Orlando

(F / GB / I / NL / R 1992; Regie: Sally Potter)

I’m not then

Hinschauen: „Orlando“ ist eine Ausstattungsorgie, gewollter und gekonnter Camp mit faustgroßen mouches an der Backe und Reifröcken von der Größe eines Kleinwagens, ein Film irgendwo zwischen Derek Jarman, Todd Haynes und Sofia Coppolas „Marie Antoinette“. In dichten Vignetten chargieren die Nebendarsteller, als wollten sie es mit dem überbordenden Dekor und den ausufernden Kostümen aufnehmen, die queen Quentin Crisp spielt Queen Elizabeth I. und Schwulenikone Jimmy Somerville gibt den goldenen Videoclip-Engel. Selbstverständlich!

Die Jahreszahlen, Orte und Geschlechter ändern sich, Kostüm und Ausstattung hinterher. Was bleibt ist Orlando, später Lady Orlando, der der Königin versprochen hat stets jung zu bleiben und somit unsterblich wird. Das alles passiert ohne übermäßiges Interesse an Geschichte und Geschichten und ohne den period piece-Muff der Merchant-Ivory-Filme. Dafür gibt es jede Menge leichtfüßigen Witz und den unbedingten Willen zum Pop, dem ganzen Zeitreise-Gender-Literaturvorlage-Ballast zum Trotz.

Weitersehen: Was leicht hätte anstrengend werden können, gelingt vor allem dank Sally Potters ruhiger Regie, Aleksei Rodionovs strengen Bildkompositionen und nicht zuletzt Tilda Swintons großartiger non-performance. Tilda Swinton, immer mittendrin und außen vor, ist Orlando ist Lady Orlando und eben auch Tilda Swinton. Auch ganz wortwörtlich ist sie herausragend, wenn sie beispielsweise die Erzählstimme unterbricht oder durch Blicke Kontakt zu den Zuschauern aufnimmt und uns mal fragend, mal herausfordernd anblickt. Fast schon verloren guckt sie manchmal unter den turmhohen Perücken hervor und wirft so ein Ding auch einfach mal weg, wenn es zu sehr kratzt.

Durch Swintons unprätentiöses Spiel und ihren stoischen Umgang mit dem Lauf der Geschichte vom 17. Jahrhundert bis in die Jetztzeit entsteht einerseits Nähe und Verbundenheit zu Orlando/Swinton, andererseits werden Klischees vermieden, die ein solcher Stoff mit sich bringt. In „Orlando“ wird kein Konstrukt von der Gegensätzlichkeit männlicher und weiblicher Identität entworfen, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind den Vorstellungen und Normen der Gesellschaft geschuldet, die Swinton allerdings kalt lassen.

Orlandos Identität ist komplexer als es die typischen Geschlechtszuschreibungen vermuten lassen, stereotypes Männlichkeitsgehabe kennt Orlando ebenso wenig wie vermeintlich weibliche Schicksalsergebenheit. Selbst nach der plötzlichen Transformation zur Frau ist kein Bruch in Orlandos Charakter erkennbar, der Mensch Orlando betrachtet in einem Spiegel den nun weiblichen Körper und bemerkt: „Same person. No difference at all … just a different sex.“ Ein Gedanke, der hoffentlich nicht alt wird.

Benotung des Films :

Carsten Moll
Orlando
(Orlando)
Frankreich / Großbritannien / Italien / Niederlande / Russland 1992 - 90 min.
Regie: Sally Potter - Drehbuch: Sally Potter - Produktion: Christopher Sheppard - Bildgestaltung: Aleksei Rodionov - Montage: Hervé Schneid - Musik: David Motion, Sally Potter - Verleih: Kinowelt (DVD) - FSK: ab 12 Jahre - Besetzung: Tilda Swinton, Quentin Crisp, Jimmy Somerville, John Bott, Elaine Banham, Anna Farnworth, Sara Mair-Thomas, Anna Healy, Dudley Sutton, Toby Stephens, Simon Russell Beale, Matthew Sim
Kinostart (D): 28.01.1993

DVD-Starttermin (D): 30.11.-0001

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt0107756/