Überfalls zu erzählen: Liebe ist, wenn das ineinander verschlungene halbnackte Paar im prasselndem Herbstlaub über die Veranda kullert (das Mädchen kreischt), wenn derart verzückt ganze Weizenfelder niedergewalzt werden (das Mädchen kreischt lauter), und der Liebe Erfüllung ist, bei herbstlicher Witterung unter einem Wasserfall zu stehen und eine Wassermelone zu essen (das Mädchen kreischt – vor Kälte?).

Der Mensch ist Natur, die Liebe ist ein Wunder, der Krieg Blitz und Donner und das Leben Theater? Überwältigungskino und Totalverwirrung. Wenn Luka am Ende aus Liebeskummer auf den Bahngeleisen steht und Selbstmord begehen will, dann zeigt uns Kusturica, dass Luka ein Esel ist – als hätten wir das nicht vorher gewusst. Natürlich ist der moralische Konflikt, einen geliebten Menschen gegen einen anderen eintauschen zu müssen, ein unauflösbarer, natürlich schlägt der Krieg Gräben zwischen den Menschen, natürlich hämmert uns „Das Leben ist ein Wunder“ ein, dass wir unsere Feinde lieben könnten (besonders wenn sie gut gebaut sind). Die Botschaft ist nicht neu, aber dafür hausbacken umgesetzt. So bleiben vorhandene Ansätze von historischem – oder gar politischem – Erkenntnisgewinn auf halber Strecke in halbgarem Sentiment stecken, und anders als der konsequent brachiale Kusturica-Film „Underground“ bekommt „Das Leben ist ein Wunder“ seine Erzählweisen Groteske und Melodram nicht wirklich unter einen Hut. Dem Film mit der epischen Länge von 154 Minuten entgleitet im Trubel seiner vielen Ideen und aufgrund seiner künstlerischen Richtungslosigkeit der rote Faden.
Eine Satire wie „No Mans Land“ vom bosnischen Regiekollegen Tanovic – auch mit Mitteln der drastischen Überzeichnung inszeniert – zeigte bereits 2001, wie sehr viel eindringlicher und pointierter doch eine filmische Aufarbeitung des Balkankonflikts sein kann.

Mystic River

(USA 2003, Regie: Clint Eastwood)

Die Nebel im Manne
von Andreas Thomas

„Mystic River“ ist Hollywood. Nicht Europa, nicht Autorenkino, nicht Kunstkino. „Mystic River“ ist schlechtestenfalls das, was sich von Sergio Leone hinübergerettet hat nach Hollywood: Der Männerfilm, der von Männern handelt, …

„Mystic River“ ist Hollywood. Nicht Europa, nicht Autorenkino, nicht Kunstkino. „Mystic River“ ist schlechtestenfalls das, was sich von Sergio Leone hinübergerettet hat nach Hollywood: Der Männerfilm, der von Männern handelt, die sich, ihre Ehre oder sonstwas immer für wichtiger erachten als alles vor ihren kleinen, dummen Türen: Frauen, Menschen, Menschenwelt.

„Mystic River“ ist Hollywood. Der Film leiht sich alles, woraus er besteht, bei den Genres: das detektivische Genuschel beim modernen Hollywood-Krimi, die Dunkelheit und den Regen bei Lynch oder Fincher, den Männlichkeitswahn bei Clint-Eastwood-Filmen, oh, Verzeihung, dieser Name ist identisch mit dem des Regisseurs. „Mystic River“ beleiht, aber er schafft keine Distanz, nicht zu den Genres und nicht zu seinem Thema, und daher bringt er nichts Neues hervor.

Um es noch ein letztes Mal klarzustellen: „Mystic River“ ist Hollywood, also nur ein Unterhaltungs-Film, und er gibt sich keine Mühe, mehr als das zu sein. Auch seine vielgelobten Darsteller kommen nicht über das Darstellen von Darstellungen, über Mimiken, die schon seit den siebziger Jahren Hollywood-Standard sind, hinaus. Ein „Schauspielerfilm“ sei „Mystic River“, natürlich ist er das, weil eine Handvoll von Leuten darin ist, die anderswo schon mal gut geschauspielert haben. In „Mystic River“ klappt das eben auch gerade so weit, wie die Figuren das theatralisieren, was Männer-Klischees der Gegenwart eben so Theatralisches anbieten müssen. Raffinierte Klischees sind sie, perfekte Klischees, weil man ihnen fast glauben möchte, und vor allem, weil das auch einfacher ist, als sie, und mit ihnen ein Weltbild, zu hinterfragen.

Falls wir „Mystic River“ schon gesehen haben, erinnern wir uns an diese überschaubare Geschichte:
Also: Drei Jungs haben ein Problem: Einer von ihnen wird in einem Auto von zwei bösen Männern entführt, die in etwa so aussehen, wie man sich laut Eastwood einen Hollywood-Jaques-Dutroux in den Sechzigern vorzustellen hat: Schmierige, brutale Mafiosi, oder dergleichen. Die Krux von „Mystic River“ ist nicht komplex, sondern simpel: Weil perverse Männer Lust hatten, einen Jungen gegen seinen Willen drei Nächte lang zu missbrauchen, leiden darunter nicht nur der Betroffene, sondern schließlich alle drei Kumpels. Und zwar ihr Leben lang. Und mit ihnen deren Frauen und Kinder. Unglückliche Männer produzieren neues Unglück, könnte man sagen.

Dass Misshandlung in der Kindheit das ganze Leben zerstören kann, ist verbürgt. Mich aber stört die Art, wie hier Misshandlung dargestellt und erinnert wird, nämlich als etwas Äußeres, Fremdes, Mystisches eben. Durch die Dämonisierung von Täter und Tat wird sie verschwommen, unreal, und dadurch wieder ungreifbar, nicht zu verarbeiten. Dadurch wird sie einer psychischen Wirklichkeit beraubt und demzufolge einer gesellschaftlichen Relevanz, einer politischen Qualität entzogen. Die meisten Kindesmisshandlungen werden ja nicht von merwürdigen, finster dreinblickenden Gangstern ausgeübt, sondern von durchschnittlich netten, alltäglichen Familienvätern, und sie werden gedeckt von durchschnittlich netten Familienmüttern. Das aber ist wirklich unheimlich, nicht der Märchenwolf, der aussieht wie eine Mischung aus Mafioso und Gangster.

Mit eben dieser Verbannung einer allzu realen gesellschaftlichen Problematik ins (wie der Titel bereits verrät) Mystische, Dunkle, Unerklärliche aber betreibt der Film gerade das, wogegen er angeblich angetreten ist: Er verdrängt das Problem, statt es zu beschreiben. Seine Mittel sind die des Krimis, des Melodrams, (und in der Thematisierung von Selbstjustiz) des Westerns, also die amerikanische Art, Märchen zu erzählen. Die Form ist es eigentlich, die interessant ist, weil sie uns zeigt, wie der american way of repression auch in der Identitätskrise der amerikanischen Gegenwart funktioniert. „Mystic River“ ist Psychogramm eines verstörten amerikanischen und männlichen Narzissmus und gleichzeitig die Methode, den internen Defekt (des Mannes, der Gesellschaft) zu verleugnen, indem „Mystic River“ seine Ursache nicht als gesellschaftsintern versteht, denn sie ist – nur – dunkles, mysteriöses Schicksal, sie ist böser Dämon. Der Fehler liegt nicht im System, sondern in einem mystischen Draußen. Deshalb kann man sich auf hollywoodeske Männerart (ein verletzlicher De Niro oder Pacino, Männer, die obwohl sie Gefühle haben, immer noch keinen Schritt von ihrem machistischen Selbstbild abweichen müssen, stehen für diese sensiblen aber ungebrochenen Machos aus „Mystic River“ Pate) im Leiden suhlen und ausruhen. Selbstkritik ist nicht nötig, und das Prinzip „Mann“ bleibt als Prinzip unhinterfragt. Auch in ihrem Versagen bleiben die Männer des Männerfilms „Mystic River“ Helden, eben weil sie „Männer“ bleiben.

Der große Fehler des Films liegt darin, dass er sich nicht von dem Klischee des Mannsbildes, das uns das amerikanische Kino in seinen Western, oder Eastwood über „Dirty Harry“, „Erbarmungslos“, bis zu „Die Brücken am Fluss“ immer wieder offeriert, lösen will, und so, weil er einen falschen Männlichkeitsmythos affirmiert, der wirklichen Auseinandersetzung mit männlicher Gewalt von vornherein im Weg steht, denn das konventionelle Kommunikationsmittel Gewalt steckt ja schon in der (hier propagierten!) männlichen Struktur selbst. In Eastwood-Filmen steht Männlickeit im Mittelpunkt und diese Männlichkeit ist immer noch die des Patriarchats. Frauen haben bei Eastwood keine Kraft und keine Ideen, die zur Lösung von Konflikten dienlich wären. So bleibt ihnen nur, sich vor den Männern zu fürchten, sie zu bemitleiden oder sie zu bewundern. Für Eastwood ist die Frau immer noch nur aus einer Rippe des Mannes geschaffen. Eastwood schafft es auch in „Mystic River“ nicht, Abstand zum patriarchischen Männer-Klischee Hollywoods zu gewinnen; er subtilisiert es nur. So ist „Mystic River“ seinem ideologischen Gehalt nach nicht anders als ein Western. So wenig wie der Mythos wird das Genre als etwas Künstliches erkannt und überwunden. So wenig wie mit den Fremden, die aus dem Nichts kommen, drei Tage lang einen Jungen vergewaltigen und wieder im Nichts verschwinden, so wenig setzt sich 'Mystic River' ernsthaft mit den destruktiven Seiten des Mannes auseinander. Wenn die drei Protagonisten im Film Böses tun, dann nur deshalb, weil sie Opfer sind, nicht etwa, weil sie auch Männer sind. Das Männerbild ist in 'Mystic River' ein schizophrenes. Weil zur Rettung des Selbstbildes der Ursprung der Gewalt als etwas Systemimmanentes (also Männerspezifisches) isoliert und eliminiert werden muss, werden die Täter-Männer dämönisiert und die Opfer-Männer melodramatisiert. Deshalb ist „Mystic River“ unkritisch seinem Thema männliche Gewalt gegenüber, bestenfalls Unterhaltungskino, aber in keinem Moment von aktueller sozialer oder kultureller Brisanz. Der Film versucht, im Gegenteil, ein rückschrittliches männliches Selbstverständnis in einer Zeit zu reinstallieren, die unter anderem gerade durch es selbst beschädigt wurde. Dabei heraus kommt männliches Selbstmitleid, mehr nicht. Ein Männerfilm mit zerquälten Männern halt.

Die Einsamkeit der Primzahlen

(I / D / F 2010, Regie: Saverio Costanzo)

Kindheitstraumata
von Wolfgang Nierlin

Dieser Film macht den Zuschauer zu seinem Gefangenen. Bereits die überdimensionalen Vorspanntitel in Cinemascope, die einen förmlich anspringen, erzeugen mit forciertem Nachdruck diese fast aufdringliche Nähe, der man sich kaum …

Dieser Film macht den Zuschauer zu seinem Gefangenen. Bereits die überdimensionalen Vorspanntitel in Cinemascope, die einen förmlich anspringen, erzeugen mit forciertem Nachdruck diese fast aufdringliche Nähe, der man sich kaum entziehen kann. Saverio Costanzos Film „Die Einsamkeit der Primzahlen“, entstanden nach dem gleichnamigen Bestseller-Roman von Paolo Giordano, ist intensives Kino, das seine Zuschauer einem permanenten psychischen Druck aussetzt und auf emotionale Überwältigung zielt. Ein nahezu omnipräsenter Soundtrack und ein retardierender Handlungsfluss erzeugen immer wieder jene beklemmende, potentiell schicksalhaft Zuspitzung der Gefühle, die gleichermaßen von Gefahr und Schicksal umlagert ist. Wenig Freiheit lässt der Regisseur dem Betrachter aber auch in Bezug auf den Plot: Durch eine ebenso kompliziert wie geschickt verschachtelte Erzählstruktur, die verschiedene Zeitebenen miteinander verbindet, werden die notwendigen Informationen in kalkulierten Dosen verabreicht.

Vier Lebensphasen, die aus dem sich von 1984 bis 2008 erstreckenden zeitlichen Rahmen herausgegriffen werden, sind für das schicksalhafte, von Kindheitstraumata verdunkelte Beziehungsgeflecht der beiden Hauptfiguren konstitutiv. Was Alice und Mattia unabhängig voneinander und doch parallel in ihrer Kindheit erleben, wird sie in ihrem späteren Leben zu einsamen Außenseitern stempeln und zugleich ihre Seelenverwandtschaft begründen. Während der hochbegabte, introvertierte Mattia unter Schuldgefühlen leidet, weil er für das spurlose Verschwinden seiner Zwillingsschwester Michela mitverantwortlich ist, findet sich die nach einem Skiunfall gehbehinderte Alice den grausamen Hänseleien ihrer Mitschülerinnen ausgesetzt. Saverio Costanzo nutzt diese Konstellation, um in geradezu rauschhafter Dichte von den komplizierten Gefühlswirren der Pubertät und den psychischen Defekten von Familienbeziehungen zu erzählen.

Mattias Mutter rührt diesbezüglich sogar an ein Tabu, wenn sie zu ihrem Mann sagt, die Kinder hätten ihr Leben zerstört. Costanzo konzentriert sich in seinem Film allerdings mit allem Nachdruck auf die seelischen Wunden von Alice und Mattia, deren Liebe nur zögerlich zueinander findet und die wie zwei Ertrinkende miteinander verbunden sind. Schließlich lässt sich das Trauma nicht löschen, sondern allenfalls mitteilen.

Aftershock

(CN 2010, Regie: Feng Xiaogang)

Bebende Herzen, bebende Welt
von Michael Schleeh

Als im Juli 1976 die nordostchinesische Stadt Tangshan von einem fürchterlichen Erdbeben erschüttert wird, sterben hunderttausende Menschen. Auch die beiden Kinder Li Yuan Nis (Xu Fan) werden unter den Trümmern …

Als im Juli 1976 die nordostchinesische Stadt Tangshan von einem fürchterlichen Erdbeben erschüttert wird, sterben hunderttausende Menschen. Auch die beiden Kinder Li Yuan Nis (Xu Fan) werden unter den Trümmern begraben. Da erklärt ein Rettungshelfer der verzweifelten Mutter, die beiden würden noch leben. Jedoch müsse sie sich für die Rettung eines der Kinder entscheiden, die tonnenschwere Betonplatte könne nur an einer Seite angehoben werden. Schließlich wählt sie den Sohn, der zwar einen Arm verliert, aber geborgen werden kann. Unglücklicherweise hört das die Tochter Fang Deng (Zhang Jingchu), die direkt neben ihrem Bruder liegt, und die totgeglaubt im Geröll zurückgelassen wird. Als sie später wie durch ein Wunder ebenfalls gerettet wird, verleugnet sie, schockiert von der Entscheidung der Mutter, ihre Familie. Unter all den verwaisten Kindern wird sie schließlich von einem Pärchen, zwei Offizieren der Volksarmee, adoptiert und aufgezogen. Über Jahre hinweg weigert sich Fang Deng, nach ihrer Familie in Tangshan zu suchen.

Feng Xiaogang ist einer der erfolgreichsten chinesischen Filmemacher unserer Zeit. Die sich vor Bresson verneigende Taschendiebskomödie „World without Thieves“ und der sich an Shakespeares „Hamlet“ orientierende Historienfilm „The Banquet“ waren auch im Westen bei Fans und Kritikern beachtenswerte Erfolge. Der vor Pathos triefende Propagandakriegsfilm „Assembly“ zwar weniger, doch in seinem Heimatland war diese Blockbusterproduktion, die sich an ein kollektives Nationalgefühl richtete, ebenfalls äußerst erfolgreich. Kein Wunder also, dass auch in „Aftershock“ keine Gelegenheit ausgelassen wird, den Zusammenhalt des chinesischen Volkes, die kommunistische Führung, oder die Armee als hilfsbereite Solidaritätsgemeinschaft zu feiern. Und Mao Zedongs Tod wird, kulturell sicherlich korrekt, sowohl als trauerfeierliche Großveranstaltung wie auch als familiärer Schock inszeniert. Die Ausstellung des Bombasts und die Feier der Gigantomanie des Regimes allerdings sind äußerst bedenklich.

Und damit nicht genug – um auch möglichst viel emotionale Anknüpfungspunkte zu generieren, wird auch noch das große Beben in Sichuan von 2008 in den Film eingebunden. Auch die jüngeren Zuschauer sollten wohl nicht leer ausgehen. Und so nimmt es auch nicht Wunder, dass „Aftershock“ als der erfolgreichste chinesische Film aller Zeiten ausgegeben wird; ein Film, der 30 Millionen Dollar gekostet hat und allein in China das dreifache eingespielt haben soll. Die Freiburger Nachrichten lassen sich sogar zu dem Kommentar hinreißen, dass „Aftershock“ all die Elemente vereine, „die „Titanic“ zu einem Welthit gemacht haben.“

Es ist jedoch nicht die Politik, die hier im Vordergrund steht. Es ist der Mensch in seiner kulturell traditionsreichsten Erscheinungsform: der Familie. Um diese dreht sich alles in diesem auf den melodramatischen Kick hin ausgerichteten Film. Und da die Schauspieler hervorragend agieren (wenn sie der Regisseur nicht in das Overacting hineintreibt), wird der Zuschauer immer wieder emotional mitgerissen. Auch die Tonspur macht hier keine Kompromisse und ist sich für keinen Streichereinsatz zu schade. Es ist der Film als Familienfilm, der in dieser sich auftürmenden Epik als ansehbare Schnittstelle anbietet: die Angst der Mutter um die Tochter, die Reue der Tochter für ihre Unnachgiebigkeit, die Tränen des Stiefvaters um die verstorbene Frau. Die Sorge der Mutter um das ungeborene Kind. Zhang Yimous „Leben!“ kommt da in den Sinn, und im Vergleich zu diesem recht ähnlich gelagerten Film, der eine Familie in turbulenten Zeiten über mehrere Generationen hinweg portraitiert, werden doch die genannten Schwachpunkte von „Aftershock“ deutlich. So ist „Aftershock“ ein politisch problematischer, ein sehr vorhersehbarer, sich an den Massengeschmack anpassender Mainstreamfilm, der seinen Blockbusterstatus stolz präsentiert. Ein Film, der in der Darstellung der Katastrophe überwältigen will und in den Momenten der Familienmelodramatik durchaus berühren kann. „Aftershock“ ist ein ergreifend durchschnittlicher Film.

Last Days

(USA 2005, Regie: Gus Van Sant)

Nichtlebenkönnen
von Andreas Thomas

Man solle mit niemandem schlafen, der den Film „Gerry“ nicht liebt, riet John Waters, „Elephant“ bekam in Cannes die Goldene Palme und „Last Days“ geisterte seit 2005 von einem großen …

Man solle mit niemandem schlafen, der den Film „Gerry“ nicht liebt, riet John Waters, „Elephant“ bekam in Cannes die Goldene Palme und „Last Days“ geisterte seit 2005 von einem großen Festival zum anderen, nur ins deutsche Kino wagte den letzten Teil von Gus Van Sants Tode-Trilogie in kompletten eineinhalb Jahren niemand zu bringen. Das verrät Einiges über den desolaten Zustand hiesiger Filmkultur, aber auch ein wenig darüber, wie es Van Sant mit seinem letzten Film geschafft hat, durch eigene Vorarbeit etablierte Sehgewohnheiten noch einmal zu unterminieren.

Van Sants Jugendporträts „Gerry“ und „Elephant“ waren Meditationen über das Sterben, vielleicht besser: das Nichtlebenkönnen. Die Jugend darin war kein Platzhalter der Zukunft mehr, nicht einmal eine Bastion der Rebellion ohne Grund, sondern ein marginalisierter Ort der Unsicherheit, Bedrohtheit und Bedrohlichkeit. Der Film mit dem apokalyptoiden Titel „Last Days“ nun phantasiert über die Todessehnsucht eines amerikanischen Jugendlichen, der binnen weniger Jahre in die Situation geriet, seine biografische Versehrtheit, seine private Wut und Depression mit einer großen jugendlichen Öffentlichkeit kommunizieren zu können (und schließlich zu müssen?), die sich offenbar in seinen Liedern gespiegelt fand. Seattle und Generation X waren die Stichwörter, die Band Nirvana und ihr Sänger Kurt Cobain waren deren Exponate und sie wurden zu internationalen Exportartikeln.

Im April 1994 schoss sich Cobain mit einer Schrotflinte den Kopf von den Schultern, in seinen Adern wurde angeblich eine dreifach tödliche Überdosis Heroin nachgewiesen, was sofort Mordspekulationen zur Folge hatte, obwohl niemand mit Bestimmtheit sagen konnte, an welche Dosen Heroin Cobain derzeit gewöhnt gewesen war. Bekannt ist, dass Cobain kurz vor seinem Tod eigenmächtig eine Krankenhausbehandlung abgebrochen hatte, und mit diesem Zeitraum, zwischen der Rückkehr aus dem Krankenhaus und dem Selbstmord, diesen letzten Tagen Cobains also, beschäftigt sich Van Sants Film, den er Cobain widmete, nicht ohne den Hinweis auf die Fiktionalisierung seiner „letzten Tage“.

Der Film hält sich nur ungefähr an Eckdaten und von Anfang an bricht der Film mit herkömmlichen Standards der Erzählweise. So fehlt ein Vorspann und eine einleitende Vorgeschichte, statt dessen sehen wir in einer halbtotalen Kamera-Einstellung, mit der Nüchternheit, wie man sie sich in Filmen aus der Verhaltensforschung vorstellt, ein fast tierähnliches Wesen, gekleidet und frisiert wie Cobain, welches sich halb instinktiv, halb orientierungslos durch einen Wald bewegt, durch einen Fluss watet, die Nacht an einem Lagerfeuer verbringt.

Blake, so wird das Wesen genannt, von Leuten, die in der Villa wohnen, wohin es immer wieder zurückkehrt, scheint seine Sprache verloren zu haben, nur noch undeutliches Gemurmel bringt es heraus, und es scheint keinen Bezug mehr zu seiner Umwelt herstellen zu können. Die größte Aufmerksamkeit erhält von ihm ein Mann (Thadeus A. Thomas, auch im wirklichen Leben ein Gelbe-Seiten-Handelsvertreter), der im Auftrag der Gelben Seiten ihn zu einer Annonce für seine „Firma“ überreden will. Lange Einstellungen auf Blake, gekrümmt auf dem Wohnzimmerfußboden, während auf MTV Boyz 2 Men „On Bended Knee“ singen, wie er zwischen Bewusstlosigkeit und Vollrausch (nie sieht man übrigens ihn eine einzige Droge konsumieren) dahinvegetiert, wie er sich wahllos in der Küche Essen zusammenmischt, wie ihm seine Plattenproduzentin (Kim Gordon von Sonic Youth) vorhält, er lebe nur ein Rock’n’Roll-Klischee, wie er vor seinem Agenten in den Wald flüchtet. Blake, der im Übungsraum mittels Loops zur Ein-Mann-Band wird, die Kamera schleicht sich während langer Minuten hinaus zur Totale. Blake, der seinen letzten Song singt: “It’s a long lonely way from death to birth“ (Komponiert und interpretiert von Hauptdarsteller Michael Pitt, im Stil durchaus vergleichbar mit Cobain-Songs, von denen im Film übrigens kein einziger zu hören ist, dafür ertönt in voller Länge Velvet Undergrounds „Venus in Furs“ mit der programmatischen Zeile „I could sleep for thousand years“). Und bei allem immer wieder seine Mitbewohner, die ihn kaum mehr wahrnehmen, der sie kaum mehr wahrnimmt, und ihm das Geld für eine neue Heizung einfach aus der Jackentasche ziehen, während er Unverständliches murmelt.

„Last Days“ besitzt weder eine subjektive Perspektive noch einen allwissenden Erzähler. Im Gegenteil, der Film bemüht sich geradezu, unwissend zu bleiben, das heißt, er geht den entgegengesetzten Weg der Presse, der Medien, der Fans, die ja immer alles gewusst haben, die mit Legenden und Mythen und Rockstar-Stilisierungen ihre Idole oftmals schon zu Lebzeiten töten, indem sie sie idealisieren, instrumentalisieren, zur Ikone einfrieren. Van Sants Film maßt sich nicht an, irgend etwas über die letzten Tage Cobains zu wissen, das führt mitunter so weit, dass die Kamera von fern registriert, dass Blake etwas aus dem Waldboden ausgräbt, was, das kann sie nicht erkennen. In der nächsten Einstellung sieht eine andere Kamera (die Kamera ist so antisubjektiv und „zufällig“, dass man manchmal wirklich meinen könnte, verschiedene rein mechanische Überwachungsaugen würden ihn beobachten), wie Blake ein erdverschmiertes Paket mit Schrotgewehrpatronen auf den Tisch legt.

Man könnte, wie ein Detektiv, bemerken: Offenbar ist hier von Blake die Entscheidung getroffen worden, eine Tat auszuführen, die er sich für einen bestimmten Zeitpunkt seines Lebens vorbehalten hat. Tatsächlich hat er von diesem Moment an immer eine Schrotflinte bei sich. Aber man muss es nicht bemerken, vielleicht ist es auch nicht das, worum es hier geht. Oder vielleicht will sich der Regisseur nicht anmaßen, zu wissen, worum es hier geht.

Der Film erzählt nicht eine Geschichte, er legt Beobachtungsmaterial vor, welches vom Zuschauer irgendwie zusammengesetzt werden kann. Die Auswahl und die Kriterien, nach denen diese Filmcollage dechiffriert wird, liegt im Ermessen des Zuschauers. Eigentlich gilt das im Prinzip für alles, was Film ist, aber „Last Days“ unternimmt im Gegensatz zum Standard-Kino große Anstrengungen, den Zuschauer in keine bestimmte Richtung der Handlungsinterpretation zu lenken, ihm also auch keine Erklärungsmuster anzubieten.

Natürlich steckt aber auch hinter der „Anfertigung“ des „Materials“ keine computergesteuerte Überwachungsanlage, sondern ein Filmteam, nicht zuletzt der Kameramann (Harris Savides), und deshalb ist auch das, was wie ein filmisches Zufallsprotokoll wirkt, genau kalkuliert und bewusst lenkend, aber hinein in ungewohnte und ungeübte Bereiche der Rezeption.

„Die Türen der Wahrnehmung“ ist der Titel der Ambient-Music von Hildegard Westerkamp, die Van Sant in „Last Days“ und auch schon in “Elephant“ als Soundtrack verwendete, und wenn „Venus in Furs“ programmatisch für die Geschichte, genauer gesagt, den Zustand des Protagonisten stehen könnte, dann könnte Westerkamps Titel für die Form stehen, in der uns der Inhalt präsentiert wird: Wie Blake ist auch der Film Worten gegenüber misstrauisch und verschlossen (es wird übrigens viel zeitgenössischer Unsinn im Film geredet), misstraut er also der Logik (der Musikindustrie, der Gelben Seiten, des „Sex and Drugs and Rock’n’Roll“, der Legende), stattdessen lenkt er (die, die dazu bereit sind) von der rationalen auf eine andere Wahrnehmungsebene, man hört den Wind in den Bäumen, das Rauschen des Wasserfalls, Bahnhofsgeräusche (Westernkamps Soundtrack) mitten in der Villa, von ferne Leute im Haus und die ganze Zeit werden wir alleine gelassen, als seine Observatoren, mit einem ausgebrannten jungen Mann. Eine mittlere Zumutung ist das schon, aber wie rät uns filmzentralen-Co-Herausgeber Dietrich Kuhlbrodt immer? Lass es einfach geschehen.

Sommer

(F 1996, Regie: Eric Rohmer)

Definitely Maybe
von Andreas Thomas

Die Helden in den Filmen Eric Rohmers sind anders als die meisten Leute, die wir – wenigstens aus dem Kino – kennen: Fast alle sind sie Nichtraucher, sie betrinken sich …

Die Helden in den Filmen Eric Rohmers sind anders als die meisten Leute, die wir – wenigstens aus dem Kino – kennen: Fast alle sind sie Nichtraucher, sie betrinken sich niemals und scheinen höchstens Blümchensex zu praktizieren. Dazu neigen sie auch noch zu etwas anderem Ungewöhnlichen: Sie reden lange, sie reden viel, sie reden bis zum Umfallen. Dass dabei manchmal mehr herauskommen kann als verbrauchte Luft, beweist z.B. die Episode 'Sommer' aus Rohmers Filmzyklus 'Erzählungen der vier Jahreszeiten', ein lebenskluger Film, der jenseits aller modischen Kinotrends eine unspektakuläre Geschichte erzählt, die vorstellbar wäre – wären ihre Helden (hier die der französischen oberen Mittelschicht) ein bisschen weniger wohlerzogen und gesprächig.

Gaspard, ein Mathematik-Student kurz vor Eintritt in das Berufsleben, verbringt seinen Sommerurlaub auf einer Bretagne-Insel, in der Hoffnung, der ihn anziehenden, kapriziösen Lena zu begegnen, mit der er dort locker verabredet ist. Doch Lena lässt auf sich warten, und Gaspard, von Natur aus eher passiv und schüchtern, aber nach eigener Einschätzung 'süß' wirkend, kann nicht verhindern, dass sich schon bald zwei andere Mädchen für ihn interessieren. Zu der unauffälligen, kellnernden Studentin Margot, die ihn am Strand anspricht, entwickelt Gaspard eher freundschaftliche Gefühle, gefördert durch ausgiebige Spaziergänge mit langen Gesprächen, deren zentrales Thema oftmals – er selbst ist. Obwohl bald darauf auch Solène ihn anspricht (nicht er sie), ist sie sichtlich eher Objekt seiner Begierde: langmähnig, temperamentvoll und zielbewusst. Sie hat sich gerade 'von zwei Freunden getrennt', und will sehr bald wissen, woran sie bei Gaspard ist, auch ohne ihn so intensiv kennengelernt zu haben, wie zuvor die kritischere Margot. Der nachgiebige Gaspard ist so schon beinahe Solènes 'neuer Freund', als aus heiterem Himmel doch noch Lena auftaucht und ihm Entscheidungen abverlangt. Da hat das Oasis-Poster mit der schönen Aussage 'Definitely Maybe' in Gapards Ferienwohnung schließlich eine ungeahnte Tragweite …

Ein paar tiefergehende Gedanken mag der studierte Philosoph und Mitbegründer der 'Nouvelle Vague' Eric Rohmer seinem 'Jahreszeiten-Zyklus' schon gewidmet haben, sodass die Jugendlichkeit einer der Protagonistinnen seiner 'Frühlingserzählung' oder die späten Bindungsversuche einer reiferen Frau in der 'Herbstgeschichte' sicherlich beabsichtigt sind. ‚Winter‘ lässt spontan Alter und Tod assoziieren. Die mäßige französische Kälte in Rohmers 'Wintermärchen' jedoch generiert Glauben und Hoffnung einer ausgerechnet noch jungen (aber einsamen) Frau. Die Gleichung Lebensalter = Jahreszeit geht also in Rohmers 'Jahreszeiten' nicht immer vollständig auf. Nähert man sich den Jahreszeiten mithilfe ihrer psychologisch-emotionalen Konnotationen, dann könnte ‚Winter‘ z.B. auch für Kargheit und Stagnation und ‚Sommer‘ für Fülle und Lebendigkeit stehen, und diese Methode erleichtert auch einen Zugang zu Rohmers 'Sommer'.

'Gaspard auf Freiersfüßen' hätte vor hundert Jahren vielleicht ein Roman mit ähnlicher Geschichte geheißen, und abgesehen von ein paar neuzeitlichen Errungenschaften, könnte 'Sommer' unter ähnlich liberalen Bedingungen, wie etwa denen der aufgeklärt-bürgerlichen Epoche der englischen Oberschicht, prinzipiell auch vor zweihundert Jahren spielen. Auf das Setting kommt es an. Doch 'Sommer' entpuppt sich eher als zeitlos als als altmodisch. 'Zeitlos' im Sinne von ungebunden an Epochen, Moden oder Regionen. 'Sommer' ist eher die Studie einer 'conditio humana' der Fülle, als ein Film über das Jungsein in den 1990er Jahren. Diese Bedingtheit glaubwürdig zu kreieren ist nur möglich in einer relativ offenen sowie toleranten Umgebung, wie die der hochsaisonalen sommerlichen Bretagne-Insel, wo wir Gaspard begegnen.

Erstaunlich ähnlich sind die ersten wackligen Handkamera-Einstellungen mit Gaspard auf der Fähre den ersten des Filmes 'Idioten' von Lars von Trier, und im Nachhinein ist es ist kein Wunder, über Eric Rohmers Authentizitätsliebe zu erfahren, dass er z.B. keine hinterher eingespielte Musik in seinen Filmen verwendet, nicht einmal einen Vogel, der nicht 'live' zur Aufnahmesituation singt (als wäre Rohmer ein 'Dogma 95'-er ). Die kleine und dadurch bewegliche Kamera in Rohmers Filmen wackelt zwar selten demonstrativ dokumentarisch (wie es die Dogma-Filme tun), aber sie ermöglicht problemlosen Zugang zu vorgefundenen Drehorten, an denen dann real existierende Szenarien die teilweise vorher ausgefeilten, aber auch improvisierten Szenen und Dialoge untermalen.

Man darf von Rohmer kein fulminantes Spektakelkino erwarten. Aus ‚Action‘ wird in 'Sommer' der ‚Sprechakt‘, und beinahe ausschließlich auf der sprachlichen Ebene entspinnt sich eine trotzdem interessante und abwechslungsreiche Handlung. Charaktere, ja geradezu präzise ausgeführte Seelengemälde liefern die Pole, zwischen denen Spannung erzeugt wird.

Im Zentrum des Films steht der Charakter Gaspard, der junge Mann in der Blüte seiner Jahre und auf der Höhe seines 'Marktwerts', der im Moment, da er die Wahl hat, realisiert, dass er noch nicht recht weiß, was er will. Gaspard ist ein (passiv) Suchender (und der Zuschauer ist eingeladen, mitzusuchen). Er sucht nach einer passenden Freundin, aber damit auch nach seinen eigenen Wertvorstellungen, sprich: nach sich selbst. Wie er das macht, d.h. wie Rohmer ihn und seine drei Wahlmöglichkeiten inszeniert, das zeugt von symphatisierender Menschenkenntnis, weil es in 'Sommer' de facto keinen Charakter gibt, der ernsthaft schlecht abschneidet. In dieser Geschichte gibt es drei Deckel und einen Topf. Mancher Deckel passt eben besser – das weiß der Volksmund -, aber Rohmer weiß auch, warum er das tut – und warum manchmal eine (erwachsene) Entscheidung das Wackeln verhindern könnte …

Wer Lust hat, länger aufmerksam zuzuhören, wird garantiert dazu lernen – wie überhaupt im Leben.

Final Destination 5

(USA 2011, Regie: Steven Quale)

Schöner sterben
von Oliver Nöding

'Final Destination 5'. Der Cineast rümpft die Nase, der Kulturpessimist formuliert im Kopf schon die Kritik, die er jedem Sequel gewohnheitsmäßig angedeihen lässt. Stichworte: Einfallslosigkeit, Kommerz, Wiederholung, Stagnation, Verdummung. Intuitiv …

'Final Destination 5'. Der Cineast rümpft die Nase, der Kulturpessimist formuliert im Kopf schon die Kritik, die er jedem Sequel gewohnheitsmäßig angedeihen lässt. Stichworte: Einfallslosigkeit, Kommerz, Wiederholung, Stagnation, Verdummung. Intuitiv sofort nachvollziehbar, aber nicht selten umso weiter an der Sache vorbei, je mehr man von der Richtigkeit dieser Kritik überzeugt ist. „Don’t judge a book by its cover“, sagt der Anglophone. Die 'Final Destination'-Reihe ist für einen Aufbaukurs in Sequel-Appreciation zwar ein denkbar schwieriges Anschauungsobjekt, weil der Vorwurf der ewigen Wiederholung des Gleichen mitten ins Schwarze trifft, aber gleichzeitig auch eines der besten, weil die Möglichkeiten, die in dieser Wiederholung liegen, nirgendwo effizienter ausgeschöpft werden. Im Verlauf ihrer fünf Teile strebt die Reihe einer Reinheit entgegen, die selbst die 'Freitag, der 13.'-Reihe noch wie eine komplexe Familiensaga aussehen lässt.

Wer die ersten vier Teile (oder zumindest einige von ihnen) gesehen hat, fühlt sich auch in 'Final Destination 5' sofort zu Hause – selbst das 3D kennt man ja schon aus dem direkten Vorgänger. Der Handlungsaufbau folgt streng dem etablierten Muster, für Überraschungen sorgen keine cleveren Wendungen der Geschichte, sondern nur noch die Variablen, die die Reihe vorsieht. So dreht sich die Katastrophensequenz, mit der die 'Final Destination'-Teile regelmäßig beginnen, diesmal um einen kolossalen Brückeneinsturz, bei dem einem als Zuschauer nichts anderes übrig bleibt, als sich mit schwitzigen Handflächen in seinem Kinositz festzukrallen und die Luft anzuhalten, nur widmet sich der Film im weiteren Verlauf etwas ausführlicher als die Vorgänger der Möglichkeit, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, indem man ihm ein Ersatzopfer zuführt. Da geht es dann sehr kurz um die Befähigung des Menschen zum Bösen, wird in einer kurzen und gerade deshalb sehr wirkungsvollen Szene angedeutet, was es eigentlich bedeuten würde, wenn über Jahrhunderte der Zivilisation aufgebaute Tabus plötzlich fielen. Horror, wie er sein muss. Wer psychologisch akkurate Charakterisierungen wünscht, wer Spannung nur da findet, wo er im Dunkeln tappt, der mag sich bei 'Final Destination 5' tatsächlich wie im falschen Film fühlen, aber er übersieht eben auch das Wesentliche. Die Strenge, mit der Regisseur Steven Quale der Formel folgt, schafft für den Zuschauer nämlich eine enorme Freiheit, lädt ihn dazu ein, den Blick auf all das zu richten, was ihm sonst entginge. Der Plot rückt in den Hintergrund, das Austauschbare, Nebensächliche, Banale gerät in den Fokus. Begreift man diese Strategie nicht bloß als Ausdruck einer ökonomischen Prinzipien folgenden Kalkulation, sondern als bewusst gewählten Modus der Erzählung, so kommt ein Film zum Vorschein, der gänzlich unverstellt und in erschütternder Klarheit von der Absurdität eines Lebens erzählt, das in jeder Sekunde von einem sinnlosen Tod beendet werden kann.

Neben den spektakulären Todesarten – das Markenzeichen der Reihe, die das Slasherfilm-Subgenre in einem genial zu nennenden Schachzug vom maskierten Killer befreit, stattdessen den Tod selbst zu ihrem Schurken gemacht und damit enormen kreativen Spielraum errungen hat – gibt es noch weitere stets wiederkehrende Elemente, die dem Zuschauer Orientierung bieten und mittlerweile fast wie musikalische Cues funktionieren: die Vision des Protagonisten, der einen fürchterlichen Unfall voraussieht und daraufhin sich und seine Freunde retten kann; die Großaufnahmen defekter oder ungünstig platzierter Gegenstände, die wie Drohungen oder böse Vorahnungen wirken; den Hauch des Todes, der die Figuren streift, sie kurz innehalten lässt, bevor sie der Vernunft wieder Vortritt vor ihren Instinkten geben. Nehmen andere Reihen solche Elemente zum Anlass, in die Tiefe zu dringen, zu erklären, ihre Mythologie auszuweiten und sich so immer weiter von ihrem ursprünglichen Kern wegzubewegen (man denke an die Kontext stiftenden Prequels, die die Originale mit ihrer Erklärungswut nachträglich ihrer Wirkung berauben), da behalten sie in der 'Final Destination'-Reihe ihre Unschuld, bleibt die Serie, die vor zehn Jahren unter der Regie der 'Akte X'-Erfinder mit latentem Mystery-Touch gestartet war, betörend unmysteriös.
Mit jedem weiteren Teil, der der Formel folgt, wird deutlicher, dass es hier nicht um übersinnliches Wirken und schreckliche Einzelfälle geht, sondern um die Banalität des Todes. Wenn er dich will, gibt es nichts, was sich daran ändern ließe. Es hilft noch nicht einmal, die Hauptfigur in einem Hollywood-Film zu sein.

Die Welt der 'Final Destination'-Reihe ist eine unperfekte: Überall liegen kaputte Kabel herum, tropft Wasser von der Decke, finden sich lose Schrauben und gibt es tückische Stolperfallen. Statt in schicken Glitzermetropolen wie New York, Las Vegas oder Los Angeles spielen sie in gesichtslosen Attrappen amerikanischer Großstädte, statt Stars agieren junge Durchschnittstypen ohne hervorstechende Eigenschaften. Was von ihnen einzig und allein hängenbleibt, das ist die Art, wie sie sterben. Und hier hat sich der Tod diesmal etwas besonders Gemeines ausgedacht: Weil sie seiner meisterlich choreografierten Brückenkatastrophe entgangen sind, lässt er sie im Tod besonders tolpatschig aussehen. Da bringt er etwa für die schöne Olivia alles so in Stellung, dass sie von einem Augenlaser mit Fehlfunktion spektakulär zerschnitzelt werden kann, lässt sie in letzter Sekunde schwer verwundet entkommen – und schubst sie dann zum Fenster raus. Die menschliche Hybris, sie ist das eigentliche Opfer der 'Final Destination'-Reihe.

Über uns das All

(D 2011, Regie: Jan Schomburg)

Ironische Beziehungsspiele
von Wolfgang Nierlin

„Sag mir mal die Wahrheit!“, fordert Martha (Sandra Hüller) von ihrem Mann Paul (Felix Knopp). Für einen irritierenden Augenblick schwebt eine Unsicherheit zwischen den beiden, scheint aus dem Spiel Ernst …

„Sag mir mal die Wahrheit!“, fordert Martha (Sandra Hüller) von ihrem Mann Paul (Felix Knopp). Für einen irritierenden Augenblick schwebt eine Unsicherheit zwischen den beiden, scheint aus dem Spiel Ernst zu werden. Mit Marthas Wechsel in den Konjunktiv entspannt sich die Situation kurz darauf wieder: „Wäre denn was rausgekommen?“. Ja, es wäre, hätte Paul diese Frage beantwortet. Doch der angeblich promovierte Mediziner, der demnächst eine Stelle in Marseille antreten soll, zieht es aus nicht näher behandelten Gründen vor, seine wahre Identität geheim zu halten und eine Lüge zu leben. In Jan Schomburgs Langfilmdebüt „Über uns das All“ gehört die vorsätzliche oder nur vorgebliche Täuschung zum Beziehungsspiel. Eine Sprache der Uneigentlichkeit markiert gewissermaßen seinen festen Kern. Weil das Eigentliche von Klischees umstellt ist, wird die Ironie zum Spiel gegen Abnutzungen. Doch wo das Eigene als Referenzpunkt fehlt, gerät die Ironie zum tödlichen Ernst.

So wird Martha durch die Nachricht von Pauls plötzlichem Selbstmord in eine ungläubige Fassungslosigkeit versetzt. Der Doppeldeutigkeit entzogen, wirkt die Wirklichkeit wie ein Schock. Martha, ebenso verunsichert wie verschlossen, braucht Zeit, das zu akzeptieren. Unfähig zur Trauer, versucht sie, mit kontrollierter Selbstbeherrschung in einem gesellschaftlichen Sinne zu funktionieren und erlebt ihre totale Hilflosigkeit. Dabei gewinnt der Grund der Verdrängung zunehmend Kontur, denn Pauls wahre Identität entzieht sich ihr immer mehr, weil sie kaum Spuren hinterlässt. Indem Marthas möglicher Trauer die Person abhanden kommt, projiziert sie die Bilder ihrer Liebe in einen anderen Menschen. Als gäbe es in ihrem Leben keine existentielle Zäsur, setzt sie das Beziehungsspiel mit dem Geschichtsprofessor Alexander (Georg Friedrich) fort, der in seiner Vorlesung zur Revolution von 1848 mit Hegel gerade über die geschichtliche Wiederholung bedeutender Ereignisse spricht. In einem ähnlichen Sinne spielt Martha mit größter Selbstverständlichkeit ihre alte Rolle mit einem neuen Partner durch.

Unter anderen Vorzeichen macht Martha mit ihrer Liebe also einfach weiter. Dabei wechselt der Film die Perspektive und blickt mit Alexander auf eine Frau, die sich immer wieder entzieht und deren schwankende Identität ungreifbar bleibt. Jan Schomburgs Inszenierung akzentuiert mit verfremdetem Ton, verstellten Bildern und „architektonischen Seelenräumen“ immer wieder diese selbstbezügliche, mysteriöse Ebene; und unterwandert dabei den nüchternen, fast klaustrophobischen Realismus seines sich in spiegelbildlicher Spiralförmigkeit entwickelnden Films, der andererseits zwischen ironischem Spiel und tragischer Ironie changiert. Ist die Liebe eine Projektion eigener Vorstellungen und Wünsche oder verwandelt sie das Gegenüber in einen andern Menschen? Jan Schomburgs Film „Über uns das All“, der mit William Shakespeares Sonett 116 über die im Wandel unwandelbar bleibende Liebe beginnt, verhandelt beide Möglichkeiten und hält eine Entscheidung darüber offen.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Mein Stück vom Kuchen

(F 2011, Regie: Cédric Klapisch)

Sieg der Menschlichkeit
von Wolfgang Nierlin

Der Vorspann von Cédric Klapischs neuem Film „Mein Stück vom Kuchen“ ('Ma part du gâteau') ist in seiner Dynamik und visuellen Dichte ein kleines kinematographisches Meisterwerk. Als virtuose Exposition, die …

Der Vorspann von Cédric Klapischs neuem Film „Mein Stück vom Kuchen“ ('Ma part du gâteau') ist in seiner Dynamik und visuellen Dichte ein kleines kinematographisches Meisterwerk. Als virtuose Exposition, die im Zeitraffer unterschiedliche Lebens- und Arbeitswelten kontrastiert und dabei ein widersprüchliches Bild der modernen Gesellschaft zeichnet, entfaltet die Titelsequenz zugleich die wesentlichen Motive des folgenden Films: Der subjektive Blick auf den vom Titel evozierten Verteilungskampf, verbunden mit dem Anspruch auf gerechte Teilhabe, spiegelt sich in den Gegensätzen von traditioneller Arbeitswelt und neuer Ökonomie, dem Leben am Existenzminimum und abgehobenem Luxus. Dass es dazwischen einen gewichtigen Zusammenhang gibt, ist eine These von Klapischs Film. Seine andere, kämpferischere liefert gleich eingangs mit den kleinen Triumphen von Solidarität und sozialem Zusammenhalt plakative Gegenbilder.

Anklänge an Ken Loachs Filme sind dabei unüberhörbar, etwa wenn der Widerspruchsgeist menschliche Würde einfordert. Klapischs leichtere Variante arbeitet im Tonfall einer sozialromantischen Komödie allerdings stärker mit Zuspitzungen und Überzeichnungen. Auf der Ebene des Dialogs wirkt das mitunter allzu forciert und flach, wenn es heißt, der Kuchen solle in möglichst viele Teile geschnitten werden oder die Fütterung der kleinen Enten habe Vorrang. Visuell wiederum ist der Film so ausgefeilt und elaboriert gestaltet, dass seine eindrucksvollen Hochglanzbilder zwar schön anzuschauen sind, aber aus der Wirklichkeit mitunter nur noch Klischees destillieren.

Das gilt vor allem für die Lebenswelt des 35-jährigen Börsenspekulanten Steve (Gilles Lellouche), eines skrupellosen Geschäftemachers, dessen Raubtierkapitalismus komplett abgekoppelt ist von seiner Verantwortung für reale Probleme und der ein abgehobenes, verschwenderisches Luxusleben führt. „Die Realität ist mir scheißegal“, sagt der zynische Machtmensch und Finanzhai, der als menschlicher Kotzbrocken alle möglichen schlechten Eigenschaften in sich vereint. Steve ist gewissenlos, egoistisch und undankbar; er missbraucht Vertrauen und hat in der Liebe kein Glück, weil es ihm an Empathie mangelt und er nicht kapiert, dass man Gefühle nicht kaufen kann.

An dieser Stelle kommt in der zunächst parallel erzählten Handlung das ethische und moralische Gewicht der zweiten Hauptfigur ins Spiel. Die 42-jährige France (Karin Viard), eine geschiedene Frau und Mutter dreier Töchter, die eben ihren langjährigen Arbeitsplatz in einer Dünkirchener Fabrik verloren hat, findet ausgerechnet im Pariser Haushalt des millionenschweren Maklers und verkrachten Junggesellen einen Job. Bald soll die lebenskluge, einfühlsame France auch noch Ersatzmutter spielen und Steves unehelichen kleinen Sohn Alban betreuen. Mit ihrem offenen Ohr für die Gefühlsnöte ihres gehetzten Chefs und als „Frauenversteherin“ wird sie darüber hinaus zur Ratgeberin in Liebesdingen und – über die sozialen Gegensätze hinweg – auch noch zu seiner Geliebten für eine Nacht. Die Ernüchterung folgt kurz darauf, als France erfährt, dass Steve für die Abwicklung ihrer Firma mitverantwortlich war und sie sich daraufhin von aufgewühlten Gefühlen zur Rache hinreißen lässt.

Cédric Klapisch konstruiert aus dieser konfrontativen Zuspitzung ein Finale, das den moralischen Sieg von Menschlichkeit und Solidarität feiert. Deren Wärme dringt sicht- und spürbar selbst noch in die lebensfeindlichen Kältezonen der Großfinanz.

Fright Night

(USA 2011, Regie: Craig Gillespie)

Beißen ohne Kulanz
von Sven Jachmann

Ein Remake, das einige Umwege wagt, um sich von seiner Vorlage zu emanzipieren: Tom Hollands gleichnamige Vampir-Funsplatter-Komödie aus dem Jahre 1985 besaß Charme, weil sie, neben komödiantischer Coming of Age …

Ein Remake, das einige Umwege wagt, um sich von seiner Vorlage zu emanzipieren: Tom Hollands gleichnamige Vampir-Funsplatter-Komödie aus dem Jahre 1985 besaß Charme, weil sie, neben komödiantischer Coming of Age und der Bedrohung des vorstädtischen Idylls durch einen Vampir in der Nachbarschaft, auch noch die Erzählmodi des Horrorfilms parodistisch, aber niemals albern kollidieren ließ: Der pubertierende Charlie Brewster, der seinem Umfeld vergebens zu erklären versucht, dass sich im Nachbarhaus ein Vampir sesshaft gemacht hat, versucht darin, den alternden TV-Moderator einer Gruselschmonzetten-Sendung Peter Vincent (eine gleich zweifache Hommage an die Dauerrivalen Peter Cushing und Vincent Price) als Unterstützer für seinen aussichtslosen Kampf zu gewinnen. Nur ist dieser Repräsentant des Gothic-Horrors alter Schule nicht sonderlich erpicht darauf, auf die modernen Vampire zu treffen, bei denen nur die wenigsten der früheren Hausmittelchen wirksam sind.

Die Rolle des einstigen Fernseh-Van Helsings übernimmt im Remake ein schillernder Fernseh-Magier (David Tennant), der in Las Vegas über sein eigenes Megacasino herrscht. Mittlerweile sind die Säulen des modernen Horrorfilms selbstreflexiv genug geraten, als dass sich noch aus der alten Differenz zwischen Tradition und Modifikation erzählerisches Kapital schlagen ließe. Auch sonst wurde wenig von der Vorlage adaptiert: Charlie Brewster (Anton Yelchin) muss nun nicht mehr gehemmt sein sexuelles Erwachen fürchten, sondern versucht, durchaus erfolgreich, sein Schulimage als Nerd abzulegen, wobei der Status seiner Freundin Amy (Imogen Poots) das Seinige dazu leistet. Folglich ist es auch nicht Charlie, der den neuen Nachbarn Jerry (Colin Farell) als Vampir identifiziert, sondern sein unscheinbarer Freund Ed (Christopher Mintz-Plasse), den die schrumpfende Schülerzahl in der Klasse, die sonst niemanden weiter interessiert, zu Nachforschungen animiert. Bevor er jedoch Charlie vollends von seinen Beobachtungen überzeugen kann, wird er von Jerry gebissen und verwandelt. Nachdem Charlie doch noch zufällig in den Dokumenten von Ed auf die unliebsame Wahrheit stößt, ist es ein leichtes, seine Mutter und Amy für sich zu gewinnen, denn Jerry gibt sich herzlich wenig Mühe, seine Alterität zu verbergen. Statt, wie einst beim Original, geduldig darauf zu warten, ins Haus der Brewsters eingeladen zu werden (denn anders können sie Vampire nicht betreten, so will es das Gesetz), brennt er es kurzerhand nieder. Fliehen und Jagen wird von nun an zum zentralen Movens des Films, und es ist schon auffällig, wie stark Regisseur Craig Gillespie dabei den Humor der Vorlage auf ein paar seltene Dialogwitze drosselt. Mit dem Eintritt in den urbanen Raum der Glitzermetropole Las Vegas, der so wenig wie die Suburbs ein Refugium sein kann, entblättert sich denn auch ein zweiter Text, der all das Gerangel ums Beißen und Rächen verbindet.

Isolation und Anonymität lauten die Stichworte: Hier wie im Original flüchtet man zwischenzeitlich in einen Club und darbt dann in der tobenden Menge umso hilfloser auf dem Präsentierteller. Der Unterschied: Ein Hauch von Entfremdung ist mit im Spiel: die Vorstädte, in denen ohnehin tagsüber geschlafen wird, weil nachts die Arbeit ruft, das mühselige Ringen um Coolness an den Schulen, überhaupt die geschiedenen Familien und versprengten Existenzen hinter den Vorhängen, und nicht zuletzt Peter Vincents spektakuläre Bühnenshow, die im Gegensatz zur TV-Sendung „Fright Night“ des Originals keine heimelige Nostalgie mehr bereit hält, sondern allenfalls die kollektive Verabredung zum Beschiss kostspielig zelebriert – all dies sind Teile einer Welt, deren Drängen zur Individuation eine Figur wie Jerry letztlich nur zu einer Art kannibalistischem Zerrbild erhebt. Strenggenommen ist er bloß einer, der die Regeln etwas zu genau verinnerlicht hat. Entsprechend präsentiert Colin Farell Jerry irgendwo zwischen apokalyptischem Romantiker, gelangweiltem Rebell und egomanischem Gigolo, der herzlich wenig Gemeinsamkeiten mit seinen zeitgenössischen Tugendterroristen aus dem „Twilight“-Universum aufweist, ja selbst die boshaft-abgründige Erotik des Fremden ist in Teilen einer recht pragmatischen Überlebensstrategie gewichen: Seine Opfer hält Jerry in kleinen toilettenartigen Zellen gefangen, wo sie dann, wenn der kleine Hunger kommt, wie ein Snack angezapft und wieder eingesperrt werden.

Gleichwohl ist der Film viel zu bedacht darauf, das Risiko mit dem Schema zu bannen, als dass er das deviante Treiben bis zum Exzess auszukosten sich traute. Die Hetzjagd wird zur Initiation Charlies, der ängstliche Säufer Peter Vincent zum beherzten Rächer, die vitale Amy kurzweilig zur Femme Fatale und die Mutter fällt in Ohnmacht, bis der Spuk ein Ende nimmt. Aber diese disparate Programmatik besitzt dennoch ausreichend Eigensinn, um zumindest im gegenwärtigen Vampirfilm zu bestehen. Für alles weitere bleibt nach wie vor Kathryn Bigelows „Near Dark“ zuständig.

Lollipop Monster

(D 2011, Regie: Ziska Riemann)

Zum Jagen geboren
von Wolfgang Nierlin

Die Welt ist bunt oder schwarz, die Kontraste sind hart, während die Gefühle in alle Richtungen ausbrechen und explodieren: Das unsichere, suchende Begehren zweier Teenager zwischen erwachender Sexualität und Selbstzerstörungstrieb, …

Die Welt ist bunt oder schwarz, die Kontraste sind hart, während die Gefühle in alle Richtungen ausbrechen und explodieren: Das unsichere, suchende Begehren zweier Teenager zwischen erwachender Sexualität und Selbstzerstörungstrieb, zwischen Trauer und Wut grundiert Ziska Riemanns Spielfilmdebüt, “Lollipop Monster”. Dabei ist bemerkenswert, wie die sexuelle Lust als anarchische Kraft in die spezifischen Ordnungen der vorgestellten Milieus, in Familien und Schule eindringt, Autoritäten aushebelt und geradezu destruktive Wirkungen entfaltet.

Bunt ist das Wochenendhäuschen der Familie Bach, irgendwo im Grünen außerhalb der Großstadt Köln; blond sind die Zöpfe der 15-jährigen Tochter Ari (Jella Haase), die im offenen Widerstand zu ihrer dysfunktionalen Familie steht, deren Liberalität und Toleranz jene Störungen und Hysterien erzeugt, die das labile Gefüge förmlich implodieren lassen. So ist Sohn Jonas (Janusz Kocaj) ein jähzorniger Simulant, die harmoniesüchtige Mutter bekämpft den Kontrollverlust mit übertriebener Sorge und der bildungsbürgerliche Vater hat sich längst ausgeklinkt. Aris Welt ist rot: Sie ist das Candy-Girl „out of control“, das sich auf der Suche nach „grenzenloser Freiheit“ von einem selbstverliebten Aufreißer entjungfern lässt und zum Abschied von der Kindheit die Wände ihres Zimmers schwarz anstreicht.

Oonas (Sarah Horváth) Welt wiederum ist schon schwarz: Die zeichnerisch begabte Tochter eines verschuldeten Künstlerpaars, das eine dunkle Fabriketage bewohnt, drückt ihre drängenden Gefühle mit dem Kohlestift aus, verehrt wie Ari die düstere Musik der fiktiven Band Tier (hinter der Alexander Hacke steht) und kleidet sich schwarz. Als ihr künstlerisch erfolgloser Vater Boris (Fritz Hammel) von seiner Frau Kristina (Nicolette Krebitz) ausgerechnet mit seinem eigenen windigen Bruder Lukas (Thomas Wodianka) betrogen wird und sich daraufhin erhängt, verwandeln sich Oonas Striche in zähnefletschende Monster. In ihnen verdichtet das sich selbst überlassene Mädchen jene traumatischen Erfahrungen aus Verlust, Trauer und Ohnmacht, die Oona in anderen Szenen auch zur Selbstverletzung treiben. Ziska Riemann, die als Comic-Zeichnerin bekannt geworden ist, spitzt diese dunkle Gefühlslage noch zu, indem sie die Handlung immer wieder in kurzen, flashartigen Animationen mit schwarzen Vögeln symbolisch verdichtet.

In „Lollipop Monster“ laufen die beiden Coming-Of-Age-Geschichten der beiden Mädchen so lange parallel nebeneinander her, bis sich Ari und Oona als Freundinnen erkennen und finden. Sie beziehen daraus eine ebenso ausgleichende wie energiegeladene Kraft, die ihr Unbehagen und ihren Widerstand nach außen lenkt und in eruptiver, wilder Entgrenzung entlädt, was sie zu wüsten, rebellischen Riot Girls macht. Ihre Gewalt richtet sich dabei immer stärker gegen jenes Raubtier in Menschengestalt, das als skrupelloser männlicher Verführer auftritt und das für die Freundinnen sowohl zum Objekt des Begehrens als auch zum feindlichen Hassobjekt wird. Die Ambivalenz dieser dunklen Triebnatur zwischen Lust und Zerstörung zieht sich von Anfang an durch „Lollipop Monster“, wenn der „Baron“ genannte Sänger von Tier im Lied „Instinkt“ singt: „Wir sind zum Jagen geboren.“

Easy Rider

(USA 1969, Regie: Dennis Hopper)

Gratis-Nutten
von Andreas Thomas

„Easy Rider“ ist vermutlich das erste Road Movie, das die Bezeichnung ganz verdient. Road Movies sagen immer etwas über die USA, weil sie immer in den USA spielen. Was in …

„Easy Rider“ ist vermutlich das erste Road Movie, das die Bezeichnung ganz verdient. Road Movies sagen immer etwas über die USA, weil sie immer in den USA spielen. Was in anderen Ländern als Road Movie gedreht wird, scheitert meistens daran, dass die Road nicht durch die USA geht. Überall sonst auf der Welt fehlen die unzähligen, unendlichen, geraden Highways, und das Äquivalent zum US-amerikanischen Lieblingsbegriff „Freiheit“, der ausgedehnte, offene Raum mit seinen unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten.

Das Road Movie als spezifisches amerikanisches Filmgenre? Womöglich. Vielleicht aber waren manche Western auch schon Roadmovies? Roadmovies ohne Road, aber mit Trampelpfaden für die Trecks in den Westen, die neue Welt. Viehherden, die weit durch die Prärie zu treiben waren, Cowboys, die zu Pferde dem Lande trotzten und seinen eigensinnigen Bewohnern. Cowboys gegen Indianer. Zu entdecken hatten die Weißen in Amerika immer schon einiges, und es in Besitz zu nehmen, zu okkupieren, zu völkermorden. Geschichten von Ethnien, Nationen, Landschaften wurden zu Westernmythen. Der Western als Kreator des nordamerikanischen Mythos. Die Geschichte im Western ist oftmals die idealisierte Geschichte des weißen Amerikas. Und je enger und komplizierter die Gegenwart, also z.B. je unfreier der amerikanische Bürger der McCarthy-Zeit, desto einfacher, freier und überschaubarer wurde das Amerika des Western: ein Land in Cinemascope. Statt ein Land der Verzagten und Unfreien, ein rauhes, doch üppiges Land „of the brave and the free“.

„Easy Rider“ handelt von zwei übrig gebliebenen Cowboys Amerikas. Auf Harley-Davidson-Choppern reiten Wyatt (Peter Fonda) und Billy (Dennis Hopper) von Mexico über L.A. (Kalifornien) nach New Orleans zum dortigen Karneval, zum Mardi Gras. (Alle späteren Roadmovie-Helden stiegen ins Auto, um ihr Land zu erkunden – oder um davor zu flüchten.) Die Vornamen haben sie von Wyatt Earp und Billy the Kid, mehr Hollywood-Western-Legenden als noch biografisch sauber rekonstruierbare Personen, der Supermarshal und der Superbandit stehen Pate für einen freien – auch schießfreudigen – Pioniersgeist. Aber die einzige Bewaffnung Fondas und Hoppers sind ihre Joints. Hopper sieht in seinem Banditen/Trapper-Look dem Vorbild Billy the Kid ziemlich ähnlich: Lange Haare, Schnäuzer, Cowboyhut, Fransenjacke. Nicht zufällig könnte er beides sein: Cowboy und das, für was er in „Easy Rider“ gilt: „Hippie“. Was das sei (und was es eigentlich nur bis 1967 offiziell gab), ist unklar, auch den beiden unbedarften Helden selbst. Deshalb ist es Thema des Films: Suche nach einer Identität, Standortbestimmung einer Generation. Wyatt (Fonda) spielt mit einer zweiten Rolle: Mit dem „Star-Spangled Banner“ auf Lederjacke, Helm und Benzintank ist der Supermarshal auch gleichzeitig Supersoldat Captain America, eine patriotische Comic-Figur, die die USA vermittels übermenschlicher Kräfte seit 1941 gegen die Nazis, in den Fünfzigern gegen die Kommunisten, verteidigte. Zunächst ist dieses Outfit sicherlich ein ironischer Kommentar, so wie z.B. auch Teile von Militäruniformen gerne von Hippies für ihren gewaltfreien „fight for peace“ missbraucht wurden. Darunter aber liegt auch ein ernst gemeintes, positives Verhältnis zu Amerika, ohne das der Film undenkbar wäre: So wie der Film mit der Hippiegeneration symphatisiert, so sorgt er sich auch um die Zukunft seines Landes, bezugnehmend auf dessen historische Errungenschaften und Verfehlungen.

Die Geschichte von Wyatt und Billy ist kurz und doch nicht schnell erzählt: In Mexiko kaufen sie eine große Menge Kokain, deren Verkauf an einen Pusher in Los Angeles sie zu schnellem Reichtum führt. Bevor sie die westöstliche Reise quer durch die Staaten antreten, werfen sie ihre Armbanduhren fort: Eine totale Unabhängigkeitserklärung. Im sehr konsequenten Sinne des in den USA gern und viel zitierten Wertbegriffs „Freiheit“. Am Schluss werden sie die Mentalität ihres Landes buchstäblich am eigenen Leib er-fahren haben; sie ist so intolerant, dass sie tödlich ist. Je weiter sie sich von ihrem Ausgangspunkt fortbewegen, desto misstrauischer und hasserfüllter reagieren die Menschen, denen sie begegnen. Optische Entsprechung ist der gleitende (die Kamera fährt immer nebenher) Übergang von der weiten Prärie und den Bergen Kaliforniens, den Sonnenuntergängen über der schönen, dünnbesiedelten Landschaft des Westens und Mittelwestens zu den eng bebauten Industrie- und Wohngebieten der Südstaaten mit deren sichtbaren Unterschieden von Reich und Arm, von Weiß und Schwarz. Sie sind – wie Cowboys oder wie Outlaws – gezwungen, unter freiem Himmel zu übernachten, weil sie aufgrund ihres Outfits in keinem Motel aufgenommen werden. Nur ein einfacher Farmer und seine mexikanische Frau gewähren Gastfreundschaft, er hilft ihnen bei einer Reifenpanne – während sie einen neuen Reifen aufziehen, bekommt das Pferd nebenan neue Hufeisen – und die große Familie lädt sie zu einem gemeinsamen Mahl ein. Solidarität in der Tradition der ersten Siedler. Ähnlich freundlich begrüßt man sie in einer Landkommune, der entbehrungsreichen Anstrengung einiger von der verfallenden Hippiekultur der Städte enttäuschter junger Leute, ihre Visionen von einem unabhängigen Leben in Liebe, Freiheit und Frieden zu realisieren. Die Dürre des Ackers, den sie besäen, auch sie ist Symbol: Abgemagert, aber entrückt sehen diese Stadtkinder aus, und was ihnen nach einer ersten Missernte bleibt, ist religiöser Art: verzweifeltes Anklammern an die Hoffnung auf und gemeinsames Beten für eine gute Ernte. Wie eine Mischung aus Urchristen und Ureinwohnern, Indianern, sehen sie aus. So durchdrungen vom Geist ihrer Utopie sie auch sind, so fragil, anachronistisch und letztlich naiv wirkt ihr Projekt. Die Unwahrscheinlichkeit des spirituellen Paradieses parallel zur übermächtigen materialistischen Außenwelt schlummert schon in seinem Keim. Zwei Dinge geben sie Wyatt und Billy mit auf den Weg: eine Weissagung des chinesischen Buchs der Wandlungen I Ging: „Aufbruch bringt Unheil. Beharrlichkeit bringt Gefahr.“ (Das nächste Zeichen: Es gibt keine Alternativen, keinen Ausweg – nicht nur für Billy und Wyatt …) und LSD, einzunehmen „mit den richtigen Leuten am richtigen Ort“.

Als sich die beiden Helden auf ihren Choppern freudig und durchaus patriotisch in einer texanischen Kleinstadt in eine Parade eingliedern, werden sie kurzerhand wegen „unerlaubter Teilnahme an einer Parade“ verhaftet. Nur der wohlgelittene Anwalt George Hanson (Jack Nicholson), der mal wieder wegen Alkoholabusus die Nacht in einer Zelle verbracht hat, verhilft beiden zur frühzeitigen Entlassung und rettet sie vor dem gewaltsamen Verlust ihrer langen Haare (die gebellte Forderung: „Haare ab!“ – auch im Deutschland der Endsechziger und der siebziger Jahre oft gehört – erinnert nicht zufällig an: „Rübe ab!“, entsprang sie doch derselben Intoleranz). Hanson, der sich schnell entschließt mit nach New Orleans zu kommen, ist der Vertreter kritischer, doch bürgerlicher Intellektualität in „Easy Rider“. Sein „Unbehagen an der Kultur“ treibt ihn zum Alkohol, doch der spontane (provisorische) Ausstieg gelingt ihm nur mit der Hilfe Wyatts und Billys, die ihn auch mit den Segnungen des Cannabis vertraut machen.

Der Genuss von „Pot“, Marihuana, ist für Billy und Wyatt bei weitem mehr als ein banaler (Alkohol-) Rausch: Er ist religiöser, transzendenter Natur, und das THC – wie auch das LSD – mit seiner „bewusstseinserweiternden“ Wirkung öffnet die Augen für die „wichtigen“ Dinge, es weiht seine Konsumenten ein in die Gemeinschaft der erleuchteten, friedfertigen Menschen. Das „Turn on, tune in, drop out“ („Berausche dich, stimme dich ein, steige aus“) des Ex-Professors Timothy Leary war das ernst gemeinte Credo der Hippiebewegung. Um sich aus der repressiven bürgerlichen Gesellschaft zu lösen, musste zuerst das verinnerlichte bürgerliche Bewusstsein verändert, aufgelöst und abgelöst werden. In der Hippiekultur galt Cannabis als Friedensdroge, übersehen wurde dabei, dass auch Soldaten in Vietnam regelmäßig ihre Joints rauchten oder auf dem Trip waren.

Während Billy und Wyatt sich eher instinktiv und unartikuliert aus der bürgerlichen Ordnung entfernt haben, erläutert er ihnen nachts beim Lagerfeuer – obwohl oder gerade weil er ein integrierter Kenner dieser Ordnung ist – die Gründe, warum sie gehasst werden („Ich finde es ist wirklich schwer, frei zu sein, wenn man verladen und verkauft wird wie eine Ware. Aber wehe du sagst jemand, er sei nicht frei – dann ist er sofort bereit, dich zu töten oder dich zum Krüppel zu schlagen, um zu beweisen, dass er frei ist.“) und er berichtet über Aliens von der Venus, von denen angeblich einige schon seit Jahren unauffällig auf dem Planet Erde leben: „Sie sind Menschen wie wir, genauso – aus unserem eigenen Sonnensystem. Nur mit dem Unterschied, dass ihre Gesellschaft höher entwickelt ist. Sie haben keine Kriege mehr, es gibt kein Geldsystem, sie haben keine Regierung … weil da jedermann regiert. Ich meine jeder Mensch – weil sie sich durch ihre Technologie in der Lage befinden zu wohnen, sich zu ernähren, sich zu kleiden und sich fortzubewegen – alle ohne Unterschied und Mühe.“ Natürlich sind diese „Menschen von der Venus“ nichts anderes als die Vertreter der Gegenkultur und die beschriebene Gesellschaftsform gleicht der Hippie-Utopie eines friedlichen Miteinanders. Eine Utopie, die heute, nach dem Zusammenbruch kommunistischer Staaten und Gesellschaftstheorien gerne belächelt wird, so wie auch der Film „Easy Rider“ wegen seiner Thematisierung dieser Utopie oft als versponnen und altmodisch abgehandelt wird. Der Sinn für Utopien ist uns gründlich ausgetrieben worden, so viel ist sicher. Ob das sein Gutes hat, ist fraglich …

Am frühen Morgen wird George durch einen Prügeltrupp Südstaatler, eine „Bürgerwehr“, im Schlafsack erschlagen, Wyatt und Billy kommen mit Blessuren davon. Die Drohungen und Verbalattacken der einheimischen Männer in einem Imbiss, wo sie am Vortag nicht einmal bedient worden sind, waren wirklich ernst zu nehmen – ebenso Georges Einschätzung ihrer Situation.

Wieder zu zweit fahren Billy und Wyatt nach New Orleans, wo sie zusammen mit zwei Prostituierten einen Tag und eine Nacht lang den Mardi Gras erleben. Eine bewegliche Kamera ist immer mit dabei, die Bildfetzen von den Paraden und Feiernden sind authentisch, und die latent aggressive Trunkenheit Dennis Hoppers ist nicht gespielt. (Wie auch die Joints am Lagerfeuer echte waren, und die dortigen Gespräche improvisiert und sichtbar THC-inspiriert.) Der Karneval wirkt nicht aufheiternd auf sie, er ist eher eine großer Rausch des Verdrängens. Am nächsten Tag ziehen sie sich zusammen mit den beiden Frauen auf einem Friedhof zurück, um das LSD zu nehmen, statt einer mystischen Offenbarung erleben sie die Potenzierung ihrer Niedergeschlagenheit: einen Horrortrip. „Mit den richtigen Leuten am richtigen Ort“ sind sie nicht, und es ist fraglich, wo es den für sie überhaupt noch geben kann.

Bei ihrem letzten Lagerfeuer sagt Wyatt zum über ihren Reichtum begeisterten Billy: „We blew it“. (In der deutschen Synchronisation: „Wir sind Blindgänger.“) Wenn sie eine Chance hatten, dann haben sie sie in Wyatts Augen verpasst. Freiheit bedeutet für ihn offenbar nicht, reich und dadurch finanziell unabhängig zu sein, wirkliche Freiheit liegt für ihn woanders, vielleicht im spartanischen Leben einer Landkommune, aber es scheint keine Rückkkehr mehr möglich – besonders wenn man Visionen seines eigenen Todes hatte, wie Wyatt.

In „Easy Rider“ sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft rätselhaft verzahnt. Immer wieder wird von einer zur anderen Szene mit kurzen, flackernden Jump-Cuts gewechselt, bis die neue Szene „sich durchsetzt“. Der größte dieser Sprünge ist das Bild der brennenden Motorräder aus der sich entfernenden Vogelperspektive, das in die Bordellszene in New Orleans geschnitten ist. Obwohl dieser Methode hier eine persönliche Zukunftsvision zugrunde liegt, passt sie stilistisch zu den beschriebenen zeitübergreifenden Schnitten: Auch die Filmerzählung ist wissend, die Zukunft ist schon in der Gegenwart vorhanden, es gibt eine Bestimmung, ein Schicksal.

Und das vorbestimmte Ende ist der Tod. Das Wissen um das eigene Ende kommt einem aus dem Neuen Testament bekannt vor, vielleicht sind Bezüge auch erlaubt. Ein wenig Märtyrer sind diese passiven Helden schon, so sind sie vielleicht nicht nur Supermarshal, Superbandit, Supersoldat, sondern auch ein bisschen Jesus. Sicherlich aber stehen sie für den Rückzug und die Resignation einer Gegenkultur, die u.a. mittels mystischer Bezüge Toleranz und Frieden realisieren wollte, die vielleicht auch an ihrer zu unpolitischen Naivität gescheitert ist. Den Vietnamkrieg hatte die „Counter Culture“ nicht stoppen können, Martin Luther King und Robert Kennedy waren ein Jahr vor Entstehung des Films ermordet worden, auch unter den politisch aktiven „Weltverbesserern“ kam Hoffnungslosigkeit auf.

Entgegen seinem Mythos als der Film der Flower-Power-Bewegung also ist „Easy Rider“ ein Film, der gerade deren Versagen und Scheitern beschreibt. Aber das zumeist junge Publikum war durch die Romantik von Motorrädern, flatterndem Haar und nicht zuletzt durch die Musik von The Byrds, Bob Dylan („And if my thought dreams could be seen, they’d probably put my head in a guillotine“), The Band, Grateful Dead, Steppenwolf („Born To Be Wild“ gilt heute vielen als der Schlüsselsong der Hippiebewegung), Jimi Hendrix, The Electric Prunes, u.a. (Die Musik in „Easy Rider“ untermalt nicht nur die Bilder, in manchen Szenen dienen die Bilder eher der Musik – frühe Musikvideos also) so beeindruckt, dass z.B. jedes dritte Jungszimmer in der BRD noch bis spät in die siebziger Jahre durch Poster mit Hopper und Fonda auf ihren Maschinen geziert wurde. „Easy Rider“ war Kult.

Die innovativste Element von „Easy Rider“ aber ist der für seine Zeit vergleichsweise hohe dokumentarische Gehalt. Der Film handelt deshalb wirklich von dem, wovon er spricht, weil seine schönen und bedrohlichen Kulissen – die Landschaften, die Städte, die Dörfer, aber auch die Figuren, die darin agieren, weitgehend authentisch sind. So ist „Easy Rider“ in zweifacher Hinsicht ein Zeitzeugnis: Durch sein Konzept, also durch die Geschichte der zwei allegorischen „Hippies“ und durch das Wagnis, seine fiktiven Figuren an der nicht fiktiven US-amerikanischen Wirklichkeit zu messen. Dass dieses Wagnis aufgeht, macht den Film so nachhaltig beeindruckend. Ein wichtiger zweiter Aspekt des Films war die Personalunion von Autoren (Nicholson, Hopper, Fonda) und Darstellern bzw. Regisseur (Hopper). Ein experimenteller Autoren-Film solcher Art hatte in den USA bis dato keine vergleichbaren Gewinne eingefahren (Produktionskosten: 325 000,- Dollar; Einnahmen: über 16 Millionen Dollar), und namentlich der Erfolg von „Easy Rider“ ermöglichte jungen amerikanischen Autorenfilmern die Chance in Hollywood ihre „anderen“ Filme machen zu können: Bill Norton („Cisco Pike“), Monte Hellman („Asphaltrennen“ [„Two-Lane Blacktop“]), Robert Altman („M*A*S*H*“), Hal Ashby („Harold und Maude“), Peter Bogdanovich („Bewegliche Ziele“), Francis Ford Coppola („Apocalypse Now“ – u.a. wieder mit Hopper), Martin Scorsese („Taxi Driver“).

Schauspielerisch leisten die beiden Protagonisten übrigens weniger als eine der wohl bemerkenswertesten Nebenrollen der Filmgeschichte: Der präsente Jack Nicholson spielt den etwas linkischen, unberechenbaren Hopper und besonders den starren, unentschlossenen Fonda von seinem ersten Auftritt im Gefängnis an locker gegen die Wand. Und was der heutige Zuschauer an ihm kennt und liebt (oder was manche auch nervt), ist in den ersten seiner Szenen schon sichtbar, besonders seine notorische, obszöne Manie, bei jeder Gelegenheit die Zunge zu zeigen. Für Nicholson begann mit „Easy Rider“ sein Durchbruch als Star, während Fondas Karriere eher im Sande zu verlaufen begann. Der exzentrische – und damals exzessive Drogenkonsument – Dennis Hopper, der mit „Easy Rider“ wohl seinen wichtigsten Film gedreht hatte, versuchte sich nur noch selten in der Regie – umso häufiger als Darsteller des Hollywood-Bösewichts (dazu verhalf ihm wohl vor allem die ihm auf den Leib geschriebene geniale Rolle als psychopathischer Gangster in David Lynchs „Blue Velvet“ (1985)). Weitere Filme von ihm waren „The Last Movie“ (1971), ein monomanisches, auf hoher Ebene gescheitertes Projekt mit einem meist an der Grenze zum Delirium wandelnden Hauptdarsteller Hopper oder „Explodierende Träume“ („Out of the Blue“, 1979), ein sehenswerter, früher Film über „White Trash“, über eine zerrüttete Familie in den USA.

Der diskrete Charme der Bourgeoisie

(F 1972, Regie: Luis Buñuel)

Psycho ohne Analyse
von Andreas Thomas

„Und dann war ich noch froh, dass ich in diesem Film das Rezept meines Martini dry unterbringen konnte.“ Luis Buñuel Worum geht es hier? Schwer zu sagen. Bliebe nur die …

„Und dann war ich noch froh, dass ich in diesem Film das Rezept meines Martini dry unterbringen konnte.“ Luis Buñuel

Worum geht es hier? Schwer zu sagen. Bliebe nur die Flucht in die Inhaltsangabe … aber was IST denn der Inhalt? Mal überlegen: 6 Großbürgerliche sind zum Essen verabredet. Aber Ort und Zeitpunkt scheinen falsch zu sein. Der Versuch wird wiederholt, mehrfach, ohne rechten Erfolg. Zum Essen kommt es nicht wirklich. Sei es, weil ein Missverständnis vorliegt, sei es, weil alle verhaftet werden, sei es, weil alle erschossen werden, sei es, weil das Treffen nur ein Traum, eher ein Alptraum, war. So ist der ganze Film: Nicht zu entscheiden, ob Traum, oder Pseudorealität (Fiktion), und selbst im Traum immer wieder junge Soldaten, die der Bourgeoisie ihrerseits ihre Träume zum Besten geben, oder von ihrer tragischen Kindheit erzählen („Es wird länger dauern, aber es wird interessant!“).

Absurd und surreal. Ironie und Psycho ohne Analyse. Das Unbewusste lebt. Und es sagt alles, auch wenn Herr Buñuel es nichts erklären lässt. Das Sein ist ein zweckloser Zustand, umso zweckloser das Sein der Bourgeoisie. Das deklarierte, angestrebte Ziel, das Dinner, wird nie erreicht, eine Sättigung, die Auflösung eines leiblichen Bedürfnisses bleibt unerfüllt. Was bleibt, ist der Weg, das Wie. Und meisterlich bringt Buñuel uns nahe: die Codices großbürgerlicher Vornehmheit, Arroganz und Verderbtheit, das nonchalante Arrangement von politischer, klerikaler und militärischer Macht. Es geht darum, zu sein, was man ist, savoir vivre, zu bleiben, wie man ist und wo man ist und hingehört: an die Macht. Morde, mehrere in diesem Film, sind entweder Kavaliersdelikte, Anekdoten der schauerlichen Art, altmodische Kolportage, oder Alpträume – wenn man selbst Opfer politischer Attentate wird. Das Leben der Bourgeoisie ist ein Schauspiel der vornehmen Fassade. In einer der schönsten Szenen öffnet sich hinter der gedeckten Tafel ein Vorhang: dahinter das Publikum, das Essen ist der zu spielende Akt, unsere großbürgerlichen Menschen die Theaterschauspieler – die plötzlich ihren Text vergessen haben und zu schwitzen beginnen.

Gelassene, spielfreudige und brillante Schauspieler verwandeln Buñuels lakonischen Plot in einen schlafwandlerisch stilsicheren Film, der an keiner Stelle einen Aussetzer hat, nie überpointiert oder irgendwie bedeutungsschwanger ist. Ein unbeirrbar weises (und pechschwarzes) Understatement praktiziert der Film in der Sprache seiner Bilder und Figuren, sodass jede neue Pointe den Spaß an der vorigen verdoppelt, in dem Maß, wie jede neue Szene einen weiteren Aspekt der Phänomenologie einer gesellschaftlichen Klasse addiert, weil die filmische Skizzierung durch keine figurellen oder inszenatorischen Fehler ins Stocken gerät. Aus dem idealen Ensemble noch heraus ragt der grandiose Fernando Rey als Kokain schmuggelnder, dauergeiler und schießfreudiger Botschafter der südamerikanischen Bananenrepublik „Miranda“. In einer Gastrolle als befreundeter Justizminister der ihm in nichts nachstehende Michel Piccoli. Militär, Kirche, Polizei, Politik: alle sind sie niedlich vereint in der Bewahrung ihres Status Quo durch Unterdrückung und Korruption. Und sie geben sich kaum Mühe, das zu vertuschen. Die Politik, so der Botschafter, wird schließlich auch nicht durch Diplomatie oder gar Demokratie entschieden, denn sie ist eine militärische Angelegenheit.

Luis Buñuel knüpft mit seinen späten Filmen (u.a.: „Belle de jour“ (1966), „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ (1972), „Diese obskure Objekt der Begierde“ (1977)) bei seinen besten Zeiten an, bei „Ein andalusischer Hund“ (1928) und „Das goldene Zeitalter“ (1930). Doch: Auch wenn Buñuel versucht hat, alle Deutungsversuche seines surrealen Films mithilfe doppelter Böden und verdreifachter Realitätsebenen zu verhindern, so hat er ein wunderbar scharfsichtiges, entlarvendes, komisches und kritisches Portrait abgeliefert von einer Bourgeoisie, die, wenn sie noch nicht abgeknallt wurde, dann heute noch dafür lebt, sich für das nächste Dinner zu präparieren.

Der Elefantenmensch

(GB / USA 1980, Regie: David Lynch)

Crushed by the wheels of industry
von Andreas Thomas

„Oh, Mr. Merrick, Sie sind kein Elefantenmensch, Sie sind Romeo!“ In David Lynchs Werk finden sich zwei Filme, die auf den ersten Blick „normal“ scheinen, d.h. die offenbar nicht in …

„Oh, Mr. Merrick, Sie sind kein Elefantenmensch, Sie sind Romeo!“

In David Lynchs Werk finden sich zwei Filme, die auf den ersten Blick „normal“ scheinen, d.h. die offenbar nicht in einer irgendwie surreal verformten Welt spielen. Beide beruhen auf Tatsachen. Der eine ist „The Straight Story“, der andere „The Elephant Man“.

John Merrick, ein junger Engländer der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wird aufgrund der absurden Deformation seines Kopfes (mit fast einem Meter Umfang) und seines mit Geschwüren bedeckten Körpers von seinem „Besitzer“, dem Schaubudenbetreiber Bytes, auf Jahrmärkten als der „Elefantenmensch“ vorgezeigt, bis er von dem Londoner Arzt Dr.Treves für seine wissenschaftliche Forschung entdeckt und, nach mehreren Hindernissen, auf Dauer im Hospital untergebracht wird. Es stellt sich heraus, dass Merrick nicht, wie man wegen seiner zunächst apathischen Stummheit vermutet, schwachsinnig, sondern ein sensibler Mensch mit wachem Reflektionsvermögen ist, ein einsamer, misshandelter Mann, der jahrelang wie ein Tier gehalten wurde und nie eine Chance hatte mit anderen Menschen in gleichberechtigten Kontakt zu treten. Merrick kann sprechen, sogar lesen und schreiben, und Dr. Treves versucht, ihm ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen.

Schwarzweißbilder klassischen britischen Kinos eines David Lean prägen die Atmosphäre des “Elefantenmenschen“, kontrapunktiert durch einen Prolog, Epilog und Mittelteil (kurze phantasmagorische Verdichtungssequenzen, die für Geburt, Tod und leidvolle Existenz des Elefantenmenschen stehen), Urbilder der Angst, wie wir sie von Lynch kennen – optische und akustische Fremdkörper, die sich wundersam einfügen in diesen eher konventionellen Film, der auch Jahrzehnte zuvor hätte gedreht sein können, was vor allem dem Briten Freddie Francis zu verdanken ist, der als Kameramann seit den Fünfziger Jahren an Filmen beteiligt war, die, laut Robert Fischer, zu den „schönsten Schwarzweißfilmen in Cinemascope zählen, die je gedreht wurden“, (z.B. „Söhne und Liebhaber“ (1960) oder „Schloss des Schreckens“ (1961)). „Der Elefantenmensch“ ist der einzige Film, den der Amerikaner Lynch in Europa inszeniert hat. Er hat in ihm so viel Gespür für England, London und die viktorianische Zeit entwickelt, dass er sich während der Dreharbeiten geradezu in einen britischen Regisseur verwandelte. Da er erst mit dem „Elefantenmenschen“ beim großen Publikum bekannt wurde, hielten ihn lange Zeit viele Amerikaner für einen Engländer.

Das düstere, vernebelte London eines späten Dickens-Romans beherbergt in der Figur dieses „Elefantenmenschen“ John Merrick eine Fusion des „Quasimodo“, dem „Glöckner von Notre Dame“ (nach Victor Hugos Roman, verfilmt u.a. 1939 von William Dieterle) und dem herangewachsenen Baby aus Lynchs „Eraserhead“ (1977): eine missgestaltete, erschreckende und ausgestoßene Kreatur. Im Unterschied zu „Eraserhead“ hat Lynch die Perspektive gewechselt. Er sieht mit den Augen der leidenden Missgeburt auf die Welt, die sie verdammt, nicht umgekehrt. Dieses Monster ist gutmütig und unschuldig, es will nur ein eines Menschen würdiges Leben – in einer frühindustriellen Welt, in der geschundene Menschen in einer durch qualmende Schlote verfinsterten Stadt arbeiten und leben müssen. Eigentlich ist der Elefantenmensch Merrick keine Ausnahme, sondern eher komprimiertes Sinnbild seiner Epoche. Er ist der Status Quo des unterdrückten, an den Rand des Interesses gedrängten und von der Industrialisierung verformten Menschen.

In den Filmen David Cronenbergs besteht die evolutionäre Konsequenz des industriellen Zeitalters meist darin, dass Mensch und Maschine zu einer Einheit verschmelzen. In David Lynchs „Elephant Man“ imitiert der Körper den Himmel über den Fabriken: „… man sieht Bilder von Explosionen – großen Explosionen – sie haben mich immer an die Papillome an John Merricks Körper erinnert… selbst die Knochen explodierten … brachen durch die Haut und bildeten diese Wucherungen in Form von langsamen Explosionen … Die Vorstellung von Schloten, Ruß und Industrie unmittelbar neben dem verwucherten Fleisch war … etwas, das mich weitermachen ließ …“ (aus: „Lynch über Lynch“).

Wie auch „Eraserhead“ atmet „Der Elefantenmensch“ die hermetische, stickige Luft eines rauhen Industrialismus. Wie in „Eraserhead“ ist ein permanentes Grummeln und Wummern Soundgrundlage. Weil im viktorianischen London eines der lynch’schen Lieblingssujets, die Elektrizität (die in jedem seiner anderen Filme summt und jeweils mindestens einmal gefährlich knistert und deren Bedrohlichkeit sich durch flackernde Lampen bemerkbar macht), noch nicht im allgemeinen Gebrauch war, benutzt Lynch das Geräusch der Gaslampen als zweite wichtige Geräuschkulisse neben dem Fabrikenvibrato.

Sehr schön sicht- und hörbar ist seine bewusste Vertiefung in dieses „Gas-Phänomen“, als die Oberschwester das Gas zur Nacht herunterdreht und nicht nur alle Flammen kleiner werden, sondern zuerst das von Tongestalter Alan Splet und David Lynch gemeinsam zurecht ziselierte Geräusch verminderten Gasaustritts ertönt.

„Es ist Nacht!“ murmelt Merrick dann im Dämmerlicht, und er weiss wie kein anderer um die Schrecken und die Ungeheuer dieser Stunde. Damit antizipiert er schon den Augenblick, in dem Frank Booth in „Blue Velvet“ (1986) mit den Worten „Jetzt ist es dunkel!“ seine eigene Verwandlung in den so infantilen wie gefährlichen Psychopathen im Ausnahmezustand einleiten wird. In der Lynch’schen Nacht schläft die Vernunft, und der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Die Dunkelheit ist die Zeit des Traumes, (der Romantik, des Surrealismus), des Bösen (der Gewalt, des Verbrechens) und des nicht Erkennbaren, des Unbewussten, das Angst bereitet, solange es nicht entschlüsselt ist.

Je mehr John Merrick leiden muss, desto dunkler wird der Film, desto weniger können wir ihn erkennen, so als müsse er wieder in der Nacht des Leidens und der Sprachlosigkeit versinken, aus der er gekommen ist. Nur die Sprache bringt Licht, nur durch sie bekommt Merrick Konturen, durch sie entschlüsselt sich ihm die Welt, klärt sie sich auf.

Dunkel sind auch die Bilder seiner mysteriösen Herkunft: Die mit John schwangere Mrs. Merrick sei „in ihrem 4. Monat auf einer unbekannten afrikanischen Insel von einem Elefanten niedergetrampelt“ worden, proklamiert Bytes, Merricks Schausteller. Und Merrick hat tatsächlich selber Ähnlichkeit mit einem Elefanten.

John Merrick ist, auch in der vermeintlichen Sicherheit des „London Hospital“, beidem ausgesetzt, in der Nacht der perversen Schaulust und den demütigenden Qüälereien der Londoner Halbwelt und tagsüber dem Interesse der gehobenen Gesellschaft, die ihn offiziell begafft, der er Tee anbietet, aber deren höfliche Umgangsformen er bis zur vollendeten Vornehmheit kultiviert, und deren Kultur, von Salomons Psalmen bis zum Theaterbesuch, er als Antwort auf die ihm an Leib und Seele erfahrenen Barbarei begreift. Anteilnahme und Respekt widerfahren ihm durch Dr.Treves (Anthony Hopkins), den Klinikleiter (John Gielgud) und die Oberschwester des Hospitals. Anne Bancroft spielt eine Theaterschauspielerin, die in Merrick gar den „Romeo“ erkennt und ihm seinen ersten Kuss gibt (12 Jahre nachdem sie in der „Reifeprüfung“ (1968) als Mrs. Robinson in Dustin Hoffman [profaner] den Mann erkannte und gebrauchte).

Merrick findet sein wahres Ich. Er wird Künstler, weil sich erst in der Kunst der Mensch über sein materielles und sterbliches Dasein erhebt. Er fertigt aus Streichhölzern die Miniatur einer Kathedrale, von der er durch sein Fenster nur die Turmspitze erkennen kann. Mit Hilfe der Phantasie baut er ein komplettes Kathedralenmodell, beinahe erfindet er die Gotik neu, und mit diesem Lebenswerk – wenn es vollendet ist, wird er sich zum Sterben niederlegen – rekonstruiert er das erzählerische Zentrum des „Glöckner von Notre Dame“. Merrick wohnt in einer Kammer unter dem Turm des Hospitals, zunächst erschreckt er beim Schlag der Turmglocke; später scheint es, als erinnere er sich an (s)ein anderes, früheres Dasein …

Später werden uns Kleinwüchsige an die „Freaks“(1932) von Tod Browning erinnern. „Freaks“ ist „immer der unerträglichste Monsterfilm, weil das Hollywood-Kino, das sonst die schönen Körper feierte, hier zu einer Identifikation mit einer Menschheit zwingt, die nicht die üblichen äußeren Formen unserer Art hat“, schrieb Frida Grafe 1993. Diese „Freaks“ retten ihren „Bruder“ John Merrick aus größter Not, führen ihn vorbei an einem nächtlichen Fluss, der wiederum – und da schließt sich ein mysteriöser Kreis – der „Nacht des Jägers“ (1955), Charles Laughtons einziger – und leider damals unterschätzter – Regiearbeit entsprungen sein muss. In „Die Nacht des Jägers“ sind zwei Kinder vom Bösen verfolgt, und der Fluss ist ihr märchenhafter Beschützer. Verletzbarkeit und wehrlose Unschuld eint die Hauptfiguren aller drei Filme.

Die Geschichte John Merricks beruht auf einem Tatsachenbericht des echten Dr.Treves. John Carey Merrick lebte von 1862 bis 1890. Die im Film verwendete Maske des „Elefantenmenschen“ (gespielt vom im Film nicht erkennbaren John Hurt) wurde dem Gipsabdruck der Totenmaske des originalen John Merrick nachgebildet. Dieser Gipskopf hatte seit Merricks Tod bis zum Zeitpunkt der Dreharbeiten noch nie das „London Hospital“ verlassen. So ist also der „Elefantenmensch“ im Schutz, gewissermaßen aber auch im „Besitz“ des Krankenhauses geblieben (ähnlich wie er vorher im „Besitz“ des Schaubudenbetreibers Bytes war), bis David Lynch ihn zum ersten Mal daraus befreite – und sich zu eigen machte.

„Der Elefantenmensch“ ist eine Parabel menschlicher Einsamkeit, der Sehnsucht nach Geborgenheit inmitten einer brutalen, materialistischen Welt. Wenn John Merrick sagt, dass er nur geliebt werden will, so wie er ist, dann spricht er nicht nur für die „Freaks“ dieser Welt, sondern eigentlich für jeden von uns. Oder können wir keinen einsamen Elefantenmenschen in uns finden?

The King of Comedy

(USA 1983, Regie: Martin Scorsese)

Humor ist, wenn man trotzdem beißt
von Andreas Thomas

Zu den unbekanntesten Filmen des US-amerikanischen Regisseurs Martin Scorsese gehört “The King of Comedy” (1982), und das, obwohl daran dasselbe Erfolgsduo beteiligt war, das mit „Taxi Driver“ (1975), „Wie ein …

Zu den unbekanntesten Filmen des US-amerikanischen Regisseurs Martin Scorsese gehört “The King of Comedy” (1982), und das, obwohl daran dasselbe Erfolgsduo beteiligt war, das mit „Taxi Driver“ (1975), „Wie ein wilder Stier“ (1980), später mit „Goodfellas“ (1990) oder „Kap der Angst“ (1991) zu internationalem Ruhm gelangt war: Martin Scorsese und Robert De Niro.

Es ist immer noch alles so wie im „King of Comedy“. Wenn Harald Schmidt oder Thomas Gottschalk auf die Bühne kommen, gibt es eine Erkennungsmelodie, einen Ansager, eine Showtreppe, eine Hausband und ein feistes Grinsen. Deutsche Fernsehunterhaltung ist amerikanische Fernsehunterhaltung. 20 Jahre nach Kuhlenkampff und Carrell ist das, was wir früher belächelt haben, zum unausweichlichen Standard geworden.

Im amerikanischen „The King of Comedy“ gibt es zwei Arten, auf das amerikanische Entertainment zu reagieren: Entweder man liebt den Entertainer bis zum Durchdrehen, man will ihn mit Haut und Haaren besitzen, oder man will selbst der Entertainer sein, selbst heraus kommen auf die Bühne und so geliebt sein wie er.

Fans und Epigonen haben gemeinsam, dass sie mit Liebe nichts aus ihren realen Biografien verbinden können, dass es keine Eltern gab, die sie liebten oder von denen sie geliebt wurden. Der „penetrant biedermännische“ (Kölner Stadtanzeiger) Entertainer mit der gummiartigen Gestik Jerry Langford (Jerry Lewis) eignet sich zum Vaterersatz, Fantasie-Geliebten oder Vorbild.

Ein Soziopath mit dem unmöglichen Namen Rupert Pupkin (Robert De Niro) ist der Typ B, der selbsternannte kommende „King of Comedy“, der Langford bis ins peinlichste Detail kopiert. In seinem Kellerstudio plaudert er Prime-Time-gemäß mit den lebensgroßen Pappfiguren von Langford („Ich liebe diesen Burschen. Ist er nicht wundervoll?“) und Liza Minelli, und in seiner Phantasie geht er mit Langford dinieren.

Dabei denkt der reale Langford an alles andere, als mit einem verrückten Fan und Pseudokomiker auch nur zu sprechen. Deshalb nutzt Pupkin einen Massenandrang auf den Star, um ihn und sich in dessen Limousine zu retten. Als der ihm erklärt, als Komiker müsse man ganz unten anfangen, antwortet Pupkin: „That’s exactly where I am“. Und außerdem sei er schon 32 und da habe er keine Zeit mehr, noch lange auf den Durchbruch zu warten. Deshalb müsse er sich ihm bei Gelegenheit mit seinem Programm vorstellen.

Die Kommunikation schlägt gründlich fehl. Was Langford Pupkin eigentlich vermitteln will, ist, dass er nicht für ihn zuständig ist (oder sein will), sondern sein Büro, das wiederum das Büro einer Produktionsfirma ist. Die „Firmenpolitik“ wird Pupkin später von einem Sicherheitsbeamten erklärt, indem er ihn zum Ausgang schleift.

Da Pupkins Tagträume seine Handlungen beeinflussen, steht er eines Tages mit einer arglosen Freundin unangemeldet in Langfords Landhaus, als sei er ein geladener Gast. Von Langford wird er unmissverständlich hinausgeworfen. Langsam lernt Pupkin: Der lustige Kumpel von nebenan ist wirklich nur ein TV-Format und hinter der Fassade des Komikers steckt ein reichlich humorloser Mann, der (mit gutem Grund) ständig bestrebt ist, seine Privatsphäre zu schützen.

Doch nun aktiviert Pupkin kriminelle Energien. Um nur einen einzigen Auftritt in der „Jerry-Langford-Show“ zu erzwingen, entführen er und die besessene Langford-Fanatikerin Masha (De Niro mit ihrer neurotischen Power voll ebenbürtig: Sandra Bernhard) Jerry Langford, und sie erreichen sein Ziel. Lieber einen Tag lang König sein, als ein Leben lang Bettler, rechtfertigt der neue „King of Comedy“ die Untat, und dann kommt er in den Knast.

Rupert Pupkin, eine der intensivsten Figuren De Niros (der Scorsese zum Projekt „The King of Comedy“ überredete) überhaupt, ist natürlich ein weiterer Bruder der Verlierer Travis Bickle („Taxi Driver“) und Jake La Motta („Wie ein wilder Stier“), eine Art pervertierter letzter Idealist, der irgendwie noch an die Verheißungen des Amerikanischen Traums glaubt und doch gleichzeitig ahnt, dass jemand wie er keine Chance hat. Dabei sind beide, der Star und sein Nachahmer, Ausdruck einer übergreifenden, allgemeinen Oberflächlichkeit. Das Zauberwort heißt Popularität, der Zauberort ist die Showbühne; wie man dahin gekommen ist oder was man dort produziert, ist nicht so wichtig wie einfach da zu sein.

Scorseses Film ist in dem Maße symphatischer, da realitätsnäher, je weniger Sympathieträger er beherbergt. Es wäre ja auch zu schön, wenn das Upper oder Lower New York der beginnenden 80er noch einfache, ungebrochene und nette Individuen hervorbringen, wenn nicht schon jeder den Widerspruch auch im eigenen versehrten Herzen tragen würde. Es gibt keinen Sympathen, auch wenn De Niros Unbeirrbarkeit, zu Langford vorgelassen zu werden, genauso verstehbar ist wie Jerry Lewis’ Bemühungen, ihn auf Distanz zu halten. Die Hauptrolle des Films spielt letztlich das Medium Fernsehen in seiner Eigenschaft als zynische Unterhaltungsindustrie, als Produzent und Projektionsfläche von Illusionen, und das, was das Fernsehen aus seinen Fans und auch aus seinen Stars macht, ist sein Thema.

Trotz all seiner Kulturkritik ist der Film äußerst unterhaltsam, temporeich, mit grandiosen Schauspielern besetzt (Jerry Lewis spielt diesen Komiker, dem er ja auch im normalen Leben sehr ähnelt, bewundernswert unbeschönigend), hellwach, sarkastisch, sogar tragisch, aber gleichzeitig wohl der witzigste, den Scorsese jemals gedreht hat, weil er sich immer wieder ironisch im Genre Komödie bedient. Wenn De Niro im Langfordschen Büro vom Aufsichtspersonal gejagt wird, ist das chaplinesker Slapstick: Die Kamera guckt nur durch eine Tür: Da rennt er von rechts vorbei, die anderen hinterher, da poltert was, da flucht einer, dann kommt er von links und die anderen wieder hinterher. Wenn De Niro mit einer lächerlich überdimensionierten Sonnenbrille aus dem Auto steigt, um Lewis zu kidnappen, verliert er als erstes die Pistole (eine Spielzeugpistole, der man das auf zehn Meter Entfernung ansieht). Jerry Lewis ist so nett – oder so doof -, auch noch darauf zu warten, bis De Niro die Pistole wieder aufgeklaubt hat und ihn auch fachgerecht entführen kann; und das alles auf offener, belebter Straße. Wenn Sarah Bernhard mit einer schwungvollen Handbewegung den reichlich gedeckten Tisch leerfegt, weil sie mit dem zu einer Mumie in Klebeband eingewickelten und entführten Lewis mal etwas „völlig Verrücktes“ anstellen will, wird zum Scheppern der Gläser ein Katzenschrei eingeblendet – weit und breit keine Katze.

„The King of Comedy“ ist für mich ein Nachweis, dass je jünger beide, Scorsese und De Niro, waren und je eher ihre Filme in New York spielten, sie desto besser wussten, wovon sie in ihren Filmen sprachen, weil beide genuine New Yorker sind, und weil dieses New York, Drehort aller drei Filme („Taxi Driver“, „Raging Bull“, „The King of Comedy“ – zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch der frühere „Hexenkessel“(1973)), auch im „King of Comedy“ eine heimliche Hauptrolle spielt. Aber der Film ist auch ein Beispiel für Scorseses ungezwungene Experimentierlust, für seinen anarchischen, intelligenten Spaß im Umgang mit der Kinogeschichte; und das, ohne dabei den roten Faden zu verlieren.

Wenn auch gelacht werden darf im „King of Comedy“: der Film legt großen Wert darauf, dass er beißt. Rupert Pupkin kommt heraus auf die Bühne, im grellkarierten Sakko, mit diesem schmierigen Grinsen, mit diesen abgezirkelten Bewegungen, als hätte er diesen Job schon immer gemacht. Er macht einen Witz: verhaltenes Gelächter, noch eine Pointe, und endlich lacht und klatscht das Publikum. Hat jemand das „Applause“-Schild gehoben? Findet es das Studiopublikum wirklich witzig, wenn Pupkin erzählt, er sei buchstäblich durch seine Schulzeit durchgeboxt worden? Der beste Scherz aber ist der, wenn Pupkin erzählt, er habe Langford kidnappen müssen, um diesen Auftritt zu bekommen. Die Leute kugeln sich vor Lachen und Pupkin ist der wahre „King of Comedy“.

Gianni und die Frauen

(I 2011, Regie: Gianni Di Gregorio)

Das Rad der Zeit
von Wolfgang Nierlin

Wie schon in seinem vorhergehenden Film „Das Festmahl im August“ („Pranzo di ferragosto“) sucht der italienische Drehbuchautor und Regisseur Gianni Di Gregorio auch in seiner neuen Arbeit „Gianni und die …

Wie schon in seinem vorhergehenden Film „Das Festmahl im August“ („Pranzo di ferragosto“) sucht der italienische Drehbuchautor und Regisseur Gianni Di Gregorio auch in seiner neuen Arbeit „Gianni und die Frauen“ („Gianni e le donne“) die „Kontinuität zwischen dem wahren Leben und der Fiktion“. Dabei inszeniert er sich selbst in der Rolle des liebenswerten Titelhelden, der sich still, unaufgeregt und duldsam durch den Mikrokosmos seines römischen Geburtsortes Trastevere bewegt. In langen, teils dynamischen Einstellungen beobachtet Di Gregorio das alltägliche Leben seines Viertels und erzeugt dadurch jenen feinen Realismus, der im Tonfall einer leisen, melancholischen Komödie ganz leicht, lakonisch und mit nur geringem Abstand über der tatsächlichen Realität schwebt.

Die Krise des alternden Mannes angesichts der Vergänglichkeit, seine verlorenen Träume und vergeblichen Mühen in ihrem Missverhältnis zum drängenden, von Schönheit und erotischen Versprechungen beflügelten Liebesverlangen kennzeichnen Giannis existentielles Dilemma. Dazu kommt noch, dass die finanziellen Rücklagen des früh pensionierten 60-Jährigen rasant aufgezehrt werden und er um das mütterliche Erbe fürchten muss. Giannis bereits 95-jährige Mutter (Valeria Di Franciscis Bendoni), eine distinguierte, eigensinnige Frau, die ihren Sohn bei geringfügigsten Anlässen einbestellt und seine willigen Dienste ausnutzt, führt nämlich ein verschwenderisches Leben inmitten ihrer geschmackvoll eingerichteten Villa. Aber auch innerhalb des engeren Familien- und Nachbarschaftskreises kümmert sich Gianni als gute Seele des Hauses rührend und zuvorkommend um die täglichen Besorgungen. Nur sein beständiges Weißweintrinken und der zaghafte Widerspruch hinter der Fassade konventioneller Höflichkeit geben Hinweise auf sein leises Aufbegehren.

Die Zeit sei „ein Rad, das sich dreht und dreht“ doziert Giannis Freund Alfonso (Alfonso Santagata) mit Bezug auf Heraklit. Und weil seiner Meinung nach der „alte Motor“ des Weggefährten „eingerostet ist“, will er ihn zu amourösen Abenteuern überreden. „Gefallen dir keine Frauen mehr?“, fragt Alfonso. Immer öfters bleibt Gianni deshalb auf der Straße stehen, tauscht er lange, tiefe Blicke und prüft seine Gesichtsfalten vor dem Spiegel. Doch alle Frauen, denen er in der Folge begegnet, von Cristina (Kristina Cepraga), der hübschen Betreuerin seiner Mutter, bis zur immer noch attraktiven Jugendfreundin Valeria (Valeria Cavalli), gehören einer anderen Zeit an. Wie unerreichbare Träume bevölkern sie Giannis Phantasie; bis sich schließlich unter den freundlichen Wirkungen einer Droge für eine lange Nacht Giannis raum-zeitliches Korsett auflöst und das Ersehnte wirklich erscheinen lässt.

Abgebrannt

(D 2011, Regie: Verena S. Freytag)

Kinder, Speed und Arschgeweih
von Andreas Thomas

Berlin Wedding. Die Türkdeutsche, (oder sagt man „Deutschtürkin“, und wenn ja warum, und warum soll diese Bezeichnung eigentlich nicht schon eine rassistische sein?) Pelin (Maryam Zaree) hat gefühlte 5 Kinder, …

Berlin Wedding. Die Türkdeutsche, (oder sagt man „Deutschtürkin“, und wenn ja warum, und warum soll diese Bezeichnung eigentlich nicht schon eine rassistische sein?) Pelin (Maryam Zaree) hat gefühlte 5 Kinder, von verschiedenen Vätern aller Couleur, von denen aber offenbar keiner sich über die Herstellung hinaus für die Existenz des eigen Fleisches und Blutes oder das der bei der Herstellung involvierten femininen Pendants zu interessieren scheint. Letzteres nun erwacht natürlich allmorgendlich zu müde in einer vom Amt finanzierten Wohnung, und um die enormen Schulden fürs Simsen („Mein prinz, wo warst du letzte nacht?“) auszugleichen, arbeitet es schwarz in einem Tattoo-Laden, was ja irgendwie auch passt. Um es herum in Permanenz wuselnd (dabei übrigens, wer eigene Kinder hat, könnte das bestätigen, zumeist pflegeleicht und wohlerzogen): die liebe Brut, die ebenso liebe, selber ja noch nicht erwachsene Kindsmutter rund um die Uhr überfordernd.

„Das wird böse enden“, würde Werner Enke („Zur Sache, Schätzchen“) sagen, wenn er gefragt würde, und Friedrich Dürrenmatt („Die Physiker“) kann nicht mehr gefragt werden, hätte vermutlich in einem schulbuchkompatiblen Fast-Imperativ beigefügt: „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“ Das traditionelle Sozialdrama, das hier wahrscheinlich vorliegt, sagt sich Beschauerin und Beschauer, ist ja dafür bekannt, entweder der einen oder anderen og. Variante zu folgen. Warum das auch hier so ist, entnehmen Sie aber bitte dem weiteren Verlauf der Handlung:

Pelins „Prinz“ namens Edin (Lukas Steltner) ist ein Prinz der Weddinger Nacht, sporadisch nur taucht er auf, und wenn, dann nach Einbruch der Dunkelheit. Und auch diesen Don Giovanni treibt eine eher hormonelle, denn eine sittliche Motivation dazu an, die junge Mutter, eigentlich noch vor dem Händeschütteln und direkt in der Garderobe erneut zu schwängern (wie wir später erfahren werden). „Baby, Baby, it‘s a Wild World“ sang schon damals der im Vergleich zu diesem Edin eher handzahme Cat Stevens, und dafür, dass das genauso bleibt, sorgen beide, Edin und Pelin, wie man sieht, überaus tatkräftig. Ein Quickie im Entreé erschafft jedoch noch kaum gesichert exemplarisches soziales Elend. Also bleibt die Prinzenjacke da, wo sie in den Liebeswirren niederfiel, irgendwo auf dem Boden, damit der zweijährige Elvis, noch bevor das müde gerammelte Pärchen erwacht, ihre Taschen nach interessanten, aber doch alles andere als kindgeeigneten Gegenständen untersuchen kann, als da wären, ein niegelnagelneuer glitzernder Schlagring, Marke Nichtmitmirmeinfreund, sowie eine Tüte Buntes, in der doch sowas von keine Gummibärchen sind, dass man es dem armen Bub‘ noch laut zurufen möchte: Lass es sein.

Doch zu spät. Elvis kostet von den lustigen Drogen, lässt es sich schmecken und kollabiert. Er wird zwar gerettet, doch der Mutter werden nun alle (genau nachgezählt, sind es dann doch nur drei) Kinder entzogen und einzig mithilfe einer besonders engagierten Sozialarbeiterin bekommt Pelin die Chance, sie zu behalten, falls sie eine Mutter-Kind-Kur auf Fehmarn absolviert.

Zunächst einmal, und aller Ironie zum Trotz: Gespielt und inszeniert ist „Abgebrannt“ sehr gut! Die Darsteller passen allesamt sehr in ihre Rollen und die Figuren sind genau beobachtet mit vielen Zwischentönen und nur wenigen Übertypisierungen (z.B. Tilla Kratochwil als verklemmte und auffallend geschmacksfreie Mutter in der Kur). Wohltuend auch die kritische Distanz, die die Kamera weitgehend der bisweilen peinlich naiven Protagonistin gegenüber hält, die allerdings konterkariert wird durch Anfälle musikalischer Überemotionalisierung durch den Soundtrack. Wir haben es hier mehr oder minder zu tun mit weitgehend vorstellbaren Figuren in weitgehend plausiblen Zusammenhängen. Die Frage aber ist: Warum sollten uns eigentlich die Fehlentscheidungen einer erfahrungsresistenten jungen Mutter interessieren, die uns doch durch ihre Dummheiten auch nur halb sympathisch, bestenfalls bemitleidenswert erscheinen kann? Mit anderen Worten: Ist „Abgebrannt“ eigentlich mehr als einer einer dieser Alibi-Filme, gemacht für Studienräte, die sich masochistisch durch 103 Minuten Film quälen, um allen zu beweisen, dass sie für White Trash aller Arten Mitgefühl parat haben (obwohl sie mit diesem Müll privat so was von nix zu tun haben wollen)?

Oder will der Film mehr, oder etwas ganz anderes? Ist der Film im weitesten Sinne noch jener anscheinend still und leise verblichenen Spezies „Berliner Schule“ zuzuordnen, die bis ins Akribischste und Kommentarloseste hinein in kaum wahrgenommene bundesrepublikanische Grauzonen eintauchte, um daraus Wirklichkeiten zu destillieren? Ein guter Vergleich wäre da der Film „Lucy“ von Henner Winckler, der ebenfalls von einer jungen Mutter handelt, und in dessen Ausbleiben der Katastrophen, in dessen dadurch dennoch latenter Bedrohung des Mutter-Kind-Alltags gerade sein überzeugender Realismus lag? Eher nicht, denn für „Abgebrannt“s Zuspitzungen wird dann doch eher ein dicker Pinsel gewählt.

Oder liegt hier ein sozialkritisches Statement nach Art etwa eines (in jüngerer Zeit von der Kritik wenig geliebten, aber vom Autor durchaus immer noch hier und da geschätzten) Ken Loach („Ladybird, Ladybird“) vor? Ein Film, der den Menschen als Opfer eines inhumanen Gesellschaftssystems begreift und einen aufklärerischen, bewusstseinsbildenden Impetus transportieren möchte? Aber dafür ist in „Abgebrannt“ der Staat in Teilen seiner Organe zu besorgt, und die Heldin strengt sich zu wenig an, um die ihr zugedachten fürsorglichen Maßnahmen, inklusive der brüsken Trennung von ihren Kindern, als wirklich ungerechte Akte erscheinen zu lassen.

Oder kann man – noch eine Nummer größer – in der Geschichte der P. gar symbolistisches, wertkritisches und kulturkritisches Potenzial erkennen, wie in den Filmen der belgischen Brüder Dardenne, vielleicht am ehesten vergleichbar mit „Das Kind“, in welchem der Protagonist den degenerierten Materialismus der westlichen Welt so sehr verinnerlicht hat, dass er in der Lage ist, ohne Gewissensbisse sein eigenes Kind zu verkaufen?
Auch hier muss die Antwort negativ ausfallen, denn trotz seines großen Fehlers ist der Protagonist von „Das Kind“ dem Zuschauer entschieden näher und sympathischer, als die wenig symbolträchtige Pelin es ist. „Abgebrannt“ dagegen verteilt sein Verständnis ziemlich gleich auf alle seine Figuren und Institutionen (vielleicht dabei ausgenommen der Dealer und Schläger Edin). Und eine Ursache, oder gar eine bestimmte Geisteshaltung als Ursache für das offenkundige Elend der Pelin und ihrer sicherlich vielen Leidensschwestern ist schwer auszumachen, weil etwa alle gleich viel und gleich unzureichend dagegen tun, Protagonisten, Umfeld, Staat oder Gesellschaft. Mit anderen Worten: Ein ausgewogenes soziales Kino heutzutage versucht anscheinend, alle und alles zu verstehen, und kann daher überhaupt keine Partei mehr ergreifen?

Die Tage eines sozial oder politisch sich positionierenden Kinos scheinen hierzulande gezählt; unsoziale Politik aber wird unverkennbar weiter gemacht, oder sehen Sie das anders, Frau Verena S. Freytag (Regie und Drehbuch)?

Le Havre

(FIN / F / D 2011, Regie: Aki Kaurismäki)

Flüchtlingsschicksal im Retrolook
von Michael Schleeh

Als der nicht gerade im Luxus lebende Schuhputzer Marcel Marx (André Wilms) in seiner Mittagspause im Hafen von Le Havre am Kai sitzend auf das Wasser starrt, entdeckt er den …

Als der nicht gerade im Luxus lebende Schuhputzer Marcel Marx (André Wilms) in seiner Mittagspause im Hafen von Le Havre am Kai sitzend auf das Wasser starrt, entdeckt er den afrikanischen Flüchtlingsjungen Idrissa (Blondin Miguel), der sich aus Angst vor der Abschiebung vor der Polizei ins Wasser geflüchtet hat. Schockiert und berührt zugleich, lässt er ihm ein belegtes Baguette und ein paar Geldscheine auf den Stufen zurück. Doch das Ereignis lässt ihn nicht mehr los, und so macht er es zu seiner Sache, diesem Jungen zu helfen, und ihm die Weiterreise nach England zu ermöglichen. Denn dort hofft Idrissa, seine Mutter zu finden.

Aki Kaurismäkis jüngster Film scheint wie aus der Zeit gefallen: Die Ausstattung und die Dekors lassen an die 60er Jahre denken, was ihm in seinem stilisierten Reduktionismus einen außerweltlichen, enthobenen Schauplatz verleiht. Der Plot um das Flüchtlingsdrama eines afrikanischen Jungen jedoch, der ist hoch aktuell. Und im Verbund dieser beiden Aspekte lässt sich der Film als engagiertes Sozialmärchen lesen, auch wenn ihm so einiges genuin Märchenhaftes abgeht. In „Le Havre“ geschehen Dinge, die sonst eben nicht passieren. Und wenn doch, dann gehen sie in der realen Welt zumeist in die Hose. Dies ist das Schöne und Humane an Kaurismäkis Film: Denken wir uns doch einfach mal, die Sachen klappen so, wie man sie sich vorstellt, so dass am Ende sogar noch alles gut wird. Das ist ziemlich schockierend.

Marcel vermag eine besondere Solidarität unter seinen Mitmenschen zu wecken – etwa wenn es darum geht, das benötigte Reisegeld für den Jungen zusammen zu bekommen. So wird kurzerhand ein Solidaritäts-Konzert mit dem ehemaligen, nun abgehalfterten Hardrocker Little Bob organisiert (laut Kaurismäki der Elvis Le Havres), welches natürlich ein voller Erfolg wird – ein Schelm, wer hier an Johnny Hallyday denkt. Wenn dann die Polizei anrückt, hier ikonographisch stilisiert im ermittelnden Kommissar (Jean-Pierre Darroussin) mit Trenchcoat und Hut, schmalen Lippen und durchdringendem Blick, dann büxt man am Eingang eben schnell aus und klemmt sich geschwind die Kasse unter den Arm. Und so kommt auch Kaurismäkis Film immer wieder davon, denn schließlich wurde eine offene, schwebende Erzählhaltung etabliert, die solche Handlungsentwicklungen möglich und innerhalb der Logik des Films glaubhaft macht. Man befindet sich – an der Seite der Gauner – nun eben kurzerhand in der Kriminalkomödie (während wir eben auf dem Konzert noch im Musikfilm waren), ergo: es muss die Flucht gelingen.

Dass Kaurismäkis „Le Havre“ nicht nur Komödie sondern immer auch Tragikomödie ist, das ahnt jeder, der die Filme des Regisseurs kennt. Aller offenkundigen Unterhaltungswerte zum Trotz befinden wir uns „im Milieu“, in den Kneipen der Tagelöhner und Arbeitslosen, in denen stets getrunken und exzessiv gequalmt wird, wo sich die Tätowierungen auf den Unterarmen befinden und man die Hoffnungen auf ein bürgerlicheres Leben vor Jahren aufgegeben hat, als man als Hilfsmatrose auf irgendeinem Dampfer gen Südostasien aufgebrochen war. Doch Kaurismäki weiß, was er tut: hier ist Freundschaft und Mitmenschlichkeit noch möglich, hier lässt man sich auf solch ein irrsinniges Projekt noch ein, hier finden sich Menschen, die, selbst am Rande der Gesellschaft stehend, den Gestrandeten helfen. Und so geht Marcel, der selbst einmal Schriftsteller werden und mit dem Roman schreiben sein Geld verdienen wollte, seiner Wege. Jeden Tag, mit seinen Utensilien von Straßenecke zu Straßenecke, bis der Arbeitstag in Wind und Wetter vorüber ist, und er nach Hause zurückkehren kann zu seiner Frau Arletty (Kati Outinen), die in die Klinik muss, weil sie schwer erkrankt ist. Doch mit seinem unerschütterlichen Optimismus kämpft Marcel gegen die zwischenmenschliche Gleichgültigkeit und gegen eine unmenschliche, bürokratische Staatsmacht, die vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher finanzieller, politischer und moralischer Krisen – ganz der wahrhaftigen Utopie der Erzählung folgend – dann doch nicht anders kann, als ein Auge zuzudrücken, um für einmal im Dienste seiner Bürger zu stehen und Mitmenschlichkeit vor Recht ergehen zu lassen.

Pulp Fiction

(USA 1994, Regie: Quentin Tarantino)

Abziehbild und Bodensatz
von Andreas Thomas

Dieser Film machte Quentin Tarantino zum Starregisseur, und er blieb es (trotz vielbeachtetem Vorgänger „Reservoir Dogs“ (1992) und umstrittenem Nachfolger „Jackie Brown“ (1997)) bisher wegen „Pulp Fiction“. Die Hälfte aller …

Dieser Film machte Quentin Tarantino zum Starregisseur, und er blieb es (trotz vielbeachtetem Vorgänger „Reservoir Dogs“ (1992) und umstrittenem Nachfolger „Jackie Brown“ (1997)) bisher wegen „Pulp Fiction“. Die Hälfte aller Gangsterkomödien der neunziger Jahre wäre ohne diesen Film wahrscheinlich nicht entstanden, und doch konnte keine von ihnen dem Vorbild das Wasser reichen. Grotesk und ruppig, komplex und abwechslungsreich war „Pulp Fiction“ 1994 ein Geniestreich, eine Adrenalinspritze ins Herz des Unterhaltungskinos und mehr als das …

In vier zeitlich gegeneinander verschobenen Episoden schildert „Pulp Fiction“ vier Tage im Halbweltmilieu von Los Angeles. Die chronologische Abfolge der Handlung beginnt am

1. Tag mit der kaltblütigen Ermordung von vier jungen Männern durch die beiden Berufsgangster Jules und Vincent, gefolgt von einer unter Leitung des „Wolf“ (Harvey Keitel) durchgeführten „Reinigung“ von Auto und Personal, einem Überfall in einem Highwayrestaurant, ausgeführt von Kleingangsterpärchen Yolanda (Amanda Plummer), genannt Honeybunny und Pumpkin (Tim Roth), daran anschließend der erste Auftritt von Butch, dem Boxer. Dieser hat eine Unterredung mit Marsellus Wallace (Ving Rhames), dem Gangsterboss, welcher ihm dringend „empfiehlt“, seinen nächsten Kampf zu verlieren und sich hinterher in den Ruhestand zu begeben.

2. Tag: Vincent besorgt sich bei Edel-Dealer Lance (Eric Stoltz) Heroin, setzt sich einen Schuss, bevor er Mia Wallace (Uma Thurman), die Frau des Boss, auftragsgemäß zum Tanz ausführt, sie sein Heroin mit Kokain verwechselt und beinahe an einer Überdosis stirbt.

3. Tag: Boxer Butch gewinnt seinen Boxkampf und flieht zu seiner Freundin (Maria de Medeiros) in ein Motel. Als er am

4. Tag seine Armbanduhr, ein (groß-)väterliches Erbstück, aus seiner Wohnung holt, trifft er den auf ihn angesetzten „Hit-Man“ Vega, den er erschießt. Im Auto sieht ihn Boss Wallace, beide liefern sich einen blutigen Kampf, der sie in eine sinistre Pfandleihe treibt, wo die Handlung einem kruden Ende entgegensteuert.

Die geniale Frechheit von „Pulp Fiction“ liegt in dem, was geschieht, aber auch darin, wie es geschieht. Das liegt nicht zuletzt an der brillanten Spiellaune der bis in kleinste Nebenrollen hochkarätigen Schauspieler. Man hat einen Bruce Willis kaum so selbstironisch und gleichzeitig so ideal in einer Rolle gesehen, wie in der des einfältigen Boxers Butch Coolidge. John Travolta ist der eitle, genusssüchtige Vincent Vega. Er ist nachvollziehbar stoned vom Heroin, beim Tanz obendrein eine Travolta-Parodie, verknallt in Uma Thurman, die ihn wiederum nicht von der Bettkante schubsen würde, wären da nicht Gatte und Luxus. Und Samuel L. Jackson ist der ‚bad motherfucker‘ Jules Winnfield, der böse guckt, wie der (un-)gerechte Zorn Gottes. Offenbar ist er durchs Fernsehen sozialisiert und christlich erzogen, weshalb er auch im Gegensatz zum atheistisch-hedonistischen Vince einen göttlichen Fingerzeig von einem Zufall unterscheiden kann – für ihn Anlass, seinen Beruf aufzugeben und fortan wie „Kane“ aus der Fernsehserie „Kung Fu“, durch die Lande wandeln zu wollen, um „Gutes“ zu tun.

Die Moral des Bösen

Der programmatische Titel „Pulp Fiction“ ist eine Anspielung auf die klischeereichen Gangsterstorys auf billigem Papier (pulp) gedruckter amerikanischer Groschenromane der 30er/40er Jahre, damals auch Vorlagen für Filme der „Schwarzen Serie“. Die Kritik bezeichnete 1994 „Pulp Fiction“ als „postmodernes Kino“ und gestattet man sich den Versuch, die Geschichte der Film- und Fernsehgenres als eine billige Weltgeschichte zu betrachten, lässt sich die vordergründige Künstlichkeit von Story (stories) und Typisierung der Figuren in „Pulp Fiction“ auch als Spiel mit deren billigen Versatzstücken lesen. Doch der Film besitzt neben gar nicht so platten Charakteren auch einen roten Faden, Aussagen und Geheimnisse, die ihn über ein „harmloses Trash-Happening“ (epd-Film) hinausheben. So ist ein zentrales Motiv ein Koffer aus dem Besitz des Bosses Wallace. Seinetwegen werden die vier jungen Männer ermordet. Während des gesamten Films erfahren wir nichts über seinen Inhalt. Als routinierte B-Movie-Experten ist uns natürlich klar, dass im Koffer entweder Geld oder Drogen sein müssen,- das ist das Klischee, dem wir freudig aufsitzen. Beim genauen Hinsehen bemerken wir: Die Nummer des Kofferschlosses ist 666, die biblische Zahl des Teufels, und wenn der Koffer geöffnet wird, fällt ein goldener Schein auf den, der überwältigt hineinblickt. „Ist es das, was ich denke?“, fragt Pumpkin, und Jules antwortet bejahend: „Mmmh!“

Ironisch treibt Tarantino hier das Spiel mit der bekannten Fiktion, reduziert sie aber gleichzeitig auf ihren Symbolcharakter Geld, Gold, Macht. Und die Macht ist beim Teufel (666), dessen Handlanger Jules und Vincent sind. Jules‘ Selbsterkenntnis treibt ihn zur Umkehr, wenn er zu Pumpkin sagt: „Die Wahrheit ist, du bist schwach. Und ich bin die Tyrannei der ‚Bösen Männer‘.“ Eine Klischeefigur, die über sich selbst philosophiert! Ein starkes Stück. Ein Lehrstück politischer Deeskalation übrigens ist Jules‘ diplomatischer Umgang mit Yolanda, Pumpkin und Vincent. Eine Reinigung, wenn man will, auch im kathartischen Sinn, ist die vorhergehende, demütige Säuberung des mit Hirn bekleckerten Wagens unter Anleitung des perfekten „Wolf“, eine Katharsis allerdings, die Vincent nur äußerlich nachvollziehen, der erleuchtete Jules jedoch als weiteres göttliches Zeichen verstehen dürfte.

Auch Boxer Butch besitzt seine spezifische Verwurzelung, er entspringt einer patriarchischen Tradition, welche sich in einer Armbanduhr manifestiert, die als Zeugin sämtlicher US-Kriege des 20. Jahrhunderts in den „Ärschen“ von Großvater, Vater und dem des Vaters überlebendem Kamerad Christopher Walken (hier in einer Selbstparodie auf seine Vietnamfilme, wie „Die durch die Hölle gehen“) aufbewahrt („damit die Reisfresser sie nicht finden“) und dem Kind Butch von letzterem überliefert wurde. Das gleichzeitig väterliche und nationale Erbe ist hier buchstäblich „a pain in the ass“ und dennoch das, wofür auch Butch sein Leben riskiert. So ist Butch die einzige Figur mit einer Tradition von Moral und Ehrbegriff (sei sie noch so zynisch und unhaltbar), was es ihm unmöglich macht, sich von Wallace, dem mächtigen Vertreter des Verbrechens, erpressen zu lassen. Folgerichtig und nicht zufällig ist daher beider Showdown als Duell des „guten“ gegen das „böse“ Prinzip.

Grandios aber ist der darauf folgende überraschende Fall in den Keller, in das pathologische Amerika, und das schiere Versagen der „Pulp Fiction“, denn hier sind beide Pseudo-Prinzipien endgültig hinfällig, hier herrschen nur noch perverse Willkür und Sadismus, das Ende schöner, da sinnstiftender Kriminalgeschichten. Hier heißt das Genre „Horrorfilm“ und das „Texas Chainsaw Massacre“ lässt grüßen. Dieser Keller ist der psychische Bodensatz einer Gesellschaft, die ihre moralischen Werte verloren hat. Gegen seine kranken Akteure (einer von ihnen ist bezeichnendenderweise der einzige Polizist im Film) wirken selbst die eiskalten Killer Jules und Vincent noch wie respektvolle Vollzugsbeamte.

Kult, Kultur und coole Kerle

„Pulp Fiction“ war der Kultfilm der neunziger Jahre. Vermutlich zeichnen dafür besonders die beiden in schwarzen Anzügen agierenden Killer verantwortlich (Söhne der „Blues Brothers“ und Väter der missratenen „Men in Black“), die, wenn sie nicht gerade ihrer blutigen „Arbeit“ nachgehen, ziemlich normale Jungs von nebenan sein könnten, philosophierende Machos, die gerne mal Drogen zu sich nehmen, ihre Zigaretten selber drehen oder über Hamburger plaudern. Wären sie nur normal, wären sie aber egal. Was sie neben ihrem spannend-schaurigen Beruf für die Masse der (wahrscheinlich vorwiegend männlichen) größeren Jugendlichen der neunziger Jahre vor allem attraktiv gemacht hat, war ihre definitive „Coolness“. Zu jeder Extrem-Situation ein extrem gelassener Spruch, das ist Understatement, und dieses Understatement aus „Pulp Fiction“ prägte eine ganze, „coole“ Generation.

Doch die grelle und ironische Verquickung hoher und niederer Filmgenres war auch Vorlage für eine endlose Reihe von Filmen, die Derbheit und Obszönität mit Humor verwechselten (z. B. „Der Eisbär“, „Bube, Dame, König, Gras“, „Lammbock“: Filme, die dem Irrtum aufsitzen, wenn Drogen, Doofheit und brachiale Gewalt zusammentreffen, sei allein das schon provokant und irre komisch).

Der Unterschied zu letztgenannten Elaboraten: Tarantino sitzt seinen selbstgebastelten Klischees nicht wirklich auf. Hintergründig, souverän und voll böser Ironie spielt er mit ihnen. Und wenn Gewalt ins Spiel kommt, wird sie bei aller Plakativität nicht wirklich (d. h. nicht immer) verharmlost. Ein Beispiel: Das Düstere und Schreckliche der langen ‚Hinrichtungsszene‘ wird durch die bedrohliche Routiniertheit der Killer und die angsterfüllten Gesichter der Opfer, die auf ihr sicheres Ende warten, unerträglich potenziert. Kein Mainstream-Hau-drauf-Film hatte sich jemals die Mühe gemacht, uns so unbarmherzig die Todesangst seiner Figuren, den Schrecken des Todes spüren zu lassen. Solches war vor Tarantino eher erklärtes Ziel des „Antikriegsfilms“, des „ernsten“ Films, oder die seltene Leistung stilistisch schwierig einzuordnender, zwischen „Action“ und „Art“ changierender Regisseure wie Peckinpah, Scorsese oder Lynch. Tarantino reiht sich bei ihnen ein, indem er respektlos die Grenze zwischen niederem Entertainment und hoher Kunst ignoriert, der „billigen Fiktion“ tiefere Wahrheiten unterjubelt und dem „kulturell wertvollen“ Film die sinnliche Profanität der real existierenden Populärkultur nahebringt.

Das mit witzigen Dialogen gespickte Drehbuch, die tragfähigen Spannungsbögen, die Führung der hochkarätigen Darsteller und der Formwille von Kamera und Schnitt (incl. verfremdender Elemente) zeugen von einer Allround-Filmkenntnis, die sich der filmbesessene Tarantino u. a. als jahrelanger Angestellter eines Videoverleihs angeeignet, aber auch als Kleindarsteller bei Dreharbeiten zu „Golden Girls“ oder bei Jean-Luc Godard abgeguckt hat.

Entscheidend hinzu kommt der kongeniale Soundtrack, eine Mixtur aus Surfbeat und Seventies-Pop, ohne den der Film so nicht denkbar wäre, und der sogar die Musiktrends der neunziger Jahre beeinflusst hat. Neben der Musik von „Trainspotting“, und „Natural Born Killers“ (nach dem Drehbuch Tarantinos) ist der Soundtrack von „Pulp Fiction“ einer der bestverkauften und originellsten der letzten zehn Jahre.

Noch einmal: „Pulp Fiction“ ist smart und plump, schockierend und witzig zugleich, aber: „There‘s more to the picture, than meets the eye“,- und ebendieses „more“ ist, was zu entdecken das größte Vergnügen an diesem Film bereitet …

Deep End

(D / GB / P 1970, Regie: Jerzy Skolimowski)

Im großen, leeren Becken der Anstalt
von Michael Schleeh

Als der 15jährige Mike (John Moulder-Brown) einen Job in einer Badeanstalt im Londoner East End annimmt, da ahnt er nicht, was auf ihn zukommt. Nicht nur wird er von älteren …

Als der 15jährige Mike (John Moulder-Brown) einen Job in einer Badeanstalt im Londoner East End annimmt, da ahnt er nicht, was auf ihn zukommt. Nicht nur wird er von älteren Damen bedrängt, die sich von ihm Gefälligkeiten erhoffen, sondern vor allem ist es seine Kollegin Susan (Jane Asher), die es dem frisch erblühten Jüngling angetan hat. Auf sie projiziert er seine sexuellen Wünsche und schon nach kurzer Zeit macht er ihr Avancen. Die etwas ältere und abgeklärte Susan aber ist bereits mit einem Nichtsnutz verlobt und hat zudem mit einem Badegast ein finanziell gewinnbringendes Verhältnis – es ist Mikes ehemaliger Sportlehrer, der in seiner biederen Lüsternheit besonders abstoßend wirkt, und der als aktueller Lover die Rivalität des Teenagers herausfordert. Susan zu besitzen wird für Mike zu einer Besessenheit, die ihn in ein enormes Gefühlschaos stürzt.

„Deep End“ ist ein Kuriosum der Filmgeschichte: ein Coming-of-Age-Drama eines Regisseurs der polnischen Nouvelle Vague, das im London der Swinging Sixties spielt, in London, aber auch teilweise in den Bavaria-Studios gedreht wurde, und das zumeist mit Antonionis <<TEXT:UNTERSTRICHEN>„Blow Up“ und Polanskis „Ekel“ kontextualisiert wird – für Polanskis „Das Messer im Wasser“ etwa schrieb Skolimowski das Drehbuch. Die Filmmusik stammt außerdem vom britischen Multi-Instrumentalisten und Singer-Songwriter Cat Stevens, sowie von der Kölner Krautrockinstitution Can. Diese vermögen eindrücklich die psychosexuell aufgeladene Thrilleratmosphäre zu verstärken, in die der Film hineindriftet. Mikes verwirrter Zustand, der sich in seiner Erregung sukzessive steigert, ist wohl das augenfälligste Merkmal dieses immer manischer werdenden Bewusstseins, das in seinem Begehren Grenzen zunehmend überschreitet. So kulminiert der Film in eine wunderbare Szene im Stadtpark, in der sich der Protagonist, unfähig, Ruhe zu finden, die Kleider vom Leib reißt, frech an einem Laufwettbewerb seiner alten Schule teilnimmt, um schließlich in Unterwäsche bei Minustemperaturen die angebetete Susan zu bedrängen. Als sie sich wehrt, verliert sie den Diamanten aus dem Ring ihres Geliebten, der in den Schneekristallen unauffindbar untergeht. Doch Mike hat eine Idee: Sie sammeln allen Schnee in Plastiktüten, brechen in die verschlossene Badeanstalt ein, und schmelzen ihn unter den großen Scheinwerfern der Deckenbeleuchtung.

Im großen, leeren Becken der Anstalt kommt es dann auch zum Beischlaf, doch Susan ist eine Erwachsene, die sich nicht weiter auf den deutlich Jüngeren einlassen will. Der reagiert also entsprechend aggressiv, und so beginnt ein beinahe surreales Ende, in dem sich das Blut, die Farben und die Wahnvorstellungen vermischen und überlagern. Bezeichnend ist Skolimowskis Zurückhaltung hinsichtlich einer moralischen Wertung: eine klare Botschaft vermittelt er nicht. Vielmehr pendelt der Film in diesen abschließenden Szenen in Richtung Exploitationkino und konfrontiert den Zuschauer mit gewagten Kameraperspektiven, die das Begehren des Betrachters auf ihn selbst zurückwerfen. Verstörend endet „Deep End“, ein Film, in dem die Erwachsenen der Jugend die Unschuld rauben.

Neben dem Hauptfilm findet sich ein ausgezeichnetes Making-of samt Interviewszenen auf der DVD. Eine deutsche Untertitelspur fehlt leider.

Blow-Up

(GB / I / USA 1966, Regie: Michelangelo Antonioni)

Style und Unschärfe
von Andreas Thomas

Fotograf Thomas (David Hemmings) verirrt sich in ein Konzert der „Yardbirds“. Ein regungslos dastehendes Publikum starrt auf eine ekstatische Band. Der Gitarrist ärgert sich darüber, dass der Verstärker nicht richtig …

Fotograf Thomas (David Hemmings) verirrt sich in ein Konzert der „Yardbirds“. Ein regungslos dastehendes Publikum starrt auf eine ekstatische Band. Der Gitarrist ärgert sich darüber, dass der Verstärker nicht richtig funktioniert und zertrümmert wütend an ihm seine Gitarre. Den abgebrochenen Hals wirft er in die Menge, die – plötzlich zum Leben erwacht – sich für diese Trophäe umbringen möchte. Thomas – sonst eher Jazzfan – fängt das Teil, verteidigt es vehement und flieht mit ihm nach draußen, wo er bei nochmaliger Begutachtung dessen völlige Wertlosigkeit realisiert und es wegwirft.

„Blow-Up“ von Michelangelo Antonioni ist ein Film der Bedeutungen und Bedeutungslosigkeiten. 1966 im „Swinging London“ gedreht ist der Film ein genau beobachtender Zeuge einer Zeit und eines Ortes der Umbrüche und Paradigmenwechsel.

Der geschäftstüchtige Thomas ist eben gerade so zynisch, wie es die Gegebenheiten erfordern, also extrem: Gelangweilt behandelt er die Models wie Dreck, die bereit sind, alles dafür zu tun, von ihm fotografiert zu werden; die Session mit dem Starmodel (Veruschka) praktiziert er wie einen Geschlechtsakt, bei den beiden Mädchen, die von ihm entdeckt werden wollen, lässt er die Kamera einfach gleich weg. Mit zielloser Neugierde treibt es Thomas und seine Kamera durch ein London, das gerade den Style erfindet. Style, der über Fashion hinausgeht. Wenn zwei Schwule mit weißen Pudeln in einem Stadtteil auftauchen, weiß Thomas, dass sein dortiges Kaufobjekt, der verstaubte Antiquitätenladen, eine Goldgrube werden wird. Selbstbewusstes Schwulsein ist (auf einmal) schick und „cool“ – und wird schon als konjunkturfördernd erkannt. Wenn Thomas auch einen sicheren Instinkt für neue „Trends“, für „Szene“ (das Wort gab es damals noch nicht, aber vermutlich wurde diese Sache im London 1966 geboren) besitzt, dann lässt ihn dieser Instinkt gleichgültig, weil er mit dem Mechanismus zugleich dessen Hohlheit erkennt oder erspürt. Die Oberfläche ist alles, der innere Wert zweitrangig, austauschbar, vernachlässigbar. Thomas – als Fotograf prädestiniert – ist Dokumentarist dieser Oberfläche. Mit derselben kühlen Distanz, mit der sie ästhetisch arrangierte, 'ausgeflippte' Modefotos schießt, beobachtet Thomas’ Kamera das Elend der Männer im Obdachlosenasyl. Ob arrangiertes oder vorgefundenes Objekt, immer ersetzt das Kameraauge das des Subjekts. Naturgemäß sind es dann auch die Vergrößerungen (Blow-Ups) der Fotos, die Thomas in einem kleinen Park gemacht hat, die den Tathergang eines Mordes schildern – er selbst hat nur geknipst, was ihm vor die Linse kam.

Nach intensiver detektivischer Rekonstruktion vergrößert Thomas das Abbild einer Leiche hinter einem Busch heraus.

So, als sei sie der Nachweis einer wirklicheren Wirklichkeit, eine Bedeutung hinter der Entwertung der Dinge, kommt auf einmal Leben in ihn. Er findet die Leiche im Park, geht nicht zur Polizei, versucht jedoch Bekannten von ihr zu erzählen, aber die haben andere Probleme, sie leben in anderen, ihren Welten, probieren Marihuana, sind in „Paris“, obwohl sie in London sind. Entsprechend seiner völligen Belanglosigkeit ist der Tote, als Thomas am nächsten Morgen nachsieht, verschwunden.

Auch Thomas verschwindet, im Augenblick da der Film zu Ende geht, nachdem er einer Gruppe Hippies beim pantomimischen Tennisspiel ohne Ball zugesehen und ihnen den „Ball“ zugeworfen hat, als er über den Zaun geflogen war. Es ist also nur das real, was für den einzelnen real ist, sprich, was mit individueller Bedeutung aufgeladen ist, und: Phantasie an die Macht! (Verzückung heischende Parole etwa des „Roncalli-Zirkus“, – man stelle mir lieber keine Fragen, wie ich Pantomimen finde.)

Der Film endet jedenfalls damit: Der Protagonist Thomas ist weg. Es bleibt nur der grüne Rasen des gleichgültigen Universums. Wieder sind wir auf uns allein gestellt – und auf unsere Interpretationen, aber in diesem Film waren wir es schon die ganze Zeit – so wie selbstverständlich auch in diesem unseren Leben.

Um drei Themen kreist Antonionis Film:

Das erste kehrte seit seinen früheren Filmen „L’Avventura“, 'Die Nacht“ oder „Liebe 1962“ immer wieder: Die Entfremdung des Menschen von sich selbst. Beziehungslosigkeit wurde in den frühen Antonionis noch problematisiert, in „Blow-Up“ wird sie eigentlich schon als normale Prämisse vorausgesetzt. Die Kälte, die Zweckdienlichkeit der menschlichen Beziehungen hat nur eine neue Qualität: Sie wird vom Markt – hier der Modeindustrie – eingefordert und deshalb von allen fraglos akzeptiert.

Zweites Thema: Es gibt auch eine Gegenbewegung, das sind kleine Gruppen von Demonstranten (denen Thomas – vielleicht auch Antonioni – Sympathie entgegenbringt) und eben jene Horde Hippies, die zum Schluss „Tennis“ spielen und am Anfang zu zehnt in einem offenen Auto reisen und dabei krakeelen. 1965 und 1966 waren die Hoch-Zeit der Hippies, in dieser Zeit steckte die Verheißung neuer, kritischer Umwälzungen, die Anfänge der Studentenbewegung und kontramaterialistischer Philosophien. Mag sein, dass Antonioni von dieser nonkonformistischen Jugend beeindruckt war. Der Schluss von „Blow-Up“ ist ein seltener Hoffnungsschimmer in seinem Werk, der in seinem nächsten Film „Zabriskie Point“ einem großen Pessimismus und einer großen Wut angesichts des Scheiterns gesellschaftlicher Gegenbewegungen gewichen ist.

Drittes Thema: Selbsthinterfragung des Mediums Film und die Realität von Bildern. Was geben Bilder wieder, sind sie realer als die Welt? Wie wenig verlässlich sind deren Deutungen? Als eine Freundin die vergrößerte Aufnahme mit der Leiche sieht, sagt sie: 'Das sieht aus, als hätte es mein Freund gemalt.' Annäherungsversuche an die Wirklichkeit, durch das angeblich dokumentaristische Foto und die Kunst. Hier vermögen beide genau so wenig/viel. Hier begegnen sich das Hochartifizielle und das technische Medium. Das bewusst Verfremdende und das unfreiwillig Verfremdete, das ja eigentlich nicht verschleiern, sondern besser erkennen wollte, gleichen sich. Die Wahrheit ist etwas Verschwommenes.

Die Hippiegruppe, die am Beginn des Films kreischend in einem offenen Jeep reist, wird in der Filmgeschichte übrigens wiederkehren: am Anfang von „Mulholland Drive“, dem „Blow-Up“ von David Lynch …

Die totale Therapie

(A 1996, Regie: Christian Frosch)

Konsequente Stillosigkeit
von Andreas Thomas

Der Titel ist ja schon mal klasse! Was da so alles mitschwingt: Die völlige Heilung, der totale Krieg. Da wundert es dann kaum mehr, dass der Film eine deutsch-österreichische Koproduktion …

Der Titel ist ja schon mal klasse! Was da so alles mitschwingt: Die völlige Heilung, der totale Krieg. Da wundert es dann kaum mehr, dass der Film eine deutsch-österreichische Koproduktion ist. Was auch gut ist: Der Film hat etwa drei Jahre lang keinen Verleih gefunden. Obwohl doch normalerweise jeder Kram einen Verleiher findet. Und was dabei dann wieder verwundert: Hat keinen Verleiher gefunden, wenn doch Sophie Rois mitmacht. Und Blixa Bargeld. Und noch so einige andere, die wissen, wie man sch(l)auspielt.

Der Opener ist sowieso der Reißer: Dieser eisengraue und smartbärtige Beschwörer des Präsens Bargeld erklärt uns innerhalb von Sekunden – vor einem rasanten Bilderkalender: Marx, Lenin, Mao – die Geschichte der Menschheit und erwähnt dann so ganz relaxed, was eigentlich unser wahres Problem ist, nämlich, dass wir uns nicht trauen, uns einzugestehen, dass wir einfach glücklich sein wollen. Wir selber stehen uns als Individuen im Weg, in uns selber liegt das Problem und dessen Lösung. Er aber mit seiner Firma SHIRVIA könne da schon Abhilfe schaffen. Das war leider natürlich wieder nur so ein Werbetrailer, und das alles ist leider nur wieder so ein Ausbeutungsding. Und wir sind leider wieder mal nicht in einem Crashkurs fürs wahre Leben, sondern in einem Film über gruppendynamische Praktiken, über deren Anhängerschaft und – in einem Film über Filmgeschichte: Dass Bargelds Oberguru den Namen Roman Romero trägt, soll uns schon ganz früh sagen, wohin der Hase läuft, denn George Romero war doch der, der die „Nacht der lebenden Toten“ gedreht hat. Dass, wenn die Therapie so richtig beginnt, eine krass debile Frau in Zeitlupe winkend uns auf dem abgelegenen Gutshof in Niederösterreich willkommen heißt, ebenso wie sie uns – so wir das Ganze lebend überstanden haben – uns wieder in slow motion winkend verabschiedet, ist mehr schon als ein Wink mit dem Lynchschen weißen Zaunpfahl aus „Blue Velvet“ und dass einen die Szenerie immer mehr an Tobe Hoopers „Texas Chainsaw Massacre“ erinnert, das liegt fast weniger an der dramaturgischen Entwicklung, der gemäß jeder irgendwann dran glauben muss, es liegt vor allem in dieser billig gedrehten und dadurch umso atmosphärischeren Todesnähe, die „Die totale Therapie“ dem „Blutgericht in Texas“ (deutscher Titel) trefflich nachgespürt hat.

Gut! Der Film weckt also Erinnerungen an schöne Zeiten. Der Mann (Regisseur Frosch) kennt sich aus mit dem Guten, Wahren, Schönen. Und er kennt sich aus mit allen möglichen Spielarten der Psychotherapie. Auch hier viel Wahrhaftigkeit. Plausible, auch in ihrer häufigen Überzeichnung leider noch plausible, durchschnittliche Problemfälle: Ein gesellschaftlicher Querschnitt, der sich therapieren oder unterhalten lassen möchte: Ein stets lustiges, junges Life-Style-Ehepaar, er Programmgestalter beim Fernsehen, sie der modebewusste, quirlige Wellness-Sonnenschein an seiner Seite. Ein zweites Paar, sie eine verzagte, stets zuviel (mit)leidende Frau mittleren Alters aus der „ehemaligen DDR“, er ein zynischer (oder realistischer?) Österreicher. Dann einer, der Bungee, Survival etc. schon hinter sich hat, und sich hier den ultimativen Kick holen muss, sowie ein netter Junge, der durch normale Therapie nur „kopfmäßig“ erreicht wurde, auch Gestalttherapie hat bei ihm fehlgeschlagen, weil er „eher so der körperliche Typ“ ist. Ein Manager, der nach einem Infarkt in den Ruhestand gegangen ist, klagt über „mangelnde Gefühle“, oder dergleichen und eine so gut wie stumme junge Frau, namens Gabi, sagt gar nichts, ihre Schwester (Sophie Rois) umso mehr, nämlich vorher, nämlich als sie ihr erzählt, dass ihre Allergien von ganz tief unten kommen und sie auf jeden Fall zu SHIRVIA gehen muss.

Schade, dass „Die totale Therapie“ zwei Sachen gleichzeitig machen will, nämlich einerseits die Erlebniswelt von psychotherapeutischen Kursen darstellen und andererseits ein deutsch-österreichisches Kettensägenmassaker draus machen. Auf diese Weise nämlich vergibt der Film sich die durchaus vorhandene Chance einer gelungenen Konsequenz. Denn Christian Frosch kennt sich wirklich gut aus mit gruppendynamischen Therapiesitzungen, und in mindestens drei Szenen kann man gebannt nachfühlen, was es z.B. für den zynischen Österreicher bedeuten muss, seinen ganzen Frust herauszubrüllen. Hier packt der Film und zwar sehr ernsthaft und überzeugend. Und hier ist er auch genauso deprimierend wie befreiend. Aber diese Wahrhaftigkeit der Psychodramen kollidiert immer stärker mit der Ambition des Splatterfilms, der den zweiten Teil nach und nach völlig okkupiert, denn dort sind die Charaktere bestenfalls nur noch verwaschen, nur noch Vehikel der Mordinstrumente, die ihr Ziel treffen müssen: Messer, Hände, Pump-Gun. Der zweite Filmteil ist nur noch konstruiert, die Abfolge von Morden oder zufälligen Toden der Patienten an ihren Therapeuten und untereinander ist lächerlich, da sie vor allem emotional mehr als unwahrscheinlich sind.

Hier unterscheidet sich dann „Die totale Therapie“ auch von dem „Texas Chainsaw Massacre“ darin, dass, so ungeheuerlich dessen Plot auch erscheint, letzterer Film nie einen Zweifel an der realen Bedrohlichkeit oder der bedrohlichen Realität seiner völlig kranken Richter über Leben und Tod lässt.

„Die totale Therapie“ aber ist deshalb sehenswert, weil der Film scheitert, und weil er scheitert an Vorgaben, die nicht auf Deutschland oder Österreich übertragbar sind, und dennoch für beide Länder relevant sind, weil sie inzwischen auch Bestandteil ihrer Kultur sind. Und er ist sehenswert, weil er wahre Elemente hat, die er nicht ambitioniert versucht zusammen zu bringen, und dennoch ausstellt. Er wirkt manchmal wie ein hilfloses Konglomerat aus zu vielen deutschen Filmen, dann kommt die Bergmansche Psycho-Dimension, dann die Klamotte, dann die surreale Lynch-Situation, die auch schön auf den Punkt kommt. Wenn jemand um Hilfe bittet und nur der Hund auf ihn gehetzt wird, dann ist das Lynch und Kafka genauso, wie es auch Deutschland oder eventuell Niederösterreich ist. Dann wird es wieder witzig, wenn die Rois ständig nicht merkt, dass Leichen ihren Weg pflastern, oder wenn die DDR-Frau aus Versehen entspannt in den Abgrund schreitet und auf dem Tennisplatz zerplatzt.

Vielleicht will Herr Fosch zuviel gleichzeitig und schafft deshalb nichts richtig, obwohl einiges sichtbar bleibt. Was der Film überhaupt nicht besitzt, ist Stil. Aber in seiner konsequenten Stillosigkeit ist er nicht schlecht. Und überhaupt nicht schlecht, sondern die reine Freude – und deshalb schon den ganzen Film wert – ist Sophie Rois, die leider überhaupt im Kino viel zu selten vor der Kamera steht, wo sie sich doch schön verewigen könnte, aber wahrscheinlich hat sie darauf überhaupt keinen Bock. Wirklich schade wäre das!

Ich kann nicht schlafen

(F / CH 1994, Regie: Claire Denis)

Bambule im Panoptikum
von Carsten Moll

“Even in the face of something like gravity, one can jump at least three or four feet in the air and even though gravity will drag us back down to …

“Even in the face of something like gravity, one can jump at least three or four feet in the air and even though gravity will drag us back down to the earth again, it is in the moment we are three or four feet in the air that we experience true freedom.” – David Wojnarowicz

Daiga ist eine junge Litauerin, vor wenigen Tagen erst ist sie in einem schrottreifen Auto nach Paris gekommen. Immer wieder sagt man ihr hier, wie hübsch sie sei oder gafft sie einfach an. Genau wie der Typ, der ihr eines Abends durch die menschenleeren Straßen folgt und der nicht nur gucken will. Daiga flüchtet in ein Pornokino, ihr Verfolger bleibt zurück und zischt ihr zum Abschied noch „Schlampe!“ hinterher. Drinnen im Kinosaal setzt sich die junge Frau zwischen die Reihen von Männern, die peinlich berührt sind, als sie den einzigen weiblichen Zuschauer bemerken. Auf der Leinwand spricht ein Cowboy mit einer splitternackten Frau, die sich unbeholfen räkelt. Daiga lacht laut und befreit auf.

Diese Szene aus Claire Denis’ „Ich kann nicht schlafen“ lässt sich als Verdichtung des ganzen Films sehen, vielleicht sogar als eine Art Quintessenz des Kinos der Claire Denis. Daiga erlebt den Film (auch) als etwas Positives, obwohl er streng genommen das repräsentiert, wovor sie in der Wirklichkeit entkommen wollte: den männlichen Blick, der sie zum Objekt macht und unterdrückt. Die klassische feministische Kritik würde einen solchen Film aufgrund seiner Intention, nämlich der einseitigen Befriedigung männlicher Fantasien, wohl verurteilen und „PorNO!“ rufen. Daiga aber dekonstruiert den Film, liest ihn gegen seine intendierte Bedeutung, oder um es mit Gertrud Koch zu formulieren: Die Art, wie sich Daiga den Film aneignet, ist „eine, die sich in Scherben spiegeln kann.“ Sie zerschlägt das pornografische Machwerk in Fragmente und nimmt den Bedeutungsüberschuss der Zeichen wahr, das Unbeabsichtigte und Ungedachte.

Denis’ Filme sind von vornherein ein einziger Scherbenhaufen: Der Plot bleibt bruchstückhaft und assoziativ, die Dialoge kommen immer wieder zum Erliegen und die Momentaufnahmen sind bedeutsamer als ein großes Ganzes. Da keine Psychologisierung erfolgt oder eine moralische Haltung eingenommen wird, scheint es fast, als wäre „Ich kann nicht schlafen“ bloß noch konnotativer Überschuss, dem keine zwingende Lesart und Absicht zugrunde liegt. An die Stelle konventioneller Spannungsbögen und konstruierter Thrills treten eine sinnliche Atmosphäre und ein eigenständiger Blickwinkel. Die produzierten Bilder der Stadt haben nichts mit den typischen Postkartenmotiven gemein, sondern wagen einen diskreten Blick auf die Ränder der Metropole,- weit und breit kein Eiffelturm in Sicht.

Hier ist nichts fabelhaft, die Blicke der weißen Männer und mit ihnen Rassismus und Sexismus sind allgegenwärtig. In der Blickökonomie stehen die Polizisten, die Legalen und Heteros ganz oben, Paris liegt ihnen in der verstörenden Eröffnungsszene buchstäblich zu Füßen, als wäre die Stadt ein gigantisches centerfold. „Ich kann nicht schlafen“ nimmt all das wahr, erzählt aber vor allem von denen, die beguckt werden und ihren Versuchen, an der Gesellschaft und den Möglichkeiten des Großstadtlebens Teil zu haben. Da sind neben der Immigrantin Daiga noch Théo, der sich nach einem imaginierten Martinique, der Heimat seiner Eltern, sehnt und dessen schwuler Bruder Camille, der als Travestiekünstler auftritt und seinen teuren Lebenswandel mit Raubmorden an alten Damen finanziert. In Ellipsen folgen wir den drei Protagonisten auf ihren Wegen durch die Stadt, die vom Gedanken an Sicherheit und Ordnung besessen zu sein scheint, überall lauern Polizisten, Müllmänner und Putzfrauen. Doch immer wieder tun sich Nischen auf, es entstehen zumindest kurzzeitig Freiräume und neue Perspektiven, besonders da wo Regeln und Vereinbarungen gebrochen werden: Da ist die Flucht der Immigranten in die von den Franzosen als Bedrohung wahrgenommene Muttersprache, das gestohlene Geld, die Komik im Porno und immer wieder der Tanz als Ausdrucksmöglichkeit, wenn die Sprache längst gescheitert ist.

„Seid bloß nicht artig!“, gibt Camilles gutmütige Vermieterin ihm und seinem Liebhaber einmal mit auf den Weg und tatsächlich erweisen sich Grenzüberschreitungen für die Protagonisten als eine wertvolle Überlebensstrategie. Am Ende ist das allerdings nicht genug, Camille wird vom Pin-Up zum Phantombild und landet schließlich im Gefängnis, Théo träumt weiter von einer Heimat, die es nicht gibt und Daiga steigt wieder in ihren klapprigen Wolga und verlässt Paris. Weiterfahren, hier gibt es nichts zu sehen.

Zur DVD:
Bild- und Tonqualität sind gut, der Film findet sich sowohl in der französischen Originalfassung mit optionalen deutschen Untertiteln als auch als deutsche Sprachfassung auf der DVD. Bei der deutschen Tonspur findet allerdings keine automatische Untertitelung der russischen Passagen statt. Neben dem Film sind auf der DVD noch einige Trailer und auf der Rückseite des Covers sind kurze Hintergrundinformationen zum Film und zur Regisseurin gedruckt.

Mein bester Feind

(A / LU 2011, Regie: Wolfgang Murnberger)

Wann ist ein SS-Mann ein SS-Mann?
von Ulrich Kriest

Die an und für sich völlig legitime, wenngleich mitunter von Kritikerkollegen auch etwas wohlfeil (in „Jud Süss – Film ohne Gewissen“ war Bleibtreu doch ganz wunderbar als Knallcharge!) gestellte Frage: …

Die an und für sich völlig legitime, wenngleich mitunter von Kritikerkollegen auch etwas wohlfeil (in „Jud Süss – Film ohne Gewissen“ war Bleibtreu doch ganz wunderbar als Knallcharge!) gestellte Frage: Brauchen wir wirklich noch einen weiteren Nazi-Kostümfilm mit Moritz Bleibtreu in der Hauptrolle? – hier ist sie tatsächlich fehl am Platz. Denn Wolfgang Murnberger („Der Knochenmann“) ist mit „Mein bester Feind“ ein überaus intelligenter Film gelungen, der seine Spannung nicht etwa im Blick auf das auch nur vermeintlich glückliche Ende generiert, sondern vielmehr durch den aberwitzigen Weg dorthin.

„Mein bester Feind“ erzählt die Geschichte zweier Männer zwischen 1938 und 1945. Der eine, Viktor (Moritz Bleibtreu), ist der Sohn reicher jüdischer Kunsthändler, der andere, Rudi (Georg Friedrich), ist der Sohn von deren Putzfrau. Die jüdische Familie hat Rudi immer als Ziehsohn betrachtet, aber der hat sich selbst immer als Parias begriffen – und tritt seiner Ziehfamilie schließlich gleich nach dem Anschluss Österreichs in einer feschen SS-Uniform gegenüber. Rudi will endlich auch einmal etwas darstellen in der Welt. Die Geschichte von „Mein bester Feind“ ist schnell erzählt: Die Juden besitzen etwas sehr Wertvolles, was die Nazis gerne hätten – eine Original-Zeichnung von Michelangelo. Doch es kursieren zur Sicherheit auch mehrere Fälschungen dieser Zeichnung. Davon weiß Rudi leider zunächst nichts.

Was folgt, ist eine aberwitzige Verwechslungs-, Verfolgungs- und Macht-Komödie (kein Slapstick!), die trotz aller Volten nie vergisst, dass man als Jude mit Nazis nur verhandeln kann, wenn man etwas so unerhört Wichtiges wie eine Original-Zeichnung von Michelangelo besitzt. Kommt so gut wie nie in Realität vor – und der Film stellt auch ganz deutlich klar, dass de facto mit der Kunsthändler-Familie kurzer Prozess gemacht worden wäre. Jetzt dauert dieser Prozess etwas länger.

Dass hier ein Märchen vom Überleben erzählt wird, das es in der Realität schwerlich gegeben haben dürfte, hält der Film in jeder seiner unglaublichen und oft auch unglaublich komischen Volten präsent: woran erkennt man einen SS-Mann, wenn er keine SS-Uniform mehr trägt? Schwierig zu beantwortende Frage, gerade auch nach Kriegsende. Und ist auch sozialpsychologisch zu jedem Moment auf der Höhe der Handlung, wenn er den Nazismus in jeder Faser seines Systems als blanken Terror- und Gewaltzusammenhang beschreibt, der sich jederzeit auch gegen die eigenen Leute richten kann, weshalb auch ein paar Figuren ziemlich sang- und klanglos aus dem Film verschwinden.

Wenn ganz am Schluss die Überlebenden mit einem Bild des ermordeten Vaters in der Hand (scheinbar) triumphierend von dannen ziehen, dann ist diese Feier des Überlebens zugleich ein begrüßenswert unversöhnliches Memento Mori. Klüger, unberechenbarer und wirklich mit erstklassigen Darstellern in Spiellaune besetzt kann man sich Unterhaltungskino mit politischem Anspruch und Respekt vor der Intelligenz des Zuschauers eigentlich nicht wünschen.

Link zum Interview mit Regisseur Wolfgang Murnberger

Quarantäne 2 – Terminal

(USA 2011, Regie: John Pogue)

Zombies im Flughafen
von Sven Jachmann

„[REC]“ (2007) war sicher einer der effektivsten Horrorfilme der letzten Jahre. Eine spanische Zombievariation, die durch den beschränkten Raum eines städtischen quarantänisierten Mietshauses und dank des permanenten Einsatzes der subjektiven …

„[REC]“ (2007) war sicher einer der effektivsten Horrorfilme der letzten Jahre. Eine spanische Zombievariation, die durch den beschränkten Raum eines städtischen quarantänisierten Mietshauses und dank des permanenten Einsatzes der subjektiven Handkamera eines darin gefangenen Fernsehteams ein fast schon meditatives, zumindest aber reflexives Arrangement ihrer genreklassischen Grundlagen entwarf: eine kleine Menschengruppe muss sich ohne aussichtsreiche Fluchtmöglichkeiten gegen eine Horde Infizierter verteidigen, Basis schon des George A. Romero-Werks „Die Nacht der lebenden Toten“.

Was allerdings an weiteren Beiträgen folgte, war schlicht gestrickter Unfug, der die Komplexität der Vorlage ans schlichte Gemüt des forderungsfreien Fortsetzens weiterreichte: 2009 ein spanisches Sequel, das die offenen Fragen des erste Teils mit religiösem Mummenschanz beantwortete und im Jahr zuvor ein amerikanisches Remake mit dem Titel „Quarantäne“, für das auch nicht eine Modifikation im Sinne einer interpretatorischen Leistung ersonnen wurde. An dieses Remake knüpft nun „Quarantäne 2 – Terminal“ an, setzt aber nicht, wie das spanische Sequel, nahtlos den Plot des Originals fort, sondern entwirft eine Parallelhandlung zum städtischen Seuchenausbruch.

Der Film fährt die dokumentarische Unmittelbarkeit des Schreckens des Originals auf die Konventionalität einer in jederlei Hinsicht unspektakulären Kamera- und Montagetechnik runter und tilgt außerdem die einstige Klaustrophobie der dunklen Wohnungen durch die unübersichtliche Architektur eines Flughafenterminals. Dorthin rettet sich vorerst ein Pulk der üblichen Versprengten, nachdem im Flugzeug beim besonders korpulenten Fluggast, dessen Fettleibigkeit vor allem für ein paar tumbe Scherze dringlich war, das Virus ausbricht. Raus kann man nicht, weil das Militär dort bereits, wie in sämtlichen Vorläufern, schussbereit wacht, drinnen verharren will man nicht, weil der filmische Raum so desinteressiert erschlossen bleibt, dass die Infizierten einfach unversehens aus den labyrinthischen Metallgängen vor die erschrockenen Gesichter hüpfen. Statt der stillen Observation toter Winkel gibt es nun „Alien“-Fluchten, statt der unsystematischen Reduktion der Hysterie und der bangen Suche nach Ursachen wüten nun hinterfotzige Bakteriologen und selbstsüchtige Managertypen, denen man den Tod natürlich wünschen soll – so wird er wieder vom Gespinst der Bestrafung in eine narrative Ordnung zurückgeholt, als bloßes Schreckbild, das jederzeit grundlos zuschlagen kann, reicht er nicht mehr aus. Das simple Drehbuch-Credo lautet: Den ganzen früheren Firlefanz bitte mit mehr Zugänglichkeit versehen, von der Panik bis zum Sterben, und so geleiten mehr Schock, mehr Gruppenkonflikt, mehr Motivklau, mehr Bewegung, mehr Figurentypen, mehr Vorhersehbarkeit, ausnahmslos also mehr Entschlackungsambitionen durch die regelrechte Karikatur eines Sequelflicks, bis das Original ein weiteres Mal in ein weiteres Setting durchgepaust wurde. Ein standardisiertes Verfahren der Industrie eigentlich, aber manchmal ist es eben trotzdem kaum zu glauben.

Blue Velvet

(USA 1985, Regie: David Lynch)

Böse große Jungssachen
von Andreas Thomas

„So ein abgeschnittenes Ohr kann – wie Sie wissen – mitunter wahre Abgründe auftun. Nun, 'Blue Velvet' war vielleicht Mitte der 80er-Jahre schockierend. Gemessen an dem, was uns heutzutage in …

„So ein abgeschnittenes Ohr kann – wie Sie wissen – mitunter wahre Abgründe auftun. Nun, 'Blue Velvet' war vielleicht Mitte der 80er-Jahre schockierend. Gemessen an dem, was uns heutzutage in Talkshows serviert wird – Inzest, Pädophilie, Selbstverstümmelung, also fast jede Form menschlicher Abartigkeit – wirkt der Film doch recht harmlos.“ – David Lynch im Interview, nach dem Jahrtausendwechsel

Die Welt von Lumberton ist heil, so heil, dass in ihr notwendig das blanke Böse enthalten sein muss. Wir stecken in der Zange des in Zeitlupe lachenden Feuerwehrmannes, der den Film zusammenhält. Er winkt langsam, als wolle er sagen: Entspann dich, mein Kind, es kann dir nichts geschehen. Nette alte Damen geleiten uns über die Straße zur Schule, der Himmel ist blau, die Rosen vorm weißen Zaun, der unser Haus umgibt, blühen überreal rot, Holztransporte rollen schwer auf unseren heimatlichen Straßen. Der Fernseher zeigt Krimi, der Rasen wird gesprengt, und wenn der Schlauch sich um den Strauch wickelt, dann bremst das nicht nur das Wasser, sondern blockiert auch Vatis Blutgefäße im Hirn. Ein Schlaganfall, oder so, jedenfalls ein Grund für Student Jeffrey Beaumont, als Stellvertreter des Vaters zurück in seine Kindheit zu gucken, und darüber hinaus, jenseits der Lincoln Street, da, wo nur die großen Jungs hin kommen und böse große Jungssachen machen.

Geahnt hatten wir schon von klein auf, dass jener verkrampften Beschwörung der guten, heilen Welt eine mindestens ebenso muskulöse Antithese der bösen, kaputten Welt entgegenwirkt. Aber David Lynch war einer der ersten, die uns sogar das Enthaltensein der einen in der anderen gezeigt haben. In jeder Faser der Fernsehfamilienidylle der Beaumonts (schöne Welt) steckt schon das Unheilvolle, vom Traum zum Alb mutierende, so als lebe in der frommen Lüge die gottlose Wahrheit. Lynch zeigt das nicht plakativ, wie z.B. ein Waters das täte, er gibt sich nur bis zur Naivität aufgeschlossen den unheilvoll harmlosen Kleinstadt-Bildern Lumbertons und seiner Bewohner hin, und kommt ihnen und ihren amerikanischen Codes dadurch näher als ein a priori Skeptiker das täte.

Jeffrey findet auf einer Wiese ein abgeschnittenes Ohr. Ordnungsgemäß bringt er es zur Polizei. Das Ohr ist Symbol der Lynch-Welt, denn kaum ein Regisseur setzt Sounds so bewusst ein wie er. Oft sind es banale Bilder untermalende, dräuend grummelnde Bässe, die uns verunsichern. Lynchs Geräuschtapeten sind seinen Bildern gleichberechtigt und meistens ebenso aufwändig (in „Blue Velvet“ von Alan Splet und ihm) hergestellt und durchkomponiert worden. In das mit einer Schere abgetrennte Ohr eines Fremden wird der Kamerablick gezogen, dessen Inneres ist plötzlich eine düstere Höhlenlandschaft, und der Sound schwillt an, – Jeffrey ist von seinem Fund erschreckt und fasziniert, das morbide Geheimnis weckt seine Neugier.

Zusammen mit Sandy (Laura Dern), der Tochter des Inspektors, spielt er Detektiv. Er ermittelt aus einem Versteck heraus, wird dadurch zum Voyeur – und wir mit ihm. Jeffrey ist rein und unschuldig verliebt in die ebensolche Sandy, schmutzig und verdorben in Dorothy Vallens (Isabella Rossellini) und beides gleichzeitig. Klare Freudsche Muster: Die helle, reine, unschuldige ist die Blondine. Die kranke, gedemütigte, erotisierende ist die Schwarzhaarige. In „Blue Velvet“ ist Sex stets verknüpft mit Macht, Unterdrückung, Gewalt, Perversion und Psychose. Liebe dagegen schliesst die Libido scheinbar aus. Wir sehen zwar, dass Sandy und Jeffrey sich küssen, aber dieser Kuss ist eher die Besiegelung zärtlicher Verbundenheit als der Beginn eines Vorspiels. Dorothys Kuss dagegen und ihre sadomasochistischen Wünsche wecken in Jeffrey abgründige sexuelle Begierden.

Der expressivste Charakter und das Konzentrat dieser Abgründigkeiten ist zweifelsohne Dennis Hopper als Frank Booth (Abraham Lincolns Mörder trug übrigens denselben Namen). Als Hopper das Drehbuch für „Blue Velvet“ gelesen hatte, rief er Lynch an und erklärte, er müsse den Frank Booth spielen, weil er Frank Booth sei. Lynch: „Ich saß in der Klemme, denn ich hatte nicht die geringste Lust mit jemandem wie Frank Bekanntschaft zu machen. [Lacht]“ (aus „Lynch über Lynch“)

Vermutlich ist Frank Booth tatsächlich für Hopper die Rolle seines Lebens. Selten sah man ihn so auf dem Punkt, wie hier als der komplex psychotische, von merkwürdigen Drogen abhängige (er inhaliert z.B. immer wieder ein Gas, das er in einer Flasche mit sich führt) Booth. Antrieb für alle seine Taten scheint seine Impotenz zu sein. Um sich Dorothy gefügig zu machen, entführte er ihren Sohn und Ehemann und schnitt letzterem das Ohr ab. Nur die Anwendung einer Mixtur aus Drogen, Gewalt, daraus resultierender Macht, Sadomasochismus und Fetischismus (blaue Samtfetzen, die er sich und seinen Opfern in den Mund steckt) scheint ihm einen Rest von Befriedigung verschaffen zu können. Als Anführer eines kriminellen Freundeskreises ist jedes zweite seiner Worte: „fuck“, aber sicher fühlt er sich nur im Verborgenen, Dunklen, wo keiner merkt, dass er gerade das nicht mehr kann. Unfähig zu Gefühlen, Kommunikation und Beischlaf kommt sein „Liebesbrief“ aus seiner „Kanone“: ein männlicher Konflikt mit einer männlichen Lösung …

Isabella Rossellini spielt sein Opfer mit einer Offenheit, die zum Äußersten geht. Sie – damals als Top-Fotomodell unter Vertrag – zeigt ihren Körper als verletzlich, versehrt, deformiert. Manchmal wirkt ihre (missbrauchte) Nacktheit nahezu krankhaft aufgedunsen und morbide. Das Darstellen des Hässlichen (einer eigentlich schönen Frau), gepaart mit innerer Verzweiflung, geht weit über das übliche Kino-Frauenbild hinaus. Es wirkt wie ein Sinnbild der Frau als Unterdrückte und Sexualobjekt. Wenn Rossellini später geschunden, geschändet und nackt in Jeffreys Vorgarten steht, ist das ein Bild von Ausbeutung und Deprivation, das seinesgleichen sucht. Auch wenn Lynch sich massiv gegen eine solche Verallgemeinerung wehren würde: Natürlich herrscht Frank mit Gewalt über Dorothy, um ihren Körper benutzen zu können. Natürlich hatten und haben Männer mehr Macht, weil sie sich nicht genieren, Gewalt anzuwenden.

Auch Dean Stockwell, notorischer Nebendarsteller etlicher Filme seit 1944 (!), hat in „Blue Velvet“ vermutlich den Höhepunkt seiner Karriere erlebt. In seiner Rolle als tuntiger Bordellbesitzer Ben hat er seinen Glanzauftritt, indem er zu Roy Orbisons „In Dreams“ pantomimisch die Lippen bewegt, sein Gesicht beleuchtet von einer wie ein Mikrofon benutzten Arbeitslampe. Jeffreys unfreiwilliger Besuch bei Ben ist wie der Aufenthalt in einer Vorhölle. Jeffrey spürt in diesem Ambiente die konsequente Verwirklichung jener „dunklen Seite“. „Es ist eine fremde, seltsame Welt.“-„It’s a strange world“, fasst Jeffrey mehrfach seine Erlebnisse in Worte, weil das Dunkle, Gedeckelte, Gewalttätige mit Macht sich nicht nur seinem voyeuristischen Blick entdeckt, sondern eine Spur dessen sich ihm selber, als ureigener Trieb entpuppt. Vielleicht ist es der Sexual-Trieb an sich, den sich der adoleszente Mann zu entdecken hat, aber es ist auch die Dichotomie zweier Prinzipien, die ihn und uns bannt: Die reine, naive und auch verlogene, neurotische, lustfeindliche bürgerliche Ordnung steht gegen die unverhohlen brutale, exzessive, kriminelle, schließlich psychotische (Un)ordnung proletarischer Couleur.

Wir sehen gepflegt-geordnetes amerikanisches Bürgerleben in der aufregendsten Skizzierung, wir sehen die definitive Artikulation der Impotenz (Hopper, seine beste Rolle), wir sehen wirklich verlorene Wesen (Rosselini, ihre beste Rolle), wir sehen den Entwicklungsroman (MacLachlan, seine beste Rolle). Aber wenn uns beim Happy-End wieder der Feuerwehrhauptmann zuwinkt, haben wir Heranwachsenden endgültig gelernt: Diese seltsame Welt da draußen jenseits der Lincoln Street ist gar nicht wirklich erforscht und besiegt, denn sie ist noch undurchdringlicher, mächtiger und verschlingender geworden, und ihre Flammen züngeln in unsere Fernsehserienfamilienwelt hinüber – seit wir auf sie einen genüsslich masochistischen Blick werfen durften, und wir wissen, dass sie auch in uns selber existiert.

Ich glaube, David Lynch ist kein Träumer, sondern einer der wenigen Realisten des amerikanischen Kinos, mit einem scharfen und mutigen Blick für die innere Logik individueller, aber auch sozialer Psyche. „Psychic Reality“ hat das mal jemand genannt. Aber das besonders Nette an Lynch ist, dass er uns neben dem Schauder auch den Spaß an dieser unserer unheilen psychischen Realität vermittelt.

„Blue Velvet“ ist einer der wenigen Filme Lynchs, in denen das Surreale zwar angedeutet, aber noch weitgehend von einer in sich schlüssigen Handlung losgelöst existiert. In seinen späteren Filmen „Wild At Heart“ (1990), “Twin Peaks – Fire Walk With Me” (1992), “Lost Highway” (1996) und “Mulholland Drive” (2001) sind surreale und reale Elemente gleichberechtigte, miteinander untrennbar verwobene Handlungsbestandteile, wie auch zuvor schon in „Eraserhead“ (1976). „Der Elefantenmensch“ (1980) arbeitet, wie auch der Science Fiction-Film „Dune – Der Wüstenplanet“ (1984), mit ausdrucksstarken Traumsequenzen, ohne sie als real zu apostrophieren, und einzig „The Straight Story“ (1999) scheint ohne Irrationales auszukommen, wäre da nicht die Szene mit der Autofahrerin, die, um die Rehe zu verscheuchen, auf Landstraßen so laut sie kann „Public Enemy“ aufdreht, und dennoch jedes Mal eines totfährt. Aber das gehört woanders hin …

Martin Scorseses Reise durch den amerikanischen Film

(USA / GB 1995, Regie: Martin Scorsese, Michael Henry Wilson)

Blockbuster vs. Bilderstürmer
von Andreas Thomas

Welcher ist wohl Martin Scorseses zurzeit (Stand: August 2011) beliebtester Film? Die Antwort der Leserschaft der berühmten Internet Movie Database lautet nicht: „The Aviator“, nicht „Taxi Driver“ und auch nicht …

Welcher ist wohl Martin Scorseses zurzeit (Stand: August 2011) beliebtester Film? Die Antwort der Leserschaft der berühmten Internet Movie Database lautet nicht: „The Aviator“, nicht „Taxi Driver“ und auch nicht „Raging Bull“. Mit einer Durchschnittsnote von 8,7 von 10 möglichen Punkten rangiert eine bereits über zehn Jahre alte TV-Dokumentation Scorseses mit dem langen Titel „A Personal Journey with Martin Scorsese Through American Movies“, ein Film, der vor über zehn Jahren einmal bei Arte zu sehen war, sogar noch vor seinem bis dahin all-time-favourite „Goodfellas“.

Eine Spitzenposition in den IMDb-Charts sollte nun nicht der einzige Grund sein, sich mit dem beinahe 4-stündigen Film-Essay bekannt zu machen, muss es auch nicht, weil sich das Werk am besten selbst empfiehlt. „Martin Scorseses Reise durch den amerikanischen Film“ macht offenbar nicht nur Filmgeschichte, der Film erzählt auch von ihr (d.h. Scorsese schwärmt, beschwört, begeistert sich, analysiert, mit unermüdlicher Faszination), der Geschichte des US-amerikanischen Films, von Hollywood, und das auf jene kenntnisreiche und besessene Art eines Kino-Süchtigen, dessen einziges Entzugsmittel immer nur, wie er sagt: „noch mehr Kino“ hieß.

An den Anfang des 225-minütigen Werks stellt Scorsese bezugsreich Minnellis „Stadt der Illusionen“, den „emblematischen Film über die halluzinatorische Kraft des Films“, dessen Thema, die Maschinerie Hollywood, für Scorsese immer auch vom Gegenüber „Kunst gegen Kommerzialität“ durch die Reibung zwischen Regie und Produktion geprägt ist. Im Konflikt zwischen Regisseur und Produzent erkennt Scorsese einen „ewigen Streit“, ein fortwährendes Kräftemessen, das basal ist für die Hollywood-Geschichte. Von diesem roten Faden geht er in seiner „Reise“ aus, zu ihm kehrt er immer wieder zurück, um ihn herum ist die nicht chronologische Dokumentation gebaut, die vom „Dilemma der Regisseure“ handelt, einen Weg zwischen Experiment und Anpassung finden zu müssen. Scorsese vollzieht verschiedene dieser Wege und Lösungen plastisch nach:

Mit D.W. Griffiths „The Birth of a Nation“ von 1915, so Scorsese, wurde das Kino erwachsen und etablierte sich zum Kunstwerk. Seine Stärke ist die „Sprache der Bilder“, die „visuelle Grammatik“ und der Film ist Initialzündung für das „Monumentalkino“, für die „historischen Dramen, die nur dann den Zuschauer erreichen, solange sie mit Einzelschicksalen verknüpft sind“. In dieser Tradition sieht Scorsese (bescheiden) auch sein „Gangs of New York“.

Wie „der Regisseur als Geschichtenerzähler“ immer auch die amerikanische Geschichte miterzählt, macht Scorsese deutlich, wenn er die Film-Genres behandelt. Die drei Hauptstränge amerikanischer Kultur finden sich in der Genres wieder: In den Western die Konflikte der Grenzgebiete, im Gangsterfilm die Geschichte der Städte der Ostküste, in den Musicals der Einfluss des Broadways. Diese drei Genres, so Scorsese, seien bestimmend für das amerikanische Kino und ihre immer wieder neu und raffiniert variierende Vermischung machen „den Reiz Hollywoods“ aus. Das Faszinierende der mit vielen Filmausschnitten (auch aus Scorseses kostbarem und umfangreichen privaten Filmarchiv) illustrierten „Reise“ verstärkt sich, wenn man ein wenig bewandert ist in Scorseses Werk, und er weist sehr erhellend darauf hin, gerade für den filmhistorisch nicht sattelfesten Filmfreund, dass etwa „Goodfellas“ sich an Filmen wie „Die wilden Zwanziger“ (Walsh) oder „Scarface“ (Hawks) orientiert. Wenn Scorsese feststellt, wie „in der Nachkriegszeit die Gangsterbande ein Konzern und die ganze Gesellschaft korrupt geworden“ ist und das Individuum gegen das System keine Chance mehr hat, dann befinden wir uns sowohl in der Historie Amerikas und Hollywoods als auch in der Wahrnehmungswelt des Sohnes italienischer Einwanderer und Katholiken Scorsese.

Auch am Western interessiert Scorsese der Wandel vom „Klischee des guten Helden hin zur Ununterscheidbarkeit von Held und Schurken“ (Beispiel: „Der schwarze Falke', Ford) und „seine Verstrickung in die Zwänge einer gewalttätigen Welt“; die Schuldverstrickung, natürlich ein Grundthema des Regisseurs, der beinahe Priester geworden wäre.

Wie wir wissen hat Scorsese sich auch – mit umstrittenem Erfolg – an das Musical gewagt. Aber wer hätte gedacht, dass „New York, New York“ sich am Vorbild „Mein Traum bist du“ (1948) von Michael Curtiz mit Doris Day orientierte? „Die auch im Musical sichtbaren, dunkel gefärbten Strömungen des Nachkriegskinos, Geschichten, in denen private Beziehungen den Karrieren geopfert werden“, empfindet Scorsese als signifkant für ihre Zeit.

Aber Scorsese widmet sich auch den technischen Aspekten des Kinos. Er reserviert ein Kapitel für den Neubeginn durch den Tonfilm, er zeigt, wie die Farbe und das Cinemascope-Format dem Historien-Film (Initialzündung „Das Gewand“) und dem Western eine neue Entwicklungsform bereit stellte (und so alleine die Filmtechnik neue Genres erschuf). Er beschäftigt sich mit der Frage, ob, im digitalen Zeitalter, mit dem Ende des Monumentalkinos auch das Ende des epischen Kinos, gar der Filmkunst, gekommen sei, weist aber darauf hin, dass auch Kubricks „2001“ schon mit digitalen Effekten arbeitete und dennoch, wie Griffiths „Intolerance“ oder Murnaus „Sunrise“, alles zugleich sein konnte: „Superproduktion, Experimentalfilm und visionäres Gedicht.“

Ob Kino also auch Kunst sein (und bleiben) kann, ist für Scorsese immer zuerst eine Frage nach der kreativen Intention der Regisseure, und nach ihren Fähigkeiten, ihre Kunst, ihre Visionen oder auch – in politisch finsteren Zeiten – ihre versteckte Gesellschaftskritik auf die Leinwände zu „schmuggeln“. Gerade Filme mit weniger Geld haben dafür mehr Freiheiten. Als Beispiel nennt Scorsese (und zeigt er Aussschnitte aus) Jacques Tourneurs „Katzenmenschen“, ein B-Movie, das „für die Entwicklung eines reiferen Kinos so wichtig war, wie ‚Citizen Kane’“.

Ein Kapitel über den Film noir setzt Scorsese erst in den zweiten seiner drei „Reisefilm“-Abschnitte, wohl weil seine Klassifizierung als Genre immer umstritten war. Am Film noir interessiert Scorsese vor allem der Topos, dass darin das „Verbrechen nicht mehr Domäne der Unterwelt ist, sondern jeder ein potentieller Verbrecher“. Ein Beispiel für Scorseses vielfältige Recherchen ist ein prägnanter Fritz-Lang-Interviewausschnitt (Scorsese sammelte Interviews aus Archiven und führte selbst Interviews, sodass in seinem Film zu Worte kommen: Kathryn Bigelow, Frank Capra, John Cassavetes, Francis Ford Coppola, Brian De Palma, André De Toth, Clint Eastwood, John Ford, Samuel Fuller, Howard Hawks, Elia Kazan, Fritz Lang, George Lucas, Gregory Peck, Arthur Penn, Nicholas Ray, Douglas Sirk, King Vidor, Orson Welles, Billy Wilder) mit dem Satz: „Gewalt ist endgültig Bestandteil von Drehbüchern geworden“ und der Feststellung: „Die Furcht vorm Teufel ist durch die Furcht vor dem physischen Schmerz abgelöst worden.“ Vielleicht lässt sich die Grundthematik des Film noir mit Scorseses Worten charakterisieren: „Es gibt keinen moralischen Kompass mehr.“ Freimütig übrigens gesteht der Verfasser dieser Zeilen, dass ihm die von Scorsese gelieferte ursprüngliche Herkunft des Begriffs „Film noir“ „US-Filme, die bis 1946 in Frankreich verboten waren“, bisher neu war.

Im letzten und dritten Teil seiner Dokumentation, die sich zunächst mit der McCarthy-Ära beschäftigt, erläutert Scorsese genauer, wie er den „Regisseur als Schmuggler“ verstanden haben will; und er illustriert mit Filmausschnitten von Douglas Sirk, Nicholas Ray oder Samuel Fuller, wie gerade in Zeiten gesellschaftlicher Repression eine faszinierende Ära des amerikanischen Kinos anbrechen konnte, weil es unter dem Druck der Zensur neue und subtilere Wege gehen musste, um Kritik an den herrschenden Verhältnissen zu üben. Ray („… denn sie wissen nicht, was sie tun“) und Sirk („Was der Himmel erlaubt“) spezialisierten sich auf auf den Einsatz des Melodrams, um die „Americana“ zur entlarven. Die beengte Kleinstadtatmosphäre stand dabei für die Stimmung im ganzen Land. Und Samuel Fullers Themen Scheinheiligkeit und Patriotismus fanden ihren filmischen Höhepunkt in „Schock-Korridor“, der kaum verklausuliert den Kalten Krieg und den amerikanischen Rassismus anprangerte, so der überzeugende Tenor Scorseses.

Den „Schmugglern“ gegenüber stellt er die offenen Anklagen der „Bilderstürmer“, die es – bei Griffith („Gebrochene Blüten“) angefangen – schon immer in Hollywood gab. Dazu zählt er Stroheim, von Sternberg, Chaplins „Der große Diktator“ oder Kazans „Endstation Sehnsucht“. Als „vermutlich größten Bilderstürmer Hollywoods“ bezeichnet er den 25-jährigen Orson Welles mit dessen „Citizen Kane“.

Je weiter sich Scorsese mit den Bilderstürmern beschäftigt, desto begeisterter wirkt er. Er berichtet, wie er mit zwölf Jahren zum ersten Mal Kazans „Die Faust im Nacken“ sah und Brandos „neue Art zu spielen“ für ihn eine „Offenbarung“ war. Kazans Stil scheint ihm maßgeblicher Wegbereiter für die „Bilderstürmer der 50er und 60 Jahre“: Robert Aldrich, Richard Brooks, Robert Rossen, Billy Wilder, Arthur Penn, Sam Peckinpah. Er hebt hervor: Premingers „Der Mann mit dem goldenen Arm“ mit dem gewagten Thema Heroinsucht, Wilders „Eins zwei drei“ mit seinem verschärften Humor und Penns „Bonnie und Clyde“, der zusammen mit Peckinpahs „The Wild Bunch“ der letzte „Sargnagel“ des „Production Code“, der offenen Zensur in Hollywood, bedeutete. Eine Sonderbezeichnung erhält John Cassavetes von Scorsese. Seine Filme seien „Epen der Seele“ und ihr Regisseur der „Guerillero der Filmemacher“. Respektvoll schwärmt er von Kubricks Filmen und besonders seinem „Barry Lyndon”. „Oberflächlich kühl und abweisend, ist er doch einer der gefühlvollsten Filme, die ich je gesehen habe!“

Bereits 25 Jahre vor der Produktion dieses seines Film-Essays, beim Jahr 1970, schließlich stoppt Scorsese seine Analyse – mit der Begründung, dass er ab hier „selber mitspielt“ und nicht berechtigt sei, über sich und seinen eigenen Einfluss zu sprechen.

Dafür haben wir ungeahnt viel über die Regisseure und die Filme erfahren, die Einfluss auf Scorsese hatten – um festzustellen, dass der profunde Kenner Scorsese das komplette amerikanische Kino in sich aufgesogen hat. Überall in seinem Werk finden sich Merkmale, Elemente, Ideale und Mythen der amerikanischen Filmgeschichte wieder – was zu beweisen war und vom Regisseur selbst bewiesen wurde. „Scorseses Reise …“ lebt von der Faszination des Kinos für den Filmfanatiker, dessen Fanatismus ihn nicht nur zum Regisseur, sondern auch zum Film-Historiker aus Leidenschaft hat werden lassen. Deswegen ist die persönliche Dokumentation aber auch ein Vermächtnis des amerikanischen Films per se geworden. Nicht nur die zu den einzelnen Kapiteln erklingende schöne Titelmusik von Elmer Bernstein gibt einem das Gefühl, in einem schweren, roten Kinosessel einen dieser Filme zu sehen, von denen dieser Film handelt. Denn der Plauderer und der Spurensucher Scorsese, mit seinen irritierend zueinander strebenden Augenbrauen (die sich auch in der Titelgrafik keines Geringeren als Saul Bass wiederfinden), verwandelt einen eloquenten Monolog in ein Schatzkästlein, geöffnet wie von einem Freund, der einen in die Mysterien des Kinos einweiht. Wenn dann Scorseses Schlusswort vom Kino als dem „Bedürfnis des Menschen, eine gemeinsame Erinnerung teilen zu können“ und von der „Suche nach dem kollektiven Unbewussten und nach Spiritualität“ handelt, dann erweist sich, wie viel Katholizismus in seiner Begeisterung steckt. Weil Scorseses Liebe zum Kino religiöser Natur ist, ist seine „Reise“ zugleich Gottesdienst, cineastisches Glaubensbekenntnis, nebenbei die Beichte einer Suchtkarriere, aber vor allem die Dokumentation der amerikanischen Filmgeschichte, welche – wie sagt man so schön? – jeder Filminteressierte unbedingt gesehen haben sollte.

Eine DVD der Originalfassung (mit deutscher Voice over und deutschen Untertiteln) ist einzeln oder als Teil der 7 DVDs umfassenden Gesamtausgabe der Reihe: „Filmgeschichte Weltweit“ bei absolut Medien erschienen.

Blue Valentine

(USA 2010, Regie: Derek Cianfrance)

Im Kommunikationsgefängnis
von Wolfgang Nierlin

Vergangenheit und Gegenwart, das Erblühen und Verblassen einer Liebe sind in Derek Cianfrances “Blue Valentine” eng miteinander verwoben. In Rückblenden werden die prägnanten Momente eines hoffnungsvollen Beginnens mit dem Status …

Vergangenheit und Gegenwart, das Erblühen und Verblassen einer Liebe sind in Derek Cianfrances “Blue Valentine” eng miteinander verwoben. In Rückblenden werden die prägnanten Momente eines hoffnungsvollen Beginnens mit dem Status quo der Beziehung konfrontiert, wobei die Montage in bildlichen Analogien die Kontraste akzentuiert. Immer wieder treffen sich Blicke, wiederholen sich Umarmungen unter anderen Vorzeichen oder verbinden sich Gefühle mit Erinnerungen. So blitzt das vergangene Glück, zeitlich verdichtet, in wenigen Streiflichtern noch einmal auf, während sich die Beziehungskrise der Gegenwart über einen langen Tag erstreckt.

Schon die Suche der kleinen Frankie (Faith Wladyka) nach ihrem geliebten Hund zu Beginn von „Blue Valentine“ lässt nichts Gutes erahnen. Eine Atmosphäre voller Spannungen und unterdrückter Konflikte schwebt dunkel über dem sich auflösenden Familienidyll. Frankies Mutter Cindy (Michelle Williams), die als Krankenschwester arbeitet, wirkt gestresst und genervt; ihr scheint regelrecht die Luft zum Atmen zu fehlen. Dieses klaustrophobische Grundgefühl spitzt sich noch zu, als ihr Mann Dean (Ryan Gosling), ein romantischer Kindskopf und konvertierter Familienmensch, der als Anstreicher glücklich ist, in einem absurd kitschigen Love-Motel eine Nacht für die beiden bucht. Im sogenannten „Zukunftszimmer“ möchte er die abgenutzte Ehe auffrischen. Doch im Kommunikationsgefängnis aus Missverständnissen und Missverstehen werden vor allem scheinbar unüberwindliche Differenzen deutlich.

Derek Cianfrance entwickelt in „Blue Valentine“ allerdings keine Problemgeschichte. Sein sozialrealistischer Film, der viel Wert auf eine genaue Milieuzeichnung legt, zeigt nicht, wie das Paar in diese Sackgasse geraten ist, sondern eher, wie seine Partner mehr oder weniger hilflos das Ende ihrer Ehe erleben. Unterstützt durch die Musik von Grizzly Bear, setzt Cianfrance deshalb vor allem auf Stimmungen und Emotionen. Gründe für das Scheitern der Beziehung lassen sich allenfalls aus der Figurenpsychologie herleiten: So kommt Cindy aus einem autoritären Elternhaus und hat in der Suche nach Halt mit vielen wechselnden Partnern kein Vertrauen entwickeln können, während das Scheidungskind Dean durch die frühe Entbehrung der Mutter zum Familienmensch geworden ist.

„Lass uns eine Familie sein!“, fleht er verzweifelt in einer der intensivsten Szenen. Dabei trägt sein Aufopferungswille deutlich romantische Züge. Dean ist die sympathische Integrationsfigur, die sich gegen Cindys (emotionale) Haltlosigkeit und gegen die Fliehkräfte seiner Ehe stemmt und mit der Regisseur Derek Cianfrance eigene Kindheitsängste verarbeitet: „Als Kind machten mir zwei Dinge Angst: Die Gefahr eines Atomkriegs und dass sich meine Eltern scheiden lassen könnten. Der Film ist ein Resultat der zweiten Angst.“

Tamala 2010 – A Punk Cat in Space

(J 2003, Regie: Trees of Life)

Das hat keiner gewollt
von Carsten Moll

In seinem Essay „Notes on Charlie Sheen and the End of Empire“ beschreibt der Schriftsteller Bret Easton Ellis einen Paradigmenwechsel, den er in der Celebrity-Kultur unserer Tage auszumachen glaubt. Laut …

In seinem Essay „Notes on Charlie Sheen and the End of Empire“ beschreibt der Schriftsteller Bret Easton Ellis einen Paradigmenwechsel, den er in der Celebrity-Kultur unserer Tage auszumachen glaubt. Laut Ellis zeichnet sich das Dasein und die erfolgreiche Vermarktung als Star seit dem Jahr 2005 immer mehr durch eine schamlose Transparenz aus, die die eigene fucked-up-ness annimmt und zelebriert und sich damit gegen die Verlogenheit der alten Strukturen, des Empire, richtet. Empire sind Ellis zufolge etwa Bob Dylan, Tom Cruise und Tiger Woods. Post-Empire sind beispielsweise Lady Gaga, Kim Kardashian und eben Charlie Sheen, weil sie nicht nach den alten Regeln spielen, welche Gegensätze wie authentisch/künstlich, privat/öffentlich oder richtig/falsch konstruieren. Das Post-Empire ist ein System der Nivellierung, in dem E und U, Mainstream und Subkultur, Dafür und Dagegen zusammenfallen und als Kategorien irrelevant werden.

Bereits 2003 erschien „Tamala 2010 – A Punk Cat in Space“ in Japan, aber der Film ist immer noch Gegenwart wie wenig anderes (von Michael Bays „Transformers“-Reihe einmal abgesehen, aber „Tamala 2010“ hat den Vorteil, konsequenter und clever zu sein). Protagonistin ist das Kätzchen Tamala, ewig jung und ein Star in ihrer Katzen-Parallelwelt. Und man kann es nicht anders sagen: Tamala ist Post-Empire. Sie ist radikale Individualistin, hedonistisch und asozial und dabei eine Werbeikone, deren Konterfei jedes Produkt des Megakonzerns CATTY & Co. ziert. Von den Massen für ihre Niedlichkeit bejubelt zu werden und einem kleinen unschuldigen Katzenkind einen heftigen Karatekick ins Gesicht zu verpassen, bilden hier keinen Widerspruch, sondern sind Teil eines Images. Und mehr als ein Image ist Tamala nicht mit ihren sinnfreien Slogans („‚Juhu!‘ heißt ‚Ich werde dich töten.‘“) und dem Trademark-Augenklimpern. Selbst ihre Romanze mit Kater Michelangelo und die Suche nach ihrer Mutter muten als austauschbare Accessoires oder folgenlose Modifikationen im Lebenslauf einer Videospielfigur an, weniger als Motivation zum Denken und Handeln oder Antrieb einer inneren Entwicklung.

„Tamala 2010“ erzählt nichts, der Film ist mehr ein chaotischer Pop-Katalog, eine faszinierende Bestandsaufnahme der postmodernen Konsumgesellschaft. Da trifft Oscar Wildes Kunstmärchen „Der glückliche Prinz“ auf Josef Schumpeters Theorie von der schöpferischen Zerstörung, der Schwarzweiß-Look von Felix the Cat auf knallbunte 3D-Computergrafiken und die kawaii-Ästhetik von Hello Kitty auf den rauen Ton von Fritz the Cat. Die wilden Assoziationen und endlosen Zitate des Films lassen dabei nicht bloß Pluralismus und Demokratie durchscheinen, sondern erwecken bisweilen den Eindruck von Beliebigkeit und Zufälligkeit bis hin zum Abwegigen. Die Diegese von „Tamala 2010“ kommt damit Brechts Beschreibung des Kapitalismus als „Große Unordnung“ nahe und illustriert eindringlich Marx’ Idee von der Verrücktheit als Moment der Ökonomie. Nicht nur die Ästhetik des Films, auch seine Produktion spiegeln den postfordistischen Kapitalismus unserer Tage wider. Erdacht vom Künstlerduo t.o.L. und dann mit simpler Standard-Software von einem fünfköpfigen Team animiert und produziert, ist der Film das Resultat von Einzelwillen. Hinter „Tamala 2010“ steht kein Masterplan oder planwirtschaftliche Überlegungen, der Film spottet geradezu Marx’ Ausspruch von der Überlegenheit des schlechtesten Baumeisters über die beste Biene. Da sind der fragmentarisierte Plot und das offene Ende nur konsequent, selbst die an Pynchon angelehnte Verschwörungstheorie um eine mysteriöse Katzensekte bietet keine Auflösung oder eine Ordnung unter der wirren Oberfläche, sondern ist bloß eine weitere Verrücktheit, ein Versatzstück unter vielen im postmodernen Chaos, das Intensität Rationalität vorzieht.

Wer nun aufgrund des bisweilen düsteren und ironischen Tons von „Tamala 2010“ wie mancher Kritiker Kulturpessimismus oder eine konsumkritische Haltung (Empire!) zu entdecken glaubt, der übersieht, mit welcher Lust der Film sich die Bilderproduktionen von Hollywood übers Musikvideo bis zum Videospiel aneignet, um seine Totalherrschaft der Ökonomie zu bebildern. Wenn überhaupt, ist „Tamala 2010“ Konsumkritikkonsum, denn wie die japanische Website zum Film verrät, soll das Kätzchen Tamala auch in der Menschenwelt zur globalen Markenikone werden. Das TAMALA2010PROJECT entwickelt sich zum riesigen Merchandise-Imperium mit der Punkkatze als „Super Idol“, vermarktet als Comic, Film, Musik und Game wie einst Lara Croft. Juhu!

Berlin – Paris. Die Geschichte der Beate Klarsfeld

(D 2010, Regie: Hanna Laura Klar)

An die Hand genommen
von Andreas Thomas

„Beate Klarsfeld wirkt sehr französisch, ganz pariserisch, und doch besteht sie darauf, eine gute Deutsche zu sein.“ Verbale Informationen über Dinge, die die Bilder eines Films ja auch ohne Kommentar …

„Beate Klarsfeld wirkt sehr französisch, ganz pariserisch, und doch besteht sie darauf, eine gute Deutsche zu sein.“ Verbale Informationen über Dinge, die die Bilder eines Films ja auch ohne Kommentar zeigen könnten, trüben ein wenig die Freude an einem Kinodokumentarfilm über eine Frau, die in der Tat deutsche Geschichte geschrieben hat. Berühmt wurde sie für eine Ohrfeige, welche sie unter dem Ausruf „Nazi, Nazi!“ im Jahr 1968 dem damaligen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger verabreichte, um so, erfolgreich, auf seine bis dato kaum bekannte frühere NSDAP-Mitgliedschaft und auf seine Tätigkeit als Nazipropagandist hinzuweisen. Eine Maßnahme, die u.A. vermutlich seine Kanzlerschaft (als Nachfolger Ludwig Ehrhardts) auf drei Jahre beschränkte. Eine physischer Angriff auf einen Politiker, nicht wie eher heutzutage üblich, als Indiz geistiger Verwirrung, sondern als politischer Kommentar, als symbolischer Akt, lange vorbereitet und geplant. „Man muss durch etwas Illegales auf den größeren Skandal aufmerksam machen“, sagt die 1939 in Berlin geborene Klarsfeld heute dazu, die „als gute Deutsche“ nicht hinnehmen konnte, dass ein ehemaliger Nazi Bundeskanzler werden durfte.

Bezeichnend für die Arroganz und Borniertheit jener Vätergeneration: der Kommentar des Kanzlers: „Was sie hier getrieben hat, das … steht in Verbindung mit denen Radaugruppen, die wir in dem letzten Jahr in Deutschland an unseren Universitätsstädten und sonstwo erlebt haben …“ (Grammatikalische Fehler der wörtlichen Rede übernommen).

Der Angelpunkt des Films „Berlin-Paris“ von der Regisseurin Hanna Laura Klar bleibt diese Aktion vom 7.11.1968, für die die Klarsfeld, fast möchte man sagen „standrechtlich“, noch am gleichen Tag zu einem Jahr Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Ein Urteil, das später in 4 Monate auf Bewährung umgeändert wurde; Klarsfelds Anwalt bei der Berufung war Horst Mahler, wie man auf Wikipedia erfährt, nicht aber im Film. Auch dass der Georg Elser-Preis für Klarsfeld, dessen Verleihung auch der Film beiwohnt, intern letztlich nicht legitimiert war, weil seine Entscheidungsfindung gegen die Statuten des Komitees verstieß, wird im Film nicht erwähnt, auch dabei fragt sich, warum eigentlich nicht?

Vielleicht, weil der Film das werden sollte, was er so eben geworden ist: Ein Portrait einer durchaus interessanten und lebendigen seit den Sechzigern in Paris lebenden Dame, das doch in seiner Art einer der Laudationen und Begegnungen der Biografierten mit respektvoll interessierten Kulturförderern ähnelt, die der Film summiert. Brüche, Ecken oder Kanten, offene Fragen bleiben nicht. Stattdessen einige Worte über die und von der Klarsfeld, deren schneller Redefluss mit französischer Intonation (der immer mal wieder durch ein „Bon“ paraphrasiert wird) sich manchmal zu überschlagen droht, manchmal Gedanken und Satzteile verschluckt und mitunter kaum Luft zum Denken lässt.

Nicht unerwähnt lässt der Film die Hauptarbeit von Beate Klarsfeld und ihrem Mann, dem französischen Juden und Anwalt Serge Klarsfeld: nämlich das Aufspüren und zur Verantwortung Ziehen von Nazi-Tätern, wie z.B. Klaus Barbie.

Von der Geschichte der Deportation des Vaters ihre Mannes in Nizza wird berichtet. Fakten, Daten, Hintergründe werden ordentlich präsentiert, nur in der Organisation derselben fehlt es manchmal an Schlüssigkeit, manchmal an dem rechtzeitigen Schnitt und Übergang. Auch taucht die Frage auf, mit welch lax gekleideter Frau die klassisch „französisch“ gekleidete Klarsfeld hier durch Berlin dort durch Frankfurt flaniert, um mitunter gar Kontakt zum Bürger zu erheischen: Es kann niemand anderes sein als die Regisseurin, die sich uns nicht vorgestellt hat, aber deutlich Raum greift, um hier und da die Klarsfeld vorzustellen und um ihre zu Porträtierende an die Hand zu nehmen – eine souveräne und starke Persönlichkeit, die nichts weniger nötig hat, als an die Hand genommen zu werden.

———

Fußnote (also, von da, wo es manchmal riecht): Beate Klarsfeld, eine veritable deutsche Heldin, wurde zweimal für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen, zweimal wurde die Verleihung vom jeweils zuständigen Bundesaußenminister abgelehnt. Der eine – okay – war Guido Westerwelle, der andere unser ehemals größter grüner Held Joschka Fischer, der seit einiger Zeit (RWE, BMW, SIEMENS) überhaupt nur noch höheren Zielen zufliegt: Seit September 2010 berät Fischer u.A. den Handelskonzern REWE! Ein wirklich großes Signal zur Vergangenheitsbewältigung, ein Sühnezeichen, ein Kniefall in Warschau, gell Joschi?

Über uns das All

(D 2011, Regie: Jan Schomburg)

Überall das Uns
von Andreas Thomas

Das Langfilmdebüt von Jan Schomburg ist dubios im besten Sinne. Ein Film, dessen Inhalt, will man eine Kritik über ihn schreiben, man unweigerlich verraten müsste, und zugleich ein Inhalt, der, …

Das Langfilmdebüt von Jan Schomburg ist dubios im besten Sinne. Ein Film, dessen Inhalt, will man eine Kritik über ihn schreiben, man unweigerlich verraten müsste, und zugleich ein Inhalt, der, will man ihn beschreiben, forschend zurück guckt und fragt: Geschieht das wirklich, was hier geschieht?

Für jeden Fall zur Absicherung der Rat: Wer sich von „Über uns das All“ komplett überraschen lassen will – und dass dem Film diese Überraschungen komplett gelingen, wird jetzt mal hier garantiert – sollte diese Kritik vielleicht nicht unbedingt lesen. Andererseits verrät diese Kritik nur herzlich wenig vom Inhalt, und von dem, was sie verrät, ist sie selbst nur zum Teil überzeugt, denn Wahrheit und Identität sind ziemlich unzuverlässige Parameter; das zu zeigen, scheint Drehbuchautor und Regisseur Schomburg jedenfalls am Herzen zu liegen.

Ihm ist das Kunststück gelungen, einen Film zu drehen, der fast nie vorhersehbar ist, dem in jedem Augenblick eine unerwartete Wendung unterlaufen könnte, und das nicht, weil die Handlung zu inkohärent, uninspiriert und konfus wäre. „Über uns das All“ schafft hier und da eine Spannung des Augenblicks, in der man Stecknadeln fallen hören könnte, eine inszenatorische Jungfräulichkeit, die zum so geschundenen Wort „Authentizität“ verführt, eine „Authentizität“, die sich aber weniger auf die Wiedergabe eines Milieus oder dergl. bezieht, sondern auf die Rekreation der Anmutung von Realität. Ahem. Kurz Luft geholt.

Bevor sich der Kritiker hier versteigt, muss er noch schnell kritisieren, dass im deutschen Kino der letzten zehn Jahre immer gerne genuschelt wird, das heißt, es wird schnell geredet und undeutlich, sodass man eigentlich nur die Hälfte versteht (manche Schauspieler eignen sich hierfür sogar regelrechte Sprachfehler an). Die Filmemacher von heute sind anscheinend der Meinung, das muss so sein, weil die Leute von heute (besonders die jungen und dynamischen und relaxten) wohl alle angeblich genauso reden. Das Ganze ist aber nur ein Gerücht, und die einzigen Leute, die zu schnell und zu leise reden, gibt es fast ausschließlich nur in Kinofilmen. Irgendein Film hat mal damit angefangen (weiß jemand welcher? Ich bitte um Tipps), und seitdem führen Nuschler in unseren deutschen Filmen ihre Nuschler-Schein-Existenzen und wollen uns glaubhaft machen, dass wir alle so seien und nuscheln, wie sie. Meine Verwandten, Freunde und Bekannten und ich aber sind anders. Wir reden klar und langsam und deutlich, auch auf die Gefahr hin, nicht ganz authentisch zu sein, und wenn mal einer was nicht verstanden hat, dann fragt er noch mal nach. Ganz anders als die Leute in den Filmen, die anscheinend immer jeden ihnen zugehauchten Halbsatz sofort kapieren. Kunststück, die haben ja auch das Drehbuch gelesen. Da können sie ja munter drauflos nuscheln!

So. Und auch in diesen Film haben es manche Nuschler geschafft. Was ihm Punktabzug bringt. Und Sandra Hüller, die Darstellerin der Martha ist manchmal ein wenig zu authentisch, so schnell redet sie dann, und manchmal schrabbt sie an der Grenze zum Overacting entlang. Aber meistens ist sie fantastisch. Alleine für die herzzerreißende Sequenz, in der zwei einigermaßen hilflose Polizistinnen versuchen, ihr verständlich zu machen [SPOILERWARNUNG], dass ihr Mann nicht mehr lebt, lohnt es sich, diesen Film anzusehen.

„Über uns das All“ ist spannend wie ein Krimi und rätselhaft wie ein Psychothriller (falls es derartiges überhaupt noch gibt) oder eine hochgeschlossene Parabel, wobei das Beste ist, dass der Film überhaupt keine Lust hat, sich selbst zu erklären. Er hält seine selbst geschaffene Kryptik (das Wort steht nicht im Duden, ich weiß, sollte es aber) – eine unverhohlene Herausforderung für die Zuschauer – gelassen bis zum Abspann durch, ja, er setzt sogar noch ein Ausrufezeichen hinter das selbst fabrizierte dicke Fragezeichen.

Man könnte nun noch darüber philosophieren, welcher exotische Reiz für deutsche Filmemacher in der französischen Stadt Marseille liegen mag. Der Film „Marseille“ von Angela Schanelec präsentiert die Hafenstadt, ähnlich wie Schomburg, als erhofften Gegenpol oder als Antidot zur meteorologischen und sozialen deutschen Unterkühlung, und gleichsam ins Mythische und schier undurchdringlich Fremde transformiert in „Über uns das All“ eine marseiller Straßenszene, die mit dem selbst gestrickten Frankreich-Klischee der Protagonisten nicht mehr viel zu tun hat.

Man könnte überdies darüber spekulieren, warum Schomburg das Problem eines Menschen, der meint, seiner eigenen Frau jahrelang eine Promotion vortäuschen zu müssen, nicht (wie es zum Beispiel Laurent Cantets Film „Auszeit“ macht) in keinster Weise als leistungsgesellschaftsimmanentes (wenn schon nicht gesellschaftskritisches) Phänomen behandeln möchte, oder darüber, wie es gehen kann, dass eine junge Frau ihren gerade erst verlorenen innig vertrauten Ehemann so schnell durch einen anderen ersetzen kann, der doch, abgesehen von einer identischen Handbewegung, nicht wirklich viel mit dem Verstorbenen gemeinsam hat. Besonders, wenn der erste Mann (Felix Knopp) viel sensibler und sanfter erscheint als der zweite, den der hier zwar gegen sein Schema besetzte und trotzdem starke Georg Friedrich spielt (welchen der Kritiker, ehrlich gesagt, aber immer noch als österreichischen Psychopathen in Filmen von Ulrich Seidl („Hundstage“) oder Michael Glawogger („Contact High“) präferiert).

Doch wie angedeutet, Fragen und Widersprüche lässt der Film zu, provoziert sie gar absichtlich, hält sie aus und bringt sie zur Blüte, die den Kinobesuch überduften wird. Das Starke an „Über uns das All“ ist, dass er aller Skepsis zum Trotz auf seinen Auslassungen, Behauptungen und Wendungen beharrt. Das Gelingen dieser Strategie der Sturheit macht ihn zu „Kunst“ – und Jan Schomburg wohl zu einem neuen deutschen Filmregie-Hoffnungsanwärter.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Gerhard Richter Painting

(D 2011, Regie: Corinna Belz)

Der Farbe beim Trocknen nicht zusehen wollen
von Andreas Thomas

Was macht der Künstler da? Striche durch funktionierende Rechnungen? Zieht er einen Vorhang? Oder annulliert er ein komplettes Gemälde, weil es keinen Bestand haben darf? Was macht eigentlich Gerhard Richter …

Was macht der Künstler da? Striche durch funktionierende Rechnungen? Zieht er einen Vorhang? Oder annulliert er ein komplettes Gemälde, weil es keinen Bestand haben darf?
Was macht eigentlich Gerhard Richter (geboren 1932 in Dresden) da?

Er nimmt ein mannsgroßes Plastik-Lineal (namens Rakel) zur Hand, versieht es mit (bewusst ausgewählten!) Farben und scratcht damit konzentriert und kraftvoll quer über/durch die mannsgroße bemalte Leinwand, deren Farbe zum Teil trocken, zum Teil noch nicht getrocknet ist und die – kurz vorher noch – ziemlich anders aussah. Riefen entstehen, Farbfalten, Risse im Auftrag. An manchen Stellen widersetzt sich die geronnene Struktur, an anderen bleibt von ihr nichts mehr, nichts mehr vom allerersten Gedanken/Schaffensakt. Creating by Destroying, Researching by Overscratching. (Graue Farben können dabei durch reine, kräftige überstrichen werden, kräftige Farben durch Weiß wieder neutralisiert werden.)

Natürlich demonstriert Richter einen landläufigen Akt moderner Malerei; auch das Übermalen besitzt in der Malereigeschichte eine lange und berühmte/anrüchige/banale Tradition. Aber vielleicht ist das gar kein „Übermalen“, sondern „Malen“ mit dickem Pinsel. Vielleicht besitzt der Künstler (in einer durch Ausschlüsse begrenzten Auswahl) nur ein grobes Werkzeug. Und so ist dieser brutale Strich eben ein harter, ausladender und widerständiger, dem Subtilitäten verwehrt bleiben müssen, der sich verlassen muss auf Charakteristika des Zufällig-Unsubtilen und dadurch rein Texturellen, Flächigen und Materialen, eine Studie der Bezüge von Werkzeug, Medium und Zielmaterial: Grobkörnigkeit, Feinkörnigkeit, Flüssigkeit und Widerständigkeit.

Richter ist insofern ein altmodischer Maler, dass er sich in einen immerfort kritischen Bezug zum Bild setzt, sich an dessen Widerstand abarbeitet und um/mit dessen Physis/Ästhetik er ringt, bis nichts mehr geht und das Bild dann entweder gut ist – oder gescheitert. Richter: „So ist das! Die Bilder machen, was sie wollen!“

Wer Richters Werke, speziell die seines „Abstrakten Expressionismus“ kennt, konnte einen solchen Produktionsprozess dahinter erahnen, nun kann man anhand von „Gerhard Richter Painting“ überprüfen, wie nah der Künstler dem kommt, was man immer von ihm gemutmaßt hatte, – oder man kann es eben nicht, denn bald nach den ersten gewährten Einblicken in seine Arbeit signalisiert Richter, dass eben diese Einblicke die Schaffenssituation maßgeblich beeinflussen. „Mit dem Blau habe ich es übertrieben …“ sagt er plötzlich frustriert. „Jetzt müssen wir uns über etwas anderes unterhalten. Jetzt müssen wir über den Film reden …“
Was sehen wir wirklich? Und wie steht‘s mit dem immerwährenden Paradoxon der Dokumentarfilms, der so genannten teilnehmenden Beobachtung? Richter, kein Mann vieler Worte, sagt es, wie ein Tier in der Falle: „ Ich gehe anders vor der Kamera“, und er meint damit eigentlich: Es geht nicht!

Wer sich beobachtet fühlt – und die Kamera von Frank Kranstedt ist verständlicherweise keine zurückhaltende, sondern eine neugierige, immer will sie die Farben zerfließen, die Stirne des Meisters sich runzeln, die Hände am Werkstoff arbeiten sehen – fängt auch selbst an, sich zu beobachten und zu bewerten. Für einen kontemplativen Maler wie Richter ist das aber mehr als eine Behinderung: „Das Schlimmste, was mir seit Langem passiert ist. Das Krankenhaus war so ähnlich. Das Fremdgesteuertsein.“

Erst knapp die Hälfte des Films ist um, wie aber kann „Gerhard Richter Painting“ noch seinem Namen gerecht werden? Mach mal Pause, Gerhard! Geh in den Garten, die Kamera bleibt drinnen. Zwei Kameras werden fest installiert und in Dauerbetrieb gesetzt, – für eine Studie des Künstlers bei der Arbeit reicht das nicht. Der Film wird aufgelockert durch Fremdmaterial, Fernsehinterviews mit dem jungen Mann, der 1961 aus der DDR in Westen floh, um, statt „Sozialistischen“ „Kapitalistischen Realismus“ zu malen, mit Aufnahmen bei der Vorbereitung zu Ausstellungen, mit Richters Ehefrau, mit seinen Mitarbeitern, mit Besuchen und Gesprächen von/bei Galeristen und einem Kunsthistoriker, und so zumindest Gespräche über den Prozess der Entstehung von Richters Kunst.

Natürlich ist Gerhard Richter unumgänglich. Da kann ja eine Filmdoku kommen, wie sie will. Auch wenn sie nur ein Paar seiner Werke zeigen würde (was sie tut), wäre das schon ergiebig. Richter schreibt schon lange Kunstgeschichte, und immer geht er eigene Wege, durchaus nicht immer solch abstrakt-expressionistische, wie die, deren Entstehung wir in dem Film von Corinna Belz teilhaftig werden können. Irgendwann trieb er mal den Fotorealismus in den Ruin, indem er das Portrait für das Gemälde zurück eroberte: Durch den Trick des Unstatthaftesten in der Fotografie, durch die Unschärfe. Und natürlich hat die Fotografie nie mehr gelogen/getrogen als in ihrer Behauptung von Erkennbarkeit/Wahrheit/Schärfe und Richter kaum mehr Recht gehabt, als im Rückfordern/Einfordern der Unklarheiten. Es blieb nicht dabei. In seiner „Stammheim-Serie“ schimmert aus der Unschärfe die Angst, die Panik, die Verdrängung einer monströs gewordenen Nation. Eine Serie, die Richter selbst lange nicht gesehen hatte, bis zur Berliner Gastausstellung des New Yorker Museum of Modern Art im Jahr 2005, eine Zurichtung auf engem Raum, die ihm zu reißerisch war. Frage: „Das war doch sicherlich schwer, an dieses Thema heranzugehen?“ Antwort: „ Es wäre wahrscheinlich schwerer für mich gewesen, es zu lassen.“

Und in seiner zurückhaltenden und alles andere als eingebildeten Art stellt er auch bei Gelegenheit nebenher seine Grunddefinition von Kunst in den Raum, die Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen könnte: „Mich interessiert nur, was ich nicht kapiere.“

Am Ende ist dann doch noch ein ganzer Film daraus geworden und irgendwie sind dann doch noch mehr Szenen „Gerhard Richter Painting“ dabei. Wie die zustande kamen und wie man sich mit dem Künstler arrangiert und der Künstler sich mit dem Film arrangiert hat, das wird im Film nicht mehr thematisiert. Der Konflikt, der Widerspruch zwischen dem Schaffen selbst und dem Versuch des Schaffenden, auch gleichzeitig einen Schaffenden zu repräsentieren, ist nicht lösbar, und er bleibt sichtbar stecken in den Szenen vom Maler, der immer ein wenig neben sich steht, weil er gefilmt wird, in den irgendwie auf Distanz gehaltenen Näherungsversuchen einer wissbegierigen Kamera. Aber vielleicht kann ein Film über die Produktion von Kunst, und damit auch ein Film über ihre Widerständigkeit, nur genau so geraten. Diese Erkenntnis können wir allenfalls mit nach Hause nehmen: Die Quadratur des Kreises ist nicht wirklich durchführbar.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Gerhard Richter Painting'.

Melancholia

(DK / SW / F / D 2011, Regie: Lars von Trier)

Saturn auf Rachekurs
von Janis El-Bira

Vehement hat sich die abendländische Geistesgeschichte seit dem Mittelalter gegen die Melancholie und die ihr Verfallenen zur Wehr gesetzt. Saturn war mitsamt seinen Ringen derjenige Planet, den es geradezu vom …

Vehement hat sich die abendländische Geistesgeschichte seit dem Mittelalter gegen die Melancholie und die ihr Verfallenen zur Wehr gesetzt. Saturn war mitsamt seinen Ringen derjenige Planet, den es geradezu vom Firmament zu stoßen galt, wurde ihm doch nachgesagt, für die weltabgewandte Trauer der Melancholiker verantwortlich zu sein, die auf fernen Bahnen die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften mehr zu umkreisen als an ihnen teilzuhaben schienen. Wen nichts froh zu machen, kein Strahlen der göttlichen Schöpfung in Jubel und kein Heilsversprechen in ruhende Gewissheit zu versetzen schien, der machte sich der Ketzerei verdächtig, war ein Fremder am Rande der etablierten Ordnungen. Wie der Berliner Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme schon vor über 20 Jahren in „Natur und Subjekt“ zeigte, ziehen auch hier die Exklusionsmechanismen der europäischen Aufklärung mit denen des Mittelalters zumindest gleich. Als „melancholisch“ wurden die Gegner der Aufklärung reihum beschrieben und mit ihnen wurde auch die Melancholie selbst mit neuen „Begleiterscheinungen“ aufgeladen: Misanthropie, Geiz, Boshaftigkeit und Melancholie wurden zu verschiedenen Seiten derselben „kranken“ Persönlichkeit. Der Melancholiker wohnte in einer unheimlichen Schattenzone, die vom Licht der Sonne der Vernunft nicht erreicht wurde. In diesem entlegenen Gebiet jenseits ihrer eigenen Toleranzgrenzen bringt die Aufklärung so jene an den Pranger, denen der Schmerz und die verzweifelte Einsicht in die Allvergänglichkeit – unfreiwillig – zum Prinzip geworden ist. An die Stelle der Verurteilung des Melancholikers für seine trauernde Missachtung der Schöpfung tritt nun die moralische Anklage, sich willentlich aus dem Hauptprojekt der Vernunft herauszuhalten.

Lars von Trier, der – neben Terrence Malick – wohl eloquenteste Vertreter einer filmischen Gegenaufklärung, hat nun die Geschichte der Melancholie als Sünde, Absage an den Vernunftglauben und Krankheit zu einem neuen Film verdichtet und sie auf großartige Weise zu ihrem zweiten, fast vergessenen Traditionsstrang hin geöffnet: Als „melancholia generosa“ der Produktivität und tiefsten Einsichten in schwierige Wahrheiten bekommt die Melancholie hier eine positive Konnotation zurück, die am Rande zur letzten Verzweiflung, zum Wahnsinn gar, erstritten werden muss. Sein Film, der gleich zu Beginn Pieter Brueghels des Älteren glücklos heimkehrende Jäger („Die Jäger im Schnee“, 1565) leinwandfüllend in Flammen aufgehen und anschließend einen Totentanz der lustvollsten Farben, ja fast schon überparfümierten Schönheit feiern lässt, weiß, dass das Wesen dieses Streits zwar ein „Sein zum Tode“, sein Feld aber das blühende Leben ist.

Justine heiratet. Die riesige Limousine mit ihr und dem Bräutigam Michael schafft kaum die Kurven, die zum höchstherrschaftlichen Landsitz ihrer Schwester Claire und deren Mann John führen. Die hierdurch entstandene Unordnung und das abwechselnde Sichversuchen am Steuer machen Justine Freude. Am Ort der Hochzeit – die Männer im Frack, am Eingang eine Lotterie, der „wedding planner“ ein Pedant der Pünktlichkeit – ist für derartige Strukturlosigkeit kein Platz. Reden werden gehalten, es wird getanzt, getrunken, Kuchen angeschnitten. Justine zieht sich zurück, die leeren Rituale des Abends werden ihr zur Qual. Sie verweigert den Vollzug der Hochzeitsnacht, kündigt noch auf der Party ihren Job. Der Bräutigam reist ab, die Mutter ist ein erkaltetes Wrack, der Vater ein Wirrkopf. Am Ende der Nacht bleibt Justine in desolatem Zustand bei Schwester, Schwager und deren kleinem Sohn zurück. Lars von Trier zeigt ihren Verfall, wie sie sich nicht mehr eigenständig waschen, kaum noch die Gabel beim Essen halten kann. Und draußen zieht „Melancholia“ auf: Ein Planet, zehnmal so groß wie die Erde, der sich bislang hinter der Sonne verborgen hatte, und möglicherweise mit dem blauen Planeten auf Kollisionskurs ist.

Justine ist für Lars von Trier nicht bloß die Melancholikerin par excellence, sondern es lässt sich an ihr, an ihrem Körper eine Geschichte der Melancholie im Spannungsfeld von Gesellschaft, Wissenschaft und Technik vollziehen. Dabei greift von Trier explizit auf Motive der deutschen und britischen romantischen Tradition zurück: In unzweifelhafter Anspielung an die Ophelia-Darstellungen der präraffaelitischen Maler Millais und Waterhouse treibt eine blumenbekränzte Kirsten Dunst als Justine in einer gewaltigen Anfangssequenz auf einem Bach. Shakespeares Ophelia, die über dem Tod ihres Vaters singend und dichtend wahnsinnige gewordene, ist ein Inbegriff „schöner“, unrettbarer Melancholie. Als ginge es aus ihr hervor, durchströmt den Film, zehnfach wieder einsetzend, das Vorspiel aus Wagners „Tristan und Isolde“. Hier, in der beispiellos radikalen Beschwörung der ewigen Todesnacht als einzigem Ort, an dem die Liebesumrauschten „ungetrennt, ewig einig, ohne End‘, ohn‘ Erwachen, ohn‘ Erbangen“ sein können, findet Justine/Ophelia ihre Entsprechung. Später wird Claire ihre depressive Schwester nachts auf dem Gelände des Anwesens vorfinden, wie sie nackt im Licht des fremden Planeten badet: Eine melancholische Kassandra, die das Unheil hinter der Sonne hervorzuziehen scheint.

All das kommt dem Abgrund gefälligen Hochglanzkitsches sehr nah und würde ihn auch überschreiten, wären für von Trier diese Verweise nicht untrüglich Pfeile in den Tod und – in radikal melancholischer Behauptung – auf Geschichte als Verfallsprozess: Was hier aufleuchtet, wird zu Asche werden und dem Vergessen anheimfallen; wird brennen, wie der Brueghel zu Beginn. Die melancholische Kunst ist eine Überlebenshilfe herrlicher Schönheit gegenüber dem Unmaß an Leid – nicht mehr und nicht weniger. Bei von Trier wird sie gefeiert und erbarmungslos zertrümmert. Und so ist diese Ophelia eben in Wahrheit eine Justine, die im Hochzeitskleid auf den Boden des Golfplatzes pinkelt und einen jungen Arbeitskollegen aus den Reihen der Partygäste – am selben Ort und im selben Kleid – geradezu vergewaltigt: Melancholie in der (Post-)Moderne ist kein nobles Leiden stiller, trauerversunkener Erhabenheit, sondern gegebenenfalls eine verwirrte, vor Furcht gelähmte Frau, die in die Badewanne getragen werden muss.

Die so als Krankheit, als Depression verstandene Melancholie wird behandelbar. Dementsprechend kümmert sich auch Claire um ihre Schwester, füttert sie, wäscht sie, erträgt ihre Aggressionen und sehnsüchtigen Untergangsphantasien, ihren Hass auf das Menschengeschlecht („Niemand wird um uns trauern, wenn wir fort sind.“). Dabei muss sie selbst beruhigt werden: Der am Horizont heraufziehende Planet bereitet ihr panische Angst, obgleich ihr Mann John, Repräsentant einer kühl-rationalen Wissenschaftsgläubigkeit, sie von dessen Ungefährlichkeit überzeugen will – ein spektakulärer Vorbeiflug erwarte sie alle, keineswegs der Weltuntergang. Claire kauft trotzdem Pillen, die im Falle der sich anbahnenden Katastrophe einen selbstwählbaren Todeszeitpunkt ermöglichen sollen. An einem Ende, dessen Wurf hier nicht verraten sei, in dem jedoch Schönheitsrausch und Zertrümmerungswut auf atemraubende (und wie könnte es anders sein: bis an die Schmerzgrenze ohrenbetäubende) Weise zusammenprallen, wird sich eine ruhige Hand der Melancholikern der zitternden Hand ihrer Schwester öffnen. Was das Philosophieren seit dem Phaidon-Dialog ermöglichen will (und wohl nicht kann), ist dem Melancholiker stete Übung: Sterben lernen.

Film Socialisme

(F 2010, Regie: Jean-Luc Godard)

E la nave va
von Ulrich Kriest

Ist das eine Sensation? Eher eine Überraschung. 21 Jahre nach „Nouvelle Vague“ kommt wieder ein Film von Jean-Luc Godard regulär in die deutschen Kinos. Wobei sich angesichts der Anzahl der …

Ist das eine Sensation? Eher eine Überraschung. 21 Jahre nach „Nouvelle Vague“ kommt wieder ein Film von Jean-Luc Godard regulär in die deutschen Kinos. Wobei sich angesichts der Anzahl der verfügbaren Kopien von „Film Socialisme“ – ist es eine, sind es sieben? – der Plural „Kinos“ fast schon wieder verbietet. Man wird also sehen, was aus diesem Experiment, diesem Wagnis werden wird. Schließlich eilt Godard, wiewohl Filme wie „Eloge de L‘Amour“ (2001) oder „Notre Musique“ (2004) eigentlich als unsichtbare Filme gelten müssen, der Ruf voraus, seine Essay-Filme seien extrem schwierig und allemal kein Vergnügen.

Längst vorbei die Zeiten, als Filme wie „Pierrot-le-Fou“ oder „One plus One“ noch zu Kult-Filmen wurden, obwohl sie doch auch »schwierig« waren. Hat sich vielleicht unser Umgang mit »dem Schwierigen« verändert? Lockt »das Schwierige« nicht mehr? Lassen wir uns nicht mehr herausfordern? Gehört „Film Socialisme“ ins Kino oder eher in eine Kunstgalerie? Viele Kritiken zu „Film Socialisme“ beschäftigen sich zunächst einmal mit den Paratexten. Wer sagt was warum und worüber? Hat Godard (uns) noch etwas zu sagen? Oder ist er auf dem Holzweg? Vollends aus der Zeit gefallen? Ist „Film Socialisme“ Esoterik? Arrogant?

Zunächst einmal kann man sagen: „Film Socialisme“ besteht aus drei relativ autonomen, untergründig aber miteinander kommunizierenden Teilen und mehreren Dutzend Splittern, deren Rekonstruktion kein Ganzes ergibt. Muss man genau aufpassen? Teil 1 spielt auf einem Kreuzfahrtschiff, welches im erweiterten Mittelmeer herumfährt: Neapel, Alexandria, Haifa, Odessa, Algier, Barcelona. Odessa ist natürlich wichtig aufgrund der Treppe und der damit verbundenen Erinnerungen an den „Panzerkreuzer“. Menschen tauchen auf, reden miteinander. Namen werden genannt: Hitler, Stalin, Willi Münzenberg, Otto Goldberg, Leopold Krivitzky, Moise Schmucke, Napoleon, Balzac. Bei Godard ist das 20. Jahrhundert noch sehr präsent. Palästina/Israel. Jawohl, Herr Obersturmbannführer Goldberg! „Sie müssen vor Moskau keine Angst mehr haben.“

Eine Handlung erwächst aus den Splittern gerade nicht, denn „Film Socialisme“ ist ja das Gegen-Programm, die konsequente, auch technische Verweigerung des konventionellen Erzählkinos. Deshalb sind hier die Bilder zu dunkel, die Schnitte voreilig, die Mikrophone zu empfindlich, der Wind zu stark, die Geräusche zu laut, der Blick zu ungeduldig. Es heißt: „Schweigen ist Gold.“ Oder: „Sagen genügt niemals.“ Oder: „Ich möchte nicht sterben, ohne Europa noch einmal glücklich gesehen zu haben.“

Stichwort: Europa. „Film Socialisme“ evoziert Trümmer der Geschichte um das „Mare Nostrum“ herum: von Hellas (aka „HELL AS“) bis nach Barcelona. An Bord des Traumschiffs: Nazi-Jäger, Kriegsverbrecher, Finanzjongleure, Spione, Kinder, die Fragen stellen und, ja, Patti Smith. Die muss eine Gitarre bei sich tragen. Um als Patti Smith erkannt zu werden? Alain Badiou hält eine Vorlesung über Geometrie, allerdings in einem leeren Saal. Später im Mittelteil des Films, steht ein Lama an einer Tankstelle in Südfrankreich, und deutsche Touristen werden auch 65 Jahre nach Kriegsende noch immer als Eroberer beschimpft.

Der dritte Teil „Nos humanités“ schließt wieder an den ersten Teil an, kehrt nach Odessa zurück, wo Eisenstein einst Gegen-Bilder im Dienste einer großen Sache entwickelte, die sich dann irgendwann zerschlagen hat. Aber die Bilder sind noch da. Es geht um den Konflikt zwischen Israel und Palästina, um den Holocaust – und um „Democracy + Tragedy married. One child. Civil War.“ Barcelona. Godard durchstreift mit seiner multimedialen, vielsprachigen Collage die 2000jährige Geschichte des Mittelmeerraumes, zitiert Bilder aus Filmen wie „The Battle of Marathon“ oder auch „Cheyenne Autumn“, lässt Derrida und Hannah Arendt zu Wort kommen, setzt dann noch mal an und erzählt die Geschichte des 20. Jahrhunderts – und ist in seiner Fixierung auf den Mittelmeerraum dann doch plötzlich sehr aktuell, wenn man an den arabischen Frühling und die Griechenland-Krise denkt.

Godard hat seit seiner „Histoire(s) du cinéma“ seine Collage-Technik als Markenzeichen perfektioniert: man erkennt einen Godard-Film sofort: angefangen von den Buchstaben über die Auswahl der Musik zu den teilweise atemberaubend schönen Kompositionen aus Bildern, Diskursen, Worten, Tönen, Geräuschen, die dann doch immer wieder zerschossen werden. Oder verächtlich zur Seite geräumt. Oder ironisiert. Denn Godard – erinnert sich noch jemand an „King Lear“, als Godard inmitten von Zelluloid thronte? – ist ja auch ein Clown, einer, der keinen Spaß auslässt. Auch, wenn ihm nicht zum Lachen ist. Aber eine Montagefigur wie „Palestine“ und „Access denied“ muss man auch erst mal bringen. In Cannes lief der Film ja auch mit Untertiteln in „Navajo Englisch“, also einem Englisch, wie es einst in Western die Indianer sprechen mussten. Diese Untertitel gibt es hierzulande jetzt nicht mehr zu sehen. Stattdessen wird seriös untertitelt. Auf dass „Sinn“ produziert werde. (Ist das eigentlich ein legitimer, ein vertretbarer Eingriff?)

Man kann das alles, wie Diedrich Diederichsen (in Cargo #7), unerträglich manieriert und berechenbar und auch in seiner Beharrlichkeit stur finden („Je länger aber das Problem und die künstliche Welt Godards besteht, desto weniger hilft mehr Ironisierung gegen die Dominanz des Godardismus bei Godard.“), aber kann sich auch sehr gut treiben lassen vom Fluss des „Film Socialisme“. Letztlich muss man sich darauf verständigen, was Film ist und/oder hätte sein können. Und was man damit anfangen will. Godard, so viel steht fest, könnte ewig so weiter machen. Ein neuer Film, so ist zu hören, ist längst in Arbeit.

Geständnisse – Confessions

(J 2010, Regie: Tetsuya Nakashima)

Verbrechen und Strafe
von Wolfgang Nierlin

Es braucht eine Weile, um sich auf den filmischen Flow einzulassen, auf den zunehmenden Sog der Bilder, den Tetsuya Nakashimas Film „Geständnisse“ ('Confessions') entwickelt. Von einer fast durchgehenden Zeitlupe rhythmisiert …

Es braucht eine Weile, um sich auf den filmischen Flow einzulassen, auf den zunehmenden Sog der Bilder, den Tetsuya Nakashimas Film „Geständnisse“ ('Confessions') entwickelt. Von einer fast durchgehenden Zeitlupe rhythmisiert und von einer Endlosschleife repetitiver elektronischer Musik unterlegt, schieben sich die Bilder sanft ineinander und erzeugen dabei einen assoziativen, leicht surrealen, fast traumverlorenen Bilderstrom. Dessen Choreographie ähnelt einem Musikstück, das sein Hauptmotiv variiert, mittels wechselnder Stimmen wiederholt und diese zu einem spannenden Finale zusammenführt, das der japanische Regisseur als explosiven Bilderrausch inszeniert. Die unwirkliche Atmosphäre des Films wird schließlich von meditativen, von Bachscher Klaviermusik untermalten Wolkenbildern zerstreut und beruhigt.

Diese schwebende Stimmung handelt zugleich von den Relativitäten der Erinnerung, die in „Geständnisse“ von wechselnden Off-Erzählern aus ihrer jeweiligen subjektiven Perspektive wiedergegeben werden. Gemäß dem Titel sind es Geständnisse von Figuren, die sich schuldhaft verstrickt haben und die, ähnlich wie in Akira Kurosawas „Rashomon“, ihre Version der Wahrheit erzählen. Teils von modernen Kommunikationsmitteln transportiert oder gespiegelt, geht es in diesen Geschichten um Fragen, die den Wert des Lebens und die Moral des Handelns miteinander verknüpfen und die dabei auf Dostojewskis „Schuld und Sühne“ referieren.

Der schulische Kontext, in dem der Film spielt, ist von Gewalt- und Todesphantasien grausamer Kinder, aber auch vom Autoritätsverlust ihrer Erzieher geprägt. Das Ausmaß seelischer Beschädigung, von den Entfremdungen der Konsumindustrie befördert und von hemmungslosem Materialismus, darwinistischem Kampf und wilder Anarchie begleitet, lässt mitunter an William Goldings „Lord oft he Flies“ denken. In Tetsuya Nakashimas Vision kindlicher Entmenschlichung hält sich allerdings ein 13-jähriger Schüler, der seiner geliebten Mutter entzogen ist, für jenes Genie, das über Leben und Tod frei entscheiden kann und dessen Taten keinem menschlichen Gesetz unterliegen. Im pervertierten Bestreben, die Anerkennung seiner Mutter zu gewinnen, tötet er zusammen mit einem Mitschüler die kleine Tochter seiner Klassenlehrerin. Deren Rache wiederum ist ebenso grausam wie doppelbödig, zugleich tragisch und ironisch, weil sie den Täter zur schlimmstmöglichen Selbstbestrafung zwingt und seine vorgeblich genialischen Allmachtsphantasien gegen sich selbst kehrt. Mit der Wucht einer antiken Tragödie, in Feuer und Blut getaucht, steigert Tetsuya Nakashima die Seelenqual seines Helden ins Unermessliche.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Die Haut, in der ich wohne

(ESP 2011, Regie: Pedro Almodóvar)

Opium und Tierblut
von Harald Mühlbeyer

Womit soll man anfangen bei diesem Film? Vielleicht beim Begriff des Wohnens im Filmtitel. Da ist ein stattliches Landhaus mit angeschlossener Privatklinik und medizinischem Labor, Dr. Robert Ledgard residiert hier …

Womit soll man anfangen bei diesem Film? Vielleicht beim Begriff des Wohnens im Filmtitel.
Da ist ein stattliches Landhaus mit angeschlossener Privatklinik und medizinischem Labor, Dr. Robert Ledgard residiert hier und eine geheimnisvolle Frau, Vera, die er gefangen hält, die er über einen riesigen Plasmabildschirm – und eine Menge kleinerer im Haus verteilter Monitore – liebevoll überwacht, mit der er Opium konsumiert: Ein Ausweg für sie wie auch für ihn. Zudem praktiziert Vera, Gefangene im Idyll des Ländlichen, Yoga: eine weitere Fluchtmöglichkeit ins Innere, zu dem Ort, der nicht zerstört werden kann.

Dazu die Haut, die der Titel anspricht: Die ist neu an Vera, eine durch Transgenese hergestellte neuartige Erfindung von Dr. Ledgard, ein künstliches Gebilde, das vor allerlei Unbill wie Feuer und Mückenstichen schützt: widerstandsfähige künstliche Haut, Ledgard hat Schweinegene eingebaut für höhere Festigkeit. Vera trägt sie – und darüber eine zweite Haut, ein hautfarbenes Ganzkörpertrikot, das sie nackt erscheinen lässt, das ihre neugebildete Körperoberfläche schützen soll. Zudem – um die Sache mit der Haut in einer weiteren Ebene wieder aufzugreifen – arbeitet Vera kreativ – was soll sie sonst tun in der Einsamkeit: aus Fetzen von Frauenkleidung baut sie Puppenköpfe.

Die Haut: Das ist auch die von Dr. Ledgard, der nicht aus der seinen heraus kann. Er hat – plastischer Chirurg, der er ist – Vera das Gesicht seiner bei einem Unfall verbrannten Frau Gal gegeben, sie der zwölf Jahre zuvor verlorenen Liebe angeglichen. Dass der Doktor ein mad scientist ist: Das ist von Anfang an klar: Wie er in seinem Labor im Keller heimlich herumhantiert, wie er besessen an den Möglichkeiten der Gesichtstransplantation und Hauterzeugung forscht, wie ihm die Haushälterin Marilia zum Frühstück einen Kanister Tierblut hinstellt für seine wissenschaftlichen Arbeiten … Vor allem aber die Musik macht deutlich, mit was für einem Menschen, mit was für einem Film wir es zu tun haben: Spannend, mysteriös, unheilverkündend, opulent stimmt sie ganz klassisch auf den Thriller ein, der „Die Haut, in der ich wohne“ (einerseits) ist.

Andererseits bricht sich das Absurde mehr und mehr Bahn, das wird spätestens klar, wenn ein als Tiger verkleideter Mann an der Haustür klingelt, Marilias missratener Sohn, der damals das Unglück an Gal verursacht hatte, der nun Vera – mit Gals Antlitz – in seinem Tigerkostüm mit wippendem Schwanz durchs Haus jagt und sie wie ein Tier vögelt … Eigentlich, vertraut Marilia Vera an, ist dieser Tiger-Sohn Dr. Ledgards Bruder: beide von verschiedenen Vätern, aber beide verrückt.

Hier nun muss man vom „ich“ des Filmtitels reden: Identitäten nämlich sind keine definierten Klarheiten und Wahrheiten in diesem Film – sie waren es bei Almodóvar noch nie. Wenn der Film nach 45 Minuten die Vergangenheit von Gal, Ledgard, dessen Bruder und der Tochter Norma aufdeckt, eine Geschichte von Feuer, Tod, Flucht, Heilung, Verunstaltung, Selbstmord, Verzweiflung und Obsession – dann ist er einerseits an einem Ende angelangt, hat aber doch noch viel zu erzählen, wenn er sechs Jahre zurückblendet und eine neue Figur einführt: Vicente, der fürs Schaufenster einer Boutique Strohpuppen schöne Kleider anlegt, mit ein paar Pillen zuviel auf die Party geht; und Norma, die Tochter von Ledgard und Gal, hat auch einiges intus – Antidepressiva, weil sie höchst labil ist. Ein kleines Missverständnis, was die Wirkung der Drogen angeht, eine Vergewaltigung im Park, ein Nervenzusammenbruch, Suizid – und Rache: Almodóvar führt geschickt vom Schlimmen zum Schrecklichen, von Trauer und Trauma zum Unaussprechlichen, vom Unerwarteten, Unerwartbaren zum Bizarren, von der Tragik zur tragischen Komik. Und damit gelingt ihm das Kunststück, die Elemente von Trashfilmen – von diversen billig-exploitativen Frankenstein-Spin-offs über extreme Revenge-Thriller bis zu Körper-Horror – zu überführen dahin, wo sie schon wieder zu Kunst werden: wo sich die Motive verschachteln, wo sie sich auf verschiedenen Erzählebenen spiegeln – symbolisch oder ganz konkret –, wo sich konkretes Leid mit überdimensioniertem Grotesken vermischt, wo das Billige, Trashige in hochästhetischen, stilisierten, perfekt durchkomponierten Bildern ganz neuen Wert erhält.

Im Grunde das Gleiche, was Tarantino macht – nur dass der viel mehr auf seinen Grindhousewurzeln herumreitet, und Almodóvar ganz einfach und ganz natürlich mit den ihm eigenen Mitteln einen spannenden, überraschenden, mitreißenden, überdrehten, bildstarken und komischen Film dreht.

Die Lincoln Verschwörung

(USA 2010, Regie: Robert Redford)

Verfahrenes Verfahren
von Harald Mühlbeyer

Die „Lincoln-Verschwörung“ wurde von The American Film Company produziert. Laut ihrem Motto „Witness History“ hat sich die 2008 gegründete Firma das Ziel gesetzt, amerikanische Historie filmisch fürs Heute erlebbar zu …

Die „Lincoln-Verschwörung“ wurde von The American Film Company produziert. Laut ihrem Motto „Witness History“ hat sich die 2008 gegründete Firma das Ziel gesetzt, amerikanische Historie filmisch fürs Heute erlebbar zu machen. Dass gleich für die erste Produktion Robert Redford als Regisseur engagiert werden konnte, ist ein toller Coup. Denn es ist klar: Er hat die Erfahrung, eine vergangene Epoche wieder aufleben zu lassen; und er hat die Persönlichkeit, den Charakter, das Bewusstsein, Geschichte für die Gegenwart relevant zu machen.

Redford erzählt vom Prozess gegen die Verschwörer, die 1865 Präsident Lincoln ermordet haben, und die Geschichte einer Verschwörung von Südstaatler-Extremisten, die nicht nur den Präsidenten, auch den Außenminister und den Vizepräsidenten beseitigen wollten, mithin nach der Niederlage im Bürgerkrieg einen Racheakt, einen Staatstreich ausübten. „The Conspirator“ lautet der Originaltitel, er bezieht sich auf die angeklagte Mary Sutton, in deren Pension sich die Verschwörer zur Ausarbeitung ihrer Attentatspläne getroffen hatten. Er kann aber auch auf ihren Anwalt Frederick Aiken verweisen, der als Verteidiger einer Staatsfeindin selbst in den Ruch des Landesverrats gerät. Oder auf ihren Sohn John Sutton, der auf der Flucht ist, der unzweifelhaft Teil der Verschwörerbande war – und für den die Mutter vor Gericht büßen soll. Weil irgendjemand auf jeden Fall verurteilt werden muss.

Es ist ein Militärgericht, vor dem das Verfahren abgewickelt wird, mit Nordstaaten-Generälen als Geschworene, die über eine des Hochverrats, des Präsidentenmords angeklagte Südstaatlerin urteilen. Der Richter ist ein General, der Ankläger die rechte Hand des Kriegsministers. Der Angeklagten werden Rechte entzogen – einen Anwalt darf sie erst einen Tag vor dem Verfahren hinzuziehen, die Liste der Beweismittel und Zeugen der Anklage werden vorenthalten, Zeugen der Verteidigung mit Strafandrohungen eingeschüchtert; jeder Einspruch des Verteidigers wird abgelehnt. Ein politischer Prozess ist das, ein Schauspiel, eine Farce, das wird von Anfang an deutlich gezeigt – da hätte es den Kriegsminister kaum gebraucht, der in einer Szene deutlich sagt, dass er einen schnellen, harten Prozess will, und dass es ihm um den inneren Frieden geht, auch um Rache, mit allen Mitteln; dass es ihm egal ist, wer hängt: Mary oder ihr Sohn John.

Die Parallelen sind unübersehbar: Guantanamo steht im Hintergrund, die Formel von den feindlichen Kombattanten, denen gegen jedes Recht ein ziviler Prozess vorenthalten wird. Immerhin ist Mary Sutton gar noch praktizierende Katholikin, gehört also einer „fremden“ Religion an – ihr Pater versteckt den Sohn, den Mit-Attentäter, das ist zwar illegal, für ihn steht das Gesetz jedoch ausschließlich in der Bibel. Wenn auch die Entsprechungen überdeutlich sind: Redford ist klug genug, sich nicht zum Unterkomplexen hinziehen zu lassen, nicht einfach nur mittels eines historischen Gleichnisses didaktisch die Fehler der US-Politik der Gegenwart anzuprangern.

Er beschreibt den Prozess aus der Sicht des Anwalts, eines Nordstaaten-Kriegshelden, der (zunächst) wie alle anderen Mary Hutton für schuldig hält. Dem aber im Lauf des Prozesses klar wird: es geht weniger darum, ob sie tatsächlich schuldig ist, sondern um die faire Verhandlungsführung: Gerechtigkeit muss erhalten bleiben, egal, was geschieht. Dafür steht die Verfassung, dafür hat die Union gegen die Konföderierten gekämpft. Der Ankläger hat Unrecht: Im Krieg schweigen die Gesetze nicht, im Gegenteil: Sie müssen umso härter vertreten werden. Eine Meinung, die Redford unmissverständlich als Botschaft rüberbringt – mit der er ja auch Recht hat –, die aber dem Film nicht aufgesetzt wird. Denn dieser Kampf um ein gerechtes Verfahren, um die Bürgerrechte einer Frau, die des Furchtbarsten angeklagt ist, ist in die Geschichte eingeschrieben. Egal, ob solche Gedanken damals, 1865, tatsächlich so formuliert wurden oder nicht.

Was Redford gelingt, ist etwas Größeres als das bloße Plädoyer für die Einhaltung amerikanischer, westlicher, menschenrechtlicher Werte auch gegen die, die diese Werte mit Füßen treten. Es ist dies ein auch ein spannender Western in Form eines Gerichtsthrillers – am Ende geht der Held einsam dem Sonnenuntergang entgegen. Und Redford beschreibt in diesem Gewand eines historischen Gerichtsfilmes auch die Lage einer gespaltenen Nation: Der Bürgerkrieg hatte eine schlimme Wunde gerissen, von der nicht klar ist, ob sie je wieder heilen wird. Sutton soll ja nicht nur hingerichtet werden aus blinder Vergeltungssucht: Der Kriegsminister – den Kevin Kline klug als Falken spielt, der aber auch nicht blindwütig die Südstaaten niederdrücken will – will mit seiner harten Haltung gegen die echten und vermeintlichen Verschwörer den Frieden erhalten, will die Südstaaten von weiteren Verschwörungen abhalten, will den Norden von Racheakten gegen die Südstaatler abhalten. Die differenzierte Schilderung einer Nation am Scheidepunkt setzt sich fort in den genauen, komplexen Figurenzeichnungen. Fred Aiken, der Anwalt, ist ein Kriegsheld, für ihn ist es zunächst unerträglich, eine Feindin verteidigen zu müssen; James McAvoy spielt ihn als jungen Mann, den der Krieg mitgenommen hat, ein Krieg, den er auch als Anwalt nicht hinter sich lassen kann. Robin Wright spielt die Angeklagte: sie buhlt nicht um die Gunst des Gerichts oder des Kinozuschauers, sie ist verhärmt, verschlossen, abwesend und abweisend. Sie kann ebenso schuldig sein wie unschuldig. Sie ist steinern – ein Prüfstein für die amerikanische Justiz, für die amerikanischen Werte.

Die Brücke, die Redford mit diesem Film aus der Historie in die Gegenwart schlägt, ist tragfähig, sie wackelt und wankt nicht, und sie ist auch nicht überdimensioniert. Nur ein paar Pfeiler sind es vielleicht zuviel, die Redford hingerammt hat. Am Ende etwa sind alle Verurteilten heulendes Elend, nur Mary Sutton wirkt allzu gefasst, gelöst – und erlöst, weil sie ihre Aufgabe, die Bewusstmachung eines Justizmordes durch diesen Film, vollbracht hat. Und ganz am Schluss weist eine Einblendung darauf hin, dass Fred Aiken einer der ersten Lokalredakteure der neu gegründeten Washington Post wurde – ein Wink mit dem Zaunpfahl hin zu Redfords großer Stunde, als er mit Dustin Hoffman Nixon, den unmoralischen Gesetzesbrecher, zu Fall brachte …

Underwater Love – A Pink Musical

(J / D 2011, Regie: Shinji Imaoka)

Die Liebe in Zeiten der Fischfabrik
von Carsten Moll

Dass Märchen von Sexualität erzählen, ist nicht neu, genauso wenig wie die industrielle Verwurstung von Rotkäppchen und Co. in Sexfilmen aller Art. Die japanisch-deutsche Koproduktion „Underwater Love“ von Shinji Imaoka …

Dass Märchen von Sexualität erzählen, ist nicht neu, genauso wenig wie die industrielle Verwurstung von Rotkäppchen und Co. in Sexfilmen aller Art. Die japanisch-deutsche Koproduktion „Underwater Love“ von Shinji Imaoka versucht sich nun an einer Variante des Märchens vom Froschkönig, inszeniert als Softporno-Musical. Genauer gesagt – da legt der deutsche Verleihtitel Wert drauf – handelt es sich bei „Underwater Love“ um einen Pinkfilm, einer Art japanischer Sexploitationfilm. Das Genre hat viel Schund hervorgebracht, wird aber vor allem immer wieder gerühmt für seine Vertreter, die es schaffen, Pornofilm und anspruchsvolles Kunstkino miteinander zu verbinden. Vor allem in den Sechzigern und Siebzigern dominierte der Pinkfilm das japanische Kino, der Markt war groß und die Produktionsmethoden des Pink Eiga gestanden den Filmemachern viele Freiheiten zu, wenn sie von der Grundformel aus niedrigem Budget, schnellen Dreharbeiten, kurzer Laufzeit und einer Mindestanzahl an Sexszenen nicht abwichen.

„Underwater Love“ will nun einerseits an diese Tradition anknüpfen und andererseits das Genre des Pinkfilms mit neuen Impulsen versehen. Sich auf die Produktionsbedingungen des Pinkfilms zu beschränken, ist aber insofern problematisch, als dass es hier beliebig und unmotiviert wirkt; das Halten an den Konventionen ist kein Zugeständnis an die Dominanz eines Genres, da diese längst Geschichte ist und auch nur auf die japanische Filmindustrie beschränkt war. Der selbstauferlegte Zwang ist vielmehr ein Distinktionsmerkmal, über das sich der Film profilieren will, der Pressetext wird nicht müde zu betonen, dass es sich bei „Underwater Love“ um ein „Novum in der Filmgeschichte“ handelt und die Kritiker stimmen mit ein, wenn sie ihn als „einmalig“ und „unklassifizierbar“ betiteln. Solche Superlative und Einzigartigkeitsurteile helfen bei der Diskussion eines Films nicht weiter und blenden das aus, an dem sie vorgeben interessiert zu sein: Filmgeschichte.

Fatal ist nicht nur, dass der Bezug zum Pinkfilm zur leeren Pose verkommt, sondern auch, dass „Underwater Love“ kaum Freiräume findet, in denen die Kreativität und Experimentierlust der besseren Pinkfilme zum Ausdruck kommt. Skurrilität und Originalität bleiben immer bloße Behauptung, wenn man einen Film nicht nur deshalb für kurios hält, weil er aus Japan kommt oder alleine die Idee von einem Märchen-Porno-Musical für total abgedreht und einzigartig hält (Bud Townsend hat das 1976 mit „Alice in Wonderland“ weitaus amüsanter umgesetzt). So reiht der Film wahllos harmlose Gags und Obszönitäten aneinander, die in ihrer Häufung wenn nicht abstoßen, dann zumindest bald langweilen. Wo der riesige, dildohafte Penis des Kappas, einer anthropomorphen Schildkröte, die hier den Froschkönig gibt, beim ersten Mal vielleicht noch für ein Schmunzeln sorgt, so hat man spätestens genug, wenn die Protagonistin Asuka sich vor dem Analverkehr auch noch eine faustgroße „Analperle“, die eigentlich bloß eine Variation des Kappapenis ist, einführen muss.

Ein wenig erinnert Asuka, die als Arbeiterin in der Fischfabrik ihres Verlobten arbeitet, an eine der Frauengestalten aus den Filmen Lars von Triers, ihre Erfüllung erfährt sie passenderweise in einem idyllischen Wald, am Busen der Natur. „Underwater Love“ – und da ist der Film dem Fischfabrikanten (auch ein Verwurster) ähnlich – verlangt nach einem Minimum an Sex, also muss Asuka immer wieder ran. Nicht bloß beim Finale im Wald, als sie versucht, ihre verstorbene wahre Liebe, besagten Kappa, mit Analsex wieder zum Leben zu erwecken, wirkt der Geschlechtsakt wie eine Dienstleistung am Mann. Auch wenn Asuka sich von ihrem Verlobten rammeln lässt, weil der es grade braucht, oder um ihn vom Schildkrötenmann im Badezimmer abzulenken, ist der Sex ein Akt der Aufopferung. Da ist man auch als Zuschauer froh, wenn statt Kopulation eine Musicaleinlage angesagt ist, besonders wenn Hauptdarstellerin Sawa Masaki ein Tänzchen zur Musik von Stereo Total improvisiert und dabei sichtlich Spaß hat. Aufatmen.

Traffic – Macht des Kartells

(USA 2000, Regie: Steven Soderbergh)

Schurkennachbarn
von Dietrich Kuhlbrodt

Zum Schluss dachte ich: Owei, geht’s jetzt doch um die Restaurierung der family values? Michael Douglas, bis dahin oberster Drogenbekämpfer und best man des US-Präsidenten, steigt aus und sitzt mit …

Zum Schluss dachte ich: Owei, geht’s jetzt doch um die Restaurierung der family values? Michael Douglas, bis dahin oberster Drogenbekämpfer und best man des US-Präsidenten, steigt aus und sitzt mit Frau und Tochter in der Drogengruppentherapie; die Eltern hören sich eine lecture ihrer Caroline an, wie sie ihrerseits ausgestiegen ist, und zwar aus der Schüler-Crack-Szene.

Die Familie ist wieder intakt. Das ist sicherlich erfreulich, jedoch nur ein Nebenergebnis der zweieinhalb Stunden Film, die im übrigen nur so vorbeirauschen. Zentral in der finalen Sequenz ist vielmehr die Einsicht des väterlichen Amtsinhabers: Ich bin hier, um zuzuhören. Der Held des amerikanischen Mainstreamfilms ist der, der kein Held sein will. Halten wir das einmal fest; das klingt eher europäisch. Bloß, dass hier ein solcher Film nicht gedreht wurde.

Michael Douglas also nimmt zum Schluss verbal die Position ein, die Regisseur Soderbergh den ganzen Film hindurch praktiziert hat: zuzuhören. Du bist nicht allein. Die Art und Weise wie Soderbergh an die Menschen rangeht, die mit Drogen zu tun haben (mehr oder minder alle, eben): Ich behaupte hiermit, dass wir alle auf einen Film wie 'Traffic' gewartet haben. Zunächst mal ist der Instanzenweg nicht eingehalten, zum Beispiel der gewerkschaftliche. Soderbergh hätte einen Kameramann engagieren müssen; er benutzte statt dessen ein Pseudonym. Denn das eben war sein Zugang zu den vielen Orten, Szenen, Leuten: die Handkamera selbst zu halten, mit Tageslicht zu arbeiten, dokumentarisch zu drehen (die Grenzkontrolle an der mexikanischen Grenze), mit seinen Darstellern zu improvisieren und ihnen ihre Sprache zu lassen. Die Rollen sind überwiegend an Lateinamerikaner vergeben; es wird spanisch gesprochen oder englisch mit Akzent. Da gibt sich einer Mühe, für sich und seine Kamera etwas herauszufinden – egal, was offizielle Lesart ist. Und es kippt im Film. Die Mexikaner sind nicht unbedingt die Schurken. Die White-collar-Society in Südkalifornien macht bessere Geschäfte als das Klischeedrogenkartell jenseits der Grenze.

Soderberghs Recherchenfokus geht vom angeblichen Schurkennachbarn auf die Konsumschurken im eigenen Land. Der Schüler-Dealer im Kinderzimmer! – Nichts wird behauptet, alles entsteht vor unseren Augen, durchaus auch verwackelt, aufgelöst, gar unscharf – glaubhaft.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 04/2001

Apocalypse Now

(USA 1979, Regie: Francis Ford Coppola)

Anomie im Dschungel
von Sven Jachmann

Wo Stars und Prunk produziert werden, fällt der Wahnsinn schnell als Nebenprodukt ab. Kenneth Anger blickt in „Hollywood Babylon“ so lange durch den Glamour der Suberzählungen hinter den Kameras, bis …

Wo Stars und Prunk produziert werden, fällt der Wahnsinn schnell als Nebenprodukt ab. Kenneth Anger blickt in „Hollywood Babylon“ so lange durch den Glamour der Suberzählungen hinter den Kameras, bis die klassische Ära der Studiofilme nur noch Intrigen, Drogensucht, Mordversuche, Vergewaltigung und Tod abwirft. Peter Biskind füllt in „Easy Riders, Raging Bulls“ fast 800 Seiten, um mit dem Geniekult, dem die Regisseure wie Produzenten des New Hollywood erlegen waren, abzurechnen und weiß irgendwann selbst nicht mehr, ob er nun Guerillakämpfer oder ein stilistisch talentierteres Boulevardgroßmaul sein will. Hollywood produziert systemisch und industriell Geschichten. Vielleicht braucht es deren systematische Entzauberung, um ihre durch Millionenbeträge garantierte Präsenz in der Alltagskultur zu demontieren; vielleicht will man sich beruhigt an der Sehnsucht delektieren, dass Geschichtenerzähler, die für ihre Arbeit solch astronomische Summen erhalten und verpulvern, nichts anderes als verrückt werden müssen; vielleicht ist die Entzauberung selbst aber auch nur Bestandteil einer fortlaufenden, niemals abgeschlossenen Erzählung, die ihrerseits nötig ist, um die primären Werke in den Stand eines zweiten, viel gewaltigeren Mythos zu versetzen. Denn so kaputt und deviant man seit über einem Jahrhundert hinter dem Equipment auch delirieren mochte, es kamen dennoch in der Zeit einige betörende Filme zustande. Es ist also vielleicht Aufgabe dieser Erzählung hinter der Erzählung, die Devianz zur Muse zu verklären.

„Apocalypse Now“, bei dessen Uraufführung einer Rumpffassung 1979 in Cannes Francis Ford Coppola ungestüm posaunte, der Film handele nicht von, sondern sei Vietnam, ist ein Prototyp des katastrophischen Glücksfalls. Dieser Entwicklungsroman des Irrsinns hat Filmgeschichte geschrieben und ist so sehr Parabel und Allegorie, freudianische Metapher und politisches Statement, Dokument und Dokumentation, surrealistischer Fiebertraum und absurdes Theater, dass über ihn die Erzählungen geradewegs zusammenbrechen. „Apocalypse Now“ ist zweierlei: Die vielleicht mustergültige (Nicht-)Reflektion des Krieges, weil der Film ihm nichts, aber auch gar nichts an Sinn zuschieben möchte und, statt Kritik des Zeitgeists zu betreiben, lieber gleich eine Ontologie des menschlichen Verstands im Prozess der moralischen Selbstaufgabe entwirft. „Apocalypse Now“ ist aber auch ein Produkt entfesselter Megalomanie, das zugleich die ersten Seiten des letzten Kapitels von New Hollywood aufschlug und synonym mit dessen Niedergang gedacht wird: ein Regisseur, der sich mit gerade mal 35 Jahren nach „Der Pate“, „Der Pate 2“ und „Der Dialog“ auf seinem Karrierehöhepunkt befand und als hofiertes Wunderkind Freiheit und Macht im Produktionsprozess nicht mehr unterscheiden wollte; ein zunächst überschaubares Budget, das schließlich mit über 30 Millionen Dollar den Film zum damals teuersten der Geschichte werden ließ; chaotische Dreharbeiten im philippinischen Dschungel, bei denen jede Logistik aus dem Ruder lief: ein Taifun zerstörte das millionenschwere Set, Hauptdarsteller Martin Sheen erlitt einen Herzinfarkt und befand sich für Wochen außer Gefecht, Marlon Brando brillierte wegen mangelnder Vorbereitung bei seinem einmonatigen Einsatz durch wochenlange Diskussionen und kostete allein über drei Millionen Dollar, aus ursprünglich 13 Wochen Drehzeit wurden 33 und mittendrin wütete ein hypernervöser, buchstäblich bis aufs Haus verschuldeter Coppola, der „Eisenbieger“ (Dominik Graf), der täglich das Drehbuch änderte, ständig zwischen den Rollen des dekadenten Despoten und depressiven Künstlers switchte und sich selbst von epileptischen Anfällen, Drogen und Selbstmordabsichten nicht beirren ließ. Captain Willards (Martin Sheen) Reise ins Herz der Finsternis, der im Vietnamkrieg vom Geheimdienst instruiert wird, den wahnsinnigen Colonel Kurtz (Marlon Brando) und sein Purgatorium im kambodschanischen Dschungel zu eliminieren, wuchs auch für die Crew zum fiebernden Road Movie.

Bereits im Jahr 2001 noch mal durch die etwa 50 Minuten längere und minimal umgeschnittene Redux-Version pompös zurück ins kulturelle Gedächtnis gerufen, erschien dieser Tage eine definitive 3 Disc-Blu-ray-Edition des Films, die beide Versionen beinhaltet. Betrachtet man das ausladende, auf zwei Discs verteilte Bonusmaterial in chronologischer Reihenfolge, entwickelt sich daraus fast eine eigene Dramaturgie. Die gegenseitige Wertschätzung, derer sich Martin Sheen und Francis Ford Coppola eingangs beim fast einstündigen Anekdotentausch bis zur höflichen Lüge versichern, erhält eine Spur Skepsis, wenn die folgenden Interviews mit den weiteren Beteiligten niemanden wirklich zufrieden auf die Zeit zurückblicken, die meisten eher ächzen lassen, eine solche Anstrengung lieber doch kein zweites Mal auf sich zu nehmen. Das Kernstück, die berühmte Dokumentation „Hearts of Darkness“ (1991), u.a. vor Ort von Coppolas Frau Eleanor Coppola gedreht und mit einigen heimlichen Tonaufnahmen von Francis Coppolas cholerischen Selbstzweifeln und Wutausbrüchen versehen, schildert recht ungebrochen, wie oft sich anscheinend Verzweiflung und kreativer Prozess die Klinke in die Hand reichten. Gerade weil „Apocalypse Now“ (noch stärker in der Redux-Fassung) so unerschütterlich eine Linie zwischen modernem Kolonialismus und institutionell verabsolutiertem Wahnsinn spannt, ist es reizvoll zu sehen, wie sein Sujet gleichzeitig Bedingung seiner Produktion wurde, gedeckelt von einem außer Kontrolle geratenen Genius-Paradigma und nunmehr komprimiert in eine, so viel Begeisterung muss einfach mal sein, Edition für die Ewigkeit übertragen.

Planet der Affen: Prevolution

(USA 2011, Regie: Rupert Wyatt)

Und plötzlich haben alle mitgemacht ...
von Sven Jachmann

Vier Fortsetzungen zog der ursprüngliche „Planet der Affen“ (1968) nach sich, der seinerseits wiederum auf der französischen Romanvorlage der gleichnamigen, 1963 erschienenen Dystopie von Pierre Boulle basierte. Intermedial betrachtet blieb …

Vier Fortsetzungen zog der ursprüngliche „Planet der Affen“ (1968) nach sich, der seinerseits wiederum auf der französischen Romanvorlage der gleichnamigen, 1963 erschienenen Dystopie von Pierre Boulle basierte. Intermedial betrachtet blieb die Reihe fortan in jedem Jahrzehnt präsent, als Computerspiel, Comicreihe, TV-Serie oder TV-Film. Im Kino bildete bislang Tim Burtons sehr freies Remake aus dem Jahre 2001 das traurige Schlusslicht. Im Gegensatz zur zivilisationskritischen, diskursiv zerfransten und jedenfalls versuchsweise die politischen und ethischen Krisen ihrer Zeit reflektierenden (literarischen wie filmischen) Vorlage reduziert Burton das Geschehen aufs simple Aufbegehren zweier dissidenter Köpfe gegen eine atavistische Affen-Gesellschaft, nicht mitreißender oder differenzierter als eine Episode von „Flash Gordon“. Die gegenwärtige und in ihrer Vielfalt immer noch recht frische Reboot-Strategie Hollywoods, nun auch die früheren, erzählerisch bloß vorausgesetzten Prämissen längst ausgeloteter Geschichten dutzender Franchises der Popkultur zu beackern, damit hieraus bestenfalls gleich ganze alternative Zyklen entstehen mögen, bietet idealen Nährboden für einen weiteren Modernisierungsversuch.

Der Blick richtet sich also auf den Lebensabend der Erde, bevor sie zum Planet der Affen werden soll. Wir wissen: Früher war es der Atomkrieg, der die Menschheit zurück in das Stadium zwischen Sklave und Haustier manövrierte. Wir sehen: Nun wird es der korrupte Zugriff auf die Natur gegen die Natur sein, was der Menschheit zum Verhängnis wird. Es ist wie so oft: Die Absichten sind durchaus ehrenvoll, die Methoden und Strukturen, in denen sie gefangen sind, hingegen schändlich. Grundlage ist ein klares Dreiakt-Schema, das das Gefühl für die nötige Revolte sukzessiv potenziert.

Da ist zunächst die Entwicklung des Affen-Außenseiters, bei dessen Mutter im Versuchslabor ein Mittel, das Hirnzellen sich regenerieren lässt und zur Heilung von Alzheimer dienen soll, erfolgreich anschlägt. Jedoch wird sie beim Versuch, ihr von den Wissenschaftlern kurioserweise unbemerktes Kind zu beschützen, getötet, weswegen Forschungsleiter Will Rodman (James Franco) die unfreiwillige Rolle des heimlichen Ziehvaters übernimmt. Die im Verborgenen gehaltene Sensation ist immens, denn tatsächlich haben sich die manipulierten Gene der Mutter auf Caesar, wie Will den außergewöhnlich lernfähigen Affen später nennen wird (man kennt ihn als Revolutionsführer aus dem dritten Sequel „Eroberung vom Planet der Affen“ (1971)), übertragen. So wächst auf Wills Dachboden in einem komfortabel eingerichteten Kinderzimmer ein verkanntes Genie heran, sozusagen a beautiful monkey-mind, das für allerlei Verblüffung sorgt: Mittels Zeichensprache kommuniziert Caesar souverän und selbstreflexiv, eignet sich schnell zivilisatorische Standards (Kleidung, Klo und Tischmanieren – Norbert Elias revisited) an und erkennt frühzeitig die zurückkehrenden Alzheimer-Symptome bei Wills Vater, an dem Will, ebenfalls heimlich und zunächst weitaus erfolgreicher als erwartet, das unvollkommene Medikament testete. Aber zugleich laboriert Caesar am Schicksal der gleich doppelten Entfremdung. Weder den Menschen noch den Affen zugehörig, reift mit den Jahren der Wille zum Aufbegehren, zur Selbstfindung: Wer und was bin ich? Und wieso muss ich eine Leine tragen, wenn wir in den Wäldern spazieren gehen? Nach einem öffentlichen Eklat, bei dem Caesar Wills verwirrten Vater vorm tobenden Nachbarn handfest verteidigt, folgt der bedauernswerten Pubertät die entsetzliche Initiation. Es geht ins trostlose, jede Verstandsregung verhöhnende Gehege eines Primatenheims, wo alle Elemente des Knastfilms – vom stumpfsinnigen, dafür umso grausameren Wärter über den Kampf in der Klassenhierarchie unter den Häftlingen bis zu den machtlosen Angehörigen draußen, deren Interventionen spätestens hinter den Mauern der Institutionen vergeblich werden – schließlich im dritten Teil zur Revolte treiben. Caesars Intelligenz prädestiniert ihn zum Anführer der Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans (auch hier wissen wir aus den früheren Filmen, dass deren noch universale Unterdrückung trotzdem „später“ in der Affen-Gesellschaft zur Installation eines Dreiklassen-Systems führen wird, mal mit den intellektuellen Schimpansen, mal mit den militaristischen Gorillas an der Spitze). Mit der Güte des Spartacus, einem ähnlichen Familienroman und einer mindestens ebenbürtigen moralischen Ambivalenz, führt er mit seinem ersten gesprochenen Wort das „Nein!“ in den Aufstand. Nein, keine Toten, jedenfalls keine unschuldigen. Am Rande der Rebellion zeigen sich denn auch noch die ersten Anzeichen einer Epidemie, weil das Testserum beim Menschen tödliche Nebenwirkungen besitzt.

Die offensichtlichste Funktion eines Remakes / Prequels speziell im fantastischen Film besteht darin, den Stoff technisch auf den neuesten Stand zu bringen und zeitgenössischen Sehkonventionen anzupassen. Das wäre in diesem Fall die mittlerweile zur Performance Capture hyperverfeinerte Motion Capture-Technik, die die Regungen des verkabelten Schauspielers nahezu ungefiltert als Computerbild übersetzt und Caesar-Darsteller Andy Serkins nebenbei, nach Peter Jacksons „King Kong“ und dem Gollum / Sméagol-Hybrid aus „Herr der Ringe“, einen Eintrag als berühmtester gesichtsloser Schauspieler in den Geschichtsbüchern garantiert. Die zweite Funktion besteht in der Modifikation der Vorgänger, die gleichzeitig auch unweigerlich eine Interpretation ihrer Rezeptionsgeschichte ist. Da machte die Menschheit schon weiland in der Urversion keinen guten Schnitt. Heute, 43 Jahre später, sind es aber nicht mehr der hegemoniale Kampf zweier Herrschaftssysteme sondern die nunmehr vollends gottgleichen Emanzipationsversuche des Menschen von der Natur. Das mag man mit müden Augen als Kulturpessimismus und zivilisationsfeindlichen Appell schelten: Mensch, siech an Deinen Krankheiten zugrunde, pfusch nicht in Gottes Handwerk herum! Dabei versäumt der Film es keineswegs – so elaboriert dies einer Genreerzählung eben in der Regel möglich ist –, den Warencharakter der Forschung zu identifizieren und versetzt die manifeste Politik seiner Vorgänger in die Ökonomie der Gegenwart. Forschung ist hier, selbstverständlich, eine Frage des Geldes und so im guten Sinne absichtsvoll die Bestrebungen des Forschers auch sein mögen, seine Erfolge und Erkenntnisse bemessen sich an ihrem Potenzial zur Verwertung; als blanker Beitrag zum Fortschritt sind sie so sehr erwünscht wie die Affenrevolte auf der Brücke San Franciscos. Wenn sich also wenigstens die Affen ihrer Knechtschaft besinnen, ist es doch ein tröstendes Wissen, dass in Fragen des Widerstands der Mensch noch einiges von ihnen lernen kann.

Senna

(GB / F 2010, Regie: Asif Kapadia)

Leidenschaft, Genialität und Gottvertrauen
von Wolfgang Nierlin

Dieser Dokumentarfilm ist spannend wie ein Spielfilm. Die große Nähe zwischen der Wirklichkeit und ihren Abbildern, in einer Produktionszeit von sechs Jahren minutiös destilliert aus einer überwältigenden Fülle von Archivbildern …

Dieser Dokumentarfilm ist spannend wie ein Spielfilm. Die große Nähe zwischen der Wirklichkeit und ihren Abbildern, in einer Produktionszeit von sechs Jahren minutiös destilliert aus einer überwältigenden Fülle von Archivbildern sowie Originaltönen und zu einem dichten Erzählfluss montiert, machen aus Asif Kapadias Film „Senna“ ein Drama und ein Biopic, ein sportpolitisches Lehrstück und eine emotional bewegende Tragödie. Das Leben und die sportliche Karriere des legendären brasilianischen Formel-1-Rennfahrers Ayrton Senna da Silva erzählen viele Geschichten. Sie handeln von Erfolg und Niederlage, Leidenschaft und Rivalität, Glaube und Tod. Daneben spiegelt sich in Sennas Rennfahrer-Biographie aber auch ein sportlicher Paradigmenwechsel, verursacht durch technische Innovationen, die die Kunst des Autofahrens marginalisieren und den charismatischen Fahrer zu einem der Letzten einer aussterbenden Gattung machen.

Die Begeisterung für den „echten Rennsport“ und „das pure Fahren“ ist es dann auch, was den 1960 in São Paulo geborenen hochtalentierten Fahrer antreiben. Seine unglaubliche Schnelligkeit und ein Fahrstil, der bis an die Grenzen des Erlaubten das Konstruktionspotential des jeweiligen Autos ausreizt, werden zu seinen Markenzeichen. Daneben zeichnet sich Senna aus durch seinen unbedingten Willen zum sportlichen Wettstreit, seinen Erfahrungshunger und eine ehrgeizige Wissbegier. Trotzdem bleibt der geniale Fahrer mit der sympathischen Ausstrahlung, dessen einnehmendes Wesen berührt, stets bescheiden. Dahinter wiederum stehen ein unerschütterliches Gottvertrauen und eine sensible Nachdenklichkeit. Immer wieder beschreibt Ayrton Senna, von Fans „The Magic“ genannt, das Fahren als eine Art mystisches Erlebnis, das den Rausch der Geschwindigkeit mit einer starken Gotteserfahrung verbindet.

Aus dem chronologischen Nachvollzug von Sennas Aufstieg vom Go-Kart-Fahrer zum dreimaligen Formel-1-Weltmeister entwickelt der britische Regisseur Asif Kapadia mehrere dramatische Konfliktstoffe. Neben Sennas „politischen Kämpfen“ mit dem ebenso parteiischen wie selbstherrlichen FIA-Präsidenten Jean-Marie Balestre ist es vor allem die sich auch menschlich zuspitzende Rivalität zu seinem McLaren-Teamkollegen Alain Prost, der seine Weltmeistertitel einem überlegenen, pragmatischen Fahrstil verdankt. Der Realitätssinn des als „Professor“ titulierten Franzosen und der leidenschaftliche Wagemut des visionären Brasilianers treffen hier aufeinander und kulminieren immer wieder in schicksalhaften Duellen.

Die einschneidendste Herausforderung bilden allerdings die technischen Neuerungen im Autosport am Beginn der 1990er Jahre, die Senna als „elektronischen Krieg“ bezeichnet, der sich gegen die Fahrer richte. Als Nachfolger von Prost bei Williams spürt Senna diesen Kontrollverlust von Anfang an, doch trotz seiner Zweifel am sportlichen Sinn, kann er sich seiner Fahrleidenschaft nicht entziehen. Nervös, nachdenklich und traurig wirkt er vor seinem letzten Rennen beim Großen Preis von San Marino am 1. Mai 1994 in Imola, wo bereits die Tage zuvor von schweren Unfällen überschattet sind. So weist Sennas tragischer Tod an diesem Sonntag schließlich auch über sein persönliches Schicksal hinaus auf eine historische Wendemarke im Rennsport.

M – Eine Stadt sucht einen Mörder

(D 1931, Regie: Fritz Lang)

Lang wie neu
von Harald Mühlbeyer

Fritz Langs „Metropolis“, im Mai in der wiedererstellten Originallänge in die Kinos gekommen und demnächst auf DVD veröffentlicht, ist ein Film, den man gesehen haben muss – nicht, weil der …

Fritz Langs „Metropolis“, im Mai in der wiedererstellten Originallänge in die Kinos gekommen und demnächst auf DVD veröffentlicht, ist ein Film, den man gesehen haben muss – nicht, weil der Film perfekt wäre, sondern gerade wegen der Unvollkommenheiten, was etwa die sozialmelodramatische Story angeht. Fritz Langs Meisterwerk ist „Metropolis“ nicht – das Meisterwerk ist „M“, ein Thriller, der nichts an Aktualität eingebüßt hat – und der auch ausgesprochen modern inszeniert ist, den man sich wieder und wieder ansehen kann.
Vor allem jetzt ist das ein großes Vergnügen, denn zum 80. Jahrestag liegt der Film nun in einer hervorragend restaurierten Fassung auf DVD und Blu-ray vor, selbstverständlich im originalen, fast quadratischen frühen Tonfilmformat. Bild für Bild wurde das Material digital gesäubert, gerichtet, rekonstruiert – und der Ton im Übrigen auch. Selbst gegenüber der Criterion-Fassung des Films (die es für Regionen außerhalb der USA offiziell gar nicht zu kaufen gibt) stellt diese DVD noch einmal eine Verbesserung dar.

Und wer den Film noch nicht kennt, hat nun die Gelegenheit, einen der besten deutschen Filme – einen der besten deutschen Kriminalfilme zumal – zu entdecken, die Geschichte eines Kindermörders im Berlin der frühen 1930er Jahre. Peter Lorre spielt in „M“ seine erste Hauptrolle, die Rolle seines Lebens, denn immer wieder wurde er künftig in die Rolle des Bösewichtes gezwängt. In „M“ gibt Lorre alles, eine beeindruckende Darstellung – die ihre Wirkung vor allem daraus zieht, dass der Kindermörder Beckert über weite Strecken nur als Phantom im Hintergrund seinen Schatten wirft und der Film die Reaktionen im Volk darstellt: Panik, Paranoia und Denunziationen bei den Bürgern, Aktionismus bei der Polizei – und eine eigene Agenda der organisierten Verbrecher, die auf eigene Faust den Mörder suchen, der ihnen das Geschäft verdirbt. Beckert sitzt unentdeckt in seiner Wohnung, schreibt Briefe an die Presse, und wenn ihn die zwanghafte Lust überkommt, verfolgt er ein kleines Mädchen, lockt es mit sich, und dann …

Lang zieht alle Register, Emotion und Spannung zu verknüpfen, jede Szene hat ihren Zweck, nichts ist überflüssig: Es geht um die Psyche des Mörders ebenso wie um eine fast dokumentarische Schilderung der Polizeiarbeit, um Obrigkeit und Verbrechen, um ein Porträt der Gesellschaft der Weimarer Republik wie auch um das Erproben und Ausstellen der Möglichkeiten filmischen Erzählens in Zeiten des frühen Tonfilms. Denn Lang geht meisterhaft mit dieser neuen Dimension des Films um, belässt ganze Passagen stumm (was ja effektiv im stets musikbegleiteten Stummfilm nie der Fall war), um mit ein paar akzentuierten Geräuschen Ausrufezeichen zu setzen, und charakterisiert den Mörder durch sein Pfeifen: Nach diesem Film wird man Edvard Griegs „Peer Gynt“-Melodie anders hören (wenn man zum Beispiel in einem Seifen-Werbespot auf sie trifft …).

Im sehr guten Audiokommentar moderiert Torsten Kaiser, verantwortlich für die gesamte Restaurierungsarbeit, ein Gespräch mit Prof. Elisabeth Klenk und Dr. Regina Stürickow. Erstere ist Expertin in Sachen Peter Kürten, den vielfachen Mörder mit dem Spitznamen „Vampir von Düsseldorf“, letztere ist Fachfrau für die Situation in der Metropole Berlin zu Zeiten der Weimarer Republik. Beide gleichen klug und kenntnisreich den Film mit der Wirklichkeit ab, und es wird deutlich, wie genau Lang und seine Drehbuchautorin Thea von Harbou für ihren Film recherchiert haben: Alltag und Leben der kleinen Leute in ihren Hinterhofwohnungen sind ebenso genau dargestellt wie die modernen Methoden der Kriminalistik, die in Richtung des heutigen Profilings gehen, oder die Berliner Unterwelt mit ihren Kellerkneipen, Razzien und Ringvereinen, die als „Gewerbeverbände“ das Verbrechen ordneten. Und man bekommt Einblicke in die Ursprünge des Films, die wohl in der Persönlichkeit von und in der Berichterstattung über Peter Kürten lagen. Der hatte 1929 in einer Mordserie acht Menschen (nicht nur Kinder) umgebracht und ein ungeheures Medienecho erzeugt – denn auf diesen Biedermann war niemals ein Verdacht gefallen.

Kürten steht auch im Mittelpunkt von Torsten Kaisers 96-Minuten-Dokumentation „The Hunt for M“ von 2003, einer englischsprachigen Annäherung an diesen Serienmörder in Hinblick auf den Film, die etwas an der allzu dramatisch-pathetischen Sprechweise von Barry Morse leidet, der seinen Kommentar abgibt wie ein Voice-Over-Erzähler in altertümlichen Horrorfilmen. Ein zweiter Teil der Doku geht der weltweiten Suche nach Filmmaterial zu „M“ nach, der Restaurierung und der inszenatorischen Meisterschaft von Fritz Lang – unter anderem in Interviews mit Peter Bogdanovich und Martin Koerber, der für die 2001er-Restauration des Films verantwortlich war.

Mit Koerber zusammen bestreitet Kaiser auch die Kommentierung einer 50minütigen Kompilation verschiedener Fassungen von „M“ – sowohl späterer geschnittener Fassungen als auch der englischen und französischen Sprachversionen von 1932. In diesen wurde nicht nur synchronisiert, es wurden teilweise auch Darsteller durch englische bzw. französische Muttersprachler ersetzt, Sequenzen umgeschnitten und Einstellungen nachgedreht – Lorre musste seinen ganzen ergreifenden Schlussmonolog in anderen Sprachen noch einmal spielen. Dieser Umgang mit Filmen in den Händen ausländischer Verleiher ist hochinteressant; es gab damals verschiedene Verfahren, Auslandsfassungen herzustellen, von (technisch noch unausgereifter) Synchronisation bis zum kompletten Nachdreh eines Films, und verschiedene dieser Techniken wurden auf „M“ angewandt. Leider können im Kommentar die beiden Restauratoren keine Auskunft geben, wann, wo, unter welchen Umständen und unter wessen Regie etwa Nachdrehs zu „M“ entstanden sind, oder auch, wie es zu einigen sehr merkwürdigen, völlig sinnlos hineingeschnittenen Einstellungen kam, in denen einige der Nebendarsteller vor monochrom grauem Hintergrund zu sehen sind. Hier hätte man sich etwas mehr Recherchearbeit gewünscht oder zumindest Hinweise darauf, warum keine Hinweise gegeben werden können.

Ein schönes Fundstück ist das Interview „Zum Beispiel Fritz Lang“ von Erwin Leiser von 1968. In statisch gestellten Fragen und Antworten rekapituliert Lang seine deutschen Filme vor 1933 – und taut mehr und mehr auf, wenn er aufsteht und anekdotische Situationen nachspielt. Hier findet sich etwa seine legendäre Schilderung einer Begegnung mit Goebbels, der ihm die Führerschaft des deutschen Films antrug, worauf Lang noch in derselben Nacht Deutschland verlassen habe – was historisch nicht stimmt, in der verdichtet-verklärenden Version Langs aber ohne Zweifel Unterhaltungswert hat.

Brownian Movement

(NL / D / B 2010, Regie: Nanouk Leopold)

Ein anderes Gefühl der Berührung
von Wolfgang Nierlin

Wie zuletzt in Christoph Hochhäuslers sehr artifiziellem Film „Unter Dir die Stadt“, so spielt auch in Nanouk Leopolds „Brownian Movement“, betitelt nach den gleichnamigen Molekularbewegungen, die Architektur eine wesentliche Rolle. …

Wie zuletzt in Christoph Hochhäuslers sehr artifiziellem Film „Unter Dir die Stadt“, so spielt auch in Nanouk Leopolds „Brownian Movement“, betitelt nach den gleichnamigen Molekularbewegungen, die Architektur eine wesentliche Rolle. Allerdings spiegelt sich in ihr weniger die Dynamik einer finanzkapitalistischen Ordnung, sondern sie ist vielmehr individueller Ausdruck von Gefühlen. In langen, statischen, oft aus einer leichten Untersicht gedrehten Einstellungen werden Orte zu Seelenräumen. Ihre klare Struktur und funktionale Ordnung kontrastiert zugleich die scheinbar unkontrollierten, nicht näher erklärten Bewegungen der Protagonistin, die sich in Ausschnitten und Details verdichten und damit einen elliptischen Erzählfluss transportieren. In „Brownian Movement“ fällt der Blick nicht aufs Ganze, geht es weder um räumliche Geschlossenheit noch um psychologische Durchdringung, sondern um ein Sich-Öffnen gegenüber dem Unverständlichen.

„Brownian Movement“ ist in drei Teile gegliedert, die wiederum drei zentrale Handlungsorte etablieren: Zunächst einmal die Brüsseler Wohnung, in der die verheiratete Ärztin Charlotte Gudrun von Ribeck (Sandra Hüller) fremde Männer zum Sex empfängt; dann der Gesprächsraum der Psychoanalytikerin, wo Charlotte über ihr Verhalten sprechen soll; schließlich die indische Metropole Ahmedabad als Schauplatz der Architektur von Le Corbusier, die das innere Gleichgewicht der Protagonistin wieder herstellen könnte. Während in Brüssel durch Charlottes sexuelle Grenzübertritte auch Vertrauensverluste und Entfremdung gegenüber ihrem verletzten Mann Max (Dragan Bakema) wachsen, beginnt in Indien eine Zeit der vorsichtigen Wiederannäherung. Dominieren in der europäischen Stadt Räume, die der Kälte und Anonymität einer Laborsituation verwandt sind und in die fahles, kaum konturierendes Licht fällt, öffnen sich die Räume in Ahmedabad stärker dem Leben. Zwischen ihnen steht als Leitmotiv des Übergangs immer wieder das Unfertige von Baustellen, auf denen Max als Architekt arbeitet und die Charlotte ziellos durchstreift.

Obwohl Charlotte ein mehr oder weniger erfülltes Ehe- und Familienleben zu führen scheint, trifft sie sich mit wechselnden Sexpartnern. Von ihnen fühlt sie sich angezogen durch bestimmte körperliche Merkmale: eine auffallend starke Behaarung, eine pockennarbige Nase, extreme Dickleibigkeit und die welke Haut des Alters. An Gesichter wird sich die junge Ärztin später nicht erinnern können; vielmehr ist sie fixiert auf das Haptische von Körpern und Gegenständen, von Oberflächen und Details, auf „ein anderes Gefühl der Berührung“, wie sie später selbst sagt. Abgelenkt und im Bann spezifischer Reize, öffnet sie sich neuen Erfahrungen und der Spannung des Ungewissen, die andererseits in einem veränderten Kontext nur noch panische Abwehrreflexe hervorruft.

Die richterliche Sanktionierung und gesellschaftliche Ächtung folgt unmittelbar. Aber Nanouk Leopold geht es in ihrer sorgfältig komponierten, auf das Wesentliche konzentrierten Filmstudie vor allem darum, wie sich jenseits von sprachlicher Artikulation und rationalem Verstehen Vertrauen zwischen Menschen, die sich lieben, zurückgewinnen lässt. Ihr beeindruckender Film lässt das offen und führt deshalb am Schluss auch hinaus aus der Stadt in die Weite einer unberührten Wüstenlandschaft.

Der Komet

(USA 1984, Regie: Thom Eberhardt)

Hinter der Sonnenbrille: Reagans feuchter Traum
von Carsten Moll

Regina und Samantha, genannt Reggie und Sam, sind zwei typische kalifornische Teenager der 80er, sie kauen Kaugummi, spielen pixelige Videospiele an riesigen Automaten und hören Popmusik aus dem Radio. Sie …

Regina und Samantha, genannt Reggie und Sam, sind zwei typische kalifornische Teenager der 80er, sie kauen Kaugummi, spielen pixelige Videospiele an riesigen Automaten und hören Popmusik aus dem Radio. Sie sind ein bisschen cooler, ein bisschen kälter als die Spielberg-Kids. Aber wen wundert’s, ihre Welt ist auch weniger behütet. Auf dem Wohnzimmertisch stehen die Familienportraits, jedes Mitglied für sich in einem eigenen Rahmen. Daddy ist als Soldat in Zentralamerika unterwegs, die böse Stiefmutter Doris flirtet mit dem Nachbarn und boxt der aufmüpfigen Sam im Streit auch schon mal ins Gesicht. Reggie jobbt im Kino, wo ihr Chef sie herumkommandiert, und hat Sex mit ihrem Loser-Freund, dem Filmvorführer. Das ist das Leben und weit und breit kein gutmütiger außerirdischer Gnom in Sicht.

Als aber eines Nachts ein Komet an der Erde vorbeirauscht, löscht er auf ungeklärte Weise fast alles Leben auf dem Planeten aus. Außer Reggie und Sam gibt es nur wenige Überlebende, darunter blutrünstige Mutantenzombies und ein Gruppe zweifelhafter Wissenschaftler. Doch die beiden Schwestern wissen sich zu wehren, mit Maschinengewehren und coolen Sprüchen kämpfen sie um ihr Überleben unter dem rot glühenden Himmel des post-apokalyptischen Los Angeles.

Was sich hier als wilder Genremix verkauft und für jung und frech und spritzig hält, entpuppt sich beim näheren Hinsehen als der feuchte Traum eines alten Mannes namens Ronald Reagan. Verfilmt im Jahr 1984, also als besagter Reagan in der Mitte seiner Amtszeit angelangt war, hat das nach eigenem Drehbuch Thom Eberhardt, den man am ehesten noch als Drehbuchautor von „Liebling, jetzt haben wir ein Riesenbaby“ kennt. Der B-Film war damals kein großer Erfolg und Ende der 80er zu Recht wieder vergessen, aber die Kids, die ihn früher liebten, entdeckten ihn wieder und erkoren „Der Komet“ zum Kultklassiker. Sogar Joss Whedon gab an, dass der Film eine große Inspiration für seine respektable Erfolgsserie „Buffy – Im Bann der Dämonen“ gewesen sei, auch wegen der Darstellung der beiden Heldinnen.

All das muss ein wenig verwundern, denn „Der Komet“ ist nicht bloß schlecht geschrieben, billig produziert und bestenfalls solide gespielt, sondern dabei nicht einmal sonderlich unterhaltsam. Es gibt ein paar wirklich witzige Dialogzeilen, Mary Woronov ist als campy Wissenschaftlerin sehenswert und die Aufnahmen der menschenleeren Metropole sind durchaus gelungen und stimmungsvoll. Aber man sollte sich von der vermeintlichen Unbedarftheit und dem ironischen Ton des Films nicht blenden lassen, denn das Weltbild, das hier vermittelt wird, ist konservativ und spießig und bleibt bei aller Ironie doch immer intakt und unangetastet.

Das fängt an beim Frauenbild: Klar, Sam und Reggie dürfen ihren Spaß haben und machen, worauf sie halt Lust haben, also Motorradfahren, Rumballern und Schuhe kaufen (dazu läuft ein mieses Cover von „Girls Just Wanna Have Fun“, tatsächlich noch das Beste am cheesy Soundtrack). Wer das für emanzipiert hält, für den ist wahrscheinlich auch die fiktive Werbesendung „Chicks Who Love Guns“ aus Tarantinos „Jackie Brown“ ein Bekenntnis zum Feminismus. Und überhaupt: Die Waffen landen am Ende im Müll, entsorgt von Reggies Gatten in spe. Es wurden ausreichend Bilder gezeigt, die der Aufrüstung ein sexy Image verleihen und nach dem Austoben wartet eh das traute Glück als Kernfamilie, ganz wie die Reagan-Regierung es sich wünscht.

Dass der Eindruck entstehen kann, „Der Komet“ handle von selbstbewussten jungen Frauen, ist in erster Linie dem Aussehen der Protagonistinnen geschuldet. Mit Fönfrisur und Cheerleaderkostüm erscheinen sie tatsächlich als weibliche Wesen, obwohl sie vielmehr als Avatare für eine Männerfantasie dienen. Ihre Bedürfnisse sind eine Mischung aus klischiertem Mädchendasein (Materialismus, starke Bezogenheit auf Jungen, Konkurrenzkampf um Männer) und erotischem Jungstraum. Die menschenleere Stadt mit ihren automatisierten Radioprogrammen und an Zeitschalter gekoppelten Pools und Sprinkleranlagen ist passenderweise mehr Simulation als authentische Lebenswelt. Völlig mühelos dringen Reggie und Sam in Gebäude ein, scheinbar aus dem Nichts erhalten sie Waffen, Motorräder und schicke Autos, als hätten sie sie heruntergeladen, um für die Matrix gerüstet zu sein. Selbstredend müssen unsere Valley Girls nicht essen und suchen die Toilette nur zum Schminken auf. Die Diegese des Films hat sich vollkommen auf sie eingestellt und ist ihrer Egozentrik verfallen, der seichte Pop-Rock, den Sam und Reggie im Radio hören, wird konsequenterweise zum offiziellen Soundtrack.

Richtig ärgerlich und ganz im Schatten der Politik Reagans ist „Der Komet“ bei der Darstellung der Zombies, Mutanten oder Zombiemutanten – wie auch immer man will, der Film bleibt hier vage, denn letzten Endes sind sie nur Kanonenfutter und Geisterbahnschreck. Führt man sich aber einmal die Charakteristika, mit denen diese Monster gezeichnet werden, vor Augen, wird aus dem Mutanten schnell ein HIV-Positiver und die zerfledderte Zombiehaut zum Kaposi-Sarkom. Die Mutation wird im Film als körperlicher und geistiger Verfall gezeigt, dem alle zum Opfer fallen, die nicht vollkommen durch Stahl vor den Strahlen des Kometen geschützt waren. Auffällig ist, dass sowohl Reggie als auch der Überlebende Hector vor der Strahlung sicher waren, weil sie sich während des Vorbeiflugs des Kometen an einen privaten Ort zurückgezogen hatten, um Sex zu haben. Weiterhin ist bemerkenswert, dass alle gezeigten Zombies männlich sind, darunter der einzige Schwarze im Film, sowie zwei Motorradpolizisten, die aussehen, als wären sie Mitglieder der Village People. Die Wissenschaftler, die ebenfalls infiziert sind, versuchen verzweifelt sich zu retten, indem sie andere Überlebende als Quelle für frisches Blut anzapfen. Sind ihre Methoden auch verachtenswert und grausam, so legt das Handeln der Wissenschaftler doch nahe, dass es sich bei der Zombiewerdung um eine Krankheit handelt, die behandelt werden kann. Vor diesem Hintergrund erschrecken weniger die entstellten Mutanten, als der Umgang mit ihnen, der die Ignoranz der Reagan-Ära bezüglich der AIDS-Krise widerspiegelt. Bleibt noch anzumerken, dass die Mutantenzombies kaum gewalttätiger sind als unsere Heldinnen, nur verweigert der Film ihnen die Sympathie, die er den Mädchen entgegen bringt. Sie sind nicht verrückt, wie ein Mutant erklärt: „I just don’t give a fuck!“ Wer kann ihnen das in ihrer Situation noch verübeln, auf sie wartet schließlich kein Happy End samt Adoptivkindern und Boyfriends wie auf die ähnlich unempathischen aber hübscheren Valley Girls. Zwei der spärlichen Zombieattacken im Film erweisen sich sogar lediglich als Sams Traum (beziehungsweise als Traum im Traum) und erzählen damit mehr von ihrer Paranoia als von einer existenten Bedrohung.

„Der Komet“ erzählt vom post-apokalyptischen, post-modernen Leben in der shining city Amerikas und ist dabei leider ganz ein Kind seiner Zeit, nämlich ein ausgewachsener Spießer mit schlichtem Gemüt.

Schlafkrankheit

(D / F / NL 2010, Regie: Ulrich Köhler)

Verloren zwischen den Welten
von Wolfgang Nierlin

„Licht“ lautet das erste Wort der Vorspanntitel, deren Bestandteile wie in einem Film von Godard erst nach und nach die Leinwand füllen. Dann löst sich auf nächtlicher Autofahrt ein einzelner …

„Licht“ lautet das erste Wort der Vorspanntitel, deren Bestandteile wie in einem Film von Godard erst nach und nach die Leinwand füllen. Dann löst sich auf nächtlicher Autofahrt ein einzelner Lichtpunkt aus dem tiefen Dunkel, der sich kurz darauf als Schein einer Taschenlampe entpuppt. Die Ankunft der Familie Velten auf dem schwarzen Kontinent, wo der Arzt und Entwicklungshelfer Ebbo (Pierre Bokma) und seine Frau Vera (Jenny Schily) seit vielen Jahren zu Hause sind, beginnt mit einer Kontrolle. Auch das Eintreffen seines französischen Kollegen Alex Nzila (Jean-Christophe Folly) drei Jahre später vollzieht sich in stockdunkler Nacht. Fremde und Orientierungsverlust, die am Ende bei einem nächtlichen Gang durch den Dschungel noch zu einer unheimlichen Verlorenheit gesteigert werden, sind in Ulrich Köhlers beeindruckendem Film „Schlafkrankheit“ regelrecht mit Dunkelheit assoziiert.

Um diese geradezu existentielle Fremdheit zu vermitteln, verschränkt Köhler auf unkonventionelle Weise die Blickrichtungen der beiden Protagonisten. Während der couragierte Ebbo, der seit zwanzig Jahren in Kamerun ein Projekt zur Erforschung der Schlafkrankheit leitet, eine große Erfahrung ausstrahlt und sich dem fremden Leben völlig anverwandelt zu haben scheint, erlebt der kongolesischstämmige Franzose Alex, der im Auftrag der WHO Ebbos Programm evaluieren soll eine Art Kulturschock. Doch Köhlers komplexe, an Zwischentönen reiche Verschränkung der Perspektiven lässt sich in diesen vorgeblichen Gegensätzen nicht einfach fassen. Sein genauer, subtiler Blick auf die schier nicht einholbare Differenz der Mentalitäten unterläuft nicht nur souverän und mit Witz Klischees, sondern durch vielfache Brechungen auch die Bilder, die von ihnen kursieren.

So fühlt sich Ebbo in Afrika zwar heimisch und behauptet in seinen beruflichen wie privaten Auseinandersetzungen eine selbstbewusste, fast schon abgeklärte Unabhängigkeit, doch gleichzeitig zwingt ihn sein Realitätssinn in eine unüberwindliche Distanz. Zudem scheint ihm nach dem sich abzuzeichnenden Ende des Projekts auch die Rückkehr nach Deutschland versperrt. Ebbo ist ein Gefangener zwischen den Welten, der sich nicht lösen kann von seiner Faszination, ja förmlich und auf geradezu mystische Weise von ihr verschluckt wird. Darüber hinaus ist Ebbo eine Figur, die sich dem Zuschauer widersetzt und immer wieder entzieht.

Dagegen repräsentiert der junge, unerfahrene Arzt Alex, der in Frankreich geboren und sozialisiert wurde, trotz schwarzer Haut den Prototyp des Europäers, der Afrika als einen einzigen Alptraum erlebt. Alle seine Absichten werden vor Ort von Willkür und Trägheit blockiert, seine Arbeit stagniert und kommt schließlich zum Erliegen. Ulrich Köhlers vielschichtiger Film hält diese sowohl erfahrene als auch imaginierte Differenz bis zum Schluss offen und bildet sie schließlich auch in seiner elliptischen, dezentralen Plotstruktur ab.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Orlando

(F / GB / I / NL / R 1992, Regie: Sally Potter)

I’m not then
von Carsten Moll

Hinschauen: „Orlando“ ist eine Ausstattungsorgie, gewollter und gekonnter Camp mit faustgroßen mouches an der Backe und Reifröcken von der Größe eines Kleinwagens, ein Film irgendwo zwischen Derek Jarman, Todd Haynes …

Hinschauen: „Orlando“ ist eine Ausstattungsorgie, gewollter und gekonnter Camp mit faustgroßen mouches an der Backe und Reifröcken von der Größe eines Kleinwagens, ein Film irgendwo zwischen Derek Jarman, Todd Haynes und Sofia Coppolas „Marie Antoinette“. In dichten Vignetten chargieren die Nebendarsteller, als wollten sie es mit dem überbordenden Dekor und den ausufernden Kostümen aufnehmen, die queen Quentin Crisp spielt Queen Elizabeth I. und Schwulenikone Jimmy Somerville gibt den goldenen Videoclip-Engel. Selbstverständlich!

Die Jahreszahlen, Orte und Geschlechter ändern sich, Kostüm und Ausstattung hinterher. Was bleibt ist Orlando, später Lady Orlando, der der Königin versprochen hat stets jung zu bleiben und somit unsterblich wird. Das alles passiert ohne übermäßiges Interesse an Geschichte und Geschichten und ohne den period piece-Muff der Merchant-Ivory-Filme. Dafür gibt es jede Menge leichtfüßigen Witz und den unbedingten Willen zum Pop, dem ganzen Zeitreise-Gender-Literaturvorlage-Ballast zum Trotz.

Weitersehen: Was leicht hätte anstrengend werden können, gelingt vor allem dank Sally Potters ruhiger Regie, Aleksei Rodionovs strengen Bildkompositionen und nicht zuletzt Tilda Swintons großartiger non-performance. Tilda Swinton, immer mittendrin und außen vor, ist Orlando ist Lady Orlando und eben auch Tilda Swinton. Auch ganz wortwörtlich ist sie herausragend, wenn sie beispielsweise die Erzählstimme unterbricht oder durch Blicke Kontakt zu den Zuschauern aufnimmt und uns mal fragend, mal herausfordernd anblickt. Fast schon verloren guckt sie manchmal unter den turmhohen Perücken hervor und wirft so ein Ding auch einfach mal weg, wenn es zu sehr kratzt.

Durch Swintons unprätentiöses Spiel und ihren stoischen Umgang mit dem Lauf der Geschichte vom 17. Jahrhundert bis in die Jetztzeit entsteht einerseits Nähe und Verbundenheit zu Orlando/Swinton, andererseits werden Klischees vermieden, die ein solcher Stoff mit sich bringt. In „Orlando“ wird kein Konstrukt von der Gegensätzlichkeit männlicher und weiblicher Identität entworfen, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind den Vorstellungen und Normen der Gesellschaft geschuldet, die Swinton allerdings kalt lassen.

Orlandos Identität ist komplexer als es die typischen Geschlechtszuschreibungen vermuten lassen, stereotypes Männlichkeitsgehabe kennt Orlando ebenso wenig wie vermeintlich weibliche Schicksalsergebenheit. Selbst nach der plötzlichen Transformation zur Frau ist kein Bruch in Orlandos Charakter erkennbar, der Mensch Orlando betrachtet in einem Spiegel den nun weiblichen Körper und bemerkt: „Same person. No difference at all … just a different sex.“ Ein Gedanke, der hoffentlich nicht alt wird.

Leben und Tod einer Pornobande

(RS 2009, Regie: Mladen Djordjevic)

Back to the Roots
von Sven Jachmann

Wenn die Grenzüberschreitung zum ökonomischen Maßstab wird, schlägt auch ihre Ästhetisierung ins Gegenteil um. Das ist eine der Lehren, die die Protagonisten dieses serbischen Films grausam am eigenen Leib erfahren …

Wenn die Grenzüberschreitung zum ökonomischen Maßstab wird, schlägt auch ihre Ästhetisierung ins Gegenteil um. Das ist eine der Lehren, die die Protagonisten dieses serbischen Films grausam am eigenen Leib erfahren müssen – und die sie schließlich notgedrungen selbst reproduzieren.

Dabei begann alles mit einer Utopie: Um seine Haut vor einem rachsüchtigen Pornoproduzenten zu retten, flieht der Filmemacher Marko, den es eigentlich zur aufrüttelnden, nur leider brotlosen Kunst zieht, von Belgrad aufs Land. An seiner Seite im hippiesk umdekorierten Tourbus: neun Outcasts, vom Transsexuellen mit zoophilen Neigungen bis zum Junkiepärchen, die im urbanen Raum bloß Verelendung erwartet. Ihre Mission: mit einem bizarren Live-Porno-Cabaret die Landbevölkerung von ihren sexuellen Schranken befreien. Die Utopie schlägt ins Gegenteil um: Mit fürchterlicher Gewalt entlädt sich der Hass auf die selbsternannten Aufklärer. In kurzer Zeit sinkt die Gruppenmoral so tief, dass man widerwillig unter der Obhut eines deutschen Journalisten Snuff-Filme für dekadente Westeuropäer produziert, doch zumindest Marko ist zunächst überzeugt, damit seinem Credo einer Grenzen überschreitenden Kunst treu zu bleiben.

Harte Geschütze, die Mladen Djordjevic in seinem ersten Spielfilm auffährt: Pornographie und extreme Gewalt schnürt er in ein drastisches Setting, das auf den ersten Blick an Torture Porns erinnert. Aber auf das exotistische Klischee des entfesselten Balkans reagiert der Regisseur, indem er die Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche betont. Kunst wie Kultur sind präformiert von den realen Kriegsschauplätzen des zerstörten Serbiens: Bis auf eines begeben sich die Snuff-Opfer 'freiwillig' zum Schafott, weil sie sich vom bezahlten Tod vor der Kamera eine Operation ihrer durch radioaktive Nato-Bomben missgebildeten Familienmitglieder versprechen oder für ihre eigenen Kriegsverbrechen büßen wollen. Das aufrührerische Projekt gerät schneller zur pervertierten Dienstleistung, als die Pornobande verkraften kann. Solcherlei radikalen Nihilismus kennt man allenfalls aus Splatterfilmen der frühen Siebziger, die ähnlich unbefangen die gesellschaftliche Erosion zelebrieren.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/11

Lost Highway

(USA 1997, Regie: David Lynch)

Mephisto mit Handy
von Andreas Thomas

Faust im Medienzeitalter. Wie ist er heute denkbar? Wer, wenn nicht der richtungsweisende Regisseur David Lynch ist in der Lage, darüber Untersuchungen anzustellen? Er zeigt uns wieder einmal eine unausgesetzt …

Faust im Medienzeitalter. Wie ist er heute denkbar? Wer, wenn nicht der richtungsweisende Regisseur David Lynch ist in der Lage, darüber Untersuchungen anzustellen? Er zeigt uns wieder einmal eine unausgesetzt klaustrophobische Welt mit dem Teufel als einem mit High-Tech ausgerüsteten Aufklärer des Bösen und Faust als einem verzweifelten Jazzmusiker, der Antworten erhält, von denen er nicht zu alpträumen wagte.

'Dick Laurent ist tot', sagt die Türsprechanlage. Fred Madison (Bill Pullman) kennt niemand mit diesem Namen, er weiß nicht, wer zu ihm gesprochen hat, aber er sieht aus, als habe er auf diese Botschaft gewartet …

So beginnt David Lynchs Film 'Lost Highway'. Der Saxophonist Fred Madison und seine Frau Renee (Patricia Arquette) führen in einem bunkerähnlichen Haus eine gescheiterte Ehe. Renee hat offenbar Affären, die sie halbherzig kaschiert, Fred ist dabei ein verzweifelter, aber hilfloser Zuschauer. Als das Paar zwei anonyme Videofilme bekommt, auf denen nicht nur die Fassade seines Hauses zu erkennen ist, sondern eine gleitend schwebende Kamera in das Haus eindringt und das schlafende Paar beobachtet, ruft es die Polizei, die keine Einbruchsspuren feststellt.

Auf einer Party bei einem Bekannten Renees, dem zwielichtigen Andy (Michael Massee) (wiederum ein Bekannter Dick Laurents (!)), tritt ein zwergenhafter, grinsender Mann (laut credits: 'Mystery Man' = Robert Blake) zu Fred und behauptet, gerade jetzt in seinem Haus zu sein. Zum Beweis reicht er ihm sein Handy und fordert ihn auf, ihn unter Freds eigener Nummer anzurufen, wo sich dieselbe Stimme meldet. Auf die Frage: 'Wie sind Sie in mein Haus gekommen?' antwortet die Stimme: 'Sie haben mich eingeladen. Es ist nicht meine Art, dort hin zu gehen, wo ich nicht erwünscht bin.' Auf dem dritten Videoband, das er am nächsten Morgen erhält, sieht Fred in ungläubigem Schrecken sich selbst im Blutrausch bei der zerstückelten Leiche seiner Frau. Schneller Wechsel: Fred, als Mörder verurteilt, sitzt in einer Todeszelle, schlaflos und gepeinigt von quälenden Kopfschmerzen. Eines Morgens ist Fred verschwunden, doch in seiner Zelle findet sich Pete Dayton (Balthazar Getty), ein junger Automechaniker, der mangels einer rationalen Erklärung entlassen wird. Pete, der noch bei seinen Eltern lebt, normalerweise mit seiner Clique und seiner Freundin 'um die Häuser zieht', hat sich seit jenem 'Vorfall' offenbar verändert. Er interessiert sich plötzlich nicht mehr für seine Freundin Sheila (Natasha Gregson Wagner), sondern verliebt sich in Alice Wakefield (Patricia Arquette), Geliebte von Dick Laurent (Robert Loggia), auch 'Mister Eddie' genannt, einem skrupellosen Pornofilmproduzenten. Alice (das wasserstoffblonde Pendant zur schwarzhaarigen Renee – siehe 'Vertigo') verführt Pete zu einer heimlichen Affäre und überredet ihn kaltblütig, mit dem Ziel eines Lebens in finanzieller Unabhängigkeit, gemeinsam mit ihr Andy in dessen Haus zu berauben, der beim dabei entstehenden Handgemenge getötet wird. Nach dem Geschlechtsakt im Wüstensand, wo sie auf einen ihr bekannten Hehler warten, gesteht Pete Alice seine Sehnsucht: 'Ich will dich!'- 'Du wirst mich niemals kriegen!', returniert die Eiskalte und in diesem Moment verwandelt sich Pete Dayton zurück in Bill Madison. Wie im Rausch einer Wahrheitsdroge laufen die letzten Bilder ab: Alice verschwindet in der Hütte des Hehlers, Fred der ihr folgt, findet dort den mysteriösen Zwerg, der eine Videokamera auf ihn richtet und ihn nach seinem Namen fragt, plötzlich ist Fred im 'Lost Highway Hotel', wo er Dick Laurent beim apres sex mit Renee (nicht Alice) ertappt, er schleppt ihn in die Wüste, wo er ihm mit einem vom Zwerg gereichten Messer die Kehle aufschlitzt und schließlich der Zwerg selbst ihm einen Kopfschuss verabreicht. Am Schluss sehen wir Fred allein mit der Leiche. Morgens fährt er bei seinem Haus vor, drückt den Klingelknopf und sagt: 'Dick Laurent ist tot.' Für Fred Nr.1 beginnt die Geschichte von vorn, für Fred Nr.2 geht sie weiter auf der Flucht vor Polizeiwagen, aber anstatt in den Tag rast er ziellos seinen 'Lost Highway' hinab in eine ewig anmutende Nacht, mit dem Schrei eines Wahnsinnigen … Der Teufelskreis hat sich geschlossen, der Weg heraus ist der in die ewige Verdammnis, die Hölle.

Der besondere Reiz Lynch’scher Filme liegt in in der großen Bandbreite ihrer Interpretationsmöglichkeiten. David Lynch ist unter den zeitgenössischen Regisseuren der Kenner menschlicher Alpträume, der Spion des Unbewussten, und weil er so virtuos auf der Klaviatur unserer Ängste spielt, kann die Inhaltsangabe eines Lynch-Films nicht einmal erahnen lassen, was er beim konkreten Zuschauer auslöst. Unter brachialem Einsatz assoziationsgeladener Bilder, Geräusche und Töne kommuniziert Lynch mit dem Persönlichsten des Einzelnen. Daher kann ein auch nur andeutungsweiser Anspruch auf Allgemeingültigkeit bei einer Lynch-Rezension kaum erhoben werden, und deshalb ist folgendes ein dezidiert persönlicher Annäherungsversuch:

'Lost Highway' handelt von der Hölle. Von der Hölle vor und nach dem Teufelspakt. Von der Hölle des Lebens in einer 'alltäglichen' Unausweichlichkeit, von der Trennung vom Leben, der Vergeblichkeit der Liebe und der Isolation. Die Einsamkeit eines Paares in seiner Partnerschaft, in seinem Haus, in dessen Dunkelheit es sich zu verlieren droht, das mit seinen dicken Mauern und schießschartenartigen Fenstern anscheinend Sicherheit geben soll, aber jede Lebendigkeit erstickt. Und nun der Faustruf nach Entgrenzung. Wie eine verzweifelte Beschwörung diabolischer Mächte klingt Freds Saxophonsolo, und das Videoband belegt: Der Geladene ist schon da, ihm zu helfen – und ihn zu observieren. Aus dem Pudel ist eine Überwachungskamera geworden. Freds größte Sehnsucht, die verlorene Geliebte wieder zu gewinnen, wird ihm erst im Körper des jüngeren Pete erfüllt, der durch die Inkarnation zu seinem heimlichen Werkzeug geworden ist. Pete ist draußen in der Welt, und durch ihn hat Fred Zugang zu den Mächten, die Renee/Alice verführt und sie ihm geraubt haben. Es sind – wie so oft bei Lynch – böse, dunkle Kreaturen, hier verkörpert durch Dick Laurent und Andy, die offenbar (Snuff)-Pornos produzieren. Sie stehen für eine dekadente, gewalttätige Seite der Welt, und sie stehen mit dem Teufel im Bunde 'Sie und ich, Mister, wir stellen all die anderen Scheißkerle bei weitem in den Schatten' sagt Laurent noch mit durchgeschnittener Kehle zum zwergenhaften Mephisto. Aber der Teufel, vertraglich nun auch Fred verpflichtet, gibt Laurent die Todeskugel, nachdem er Fred die ganze Wahrheit über Renee (Alice) und das erdrückende Ausmaß ihrer Verstrickung offengelegt hat. Der Teufel legt seine Machenschaften dar. Er hat sein Versprechen gehalten: Er hat Fred seine Geliebte zurück gegeben, und er hat ihm die Mittel gegeben, sie den Klauen ihrer bösen Herren zu entreissen. Doch am Ende ist auch sie böse, und zugleich mit seinem Einblick in und seiner aktiven Einflussnahme auf das Böse ist Fred (Pete) selbst zum Mörder, ein Teil des Bösen geworden und verloren.

Während der Hergang des ersten Teils im düster-beschaulichen Stil älterer Lynch-Werke ('Blue Velvet') geschildert wird, explodiert der zweite Teil auf grelle, plakative Weise, unterlegt mit aggressiver, emotionsgeladener, viele Szenen dominierender Popmusik von Marilyn Manson (auch als Nebendarsteller in einem Snuff-Video zu sehen), Lou Reed, Rammstein, David Bowie und anderen: eine Reminiszenz an die Schnelligkeit und Zerrissenheit des MTV-Zeitalters. Lynch hat sich nie gescheut, Mythen (Presley/Brando in Wild at Heart') und populäre Erzählformen von Film und Fernsehen, (wie z.B. in 'Twin Peaks' die Teenagerserie) zu zitieren und benutzen, sie collagenhaft als Textur ein- und zusammen zu setzen, und durch das Aufeinanderprallen verschiedener, kontrastierender Klischees der Populärkulturgeschichte kompromittiert er die Unzulänglichkeit unserer Erinnerungskohärenz auch in 'Lost Highway'. Lynch zeigt: Unsere Weltwahrnehmung ist immer auch eine gemachte, virtuelle, zusammengesetzt aus Genres, Mythen, Klischees, Folien.

Unterlegt mit Gangsterfilmmusik der sechziger Jahre gibt Robert Loggia grandios das Urklischee des knallharten, aber auch (typisch Lynch) schwer psychopathischen Gangsterbosses, Patricia Arquette bedient das Gangsterbraut-Image – und plötzlich zerspringen die Eindeutigkeiten in verstörend grellen Bilder- und Soundattacken.

Die Welt, die uns hier vorgeführt wird, ist durchsetzt mit Versatzstücken massenmedialer Erfahrungen. Deshalb geht es bei 'Lost Highway' auch um Erzählweisen von Geschichten und um Weltwahrnehmung, die sich aus diesen Erzählweisen rekrutiert, bzw. um deren Entlarvung. Wenn wir in einer Welt des auch emotionalen Informationüberflusses leben, dann gibt es auch einen Deutungs- und Entwirrungsbedarf der überforderten Psyche. Lynch leistet im Großen, was im Kleinen nur den Träumen überlassen bleibt: Furcht- und kompromisslos schöpft er Interpretationen aus dem Unbewussten und wirft sie mit Gewalt einer gewaltigen, tendenziell gewalttätigen und unüberschaubaren (Kino- und Fernseh-)Realität entgegen.

Anmerkung für Lynch-Freunde: Jack Nance, unvergessener Darsteller des Henry Spencer in Eraserhead', hatte in 'Lost Highway' seinen letzten Filmauftritt (als Phil, Kollege von Pete in der Autowerkstatt). Er starb 1996, kurz nach den Dreharbeiten, 53-jährig an den Folgen einer Schlägerei vor einem Doughnut-Geschäft.

Womb

(D / HU / F 2010, Regie: Benedek Fliegauf)

Geschenkte Ewigkeit
von Wolfgang Nierlin

Eine Insel in der Nordsee, ein Stelzenhaus auf einem weiten, flachen Sandstrand, anbrandende Wellen und das ferne Rauschen des Windes: In eine geheimnisvolle, fast magische Atmosphäre tauch der ungarische Regisseur …

Eine Insel in der Nordsee, ein Stelzenhaus auf einem weiten, flachen Sandstrand, anbrandende Wellen und das ferne Rauschen des Windes: In eine geheimnisvolle, fast magische Atmosphäre tauch der ungarische Regisseur Benedek Fliegauf mit seinem neuen Film „Womb“. Bevor die ersten Bilder langsam vom Weiß der Leinwand verschluckt werden, sagt eine Frauenstimme: „Dass du weggegangen bist, heißt noch lange nicht, dass du nicht mehr hier bist.“ Als wäre das Leben zeitlos und der Atem der Natur ewig behaupten die Worte die Anwesenheit des Abwesenden. Dass die Identität eines Menschen sich nicht in seiner Genetik erschöpft, wäre gewissermaßen die Gegenposition zu diesem Satz, der die Idee der romantischen Liebe mit einem zeitgenössischen Sciencefiction-Motiv verbindet.

Dabei entdecken Rebecca (Ruby O. Fee) und Tommy (Tristan Christopher) ihre tiefe Seelenverwandtschaft bereits als Kinder. Im Alter von etwa zehn Jahren wachsen ihre ersten zärtlichen Gefühle füreinander, während sie die Dünen durchstreifen und die Gezeiten erleben. Zugleich richten sich ihre Blicke auf die Erkundung des eigenen und des fremden Körpers, seine blühende und seine welke Haut. So mischt sich in ihre keimende Sehnsucht und in ihr intimes Vertrauen früh die Ahnung der Vergänglichkeit. Unterm Vergrößerungsglas, mit dem sie die Haut des Großvaters betrachten, aber auch im eingeschränkten Erfahrungshorizont der Schnecke, die zum Symbol ihrer Freundschaft wird, verwandelt sich die Welt in ein relatives Terrain.

Als sich die studierte Mathematikerin Rebecca (Eva Green), die mittlerweile als Software-Entwicklerin für Sonargeräte arbeitet, und der Biologiestudent und Umweltaktivist Tommy (Matt Smith) zwölf Jahre später wiedersehen, ist die frühere Vertrautheit unverändert. Doch bevor sich ihre zärtliche Liebe mit Leben füllen kann, stirbt Tommy bei einem Unfall, der Banalität und Tragik schmerzlich verbindet. Weil das Leben einer nicht allzu fernen Zukunft aber die Möglichkeit bietet, Tommy als Klon noch einmal zur Welt kommen zu lassen, macht Rebecca sich und ihrem Geliebten dieses Geschenk.

Und so wächst im stillen Refugium am Meer neben der Isolation auch die Symbiose zwischen Mutter und Sohn, bis der „Inzest“ schier unvermeidlich wird. Zur existentiellen Dringlichkeit gesteigert wird das, als Tommy seine Freundin Monica (Hannah Murray) mitbringt und Rebecca daraufhin in dunkles Schweigen und lähmende Passivität versinkt. Längere Zeit verharrt Benedek Fliegaufs ebenso eindrucksvoller wie bewegender Film in dieser Depression, in der sich die Identitätskrise des Klons und die Seelenqual seiner Mutter, ihre unterdrückte Liebe und ein peinigendes Schweigen kontinuierlich zuspitzen. „Wer bin ich?“, fragt Tommy immer verzweifelter. Als sein eigener, phantastischer Wiedergänger erfüllt sich durch ihn auf tröstliche Weise Rebeccas verlorene Liebe. Jenseits dieser romantischen Projektion fragt Benedek Fliegauf in „Womb“ aber auch danach, ob das Leben einzigartig und vergänglich oder wiederholbar und ewig ist.

Die Autos, die Paris auffraßen

(AUS 1974, Regie: Peter Weir)

Blood is Cheap
von Carsten Moll

Dass der Kapitalismus vom Crash lebt, wissen auch die anständigen Bewohner des australischen Kaffs Paris. Nacht für Nacht liegen sie auf der Lauer, um nichts ahnende Autofahrer in schwere Unfälle …

Dass der Kapitalismus vom Crash lebt, wissen auch die anständigen Bewohner des australischen Kaffs Paris. Nacht für Nacht liegen sie auf der Lauer, um nichts ahnende Autofahrer in schwere Unfälle zu verwickeln. Die Autos werden ausgeschlachtet, die Unfallopfer ausgeraubt und nach anschließender Lobotomie in die örtliche Psychiatrie eingewiesen. So lässt es sich leben, neben allerlei Schrott werden so auch Pelzmäntel und Kinder für die Gattin erworben. Die Dorfgemeinschaft scheint zufrieden zu sein, jeder hat seinen festen Platz: vom mächtigen Bürgermeister über den Arzt und den Polizisten bis hin zur Hausfrau. Nur die Jugend, weiß nicht recht, wohin mit sich und baut aus den Autowracks wilde Bestien …

Peter Weirs Spielfilmdebüt „Die Autos, die Paris auffraßen“ zeichnet das düstere Bild einer modernen, australischen Gesellschaft zwischen Zukunftsangst und Vergangenheitsverklärung. Die jungen Männer rasen in ihren Vehikeln, die aussehen, wie eine Mischung aus Hippiebus und Raubtier, ziellos durch den öden Ort. Der sieht im Gegensatz zum grünen Naturidyll der Umgebung eher nach Wildem Westen aus und aus dessen Dunstkreis stammen wohl auch die Machoattitüde und das Männlichkeitsgehabe der Pariser. Junge Frauen gibt es übrigens keine in Paris, bloß kleine Mädchen und Hausfrauen, wie man sie aus piefigen 50er-Jahre-Hollywoodfantasien kennt und Aborigines existieren nur als Gartenzwerge im Vorgarten.

Wir sehen diese Welt durch die Augen des Neuankömmlings und Unfallopfers Arthur Waldo, der vom Bürgermeister unter seine Fittiche genommen wird. Arthur ist ein gutmütiger und etwas naiver Kerl, der als unwissender Außenseiter doch die latente Bedrohung spürt, die von Paris und seinen Einwohnern ausgeht und immer wieder zu flüchten versucht, was auch daran scheitert, dass er durch ein Trauma nicht mehr zum Autofahren fähig ist. Hier ähnelt er stark einer Figur aus Weirs späterem Werk, nämlich Truman Burbank aus „Die Truman Show“. In beiden Filmen sind die Protagonisten unfreiwillig Gefangene eines in sich geschlossenen Systems, das mit den Mitteln der Satire angeklagt wird. Bei aller spöttelnden Kritik bleibt Weir doch stets Optimist und spendiert seinen Helden ein zumindest hoffnungsvolles Ende. Ob das immer berechtigt ist, darf bezweifelt werden. Wo Truman Burbanks Geschichte vor der Tür zur realen Welt als Happy End aufhört, wird verschwiegen, dass die reale Welt gar nicht so anders funktioniert als die Studiowelt mit ihren unzähligen Kameras und den allgegenwärtigen Werbebotschaften.

In „Die Autos, die Paris auffraßen“ fällt das Ende zwiespältiger aus. Zwar gelingt auch Arthur am Ende die Flucht, und die Welt, in die er flieht, könnte tatsächlich besser sein als das Nest Paris; immerhin kommt der Dorfpfarrer von außerhalb, er ahnt nicht, dass alle seine Schäfchen schwarze sind und scheint integer. Auch fürchten die Pariser, dass ihre heimlichen Raubzüge entdeckt werden könnten und isolieren sich immer stärker. Inwiefern die Außenwelt wirklich als moralische Instanz fungieren kann, lässt der Film indessen offen. Darüber hinaus ist Arthur kein liebenswerter und tugendhafter Truman, ja nicht einmal einen anständigen Anti-Helden gibt er ab. Dafür ist er zu sehr Mitläufer und am Ende sogar Autofahrer und Mörder, seine Flucht bekommt so einen bitteren Beigeschmack.

Alles in allem ist „Die Autos, die Paris auffraßen“ kein uninteressanter Film, der vieles aus Weirs Spätwerk bereits anreißt. Die Atmosphäre ist dicht und immer wieder gelingen Weir grandiose Aufnahmen zur Bebilderung seiner Gesellschaftskritik. Dennoch ist der Film ein wenig halbherzig geraten, zu zahm als Ozploitation, nicht witzig genug für eine schwarze Komödie.

Tournée

(F 2010, Regie: Mathieu Amalric)

Tour de France
von Harald Mühlbeyer

Wer glaubt, er habe mit Christina Aguileras „Burlesque“ einen Einblick in die New-Burlesque-Szene erhalten, irrt. Was mit Aguilera und Cher lief, war Hollywood, Musikvideo, schöner Schein, Kindergeburtstag. Die wahre, burleske …

Wer glaubt, er habe mit Christina Aguileras „Burlesque“ einen Einblick in die New-Burlesque-Szene erhalten, irrt. Was mit Aguilera und Cher lief, war Hollywood, Musikvideo, schöner Schein, Kindergeburtstag. Die wahre, burleske New Burlesque zeigt Mathieu Amalric in seiner dritten Regiearbeit: „Tournée“ beschreibt den Weg eines Produzenten und einer Handvoll New-Burlesque-Künstlerinnen durch Frankreich, von Hotel zu Hotel, von Auftritt zu Auftritt, und er geht fast dokumentarisch vor.

Amalric ist eigentlich Schauspieler, hat den Gelähmten in „Schmetterling und Taucherglocke“ gespielt und Bonds Gegenspieler in „Ein Quantum Trost“. Nun inszeniert er sich selbst als Joachim, Produzent einer Tournee bizarrer Künstlerinnen durch die französische Provinz, ein selbstgefälliger, abgefuckter, liebevoller, begeisterter, verzweifelter, abgebrannter, hoffnungsvoller Manager einer Gruppe bizarrer, gutgelaunter, selbstbewusster, lauter, überschwänglicher, hemmungsloser, extravaganter und exzentrischer Girls. Die heißen beispielsweise Mimi le Meaux, Dirty Martini, Kitten on the Keys und spielen sich mehr oder weniger selbst – denn es sind tatsächliche New Burlesque-Künstlerinnen, die mit Amalric in dessen Rolle auf Tournee gehen und dabei echte Auftritte vor echtem Publikum absolvieren, die dokumentarisch gefilmt in die fiktive Spielhandlung eingefügt sind – und dabei in voller Länge gezeigt werden.

New Burlesque – das geht zurück auf die Burlesque-Shows im Amerika bis ca. 1930, Zutritt nur für Männer erlaubt, in denen die normale Vaudeville-Show – verschiedene Nummern, ähnlich dem europäischen Varieté – um frivole Auftritte halb- oder ganz nackter Damen ergänzt wurden. New Burlesque ist in den 90ern aufgekommen, und diese Show reichert das alte Konzept mit dem Feminismus der letzten Jahrzehnte an. Denn es geht nicht primär ums Ausziehen, ums Befriedigen männlicher Blickgelüste: New Burlesque ist kein Strip, sondern Tease, das selbstbewusste, offensive, auch subversive Zurschaustellen weiblicher Körper, die den gängigen Schönheitsidealen – jung, schlank, knackig – entgegenstehen.

Die Künstlerinnen inszenieren sich dabei selbst, sie führen die Regie bei ihren Auftritten und lassen sich nicht dreinreden: Sie führen das Erotische hinüber ins Satirische, Selbstreflexive, Komische. Die üppige, weiblich-leibliche Nacktheit wird ironisch präsentiert, das Treiben von Stripshows wird bizarr verzerrt und dadurch auf eine neue, reflexive Ebene gehoben – und das alles zum Vergnügen des Publikums, das oftmals vor allem weiblich ist. Eine der Tänzerinnen bläst um sich herum einen Luftballon auf, eine strippt als Freiheitsstatue, eine mit scheinbar abgehackter Hand, und der einzig männliche Tänzer der Truppe tritt als Louis XIV. auf. Diese Auftritte sind wirkliche Einblicke in die (Sub)Kultur des New Burlesque, und allein sie lohnen den Film schon – wahrscheinlich für sie hat Amalric in Cannes 2010 den Regiepreis erhalten.

Die Rahmenhandlung des Films, das Fiktive, zeigt authentische Einblicke in das Leben hinter der Bühne, wenn die Truppe von Provinzstadt zu Provinzstadt zieht, in tristen Hotels übernachtet und abgekapselt von der Außenwelt von Langeweile bedroht sind. Dann wird in der Lounge eine spontane Party gefeiert, oder man mischt sich unter die Hochzeitsgäste im Hotelrestaurant – und versucht, Joachim aufzuheitern. Dessen Gemütslage ist der grundsätzlichen Heiterkeitsbereitschaft der Damen entgegengesetzt, er hatte in Frankreich alle Brücken abgebrochen und in Amerika Glück und Karriere gesucht – vergebens. Jetzt kehrt er zurück mit der Hoffnung auf ein Comeback, die Tournee soll ihn wieder ins Geschäft bringen. Doch alte Geschäftspartner hauen ihm auf die Nase, die Ex-Freundin überlässt ihm seine kleinen Söhne, obwohl er auf Tour ist, und der Veranstaltungsort für den Tourneeabschluss in Paris lässt sich einfach nicht organisieren … Das Niemandsland, in dem die Burlesque-Truppe auf der Reise durch die Provinz steckt, ist für ihn ein Nichts und seine Girls versuchen, dieses Nichts mit ihrer Leiblichkeit auszufüllen.

Das ist ein gelungenes Konzept für einen Film, doch leider lässt Amalric die Dramaturgie fahren, der Handlungsablauf wirkt unzusammenhängend, zerfasert, fast willkürlich – zwar gibt es schöne running gags, schöne Einfälle für Charakterisierungen sowohl des Managers als auch der sich selbst darstellenden Künstlerinnen – doch wenn auch das Gesamtbild die Hektik des Tourlebens wahrhaftig darstellt, sind doch Details allzu verwaschen und Handlungsschlenker allzu gewollt. Wenn Joachim ständig in jedem Hotel erst mal bitten muss, die Hintergrundmusik leiser zu stellen, weil er das Gedudel nicht leiden kann: dann führt das doch eigentlich zu nichts.

Herzensbrecher

(CAN 2010, Regie: Xavier Dolan)

Schwärmerei und Selbsttäuschung
von Wolfgang Nierlin

„Das einzig wahre auf der Welt ist das Gefasel über Liebe“, lautet das Zitat von Alfred de Musset, mit dem der junge kanadische Regisseur Xavier Dolan seinen zweiten Film „Les …

„Das einzig wahre auf der Welt ist das Gefasel über Liebe“, lautet das Zitat von Alfred de Musset, mit dem der junge kanadische Regisseur Xavier Dolan seinen zweiten Film „Les amours imaginaires“ („Herzensbrecher“) einleitet. Und dann reden junge Menschen beiderlei Geschlechts, ähnlich wie in Woody Allens „Husbands and wifes“ oder auch Jean-Luc Godards „Masculin-féminin“, frontal in die Kamera über die Wechselfälle der Liebe, über Gefühle des Glücks und des Kummers, über den hoffnungsvollen Beginn und das Scheitern von Beziehungen und über ihre sexuelle Orientierung. Dabei setzt ein abruptes Zoom der Kamera die einzelnen Statements immer wieder in Schwingung und durchbricht damit die dokumentarische Fiktion.

Diese gespielten, ganz und gar nicht ernsten Interviews fungieren als Rahmenhandlung und strukturierendes Element für eine Dreiecksgeschichte der dezidiert vordergründigen Art. Mit bemerkenswerter visueller Phantasie, mit lustvoller Experimentierfreudigkeit und witzigen Einfällen inszeniert Dolan geschmackvolle Oberflächen und die Faszination am Schönen. Überraschende Perspektiven, poppige Farben, monochrome Räume, eine „anachronistische“ Mode und traumwandlerische, von Dalida und Bach begleitete Körperbewegungen in slow motion visualisieren den einfältigen, flüchtigen Geschmack von Gefühlen, dem die Protagonisten verhaftet sind. Es ist ein Referenzsystem aus Zeichen und Oberflächen, das Dolan zusätzlich und dabei spielerisch mit Zitaten aus Film, Literatur und Kunst anreichert. Denn in „Les amours imaginaires“, so der 1989 in Montreal geborene Filmemacher, ist „der Stil wichtiger als der Inhalt“.

„Dies ist eine Geschichte über eingebildete Liebe“, sagt Xavier Dolan über seinen von eigenen Erlebnissen inspirierten Film. Darin spielt er selbst den homosexuellen, romantisch veranlagten Francis, der sich gleichzeitig mit seiner besten Freundin Marie (Monia Chokri), einer eleganten, stolzen Schönheit, in den umschwärmten „Herzensbrecher“ Nicolas (Niels Schneider) verliebt. Der engelhafte, blondgelockte Adonis ist ein schamloser Verführer, der scheinbar unschuldig seine Sympathien nach allen Seiten verteilt. Vor allem aber ist er eine Projektionsfläche für die narzisstischen Liebesphantasien und unerwiderten Gefühle seiner Verehrer, die sich alsbald eifersüchtig belauern und ihre aufkeimende Rivalität nur notdürftig durch ihre Freundschaft kaschieren. Zwischen Ungewissheit und schmerzlicher Enttäuschung suchen Marie und Francis, die man immer wieder beim lustlosen Sex mit wechselnden Partnern sieht, nach der wahren Liebe. Doch sie verheddern sich mit ihren Versteckspielen im schillernden Dickicht schwärmerischer Gefühle und bemerken dabei zu spät ihre Selbsttäuschungen.

Im Bazar der Geschlechter

(A / D 2009, Regie: Sudabeh Mortezai)

Es ist immer die Frau
von Dietrich Kuhlbrodt

Für den von WDR / arte koproduzierten österreichischen/deutschen Dokumentarfilm hat Regisseurin Sudabeh Mortezai, geboren in Ludwigsburg, drei Jahre im Iran recherchiert und eine Fülle von unkommentierten Statements zusammengetragen. Mullahs äußern …

Für den von WDR / arte koproduzierten österreichischen/deutschen Dokumentarfilm hat Regisseurin Sudabeh Mortezai, geboren in Ludwigsburg, drei Jahre im Iran recherchiert und eine Fülle von unkommentierten Statements zusammengetragen. Mullahs äußern sich zur Frage, wann ein Geschlechtsverkehr erlaubt ist und wann nicht. Das iranische Strafgesetzbuch hat diese Beurteilung in die Hände von Geistlichen gelegt. Wer „unerlaubt“ Sex hat wird, falls verheiratet, bekanntlich gesteinigt (es ist immer die Frau). Falls unverheiratet, wird man (es ist immer die Frau) nur gepeitscht und im Wiederholungsfall schlichtweg getötet, – es sei denn, aufgepasst!, die Lustpaare gehen zu einem Mullah oder Ayatollah und zahlen ihm eine hohe Gebühr. Dann kriegen sie eine Urkunde und werden weder gesteinigt, noch gepeitscht, noch ohne Umschweif getötet. Der Koran hat diese Erlaubnis vorgesehen, die Schiiten haben sie praktiziert, und heute ist die Ehe auf Zeit Usus im Iran, wiewohl gesellschaftlich geächtet. Denn, zugegeben, sich vom Mullah den Sex für ein halbes Stündchen, ein paar Wochen oder ein paar Monate erlauben zu lassen, ist schon so was wie mullahseits erlaubte Prostitution.

Dementsprechend zahlt der Mann nicht nur an den Mullah, sondern vor allem, wie auch hier üblich, an die Frau, und es ist an ihr, ihren Marktwert zu kennen und ihren Lohn zu fordern. Das gibt ein Geschacher wie auf dem Markt/dem Bazar gebräuchlich. Der Film lässt die potentiellen und praktizierenden Sexpartner reden und zeigt den Mullah beim Geld einstreichen, zählen und bündeln. Nettes Geschäft? Eine Frau kommentiert, wie sie behandelt wird: „Vielleicht ist es wegen des Filmens, dass der Mullah so nett war. Sonst behandeln sie einen recht übel.'

Der Film beschränkt sich auf solche Sätze und auf die Bildsprache, um seine Position deutlich zu machen. Im Übrigen beschreibt er, wie die manifeste Frauenfeindlichkeit des Islams, Erlaubnisse hin, Erlaubnisse her, durchschlägt. „Bist du nun auf Seiten der Männer oder der der Frauen?“, unterbricht der Imam einen jungen Mann. Freund oder Feind?? Die Jugend ist es, die ungeduldig wird. „Im Gymnasium reden wir nur über Sex, auch über Homosexualität und Masturbation.“ – „Im Bazar der Gefühle“ informiert, zeigt ein Sittenbild und einen Ausblick. Zum Schluss sind wir online, und es wird gerappt („Iran“).

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/11

Die Vaterlosen

(A 2011, Regie: Marie Kreutzer)

Abschied von gestern
von Ulrich Kriest

Hans ist gestorben – und jetzt reisen seine Kinder mit ihren Partnern zur Beerdigung in die Steiermark an. Dass plötzlich mit Kyra eine weitere Schwester in der Tür steht, ist …

Hans ist gestorben – und jetzt reisen seine Kinder mit ihren Partnern zur Beerdigung in die Steiermark an. Dass plötzlich mit Kyra eine weitere Schwester in der Tür steht, ist nur die erste Überraschung. Viele weitere werden folgen, denn Hans war der charismatische Anführer einer Landkommune, der – wie es einmal heißt – alles toll fand, wenn es „antikapitalistisch, antiautoritär und zehn Meter von ihm entfernt“ war.

Revolutioniert werden sollte die Lebensform der Familie, aber die Sehnsucht nach Familie nagt hier von allen Seiten. Bezeichnenderweise ist es ausgerechnet die Außenseiterin Sophie, die noch immer behauptet: „Familie ist überbewertet.“ Man denkt unwillkürlich an Pia Marais‘ „Die Unerzogenen“, der ja auch mit Nachdruck einstige Utopien verabschiedete. Und richtig: Mit großer Geduld und einigen Rückblenden beobachtet die Österreicherin Marie Kreutzer ihr vorzügliches Ensemble dabei, wie in diesem leisen Familiendrama eine Leiche nach der anderen aus dem Keller geholt wird.

Am Schluss sind alle Karten neu gemischt und das dunkle Geheimnis um Kyra gelöst: vielleicht war das damals doch nicht so eine gute Idee mit der antiautoritären Erziehung. Vielleicht war es auch nur die Bequemlichkeit der Erwachsenen und Konfliktscheu die andere Seite der Medaille. Andererseits haben die alten Träume vom besseren Leben mehr Charme als die Gegenwart.

In Österreich wurde „Die Vaterlosen“ bereits mit Preisen geradezu überhäuft, was dann doch etwas erstaunt, weil der Film nach gut der Hälfte unvermittelt anfängt, in der Manier eines konventionellen Fernsehspiels ein Rätsel zu lösen – und seinen Kredit zu verspielen. Von diesem Moment an – und das kann einen schon sehr ärgern – wird hier alles sehr eindeutig, sehr unmissverständlich und was nicht passt, wird passend gemacht. Sogar wider die angelegten Möglichkeiten! So, als sei die antiautoritäre Erziehung nur ein anderes Wort für Vernachlässigung der elterlichen Aufsichtspflicht. Aber selbst das größte Unglück entspringt hier dem naiven Wunsch, Familie sein zu dürfen. Ein Blick in den Abgrund, vor dem Marie Kreuzer leider zurückgeschreckt ist. Am Schluss könnte diese seltsame Familienaufstellung problemlos auch ein Klassentreffen gewesen sein. Was es dann doch irgendwie nicht trifft.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Nader und Simin – Eine Trennung

(IR 2011, Regie: Asghar Farhadi)

Unlösbare Dilemmata
von Wolfgang Nierlin

Der Kontrast zwischen Hell und Dunkel, hervorgerufen durch die Belichtungsphasen eines Kopiergerätes, ist der Titelsequenz des Films unterlegt. Die Ausweispapiere der Protagonisten werden kopiert. Dementsprechend stehen gegensätzliche Einzelinteressen, gespiegelt im …

Der Kontrast zwischen Hell und Dunkel, hervorgerufen durch die Belichtungsphasen eines Kopiergerätes, ist der Titelsequenz des Films unterlegt. Die Ausweispapiere der Protagonisten werden kopiert. Dementsprechend stehen gegensätzliche Einzelinteressen, gespiegelt im Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, im Mittelpunkt von Asghar Farhadis sehr komplexem Film „Nader und Simin – Eine Trennung“, der mit dem Goldenen Bären der Berlinale ausgezeichnet wurde. Zu Beginn befinden sich mit den beiden frontal aufgenommenen Titelfiguren zwei solch kontrastierender Meinungen zur Anhörung vor dem Scheidungsrichter, der jedoch nicht zu sehen ist und dessen subjektive Perspektive in einer langen Plansequenz derjenigen des Zuschauers entspricht. Die Situation vor richterlichen Instanzen wird sich noch mehrmals wiederholen. Sie ist Ausdruck eines zunehmend vielschichtiger werdenden Entscheidungsdilemmas, in das die Figuren und mit ihnen der Zuschauer fast unentwirrbar verstrickt werden.

„Ich glaube, dass die heutige Welt mehr Fragen als Antworten braucht“, sagt der iranische Regisseur Asghar Farhadi über sein „dramatisches Rätselspiel“. Es geht also nicht um Entscheidungen oder Urteile, sondern um den Austausch von Meinungen und Perspektiven in einem prinzipiell offenen Prozess, in dessen Verlauf die ethischen, moralischen und religiösen Konflikte immer weitere Kreise ziehen. Je deutlicher dabei die Probleme hervortreten, desto unlösbarer erscheinen sie paradoxerweise, was Farhadi durch einen dynamischen Perspektivwechsel und räumlich verschachtelte Bildkompositionen inszeniert.

Vor allem der Bankangestellte Nader (Peyman Moadi) steht diesbezüglich unter enormem Druck, der von allen Seiten kommt, stetig zunimmt und vielschichtige Wirkungen entfaltet: Seine Frau Simin (Leila Hatami) will sich von ihm scheiden lassen und zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus. Nader muss sich nun allein um seine 11-jährige Tochter Termeh (Sarina Farhadi) und seinen gebrechlichen, an Alzheimer erkrankten Vater kümmern. Für dessen Pflege und den Haushalt engagiert er die schwangere, strenggläubige Razieh (Sareh Bayat), die den Job braucht, weil ihr arbeitsloser Mann verschuldet ist. Als Razieh unter Schwierigkeiten ihre Arbeit vernachlässigt und nach einer unglücklichen, von Missverständnissen geprägten Auseinandersetzung mit Nader ihr Kind verliert, kommt es zur Anklage und damit zur Aufdeckung immer neuer Zusammenhänge und schicksalhafter Koinzidenzen. Deren sozialer, gesellschaftlicher und religiöser Verortung im Spannungsfeld zwischen traditioneller und moderner Lebensweise, zwischen Schuld und Verantwortung, ist Asghar Farhadis Film mit beeindruckender Konsequenz auf der Spur.

Vampire Nation

(USA 2010, Regie: Jim Mickle)

Eckzahn statt Dollar
von Sven Jachmann

Erneut sind postapokalyptische Zeiten eingetreten und die Menschen vegetieren in unterschiedlichen Enklaven: manche gründen christofaschistische Sekten, andere ziehen sich in verkümmerte Suburbs zurück, wo, geschützt durch eine bürgerwehrähnliche Phalanx, eine …

Erneut sind postapokalyptische Zeiten eingetreten und die Menschen vegetieren in unterschiedlichen Enklaven: manche gründen christofaschistische Sekten, andere ziehen sich in verkümmerte Suburbs zurück, wo, geschützt durch eine bürgerwehrähnliche Phalanx, eine Miniaturökonomie rund um Kneipen, Supermärkte und Prostitution am Laufen gehalten wird – sogar Volksfeste sollen Normalität suggerieren. Ganz andere wiederum, wie die beiden Hauptfiguren „Mister“ (Nick Damici) und sein jugendlicher Zögling Martin (Connor Paolo), durchqueren, rastlos auf der Suche nach einem sicheren Unterschlupf, die gesellschaftlichen Überbleibsel Amerikas. Aneinander gebunden, weil „Mister“ gleich zu Beginn Martin unter höchst martialischem Einsatz das Leben rettete, während für Martins Eltern jede Hilfe zu spät kam, verdichtet sich in den beiden das Gesetz der Bewegung nach der humanitären Katastrophe: Die innere Suche nach dem Sinn des Überlebens korrespondiert mit der Reise durch den äußeren überlebten Raum – irgendwie will und muss man ins Irgendwo gelangen.

Ungefährlich ist das keineswegs: Aus unbekannten Gründen ist der Großteil der Menschheit zu recht animalischen Vampiren degeneriert, deren Verhalten und Aussehen sich allerdings nicht sonderlich von ihren sonst zombiefizierten Mitstreitern des Genres unterscheiden. Statt eines Kopfschusses will zwar nun wesentlich schwieriger ein Pflock mitten ins Herz platziert werden, das anschließend gerupfte Zahnpaar hat sich dafür aber in den meisten Regionen als weitaus beliebteres Substitut zur einstigen Geldwährung durchgesetzt. Abgesehen von diesen geringfügigen Modifikationen bleibt viel Patchwork, eine Motivengführung jüngerer wie älterer Doomsday-Erprobungen bis hin zum Klischee: der Mensch, der sich selbst in seinen der Gegenwart angepassten Re-Formationsversuchen die größte Gefahr ist (von „Malevil“ bis zu „The Road“), ein Clash der Generationen, in dem das gute Überleben verhandelt und gesucht wird (ebenfalls „The Road“), zunächst zielloser Überlebenskult, der womöglich eine spirituelle Mission bedeutet („The Book of Eli“, 'I am Legend') oder ein Coming of Age unter veränderten Lebensbedingungen (feuchtfröhlich in „Zombieland“, nihilistisch in „The Road“). Dazu bilden sich um „Mister“ und Martin Grüppchen, die nach kurzer Zeit aufgrund meist menschlicher Attacken wieder brutal auseinander gerissen werden; hinzu eilt außerdem die Liebe Martins zur schwangeren Countrysängerin Belle (Danielle Harris), die hingegen nicht lange währt. Nicht bloß, weil in dieser Welt das Überleben prinzipiell unter einem schlechten Stern steht, sondern weil sich das Drehbuch nicht scheut, die fahlen Trümmer der Postapokalypse und ihre vom traurigen Klavier- und Geigenspiel unterstrichene Elegie mit den ausnehmend eloquenten, rachsüchtigen und strategisch agierenden Vampir Jebedia (Michael Cerveris) anzureichern, der die Diskurse munter übereinander purzeln lässt und der Gruppe so lange zusetzt, bis das mittlerweile relativ eng geratene narrative Korsett den finalen Endkampf fordert. Eine notwendige Initiation letztlich, denn über sie wird der Weg, zumindest für Martin und eine schon bald neu gefundene Frau, ins New Eden geebnet, jenen verheißungsvollen Ort, der mutmaßlich ein Leben ohne Vampire verspricht. Ein Weg, den Martin allerdings ohne „Mister“ beschreiten wird. Mit dessen finaler Reife zum Mann erlischt auch „Misters“ Aufgabe – er verschwindet unangekündigt, und allein dieses pathetische Selbstopferung des bis zum Schluss geschichtslosen Lehrmeisters, der im Gegensatz zu Martin weder in einer Gesellschaft ankommen noch eine gründen kann, wiegt umso ärger, führt man sich vor Augen, wie noch jüngst das Siechtum in „The Road“ fern jeder Katharsis unweigerlich Vater und Sohn entzweite, wie grundständig rational darin zudem ein geplanter Selbstmord kommuniziert und sodann umgesetzt wurde. Der Erlöser- und Genre-Eklektizismus der „Vampire Nation“ verhält sich dazu wie eine ungewollte, todernste Parodie aller am Durchhaltewillen eher (ver)zweifelnden Beiträge des postapokalyptischen Strangs.

Waltz with Bashir

(IL / D / F 2008, Regie: Ari Folman)

Vergangenheitsbewältigung
von Dietrich Kuhlbrodt

Ja, so sieht Vergangenheitsbewältigung aus, wie sie bei uns nie passiert ist. Ari Folman, renommierter Regisseur im israelischen Fernsehen, geht in diesem animierten Dokumentarfilm der Frage nach, warum sein Gedächtnis …

Ja, so sieht Vergangenheitsbewältigung aus, wie sie bei uns nie passiert ist. Ari Folman, renommierter Regisseur im israelischen Fernsehen, geht in diesem animierten Dokumentarfilm der Frage nach, warum sein Gedächtnis einen Einsatz im Libanonkrieg ausgeblendet hat. 1982 in den Flüchtlingslagern von Sabra und Shatila. Er befragt ehemalige Kameraden. Zeitzeugen. Und er kommt dem Trauma auf die Spur – und seinen Albträumen. Die jungen Soldaten von damals nennen heute die Massaker beim Namen. Das ist hart. „Verbrechen“. „Völkermord“. Die autobiografische Reise in tiefe Bewusstseinsschichten produziert das bekannte Bild des kleinen Jungen, der mit erhobenen Händen im Warschauer Ghetto steht.

Zu den Erinnerungen gehören die Bilder von unbedarften jungen Leuten – „Ich war mir meiner Männlichkeit nicht sicher“ -, die auf dem Schnellboot Richtung Libanon eine Love-Boat-Party feiern mit klasse Rockmusik. Euphorisch ziehen sie in den Krieg. Mit einem Lied auf den Lippen. „Jeden Tag hab ich Beirut bombardiert. Unschuldige töten wir sicher auch. Aber ich lebe.“ Im Kasino zieht sich ein Offizier Pornofilme rein. Auf der Straße geht ein TV-Team unbeirrt durch den Kugelhagel. Kamerad Bashir steht „wie auf LSD-Trip“ allein auf einer Beiruter Straßenkreuzung. Er tanzt im Walzertakt. Blindlings in die Häuser ringsum schießend. Er wird ein Popheld. Im Hippodrom quälen sich halbtote Araberpferde; die anderen sind schon enthauptet; die Köpfe gepfählt.

Die Gräuelbilder sind dokumentarisch beglaubigt. Sie erinnern an Hieronymus Bosch, aber auch an die Jugendkultur der achtziger Jahre. Und sie sind durchsetzt mit Albtraumsequenzen, die im Laufe des Films real werden. Die letzten Bilder verlassen die Animation. Die Totenklagen der Mütter. Das Ende des Traumas.

Wie nebenbei klärt der Film die Rolle der Armee bei den Massakern in den Flüchtlingslagern, begangen von christlichen Phalangisten in israelischen Uniformen. Die Soldaten erhellten den Himmel mit Leuchtraketen und sahen zu, untätig. Ein Zeitzeuge berichtet, dass er nach einer halben Flasche Whisky Sharon angerufen und aus dem Bett geholt habe. „Arik, hör mal …“ – Antwort: „Vielen Dank für die Information und ein frohes Neues Jahr.“

Nochmal: deutsche Soldaten waren mit dem „Denn wir fahren, denn wir fahren, denn wir fahren gegen Engelland“ in den Krieg gezogen. Aber offenbar hatte kein Wehrmachtssoldat ein Trauma erlitten, das aufzuarbeiten gewesen war. „Waltz with Bashir“ ist ein mutiger, starker Film. Exemplarisch. Respekt!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2008

Wild at Heart

(USA 1990, Regie: David Lynch)

Mythen on Fire
von Andreas Thomas

In Dreams Beides ist ein Traum: „Der Zauberer von Oz“ von 1939 und David Lynchs „Wild at Heart“ von 1999. Beides ein amerikanischer Traum vom Weggehen, in „Der Zauberer von …

In Dreams

Beides ist ein Traum: „Der Zauberer von Oz“ von 1939 und David Lynchs „Wild at Heart“ von 1999. Beides ein amerikanischer Traum vom Weggehen, in „Der Zauberer von Oz“ eine Flucht vor einem grauen (schwarzweißen) Zuhause in eine technicolor-bunte Welt der Wunder. In „Wild at Heart“ ist es die Flucht in einen Traum von eben diesem Oz-Traum in Technicolor. Wenn im „Zauberer“ Dorothy sich in ihren Traum vom Wunderland flüchtet, dann flüchten sich Sailor (Nicholas Cage) und Lula (Laura Dern) in ihren Traum davon, jemand anderer zu sein, dem Wunderbares geschieht oder der wunderbar ist: Dorothy, Elvis Presley, Marilyn Monroe, Marlon Brando. Alles Märchenfiguren, egal ob sie einmal reale Menschen waren, oder Stars oder Mythen.

Pop-Mythen

Doch Sailor und Lula – und darin geht „Wild at Heart“ so weit wie kein Film vor ihm – fliehen ja in Wahrheit gar nicht in diese Klischees von Ikonen der Popkultur, denn sie verkörpern sie. Sie bestehen aus nichts anderem als Pop-Mythen und „Wild at Heart“ handelt nicht etwa von einer „wahren“ Geschichte zweier junger Leute, sondern davon, wie sich die Pop-Moderne, besonders die der fünfziger Jahre, zur Gegenwart des auslaufenden 20. Jahrhunderts verhält, wie sich der Mythos „Zauberer von Oz“, mit dem ganze Generationen in den USA heranwuchsen, der Mythos Elvis Presley etc. in einer Nachmoderne des Pop zu behaupten versucht, in der sich herumgesprochen hat, dass Pop-Ikonen nichts weiter repräsentieren als ihre eigene Zeichenhaftigkeit, dass eine Schlangenlederjacke nicht mehr für „Individualität und den Glauben an persönliche Freiheit“ steht, wie Sailor das noch ganz Marlon-Brando-mäßig empfindet. Eine Schlangenlederjacke ist ein Konsumprodukt, ein „Outfit“, keine Überzeugung, denn die Zeit der Überzeugungen, aber auch der Individualität, ist vorbei, seit aus Individuen Konsumenten geworden sind. Anders gesagt: Sailor und Lula existieren nicht. Können gar nicht existieren, nicht hier und heute. Weder als vorstellbare Figuren und auch nur noch sehr sonderbar und fremdartig in ihrer Eigenschaft als Mythen, wie sich zeigen wird. Ihr Erscheinen in einer „falschen“ Epoche ist ein gedankliches Experiment. „Wild at Heart“ ist ein Film darüber, wie Paradigmen verschiedener Zeiten zueinander passen oder eben auch nicht mehr passen, darin also eine Untersuchung von Kulturgeschichte. In dieser Eigenschaft ist der Film übrigens verwandt mit dem vergleichsweise harmlosen Film „Zurück in die Zukunft“, in dem die (Pop-)Kultur der achtziger Jahre sich mit dem Leben in den Fünfzigern auseinandersetzen muss – um wieder zurück in die Gegenwart zu gelangen …

Culture-Clash

In „Wild at Heart“ trifft die amerikanische Kultur der fünfziger Jahre auf eine ausgemacht bösartige amerikanische Kultur des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Sailor und Lula, die Inkarnationen amerikanischer Träume der Vergangenheit, sind wie Fremdkörper hineingeboren worden in eine verrohte Gesellschaft ohne Werte, Überzeugungen, Hoffnungen, in eine „Welt am Abgrund“, wie man häufig ziemlich abgedroschen und manchmal dennoch treffend zu sagen pflegt. Der Erde drohen fahrlässig herbeigeführte ökologische Katastrophen, wie die Folgen des „Ozonlochs“ (Lula: „Eines Morgens geht die Sonne auf und brennt wie ein Röntgenstrahl ein Loch in die Erde.“) und die dominierende Spezies auf dem Planeten scheint inzwischen das Raubtier Auto zu sein: Zweimal sehen wir den Schauplatz schlimmer, todbringender Verkehrsunfälle, einmal, wie in Godards „Weekend“, die in ihren Autos gefangenen, festsitzenden Menschen, ein alltägliches Bild, ein Stau. Dass das Auto auch die Freiheit der Ferne bringen kann, davon träumt nur noch der Mythos des Roadmovie und mit ihm Sailor und Lula, die sich in einem Fünfziger-Jahre-Cabriolet auf die Reise ins Glück machen – in der Ära multinationaler Konzerne ein reichlich blauäugiges Unterfangen, aber blauäugig sind unsere Helden eben auch.

Road-Movie

Die Flucht aus unschönen Verhältnissen führt im amerikanischen Film nicht selten in das Roadmovie – auch die „Yellow Brick Road“ im „Zauberer von Oz“ schließlich ist eine Straße, auf der Dorothy ihr Glück sucht, dem Unglück entflieht. So ist vielleicht der „Zauberer von Oz“ eines der ersten Roadmovies, und darin schon genau so ein amerikanischer Lösungs-/Fluchtversuch wie 1970 „Easy Rider“. In „Wild at Heart“ gelingt weder die (Ab-)Lösung, noch wirklich die Flucht. Nicht einmal der Weg ist das Ziel. Denn die (naiven) Idealisten Sailor und Lula sind inkompatibel mit der (erst in den Neunzigern so richtig anbrechenden – deshalb ist „Wild at Heart“ auch so visionär) Zeit des Turbokapitalismus, des Werteverfalls, des Endes der Utopien. Sailor und Lula sind „rasende Leichenbeschauer“, die Leiche ist ein Amerika der Perversion, der Gewalt und der Lust daran. Und wohin sie auch reisen, die „böse Hexe des Ostens“ begleitet sie und mit ihr der Tod und die Gewalt. Ein Märchen von der Hölle. Am Horizont steht die untergehende Sonne, aber das Auto ist zu langsam. Die Sonne holen sie nicht mehr ein, und ob ein neuer Tag kommen wird, das ist unwahrscheinlich. Rot, blutrot, feuerrot wie die Hölle ist der Himmel und so ist die Vergangenheit, der sie entkommen wollten.

Kein Ort – Nirgends

Beiden Film-Träumen voraus geht die Katastrophe. Im „Zauberer…“ wirbelt ein Sturm Dorothy aus ihrer gemeinen kleinen Mädchenexistenz in Kansas. Statt der Natur hat dagegen Menschengewalt dafür gesorgt, dass es in „Wild at Heart“ eigentlich gar kein Zuhause mehr gibt. Von bösen Menschen gelegtes Feuer hat das Haus von Lulas Vater – und den Vater mit – verbrannt. Lulas Freund Sailor ist verstrickt und mitschuldig an der Tat, ihre Mutter dafür verantwortlich. Weil seine Liebe zu Lula ihn zu einem moralischen Gewissen, zur Reue befähigt und zu einer Abkehr von seiner kriminellen Vergangenheit motiviert, will ihn Lulas Mutter umbringen lassen. Wegen seiner brachial-expressiven Notwehr wird er zum Totschläger – der Versuch der Sünde zu entkommen, führt zwangsläufig wieder zur Sünde. Das Böse in Sailors und Lulas Zuhause ist total, die einzige Verheißung einer Zukunft ist am Ende einer langen Straße, jenseits des Regenbogens, im Traum, im Mythos, schließlich in einem Klischee von „Freiheit und Individualität“. Das ist der einzige Ort, an dem sie leben können. Nur dort existieren sie, und wenn sie nicht mehr sich selbst erträumen, sind sie verloren in dieser (Lynchschen) Hölle von einer realen Welt.

Rock and Roll

Allein der Geist des in den fünfziger Jahren geborenen Rock and Roll scheint die Jahre überdauert zu haben und immer noch passende Antworten für sie bereit zu halten. Gleichberechtigt neben den für sie bedeutungsaufgeladenen Songs von Elvis („Warum singst du nicht für mich: Love me Tender, Sailor?' – „Love me Tender werde ich nur für meine Frau singen!“) steht die Speed-Metal-Band Powermad, Lulas und Sailors Lieblingsband. Und wo Elvis das Herz (und den Schmerz) intoniert, da bietet Powermad den zeitgemäßen Soundtrack zum Ausbruch in die Wildheit. Aber Elvis/Sailor ist im Gegensatz zum Anarcho-Headbanger, der auf dem Powermad-Konzert Lula belästigt, noch ein Mann mit Anstand und Prinzipien („Entschuldige dich bei der Dame!“) Dass er sich als Gentleman versteht (und Lula eigentlich Marilyn Monroe ist), verrät Sailor an anderer Stelle, als er ihr lächelnd sagt: „Gentlemen prefer blondes!“

Marlboro Country

Der Rock and Roll und die Wildheit sind es, die Sailor und (Be-Bop-A-)Lula mit dieser brennenden, apokalyptischen Welt verbindet: Alles steht in Flammen, das Vaterhaus, der Abendhimmel, aber auch die Marlboros, die Sailor raucht, seit er „vier war. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt schon an Lungenkrebs gestorben“. Sailor und Lula zelebrieren das Rauchen, als wäre der Rauch ihre Hauptnahrung und als wären sie einem Marlboro-Werbespot entsprungen. Das sich entzündende Streichholz in der Makroaufnahme ist gleichzeitig Zerstörung, aber auch eine energetische Explosion, reine Wildheit. Die Szene an der Tankstelle, mit der unablässig posierenden Lula, gelehnt an den Wagen, ist einer dieser Jeanswerbungen zum Verwechseln ähnlich. Auch hier funktioniert ihre Verortung in dieser Welt nur, wenn sie mediale Vorbilder, lässige und glückliche Idealtypen darstellen, besser: wirklich sind – und natürlich gerade, weil in Werbeflächen eben nicht viel wahres Sein drinsteckt, wirken sie auch so wie Parodien! Genau so, wie das Fernsehen eben nicht durch seine Nachrichten sondern nur mittels seiner Werbeblöcke Glück verheißt, ist Sailors und Lulas Glück nur in einer Welt der medialen Illusion denkbar.

No more Bethlehem

Je weiter sich die beiden von ihrem Zuhause entfernen, desto ähnlicher werden sie „normalen“ Menschen, und desto gefährdeter sind sie konsequenterweise auch. Lula wird schwanger, außer dem Mythos Maria geschieht so etwas keiner Idealgestalt, und wir wissen aus Anschauung, dass nicht der Heilige Geist da sein Ding im Spiel hatte. Beide sind nun ganz von ihren irdischen, materiellen Bedingungen abhängig und auf andere „normale“ Menschen angewiesen, und die sind entweder „normal“ verrückt oder „normal“ böse, also sehr böse – darin auch verzerrte, übertriebene, aber umso bedrohlichere Klischees dessen, was wir so über Psychopathen gehört haben. Dass ganz am Ende alles nicht so schlimm endet, wie es zwangsläufig müsste, dafür ist natürlich wieder ein Wunder verantwortlich. Das endgültig die beiden ins kleinbürgerliche Eheglück erlösende Wunder ist die Fee Laura Palmer, bzw. deren Darstellerin Sheryl Lee, die sozusagen in einem Gastauftritt direkt aus dem Himmel daran erinnert, dass Lynch kurz zuvor die erste Staffel von „Twin Peaks“ abgedreht hatte.

Psychotic Actors

An „Twin Peaks“ erinnert übrigens auch manchmal die Filmmusik von Lynchs Hofkomponist Angelo Badalamenti, besonders dann, wenn dieser morbide Nightclub-Swing ertönt.

Der Gangster Bobby Peru (Willem Dafoe), einer dieser allerliebst hochperfiden Lynch-Arschlöcher und die böse, hochneurotische Mutter-Hexe Mariella, von Diane Ladd (der echten Mutter von Laura Dern) hinreißend verkörpert, sind übrigens die beiden zweiten Stars des Films. Es muss ihnen einen diabolischen Spaß gemacht haben, so uferlos psychopathisch und krankhaft agieren zu dürfen – und zu können!, dass der Zuschauer am Ende nicht mehr weiß, ob er Angst haben oder sich totlachen soll, denn irgendwie ist alles ja auch so unwahrscheinlich wahrscheinlich. Eine ganz ähnliche Verwirrung der Gefühle machte übrigens später auch „Pulp Fiction“ zu einem Hit.

Postmodern

Diese Grenze zwischen dem Entsetzen (Gleich die erste Szene, in der Sailor zum Inbegriff eines Totschlägers wird, hat 1990 etliche Besucher der Erstaufführung in Cannes zum Verlassen des Saales veranlasst. Trotzdem erhielt der Film die ‚Goldene Palme’) und absurder, surrealer Komik, nie ist sie in „Wild at Heart“ wirklich aufzufinden, weil beides immer gleichzeitig auf uns lauert. Das war allerdings schon bei Lynchs erstem Film „Eraserhead“ nicht anders. Zugegeben: Der Schluss von „Wild at Heart“ tendiert schon ein wenig ins Lächerliche, aber der wahrhaft große Schritt, den Lynch mit seinem Film geschafft hat, ist der, dass er sich in ihm erstmals völlig von „authentischen“, das heißt hier, noch irgendwie vorstellbaren Figuren befreien und dennoch, auf einer Metaebene, eine faszinierende Geschichte erzählen konnte. Nicht mehr eine Geschichte über Menschen mit Macken und Problemen sondern eine Geschichte über Gesellschaft, über Kultur und Unkultur, über den Rock and Roll, über die fünfziger Jahre und was von ihnen blieb, über Amerika und über seinen Traum und seine Träume, über das Fernsehen und das Kino, und über das Ende der achtziger Jahre, das Ende des Träumens. Dass er dabei zufällig den „postmodernen Film“ schlechthin gedreht hat – ich glaube, David Lynch war und ist viel zu sehr mit seiner Arbeit, d.h. mit seinen Visionen und seinen Inventionen beschäftigt, als dass ihn das besonders irritieren würde.

Fazit

„Wild at Heart“ ist wie Elvis Presley und Marilyn Monroe, die durch ein Zeitloch von den Fünfzigern in die Achtziger lugen und sagen: „Wow! The whole world has been getting wild at heart and weird on top!” Hatte dieser Film noch parodistische Einschläge, produzierte der nächste Kinofilm von Lynch „Twin Peaks – Fire Walk With Me“ (1992) das endgültige Erschlaffen der Lachmuskulatur. In „Fire Walk With Me“ gibt es kein Aufbäumen der letzten teenage rebels mehr. Die Welt von „Fire Walk With Me“ hat weder eine Vergangenheit, deren Verlust noch zu beklagen oder überhaupt zu bemerken wäre, noch eine Zukunft, die einen Ausweg versprechen könnte. Sie ist nur noch eine reine kalte Gegenwart der Verlorenen.

Die Anonymen Romantiker

(F / B 2010, Regie: Jean-Pierre Améris)

Hochsensible Versteckspieler
von Wolfgang Nierlin

Zwar wird in Jean-Pierre Améris‘ charmanter Liebeskomödie „Die Anonymen Romantiker“ nur wenig gesungen, der Zauber und die Wärme des Films evozieren aber unverkennbar den Geist französischer Musicals in der Nachfolge …

Zwar wird in Jean-Pierre Améris‘ charmanter Liebeskomödie „Die Anonymen Romantiker“ nur wenig gesungen, der Zauber und die Wärme des Films evozieren aber unverkennbar den Geist französischer Musicals in der Nachfolge Jacques Demys. Schon das geschmackvolle Setting mit seinen malerischen Farben und der detailverliebten Ausstattung, deren Look eine heile Welt der 1950er Jahre beschwört, huldigt diesem unzeitgemäßen Genre. Noch mehr ist es aber die beschwingt kommentierende Musik, die den Film strukturiert und die durch prägnante Akzentuierungen zur Mitspielerin wird, die das Geschehen vorbereitet, begleitet oder dramatisch zuspitzt. Eine höchst dynamische, die parallelen Handlungen verbindende Montage fungiert als Pendant dieser Dramaturgie.

Das Nebeneinander- und Entgegensetzende einer solchen Ordnung ist auch nötig, denn die beiden liebenswerten Protagonisten Angélique und Jean-René, hervorragend verkörpert von Isabelle Carré und Benoît Poelvoorde, bewegen sich fortwährend aufeinander zu und voneinander weg. Die Anziehungs- und Fliehkräfte bilden in ihrem prekären Verhältnis quasi ein instabiles Gleichgewicht; was vor allem in beider hochsensiblem, äußerst empfindsamem Naturell begründet liegt, worauf der französische Originaltitel „Les émotifs anonymes“ anspielt. So ist Angélique in einer Schüchternheit gefangen, über die sie sich in einer Selbsterfahrungsgruppe austauscht, während Jean-René seine Panikattacken vor dem weiblichen Gegenüber bei einem Psychoanalytiker zu therapieren sucht.

Die Selbstsuggestion ist ein anderes Mittel der Wahl: „Ich öffne mich dem Leben“, heißt einer der gegen Schweiß und Angst gerichteten Sätze, die aus der Befangenheit führen und dem wechselseitigen Versteckspiel ein Ende setzen sollen. Schließlich könnte Angélique, wäre sie innerlich nicht gezwungen, ihre überragende Könnerschaft als Chocolatière zu verheimlichen, der angeschlagenen Schokoladenmanufaktur Jean-Renés wieder auf die Beine helfen. Und die Erotik des schokoladenen Genusses könnte wiederum vielleicht auch der Unbeholfenheit des Chefs Flügel verleihen. Doch erst im trauten Zusammensein wirkt ihre übliche Fluchtreaktion auf ambivalente Weise auch befreiend.

Beautiful Thing – Die erste Liebe

(GB 1996, Regie: Hettie MacDonald)

Everything's pukka!
von Carsten Moll

Voll schwul? Nein, Hettie MacDonalds Filmdebüt „Beautiful Thing“ gehört ganz den Schlampen, den slags und slappers und old bags. Das fängt mit der ersten Szene an, in der uns eigentlich …

Voll schwul? Nein, Hettie MacDonalds Filmdebüt „Beautiful Thing“ gehört ganz den Schlampen, den slags und slappers und old bags. Das fängt mit der ersten Szene an, in der uns eigentlich der Protagonist und Außenseiter Jamie beim Sportunterricht vorgestellt werden soll. Was hängen bleibt, ist aber vor allem die herrlich taktlose Sportlehrerin, tatsächlich leider nur eine kleine Nebenrolle. Aber gut, es dauert nicht lange und wir treffen auf Leah, Jamies schwarze Nachbarin. Sie ist vulgär, kriegt ihr Leben selbstbewusst nicht auf die Reihe und hört 'The Mamas and the Papas', so dass es die ganze Nachbarschaft mitkriegt. Zur Nachbarschaft gehört natürlich auch Jamies resolute Mutter Sandra, Alleinerziehende und Kellnerin mit jüngerem Hippiefreund an der Backe. Die anderen Damen aus der Nachbarschaft scheinen auch nicht ohne zu sein, der Umgangston ist rau, aber nicht herzlos. Der filmische Mikrokosmos ist in der tristen Londoner Vorortsiedlung Thamesmead angesiedelt und sein Herz sind eindeutig Leah und Sandra, die immer wieder aneinander geraten – auch wegen 'The Mamas and the Papas', deren Lieder fast den gesamten Soundtrack ausmachen. Aber was ist eigentlich mit den beiden Schwulen, um deren wunderschöne Sache es hier doch wohl gehen sollte?

Jamie und Nachbarsjunge Ste entdecken gemeinsam ihre Homosexualität, hadern ein wenig mit ihrem Schicksal, nähern sich vorsichtig an und werden schließlich zum Paar. Hier schwächelt der Film, weil er nicht überzeugend vermitteln kann, was ein Coming-Out bedeutet. Das zaghafte Annähern in Jamies Bett ist niedlich anzuschauen, aber alles in allem zu zahm und unproblematisch in Szene gesetzt. Passenderweise verzichtet der ansonsten starke Soundtrack nun auf Mama Cass und widmet den beiden Jungs ein etwas beliebiges und leicht kitschiges Thema von Komponist John Altman.

In einer Szene stellt Sandra ihren Sohn zur Rede, weil sie mitbekommen hat, dass er in einem schwulen Pub war. Er versucht, sich herauszureden, und fragt, wie sie überhaupt darauf komme, dass es ein Ort für Schwule sei. Sandra entgegnet ihm trocken: „Because it’s got a bloody great pink neon arse outside of it.” Und genau dieser leuchtende Neon-Hintern fehlt dem Film bezüglich der Inszenierung der Homosexualität. Klar, da leuchtet zu Beginn des Films ein Regenbogen über dem grauen Thamesmead, Jamie trägt ein T-Shirt mit Keith Harings Hunden, sogar eine Drag Queen hat einen kurzen Auftritt. Und dennoch bleibt das alles viel zu vage und austauschbar. Wo die anderen Charaktere sich mit Lust beschimpfen und aneinander reiben, bleiben Ste und Jamie immer eine Spur zu nett und naiv für zwei Teenager, frot kennen sie nicht einmal vom Hörensagen. Die Schwulen sind Jungs von nebenan, zufällig gay und größtenteils happy. Natürlich ist es löblich, die homosexuelle Liebe auf humorvolle Weise als beautiful thing darzustellen und nicht noch einen weiteren Problemfilm inklusive Suizidversuch zu machen. Doch wirkt das alles eindimensional und kraftlos im direkten Vergleich zu den komplexen Charakteren Sandra und Leah und ihrer Beziehung zueinander. Ihre Auseinandersetzungen bedeuten immer auch, sich mit der anderen auseinanderzusetzen, hinter den Kraftausdrücken verbirgt sich immer auch Zuneigung, die um die Uneigentlichkeiten der Sprache weiß. Der Reiz dieser Vieldeutigkeiten bleibt den schwulen Protagonisten verwehrt, Jamie versucht einmal verzweifelt teilzuhaben und beschimpft sich: „Coz I’m a queer! A bender! A poufter! A nobshiner! Brown hatter! Shirtflaplifter!“ So richtig hören will das aber niemand und es bleibt auch bloße Behauptung. Die nötige Portion Queerness, die der Film zu bieten hat, verdankt er Leah und ihrem Spiel mit Identitäten zwischen Mama Cass, Whiteface und vermeintlicher Lesbe. Jamie hingegen ist ein langweiliger Rücken-mit-Fußlotion-Einreiber, sein Charakter weitgehend uninteressant und nicht immer glaubwürdig. Der Film ist zu verständnisvoll und unterschlägt dabei die Problematik des Schwulseins, wo er es doch sonst immer wieder schafft, Abgründe wie Teenagerschwangerschaft, Drogenprobleme und Gewalt anzusprechen.

Vor diesem Hintergrund wirkt das umstrittene Finale auch ein wenig unmotiviert. Einige Kritiker bemängelten, dass der abschließende Tanz von Jamie und Ste auf einem Platz inmitten der Sozialbauten und vor gaffendem Publikum zu dick aufgetragen sei. In der Tat fürchtet man fast schon, es folgt ein gay pride samt Sponsorenbannern und – Gott bewahre! – anschließender Eheschließung. Man kann es diesen Kritikern nicht verübeln, dass sie die Szene nicht als Utopie erkannt haben. Wozu bedarf es noch eines Zukunftstraums, wenn doch eigentlich alles in Ordnung ist, immerhin gibt es im Kiosk sogar die Gay Times. Everything’s pukka!

Erkennt man die Utopie, wirkt die Szene eher einfach. Ein simples Tänzchen in der Öffentlichkeit kann so viel Subversion enthalten, wenn man weiß, wie schwer es ist, als Schwuler in der Öffentlichkeit auch nur Händchen zu halten und Pöbeleien ausgesetzt zu sein. Richtig ergreifend wird die Szene aber erst, als Sandra und Leah einsteigen und anfangen zu tanzen. „Dream A Little Dream Of Me“ von 'The Mamas and the Papas' verrät es schon, das ist ihre Szene und ihnen gehören auch die letzten Dialogzeilen, ein letzter liebevoller Schlagabtausch. Ohne die Schlampen wäre es halt langweilig.

Louise Hires a Contract Killer

(F 2008, Regie: Gustave de Kervern, Benoît Delépine)

Amoklauf mit Herz
von Dietrich Kuhlbrodt

Was tun, wenn die Krise des Kapitalismus einen persönlich erreicht? Die Belegschaft findet die Fabrik leergeräumt, die Manager verschwunden, sie selbst abgefunden mit einem lächerlichen Betrag. Also was jetzt. Sich …

Was tun, wenn die Krise des Kapitalismus einen persönlich erreicht? Die Belegschaft findet die Fabrik leergeräumt, die Manager verschwunden, sie selbst abgefunden mit einem lächerlichen Betrag. Also was jetzt. Sich empören? Zu wenig. Das Geld zusammenlegen und, ja was, einen Killer besorgen und mit denen von International Invest Schluss machen? Vorschlag ohne Diskussion angenommen. Michel, der Killer, erweist sich als Weichei. Die dicke Louise muss selber ran. In der Luxusvilla auf New Jersey läuft sie Amok, stoisch, voll konzentriert, erfolgreich. Ein sympathischer Amoklauf nach dem Herzen aller Zuschauer, mich eingeschlossen. Nicht nur weil der Überboss ein fetter Arsch ist, sondern weil das eine Tat ist. Die fällig ist.

Der französische Film spiegelt vorbildlich wider, wie dort zurzeit die Nicht-mehr-Arbeiter aktiv sind, Fabrikbesetzungen, Geiselnahmen, Bombendrohungen, der Reihe nach. Scherz dabei ist, dass nix propagiert wird, kein Pamphlet, keine Resolution, keine Emotionalisierung, kein Kommentar. Das schon deswegen, weil Louise nicht lesen kann, auch den Räumungsbefehl nicht. Kaum geht sie aus dem Hochhaus, wird es hinter ihr schon gesprengt. Sie verzieht keine Miene. Ein Sketch, diese Szene. Der Film besteht aus diesen Sketchen. Bitterbösen und immer hochgradig komischen. Vorm Trailer sind die Twin Towers nachgebaut. An einem Draht werden zwei Flugzeuge reingeschickt. Rumms. Der eine Turm explodiert. Der andere auch. Wieder kein Kommentar. Ein Spiel, ej. Ein Modell.

Louise (Yolande Moreau) also zieht im Gefolge von Michel (Bouli Lanners) ihr Ding durch, allein gelassen von Organisationen wie zum Beispiel Gewerkschaften. Sie kommen im Film realistischerweise nicht vor. Sie ist, ohne es zu wissen, eine Heldin wie die historische Louise-Michel (Originaltitel des Films!), die Rote Jungfrau, Attentäterin gegen Napoleon III. Der deutsche Verleihtitel spielt angemessen auf Aki Kaurismäki an („I Hired a Contract Killer'), den die Regisseure während des Drehs trafen. Der Witz ist jedoch, dass das perfekt ausdruckslose Gesicht nicht zum Mitleid einlädt, sondern zur anarchistischen Tat. Sich nicht klein kriegen lassen. Aber rumms machen. Da steckt in Frankreich ein Potential, das wir in unserm Einerlei des korrekten Films entbehren. Ich sach ja, „Louise Hires a Contract Killer“ törnt an. Auf die absurd-komische Tour.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 09/2009

Der Mann ohne Vergangenheit

(FIN / D / F 2002, Regie: Aki Kaurismäki)

Im B-System
von Dietrich Kuhlbrodt

Sollte sich einer unserer Defätisten, die dem Sozialismus hinterherweinen, diesen finnischen Sozialhilfeempfängerfilm ansehen, bekäme er einen roten Kopf. Aki Kaurismäki, Kommunist und Regisseur („Das Mädchen aus der Streichholzfabrik'), entzieht ihm …

Sollte sich einer unserer Defätisten, die dem Sozialismus hinterherweinen, diesen finnischen Sozialhilfeempfängerfilm ansehen, bekäme er einen roten Kopf. Aki Kaurismäki, Kommunist und Regisseur („Das Mädchen aus der Streichholzfabrik'), entzieht ihm die Zuständigkeit, die Arbeiterklasse zu organisieren. Stattdessen organisieren sich diejenigen, die Ernst Bloch die Erniedrigten und Entrechteten genannt hätte, die aber in Finnland von Amts wegen als B-Bürger verwaltet werden, ihr bisschen Glück selbst. Wobei es sich um den richtigen Freiraum in der falschen Misere handelt. Das fordert selbstverständlich die übliche Diskussion heraus. Das geht aber nicht, weil Kaurismäki durchs Wort nichts vermittelt. Es sehen sich zwei an, sie schweigen, sie wissen, dass das Glück naht. Unvermittelt. Und auf märchenhafte Weise weiß das der auch, der sich den Film anguckt. Das entzückt und befremdet den, der sich, eventuell probeweise, auf ein poetisches Sozialabenteuer einlässt, das all das Schlaue, das zum Lumpenproletariat geschrieben ist, zur Makulatur werden lässt, – wenigstens während der 97 Minuten im Kino. Wir sind auf einem ungefähren Null-Level, den wir auf unbestimmte Weise schon deswegen wiedererkennen, weil wir Filmbilder mit Vergangenheit sehen, die fünfziger Jahre möglicherweise. Kein Sex, keine Gewalt, keine Beziehungskrise. Der Mann ohne Vergangenheit (Markku Peltola) hat keine Erinnerung an die Gegenwart, und Aki Kaurismäki erinnert mitnichten an den gegenwärtigen Film. „Der Mann ohne Vergangenheit' ist ein B-Bürgerfilm.

Null. Ganz unten. Tabula rasa. Nichts wissen, nicht einmal den eigenen Namen. Auf der Intensivstation aufwachen. Weggehen. Die Verbände abwickeln. Was ist? Was kommt? Blank. Wir erfahren im Lauf des Films, aber das kommt spät, dass der Held, und ein Held ist er, aus ferner Provinz in die Metropole gereist war, hier sein Glück zu versuchen. Noch am Hauptbahnhof war er von Jungnazis zusammengeschlagen worden. – Ich erzähle das nicht gern, denn ich sehe Oliver Tolmein vor mir mit Aha-Landflucht und Gewalt-gegen-Minderheiten. Doch der Film macht das nicht zum Thema. Was wir wahrnehmen, ist, wie der Namenlose B-Solidarität erfährt, – von Jungs der Containersiedlung, vom Nachtwächter-Paar, von Mann und Hund der Schrottplatzsicherheit (jawohl, vom Wachhund) und vor allem natürlich von Kati Outinen, der Heilsarmistin. Liebe, ungesagt, herzlich, gemütvoll, bedroht und niemals weg. „Der Mann ohne Vergangenheit' ist der B-Liebesfilm.

Kaurismäki liebt die Menschen, die er zeigt. Und weil das so ist, gehören die Ungereimtheiten dazu. Sie sind liebenswert. Deshalb pflanzt unser Null-Level-Held, kaum quartiert er sich in einem leerstehenden Container ein, Kartoffeln vor der Haustür. Sein erstes Möbelstück ist eine Juke-Box. The Renegades, Blind Lemon Jefferson, Masao Onose. Auftritt die unsägliche Heilsarmeekapelle. Kati und die Essensempfänger starren trostlos vor sich hin. Noch wissen sie nicht, dass erfolgversprechende Latenzen lauern. Dass eine Kult-Bluesrock-Combo in der Gruppe (Marko Haavisto & Poutahaukat) steckt. Ein Manager muss her. Unser Namenloser managt sie. Die Kartoffeln wachsen, und der B-Held entdeckt, dass er schweißen kann. Er findet Arbeit. Sofort. So geht es zu im realistischen Sozialmärchen. Wer es sich ansieht, glaubt es sofort. Weil einer, der Mensch ist, nicht unrealistisch ist. Es geht glaubwürdig noch einen Schritt weiter. Zur Solidargemeinschaft des Subproletariats gehört ein gewiefter Rechtsanwalt, der uneigennützig ist. Ohne sich der Rechtsanwaltsgebührenordung zu bedienen, befreit er unseren Helden aus der Mühle der Strafjustiz. Das tut gut. Das ist schwer in Ordnung. Kaurismäki setzt seine B-Ordnung gegen das, was alle anderen als Verwaltungs- und Gerichts-Normalität ansehen.

„Der Mann ohne Vergangenheit', der Film vom Rand Europas, der Film über den Rand der Gesellschaft, der Film außer Rand und Band im Vergleich zu dem, was auf den Markt kommt, – er bekam dieses Jahr in Cannes den Großen Preis der Jury, und Kati Outinen wurde als beste Darstellerin ausgezeichnet. Hollywood wurde wach und versucht, Kaurismäkis Wunderkraft zu instrumentalisieren. Die Tageszeitung „Die Welt' preist den Film als „Ermutigung zur Existenzgründung'.

Bei so viel Einvernahme müssen wir tapfer sein und uns den Glauben nicht nehmen lassen, dass die Würde des/der Kaurismäki-Menschen unangetastet bleibt. Im B-System. Wo Tragödie und Farce, Mittellosigkeit und Lebensmut in eins aufgehen. – Wer so was Pathetisches schreibt, müsste sich schämen. Weil: Das tut man nicht. Wohl an, ich tu es doch. Aber nur, weil es Kaurismäki ist. Und „Der Mann ohne Vergangenheit'. Um es nicht bei der Lobeshymne zu belassen, schiebe ich Gründe nach.

Erstens: die Musik. Was Kaurismäkis ohnmächtige Menschen bewegt, das ist die Macht der Musik. Eine Macht, die nicht korrumpiert. Ein Walzer. Annikki Tähti, die immer noch Große der finnischen U-Musik, tritt solidarisch in der Heilsarmee-Combo auf. Sie singt ihr Muistatko Monrepos’n: Erinnerst Du Dich an Monrepos? Das war die erste goldene Schallplatte Finnlands gewesen. 1955. Die Basis, sich auf eigene Kraft zu besinnen.

Zweitens: 1955. Die Bilder. Ein halbes Jahrhundert Filmgeschichte vergessen. Mit der die B-Bürger nichts zu tun haben. Einfache, klare Szenarien, die nicht überwältigen, sondern Freiraum lassen. Auch dem, der zuschaut. Das Mainstreamkino und die Unterhaltungsindustrie hat abgedankt. Die globale Bildversorgung ist in diesem finnischen Film gekappt. Auf wundersame Weise verblassen Herablassungen wie Nostalgie, Provinzialismus, Regionalismus, lakonische Grenzästhetik. Nein, der neue Kaurismäkifilm ist eine einzige Einladung. Ein Programm. Die Bilder lassen Platz für unterschwellige, auch manifeste Komik. Für autonome Moral, nicht behauptet, aber gelebt. Wir können nicht anders, als die Menschen, die in einer fünfzig Jahre alten Ästhetik leben, für gegenwärtig zu nehmen. Wir zollen ihnen Respekt.

„Wir'. Das ist ein Schutzwort, es will den Leser vereinnahmen. Ich scheue mich sonst davor. Aber ich kann bei diesem ebenso schlichten wie ergreifenden Film nicht anders, als mich mit Leuten im Kino einszufühlen. Dreist, wahrscheinlich. Egal. Sowas kommt davon, wenn man von einem Film berührt wird. Ich versuche es noch einmal mit der Objektivität. Der Film „Der Mann ohne Vergangenheit' beschreibt wie kein anderer den ausgegrenzten Arbeitslosen, den Sozialhilfeempfänger. Er erspart sich Betroffenenleid. Er entwickelte stattdessen Empathie. Er heißt uns willkommen im Club, der längst die neue Normalität ist. „Ich könnte morgens nicht mehr in den Spiegel schauen, wenn ich jetzt keinen Film über Arbeitslosigkeit machen würde', hatte Kaurismäki vor einem halben Dutzend Jahren erklärt. Und: „Der Sinn des Lebens besteht darin, einen persönlichen Moralkodex zu entwickeln, der die Natur und den Menschen respektiert, und schließlich – ihn zu leben'.
– ihn zu filmen: „Der Mann ohne Vergangenheit'.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2002

Super 8

(USA 2011, Regie: J.J. Abrams)

Nostalgic Encounters
von Louis Vazquez

Regisseur und Produzent J.J. Abrams weiß, wie er Nostalgiker zu bedienen hat. Schon seine Neuinterpretation von „Star Trek“ (2009) versöhnte die anspruchsvollen alten Fans mit dem unbefangenen jungen Zielpublikum. Abrams …

Regisseur und Produzent J.J. Abrams weiß, wie er Nostalgiker zu bedienen hat. Schon seine Neuinterpretation von „Star Trek“ (2009) versöhnte die anspruchsvollen alten Fans mit dem unbefangenen jungen Zielpublikum. Abrams nahm die bekannten Charaktere ernst und verknüpfte darüber hinaus Insider-Referenzen, Stakkato-Action und Pathos so geschickt miteinander, dass am Ende fast alle zufrieden waren. Der Star-Trek-Mythos blieb allen Anpassungen an den Massengeschmack zum Trotz intakt.

Mit seinem neuen Film „Super 8“ hat sich Abrams erneut einem Phänomen gewidmet, das besonders die Generation der über 30jährigen noch gut kennen dürfte: Es handelt sich dabei um das von Steven Spielberg geprägte amerikanische Blockbusterkino der 1980er Jahre. Orientiert am Rekorderfolg von „E.T.“ (1982) richteten sich auch Filme wie „Back to the Future“ (Robert Zemeckis, 1985), „The Goonies“ (Richard Donner, 1985) oder „Gremlins“ (Joe Dante, 1984) in erster Linie an Kinder und Jugendliche, boten gleichzeitig aber gekonnt kalkulierte Familienunterhaltung. In der Regel führte nicht der damalige Hit-Garant selbst Regie, sondern seine Freunde Joe Dante, Robert Zemeckis oder Ron Howard, oft unter dem Dach von Spielbergs Produktionsfirma Amblin Entertainment. All diese Filme präsentierten quer durch verschiedene Genres die Abenteuer junger bzw. jugendlicher Protagonisten, wobei beschädigte Familienverhältnisse oft den Hintergrund der Geschichten bildeten. Es ging also im Wesentlichen um die Rettung der Familie – wie in Spielbergs eigenen Filmen.

Nun hat J.J. Abrams unter dem Dach von Amblin Entertainment und mit Spielberg als Produzenten einen Film geschrieben und inszeniert, der ganz bewusst diese Tradition wieder aufleben lässt. Konsequenterweise spielt „Super 8“ im Jahr 1979, natürlich in einer amerikanischen Kleinstadt. Im Zentrum steht eine Gruppe von Kindern, die wie die meisten der damaligen Amblin-Protagonisten perfekt den Vorstellungswelten einer jungen, filmbegeisterten Zielgruppe angepasst wurden: Sie sind Kinofans, interessieren sich vor allem fürs Horrorgenre und begeben sich als Amateurfilmer in die Fußstapfen von George A. Romero. Für einen Wettbewerb wollen sie einen Zombiefilm drehen, wie damals üblich auf Super 8. Und sie geben sich alle Mühe, Schauwerte aufzubieten, die sich ohne Budget realisieren lassen. Dabei geraten sie in ein ungeahntes Abenteuer, als sie bei einem nächtlichen Dreh zu Zeugen eines Zugunglücks werden und eine offenbar gefährliche, lebendige Fracht aus den Trümmern entkommt.

Man begegnet in „Super 8“ vielen Protagonisten, die man ziemlich genau so schon mal gesehen hat. Da ist der junge Held, der einen schrecklichen Verlust zu beklagen hat, denn natürlich ist auch „Super 8“ in erster Linie ein Film über Familienverhältnisse. Dann gibt es noch den sich cool gebenden dicken Jungen, der Regie beim Zombiefilm führt. Und den Verrückten mit der Zahnspange, der für die Film-Explosionen zuständig ist und seine Aufgabe mit großer Leidenschaft erledigt – vor 25 Jahren hätte wohl Corey Feldman diese Rolle gespielt. Die anderen Jungs aus dem Freundeskreis sind schon nicht mehr ganz so relevant. Einer kriegt irgendwann die Sympathien des tollen Mädchens ab, und es ist ziemlich klar, welcher das sein wird.

Man kann nicht unbedingt behaupten, dass die Figuren über die Typologie hinaus wirkliche Tiefe entwickeln, doch „Super 8“ stellt diesen durchaus klischeehaften Freundeskreis mit einer außerordentlichen Freude am Detail vor und profitiert dabei von seiner großartigen Besetzung. Newcomer Joel Courtney kann in der Hauptrolle neben einer erfahrenen Jungschauspielerin wie Elle Fanning durchaus bestehen, weil die Chemie stimmt.

Abrams gewährt den Zuschauern nach einer – wie schon bei „Star Trek“ – nahezu perfekten Exposition ein langsames, im heutigen Genrekino längst anachronistisch wirkendes Erzähltempo. Umso wirkungsvoller ist die erste (und letztlich schon größte) Actionsequenz des Films, gerade weil die Inszenierung des Zugunfalls für kurze Zeit mit dem sonst so konsequenten Retro-Stil bricht und ein lautes, überwältigendes Effektspektakel bietet. Ansonsten stützt sich der Film vornehmlich auf die Dynamik zwischen seinen Figuren und die langsame Entblätterung des Geheimnisses. Die Genreerzählung bietet somit zwar nichts Neues, wird aber so geschickt vorangetrieben, dass sie äußerst gut unterhält – wenn man sich nicht von Trailern oder geschwätzigen Vorabbesprechungen die Überraschung verderben lässt.

Ab und an gibt es Szenen gemäß der Inszenierkonventionen des Horrorfilms, wenn beispielsweise Nebenfiguren der geheimnisvollen Bedrohung zum Opfer fallen. Auch hier folgt „Super 8“ einer Tradition, waren doch schon die Regisseure der oben genannten Filme, insbesondere Joe Dante, stark vom Horror- und Science-Fiction-Film der 1950er Jahre geprägt und ließen sich einige (oft ironisch gebrochene) Gewaltspitzen nicht nehmen. „Gremlins“ etwa bot Anlass für Zensurdebatten. Noch grausiger war der eigentlich grundalberne Film „Indiana Jones and the Temple of Doom“ (Steven Spielberg, 1984), der zur Einführung der PG-13-Altersfreigabe in den USA führte. Doch wie schon in „E.T.“ ist das unbekannte Wesen in „Super 8“ nicht unbedingt die größte Gefahr für Leib und Leben, denn da ist auch noch das Militär, das kurz nach dem Zugunglück in die verschlafene Ortschaft einfällt. Verglichen mit dem Militarismus vieler zeitgenössischer Science-Fiction-Blockbuster ist diese skeptische Haltung ein wieder sehr modern wirkender Aspekt.

Leider hat das Drehbuch im letzten Akt einige Schwächen: Da stimmt das Timing nicht mehr, da wird über einige Unklarheiten mal eben mit Tempo hinweginszeniert, und die Auflösung schließlich strotzt vor Pathos. Doch selbst die Macken des Films sind nicht uncharmant. Die extra Schöpfkelle Schmalz etwa scheint doch seit „E.T.“ (zumindest gelegentlich) zur Signatur Spielbergs geworden zu sein. Und wer die Originale lieb gewonnen, mit ihnen vielleicht sogar seine ersten Kinoerfahrungen gemacht hat, dürfte gnädiger über „Super 8“ urteilen, der doch als Film für Nostalgiker so vieles richtig macht.

Abrams beendet seinen anspielungsreichen Film mit einer Liebeserklärung an den Amateurfilm, einer humorvollen Verneigung vor den jungen Filmnerds dieser Welt. Doch die scheinen wie das Super-8-Filmmaterial aus einer unwiederbringlichen Epoche zu stammen und bieten dem heutigen Publikum nicht genügend Projektionsfläche: An den amerikanischen Kinokassen hatte „Super 8“ längst nicht den erhofften Erfolg. Aber die Alten freuen sich: Ausnahmsweise mal keine Marvel-Comicvorlage, keine Überlänge, keine 3D-Brillen. Mehr retro geht doch gar nicht!

Angèle und Tony

(F 2010, Regie: Alix Delaporte)

Weder Fisch noch Fleisch
von Wolfgang Nierlin

Wer ist Angèle? Lange Zeit weiß man nur wenig über die schöne, von Clotilde Hesme gespielte Titelheldin in Alix Delaportes preisgekröntem Debütfilm „Angèle und Tony“. Dass sie 27 Jahre alt …

Wer ist Angèle? Lange Zeit weiß man nur wenig über die schöne, von Clotilde Hesme gespielte Titelheldin in Alix Delaportes preisgekröntem Debütfilm „Angèle und Tony“. Dass sie 27 Jahre alt ist, ohne Arbeit und feste Bleibe erfährt man zwischen den Zeilen; dass sie den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen hat und ihr kleiner Sohn Yohan (Antoine Couleau) bei den Schwiegereltern lebt, wirft Schatten auf ihre Vergangenheit. Offensichtlich war Angèle im Gefängnis, auch wenn man das ihrem schüchternen, zarten Wesen, ihrer zögerlichen, abwartenden Haltung und ihrem stets frischen Gesicht nicht recht abnimmt. Doch trotz aller Unbestimmtheit hat ihre Sehnsucht ein handfestes Ziel.

Gleich die erste Szene des Films, der klischeebeladen und etwas zäh eine verstockte Liebesgeschichte erzählt, zeigt Angèle beim schnellen Sex mit einem Fremden. Es ist diese offensive, pragmatisch eingesetzte Körperlichkeit, die den schweigsamen Fischer Tony (Grégory Gadebois) zunächst zurückstößt. Doch Angèle, die einen Mann und geregelte Familienverhältnisse braucht, um ihren Sohn zurückzubekommen, läuft ihm nach und drängt sich auf. Dabei wirkt sie in dem von Männern dominierten Milieu der Fischer im normannischen Küstenort Port-en-Bessin regelrecht deplatziert. Wie ein Fremdkörper bewegt sie sich durch die Szenen, seltsam ungelenk bleiben ihre Annäherungs- und Integrationsversuche als Fischverkäuferin, die ihre Gefühle entdeckt.

Immer wieder sieht man Angèle auf einem geklauten Fahrrad, wie sie angestrengt in die Pedale tritt. Was die Regisseurin Alix Delaporte hier metaphorisch redundant verdichtet, davon erzählt sie vorhersehbar und wenig überraschend in ihrem Film: Vom beschwerlichen Unterwegssein einer Frau zu sich selbst und zu den anderen. Doch den Figuren fehlt das Fleisch, ihre Gefühle hängen in der Luft, der Blick auf das soziale Milieu ist oberflächlich und die Lücken in der Erzählung sind leider leer. Bleibt die Botschaft, man müsse die Taschenkrebse von hinten packen, damit sie nicht zwicken.

Midnight in Paris

(USA / ESP 2011, Regie: Woody Allen)

The Bright Side Of Life
von Louis Vazquez

Wenn Woody Allen nach Lieblingsfilmen aus seinem Oeuvre gefragt wird, nach solchen, mit denen er besonders zufrieden ist, nennt er zuerst „The Purple Rose of Cairo“. Der Film aus dem …

Wenn Woody Allen nach Lieblingsfilmen aus seinem Oeuvre gefragt wird, nach solchen, mit denen er besonders zufrieden ist, nennt er zuerst „The Purple Rose of Cairo“. Der Film aus dem Jahr 1985 spielt in der Zeit der Depression und ist ein Märchen ohne Happy End, eine Tragödie, in der der Eskapismus keinen Ausweg bietet und selbst ein Wunder nicht aus den bitteren Lebensumständen befreit. Cecilia, gespielt von Mia Farrow, flüchtet sich vor ihrem trostlosen Alltag samt prügelndem Ehemann immer wieder ins Kino, in den gleichen Film, bis die Hauptfigur, der Abenteurer Tom (Jeff Daniels) sie von der Leinwand herab anspricht. Kurz darauf steigt er für sie sogar aus dem Film. Weil die anderen Filmfiguren erbost auf einer Fortführung der Handlung bestehen, die zahlenden Zuschauer sich schlecht unterhalten fühlen und das Hollywood-Studio einen Imageschaden befürchtet, kann die aufkeimende Liebe zwischen Tom und Cecilia nicht glücklich ausgehen. Auch weil Cecilia die falsche Entscheidung trifft und sich für die vermeintlich verlässliche Realität entscheidet: Der Schauspieler Gil, der Tom verkörperte und der sich Cecilia als „reale“ Alternative anbietet, gaukelt ihr Liebe nur vor, um das absurde Spiel zu beenden und seinen Ruf zu schützen.

Warum die Erinnerung an diesen Film? Weil Allens neues Werk wieder die für ihn so typischen Rückbezüge aufweist. In „Midnight in Paris“ flüchtet sich ebenfalls eine Figur aus ihrem zwar nicht bedrohlichen, aber unbefriedigenden Alltag in eine vermeintliche Idylle. Dort läuft längst nicht alles so perfekt, wie es anfangs scheint, und theoretisch hätte auch dieser Stoff eine gute Tragödie abgeben können. Doch Allen hat keine daraus gemacht, und das ist die eigentliche Sensation.

Wie in „The Purple Rose of Cairo“ zahlten sich zuletzt in vielen seiner Filme die Fluchten der Protagonisten in verrückte Ideen selten aus. Allens schon immer stark ausgeprägte Lust am Tragikomischen hatte eine ziemliche Schlagseite bekommen. Seine Figuren mussten meist damit rechnen, aller Hoffnungen beraubt zu werden. Der noch am ehesten lustig gemeinte Film der letzten Zeit, „Whatever Works“ (2009), basierte bezeichnenderweise auf einem 30 Jahre alten Drehbuch. Mit einem Film wie „Midnight in Paris“, einem leichten, witzigen und optimistischen Gegenentwurf zu „Purple Rose of Cairo“, war eigentlich gar nicht mehr zu rechnen. Doch Woody Allen wollte offenbar noch einmal mit guter Laune überraschen. Und das ist ihm so vortrefflich gelungen, dass „Midnight in Paris“ nicht nur dabei ist, Allens kommerziell erfolgreichster Film in den USA zu werden, sondern auch gute Chancen hat, ein unerwarteter, später Kandidat für die Woody-Allen-Lieblingsfilmliste zu werden. Musste der Filmemacher aber wirklich nach Paris, um zu diesem Optimismus zu finden? Brauchte er dieses kitschige Sinnbild europäischer Kultur, den Mythos dieser Stadt? Allen lässt es jedenfalls so aussehen.

Die Exposition seines Films zeigt das Postkarten-Idyll von Paris und lässt es in einer musikalischen Montage langsam Nacht werden – Mitternacht in Paris. Diese kleine Miniatur zum Einstieg wirkt als Reminiszenz an den Auftakt des Klassikers „Manhattan“ (1979) durchaus ironisch, zumal später im Film die Unmöglichkeit thematisiert wird, einer Stadt mit einem Kunstwerk gerecht zu werden. Allen weiß, dass er einen Mythos inszeniert, und er verweist darauf, dass er es schon immer so gehandhabt hat. Die Ästhetik des Films korrespondiert mit dem verklärten Blick seiner Hauptfigur, die die Stadt als Tourist erlebt: leuchtend braune, fast goldene Bilder eines Traums von Ort, pure Nostalgie. So weich sind die Konturen, dass sie aller von Blu-rays verwöhnten Blicke spotten. „Midnight in Paris“ wirkt wie aus der Zeit gefallen. Und passenderweise geht es in diesem Märchen genau darum.

Der Autor Gil (Owen Wilson) verdient gutes Geld mit bescheuerten Hollywood-Drehbüchern und ist trotzdem bzw. deswegen frustriert: Er träumt von einer Karriere als ernstzunehmender Literat und laboriert verzweifelt an seinem ersten Roman. Mit seiner Verlobten Inez, die aus reichem Hause kommt, verbringt er den Urlaub in Paris, denn Inez’ konservative Eltern sind dort geschäftlich unterwegs. Gil liebt die Stadt und träumt davon, in Paris zu wohnen – ganz im Gegensatz zu Inez, die ihn nur unterstützt, solange nicht seine etablierte Karriere den Bach runter geht. Plötzlich entdeckt Gil, dass ihn um Mitternacht ein Wagen in die 1920er Jahre bringen kann, wo er die Bekanntschaft mit vielen von ihm bewunderten Künstlern macht: F. Scott und Zelda Fitzgerald, Hemingway, Gertrude Stein, und viele mehr. Nicht zuletzt ist da auch noch Ariana (Marion Cotillard), eine von Picassos Musen. Wäre es nicht schön, einfach zu bleiben?

Die phantastische Reise zu einem idealisierten Ort, die ein wenig an die Kurzgeschichte „Die Tür in der Mauer“ von H.G. Wells erinnert, ist bei Allen kein Traumkonzept, sondern wird als faktischer, märchenhafter Zeitsprung präsentiert. Allen nutzt die Auftritte historischer Figuren für einige großartige Gags, die über Lacher beim bloßen Namedropping hinausgehen. So zeigen ausgerechnet die Surrealisten, denen sich der Zeitreisende eines Abends anvertraut, Verständnis für seine Probleme. Den Surrealismus selbst dagegen haben sie nicht unbedingt verstanden – Buñuel erweist sich in einer wunderbaren Szene als ziemlich schwer von Begriff.

Ausgerechnet am Ort seiner Sehnsüchte muss sich Gil von Gertrude Stein belehren lassen, dass eine defätistische Haltung ihn nicht weiter bringt und er seine Gegenwart nutzen muss. Der Optimismus, den Gil aus seinen Erfahrungen in der Vergangenheit für sein Leben gewinnt, wird aber nicht verabsolutiert – andere Figuren mögen es durchaus bevorzugen, ihrer Nostalgie nachzugeben, ihren Zwängen zu entfliehen und so ihr Glück zu finden. So hält Allen letztlich ein Happy End bereit, das fast alle Figuren mit einschließt – aber nur fast, denn eine böse kleine Pointe lässt er sich nicht nehmen.

Die Schauspieler in „Midnight in Paris“ werden wie oft in Woody Allens Filmen zu guten Leistungen angeregt, selbst in kleineren Rollen. Wie gehabt spielen sie viele längere, ungeschnittene Szenen – schon lange die bevorzugte Herangehensweise des Regisseurs. Herausragend ist freilich Owen Wilson, der allen Versuchungen zum Trotz seine Figur fast völlig ohne Woody-Allen-Manierismen auskommen lässt, die manch anderer Schauspieler gerne nachahmte, wenn Allen selbst nicht mitspielte. Keine Hektik, kein Dauerstottern, keine schlechte Kopie des Originals. Es wäre zu begrüßen, wenn Woody Allen in den 25 Jahren und 25 Filmen bis zu seinem 101. Geburtstag noch 25 Rollen für Owen Wilson parat hätte.

Als jemand, der Woody Allens Werk zugeneigt ist, möchte man dem Altmeister herzlich zu seinem Film gratulieren. Möge er tatsächlich weniger an der Welt leiden, als er bisweilen vorgibt. Sein Film jedenfalls macht diesbezüglich ein bisschen Mut. Es bleibt nur noch ein Wunsch: Falls es der Finanzierung eines zukünftigen Films behilflich ist und Allen tatsächlich mal in Berlin drehen sollte – diesbezügliches Interesse hat er ja bereits geäußert –, sollte der Kanzlerinnengatte eine kleine Nebenrolle bekommen. Die Bruni hat es schließlich auch nicht schlecht gemacht.

Barney’s Version

(CAN / I 2010, Regie: Richard J. Lewis)

Genussmensch mit großem Herzen
von Wolfgang Nierlin

Ein guter Whisky und eine stets qualmende Zigarre sind die Insignien, die Barney Panofsky (Paul Giamatti) Würde verleihen und sein Leben verschönern. Zweifellos ist der leicht übergewichtige Titelheld in Richard …

Ein guter Whisky und eine stets qualmende Zigarre sind die Insignien, die Barney Panofsky (Paul Giamatti) Würde verleihen und sein Leben verschönern. Zweifellos ist der leicht übergewichtige Titelheld in Richard J. Lewis‘ geistreich-witziger, von einem brillanten Schauspielerensemble getragenen Romanverfilmung „Barney’s Version“ ein Genussmensch, der das Leichte und das Schwere, Schicksalsschläge und Freuden in einer melancholischen Balance hält und dabei stark genug ist, nicht allzu viel Rücksicht auf den Ernst des Lebens zu nehmen. Sein unverhohlenes Desinteresse an seiner lukrativen Arbeit als Chef der kanadischen Filmproduktionsgesellschaft „Totally Unnecessary Productions“, die mit schlüpfrigen Soaps ihr Geld macht – weshalb sich Barney auch als „TV-Nutte“ bezeichnet – , ist direkter Ausdruck seiner leicht mürrischen, schnoddrigen Art. Tatsächlich ist Barney ein robuster Trinker mit großem Herzen und romantischer Seele, der sich mit konservativem Eigensinn und lockerem Lebenswandel den Konventionen widersetzt.

Seine Rückschau auf ein bewegtes Leben setzt die vom Titel implizierte subjektive Sicht gegen das öffentliche Bild seiner Person, das ein antisemitischer Polizist, der Barney eines Mordes verdächtigt, in seinen Memoiren zeichnet. Verstärkt wird die Subjektivität der Erinnerung noch durch die ersten Anzeichen einer Alzheimer-Erkrankung, die dem 66-jährigen Barney in der Rahmenhandlung zunehmend tragische Züge verleiht.

Von hier aus blendet der Film zurück nach Rom, wo Barney im Jahre 1974 mit dem Schriftsteller „Boogie“ (Scott Speedman) und dem Maler Leo (Thomas Trabacchi) ein wildes und freizügiges Bohème-Leben führt, das schließlich in der Verheiratung mit seiner schwangeren, psychisch labilen Freundin Clara (Rachelle Lefevre) kulminiert. Doch nach einer Totgeburt bringt sich die junge Frau um; und Barney kehrt nach Montreal zurück, wo er in das Filmgeschäft einsteigt und bald darauf eine reiche, gebildete Jüdin als „The Second Mrs. Panofsky“ (Minnie Driver) ehelicht. Noch während der Hochzeitsfeier begegnet er aber der Journalistin Miriam (Rosamund Pike), der Liebe seines Lebens, die er fortan umwirbt und nach seiner vom leichtlebigen Vater Izzy (Dustin Hoffman) abgesegneten Scheidung schließlich heiratet. Was als Liebe auf den ersten Blick mit vielen Versprechungen und Blumen beginnt, wird schließlich zu einer tiefen Lebensverbindung, die Barney mit romantischen Ausschließlichkeitsgefühlen nährt und damit gefährdet; und die noch in ihren Auflösungserscheinungen nicht wirklich scheitert.

Belgrad Radio Taxi

(RS / D 2010, Regie: Srdjan Koljevic)

Wie es der Zufall will
von Louis Vazquez

Das Problem von vielen Ensemblefilmen: Ständig müssen sich irgendwelche Wege kreuzen. Alles muss irgendwie zusammenhängen und im besten Fall überraschend sein. Trotzdem soll man als Zuschauer die Tüftelei nicht bemerken, …

Das Problem von vielen Ensemblefilmen: Ständig müssen sich irgendwelche Wege kreuzen. Alles muss irgendwie zusammenhängen und im besten Fall überraschend sein. Trotzdem soll man als Zuschauer die Tüftelei nicht bemerken, die erst eins zum anderen kommen lässt.

Auch das Drehbuch von „Belgrad Radio Taxi“ präsentiert ziemlich ironiefrei Kaskaden von Zufällen und setzt dabei auf Melodramatik statt auf Märchenhaftigkeit, so dass die nach Aussage von Autor und Regisseur Srdjan Koljevic realistisch gemeinte Geschichte so konstruiert wirkt, wie sie naturgemäß ist. Dazu kommen Figuren, die nicht immer nachvollziehbar agieren und bisweilen mysteriöse Entscheidungen treffen. Dies soll gewiss kein Plädoyer für eindeutig determinierte Charaktere vom Reißbrett sein, aber hier fehlt es dem Film schlichtweg an Konsequenz. Denn obwohl Koljevic versucht, sich nicht entlang ausgetretener Pfade zu bewegen und viele Ideen in seinen Film packt, bemüht er doch mehr als nur ein Klischee.

Das Leitmotiv des Films ist eine Brücke, die das alte Stadtzentrum Belgrads mit der Neustadt verbindet. Ein andauernder Stau erschwert den Übergang auf die andere Seite. Die Figuren, die Stellvertreter der serbischen Gesellschaft sein sollen, stecken nicht nur im Stau fest, sondern obendrein in verfahrenen persönlichen Situationen.

Aus einem Radiosender dudeln fröhliche serbische Schlager, während die Autos wie immer auf der Brücke warten müssen. Mit blutig geschlagener Nase, ein Baby im Arm, sitzt eine Frau im Taxi. Da macht der missgelaunte Fahrer eine verhängnisvolle Bemerkung: Sie solle bloß nicht die Polster ruinieren. Die Frau steigt aus, springt in den Fluss und lässt das Baby zurück. Dieses schockierende Ereignis verändert die Leben dreier Menschen, deren Wege sich – da haben wir es – schicksalhaft immer wieder kreuzen werden. Der Taxifahrer Gavrilo (Nebojsa Glogovac), ein Flüchtling aus Bosnien, will keinen Ärger mit der Polizei. Er meldet den Vorfall nur anonym und nimmt das Baby widerwillig mit zu seiner einzigen Vertrauten, einer Hure mit Herz. Die Lehrerin Anica (Anica Dobra) fühlt sich durch die Szene auf der Brücke an den Unfalltod ihres Sohnes erinnert und lässt kurzerhand an diesem Tag den Unterricht ausfallen. So kann sie auch den Avancen entgehen, die ihr einer ihrer jungen Schüler macht. Spontan schließt sich ihr die Apothekerin Biljana (Branca Katic) an, die beim Anblick der springenden Frau ihren aggressiven Verlobten sitzen ließ. Auch sie hat vor vielen Jahren jemanden verloren, den sie liebte.

Die drei Hauptfiguren, alle auf gewisse Weise in ihrer Vergangenheit gefangen, werden nun plötzlich gezwungen, den Blick in die Zukunft zu richten. Für sie ergeben sich neue, ungewöhnliche Beziehungen, die einerseits Probleme mit sich bringen, andererseits aber auch Entscheidungen erzwingen, vielleicht sogar alte Verwicklungen lösen können. Die letzten Tage des Schlagersenders, der abgeschaltet werden soll, bilden eine Art musikalischen Countdown und strukturieren den Film.

Die „Mischung aus ernsten, dramatischen Themen und leichtem Ton mit warmem Humor“, die Srdjan Koljevic anstrebt, gerät ihm leider nicht ganz ausgewogen. Ab und an gibt es zwar schön lakonisch inszenierte Details, aber meistens ist der Humor wenig subtil, hin und wieder chauvinistisch, und oft steht er im Widerspruch zur angestrebten Dramatik. Eine seltsame Pointe im Finale lässt den Film sogar fast zur Farce werden und fällt als krasser Tonbruch auf. Die politische Dimension des Films dagegen bleibt äußerst vage.

Das alles dürfte Freunde tragikomischer bzw. melodramatischer Liebesreigen aber nicht unbedingt abschrecken, von denen es einige zu geben scheint: „Belgrad Radio Taxi“ ist als „The Woman with a Broken Nose” überaus erfolgreich auf Festivals gezeigt worden. Der Film erhielt einige Auszeichnungen und teils begeisterte Reaktionen vor allem in Serbien. Möglich, dass einiges an Subtilität wie so häufig im Synchronstudio verloren gegangen ist.

Liberty Heights

(USA 1999, Regie: Barry Levinson)

Heute: Freude!
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein antirassistisches Gute-Laune-Märchen auf der Mainstreamschiene. 300 Oldtimer gegen Rassenhass. Im Nostalgie-Baltimore der 50er Jahre sitzt die Fun Generation in Pappas Auto (der Cadillac zu 1/2 Million Dollar das Stück) …

Ein antirassistisches Gute-Laune-Märchen auf der Mainstreamschiene. 300 Oldtimer gegen Rassenhass. Im Nostalgie-Baltimore der 50er Jahre sitzt die Fun Generation in Pappas Auto (der Cadillac zu 1/2 Million Dollar das Stück) und durchbricht die Rassenschranken, denn die grade einsetzende zeitgenössische Mobilität ist es, die nach dem Willen von Autor und Regisseur Barry Levinson („American Diner', „Tin Men') die unsichtbaren Mauern zwischen den Vierteln – den Juden, Christen, Schwarzen – zusammenbrechen lässt. Wir hören zwar noch im Dialog, dass Neger im hinteren Teil des öffentlichen Verkehrsmittels Platz zu nehmen haben, aber auch dass soeben eine Gerichtsentscheidung der schwarzen Chefarzttochter Platz im Weißengymnasium verschafft. Was wir jedoch sehen, ist, dass die gegenseitige ethnische und religiöse Abschottung in Baltimore nicht nur eine Frage des Straßenverkehrs, sondern auch eine solche der Generationen ist. Denn die Kids der 50er sind es, egal ob Jude, Neger oder Christ, die sich zusammenraufen, und was die Eltern von ihren Kindern lernen, ist siegen. Unser Held ist also ein Junge, er heißt Ben, und für ihn ist Adolf Hitler eine Witzfigur, grade richtig für den Halloween-Horror-Spaß. Die jüdischen Eltern finden die Hakenkreuzbinde am Sohnesarm gar nicht komisch; sie verstehen noch nicht, was es heißt, Ritter ohne Furcht zu sein. Die Balgereien zwischen Juden und Christen sind Jungssache; Ben lernt boxen und geht ganz allein Christenrüpel klatschen, sieben auf einen Streich. Ja, das Amerika von 2000 träumt nach wie vor seinen Traum. Auf der Freiheitshöhe triumphiert der Held der westlichen Welt. Ein Junge trägt jetzt die symbolische Fackel, und die 4000 Statisten, die der Film engagiert hat, jubeln ihm zu.

„Liberty Heights' ist nicht Historie; die Helden sind von heute; das erkennt man am Glamour der jungen Christen. Sie sind Super-Models von Calvin Klein (Mode und Parfum 2000). Das reicht, der Film braucht gar nicht mehr zu sagen: mitmachen!, und alle machen mit. Drum: Teilt man die Rassismusanalyse des Films, kann man an ihm nur seine Freude haben. Die Älteren sind schon sehr komisch, wenn sie die Kinder als „Kommunisten' verdächtigen oder mit ihnen den atomaren Ernstfall üben (Schulbuch übern Kopf halten). Auch gibt es viel zu lachen, wenn nach der verfrühten Ejakulation der Hosenschlitz feucht wird. Das Baltimore-Tableau der Ben’s-Time ist in allerlei Brauntönen detailreich und liebevoll ausgemalt; zwei weiße Jungs allein unter Negern im nachgestellten James-Brown-Konzert: Es geht nicht anders, man muss sie alle lieben – vorausgesetzt, man unterlässt das oben erwähnte elterliche Genörgel. Drum hat Produzentin Paula Weinstein das Schlusswort: 'Wenn all unsere Religions-, Rassen- und Klassenunterschiede wie in diesem Film im besten Sinne zusammenkommen, bieten sie Anlass zu großer Freude.'

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/2000

Trouble Every Day

(F / D / J 2001, Regie: Claire Denis)

Dying in your arms tonight
von Carsten Moll

“and then the weak were caught by the strong, and with a grinning aspect, first coupled with & then devour’d, by plucking off first one limb and then another till …

“and then the weak were caught by the strong, and with a grinning aspect, first coupled with & then devour’d, by plucking off first one limb and then another till the body was left a helpless trunk; this after grinning & kissing it with seeming fondness they devour’d too” aus: The Marriage of Heaven & Hell von William Blake

Aktuell sind Dominique Strauss-Kahn und das New Yorker Zimmermädchen in aller Munde, so scheint es. Da haben wir den neuesten Skandal, vorgetragen vom Chor der Empörung, den Medien, mal serviert als Gossiphäppchen, als Prominentenumfrage oder gar als moralinsaure Grundsatzdebatte einer ganzen Kultur. Viel Zwischenmenschliches wird dabei vors Blitzlichtgewitter gezerrt und zur öffentlichen Meinungs- und Urteilsbildung freigegeben, bevor der Prozess überhaupt begonnen hat.

Für einen etwas kleineren aber deutlich subtiler inszenierten Skandal sorgte vor rund 10 Jahren die französische Filmemacherin Claire Denis, als sie ihren Spielfilm „Trouble Every Day' in Cannes vorstellte. Der Film, der zeigt, dass Sex zu mehr als nur einem kleinen Tod führen kann, wurde von einem Großteil der Kritiker verrissen. Den einen galt er als zu intellektuell und langatmig, andere wiederum empfanden ihn als geschmacklos und unmenschlich. (Die Frage muss erlaubt sein: Was wäre ein menschlicher Film? „Forrest Gump'?)

Rekonstruiert man einen Plot für „Trouble Every Day', ähnelt er irreführenderweise frappierend einem Horrorfilm mit Anleihen an den Science-Fiction-Film. Der Film beginnt mit der Ankunft des jungen amerikanischen Paares Shane und June Brown (Vincent Gallo und Tricia Vessey) in Paris. Schnell wird deutlich, dass Shane von blutgetränkten Sexfantasien heimgesucht wird und seine krankhaften Gelüste nur mit Hilfe von Tabletten unterdrücken kann. Um seine Frau nicht zu gefährden, bleibt er sexuell abstinent. Parallel hierzu zeigt der Film die verzweifelten Versuche eines Wissenschaftlers (Alex Descas), seine Frau Coré (Béatrice Dalle), die an der gleichen mysteriösen Krankheit wie Shane leidet, zu Hause einzusperren. Coré verweigert die Einnahme ihrer Medizin und bricht immer wieder aus, um Männer beim Koitus durch Bisse zu töten. Bald wird klar, dass Shane und Coré eine gemeinsame Vergangenheit haben.

Es fällt schwer, „Trouble Every Day' zu beschreiben, da der Inhalt bruchstückhaft bleibt, Dialoge spärlich gesät sind und keine wirkliche Charakterzeichnung stattfindet. Vielmehr präsentiert Denis uns Motive und Situationen aus dem Horrorgenre, ohne dessen Gesetzmäßigkeiten und Konventionen zu folgen. Zusammen mit dem kongenialen Soundtrack der Tindersticks schaffen die Horrorelemente vor allem eine Atmosphäre der Melancholie, „Trouble Every Day' ist weniger Horror- als Liebesfilm, sich dabei aber bewusst, dass man auf den Schrecken nicht verzichten kann. Der Zugang zum Horrorfilm ist trotz dieser Metabetrachtung kein intellektualisierender, nie wird anhand von Subtexten ein Diskurs gesponnen und der Film zum moralisierenden Messagefilm. Der Film ist das, was er zeigt und mehr als am Intellekt ist ihm an der Bebilderung der Sinn- und Empfindlichkeit des menschlichen Körpers gelegen.

Dies wird auch in den zwei berüchtigtsten Szenen des Films deutlich: Die erste der beiden ist etwas länger und trifft den Zuschauer in ihrer Gnadenlosigkeit unvorbereitet. Ein junger Mann aus der Nachbarschaft dringt mit einem Freund in das Haus ein, in dem Coré eingesperrt ist. Beim Durchstöbern des Hauses stößt er auf die animalisch wirkende Frau und lässt sich von ihr verführen. Was als normaler Sex beginnt, wird rasch zum Todeskampf, als Coré beginnt, ihn durch Bisse immer mehr zu verletzen. Der Geschlechtsverkehr wird nie unterbrochen, harmloses Liebespiel und grausame Tötung gehen nahtlos ineinander über. Die zweite Szene zeigt schließlich Shane, wie er ein Zimmermädchen des Hotels, in dem er mit June wohnt, auf ähnliche Weise tötet. Es muss wohl Spekulation bleiben, welche Reaktionen vor allem diese zweite Szene in einem nach der Strauss-Kahn-Affäre entstandenen Film hervorrufen würde.

Fakt ist aber, dass beide Szenen sich nicht an der Grausamkeit ergötzen und den Schrecken ausstellen. Sie sind recht kurz gehalten, die Darstellung des Geschlechtsverkehrs gleitet nie ins Pornographische und auch Freunde von Splatter und Gore werden wohl nicht auf ihre Kosten kommen. Die Gewalt ist gleichermaßen faszinierend wie abstoßend, das Sterben hat sowohl etwas Erbärmliches als auch etwas Anrührendes. Zwischen den Polen Kannibalismus und Vampirismus wird die körperliche Liebe hier zu einer ganz eigenen Monstrosität, wo jeder Kuss zum Biss werden kann und mit dem Orgasmus der Tod kommt.

Trotz der hohen Intensität und des provozierenden Inhalts dieser Szenen ist der Rest des Films keinesfalls Leerlauf oder bloße Rechtfertigung für die „Schockszenen“. Immer wieder bietet „Trouble Every Day' Momentaufnahmen, die geradezu zärtliche Einblicke in den Alltag und die Beziehungen der Protagonisten erlauben. Da wäre das Zimmermädchen, das sich nach einem anstrengenden Tag die wunden Füße wäscht, Coré, die von ihrem Mann liebevoll vom Blut eines ihrer Opfer gereinigt wird oder die Bissspur an Junes Schulter, die von der unterdrückten Aggressivität ihres Ehemanns zeugt, die sie beide aushalten müssen.

Kamerafrau Agnès Godard leistet hierbei hervorragende Arbeit, speziell die Aufnahmen der Körperlandschaften stechen hervor. In einer Kultur, in der die pornografische Pose längst im Alltag angekommen ist und wo jede Brust an die optimale Stelle gephotoshoppt wird, darf es als Leistung gelten, den menschlichen Körper so zu filmen, als sähe man ihn zum ersten Mal. Hier herrscht eine angenehme Verwirrung, die sich jeder platten Eindeutigkeit entzieht. Überhaupt ist es eine große Leistung von „Trouble Every Day', sich durch seine offene Struktur von Stereotypen und Klischees loszusagen. Mann wie Frau werden hier zum Tier – falls es überhaupt einen nennenswerten Unterschied geben sollte zwischen Mann und Frau, zwischen Mensch und Tier.

„Trouble Every Day' erzählt davon, wie schwierig es ist, Intimität herzustellen und zu bewahren und gegen welche Unmöglichkeiten Zweisamkeit bestehen kann. Der Skandal ist ein anderer.

Kleine wahre Lügen

(F 2010, Regie: Guillaume Canet)

Großer Liebeskummer, kleine Lebenslügen
von Wolfgang Nierlin

Das Stärkste an diesem Film ist sein Anfang: In einer langen Plansequenz folgt die Kamera einem Mann namens Ludo (Jean Dujardin) durch die stickige Enge einer lauten, von ausgelassener Stimmung …

Das Stärkste an diesem Film ist sein Anfang: In einer langen Plansequenz folgt die Kamera einem Mann namens Ludo (Jean Dujardin) durch die stickige Enge einer lauten, von ausgelassener Stimmung und drogenseligen Partypeople erfüllten Diskothek hinaus in die frische, kühle Nachtluft eines dämmernden Morgens, an dem Ludo, ein überschwänglicher, leidenschaftlicher Typ, kurz darauf auf seinem Motorroller lebensgefährlich verunglückt. Es ist dieser jähe Kontrast zwischen Euphorie und Trauer, der in den schockstarren Augen seiner Freunde nachwirkt, die sich am nächsten Tag an Ludos Krankenbett versammeln. Die Zerbrechlichkeit des Lebens sowie der Umgang damit unter Freunden steht also am Beginn von Guillaume Canets Tragikomödie „Kleine wahre Lügen“ (Les petits mouchoirs), seinem nach eigener Auskunft bislang persönlichsten Film, der in seinem Herkunftsland Frankreich zum Publikumserfolg avancierte.

Die bunt zusammengewürfelte Clique entscheidet sich mit halb schlechtem Gewissen zunächst für die gemäßigte Verdrängung und beschließt, die gemeinsamen, schon zur Tradition gewordenen Ferien in einem Strandhaus am Cap Ferret auf zwei Wochen zu verkürzen. Doch schon diese Prämisse, die aus einer Freundesclique eine Art Ersatzfamilie konstruiert, wirkt leicht aufgesetzt. Am traumhaft schönen Ferienort an der südwestfranzösischen Atlantikküste angekommen, den Canet in ekstatischen Bildern filmt, setzt die raum-zeitliche Verdichtung der Gruppenbeziehung erwartungsgemäß dynamische Prozesse in Gang. Flankiert vom Sound der sechziger Jahre, wird in ihnen das Unausgesprochene virulent, führen Geständnisse und Streitereien zu Verletzungen, verlieren Gesten ihre Unmittelbarkeit und Unschuld.

Vor allem in der Beziehung zwischen dem ebenso reichen Restaurantbesitzer wie pedantischen Gastgeber Max Cantara (François Cluzet) und dem unglücklich verheirateten Chiropraktiker Vincent Ribaud (Benoît Magimel) wird das offensichtlich, als nach fünfzehn Jahren Freundschaft der eine dem anderen seine Liebe gesteht. Das Tabu wirkt so stark, dass es den ob dieser Eröffnung aufgewühlten, gar geschockten Max in Dauerstress und erhöhte Reizbarkeit versetzt. Das Gefühlsdilemma wird im Weiteren jedoch kaum entwickelt, sondern in einer Reihe teils komischer, teils dramatischer Begebenheiten perpetuiert.

Auch die vom Titel evozierten Lebenslügen der Generation Mitte Dreißig erschöpfen sich weitgehend in kleinen und großen Liebesdramen und unbewältigtem Liebeskummer. Vor allem die sensible Ethnologin Marie (Marion Cotillard) und der schauspielernde Frauenheld Éric (Gilles Lellouche) schaffen es diesbezüglich nicht, eine feste Bindung einzugehen. Sie haben, wie es einmal heißt, „kein Vertrauen in die Liebe“. Dass schließlich erst im gemeinsam erfahrenen Unglück Selbsterkenntnis reift und Versöhnung möglich wird, ist vor allem dem übersteigerten Pathos dieses mit freundlich-plakativem Witz und triefender Sentimentalität unterhaltenden Ensemblefilms geschuldet, weniger seinem Anspruch auf Wahrhaftigkeit.

Willkommen in Cedar Rapids

(USA 2011, Regie: Miguel Arteta)

Zwangs-Sozialisierung eines Provinzspießers
von Michael Schleeh

Die schrägen Typen, die Nerds und Geeks und Freaks haben sich mittlerweile bestens in die Tradition der zeitgenössischen, amerikanischen Jungskomödie eingeschrieben. Die mal, wie hier, etwas zahmer ausfällt oder dann …

Die schrägen Typen, die Nerds und Geeks und Freaks haben sich mittlerweile bestens in die Tradition der zeitgenössischen, amerikanischen Jungskomödie eingeschrieben. Die mal, wie hier, etwas zahmer ausfällt oder dann deutlich infantiler, mit mehr Pimmelwitzcontent, wie bei Judd Apatow-Produktionen oder in den „Hangover“-Filmen. Der Held verlässt seine Heimat und macht allerlei turbulente Erfahrungen in der Fremde. Hinterher hat man dann, wie im Entwicklungsroman, etwas dazugelernt oder kommt zumindest mit einem blauen Auge wieder aus der Chose heraus. „Willkommen in Cedar Rapids“ ist einer der gelungeneren Vertreter seiner Gattung.

Tim Lippe (gespielt von Ed Helms, dem unterdrückten Zahnarzt aus „The Hangover“) muss auf Geheiß seines Chefs nach Cedar Rapids: zum großen alljährlichen Treffen der Versicherungsmakler. Und dort soll er mit einem Vortrag, ganz so wie es seinem Vorgänger bereits zweimal gelang, die höchste Auszeichnung der Branche für das eigene Unternehmen nach Hause bringen. Blöd nur, dass es sich bei Tim um ein echtes Muttersöhnchen handelt, das noch nie sein piefiges Kaff in Wisconsin verlassen hat und dessen größtes Abenteuer eine mutterkomplexbeladene Affäre mit seiner ehemaligen Lehrerin (Sigourney Weaver) ist. Bereits das Einchecken am Flughafen entlarvt ihn als Businessfrischling, wie auch die Ankunft im Hotel. Da auch noch dummerweise alle Zimmer überbucht sind, darf er mit zwei Kollegen das seinige teilen. Einer der beiden ist ausgerechet das bad animal der Makler-Szene, „Deanzie“ (John C. Reilly), ein Partymonster vor dem Herrn, einer, der kein Blatt vor den Mund nimmt, und vor dem ihn der Chef ausdrücklich gewarnt hatte. Keine Frage: auf den braven Tim Lippe kommt an diesem Wochenende nicht nur der Kampf um die Trophäe zu – nein, hier muss er auf allen Gebieten über sich hinauswachsen und seinen Mann stehen. Ganz wörtlich zu verstehen, natürlich, im Humor des Films gedacht.

Und es ist dem Film schon anzurechnen, dass er nicht zu einer schenkelklopfenden Achterbahnfahrt für Spätpubertierende mit Machoallüren geworden ist. Arteta inszeniert mit viel Gefühl für die Details, die kleinen Gesten, das Stocken mitten im Wort, und natürlich auch für die gut gesetzten, kuriosen Wendungen. Klar, dann geht es auch mal mit Vollgas auf die White-Trash-Punkrockparty (oder auf das, was sich die Produzenten darunter vorstellen), wo bei lauter Gitarrenmusik bis zur Schlägerei gefeiert wird, oder mit der Kollegin (Anne Heche), ordentlich Alkohol im Blut, in den hoteleigenen Pool hinein, was den verstockten Tropf aus seiner Schüchternheit lockt. Der Plot, so schematisch und vorhersehbar er ist, zerfällt jedoch nicht in einzelne, willkürliche Klamauk-Episoden, sondern jede Szene ist in den größeren Kontext eingebunden und dient dem Film. „Willkommen in Cedar Rapids“ weiß also durchaus zu unterhalten, vor allem, da auch das Schauspielerensemble auf hohem Niveau agiert.

Und dann, am Ende, hat Tim Lippe schließlich noch seinen großen Auftritt, bei dem er ans Mikrophon tritt und aus einem kalauernden Wortspiel heraus die dubiosen Machenschaften seiner Branche aufdeckt, sie in nur wenigen Sätzen demontiert. In dieser Rede findet der Held nicht nur zu seiner Größe und damit zur Erfüllung seiner Aventiure, sondern er findet vor allem auch zu sich selbst. Ob man dem Film damit gerecht wird, wenn man ihn nun als politischen Kommentar zur wirtschaftlichen Lage seines Landes liest, soll dahingestellt sein. Der Held hat sich am System gerieben, er hat sich als moralisch stärker erwiesen und reitet (diesmal im Flugzeug) zurück auf seine Ranch in den Sonnenuntergang hinein. Es liegt eine güldene Zeit vor uns. Wir müssen nur an uns selber glauben. Also auf nach Cedar Rapids, Osnabrück, Erfurt, Ulm oder Rostock. Der Abspann verspricht ein Happy End!

The Limits of Control

(USA 2009, Regie: Jim Jarmusch)

High Resolution Revolution
von Kai Ehlers

„How did you get in here?' – „I used my imagination.' Dann wird Bill Murray, der hier auf wunderbar ironische Weise das sich selbst verschlingende Kontrollstreben inkarniert, von seinem Widersacher, …

„How did you get in here?' – „I used my imagination.' Dann wird Bill Murray, der hier auf wunderbar ironische Weise das sich selbst verschlingende Kontrollstreben inkarniert, von seinem Widersacher, dem „lone man', der Hauptfigur des Films (Isaach De Bankolé), klanglos erdrosselt.

Der Epilog zeigt, wie der Auftragskiller mit dem ebenmäßigen Gesicht seine Arbeitskleidung, einen Anzug, gegen legere Freizeitkleidung tauscht, die ihm – endlich – menschliche Züge verleiht. So geht er ein letztes Mal ins Madrider Museum Reina del Sofia, um sich ein Bild anzuschauen. Diesmal ist es „Gran Sabana' („das große Laken'/„die große Ebene') von Antoni Tàpies. Zu sehen ist ein weißes Laken, das mitsamt Knittern auf einer Leinwand klebt. Die sich unwillkürlich aufdrängende Frage ist, was verbirgt sich dahinter? Das Bild verweigert die Antwort. Der Film gibt wenigstens einen kurzen, dafür umso wichtigeren Hinweis: Als der „lone man' in der Schlusseinstellung den Flughafen verlässt und das hereinfallende Licht das Bild zu überstrahlen beginnt, verliert die Kamera ihren Halt. Die strenge Kadrage, die dem ganzen Film seine bisher fast starre Form verliehen hat, beginnt zu zu wanken: Die unkontrollierbare Wirklichkeit bricht herein und reißt die Form mit sich.

Dieser Moment bewahrt den Film davor, nur ein formentheoretisches Experiment zu sein. Und ein Cineast wird sein Vergnügen haben an der Frage, ob diese Aufnahme beabsichtigt war oder einfach nur das übliche Stück unkontrolliert belichteten Films bis der Kameramann nach dem „Cut' den Stoppknopf gefunden hat. Aber selbst wenn es so wäre, ist es genau das, was Jim Jarmusch, wenn man ihm glaubt, am Drehen so fasziniert: der Moment des Kontrollverlusts. Die Magie, die entsteht, wenn gute Vorbereitung gleichzeitig Raum für Improvisation oder auch den Zufall lässt.

Die Dialektik von Kontingenz und Form kann man als Jarmuschs Thema bezeichnen. Die Radikalität, mit der er es in „The Limits of Control' behandelt, ist neu. Er versucht nicht mehr, uns in eine Geschichte einzubetten, um nebenbei philosophische Fragestellungen auf seine lakonisch-ironische Weise aufzuwerfen. Nein, die rudimentäre Erzählung ist nur noch Tribut an seine künstlerische Herkunft. Er verweigert uns die risikofreie Konsumentenhaltung. Stattdessen präsentiert er uns einen Helden, an dessen maskenhaften Zügen wir abprallen. Dieser coole Typ, der genau weiß, was er will, und seinen Grundsätzen nie untreu wird (bei der Arbeit kein Sex, keine Waffen, keine Handys), durchläuft keine Entwicklung, mit der man sich als Zuschauer identifizieren könnte. Er fungiert eher als ein großes Fenster, durch das wir auf die Welt und vor allem auch auf uns selbst schauen. Somit sind wir, sobald wir dieses fast epische Angebot annehmen, die Helden des Films.

Als solche lässt uns Jarmusch an der Reise teilhaben, die der Killer auf dem Weg zu seinem Opfer zurücklegt. „Lone man' trifft verschiedene Boten, eigenwillige Typen (Tilda Swinton, John Hurt, Gael García Bernal, Luis Tosar), die ihm jeweils ein Teil des später benötigten Codes aushändigen. Diese Treffen laufen immer gleich ab: Es gibt ein festes Erkennungsritual, die Übergabe des Codes und das Philosophieren des Boten über seine jeweilige Lebenssicht. Darin lässt sich das unermüdliche menschliche Ringen um das Begreifen der Welt erkennen. Hier leidet der Film etwas am Parabelhaften. Die mantraartige Variation ihrer gemeinsamen Einsichten wie „die Realität ist beliebig', „wer glaubt, etwas besonderes zu sein, soll auf den Friedhof gehen', ermüdet, funktioniert aber doch als Gegenentwurf zum Antipoden, der sich im Kontrollwahn in einem Hochsicherheitsgebäude verschanzt hat.

Touchiert Jarmusch hier die Grenze zum politisch-didaktischen Kitsch, rettet er sich und uns mit der Reaktion seines Helden: Mit „I am among no one', der klaren Abgrenzung des Killers vom Versuch einer Botin, ihn für ihre Philosophie zu vereinnahmen, bleibt die Integrität des Einzelnen unangetastet. Das ist es, womit es Jarmusch ernst ist, und er macht es für uns erfahrbar, wenn er uns mitnimmt ins Museum:

Dreimal betrachten wir vor dem Mord zusammen mit dem „lone man' einzelne Bilder. Das sind ein kubistisches Gemälde von Juan Gris, ein Akt von Roberto Fernández Balbuena und eine Vedute von Lopez Garcia. Und wie selten im Kino schafft Jarmusch es, die Kunst neben dem Film existieren zu lassen und sie nicht ihrer Dimensionen zu berauben, indem er sie instrumentalisiert. Er entwickelt einen Dialog zwischen Bild und Film, der sich kaum beschreiben lässt. Zwar tauchen einzelne, übersetzte Elemente der Bilder in der Handlung auf, so eine mysteriöse Nackte (Paz de la Huerta), die Bedeutung aber ist nie eindeutig, sondern behält stets die der bildenden Kunst eigene Offenheit. Doch der bemerkenswerteste Effekt ist die Erhöhung der optischen Auflösung beim Zuschauer. Auf einmal kommuniziert nicht nur das Drehbuch, also der „bebilderte Text' mit uns. Die Bilder beginnen ihre eigene Erzählung, die nicht sklavisch an die Filmhandlung gekoppelt ist. Sie erinnern uns an das, was es zu verhüllen oder in eine Form einzufangen gilt, um es anschauen zu können: das Leben mit seinen unendlichen Möglichkeiten.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Der Geist des Bienenstocks

(ESP 1973, Regie: Victor Erice)

Sie sind nicht gestorben, sie leben noch heute!
von Carsten Moll

Dass Victor Erices Spielfilmdebüt „Der Geist des Bienenstocks“ das Werk eines ehemaligen Filmkritikers ist, verwundert kaum. Ist sein Film doch zugleich beseelt von der Liebe zum Kino, reich an Assoziationen …

Dass Victor Erices Spielfilmdebüt „Der Geist des Bienenstocks“ das Werk eines ehemaligen Filmkritikers ist, verwundert kaum. Ist sein Film doch zugleich beseelt von der Liebe zum Kino, reich an Assoziationen und hinterfragt dabei die Bedeutung des Sehens zwischen Wahrnehmung und Imagination, Fakt und Deutung. Immer wird eine kritische Distanz zum Geschehen gewahrt, die Struktur bleibt episodisch, die Kamera statisch, als fürchte sie sich in Anbetracht der Schönheit der Bildkompositionen im Fokus zu verlieren. Der Blick ist trotzdem kein unterkühlter, manchmal fast schon ein liebevoller. Beispielhaft sind die Großaufnahmen vom Gesicht der jungen Hauptdarstellerin Ana Torrent beim erstmaligen Betrachten der leuchtenden Kinobilder aus James Whales „Frankenstein“. Treffender und authentischer kann man die Faszination für das Kino nicht bebildern.

Nicht selten wird im Zusammenhang mit „Der Geist des Bienenstocks“ auf einen der Erfolgsfilme der letzten Jahre verwiesen, Guillermo del Toros überschätzten Märchenfilm „Pans Labyrinth“. Und tatsächlich sind Parallelen nicht zu leugnen, beide Filme erzählen von fantasiebegabten Mädchen im faschistischen Spanien und dem Eskapismus als subversive Kraft. Sogar die väterliche Taschenuhr als zentrales Motiv wird in beiden Filmen aufgegriffen. Dennoch: Die Überschneidungen sind rein inhaltlicher Natur und da ein Film nicht gleich sein Inhalt ist, muss man festhalten, dass „Pans Labyrinth“ und „Der Geist des Bienenstocks“ kaum gegensätzlicher sein könnten.

Del Toros „Pans Labyrinth“ ist seinem Titel zum Trotz eher straight und konventionell, mit der Zielstrebigkeit einer Geisterbahn rollt er vorbei an Pulp-Faschisten und am Körperhorror geschulten Ekeleffekten. Am Ende der Fahrt wartet verlogenes Erlöserpathos inszeniert als Elbenkitsch à la Peter Jackson, um den Zuschauer mit dem Tod der Heldin zu versöhnen.

Das alles ist professionell und nicht ohne Liebe zum Detail umgesetzt, nimmt sich aber leider viel zu ernst und unterschätzt sowohl seine Zuschauer als auch die Möglichkeiten des Kinos. Ja, das Kino ist auch Traumfabrik, aber „Pans Labyrinth“ ist wie ein erzählter Traum. Alles wird ausformuliert und bis zum Erbrechen gezeigt, aus dem Off tönt ein Märchenonkel, jeder Schrecken bekommt seinen Spezialeffekt verpasst. Mit jeder ausgestellten Brutalität gerät der Film mehr zum Grand Guignol, während der reale Schrecken des Franco-Regimes zur bloßen Kulisse verkommt. Das Märchen hat gewonnen. (Als Preis einen Oscar für das Make-up und einen für das Szenenbild!)

Erices „Der Geist des Bienenstocks“ spielt ebenfalls in den Anfangsjahren der franquistischen Diktatur und erzählt von dem Mädchen Ana, das mit seiner Familie in einem kleinen kastilischen Dorf lebt. Der Alltag ist geprägt von Monotonie und Schweigen, doch als eines Tages ein Wanderkino ins Dorf kommt und Whales „Frankenstein“ aufführt, beginnt Ana unter dem Einfluss der Kinobilder ihre Welt mit neuen Augen zu sehen.

Der Film entstand zu Beginn der siebziger Jahre in Spanien, als alle Filme einer strengen Zensur unterlagen. Wohl auch deshalb ist „Der Geist des Bienenstocks“ eine Allegorie von geradezu enigmatischer Subtilität geworden und stellt den Zuschauer vor eine intellektuelle Herausforderung beim Entschlüsseln der zahlreichen Symbole und Anspielungen. Ein großer Reiz des Filmes liegt in der Vieldeutigkeit seiner Bilder, wie sie „Pans Labyrinth“ mit seinen Doppelungen und Dichotomien fremd ist. Diese Ambiguität wirkt dabei niemals beliebig, sondern erhöht die Komplexität und Dichte der filmischen Diegese.

Beispielhaft hierfür ist die Inszenierung des Anwesens der Familie. Mal sieht es mit seinen gelben Wabenfenstern aus wie ein Bienenstock, in dessen Innern das automatisierte Familienleben abläuft. Dann erscheint es als verlassenes Geisterhaus, das den Schwestern Freiheit zum Toben bietet, aber gleichzeitig ihre Einsamkeit verbildlicht. Vor allem durch die Außenansichten wirkt das Gebäude mit seinen Zinnen wie eine Festung, bei der man nicht recht weiß, ob sie denn nun Schutz vor der Außenwelt bietet oder ob die Familie ihre Gefangenen sind. Das Private wird zum zwiespältigen Refugium vor dem Politischen, hier entstehen Zufluchten vor der gesellschaftlichen Realität.

Wo bei del Toro der Eskapismus in Form der Heldin Ofelia idealisiert und dem opportunistischen Verhalten der Erwachsenen gegenübergestellt wird, kennt „Der Geist des Bienenstocks“ zahlreiche Schattierungen der Realitätsflucht: Die Mutter schreibt Liebesbriefe, die ins Nichts führen, der Vater versinkt in der meditativen Betrachtung seiner Bienenstöcke und Anas ältere Schwester Isabel brütet dunkle Fantasien aus. Das eskapistische Verhalten ist hier einerseits eine Überlebensstrategie, insofern es Sehnsüchte erfüllt, die in der Realität des Faschismus nicht zu befriedigen wären, andererseits verstärkt es auch die Entfremdung von den anderen Familienmitgliedern und die eigene Isolation.

Ana, deren Vorstellungen stark vom Vater und vor allem von Isabel geprägt werden, verkörpert hingegen die Realitätsflucht als Keimzelle der Utopie. Die Fantasiewelten des Kinos ermöglichen ihr eine Distanzierung von der „wirklichen“ Welt und erlauben so erst deren Veränderung. Das kleine Mädchen – da ähnelt es den Protagonisten aus Produktionen des Studios Ghibli wie „Die letzten Glühwürmchen“ oder „Mein Nachbar Totoro“ – verliert sich nicht in der Imagination, sondern macht sie zum Teil seiner Realität und deutet diese neu. Der Eskapismus wird zum emanzipatorischen Akt erhoben.

„Der Geist des Bienenstocks“ ist ein Film der Möglichkeiten, ein demokratischer Film, in dem Sinne, dass er offen und zugänglich ist. Sein intellektueller Anspruch schließt sinnliches Erleben nicht aus. Er kennt die Welt der Märchen, wie uns sein Soundtrack und das einleitende „Es war einmal …“ verraten, er weiß um die Bildgewaltigkeit sakraler Kunst ohne gleich katholisch zu sein und nutzt die suggestive Kraft der Horrorfilme Whales und Brownings. Er kennt viele Fantasien, aber er verfällt ihnen nicht, er folgt ihren Konventionen und Klischees nicht bis zum bitteren Ende.

Es ist ein demokratischer Film, weil er dem Zuschauer Raum gibt, weil er erlaubt, den Blick schweifen zu lassen und selber den Fokus auszumachen. Er zwingt den Zuschauer nicht mit anzusehen, wie einem Mann eine zersplitterte Glasflasche ins Gesicht gerammt wird und verkauft das als Geschichtststunde.

In einer Szene hört man Anas Vater davon reden, dass er einen gläsernen Bienenstock konstruiert hat, um seine Bienen besser beobachten zu können. Dann blickt er unvermittelt in die Kamera, sein Blick ist schwer zu deuten. Sieht er auf uns, die Zuschauer hinter der vierten Wand, wie auf seine Bienen, die gut organisiert, aber frei von Vorstellungskraft sind? Oder sehen wir aus wie Ana, als sie zum ersten Mal Frankenstein auf der Leinwand erblickt, das Gesicht ein geisterhaftes Leuchten im Dunkel des Kinosaals?

Ein Sommersandtraum

(CH 2011, Regie: Peter Luisi)

Die Antwort liegt im Traum
von Wolfgang Nierlin

Zwischen Traum und Realität changiert Peter Luisis ebenso phantastische wie skurrile Komödie „Ein Sommersandtraum“. Gleich zu Beginn des doppeldeutigen, anspielungsreichen Films, wenn in Großaufnahme und Zeitlupe der Inhalt von einer …

Zwischen Traum und Realität changiert Peter Luisis ebenso phantastische wie skurrile Komödie „Ein Sommersandtraum“. Gleich zu Beginn des doppeldeutigen, anspielungsreichen Films, wenn in Großaufnahme und Zeitlupe der Inhalt von einer Tasse Kaffee in das gequälte Gesicht des Protagonisten Benno (Fabian Krüger) klatscht, findet diesbezüglich eine Art Übertragung statt. Denn im Gegenschnitt zu diesem Traumbild, das an einer späteren Stelle des Films als reale Handlung wiederkehrt, erreicht Benno mit seiner Freundin Patrizia (Florine Elena Deplazes) gerade lustvoll „seinen“ sexuellen Höhepunkt. „Ich liebe dich“, heuchelt daraufhin der Egoist, dessen innerer Konflikt bereits in dieser kurzen Montage konzentriert vorweggenommen ist.

Benno ist nämlich durchaus kein angenehmer Zeitgenosse. Einerseits pflegt er als Ästhet und penibler Philatelist ein geregeltes, von wiederkehrenden Ritualen und schönen Dingen bestimmtes Leben; andererseits gibt er sich misanthropisch, indem er Kunden übervorteilt, Freunde kritisiert und selbst vor flegelhaftem Benehmen und üblen Beleidigungen nicht zurückschreckt. Der kultivierte Menschenfeind mit dem geschmackvollen Äußeren befindet sich nämlich in einem Dauerclinch mit Sandra (Frölein Da Capo), die die unter Bennos Wohnung gelegene „ARTige BAR“ betreibt und dort zu nächtlicher Stunde mit diversen Instrumenten und einem Loopgerät als „Einfrauorchester“ probt. Benno fühlt sich in seiner Nachtruhe gestört („Ohren müssen nachts atmen.“) und beschimpft die passionierte Musikerin in rüpelhaftem Ton als „talentfrei bis zum Arsch runter“.

Dabei ist die Musik ein Traum, den beide träumen und der den Beethoven-Fan und die Tangospielerin verbindet. Doch während Bennos erträumten Auftritte als Dirigent in Dissonanzen untergehen, verliert er im wirklichen Leben auf zunächst unerklärliche Weise Sand und damit auch Gewicht. Bald ist das merkwürdige Phänomen, das weder ein Arzt noch ein Therapeut („eine interessante Metapher“) erklären können, nicht mehr zu verheimlichen. Benno nimmt immer mehr ab und scheint proportional zu den wachsenden Sandmassen regelrecht zu verschwinden. Dabei wird immer deutlicher, dass der Sand nicht nur seine verdrängen Gefühle zu Sandra verschlüsselt, sondern auch Ausdruck seiner notorischen Unehrlichkeit ist. Zudem entdeckt Benno, dass der Sand sich als wirksame Waffe und Träume produzierende Droge einsetzen lässt: „Wenn man an ihm riecht, schläft man ein.“

Nicht umsonst lautet der Schweizer Originaltitel von Peter Luisis Film „Der Sandmann“. Doch geht es dem Regisseur in seinem „modernen Märchen“ nach eigener Aussage mehr um das Spiel mit Erwartungen als um gezielte Referenzen und im Weiteren vor allem „um die Diskrepanz zwischen dem, was jeder Mensch sein könnte und dem, was er tatsächlich ist.“ „Die Antwort liegt im Traum“, sagt der von Benno konsultierte TV-Wahrsager Dimitri (Michel Gammenthaler). Tatsächlich ist der Sand als Symptom einer Störung, die immer wieder in absurde Situationen führt, zugleich das therapeutische Mittel, das im Traum eine Selbstkonfrontation ermöglicht und darüber hinaus eine (auch physische) Rückkehr ins wahre Leben und zur wahren Liebe.

Vier Leben

(I / D / CH 2010, Regie: Michelangelo Frammartino)

Stufen der Verwandlung
von Wolfgang Nierlin

Als schwebte es in den Wolken, liegt hoch oben auf schroffem Fels ein abgelegenes Dorf im Hinterland Kalabriens. In ihm sind die Gassen eng und steil, die Wege beschwerlich und …

Als schwebte es in den Wolken, liegt hoch oben auf schroffem Fels ein abgelegenes Dorf im Hinterland Kalabriens. In ihm sind die Gassen eng und steil, die Wege beschwerlich und das Leben ärmlich. Noch immer folgt es jahrhundertealten Traditionen und archaischen Ritualen und ist dabei sowohl von tiefer Frömmigkeit als auch von heidnischem Aberglauben durchdrungen. Wenn der alte, kranke Ziegenhirte, der in der ersten Episode von Michelangelo Frammartinos beeindruckendem Film 'Vier Leben“ ('Le quattro volte') im Mittelpunkt steht, abends ins Bett geht, löst er in einem Glas Wasser Staub vom Kirchenboden auf und trinkt diese Mischung als Medizin. Morgens, bevor er seine Ziegenherde auf die Bergweide treibt, erwirbt er seine Tagesdosis im Tausch gegen eine Flasche Milch von der Kirchendienerin.

Sichtbare und unsichtbare Rhythmen durchziehen dieses Leben und seine Natur als Wechselspiel zwischen Form und Materie. Dabei korrespondieren die wiederkehrenden Strukturen des Alltags mit der stetigen Verwandlung und Erneuerung des Lebens. Mit ethnographischem Interesse und dokumentarischem Blick, der seine Fiktionen aus der konzentriert-beschaulichen Beobachtung gewinnt, folgt Frammartino diesen natürlichen Kreisläufen und Transformationen, die ihm Ausdruck einer Seelenwanderung sind. Als der alte Hirte eines Nachts stirbt, verjüngt sich sein Atem in der Geburt eines kleinen Zickleins und dessen ersten, tapsigen Gehversuchen. Später wird dieses hilflose Geschöpf seine Herde verlieren und blökend unter einer alten Tanne Zuflucht suchen, wo es stirbt und so in den stofflichen Kreislauf des Baumes übergeht. Dieser wird schließlich gefällt und in einem alten Brauch auf dem Dorfplatz aufgestellt, bevor sein Holz in einer traditionellen Köhlerei in Kohle verwandelt wird.

Michelangelo Frammartino bezieht seine Seelenwanderung, die als wiederkehrender Kreislauf vom Bild des rauchenden Kohlenmeilers gerahmt wird, auf den frühen Kalabresen Pythagoras. Dessen philosophische Anschauung schreibt jedem Menschen vier Leben zu, die gleichzeitig ineinander verschränkt sind: neben dem vernunftbegabten noch ein tierisches, ein pflanzliches sowie ein mineralisches. Frammartino wiederum übersetzt diese Anschauung nicht nur in die lineare zeitliche Struktur seines Films, sondern auch in eine anti-hierarchische, dezentrale Erzählweise, die ihre Perspektive ständig ändert.

So werden Mensch und Tier, Pflanzliches und Unbelebtes gleichermaßen zu Handlungsträgern. Die Objekte führen gewissermaßen ein Eigenleben und besitzen insofern eine eigene Geschichte, was Frammartino beispielsweise anhand der Verwendungsweise eines Steins sichtbar macht. Alles erscheint beseelt und in einem Prozess sich ablösender Wirkungen, Verschiebungen oder auch funktionaler Übergänge begriffen: Etwa wenn auf berührende Weise aus dem einst sorgenden Hirtenhund und bald darauf herrenlosen Bewacher der Herde gegen Ende des Films ein einsamer Streuner geworden ist. Frammartinos Verzicht auf Dialoge ist dabei dieser multiperspektivischen Vielstimmigkeit geschuldet, in der das Blöken der Ziegen, der helle Klang ihrer Glöckchen, das dumpfe, einem Herzschlag verwandte Klopfen der Köhler, der blechern hohle Klang der Holzkohle und der röchelnd ausströmende Atem des sterbenden Hirten ihre eigene und doch so ähnliche Sprache sprechen.

Naokos Lächeln

(J 2010, Regie: Tran Anh Hung)

Revolte der Körper
von Michael Schleeh

Die Studentenunruhen in den sechziger Jahren in Japan, vor allem in Tokyo, bildeten den historischen Kontext, vor dem Haruki Murakami seinen Roman „Naokos Lächeln“ (1987) ansiedelte. Dass der Roman zu …

Die Studentenunruhen in den sechziger Jahren in Japan, vor allem in Tokyo, bildeten den historischen Kontext, vor dem Haruki Murakami seinen Roman „Naokos Lächeln“ (1987) ansiedelte. Dass der Roman zu einem Weltererfolg wurde, lag allerdings nicht an dessen politischen Implikationen, sondern an der für viele Leser griffigen Darstellung einer fragilen adoleszenten Liebesgeschichte zweier, oder eigentlich dreier einsamer Seelen, die in diesen turbulenten Zeiten aufeinander zu-, und voneinander wegdriften. Tran Anh Hungs Adaption des Romans bleibt ganz bei seinen Figuren, die mit einem schweren Trauma fertig werden müssen: Urplötzlich und scheinbar grundlos hat sich der beste Freund das Leben genommen.

Yasuzo Masumura, einer der großen Regisseure der japanischen Nouvelle Vague, hatte schon in seinem großartigen und hier leider viel zu unbekannten Film „A False Student“ (1960) schon eine ganz ähnliche Geschichte vor demselben Hintergrund erzählt; allerdings deutlich weniger gefühlig, politischer, gesellschaftskritischer und mit einer lakonischen Ruppigkeit, bei der man spüren konnte: hier geht es um was.

In Tran Anh Hungs elegantem und ausufernd üppigem, zweistündigem Film geht es vor allem um Bilder. Um schöne Bilder. Hier reiht sich eine sehenswerte Komposition an die andere, und nur selten gerät ihm ein prätentiöser Ausrutscher dazwischen (etwa, wenn Watanabe im Schwimmbad einsam vor einer Mauer steht, bedeutungsschwanger links außen an den Bildrand gelehnt; oder auch, wenn man die wogenden, saftig-grünen Wiesen um das Sanatorium bewundern darf, in das sich die Protagonistin zurückgezogen hat, und man plötzlich rechts oben im Bildwinkel auf einem Pfad Watanabe und Naoko entdeckt, passend mit weißen T-Shirts, en miniature, sich durch ihr Wiedersehen jagend). Die Revolte der Studenten, die stets in Massen (-Körpern) auftreten, interessiert den Regisseur allerdings wenig – sie dienen lediglich dazu, um Watanabes Außenseiterstatus zu illustrieren. Denn Watanabe ist Literat, der sich mit seinem Buch zurückzieht. Ganz anders jedoch die Revolte von Naokos Körper – diese interessiert ihn sehr. Und so darf man bis zur Unaushaltbarkeit immer wieder den sexuellen Problemen junger Liebender lauschen, die trotz aller verhuschter Zurückhaltung scheinbar offen darüber sprechen, wieder einmal „nicht feucht“ zu werden.

Gebetsmühlenartig werden Naokos Feuchtigkeitsdefizite durchgesprochen, bis man sich als Zuschauer vor Fremdscham kaum mehr im Sessel halten kann. Die deutsche Synchronisation tut dazu ihr Übriges: Auch in „Naokos Lächeln“ werden asiatische Frauen bevorzugt von Piepsstimmen synchronisiert, was für den, der sich in den O-Tönen des Ostens auskennt, eine grobe Verzerrung darstellt. Und dann offenbart sich ein weiteres Problem des Films: die häufig sehr öden und platten Dialoge Murakamis. So gut es ihm gelingt, die Gefühle der Einsamkeit, der Isolation in der Großstadt und der generellen Verunsicherung seiner jugendlichen Helden darzustellen, so deutlich wird vielerorts, dass seine Figuren einfach nichts zu sagen haben. Hier herrscht der totale communication breakdown. Immer wieder bleiben sie in den allerunpersönlichsten Plattitüden stecken, sodass man sich durchaus fragen darf, woher die Anziehung zwischen den Geschlechtern überhaupt rührt. Viele Entwicklungen des Plots wirken lediglich behauptet, da kann die Kamera den Figuren noch so dicht auf den Leib rücken.

Dieser enorm ruhige und langsam erzählte Film gerät zu einer Aneinanderreihung wunderschön und genüßlich anzuschauender Szenen, deren emotionaler Zusammenhalt sich nicht nachfühlen lässt, und deswegen schlicht fremd bleibt. Eine Nähe zu den Figuren aufzubauen, ist kaum möglich, und wenn man also zwangsmetapoetisiert als Außenseiter vor dem Film sitzt wie der Protagonist vor seinem Leben, dann wünscht man sich, der Film nähme alsbald sein stilles Ende. Eine Folterbank bleibt eben eine Folterbank. Auch wenn sie schön anzuschauen ist und exotisch daherkommt.

Mein Essen mit André

(USA 1981, Regie: Louis Malle)

Ein Unikat auf DVD
von Andreas Thomas

Es ist schon fantastisch, wie dieser Film einen immer wieder neu zu fesseln vermag. Der Franzose und Mitbegründer der Nouvelle Vague Louis Malle, Regisseur von so unterschiedlichen Filmen wie „Fahrstuhl …

Es ist schon fantastisch, wie dieser Film einen immer wieder neu zu fesseln vermag. Der Franzose und Mitbegründer der Nouvelle Vague Louis Malle, Regisseur von so unterschiedlichen Filmen wie „Fahrstuhl zum Schaffott' (1957), „Zazie' (1960), „Das Irrlicht' (1963), „Herzflimmern' (1970), „Gottes eigenes Land' (1979) oder „Auf Wiedersehen, Kinder' (1987), hat merkwürdigerweise mit einem ganz unfilmischen Film demonstriert, welche Möglichkeiten stecken in der Methode Film und welche Gedankenwelten in ihm selbst.

Wobei schon da die Fragerei anfängt, die „Mein Essen mit Andrè' (1981) schier unermüdlich produziert, denn der Film wurde von Malle ja 'nur' gedreht, und von André Gregory, einem New Yorker Theaterregisseur und Wallace Shawn, einem New Yorker Bühnenautor und Schauspieler, gemeinsam geschrieben.
Laut Aussagen von Gregory (im Bonusmaterial der DVD) gab es tatsächlich zuerst ein Script von buchstäblich an die 5000 Seiten, welches aus langen, auf Tonband aufgezeichneten Gesprächen zwischen den beiden befreundeten Männern entstanden war, lange bevor es einen Regisseur zum Film gab. Für die endgültigen Aufnahmen im Film wurde dann schließlich ein auf zwei Stunden gekürzter Text „sehr intensiv“ geprobt, so dass alles, was hier wie ein frei improvisiertes Gespräch zwischen zwei real existierenden Personen über ihre real existierenden Biografien erscheint, in Wahrheit das Ergebnis wochenlanger Vorarbeit ist.

Über ihr Leben reden Wallace und André, und weil sie ihre Existenz – und unmittelbar damit verknüpft ihre Arbeit – nicht als etwas von der Gesellschaft Losgelöstes verstehen, ist ein Gespräch über ihre persönlichen Konflikte, Erfahrungen, Ziele und Hoffnungen für sie auch ein Gespräch über das Sein in der Gegenwart (von 1980).

Eingerahmt ist der Dialog durch die Anfahrt und den Nachhauseweg von Wallace Shawn, der im Off kommentiert, warum er mit gemischten Gefühlen und angespannt zu der Verabredung mit dem, wie er gehört hat, in letzter Zeit sehr labilen André unterwegs ist. Aus Wallaces Perspektive also wird das Treffen in einem edlen New Yorker Restaurant gezeigt, der zunächst dem Zuschauer schildert, mit welchen Mühen sein – eher erfolgloses – Dasein als Autor und Kleindarsteller verbunden ist. Als ein Mensch mit geregeltem Tagesablauf und mit seinem unauffälligen Äußeren – er ist klein, etwas untersetzt und hat mit 35 Jahren bereits eine Halbglatze – entspricht er so gar nicht dem Klischees des Künstlers, welches der ältere André dagegen mehr als ausfüllt: André ist ein buchstäblicher Lebemann; in dem Sinne, dass er das Leben in allen seinen Ausprägungen schon lange über seine Arbeit als Regisseur gestellt hat, aber was für ein Leben…

Für mehr als zwei Drittel des Films nimmt sich André die Zeit, spannend, unterhaltsam, aber auch verwirrt über seine Versuche zu berichten, Konventionen zu überwinden, zunächst Konventionen des Theaters. Lebendiges Theater kann für ihn kaum mehr auf einer Bühne stattfinden, selbst Sprache ist ihm zu viel Begrenzung, so dass er in Polen mit 40 nicht englisch sprechenden Frauen, die eigentlich nicht Theater spielen wollen, eine 20-stündige Improvisation in einem Wald „inszeniert“ hat, eine Inszenierung ohne Regie. Seine Maxime, Dinge nur aus der Situation selbst heraus entstehen zu lassen, sein rigoroser Freiheitsdrang, spiegelt sich auch in seinem Privatleben. Obwohl er verheiratet ist und Kinder hat, verlässt er häufig seine Familie, etwa um ein halbes Jahr in der Wüste oder in Indien zu meditieren, oder die Welt vom Gipfel des Mount Everest aus zu betrachten. Sein Leben ist ein unaufhörliches Selbsterfahrungsprojekt bzw. eine nie endende Suche nach einem existenziellen Sinn. Diese Suche, die durch seine radikale Ablehnung bestehender Normen konsequenterweise immer dominanter geworden ist, hat André immer mehr zur Mystik, zur Esoterik und zu einem Glauben an Übersinnliches, in eine verklausulierte Welt jenseits einer vernünftigen Realität geführt, schließlich an den Rand des Wahnsinns. Denn André hat Halluzinationen, ihm sprechen Fabeltiere Mut zu, die außer ihm kein anderer sieht.

Um es noch einmal klarzustellen: Der Film zeigt tatsächlich fast nur den (erschrockenen, deshalb nach vorn ins Interesse flüchtenden) Wallace und meistens sein Gegenüber am Tisch, den ziemlich mitgenommenen André der mit fiebrigen Augen über sein Leben erzählt, es gibt keine visualisierenden Rückblenden, keine szenische Aufbereitung von Andrés Erinnerung. Und trotzdem ist der Film spannend. Trotzdem, vielleicht gerade deshalb, entsteht vorm geistigen Auge des Betrachters eine Welt, ein Leben, ein Mensch.

Wie oft nehmen wir uns schon die Zeit, Menschen, mit denen wir zu tun haben, genau zu betrachten, sie erzählen zu lassen, sie auf uns wirken zu lassen. „Mein Essen mit André“ nötigt uns dazu, einem Fremden zuzuhören, ist, so gesehen, auch eine Art Wahrnehmungsschule – aber auch der Beweis dafür, dass charismatische, exaltierte, manische Leute, weil sie ein Publikum brauchen, eines bekommen können.

André interessiert sich kaum für Wallace, er hört ihm höflich zu, wenn der, eher stammelnd, seinen einfachen Lebenssinn zu beschreiben versucht: Die Vorfreude auf eine Tasse kalten Kaffees, die ihn am Morgen erwartet, die ganze Nacht über bedeckt mit einer Untertasse, damit keine Fliegen herein geraten. Und eine neue elektrische Heizdecke, die in der kalten New Yorker Wohnung ein wahrer Segen für ihn und seine Frau ist, und ihm so merkwürdig schöne Träume beschert. Und die Autobiographie von Charlton Heston (Wir schreiben 1980 und Heston ist noch nicht Präsident der US-Waffenlobby). Außer seiner Arbeit gibt es nicht viel mehr in Wallaces Leben, aber er scheint damit glücklich sein zu können. Ja, er betont, wie zufrieden ihn die kleinen Dinge des Lebens machen.

Die Verschiedenheit beider Protagonisten ist es, die den Film zu einem Abenteuer macht. Auf der einen Seite der nonkonformistische Sucher, der Aktionist, der Ruhelose. Auf der anderen der bürgerliche, bescheidene Familienmensch. Beide treffen sich in ihrer Eigenschaft als Künstler, Theaterleute, und als Intellektuelle. Und beide stimmen darin überein, dass etwas mit den Menschen nicht mehr stimmt. André zitiert Foucault: „New York ist ein Überwachungslager.“ Und er erläutert – ganz im Foucaultschen Sinn – : „Die Individuen wollen sich überwachen lassen.“ Eine Zombiewelt. Für André ist es höchste Zeit zur Flucht in abgeschiedene esoterische Klöster, in denen man plant, den UFOs, wenn sie kommen, zu signalisieren: Hier, in dieser Enklave, gibt es noch richtige Menschen. André ist ein manischer Apokalyptiker; eigentlich trägt er seinen individuellen Untergang immer bei sich. Wenn es langweilig wird, holt er ihn heraus und legt ihn auf den Tisch. Deshalb wird es nicht langweilig mit ihm. Der Mann ist reines Theater. Und dazu ist er eine Fusion aus dem, was von der Hippiebewegung und einer linken, antiautoritären Kultur am Ende der Siebziger übrig war. Die radikale Ablehnung aller gesellschaftlicher Normen hat ihn orientierungslos werden lassen, die Werte seiner Gegenwelt: radikale Selbsterfahrungstrips, Mystizismen, esoterische Ersatzreligionen haben ihn einer funktionierenden Kritikfähigkeit beraubt und seine Wahrnehmung getrübt. Er ist unfähig zu einer emotionalen Distanz gegenüber der Außenwelt geworden. Dennoch hat seine radikale Naivität, seine verwirrte Depressivität etwas Charmantes, Bezwingendes, Wahrhaftiges. Seine verzweifelte Suche nach Antworten hebt ihn positiv ab vom Durchschnittsmenschen, der alles mitmacht, ohne zu wissen oder zu fragen warum. Vielleicht ist ja Andrés Problem nur, dass er immer das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hat.

Wallace wendet höflich ein: „Wenn du mitbekommen würdest, was dort drüben geschieht, in dem Zigarrenladen gegenüber vom Restaurant – es würde dich förmlich umhauen – da ist genau so viel Realität wie auf dem Mount Everest.“

Gehen wir mal davon aus, dass Paul Auster „Mein Essen mit André“ kennt. Wenn nicht, scheint das mit den New Yorker Zigarrenläden zu stimmen, denn der Film „Smoke' (1995) von Wayne Wang nach dem Buch von Auster setzt genau Wallaces Idee um, das Universum in einen Zigarrenladen zu verlegen. Nicht nur deshalb ist „Mein Essen mit André“ auch einer dieser magischen Filme über die Stadt New York, von der man im Film nicht viel sieht, aber spürt; ein Film über das New York, also auch über eine US-Wirklichkeit, zu Beginn der achtziger Jahre, ein Film über die Rolle der Kunst, ein Film über zwei Individuen, über deren Standortbestimmungen in ihrer Zeit, einer Zeit, die über ein Vierteljahrhundert vergangen ist, aber deren Hauptfrage – fast tröstlicherweise – scheinbar immer noch dieselbe geblieben ist: Ist das, was wir unsere Zivilisation nennen, nur noch eine entfremdete Produktionsmaschine auf dem Weg in ein Nichts?

Tiefer gehend aber, hinter dem ganzen Theater, stehen die Fragen: Was sind wir, was können wir tun, was bleibt von uns? Dass die uralte menschliche Ratlosigkeit bei André und Wallace immer mit am Tisch sitzt, dass der Film uns immer in seine Fragen einbezieht, dabei aber keine Antworten diktiert, macht ihn lebendig und zeitlos und deshalb zu einem Juwel.

Zur DVD:
Auf einer schön gestalteten DVD, die nun von www.pierrotlefou.de auf den Markt gebracht wird, befinden sich zusätzlich zum Film zwei offenbar später geführte erhellende Interviews mit den beiden Protagonisten in englischer Sprache, die leider nicht mit deutschen Untertiteln versehen sind, aber durch das vorbildlich gesprochene Englisch auch für den Normalverbraucher verstehbar sind. Wer diese Interviews zu welchem Zeitpunkt gemacht hat, ist leider nicht auf der DVD vermerkt.

Gottes eigenes Land

(USA 1986, Regie: Louis Malle)

Der Mann mit der Kamera ... Teil 1
von Michael Schleeh

Louis Malle ist einer der großen Eklektiker des europäischen Kinos. Sein Oeuvre ist bekanntermaßen äußerst vielgestaltig und reicht von den Anfängen der Nouvelle Vague, über den klassisch anmutenden Spielfilm bis …

Louis Malle ist einer der großen Eklektiker des europäischen Kinos. Sein Oeuvre ist bekanntermaßen äußerst vielgestaltig und reicht von den Anfängen der Nouvelle Vague, über den klassisch anmutenden Spielfilm bis hin zu den anthropologischen Studien des Dokumentaristen. Nachdem neben den filmischen Hauptwerken bereits vor kurzem Malles Indien-Filme erschienen sind, legt das Label Pierrot le Fou nun auch eine Auswahl seiner amerikanischen Arbeiten vor: eine 3 DVD-Edition, die neben „Mein Essen mit André“, die beiden dokumentarischen Arbeiten „Gottes eigenes Land“ und „… und das Streben nach Glück“ enthält.

In „Gottes eigenes Land“ wird man ohne Vorspann oder Eröffnung mitten hineingeworfen: eine Frau Ende Achtzig jätet den üppigen Garten vor ihrem Haus und hat eine lustige Haube auf. Der Regisseur spricht recht laut zu ihr, macht Smalltalk, und sie gibt bereitwillig Auskunft. Zunächst vermutet man, da will etwas entlarvt werden. Provinzielle Kleingeistigkeit etwa, doch da sich der Fragende zurückhält, bliebe nur noch die Selbstentlarvung – die sich aber nicht einstellen will. Nein, nach diesem kurzen Gespräch über ein Blumenbeet steigt der Filmemacher wieder in seinen Wagen und fährt einfach davon.

Dann erst kommt der eigentliche, gesprochene Prolog dieses wie aus dem Bauch heraus gedrehten Films. Von Louis Malle in flüssigem, leicht französisch akzentuiertem, aber ansonsten tadellosem Englisch gesprochen: er sei eigentlich auf der Durchreise, aber diese Kleinstadt Glencoe habe ihn sofort eingenommen. Da sei er kurzfristig geblieben um ein Portrait dieses Orts in Minnesota zu erstellen; Glencoe, ein scheinbar typisches amerikanisches Nest mit etlichen Farmen, Kirchen, beflaggten Grundstücken und sauber gepflegten Rasenflächen. Im Folgenden interviewt Malle scheinbar wahllos alle Bürger, die ihm vor die Kamera kommen und die gewillt sind, mit ihm zu sprechen. Und das sind viele, denn die Menschen in Glencoe sind freundlich und offen. Zumindest auf den ersten Blick. Farmer, Polizisten, Rentner, Politiker, städtische Angestellte, ein gutgelaunter Rindviehbesamer („Ich habe schon 40.000 Kühe besamt!“), die Mitglieder einer Laientheatergruppe, Kellnerinnen und Supermarktbesitzer. Er wird zum Abendessen eingeladen oder darf den Alltag einer jungen Farmersfamilie begleiten, die sich vor der Kamera ganz natürlich gibt und mit großer Offenheit auf seine Fragen eingeht. Er erkundigt sich zu ihrer Herkunft, ihren Wünschen und Träumen, zum Alltag und den Arbeitsabläufen, wie man die Freizeit gestaltet und warum es keine Schwarzen in Glencoe gibt. Worauf die Antworten dann spärlicher ausfallen und sie durchaus zuzugeben bereit sind, dass in der Kleinstadt ein latenter Rassismus vorzuherrschen scheint. Jedoch ist hier kein Investigator am Werk: Malle hat es nicht darauf abgesehen, den Finger auf Wunden zu legen, Verdrängtes hervorzuzerren oder seine Gesprächspartner mit Tabuthemen zu konfrontieren. Denn diese Auslassungen und Ungemütlichkeiten thematisieren sich auch von selbst. Etwa im Gespräch mit einer jungen Frau, die mit 27 Jahren nach vorherrschender Meinung beinahe schon zu alt zum Heiraten sei, die dann, durch geschicktes Stichwortsetzen Malles angeregt, nicht allzuviel Positives über das Geschlechterverhältnis auf dem Lande berichten kann – und so, über Umwege, zum heiklen Thema Homosexualität und Rassismus gelangt. Doch Malle bleibt zurückhaltend, fordert sanft heraus und bricht bald ab, da es der Frau sichtlich unangenehm ist, weiter über diese Themen zu sprechen. Der Filmemacher verrät seinen Betrachtungsgegenstand nie, was ihm hoch anzurechnen ist; allenfalls nimmt man einen feinen Hauch von unausgesprochener Ironie wahr, der sich zwischen den Zeilen und in den Bildern, also in den Gesichtern, lesen lässt. Und so reiht er ein Gespräch ans nächste, bis sich ein eigener Kosmos zu vervollständigen scheint, und der Betrachter in den Zeitsprung entlassen wird.

Denn in den letzten 10 Minuten des Filmes findet Malle zu einer Art Résumée, wenn er sechs Jahre später in die Ortschaft zurückkehrt. Wieder trifft er die ergraute Dame, nun 91 Jahre alt, in ihrem Vorgarten, und sie erinnert sich lebhaft an ihn. Das Wiedersehen ist herzlich. Die Besuche bei den anderen Interviewten allerdings fallen weniger euphorisch aus. Man freut sich, den Franzosen mit der Kamera wieder zu sehen, doch die Stimmung ist gedrückt. Die Wirtschaftskrise unter Reagan hat sich verstärkt, die Einkommen der Farmer sinken kontinuierlich. Der wirtschaftliche Abschwung hat vielen den Job gekostet, die hart arbeitenden Menschen kämpfen um ihre Existenz. Und so wird ganz am Ende „Gottes eigenes Land“ zu einem politischen Statement zur Lage des Landes, das seine Bürger ernüchtert und erbost zeigt: ein Film der zerstörten Träume und verflogenen Hoffnungen. Vom großen Optimismus der Jahre zuvor ist nichts geblieben. „Gottes eigenes Land“ schließt mit der verbitterten Ernüchterung dieser durchweg sympathischen Menschen.

… und das Streben nach Glück

(USA 1986, Regie: Louis Malle)

Der Mann mit der Kamera ... Teil 2
von Michael Schleeh

Die Vereinigten Staaten als Land der Einwanderer: In dieser, vom Fernsehsender HBO in Auftrag gegebenen Dokumentation, portraitiert Louis Malle die Lebensumstände der Menschen, die den Verheißungen des American Dream gefolgt …

Die Vereinigten Staaten als Land der Einwanderer: In dieser, vom Fernsehsender HBO in Auftrag gegebenen Dokumentation, portraitiert Louis Malle die Lebensumstände der Menschen, die den Verheißungen des American Dream gefolgt sind und sich in der Hoffnung auf ein materiell besser gestelltes Leben in den USA niederließen. Louis Malle, der selbst 1974 in das Land emigrierte, reist kreuz und quer durch die Staaten und führt unzählige Kurzinterviews mit Arbeitslosen, Lehrern, Ärzten, Computerprogrammierern und sogar einem Astronauten, dessen Griff nach den Sternen sich am Sinnbildlichsten erfüllt haben dürfte.

Aber auch die negativen Seiten werden nicht ausgespart: etwa die langen Reihen der mexikanischen Tagelöhner am Straßenrand, die unter haarsträubenden Bedingungen jeden Tag aufs Neue illegal den Grenzübertritt riskieren, Familien zurücklassen und dennoch kaum Arbeit finden. An einem anderen Beispiel werden die Rivalitäten zwischen ghettoisiert lebenden Schwarzen mit den neu hinzukommenden Vietnamesen dargestellt. Eine junge Dame klagt über die eskalierende Gewalt und unterstellt der Stadt, Schikane zu betreiben. Die Blocks befänden sich nahe dem Stadtzentrum und seien somit wertvoller Baugrund. Da die schwarze Community aber ihre Rechte kenne und sich nicht so leicht vertreiben lasse, versuche man immer mehr Vietnamesen ins Viertel zu drängen, die in ihrer hilflosen Autoritätsgläubigkeit weit weniger schwierige, das heißt: informierte Bewohner seien und somit schneller vertrieben wären, wenn das Viertel für die Baumaßnahmen zu räumen sei. Auch ein Interview mit dem karibischen Literaturnobelpreisträger Derek Walcott schlägt kritische Töne an. Dieser sieht im amerikanischen Freiheitsmodell eine lediglich suggerierte, und rein materielle Befreiung: die des Geldes. Freiheit des Menschen bedeute vor allem eine individuelle, wirtschaftliche Freiheit, die wiederum mit Unfreiheit erkauft werden müsse: der passgenauen Eingliederung in ein streng reglementiertes gesellschaftliche System, das Verhaltensnormen vorschreibe, Kleidung, Lebensziele usw. diktiere.

In überwiegendem Maße aber werden die positiven Aspekte des „Melting Pot“ dargestellt. Menschen, die euphorisch und voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft einen Neuanfang wagen, die sich, im Bewusstsein, dass jeder Amerikaner ein Immigrant sei, beweisen wollen, wozu sie fähig sind. Und einige von ihnen legen beeindruckende Karrieren hin. Leute, die Schulabschlüsse nachholen, sehr schnell studieren und anschließend großen Erfolg im Beruf haben, in Häusern mit mehr als zehn Zimmern leben. Das Mosaik, das Malle hier genauer beleuchtet, gibt einen guten Eindruck der verschiedenen Volksgruppen und komplexen, leidgeprüften Biographien, der dem Phänomen einen allgemeingültigen, universellen Charakter verleiht.

Einen narrativen Rahmen wie in „Gottes eigenes Land“ lässt sich in „… und das Streben nach Glück“ allerdings nicht finden, weshalb gegen Ende manches Interview willkürlich und parataktisch hinzuaddiert wirkt. Durch Malles unangestrengte Art des Fragenstellens dringt er zwar nicht in die Tiefe, jedoch vermittelt sich mit seinen dokumentarischen Arbeiten genau das, was das Land auszumachen scheint: Es stellt sich der Eindruck einer endlosen, flächigen Ausdehnung ein, einer großen Weite mit einer heterogenen Bevölkerung, von einer Erkundung also, die in die Breite geht und sich gerade deshalb sinnbildlich zu ihrem Gegenstand verhält. Lediglich das vollständige Fehlen von Bonusmaterial dämpft den positiven Eindruck dieser hervorragenden Veröffentlichung etwas.

Salami Aleikum

(D 2008, Regie: Ali Samadi Ahadi )

Heimatkunde
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Titel des Films: schon nicht mehr peinlich, sondern schlicht doof. Hat man erst mal diese Schwelle hinter sich, passiert Ungeheures. Ich hab im Kino seit sehr langer Zeit wieder …

Der Titel des Films: schon nicht mehr peinlich, sondern schlicht doof. Hat man erst mal diese Schwelle hinter sich, passiert Ungeheures. Ich hab im Kino seit sehr langer Zeit wieder Tränen gelacht, und das in einem deutschen Film. Außerdem hab ich den Film in mein Herz geschlossen. Ich küsse hiermit öffentlich Regisseur Ali Samadi Ahadi und seine Crew. Denn sie habens hingekriegt, dass das, was Sozialdrama, Tragödie und deutscher Problemfilm sein könnte, überwältigende Komödie geworden ist, in der die Situationen zugespitzt und wahr werden. Weil man nicht über Komiker lachen muss, die irgendwen vorführen.

Ja, ich drück mich davor, die Story zu erzählen. Obwohl es korrekt wäre. „Salami Aleikum“ lebt jedoch vom Inkorrekten. Aber seis drum. Also was für Situationen? Trifft der schüchterne kleine Iraner aus der Metzgerei in Köln auf die große, Anabolika gestärkte ex-DDR-Kugelstoßerin in den Ruinen des VEB Oberniederwalde. So könnte ein Witz anfangen. Tatsächlich auferstehen die beiden wie auch sämtliche Loser in der neudeutschen Provinz aus den Ruinen. Im culture clash konnten alle ihre dämlichen Sprüche loswerden. „Wir haben ja nichts gegen Ausländer, aber..“. Nur wer im rechtsextremen Hintergrund verharrt und außerdem Nebenbuhler ist, bekommt sein Fett weg (Kiefernbruch durch Anabolikerinnenfaust). Die Wessibullen („Ah, da haben wir den Orient“) müssen draußen bleiben im finstren Wald. Alle anderen werden Helden im Bollywoodstil mit großen Tanznummern und noch ungelenken, aber hingebungsvollen Ossischritten im Orienttakt (Musik: Ali N. Askin). Klar, dass Metzgerschüchterling Navid Akhavan jetzt als der Popstar rauskommt, der er im wirklichen Leben ist (rechtzeitig Karten kaufen!).

Aber wieso soll das „Salami Aleikum“-Märchen wahr sein? Nur, weil ich es behaupte? Grund dürfte vielmehr sein, dass Regisseur Ali Samadi Ahadi die vielen aberwitzigen Situationen erlebt hat. Die Idee zum Film hatte er schon, als noch die Abschiebung drohte. Nach den schwierigen „Lost Children“ ließ er dann zu, was in ihm steckte. Den Fan der Bollywood-Filme. Die Lust am Fabulieren. Animationen im Spielfilm. Das sprechende Lamm Wojtyla, das den Film kommentiert. Irrwitzige Einfälle, wie man sie in einem deutschen Film nicht gesehen hat. Ali Samadi Ahadi ist ganz bei sich. Man könnte sagen, in einer neuen Heimat. Und die teilt er im Film mit den Ossis, die dem VEB Textile Freuden nachtrauerten und jetzt Geschmack an der Ausländerküche finden. An Gesang und Tanz. In der altneuen Heimat Oberniederwalde.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 7/2009

Die Schlacht an der Somme

(UK 1916, Regie: Geoffrey H. Malins, J.B. McDowell)

Eben noch im Schützengraben, jetzt schon auf der Leinwand
von Harald Mühlbeyer

Dem Beginn der Schlacht an der Somme am 1. Juli 1916 ging ein mehrtägiges Artillerie-Trommelfeuer auf deutsche Stellungen voraus. Doch die waren keineswegs geschlagen – und der Sturmangriff der Engländer …

Dem Beginn der Schlacht an der Somme am 1. Juli 1916 ging ein mehrtägiges Artillerie-Trommelfeuer auf deutsche Stellungen voraus. Doch die waren keineswegs geschlagen – und der Sturmangriff der Engländer wurde zum verlustreichsten Tag in der britischen Militärhistorie. Die Zeit vom 25. Juni bis 8. Juli an den britischen Frontlinien begleiteten zwei Kameramänner, die als offizielle Filmberichterstatter – embedded journalists sozusagen – Bildberichte aus Frankreich an die Heimatfront senden sollten. „The Battle of the Somme“ wurde schon am 10. August uraufgeführt – aktuellste Nachrichten von dieser Schlacht, von der noch keiner wissen konnte, dass sie bis November andauern, völlig ohne Ergebnis bleiben und über eine Million getötete, vermisste oder verwundete Soldaten hinterlassen würde.

Was für uns heute vor allem ein historisches Dokument ist, war damals aktueller Frontbericht: Unmittelbar konnte das Geschehen im Krieg, an der Front, in der Schlacht miterlebt werden. Über 20 Millionen verkaufte Eintrittskarten bei einer britischen Gesamtbevölkerung von 43 Millionen zeugen von dem ungeheuren Eindruck, den die Bilder machten: die Vorbereitungen der Schlacht, das Abfeuern riesiger Geschütze, Explosionen und Rauchwolken in der Ferne, das Voranstürmen – und die vielen Toten, die Verletzten, die gefangenen Deutschen. Natürlich ist dies ein Propagandafilm, der vor allem die Verbundenheit der Heimatfront mit den kämpfenden Soldaten stärken sollte; aber es ist der erste seiner Art, und anders als in späteren filmischen Frontberichten sieht man hier britische Leichen in Großaufnahme, und man kann die fröhlichen, zuversichtlichen Gesichter der Soldaten vor der Schlacht mit den erschöpften, schockierten, müden Mienen danach vergleichen … Eindrückliche ikonographische Bilder enthält der Film, wie Verletzte durch Schützengräben getragen werden etwa, oder, ganz eindrücklich, wie pferdegezogene Kanonen um im Gras liegende Tote dirigiert werden müssen, oder der Beginn des Sturmangriffs.

Doch hier stößt der Film an seine Grenze, und die Diskussion über Authentizität und über Ethik im Dokumentarfilm fängt an: Denn diese Szene, in der die Soldaten hinausstürmen und einer, offensichtlich tödlich getroffen, zurückbleibt, ist nachgestellt. Bildmaterial vom originalen Angriff konnte offenbar nicht verwendet werden, oder es war für den Kameramann zu gefährlich – hier wurde jedenfalls das Bild gefälscht, um die richtige Wirkung zu erzielen. Tatsächlich geben zeitgenössische Berichte wieder, wie betroffen gerade diese für echt gehaltene Szene die damaligen Zuschauer machte – doch dem heutigen Betrachter entgeht nicht, dass eine der „Leichen“ in der Abblende sich die Füße bequem übereinanderlegt …

Dem ganzen Film aber Unwahrheit zu attestieren, wie es in seiner 95jährigen Geschichte immer wieder geschehen ist: Auch das ist unlauter. Denn offensichtlich ist fast der gesamte Rest des Films tatsächlich authentisch entstanden, und andererseits muss natürlich aus dramaturgischen Gründen der Beginn der Schlacht im Film enthalten sein.

Im Audiokommentar geht Roger Smither, Leiter des Archivs für Film und Fotografie des Londoner Imperial War Museum, auch auf die Frage der Wahrhaftigkeit des Gesehenen ein – welche Szenen nachgestellt sind, auf welchen die Soldaten offenbar auf Anweisungen des Kameramanns hin handeln; und natürlich, wie sich die Soldaten der anwesenden Kamera bewusst sind und mit Grinsen, Winken und Posieren via Zelluloid einen Gruß an die Heimat senden. Doch vor allem gelingt es Smither, den Film historisch und geographisch einzuordnen, auf Details im Bild hinzuweisen und dabei stets die Absicht und die Wirkungsweise der Szenen mit einfließen zu lassen.

Dass der Film mit zwei alternativen Musikfassungen ausgestattet ist, ist eine Besonderheit: Um heutige Zuschauer emotional mitzunehmen auf die Zeitreise in die Schützengräben des Jahres 1916, hat Laura Rossi eine neue Filmmusik komponiert. Zusätzlich konnte die damalige Musikempfehlung rekonstruiert werden, ein Medley damals populärer Melodien – Klassik, Märsche etc. –, mit denen die Filmvorführungen begleitet werden sollten. Sodass dem Zuschauer musikalisch sowohl das Eintauchen in den Film, in die Wirkung seiner Bilder, als auch das Eintauchen in eine vergangene Epoche ermöglicht ist – in eine Zeit, in der die Filmzuschauer durchaus auf der Leinwand Bekannte, Verwandte, geliebte Menschen wiedererkennen konnten, mitten in der unmenschlichen Umschlingung des Krieges, Soldaten auf der Leinwand, die zum Zeitpunkt der Filmvorführung vielleicht schon tot waren.

Mr. Nice

(GB 2010, Regie: Bernard Rose)

Begnadeter Kiffer
von Wolfgang Nierlin

Bernard Roses Film „Mr. Nice“ über den legendären Drogenschmuggler Howard Marks Er sehe aus wie ein Drogenschmuggler, sagt Judy (Chloë Sevigny) bei ihrem ersten Date zu ihrem späteren Ehemann Howard …

Bernard Roses Film „Mr. Nice“ über den legendären Drogenschmuggler Howard Marks
Er sehe aus wie ein Drogenschmuggler, sagt Judy (Chloë Sevigny) bei ihrem ersten Date zu ihrem späteren Ehemann Howard Marks (Rhys Ifans). Tatsächlich ist der aus Wales stammende, in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsene Absolvent der Universität von Oxford nach ersten Drogenexperimenten mit Kommilitonen nicht nur clean, sondern auch gerade dabei, als angehender Lehrer ins bürgerliche Leben einzusteigen. Seine Aufsehen erregende Karriere als Drogendealer beginnt eher unfreiwillig, als er einem verhafteten Freund dabei behilflich ist, eine in Deutschland versteckte Haschisch-Lieferung nach England zu schmuggeln und zu verkaufen.

Bereits bei diesem ersten Deal zeigt sich der sympathische, einnehmende Typ als unbekümmerter Traumtänzer, der später unter dem Decknamen „Mr. Nice“ internationale Drogengeschäfte leitet und darüber hinaus komplizierte Kontakte zur IRA und dem englischen Geheimdienst MI6 pflegt. Zur Aufhellung dieser undurchsichtigen Verwicklungen trägt Bernard Roses Biopic über den ebenso legendären wie brillanten Lebenskünstler jedoch wenig bei. Auf der umfangreichen, unter dem Titel „Mr. Nice“ erschienenen Autobiographie von Howard Marks basierend, huldigt der Film vielmehr einem begnadeten Kiffer, trickreichen Lügner und unschuldigen Spieler, dem nicht nur „der Erfolg zu Kopf gestiegen“ ist, wie es einmal heißt, sondern dem die Droge buchstäblich das Bewusstsein erweitert.

Den „Nebelbomben“, die er vor Gericht mit Worten zündet, entsprechen gewissermaßen die permanenten Gras-Rauchschwaden, die seinen Kopf umwölken. Mit Humor und lustvollem Eskapismus huldigt Rose hier durchaus dem Drogenrausch und einem liberalen Haschischkonsum. Der Wechsel von Schwarzweiß zu Farbe initiiert dieses Leben auf der Überholspur, von dessen Süße Marks immer wieder nicht lassen kann und das schließlich in einer fast schon tragischen Ernüchterung des freiheitsliebenden Familienvaters mündet. Daneben ironisiert Bernard Rose das dilettantische Schmugglerwesen der 1970er Jahre, als illegale Geschäfte noch via öffentlichem Fernsprecher und codierter Sprache abgewickelt wurden. Von den „43 Decknamen, 89 Telefonanschlüssen und 25 Firmen“, die im Werbeflyer angekündigt werden, kommt im Film jedenfalls nichts vor.

The Bang Bang Club

(CAN / ZA 2010, Regie: Steven Silver)

Vier glorreiche Halunken
von Louis Vazquez

„The Bang Bang Club“ erzählt die auf wahren Ereignissen basierende Geschichte von vier Kriegsfotografen, die im Südafrika der frühen 1990er Jahre ihr Glück suchen: Greg Marinovich, Kevin Carter, Ken Oosterbroek …

„The Bang Bang Club“ erzählt die auf wahren Ereignissen basierende Geschichte von vier Kriegsfotografen, die im Südafrika der frühen 1990er Jahre ihr Glück suchen: Greg Marinovich, Kevin Carter, Ken Oosterbroek und João Silva. Aus Sicherheitsgründen schließen sie sich zum Titel gebenden „Club“ zusammen. Schon bald sind sie erfolgreich und ihre Aufnahmen weltbekannt. Doch die Geschichte hat kein Happy End: Ken Oosterbroek wird 1994 bei Kämpfen erschossen. Kevin Carter begeht nur wenige Monate später Selbstmord.

Dem Regisseur Steven Silver, der selbst aus Südafrika kommt, geht es nicht darum, die politischen Bedingungen und Entwicklungen im Detail nachvollziehbar zu machen. Stattdessen rückt er Marinovich (Ryan Phillippe) in den Mittelpunkt des Films und erzählt eine Initiationsgeschichte samt Love Story, wobei wie im echten Leben die Bildredakteurin Robin (Malin Ackerman) den Gegenpart übernimmt. Auch die tragische Geschichte von Kevin Carter (Taylor Kitsch) bekommt etwas Zeit, sich zu entfalten. Doch im Großen und Ganzen funktionieren die Filmfiguren lediglich als Typen eines Genres: „The Bang Bang Club“ ist ein Actionfilm mit coolen Jungs und ein paar melodramatischen Elementen.

Einmal mehr soll eine dokumentarisch anmutende Ästhetik bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen für den Schein von „Authentizität“ sorgen. In subjektiven Kameraeinstellungen mit kurzen freeze frames werden dabei auch einige der bekannten Fotografien zitiert. Schon Christian Frei versuchte in seinem Dokumentarfilm „War Photographer“ aus dem Jahr 2001, den Akt des Fotografierens mit filmischen Mitteln zu reflektieren. Er ergänzte die Ausrüstung des Kriegsfotografen James Nachtwey – der auch 1994 beim Tod Oosterbroeks anwesend war – um eine Minikamera, die auf der Fotokamera befestigt wurde. Sie lieferte verwackelte Filmbilder, die stets den Auslöser im Anschnitt zeigten und Nachweys Motivfindung nachvollziehbar machen sollten. Dies lösten die Bilder zwar nicht ein, betonten aber immerhin ständig die Distanz zwischen Dokumentation und Kriegsfotografie. Silvers Nachinszenierungen im Spielfilmkontext dagegen wirken fragwürdig, zumal „The Bang Bang Club“ alle diskussionswürdigen Aspekte der Kriegsfotografie fast gänzlich ausblendet bzw. in allzu melodramatische Bahnen lenkt. Am Ende zeigt sich, dass „The Bang Bang Club“, der in enger Zusammenarbeit mit Greg Marinovich und João Silva realisiert wurde, vor allem als Hommage an die verstorbenen Freunde zu verstehen ist.

Wer sich aber dafür interessiert, was das für Menschen sind, die in Krisenregionen arbeiten, hinsehen, wo alle wegsehen wollen, welche Motivationen, Ansprüche oder Botschaften sie haben, ob oder wie sie sich gegen Instrumentalisierung wehren und was diese Arbeit psychisch mit ihnen macht, der muss sich anderswo umsehen und z.B. den ebenfalls streitbaren, aber in dieser Hinsicht viel ergiebigeren Dokumentarfilm „Shooting Robert King“ (Richard Parry, 2008) zu Rate ziehen.

Das Mädchen aus der Streichholzfabrik

(FIN 1989, Regie: Aki Kaurismäki)

Im Norden des Kapitalismus
von Andreas Thomas

Nein, Sie werden diesen Film nicht so schnell wieder zu sehen bekommen. Er ist als Spielfilm zu kurz fürs Fernsehen oder für eine DVD (70 Minuten). Er ist zu pessimistisch, …

Nein, Sie werden diesen Film nicht so schnell wieder zu sehen bekommen. Er ist als Spielfilm zu kurz fürs Fernsehen oder für eine DVD (70 Minuten). Er ist zu pessimistisch, zu reduziert, aber er ist ein perfektes Anschauungsobjekt für junge Filmemacher. Vielleicht sollten Sie Filmwissenschaften studieren, und dann haben Sie HOFFENTLICH gute Chancen ihn zu sehen, denn dieser Film ist vorbildlich in seinem Aufbau, klar in seiner Struktur, meisterlich in seiner Durchführung. Überhaupt, wer lernen will, wie das filmische Umsetzen von Geschichten – so man sie noch erzählen will – eigentlich funktioniert, im „Mädchen aus der Streichholzfabrik“ wird er ein Musterbeispiel finden und in Aki Kaurismäki einen Meister.

Am Anfang ist das Band, das der industriellen Produktion. Der Urknall die Maschine selbst, die rattert und tickt und tackt und einen Rythmus vorgibt, den Arbeitsrythmus. Das geht so eine ganze Weile. Und dann: Ein einziger Mensch ist zur Kontrolle da. Die junge Frau produziert nichts. Aber sie kontrolliert, ob die Maschine richtig funktioniert. Sie steht am Band und prüft den korrekten Sitz der Ettiketten. Sie ist das Mädchen aus der Streichholzfabrik. Ob sie einen Namen hat ist nebensächlich. Die Streichholzschachteln dagegen haben einen, der gut lesbar sein muss. Dafür ist sie zuständig.

Iris lebt in einer kleinen Wohnung bei ihrer Mutter und deren Freund. Wenn sie von ihrer Arbeit in der Fabrik kommt, dann kocht, putzt und bügelt sie für die beiden, die die ganze Zeit schweigend vor dem Fernseher sitzen und sich von ihr bedienen lassen, und sie gibt ihnen den großen Teil ihres Arbeitslohns. Nicht einmal ein eigenes Zimmer hat sie. Sie schläft auf der Couch im Wohnzimmer. Gedankt wird ihr nicht. Als sie sich dann ein schönes Kleid kauft, wird ihr befohlen, es zurückzubringen und wieder einzulösen, damit die Monatskasse stimmt. Iris geht stattdessen in ihrem neuen Kleid tanzen.

In der Diskothek lernt sie Arne kennen, der sie mit in seine luxuriöse Wohnung nimmt. Frühmorgens legt er ihr einen Geldschein auf den Nachttisch und verlässt leise die Wohnung. Sie lässt das Geld liegen und schreibt ihre Telefonnummer auf einen Zettel. Sie schreibt mit einem billigen Kuli, der die Farben eines Regenbogens hat.

Lakonik: besonders kurze, aber treffende Art des Ausdrucks (Fremdwörter-Duden).

Man wird kaum einen Text zu einem Film von Aki Kaurismäki finden, in dem dieses Wort nicht in irgendeiner Form verwendet wird. Die Figuren in seinen Filmen reden meist in kurzen Sätzen, wenn nicht Halbsätzen. Kaurismäkis Misstrauen dem verbalen Ausdruck und dem Dialog gegenüber ist mitunter so stark, dass er die Sprache gar zeitweise völlig aus seinen Filmen eliminiert. Mit „Juha“ (1999) hat er sogar einen reinen Stummfilm gedreht. Die Wahrheit liegt für ihn in dem Gezeigten, nicht in dem Gesagten. Sprache ist für ihn im „Mädchen aus der Streichholzfabrik“ kein vollwertiges Kommunikationsinstrument, sie reduziert sich auf letzte Stichworte, die das Gesehene bestätigen. Das allererste gesprochene Wort im Film fällt nach etwa zehn Minuten und es kommt bezeichnenderweise aus dem Fernseher, in welchem von den Studentenaufständen in China berichtet wird, die 1987, zwei Jahre vor den Dreharbeiten, brutal auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ niedergeschlagen wurden.

Ihre Sprache haben die Figuren im „Mädchen aus der Streichholzfabrik“ verloren, Sprache ist von den Medien vereinnahmt, der Fernseher hat schon lange das Gespräch ersetzt, und das gemeinsame Schweigen vor dem Fernseher ist der treffendste Beleg für die die Allgegenwärtigkeit dessen, worunter Iris am meisten leidet: Einsamkeit.

Nicht Menschen erzählen in Aki Kaurismäkis Film, sondern die strengen, genau kalkulierten Bilder der Standkamera, sie sprechen zwar von Fremdheit, Gleichgültigkeit, Einsamkeit, aber auf distanzierteste Weise. Und zur Sprache kommt Musik, die des klassischen Rock’n Roll, und die des traditionellen finnischen Tangos, der die Sehnsucht nach einem „Land jenseits des Meeres“ besingt, in dem es „keine Angst vor Morgen“ gibt.

„Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ ist eine Urenkelin des „Mädchen mit den Schwefelhölzchen“, aus dem gleichnamigen Märchen von H.C. Andersen, die nicht nach Hause gehen mag, weil sie keine Streichhölzer verkauft hat, und von ihrem Vater geschlagen werden wird. Lieber erfriert sie in der Kälte der Silvesternacht. Beide sind gutmütig, einsam und ausgenutzt, beide preisgegeben einer kalten, dunklen Welt, dem langen skandinavischen Winter auffallend ähnlich. Auch Iris’ zweite Verwandte ist die Kreatur eines Skandinaviers: Die Geschichte von Grace aus Lars von Triers Film „Dogville“ ist in ihren Grundzügen identisch mit der von Iris. Beide Frauen ordnen sich ihrer Umgebung demütig und selbstlos unter und lassen sich so lange demütigen, bis es ihnen reicht. Beide Filme haben die gleiche, so nachvollziehbare, bitterböse Konsequenz.

Und beide Filme sind stilisiert, minimalistisch in ihren Bildern und Mitteln, Triers Film ist beeinflusst durch das Theater von Bert Brecht, Kaurismäkis dokumentarisch wirkender, aber kunstvoll aufgebauter Film durch den Stil eines Robert Bresson oder eines frühen Fassbinder. Und beide Filme sind Teile von Trilogien: „Dogville“ ist der erste Teil von von Triers „Amerika“-Trilogie, und „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ nach „Schatten im Paradies“(1986) und „Ariel“ (1988) der letzte Teil aus Kaurismäkis „Proletarischer Trilogie“. Beide Filme, auf ihre ungleiche Art, sind Meisterwerke. Das symphatischere Meisterwerk ist mir das von Kaurismäki. Ein bisschen sehr kokett intellektualistisch, ironisierend, gebüldet selbstreflektiv und ambitioniert drückt einem „Dogville“ auf den Nerv. Sehr klar und auf einem entscheidenden, durch keine zu vielen Worte aufgeblähten, Punkt dagegen: „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“.

Was diese beiden Filme insgesamt mehr sind, skandinavische Elegien oder elegische Kapitalismuskritiken, es ist schwer zu entscheiden. Aber stammt nicht der dunkle, kalte Geist des Kapitals eher aus dem dunklen, kalten europäischen Norden?

Die Meute

(B / F 2010, Regie: Franck Richard)

Urlaub im Schweinestall
von Michael Schleeh

Als eine Horde notgeiler Biker einer jungen Punkerin auflauert, die mit ihrem Wagen urlaubend durch ein französisches Niemandsland der nebligen Nebenstraßen fährt („Süße, ich muss pissen! Hältst du ihn mal? …

Als eine Horde notgeiler Biker einer jungen Punkerin auflauert, die mit ihrem Wagen urlaubend durch ein französisches Niemandsland der nebligen Nebenstraßen fährt („Süße, ich muss pissen! Hältst du ihn mal? Ich darf keine schweren Sachen heben …“), nimmt sie aus Sicherheitsgründen spontan einen Anhalter mit, der jedoch bei einer Rast in einem dubiosen Gasthof mysteriöserweise direkt wieder verschwindet. Irgendwie muss sie ihn sympathisch gefunden haben – denn nachts kehrt sie zurück, um ihn zu suchen. Doch da wird sie hinterrücks niedergeschlagen. Als sie erwacht, findet sie sich in einem Schweinestall, in einen Metallkäfig eingesperrt, wieder.

Der harte französische Horrorfilm erreichte mit den schockierenden und formal interessanten „À L’Intérieur“ (2007) und „Martyrs“ (2008) einen kurzen, ekstatischen Zenit (wobei der etwas ältere, franko-belgische „Calvaire“ (2004) von Fabrice du Welz mit Sicherheit der Schönste seiner Art ist), während er seitdem in einem Abschwung begriffen und beinah zeitgleich in seinen jüngeren Exponaten qualitativ massivst eingebrochen ist. Sowohl „Frontière(s)“ (2007), als auch „La Horde“ (2009) oder „Mutants“ (2009) konnten die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Das hier vorliegende Debut des Franzosen Franck Richard markiert dabei den aktuellen, traurigen Tiefpunkt.

Und obwohl der Film mit durchweg respektablen Schauspielern punkten kann (Philippe Nahon, Émilie Dequenne, Yolande Moreau), mit einem interessanten Score von Chris Spencer (vom New Yorker Noise-Rock-Aushängeschild „Unsane“) und Ari Benjamin Meyers (von den „Einstürzenden Neubauten“) aufwartet, und ebenso mit einigen atmosphärischen Bildern in der Eröffnungsszene überzeugen kann, so sind doch die großen Schwächen des Films unübersehbar.

Allem voran steht der geradezu lächerlich konstruierte Plot, dessen Verschlingungen hier nicht verraten werden sollen – nur so viel: er schlägt mit zunehmender Spielzeit dermaßen viele Haken ins Reich der Absurditäten und potenzierten Superlative, das soll jeder selbst entdecken dürfen. Auch kann sich der Film nicht zwischen beinhartem Torture-Pornism und Satiredarstellung entscheiden – wobei der Humor durchaus ungut immer wieder unfreiwillig mitten ins Geschehen hinein grätscht. Der bisweilen recht dämlich artikulierte Schenkelklopferhumor jedenfalls hebt den Film zudem unnötig weit aus der Balance. So kann man „La Meute“ kaum mehr ernst nehmen irgendwann, selbst wenn man noch so sehr auf Besserung hofft. Hier sabotiert sich der Film selbst.

Ist man dem Filmemacher positiv gesonnen, so mag man anführen, der Film unterlaufe die Erwartungshaltung des Publikums. Nun, das tut er gewiss. Allerdings in einer Form, die eben eine jene nicht erkennen lässt. Der Eindruck der Beliebigkeit ist also die Folge, denn hier könnte noch so alles Mögliche passieren. Oder auch nicht. Es stellt sich Langeweile ein – trotz der Untoten, die plötzlich aus dem Erdreich gekrochen kommen und eine weitere Geschichte hinter der Geschichte aufblättern. Auf diesem Gebiet allerdings gelingt dem Regisseur Verblüffendes: Man kann sich kaum vorstellen, wie unsagbar langweilig und spannungsfrei „Die Meute“ bei einer Gesamtspielzeit von in toto gerade mal 81 Minuten gehalten wurde. Und dabei ist der Film sogar noch geschnitten. Ein Faktum, das jedem Filmkunstliebhaber sowieso schon das Aus für den Film bedeutet. Andererseits: So ist das Martyrium des Zuschauers wenigstens schneller vorbei. Es hat alles sein Gutes – oft nur weiß man das anfangs noch nicht.

Kaboom

(USA / F 2010, Regie: Gregg Araki)

Explosionen im Himmel
von Michael Schleeh

Der Biss in den Keks ist der Scheideweg im Leben Smiths, eines 19-jährigen metrosexuellen, zugleich introvertierten wie exzentrischen College-Studenten. War sein Leben schon vorher recht turbulent, so kommen nun die …

Der Biss in den Keks ist der Scheideweg im Leben Smiths, eines 19-jährigen metrosexuellen, zugleich introvertierten wie exzentrischen College-Studenten. War sein Leben schon vorher recht turbulent, so kommen nun die halluzinogenen Drogen noch hinzu, die nicht nur erweiterte Bewusstseinszustände hervorrufen, sondern auch ganz generell die letzten festen Realitätsanker seines emotischen Hirns herausreißen. Plötzlich dreht sich das Leben Smiths nicht mehr nur um die Frage, ob die Frisur sitzt, das T-Shirt sexy ist, und ob man heute Nacht mit einer Frau oder einem Typen im Bett landet – nein, plötzlich werden seine schlimmsten Alpträume wahr: Die drei Verfolger mit den Tiermasken werden Wirklichkeit und jagen ihn über den Campus. Als dann plötzlich auch noch eine Weltuntergangssekte auftaucht, ist das Chaos komplett.

Mit „Kaboom“ scheint Gregg Araki einen Nachklapp zu seiner in den 90ern vorgelegten Teenage Apocalypse-Trilogie („Totally Fucked Up“ (1993), „The Doom Generation“ (1995) und „Nowhere“ (1997)) nachzuschieben, der wie eine Parodie dieser exzessiven Pop- und Jugendkulturfilme erscheint. In „Kaboom“ ist alles knallbunt, trendy, orgasmuszentriert. Jede Figur ist Schablone und Seelenklempner zugleich, es sind Charaktere, die sich wie Satelliten im Smith’schen Orbit um den Protagonisten drehen. Es ist also die Überzeichnung, die diesen Film regiert, und die ihn auch zugleich so wunderbar leicht macht. Da stört es überhaupt nicht, dass jede Figur sexy ist, und schlagfertig, und promisk, und dass man am Nacktbadestrand nach spätestens einer Minute einen muskulösen Beau neben sich auf dem Handtuch liegen hat, der mit dem charmantesten Lächeln sich dazu anbietet, einem den Nachmittag zu versüßen.

Man mag einwenden, dass der Film mit seinem Sujet etwas veraltet wirkt. Auch die Musikauswahl, die sich auf mainstreamig-poppige Independentbands kapriziert, wirkt bemüht. Und seit Gaspar Noé mit „Enter the Void“ die Messlatte enorm hoch gehängt hat, sind auch trippige Drogen-Sequenzen nicht mehr so unproblematisch abzubilden – da wirkt Arakis Film durchaus etwas einfach und simpel gestrickt. Gutmeinende würden das als Stärke werten: da schlage der Trash-Appeal durch. Am Ende jedoch von „Kaboom“ lauert ein Finale, wie man es sonst nur von Takashi Miike kennt (ein Regisseur, der auf ebensolchen Grenzen wandelt). Ob das Zitat ist oder Hommage oder einfach ein fröhliches Hinüberwinken von jemandem, der macht, was er will, soll dahingestellt sein. Es unterstreicht die im positiven Sinne souveräne Leichtfertigkeit eines Filmemachers, der zwar keine besonders originelle Geschichte erzählt, diese aber mit dem richtigen Gespür für Overdrive auf nicht alltägliche Weise zu verpacken weiß und damit sein Publikum zu fesseln versteht.

„Kaboom“ atmet den leicht anarchischen Geist queerer Softsexfilme, die sich an ein jugendliches oder sich jugendlich fühlendes Publikum richten, und die sich nicht groß um Filmgeschichte scheren. Das ist in ihrer Eigenständigkeit, in ihrer frechen und direkten Art immer wieder sehenswert, und wenn ein Film wie „Kaboom“ dann tatsächlich wie im Flug vorübergeht, dann hat er schon auch Einiges richtig gemacht.

Schlafkrankheit

(D / F / NL 2010, Regie: Ulrich Köhler)

Widerstand ist zwecklos
von Andreas Thomas

Weniger an die Berliner Schule, der dessen Regisseur ja einstmals zugerechnet wurde, erinnert mich Ulrich Köhlers „Schlafkrankheit“ als an, einmal mehr, die Filme von Michelangelo Antonioni, speziell dessen „Beruf Reporter“, …

Weniger an die Berliner Schule, der dessen Regisseur ja einstmals zugerechnet wurde, erinnert mich Ulrich Köhlers „Schlafkrankheit“ als an, einmal mehr, die Filme von Michelangelo Antonioni, speziell dessen „Beruf Reporter“, einem Film, in dem der Protagonist nichts weniger als seine eigene Identität wegwirft.

In einigen Kritiken liest man von der Langsamkeit und Ereignislosigkeit dieses Films, aber ich denke, die Langweiligkeit eines Films hängt oft zusammen mit der Aufmerksamkeit, dem Interesse und der Offenheit des Zuschauers; je stärker diese Eigenschaften ausgeprägt sind, desto mehr passiert für den Betrachter – jedenfalls in diesem Film, der voller kenntnisreich erstellter und präziser Details, Settings, Figuren und Figurenkonstellationen steckt.

Zugegeben, „Schlafkrankheit“ ist tatsächlich einer dieser lästigen Filme, die sich mit Dingen beschäftigen, von denen man im Allgemeinen noch kein besonders ausgefeiltes Klischee verinnerlicht hat. Anstatt zu bestätigen, befragt er, anstatt Afrika zu überwältigen oder überwältigend zu finden, wird er selbst aufgesogen von seinen vielen afrikanischen Gegenständen, Milieus, er lebt drinnen und darf nicht drin leben – aber nun rede ich schon von der Hauptfigur.

Ebbo ist Arzt, der seit einigen Jahren in Kamerun ein erfolgreiches Projekt zur Bekämpfung der „Schlafkrankheit“ geleitet hat. Weil die Krankheit vor Ort eingedämmt und die Kranken selten geworden sind, ist auch seine Tätigkeit obsolet geworden. Trotz dort ansässiger Frau und Tochter, vermag es Ebbo nicht so recht in die Heimat Deutschland zurückziehen; das sagt er nicht so direkt, wir müssen es seinem Verhalten entnehmen, und als seine Familie fliegt, hat er noch irgendeinen Grund, später nachzukommen.

Später, das sind dann im Film drei Jahre, wird Ebbo, immer noch in Kamerun, gesucht von einem jungen Franzosen mit afrikanischen Wurzeln, der damit beauftragt ist, die Förderungswürdigkeit von Ebbos immer noch laufendem Schlafkrankheits-Projekt zu überprüfen. Aber es ist, als wäre Ebbo schon beinahe spurlos verschluckt von Land und Urwald. Außer seinem guten Ruf ist zunächst von Ebbo nichts zu hören oder sehen und Nzilo, der junge europäische Arzt, muss lange Stunden des Befremdens, des Wartens und des Unbehagens über sich ergehen lassen, bevor er Ebbo auch nur kurz erblickt.

Man ist geneigt zu sagen, Ebbo, der Weiße, ist zu Afrika geworden, hat sich metamorphisiert, und Nzilo, der Schwarze, ist von Kopf bis Fuß und von Geburt an Europäer: Rationalist, Kosten-Nutzen-Abwäger, Evaluator – zwei Kontrahenten als zwei unzuvereinbarende Philosophien, wie sie kein Film Köhlers bisher deutlicher präsentierte, wenngleich die Totalverweigerer immer auch der rote Faden seiner zwei bisherigen Langfilme waren: Paul in „Bungalow“, Nina in „Montag kommen die Fenster“ und nun Ebbo in „Schlafkrankheit“.

Hier steht Ebbo für all das, was die postindustriellen Gesellschaften erfolgreich bekämpfen: Autonomie, Ursprünglichkeit, Lebendigkeit, die sich z.B. auch aus der Natur nährt, die sich aber vor allem nicht normieren oder überwachen, also fremdsteuern lassen will. Man könnte sagen, der Widerstand der Köhlerschen Protagonisten besteht in ihrer Weigerung, zielorientiert, zweckbestimmt zu leben, also in ihrer Verweigerung, irgendwie instrumentalisierbar zu sein.

Man kann darüber nachdenken, ob diese scheinbar passive Einstellung nicht gar das effektivste Kampfmittel gegen einen nivellierenden abstumpfenden Zeitgeist sein könnte – wenn man dem Hungertod ins Auge zu sehen bereit ist, versteht sich. Man könnte darüber nachdenken, ob „Schlafkrankheit“ seine Dichotomisierung nicht ein wenig zu plakativ betreibt. Man kann in jedem Fall aber auch sagen, dass der Film „Schlafkrankheit“ ein Manifest darstellt für, ja sagen wir ruhig, ein „besseres Leben“. Und das auf eine irgendwie buddhistische Weise. Selbst wenn Ebbo dafür dann schon zum Tier werden muss …

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The Tree of Life

(USA 2011, Regie: Terrence Malick)

Chefetagen
von Andreas Thomas

Also, zunächst mal eines. Gott existiert nicht. Das ist inzwischen leider einigermaßen verbürgt. Auch wenn es noch Leute gibt, die immer noch das Gegenteil glauben, und das sind Leute aller …

Also, zunächst mal eines. Gott existiert nicht. Das ist inzwischen leider einigermaßen verbürgt. Auch wenn es noch Leute gibt, die immer noch das Gegenteil glauben, und das sind Leute aller Couleur, die u.a. dafür Kriege anzetteln, sich in die Luft sprengen oder Kinder ficken, weil ihr Glaubegott ihnen verbietet, mit Erwachsenen Sex zu haben, aber Kinder, irgendwie aus Versehen, bei seinen Obstruktionen nicht erwähnte.

Bedaure, ich musste diese Prämisse vorausschicken, weil der diesjährige Sieger der Filmfestspiele von Cannes im Kern genau und dauernd und ausdauernd von der gegenteiligen Prämisse ausgeht. Der Film „The Tree of Life“ von Terrence Malick wird über zwei Stunden lang nicht des Zwiegespräches müde, mit … „Gott“. Mit anderen Worten, er propagiert und praktiziert politisch benutzbaren und gesellschaftlich integrierten wenn nicht Wahn-, dann doch wenigstens Schwachsinn. Cannes-Sieger, das. Aha. 2011, das Jahr, in dem die Deppen wiederkehrten, oder wie?

Jedoch wir wollen nicht vorschnell schimpfen, bevor wir erwähnten, worüber: Eine ätherische, junge Mutter von zwei oder drei permanent sich durch den amerikanischen Vorgarten rollenden und tollenden guten amerikanischen Jungens (zwei oder drei, man wird es nie erfahren, und im Angesicht Gottes ist eine Zahl auch eben nur eine Zahl), von denen einer oder zwei (auch hier bleiben wir uninformiert, aber was solls, solange der Herr seine Schäfchen im Blick und gezählt hat) an irgendetwas (ob es ein ferner Krieg oder das Bedürfnis nach motherfucking war, weiß allein der Herr) gestorben sind, ist leider mit Brad Pitt verheiratet, was bekanntlich wenigstens zum chronischen Leiden unter Gesichtsausdrucksverarmung führen muss, denn Brett spielt auch so wie eins, und keine aufsteigende Darstellerin, so wie Jessica Chastein, ist für ihren weiblichen Pitt-Counterpart zu beneiden.

Hinzu kommt, dass Pitt in diesem Film lustigerweise gleichzeitig versucht a) seine Kinder zu Schlägern (also zu leistungsfähigen Geschäftsleuten) zu erziehen, b) ihnen die Welt der schönen Künste (der Musik, especially Bachs Toccata) aufzuoktroyieren, und c) ihnen diesen ganzen amerikanischen Stuss von „Grundstücksgrenzen“ beizubiegen. Kein Wunder, dass naturorientierte Kinder irgendwann beim Mittagessen auf den Tisch hauen und sagen: „Papa, halt jetzt mal die Klappe, – BITTE!“

Dass das Wörtchen „bitte“ in diesem Kontext zwar schon einen gewissen Erziehungserfolg beweist, würde Pitt nicht abstreiten wollen, aber dem Vater den Mund verbieten, das geht nicht. Soviel Empathie für den 40er, 50er oder 60er-Jahre-Papa (die Zeit ist definitiv auch nicht definiert) möchte der differenzierte Spielfilm bei aller Kritik doch schon für sich reklamieren dürfen.

Fest aber gleichwohl steht, dass Pitt nicht abendfüllend und eine Hackfresse noch keine Bank ist. Daher bedarf es mehr Kosmos, und wie man an Cannes sieht, macht der mit Erfolg und im großen Stil die Brett-Kleinbürgerkinderstube wett, die übrigens auch von der entweder ätherischen oder sonst eher kleinlauten aber umso mitfühlenderen Mutter nicht über Gebühr mit Interesse aufgeladen wird.

Und Kosmos ist bei Malick Sternennebel, Lava, Qualle, Welle, Zelle oder Ei, oder alternierend auch mal der eine oder andere Dino, weil die alle ja auch mit der kleinbürgerlichen Familie in der Mitte der USA in der Mitte des 20. Jahrhundert sowas von kompatibilieren.

Nein, Entschuldigung. Wenn man anstatt Kosmos oder Natur oder All das Wörtchen Schöpfung verwendet, wendet sich automatisch der Gedanke und der Blick, so wie die Kamera am Ende jedes Gedankens und damit jeder Einstellung nach oben, also dahin, wohin die Mama dieser nervigen Mittelschichtsfamilie ihren Finger streckt und behauptet, es wohne dort Gott (selbiger, vom Himmel aus, nicht nur nicht tot, sondern auch nicht müde, antwortet mit einer Surround-Version von Smetanas „Moldau“ – nicht das einzige klassische musikalische Motiv, mit dem wir den heutigen Abend von Gott zugedröhnt werden. [eine dahinter liegende Malick-Theorie vermutlich: alle genialen Musikstücke sind von Gott inspiriert, deshalb kann ich sie alle für meinen Gottesfilm als kausale Momente einsetzen, denn: Malick hat ja mit „The Tree of Life“ nichts Geringeres unternommen, als uns „Gott ist Sinn des Lebens“ zu veranschaulichen, unter Ausbeutung aller vorhandenen Überwältigungsmittel: Bild (vom „2001“-Special Effects-Mann Trumbull beraten, Ton: von Klassikern u.a. der Sakral-Tonkunst).

Nun. Also. Zurück. Die Fünfziger, einigen wir uns auf die Fünfziger, sind ja ganz nett als Problemhintergrund, als Lebenssuppenfond, aber so richtig existenziell kann für uns ein Film über den „Baum des Lebens“ doch nur sein mit Bezug zu uns selbst, also zum Hier und Heute und zu unserem aktuellen Leben: Welches wir mit einem einigermaßen in Würde vergreisenden Sean Penn als chronischen Aufsteiger zu den höheren Etagen von Wolkenkratzern problemlos identifizieren können. Dieser also ist aus uns geworden, erschreckt begreifen wir: verstockt, verschrumpelt und verstummt, bewegen wir uns, bewegt sich der arme reiche Sean von Etage drei zu Etage dreißig, hoch und höher im gläsernen Fahrstuhl, in gläsernen Gebäuden, die dem Himmel anmaßend nahe sein wollen, obgleich sie doch Menschengeschmeiß sind.

Aber mit seiner Brett-Pitt-Vater-Vorgeschichte braucht unser Sean plötzlich überhaupt nicht mehr lange, um (nach langen Jahren der Anpassung) seine materielle Vergeblichkeit zu realisieren und dann doch lieber, so wie Jesus oder die Band America (seinerzeit on a horse with no name), schließlich die Wüste und endlich den Strand der einsamen Seelen zu besichtigen, wo man schließlich mit allen Ex-Verwandten bis zum Sonnenuntergang Liebkosungen austauschen, herumlatschen und darauf hoffen kann, dass das Jenseits aber nun wirklich netter als das Diesseits sein wird.

Dergleichen Widerlegtes also gewinnt in Cannes – und verliert, in diesem Fall, in der filmgazette.

Zur Erinnerung: Es gibt keinen Gott. So leid es mir tut. Der beste Gegenbeweis ist: Würde es einen Gott geben, dann würde er keinen Schmarrn wie „The Tree of Life' zulassen.

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Die Vaterlosen

(A 2011, Regie: Marie Kreutzer)

Kein Idyll, nicht mal am Waldesrand
von Michael Schleeh

Rückblicke auf Zeitalter, in denen Kommunenleben noch denkbar war, wirken heute zumeist merkwürdig idealisiert oder werden, von konservativer Seite her, belächelt und verteufelt zugleich. Selbst in studentischen Wohngemeinschaften lassen sich …

Rückblicke auf Zeitalter, in denen Kommunenleben noch denkbar war, wirken heute zumeist merkwürdig idealisiert oder werden, von konservativer Seite her, belächelt und verteufelt zugleich. Selbst in studentischen Wohngemeinschaften lassen sich die letzten Spuren alternativer Gemeinsamkeitsutopien kaum mehr finden, denn die politischen Botenstoffe haben sich längst verflüchtigt – und im Zeitalter des Bachelor-Studiums und im alles umarmenden Okay-ismus haben sich diese als reine Zweckgemeinschaften etabliert. Dass aber gelebte Kommune-Utopien tatsächlich alles andere als friedlich und idyllisch ausfallen konnten, zeigt Marie Kreutzers ambitionierter Debut-Spielfilm, der, angelegt als Familiendrama auf einem Hof am Waldrand, weitreichende Beschädigungen von Biographien offenbart – und sich dabei leider in seinen Plotwirren, die ein „dunkles Geheimnis“ ans Tageslicht zerren, verirrt.

Um Abschied zu nehmen, ruft der Vater und ehemalige Kommunarde auf dem Sterbebett seine Kinder zu sich in das alte Bauernhaus in der Steiermark. Doch beinah alle kommen zu spät. Hans, der Oberhäuptling der Kommune, hat sich davongemacht. Nun treffen also die Geschwister aufeinander, die, die über das ganze Land verstreut leben und wenig miteinander zu tun haben. Für die Figuren ist das Wiedersehen am Totenbett des gar nicht so sanften Patriarchen eine emotionale Herausforderung, und diese wird dadurch noch verstärkt, dass sie mit den verdrängten Kapiteln der eigenen Biographie konfrontiert werden. Da ist etwa die Schwester, deren neurologische Störung zwar für alle deutlich sichtbar ist, die aber mysteriöserweise totgeschwiegen wird. Da ist der Arzt mit dem Sportwagen, der eigentlich nur aus Pflichterfüllung gekommen und gedanklich eigentlich schon wieder weg ist. Oder der orientierungslose Bruder, der das Herz etwas zu sehr auf der Zunge trägt, und für den der Tod des Vaters erstmals eine Befreiung aus der Rolle des Sohnes bedeutet. Auch die eine Halbschwester, die man ganz aus dem Familienkosmos hinausgedacht hatte, kehrt zurück. Und da ist natürlich die Mutter, die Hüterin des Gemüsebeetes und der Erinnerungen. Erinnerungen an die Zeit mit Vater und an die Kommune, ihren euphorischen Beginn und die zunehmende Desillusionierung im Laufe der Jahre. Das kollektive Gedächtnis, das sich bedeckt hält und sich nach entsprechenden Verwundungen, die sexuelle Freizügigkeiten mit sich bringen können, einen emotionalen Panzer zugelegt hat.

So ist „Die Vaterlosen“ auch ein Film über Nähe und Distanz, Bindung und Beziehung, über Trennung und das Abschied nehmen. Der Film beginnt ausgesprochen stark: in herausfordernder Montage werden in den ersten Szenen Handlungsfragmente kombiniert, die ein Verständnis von Kino transportieren und die dem Zuschauer eine intensive Mitarbeit bei der filmischen Narration versprechen. Und es sind die kleinen Gesten, die Blicke, ein kurzes Wegschauen oder körperliche Nähe, die gestattet wird, die auf subtile Weise überzeugend von den emotionalen Dispositionen der Charaktere zeugen, ohne dass diese ausgesprochen werden müssten. Doch nicht jede Rolle dieses Ensemblefilms ist gleich stark besetzt, und so manche Dialogzeile klingt ein wenig hölzern. Die Bilder der Rückblicke sind allzu plakativ geraten: sie gleichen vergilbten Erinnerungsfetzen, ganz so, als wären die Polaroids zu lange in der Sonne gelegen und dann auf dem Dachboden verstaubt. Hier geht die Kamera nah ran, um die Nähe zum Menschen zu suchen und arbeitet mit Unschärfen und Farbfiltern, die Ausdruck einer konventionellen Bildästhetik sind. Derart lösen sich die positiven Ansätze des Films leider recht bald auf, zudem erklärende Passagen verstärkt nachgeschoben und Geheimnisse zunehmend enthüllt werden.

Der Film entwirft ein Mosaik aus fragmentierten Biographien, die sich am Ende zu einem Gesamtbild zusammenfügen sollen, zu einem plastischen Familienkosmos. Doch in den zunehmend sich überschlagenden Plotvolten, in den Krimistrukturen der detektivischen Enthüllungsarbeit und im sich permanent verschiebenden emotionalen Gefüge der Gruppe, das auch noch die Lebenspartner und deren Beziehungsprobleme einbezieht, verfranst sich der Film in seiner tendenziell sensationalistischen Ausrichtung auf den großen Knall hin. Bedauernswert ist es, dass die Regisseurin der Kraft ihres stillen Dramas nicht vertraut und den Film mit zunehmender Laufzeit seiner Magie beraubt, indem alles Unausgesprochene angesprochen und jedes Geheimnis gelüftet wird.

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